Wir sind kein Rosengarten - Ensuite
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cinéma<br />
FILM<br />
formvollendetes fürchten mit david lynch<br />
Von Sarah Stähli (Bild: zVg.)<br />
■ Es ist ein grandios kunstvolles Spiel mit der<br />
Angst, zu dem uns das Enfant terrible des amerikanischen<br />
Kinos mit «Inland Empire» einlädt.<br />
Das Aufregende an David Lynchs Filmen ist, dass<br />
sie sich in <strong>kein</strong> Genre pressen lassen, er macht<br />
weder reine Horrorfi lme noch Kriminalfi lme. Er<br />
zielt auf unser Unterbewusstes. Es <strong>sind</strong> Kindheitsängste,<br />
Alptraumbilder, von denen er erzählt:<br />
Dunkle Räume und Treppenhäuser, verschlossene<br />
Türen, vertraute Gesichter, die sich in grässliche<br />
Fratzen verwandeln und aufdringliche Doppelgänger.<br />
Fünf Jahre liegen zwischen seinem letzten<br />
Werk «Mulholland Drive» und «Inland Empire».<br />
Obwohl vieles in seinem neuen Film so etwas wie<br />
Lynch-Klischees oder Selbstzitate <strong>sind</strong>, wird die<br />
eigene Marke nicht zur Masche. Eine derart experimentelle<br />
Filmsprache und so wenig Handlung:<br />
das überrascht sogar bei David Lynch. Nichtlineare<br />
Narration, diverse Handlungsstränge und Erzählperspektiven<br />
vermengt er zu einem elektrifi zierenden<br />
assoziativen Gesamtkunstwerk.<br />
Durch ein Brandloch in die Vergangenheit<br />
«Inland Empire» ist auch das gewaltige Comeback<br />
der Lynch-Muse Laura Dern. Wer sich in «Blue Velvet»<br />
ab ihrer biederen Naivität genervt hat, wird<br />
sie in «Inland Empire» vielleicht lieben lernen. Sie<br />
spielt in einer Tour de force mindestens drei Rollen,<br />
in denen sie zwischen White Trash und High Society<br />
changiert. Einer Alice im Angstland gleich öffnet<br />
sie ein Türchen nach dem anderen und betritt<br />
immer unheimlichere Welten; durch ein Brandloch<br />
in einem Seidentuch blickt sie zurück in eine rätselhafte<br />
polnische Vergangenheit.<br />
Nikki Grace ist Schauspielerin und wird für<br />
einen vielversprechenden Film engagiert. Bald<br />
stellt sich heraus, dass es sich dabei um ein Remake<br />
handelt – der Ursprungsfi lm wurde aus mysteriösen<br />
Gründen nie zu Ende gedreht. Anfangs<br />
wähnt man sich beinahe in einer Komödie. Lynch<br />
stellt die Dreharbeiten so dar, als sei das Ganze ein<br />
ziemlich lächerlicher Zirkus. Zum Beispiel wenn der<br />
Produzent – Harry Dean Stanton in einem grandiosen<br />
Kurzauftritt – von den Regieassistenten Geld<br />
borgt. Lynch, der am Filmemachen nichts mehr<br />
hasst als das Warten, verarbeitet diesen Frust in<br />
ein paar sehr amüsante Sequenzen. Man wünschte<br />
sich von Lynch einmal einen Film, der ganz Farce<br />
aufs Filmemachen ist. Bald schon verliert sich<br />
aber auch diese Episode in einem Labyrinth der<br />
Verwirrungen. Film im Film im Film ist die Grundlage<br />
dazu. Wann befi nden wir uns auf dem Filmset,<br />
wann in einem realen Gebäude? Kaum denkt<br />
man, das muss jetzt «Realität» sein und <strong>kein</strong> Filmdreh,<br />
erscheint ein sich langsam entfernender Kamerakran<br />
im Bild und aus dem Off ertönt ein<br />
«cut!».<br />
Verschwommene Scheiben Wer nach dem<br />
Drei-Stunden-Marathon im Saal sitzen bleibt in der<br />
Hoffnung, wenigstens in der abwegigen Endtitel-<br />
Sequenz eine Aufl ösung zu erhalten, wird nicht<br />
erlöst, sondern nur noch mehr verwirrt.<br />
Lynch ist Anhänger der transzendentalen Meditation<br />
und hat in letzter Zeit an seinen öffentlichen<br />
Auftritten zur Enttäuschung aller anwesenden<br />
Filmstudenten vor allem über seinen Guru gesprochen.<br />
Wovon «Inland Empire» handle, wisse er selber<br />
auch nicht genau, dass müsse jeder Zuschauer<br />
für sich selbst herausfi nden, meinte er in einem<br />
Interview und beschreibt seinen Film als «einen<br />
Blick durch verschwommene Scheiben des menschlichen<br />
Ichs auf dunkle Abgründe».<br />
Der Regisseur hat «Inland Empire» zum grössten<br />
Teil selber mit einer Digital-Videokamera gedreht.<br />
Er arbeitet mit Unschärfen, Überblendungen,<br />
verwirrenden Schnitten und unpassender Musik.<br />
Seine Freude an der ballastfreien Technik ist mit<br />
jeder Einstellung sichtbar, trotzdem verkommt der<br />
Film nie zu einer egomanischen Spielerei, die den<br />
Zuschauer links liegen lässt. Wie die junge Frau, die<br />
sich mit vor Angst geweiteten Augen eine seltsame<br />
Fernsehserie mit Hasen-Menschen anschaut – einer<br />
der wenigen roten Fäden in «Inland Empire» – können<br />
auch wir uns der surrealen Welt Lynchs nicht<br />
entziehen, möge sie noch so verstörend sein.<br />
Für Dern ist der Film eine Hommage Lynchs ans<br />
alte Hollywood und handle «vom Tod dessen, wofür<br />
Hollywood für ihn steht». Bestens veranschaulicht<br />
in der Sequenz, in der Nikki Blut auf die Sterne des<br />
Walk of Fame kotzt, um schliesslich neben einer<br />
Gruppe Obdachloser zusammenzubrechen. Der<br />
Film wurde in den USA im Eigenverleih lanciert. Als<br />
eigenwilliger Regisseur, der sich nicht reinreden<br />
lässt, hat es auch eine internationale Kultfi gur wie<br />
Lynch nicht leicht.<br />
«Geschichten <strong>sind</strong> Geschichten. Hollywood ist<br />
voll davon», heisst es einmal in «Inland Empire».<br />
Nach den ersten Minuten wird klar, dass dieser Film<br />
sehr viel mehr ist als nur eine weitere Geschichte<br />
aus Hollywood.<br />
«Inland Empire» läuft seit dem 26. April im Kino.<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 53 | Mai 07 23