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kritik der wertkritik kritik der kritik der wertkritik herrschaft, befreiung ...

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Gewohnheiten gibt, bereitet aber auch darauf vor,<br />

solche anzunehmen, sie ist <strong>der</strong>en Matrix. In <strong>der</strong><br />

gegenwärtigen Situation wird dieses vorbereitende<br />

Stadium jedoch in gewisser Weise zur permanenten<br />

Bedingung. Die Erfahrung verbleibt im Stadium <strong>der</strong><br />

Wie<strong>der</strong>holung, sie verwandelt sich nicht in<br />

Gewohnheit. Die Matrix verschwindet nicht unter<br />

<strong>der</strong> Aufhäufung ihrer Ausgestaltungen, son<strong>der</strong>n<br />

verharrt als solche stets sichtbar im Vor<strong>der</strong>grund.<br />

Unter dieser Voraussetzung verkehrt sich die<br />

Analogie zwischen Kindheit und technischer<br />

Reproduzierbarkeit in einen unlösbaren Konflikt.<br />

Wenn ein Kind das gleiche Märchen noch einmal<br />

zu hören verlangt o<strong>der</strong> dasselbe Spiel noch einmal<br />

spielt, nimmt es jedes Mal das Gleiche als einzigartig<br />

wahr. Jede Wie<strong>der</strong>holung hat den Wert eines<br />

Prototypen, eines Meilensteins. Mit <strong>der</strong> Instanz des<br />

„noch einmal“ ist stets das „ein für alle Male“ verbunden:<br />

In je<strong>der</strong> einzelnen Wie<strong>der</strong>holung wird eine<br />

Art von Vollkommenheit gesucht. Umgekehrt spielt<br />

die technische Reproduzierbarkeit, indem sie die<br />

Gleichheit sogar im Einzigartigen geltend macht,<br />

das „noch einmal“ gegen das „ein für alle Male“ aus.<br />

Der Wie<strong>der</strong>holung im Spiel setzt sie den Wie<strong>der</strong>holungszwang<br />

<strong>der</strong> Warenwelt und <strong>der</strong> Lohnarbeit<br />

entgegen. Während die Kindheit dem Fehlen von<br />

Gewohnheiten über eine beson<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> „ewigen<br />

Wie<strong>der</strong>kehr“ beizukommen versucht, stellt die<br />

Kulturindustrie die nackte Wie<strong>der</strong>holung als<br />

Surrogat <strong>der</strong> Gewohnheit dar, sie äfft das Verlorengegangene<br />

nach und konstruiert falsche, aber scheinbar<br />

verbindliche „Traditionen“.<br />

Die Gesellschaft des reifen Kapitalismus ist bloß<br />

pueril: Es gilt, gegen sie die Kräfte <strong>der</strong> Kindheit zu<br />

mobilisieren, aus denen sie auf beliebige Weise<br />

schöpft, diese jedoch zu einem alptraumhaften<br />

Kin<strong>der</strong>garten verkommen lässt.<br />

Die Entgegensetzung von stets aktueller<br />

Erfahrung <strong>der</strong> Kindheit und ihrer Karikatur, die wir<br />

„pueril“ genannt haben, zeigt sich auf Schritt und<br />

Tritt. Dies gilt in beson<strong>der</strong>em Maße für die so genannte<br />

Freizeit, <strong>der</strong>en Anwachsen die westlichen<br />

Gesellschaften auf ambivalente Weise prägt. Sobald<br />

die Ethik <strong>der</strong> Arbeit, die so viel zur Definition <strong>der</strong><br />

„Erwachsenen“ beigetragen hat, an Einfluss verliert,<br />

passt sich die Gestaltung <strong>der</strong> überschüssigen Zeit<br />

entwe<strong>der</strong> einem zerstreuten und „puerilen“ Modell<br />

an (dies entspräche <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> erwachsenen<br />

ArbeiterInnen auf die Kin<strong>der</strong>), o<strong>der</strong> es wird versucht,<br />

an die Ernsthaftigkeit <strong>der</strong> Kindheit anzuschließen.<br />

Eine Kritik <strong>der</strong> Freizeit muss sich an diese<br />

Alternative halten: Für diejenigen, die im Namen<br />

<strong>der</strong> Arbeit auf pedantische und besserwisserische<br />

Weise die eigene „Reife“ ins Treffen führen, gibt es<br />

indessen nichts zu holen.<br />

Auch und vor allem in einer Notsituation hat <strong>der</strong><br />

Schrecken etwas „Pueriles“ an sich und verlangt<br />

nach einem „kindlichen“ Gegenmittel. Die<br />

Gefängniszelle zum Beispiel stellt eine gewohnte<br />

menschliche Umgebung dar: ein Zimmer, das mit<br />

dem Notwendigsten ausgestattet ist, das jedoch einer<br />

leicht parodistischen Verän<strong>der</strong>ung unterzogen<br />

wurde. Es handelt sich um die „puerile“ Version <strong>der</strong><br />

gewohnten Dinge und Verrichtungen. Das am<br />

Fußboden festgenagelte Bett lässt an eine alte Wiege<br />

auf einem Bauernhof denken. Wenn es einen Eimer<br />

gibt, dann erinnert dieser an einen Nachttopf, wenn<br />

auch auf bedrückende und fast boshafte Weise. Die<br />

Hocker sind zu klein und meist aus Plastik. Das zu<br />

hohe Fenster flößt jenes Gefühl <strong>der</strong> Einschüchterung<br />

ein, das die Kin<strong>der</strong> so gut kennen. Die<br />

Einrichtung ist lilliputanisch, sie besteht aus an die<br />

Wand gehängten Zigarettenschachteln, Gegenständen<br />

aus Altpapier und Kartons o<strong>der</strong> kleinen<br />

Holzstücken. Die Zelle hat etwas von einem unheimlichen,<br />

aus wie<strong>der</strong> verwendeten Materialen zusammengebauten<br />

Puppenhaus. Und sie macht allen<br />

Umständen zum Trotz einen vollgerammelten Eindruck.<br />

Der erfahrenen Häftlinge, die den Betrieb kennen,<br />

wissen, dass es sinnlos ist, <strong>der</strong> Albernheit des<br />

Gefängnisses eine eingebildete erwachsene „Autonomie“<br />

entgegen zu setzen, son<strong>der</strong>n dass sie sich in<br />

jedem Augenblick den kindlichen Sinn für das<br />

Unbehagen und die Prekarität lebendig erhalten<br />

müssen, um sich <strong>der</strong> Gewöhnung an die Umstände<br />

zu wi<strong>der</strong>setzen. Deshalb muss die Zelle so karg wie<br />

möglich ausgestattet sein, damit sie immer ungewohnt<br />

erscheint.<br />

In seinem bedeutenden Buch über Kindheit und<br />

Geschichte 3 bemerkt Giorgio Agamben, dass, würden<br />

wir mit einer perfekt ausgebildeten Sprache zur Welt<br />

kommen, diese die gleiche Funktion hätte wie etwa<br />

<strong>der</strong> Geruchssinn bei den Tieren. Sie wäre also wie ein<br />

Orientierungsorgan in einer Umwelt, in die wir eingetaucht<br />

wären wie in eine Art Fruchtwasser, ohne<br />

dass wir die Möglichkeit hätten, daraus auszubrechen<br />

o<strong>der</strong> sie zu verän<strong>der</strong>n. Umgekehrt ausgedrückt, bedeutet<br />

eine Kindheit zu haben und die Erfahrung des<br />

Zugangs zur Sprache durchzumachen, einen dauerhaften<br />

Bruch zwischen dem menschlichen Wesen<br />

und jeglicher bestimmten Umwelt. Besser gesagt, haben<br />

wir dank des schrittweise vollzogenen Übergangs<br />

von <strong>der</strong> Stummheit des sinnlichen Lebens zur<br />

artikulierten Rede keine „Umwelt“, son<strong>der</strong>n eine<br />

Welt. Eine Welt, <strong>der</strong> wir zugehören, wobei mannigfache<br />

Wi<strong>der</strong>stände und die Unvollkommenheit <strong>der</strong><br />

wechselseitigen Durchdringung weiter bestehen bleiben.<br />

Eine historische Welt, die zu verän<strong>der</strong>n ist. Die<br />

Kindheit, die einen <strong>der</strong> Umwelt entreißt, öffnet die<br />

Möglichkeit <strong>der</strong> Geschichte.<br />

Anmerkungen zur Grammatik <strong>der</strong> Multitude<br />

Paolo Virno<br />

grundrisse_16_2005 seite_55<br />

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