Herbst 2006 (503 KB) - Kath. Gefängnisseelsorge
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- 30 - Mitteilungen 2/<strong>2006</strong><br />
für uns Unzugängliche. Wir können es mit unseren<br />
bekannten Mitteln des Verstehens nicht entschlüsseln.<br />
Das interkulturelle Verstehen, so hat<br />
der Philosoph Bernhad Waldenfels aufgezeigt,<br />
zielt auf die Überwindung der Fremdheit. Es erliegt<br />
damit einem ihm innewohnenden Paradox:<br />
Durch das Verstehen des Fremden nimmt man<br />
ihm seine Fremdheit. Es wird das Bekannte, Zugängliche.<br />
Das ist jedoch nur möglich, indem das<br />
Fremde mit dem schon Bekannten verglichen und<br />
in Analogie zu ihm interpretiert wird. Damit wird<br />
das Fremde domestiziert und gerät in Gefahr der<br />
Sicht der dominanten Kultur unterworfen zu werden.<br />
Interkulturelle Kommunikation, die das<br />
Fremde in seiner Fremdheit bewahren und nicht<br />
kolonisieren will, darf nicht zuerst fragen, was<br />
das Fremde ist. Vielmehr muss sie es nehmen als<br />
etwas, was wir wahrscheinlich nicht verstehen,<br />
worauf wir aber antworten, das wir als Aufforderung,<br />
Herausforderung, Anreiz, Aufruf und Anspruch,<br />
zu reagieren, verstehen. 10 Die Begegnung<br />
mit dem Fremden zielt darauf, dass wir uns in der<br />
Kommunikation zusammenschließen, gemeinsam<br />
handeln. Dies ist nur möglich, wenn es neben den<br />
beiden Kommunikationspartnern ein gemeinsames<br />
Drittes gibt: ein Thema, eine Aufgabe, einen<br />
Bezugspunkt. In der <strong>Gefängnisseelsorge</strong> kann<br />
dieses gemeinsame Dritte zum Beispiel das Bemühen<br />
um die Verbesserung des Kontakts mit der<br />
Familie des Gefangenen, oder um Verhinderung<br />
der Abschiebung sein, oder auch das Projekt einer<br />
Gesprächsgruppe, die Verbesserung der Musik im<br />
Gottesdienst oder gemeinsames Beten. Durch den<br />
Bezug zu etwas Drittem entsteht eine gemeinsame<br />
Wirklichkeit, in der sich die bleibend füreinander<br />
Fremden aufeinander beziehen und verständigen<br />
können.<br />
2.3 Missverständnisse als Ansatzpunkt des<br />
interkulturellen Verstehens<br />
Trifft es zu, dass bei der interkulturellen Begegnung<br />
zwei Bedeutungssysteme aufeinandertreffen,<br />
dann ist zu erwarten, dass Missverständnisse<br />
der Normalfall und nicht die Ausnahme sind. Interkulturelles<br />
Verstehen muss dann notwendigerweise<br />
beim Missverständnis beginnen, denn nur<br />
wenn diese Störung durch die Differenz bearbeitet<br />
wird, kann sinnhafte Kommunikation zustande<br />
kommen.<br />
10 B. Waldenfels, Topographie des Fremden: Studien zu einer<br />
Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt 1997, 108f<br />
Dafür zwei Beispiele aus dem Alltag: Zwei Seelsorger<br />
von den Philippinen wurden von ihrem älteren<br />
Kollegen, einem Engländer, zu einem internationalen<br />
Seelsorgetraining angemeldet. Dort<br />
tauchen sie jedoch nicht auf. Die Kursleiterin<br />
geht dem nach und erhält die Auskunft, die beiden<br />
hätten wegen der Übernahme der Flugkosten<br />
bei ihrem europäischen Kollegen nachfragen<br />
müssen. Dieser hatte vergessen, sie zu informieren,<br />
wie sie die Flugkosten ersetzt bekommen. Sie<br />
haben nicht nachgefragt, um nicht das Gesicht zu<br />
verlieren. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass<br />
eine so wichtige Angelegenheit, von dem Kollegen<br />
einfach vergessen wird und gingen davon<br />
aus, dass er absichtlich nicht mehr von der Finanzierung<br />
spricht. Sie haben es vorgezogen, auf den<br />
Kurs zu verzichten als das für beide Seiten möglicherweise<br />
„peinliche Thema“, kein Geld für die<br />
Finanzierung zu haben, anzusprechen.<br />
Eine Doktorandin aus Venezuela hat für die Zeit<br />
des Promotionsstudiums einen Platz im Studentenheim<br />
einer bayerischen Universitätsstadt zugesagt<br />
bekommen. Man gibt ihr dort ein für einen<br />
hohen Mietpreis ein winziges Dachzimmer und<br />
verspricht, bald werde ein besseres Zimmer frei,<br />
das sie dann beziehen könne. Nach zwei Monaten<br />
berichtet sie einem befreundeten Pastor verzweifelt,<br />
man habe sie vergessen, sie bekäme Alpträume<br />
und klaustrophobische Zustände in dem<br />
winzigen Zimmer. So wie sie hier behandelt werde,<br />
würde man in ihrer Heimat noch nicht einmal<br />
ein Hausmädchen aus ärmsten Verhältnissen behandeln.<br />
Das sei nicht menschenwürdig und ausländerfeindlich.<br />
Als Frau aus Südamerika werde<br />
sie schlechter behandelt als jede deutsche Studentin.<br />
Der Pastor will die Initiative ergreifen und<br />
sich sofort für sie einsetzen. Das lehnt sie dankend<br />
ab, weil sie selbst stark genug sei, sich zu<br />
wehren. Der Schlendrian im Studentenheim wird<br />
von ihr als böse Absicht verstanden. Sie versteht<br />
nicht, dass sie in Deutschland ihre Interessen<br />
lautstark durchsetzen muss. Der Pastor missversteht<br />
ihr Verhalten als Appell einer entwürdigten<br />
Frau, er solle an ihrer Stelle handeln. Sie begreift<br />
dies als freundliche Entmündigung durch einen<br />
Mann. Erst als sie selbst bei der Leitung des Studentenheims<br />
heftig protestierte, erhielt sie ein ordentliches<br />
Zimmer.<br />
Interkulturelle Missverständnisse beruhen darauf,<br />
dass ein Mensch, der sich entsprechend den von<br />
ihm in langjährigen Lernprozessen verinnerlichten<br />
Regeln, Werten und sinnhaften Orientierungen<br />
einer Kultur verhält, im Kontext einer anderen<br />
Kultur mit anderen Regeln, Werten und