THE RACE eBook 27 - oora
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36<br />
QUERGEDACHT<br />
RADIKAL LEBEN IN BERLIN<br />
TEXT: KERSTIN HACK // KOLUMNE<br />
// Vollbremsung. An offenen Kirchentüren<br />
kann ich einfach nicht vorbeigehen. Hinter<br />
den Mauern alter Dorfkirchen verbirgt<br />
sich in der Regel die eine oder andere Entdeckung.<br />
So auch bei der Dorfkirche in<br />
Dahlem. Das »Dorf« ist mittlerweile längst<br />
von der Großstadt Berlin verschluckt worden,<br />
die Uni ist in unmittelbarer Nach-<br />
barschaft, mit der U-Bahn erreicht man<br />
die Innenstadt in weniger als 20 Minuten.<br />
Aber ein alter Gutshof aus märkischem<br />
Sandstein, umgeben von Feldern, und die<br />
kleine, alte Dorfkirche mit ihren trutzigen<br />
Mauern erinnern noch an die dörfliche<br />
Vergangenheit des Stadtteils.<br />
Gleich nach dem Friedhofseingang bleibe<br />
ich stehen. Das erste Grab, das mir in die<br />
Augen sticht, ist von Gollwitzer, Theologe<br />
im Widerstand im Dritten Reich, später<br />
<strong>THE</strong> <strong>RACE</strong> 01/ 07<br />
»Studentenpfarrer« der 68er Bewegung.<br />
Der hier? Ich bin erstaunt, merke, dass<br />
meine Geschichtskenntnis doch einige<br />
Lücken aufweist.<br />
Ein paar Meter weiter der Grabstein von<br />
Martin Hirsch, Richter am Bundesverfassungsgericht.<br />
Ein Grabstein auf einem<br />
christlichen Friedhof – ohne Bibelwort,<br />
Die Bewertungs-Schablonen, die mir meine christliche<br />
Sozialisation mitgegeben hat, passen nicht mehr.<br />
aber mit einem Zitat von Rosa Luxemburg:<br />
»Freiheit ist immer nur die Freiheit<br />
des anders Denkenden«. Hätte das Jesus<br />
auch so gesagt? Ich ahne, dass mich hier<br />
einige Überraschungen erwarten.<br />
Ich gehe in die alte Kirche, deren Wand<br />
ein rostiges, aus Eisenschrott zusammengefügtes<br />
Kreuz ziert... Moderne Kunst,<br />
die ungewohnt grob und rau den Schmerz<br />
des Kreuzes besser zum Ausdruck bringt<br />
als manche »glatten“ vertrauten Darstel-<br />
lungen. »Das hat der Künstler eigentlich<br />
für die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche<br />
– was für ein grauenhafter Name – gemacht.<br />
Aber als es fertig war, wollte der<br />
Gemeinderat es nicht haben. Es war ihnen<br />
zu rau. So haben wir es bekommen.<br />
Hierher passt es.« Der Mann, der Aufsicht<br />
führt, ist in Erzähl-Laune. Er sieht mich<br />
beim Sprechen kaum an, erzählt aber<br />
voller Begeisterung von seiner Kirche,<br />
von der Kanzel, auf der Bibeltexte stehen<br />
– zum ›Volk‹ hin tröstende Worte, zu den<br />
Herrschenden hin, die auf gesondertem<br />
Chorgestühl saßen, mahnende Worte.<br />
In dieser Kirche wurde gemahnt. Von<br />
Martin Niemöller, einem der führenden<br />
Köpfe der Bekennenden Kirche im Dritten<br />
Reich, der nicht nur die Ungerechtigkeiten<br />
der Nazis gegenüber der Kirche,<br />
sondern auch ihre Rassenpolitik anprangerte.<br />
Niemöller half Juden mit gefälschten<br />
Taufpapieren zum Überleben. Der<br />
Aufseher erzählt mir: »Da draußen liegt<br />
auch seine Sekretärin. Die hat die ganzen<br />
Papiere gefälscht, das musste ja auch