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kritik der wertkritik kritik der kritik der wertkritik herrschaft, befreiung ...

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9<br />

Die Diagnose, die Améry über das Exil erstellt,<br />

weist viele Entsprechungen zu einer Beschreibung<br />

<strong>der</strong> gewöhnlichen urbanen Erfahrung auf (<strong>der</strong> Autor<br />

ist sich dessen bewusst), zur Erschütterung, die die<br />

ständige Wandlung in den Arten, zu arbeiten und zu<br />

kommunizieren, im Bewusstsein und in den Sinnen<br />

auslöst. Wer kann – angesichts <strong>der</strong> Elastizität <strong>der</strong><br />

Beschäftigungen und Tätigkeiten im Postfordismus –<br />

heute schon von sich sagen, er o<strong>der</strong> sie sei seiner<br />

selbst vollkommen sicher und verfüge über ein gewisses<br />

Maß an Voraussicht? Wer könnte schon mit einem<br />

Sicherheitsnetz gegen die Zufälle und<br />

Verwerfungen des „Neuen“ prahlen? So wie Belgien<br />

dem Flüchtling Améry fremd war, bleibt die urbane<br />

Landschaft den Menschen, die doch an sie gewohnt<br />

sind und woan<strong>der</strong>s nicht leben könnten, fremd.<br />

Wenn uns das Exil arm macht, so erdrückt uns<br />

förmlich die Sehnsucht nach dem vermeintlichen<br />

Reichtum des „Ursprungs“. Diesbezüglich berichtet<br />

Améry von einem exemplarischen Erlebnis: 1943<br />

hielten sich <strong>der</strong> Autor und seine Freunde vom<br />

Wi<strong>der</strong>stand öfters in einer Wohnung auf, die genau<br />

über einer von <strong>der</strong> SS besetzten Wohnung lag.<br />

„Eines Tages nun ereignete es sich, daß <strong>der</strong> unter<br />

unserem Versteck wohnende Deutsche sich durch<br />

unser Reden und unsere Hantierungen in seiner<br />

Nachmittagsruhe gestört fühlte. Er stieg hoch,<br />

pochte hart an die Tür, trat polternd über die<br />

Schwelle.“ Mit aufgeknöpfter Uniformjacke und<br />

vom Schlaf geröteten Augen hatte er offensichtlich<br />

kein Interesse daran, Fragen zu stellen, son<strong>der</strong>n verlangte<br />

bloß, sie sollten keinen Lärm machen. Und<br />

nun kommt <strong>der</strong> entscheidende Punkt: „Er stellte<br />

seine For<strong>der</strong>ung – und dies war für mich das eigentlich<br />

Erschreckende an <strong>der</strong> Szene – im Dialekt meiner<br />

engeren Heimat. Ich hatte lange diesen Tonfall<br />

nicht mehr vernommen, und darum regte sich in<br />

mir <strong>der</strong> aberwitzige Wunsch, ihm in seiner eigenen<br />

Mundart zu antworten. Ich befand mich in einem<br />

paradoxen, beinahe perversen Gefühlszustand von<br />

schlottern<strong>der</strong> Angst und gleichzeitig aufwallen<strong>der</strong><br />

familiärer Herzlichkeit, denn <strong>der</strong> Kerl [...] erschien<br />

mir plötzlich als ein potentieller Kamerad. Genügte<br />

es nicht, ihn in seiner, meiner Sprache anzureden,<br />

um dann beim Wein ein Heimat- und<br />

Versöhnungsfest zu feiern?“ 7<br />

In diesem Augenblick erkennt Améry ein für alle<br />

Mal, wie abstoßend Heimatgefühle sind. Mehr<br />

noch, er ahnt, dass es so etwas wie einen gewohnten<br />

Ort nie gegeben hat und dass es selbstzerstörerisch<br />

wäre, ihm nachzutrauern („Unsere Reisen nach<br />

„Hause“ erfolgten mit falschen Dokumenten und<br />

gestohlenen Stammbäumen.“ ). Wer nach seinen<br />

Wurzeln sucht, den (die) wird früher o<strong>der</strong> später<br />

wegen des Dialekts eines SS-Mannes ein Gefühl <strong>der</strong><br />

Rührung überkommen. Dabei handelt es sich um ei-<br />

ne Art von Rührung, zu <strong>der</strong> auch Menschen neigen,<br />

die in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Großstadt den Traum einer<br />

kleinen imaginären Heimat hegen und pflegen, die<br />

es ihrer Ansicht nach mit allen Kräften wie<strong>der</strong> zu erschaffen<br />

gilt.<br />

Es ist besser, sich an das seelische und sinnliche<br />

Elend des Exils o<strong>der</strong> <strong>der</strong> sozialen Entwurzelung zu<br />

halten, als Bil<strong>der</strong> einer mit verstörenden Versprechen<br />

aufgeladenen „Vertrautheit“ zu hegen.<br />

Allerdings drängt sich hier ein „Aber“ auf: Trotz allem<br />

ist es nutzlos (und letzten Endes gefährlich),<br />

sich achselzuckend vom Bedürfnis nach einem gewohnten<br />

Ort abwenden zu wollen. Améry weiß das<br />

natürlich. Wenn man auch die Fallen des Heimwehs<br />

sorgsam umgangen hat, bleibt man „darauf gestellt,<br />

in Dingen zu leben, die uns Geschichten erzählen“ 8 ,<br />

dem eigenen Lebenszusammenhang gegenüber so<br />

etwas wie sinnliches Wohlbefinden zu verspüren.<br />

Wir wandeln also auf einem schmalen Grat: Das<br />

Wohlbefinden stellt eine historische Wette dar, nicht<br />

einen vorab zugesicherten Besitz. Eine Aufgabe, die<br />

vor uns liegt, nicht ein uns zufallendes Erbe. Besser<br />

noch, es ist eine Erfahrung, die nur aufgrund eines<br />

Exils in Belgien o<strong>der</strong> des umfassenden Unbehagens<br />

in <strong>der</strong> Großstadt entstehen kann. Man muss also die<br />

Gewohnheit, den ethos, als das verstehen, was den<br />

„Wurzeln“ diametral entgegengesetzt ist, und also<br />

das, was sich erst zu erkennen gibt, wenn von den<br />

Wurzeln nichts mehr übrig geblieben ist. Was aber<br />

ist letztlich diese nicht-ursprüngliche, nicht vorausgesetzte<br />

„Gewohnheit“ zweiten Grades? Grob gesagt<br />

und ungefähr gesprochen, annäherungsweise<br />

und mehr o<strong>der</strong> weniger genau ausgedrückt, fällt ihre<br />

Möglichkeit mit <strong>der</strong> stets aufgeschobenen<br />

Aktualität dessen zusammen, was man seit zweihun<strong>der</strong>t<br />

Jahren mit dem Namen Kommunismus bezeichnet.<br />

Aus dem Italienischen von Klaus Neundlinger<br />

Anmerkungen:<br />

1 Paolo Virno: Grammatik <strong>der</strong> Multitude / Der Engel des General<br />

Intellect. Wien: Turia & Kant 2005.<br />

2 Walter Benjamin: Kritiken und Rezensionen. Gesammelte<br />

Schriften Band III. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 131.<br />

3 Giorgio Agamben: Kindheit und Geschichte. Zerstörung <strong>der</strong><br />

Erfahrung und Ursprung <strong>der</strong> Geschichte. Frankfurt a. M.:<br />

Suhrkamp 2004.<br />

4 Sigmund Freud, „Das Unheimliche“, in: Studienausgabe Band IV,<br />

Frankfurt am Main, 1982, Seite 250.<br />

5 Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche<br />

eines Überwältigten. München: Deutscher Taschenbuch Verlag<br />

1988.<br />

6 Viele Stellen in Amérys Buch Über das Altern kann man als<br />

Ergänzung zum Kapitel über den Verlust <strong>der</strong> Heimat in Jenseits<br />

von Schuld und Sühne lesen, und umgekehrt.<br />

7 Améry, Jenseits von Schuld und Sühne, 67/8.<br />

8 Ebd., 76.<br />

Paolo Virno Anmerkungen zur Grammatik <strong>der</strong> Multitude<br />

seite_58 grundrisse_16_2005

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