atw - International Journal for Nuclear Power | 06/07.2019

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atw Vol. 64 (2019) | Issue 6/7 ı June/July EDITORIAL 316 Des Pudels Kern – Innovation Liebe Leserin, lieber Leser, die aktuell in vielen europäischen Staaten zu beobachtende Auseinandersetzung mit dem Thema Energie ist vieles: bunt, schrill, freitags, aber eines sicherlich nicht: Faktenbasiert. Nicht, dass jede Entscheidung in unserem Leben einer quasi technokratischen Entscheidungskette folgen muss. Aber reicht es, wenn über ein so wichtiges Thema für unsere Gesellschaft, ja für die Welt insgesamt, wie über die zukünftige Energieversorgung entschieden werden soll, mit bunten Haaren im Ersatzfernsehen aufzutreten oder freitags demonstrierend auf die Straße zu gehen? Wo ist noch die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Zukunft unserer Energieversorgung aussehen kann? Wo sind die Thesen und Antithesen zu den einzelnen Energieträgern? Wo ist der über Jahrzehnte auf Demonstrationen immer wieder geforderte „Diskurs“ – zumindest der zur „konventionellen“ Energieversorgung, die durch geschickte Lenkung in der Öffentlichkeit in eine andauernde Rechtfertigungsschleife gedrängt ist, in der sich Fakten kaum platzieren lassen? Kurzum, es gibt heute weder die Diskussion noch in der öffentlichen Auseinandersetzung einen erkennbaren Willen, mit weitgehend von der Natur her gegebenen Gesetzmäßigkeiten die Zukunft der Energieversorgung zu gestalten. Es mag fast absurd klingen, aber die als ökologisch nicht zur Disposition stehende und in Deutschland gepriesene Energiewende scheitert derzeit an eben dieser Natur selbst. Politiker mögen darüber nachdenken, zur Lösung von Stromtransportproblemen die Kirchhoffschen Gesetze der Elektrotechnik per Dekret zu ändern oder gar außer Kraft zu setzen, aber immer deut licher wird, dass die ursprünglich die industrielle Ent wicklung beschrän kenden Vorgaben der Natur, nieder gelegt im bekannten Werk „Die Grenzen des Wachstums“, auch die Technologien der Energiewende begrenzen werden. Donella und Dennis Meadows sowie deren Mitarbeiter am Jay Wright Forresters Institut für Systemdynamik hatten die Ergeb nisse ihrer Studien im Jahr 1972 vorgestellt. Grundlage waren eine Systemanalyse und Computersimulationen verschiedener Szenarien eines „Weltmodells“. Untersucht wurden die fünf Teilbereiche Industrialisierung, Bevöl kerungswachstum, Unterernährung, Ausbeutung von Rohstoffreserven und Zerstörung von Lebensraum. Wesentlich die exponentielle Form der Verläufe für diese zentralen Faktoren unserer Gegenwart waren und sind Grundlage von prognostizierten Zusammenbruch-Szenarien, die die Industriegesellschaften und sogar ein Überleben der Menschheit in Zweifel stellten. Doch es waren nur Computermodelle – sicherlich korrekt berechnet, aber letztendlich wurden ihre funk tionalen Zusammenhänge sowie Randbedingungen durch Menschen bestimmt. Fast ist es schon paradox, dass die Umweltbewegung über Jahrzehnte ihre Argumentation auf Ergebnisse einer hochtechnisierten Elek tronik gestützt hat, die sie andernorts vehement ablehnte oder auch grundsätzlich in Zweifel zog. Natürlich ist es rück blickend immer einfach, auf Fehler von Studien mit Vorhersagen zu ver weisen. Diese treten in der Wissenschaft naturgemäß auf. Wissenschaft ist auch in der heutigen Zeit der Hoch leistungscomputer nicht frei von Fehlern und Wissenschaft darf auch heute nicht mit unumkehrbaren Aussagen enden, insbesondere dann, wenn Zweifel angebracht sind und zentrale Fragen unseres Lebens betroffen sind. Auch kann Wissenschaft nicht durch Abstimmungen erfolgen. Galileo Galilei hatte zeit seines Lebens sicherlich mehr als 97 % der damaligen Wissenschaft gegen sich und doch recht; die Sonne steht im Mittelpunkt und die Erde bewegt sich um diese herum. Der wesentliche Fehler für die „Weltmodelle“ der Grenzen des Wachstums war, dass die Autoren eines vergessen hatten: den Menschen und seine Fähigkeit, sich anzupassen und vor allem innovativ zu sein, vor allem dann, wenn er sich drängenden Herausforderungen stellen muss. Und wenn hier einige Protagonisten die Kernenergie am Ende ihrer Entwicklung sehen, so ist dem entgegenzuhalten, dass sich die Kernenergie tatsächlich erst am Anfang ihrer Entwicklung befindet. Die Kernenergie heute mit ihren 450 Kernkraftwerken und einem Anteil an der Stromerzeugung weltweit von rund 11 % wird dominiert von der Leichtwasserreaktortechnik. Diese Technik ist ausgereift, sowohl was ihren zuverlässigen Betrieb betrifft, als auch was ihre Wirtschaftlichkeit angeht. Letzteres mag angesichts teils erheblicher Verzögerungen beim Bau einzelner Neuanlagen zweifelhaft erscheinen, ist aber nicht die Regel. Es war auch nicht die Regel in den „alten“ Kernenergie nutzenden Ländern, schaut man beispielsweise auf die letzten in Deutschland in Betrieb gegangenen Kernkraftwerke der „Konvoi-Linie“. Diese bewährte Technologie wird sicherlich in den kommenden Jahrzehnten mit ihren sogenannten Generation-III+-Anlagen weiterhin dominierend sein. Angesichts aktueller Studien zur technischen Lebensdauer und sicherheitstechnischen Bewertung von in Betrieb befindlichen Anlagen der II. und III. Generation über 60 Jahre hinaus, werden diese Anlagen sicherlich dazu beitragen, Energie bis weit in dieses Jahrhundert hinein zur Verfügung zu stellen. Das Zukunftspotenzial der Kernenergie liegt darüber hinaus noch in ihrer Innovationsfähigkeit, begründet in ihrer hohen Energiedichte. Mit Blick auf den wesentlichen Faktor der Grenzen des Wachstums, dem Ressourcenverbrauch insgesamt, ist die Kernenergie eine gute Wahl. Und die Kernenergie kann noch viel mehr als nur zur Stromversorgung beizutragen. Wenn Sektorkoppelung im Rahmen einer „Energiewende“ gelingen soll, darf der anlagen technische Aufwand für die Primärenergien nicht ins Unermessliche wachsen. Power-2-X, Wasserstoff- oder Methanolbereitstellung, emissionsarme Stahl- oder Grundstoffproduktion benötigen eine verlässliche energetische Grundver sorgung – z.B. durch die Kernenergie aus leistungs starken zentralen Anlagen wie heute vorwiegend oder vielleicht künftig aus Anlagen kleinerer Leistung an vielen Standorten. Wer unsere zukünftige Energieversorgung voranbringen will, der wird mit plakativen und einfachen Forderungen scheitern – dafür ist die Welt einfach zu groß und zu verschieden. Innovationen werden sich durchsetzen, nicht unumkehrbare Verbote. Christopher Weßelmann – Chefredakteur – Editorial Crux of the Matter – Innovation
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