20.10.2015 Views

grimme

Tzyi4

Tzyi4

SHOW MORE
SHOW LESS

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

86<br />

51. GRIMME-PREIS 2015<br />

(K)eine Frage des Alter(n)s?!<br />

Aus der Marler Gruppe<br />

von Julia Schmidt<br />

Samstagmorgen, erster Sichtungstag, kurz vor 9.00 Uhr und schon<br />

ist alles anders. Obwohl wir eine Arbeitsgemeinschaft der „Marler<br />

insel“ sind, die im Rahmen des Grimme-Preises den Publikumspreis<br />

ermittelt, sichten wir schon seit geraumer Zeit fernab von beiden Einrichtungen<br />

im Hans-Böckler-Berufskolleg. So fühlten wir uns oftmals<br />

nicht nur geografisch von den Institutionen getrennt. 2015 soll dies ein<br />

Ende haben. Die neue insel-Leiterin Stefanie Röttger holt uns zurück in<br />

die „alte Heimat“. Unser neues altes Zuhause wird der „Retro-Raum“,<br />

ein vielleicht etwas zu charmanter Begriff für die in die Jahre gekommenen,<br />

sehr beengten vier Wände hinter dem alten insel-Lesesaal. Uns,<br />

immerhin 21 Personen, stellt der Ort erst einmal räumlich und auch<br />

nervlich auf eine harte Probe. So ist es dann wie im richtigen Leben<br />

- es braucht seine Zeit, bis sich die verlorenen Kinder wieder heimisch<br />

fühlen, und wir sind sicher, dass schon ein großer Schritt in die richtige<br />

Richtung getan wurde. Neu sind auch zwei Gesichter im Grimme-Institut:<br />

Dr. Frauke Gerlach und Steffen Grimberg. Sie begrüßen uns mit<br />

einem klaren Bekenntnis zur Arbeit der Marler Gruppe sowie zu unserem<br />

Publikumspreis.<br />

Auch wenn die Themen von hoher gesell schaftlicher<br />

Relevanz sind, muss der Filmstoff überzeugen.<br />

Was den Sichtungsplan betrifft, so ist alles beim Alten. 23 in der<br />

Kategorie Fiktion nominierte Beiträge wollen von Samstagfrüh bis Mittwochmittag<br />

gesichtet werden, gut zweitausend der vermeintlich besten<br />

Fernsehminuten des Vorjahres, ein Marathon der ganz besonderen Art.<br />

Da schauen wir den „Polizeiruf“ beim Frühstück, suchen kurz vor der<br />

Mittagspause auf dem Spreewaldkahn nach dem brutal zugerichteten<br />

Opfer und beschäftigen uns nach Kaffee und Kuchen mit den vielschichtigen<br />

Protagonisten des Zeugenhauses.<br />

In diesem Jahr haben einige von uns diverse Beiträge bereits ganz oder<br />

teilweise gesehen, wurden sie doch häufig und erfreulicherweise zur<br />

besten Sendezeit ausgestrahlt. Doch vor allem bei den Filmen, die sich<br />

mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen beschäftigen, wird deutlich:<br />

Nicht jeder hatte im Alltag Lust auf „schwere Kost“, da wurde oftmals<br />

vorzeitig um- oder gar abgeschaltet. Während der Sichtungstage<br />

bekommen diese Filme eine zweite Chance. Und was haben wir nicht<br />

alles gelernt: Fehlende Kommunikation in schwierigen Zeiten kann<br />

zur Katastrophe führen („Zwei allein“), Helden setzen sich mutig über<br />

Regeln und Gesetze hinweg („Der Fall Bruckner“, „Weiter als der Ozean“),<br />

es ist nie zu spät, seine Familie zu retten („Es ist alles in Ordnung“), Eltern<br />

mit unerfülltem Kinderwunsch gehen durch die Hölle („Monsoon Baby“)<br />

und ganz wichtig: eine Therapie schadet nie („Weiter als der Ozean“,<br />

„Neufeld, mitkommen!“).<br />

Auch wenn die Themen von hoher gesell schaftlicher Relevanz sind, muss<br />

der Filmstoff überzeugen. Und hier gehen dann schnell die Meinungen<br />

deutlich auseinander. Authentizität und überzeugende Charaktere sind<br />

hier das Gebot der Stunde, allzu konstruierte Plots kommen nicht gut an.<br />

Ein Lichtblick in dieser Runde: „Be my Baby“, ein Erstlingswerk, das das<br />

große Thema Inklusion mit besonderer Leichtigkeit behandelt und den<br />

Zuschauer einfach mitnimmt. Bezaubernde Charaktere - ganz gleich ob<br />

mit oder ohne Behinderung - machen diesen Film absolut sehenswert.<br />

Normalerweise wird abends beim Essen im Grimme-Institut schon<br />

munter über die eigenen Favoriten geplaudert. Doch in diesem Jahr?<br />

Jeder findet den einen oder anderen Beitrag gelungen; von Höhepunkten<br />

oder gar von Konsens (erst einmal) keine Spur.<br />

Erstaunlicherweise sind diesmal kaum Tendenzen zu erkennen. „Der irre<br />

Iwan“ - für die einen ein herausragender Event-„Tatort“, für die anderen<br />

zu abgedreht und wirr. „Die Spiegel-Affäre“ - lebt der Film lediglich von<br />

der Bedeutsamkeit der Sache? Wie bewerten wir Filme, die ihre Relevanz<br />

aus einem geschichtsträchtigen Ereignis beziehen? Ähnlich geht<br />

es einigen bei „Das Zeugenhaus“, obwohl das Kammerspiel mit der<br />

hochkarätigen Besetzung auch seine Befürworter hat. Matthias Brandt<br />

beglückt uns gleich in mehreren Beiträgen, heftige Kontroversen löst<br />

dabei die Nachnominierung „Männertreu“ aus, vor allem unter den<br />

Frauen. „Bornholmer Straße“ - wie herrlich hier die Absurdität<br />

des DDR-Systems offen gelegt wird, mit einer hervorragenden<br />

Besetzung. „Die Frau hinter der Wand“ - zur<br />

Abwechslung mal ein Thriller auf der ansonsten von Krimireihen<br />

und Themenfilmen dominierten Nominierungsliste.<br />

„Polt“ - trunkene Dorfgeschichte im letzten niederösterreichischen<br />

Loch, sagen die einen, liebenswerte Charaktere mit Witz und<br />

Ironie, sagen die anderen.<br />

Also, alles nur Mittelfeld? Nein, wahrscheinlich macht eher die Zusammensetzung<br />

unserer Gruppe den Konsens so schwierig. Immerhin<br />

treffen 21 völlig unterschiedliche Frauen und Männer aufeinander,<br />

SchülerInnen, Studierende, Ruheständler, LehrerInnen, ErzieherInnen<br />

und (junge) Berufstätige, ganz „normale“ Menschen, die sich in ihrer<br />

Freizeit und im Rahmen der Marler Gruppe gerne und viel mit dem<br />

Thema Fernsehen auseinandersetzen, aber eine wahre Vielfalt an<br />

„Fernsehi nteressen“ mitbringen. Wie soll da nur ein einziger Preisträger<br />

gefunden werden?<br />

Erstaunlicherweise sind diesmal<br />

kaum Tendenzen zu erkennen.<br />

Doch am Ende sollen auch wir eines Besseren belehrt werden. In der<br />

Runde der letzten Drei zeigt sich, was gutes Fernsehen ausmacht und<br />

dass es immer wieder Beträge gibt, die uns allesamt begeistern können.<br />

„Tatort - Im Schmerz geboren“ - Shakespeare, Tarantino, Italo-Western?<br />

Die starke Intertextualität ist Fluch und Segen für den Film, findet auf der<br />

einen Seite flammende Befürworter für den Preis, weil Timing, Charaktere,<br />

Darsteller und Musik überzeugen. Ein „Tatort“ für Akademiker, ein Hoch<br />

auf die Hochkultur, spotten die anderen. Hier geht vieles gegen unsere<br />

Sehgewohnheiten, fordert uns heraus, die intelligente Machart hat uns<br />

nachhaltig imponiert. Jedes Genre hat seine Stereotypen und der „Tatort“<br />

funktioniert schon viel zu oft nach dem bekannten Schema „F“. So ist uns

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!