Janet Cardiff & George Bures Miller - Zeit Kunstverlag
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Pamela C. Scorzin über<br />
<strong>Janet</strong> <strong>Cardiff</strong> & <strong>George</strong> <strong>Bures</strong> <strong>Miller</strong><br />
Im Spätsommer 2001 erhielt das kanadische Künstlerpaar <strong>Janet</strong><br />
<strong>Cardiff</strong> (*1957) und <strong>George</strong> <strong>Bures</strong> <strong>Miller</strong> (*1960) für seinen<br />
Länderbeitrag The Paradise Institute (Abb. 9 a–c) auf der Biennale<br />
in Venedig den Sonderpreis der Jury. Danach schien auch<br />
in der zeitgenössischen Kunstszene plötzlich alles nicht mehr<br />
wie zuvor: Der vielbeschworene »Iconic Turn«, den die beiden<br />
Kunstwissenschaftler W.J.T. Mitchell und Gottfried Boehm<br />
doch erst Mitte der 90er Jahre unabhängig von einander diesseits<br />
und jenseits des Atlantiks als neues entscheidendes Paradigma<br />
der Bildenden Künste innerhalb der Zweiten Moderne<br />
ausgemacht hatten, geriet nicht nur fachwissenschaftlich unter<br />
heftigen Beschuss, sondern wurde durch eine Vielfalt neuer<br />
multi-medialer Installationen mit technisch gewaltigen Soundelementen<br />
fundamental erschüttert.<br />
Die Mixed Media-Installation The Paradise Institute von <strong>Cardiff</strong><br />
und <strong>Miller</strong> kann als Schlüsselwerk dafür gelten, wie Visualität<br />
heute nicht mehr nur über eine primär optische Gestaltung, also<br />
über das Bild schlechthin, erreicht wird, sondern durch den<br />
Einbezug der Erfahrung aller Körpersinne, insbesondere aber<br />
über das Hören von Geräuschen, Klängen und Stimmen. Durch<br />
eine besondere binaurale Aufnahme- und Wiedergabetechnik<br />
erzielen die beiden kanadischen Künstler, obgleich als Spezialisten<br />
für Sound effects reine Autodidakten, eine täuschend<br />
echte dreidimensionale Klangkulisse, die den Realraum ihrer<br />
Bühnen, Environments, skulpturalen Anordnungen oder ausgewählten<br />
Situationen virtuell besetzen und ihn mit akustischen<br />
Elementen animieren. Jedoch nicht ausschließlich räumlichmusikalisch<br />
wie etwa bei Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono<br />
oder abstrakt-formalistisch und rein architektonisch wie in<br />
der Kunst von Bernhard Leitner, vielmehr suggestiv, theatralisch<br />
und effektvoll im Sinne einer (pseudo-)narrativen Ausgestaltung<br />
der Szenerie, die gleichwohl offen, assoziativ und<br />
fragmentarisch im Raum zu schweben scheint.<br />
Dieser »Sonic Turn« schafft eine erstaunlich anschauliche Metapher<br />
für den mäandernden Bewußtseinsstrom. Die multisensorischen<br />
Arbeiten von <strong>Cardiff</strong> und <strong>Miller</strong> ergreifen ihr Publikum<br />
mit einer derart subtilen Macht und totalen Kontrolle, als würde<br />
plötzlich Mr. Spock aus den unendlichen Star Trek-Weiten heraus<br />
zu einer unheimlichen Bewußtseinsverschmelzung mit den<br />
Zuschauern antreten und sie alle zu mental miteinander vernetzten<br />
Borgs verwandeln.<br />
Die totale Installation<br />
<strong>Cardiff</strong>s und <strong>Miller</strong>s künstlerisches Ziel ist mehr oder weniger<br />
die »totale Installation« im Sinne der Theorie und Praxis von<br />
Künstlerkollege Ilya Kabakov: Das Publikum soll dem Künstler<br />
gänzlich vertrauen, sich physisch und psychisch völlig in den<br />
Bann eines einzigen Kunstwerks schlagen lassen, eintreten in<br />
eine fiktive Welt, in der jedes Bestandteil, jedes noch so klein-<br />
Mit den Ohren sehen<br />
ste Detail nur auf ihn und seine Aufmerksamkeit hin ausgerichtet<br />
ist, um seine Wahrnehmung zu lenken, zu beeinflussen und<br />
ihn im Kunstraum in eine völlig andere Erlebnis- und Erfahrungswelt<br />
zu entführen. Dabei überlagern sich die unterschiedlichsten<br />
Realitätsebenen aus Fakten und Fiktionen, durchdringen,<br />
verschachteln, verknoten und verweben sich miteinander.<br />
Unversehens wird der Betrachter vom passiven Zuschauer<br />
zum aktiven Hauptakteur, zum Performer und Protagonisten<br />
der elaborierten »Scripted Spaces« der beiden Künstler.<br />
<strong>Cardiff</strong> und <strong>Miller</strong>, unter den internationalen zeitgenössischen<br />
Installationskünstlern die derzeit wohl bedeutendsten »Erfahrungsgestalter«,<br />
verführen ihr Publikum mit dem ältesten Mittel<br />
der Menschheit, mit der akusmatischen, bezirzenden Stimme,<br />
die insgeheim immer wieder neu befiehlt »Picture this image!«.<br />
Visualität in der Kunst geht somit über das Erfassen rein visueller<br />
Form- und Gestaltelemente und optischer Werte hinaus,<br />
konstituiert sich vielmehr gerade auch durch die neurobiologische<br />
Kraft der Vorstellung, der Gedanken, der Tagträumereien<br />
und Erinnerungen, der schöpferischen Phantasien und Visionen,<br />
Projektionen, Halluzinationen oder der Paranoia. Sie ist<br />
stets ein individuell unterschiedliches, kognitives Konstrukt<br />
aus inneren und äußeren Bildern, aus immateriellen, mentalen<br />
Imaginationen und exogenen optischen Eindrücken.<br />
Die intermediären Arbeiten von <strong>Cardiff</strong> und <strong>Miller</strong>1, Installationen<br />
und Audio/Video-Walks, die gleichermaßen von der Videokunst<br />
und dem Film (Film Noir, Alfred Hitchcock und David<br />
Lynch), dem Hörspiel und szenischen Lesungen, der Literatur<br />
(Science Fiction, Gothic Novel, Mystery Murder) sowie der Performance-Kunst<br />
formal inspiriert sind, verstehen sich als<br />
künstlerische Vorrichtungen und Modelle, als immersive Illusionsmaschinerien.<br />
Moderne Objektkunst, die lediglich im<br />
Kunstraum vorgezeigt und ausgestellt wird, konvergiert hier<br />
produktiv mit der Darstellungskunst der Bühne und des Films,<br />
die aufgeführt wird.<br />
Andere Räume, andere Stimmen<br />
Die Besucher der 49. Biennale von Venedig näherten sich im<br />
kanadischen Ausstellungsraum zunächst einem, vom Äußeren<br />
her gesehen, recht kruden Gehäuse, schnöde aus unspektakulären<br />
Sperrholztafeln zusammengezimmert, an den Seiten lediglich<br />
mit kleinen Treppenaufgängen versehen. Die Aufsicht<br />
Führenden des Raumes entpuppten sich jedoch schnell auch<br />
als Türwärter und Platzanweiser: Wiesen doch die wenigen<br />
Treppenstufen die Besucher zu ihrer Überraschung in ein altmodisch<br />
wirkendes opulentes Lichttheater hinein. Zwei prätentiös<br />
mit rotem Samt und Plüsch bezogene Sitzreihen luden in<br />
die perspektivisch verkürzte Miniaturreplik eines prachtvollen<br />
Kinoraums, dessen illusionistische Balustraden und gemütliche<br />
Sitzränge unweigerlich an seinen architekturgeschichtlichen<br />
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