Wir sind kein Rosengarten - Ensuite
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Ukrainer in England, dieses Mal auf dem Erbeerfeld<br />
Marina Lewycka: Two Caravans. Roman.<br />
■ Im ländlichen Kent kommt es auf einem<br />
Erdbeerfeld zu einem ersten Zusammentreffen<br />
zwischen dem Ukrainer Andriy und dessen<br />
Landsmännin Irina. Er hat seinen Vater im Kohlebergwerk<br />
verloren, sie ist eine Professorentochter<br />
aus Kiev, deren bourgeoiser Dünkel ihren Blick auf<br />
die Umgebung zuweilen etwas trübt. Beide wurden<br />
sie als Erdbeerpfl ücker angeheuert, wobei ihnen<br />
als Wohnraum lediglich ein beengender Wohnwagen<br />
zur Verfügung steht. Zwei Wohnwagen, um<br />
genau zu sein, säuberlich nach Geschlechtern getrennt.<br />
Im Frauenwagen schlafen neben Irina auch<br />
die Polin Yola und deren Nichte Martha und zwei<br />
junge Chinesinnen. Im Männerwagen sorgt Tomasz<br />
mit seinem Fussgeruch bei Emanuel und Vitaly für<br />
schlechte Laune. Um das Idyll perfekt zu machen,<br />
gesellt sich auch noch ein liebenswerter Hund zu<br />
ihnen.<br />
Die Pittoreske wird durch den Umstand, dass<br />
ihr Arbeitgeber, der Bauer Leapish, von seiner<br />
Frau in fl agranti mit Yola ertappt wird, erheblich<br />
gestört. Andriy gelingt mit den Übrigen in einem<br />
der Wohnwagen die Flucht, wobei Irina verloren<br />
geht.<br />
Alsbald eröffnen sich für die einzelnen Mitglieder<br />
der Pfl ücktruppe neue Erwerbsmöglichkeiten,<br />
die sie dem «englischen» Traum näherbringen sollen<br />
und trotz der widrigen Umstände bleiben sie<br />
von einem ansteckenden Optimismus.<br />
Nach ihrem vielbejubelten Debüt letzten Jahres,<br />
«Die Geschichte des Traktors auf Ukrainisch», beweist<br />
Marina Lewycka, dass sie <strong>kein</strong>eswegs eine<br />
Eintagesfl iege ist, wenn sie sich auch in ihrem<br />
neuen Roman nicht wirklich zu steigern vermag.<br />
Fehlt es dem Buch teilweise an Tiefe, vermag<br />
ihre komödiantische Schreibe jedoch umso stärker<br />
zu überzeugen. Insbesondere die verschiedenen<br />
Erzählstimmen, die sich vor allem durch die unterschiedliche<br />
Sprachkompetenz im Englischen<br />
voneinander differenzieren lassen, sorgen immer<br />
wieder für Lacher. Seien wir auf die deutsche<br />
Übersetzung gespannt. (sw)<br />
Lewycka, Marina: Two Caravans. Roman. Englisch.<br />
Penguin Books. London 2007. ISBN: 978-0-670-<br />
91637-5.<br />
Wo die Liebe hinfällt<br />
Ian McEwan: On Chesil Beach. Roman.<br />
■ Die Neuvermählten Florence und Edward, sie,<br />
eine aufstrebende Violinistin, er, ein junger Historiker,<br />
stehen kurz vor ihrer Hochzeitsnacht in<br />
Chesil Beach. <strong>Wir</strong> schreiben das Jahr 1962, noch<br />
scheint <strong>kein</strong>e Sprache gefunden worden zu sein,<br />
um über Sexualität zu sprechen. Sie sitzen in der<br />
Hochzeitssuite beim Abendessen, seine Gedanken<br />
kreisen darum, wie er so schnell als möglich<br />
ins Schlafzimmer kommen könnte, die ihren, wie<br />
lange sie diesen Augenblick herauszögern kann.<br />
Und doch ist sie es, welche den ersten Impuls gibt,<br />
hinüber zum schmalen, hochpolstrigen Bett zu<br />
wechseln.<br />
Florence stammt aus sogenannt guter Familie,<br />
ihr Vater ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, ihre<br />
Mutter hat eine Professur für Philosophie inne. Edwards<br />
Familie hingegen bewohnt ein kleines Cottage<br />
und der Vater, Direktor einer Primarschule,<br />
muss nebst seinen berufl ichen auch die Haushaltspfl<br />
ichten übernehmen, da die Mutter, welche<br />
unter einem Gehirnschaden leidet, dazu nicht imstande<br />
ist.<br />
Die Heirat bedeutet für Edward jedoch<br />
wesentlich mehr als ein sozialer Aufstieg, auch<br />
wenn er nach der Hochzeit einen Posten in<br />
Schwiegervaters Firma antreten soll. Für beide ist<br />
es Liebe, die erste grosse. Dass sich Florence seit<br />
bald einem Jahr seinen physischen Annäherungsversuchen<br />
entzieht, beunruhigt Edward zwar, wie<br />
sie ihm aber das Heiratsversprechen gibt, glaubt<br />
er, dass sich das geben werde, mit der Zeit. Als es<br />
in der Hochzeitsnacht zum Eklat kommt, trennen<br />
sich ihre Wege für immer.<br />
McEwan, dessen Erfolgsroman «Atonement»<br />
dieses Jahr mit Keira Knightley und Vanessa Redgrave<br />
in den Hauprollen ins Kino kommt, ist mit<br />
«On Chesil Beach» zu seinen Anfängen zurückgekehrt.<br />
Er beleuchtet eine Zeit, die kaum mehr als<br />
vierzig Jahre zurückliegt, und doch um so vieles<br />
ferner scheint. Sein phantastisches Sprachgefühl<br />
machen dieses Kammerstück der Literatur zu einem<br />
einzigen Hochgenuss. (sw)<br />
McEwan, Ian: On Chesil Beach. Roman. Englisch.<br />
Jonathan Cape. London 2007. ISBN<br />
9780224081184. Das Erscheinungsdatum in<br />
Deutsch steht noch aus.<br />
literatur<br />
Karnevaleskes Fasten Jacques Le Goff, Nicolas<br />
Truong: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter.<br />
■ Bereits in den den späten 30er Jahren des<br />
letzten Jahrhunderts beklagte der Historiker Marcel<br />
Bloch das Fehlen einer Körpergeschichte des<br />
Abendlandes. Sein geistiger Urenkel in der Tradition<br />
der «Annales», Jacques Le Goff, liefert diese<br />
nun in einem, wenn auch dünnen, so doch in seinem<br />
Vorhaben umfangreichen Band.<br />
In vier Grosskapiteln – Fastenzeit und Karneval,<br />
Leben und Sterben im Mittelalter, Körper und<br />
Manieren sowie der Körper als Metapher – nähert<br />
er sich der Thematik unter verschiedenen Gesichtspunkten.<br />
Haupthese des Werks ist der deutliche Wechsel<br />
in Bezug auf die Körperwahrnehmung von der<br />
Antike hin zum Mittelalter. Galt in der Antike der<br />
gestählte männliche Körper als Schönheitsideal<br />
schlechthin, ist es im Mittelalter der malträtierte<br />
ausgezehrte Leib Jesu, der als Vorbild dient. Diese<br />
Vorlage ist nur durch beständige Selbstkasteiung<br />
mittels Fasten erreichbar, wobei die körperliche<br />
Leibesertüchtigung eine Nebenrolle spielt. Dafür<br />
spricht auch der Umstand, dass beispielsweise<br />
für die Turnierwettkämpfe im Mittelalter <strong>kein</strong>e eigenen<br />
Stadien geschaffen worden <strong>sind</strong>. Dennoch<br />
ist eine ständige Selbstkasteiung offenbar nicht<br />
aufrechtzuerhalten, weshalb die Phasen des Fastens<br />
auch immer wieder durch Zeiten der Völlerei<br />
abgelöst werden.<br />
Das tägliche Leben wird von unzähligen Regeln<br />
bestimmt, die durch ihr strenges Korsett Übertritte<br />
unvermeidbar werden lassen. Vor diesem<br />
Hintergrund werden körperliche Gebrechen und<br />
Krankheiten weitgehend als Strafe für eine den<br />
christlichen Geboten zuwiderlaufende Lebensführung<br />
gelesen.<br />
Auch wenn das Werk in seinem essayistischen<br />
Grundton gut zu lesen ist, vermittelt es oft weniger<br />
Antworten, als dass es zu neuerlichen Fragen anregt.<br />
Ganz im Sinne von je mehr man weiss, desto<br />
weniger weiss man. (sw)<br />
Le Goff, Jacques; Truong, Nicolas: Die Geschichte<br />
des Körpers im Mittelalter. Aus dem Französischen<br />
von Renate Wartmann. Klett-Cotta. Stuttgart 2007.<br />
ISBN 978-3-608-94080-0.<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 53 | Mai 07 13