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Vorsicht: Werte! - GEW

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Estland macht Schule<br />

Onlineklassenbuch und selbstgebaute Schulmöbel<br />

Die Esten haben nach dem Zusammenbruch<br />

der Sowjetunion zügig die<br />

Modernisierung ihres Bildungssystems<br />

vorangetrieben. Eine Schulstippvisite<br />

bei den baltischen Nachbarn.<br />

Der Pausengong ertönt.<br />

Sirjes Schülerinnen und<br />

Schüler der Klasse 8 stürmen<br />

hinaus. Sirje selbst<br />

bleibt, denn der Klassenraum<br />

ist zugleich ihr Arbeitszimmer<br />

– ausgestattet mit eigenem<br />

PC und Internetzugang. Über ein Lehrerzimmer<br />

verfügt ihre Schule, ein<br />

Gymnasium in Võru im Süden Estlands,<br />

nicht. Dafür hat jede Lehrkraft einen eigenen<br />

Arbeitsplatz im Klassenzimmer<br />

oder in einem Nebenraum. Hier lassen<br />

sich nach der Stunde und am Ende des<br />

Schultages in Ruhe die notwendigen<br />

Verwaltungsaufgaben erledigen, kann<br />

der Unterricht vor- und nachbereitet<br />

werden. Ein „normales“ Klassenbuch<br />

sucht man allerdings vergeblich. Stattdessen<br />

loggt sich Sirje in das System<br />

eKool (www.ekool.ee) ein, ein Informationssystem,<br />

das speziell für Schulen<br />

entwickelt wurde und über Internet<br />

funktioniert. Hier trägt die Pädagogin<br />

Berufliche<br />

Bildung<br />

Eine berufliche Schule in Väimela.<br />

Peeter steht an der modernen Werkbank<br />

in der schuleigenen Schreinerei<br />

und werkelt an seinem ersten<br />

Stuhl. Er ist am Ende des ersten<br />

Lehrjahres. Bis zu diesem Zeitpunkt<br />

soll jeder Schüler und jede Schülerin,<br />

der/die in einem holzverarbeitenden<br />

Beruf ausgebildet wird, ein<br />

Möbelstück hergestellt haben. Der<br />

Stuhl, das Pult oder das Regal wird<br />

dann in der berufsbildenden Schule<br />

genutzt. Ein Rundgang durch diese<br />

Schule verdeutlicht, wie schön und<br />

harmonisch sich das Holz Estlands<br />

ins Schulgebäude integriert hat: Jeder<br />

Fensterrahmen, jede Tür, jedes<br />

Pult und jeder Stuhl stammt aus der<br />

schuleigenen Schreinerei. Schmierereien<br />

auf Pulten gibt es nicht.<br />

alle Informationen ein, die sonst im<br />

Klassenbuch stünden: An- und Abwesenheiten,<br />

Unterrichtsinhalte, Hausaufgaben,<br />

die Noten der Schüler. Deren<br />

Eltern können sich von zuhause ebenfalls<br />

in das System einloggen und so erfahren,<br />

was ihre Sprösslinge in der Schule<br />

gerade „durchmachen“ und welche<br />

Noten sie erhielten. Haben sie Fragen,<br />

können sie diese direkt per E-Mail an<br />

den Klassenlehrer senden. Selbstverständlich<br />

haben die Eltern nur Einsicht<br />

in die Noten ihres eigenen Kindes,<br />

während der Klassenlehrer sich die Noten<br />

aus allen Kursen seiner Schüler anschauen<br />

kann.<br />

„Tigersprung-Programm“<br />

Das Gymnasium in Võru ist nur eine<br />

von rund 220 Schulen in Estland, die<br />

ihre Klassen- und Notenbuchführung<br />

komplett auf Online-Basis umgestellt<br />

haben. Das so genannte Tigersprung-<br />

Programm setzte sich 1997 das Ziel,<br />

Schulen mit Hilfe von Informationsund<br />

Kommunikationstechnologien so<br />

weiterzuentwickeln, dass es den Bedürfnissen<br />

und Anforderungen einer Informationsgesellschaft<br />

entspricht. Die Folge:<br />

Sämtliche Schulen in Estland verfügen<br />

heute über Internetzugang. Weltweit<br />

einmalig hat Estland den kostenlosen<br />

Internetzugang als Grundrecht<br />

verankert!<br />

Die intensive und zwanglose Nutzung<br />

von Internet und Multimedia in Schule<br />

und Unterricht ist nur ein Beispiel für<br />

die Neuausrichtung des estnischen Bildungssystems.<br />

Modernen Anforderungen<br />

genügt mittlerweile auch die Ausstattung<br />

der Schulen: Die Schulgebäude<br />

sind frisch renoviert, verfügen über<br />

Kantinen, Bibliotheken und Rückzugsbereiche<br />

für das selbstständige Lernen,<br />

viele Klassenräume besitzen PCs und<br />

Beamer. Für diese Ausstattung investierte<br />

der estnische Staat 2005 fünf Prozent<br />

des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Weitere<br />

Mittel stammen aus EU-Fördergeldern.<br />

Der estnische Staat reformierte<br />

auch die Schulformen. Seit 1992 ist das<br />

längere gemeinsame Lernen bei den<br />

Esten in der neunjährigen Grundschule<br />

Pflicht. Erst mit 16 Jahren legen sich die<br />

Jugendlichen auf das Gymnasium<br />

(Sek.II) oder die Berufsschule fest. Der<br />

Erfolg scheint dem Modernisierungswillen<br />

der Esten recht zu geben: Bei ih-<br />

Foto: Gundula Kienel-Hemicker<br />

rer ersten Teilnahme an PISA 2006 erreichten<br />

die Schülerinnen und Schüler<br />

in den Naturwissenschaften auf Anhieb<br />

den fünften Platz, im Lesen langte es für<br />

den 13. und in Mathematik immerhin<br />

für den 14. Platz von 57 teilnehmenden<br />

Staaten. Damit liegt das baltische Land<br />

deutlich vor den anderen osteuropäischen<br />

Staaten.<br />

Neben dem Erfolg auch Sorgen<br />

Trotz der sichtbaren Modernisierung<br />

und der vorderen Platzierungen bei<br />

PISA plagen estnische Bildungspolitiker<br />

aber auch Sorgen: Der Lehrerberuf ist<br />

für die jungen Esten nicht attraktiv, die<br />

Kollegien sind überaltert und teilweise<br />

unzureichend ausgebildet. Eine universitäre<br />

Ausbildung ist bei vielen älteren<br />

Kollegen nicht selbstverständlich. Bis<br />

heute weist die Lehrerbildung – vor allem<br />

im Bereich der Berufsschulen –<br />

noch starke Mängel auf. So gibt es bisher<br />

keinen ausgewiesenen Studiengang<br />

für angehende Berufsschullehrer. Zudem<br />

macht sich heute der starke Geburtenrückgang<br />

in den 1990er-Jahren bemerkbar:<br />

Kleinere Schulen werden wegen<br />

zu geringer Schülerzahlen geschlossen,<br />

Lehrerinnen und Lehrer teilweise<br />

umgeschult. Dennoch: Ein Blick in den<br />

Alltag an estnischen Schulen zeigt, wie<br />

schnell das Land nach der Unabhängigkeit<br />

1991 durch Reformfreude und Investitionen<br />

in den Bildungssektor beeindruckende<br />

Fortschritte erzielt hat<br />

.<br />

Gundula Kienel-Hemicker,<br />

Diplom-Handelslehrerin<br />

BILDUNGSPOLITIK<br />

In der schuleigenen<br />

Schreinerei stellen<br />

Berufsschüler, die<br />

einen holzverarbeitenden<br />

Beruf erlernen,<br />

Möbel für ihre<br />

Einrichtung her.<br />

2/2009 Erziehung und Wissenschaft 27

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