Die Vertreibung Böhmen als Lehrstück

schossen. In einem Bericht des tschechoslowakischen Ministeriums
für nationale Verteidigung aus dem Jahr 1947 heißt es,
tschechische Soldaten hätten ohne Befehl »eine Schießerei auf
Deutsche, die auf der Straße gingen« begonnen. Die Soldaten,
so der Bericht, hätten sich »in einem psychischen Zustand befunden,
in dem sie sich wie von Sinnen benahmen, und dies
umso mehr, als sie von Zivilpersonen zu ihren Taten angestiftet
wurden«. Der Vorsitzende des Aussiger Nationalausschusses
Vondra versuchte mit allen Mitteln, die aufgebrachte Menge zu
besänftigen. Es half nichts.
Nach Untersuchungen des tschechischen Historikers Tomás
Stanek kamen fünfzig bis hundert Deutsche ums Leben. Deutsche
Berichte sprechen von Hunderten von Opfern. Das Ganze
war eine Aktion von außen, begonnen von Soldaten der tschechischen
Ostarmee unter General Ludvík Svoboda, der Revolutionsgarden
und einiger Rotarmisten.Die Alliierten sollten vor
vollendete Tatsachen gestellt werden.Auch tschechische Zivilisten
machten mit,aber kaum Alteinwohner von Aussig.Es sah aus
wie spontaner Volkszorn, war aber eine »Säuberungsaktion«.
Diese Chronik berichtet von einer Geschichte mit blutigem
Ausgang. Ein paar Volksstämme,Völker, Nationen – der Begriff,
den man benutzt, verrät schon die Erzählhaltung – lebten, wie
in etwa 90 Prozent der heute in den Vereinten Nationen
vertretenen Staaten, gemeinsam auf dem gleichen Stück Erde.
Die Rede ist von Tschechen, Slowaken, Deutschen, Juden, Ruthenen,
Polen und Ukrainern, die in den böhmischen Ländern
– also Böhmen, Mähren und Schlesien – von der Geschichte
zusammengewürfelt worden waren. Zum Schluss fielen die
Stärksten unter ihnen, Deutsche, Tschechen und Slowaken,
übereinander her. Die Juden wurden dabei fast völlig ausgelöscht.
Ein befremdlicher, melancholisch stimmender, auch
zornig machender Prozess der Selbstverkleinerung:Von den
lose verkoppelten Herrschaften des mittelalterlichen Europa
über das riesige, vielsprachige, übernationale Reich der Habsburger
zum kleinen Nationalstaat des »Tschechoslowakismus«
mit seiner großen deutschen Minderheit und seinen vielen
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