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kritik der wertkritik kritik der kritik der wertkritik herrschaft, befreiung ...

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dass sich das Idyll in einen Alptraum verkehrt<br />

hat.<br />

Das Begriffspaar heimlich/unheimlich<br />

hätte es verdient, im Mittelpunkt <strong>der</strong> ethischen<br />

Reflexion <strong>der</strong> Gegenwart zu stehen.<br />

Um sich davon zu überzeugen, genügt es,<br />

daran zu erinnern, dass <strong>der</strong> Begriff ethos seinerseits<br />

nichts an<strong>der</strong>es bedeutet als<br />

„Gewohntsein“. Wenn man <strong>der</strong> Etymologie<br />

Glauben schenkt, so ist nicht die an<br />

„Werten“ und „Seinsollen“ reiche Lebensform<br />

ethisch, son<strong>der</strong>n diejenige, die den<br />

Vorteil <strong>der</strong> rechten Gewohnheiten genießt,<br />

die von den Einzelnen bis ins Innerste anerkannt<br />

werden. Allerdings ist heute nichts so<br />

paradox und exzentrisch, letztlich so ungewöhnlich,<br />

wie die For<strong>der</strong>ung nach einer festen<br />

„Gewohnheit“, die den Blick und das<br />

Handeln sicher zu leiten imstande ist.<br />

Nichts klingt so falsch, so verdächtig und so<br />

unheimlich.<br />

Man weiß, die Hauptleidenschaft <strong>der</strong> kapitalistischen<br />

Mo<strong>der</strong>ne bestand darin, alle<br />

Wurzeln, eine nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, abzutrennen,<br />

die traditionellen Gesellschaften zu zerstören,<br />

das Gewohnte durch die Wie<strong>der</strong>holung<br />

zu ersetzen (eigentlich durch den<br />

Wie<strong>der</strong>holungszwang). Gegenüber dem blendenden<br />

Schein <strong>der</strong> Technik und allgemein<br />

angesichts des Universalismus <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />

Produktivkräfte geraten die<br />

Wege des Heimlichen ins Zwielicht. Alles ist<br />

vertraut und zugleich fremd; ohne<br />

Geheimnis und dennoch unvorhersehbar.<br />

Gerade in dieser Situation <strong>der</strong> unumkehrbaren<br />

Entwurzelung kehren unbestreitbar<br />

Formen archaischer Zugehörigkeit, Schutzwälle<br />

und schicksalhafte Identitäten zurück.<br />

Es wäre ein Fehler, dieses Wie<strong>der</strong>aufflammen<br />

als den „romantischen“<br />

Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> VerteidigerInnen einer traditionellen<br />

Ordnung zu verstehen. In Bezug<br />

auf diese Ordnung haben wir keine direkte<br />

Erinnerung mehr. Seit langer Zeit revolutioniert<br />

die „Mo<strong>der</strong>nisierung“ nur mehr<br />

Bereiche <strong>der</strong> Erfahrung, die sich bereits<br />

durch Konventionen und technische Entwicklung<br />

auszeichnen, die bereits und immer<br />

wie<strong>der</strong> von einschneidenden Innovationen<br />

erfasst worden sind. Das Beschwören <strong>der</strong><br />

vertrauten Wurzeln ist selbst ultramo<strong>der</strong>n:<br />

Es ist genauso virulent wie verschroben,<br />

handelt es sich im beson<strong>der</strong>en Fall doch immer<br />

um die Plastikversion von „Blut und<br />

Boden“, um künstliche Supermarkt-<br />

Archaismen. Das einstmals Heimliche kehrt<br />

als mediales Pogrom, als Werbespot über den<br />

„ethnischen Stolz“, als postindustrielle<br />

Unterwerfung <strong>der</strong> Körper wie<strong>der</strong>: als<br />

Unheimliches also. Wer Heimat, Gemeinschaft,<br />

authentisches Leben zu sagen versucht,<br />

stößt unartikulierte und furchterregende<br />

Schreie aus, die eines Wie<strong>der</strong>gängers<br />

würdig sind. Die Vermischung des Vertrauten<br />

und des Erschreckenden gestaltet<br />

sich nunmehr systematisch: Das Erste erfährt<br />

man nur, wenn man auf das Zweite<br />

stößt.<br />

Jean Améry (Pseudonym von Hans<br />

Mayer, einem österreichischen Juden, <strong>der</strong><br />

vor den Nazis nach Belgien floh, später gefangen,<br />

gefoltert und in ein Konzentrationslager<br />

deportiert wurde) widmet ein<br />

Kapitel seines Buchs Jenseits von Schuld<br />

und Sühne 5 <strong>der</strong> Frage: „Wieviel Heimat<br />

braucht <strong>der</strong> Mensch?“. Heimat wird hier<br />

wohlgemerkt nicht als Nationalstaat verstanden,<br />

son<strong>der</strong>n als <strong>der</strong> vertraute Ort, an<br />

dem man aufgewachsen ist.<br />

Auf wenigen Seiten entwirft Améry eine<br />

wun<strong>der</strong>bare Phänomenologie des Exils. Die<br />

Erfahrung <strong>der</strong> Entwurzelung enthüllt ihre<br />

Grausamkeit vor allem für Menschen, die<br />

we<strong>der</strong> religiös sind (<strong>der</strong> Glaube <strong>der</strong><br />

Vorfahren ist eine Art von Reserveheimat,<br />

insofern er von konkreten Orten unabhängig<br />

ist), noch über Geld verfügen (mittels<br />

Banknoten kann man sich je<strong>der</strong>zeit ebenso<br />

druckfrische Wurzeln verschaffen), noch berühmt<br />

sind. In vielerlei Hinsicht ähnelt die<br />

Emigration dem Altern. Die typischen<br />

Erscheinungen des individuellen Verfalls<br />

werden auf die soziale Ebene projiziert, angefangen<br />

vom Gefühl, man „verstehe die<br />

Welt nicht mehr“. 6 In Belgien leidet Améry<br />

unter einer unheilbaren „Instabilität“: Er<br />

orientiert sich nur schlecht in <strong>der</strong> neuen<br />

Umgebung und hat jene instinktive Fähigkeit<br />

verloren, die Dinge zu erkennen und zu<br />

unterscheiden, jene Fähigkeit also, die allein<br />

vor den Fährnissen des Zufalls Schutz bieten<br />

kann. Bei den Gesten <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en kann er<br />

die Gleichgültigkeit ihm gegenüber nicht auf<br />

Anhieb von einer eventuellen Bedrohung<br />

unterscheiden. Kulturelle Rituale, die sich<br />

vor seinen Augen abspielen, entgehen ihm,<br />

selbstverständliche Verweise auf einen gemeinsamen<br />

Hintergrund versteht er nicht zu<br />

entschlüsseln, die Freude an den<br />

Nuancierungen kommt ihm abhanden.<br />

Anmerkungen zur Grammatik <strong>der</strong> Multitude<br />

Paolo Virno<br />

grundrisse_16_2005 seite_57<br />

9

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