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51. GRIMME-PREIS 2015<br />
(K)eine Frage des Alter(n)s?!<br />
Aus der Marler Gruppe<br />
von Julia Schmidt<br />
Samstagmorgen, erster Sichtungstag, kurz vor 9.00 Uhr und schon<br />
ist alles anders. Obwohl wir eine Arbeitsgemeinschaft der „Marler<br />
insel“ sind, die im Rahmen des Grimme-Preises den Publikumspreis<br />
ermittelt, sichten wir schon seit geraumer Zeit fernab von beiden Einrichtungen<br />
im Hans-Böckler-Berufskolleg. So fühlten wir uns oftmals<br />
nicht nur geografisch von den Institutionen getrennt. 2015 soll dies ein<br />
Ende haben. Die neue insel-Leiterin Stefanie Röttger holt uns zurück in<br />
die „alte Heimat“. Unser neues altes Zuhause wird der „Retro-Raum“,<br />
ein vielleicht etwas zu charmanter Begriff für die in die Jahre gekommenen,<br />
sehr beengten vier Wände hinter dem alten insel-Lesesaal. Uns,<br />
immerhin 21 Personen, stellt der Ort erst einmal räumlich und auch<br />
nervlich auf eine harte Probe. So ist es dann wie im richtigen Leben<br />
- es braucht seine Zeit, bis sich die verlorenen Kinder wieder heimisch<br />
fühlen, und wir sind sicher, dass schon ein großer Schritt in die richtige<br />
Richtung getan wurde. Neu sind auch zwei Gesichter im Grimme-Institut:<br />
Dr. Frauke Gerlach und Steffen Grimberg. Sie begrüßen uns mit<br />
einem klaren Bekenntnis zur Arbeit der Marler Gruppe sowie zu unserem<br />
Publikumspreis.<br />
Auch wenn die Themen von hoher gesell schaftlicher<br />
Relevanz sind, muss der Filmstoff überzeugen.<br />
Was den Sichtungsplan betrifft, so ist alles beim Alten. 23 in der<br />
Kategorie Fiktion nominierte Beiträge wollen von Samstagfrüh bis Mittwochmittag<br />
gesichtet werden, gut zweitausend der vermeintlich besten<br />
Fernsehminuten des Vorjahres, ein Marathon der ganz besonderen Art.<br />
Da schauen wir den „Polizeiruf“ beim Frühstück, suchen kurz vor der<br />
Mittagspause auf dem Spreewaldkahn nach dem brutal zugerichteten<br />
Opfer und beschäftigen uns nach Kaffee und Kuchen mit den vielschichtigen<br />
Protagonisten des Zeugenhauses.<br />
In diesem Jahr haben einige von uns diverse Beiträge bereits ganz oder<br />
teilweise gesehen, wurden sie doch häufig und erfreulicherweise zur<br />
besten Sendezeit ausgestrahlt. Doch vor allem bei den Filmen, die sich<br />
mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen beschäftigen, wird deutlich:<br />
Nicht jeder hatte im Alltag Lust auf „schwere Kost“, da wurde oftmals<br />
vorzeitig um- oder gar abgeschaltet. Während der Sichtungstage<br />
bekommen diese Filme eine zweite Chance. Und was haben wir nicht<br />
alles gelernt: Fehlende Kommunikation in schwierigen Zeiten kann<br />
zur Katastrophe führen („Zwei allein“), Helden setzen sich mutig über<br />
Regeln und Gesetze hinweg („Der Fall Bruckner“, „Weiter als der Ozean“),<br />
es ist nie zu spät, seine Familie zu retten („Es ist alles in Ordnung“), Eltern<br />
mit unerfülltem Kinderwunsch gehen durch die Hölle („Monsoon Baby“)<br />
und ganz wichtig: eine Therapie schadet nie („Weiter als der Ozean“,<br />
„Neufeld, mitkommen!“).<br />
Auch wenn die Themen von hoher gesell schaftlicher Relevanz sind, muss<br />
der Filmstoff überzeugen. Und hier gehen dann schnell die Meinungen<br />
deutlich auseinander. Authentizität und überzeugende Charaktere sind<br />
hier das Gebot der Stunde, allzu konstruierte Plots kommen nicht gut an.<br />
Ein Lichtblick in dieser Runde: „Be my Baby“, ein Erstlingswerk, das das<br />
große Thema Inklusion mit besonderer Leichtigkeit behandelt und den<br />
Zuschauer einfach mitnimmt. Bezaubernde Charaktere - ganz gleich ob<br />
mit oder ohne Behinderung - machen diesen Film absolut sehenswert.<br />
Normalerweise wird abends beim Essen im Grimme-Institut schon<br />
munter über die eigenen Favoriten geplaudert. Doch in diesem Jahr?<br />
Jeder findet den einen oder anderen Beitrag gelungen; von Höhepunkten<br />
oder gar von Konsens (erst einmal) keine Spur.<br />
Erstaunlicherweise sind diesmal kaum Tendenzen zu erkennen. „Der irre<br />
Iwan“ - für die einen ein herausragender Event-„Tatort“, für die anderen<br />
zu abgedreht und wirr. „Die Spiegel-Affäre“ - lebt der Film lediglich von<br />
der Bedeutsamkeit der Sache? Wie bewerten wir Filme, die ihre Relevanz<br />
aus einem geschichtsträchtigen Ereignis beziehen? Ähnlich geht<br />
es einigen bei „Das Zeugenhaus“, obwohl das Kammerspiel mit der<br />
hochkarätigen Besetzung auch seine Befürworter hat. Matthias Brandt<br />
beglückt uns gleich in mehreren Beiträgen, heftige Kontroversen löst<br />
dabei die Nachnominierung „Männertreu“ aus, vor allem unter den<br />
Frauen. „Bornholmer Straße“ - wie herrlich hier die Absurdität<br />
des DDR-Systems offen gelegt wird, mit einer hervorragenden<br />
Besetzung. „Die Frau hinter der Wand“ - zur<br />
Abwechslung mal ein Thriller auf der ansonsten von Krimireihen<br />
und Themenfilmen dominierten Nominierungsliste.<br />
„Polt“ - trunkene Dorfgeschichte im letzten niederösterreichischen<br />
Loch, sagen die einen, liebenswerte Charaktere mit Witz und<br />
Ironie, sagen die anderen.<br />
Also, alles nur Mittelfeld? Nein, wahrscheinlich macht eher die Zusammensetzung<br />
unserer Gruppe den Konsens so schwierig. Immerhin<br />
treffen 21 völlig unterschiedliche Frauen und Männer aufeinander,<br />
SchülerInnen, Studierende, Ruheständler, LehrerInnen, ErzieherInnen<br />
und (junge) Berufstätige, ganz „normale“ Menschen, die sich in ihrer<br />
Freizeit und im Rahmen der Marler Gruppe gerne und viel mit dem<br />
Thema Fernsehen auseinandersetzen, aber eine wahre Vielfalt an<br />
„Fernsehi nteressen“ mitbringen. Wie soll da nur ein einziger Preisträger<br />
gefunden werden?<br />
Erstaunlicherweise sind diesmal<br />
kaum Tendenzen zu erkennen.<br />
Doch am Ende sollen auch wir eines Besseren belehrt werden. In der<br />
Runde der letzten Drei zeigt sich, was gutes Fernsehen ausmacht und<br />
dass es immer wieder Beträge gibt, die uns allesamt begeistern können.<br />
„Tatort - Im Schmerz geboren“ - Shakespeare, Tarantino, Italo-Western?<br />
Die starke Intertextualität ist Fluch und Segen für den Film, findet auf der<br />
einen Seite flammende Befürworter für den Preis, weil Timing, Charaktere,<br />
Darsteller und Musik überzeugen. Ein „Tatort“ für Akademiker, ein Hoch<br />
auf die Hochkultur, spotten die anderen. Hier geht vieles gegen unsere<br />
Sehgewohnheiten, fordert uns heraus, die intelligente Machart hat uns<br />
nachhaltig imponiert. Jedes Genre hat seine Stereotypen und der „Tatort“<br />
funktioniert schon viel zu oft nach dem bekannten Schema „F“. So ist uns