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Vorsicht: Werte! - GEW

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GASTKOMMENTAR<br />

„Leitkultur“:<br />

Würde des Menschen<br />

Zu heftigem Streit gab der Begriff der Leitkultur<br />

Anlass, als der damalige stellvertretende<br />

Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,<br />

Friedrich Merz, ihn offensiv in<br />

einer migrationspolitischen Debatte verwendete<br />

und dabei nicht nur von „Leitkultur“,<br />

sondern von „deutscher Leitkultur“<br />

sprach. Den Begriff geprägt hatte vorher bereits<br />

der Politologe Bassam Tibi. Angesichts<br />

eines unbestreitbaren Anwachsens islamistischen<br />

Fundamentalismus ging es Tibi darum,<br />

Prinzipien einer säkularen, auf Rechtsstaatlichkeit,<br />

Demokratie und Toleranz beruhenden<br />

politischen Kultur zu verteidigen. Er<br />

schrieb in diesem Kontext –<br />

anders als Merz – von „europäischer<br />

Leitkultur“.<br />

Merz selbst distanzierte<br />

sich trotz heftiger Kritik<br />

von Einwandererverbänden<br />

und der politischen<br />

Linken nicht von seinen<br />

Äußerungen. Der Unionspolitiker<br />

beharrte darauf,<br />

dass sich Immigranten der<br />

Kultur des Einwanderungslandes<br />

anzupassen hätten<br />

– einer Kultur, die mehr umfasst<br />

als Rechts- und Verfassungsgrundsätze,näm-<br />

lich auch Sitten und Gebräuche<br />

des Alltags und Micha Brumlik<br />

des Feiertages sowie wesentliche<br />

Kenntnisse der<br />

nationalen kulturellen Überlieferung.<br />

Der zentrale Wert der deutschen Verfassung,<br />

des Grundgesetzes, ist einer, der auf<br />

den ersten Blick sehr abstrakt erscheint. Es<br />

war die kosmopolitische Philosophie der<br />

Aufklärung, zumal Immanuel Kants, welche<br />

die nach Ende des Nationalsozialismus entstandene<br />

deutsche Verfassung, das Grundgesetz,<br />

wesentlich geprägt hat. Als oberstes<br />

Prinzip seiner Ethik weist Kant in der<br />

„Metaphysik der Sitten“ aus: „Nach diesem<br />

Prinzip ist der Mensch sowohl sich<br />

selbst als andern Zweck und es ist nicht genug,<br />

dass er weder sich selbst noch andere<br />

bloß als Mittel zu brauchen befugt ist, sondern<br />

den Menschen überhaupt sich zum<br />

Zwecke zu machen, ist des Menschen<br />

Pflicht.“<br />

Einen Menschen als Zweck seiner Selbst zu<br />

betrachten, bedeutet, ihn in mindestens<br />

drei wesentlichen Dimensionen zu achten,<br />

zu tolerieren und anzuerkennen. Es heißt,<br />

2 Erziehung und Wissenschaft 2/2009<br />

ihn zu bejahen in seiner körperlichen Integrität,<br />

personalen Identität und soziokulturellen<br />

Zugehörigkeit. Damit korrespondiert<br />

ein Verbot zu demütigen und hat mit der<br />

Würde eines Menschen zu tun als dem<br />

äußeren Ausdruck seiner Selbstachtung.<br />

Jener Haltung, „die Menschen ihrem eigenen<br />

Menschsein gegenüber einnehmen,<br />

und die Würde ist die Summe aller Verhaltensweisen,<br />

die bezeugen, dass ein<br />

Mensch sich selbst tatsächlich achtet“.<br />

Selbstachtung wird verletzt, wenn man<br />

Menschen die Kontrolle über ihren Körper<br />

nimmt, sie als die Personen, die sie sprechend<br />

und handelnd sind,<br />

nicht respektiert oder die<br />

Gruppen oder sozialen Umgebungen,<br />

denen sie entstammen,<br />

herabsetzt und verächtlich<br />

macht. Tatsächlich bindet<br />

das Prinzip der Würde<br />

zunächst und vor allem die<br />

staatliche Gewalt, die Rechtsetzung<br />

und Rechtsprechung.<br />

Doch: Es ist sinnvoll und<br />

möglich, dieses die staatliche<br />

Gewalt bindende – und das<br />

heißt immer auch individuell<br />

einschränkende – Prinzip<br />

durch Bildung und Erziehung<br />

den (künftigen) Bürgerinnen<br />

und Bürgern so zu vermitteln,<br />

dass sie ihm zumindest in<br />

ihrem persönlichen Handeln<br />

nicht widersprechen, ihm im besten Fall sogar<br />

genügen.<br />

Damit sind zugleich Ziele einer Bildungspolitik<br />

vorgegeben, die sich an einer wirklich<br />

wertbezogenen Leitkultur orientieren. Sie<br />

sind als einzige in einer globalisierten Welt<br />

hoher Mobilität und damit auch von Immigration<br />

tragfähig. Letztlich sind die Wertmaßstäbe<br />

einer auf dem Prinzip der Würde<br />

des Menschen beruhenden Leitkultur keine<br />

anderen als jene, die dem weltweiten Anspruch<br />

einer zugegebenermaßen international<br />

nur zögerlich akzeptierten Menschenrechtskultur<br />

entsprechen.<br />

Menschenrechtskultur bei den Heranwachsenden<br />

zu entfalten und zu stärken, dazu<br />

bedarf es großer pädagogischer Anstrengungen<br />

– zunächst und zuerst in der Bildung<br />

eines demokratischen Charakters.<br />

Micha Brumlik, Professor für Erziehungswissenschaft<br />

an der Johann-Wolfgang-<br />

Goethe-Universität, Frankfurt am Main<br />

Foto: dpa<br />

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Seite 5<br />

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Impressum<br />

Erziehung und Wissenschaft<br />

Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung · 61. Jg.<br />

Herausgeber: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft<br />

im Deutschen Gewerkschaftsbund.<br />

Vorsitzender: Ulrich Thöne.<br />

Redaktion: Ulf Rödde (verantwortlich),<br />

Helga Haas-Rietschel.<br />

Redaktionsassistenz: Renate Körner.<br />

Postanschrift der Redaktion:<br />

Reifenberger Straße 21, 60489 Frankfurt a. M.,<br />

Telefon (0 69) 7 89 73-0, Telefax (0 69) 7 89 73-202.<br />

Internet: www.gew.de<br />

Redaktionsschluss ist der 10. eines jeden Monats.<br />

Erziehung und Wissenschaft erscheint elfmal jährlich, jeweils<br />

am 5. des Monats mit Ausnahme der Sommerferien.<br />

Gestaltung: Werbeagentur Zimmermann,<br />

Heddernheimer Landstraße 144, 60439 Frankfurt<br />

Druck: apm AG, Kleyerstraße 3, 64295 Darmstadt.<br />

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Tel. (0201) 84300-0,Telefax (0201) 472590,<br />

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ISSN 0342-0671

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