78 51. GRIMME-PREIS 2015 Sechs Tage Grimme-Camp im Ruhrgebiet Aus der Jury Information & Kultur von Laila Abdallah Langsam schwant mir, warum die Nominierungskommission Unterhaltung vor zwei Jahren das „Dschungelcamp“ für den Grimme-Preis nominiert hat. Ich fand das ohnehin nie so skandalös wie große Teile der Republik, aber ein paar Fragen blieben noch offen. Nach dem dritten Zyklus des Grimme-Preises, bei dem ich dabei bin, zeichnet sich für mich der Grund ab: Unsere Arbeitsbedingungen sind einfach zu ähnlich. In der Jury sitzen elf mehr oder weniger bekannte Menschen – genauso viele wie im australischen Dschungel – rund sechs Tage lang von früh bis spät, in einem Raum (die Jury Information und Kultur tagt in einem schalldichten, licht- und luftarmen früheren Tonstudio) und müssen miteinander klarkommen. Das ist nichts für geistige Insulaner. Einen entscheidenden Unterschied zum Dschungelcamp gibt es jedoch: Wir müssen nicht Hunger leiden. Im Gegenteil, wir werden so gut mit Essen und Leckereien zu jeder Tages- und Nachtzeit versorgt, dass es uns regelmäßig eine paar Grimme-Kilos auf die Rippen zaubert. Die Versorgung ist aber auch wesentlich für die Befriedung der Gruppe, denn am Ende des Prozesses soll ja, anders als im wahren Dschungelcamp, im günstigsten Fall Einigkeit unter den Beteiligten herrschen. Aber es gab eben auch die magischen Momente, in denen die Fernseher ausgehen und alle Beteiligten sich andächtig bewusst sind, etwas ganz Besonderes gesehen zu haben. Denn das Ziel lautet, fünf vorbildliche Produktionen im deutschen Fernsehen auszumachen. Im Grimme-Camp „Information & Kultur“ saßen in diesem Jahr sieben Männer und vier Frauen (zwei weniger als bei RTL!) und sichteten 16 Einzelstücke, vier Serien und Mehrteiler sowie drei Formate, die für einen Spezialpreis nominiert waren. Dabei waren die Jurymitglieder keine herablassenden Königsmacher, sondern Menschen, die sich von Fernsehen begeistern lassen können, mitlachen, mitleiden und mitunter auch schlicht verwirrt sind von den Filmen, die die Nominierungskommission ihnen weitergereicht hat. Um es klar zu sagen: Es gab sie, die Momente des Schweigens. Die, in denen nach der Sichtung Stille einkehrt und die Jurymitglieder sich erstaunt anschauen, nach dem Motto: Was hat sich die Nominierungskommission wohl dabei gedacht? Oder hat sie einen entscheidenden Teil einfach nicht gesehen? Aber es gab eben auch die magischen Momente, in denen die Fernseher ausgehen und alle Beteiligten sich andächtig bewusst sind, etwas ganz Besonderes gesehen zu haben. So geschehen im Fall der Reportage „Die Kinder von Aleppo“, in der Marcel Mettelsiefen die Familie eines syrischen Rebellen portraitiert. Im Fokus stehen dabei die Kinder, die sich in der zerstörten Stadt zurechtfinden und mit ihren Ängsten und Erlebnissen umgehen lernen müssen. Dass dieser Fernsehbeitrag über das Große im Kleinen, eine Familie im Bürgerkrieg, gewürdigt werden muss, darüber waren wir uns im Grunde sofort einig. Der Film ist nur ein Beispiel für viele Dokus in unserem Kontingent, die ausführlich dargestellt haben, was uns im vergangenen Jahr bewegt hat. Themen wie der Krieg in Syrien und die Flüchtlingsproblematik wurden mehrfach behandelt, aber auch der IS und wie er in Deutschland Kämpfer rekrutiert. Erstaunlich war dabei, dass der Prozess um den NSU bislang keine nennenswerten filmischen Spuren hinterlassen hat, ebenso wenig wie große Jahrestage des vergangenen Jahres, zum Beispiel der 25. Jahrestag des Mauerfalls. Neben den Beiträgen zur aktuellen Lage hatten aber auch hervorragende Filme eine Chance, die ihre Themen zeitlos setzen – so der Film „Wir waren Rebellen“ über den Südsudan und der Beitrag über das nationalsozialistische Erbe der bundesdeutschen Justiz. Letzterem war ein Teil der Doku-Reihe „Akte D“ gewidmet. Auf un - dramatische Art wird das Versagen der Nachkriegsjustiz in puncto Aufarbeitung eigener NS-Verbrechen dargestellt. Es ist ein Beispiel dafür, wie sich „Akte D“ Themen nähert, die das geistige und politische Leben in der Bundesrepublik bis heute prägen, deren Ursprünge und Ursachen aber historisch im Dritten Reich oder der unmittelbaren Nachkriegszeit bedingt sind. Diese Reihe, das wurde schnell klar, hat für den Zuschauer einen erheblichen Mehrwert. Ganz klassisch einerseits, aber in Mitteln und Methodik klar modern. Zeigt sich hier vielleicht sogar ein neuer Trend? Weg von der „gefühlten“ Geschichte à la Guido Knopp, hin zur gründlichen, themengebundenen und trotzdem spannenden historischen Dokumentation. Diesem Trend soll der Grimme-Preis jedenfalls Rückenwind verleihen. „Davon wollen wir mehr sehen!“ war auch der Tenor, nach nachdem wir „Nach Wriezen“ gesehen hatten, einen Film über drei brandenburgische Straftäter nach ihrer Entlassung aus der JVA Wriezen. Es ist ein Bericht über prekäre Lebenswelten, zu denen wenige Filmemacher Zugang haben. Die Begleitung der Entlassenen und ihrer zum Teil erfolglosen Versuche, im wirklichen Leben wieder Fuß zu fassen, einen Job zu finden, eine Familie zu gründen, sagen mehr über die bundesrepublikanische Wirklichkeit aus als sämtliche Statistiken. Das einzufangen macht gutes Fernsehen aus. Nicht immer siegt aber der Inhalt über die Form. „Die Arier“ von Mo Asumang war einer der wenigen Filme, über die wirklich Uneinig keit herrschte. Das Thema – die Arier bzw. deren Entzauberung im Verlauf des Films – setzt in Zeiten von Pegida und der zunehmenden Gefahr rechter Gewalt ein wichtiges Zeichen. Allerdings hielten Teile der Jury dagegen, dass die Filmemacherin mit einem ganz ähnlichen Film, „Roots Germania“, bereits 2008 für den Grimme-Preis nominiert worden war. Letztendlich kam der Film nicht durch. Auch die Kultur, der zweite große Bereich des Wettbewerbskontingents, kam nicht zu kurz: Wir lernten viel über Trauerkultur in Finnland („Früher träumte ich vom Leben“), über Subkultur in Ostdeutschland
Julia Meyer (Buch), Winfried Oelsner, Florian Opitz, Christoph Weber (Buch und Regie) Wir freuen uns über den Grimme-Preis und bedanken uns bei dem gesamten Team und bei den Redaktionen von WDR, BR und MDR. Bernd Wilting