Pieks_2021_02_26
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AUSGABE<br />
1 / <strong>2<strong>02</strong>1</strong><br />
Deutschland 7,90 €<br />
Österreich 8,90 €<br />
Schweiz 12,50 CHF<br />
Luxemburg 9,30 €<br />
Impfen<br />
WAS SIE<br />
WIRKLICH ÜBERS<br />
WISSEN MÜSSEN<br />
KINDER UND IMPFEN<br />
Ein Ratgeber für Eltern<br />
mit Corona-Special<br />
DIE GROSSE ANGST<br />
10 Sorgen vorm Impfen:<br />
der Faktencheck<br />
WIRD ES WIEDER NORMAL?<br />
Wie das Leben nach<br />
der Impfung weitergeht
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PIEKS ∙ EDITORIAL<br />
UNSER NEUES HEFT<br />
Die Schlüsse müssen<br />
Sie schon selbst ziehen<br />
Herzlich willkommen zu pieks! Sie halten unser neues Magazin in Händen.<br />
Unter dem Motto „Ehrlich. Sachlich. Kompetent.“ wollen wir künftig<br />
Themen „anpieksen“, die Menschen interessieren, aufregen oder ängstigen.<br />
Dabei möchten wir Fakten darstellen, Positionen aufzeigen, Argumente bringen<br />
– und Ihnen all das verständlich erklären. Denn wer mitreden und sich eine eigene<br />
Meinung bilden will, der muss zuerst eines tun: sich informieren. Lesen. Und<br />
zwar mehr als Social Media in<br />
der eigenen Filterblase. Dafür ist<br />
pieks da. Wir wollen nicht Stellung<br />
beziehen und schon gar nicht<br />
„ missionieren“. Wir wollen, dass<br />
Sie nach dem Lesen des Hefts selbst<br />
die Schlüsse ziehen können.<br />
Gleich in dieser ersten Ausgabe<br />
haben wir uns das wohl meistdiskutierte<br />
Thema dieser Tage<br />
vorgenommen: Impfen. Was<br />
spricht für eine Corona-Impfung?<br />
Was dagegen? Wie erfolgreich waren<br />
Impfungen in der Geschichte? Welche<br />
Gefahren haben sie mit sich gebracht? Wie bewertet man überhaupt die Risiken?<br />
Zu all diesen Fragen und mehr finden Sie auf den folgenden Seiten Antworten.<br />
Wir hoffen, wir können Sie mit dieser Ausgabe über das Impfen überzeugen.<br />
Nicht dazu, sich impfen zu lassen. Sondern dass unser neues Magazin pieks eine<br />
gute Quelle für alle Fakten und Sichtweisen rund um ein wichtiges Thema ist.<br />
Übrigens: Die laut Duden „falsche“ Schreibweise pieks finden wir schöner, sie<br />
ist zudem vielfach in Gebrauch – deshalb bleiben wir dabei.<br />
Wir freuen uns auf Ihre Zuschriften unter redaktion@pieks-magazin.de.<br />
Bleiben Sie gesund!<br />
Thomas Borchert<br />
Chefredakteur pieks<br />
Wer mitreden will,<br />
muss sich<br />
schlaumachen!<br />
Thomas Borchert<br />
Chefredakteur pieks<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 3
INHALT<br />
IMPFEN<br />
INHALT<br />
CORONA-SPECIAL<br />
‸ Menschen Corona ist eine Herausforderung<br />
für jeden. Wir stellen<br />
zehn Persönlichkeiten vor, die uns<br />
besonders aufgefallen sind ......... Seite 6<br />
‸ 15 Fragen Einfache Antworten auf<br />
die meistgestellten und nicht immer<br />
einfachen Fragen zu Corona ....... Seite 12<br />
‸ Skepsis Was treibt Menschen um, die<br />
sich nicht impfen lassen wollen? Welche<br />
Ängste beschäftigen sie? Wir haben<br />
einige getroffen ......................... Seite 18<br />
‸ Apotheker Ständig wird uns sein Rat<br />
empfohlen. Wir sprechen mit einem<br />
über die Corona-Impfstoffe ........ Seite 22<br />
‸ Impfstoffe Gesucht: der richtige, der<br />
passende, der unbedenklichste<br />
Impfstoff. Die wichtigsten Vakzinen<br />
im Steckbrief-Format ................. Seite <strong>26</strong><br />
‸ Impft die Massen! Aber funktioniert<br />
das auch? Wir haben uns ein Impfzentrum<br />
von innen angesehen und die<br />
Lieferketten verfolgt ................. Seite 32<br />
‸ Impfpflicht durch die Hintertür?<br />
Vorteile für Geimpfte – was spricht<br />
dafür, was dagegen? ................... Seite 36<br />
44<br />
Forschung:<br />
Warum bei<br />
Corona alles so<br />
schnell ging<br />
18<br />
Skepsis: Stellvertretend<br />
für viele erklärt<br />
Alexander Heß<br />
seinen Standpunkt<br />
FORSCHUNG ERKLÄRT<br />
‸ Wie Impfen funktioniert Was<br />
im Körper passiert, sobald die Spritze<br />
zugestochen hat ...................... Seite 38<br />
‸ Wo der Impfstoff herkommt<br />
Das Schaubild zeigt, wie Impfstoffe<br />
entwickelt und zugelassen werden –<br />
und erklärt, warum es bei Corona so<br />
schnell ging ..............................Seite 44<br />
ANGST & SKEPSIS<br />
‸ Impfangst Welche Gründe sie hat,<br />
wann sie berechtigt ist und wie man<br />
mit ihr umgeht .........................Seite 48<br />
‸ 10 Corona-Ängste Gerüchte,<br />
Fehlinformationen, Vorurteile – Impfängste<br />
im Faktencheck ............Seite 54<br />
‸ Risiken Wie man die Gefahren von<br />
Krankheiten, Impfungen und<br />
anderen Alltagsrisiken vernünftig<br />
einschätzen kann ..................... Seite 58<br />
KINDER-RATGEBER<br />
‸ Kinder impfen? Dieser unter<br />
Eltern umstrittenen Frage widmet<br />
sich ein ganzes Kapitel,<br />
zeigt die Probleme auf und liefert<br />
Antworten ................................Seite 64<br />
GESCHICHTE<br />
‸ Seuchen Verheerende Krankheiten<br />
gab es schon immer. Ein spannender<br />
Gang durch die Geschichte<br />
der schlimmsten Epidemien der<br />
Menschheit ............................... Seite 72<br />
‸ Impfklassiker Viele Krankheiten, die<br />
den Menschen zusetzten, wurden mit<br />
Impfungen besiegt – doch dabei ging<br />
nicht immer alles glatt. Was Impfstoffe<br />
gegen Polio, Masern, Tetanus<br />
und Pocken bewirkt haben ....... Seite 78<br />
4<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
78<br />
Vergangene<br />
Schrecken:<br />
Gegen Krankheiten<br />
wie Kinderlähmung<br />
wurde geimpft<br />
WISSEN<br />
‸ Impfplan Wissen Sie, wogegen Sie<br />
geimpft sind – oder sein sollten? Und<br />
wann? Wir zeigen es Ihnen ............. Seite 84<br />
‸ Behandlung Gibt es ein Mittel für Corona-<br />
Erkrankte, bei denen eine Impfung zu<br />
spät kommt? Die Antwort – und wie die<br />
Medikamente funktionieren ........... Seite 88<br />
‸ Alles wieder normal? Wie unser Leben<br />
weitergeht, wenn erst einmal alle<br />
geimpft sind – ein Ausblick ............. Seite 94<br />
MARC DIETENMEIER, GETTY IMAGES (2), THOMAS KAPPES<br />
94<br />
Das neue Normal:<br />
Wann wird es<br />
wieder wie früher?<br />
Und wird es das?<br />
RUBRIKEN<br />
‸ Editorial .......................................... Seite 3<br />
‸ Impressum ......................................Seite 77<br />
‸ Reaktionen ..................................... Seite 98<br />
IMPFEN<br />
Wir freuen uns auf Ihre Meinung, Kritik und Themenideen für weitere Ausgaben<br />
E-Mail: redaktion@pieks-magazin.de<br />
Facebook: @pieksmagazin<br />
Instagram: @pieksmagazin<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 5
CORONA ∙ MENSCHEN<br />
GANZ NORMAL<br />
IMPFSTOFF<br />
ZAHLT SICH AUS<br />
An der Kasse im Supermarkt<br />
hätte sie bis vor Kurzem niemand<br />
erkannt: Özlem Türeci und Uğur<br />
Şahin. Heute weiß jeder: Das Mainzer<br />
Mediziner- und Forscherehepaar<br />
brachte in der EU den ersten<br />
Impfstoff gegen Corona auf den<br />
Markt. Mit ihrer börsennotierten<br />
Firma Biontech setzen Türeci<br />
und Şahin ein ursprünglich zur<br />
Krebsbekämpfung in der Entwicklung<br />
befindliches Impfprinzip gegen<br />
Covid-19 ein. Auch finanziell hat sich<br />
die Impfstoff-Entwicklung für die<br />
beiden Forscher gelohnt. Laut<br />
Finanzportal Bloomberg beläuft<br />
sich der Börsenwert ihrer<br />
Firmenanteile derzeit auf rund<br />
vier Milliarden Euro.<br />
Mehr zu den Impfstoffen ab Seite <strong>26</strong><br />
FOTO: BIONTECH SE (2), DPA PICTURE-ALLIANCE<br />
6<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
PROMIS GEGEN IMPFEN<br />
IMPFUNG SCHULD AN AUTISMUS?<br />
US-Moderatorin und Ex-Playmate Jenny McCarthy ist Mutter eines an Autismus erkrankten Sohns.<br />
Verantwortlich für Evans Zustand machte sie lange Zeit die Impfungen, die er erhalten hatte. Auch sonst hielt sie<br />
sich mit ihrer Meinung zu krank machenden Impfungen kaum zurück, wie hier auf einer Kundgebung 2008 mit<br />
ihrem damaligen Lebensgefährten, US-Schauspieler Jim Carrey. Inzwischen hat McCarthy ihre vehemente Abneigung<br />
gegen das Impfen relativiert. „Ich bin nicht gegen alle Impfungen“, erklärte sie dem Onlinedienst<br />
The Daily Beast. „Aber man sollte aufmerksam sein, sich informieren und Fragen stellen.“ Carrey selbst zieht<br />
weiterhinfürsaubereImpfstoffeohneschädlicheZusätzeinsFeld–meistperTwitter.<br />
Mehr zur Angst vorm Impfen ab Seite 48<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 7
CORONA ∙ MENSCHEN<br />
DER RUHESTÄNDLER<br />
HAMBURGS IMPFCHEF<br />
Mehr als 2000 Kindern half er als Chefgynäkologe<br />
des bekannten Hamburger Marienkrankenhauses<br />
auf die Welt. Die „Bild“-Zeitung nennt ihn liebevoll<br />
den Baby-Papst. Nun ist Prof. Dr. Hans-Peter<br />
Scheidel (71) aus dem Ruhestand zurückgekehrt<br />
und arbeitet im zentralen Impfzentrum in den<br />
Hamburger Messehallen. Der sportliche Jeansträger<br />
ist hier als leitender Arzt unterwegs. „Ich<br />
unterstütze unsere jungen Impfärzte. Wenn da ein<br />
84-Jähriger seine 79-jährige Frau als angeblich 80<br />
verkauft, damit sie in die erste Prioritätengruppe<br />
rutscht, muss ich entscheiden“, sagt er lachend.<br />
Impfen findet er wichtig: „Ich war der Erste, der in<br />
den Messehallen geimpft wurde.“ Sein Rezept bei<br />
Impfangst: „Als erfahrener Arzt merkt man schnell,<br />
ob es einen inneren Widerstand gibt. Dann rate<br />
ich: Sprechen Sie mal mit jemandem, der Ihnen<br />
nahesteht und eine andere Meinung hat.“<br />
Mehr zu Abläufen und Problemen in<br />
den Impfzentren ab Seite 32<br />
8<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
FOTO: GETTY IMAGES, LAURA NENZ<br />
DIE KÄMPFERIN<br />
ITALIENS CORONA-GESICHT<br />
Lucia Premoli wird geimpft und zum prägenden Gesicht Europas bei der Corona-Impfung. Die Intensivkrankenschwester<br />
aus Codogno südöstlich von Mailand war unter den Allerersten des Krankenhauspersonals,<br />
die geimpft wurden. Sie sei dankbar für „die Gelegenheit, die das Krankenhaus mir bot: ein Vorbild für all<br />
meine Kollegen zu sein“, sagte sie danach. Premoli wusste genau, wovon sie redet. Schließlich war sie es, die<br />
Anfang 2<strong>02</strong>0 als Erste einen schwerstkranken Patienten pflegte: Mattia Maestri, Italiens Coronainfizierten<br />
Nummer 1. Der war bis Februar 2<strong>02</strong>0 ein gewöhnlicher junger Mann, 37 Jahre alt, sportlich. Wie Premoli wohnte<br />
er in Codogno. Er kam mit Lungenentzündung in ihr Krankenhaus. Covid-19, wie sich herausstellte, der<br />
erste bekannte Fall in Italien. Er hat es nach schwerem Kampf überlebt, auch dank Premoli.<br />
Mehr zu Impfungen ab Seite 38<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 9
CORONA ∙ MENSCHEN<br />
FRANKREICH<br />
WISSEN DIE<br />
FRANZOSEN<br />
MEHR?<br />
FOTO: GETTY IMAGES (2), PRIVAT (2)<br />
Dass ausgerechnet unsere Lieblingsnachbarn,<br />
die Franzosen,<br />
schon wieder Weltmeister sind,<br />
sieht manch einer leicht irritiert.<br />
Denn die Franzosen führen mit<br />
dem größten Anteil von Impfgegnern<br />
und -skeptikern in der<br />
Bevölkerung. Rund 63 Prozent<br />
der Franzosen wollen sich, Stand<br />
Ende Januar, der Corona-Impfung<br />
verweigern. Nur, warum?<br />
Was wissen die Franzosen, was<br />
uns vorenthalten bleibt? Viele<br />
meinen, die hohen Zahlen seien<br />
schlicht Ausdruck der französischen<br />
Grundskepsis gegenüber<br />
der Politik.<br />
Mehr zur Impfskepsis in<br />
Deutschland ab Seite 18<br />
INTENSIVSTATION<br />
NEBENWIRKUNGEN<br />
Als Krankenschwester auf der Intensivstation eines<br />
bayerischen Klinikums weiß Tanja S. sehr genau,<br />
warum sie die Impfungen wollte. Wo Menschen<br />
sterben, wird alles andere egal. So krempelte<br />
sie ohne zu zögern ihren Ärmel hoch. Die erste Dosis<br />
im Dezember lief gut. Mitte Januar aber, mit der<br />
zweiten Dosis, da wurde es heftig. Es hat sie mit<br />
voller Härte erwischt. Knapp 40 Grad Fieber, Schüttelfrost.<br />
Kopfschmerzen schlimmer, als es die migräneerfahrene<br />
Aschaffenburgerin bis dato kannte.<br />
36 Stunden lang. Doch damit nicht genug. Viele Tage<br />
danach noch Schlappheit, Vergesslichkeit. Am<br />
ersten Arbeitstag aber stand sie wieder in Schutzkleidung<br />
auf Station. Muss ja. Würde sie alles<br />
wieder machen. Besser, als selbst dort zu liegen.<br />
Mehr dazu, wie Impfen wirkt, ab Seite 38<br />
Sind Sie<br />
bereits geimpft?<br />
Schreiben Sie uns Ihre<br />
Erfahrung an<br />
redaktion@<br />
pieks-magazin.de<br />
10<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
WELTRANGLISTE<br />
NUMMER 1 IMPFT NICHT<br />
„Ich persönlich bin gegen Impfungen. Ich möchte<br />
nicht, dass mich jemand zwingt, einen Impfstoff<br />
einzunehmen, um reisen zu können“, war Mitte<br />
2<strong>02</strong>0 auf Facebook und Instagram zu lesen. Die<br />
Aussage stammte von der aktuellen Nummer 1 der<br />
Tennisweltrangliste, dem Serben Novak Đoković.<br />
Zwischenzeitlich forderten andere Spieler im<br />
Gegenzug eine Impfpflicht, so etwa der Brite Andy<br />
Murray. Die gab es für die Australian Open im<br />
Februar noch nicht. Die Spieler mussten vor dem<br />
Turnier für 14 Tage in strenge Quarantäne.<br />
Mehr zur Impfpflicht ab Seite 36<br />
EX-IMPFGEGNERIN<br />
EINFACH RECHERCHIERT<br />
Mit Alt-68er-Eltern und einer zuckerfreien Ernährung aufgewachsen,<br />
hat Viola Morgenbrod Impfungen lange Zeit abgelehnt.<br />
„Als ich schwanger war, war ich überzeugt, dass Impfen den plötzlichen<br />
Kindstod auslösen kann“, sagt sie. Das schrieb sie in einem<br />
Internetforum. Die vielen positiven wie negativen Reaktionen<br />
brachten sie zum Nachdenken: „Ich habe angefangen, genauer<br />
zu recherchieren, und festgestellt, dass meine Ansichten nicht zu<br />
halten waren“, erklärt die 38-Jährige. Diese Neugier führte dazu,<br />
dass sie selbst Medizin und Biologie studierte. Ihre drei Kinder hat<br />
sie übrigens vollständig impfen lassen.<br />
Mehr zu Fragen und Befürchtungen ab Seite 12 und 54<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 11
CORONA ∙ FRAGEN<br />
Die 15 wichtigsten<br />
Fragen rund um die<br />
Corona-Impfung<br />
Text: Verena Fischer Was bedeutet eigentlich mRNA-Technologie,<br />
was ist ein Vektor-Impfstoff, und welche Risiken gehe ich beim<br />
Impfen ein? Es gibt viele gute Fragen zur Covid-19-Impfung.<br />
Wir geben Antworten, die verständlich sind und dabei helfen,<br />
eine persönliche Impfentscheidung zu treffen<br />
12<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
1<br />
Die Verteilung des Covid-19-<br />
Impfstoffs erfolgt zunächst<br />
über Impfzentren. Zusätzlich gibt<br />
es mobile Impfteams, die beispielsweise<br />
in Altenheime fahren.<br />
In Einrichtungen wie Krankenhäusern<br />
können Impfungen<br />
von den dortigen Ärzten vorgenommen<br />
werden. In Hausarztpraxen<br />
wird erst mal nicht<br />
gegen Covid-19 ge impft. Das hat<br />
verschiedene Gründe. Zum einen<br />
können in großen Zentren mehr<br />
Menschen in kürzerer Zeit geimpft<br />
werden; das Ziel, die Pandemie<br />
mithilfe einer guten Impfquote<br />
Wo kann ich mich<br />
impfen lassen?<br />
einzudämmen, lässt sich so also<br />
am schnellsten erreichen. Auch<br />
für die ordnungsgemäße Lagerung<br />
mancher der neuen Impfstoffe<br />
eignen sich große Zentren besser<br />
– der Impfstoff von Biontech/<br />
Pfizer etwa muss bei Temperaturen<br />
von minus 70 Grad gelagert werden,<br />
was in Hausarztpraxen oder<br />
Apotheken nicht ohne Weiteres<br />
möglich ist. Impfzentren sind mit<br />
der nötigen Technik ausgestattet,<br />
und es können, indem täglich Hunderte<br />
Menschen vor Ort geimpft<br />
werden, große Impfstoff-Mengen<br />
aufgebraucht werden, bevor sie<br />
Impfzentren helfen, möglichst schnell eine hohe Impfquote zu erreichen.<br />
Grund: Hier können mehr Menschen in kurzer Zeit geimpft werden<br />
möglicherweise verfallen. Sobald<br />
mehr Impfstoff-Dosen zur Verfügung<br />
stehen – und auch Impfstoffe<br />
mit weniger hohen Ansprüchen an<br />
die Lagerung –, sollen aber, wie bei<br />
den meisten Impfungen, die niedergelassenen<br />
Ärzte und Ärztinnen<br />
ebenfalls impfen.<br />
2<br />
Muss ich<br />
mich selbst<br />
um einen Termin<br />
kümmern, oder werde<br />
ich eingeladen?<br />
In Bayern,<br />
Berlin, Bremen,<br />
Hamburg,<br />
Hessen,<br />
Nordrhein-<br />
Westfalen und<br />
Mecklenburg-<br />
Vorpommern kommen persönliche<br />
Einladungen per Post. Um Warteschlangen<br />
zu vermeiden, soll sich<br />
jeder Impfbereite anmelden, etwa<br />
unter der bundesweiten Rufnummer<br />
116117 (8 bis 22 Uhr) oder<br />
unter impfterminservice.de. Einige<br />
Bundesländer haben allerdings<br />
auch eigene Nummern und<br />
eigene Online-Buchungssysteme<br />
geschaltet. Eine Übersicht dazu<br />
finden Sie auf Seite 34 dieses Hefts.<br />
Wichtig zu wissen: Impfzentren<br />
laden derzeit nicht telefonisch zu<br />
Impfterminen ein. Also Achtung:<br />
Kriminelle versuchen, die teilweise<br />
verworrene Lage auszunutzen,<br />
und bieten telefonisch angebliche<br />
Hausimpfungen an.<br />
3<br />
Wie wirksam<br />
ist die Impfung?<br />
Für jeden Covid-19-Impfstoff, der zugelassen<br />
wird, muss die Wirksamkeit in klinischen<br />
Prüfungen nachgewiesen worden sein. Beispiel:<br />
Für die Zulassung des Biontech/Pfizer-Impfstoffs<br />
mit mehr als 43 000 Versuchspersonen erhielten<br />
21 700 Personen den Impfstoff, also etwa<br />
die Hälfte. Die übrigen ein unwirksames Scheinmedikament<br />
(Placebo). Von den Geimpften<br />
sind acht Teilnehmer nachweislich an Covid-19<br />
erkrankt. Unter den Teilnehmern, die ein Placebo<br />
erhielten, waren es 162 Personen. Hieraus<br />
errechnet sich für den Impfstoff von Biontech/<br />
Pfizer eine Schutz wirkung von 95 Prozent.<br />
Die zugrunde liegende Annahme: Auch in der<br />
anderen Gruppe wären ohne Impfung 162 Fälle<br />
aufgetreten, aufgrund des Impfschutzes sind es<br />
aber nur acht. Einer davon erkrankte schwer.<br />
Der Impfstoff von Moderna erreichte ähnliche<br />
Ergebnisse – er senkte das Infektionsrisiko in<br />
Studien um 94,1 Prozent. Impfstoffe gegen andere<br />
Krankheiten, etwa Grippe, gelten selbst bei<br />
nur 60 Prozent Wirksamkeit als sinnvoll.<br />
FOTO: ADOBE STOCK<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 13
CORONA ∙ FRAGEN<br />
4<br />
Die Nebenwirkungen und ihre<br />
Häufigkeit variieren je nach<br />
Impfstoff. Generell wird zwischen<br />
Impfreaktionen, -komplikationen<br />
und -schäden unterschieden. Impfreaktionen<br />
sind Schmerzen an der<br />
Einstichstelle, meist einhergehend<br />
mit Rötungen oder Schwellungen.<br />
Welche Nebenwirkungen gibt es?<br />
Auch kann es kurzzeitig zu (hohem)<br />
Fieber oder auch (stärkeren) Kopfund<br />
Gliederschmerzen kommen.<br />
Berichtet wurde ebenfalls von<br />
Schlappheit und Müdigkeit in den<br />
folgenden Tagen. Diese Symptome<br />
zeigen an, dass das Immunsystem<br />
auf den Impfstoff reagiert, und<br />
sollten nach wenigen Stunden,<br />
spätetens aber ein paar Tagen<br />
abklingen.<br />
Impfkomplikationen dagegen<br />
sind sehr seltene, schwerwiegende<br />
Nebenwirkungen einer Impfung.<br />
Ärzte melden sie über das Gesundheitsamt<br />
anonymisiert an das<br />
5<br />
Paul-Ehrlich-Institut, wo sie in<br />
eine Datenbank gespeist werden.<br />
Ein Impfschaden ist definiert<br />
als die gesundheitliche und wirtschaftliche<br />
Folge einer über das übliche<br />
Ausmaß einer Impfreaktion<br />
hinausgehenden gesundheitlichen<br />
Schädigung durch die Impfung.<br />
Variieren Nebenwirkungen<br />
mit<br />
dem Alter der Geimpften?<br />
Bei den zwei zugelassenen mRNA-<br />
Impfstoffen zeigt sich, dass Nebenwirkungen<br />
wie Erschöpfung, Kopfschmerzen<br />
oder Fieber bei der zweiten Impfung<br />
häufiger auftreten – vor allem bei<br />
Jüngeren. Eine Ursache dafür kann sein,<br />
dass das Immunsystem in jüngeren Jahren<br />
aktiver ist und daher stärker reagiert,<br />
wenn es in Kontakt mit Fremdstoffen<br />
oder Erregern kommt. In Norwegen und<br />
einigen anderen Ländern kam es nach<br />
der Impfung zu mehreren Todesfällen bei<br />
älteren, gebrechlichen Menschen. Allerdings<br />
konnte ein Zusammenhang mit der<br />
Impfung oder deren Nebenwirkungen<br />
bislang nicht nachgewiesen werden, die<br />
Untersuchung läuft weiter.<br />
6<br />
Schützt mich die Impfung<br />
auch gegen neue<br />
Virusvarianten?<br />
Drei Mutanten waren zu Redaktionsschluss bekannt: die britische<br />
(B.1.1.7), die südfrikanische (501.Y.V2) und die brasilianische<br />
(P1). Offenbar haben die Mutationen keine Auswirkungen auf<br />
den Schutz der mRNA-Impfstoffe, etwa von Biontech/Pfizer oder<br />
Moderna. Die Wirkung der AstraZeneca-Vakzine gegen die<br />
südafrikanische Variante scheint hingegen begrenzt zu sein. Es ist<br />
möglich, dass die Mutanten auch Menschen krank machen,<br />
die bereits mit Corona infiziert waren oder geimpft sind.<br />
Vorteil der mRNA-Impfstoffe: Sie können sehr schnell<br />
ver änderten Viren angepasst werden. Nur bedarf es dann<br />
erneuter Impfungen – wie bei der Grippe.<br />
14<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
7<br />
Was ist eigentlich<br />
mRNA?<br />
Möchte eine Körperzelle ein bestimmtes<br />
Eiweiß herstellen, wird<br />
der entsprechende Bauplan der DNA<br />
benötigt. Die DNA befindet sich<br />
im Zellkern mitten in der Zelle. Damit<br />
das Eiweiß produziert werden kann,<br />
braucht es zunächst eine Abschrift der<br />
relevanten Informationen. Und dafür<br />
gibt es die mRNA – sie ist sozusagen eine<br />
transportable Kopie der DNA, die aus<br />
dem Zellkern ins Zellinnere geschleust<br />
wird, wo dann das gewünschte Eiweiß<br />
produziert wird. Deswegen wird sie auch<br />
Boten-RNA genannt (englisch: messenger<br />
RNA). Bei der mRNA-Impfung enthält<br />
die mRNA den Bauplan für das stachlige<br />
Oberflächenprotein von Coronaviren.<br />
Es wird in der Zellflüssigkeit produziert,<br />
sodass anschließend das Immunsystem<br />
in Kontakt damit kommt und passende<br />
Antikörper bildet. Diese können „echte“<br />
Coronaviren im Falle einer Infektion<br />
bekämpfen. Übrigens: Coronaviren enthalten<br />
ebenfalls RNA und nutzen so<br />
die Mechanismen der Körperzelle, um<br />
sich zu vervielfältigen.<br />
FOTO: ADOBE STOCK<br />
8<br />
Wie oft muss ich mich impfen<br />
lassen, und welche Intervalle<br />
gelten dabei?<br />
Bei den bisher zugelassenen Impfstoffen sind zwei Dosen<br />
im Abstand von 21 Tagen (Biontech/Pfizer) beziehungsweise<br />
28 Tagen (Moderna sowie AstraZeneca) nötig. Es gab Diskussionen,<br />
die Intervalle zu verlängern, weil es zu wenig Impfstoff<br />
gibt. Die Ständige Impfkommission (STIKO) des Robert-Koch-<br />
Instituts rät jedoch davon ab. Es bestünde die Möglichkeit, dass es<br />
dann ein Fenster gäbe, in dem bis zur zweiten Impfung kein<br />
oder zumindest kein ausreichender Impfschutz besteht. Das aber<br />
sollte laut STIKO besser nicht sein. Denn wenn die Menschen<br />
denken, sie seien geschützt, aber nur einen Schutz von 50 Prozent<br />
oder weniger haben, wäre das eine kritische Situation.<br />
9<br />
Was passiert, wenn ich<br />
meinen zweiten Impftermin<br />
verpasst habe?<br />
Derzeit haben wir es ausschließlich mit Mitteln zu tun,<br />
die ihre volle Schutzwirkung erst nach der zweiten<br />
Impfdosis entfalten. Anders wird es lediglich bei dem Impfstoff<br />
von Janssen sein. Noch ist der aber nicht zugelassen.<br />
Deshalb sollte der zweite Termin unbedingt eingehalten<br />
werden. Gibt es triftige Gründe, den Termin nicht wahrzunehmen,<br />
wird empfohlen, die Impfung zum nächstmöglichen<br />
Zeitpunkt nachzuholen. Es gibt Daten aus den<br />
Zulassungsstudien von Biontech/Pfizer und Moderna,<br />
bei denen auch zu einem späteren Zeitpunkt geimpft<br />
wurde. Aber das waren maximal 42 Tage. Nach allem, was<br />
man aus anderen Impfungen kennt, kann man nach nur<br />
einer Impfung auch später die Immun antwort verstärken.<br />
Das könnte im Extremfall noch nach einem oder zwei<br />
Jahren sein. Aktuell liegen aber keine Daten darüber vor,<br />
wie hoch der Impfschutz in solch einem Fall ist.<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 15
CORONA ∙ FRAGEN<br />
Muss ich bei einem<br />
Präparat bleiben?<br />
10<br />
11<br />
Eine begonnene Impfserie<br />
muss mit dem gleichen<br />
Produkt abgeschlossen werden,<br />
auch wenn zwischenzeitlich<br />
andere Impfstoffe zugelassen<br />
worden sind – so die Empfehlung<br />
der Ständigen Impfkommission.<br />
Die Vervollständigung<br />
der Impfserie bei Personen,<br />
die bereits die erste der beiden<br />
notwendigen Impfstoff-Dosen<br />
erhalten haben, hat Priorität<br />
vor dem Beginn einer Impfung<br />
von Personen, die noch keine<br />
Impfung erhalten haben. Dafür<br />
wurde bislang Impfstoff zurückgelegt;<br />
das ändert sich wegen<br />
der Knappheit aber gerade.<br />
Was sind<br />
vektorbasierte<br />
Impfstoffe?<br />
Der AstraZeneca-Impfstoff gehört zu dieser neuen Klasse von<br />
Impfstoffen. Vektor-Impfstoffe nutzen harmlose Trägerviren,<br />
die nicht krank machen. In dem AstraZeneca-Impfstoff sind es beispielsweise<br />
Viren, die Schimpansen entnommen und so modifiziert<br />
wurden, dass sie sich nicht vermehren können. Die Vektorviren<br />
docken an Körperzellen an und entlassen ihre Gene ins Zellinnere.<br />
Mit dabei ist ein Bauplan für das Antigen – im Fall einer Covid-19-<br />
Impfung für das virale Oberflächen-Spike-Protein, das dann von<br />
der Körperzelle gebaut wird, sodass das Immunsystem Antikörper<br />
dagegen ausbilden kann.<br />
FOTO: ADOBE STOCK<br />
12<br />
Man weiß es schlicht noch<br />
nicht. Aber mal angenommen,<br />
ein Geimpfter wird von einem<br />
Covid-19-Erkrankten angehustet<br />
– dann lässt sich natürlich nicht<br />
ausschließen, dass Viren in Mund<br />
und Nase des Geimpften gelangen.<br />
Würde sich das Virus jetzt trotz<br />
Impfung in der Nase und im Mund<br />
vermehren, dann könnte der Geimpfte<br />
ansteckend sein und, auch<br />
wenn er selbst nicht erkrankt,<br />
die Viren über Aerosole auf andere<br />
übertragen.<br />
Der Punkt ist jedoch wie gesagt,<br />
dass aktuell schlichtweg keine<br />
belastbaren Daten zu dieser Frage<br />
existieren. Was aber feststeht:<br />
„Wenn die Impfung Krankheit verhindert,<br />
dann reduziert sie damit<br />
auch die Ausbreitung des Erregers“,<br />
Kann ich trotz<br />
Impfung das Virus<br />
übertragen?<br />
erklärt Prof. Christian Bogdan,<br />
Mitglied der STIKO. „Wenn also<br />
von ursprünglich 100 Leuten,<br />
die krank werden, nur noch 10<br />
krank werden, dann bedeutet das<br />
eine 90-prozentige Schutzquote.“<br />
Und: Wer nicht an Covid-19<br />
erkrankt, verbreitet das Virus auch<br />
etwas weniger. Denn Krankheitssymptome<br />
wie Husten, die das<br />
Virus verbreiten helfen, fallen weg.<br />
Es wird aber trotz Impfung<br />
weiterhin erforderlich bleiben, die<br />
empfohlenen Schutzmaßnahmen<br />
einzuhalten. Jedenfalls so lange, bis<br />
genügend Menschen geimpft sind<br />
oder feststeht, dass eine geimpfte<br />
Person das Virus tatsächlich nicht<br />
weiterverbreiten kann.<br />
Die Notwendigkeit anhaltender<br />
Schutzmaßnahmen und<br />
Einschränkungen zeigt sich beim<br />
Thema Reisen. Denn sind wir in<br />
Deutschland erst einmal geimpft,<br />
besteht dennoch die Gefahr, bei<br />
Reisen in Gebiete mit niedriger<br />
Impfquote dort die Menschen<br />
anzustecken. So lautet die Devise<br />
also erst einmal: abwarten.<br />
Laut Robert-Koch-Institut<br />
sind derzeit verschiedene Studien<br />
zu der Frage in Planung oder<br />
laufen bereits. Wann Ergebnisse<br />
vorliegen, hängt auch von der<br />
Teilnehmeranzahl an den Studien<br />
sowie von dem weiteren Verlauf<br />
der Pandemie ab.<br />
16<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
13<br />
Zurzeit nicht. Das soll sich aber nach Vorstellung von Bundesgesundheitsminister<br />
Jens Spahn ändern, wenn die Impfstoff-Knappheit<br />
beendet ist. Er geht davon aus, dass es in einigen Monaten bei der<br />
Corona-Impfung eine Wahlmöglichkeit beim Impfstoff geben wird.<br />
„Dann wird es auch möglich sein, ein Stück Auswahl möglich zu<br />
machen“, sagte er. Noch sei dafür die Knappheit zu groß.<br />
Christian Bogdan, Mitglied der Ständigen Impfkommission, sieht<br />
das ähnlich. „Natürlich wird das irgendwann so sein“, versichert<br />
er, „wie jetzt schon bei anderen Impfungen. Am Ende wird es verschiedene<br />
Anbieter und verschiedene Impfstoffe geben, und das kann<br />
sich der Einzelne dann sicherlich aussuchen.“ Gleichzeitig gibt Bogdan<br />
zu bedenken: „Wobei halt die Frage ist, ob der Impfwillige die jeweilige<br />
Kompetenz dazu besitzt, sich überhaupt entscheiden zu können.<br />
Also braucht es dann eine kompetente Beratung durch den entsprechenden<br />
Arzt.“<br />
Ein Aspekt, der dabei eine Rolle spielen könnte, sind Erfahrungswerte<br />
über seltene Nebenwirkungen. Tritt eine Häufung bei bestimmten<br />
Personengruppen auf, könnte das Präparat eines anderen Anbieters<br />
die Risiken minimieren. Das wäre eine Wahl, die der impfende Arzt<br />
treffen müsste.<br />
14<br />
Wenn verschiedene Impfstoffe da sind, kann ich mir<br />
dann aussuchen, welchen ich bekommen möchte?<br />
Wie lange wird es dauern, bis eine<br />
Vielzahl der Deutschen geimpft ist?<br />
Eine klare Antwort auf diese Frage gibt<br />
es leider nicht. Verschiedene Parameter wie<br />
das Zulassungsverfahren, die Anzahl an<br />
Impfdosen, deren Verteilung und das Personal<br />
spielen eine Rolle. Bis Mitte Januar wurden<br />
in Deutschland pro Tag maximal 100 000 Menschen<br />
geimpft. Wenn das Ziel ist, mindestens<br />
60 Prozent aller Deutschen zu impfen, um eine<br />
Herdenimmunität zu erreichen, würde das<br />
mehr als 450 Tage dauern – wir wären nach<br />
dieser Rechnung frühestens Mitte des kommenden<br />
Jahres so weit. Mit steigenden Produktions<br />
kapazitäten der Impfstoff-Hersteller und<br />
zusätzlichen zugelassenen Impfstoffen soll aber<br />
die Zahl der täglichen Impfungen deutlich gesteigert<br />
werden. So kommt die Bundesregierung<br />
zu ihrer ambitionierten Aussage, dass bis Ende<br />
des Sommers jedem ein Impfangebot gemacht<br />
werden könne. Mitglieder der Impfkommission<br />
gehen dennoch davon aus, dass es viele Monate<br />
dauern wird, bis so viele Bürger geimpft sind,<br />
dass Coronaeinschränkungen wie die Maskenpflicht<br />
oder das Distanzgebot aufgehoben<br />
werden können.<br />
15<br />
Muss ich Repressalien<br />
fürchten, wenn ich mich<br />
nicht impfen lasse?<br />
Privatrechtlich wird es höchstwahrscheinlich auch<br />
bei uns Spielräume geben“, sagt Jurist Prof. Steffen<br />
Augsberg vom Ethikrat. „So könnte etwa der Inhaber<br />
eines Theaters gute Gründe haben, nur noch Kunden mit<br />
Impfnachweis einzulassen.“ Zugleich dürfe das Leben nicht<br />
generell beschnitten werden, mahnt der Experte. „Es gibt<br />
natürlich eine staatliche Verantwortung, dass Nicht geimpfte<br />
und ganz besonders Personen, die aus gesundheitlichen<br />
Gründen nicht geimpft werden können, nicht von zentralen<br />
Dienstleistungen ausgeschlossen werden.“<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 17
CORONA ∙ IMPFSKEPSIS<br />
Der Kampf um<br />
Anerkennung<br />
Je nach Umfrage wollen sich rund 20 Prozent<br />
der in Deutschland lebenden Menschen<br />
nicht gegen Corona impfen lassen. Vier von ihnen<br />
erklären ihre Ängste und Sorgen<br />
vor Risiken oder Folgen der Impfung<br />
FOTO: XXXXXXXXXXXXX<br />
Alexander Heß auf seinem Hof.<br />
Seine Schwester entwickelte vor<br />
Jahren nach der Pockenpflichtimpfung<br />
eine starke Immunschwäche<br />
18<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Text: Verena Fischer<br />
Große Bauernhöfe, alte Steinhäuser und<br />
immer wieder Wiesen, Bäume und<br />
Schneeflocken. Ein sehr idyllischer Weg<br />
führt zu Alexander Heß an den Rand<br />
des Wendlands. In einem alten Fachwerkhaus<br />
neben der Kirche eines kleinen Orts wohnt der<br />
Kunsthandwerker mit seiner Familie. Im Jahr<br />
2001 kam seine erste Tochter zur Welt – und<br />
damit trat das Thema Impfen in sein Leben. Um<br />
Empfehlungen nicht einfach blind zu folgen,<br />
informierte sich Heß selbst und versuchte,<br />
sowohl Pro- als auch Kontra-Argumente zu<br />
berücksichtigen. Er besuchte eine Veranstaltung<br />
für impfkritische Eltern. „Ich konnte nicht<br />
glauben, was da erzählt wurde“, staunt der Vater<br />
von mittlerweile vier Kindern noch heute.<br />
Also recherchierte er weiter, auch bei Institutionen<br />
wie dem Robert-Koch-Institut (RKI), und<br />
las Bücher von Impfkritikern.<br />
„Ich fand die Argumente der Impfgegner<br />
insgesamt viel schlüssiger“, fasst Heß zusammen<br />
und kritisiert, dass manche Impfungen potenziell<br />
schädliche Hilfsstoffe wie Aluminium, Phenol<br />
oder Formaldehyd enthalten. „Mittlerweile<br />
steht das auch auf der Seite des RKI. Es heißt<br />
dann immer, dass die Dosis zu gering sei, um<br />
zu schaden. Aber Aluminium ist ein Stoff, der<br />
»Kein Arzt wird Impfwilligen<br />
den Beipackzettel<br />
von Impfungen<br />
vorlesen, weil die<br />
meisten Mediziner<br />
einfach wollen,<br />
dass Menschen Ja zur<br />
Impfung sagen.«<br />
Alexander Heß<br />
FOTO: MARC DIETENMEIER<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 19
CORONA ∙ IMPFSKEPSIS<br />
FOTO: PRIVAT<br />
natürlich im Körper gar nicht vorkommt.“ Dass<br />
über solche Hilfsstoffe überhaupt auf der Institutsseite<br />
berichtet wird, gehöre zu den Erfolgen<br />
der Impfskeptiker, so Heß, der sich mehr offene<br />
Kommunikation und Transparenz hinsichtlich<br />
möglicher Impfrisiken wünscht. „Kein Arzt wird<br />
Impfwilligen den Beipackzettel von Impfungen<br />
vorlesen, weil die meisten Mediziner wollen, dass<br />
Menschen Ja zur Impfung sagen.“<br />
IMPFSCHÄDEN IN JEDER FAMILIE?<br />
„Ich werde mich auf keinen Fall gegen Corona<br />
impfen lassen. mRNA-Impfungen hat es noch<br />
nie gegeben, das ist mir zu riskant – und auch<br />
nicht notwendig“, sagt der gebürtige Berliner.<br />
„Ich glaube, dass jeder in seiner Familie<br />
Impfgeschädigte finden kann, wenn er oder sie<br />
nur richtig hinsieht.“ So sei es auch in seiner<br />
Familie: Heß’ Schwester entwickelte vor vielen<br />
Jahren nach der Pockenpflichtimpfung ein<br />
halbes Jahr lang eine so starke Immunschwäche,<br />
dass sich die Mutter beurlauben lassen musste,<br />
berichtet er. „Obwohl meine Mutter keinen<br />
Zweifel an der Ursache für den Immunschaden<br />
meiner Schwester hat, glaubt sie immer noch an<br />
die Wirksamkeit von Impfungen“, wundert sich<br />
Heß. „Sie hat zwar nie befürchtet, dass meine<br />
Schwester an Pocken erkranken könnte, sie aber<br />
dennoch impfen lassen.“<br />
Er selbst vermutet, dass auch seine chronisch<br />
wiederkehrende Angina in der Kindheit mit<br />
den Impfungen zusammenhängen könnte, und<br />
zweifelt an der Wirksamkeit von Impfungen:<br />
„Bei der Masernimpfung wurde offiziell angegeben,<br />
dass sie zu 30 Prozent nicht wirkt. Ich<br />
glaube, die Dunkelziffer ist generell viel höher.“<br />
»Ich kann<br />
oft nicht unterscheiden,<br />
ob<br />
Experten eigene<br />
wirtschaftliche<br />
Interessen<br />
verfolgen.«<br />
Kathrin Müller-Struß<br />
Kathrin Müller-Struß ist<br />
Kunsttherapeutin und anthroposophisch-ganzheitlich<br />
ausgerichtet<br />
»Für mich kommt so<br />
eine Impfung keinesfalls<br />
infrage, obwohl<br />
ich kein genereller<br />
Impfgegner bin. Aber<br />
es muss sinnvoll und<br />
verhältnismäßig sein.«<br />
Manuela Maaß<br />
Für Heß ist Verantwortung der Schlüsselbegriff.<br />
„Wenn man sich gegen Impfungen entscheidet,<br />
übernimmt man selber die Verantwortung für<br />
die eigene Gesundheit oder die der Kinder.<br />
Folgt man medizinischen Empfehlungen, fühlt<br />
man sich von der Verantwortung befreit“,<br />
sagt er und vermutet, dass Gewissensbisse der<br />
Grund sind, dass über Impfschäden häufig<br />
nicht gesprochen werde. Hinzu komme die Angst<br />
der Ärzte vor rechtlichen Konsequenzen.<br />
ELF JAHRE BIS ZUR ANERKENNUNG<br />
An einem offiziell anerkannten Impfschaden<br />
leidet die heute 23 Jahre alte Tochter von<br />
Ramona Gerlinger aus Schmelz im Saarland.<br />
Als das Kind sechs Monate alt war, bekam<br />
es die gängige Fünffachimpfung, in der auch<br />
der Impfstoff gegen Keuchhusten enthalten<br />
ist. Zwei Tage später entwickelte die Kleine<br />
sogenannte Myoklonien, das sind Muskelzuckungen<br />
und Vorboten einer Epilepsie. Dazu<br />
kamen ein ungewöhnlich starkes Schlafbedürfnis<br />
und Erbrechen. Diese Symptome<br />
hielten an und fielen auch beim zweiten<br />
Termin zur Fünffachimpfung auf. „Doch für<br />
die Ärztin waren das normale Nebenwirkungen,<br />
die nicht so schlimm waren“, erinnert<br />
sich die Mutter.<br />
Krampfanfälle kamen hinzu. Mehrmals<br />
musste die Tochter ins Krankenhaus. Ein<br />
Zusammenhang mit der Impfung wurde ausgeschlossen.<br />
Die Mediziner rieten sogar zur<br />
dritten Impfung, der Gerlinger schweren<br />
Herzens zustimmte. Doch die Anfälle hielten<br />
an – jetzt zudem mit hohem Fieber. Ein<br />
gerufener Notarzt bestätigte, dass die Symptome<br />
zu 99,9 Prozent mit der Impfung zusammenhängen.<br />
„Doch zwei Stunden später haben<br />
die Ärzte diese Aussage wieder zurückgezogen.<br />
Von da an habe ich nichts mehr geglaubt“,<br />
sagt Gerlinger.<br />
Die ausgebildete Sozialpädagogin begab sich<br />
selbst auf die Suche nach Antworten und fand<br />
Studien, die einen Zusammenhang zwischen<br />
Keuchhustenimpfungen und Epilepsie belegen.<br />
Ein Gutachter bestätigte ihren Verdacht. „Dann<br />
habe ich mir eine Anwältin gesucht<br />
und den Impfschaden beantragt.“<br />
Bis zu der offiziellen<br />
Anerkennung dauerte<br />
Sind auch Sie<br />
skeptisch?<br />
Schreiben Sie uns an<br />
redaktion@<br />
pieks-magazin.de<br />
Manuela Maaß<br />
ist studierte<br />
Gesundheitsberaterin<br />
es elf Jahre. Während<br />
der Prozess lief, gab<br />
es einen weiteren<br />
Tiefschlag: Im Alter<br />
von fünf Jahren erlitt<br />
Gerlingers Tochter<br />
einen so schweren<br />
20<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Epilepsieanfall, dass sie ins Krankenhaus<br />
musste, wo sie ins Koma fiel und schließlich als<br />
Vollpflegefall nach Hause zurückkehrte.<br />
HILFE FÜR IMPFGESCHÄDIGTE<br />
Heute ist Ramona Gerlinger voller Tatendrang.<br />
In ihrer Funktion als erste Vorsitzende des<br />
Bundes vereins Impfgeschädigter unterstützt sie<br />
seit Jahren andere Impfgeschädigte. Dazu<br />
sichtet sie die Krankenakten und stellt Studien<br />
zusammen, die Zusammenhänge zwischen den<br />
Beschwerden und Impfungen belegen.<br />
Offiziell tritt ein Impfschaden ein, wenn eine<br />
Nebenwirkung einer Pflichtimpfung über mehr<br />
als ein halbes Jahr anhält. Und wenn durch<br />
den gesundheitlichen auch ein wirtschaftlicher<br />
Schaden entsteht – Betroffene also in ihrer Berufstätigkeit<br />
massiv eingeschränkt sind. Ein Antrag<br />
auf Impfschaden muss beim zuständigen<br />
Versorgungsamt eingereicht werden. Dann wird<br />
ein Fragebogen zugesandt, in den Betroffene sämtliche<br />
aufgetretenen Nebenwirkungen eintragen<br />
müssen. Es werden alle behandelnden Ärzte angeschrieben<br />
und Informationen eingeholt, bevor<br />
eine Bewertung stattfindet. „Impfgeschädigte<br />
kämpfen bei den Behörden gegen Windmühlen.<br />
Da hilft ihnen keiner“, warnt die Vorsitzende.<br />
Ramona Gerlinger ist Vorsitzende des<br />
Bundesvereins Impfgeschädigter e. V.<br />
und Mutter einer betroffenen Tochter<br />
„Unser Verein ist momentan die einzige Möglichkeit,<br />
Unterstützung zu bekommen.“<br />
Wie groß die Erfolgsaussichten sind, lässt sich<br />
bei Prozessbeginn nicht absehen. „Der kürzeste<br />
Fall, bei dem ich dabei war, wurde ab Antragstellung<br />
nach sechs Monaten anerkannt. Und<br />
es gab Fälle, die 40 Jahre gebraucht haben“, so<br />
Gerlinger. Selbst möchte sich Ramona Gerlinger<br />
nicht mehr impfen lassen: „Ich sehe ja täglich<br />
die Sorgen und Ängste von Menschen und auch,<br />
wie viele Impfschäden es gibt.“ Natürlich seien<br />
Impfungen nicht gemacht, um Menschen zu<br />
schädigen. „Es wird aber in Kauf genommen,<br />
dass das passiert. Genau wie es eben auch<br />
bei anderen Medikamenten Nebenwirkungen<br />
gibt“, fügt sie hinzu.<br />
Ramona Gerlinger fordert mehr Transparenz:<br />
„Es sollte klar kommuniziert werden,<br />
dass Schäden auftreten können und welche<br />
das sein können. Und dass, wenn Schäden<br />
auftreten, diese auch entschädigt werden.<br />
Denn sonst entsteht Misstrauen gegenüber<br />
Institutionen.“<br />
NICHT GRUNDSÄTZLICH DAGEGEN<br />
An Vertrauen mangelt es auch Kathrin Müller-<br />
Struß aus Langwedel in Niedersachsen. „Ich<br />
habe das Gefühl, oft nicht unterscheiden zu<br />
können, ob Experten Impfungen aus medizinischer<br />
Sicht empfehlen oder ob sie wirtschaftliche<br />
Interessen verfolgen“, sagt die 39-Jährige,<br />
die sich mit der Geburt ihrer ersten Tochter<br />
im Jahr 2012 aktiv mit Impfungen auseinanderzusetzen<br />
begann. „Auch die STIKO, die<br />
Ständige Impfkommission, scheint mir eher<br />
ein Wirtschaftsunternehmen zu sein“, bemerkt<br />
die frischgebackene Dreifach-Mutter, die eine<br />
ganzheitliche Betrachtung anstrebt.<br />
Ein kritisches Bewusstsein zum Impfthema<br />
besteht bei der Kunsttherapeutin schon seit<br />
»Impfgeschädigte<br />
kämpfen bei den<br />
Behörden gegen<br />
Windmühlen. Da hilft<br />
ihnen keiner. Es<br />
gab Fälle, die 40 Jahre<br />
gebraucht haben.«<br />
Ramona Gerlinger<br />
ihrem anthroposophisch-ganzheitlich ausgerichteten<br />
Studium. „Krankheiten und vor<br />
allem Infektionen im Kindesalter werden dort<br />
als nützlich angesehen, da sie den Körper und<br />
die Selbstheilungskräfte stärken und vor zukünftigen<br />
Erkrankungen schützen“, erklärt sie.<br />
Sie selbst wurde im Kindesalter ganz<br />
normal geimpft und kennt auch niemanden<br />
mit Impfschaden. „Ich bin auch nicht grundsätzlich<br />
gegen Impfungen, ich informiere mich<br />
im Einzelfall über die Chancen und Risiken<br />
und entscheide dann, ob das für meine Kinder<br />
infrage kommt.“<br />
Bei der Masernimpfung hatte die aktive<br />
Bloggerin keine Wahl: „Die ist für Kinder ja<br />
Pflicht, wenn sie in die Schule wollen.“ Einen<br />
solchen Impfzwang empfindet sie generell als<br />
belastend. Sie ist froh, dass die Corona-Impfung<br />
für sie noch kein Thema ist. „Mein Kritikpunkt<br />
ist vor allem, dass es keine Langzeitstudien<br />
gibt und alles so schnell gegangen ist. Der<br />
Covid-Impfstoff gehört zu einem völlig neuen<br />
Impfstoff-Typ, der zuvor noch nicht zugelassen<br />
worden ist. Ich habe ein mulmiges Gefühl!<br />
Besonders weil ich befürchte, dass eine Impfpflicht<br />
kommen könnte.“<br />
IMMUNSYSTEM STÄRKEN<br />
Warum werden neben Impfungen nicht auch<br />
natürliche Alternativen diskutiert? Darüber<br />
wundert sich Manuela Maaß und erinnert an<br />
das Immunsystem als wichtige Säule der Gesundheit.<br />
Immunstärkende Maßnahmen sollten<br />
daher mitbedacht werden, rät die medizinischtechnische<br />
Laborassistentin, die früher in einer<br />
Praxis tätig war. Sie betont: „Bei Erregern ist<br />
immer die Frage, auf welchen Boden sie fallen.“<br />
Durch Präventionsmaßnahmen stünden<br />
die Chancen besser, eine Infektion schadlos<br />
zu überstehen.<br />
Die studierte Gesundheitsberaterin fordert<br />
mehr Präventionsaufklärung und weist auf das<br />
Vitamin D3 hin. „Das Sonnenvitamin ist nicht<br />
bloß ein Vitalstoff, sondern ein Hormon mit<br />
wichtigen Aufgaben im gesamten Körper und<br />
für die Immunregulation. Viele Studien belegen<br />
die Wirksamkeit“, klärt sie auf und empfiehlt:<br />
„Eine Einnahme von frei verkäuflichen Mengen<br />
reicht nicht. Es braucht eine bedarfsgerechte<br />
Substitution durch den Arzt.“ Maaß empfindet<br />
die Strategie „Angst und Einsamkeit“ als<br />
falsch, weil sie aus ihrer Sicht das Immunsystem<br />
extrem schwächt.<br />
FLUCHT VOR DER IMPFUNG<br />
Statt nur auf Impfungen zu setzen, sollte mehr<br />
Geld in die Entwicklung von Medikamenten<br />
zur Behandlung schwerer Verläufe investiert<br />
werden. Niemand wisse, ob und wie lange<br />
Impfungen wirken, und Nebenwirkungen seien<br />
unklar, kritisiert die Schleswig-Holsteinerin.<br />
„Für mich ist kein Nutzen erkennbar, wenn die<br />
Weltbevölkerung als Versuchslabor für halb<br />
erforschte Impfstoffe fungiert. Viele Viren und<br />
ihre Mutanten werden uns in Zukunft noch begegnen.<br />
Wir brauchen eine Strategie, mit ihnen<br />
zu leben. Dieser aussichtslose Machtkampf<br />
hinterlässt Kollateralschäden auf vielen Ebenen.<br />
Wollen wir uns wirklich immer wieder neue,<br />
unsichere Stoffe impfen lassen, nur für eine<br />
Scheinsicherheit?“, fragt Maaß und merkt an:<br />
„Für mich kommt so eine Impfung keinesfalls<br />
infrage, obwohl ich kein genereller Impfgegner<br />
bin. Aber es muss sinnvoll und verhältnismäßig<br />
sein. Restriktionen würde ich in Kauf nehmen,<br />
notfalls auch außerhalb Deutschlands.“<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 21
CORONA ∙ WISSEN<br />
Bei zwei bis acht Grad Celsius ist<br />
der Impfstoff von Biontech<br />
immerhin fünf Tage lang haltbar<br />
»Die Unsicherheit<br />
kann ich absolut verstehen<br />
und will mich als Person<br />
da nicht ausnehmen«<br />
„Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder<br />
Apotheker“ – unsere Autorin hat es getan. Ein Gespräch<br />
mit Dominic Fenske, Apotheker am Helios-Klinikum in Erfurt, über<br />
den Impfstoff, seine Handhabung und darüber, warum er auch<br />
für sich selbst prüfen musste, was davon zu halten ist<br />
Trockeneis sorgt beim Transport für Kühlung.<br />
Am Ziel kommt der Impfstoff in den Ultratiefkühler<br />
22<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Interview: Iunia Mihu<br />
FOTO: CHRISTIAN FISCHER/HELIOS KLINIKUM ERFURT GMBH, GETTY IMAGES (3)<br />
Corona hält die Welt in Atem, bestimmt<br />
unser aller Dasein. Im Kampf um Leben<br />
stehen Ärzte, Krankenschwestern und<br />
Pfleger an vorderster Front. Gefordert<br />
sind jetzt aber auch Apotheker, insbesondere<br />
Krankenhausapotheker, sind sie doch zuständig<br />
für die Lagerung und Vorbereitung des Corona-<br />
Impfstoffs. Einer von ihnen ist Dominic Fenske,<br />
Apotheker mit Leib und Seele am Helios-<br />
Klinikum in Erfurt. Bei ihm in der Apotheke<br />
lagern die Ampullen. Mehr als 200 Impfdosen<br />
ziehen er und sein Team derzeit pro Tag<br />
in der Spritze auf. Er könne die Skepsis in der<br />
Be völkerung durchaus verstehen, sagt er. Warum<br />
er dennoch den Impfstoff mit der Abkürzung<br />
mRNA (Boten-RNA, siehe auch Seite 38)<br />
empfiehlt und vor welchen Herausforderungen<br />
er steht, darüber spricht der promovierte Apotheker<br />
im Interview.<br />
pieks: Herr Dr. Fenske, wie hat sich Ihr<br />
Arbeitsalltag als Apotheker seit Ausbruch<br />
der Coronapandemie verändert?<br />
Dominic Fenske: Covid-19 hält uns die ganze<br />
Zeit in Atem. Angefangen hat es mit Lieferschwierigkeiten<br />
für bestimmte Arzneimittel<br />
wie Narkotika und Schmerzmittel, die auf der<br />
Intensivstation gebraucht werden. Das haben<br />
wir inzwischen gemeistert, aber wir müssen<br />
uns weiterhin um die Nachlieferung kümmern.<br />
Plötzlich mussten wir – wie fast alle Apotheken<br />
in Deutschland – in großen Mengen Handdesinfektionsmittel<br />
herstellen, weil es nicht genug<br />
davon gab. Schließlich hatten wir mit<br />
der Beschaffung der ersten Antigen-Tests gut<br />
zu tun, und heute ist es der ersehnte Impfstoff<br />
– langweilig wird uns nicht.<br />
Als eine der großen Herausforderungen beim<br />
Impfstoff wird immer wieder dessen Lagerung<br />
erwähnt. Der Biontech-Impfstoff wird meist<br />
auf Trockeneis transportiert und muss anschließend<br />
bei minus 70 Grad Celsius gelagert<br />
werden. Der Moderna-Impfstoff hingegen<br />
braucht es nicht ganz so kalt. Wie schwierig ist<br />
die Lagerung und Aufbewahrung des Impfstoffs<br />
in der Praxis wirklich?<br />
Ehrlich gesagt hört sich das komplizierter an,<br />
als es ist. Ich plädiere für mehr Gelassenheit.<br />
Man muss zwar etwas aufpassen, aber jeder<br />
ausgebildete Apotheker kann mit diesen Bedingungen<br />
umgehen. Wir haben schon vor dem<br />
Biontech-Impfstoff mit Trockeneis gearbeitet,<br />
wenn zum Beispiel bestimmte Laborartikel<br />
bei minus 70 Grad Celsius gekühlt werden müssen,<br />
bis sie eingesetzt werden. Wenn der Impfstoff<br />
per Frachtflug transportiert werden muss,<br />
ist das natürlich eine ganz andere Hausnummer,<br />
aber für mein kleines Apotheken-Biotop<br />
hier in Erfurt ist das gut machbar.<br />
Die größte Herausforderung vor allem beim Impfstoff von Biontech ist der Transport bei Minusgraden. Ist er<br />
einmal in den Zentren oder Apotheken angekommen, macht die Handhabung den Profis keine Probleme mehr<br />
Dennoch muss es dann schnell gehen. Wie läuft<br />
das konkret ab, wenn der Impfstoff bei Ihnen in<br />
der Krankenhausapotheke ankommt?<br />
Der Impfstoff von Biontech wird aus dem Ultratiefkühlschrank<br />
herausgenommen. Dann<br />
muss er bei zwei bis acht Grad gehalten werden<br />
und ist noch 120 Stunden verwendbar, also<br />
fünf Tage lang. Wenn man ihn dann aus dem<br />
Kühlschrank herausnimmt, um ihn zu verdünnen<br />
und zu verabreichen, hat man noch einen<br />
Spielraum von circa sechs Stunden. Innerhalb<br />
dieser sechs Stunden muss er gespritzt werden.<br />
DR. DOMINIC FENSKE<br />
Leiter der Krankenhausapotheke<br />
am Helios-Klinikum in Erfurt<br />
Dominic Fenske (47) ist Apotheker<br />
mit den beruflichen Schwerpunkten<br />
Mikrobiologie und Kardiologie.<br />
Er studierte in seiner Heimatstadt<br />
Bonn. Seine Promotion hat er an der<br />
Universität Mainz abgelegt. Als<br />
Leiter der Apotheke und des Zentralen<br />
Dienstes Apotheke verantwortet<br />
er die Pharmazie bei Helios und<br />
koordiniert die Entwicklung aller<br />
Helios-Apotheken.<br />
Und wie ist die Handhabung beim Moderna-<br />
Impfstoff?<br />
Der Impfstoff von Moderna ist da eine Nummer<br />
einfacher, weil er nur bei minus 20 statt minus<br />
70 Grad gelagert werden muss. Das schaffen<br />
normale Tiefkühlschränke, wie sie im Haushalt<br />
üblich sind. Er ist auch ein bisschen robuster,<br />
wenn man ihn bei normaler Kühlschranktemperatur<br />
oder bei Raumtemperatur lagert.<br />
Auch ist er gleich fertig für die Anwendung.<br />
Man muss ihn also nicht verdünnen, sondern<br />
bringt ihn auf Raumtemperatur und zieht ihn<br />
direkt mit der Spritze aus der Ampulle auf. Aber<br />
auch hier muss man sagen: Ein Arzneimittel<br />
zu nehmen und es mit einer anderen Lösung<br />
zu verdünnen ist für eine Pflegekraft in der<br />
Praxis ein ganz normaler Vorgang. Dafür sind<br />
die Kollegen ausgebildet. Der Zwischenschritt<br />
mit der Verdünnung ist kein Hindernis – es ist<br />
einfacher, wenn man es nicht machen muss,<br />
aber es ist kein Knock-out-Kriterium. Auch da<br />
empfiehlt sich mehr Gelassenheit.<br />
Viele Menschen sind unsicher und fragen sich,<br />
ob sie einem so schnell zugelassenen Impfstoff<br />
wirklich trauen können. Normalerweise<br />
dauert es viele Jahre, bis ein Impfstoff erprobt<br />
ist – hier hingegen nur wenige Monate.<br />
Ich kann die Unsicherheit absolut verstehen<br />
und will mich als Person da nicht ausnehmen.<br />
Die Impfstoffe von Biontech und Moderna, die<br />
sogenannten mRNA-Impfstoffe, sind ja vom<br />
Wirkprinzip her anders als die bisherigen, die<br />
wir kennen. Ich musste mich auch erst einmal<br />
informieren und für mich selbst prüfen, was<br />
davon zu halten ist. Aber ich bin inzwischen<br />
überzeugt und der Auffassung, dass dies ein<br />
sehr guter Weg ist, einen Impfstoff herzustellen.<br />
Um die Geschwindigkeit des Zulassungsverfahrens<br />
einordnen zu können, muss man<br />
verschiedene Dinge wissen. Ganz wichtig:<br />
Im europäischen Zulassungsverfahren wurde<br />
kein Schritt ausgelassen. Da wurde nichts<br />
übersprungen, nur damit es schneller geht.<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 23
CORONA ∙ WISSEN<br />
Eine der größten<br />
Sorgen ist, dass der<br />
neue mRNA-Impfstoff<br />
in das menschliche<br />
Erbgut eingreifen<br />
könnte. Was ist dran?<br />
Vielmehr wurden die einzelnen Schritte<br />
sehr schnell und sehr gut miteinander koordiniert.<br />
Dadurch konnte der gesamte Prozess<br />
beschleunigt werden. Forscher müssen ja in<br />
der Regel sehr geduldig sein. Sie stellen einen<br />
Antrag und müssen erst einmal auf Geld<br />
warten, bevor sie loslegen können. Dann wird<br />
der nächste Antrag gestellt, und wieder heißt<br />
es warten. Wenn aber Geld und Ressourcen<br />
gebündelt werden, kann es sehr schnell gehen.<br />
Es ist also keineswegs in Stein gemeißelt,<br />
dass es zehn Jahre oder mehr dauern muss,<br />
bis ein Impfstoff da ist.<br />
Bei der Suche nach einem Corona-Impfstoff<br />
wurde länderübergreifend und vor allem<br />
parallel geforscht und erprobt, um ja keine<br />
Zeit zu verlieren.<br />
Genau. Angenommen, man hat drei Impfstoff-<br />
Kandidaten im Labor. Normalerweise würde<br />
man diese nacheinander über mehrere Wochen<br />
hinweg testen. Hat man das nötige Geld, können<br />
Wissenschaftler diese drei Kandidaten aber<br />
parallel erforschen. An zwei von drei hat man<br />
möglicherweise umsonst gearbeitet, denn oft<br />
erweist sich nur einer als wirksam. Aber man<br />
ist dann nach drei Wochen so schnell wie sonst<br />
vielleicht nach zwölf Wochen, weil bestimmte<br />
Arbeitsprozesse parallel abliefen. Das zeigt sich<br />
auch daran, dass der Corona-Impfstoff bereits<br />
in großen Mengen produziert wurde, bevor<br />
ihn die europäische Zulassungsbehörde EMA<br />
freigegeben hat – außerhalb einer Pandemie<br />
würde man erst mit dem Erhalt der Zulassung<br />
die Produktion hochfahren, und dann würde<br />
noch mal mindestens ein Jahr vergehen, bis der<br />
Impfstoff verabreicht werden kann.<br />
Und trotzdem wollen viele Menschen erst einmal<br />
abwarten oder sich gar nicht erst impfen<br />
lassen. Eine der größten Sorgen vieler Impfskeptiker<br />
ist, dass der neue mRNA-Impfstoff<br />
in das menschliche Erbgut eingreifen könnte.<br />
Das Besondere an diesen Impfstoffen ist<br />
eigentlich nicht das Stückchen mRNA, sondern<br />
vielmehr die winzig kleine Lipidhülle, also die<br />
Fetthülle, in die die mRNA eingebunden ist.<br />
Das gab es so noch nicht. Um sich zu vermehren,<br />
müssen Viren ihre Erbinformation in eine<br />
Die stacheliegen Spike-Proteine ragen aus der Oberfläche des Virus. Sie sorgen dafür, dass das Virus<br />
in Körperzellen eindringen kann – und sie können von Antikörpern blockiert werden<br />
Zelle, die sogenannte Wirtszelle, einschleusen.<br />
Die Lipidhülle ist der Transportbehälter, über<br />
den die mRNA im Zellinnern, dem Zytoplasma,<br />
abgeliefert wird. Bestimmte Enzyme beginnen<br />
dann, die Information, die auf der mRNA<br />
gespeichert ist, zu „lesen“. Die hier eingesetzte<br />
mRNA enthält den Bauplan für ein bestimmtes<br />
Oberflächenprotein von SARS-CoV-2, das<br />
berühmte Spike-Protein, welches typisch für<br />
das neuartige Coronavirus ist. Weil es nun<br />
in der Zelle entsteht, wird das Immunsystem<br />
angeregt, Abwehrstoffe (Antikörper und<br />
T-Zellen) gegen das Corona-Protein zu bilden.<br />
Wenn die geimpfte Person später in Kontakt mit<br />
dem SARS-CoV-2 kommt, wird dieses schnell<br />
durch das Immunsystem erkannt und gezielt<br />
bekämpft. Der gesamte Vorgang imitiert damit<br />
den natür lichen Prozess einer viralen Infektion<br />
und trainiert so das Immunsystem.<br />
Das eingeschleuste Virus-Erbmaterial<br />
in der mRNA kann sich also nicht mit der<br />
mensch lichen DNA vermischen?<br />
Nein. Die menschliche Zelle hat überhaupt<br />
nicht die Möglichkeit, ein mRNA-Stück in ein<br />
DNA-Stück umzuschreiben. Dafür fehlen die<br />
notwendigen Enzyme. Der biologische Prozess<br />
läuft gerichtet immer in die andere Richtung<br />
ab. In unseren Zellen haben wir die Zellkerne,<br />
darin ist die DNA. Diese wird umgeschrieben<br />
in mRNA, und die darin enthaltene Information<br />
wird dann in der Zelle in ein Protein<br />
übersetzt – ein ganz normaler Vorgang. DNA,<br />
mRNA, Protein – das ist die Reihenfolge. Der<br />
Prozess kann nicht in die andere Richtung,<br />
rückwärts, gehen. Die menschliche DNA wird<br />
nicht angetastet, geschweige denn umgeschrieben,<br />
wenn der Impfstoff im Körper ist.<br />
Aber es gibt Viren, die DNA ändern können.<br />
Ja, es gibt in der Natur Ausnahmen. Das HI-<br />
Virus zum Beispiel ist so eine. Es ist in der<br />
Lage, seine Boten-RNA in DNA umzuschreiben<br />
und diese dann in unsere DNA einzuschleusen.<br />
Die dafür notwendigen Werkzeuge,<br />
also bestimmte Enzyme, muss das Virus aber<br />
selbst mitbringen. Da weder die menschliche<br />
Zelle noch das SARS-CoV2-Virus über diese<br />
Enzyme verfügen, ist dieser Weg für den Impfstoff<br />
fest verschlossen.<br />
Wie sicher sind die Corona-Impfstoffe?<br />
Verglichen mit anderen Möglichkeiten, Vakzinen<br />
zu produzieren, sind die Impfstoffe von<br />
Biontech und Moderna erstaunlich einfach<br />
zusammengesetzt – das meine ich überhaupt<br />
nicht abwertend, denn genau in dieser Einfachheit<br />
liegt die Würze. Da ist gar nicht so viel<br />
drin, wogegen der Körper reagieren könnte.<br />
Einige Impfstoffe brauchen Adjuvanzien, das<br />
sind Hilfsstoffe, die eine starke Immunantwort<br />
auslösen. In anderen Impfstoffen finden sich Eiweiße<br />
in kleinsten Mengen, die aus der Produktion<br />
stammen. Beim Grippe-Impfstoff ist das<br />
etwa Hühnereiweiß, das allergische Reaktionen<br />
hervorrufen kann. In den Covid-19-Impfstoffen<br />
FOTO: MPI OF BIOPHYSICS/SÖREN VON BÜLOW, MATEUSZ SIKORA, GERHARD HUMMER, PRIVAT (2)<br />
24<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
sind kaum Substanzen enthalten, die eine allergische<br />
Reaktion auslösen könnten. Man kann<br />
sagen, dass andere Impfstoffe komplexer sind<br />
als die mRNA-Impfstoffe. Dennoch steckt eine<br />
aufwendige Technologie dahinter, die neu ist<br />
und bislang in der Klinik nicht breit angewendet<br />
wurde – daher kann ich eine gewisse Sorge<br />
in der Bevölkerung verstehen. Wir haben die<br />
Impfstoffe eben nicht schon seit zehn Jahren in<br />
der Anwendung, sondern erst wenige Wochen.<br />
Und deswegen kann man über mögliche langfristige<br />
Nebenwirkungen noch nichts sagen?<br />
Das stimmt nicht ganz. Man kann schon jetzt<br />
Schlüsse über mögliche Nebenwirkungen ziehen,<br />
weil man die Probanden aus den Impfstoff-Studien<br />
untersucht und auch weiterhin<br />
beobachtet. Man muss unterscheiden zwischen<br />
seltenen und verzögert auftretenden Nebenwirkungen.<br />
Bei Impfstoffen geht man davon aus,<br />
dass sich verzögert auftretende Nebenwirkungen<br />
spätestens nach acht Wochen zeigen – alles,<br />
was danach im Körper passiert, kann nicht<br />
mehr mit dem Impfstoff zusammenhängen,<br />
weil der Impfstoff längst abgebaut und nicht<br />
mehr im Körper vorhanden ist. Über diese Zeitspanne<br />
hinweg wurden die Probanden in den<br />
Studien immer beobachtet. Aber es bestehen<br />
noch Unsicherheiten in Bezug auf sehr seltene<br />
Nebenwirkungen. Hier müssen sehr viele<br />
Menschen mit dem Impfstoff behandelt werden,<br />
damit so eine Nebenwirkung überhaupt<br />
erstmals auftritt, beobachtet und dem Impfstoff<br />
zugeordnet werden kann. Es könnte also sein,<br />
dass etwas, das sehr selten geschieht, bis jetzt<br />
noch nicht passiert ist. Deshalb sind kontinuierliche<br />
Beobachtung und Aufmerksamkeit richtig<br />
und wichtig – genau dies geschieht auch.<br />
Warum ist eine zweite Dosis nach<br />
drei Wochen erforderlich?<br />
Das hängt mit der Faulheit unseres Immunsystems<br />
zusammen. Warum werden wir krank?<br />
Weil der Körper Energie braucht, um den viralen<br />
Eindringling zu bekämpfen. Energie ist für<br />
einen biologischen Organismus Mangelware.<br />
Also versucht der Körper, mit möglichst wenig<br />
Energieaufwand eine Infektion zu bekämpfen.<br />
Wenn es nur eine leichte Infektion ist und man<br />
sonst keine gravierenden Vorerkrankungen<br />
hat, bekämpft das Immunsystem das Virus<br />
problemlos. Danach wird der Eindringling aber<br />
auch wieder vergessen, weil es zu aufwendig<br />
ist, permanent Antikörper zu produzieren und<br />
viele Immunzellen ständig in Habachtstellung<br />
zu halten. Kommt das Virus aber kurz danach<br />
wieder, sagt sich das Immunsystem: „Hey, dieses<br />
Ding scheint ernsthaft nervig zu sein, damit<br />
muss ich mich nun näher auseinandersetzen.“<br />
Genau das macht das Immunsystem dann auch,<br />
und dazu ist die zweite Impfung nötig. Sie hilft<br />
dem Immunsystem dabei, die Abwehr beim<br />
zweiten Angriff aufrechtzuerhalten.<br />
Sollten sich auch Personen impfen lassen,<br />
die Covid-19 bereits durchgemacht haben?<br />
Perspektivisch gesehen, ja. Das weiß man inzwischen.<br />
Die Frage ist: Wann ist der richtige<br />
Zeitpunkt? Angenommen, man lag eine Woche<br />
lang krank im Bett, hatte noch diese berühmten<br />
Geschmacks- und Geruchsveränderungen,<br />
dann hat der Körper wahrscheinlich stark<br />
auf die Infektion reagiert. Das Immunsystem<br />
hat mit der Bildung von T-Zellen (Gedächtniszellen)<br />
geantwortet – die Impfung kann in<br />
diesem Fall die Immunkompetenz nicht weiter<br />
verstärken, sie hilft nicht zusätzlich. Hatte ich<br />
aber eine unerkannte Infektion oder einen milden<br />
Verlauf, dann hat der Körper nicht stark<br />
darauf reagiert, die Immunantwort ist wahrscheinlich<br />
eher schwach. Eine Impfung kann<br />
in dem Fall hilfreich sein. Da eine Re infektion<br />
mit dem Coronavirus innerhalb von 90 Tagen<br />
nach einer ersten Infektion ungewöhnlich<br />
ist, kann man nach jetzigem Wissensstand in<br />
solchen Fällen ungefähr ein Quartal lang mit<br />
der Impfung warten. Es ist zumindest kein<br />
Risiko, wenn sich Personen impfen lassen, die<br />
die Krankheit bereits durchgemacht haben.<br />
Wohnzimmerbegegnung: Interview unserer Autorin mit Apotheker Fenske unter Coronabedingungen<br />
Die EMA hat sechs statt fünf Dosen aus einer<br />
Ampulle erlaubt. Was bedeutet das konkret?<br />
Jedes Fläschchen – egal ob Haarshampoo oder<br />
Impfstoff – hat ein deklariertes Entnahmevolumen.<br />
Damit wird angegeben, was Sie mindestens<br />
herausbekommen. Daher ist in der Regel<br />
eher ein bisschen mehr abgefüllt. Die EMA<br />
hat uns nun die Erlaubnis erteilt, auch diese<br />
Überfüllung zu nutzen. Dabei geht es nicht darum,<br />
die Ampulle bis auf den letzten Tropfen<br />
auszuquetschen – die EMA hat übrigens auch<br />
richtigerweise verboten, Reste verschiedener<br />
Ampullen zusammenschütten. Wenn man<br />
sorgfältig ist und die richtigen Materialien hat,<br />
also besonders gute und genaue Spritzen mit<br />
geringem Totvolumen und geringem Verlust<br />
des Inhalts, ist es problemlos möglich, sechs<br />
Impfstoff-Dosen zu entnehmen. Aber Sie<br />
müssen die Situation auch aus der weltweiten<br />
Perspektive sehen. Denn es gibt viele Länder,<br />
die sich hochwertige Spritzen schlichtweg<br />
nicht leisten können und den Impfstoff nicht<br />
so genau entnehmen können. Die Impfstoff-<br />
Hersteller sind völlig korrekt vorgegangen. Sie<br />
haben jede Ampulle so befüllt, dass man,<br />
egal wo auf der Welt, immer sicher fünf Impf -<br />
dosen entnehmen kann. Das führt dann<br />
dazu, dass in den Ländern, die sich besonders<br />
gute und genaue Spritzen leisten können, eine<br />
sechste Dosis entnommen werden kann.<br />
»Die Impfstoffe von<br />
Biontech und Moderna<br />
sind erstaunlich einfach<br />
zusammengesetzt<br />
– das meine ich überhaupt<br />
nicht abwertend,<br />
denn genau darin liegt<br />
die Würze.«<br />
Und diese sechste Dosis ist völlig sicher! Da<br />
ist nichts verdünnt und nichts gestreckt. Ich<br />
begrüße die Entscheidung der EMA sehr – ich<br />
habe schon lange darauf gewartet.<br />
Und wann werden Sie sich impfen lassen?<br />
Laut Impfverordnung sind die Apotheker erst<br />
in der dritten Stufe dran – darüber bin ich<br />
schon ein bisschen unglücklich. Gerade in der<br />
Pandemie zeigt sich doch, dass die Apotheken<br />
Teil der kritischen Infrastruktur sind – zumindest<br />
sehe ich die von mir geleitete Krankenhausapotheke<br />
so und würde mir wünschen, in<br />
der zweiten Stufe dranzukommen. Aber erst<br />
kommen die Kollegen auf den Intensivstationen<br />
an die Reihe, und das ist auch richtig so.<br />
Einen Stichtag für mich und mein Team gibt es<br />
allerdings nicht. Ich kann mit gutem Gewissen<br />
für die Corona-Impfstoffe werben – das ist<br />
unsere beste Chance, aus dieser Pandemie herauszukommen.<br />
Wir alle sollten sie nutzen!<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 25
CORONA ∙ IMPFSTOFFE<br />
Die wichtigsten<br />
Impfstoffe<br />
Text: Verena Fischer<br />
Biontech, Moderna oder AstraZeneca? Verschiedene<br />
Impfstoffe werden nach und nach zugelassen. Wie<br />
unterscheiden sie sich, welche Vor- und Nachteile gibt es?<br />
Alle Infos zu den gefragtesten Kandidaten im Überblick
Die ersten zwei zugelassenen Impfstoffe<br />
von Biontech/Pfizer und Moderna<br />
ähneln sich stark – in beiden Fällen<br />
handelt es sich um neuartige mRNA-<br />
Impfstoffe. Von AstraZeneca ist jetzt der erste<br />
Vektor-Impfstoff auf den Markt – auch dies ein<br />
recht neues Verfahren zur Impfung (mehr über<br />
die Funktionsweisen auf Seite 38).<br />
Schrittweise werden weitere Hersteller folgen,<br />
deren Produkte das Impfangebot in Deutschland<br />
erweitern sollen. Die EU hat bei den meisten<br />
dieser Firmen Impfstoffe reserviert. Die<br />
aussichtsreichsten Kandidaten stellen wir hier<br />
im Steckbrief vor. Und dann gibt es die Exoten<br />
etwa aus Russland oder China, deren Zulassung<br />
in westlichen Ländern noch unklar ist – auch<br />
sie porträtieren wir kurz.<br />
Ab Seite 88 informieren wir Sie auch über<br />
das US-amerikanische Antikörper-Medikament<br />
REGN-COV2, das Gesundheitsminister Jens<br />
Spahn Ende Januar eingekauft hat. Es kann<br />
womöglich als Überbrückung bis zur Impfung<br />
für eine Immunisierung sorgen – wenn es eine<br />
Zulassung in Europa bekommt.<br />
BIONTECH/PFIZER<br />
COMIRNATY (BNT162B2)<br />
Das Mittel des Mainzer Unternehmens Biontech<br />
und seines US-Partners Pfizer ist im Dezember<br />
als erster Corona-Impfstoff in der EU zugelassen<br />
worden. Zuvor wurde es in einer Studie mit<br />
etwa 43 500 Teilnehmenden erprobt. Deutschland<br />
hat eine Vereinbarung über die Lieferung von 30 Millionen Einheiten getroffen.<br />
Die Bundesregierung hat die Entwicklung und Produktion des Impfstoffs mit bis<br />
zu 375 Millionen Euro gefördert. Bis Ende Januar wurden in Deutschland etwa zwei<br />
Millionen Menschen mit dem Mittel geimpft.<br />
ALLGEMEIN<br />
Name<br />
Typ<br />
Wirksamkeit<br />
Wirkweise<br />
Anzahl Dosen<br />
Impfschema<br />
Applikation<br />
Comirnaty (BNT162b2)<br />
mRNA-Impfstoff<br />
95-prozentiger Schutz vor der Infektion ab<br />
dem siebten Tag nach Erhalt der zweiten Dosis<br />
Der Impfstoff enthält den Bauplan (mRNA)<br />
für das Stachelprotein auf der Oberfläche des<br />
Covid-19-Virus. Dieses Protein wird dann vom<br />
geimpften Körper produziert. Darauf reagiert<br />
die Immunabwehr. Die mRNA ist in einer Hülle<br />
aus Fettpartikeln (Lipid-Nanopartikeln) verpackt<br />
zwei zu je 0,3 Milliliter<br />
21 Tage Abstand zwischen erster und<br />
zweiter Impfung<br />
Spritze in die Oberarmmuskulatur<br />
NEBENWIRKUNGEN<br />
häufigste Nebenwirkungen<br />
seltene Nebenwirkungen<br />
HALTBARKEIT/PREIS/FREIGABE<br />
Haltbarkeit<br />
Preis pro Dosis<br />
Altersfreigabe<br />
Stand des EU-<br />
Zulassungsverfahrens<br />
Schmerzen an der Injektionsstelle (< 80 %),<br />
Müdigkeit (< 60 %), Kopfschmerzen (< 50 %),<br />
Muskelschmerzen und Schüttelfrost (< 30 %),<br />
Gelenkschmerzen (< 20 %), Fieber (< 10 %) und<br />
Schwellung an der Injektionsstelle (< 10 %).<br />
Normalerweise sind Beschwerden von leichter<br />
oder mäßiger Intensität und klingen innerhalb<br />
weniger Tage nach der Impfung ab<br />
Lymphknotenschwellung über zehn Tage<br />
(0,3 %), bisher vier Fälle von akuter Gesichtsmuskellähmung,<br />
eine vorübergehende<br />
Beinlähmung, eine Herzrhythmusstörung,<br />
vier akute allergische Reaktionen<br />
sechs Monate bei minus 90 bis minus 60 Grad<br />
Celsius, zwei Stunden bei Raumtemperatur<br />
12 Euro<br />
ab 16 Jahren<br />
zugelassen in der EU seit 21. Dezember 2<strong>02</strong>0<br />
FOTO: STOCKSY, PR<br />
UNTERNEHMENSUMSATZ<br />
Umsatz<br />
Biontech: 108,6 Millionen Euro (2019)<br />
Pfizer: 42,5 Milliarden Euro (2019)<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 27
CORORNA ∙ IMPFSTOFFE<br />
MODERNA<br />
COVID-19-IMPFSTOFF (mRNA-1273)<br />
Der Impfstoff des US-amerikanischen Unternehmens<br />
ist der zweite, der in der EU zugelassen<br />
wurde. Ein Vorteil des Mittels ist, dass<br />
es sich bei Kühlschranktemperatur problemlos<br />
lagern lässt. In der Zulassungsstudie mit<br />
30 400 Teilnehmern sind Nebenwirkungen etwas häufiger als bei Biontech/Pfizer<br />
beobachtet worden. In diesem Jahr soll Deutschland 56 Millionen Impfdosen<br />
erhalten. Bis Mitte Januar wurden in Deutschland 2700 Menschen mit dem Mittel<br />
von Moderna geimpft.<br />
ALLGEMEIN<br />
Name<br />
Typ<br />
Wirksamkeit<br />
Wirkweise<br />
Anzahl Dosen<br />
Impfschema<br />
Applikation<br />
Covid-19-Impfstoff Moderna (mRNA-1273)<br />
mRNA-Impfstoff<br />
94,1-prozentiger Schutz vor der Infektion ab<br />
14 Tage nach Erhalt der zweiten Dosis<br />
Der Impfstoff basiert, genau wie die Vakzine<br />
von Biontech, auf der mRNA-Technologie und<br />
enthält ebenfalls den Bauplan für das Oberflächenprotein<br />
des Coronavirus, verpackt in<br />
Fettpartikeln (Lipid-Nanopartikeln)<br />
zwei zu je 0,5 Milliliter<br />
28 Tage Abstand zwischen erster und<br />
zweiter Impfung<br />
Spritze in die Oberarmmuskulatur<br />
NEBENWIRKUNGEN<br />
häufigste Nebenwirkungen<br />
Schmerzen an der Injektionsstelle (< 80 %),<br />
Müdig keit (< 60 %), Kopfschmerzen (< 55 %),<br />
Muskelschmerzen (60 %), Schüttelfrost (< 40 %),<br />
Gelenkschmerzen (< 40 %), Fieber (< 10 %) und<br />
Schwellung an der Injektionsstelle (< 10 %).<br />
Normalerweise waren Beschwerden von<br />
leichter oder mäßiger Intensität und klangen<br />
innerhalb weniger Tage nach der Impfung ab<br />
seltene Nebenwirkungen<br />
Lymphknotenschwellung über 7 Tage (2,5 %).<br />
Über seltene Nebenwirkungen ist bis jetzt<br />
wenig bekannt, in sehr seltenen Fällen ist es zu<br />
akuten allergischen Reaktionen gekommen<br />
HALTBARKEIT/PREIS/FREIGABE<br />
Haltbarkeit<br />
Preis pro Dosis<br />
Altersfreigabe<br />
Stand des EU-<br />
Zulassungsverfahrens<br />
bis zu 30 Tage bei Kühlschrank- und bis zu<br />
12 Stunden bei Zimmertemperatur<br />
15 Euro<br />
ab 18 Jahren<br />
zugelassen seit 6. Januar <strong>2<strong>02</strong>1</strong><br />
UNTERNEHMENSUMSATZ<br />
Umsatz 49,5 Milliarden Euro (2019)<br />
28<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
ASTRAZENECA / OXFORD UNIVERSITY<br />
AZD1222<br />
Der Impfstoff, entwickelt an der Universität<br />
Oxford, wird vom britisch-schwedischen<br />
Unternehmen AstraZeneca produziert. Das<br />
Mittel ist preiswert und praktisch, da es<br />
keine aufwendige Kühlung erfordert. Es handelt<br />
sich um einen Vektor-Impfstoff. Da die Zulassungsstudie vergleichsweise wenig<br />
ältere Menschen einschloss, hat zwar die EU-Behörde EMA die Vakzine ohne Altersbeschränkung<br />
zugelassen, in Deutschland sind aber vorerst Menschen ab 65 Jahren<br />
ausgenommen. Deutschland soll 56,2 Millionen Dosen von AstraZeneca erhalten.<br />
ALLGEMEIN<br />
Name<br />
Typ<br />
Wirksamkeit<br />
Wirkweise<br />
Anzahl Dosen<br />
Impfschema<br />
Applikation<br />
AZD1222<br />
Vektor-Impfstoff<br />
wird aktuell mit 70 Prozent nach der zweiten<br />
Dosis angegeben<br />
Enthalten sind veränderte Erkältungsviren<br />
von Schimpansen, die sich nicht vermehren und<br />
nicht krank machen können. In diese wurde<br />
der genetische Bauplan des Coronavirus-Oberflächenproteins<br />
auf einer DNA integriert. Die<br />
Viren übertragen die DNA in Körperzellen. Da<br />
die DNA nicht in den Zellkern gelangen kann,<br />
verändert sie unsere Gene nicht<br />
zwei zu je 0,5 Milliliter<br />
28 Tage Abstand zwischen erster und<br />
zweiter Impfung<br />
Spritze in die Oberarmmuskulatur<br />
NEBENWIRKUNGEN<br />
häufigste Nebenwirkungen<br />
seltene Nebenwirkungen<br />
Daten aus der Phase-3-Studie liegen noch<br />
nicht vor. Ergebnisse aus der zweiten Phase<br />
mit 1077 Teilnehmern: Müdigkeit (< 70 %),<br />
Kopfschmerzen (< 60 %), Muskelschmerzen<br />
(< 60 %), Schüttelfrost (< 50 %), Gelenkschmerzen<br />
(< 40 %), Fieber (< 15 %) innerhalb der ersten<br />
drei Tage nach der Impfung. Es wurden bisher<br />
keine schwerwiegenden unerwünschten Ereignisse<br />
in Zusammenhang mit dem Impfstoff<br />
beobachtet<br />
Über seltene Nebenwirkungen ist bislang<br />
wenig bekannt<br />
HALTBARKEIT/PREIS/FREIGABE<br />
FOTO: GETTY IMAGES, PR (2)<br />
Haltbarkeit<br />
Preis pro Dosis<br />
Altersfreigabe<br />
Stand des EU-<br />
Zulassungsverfahrens<br />
UNTERNEHMENSUMSATZ<br />
bei Kühlschranktemperatur<br />
mindestens sechs Monate haltbar<br />
1,78 Euro<br />
ab 18 Jahren<br />
zugelassen seit 29. Januar <strong>2<strong>02</strong>1</strong><br />
Umsatz 20,0 Milliarden Euro (2019)<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 29
CORONA ∙ IMPFSTOFFE<br />
JANSSEN-CILAG INTERNATIONAL N. V.<br />
AD<strong>26</strong>.COV2.S<br />
Das Unternehmen gehört zum amerikanischen<br />
Pharmakonzern Johnson & Johnson und<br />
vertreibt einen Vektor-Impfstoff gegen die<br />
Infekt ions krankheit Ebola, der schon mehr als<br />
800 000-mal eingesetzt wurde. Das gleiche<br />
Prinzip kommt bei diesem Corona-Impfstoff zum Einsatz. Es wird davon ausgegangen,<br />
dass das Mittel bereits nach der ersten Dosis schützt. Dadurch könnten<br />
in kürzerer Zeit mehr Menschen geimpft werden. Die EU-Kommission hat bereits<br />
200 Millionen Dosen bestellt.<br />
ALLGEMEIN<br />
Name<br />
Typ<br />
Wirksamkeit<br />
Wirkweise<br />
Anzahl Dosen<br />
Impfschema<br />
Applikation<br />
NEBENWIRKUNGEN<br />
häufigste Nebenwirkungen<br />
seltene Nebenwirkungen<br />
HALTBARKEIT/PREIS/FREIGABE<br />
Haltbarkeit<br />
Preis pro Dosis<br />
Altersfreigabe<br />
Stand des EU-<br />
Zulassungsverfahrens<br />
UNTERNEHMENSUMSATZ<br />
Ad<strong>26</strong>.COV2.S<br />
Vektor-Impfstoff<br />
noch keine Angabe<br />
Enthalten sind veränderte menschliche<br />
Schnupfenviren, die sich nicht vermehren und<br />
nicht krank machen können. In diese wurde,<br />
wie beim Impfstoff von AstraZeneca, der genetische<br />
Bauplan des Coronavirus-Oberflächenproteins<br />
als DNA integriert<br />
eine zu 0,3 Milliliter<br />
eine Impfung<br />
Spritze in die Oberarmmuskulatur<br />
Daten aus der Phase-3-Studie lagen bei<br />
Redaktionsschluss noch nicht vor<br />
siehe oben<br />
bei Kühlschranktemperaturen mindestens drei<br />
Monate und bei minus 20 Grad zwei Jahre<br />
6,98 Euro<br />
ab 18 Jahren<br />
im Rolling Review seit 2. Dezember 2<strong>02</strong>0<br />
Umsatz Johnson & Johnson: 66,6 Milliarden Euro (2019)<br />
LÄNDER UND KONZERNE<br />
Weitere Impfstoffe<br />
im Überblick<br />
‸ Russland setzt auf Sputnik V<br />
Der Vektor-Impfstoff ähnelt dem von Astra-<br />
Zeneca und glänzt mit einer Wirksamkeit von<br />
91,6 Prozent, wie Zwischenergebnisse der<br />
Phase-3-Studie mit 20 000 Teilnehmern gezeigt<br />
haben. Experten vermuten, dass ein Wechsel der<br />
Vektorviren zwischen der ersten und der zweiten<br />
Dosis der Grund dafür ist. Bei Vektor-Impfstoffen<br />
kann es passieren, dass das Immunsystem auch<br />
Antikörper gegen das Vektorvirus ausbildet,<br />
sodass es dieses bei der zweiten Impfdosis gar<br />
nicht bis zu den Zellen schafft. Das haben die russischen<br />
Entwickler offenbar bedacht und setzen<br />
bei der zweiten Dosis auf einen anderen Vektor.<br />
Die frühe Einführung von Sputnik V wurde von<br />
manchen Experten hierzulande als voreilig<br />
bewertet. Er scheint sich nun aber zu bewähren.<br />
In mehr als 15 Ländern wird der Impfstoff mittlerweile<br />
eingesetzt, darunter Ungarn, Ägypten,<br />
Argentinien und Nepal. Die Zulassung bei der<br />
Europäischen Zulassungsbehörde EMA ist beantragt.<br />
Derzeit wird darüber nachgedacht, den<br />
Impfstoff auch in Deutschland zu produzieren.<br />
‸ Indien verschenkt Covishield<br />
Beim weltweit größten Impfstoff-Hersteller in<br />
Indien hat es Anfang des Jahres gebrannt. Offenbar<br />
war die Impfstoff-Produktion davon aber<br />
nicht betroffen. Dort wird der britische Impfstoff<br />
von AstraZeneca unter dem Namen Covishield<br />
erzeugt. Er wird vor allem für den Eigenbedarf<br />
eingesetzt, Brasilien hat aber auch bereits eine<br />
große Charge erhalten. Ärmere Nachbarländer<br />
wie Bhutan oder Nepal werden von Indien gratis<br />
mit Impfstoff ausgestattet. Nur der benachbarte<br />
Erzfeind Pakistan wird nicht beliefert.<br />
‸ China: drei Impfstoffe<br />
Die Vakzine des Staatskonzerns Sinopharm<br />
basiert, anders als die anderen Impfstoffe, auf<br />
abgetöteten Coronaviren. Noch vor der Zulassung<br />
wurden damit Angestellte staatlicher Unternehmen<br />
und des Gesundheitswesens geimpft.<br />
Die Wirksamkeit wird mit 79 Prozent angegeben.<br />
Serbien hat den Impfstoff als erstes europäisches<br />
Land bereits Mitte Januar zugelassen. Die chinesischen<br />
Hersteller Sinovac und CanSinoBIO sind<br />
ebenfalls mit Impfstoffen im Rennen: CoronaVac<br />
von Sinovac setzt auf inaktivierte Sars-CoV-2-<br />
Viren, CanSinoBIO schickt einen Adenovirus-<br />
Impfstoff auf den Markt, der den Bauplan für das<br />
Oberflächenprotein von Coronaviren enthält.<br />
Beide Impfstoffe werden derzeit in Phase-3-Studien<br />
getestet.<br />
30<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
FOTO: ADOBE STOCK, PR (3)<br />
SANOFI-GLAXOSMITHKLINE (GSK)<br />
NOCH KEIN NAME<br />
Impfstoff des französischen Herstellers Sanofi (in Kooperation mit<br />
GSK). Aufgrund bislang zu geringer Wirkung nun frühestens Ende<br />
<strong>2<strong>02</strong>1</strong> verfügbar. Die EU hat 300 Millionen Impfdosen bestellt. Sanofi<br />
unterstützt derzeit die Herstellung des Biontech/Pfizer-Impfstoffs.<br />
ALLGEMEIN<br />
Name<br />
Typ<br />
Wirksamkeit<br />
Wirkweise<br />
Anzahl Dosen<br />
Impfschema<br />
Applikation<br />
NEBENWIRKUNGEN<br />
häufigste Nebenwirkungen<br />
noch nicht bekannt<br />
Impfstoff auf Basis von Proteinen<br />
ungenügend – vor allem bei<br />
älteren Testpersonen<br />
Sanofi setzt auf das Impfprinzip<br />
der jährlichen Grippe-Impfstoffe.<br />
Die Vakzine enthält das<br />
Oberflächen-Spike-Protein<br />
des Covid-19-Virus. Das Protein<br />
wird im Labor erzeugt, die<br />
Körperzellen müssen es also nicht<br />
selbst produzieren<br />
zwei<br />
zwei Impfungen<br />
Spritze in die Oberarmmuskulatur<br />
bisher keine Angaben<br />
seltene Nebenwirkungen<br />
siehe oben<br />
HALTBARKEIT/PREIS/FREIGABE<br />
Haltbarkeit<br />
Preis pro Dosis<br />
Altersfreigabe<br />
Stand des EU-<br />
Zulassungsverfahrens<br />
UNTERNEHMENSUMSATZ<br />
Umsatz<br />
bei Kühlschranktemperatur<br />
unter 10 Euro<br />
keine Angaben<br />
Phase-2-Studie wird wiederholt<br />
Sanofi: 36,0 Milliarden Euro (2019)<br />
GSK: 39,8 Milliarden Euro (2019)<br />
CUREVAC<br />
CVNCOV<br />
Curevac ist ein Pharmaunternehmen aus Tübingen. Die Phase-3-<br />
Studie mit dem mRNA-Impfstoff läuft aktuell. Mit ersten Ergebnissen<br />
ist Ende März zu rechnen. Curevac ist gerade Kooperationen mit den<br />
Pharmaunternehmen Bayer und GSK eingegangen.<br />
ALLGEMEIN<br />
Name<br />
Typ<br />
Wirksamkeit<br />
Wirkweise<br />
Anzahl Dosen<br />
Impfschema<br />
Applikation<br />
NEBENWIRKUNGEN<br />
häufigste Nebenwirkungen<br />
seltene Nebenwirkungen<br />
CVnCoV<br />
mRNA-Impfstoff<br />
noch keine Angabe<br />
Es ist nur eine sehr geringe Menge<br />
CVnCoV nötig, was Nebenwirkungen<br />
reduzieren könnte. Die EU<br />
hat 405 Millionen Dosen bestellt.<br />
Gemeinsam mit GSK wird an einer<br />
Wirkung gearbeitet, die besser<br />
gegen die ansteckenderen Varianten<br />
schützt<br />
zwei zu je 0,3 Milliliter<br />
21 Tage zwischen beiden Dosen<br />
Spritze in die Oberarmmuskulatur<br />
Die Sicherheit wird gerade in der<br />
Phase-3-Studie getestet<br />
siehe oben<br />
HALTBARKEIT/PREIS/FREIGABE<br />
Lagerung und Transport:<br />
Haltbarkeit<br />
minus 70 Grad,<br />
bei plus 5 Grad drei Monate haltbar<br />
Preis pro Dosis<br />
10 Euro<br />
Altersfreigabe<br />
ab 18 Jahren<br />
Stand des EU-<br />
im Rolling Review seit<br />
Zulassungsverfahrens<br />
2. Dezember 2<strong>02</strong>0<br />
UNTERNEHMENSUMSATZ<br />
Umsatz 12,6 Millionen Euro (2018)<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 31
CORONA ∙ IMPFUNG<br />
Impfung<br />
mit Hindernissen<br />
Das Wichtigste zur Massenimpfung<br />
Ein Land auf dem beschwerlichen<br />
Weg zur Herdenimmunität:<br />
Anfang des Jahres haben in vielen<br />
Bundesländern die Massenimpfungen<br />
begonnen. Doch<br />
bei den Abläufen stockt es<br />
Text: Verena Fischer<br />
FOTO: DPA PICTURE-ALLIANCE (3), LAURA NENZ<br />
Sie sind in Messehallen, ehemaligen Asylaufnahmezentren,<br />
Flughäfen oder Sportstätten<br />
untergebracht: Mehr als 400 Impfzentren<br />
sind bundesweit entstanden. Und<br />
alle hatten in den ersten Wochen eines gemeinsam:<br />
Sie waren nahezu menschenleer. Impfungen<br />
wurden anfangs vor allem von mobilen Teams<br />
in Alten- und Pflege heimen durchgeführt. In den<br />
Zentren spielten sich derweil, öffentlich kaum bemerkt,<br />
menschliche Dramen ab. Denn der Impfstoff<br />
ist knapp, aber jeder will ihn. Schnell. Die<br />
Verantwortliche eines bayerischen Impf zentrums<br />
berichtet von bis zu 20000 Euro – geboten für<br />
nur eine Impfung. Und von täglichem Schreien,<br />
Heulen und Flehen um den begehr ten Stoff.<br />
Doch wie sieht es normalerweise aus?<br />
GRUPPE 1: Ü 80 UND BETREUER<br />
Solange der Impfstoff knapp ist, muss bei der<br />
Vergabe priorisiert werden. Dabei geht laut Festlegung<br />
der Ständigen Impfkommission (STIKO)<br />
das größte Risiko vor – auch wenn manche Experten<br />
eine andere Reihenfolge empfehlen. Zuerst<br />
sind Menschen, die über 80 Jahre alt sind, Pflegebedürftige<br />
und ihre Betreuer dran. Auch wird<br />
besonders gefährdetes medizinisches Perso nal<br />
geimpft, etwa von Intensivstationen. Dort wer den<br />
schließlich die Schwersterkrankten gepflegt.<br />
GRUPPE 2: Ü 70<br />
Erst dann können sich auch Perso nen ab 70,<br />
Demenzkranke, Menschen mit Trisomie 21 und<br />
Transplantationspatienten sowie Bewohner von<br />
Gähnende Leere im<br />
deutschlandweit größten<br />
Impfzentrum in den<br />
Hamburger Messehallen.<br />
Hier könnten laut Planung<br />
bis zu 7000 Menschen pro<br />
Tag geimpft werden<br />
1 2<br />
32<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Sammelunterkünften und enge Kontaktpersonen<br />
von Pflegebedürftigen impfen lassen.<br />
GRUPPE 3: Ü 60, WICHTIGE BERUFE<br />
In der dritten Gruppe sind über 60-Jährige, chronisch<br />
Kranke, staatliche Angestellte in besonders<br />
wichtigen Positionen sowie Erzieher, Lehrer und<br />
Mitarbeiter im Einzelhandel an der Reihe.<br />
Danach dürfen sich schließlich Personen<br />
mit geringerem Risiko anmelden. Nicht geimpft<br />
werden sollen vorerst Kinder und Jugendliche<br />
unter 16 Jahren, Personen, die an einer<br />
akuten Erkrankung mit Fieber über 38,5 Grad<br />
leiden oder bei denen eine Unverträglichkeit<br />
gegenüber einem der Impfstoff-Bestandteile<br />
bekannt ist. Auch wird allen, die mit dem neuen<br />
Corona virus infiziert waren, sowie Schwangeren<br />
und Frauen in der Stillzeit (außer es gibt ein<br />
Risiko für einen schweren Verlauf) zunächst<br />
keine Impfung empfohlen.<br />
HERDENIMMUNITÄT – WANN?<br />
Die Bundesregierung hofft, dass bereits in diesem<br />
Herbst 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung geimpft<br />
sein werden. Das soll für eine Herdenim munität<br />
ausreichen. Allerdings könnten neue Virus-<br />
Varianten höhere Anteile erforderlich machen.<br />
Die nötigen Impfstoff-Mengen sind zwar bestellt,<br />
doch die Belieferung klappt bei Weitem nicht<br />
reibungslos. Wegen Lieferschwierigkeiten bei<br />
Biontech/Pfizer Mitte Januar mussten kurzfristig<br />
viele Bundesländer eine Zwangsimpfpause einlegen,<br />
auch AstraZeneca meldete Lieferengpässe<br />
für seinen Impfstoff.<br />
Die Impfungen starteten bisher also nur im<br />
Schneckentempo. Sobald weitere Lieferungen<br />
eintreffen, mehr Hersteller eine Zulassung<br />
bekommen und Impfungen mit leichter handhabbaren<br />
Impfstoffen auch in Hausarztpraxen<br />
durchgeführt werden, soll der Prozess aber<br />
deutlich an Tempo gewinnen. So die Hoffnung.<br />
Ob sich jeder impfwillige Deutsche, wie von der<br />
IMFPUNG IN IMPFZENTREN<br />
1 Eine Terminvereinbarung können Impfberechtigte<br />
telefonisch oder online vornehmen.<br />
Im Zentrum wird die Temperatur gemessen<br />
und ein Aufklärungsblatt ausgehändigt, das<br />
unterschrieben werden muss<br />
2 Bei der Registrierung werden Personaldaten<br />
abgeglichen, die Impfberechtigung geprüft und<br />
eventuell mitgebrachte Medikamentenlisten oder<br />
Diabetikerausweise kontrolliert<br />
3<br />
3 Nach dem Impfgespräch mit einem Arzt<br />
geht es weiter mit der Impfung. Dann<br />
erfolgt eine Eintragung in den Impfpass,<br />
wenn der mitgebracht wurde<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 33
CORONA ∙ IMPFUNG<br />
1 2<br />
Politik versprochen, bis Ende September immunisieren<br />
lassen kann, steht noch in den Sternen.<br />
DER IMPFABLAUF<br />
Das Hamburger Impfzentrum soll im Vollbetrieb<br />
an sieben Tagen pro Woche jeweils 14 Stunden<br />
lang geöffnet sein. Eine, die schon dort war:<br />
Seniorin Gisela Möller, 82 Jahre alt. Sie ließ sich<br />
bereits am 12. Januar in den Messe hallen der<br />
Stadt impfen. „Es war total entspannt“, berichtet<br />
sie. „Die riesigen Hallen waren so gut wie leer.<br />
Nach einer Minute im Warteraum ging es schon<br />
weiter zum Arzt.“ Auch der Ablauf vor Ort war<br />
unkompliziert und der Parkplatz direkt vor der<br />
Halle kostenfrei. Nach einer Personenkontrolle<br />
wurde die Einver ständniserklärung unterzeichnet,<br />
und damit waren die Formalitäten auch<br />
schon erledigt. Im Impfgespräch erkundigte sich<br />
der Mediziner nach laufenden Medikationen,<br />
bekannten Aller gien sowie Vorerkrankungen.<br />
Zwei DIN-A4-Blätter klären über mögliche<br />
Nebenwirkungen auf und müssen unterschrieben<br />
abgegeben werden. „Eine Impfung mit allen<br />
Schritten dauert in der Regel 60 bis 90 Minuten“,<br />
erklärt Professor Hans-Peter Scheidel, leitender<br />
Arzt im Messezentrum. „Darin enthalten sind<br />
etwa 15 Minuten zur Beobachtung im Anschluss,<br />
bei älteren Menschen oder solchen mit Vorerkrankung<br />
sogar 30 Minuten.“<br />
So war es auch bei Gisela Möller. „Danach<br />
habe ich mich abgemeldet und bin nach Hause<br />
gefahren“, erzählt sie. „Von der Impfung selbst<br />
habe ich gar nichts gemerkt. Keine Schmerzen,<br />
keine Rötung, keine Müdigkeit.“ Drei Wochen<br />
später steht der Termin für die zweite Dosis an.<br />
Die Anmeldung sei sehr kompliziert gewesen,<br />
erinnert sich die Seniorin. „Unter der bundesweiten<br />
Telefonnummer 116 117 dauert es ewig! Weil<br />
ich selber keinen Computer habe, hat mich meine<br />
Tochter online angemeldet. Aber selbst für sie ist<br />
es nicht einfach gewesen.“<br />
Immer wieder berichten Senioren von den<br />
Schwierigkeiten, einen Termin zu vereinbaren,<br />
und immer wieder sind es Kinder und Enkel,<br />
die sich der Herausforderung Onlineanmeldung<br />
stellen müssen. Für weitere Unzufriedenheit<br />
sorgt, dass Ehepartner, auch wenn beide über<br />
80 Jahre alt sind, oftmals keine gemeinsame Impfung<br />
vereinbaren können. Da müssen dann beide<br />
jeweils zu einem Termin erscheinen. Und nicht<br />
alle sind noch so fit wie Gisela Möller, die selbst<br />
mit dem Auto am Impfzentrum vorfuhr.<br />
FOTO: GETTY IMAGES<br />
SERVICE<br />
Anmeldeverfahren im Überblick<br />
Überregionale Rufnummer und Website<br />
Telefon: 116 117 (Mo bis So 8 bis 22 Uhr)<br />
Online: www.impfterminservice.de<br />
für Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen,<br />
Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt,<br />
Schleswig-Holstein<br />
Regionale Rufnummern<br />
Niedersachsen 0800 9988665<br />
Rheinland-Pfalz 0800 5758100<br />
Mecklenburg-Vorpommern 0385 20 27115<br />
Saarland 0800 9991599<br />
Sachsen 0800 0899089<br />
Schleswig-Holstein 0800 4556550<br />
Thüringen 03643 4950490<br />
Regionale Website-Buchungssysteme<br />
Bayern<br />
www.impfzentren.bayern<br />
Niedersachsen<br />
www.impfportal-niedersachsen.de<br />
Rheinland-Pfalz<br />
www.impftermin.rlp.de<br />
Saarland<br />
www.impfen-saarland.de<br />
Sachsen<br />
sachsen.impfterminvergabe.de<br />
Schleswig-Holstein<br />
www.impfen-sh.de<br />
Thüringen<br />
www.impfen-thüringen.de<br />
HERAUSFORDERUNG LOGISTIK<br />
Auch der Transport der Impfstoff-Dosen<br />
ist eine Herausforderung. Schließlich muss der<br />
Impfstoff von Biontech/Pfizer bei minus 70 Grad<br />
gelagert und transportiert werden. Dafür kooperieren<br />
Niedersachsen und Baden-Württemberg<br />
mit dem Logistiker DHL. Der beliefert die<br />
Impfzentren aus einem Zwischenlager in den<br />
Niederlanden. „Von einem Standort in Deutschland<br />
aus versorgen wir die Impfzentren mit weiterem<br />
Zubehör, auch Zentren in Hessen “, berichtet<br />
Thomas Ellmann, Vice President Life Sciences &<br />
Healthcare bei DHL. „Sie müssen sich vorstellen,<br />
dass pro Impfstoff-Karton etwa das 30-Fache an<br />
Volumen für das Impfzubehör nötig ist – Nadeln,<br />
Kanülen, Desinfektionsmaterial, physiologische<br />
Kochsalzlösung und Verbandmaterial.“<br />
In jedem Karton sind im Falle von Biontech/<br />
Pfizer etwa 5000 Impfstoff-Dosen enthalten, die<br />
gekühlt mit Trockeneis ihr Ziel erreichen. „Minus<br />
70 Grad und Trockeneistransporte sind nicht neu<br />
für die Pharmalogistik“, ergänzt Ellmann. „Aber<br />
in der Vergangenheit gab es das in sehr geringem<br />
Ausmaß bei klinischen Studien oder gewissen<br />
34<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
IMPFUNG IN ALTEN-<br />
UND PFLEGEHEIMEN<br />
1 Impfstoffe, bei denen extreme Minusgrade<br />
die Haltbarkeit sichern, werden in speziellen Kühlboxen<br />
mit Trockeneis transportiert<br />
2 Mobile Impfteams bestehen aus mindestens<br />
drei Personen: einem Arzt, einer medizinischen<br />
Fachkraft (etwa einem Rettungssanitäter) und einer<br />
Verwaltungskraft<br />
3<br />
3 Um Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen zu<br />
stoppen und Bewohner zu schützen, wird diesen in<br />
ganz Deutschland zuerst eine Impfung angeboten<br />
Tier-Impfstoffen, also insgesamt bei äußerst<br />
kleinen Mengen. Nun muss diese Ausnahmesituation<br />
von sehr vielen Leuten an sehr vielen Orten<br />
umgesetzt werden. Das ist die Herausforderung.“<br />
In diesem und im kommenden Jahr müssen<br />
weltweit etwa zehn Milliarden Impfstoff-Dosen<br />
verteilt werden, um eine Herdenimmunität<br />
für die Weltbevölkerung zu ermöglichen. „Die<br />
Vorbereitungen laufen seit Monaten. Dazu<br />
kooperieren wir mit Hilfsorganisationen in den<br />
Ländern Afrikas und Lateinamerika und mit<br />
Pharmaherstellern“, so der Logistikexperte.<br />
Weltweit hat Israel bei den Massenimpfungen<br />
die Nase vorn. Ein Deal mit dem Impfstoff-Hersteller<br />
Biontech/Pfizer hat dem Land eine Son-<br />
derlieferung verschafft. Dafür bezahlt Israel laut<br />
einem Bericht der Deutschen Presse-Agentur<br />
mehr für die Impfdosen und teilt zudem Daten<br />
seines Gesundheitssystems mit den Herstellern.<br />
Bis Ende März sollen dort alle Impfwilligen geimpft<br />
worden sein. Aktuell steckt das Land dennoch<br />
in einer dritten Corona welle, die Zahl der<br />
Neuinfektionen steigt weiter an. Es zeigen sich<br />
aber erste Impferfolge: Bei Geimpften fiel die<br />
Anzahl an Neuinfektionen bereits zwei Wochen<br />
nach der ersten Dosis um ein bis zwei Drittel<br />
geringer aus (je nach meldender Krankenkasse).<br />
Die Vereinigten Arabischen Emirate landen<br />
auf Platz zwei der Impfquoten und haben das<br />
Ziel, Ende März die Hälfte der zehn Millionen<br />
Einwohner zu immunisieren. In der Metropole<br />
Dubai kommt dafür der Impfstoff von Biontech/Pfizer<br />
zum Einsatz, in weiteren Teilen der<br />
Emirate die chinesische Sinopharm-Vakzine. Die<br />
Emirate waren das erste Land nach China, das<br />
dem Impfstoff zuließ. Pro Tag werden dort mehr<br />
als 100 000 Menschen geimpft. Auch das Königreich<br />
Bahrain glänzt mit einer hohen Impfquote,<br />
in Europa ist Großbritannien führend.<br />
Russland fällt auf, weil hier frühzeitig ein<br />
eigener Impfstoff entwickelt worden ist.<br />
Nach eigenen Angaben sind bisher mehr als<br />
1,5 Millio nen Menschen mit Sputnik V geimpft<br />
worden. Derzeit visiert der Hersteller auch eine<br />
Zulassung in Europa an.<br />
DAS WETTRENNEN DER CORONA-IMPFUNGEN<br />
Anzahl der verabreichten Einzel-Impfdosen je<br />
100 Einwohner in Ländern weltweit*<br />
Israel<br />
69<br />
62<br />
Gibraltar<br />
VAE<br />
47<br />
45<br />
Seychellen<br />
Kaiman-Inseln<br />
21<br />
20<br />
Großbritannien<br />
Israel impft im Schnelldurchlauf.<br />
Impfzentren schaffen<br />
bis zu 100 000 Impfungen pro<br />
Tag. Angefangen wurde<br />
auch dort mit den Alten, Ende<br />
Januar bekamen aber<br />
bereits Teenager den Impf -<br />
stoff von Biontech/Pfizer<br />
Isle of Man<br />
Bermuda<br />
USA<br />
...<br />
Deutschland<br />
4,4<br />
15<br />
15<br />
14<br />
Stand: 10. Februar <strong>2<strong>02</strong>1</strong><br />
* Gezählt wurde jede Impfdosis einzeln,<br />
oftmals sind jedoch zwei Impfungen<br />
nötig für den Schutz vor Covid-19.<br />
Quelle: RKI, OWID<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 35
CORONA ∙ IMPFPFLICHT<br />
Zwang durch<br />
die Hintertür<br />
Eine staatliche Pflicht zum Impfen ist eher unwahrscheinlich.<br />
Aber ist es rechtlich und moralisch vertretbar und gesellschaftlich<br />
sinnvoll, Geimpften Vorteile gegenüber Nichtgeimpften einzuräumen?<br />
Welche Argumente in der Debatte eine Rolle spielen<br />
FOTO: ADOBE STOCK, GETTY IMAGES (2), REINER ZENSEN<br />
Text: Verena Fischer<br />
Derzeit ist der Impfstoff knapp und<br />
die Anzahl Geimpfter entsprechend<br />
gering. Und doch werden bereits hitzige<br />
Debatten darüber geführt, ob Geimpfte<br />
Vorteile gegenüber Nichtgeimpften erhalten<br />
sollen. Können wir in Zukunft einen Impfausweis<br />
als Eintrittskarte zurück in die Normalität<br />
verlangen? „Ich glaube, wir können nicht nur,<br />
wir müssen teilweise sogar“, argumentiert Steffen<br />
Augsberg, Professor für Öffentliches Recht und<br />
Mitglied des Deutschen Ethikrats. Der Experte<br />
weist auf die prekäre Lage vieler Unternehmer<br />
hin, die seit Monaten keine Einnahmen haben:<br />
„Nehmen Sie die Situation kleiner Theater oder<br />
Restaurants. Für die macht es einen ganz erheblichen<br />
Unterschied, wenn alle, die da sitzen,<br />
geimpft und damit mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
nicht infektiös sind. Dann müssen entsprechende<br />
Sicherheitsmaßnahmen auch nicht aufrechterhalten<br />
werden. Das kann für den Unternehmer<br />
ein großer Vorteil sein“, erklärt er.<br />
PROF. DR. STEFFEN AUGSBERG<br />
Professor für<br />
Öffentliches Recht<br />
Steffen Augsberg lehrt an der Justus<br />
LiebigUniversität Gießen und<br />
ist Mitglied des Deutschen Ethikrats.<br />
Im akademischen Jahr 2019/20 war<br />
er Fellow am AlfriedKruppWissenschaftskolleg<br />
in Greifswald.<br />
Für Augsberg stellt sich eher die Frage, in<br />
welchen Bereichen eine Differenzierung sinnvoll<br />
ist und in welchen nicht. „Im öffentlichen<br />
Nahverkehr ist es bestimmt besser, wenn alle<br />
eine Maske tragen“, sagt er. „Einfach weil es für<br />
Verunsicherung sorgt, wenn einige ungeschützt<br />
auftauchen.“ Aber die Möglichkeit, dass Geimpfte<br />
ansonsten gewisse Freiheiten genießen,<br />
also wieder bestimmte Freizeit- oder berufliche<br />
Aktivitäten aufnehmen können, ist für ihn<br />
kein No-Go: „Im Gegenteil, da müssen wir<br />
dann nach und nach Lockerungen vornehmen.“<br />
DROHT DIE IMPFKLASSENGESELLSCHAFT?<br />
Wenn Geimpfte Sonderrechte bekommen,<br />
gleiche das einer Impfpflicht durch die Hintertür,<br />
halten Kontrahenten dagegen. Sie befürchten,<br />
dass Ungleichbehandlungen aufgrund des<br />
Impfstatus Deutschland in eine Zweiklassengesellschaft<br />
verwandeln könnten. Ist eine solche<br />
Ungleichbehandlung fair? Und wie kann<br />
sie überwacht werden? Vor allem polizeiliche<br />
Kontrollen sind dabei sicher problematisch.<br />
36<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
»Wenn dieses<br />
Risiko nicht mehr<br />
gegeben ist,<br />
weil Hochrisikogruppen<br />
bereits geimpft<br />
sind, dann müssen<br />
Lockerungen<br />
für alle gelten.«<br />
Und eine Prozesslawine gegen Menschen, die<br />
ohne Impfnachweis in Bars und Discos erwischt<br />
werden, will sicher auch niemand.<br />
Rein rechtlich gibt es allerdings die Möglichkeit,<br />
eine Differenzierung nach Impfstatus<br />
vorzunehmen – denn Restaurants, Bars oder<br />
Privattheater gelten per se nicht als öffentliche<br />
Veranstaltungen, erklärt Augsberg: „Geschäftsführer<br />
können sich durchaus entscheiden,<br />
nur Geimpfte in ihr Restaurant zu lassen. Solange<br />
sie nicht gegen das Gleichbehandlungsgesetz<br />
verstoßen, also nach ethnischer Herkunft,<br />
Religion oder Behinderung differenzieren, ist<br />
das Ausdruck des Privatgrundrechts.“<br />
Wird Reisen bald den Geimpften vorbehalten sein? Möglich wäre es, denn Reiseunternehmen können<br />
frei entscheiden, wen sie mitnehmen – solange sie niemanden diskriminieren<br />
UNFAIRER GENERATIONSKONFLIKT<br />
Wenn Geimpfte viele der zuvor eingeschränkten<br />
Möglichkeiten zurückerhalten, bleiben<br />
im Umkehrschluss diejenigen am längsten eingeschränkt,<br />
die als Letzte geimpft werden –<br />
also Kinder und Jugendliche. Seit Beginn der<br />
Pandemie müssen sich Jüngere einschränken,<br />
um Ältere, Schwächere und somit auch das<br />
strapazierte Gesundheitssystem zu schützen –<br />
dabei sind sie selbst durch die Infektion wenig<br />
gefährdet. Und nun erhalten die Älteren die<br />
Privilegien zurück, und die Jüngeren müssen<br />
sich weiter einschränken – ist das vertretbar?<br />
„Solidarität bedeutet auch, solidarisch gegenüber<br />
Menschen zu sein, die eben aus ihrer<br />
individuellen Situation heraus nicht mehr beschränkt<br />
werden müssen“, entgegnet Augsberg.<br />
„Man gönnt denen dann eben auch mal was“,<br />
sagt er und meint damit primär die Menschen<br />
über 80, die seiner Meinung nach ganz besonders<br />
unter den Einschränkungen und der damit<br />
verbundenen Vereinsamung leiden. „Also,<br />
wenn es so weit ist, dass diese über 80-Jährigen<br />
ihre zweite Impfdosis bekommen, dadurch<br />
nicht mehr infektiös sind und wieder ins<br />
Thea ter gehen können, Kreuzfahrten machen<br />
können, sich wechselseitig besuchen – was ist<br />
mein Interesse daran zu sagen, das dürfen<br />
sie so lange nicht, bis ich auch geimpft bin?“<br />
Für Bewohner von Pflegeheimen fordert<br />
Augsberg eine noch schnellere Lösung:<br />
„Kontakt beschränkungen müssen sofort aufgehoben<br />
werden, wenn Bewohner ihre zweite<br />
Impfdosis erhalten“, sagt er. „Es gibt keine<br />
Begründung für die teilweise starke Isolierung<br />
alter Menschen mehr, wenn die Impfung<br />
nur das Erkrankungsrisiko reduziert. Das heißt,<br />
innerhalb eines Heims sollte die Frau Müller<br />
die Frau Schulz besuchen dürfen, wenn beide<br />
geimpft sind. Das könnte man jetzt schon<br />
angehen. Weil das Personen sind, die ganz besonders<br />
belastet sind durch die Pandemie,<br />
die in spezifischer Weise vereinsamen. Das<br />
wür de die Situation der Menschen in Pflegeheimen<br />
massiv verbessern.“<br />
GLEICHE GRUNDRECHTE FÜR ALLE<br />
Gegen eine Bevorzugung einzelner Bevölkerungsschichten<br />
argumentiert indes der Deutsche<br />
Ethikrat. Die Corona-Einschränkungen<br />
seien gravierende Eingriffe in die Grundrechte,<br />
heißt es in einer aktuellen Stellungnahme.<br />
Sie seien nur dadurch gerechtfertigt, dass eine<br />
Überlastung des Gesundheitssystems drohe.<br />
„Wenn dieses Risiko nicht mehr gegeben ist,<br />
weil Hochrisikogruppen bereits geimpft<br />
sind, dann müssen Lockerungen für alle gelten“,<br />
so der Ethikrat weiter.<br />
SCHNELLTESTS ALS LÖSUNG?<br />
Möglicher Ausweg aus dem Dilemma: Schnelltests.<br />
Sie könnten vor Konzerten verpflichtend<br />
eingesetzt werden, sodass jeder eingelassen<br />
wird, der nachweisen kann, dass er nicht akut<br />
mit Covid-19 infiziert ist. Nach heutigem<br />
Wissensstand trifft das auch Geimpfte, da bisher<br />
unklar ist, ob diese weiterhin ansteckend sein<br />
können. Unter solchen Sicherheitsmaßnahmen<br />
wären theoretisch etwa Großveranstaltungen<br />
für alle wieder denkbar.<br />
Für den Besuch<br />
von Konzertveranstaltungen<br />
benötigt man<br />
demnächst neben<br />
der Eintrittskarte<br />
vielleicht auch einen<br />
Impfausweis.<br />
Rechtlich ist das<br />
durchaus möglich<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 37
FORSCHUNG ∙ MEDIZIN<br />
FOTO: SHUTTERSTOCK<br />
Die aktuellen Corona-Impfstoffe<br />
bringen das Erbgutmolekül<br />
DNA mit seiner<br />
charakteristischen Doppelhelix-<br />
Struktur ins Gesrpäch<br />
38<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Wie<br />
funktioniert<br />
Impfen?<br />
Alles redet seit Monaten über Impfstoffe. Doch was<br />
ist Impfen? Was passiert im Körper, sobald die Spritze<br />
die Flüssigkeit in unseren Muskel gedrückt hat? Und<br />
was unterscheidet die verschiedenen Impfstoff-Typen?<br />
Fragen, die wir hier klären<br />
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FORSCHUNG ∙ MEDIZIN<br />
Pocken, Polio, Masern – und aktuell<br />
Corona. Schon immer wurden Menschen<br />
von Killerviren heimgesucht und<br />
in großer Zahl dahingerafft. Gegen<br />
bestimmte Krankheitserreger war der Mensch<br />
in seiner Geschichte schlichtweg machtlos. Erst<br />
mit der Erfindung der modernen Impfung gegen<br />
Ende des 18. Jahrhunderts hielt Homo sapiens<br />
eine wirklich wirksame Waffe gegen Viren in der<br />
Hand. Schutzimpfungen gelten als eine der wirksamsten<br />
Behandlungsmethoden der Medizin<br />
und zählen heute zu den wichtigsten Vorsorgemaßnahmen<br />
im Gesundheitswesen. Es war<br />
nicht zuletzt das weltweite, beharrliche Impfen<br />
unter der Leitung der Weltgesundheitsorganisation<br />
(WHO), das 1980 die Pocken ausrottete.<br />
Auch Polio (Kinderlähmung) konnte nur mit<br />
Impfungen bekämpft werden. Und so ist Europa<br />
laut WHO seit 20<strong>02</strong> poliofreies Gebiet. In einigen<br />
Ländern gibt es aber nach wie vor Fälle von<br />
Kinderlähmung – das Virus ist also noch nicht<br />
ausgerottet. Daher bleibt die Schutzimpfung<br />
gegen Polio weiterhin wichtig.<br />
Doch wie funktionieren Impfungen eigentlich?<br />
Um das zu verstehen, muss man sich<br />
zunächst einmal die Funktionsweise des Immunsystems<br />
anschauen.<br />
FOTOS: ADOBE STOCK, BIONTECH SE<br />
Text: Iunia Mihu<br />
DAS GEDÄCHTNIS DES IMMUNSYSTEMS<br />
Tag für Tag werden wir angegriffen – nur<br />
merken wir das meist nicht. Denn die körpereigene<br />
Abwehr leistet ganze Arbeit, damit wir<br />
gesund bleiben. Sie bekämpft Bakterien, Viren,<br />
Parasiten oder Pilze, macht sie unschädlich und<br />
befördert sie aus dem Körper. Auch ist unser<br />
Immunsystem in der Lage, Schadstoffe aus der<br />
Umwelt zu erkennen und zu neutralisieren.<br />
Zudem erkennt es krankhafte Zellveränderungen<br />
(etwa Krebszellen) und bekämpft auch sie.<br />
Und wo genau sitzt das Immunsystem? Im<br />
Grunde im gesamten Körper. Man kann sich<br />
das angeborene Immunsystem wie einen unsicht -<br />
baren Superheldenanzug vorstellen, den wir<br />
rund um die Uhr tragen – ohne ihn zu spüren.<br />
Zum körpereigenen Abwehrsystem zählen<br />
unter anderem Gefäßsysteme wie Lymphbahnen<br />
und Blutadern, die für den Transport von Abwehrzellen<br />
und anderen Stoffen zuständig sind,<br />
aber auch verschiedene Organe. Sehr bedeutend<br />
ist der Thymus, eine Drüse, die hinter dem<br />
Brustbein und über dem Herzen liegt und nur<br />
bei Kindern voll ausgebildet ist. Vom Jugendalter<br />
an wird sie nach und nach in Fettgewebe<br />
umgewandelt. In der Thymusdrüse lernen bestimmte<br />
Abwehrzellen, die T-Lymphozyten oder<br />
T-Zellen, körpereigene von fremden Strukturen<br />
zu unterschieden – so können die Abwehrzellen<br />
Krankheitserreger angreifen und Infektionen<br />
abwehren. Der Thymus wird auch als „Schule<br />
der Körperpolizei“ bezeichnet. Im Erwachsenenalter<br />
ist die Ausbildung der Körperpolizei<br />
beendet – die Thymusdrüse verändert sich,<br />
das Immunsystem wird im Alter schwächer<br />
und bedarf größerer Unterstützung, etwa durch<br />
ausgewogene Ernährung.<br />
Zu den ersten Schutzbarrieren gegen Krankheitserreger,<br />
die von außen eindringen wollen,<br />
gehören die Haut und die Schleimhäute im<br />
Mund-Nasen-Raum. Natürlich vorkommende<br />
Mikroorganismen auf der Haut verhindern, dass<br />
sich krankheitserregende Bakterien und Pilze<br />
dort ansiedeln. Die Schleimhaut im Mund-<br />
Nasen-Raum wiederum ist so ausgestattet, dass<br />
sie die mehr als 10 000 Liter Luft, die ein Erwachsener<br />
im Durchschnitt am Tag einatmet,<br />
erst reinigt, sie also von Staub und Keimen<br />
Unsichtbarer Superheldenanzug:<br />
Haut und Schleimhäute<br />
schützen uns rund um<br />
die Uhr vor Bakterien,<br />
Viren, Parasiten und Pilzen<br />
befreit, bevor sie unsere Lunge erreichen – die<br />
Nase ist quasi die Luftwaschanlage des Körpers.<br />
Schaffen es Erreger dennoch ins Innere,<br />
reagiert das angeborene Immunsystem sofort<br />
und schickt eine Armee von Abwehrzellen (etwa<br />
T-Zellen) los, um die Eindringlinge zu stoppen.<br />
Der Vorteil ist, dass unser Immun system<br />
ein Gedächtnis hat. Das heißt, nach jedem<br />
Erstkontakt mit einem Erreger bildet der Körper<br />
Abwehrstoffe, die genau auf diesen Eindringling<br />
spezialisiert sind: die Antikörper. Das Immunsystem<br />
„antwortet“ also auf Eindringlinge – und<br />
vor allem merkt es sich die Reaktion. „Wiederholen<br />
sich Infektionen mit dem gleichen<br />
Erreger, ist der Körper darauf vorbereitet und<br />
40<br />
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kann sie schneller und effektiver bekämpfen“,<br />
sagt Dr. Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender der<br />
Stiftung Gesundheitswissen.<br />
IMMUNANTWORT ALS VORBILD<br />
Bei der Entwicklung von Impfstoffen haben<br />
Forscher sich genau diese überaus raffinierte<br />
Abwehrstrategie des Körpers zunutze gemacht.<br />
Die Schutzimpfung stellt eine Art Trainingslager<br />
für die Abwehrzellen dar. Das Immunsystem<br />
muss erst lernen, den Erreger zu bekämpfen. Suhr<br />
erklärt weiter: „Ein Impfstoff enthält einige<br />
Krankheitserreger oder deren Bestandteile zum<br />
Üben, damit das Immunsystem die passenden<br />
Antikörper bilden kann. Dringen später echte<br />
Mit dem <strong>Pieks</strong> erhält das<br />
Immunsystem die Anregung,<br />
Antikörper zu bilden<br />
Die Schutzimpfung ist eine Art<br />
Trainingslager für Abwehrzellen.<br />
Das Immunsystem muss erst<br />
lernen, einen Erreger richtig zu<br />
bekämpfen. Impfstoffe enthalten<br />
dafür eine Vorlage zum Üben.<br />
WISSEN<br />
Der Unterschied zwischen Viren und Bakterien<br />
Sowohl Viren als auch Bakterien können uns krank machen – das ist eine der wenigen Gemeinsamkeiten<br />
dieser unterschiedlichen Krankheitserreger. Die wichtigsten Unterschiede auf einen Blick<br />
Typ und Stoffwechsel Bakterien bestehen<br />
aus einer Zelle mit eigenem Stoffwechsel.<br />
Viele Bakterien werden durch eine Zellwand<br />
stabilisiert. Es gibt stäbchenförmige, runde,<br />
spiral- oder fadenförmige Bakterienarten.<br />
Viren hingegen haben keinen Stoffwechsel<br />
und sind somit auch keine Lebewesen; sie bestehen<br />
aus chemischen Verbindungen, einer<br />
Erbinformation und einer Eiweißhülle.<br />
Vermehrung Bakterien benötigen Nahrung<br />
und vermehren sich durch Zellteilung; Viren<br />
müssen eine fremde Zelle (Wirtszelle) befallen,<br />
um dieser ihre Erbinformationen weiterzugeben.<br />
Dadurch wird die befallene Zelle zur<br />
Reproduktion der Viren gezwungen.<br />
Krankheiten Bakterien verursachen zum<br />
Beispiel Lungen- oder Blasenentzündungen<br />
oder Lebensmittelvergiftungen. Wenn<br />
Bakterien die Blutbahn, die Hirnhäute<br />
oder das Herz befallen, können sich lebensbedrohliche<br />
Erkrankungen entwickeln.<br />
Viren verursachen beispielsweise Erkrankungen<br />
der Atemwege (Covid-19, Erkältung,<br />
Grippe). Aber auch Masern, Röteln und Mumps<br />
zählen zu den Viruserkrankungen. Einige<br />
Durchfallerkrankungen werden ebenfalls<br />
durch Viren ausgelöst. Wichtig: Antibiotika<br />
helfen nur gegen bakterielle Infektionen,<br />
aber nicht gegen Viren!<br />
Winzige Helfer Viren und Bakterien sind<br />
nicht nur gefährlich – unsere Gesundheit<br />
haben wir auch den Milliarden von Mikroorganismen<br />
zu verdanken, die uns besiedeln. Sie<br />
leben, wie andere winzig kleine Organismen,<br />
auf unserer Haut, im Mund und vor allem<br />
im Darm. Dort unterstützen sie uns bei der<br />
Verdauung und schützen uns sogar vor<br />
Krankheitserregern. Diese Lebensgemeinschaft<br />
nennen Experten das Mikrobiom.<br />
Erreger in den Körper ein, ist das Immunsystem<br />
bereits gut auf diese vorbereitet.“<br />
Als Lebend-Impfstoffe bezeichnen Mediziner<br />
Vakzinen, die abgeschwächte, aber lebende<br />
Krankheitserreger enthalten, sodass man in der<br />
Regel nicht erkrankt. Beispiele sind Impfstoffe<br />
gegen Masern, Mumps oder Windpocken.<br />
Tot-Impfstoffe dagegen enthalten inaktive Erreger<br />
oder sogar nur bestimmte Teile davon.<br />
Sie werden etwa gegen Keuchhusten, Kinderlähmung<br />
oder Grippe verwendet.<br />
Impfungen sind nur dann wirksam, wenn<br />
man sie vor einer potenziellen Erkrankung<br />
injiziert bekommt – nicht während man die<br />
Krankheit bereits durchmacht. Das liegt daran,<br />
dass es zwei Arten der Immunantwort gibt:<br />
die schon erwähnte angeborene (auch „unspezifische“<br />
genannt) und die erworbene („spezifische“)<br />
Immunantwort, wenn der Körper bereits<br />
auf einen Erreger trainiert ist.<br />
„Die unspezifische wirkt zwar sofort, ist aber<br />
nicht so präzise. Sie kann in vielen Fällen den<br />
Erreger abwehren, aber wenn er die Schutzbarriere<br />
durchbrochen hat, muss eine spezifische<br />
Immunantwort dafür sorgen, dass der Erreger<br />
bekämpft wird“, sagt Professor Ulf Dittmer,<br />
Chefvirologe am Uni kli nikum Essen. Die erworbene<br />
Immun antwort brauche beim Erstkontakt<br />
mit einem Erreger ein bis zwei Wochen, bis sie<br />
überhaupt gebildet werde. „Das erklärt, warum<br />
Impfstoffe in der Regel nicht therapeutisch eingesetzt<br />
werden können, sondern vorbeugend“,<br />
sagt der Virologe. Kommt der Erreger dann ein<br />
zweites Mal, reagiert das Immunsystem dank<br />
der erworbenen Immunantwort schneller.<br />
Einmal in den Oberarm injiziert, können<br />
Impfstoffe zwei verschiedene Arten von<br />
Immunantworten auslösen: Antikörper sowie<br />
T-Zellen. Dittmer erklärt: „Antikörper können<br />
Viren neutralisieren, indem sie sich an die<br />
Virus oberfläche binden und sie so daran hindern,<br />
zu funktionieren und die nächste Zelle zu<br />
infizieren. T-Zellen, auch Killer-T-Zellen genannt,<br />
erkennen virusinfizierte Zellen und töten<br />
diese ab. Dadurch wird verhindert, dass sich<br />
das Virus weiter vermehrt.“<br />
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FORSCHUNG ∙ MEDIZIN<br />
Nicht alle Viren sind<br />
»böse«. Es gibt auch<br />
Viren, die den Menschen<br />
nützlich sind, etwa<br />
in der Krebstherapie.<br />
Viren sind so alt wie das Leben selbst – viel<br />
älter als der Mensch. Sie sind allerdings keine<br />
Lebewesen, denn ihnen fehlt ein Stoffwechsel.<br />
Sie können nur überleben, wenn sie ihre Erbinformation<br />
in eine Wirtszelle einschleusen.<br />
„Viren bestehen aus chemischen Verbindungen<br />
und einer genetischen Information, also einer<br />
RNA oder einer DNA. Drum herum befindet<br />
sich eine Hülle aus Eiweißen – diese Zusammensetzung<br />
hat es schon gegeben, bevor das Leben<br />
entstanden ist“, sagt der Essener Virologe.<br />
Doch nicht alle Viren sind „böse“. Es gibt<br />
durchaus auch Viren, die Menschen sogar<br />
nützlich sind. Beispiel: Krebstherapie. Manche<br />
Viren greifen von Natur aus Tumorzellen<br />
an. Inzwischen kommen Viren zum Einsatz, die<br />
im Labor gentechnisch so verändert wurden,<br />
dass sie Tumorzellen infizieren und abtöten.<br />
„Krebszellen haben ja ein besonders starkes<br />
FOTOS: ADOBE STOCK, ORBON ALIJA/GETTY IMAGES<br />
HINTERGRUND<br />
Was sind RNA<br />
und DNA ?<br />
RNA (Ribonucleic Acid) und DNA (Deoxyribonucleic<br />
Acid) sind natürliche Nukleinsäuren.<br />
Beide Moleküle enthalten genetische<br />
Informationen und können diese weitergeben.<br />
Die DNA hat die Wendeltreppenform<br />
der berühmten Doppelhelix – in ihr<br />
wird das Erbgut gespeichert. RNA dagegen<br />
hat meistens nur einen Strang, ist also<br />
eine Einfachhelix. RNA kann verschiedene<br />
Funktionen haben, die zur Übertragung<br />
von Erbinformationen aus der DNA dienen.<br />
Als Boten-RNA übermittelt sie die in der<br />
DNA gespeicherten Baupläne für Proteine,<br />
sodass diese in den Zellen aus Aminosäuren<br />
zusammengesetzt werden können.<br />
42<br />
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60 bis 70 Prozent<br />
der Bevölkerung<br />
müssen geimpft<br />
sein, um eine<br />
Herdenimmunität<br />
zu erreichen<br />
Vermehrungsprogramm – genau das macht sie<br />
so gefährlich. Das mögen die Viren, denn dadurch<br />
können sie sich in dieser Umgebung auch<br />
schneller vermehren“, erklärt Dittmer weiter.<br />
GENTECHNIK BEI HARMLOSEN VIREN<br />
Einen ähnlichen Trick nutzt etwa der Corona-<br />
Impfstoff des Herstellers AstraZeneca. Er<br />
verwendet harmlose Adenoviren als Transportmittel.<br />
„Gentechnisch wird ein Stück des SARS-<br />
CoV-2- Virus in die Adenoviren eingebaut. Wir<br />
impfen also mit einem harmlosen Virus, das<br />
dann eine Immunantwort auslöst. Die richtet<br />
sich auch gegen das gefährliche Coronavirus,<br />
weil ja ein Stück davon im Virus eingebaut<br />
wurde“, erklärt der Virologe. Vektor-Impfstoff<br />
nennt sich diese Art Vakzine.<br />
Grundsätzlich wird Impfen vor allem gegen<br />
Viren eingesetzt. Das Prinzip wirkt aber auch<br />
gegen einige durch Bakterien verursachte<br />
Krankheiten, zum Beispiel Tetanus, Diphtherie<br />
oder Keuchhusten. Gegen die meisten Bakterien<br />
wird allerdings nicht präventiv, sondern<br />
WORT DES JAHRES?<br />
Herdenimmunität<br />
kann schützen<br />
Wir begegnen ständig Viren und Bakterien,<br />
die hoch ansteckende und teilweise<br />
lebensbedrohliche Krankheiten auslösen<br />
können. Gegen manche Erkrankungen<br />
kann man sich mittels einer Impfung<br />
schützen. Wenn nur wenige Menschen<br />
geschützt sind, haben hoch ansteckende<br />
Krankheiten (etwa Masern) leichtes<br />
Spiel. Sie können sich dann rasend schnell<br />
verbreiten. Je mehr Menschen geimpft<br />
oder durch eine überstandene Erkrankung<br />
immun sind, desto weniger können sich<br />
anstecken. Man spricht dann von Herdenimmunität.<br />
Dabei schützen Geimpfte<br />
nicht nur sich selbst, sondern auch andere<br />
Menschen, vor allem „schwächere“,<br />
etwa Babys oder Menschen, deren Immunsystem<br />
nicht gut funktioniert.<br />
Grippeschutzimpfungen<br />
sind jährlich<br />
notwendig, weil<br />
Influenza viren mutieren<br />
und der Impfstoff angepasst<br />
werden muss.<br />
bei einer akuten Erkrankung mithilfe von<br />
Antibiotika vorgegangen.<br />
Für den Aufbau eines langfristigen Impfschutzes,<br />
der Grundimmunisierung, sind<br />
in vielen Fällen mehrere Impfungen nötig. Bei<br />
einigen Impfungen hält der Schutz dann ein<br />
Leben lang (Beispiel: Humane Papillomviren,<br />
kurz HPV). Andere hingegen müssen in zeitlichen<br />
Abständen aufgefrischt werden. Dadurch<br />
wird sozusagen die Erinnerung an den Erreger<br />
im Immunsystem aufrechterhalten. Tetanus<br />
und Keuchhusten zum Beispiel müssen alle zehn<br />
Jahre aufgefrischt werden.<br />
Viel öfter ist dies bei der Grippeschutzimpfung<br />
notwendig. Sie muss jedes Jahr verabreicht<br />
werden. Der Grund: Die Influenzaviren<br />
mutieren ständig. Deswegen ist es nötig, den<br />
Impfstoff jedes Jahr neu an die Mutanten<br />
anzupassen – die körpereigene Abwehr muss<br />
eine neue Reaktion trainieren.<br />
Wie lange der Impfschutz gegen SARS-CoV-2<br />
anhalten wird, lässt sich derzeit noch nicht<br />
abschätzen. Mediziner vermuten aber, dass ein<br />
Covid-19-Impfstoff regelmäßig geimpft werden<br />
muss – ähnlich wie bei Grippe. Angesichts<br />
der bereits registrierten Coronavirus-Mutanten<br />
erscheint das durchaus plausibel.<br />
Neben den aktiven Impfungen gibt es die<br />
Möglichkeit einer passiven Immunisierung.<br />
Ziel ist dabei, einen sofortigen Schutz aufzubauen,<br />
und zwar dann, wenn der Patient<br />
akut erkrankt ist. Der Arzt spritzt Antikörper,<br />
sodass das Immunsystem nicht erst lernen<br />
muss, wie es diese selbst bildet. Die Antikörper<br />
stammen in der Regel von Menschen, die etwa<br />
durch eine Schutzimpfung gegen die Krankheit<br />
immun sind. „Eine passive Impfung wird<br />
verabreicht, wenn der Körper bereits durch<br />
einen gefährlichen Erreger infiziert ist, etwa bei<br />
Tollwut durch einen Hundebiss. Diese Impfung<br />
wirkt schnell, hält aber nicht lange an, da das<br />
Immunsystem kein Gedächtnis ausbildet und<br />
sich die gespritzten Antikörper im Blut wieder<br />
abbauen“, sagt Ralf Suhr.<br />
DIE NEUE METHODE MIT BOTEN-RNA<br />
Die seit Dezember (Biontech/Pfizer) beziehungsweise<br />
Anfang Januar (Moderna) in<br />
Deutschland zugelassenen Covid-19-Impfstoffe<br />
funktionieren nach einem anderen – und<br />
ganz neuen – Prinzip. Bei diesen mRNA-Impfstoffen<br />
werden keine abgeschwächten oder<br />
toten Krankheitserreger oder deren Bestandteile<br />
(Antigene) benötigt, um im Körper eine Immunreaktion<br />
hervorzurufen. Vielmehr werden<br />
den menschlichen Zellen Teile der Erbinformation<br />
des Virus geliefert, die als Boten-RNA<br />
gespeichert sind, auf Englisch Messenger-RNA,<br />
kurz mRNA. Solche mRNA-Baupläne werden<br />
in den körpereigenen Zellen benutzt, um Proteine<br />
zu bilden. Der Impfstoff bewirkt den Bau<br />
eines Coronavirus-Bestandteils, nämlich des<br />
stacheligen Spike-Proteins an dessen Oberfläche.<br />
Darauf reagiert das Immunsystem und<br />
erlernt eine Abwehrmethode: Kommt später das<br />
echte Virus in den Körper, blockieren Antikörper<br />
seine Oberfläche und damit seine Funktion.<br />
Ein großer Vorteil der mRNA-Impfstoffe: Sie<br />
lassen sich binnen weniger Wochen an Mutationen<br />
eines Virus anpassen; auch eine erneute<br />
Zulassung mit vollem Erprobungsprogramm<br />
ist dann nicht erforderlich. So hat sich das<br />
stachelförmige Spike-Protein an der Oberfläche<br />
des Coronavirus bereits bei Mutationen<br />
aus Großbritannien, Südafrika und Brasilien<br />
verändert und ist ansteckender geworden.<br />
Bislang funktionieren die Impfstoffe dennoch,<br />
aber wenn die Veränderung zu groß ist, könnte<br />
man das veränderte Virus-Erbgut relativ leicht<br />
in eine neue mRNA-Impfstoffvariante einbauen<br />
und so die Wirksamkeit sichern.<br />
Unter Medizinern ist die Hoffnung groß,<br />
dass die mRNA-Methode in naher Zukunft<br />
Basis für Impfstoffe sein kann, die weitere<br />
Krankheiten eindämmen. Ganz oben auf der<br />
Liste: Krebs.<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 43
FORSCHUNG ∙ ZULASSUNG<br />
Warum so schnell?<br />
Die Zulassung von Impfstoffen ist komplex und dauert oft 15 bis 20 Jahre. Bei Corona<br />
ging es viel schneller. Ein Blick auf Verfahren und Abläufe bei der Impfstoff-<br />
Entwicklung – und auf die Überholspuren, die Covid-19-Vakzinen nehmen konnten<br />
Text: Verena Fischer / Illustrationen: Thomas Kappes<br />
1<br />
Analyse des Virus<br />
Zunächst wird das Erbgut des Erregers untersucht und geprüft, auf welche Bestandteile des Virus das<br />
menschliche Immunsystem reagiert und einen Schutz (etwa Antikörper) aufbauen kann.<br />
COVID-ÜBERHOLSPUR Die Forschenden hatten Glück – Coronaviren sind hinreichend bekannt,<br />
und auch das SARS-CoV-2-Erbgut, in diesem Fall einzelsträngige RNA, wurde frühzeitig<br />
entschlüsselt. So konnten die ersten Forschungsprojekte bereits Anfang 2<strong>02</strong>0 starten.<br />
44<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
2<br />
Design des Impfstoffs<br />
Als Nächstes steht die Entwicklung des<br />
Impfstoff-Designs an. Hierbei geht es darum,<br />
eine geeignete Impfstoff-Plattform<br />
(zum Beispiel einen Vektor-Impfstoff) und<br />
passende Zusatzstoffe zu finden.<br />
COVID-ÜBERHOLSPUR Die<br />
mRNA-Technologie wurde erstmals<br />
vor 30 Jahren beschrieben<br />
und schon lange in der Krebsforschung<br />
erprobt. Diese Erkenntnisse kamen den<br />
Forschern nun zugute. Unternehmen wie<br />
Biontech, Moderna und Curevac waren<br />
bereits seit Jahren mit der Entwicklung<br />
von mRNA-Impftechnologien beschäftigt.<br />
Die Herstellung von mRNA-Impfstoffen<br />
geht im Vergleich zur Produktion herkömmlicher<br />
Impfstoffe viel schneller. Es<br />
müssen nicht erst Viren im Labor angezüchtet<br />
und anschließend abgeschwächt<br />
oder abgetötet werden.<br />
3<br />
Erprobung an Tieren<br />
Eine wichtige Voraussetzung für die Zulassung<br />
eines Impfstoffes sind nach wie<br />
vor Tierversuche. Sie sind international<br />
harmonisiert. In der Coronaforschung<br />
sind vor allem Nagetiere die Versuchsobjekte.<br />
Aber auch Affen müssen<br />
herhalten.<br />
COVID-ÜBERHOLSPUR Bei der<br />
Covid-Impfstoff-Entwicklung<br />
haben sich mehr als 20 internationale<br />
Regulierungsbehörden bereits<br />
im März 2<strong>02</strong>0 verständigt, welche<br />
Tierversuche dies sein sollten.<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 45
FORSCHUNG ∙ ZULASSUNG<br />
4<br />
Erprobung<br />
an Freiwilligen<br />
Klinische Studien werden eingeteilt in<br />
drei Phasen mit jeweils immer größeren<br />
Gruppen an Testpersonen. Normalerweise<br />
laufen diese Phasen nacheinander<br />
ab. Um Phase 3 erfolgreich abzuschließen,<br />
muss sich eine bestimmte Teilnehmerzahl<br />
in der Impf- und der Kontrollgruppe mit<br />
dem Krankheitserreger infiziert haben.<br />
COVID-ÜBERHOLSPUR Im Fall<br />
von Corona wurden Phasen<br />
kombiniert durchgeführt.<br />
Außerdem war es möglich, Phase 3 rasch<br />
abzuschließen, da sehr schnell die nötige<br />
Zahl an Infizierten zusammenkam – bei<br />
seltenen Krankheiten dauert das Jahre.<br />
5<br />
Großproduktion<br />
beginnt<br />
Auf neue Impfstoffe folgt meist<br />
eine Zeit der Finanzplanung und Marktevaluation,<br />
denn Hersteller wollen<br />
sichergehen, dass sich eine Produktion<br />
für sie auch finanziell lohnt.<br />
COVID-ÜBERHOLSPUR Um es<br />
Herstellern zu ermög lichen,<br />
Produktionsanlagen schon<br />
vor der Zulassung hochzufahren, haben<br />
die Staaten der Welt im großen Stil<br />
Vorbestellungen eingereicht und so<br />
hohe Summen für Investitionen bereit <br />
gestellt. Um weitere Zeit zu sparen,<br />
wurde die Packungsbeilage nur einsprachig<br />
auf Englisch produziert.<br />
46<br />
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Zulassungsverfahren<br />
Normalerweise kann eine Zulassung<br />
erst beantragt werden, wenn Ergebnisse<br />
aus allen drei klinischen Phasen<br />
der Erprobung an Probanden und<br />
Patienten vorliegen.<br />
6<br />
COVID-ÜBERHOLSPUR Die<br />
Europäische Arneimittel-<br />
Agentur EMA bietet ein<br />
beschleunigtes Zulassungsverfahren<br />
an, das Rolling Review. Dabei können<br />
Daten aus der nicht klinischen und<br />
der klinischen Entwicklung eines Impfstoff-Kandidaten<br />
bereits bewertet<br />
werden, bevor sämtliche erforderliche<br />
Daten für einen Zulassungsantrag vorliegen.<br />
Vier Unternehmen haben davon<br />
Gebrauch gemacht: Biontech/Pfizer,<br />
Moderna, AstraZeneca sowie Janssen.<br />
Und: Die EMA bearbeitet alle Zulassungsverfahren<br />
für Covid-19-Impfstoffe<br />
oder -Therapeutika bevorzugt.<br />
7<br />
Versorgung<br />
der Bevölkerung<br />
In Deutschland gibt die Ständige Impfkommission<br />
(STIKO) auf Basis medizinischer<br />
Kriterien Empfehlungen zur<br />
Durchführung von Schutzimpfungen.<br />
COVID-ÜBERHOLSPUR<br />
Die STIKO hat sich der Pandemiesituation<br />
angepasst<br />
und konnte schnellere Empfehlungen<br />
abgeben, weil sie bereits Vorüberlegungen<br />
für verschiedene Szenarien<br />
angestellt hatte.<br />
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ANGST ∙ HISTORIE<br />
Ängste vor dem <strong>Pieks</strong> sind vielfältig,<br />
Aufklärung und Gespräche helfen.<br />
Eine immer wieder diskutierte Impfpflicht<br />
bewirkt eher das Gegenteil<br />
Die Angst ist<br />
so alt wie das<br />
Impfen selbst<br />
Seit es Impfungen gibt, sind auch Ängste vor dem <strong>Pieks</strong> verbreitet.<br />
Welche Bedenken die Menschen seit Jahrhunderten bewegen und<br />
welche neuen Argumente für Skepsis sorgen: ein Blick auf 200 Jahre<br />
Impfgeschichte mit Medizinhistoriker Wolfgang Ulrich Eckart<br />
Text: Verena Fischer<br />
Am 14. Mai 1796 impfte der englische<br />
Landarzt Eduard Jenner erstmalig<br />
einen achtjährigen Jungen mit Kuhpockenviren<br />
aus der Pustel einer<br />
erkrankten Magd. Als Jenner den Jungen sechs<br />
Wochen später mit dem Eiter normaler Pocken<br />
infizierte, war er gegen die Erkrankung immun.<br />
Um die Wirksamkeit zu belegen, impfte<br />
Jenner im Anschluss weitere Kinder, darunter<br />
seinen elf Monate alten Sohn, und schloss aus<br />
den Erfolgen, dass sich auf diesem Weg eine<br />
lebenslange Immunität vor der Pockenerkrankung<br />
erreichen lässt. Gleichzeitig stand für<br />
den Arzt fest, dass eine gezielte Infektion mit<br />
Kuhpocken niemals tödlich endet, womit die<br />
Geschichte der Massenimpfungen begann.<br />
„Die Pockenimpfung wurde wenig später sehr<br />
publik, und es folgte alsbald eine staatliche<br />
Impfgesetzgebung. Seitdem existiert auch das<br />
Phänomen der Impfangst“, erklärt der Medizinhistoriker<br />
Wolfgang Ulrich Eckart.<br />
DER GROSSE POCKENAUSBRUCH<br />
In Bayern und Hessen wurde bereits 1807<br />
die staatliche Impfpflicht eingeführt. Andere<br />
Länder begannen damit erst nach dem großen<br />
Pockenausbruch im Jahr 1870, bei dem allein<br />
in Deutschland eine Viertelmillion Menschen<br />
starb. „Die aufkommenden Ängste waren<br />
verschieden. Darunter waren solche vor dem<br />
<strong>Pieks</strong> an sich, das ist heute nicht anders. Aber<br />
es wurden auch Ängste von Gruppen geschürt,<br />
die das Impfen für die schlimmste Ausgeburt<br />
einer Medizin hielten, die den menschlichen<br />
Körper angeblich mit Arzneimitteln vergiftet“,<br />
so Eckart.<br />
Heilung war damals nach Auffassung vieler<br />
Impfgegner eine Aufgabe der Natur – und die<br />
neue Methode daher mit großen Befürchtungen<br />
verbunden: „Man hatte Angst vor einer<br />
Vergiftung des Bluts durch eine Vermischung<br />
von Tier und Mensch in einer Weise, die<br />
man sich nach heutiger Kenntnis von Genetik<br />
kaum vorzustellen vermag. Es kamen Vergleiche<br />
mit der Sodomie auf, also der geschlechtlichen<br />
Verbindung von Tier und Mensch.“<br />
Die Pocken-Impfpflicht setzte sich im<br />
Verlauf des 19. Jahrhunderts in vielen europäischen<br />
Ländern durch. Parallel schlossen<br />
»Da verwundert es natürlich<br />
nicht, dass Menschen erst<br />
einmal vorsichtig sind und eine<br />
gewisse Skepsis hegen.«<br />
48<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
FOTO: DPA PICTURE-ALLIANCE, GETTY IMAGES, PRIVAT<br />
PROF. DR. MED.<br />
WOLFGANG ULRICH ECKART<br />
Professor für Geschichte der<br />
Medizin, Universität Heidelberg<br />
Eckart hat Medizin, Geschichte und<br />
Philosophie studiert. Nach seiner Approbation<br />
als Arzt wurde er Professor<br />
für Geschichte der Medizin sowie<br />
Institutsleiter seines Fachbereichs an<br />
der Universität in Heidelberg. Er ist<br />
Mitglied der Leopoldina – Nationale<br />
Akademie der Wissenschaften.<br />
Seit den 1970er-Jahren wird in Deutschland kein Impfstoff zugelassen, der zum Abschluss aller Prüfungen<br />
nicht auch noch vom Paul-Ehrlich-Institut auf Ungefährlichkeit untersucht worden ist<br />
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ANGST ∙ HISTORIE<br />
sich Impfgegner zu Anti-Impf-Vereinen<br />
zusammen – insbesondere im Kaiserreich, als<br />
dort 1874 das Impfgesetz erlassen wurde. „Diese<br />
Impfängste breiteten sich dramatisch aus. Sie<br />
waren im Grunde ganz ähnlich wie heute. Doch<br />
letztlich war der Impferfolg gegen die Pocken<br />
durchschlagend.“ Die Pocken konnten damals<br />
zwar noch nicht ausgerottet werden, aber das<br />
gelang schließlich in den 1970er-Jahren.<br />
DUNKLE SEITEN DER IMPFHISTORIE<br />
Dennoch kam es in der Geschichte des Impfens<br />
auch immer wieder zu Zwischenfällen,<br />
die der Impfangst Nahrung gaben. So war zum<br />
Beispiel 1930 bei einer Charge des sogenannten<br />
BTG-Impfstoffs gegen Tuberkulose der<br />
Erreger nicht im nötigen Maß abgeschwächt<br />
worden. Die damalige Vakzine war ein Lebendimpfstoff<br />
mit abgeschwächten, aber nicht<br />
abgetöteten Erregern. Geht hier während<br />
der Herstellung etwas schief, kann es zu massiven<br />
Infektionen kommen. Und das geschah<br />
beim sogenannten Lübecker Impfunglück:<br />
Schulkindern wurde der Impfstoff injiziert,<br />
Hunderte von ihnen erkrankten an Tuberkulose,<br />
77 starben innerhalb kürzester Zeit. Etwas<br />
Ähnliches passierte auch bei der Einführung<br />
eines Impfstoffs gegen Kinderlähmung (Polio)<br />
in den 1950ern.<br />
HEUTIGE PRÜFVERFAHREN<br />
„Das sind Gefahren, die bei einem neuen<br />
Impfstoff immer drohen, wenn man nicht die<br />
nötigen Sicherheits- und Kontrollmechanismen<br />
einrichtet. Diese Vorkehrungen haben wir heute.<br />
In Deutschland wird kein neuer Impfstoff<br />
zugelassen, dessen Chargen nach dem großen<br />
Prüfverfahren nicht zusätzlich auch noch<br />
vom Paul-Ehrlich-Institut auf Ungefährlichkeit<br />
untersucht worden sind“, versichert Eckart.<br />
Das Paul-Ehrlich-Institut ist die letzte Barriere<br />
zur Verhinderung fehlerhafter Chargen.<br />
Ebenso wichtig: Es überwacht auch, ob es im<br />
alltäglichen Einsatz der Impfstoffe Auffälligkeiten<br />
gibt. „Das ist ein gutes Instrument, das<br />
im Rahmen der Arzneimittelgesetzgebung<br />
der 1970er-Jahre eingeführt worden ist. Heute<br />
kann man sagen, dass es fast unmöglich ist,<br />
dass solche gefährlichen oder vergifteten Impfchargen<br />
auf den Markt kommen.“<br />
Werden wir mit den Erfahrungen aus der Covid-19-Impfung ein größeres Vertrauen in Impfstoffe<br />
entwickeln? Noch sind viele Menschen skeptisch, da es sich um eine neue Art von Impfstoffen handelt<br />
Und doch kam es zuletzt erst im Jahr 2009<br />
während der Schweinegrippe, die durch<br />
einen Influenza virusstamm ausgelöst wurde,<br />
zu schweren Zwischenfällen. Der Impfstoff<br />
Pandemrix, der von der EU im September 2009<br />
zugelassen worden war und mit dem rund<br />
30,8 Millionen Menschen in der Europäischen<br />
Union geimpft wurden, löste in seltenen Fällen<br />
eine Narkolepsie aus.<br />
Eine Narkolepsie ist eine seltene Schlaf-<br />
Wach-Störung, bei der Tagesschläfrigkeit und<br />
Kataplexie (plötzlicher Verlust des Muskeltonus)<br />
auftreten. Eine Studie aus dem Jahr 2015<br />
legt nahe, dass es sich bei dem Impfschaden<br />
um eine Autoimmunerkrankung handelt – also<br />
um eine Veränderung des Immunsystems,<br />
die durch die Impfung verursacht wurde. Bis<br />
Januar 2015 meldeten sich mehr als 1300 Betroffene<br />
mit Impfschäden: 81in Deutschland,<br />
die meisten in skandinavischen Ländern, in<br />
denen Massenimpfungen durchgeführt worden<br />
waren. Zwar sind 1300 Impfschäden bei mehr<br />
als 30 Millionen Geimpften eine geringe Anzahl:<br />
Das entspricht 0,004 Prozent, also wurde<br />
einer von 23 000 Geimpften krank. Das ist auch<br />
der Grund dafür, warum es eine Weile dauerte,<br />
bis das seltene Problem als Folge der Impfung<br />
erkannt werden konnte – auch wenn dieser<br />
sehr schwerwiegenden, unheilbaren Impfschaden<br />
relativ kurz nach der Impfung eintrat. Der<br />
Impfstoff wird in der EU nicht mehr eingesetzt.<br />
MACHEN IMPFSCHÄDEN ANGST?<br />
„Das Risiko, einen Impfstoff nicht zu vertragen,<br />
wird heutzutage im Bereich von deutlich<br />
unter 0,1 Prozent liegen“, sagt Eckart, der nicht<br />
FOTO: ADOBE STOCK, DPA PICTURE-ALLIANCE, GETTY IMAGES<br />
Deutsche Soldaten erhielten erstmals im Ersten Weltkrieg<br />
(1914–18) eine Tetanus-Schutzimpfung<br />
»Das Risiko, einen<br />
Impfstoff nicht<br />
zu vertragen, liegt heute im<br />
Bereich unter 0,1 Prozent.«<br />
50<br />
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Der Impfstoff Pandemrix, der<br />
von der EU im September 2009<br />
zugelassen wurde und mit dem<br />
rund 30,8 Millionen Menschen<br />
in der EU geimpft wurden, löste<br />
in 0,004 Prozent aller Fälle eine<br />
Narkolepsie aus.<br />
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ANGST ∙ HISTORIE<br />
FOTO: ADOBE STOCK, DPA PICTURE-ALLIANCE, PRIVAT<br />
Hinreichende Aufklärung über den Sinn und Nutzen einer Impfung hilft nicht nur aktuell dem Patienten gegen seine Angst, sie beugt auch Impfgegnerschaft vor<br />
daran glaubt, dass die Erfahrungen mit der<br />
Schweinegrippe in der aktuellen Debatte eine<br />
große Rolle spielen. „In einem kalkulierbaren<br />
Umfang kann es immer zu Zwischenfällen<br />
kommen, weil jeder Körper individuell auf einen<br />
Impfstoff reagiert. Aber da muss man den<br />
großen Nutzen abwägen gegen das minimale<br />
Restrisiko eines Impfzwischenfalls. Gänzlich<br />
ausschließen kann man ihn nicht.“<br />
Doch wie kommt es, dass einige Impfungen<br />
wie die gegen Masern mit großen Bedenken<br />
verbunden sind, während wir andere, beispielsweise<br />
die Tetanus-Schutzimpfung, alle zehn<br />
Jahre dankbar entgegennehmen? „Bei Tetanus<br />
mag es daran liegen, dass der Erfolg der Impfung<br />
eklatant ist“, erklärt Eckart.<br />
ERFOLGREICH GEGEN TETANUS<br />
Die Impfung kam erstmalig im Ersten Weltkrieg<br />
zum Einsatz. Damals erhielten an<br />
Tetanus erkrankte Soldaten eine lebensrettende<br />
Tetanus-Serumtherapie. Gleichzeitig wurden<br />
gesunde Soldaten mit dem Tetanus-Impfstoff<br />
vorbehandelt und waren damit immun. „Und<br />
ein Krieg trägt natürlich durch die Erfahrung<br />
der Überlebenden ganz massiv dazu bei, dass<br />
sich bestimmte medizinische Aspekte in der<br />
Bevölkerung schnell durchsetzen“, sagt Eckart.<br />
„Hätte es Impfpflicht bei Tetanus gegeben,<br />
wäre es wahrscheinlich ähnlich wie bei den<br />
Masern gegangen.“ Bei denen sorgte die Studie<br />
eines britischen Arztes dafür, dass der Masern-<br />
Röteln-Mumps-Impfstoff in den Ruf kam,<br />
Autismus zu verursachen. Jedoch traten bei der<br />
Studie derart viele Ungereimtheiten auf, dass<br />
sie zurückgezogen und dem Mediziner schließlich<br />
die Approbation entzogen wurde. Gleich<br />
mehrere Studien widerlegten den Vorwurf endgültig.<br />
Trotzdem halten sich die Bedenken<br />
hartnäckig, und um die 2<strong>02</strong>0 in Deutschland<br />
»In kalkulierbarem Umfang kann<br />
es zu Zwischenfällen kommen,<br />
weil jeder Körper individuell auf<br />
einen Impfstoff reagiert.«<br />
52<br />
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eingeführte Impfpflicht entflammte ein erbitterter<br />
Streit.<br />
Man könne die beiden Krankheiten indes<br />
schlecht vergleichen, so Eckart. „Nach einer<br />
Maserninfektion hatten nur wenige Kinder<br />
schwere Hirnschädigungen, davon wissen oft<br />
nur die Betroffenen und ihre Kinderärzte etwas.<br />
Die meisten Menschen bekamen das nicht mit<br />
und kalkulieren das Risiko nicht mit ein.“ Tatsächlich<br />
war es sogar eine Zeit lang üblich, dass<br />
Mütter ihre Kinder zu Masernpartys brachten,<br />
damit sie schnell mit der Infektion durch seien.<br />
Das Image einer Impfung sei immer stark<br />
vom Kontext abhängig, sagt Eckart. „Als Anfang<br />
des 20. Jahrhunderts die Pockenimpfung in<br />
deutschen Kolonien eingeführt wurde, waren<br />
Impfängste in der indigenen Bevölkerung stark<br />
verbreitet, weil die Menschen eine Riesenangst<br />
davor hatten, dass ihnen die fremden Weißen<br />
angeblich Giftstoffe injizieren.“<br />
UND HEUTE?<br />
Die heutigen Impfgegner knüpfen zum Teil<br />
noch an die alten Vorwürfe an. Impfung sei<br />
eine Vergiftung des Menschen. Etwas, das nicht<br />
der Natur entspreche – heilen, indem man<br />
krank macht. „Das ist ganz ähnlich wie damals<br />
und setzt sich sehr breit fort. Das andere ist<br />
natürlich, das Impfen als Eingriff in die individuelle<br />
Freiheit zu interpretieren. Und zu sagen,<br />
die Freiheit des Menschen werde dadurch<br />
beeinträchtigt, denn es gibt ja das Recht auf<br />
körperliche Unversehrtheit“, so Eckart.<br />
„Es ist stets ein relationales Problem. Ein<br />
Verhältnis zwischen Chancen und potenziellem<br />
Schaden. Impfgegnerschaft ist immer ein<br />
Indikator dafür, dass es noch keine hinreichende<br />
Aufklärung über den Sinn und Nutzen<br />
einer Impfung gibt oder gegeben hat. Da muss<br />
man ansetzen“, meint der Wissenschaftler.<br />
Und er weist darauf hin, dass bei Covid-19 die<br />
Befürchtung um die neuartige Impftechnologie<br />
hinzukomme.<br />
„Da wundert es einen natürlich nicht, dass<br />
Menschen erst einmal vorsichtig sind und<br />
eine gewisse Skepsis hegen.“ Was fehle, sei<br />
solidarisches Denken. „Wir sehen in der Regel<br />
leider nicht, dass sich die kleine individuelle<br />
Einschränkung lohnt, da es dem Großen und<br />
Ganzen, also der Gemeinschaft, nützt, indem<br />
wir eine Herdenimmunität erreichen.“<br />
AUFKLÄRUNG STATT PFLICHT<br />
Eine Impfpflicht hält der Medizinhistoriker<br />
aber nicht für sinnvoll, weil das die Entstehung<br />
von Impfängsten fördere. „Wenn man sich<br />
unausweichlich einer Impfung unterziehen<br />
muss, facht das den Widerstand an. Ich halte<br />
viel mehr von Aufklärung.“<br />
Die beste Motivation sei der Erfolg selbst,<br />
meint Eckart: „Ich glaube, dass wir aufgrund<br />
der Erfahrungen mit Covid-19 ein größeres<br />
Vertrauen in Impfstoffe haben werden.“<br />
UMGANG MIT GERÜCHTEN<br />
»Neu ist das Misstrauen<br />
gegenüber Big Pharma«<br />
Wie entstehen Impfmythen, warum halten sie sich oftmals so lange?<br />
Und in welchen Ländern leben die meisten Impfskeptiker? Was treibt sie an?<br />
Das erforscht die Anthropologin Heidi J. Larson<br />
Wie untersucht man Phänomene<br />
wie Mythen und Ängste? „Seit es<br />
soziale Medien gibt, beobachten<br />
wir gezielt Onlinenachrichten, weil wir<br />
global vergleichbare Informationsstränge<br />
erhalten wollen“, erklärt Heidi J. Larson.<br />
Facebook, Twitter und Youtube machten<br />
die Arbeit schwerer und leichter zugleich.<br />
Leichter, weil ebendiese vergleichbaren<br />
Informationsstränge international zur Verfügung<br />
stehen. „Schwerer, weil die sozialen<br />
Medien auf Gerüchte wie Teilchenbeschleuniger<br />
wirken. Was früher Wochen<br />
brauchte, breitet sich nun exponentiell aus.“<br />
Die aktuellste Entwicklung, die die<br />
Anthropologin beobachtet hat, ist das<br />
Misstrauen gegenüber Big Pharma, an dem<br />
die Pharmakonzerne zum Großteil selbst<br />
schuld seien. „Da waren die Menschenexperimente<br />
der Kolonial- und der<br />
Neuzeit. Und in Entwicklungsländern wird<br />
sehr genau beobachtet, dass an Tropenkrankheiten<br />
wie Malaria nicht so eifrig<br />
geforscht wird wie an Zivilisationsleiden.“<br />
In Europa führe Frankreich die Rangliste<br />
der Länder mit der größten Impfskepsis<br />
an. Auch in Russland, Ungarn und Polen<br />
sei das Vertrauen in den Covid-Impfstoff<br />
sehr gering. Überhaupt weise kein anderer<br />
Kontinent so große Vorbehalte auf wie<br />
Europa. Viel Vertrauen wurde durch den<br />
Skandal um HIV-verseuchte Blutkonserven<br />
in den Achtzigerjahren verspielt, ist Larson<br />
überzeugt. Der französische Gesundheitsminister<br />
etwa ließ ein Impfprogramm<br />
an Schulen unterbrechen, als Gerüchte<br />
aufkamen, die Impfstoffe würden Multiple<br />
Sklerose auslösen. „Und als die Regierung<br />
noch viel zu große Mengen Impfstoff gegen<br />
Schweinegrippe kaufte, war die Wut groß.<br />
Da kam ein Skandal nach dem anderen.“<br />
Staatliche Aufklärungskampagnen<br />
seien denn auch nicht das richtige Mittel,<br />
um die Impfbereitschaft zu steigern,<br />
sagt Larson. „Am ehesten können örtliche<br />
Politiker, Geistliche oder am besten die<br />
Nachbarn dazu beitragen, dass die Skepsis<br />
nachlässt.“<br />
PROF. DR. HEIDI J. LARSON<br />
Professorin der Anthropologie<br />
Bekannt geworden<br />
mit veganen<br />
Kochbüchern, tut<br />
sich Attila Hildmann<br />
nun als Lautsprecher<br />
der Verschwörungstheoretiker<br />
hervor<br />
Heidi J. Larson hat an der Schule für Hygiene und<br />
Tropenmedizin in London das Vaccine Confidence<br />
Project gegründet. Außerdem ist sie Professorin<br />
für Health Metrics Sciences in Seattle (Washington).<br />
Im vergangenen Sommer ist ihr Buch<br />
„Stuck: How Vaccine Rumors Start – and Why<br />
They Don’t Go Away“ erschienen.<br />
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ANGST ∙ FAKTENCHECK<br />
Viele Impfgegner haben<br />
Microsoft-Gründer<br />
Bill Gates zu ihrem Feind<br />
erklärt. Seine Stiftung<br />
forscht unter anderem<br />
an Verhütungsmethoden<br />
per Mikrochip<br />
54<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Was Menschen<br />
Angst macht<br />
Laut ARD-Deutschlandtrend vom Februar wollen sich 21 Prozent<br />
der Deutschen wahrscheinlich nicht oder auf gar keinen Fall impfen<br />
lassen. Viele Fragen zu Impfungen nicht nur gegen Corona sind<br />
offen, verlässliche Informatio nen oft schwer zu finden. Wir gehen<br />
zehn häufig geäußerten Ängsten auf den Grund<br />
Text: Verena Fischer<br />
„ES BESTEHT DAS RISIKO,<br />
DURCH DIE IMPFUNG KRANK<br />
1 ZU WERDEN“<br />
In den bisherigen Studien finden<br />
sich für bleibende Schäden oder auftretende<br />
Krankheiten keine Anhaltspunkte. Wahrscheinlicher<br />
sind allerdings zeitnah auftretende Impfreaktionen<br />
wie Kopf schmerzen, Müdigkeit und<br />
Schmerzen an der Einstichstelle. Das kann viele<br />
Menschen betreffen, klingt jedoch nach wenigen<br />
Tagen folgenlos ab. Trotzdem: In sehr seltenen<br />
Fällen kann aber jede Impfung schwere Folgen<br />
für die Gesundheit haben. Prof. Dr. Christian<br />
Bogdan von der Ständigen Impfkommission<br />
(STIKO) erklärt dazu allerdings: „Weltweit sind<br />
jetzt mehr als vier Millionen Menschen geimpft<br />
worden. Es ist bisher nichts aufgetreten,<br />
was man nicht schon in den Zulassungsstudien<br />
gesehen hat.“<br />
Mehr zu Nutzen und Risiken einer Covid-19-<br />
Impfung lesen Sie ab Seite 58.<br />
Was es mit wirklichen Impfschäden auf sich<br />
hat und was Betroffene dazu sagen, finden Sie<br />
auf Seite 18.<br />
2<br />
„FÜR ALLERGIKER IST<br />
DIE IMPFUNG GEFÄHRLICH“<br />
Tatsächlich wurden in sehr seltenen<br />
Fällen nach der Impfung mit dem<br />
Impfstoff von Biontech/Pfizer schwere allergische<br />
Reaktionen beobachtet. In den USA kam es<br />
bei einer Anzahl von einer Million verabreichten<br />
Impfstoff-Dosen zu elf solcher Ereignisse, die<br />
überwiegend innerhalb der ersten 15 Minuten<br />
nach der Impfung auftraten. Betroffen waren<br />
Personen mit bekannter schwerer Allergie. Bei<br />
Menschen mit leichten Allergien ist laut Paul-<br />
Ehrlich-Institut mit keinen Komplikationen zu<br />
rechnen. Darunter fallen auch Allergien gegen<br />
Nahrungsmittel. Es wird vermutet, dass die<br />
Allergien nicht durch den eigentlichen Wirkstoff<br />
von Biontech/Pfizer verursacht werden, sondern<br />
durch die Substanz Polyethylen glykol (PEG),<br />
die auch in vielen Alltags-, Kos metik- und Medizinprodukten<br />
enthalten ist.<br />
„BIS SELTENE NEBEN<br />
WIRKUNGEN BEKANNT SIND,<br />
3 DAUERT ES NOCH LANGE“<br />
Impffolgen zeigen sich in der<br />
Regel binnen Minuten oder innerhalb weniger<br />
Tage bis Monate nach der Impfung. Gehen<br />
Geimpfte mit Beschwerden zum Arzt, ist dieser<br />
verpflichtet, Verdachtsfälle von Impfkomplikationen<br />
sofort zu melden. Diese können<br />
Geimpfte und Angehörige zusätzlich selbst über<br />
nebenwirkungen.bund.de angeben. Die klini-<br />
FOTO: DPA PICTURE-ALLIANCE, GETTY IMAGES/TOBIAS SCHWARZ<br />
Unverständlich: Wenn Kritik<br />
in Gewalt umschlägt, haben meist<br />
beide Seiten zu wenig zugehört<br />
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ANGST ∙ FAKTENCHECK<br />
Impfstoff-Dosen für ärmere Länder beteiligt.<br />
Dr. Andreas Wulf von der Menschenrechtsorganisation<br />
Medico International spricht sich<br />
aber für ein anderes Vorgehen aus. „Von den<br />
durch COVAX bestellten Impfstoff-Dosen ist<br />
noch keine in den Entwicklungsländern angekommen,<br />
weil reiche Länder sich den Großteil<br />
der Produktion von 2<strong>02</strong>0 und <strong>2<strong>02</strong>1</strong> gesichert<br />
haben“, kritisiert der Arzt. „Erforderlich wäre,<br />
dass Hersteller die Patente für Impfstoffe sowie<br />
nötige Technologien an die Länder liefern,<br />
sodass diese selbst produzieren können. So ein<br />
Mechanismus wurde bei der WHO mit<br />
dem COVAX-Pool eingerichtet. Noch aber hat<br />
kein Unternehmen seine Lizenzen und sein<br />
Wissen eingespeist.“<br />
Für manch Demonstranten und manch Demonstrantin sind neben der Impfung auch die Corona-<br />
Einschränkungen ein Übel – was schon mal zu skurrilen Maskeraden führt<br />
sche Epidemiologin und Leiterin am Leibniz-<br />
Institut, Prof. Ulrike Haug, kritisiert aber,<br />
dass Covid-19-Impfungen, anders als üblich,<br />
nicht über Krankenkassenkarten regis triert<br />
werden: „Dadurch fehlt eine wichtige Datenquelle,<br />
um Nicht-Geimpfte und Geimpfte systematisch<br />
zu vergleichen. Denn geht es darum, zu<br />
prüfen, ob bestimmte medizinisches Ereignisse<br />
bei Geimpften tatsächlich häufiger auftreten<br />
als bei Nicht-Geimpften. Die Datenquelle wäre<br />
auch wichtig, um die verschiedenen Impfstoffe<br />
zu vergleichen und deren Langzeitwirksamkeit<br />
und –sicherheit zu untersuchen. Das wird<br />
nun nicht in absehbarer Zeit und nicht mit der<br />
Datenqualität möglich sein.“ Dass es bei manchen<br />
Impfstoffen Jahre gedauert hat, schlimme<br />
Schäden zu entdecken, lag eher daran, dass sie<br />
so selten auftreten und dann oft nicht gleich mit<br />
der Impfung in Verbindung gebracht werden.<br />
„ES IST NOCH NICHT KLAR,<br />
OB mRNA-IMPFSTOFFE<br />
4 VIELLEICHT DOCH DIE GENE<br />
VERÄNDERN“<br />
Richtig ist, dass die Impftechnologie neu ist<br />
und daher Langzeitbeobachtungen fehlen. Doch<br />
eine Übersetzung von mRNA in DNA ist in<br />
Zellen normalerweise unmöglich. Die mRNA<br />
gelangt auch nicht in den Zellkern, in dem sich<br />
die DNA befindet, sondern bleibt in der umgebenden<br />
Zellflüssigkeit. Außerdem ist mRNA<br />
sehr instabil – sie wird also schnell abgebaut<br />
und verbleibt nicht lange im Körper. Was nicht<br />
vergessen werden sollte: Coronaviren besitzen<br />
ebenfalls RNA. Wenn sie in Körperzellen gelangen,<br />
wird ihre RNA dort – genau wie die mRNA<br />
aus dem Impfserum – von der Zelle abgelesen<br />
und in Eiweiße übersetzt. „Dass der Körper aus<br />
der Impf-RNA das Virus-Oberflächenprotein<br />
baut, ist kein unnatürlicher Prozess. Es ist genau<br />
das Gleiche, was auch bei anderen Infektionen<br />
passiert“, bestätigt STIKO-Mitglied Bogdan.<br />
„ENTWICKLUNGSLÄNDERN<br />
FEHLT ES AN IMPFSTOFF – DAS<br />
5 VERLÄNGERT DIE PANDEMIE“<br />
Industrienationen haben sich über<br />
den internationalen COVAX-Mechanismus an<br />
der Finanzierung von bis jetzt zwei Milliarden<br />
„IMPFUNGEN KÖNNEN<br />
SCHWANGERSCHAFTEN<br />
6 VERHINDERN<br />
ODER GEFÄHRDEN“<br />
Es gibt derzeit keinen einzigen Hinweis,<br />
dass eine Covid-19-Impfung einen negativen<br />
Einfluss auf Fruchtbarkeit, Schwangerschaft<br />
oder über die Muttermilch auf Säuglinge hätte.<br />
Solange man keine ausreichenden Daten<br />
über die Sicherheit und Wirksamkeit der Impfung<br />
während Schwangerschaft und Stillzeit<br />
hat, wird es keine Empfehlung dafür geben.<br />
Wenn eine Frau erst nach der Impfung erfährt,<br />
dass sie schwanger ist, besteht aber kein<br />
Grund zur Sorge.<br />
7<br />
„UM BILL GATES UND DIE<br />
COVID-IMPFUNG<br />
RANKEN SICH VIELE MYTHEN.<br />
IST DA WAS DRAN?“<br />
Das Misstrauen gegenüber dem Unternehmer<br />
und seinen Impfstoff-Investitionen ist groß.<br />
„Seine Intention, die Krankheit zu besiegen,<br />
halte ich aber für sehr authentisch“, kommentiert<br />
Andreas Wulf von Medico. „Sein Engagement<br />
für Impfstoffe hat sicher viel mit seinem Vertrauen<br />
in technische Lösungen für komplexe<br />
Die Frage, ob man sich<br />
impfen lassen sollte,<br />
beschäftigt viele<br />
Menschen. Kaum einer<br />
davon ist Impfgegner<br />
oder gar radikal.<br />
Und Skepsis ist mehr<br />
als verständlich<br />
56<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Was sind Ihre<br />
Impfängste?<br />
Schreiben Sie uns an<br />
redaktion@<br />
pieks-magazin.de<br />
FOTO: DPA PICTURE-ALLIANCE (2), GETTY IMAGES<br />
Enteignung? Die Menschenrechtsorganisation Medico International plädiert eher für die Lieferung von Patenten und Know-how an die Entwicklungsländer<br />
Gesundheitsfragen zu tun. Dass Bill Gates uns<br />
mit Impfungen Mikrochips einpflanzen will,<br />
gehört aber ins Reich gefährlicher Fake News.“<br />
Solche Bedenken seien eher der allzu menschlichen<br />
Reaktion geschuldet, die Unsicherheit<br />
der Welt mit dem Agieren geheimnisvoller<br />
Mächte erklären zu wollen.<br />
8<br />
„RNA-IMPFUNGEN WERDEN<br />
SEIT JAHREN ERFORSCHT UND<br />
ERPROBT, ERHIELTEN ABER<br />
NIE EINE ZULASSUNG. UND<br />
JETZT SO SCHNELL? WIE KOMMT DAS?“<br />
Tatsächlich werden RNA-Impfungen seit Jahren<br />
in klinischen Studien als Tumormedikamente<br />
erprobt. Ein enormer Vorteil für die Forscher.<br />
Denn von diesen Kenntnissen konnten Wissenschaftler<br />
nun profitieren. Dabei ging es jetzt<br />
deutlich schneller, weil der Einsatz in der Krebstherapie<br />
viel komplizierter ist. Bei Krebszellen<br />
handelt es sich um mutierte Körperzellen. Das<br />
bedeutet: Will man das Immunsystem mittels<br />
RNA-Impfstoffen dazu anregen, Krebszellen zu<br />
zerstören, muss man die Angriffsziele mit größter<br />
Vorsicht wählen, damit nicht auch gesunde<br />
Körperzellen angegriffen werden. Bei mRNA-<br />
Impfstoffen gegen das SARS-CoV-2- Virus<br />
bildet das Immunsystem hingegen Antikörper<br />
gegen ein Eiweiß des Virus, das sich von Körperzellen<br />
deutlich unterscheidet.<br />
9<br />
„EINE IMPFUNG IST KEINE<br />
GARANTIE DAFÜR, DASS ICH<br />
KEINE MASKE MEHR BRAUCHE“<br />
Das ist richtig. Es gibt bisher keine<br />
Daten dazu, ob Impfungen eine Übertragung<br />
des Virus auf andere minimieren oder verhindern<br />
können. Geimpfte können also selbst vor<br />
einer Erkrankung geschützt sein, theoretisch<br />
aber noch Viren weitergeben. „Damit haben<br />
wir die Wahrscheinlichkeit einer Erregerweitergabe<br />
dennoch deutlich reduziert“, so Christian<br />
Bogdan von der STIKO. „Denn wer nicht<br />
erkrankt, der hustet und niest auch nicht.“ Um<br />
festzustellen, ob Impfungen die Übertragung<br />
von Viren vollständig verhindern, werden<br />
Studien durchgeführt, die allerspätestens 2<strong>02</strong>2<br />
abgeschlossen sein sollten, schätzt Bogdan.<br />
10<br />
„ICH KANN TROTZ IMPFUNG<br />
AN COVID-19 ERKRANKEN“<br />
Das stimmt. Die Zulassungsstudien<br />
der mRNA-Impfstoffe<br />
belegen eine Wirksamkeit von 95 Prozent.<br />
Andersherum: Fünf von 100 Geimpften können<br />
trotzdem erkranken. In dem Fall schützt sie<br />
die Impfung aber vor einem schweren Verlauf.<br />
Im Vergleich: Die Wirksamkeit der Impfung<br />
gegen die saisonale Grippe wird vom Robert-<br />
Koch-Institut auf 62 Prozent geschätzt.<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 57
ANGST ∙ RISIKO<br />
Impfen oder<br />
nicht – das<br />
ist die Frage<br />
Impfen ist eine meist sehr persönliche Entscheidung, basierend<br />
auf der Abwägung zwischen dem Risiko, einen Impfschaden zu<br />
erleiden, und der Chance, die Folgen einer möglichen Erkrankung<br />
zu vermeiden. Da hilft ein Blick auf die Statistik<br />
Risiko eines schweren Verlaufs<br />
Von Covid-Erkrankten haben<br />
81 % einen milden Verlauf<br />
14 % einen schweren Verlauf<br />
5 % einen intensivpflichtigen Verlauf<br />
FOTO: ADOBE STOCK<br />
laut einer Analyse von 44 415 Covid-19-Patientinnen und -Patienten im<br />
chinesischen Wuhan; Quelle: Ständige Impfkommission<br />
58<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Text: Verena Fischer<br />
Sie ist allgegenwärtig, diese eine Frage.<br />
Ständig wird sie gestellt, noch bevor es<br />
überhaupt konkret wird. Freunde rufen<br />
an, oder man wacht des Nachts auf, um<br />
sie sich selbst zu stellen: Soll ich, oder soll ich<br />
nicht – mich impfen lassen? Soll ich meinen<br />
Eltern dazu raten? Antwort: selbstverständlich.<br />
Oder doch nicht? Was ist mit Nebenwirkungen,<br />
Langzeitfolgen? Besser abwarten?<br />
Fest steht: Solange nicht bewiesen ist, dass<br />
Geimpfte niemanden mehr anstecken können,<br />
ist dies eher eine rein persönliche denn eine<br />
ethische Entscheidung. Erst in drei bis sechs<br />
Monaten werden Studien Gewissheit bringen,<br />
werden wir wissen, ob die Vakzine auch „sterilisiert“,<br />
wie Wissenschaftler das nennen.<br />
»Es ist eine ganz<br />
persönliche<br />
Entscheidung.«<br />
Das Risiko, an Covid-19 zu sterben,<br />
steigt mit dem Alter deutlich an<br />
Altersstruktur der an/mit Covid Verstorbenen in Deutschland<br />
87 %<br />
70 Jahre und älter<br />
< 0,3 %<br />
59 Jahre und jünger<br />
83 Jahre<br />
beträgt das durchschnittliche Alter der Verstorbenen<br />
Quelle: Ständige Impfkommission<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 59
ANGST ∙ RISIKO<br />
»Schlicht eine<br />
Risiko- Nutzen-<br />
Abwägung.«<br />
„Im Moment sind es vor allem die Senioren, die<br />
wir impfen müssen, denn sie sind am meisten<br />
gefährdet. Wenn wir das schaffen, sind die Probleme<br />
der Auslastung von Krankenhäusern<br />
und speziell Intensivstationen sowie der hohen<br />
Sterblichkeit erst mal gelöst“, erklärt Christian<br />
Bogdan, Mitglied der Ständigen Impfkom mission<br />
(STIKO) am Robert-Koch-Institut (RKI).<br />
GESELLSCHAFTLICHER NUTZEN<br />
Doch um die Pandemiesituation langfristig<br />
unter Kontrolle zu bekommen, bedarf es bei 60<br />
bis 70 Prozent der Bevölkerung einer Immunität<br />
gegen die Krankheit. „Sonst sind zu viele<br />
Menschen infizierbar, was zu einer fortbestehenden<br />
Zirkulation von SARS-CoV-2 führt.<br />
Risiko einer Überlastung<br />
des Gesundheitssystems<br />
Auf den Intensivstationen deutscher Krankenhäuser sind<br />
FOTO: ADOBE STOCK<br />
22 401 Betten belegt<br />
4573 Betten frei – etwa 20 Prozent<br />
Intensivregister des RKI (Stand: 11. Februar <strong>2<strong>02</strong>1</strong>)<br />
60<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Häufigste<br />
Nebenwirkungen<br />
einer Impfung<br />
< 80 %<br />
Schmerzen an der<br />
Injektionsstelle<br />
< 60 %<br />
Müdigkeit<br />
< 30 %<br />
Muskelschmerzen<br />
und Schüttelfrost<br />
< 20 %<br />
Gelenkschmerzen<br />
< 10 %<br />
Fieber und Schwellung<br />
an der Injektionsstelle<br />
Bezogen auf den Impfstoff von<br />
Biontech/Pfizer. Informationen über andere<br />
Impfstoffe siehe Steckbriefe ab Seite <strong>26</strong><br />
Das wiederum birgt die Gefahr von Mutationen“,<br />
warnt Bogdan. „Dann könnte das Virus<br />
neue Stämme kreieren, die noch infektiöser<br />
und im ungünstigsten Fall nicht mehr mit der<br />
Impfung kompatibel sind, sodass man eine neue<br />
braucht“, ergänzt die österreichische Forscherin<br />
und Universitätsprofessorin Renée Schroeder.<br />
Derzeit sind drei Mutanten bekannt, die<br />
zumindest als stärker ansteckend gelten. Dass<br />
Viren sich im Lauf der Zeit verändern, ist ein<br />
natürlicher Prozess. „Bisher sind Impfstoffe<br />
auch gegen mutierte Virusversionen wirksam,<br />
außerdem können mRNA-Impfstoffe sehr<br />
schnell angepasst werden. Dennoch ist es das<br />
Ziel, möglichst schnell eine hohe Impfquote<br />
zu erreichen und so die Ausbreitung des Erregers<br />
im besten Fall komplett zu stoppen“,<br />
sagt die Biochemikerin.<br />
PERSÖNLICHE RISIKEN UND NUTZEN<br />
Eine Impfung schützt, je nach Impfstoff, mit<br />
einer Wirksamkeit von maximal 95 Prozent<br />
vor einer Covid-19-Erkrankung. Bricht die<br />
Erkrankung dennoch aus, senkt die Impfung<br />
auch bei weniger gut wirksamen Vakzinen<br />
aber zumindest das Risiko eines schweren Verlaufs.<br />
Ob darüber hinaus eine Ansteckung<br />
anderer unterbunden wird, ist derzeit ungewiss,<br />
WIE<br />
WAHRSCHEINLICH<br />
IST ES, DASS …<br />
… in meine Wohnung<br />
eingebrochen wird?<br />
1 : 487 (1)<br />
… ich an Covid-19 erkranke<br />
und daran sterbe?<br />
1 : 41 (2)<br />
… ich eine schwerwiegende<br />
Reaktion<br />
bei einer Covid-19-<br />
Impfung erleide?<br />
1 : 145 793 (3)<br />
… ich durch einen<br />
Blitzschlag sterbe?<br />
1 : 20 750 000 (4)<br />
… ich bei einem<br />
Flugzeugabsturz ums<br />
Leben komme?<br />
1 : 14 334 470 (5)<br />
(1) 2019 gab es laut BKA 87 145 Einbrüche und gemäß<br />
Bundesamt für Statistik 42,5 Millionen Wohnungen<br />
in Deutschland. (2) Die Fallsterblichkeit lag in<br />
Deutschland bisher laut RKI bei 2,43 Prozent. Sie ist<br />
aber stark altersabhängig (siehe Seite 59).<br />
(3) Laut Paul-Ehrlich-Institut von 27. Dezember 2<strong>02</strong>0<br />
bis 17. Januar <strong>2<strong>02</strong>1</strong>: 145 Fälle bei 1,14 Mio. Impfungen.<br />
(4) Vier von 83 Millionen Deutschen pro Jahr laut VDE.<br />
(5) 2019 weltweit 292 Flugunfalltote bei 4,2 Milliarden<br />
Flugpassagieren laut JACDEC.<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 61
ANGST ∙ RISIKO<br />
»Oft wird die<br />
Leistungsfähigkeit<br />
schlechter.«<br />
WIE<br />
WAHRSCHEINLICH<br />
IST ES, DASS …<br />
aus Sicht von Experten aber wahrscheinlich.<br />
Doch weist eine Impfung oft auch Neben wirkungen<br />
auf, normalerweise mit Beschwerden<br />
leichter oder mäßiger Intensität, die innerhalb<br />
weniger Tage abklingen. Nach der ersten Phase<br />
der Impfung von Risiko gruppen lassen sich<br />
seltene Nebenwirkungen gut ausschließen. Das<br />
wären solche, die bei weniger als einem von<br />
10 000 Geimpften auf treten. „Deshalb sehe ich<br />
keinen Anlass zu argumentieren: Na ja, ich lass<br />
mich noch nicht impfen, selbst wenn ich dran<br />
wäre, denn es können ja immer noch seltenere<br />
Nebenwirkungen auftreten“, so STIKO-Mitglied<br />
Bogdan. Über Langzeitfolgen der Impfung gibt<br />
es bisher keine wissenschaftlichen Daten.<br />
DAS RISIKO VON COVID-19-SPÄTFOLGEN<br />
Bekannt sind hingegen die Spätfolgen von<br />
Covid- 19-Erkrankungen. Ein Teil der Erkrankten<br />
leidet noch Wochen oder gar Monate nach<br />
der Infektion unter schweren Symptomen.<br />
Selbst dann, wenn es sich zuvor um leichte Verläufe<br />
ohne Klinikaufenthalt gehandelt hatte.<br />
Der Infektiologe Prof. Oliver Witzke betreut<br />
an der Uniklinik Essen die Post-Covid-Ambulanz.<br />
„Es sind viele jüngere Patienten dabei, die<br />
angeschlagen sind, Müdigkeits syndrome oder<br />
psychische Probleme ent wickeln“, berichtet er.<br />
„Oft wird die körperliche Leistungsfähigkeit<br />
schlechter, sei es durch eine Einschränkung der<br />
Lungenfunktion, ein Pro blem am Herzen oder<br />
durch nervliche Störungen. Selbst Herz muskelentzündungen<br />
kommen vor. Lungenfunktionsstörungen<br />
treffen eher schwer erkrankte Post-<br />
Covid-Patienten.“<br />
„Sich für oder gegen eine Impfung zu<br />
entscheiden basiert auf einer Risiko-Nutzen-<br />
Abwägung“, sagt Bodgan. Und da sollten<br />
die Krankheitsfolgen unbedingt ins<br />
Kalkül ein bezogen werden.<br />
… ein Kind, das mit dem<br />
Elterntaxi zur Schule gebracht<br />
wird, verletzt wird?<br />
1 : 893 (1)<br />
… ich beim Hausputz zu<br />
Tode komme?<br />
1 : 8<strong>26</strong>5 (2)<br />
PROF. DR. CHRISTIAN BOGDAN<br />
Professor für Mikrobiologie und<br />
Infektionsimmunologie<br />
Direktor des Mikrobiologischen<br />
Instituts der Universität Erlangen-<br />
Nürnberg. Seit 2011 Mitglied der<br />
Ständigen Impfkommission (STIKO)<br />
… ich durch einen Zeckenbiss<br />
an Borreliose erkranke?<br />
1 : 2439 (3)<br />
(1) 3247 Unfallverletzte bei 2,9 Millionen Schülern<br />
zwischen 6 und 9 Jahren im Jahr 2018 laut ADAC.<br />
(2) 2015 starben laut Generali-Versicherung<br />
9800 von 81 Millionen Deutschen beim Hausputz.<br />
(3) 41 Fälle pro 100 000 Zeckenbisse laut RKI.<br />
FOTO: ADOBE STOCK, PRIVAT (2)<br />
62<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
INTERVIEW<br />
»Die Vorteile sind<br />
still und unsichtbar,<br />
mögliche Schäden<br />
erschreckend laut«<br />
So banal es klingt: Nichts im Leben<br />
ist ohne Risiko. Und dennoch<br />
wünschen sich viele Menschen das<br />
Gegenteil: hundertprozentige Sicherheit.<br />
Hinzu kommt noch ein Problem:<br />
Menschen sind sehr schlecht darin,<br />
Risiken einzuordnen. Die britische<br />
Wissenschaftlerin Alexandra Freeman<br />
erklärt, wie das im Alltag besser<br />
gelingen kann<br />
WIR GEHEN IM ALLTAG STÄNDIG RISIKEN EIN.<br />
WIE KOMMT ES, DASS WIR BEI EINIGEN GE<br />
LASSEN BLEIBEN, WÄHREND UNS ETWA MÖG<br />
LICHE NEBENWIRKUNGEN EINER IMPFUNG IN<br />
ALARMBEREITSCHAFT VERSETZEN?<br />
Bei allem, was wir im Leben tun, geht es darum,<br />
die Vor- und Nachteile abzuwägen. Das läuft<br />
in den meisten Fällen unterbewusst ab. In der<br />
Regel wiegen dabei Risiken in ferner Zukunft<br />
leichter als solche, die unmittelbare Konsequenzen<br />
haben könnten. Die Freude, die ich<br />
habe, wenn ich in einen saftigen Cheeseburger<br />
beiße, lässt die möglichen Folgen für meine<br />
Gesundheit oder ökologische Bedenken in den<br />
Hintergrund rücken.<br />
WAS BEDEUTET DAS FÜR IMPFUNGEN?<br />
Eine Impfung ist Vertrauenssache. Sie erlauben<br />
jemandem, Ihnen eine Substanz zu injizieren.<br />
Sie müssen darauf vertrauen, dass die Beweise<br />
für den potenziellen Nutzen die Beweise<br />
für mögliche Schäden überwiegen. Dennoch<br />
werden Sie wahrscheinlich immer nur von<br />
den potenziellen Schäden hören und nie von<br />
Menschen, die die Impfung vor der Krankheit<br />
geschützt hat. Die Vorteile sind still und<br />
unsichtbar, die möglichen Schäden können<br />
erschreckend laut sein. Das macht es zu einer<br />
Frage des Vertrauens.<br />
IM MOMENT SIND WIR MIT VÖLLIG NEUEN<br />
RISIKEN KONFRONTIERT, DIE WIR<br />
SCHWER EINSCHÄTZEN KÖNNEN. WAS IST<br />
DER BESTE WEG, DAMIT UMZUGEHEN?<br />
Es gibt eine Menge Dinge, die wir jetzt über das<br />
Coronavirus wissen und verstehen. Aber ja, das<br />
DR. ALEXANDRA FREEMAN<br />
Kommunikations forscherin an der<br />
britischen Cambridge-Universität<br />
Alexandra Freeman hat Zoologie<br />
studiert und viele Jahre<br />
als Produzentin wissenschaftliche<br />
Serien für den britischen Fernsehsender<br />
BBC verantwortet.<br />
Seit 2016 ist sie Direktorin am<br />
Winton Centre für Risiko- und<br />
Evidenz kommunikation.<br />
vergangene Jahr hat uns gezeigt, wie wichtig<br />
es ist, mit Unsicherheit umgehen zu können.<br />
Unsicherheit erfordert Demut. Um vertrauenswürdig<br />
zu sein, müssen Sie offen für Ihre<br />
Unsicherheiten sein. Nur weil Politiker oder<br />
Forscher nicht alles wissen, heißt das nicht, dass<br />
sie nichts wissen.<br />
WIE KANN MAN ANGESICHTS SOLCHER<br />
UNSICHERHEITEN ENTSCHEIDUNGEN FÄLLEN?<br />
Wenn Sie angesichts der Unsicherheit gute<br />
Entscheidungen treffen wollen,<br />
versuchen Sie, ein vernünftiges<br />
Worst-Case-Szenario<br />
sowohl für den potenziellen<br />
Nutzen als<br />
auch für den möglichen<br />
Schaden<br />
abzuwägen.<br />
Und seien Sie bereit, Ihre<br />
Meinung zu ändern, wenn neue<br />
Beweise vorgelegt werden. Wir alle<br />
müssen flexibel und schnell sein,<br />
wenn sich die Beweislage ändert.<br />
Es ist keine Schande, die eigene<br />
Meinung oder Entscheidung zu<br />
ändern; es ist nur eine Schande,<br />
dies nicht zu tun.<br />
WIE WÜRDE EINE SOLCHE<br />
EINSCHÄTZUNG IM FALL<br />
EINER COVID19IMPFUNG<br />
AUSSEHEN?<br />
Hier gilt es für jeden, die bekannten<br />
Risiken einer Impfung und einer<br />
Covid-19-Infektion gegeneinander<br />
abzuwägen. Also: Was sind die schlimmsten<br />
Risiken einer Impfung – und was die<br />
schlimmsten Folgen einer Infektion mit<br />
Covid- 19? Und: Mit welcher Wahrscheinlichkeit<br />
treten die Risiken ein?<br />
Im Moment hat sich gezeigt, dass Impfstoffe<br />
Ihr Risiko verringern, an Covid-19 zu<br />
sterben. Das ist der Vorteil. Die mög lichen<br />
Schäden? Nun, wir wissen von einigen<br />
kurzfristigen Nebenwirkungen bei Hunderttausenden,<br />
die die Impfstoffe erhalten haben.<br />
Es gibt keine Hinweise auf Langzeitschäden,<br />
aber wir haben vielleicht noch nicht genug<br />
Daten dazu.<br />
Sollte sich herausstellen, dass der Impfstoff<br />
einen zusätzlichen Vorteil bringt, indem<br />
er verhindert, dass eine Person das Virus auf<br />
andere überträgt, wäre dies ein dritter Faktor,<br />
der abgewogen werden muss: ob der Nutzen,<br />
den Sie anderen und sich selbst bieten, den<br />
potenziellen Schaden für Sie selbst überwiegt.<br />
INWIEWEIT BEEINFLUSST DIE ART UND<br />
WEISE, WIE INFORMATIONEN KOM<br />
MUNIZIERT WERDEN, UNSERE WAHR<br />
NEHMUNG VON ANGST?<br />
Der Einfluss kann riesig sein. Wenn ich sage,<br />
dass sich ein bestimmtes Risiko verdoppelt<br />
hat, klingt das beängstigend. Hat es sich<br />
jedoch von 0,001 Prozent auf 0,0<strong>02</strong> Prozent<br />
verdoppelt, klingt das weit weniger angsteinflößend.<br />
Wenn ich sage, dass eine von zehn<br />
Personen bei einer Operation wahrscheinlich<br />
stirbt, dann ist das beunruhigend. Sage ich<br />
hingegen, dass 90 Prozent den Eingriff überleben,<br />
klingt das viel besser. Kommunikatoren<br />
haben große Macht über<br />
unsere Emotionen – und damit<br />
eine große Verantwortung.<br />
GIBT ES ETWAS,<br />
VOR DEM SIE<br />
PERSÖNLICH IN<br />
DER PANDEMIE ANGST HABEN?<br />
Angst ist nicht das richtige Wort.<br />
Natürlich ist Covid-19 eine Krankheit,<br />
die die Menschen schwächt und leider<br />
viele auch tötet. Wegen der neuen<br />
Virusvarianten, die sich schneller verbreiten,<br />
dürften die ersten Monate des<br />
Jahres <strong>2<strong>02</strong>1</strong> hier in Großbritannien<br />
weiterhin so schwierig sein, wie wir<br />
es in manchen Monaten des Jahres<br />
2<strong>02</strong>0 bereits erlebt haben. Und<br />
selbst nach dem Ende der akuten<br />
Krise wird es eine lange Erholungsphase<br />
geben – für viele Länder. All das<br />
beunruhigt mich, und es macht mich<br />
traurig für alle, die betroffen waren und<br />
noch sein werden.<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 63
KINDER ∙ IMPFEN<br />
Die Mehrheit der Mediziner ist<br />
sich völlig einig: Ungeimpft<br />
besteht für Kinder ein Risiko, das<br />
manche Eltern falsch einschätzen<br />
FOTO: GETTY IMAGES/PERIC, SEVI KOCH (2)<br />
Training fürs<br />
Immunsystem<br />
Auch Babys können tödliche Krankheiten besiegen – wenn ihre Abwehr<br />
vorher an Impfstoffen üben durfte. Welche Schutzimpfungen<br />
wann wichtig sind und wie Ihr Kind den <strong>Pieks</strong> schnell wieder vergisst<br />
64<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Text: Sina Horsthemke<br />
Als Caroline Cornfine schwanger war,<br />
machte sich ihr Mann Kuno auf die<br />
Suche nach seinem Impfpass. „Zuletzt<br />
war ich 1990 bei der Bundeswehr geimpft<br />
worden. Von da an ging ich eher blauäugig<br />
durchs Leben, was Impfungen angeht“, berichtet<br />
Kuno Cornfine. „Als aber klar war, dass wir unser<br />
erstes Kind bekommen, wollte ich das Baby<br />
auf keinen Fall mit irgendetwas anstecken.“ Weil<br />
sein Impfpass unauffindbar war, ging der damals<br />
45-Jährige zum Arzt und ließ sich „alles noch<br />
mal nachimpfen“.<br />
Fünf Jahre ist das jetzt her, und inzwischen<br />
sind die Cornfines zu viert: Drei Jahre nach<br />
Sohn Matiu kam Tochter Clara auf die Welt,<br />
die mittlerweile anderthalb ist. Die Familie aus<br />
Bayern ist so etwas wie die lebendig gewordene<br />
Empfehlung der Ständigen Impfkommission<br />
(STIKO).<br />
„Unser Impfschutz ist komplett“, sagt<br />
Caroline Cornfine. „Als ich wusste, dass ich<br />
schwanger werden will, habe ich meine Rötelnimpfung<br />
machen lassen. Außerdem haben wir<br />
alle Menschen im Familienkreis gebeten, die<br />
Impfung gegen Keuchhusten nachzuholen, weil<br />
der für Neugeborene sehr gefährlich ist. Unsere<br />
Kinder haben zum empfohlenen Zeitpunkt<br />
alle Impfungen bekommen. Wir haben bei<br />
keiner gezögert und alles so früh wie möglich<br />
impfen lassen.“<br />
»Ich wollte unser<br />
erstes Kind auf keinen<br />
Fall mit irgendetwas<br />
anstecken!«<br />
Kuno und Caroline Cornfine mit Kind<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 65
KINDER ∙ IMPFEN<br />
Das machen nicht alle Eltern so. Bis zu 20 Prozent<br />
gelten als „impfzögerlich“, sind skeptisch<br />
und verunsichert. Sie halten Impfen für riskant<br />
oder unnötig, lassen ihre Kinder deshalb erst<br />
spät impfen und verzichten ganz auf einzelne<br />
Impfungen. Manche vergessen schlicht die<br />
Arzttermine. Die Weltgesundheitsorganisation<br />
(WHO) zählt diese Zögerlichkeit zu den „zehn<br />
größten Gesundheitsproblemen 2019“. Sie ist<br />
ein Grund dafür, weshalb die WHO etwa die<br />
Ausrottung der Masern verfehlt hat – eigentlich<br />
sollte die Kinderkrankheit in Europa seit 2010<br />
Geschichte sein.<br />
ZWEI PROZENT IMPFGEGNER<br />
Dass sich in Deutschland immer noch jedes<br />
Jahr Hunderte Kinder damit anstecken, liegt<br />
auch an rigorosen Impfgegnern, die ihre Kinder<br />
gar nicht impfen lassen. Das sind allerdings nur<br />
etwa zwei Prozent der Eltern. Den Eindruck,<br />
dass es heute mehr gibt als früher, kann Martin<br />
Terhardt, Kinder-und Jugendarzt sowie Mitglied<br />
der STIKO, nicht bestätigen: „In den vergangenen<br />
40 Jahren hat sich an der Einstellung<br />
der Eltern zum Impfen nichts Gravie rendes<br />
geändert. Einige Impfskeptiker und noch weniger<br />
Impfgegner gab es immer schon.“<br />
Hartnäckig hielten sich bis heute Mythen wie<br />
jene, dass die Masernimpfung Autismus oder<br />
Allergien verursache, berichtet Terhardt,<br />
obwohl das zigfach durch aufwendige wissenschaftliche<br />
Untersuchungen widerlegt sei: „Wer<br />
sich nicht bei offiziellen Quellen informiert,<br />
gerät im Internet schnell auf die falsche Bahn.“<br />
»In den vergangenen<br />
40 Jahren hat sich<br />
an der Einstellung<br />
der Eltern zum Impfen<br />
nichts Gravierendes<br />
geändert.«<br />
Dr. Martin Terhardt, Kinder- und Jugendarzt<br />
Allgemein sei die Impfquote in Deutschland<br />
aber gar nicht so schlecht, sagt der Mediziner.<br />
Je nach Impfung seien 85 bis 95 Prozent der<br />
Kinder bei der Einschulung geschützt.<br />
Und das ist gut so, denn Impfen funktioniert:<br />
Es zeigt der körpereigenen Abwehr, wer ihr<br />
Feind ist, und macht sie für Jahre fit für eine<br />
COVID-19<br />
Unterschiedliche Ausprägung<br />
von Symptomen<br />
Erwachsene<br />
Kinder bis ca. 14 Jahre<br />
Husten (trocken)<br />
FOTO: ADOBE STOCK, STATISTA/ROBERT KOCH INSTITUT, WDR/AUFMKOLK<br />
Fieber<br />
Schnupfen<br />
Geruchs- und<br />
Geschmacksverlust<br />
Kurzatmigkeit<br />
Bauchschmerzen<br />
Durchfall<br />
Quellen: RKI, NHS, Johns Hopkins University, Patel (2<strong>02</strong>0), Tian et al. (2<strong>02</strong>0)<br />
häufig<br />
manchmal<br />
selten<br />
Einzelfälle<br />
66<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Begegnung mit dem Krankheitserreger. Ohne<br />
Impfung wäre das Immunsystem im Falle einer<br />
Infektion völlig unvorbereitet – und hätte oft<br />
keine Chance.<br />
Ob gegen Pocken, Tetanus, Masern oder<br />
Covid-19: Jede Impfung löst im Körper eine<br />
Immunantwort aus, die ihn nachhaltig vor<br />
der Krankheit schützt. Impfstoffe präsentieren<br />
der Abwehr den Feind in Form von abgeschwächten<br />
oder abgetöteten Erregern, ihren<br />
Bestandteilen oder einem Bauplan dafür (für<br />
eine genaue Beschreibung der Wirkung siehe<br />
Seite 38). Das bewirkt, dass der Körper Antikörper<br />
bildet und sich später Gedächtniszellen<br />
an den Eindringling erinnern, wenn es einmal<br />
ernst wird – um dann schnell zurückschlagen<br />
zu können.<br />
Seit es Impfungen gibt, kommen Infektionskrankheiten<br />
wie Diphtherie heute kaum mehr<br />
vor (siehe Grafik rechts). Während der „Würgeengel<br />
der Kinder“, wie die Erkrankung früher<br />
hieß, 1943 in Deutschland noch 245 000 Menschen<br />
heimsuchte, erkrankten 1964, kurz nach<br />
Einführung flächendeckender Impfungen,<br />
nur noch weniger als 1000. Die Masernimpfung<br />
hat die Kindersterblichkeit in ärmeren<br />
Ländern um bis zu 90 Prozent reduziert. Und<br />
Tetanus, der gefürchtete „Wundstarrkrampf “,<br />
der Betroffenen das „Teufelsgrinsen“ ins Gesicht<br />
treibt und ihnen durch Muskelkrämpfe sogar<br />
das Rückgrat brechen kann, ist zwar in Entwicklungsländern<br />
noch mitverantwortlich für<br />
hohe Säuglingssterblichkeit, sonst aber weitestgehend<br />
ausgemerzt.<br />
DER NESTSCHUTZ IST SCHNELL WEG<br />
Schon Babys zu impfen ist wichtig. Nur in ihren<br />
ersten Lebensmonaten verfügen sie über den<br />
sogenannten Nestschutz. Diese „Leihimmunität“<br />
von der Mutter bewahrt sie vor vielen Krankheitserregern,<br />
bis sich das kindliche Immunsystem<br />
entwickelt hat. Der Nestschutz geht jedoch<br />
nach und nach verloren. Deshalb empfiehlt die<br />
STIKO die erste Impfung – gegen Rotaviren –<br />
im Alter von sechs Wochen (siehe Seite 84).<br />
Weiter geht es in der neunten Lebenswoche mit<br />
einem Kombinationsimpfstoff gegen Diphtherie,<br />
Hepatitis B, Haemophilus influenzae, Keuchhusten,<br />
Kinderlähmung (Polio) und Tetanus.<br />
„Ziel ist, dass die Grundimmunisierung mit<br />
15 Monaten abgeschlossen ist“, erklärt Kinderund<br />
Jugendarzt Terhardt. Oft seien Kinder<br />
aber erst mit zwei bis sechs Jahren komplett geimpft,<br />
zum Beispiel weil sie zum Arzttermin<br />
Schnupfen hatten oder die Eltern den Zeitpunkt<br />
verpasst haben. „Zu oft sollte man die Termine<br />
nicht verschieben“, mahnt der Berliner Impfexperte.<br />
Jenen, die Sorge haben, ihre Kinder<br />
seien zu klein für eine Impfung, sagt Terhardt:<br />
„Das stimmt so nicht. Die Kinder sind viel eher<br />
zu klein für die Erkrankung.“<br />
Auch Judith Heinze machte sich große<br />
Sorgen, dass ihre Töchter mit ein paar Mona-<br />
DIPHTHERIE<br />
Anzahl der jährlich registrierten Fälle von Diphtherie<br />
in Deutschland nach Bundesländern im Jahr 2018<br />
Weil Polio, Tetanus, Diphtherie & Co. kaum vorkommen, verlieren sie ihren Schrecken: Wer nie ein Kind mit<br />
Diphtherie ersticken sah, dem erscheint das Impfrisiko mitunter größer als die Gefahr, sich anzustecken.<br />
Dabei ist die Gefahr einer Ansteckung auch in Deutschland immer noch real. Quelle: RKI/Statista <strong>2<strong>02</strong>1</strong><br />
ten noch zu klein zum Impfen seien. „Ich war<br />
immer schon total skeptisch und habe nur<br />
Medikamente genommen, wenn es unbedingt<br />
nötig war. Als unsere Tochter Paula auf der<br />
Welt war, hat uns der Kinderarzt erklärt, was<br />
wir unbedingt impfen müssen. Das haben wir<br />
dann gemacht – aber so spät wie möglich.“<br />
Während die zweifache Mutter eher vorsichtig<br />
ist, „hätte mein Mann wahrscheinlich alles<br />
sofort so impfen lassen, wie es die STIKO<br />
empfiehlt“.<br />
Er sei eher der statistische Typ, bestätigt<br />
Tobias Heinze, der Vater der mittlerweile elfjährigen<br />
Paula und ihrer kleinen Schwester Juna:<br />
„Klar gibt es Impfschäden, ganz schlimme sogar.<br />
Und wenn sie dein eigenes Kind betreffen,<br />
bist du mit Recht der größte Impfgegner. Aber<br />
trotzdem: Wenn von einer Million Kinder eines<br />
einen Impfschaden hat, dann sind 999 999 Kinder<br />
durch die Impfung ihr Leben lang gesund.“<br />
Als es bei der älteren Tochter Paula ans Impfen<br />
ging, wurde deutlich, dass die Eltern bei diesem<br />
Thema nicht immer einer Meinung sind.<br />
„Wir sind beide für das Impfen, aber unsere<br />
Herangehensweise ist unterschiedlich“, sagt der<br />
Vater, der Ingenieur ist und als Triathlontrainer<br />
arbeitet. „Weil ich selbst wenig Ahnung von<br />
Medizin habe, vertraue ich den Experten blind.<br />
Und wenn die sagen, diese Sechsfachimpfung<br />
für Babys sei gut, dann lasse ich die bei meinen<br />
Kindern machen.“<br />
SECHSFACHIMPFUNG ALS ROTES TUCH<br />
Die Sechsfachimpfung, die die jüngere Tochter<br />
Juna bekommen sollte, war für Mutter Judith<br />
Heinze dagegen ein rotes Tuch. „Für mein<br />
Gefühl war ja schon der Dreifachimpfstoff bei<br />
Paula damals zu viel. Ich dachte: Das machen<br />
wir auf gar keinen Fall!“ Die 40-Jährige fürchtete,<br />
dass Baby Juna noch nicht stark genug sei,<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 67
KINDER ∙ IMPFEN<br />
um gegen so eine Mehrfachimpfung anzukämpfen,<br />
und deshalb das Risiko für einen Impfschaden<br />
größer sei. Sie entschied gemeinsam mit<br />
dem Kinderarzt, nicht alles auf einmal, sondern<br />
einzeln nacheinander zu impfen. Ihr Mann<br />
ließ sie machen – ihm war vor allem wichtig,<br />
„dass die Kinder komplett geimpft sind, sobald<br />
sie in den Kindergarten kommen und dort<br />
auf andere Kinder treffen“.<br />
SKEPSIS, NICHT ABLEHNUNG<br />
Die Heinzes sind keine Impfgegner – von denen<br />
möchten sie sich klar distanzieren. Impfungen,<br />
die sie nicht für unbedingt nötig hielt, wollte<br />
Judith Heinze ihren Töchtern dennoch ersparen:<br />
„Über Hepatitis haben wir lange diskutiert und<br />
dann entschieden, die Impfung erst mal wegzulassen“,<br />
berichtet die zweifache Mutter. „Erst vor<br />
einer Auslandsreise haben wir sie nachgeholt.“<br />
Später als üblich erhielt die jüngere Tochter<br />
auch ihre Masernimpfung: „Paula haben wir<br />
recht früh impfen lassen, und sie bekam danach<br />
einen schlimmen Husten“, erzählt Judith Heinze.<br />
„Viele meiner Freunde meinten dann, das sei<br />
ein Impfschaden. Bei Juna hatte ich daher<br />
richtig Angst vor der Impfung und hätte sie fast<br />
weggelassen.“ Erst als ein Besuch bei Freunden<br />
in Berlin anstand und dort kurz vorher die<br />
Masern ausbrachen, holten die Heinzes die<br />
Impfung nach. „Denn plötzlich war die Gefahr<br />
ganz nah. Meine Freundin, die wir besuchen<br />
wollten, ist Ärztin. Sie sagte: Wenn dein Kind<br />
nicht gegen Masern geimpft ist, kannst du nicht<br />
nach Berlin kommen, das ist total gefährlich.“<br />
Für Vater Tobias Heinze war die Situation eine<br />
Bestätigung dafür, wie wichtig das Impfen ist:<br />
„Wir hatten die Masern doch fast ausgerottet.<br />
Und plötzlich brechen sie wieder aus, weil Leute<br />
ihre Kinder nicht impfen lassen? Da frage ich<br />
mich: Wie blöd ist das eigentlich?“<br />
Die Töchter der Heinzes, heute sieben und<br />
elf, haben mittlerweile alle Impfungen, die<br />
die STIKO empfiehlt – obwohl die Sorge vor<br />
Nebenwirkungen groß war. „Ich hatte jedes Mal<br />
Zweifel“, gibt ihre Mutter zu. „Doch ich habe<br />
mich auch jedes Mal gefragt: Will ich mein<br />
Leben lang schuld daran sein, wenn mein Kind<br />
krank wird und vielleicht sogar stirbt, weil ich<br />
es nicht habe impfen lassen? Auf keinen Fall.“<br />
Den Kontakt zu Impfgegnern im Bekanntenkreis<br />
habe die Familie abgebrochen, berichtet<br />
Vater Tobias Heinze: „Die stellten teilweise<br />
wirre Verschwörungstheorien auf und ließen<br />
gar keine andere Meinung zu.“<br />
Auch Caroline Cornfine, die Mutter von<br />
Matiu und Clara, hat eine klare Meinung zu<br />
Impfgegnern: „Es macht mich wütend, und ich<br />
kann das einfach nicht nachvollziehen: Man<br />
will doch seine eigenen Kinder schützen!“<br />
Wären die Schäden durch Impfungen größer als<br />
der Nutzen, davon ist die 37-Jährige überzeugt,<br />
„gäbe es das Konzept Impfen doch gar nicht“.<br />
Cornfine gibt zu, dass ihr eine Schluckimpfung<br />
lieber wäre: „Ich bin kein Spritzenfan. Aber<br />
es gibt eben keine Alternative, und die Kinder<br />
werden den <strong>Pieks</strong> schon vergessen.“ Auf die<br />
Mehrfachimpfung hätten beide stärker reagiert<br />
als auf andere, erinnert sie sich: „Matiu war<br />
müde und unruhig, und Clara bekam richtig<br />
Fieber. Mir ist eine einzige Impfung dennoch<br />
lieber als sechs einzelne.“<br />
Dass das Immunsystem eines Babys mit<br />
einem Sechsfachimpfstoff nicht überfordert ist,<br />
könne er versichern, sagt Kinder- und Jugendarzt<br />
Terhardt. „Es stimmt, dass die Infektionsabwehr<br />
in dem Alter noch nicht ausgereift ist.<br />
Aber wenn sie durch Impfen Bekanntschaft<br />
mit Krankheitserregern macht, ist das wie ein<br />
Training. Außerdem: Über das Essen und die<br />
Atemluft nimmt ein Kind täglich viel mehr<br />
Antigene auf, als in einer einzigen Sechsfachimpfung<br />
stecken.“<br />
ALLE FRAGEN IN RUHE BEANTWORTEN<br />
Terhardt ist es wichtig, verunsicherte Eltern<br />
ernst zu nehmen und auf ihre Sorgen einzugehen:<br />
„Gerade für junge Eltern mit dem ersten<br />
Kind ist das alles neu. Sie haben viele Fragen,<br />
die ihnen der Kinderarzt in Ruhe beantworten<br />
sollte.“ Stellen sich Eltern als Impfgegner<br />
heraus, verweist Terhardt sie nicht der Praxis –<br />
wie es tatsächlich manche seiner Kollegen tun:<br />
„Wenn ich sie rauswerfe, landen sie womöglich<br />
noch bei einem impfskeptischen Arzt, der<br />
solche Leute um sich schart. Das wäre mir<br />
auch nicht recht.“<br />
Terhardt sagt, er habe Mitleid mit den Kindern<br />
der Impfgegner, weil die Eltern an Mythen<br />
und Falschinformationen glaubten. „Ich erkläre<br />
ihnen, dass ihr Kind ein Recht hat, geschützt<br />
zu werden. Und dass sie ein Risiko in Kauf<br />
nehmen, das sie falsch einschätzen.“<br />
Konsequente Impfverweigerer lässt der Arzt<br />
sogar ein Formular unterschreiben, auf dem<br />
steht, dass ihnen die Risiken und die Verant-<br />
Kinder, die in den Kindergarten<br />
oder in die Schule gehen,<br />
müssen seit März 2<strong>02</strong>0 in Deutschland<br />
gegen Masern geimpft sein<br />
»Meine Freundin<br />
sagte: Wenn dein Kind<br />
nicht gegen Masern<br />
geimpft ist, kannst du<br />
nicht nach Berlin.«<br />
Judith Heinze mit Familie<br />
68<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
wortung bewusst sind, auch die für andere<br />
Kinder. Das bei Weitem größte Risiko gehe<br />
nämlich nach wie vor von der Erkrankung<br />
selbst aus. Doch weil sie kaum noch vorkommen,<br />
haben Polio, Tetanus, Diphtherie & Co.<br />
ihren Schrecken verloren: Wer nie ein Kind mit<br />
Diphtherie ersticken sah, dem erscheint das<br />
Impfrisiko mitunter größer als die Gefahr, sich<br />
anzustecken.<br />
Dabei sind die Nebenwirkungen einer Impfung<br />
überschaubar: „Rötungen und Schwellungen<br />
an der Einstichstelle sowie Allgemeinsymptome<br />
wie Kopfschmerzen und Müdigkeit für zwei,<br />
drei Tage gehören dazu“, sagt Terhardt. „All das<br />
ist ein Zeichen dafür, dass das Immunsystem<br />
arbeitet.“<br />
Impfkomplikationen seien selten, und oft<br />
könne der Zusammenhang zur Impfung gar<br />
nicht endgültig hergestellt werden. Das Paul-<br />
Ehrlich-Institut registriert bei über 40 Millionen<br />
Impfungen jedes Jahr in Deutschland etwa 3000<br />
bis 4000 Verdachtsfälle auf Impfkomplikationen.<br />
Das ist ohnehin schon ein geringer Anteil.<br />
Die allermeisten Fälle bestätigen sich zudem<br />
am Ende nicht. „Noch seltener sind Impfschäden,<br />
also bleibende Impfkomplikationen“, sagt<br />
Terhardt und verspricht besorgten Eltern: „Es<br />
FOTO: GETTY IMAGES/OLGA PANKOVA, PRIVAT<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 69
KINDER ∙ IMPFEN<br />
Auch wenn es so aussieht: Corona-<br />
Impfungen wird es für Kinder vorerst<br />
nicht geben. Die Impfstoffe sind<br />
bisher ab einem Alter von 16 oder<br />
18 Jahren getestet und zugelassen<br />
gibt kein Medikament, das nach der Zulassung<br />
so eng überwacht wird wie ein Impfstoff.“<br />
IMPFZWANG MUSS NICHT SEIN<br />
Eine Impfpflicht, wie sie in Italien, Lettland,<br />
Kroatien oder Ungarn gilt und zumindest für<br />
Masern seit März 2<strong>02</strong>0 auch in Deutschland, sei<br />
dennoch keine gute Lösung, um die Impfquote<br />
zu steigern, findet STIKO-Mitglied Terhardt:<br />
„Wer zur Masernimpfung verpflichtet wird<br />
und das als Zwang empfindet, lässt dafür eher<br />
andere Impfungen weg, was ein großer Nachteil<br />
wäre.“ Eine Impfpflicht schüre Zweifel an der<br />
Impfung und schaffe kein Vertrauen. „Vertrauen<br />
gehört aber zum Impfen dazu.“<br />
ANGST VORM IMPFEN<br />
Stress- und schmerzarmes Impfen – so geht’s<br />
‸ Babys, die noch gestillt werden, können<br />
vor oder während der Impfung an die Brust<br />
gelegt werden (außer bei der Impfung<br />
gegen Rotaviren). Alternativ beruhigt ein<br />
Schnuller.<br />
‸ Kindern unter zwei Jahren geben Eltern ein<br />
bis zwei Minuten vor der Impfung eine süße<br />
Flüssigkeit, empfiehlt das RKI.<br />
Grundsätzlich sollten Eltern, Arzt und Praxisangestellte Ruhe ausstrahlen. Sätze wie<br />
„Es tut gar nicht weh“ sind zu vermeiden. Bei ausgeprägter Impfangst kann ein Schmerzpflaster<br />
helfen, das vorher 30 bis 60 Minuten einwirken sollte, oder Kühlspray.<br />
Quellen: RKI, Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung<br />
‸ Kleinkinder unter drei Jahren werden beim<br />
Impfen am besten auf dem Arm gehalten.<br />
‸ Kinder ab drei Jahren sollten beim Impfen sitzen,<br />
etwa auf dem Schoß. Die Eltern können<br />
ihnen vorher erklären, wie der Arzt impft.<br />
‸ Kinder bis sechs Jahre lassen sich gut<br />
ablenken – von Luftballons, einem Spielzeug<br />
oder Musik.<br />
70<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
FERIENRATGEBER<br />
Reiseimpfungen<br />
bei Kindern<br />
Gerade auf Reisen ist ein vollständiger<br />
Impfschutz bei Kindern wichtig – viele<br />
Krankheiten kommen im Ausland<br />
noch häufiger vor, zudem drohen je nach<br />
Reiseziel Infektionen mit tropischen<br />
Erkrankungen. Neben den von der STIKO<br />
empfohlenen Impfungen müssen also<br />
gegebenenfalls weitere hinzukommen.<br />
Welche, das weiß der Kinderarzt,<br />
aber auch beim Tropeninstitut finden<br />
Eltern Rat.<br />
Mindestalter für Reiseimpfungen<br />
‸ Cholera: 2 Jahre<br />
‸ Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME):<br />
1 Jahr<br />
‸ Gelbfieber: 9 Monate<br />
‸ Hepatitis A: 1 Jahr<br />
‸ Influenza: 6 bzw. 24 Monate<br />
(Totimpfstoff/Lebendimpfstoff)<br />
‸ Japanische Enzephalitis: 2 Monate<br />
‸ Typhus: 2 bzw. 5 Jahre (parenteral/oral)<br />
Quelle: „Flugmedizin, Tropenmedizin, Reisemedizin 2“,<br />
Georg Thieme Verlag, 27. Jahrgang, April 2<strong>02</strong>0<br />
FOTO: ADOBE STOCK (2), GETTY IMAGES<br />
Vertrauen in die Impfstoffforschung hat gerade<br />
im Kampf gegen die Coronapandemie eine<br />
größere Bedeutung denn je. Viele Eltern fragen<br />
sich denn auch, ob ihre Kinder gegen Covid-19<br />
geimpft werden sollen und wann das der Fall<br />
sein könnte. „Bevor Studien an Kindern starten<br />
dürfen, muss die Sicherheit der Impfstoffe bei<br />
Erwachsenen endgültig nachgewiesen sein“, erklärt<br />
Terhardt. „Die Kinderimpfung ist sinnvoll<br />
und wird kommen, das wird aber noch eine<br />
Weile dauern.“ Gerade bei den mRNA-Impfstoffen<br />
müsse man „sehr genau hinschauen, da<br />
es sie noch nie gab“.<br />
Der in Deutschland entwickelte mRNA-Impfstoff<br />
(siehe Seite 22) war zum Redaktionsschluss<br />
dieser Zeitschrift ab 16 Jahren zugelassen, alle<br />
anderen Corona-Impfstoffe ab 18. Das liegt<br />
daran, dass in die bisherigen Studien nur Erwachsene<br />
und Jugendliche ab 16 eingeschlossen<br />
waren. An Kindern werden neue Medikamente<br />
immer zuallerletzt getestet, falls dort die Risiken<br />
höher sein sollten. Wie sie die Covid-19-Impfstoffe<br />
vertragen, ist also noch unbekannt.<br />
Die Jüngsten durch eine Impfung vor der<br />
Krankheit zu schützen ist ohnehin nicht allzu<br />
dringend: Anders als bei älteren Menschen sind<br />
schwere Krankheitsverläufe bei ihnen selten.<br />
Sinnvoll würde eine Impfung vor allem dann,<br />
wenn sich die Erwartung bestätigte, dass die<br />
Immunisierung auch die Weitergabe des Virus<br />
an andere verhindert. Dann würde der <strong>Pieks</strong><br />
dafür sorgen, dass Kinder die Krankheit nicht<br />
weiterverbreiten.<br />
Impfen ist ein emotionales Thema, gerade<br />
für Eltern. Bei aller Diskussion darf jedoch eines<br />
nicht vergessen werden: dass jeder Geimpfte<br />
zum Schutz der Gesellschaft beiträgt, indem<br />
er die „Herdenimmunität“ sichert. Jeder Ungeimpfte<br />
dagegen bringt jene in Gefahr, die sich<br />
nicht impfen lassen können: Neugeborene und<br />
Schwangere, Menschen mit Krebserkrankungen<br />
oder nach Organtransplantationen. Sie sind<br />
nur vor Infektionskrankheiten geschützt, wenn<br />
alle in ihrer Umgebung gesund bleiben – weil<br />
sie sich haben impfen lassen.<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 71
GESCHICHTE ∙ SEUCHEN<br />
Der Schwarze Tod: Schätzungen gehen<br />
davon aus, dass der Pest im<br />
14. Jahr hundert bis zu 20 Prozent der<br />
Weltbevölkerung zum Opfer fielen<br />
STÄNDIGE BEGLEITER<br />
Die Seuchen<br />
der Menschheit<br />
Die Geschichte der Menschheit ist auch eine<br />
Geschichte von Epidemien und Pandemien. Und immer<br />
beeinflussen sich Seuchen und gesellschaftliche<br />
Entwicklungen gegenseitig. Ein historischer Streifzug<br />
von der Attischen Seuche bis zu Corona<br />
FOTO: GEMEINFREI (3), STATISTA<br />
Text: Arnd Petry<br />
Die Druckerschwärze war kaum getrocknet,<br />
als diese Warnung Realität wurde:<br />
„Die Welt ist akut bedroht von einer<br />
verheerenden regionalen oder globalen<br />
Epidemie oder Pandemie, die nicht nur zu Todesfällen<br />
führen, sondern auch die Wirtschaft<br />
auf den Kopf stellen und soziales Chaos verursachen<br />
wird.“ So steht es in einem Bericht der<br />
Weltgesundheitsorganisation (WHO), veröffentlicht<br />
im September 2019. Sie hatte recht.<br />
Vor allem mit dieser Einschätzung: „Die Welt<br />
ist nicht vorbereitet auf eine Pandemie mit einem<br />
sich schnell verbreitenden, ansteckenden,<br />
die Atmung betreffenden Krankheitserreger.“<br />
Aber wird es bei der nächsten Pandemie<br />
besser laufen? Professor Dr. Heiner Fangerau<br />
ist da eher skeptisch. „Warum sollten wir besser<br />
sein als die Generationen vor uns?“, sagt der<br />
Arzt und Medizinhistoriker von der Universität<br />
Düsseldorf. Er muss es wissen, ist er doch<br />
Mitautor des 2<strong>02</strong>0 erschienenen Buchs „Pest<br />
und Corona – Pandemien in Geschichte,<br />
Gegenwart und Zukunft“.<br />
Die Geschichte der Seuchen offenbart Fangerau<br />
zufolge häufig ähnliche Verhaltensmuster.<br />
„Zunächst wurde – aus mitteleuropäischer<br />
Sicht – gesagt: Das ist weit weg.“ Danach<br />
habe man abgewiegelt: Es gebe wenige Fälle,<br />
die nicht die Masse beträfen. „In Phase drei<br />
setzt Aktionismus ein: Wir müssen was<br />
tun! Schließlich werden Schuldige gesucht.<br />
Attische Seuche: Begann mit ihr das Ende der klassischen Kultur Griechenlands?<br />
Da sind wir, glaube ich, auch schon dabei.“ Im<br />
Grunde müsse bei Pandemien immer die<br />
gleiche Abwägung getroffen werden, so der Historiker:<br />
„Wie viel Verkehr und soziales Leben<br />
schränkt man ein, wie viel lässt man zu?“ Dafür<br />
gebe es stets mehr als eine Handlungsoption.<br />
72<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
ATHEN MACHT DEN ANFANG:<br />
ATTISCHE SEUCHE<br />
Infektionskrankheiten und die von ihnen<br />
ausgelösten Seuchen haben die Entwicklung der<br />
menschlichen Zivilisation schon immer begleitet.<br />
Einige waren einschneidende Ereignisse, die<br />
den Lauf der Geschichte verändert haben. Andere<br />
sind im kulturellen Gedächtnis geblieben,<br />
weil sie von den Zeitgenossen als besonders<br />
katastrophal wahrgenommen wurden.<br />
Die erste Epidemie, die in der Geschichtsschreibung<br />
erwähnt wird, ist die Attische<br />
Seuche (430–4<strong>26</strong> v. Chr.). Während des Peloponnesischen<br />
Krieges kämpften Sparta und<br />
Athen um die Herrschaft in Griechenland. Als<br />
die Spartaner anrückten, zogen sich die Athener<br />
hinter ihre Stadtmauern zurück. Ein Fehler!<br />
Denn ein Krankheitserreger hatte nun leichtes<br />
Spiel mit der in der Stadt zusammengepferchten<br />
Bevölkerung. Etwa ein Drittel der Einwohner<br />
Athens starb.<br />
Die Seuche und die Niederlage der Athener<br />
haben wahrscheinlich das Ende der klassischen<br />
Kultur Griechenlands eingeläutet.<br />
Zwar findet man für diese Seuche auch die<br />
Bezeichnung Attische Pest, ein Hinweis auf<br />
den Erreger ist das aber nicht. Denn bis heute<br />
werden viele Seuchen der Antike und des Mittelalters<br />
als Pest bezeichnet (lateinisch: pestis)<br />
– ein Begriff für ansteckende, todbringende<br />
Krankheiten. Wahrscheinlich war eine Typhusepidemie<br />
(auch Fleckfieber genannt) für die<br />
Attische Seuche verantwortlich. Der Erreger der<br />
echten Pest wurde im Jahr 1894 entdeckt.<br />
Weltweite Todesfälle durch Epidemien<br />
12 Millionen<br />
5 Millionen<br />
3 Millionen<br />
SINNBILD FÜR SEUCHEN:<br />
DER SCHWARZE TOD<br />
Die Pestpandemie der Jahre 1346 bis 1353 ist<br />
laut Fangerau die „ikonische Seuche in der<br />
Geschichte Europas – das Synonym für das<br />
unausweichlich massenhafte Sterben vieler<br />
Menschen in kürzester Zeit“.<br />
Angefangen hatte die Pandemie in den<br />
Steppen Asiens – bis heute ein Reservoir des<br />
bakteriellen Erregers. Über die damaligen<br />
Handelswege, das Schwarze Meer und das<br />
Mittelmeer erreichte sie schließlich die Hafenstädte<br />
Frankreichs und Italiens. Von dort<br />
56 Millionen<br />
45 Millionen<br />
40 Millionen<br />
39 Millionen<br />
200 Millionen<br />
Aus diversen Quellen hat Statista die tödlichsten Pandemien der Menschheitsgeschichte zusammengetragen.<br />
Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto ungenauer sind die Zahlen. Bei der Antoninischen Pest<br />
handelte es sich wohl um die Pocken. Die Coronapandemie läge mit bislang 2,3 Millionen Toten auf Platz 9<br />
aus eroberte die Pest unaufhaltsam den<br />
gesamten Kontinent mit der damaligen Reisegeschwindigkeit:<br />
rund 30 Kilometer pro Tag.<br />
Wie viele Menschen in Europa starben, lässt<br />
sich nur sehr grob schätzen. 25 Millionen? 50?<br />
Oder sogar 80 Millionen, und das bei damals<br />
circa 400 Millionen Menschen weltweit? Doch<br />
während der Pesterreger in manchen Städten<br />
bis zu 80 Prozent der Einwohner tötete, kamen<br />
einige Landstriche in der ersten Pestwelle<br />
ungeschoren davon. Sicher ist: Die Pest löschte<br />
mancherorts Generationen aus. Danach<br />
musste dort das gesamte Alltagsleben – Land-<br />
Grippe, Pest und andere Pandemien: Seuchen, die Geschichte machten<br />
um 3500 v. Chr.<br />
Die erste Pandemie der Menschheitsgeschichte?<br />
In Asien und Europa, nachgewiesen<br />
anhand von Knochen- und Zahnfunden.<br />
Erreger: Pestbakterien<br />
165–180<br />
Antoninische Pest im Römischen Reich.<br />
Römische Truppen schleppen die Krankheit<br />
aus Mesopotamien (heute Irak) ein.<br />
Erreger: wahrscheinlich Pocken- oder<br />
Masernviren<br />
541–770<br />
Justinianische Pest<br />
Der erste geschichtlich erwähnte „echte“<br />
Pestausbruch in Europa. Betroffen ist<br />
vor allem das Oströmische Reich. Ursprung:<br />
vermutlich Indien oder Afrika<br />
430–4<strong>26</strong> v. Chr.<br />
Attische Seuche im belagerten<br />
Athen. Erste geschichtliche<br />
Erwähnung einer Seuche.<br />
Erreger: vermutlich Typhusbakterien<br />
(Fleckfieber)<br />
250–271<br />
Cyprianische Pest Die Epidemie verbreitet sich<br />
von Afrika (Äthiopien, Ägypten) aus im Römischen<br />
Reich. Erreger: wahrscheinlich Pockenviren<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 73
GESCHICHTE ∙ SEUCHEN<br />
wirtschaft, Handel, Handwerk – neu organisiert<br />
werden.<br />
Letztlich habe die Seuche die Glaubens- und<br />
Lebenswelt des Mittelalters erschüttert und den<br />
Boden für die Renaissance bereitet, so Fangerau.<br />
Wer Schuld an dem Desaster hatte, war<br />
nach Ansicht der Überlebenden klar: Die Juden<br />
mussten als Sündenbock herhalten. In vielen<br />
Städten Mitteleuropas wurden sie verfolgt.<br />
Hunderte wurden bei gewaltsamen Ausschreitungen<br />
– den Pestpogromen – ermordet.<br />
FOTO: DPA PICTURE-ALLIANCE (2), GEMEINFREI (3)<br />
TRANSATLANTISCHER „HANDEL“:<br />
POCKEN GEGEN SYPHILIS<br />
Im Fall der Pockenviren ist die wirkliche<br />
Schuldfrage schnell zu beantworten: Der Tod<br />
kam mit den Spaniern übers Meer. Denn als<br />
der spanische Eroberer Hernán Cortés 1519<br />
mit seinen Söldnern das 25-Millionen-Volk der<br />
Azteken im heutigen Mexiko angriff, hatte er –<br />
ohne es zu wissen – eine wirksame „Biowaffe“<br />
im Gepäck: die Pocken. Sie und die anderen von<br />
den Spaniern eingeschleppten Krankheitserreger<br />
wie Masern, Mumps, Influenza, Typhus oder<br />
Tuberkulose, die in der Neuen Welt zuvor<br />
unbekannt gewesen waren, töteten in den Jahren<br />
zwischen 1520 und 1580 wahrscheinlich<br />
etwa 80 Prozent der Menschen Mittelamerikas.<br />
Allein in Mexiko ging die Bevölkerung in jener<br />
Zeit von 25 Millionen auf 2,5 Millionen zurück.<br />
Allerdings kehrten die Spanier auch bei<br />
den Krankheitserregern nicht mit leeren Händen<br />
zurück. Zur Fracht der spanischen Galeonen<br />
gehörte neben dem Raubgold eine echte Geißel<br />
für die Alte Welt: Treponema pallidum, der<br />
bakterielle Erreger der Syphilis.<br />
Doch was sollte uns dieses Kapitel der Seuchengeschichte<br />
lehren? Heiner Fangerau gibt<br />
Spanische-Grippe-Patienten 1918 in einem Notfallkrankenhaus der Militärbasis Fort Riley in Kansas, USA.<br />
An dieser Influenzapandemie starben bis 1920 einigen Schätzungen zufolge bis zu 100 Millionen Menschen<br />
die Antwort in seinem Buch: „Seuchen und ihre<br />
Verbreitung sind in ein soziales und kulturelles<br />
Umfeld sowie in das menschliche Handeln<br />
eingebunden und können nur in dieser breiten<br />
Sicht verstanden werden.“<br />
PANDEMIE PAR EXELLENCE:<br />
SPANISCHE GRIPPE<br />
Die Spanische Grippe wütete von 1918 bis 1920.<br />
Das Influenzavirus vom Subtyp A/H1N1 tötete<br />
wahrscheinlich 35 bis 50 Millionen Menschen<br />
weltweit, manche Schätzungen liegen sogar bei<br />
100 Millionen. Unzweifelhaft ist jedenfalls,<br />
dass die Pandemie mehr Opfer forderte als der<br />
Erste Weltkrieg, der 1918 endete. Die Schuld an<br />
der tödlichen Pandemie wurde in Europa<br />
dem jeweiligen Kriegsgegner in die Schuhe<br />
geschoben.<br />
Nach Ansicht der Franzosen waren Bio waffen<br />
der Deutschen die Auslöser der Katastrophe.<br />
Für die Deutschen war klar: Amerikaner und<br />
Franzosen waren schuld. Aufseiten der deutschen<br />
Heeresleitung wurde die Krankheit nicht<br />
ernst genommen. Grippekranke Soldaten<br />
galten als Simulanten.<br />
Im Deutschen Reich forderten bereits zu<br />
der Zeit viele Ärzte, Theater zu schließen und<br />
Veranstaltungen abzusagen. Und das ist nicht<br />
1346–1353<br />
Der Schwarze Tod Die Pest<br />
breitet sich von Asien über<br />
fast ganz Europa aus. Ein<br />
Drittel der Bewohner Europas<br />
stirbt (vor allem in Städten).<br />
Ursprung: vermutlich um 1330<br />
in Zentralasien/China<br />
1520–1580<br />
Kolumbus-Effekt<br />
In Mittel- und Südamerika töten<br />
„europäische Erreger“ wie die<br />
Pocken Millionen Ureinwohner. Im<br />
Gegenzug gelangt die Syphilis<br />
nach Europa<br />
1889–1895<br />
Russische Grippe Die bis dahin<br />
schlimmste Influenzapandemie. Eine<br />
Grippewelle aus dem zentralasiatischen<br />
Teil Russlands breitet sich über<br />
Europa und dann weltweit aus. Eine<br />
Million Menschen sterben<br />
1485–1551<br />
Englischer Schweiß<br />
Fünf Seuchenwellen,<br />
hauptsächlich in England.<br />
Erreger unbekannt<br />
1708–1714<br />
Die Große Pest Während des Großen Nordischen Kriegs<br />
in Nord- und Osteuropa, vor allem im Ostseeraum.<br />
Aufgrund der Pestgefahr wird in Berlin 1710 die Charité<br />
gegründet. Ursprung: Zentralasien<br />
74<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Grippekranke Soldaten galten als Simulanten, eine Zeichnung aus der Zeit gibt dies wieder. Major: „Etwas<br />
Besonderes?“ Wärter: „Nein, Herr Major! Bloß von den Grippe-Simulanten sind wieder zwei gestorben.“<br />
die einzige Parallele zur aktuellen Coronapandemie:<br />
„Die Spanische Grippe traf auf eine<br />
Medizin in der Hochphase“, erklärt Heiner<br />
Fangerau. „Die Bakteriologie war zwar eine<br />
relativ junge Disziplin, die aber schon zu vielen<br />
Erfolgen im Kampf gegen Infektionskrankheiten<br />
geführt hatte. Man dachte, man habe<br />
alle Instru mente in der Hand, um so einer<br />
Pandemie begegnen zu können. Und dann fand<br />
man den Erreger nicht.“ Schließlich habe<br />
diese „selbstbewusste Medizin“ im Unwissen<br />
agieren und auf traditionelle Maßnahmen<br />
wie Händewaschen und Maskentragen zurückgreifen<br />
müssen. Die therapeutischen Bemühun-<br />
gen waren wirkungslos, Konjunktur hatten Tees<br />
und Hausmittel wie Alkohol und Hühnersuppe.<br />
ZUKUNFT MIT ZOONOSEN:<br />
NEUARTIGE ERREGER<br />
Seit der Spanischen Grippe hat wohl kein<br />
Krankheitserreger die Welt derart fest im Griff<br />
gehabt wie jetzt SARS-CoV-2. Bis zu der<br />
nächsten großen Pandemie wird es aber wahrscheinlich<br />
nicht wieder 100 Jahre dauern: Epidemien<br />
mit „neuartigen Krankheitserregern“<br />
bleiben eine dauerhafte Gefahr. Infektionskrankheiten<br />
wie SARS, MERS, Ebola oder Zika,<br />
die in den vergangenen zehn Jahren regelmäßig<br />
die Nachrichten bestimmten, sind dem<br />
erwähnten WHO-Report zufolge die „Vorläufer<br />
einer neuen Ära von sich potenziell schnell<br />
ausbreitenden High-Impact-Ausbrüchen, die<br />
immer häufiger registriert werden und zunehmend<br />
schwierig zu managen sind“. Allein<br />
zwischen 2011 und 2018 zählte die WHO<br />
1483 epidemische Ereignisse in 172 Ländern.<br />
Angefeuert werden solche Krankheitsausbrüche<br />
durch ökologische, ökonomische, politische<br />
und soziale Entwicklungen, die heute – anders<br />
als zu früheren Zeiten – kritische Grenzen<br />
erreichen: Zu Jesu Zeiten gab es 300 Millionen<br />
Menschen auf der Welt, im Jahr 1800 eine<br />
Mil liar de, heute leben 7,8 Milliarden potenzielle<br />
Virusüberträger auf dem Globus – in dicht<br />
bebauten Millionenstädten, vernetzt durch Tourismus<br />
und eine Weltwirtschaft mit Lieferketten<br />
bis in die hintersten Winkel der Erde.<br />
Angesichts solcher Zukunftsaussichten sollten<br />
sich Staaten und internationale Organisationen<br />
besser auf globale Gesundheitsnotstände<br />
vorbereiten, mahnen die WHO-Experten.<br />
Im Bericht heißt es: „Viel zu lange haben wir bei<br />
Pandemien einen Zyklus zwischen Panik und<br />
Vernachlässigung zugelassen: Wir fahren bei einer<br />
ernsten Bedrohung unsere Anstrengungen<br />
hoch – wenn die Gefahr abklingt, vergessen wir<br />
sie schnell. Es ist höchste Zeit zu handeln.“<br />
AUFKLÄREN ODER WEGSPERREN?<br />
AIDS IN DEN ACHTZIGERN<br />
Beispielhaft für dieses Pingpong zwischen politischen<br />
Panikreaktionen und gesellschaftlicher<br />
Gleichgültigkeit steht der Umgang mit dem<br />
Immunschwächesyndrom Aids (Acquired Immune<br />
Deficiency Syndrome). Anfangs galt Aids<br />
als „Schwulenseuche“, als Randgruppenkrank-<br />
1890–1911<br />
Pestpandemie Der letzte große Seuchenzug der<br />
Pest. Weltweit 15 Millionen Tote. Europa bleibt<br />
weitgehend verschont (dank besserer Medizin<br />
und Quarantänemaßnahmen). Ursprung: China<br />
1957–1959<br />
Asiatische Grippe Schlimmste<br />
Influenzapandemie seit der<br />
Spanischen Grippe. Weltweit<br />
etwa zwei Millionen Tote.<br />
Erreger: Influenzavirus<br />
1968–1970<br />
Hongkong-Grippe Weltweit circa eine Million Tote.<br />
Erreger: Influenzavirus, Subtyp A/H3N3<br />
1918–1920<br />
Spanische Grippe Die verlustreichste<br />
Pandemie der Geschichte.<br />
35 bis 50 Millionen Tote. Erreger:<br />
Influenzavirus, Subtyp A/H1N1<br />
seit 1961<br />
Siebte Cholerapandemie Die längste und immer<br />
noch andauernde Pandemie. Ausbrüche weltweit.<br />
Ursprung: Indonesien<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 75
GESCHICHTE ∙ SEUCHEN<br />
heit. Als klar wurde, dass das Humane Immundefizienz-Virus<br />
(HI-Virus, HIV) das Zeug zur<br />
Pandemie hat, war, so Heiner Fangerau, die<br />
Aufregung groß: „Noch heute prominente CSU-<br />
Politiker schlugen vor, Infizierte kasernieren zu<br />
lassen, und forderten zwangsweise Testungen<br />
etwa von Prostituierten. Die Bundesregierung<br />
diskutierte, ob man auf scharfe Maßnahmen –<br />
Isolation der Infizierten – oder auf Aufklärung<br />
setzen sollte.“<br />
Dank der damaligen Gesundheitsministerin<br />
Rita Süssmuth (CDU) habe man es zunächst<br />
mit ärztlicher Aufklärung und Beratung versucht<br />
(Slogan der Kampagne: „Gib Aids keine<br />
Chance – Kondome schützen“). Erfolgreich,<br />
wie man heute weiß – auch dank des gut kontrollierbaren<br />
Übertragungswegs: Sex und<br />
Blutkontakt, kein Risiko im Alltagsleben. „Das<br />
ist der große Unterschied zu SARS-CoV-2.<br />
Die Pandemie hat sich anders entwickelt und ist<br />
schließlich in den Normalbestand der Krankheiten<br />
zurück geführt worden.“<br />
Und heute? Aids ist nicht verschwunden.<br />
Laut WHO tragen gegenwärtig weltweit mehr<br />
als 38 Millionen Menschen das HI-Virus in<br />
sich. Die meisten in Afrika, in dessen Regenwäldern<br />
der Theorie nach die Vorgänger des<br />
Aids-Erregers vor etwa 100 Jahren erstmals den<br />
Sprung vom Affen auf den Menschen schafften.<br />
Insgesamt sind seit der Entdeckung von HIV<br />
Anfang der Achtzigerjahre weltweit nach der<br />
höchsten Schätzung 39 Millionen Menschen<br />
gestorben. Einen Impfstoff gibt es nicht. Immerhin<br />
kennen acht von zehn Betroffenen heute<br />
ihren HIV-Status; zwei von drei Infizierten<br />
bekommen antiretrovirale Medikamente, die<br />
bei dauerhafter Einnahme eine fast normale<br />
Lebenserwartung möglich machen.<br />
BUCHTIPP<br />
Pest und Corona: Pandemien<br />
in Geschichte, Gegenwart<br />
und Zukunft<br />
Heiner Fangerau,<br />
Alfons Labisch<br />
Herder Verlag 2<strong>02</strong>0<br />
191 Seiten, 18 Euro<br />
ISBN 978-3-451-38879-8<br />
AUS DER KRISE GELERNT:<br />
POLIOEPIDEMIE 1952<br />
Dass eine Krise wie die aktuelle Coronapandemie<br />
den Anstoß zu Entwicklungen geben<br />
kann, von denen Patienten bei zukünftigen<br />
Krankheitsausbrüchen profitieren, zeigt ein<br />
Blick auf den Ausbruch der Kinderlähmung in<br />
Kopenhagen. Die Hauptstadt Dänemarks<br />
war im Sommer 1952 „das Epizentrum einer<br />
der schlimmsten Polioepidemien, die die Welt<br />
je gesehen hat“, so die Intensivmedizinerin<br />
Hannah Wunsch von der University of Toronto<br />
in einem Artikel im Wissenschaftsmagazin<br />
„Nature“. Doch in Kopenhagen gab es nur eine<br />
einzige Eiserne Lunge, mit der die am stärksten<br />
von der Kinderlähmung betroffenen Patienten<br />
beatmet werden konnten. In den ersten Wochen<br />
starben daher 87 Prozent aller Patienten, bei<br />
denen das Virus das Atemzentrum angegriffen<br />
hatte.<br />
Der junge Anästhesist Björn Ibsen hatte<br />
angesichts der fatalen Lage eine „radikale Idee“,<br />
so Hannah Wunsch, „sie änderte den Kurs der<br />
modernen Medizin“. Ibsen schlug vor, mithilfe<br />
eines Luftröhrenschnitts über einen Schlauch<br />
Eine Eiserne Lunge.<br />
Weil es 1952 nur<br />
eine in Kopenhagen<br />
gab, erfand ein<br />
junger Arzt den<br />
Luftröhrenschnitt<br />
zur aktiven<br />
Beatmung<br />
seit 1980<br />
Aids Immunschwächesyndrom,<br />
ausgelöst durch das Humane Immundefizienz-Virus<br />
(HIV). Weltweit bis heute<br />
bis zu 39 Millionen Tote. Ursprung:<br />
Zentralafrika (zwischen 19<strong>02</strong> und 1921)<br />
2012<br />
MERS-Epidemie Arabische<br />
Halbinsel. Das MERS-Coronavirus<br />
wird von Fledermäusen<br />
über Kamele auf Menschen<br />
übertragen. Circa 2500 Tote<br />
2014–2016<br />
Ebolaepidemie in Westafrika.<br />
Erreger: Ebolavirus, erstmals<br />
entdeckt 1976 am Fluss<br />
Ebola (Kongo)<br />
20<strong>02</strong>/03<br />
SARS-Pandemie Erste Pandemie des 21. Jahrhunderts.<br />
Erstes Auftreten eines SARS-Coronavirus (SARS-CoV).<br />
Hauptsächlich betroffen: China, Hongkong, Taiwan,<br />
Singapur und Kanada. Etwa 8000 Tote<br />
seit 2013<br />
Chikungunya-Fieber in der Karibik<br />
und in Zentral- und Südamerika.<br />
Erreger: Chikungunyavirus<br />
76<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
FOTO: DPA PICTURE-ALLIANCE, GETTY IMAGES, GEMEINFREI (3), PR<br />
„Gib Aids keine Chance“:<br />
Bis heute starben weltweit bis zu<br />
39 Millionen Menschen an<br />
der Immunschwächepandemie<br />
IMPRESSUM<br />
GESCHÄFTSFÜHRUNG<br />
Alexandra Jahr<br />
REDAKTION<br />
CHEFREDAKTEUR: Thomas Borchert (v.i.S.d.P.)<br />
REDAKTIONSLEITUNG: Stefan Glowa<br />
BILDREDAKTION: Laura Nenz<br />
SCHLUSSREDAKTION: Sebastian Schulin<br />
AUTOREN UND MITARBEITER<br />
Verena Fischer, Heinz-Jürgen Köhler, Hopp<br />
und Frenz, Sina Horsthemke, Iunia Mihu, Arnd<br />
Petry, Tom Rademacher, Beate Wagner<br />
INTERNET<br />
www.pieks-magazin.de<br />
ANZEIGENLEITUNG<br />
Thomas Quast, Tel: 040 38906-473<br />
E-Mail: thomas.quast@jahr-media.de<br />
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Nr. 1 vom 1. Januar <strong>2<strong>02</strong>1</strong><br />
Luft direkt in die Lungen der Patienten zu<br />
leiten. Das war in dieser Form bis dahin nur<br />
kurzzeitig bei OPs praktiziert worden.<br />
Für die Langzeitbeatmung von Patienten<br />
gab es Eiserne Lungen: monströse röhrenartige<br />
Beatmungsmaschinen, in denen die Patienten<br />
lagen. Nur der Kopf guckte raus. Die Maschinen<br />
erzeugten um den Rumpf der Patienten ein<br />
Vakuum, sodass Luft von außen in die Lungen<br />
gesogen wurde. Dank der Idee von Björn Ibsen<br />
konnten 1952 in Kopenhagen 120 Patienten<br />
gerettet werden. Weil es Beatmungsgeräte, wie<br />
wir sie heute kennen, noch nicht gab, wechselten<br />
sich Studenten in Vierstundenschichten ab<br />
und beatmeten die Patienten manuell mit Beatmungsbeuteln<br />
– rund um die Uhr, wochenlang.<br />
Nach der Epidemie zogen die dänischen<br />
Gesundheitsmanager Konsequenzen. Sie<br />
hatten gelernt, dass es möglich ist, Menschen<br />
über Wochen mittels Überdruckbeatmung<br />
am Leben zu halten. Und auch, dass es sinnvoll<br />
ist, alle zu beatmenden Patienten an einem Ort<br />
zusammenzubringen, wo Ärzte und Pflegekräfte<br />
Erfahrung mit dieser Art der Behandlung<br />
haben. Ein Jahr nach der Epidemie entstand<br />
in Kopenhagen die weltweit erste Intensivstation.<br />
Dort wurden die ersten Geräte für Langzeitbeatmung<br />
entwickelt.<br />
Ihre Nachfolger versorgen heute auf den Intensivstationen<br />
dieser Welt schwer an Covid-19<br />
erkrankte Menschen mit lebensnotwendiger<br />
Atemluft.<br />
MARKETING/KOOPERATION<br />
Elena Drossidis, Tel: 040 38906-278<br />
E-Mail: elena.drossidis@jahr-media.de<br />
PRODUKTION<br />
PRODUKTIONSMANAGEMENT:<br />
Hauke Rieffel (Ltg.), Sybille Hagen<br />
GRAFIK: Philip Refeld, digitaldeck.de<br />
LITHOGRAPHIE: Alphabeta GmbH, Hamburg<br />
DRUCK: NEEF+STUMME premium<br />
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29378 Wittingen<br />
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Meßberg 1, 20086 Hamburg,<br />
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seit 2016<br />
Choleraepidemie im Jemen. Größter<br />
Choleraausbruch der Geschichte.<br />
Etwa 1,7 Millionen Tote. Teil der siebten<br />
Cholerapandemie<br />
seit 2018<br />
Masernausbrüche<br />
in Madagaskar,<br />
Samoa und der DR Kongo<br />
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Hamburger Sparkasse BIC HASPDEHHXXX<br />
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Manuskripte, Bilder, Dateien und Datenträger.<br />
Kürzung und Bearbeitung von Beiträgen und<br />
Leserbriefen bleiben vorbehalten. Zuschriften<br />
und Bilder können ohne ausdrücklichen<br />
Vorbehalt veröffentlicht werden.<br />
2018–2<strong>02</strong>0<br />
Ebolaepidemie in Uganda und<br />
der DR Kongo. Die Epidemie<br />
kann mithilfe eines neuartigen<br />
Impfstoffs gestoppt werden<br />
seit 2019<br />
Coronapandemie<br />
Erreger: SARS-Coronavirus-2<br />
(SARS-CoV-2).<br />
Ursprung: China<br />
LESERSERVICE:<br />
040 - 389 06-880<br />
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Fragen an die Redaktion<br />
Redaktion pieks,<br />
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22763 Hamburg
GESCHICHTE ∙ KLASSIKER<br />
Coronavirus<br />
Rhinovirus<br />
Parainfluenzavirus<br />
Hepatitis-B-Virus<br />
Mumpsvirus<br />
Masernvirus<br />
FOTO: SHUTTERSTOCK<br />
Pockenvirus<br />
Humanes Papillom virus<br />
(HPV)<br />
Humanes Immun defizienz-<br />
Virus (HIV)<br />
78<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Norovirus<br />
Herpesvirus<br />
Rotavirus<br />
Eine kurze<br />
Geschichte des<br />
Impfens<br />
Impfen gilt als Erfolgsgeschichte der Medizin. Bei näherer Betrachtung<br />
entdeckt man neben Erfolgen aber auch<br />
fragwürdige Versuche, Ignoranz, Unglücke und Widerstände<br />
Text: Arnd Petry<br />
Am 8. Dezember des vergangenen<br />
Jahres war es so weit: William Shakespeare<br />
wurde in Coventry (England)<br />
gegen das neuartige Coronavirus<br />
SARS-CoV-2 geimpft. Der 81-jährige Rentner<br />
mit dem berühmten Namen war damit nach<br />
offizieller Lesart der erste Mann in Westeuropa,<br />
der im Rahmen einer staatlichen Impfkampagne<br />
mit einem zugelassenen Covid-19-Impfstoff<br />
versorgt wurde. Kurz vor ihm war schon<br />
die 91-jährige Margaret Keenan dran gewesen.<br />
Eine erstaunliche Leistung der modernen<br />
Medizin, wenn man bedenkt, dass das Virus<br />
SARS-CoV-2 erst ein Jahr zuvor entdeckt<br />
worden war.<br />
„Die Geschichte des Impfens ist in großen<br />
Teilen eine Erfolgsgeschichte“, erklärt der Medizinhistoriker<br />
Professor Dr. Robert Jütte, der von<br />
1990 bis 2<strong>02</strong>0 das Institut für Geschichte der<br />
Medizin der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart<br />
leitete. Die Pocken etwa – einer der großen Killer<br />
in der Menschheitsgeschichte – seien Anfang<br />
der 1980er-Jahre definitiv durch konsequente<br />
Massenimpfungen weltweit ausgerottet worden.<br />
„Und man kann sich heute gegen zahlreiche<br />
Infektionskrankheiten, inzwischen auch gegen<br />
Ebola, impfen lassen. Das ist ein großer Erfolg“,<br />
so der Medizinhistoriker. „Für viele andere<br />
Infektions krankheiten gilt das aber nicht. Gegen<br />
Malaria oder Borreliose etwa haben wir noch<br />
keine Impfstoffe.“<br />
ERSTE SCHUTZIMPFUNG 1796 –<br />
RISKANTE VERSUCHE<br />
Die Geschichte der modernen Schutzimpfungen<br />
begann 1796 mit einem, ja, Menschenversuch<br />
des englischen Landarzts Edward<br />
Jenner. Dass Kuhpocken beim Menschen nur<br />
lokale, meist von selbst ausheilende Infektionen<br />
verursachen, aber dennoch Immunität gegen<br />
die gefährlichen Menschenpocken verleihen<br />
können, war in der bäuerlichen Bevölkerung<br />
im 18. Jahrhundert durchaus bekannt. Jenner<br />
widmete sich gezielt diesem Effekt: „Der<br />
entscheidende Versuch fand am 14. Mai 1796<br />
statt“, erzählt Jütte. Damals impfte Jenner den<br />
achtjährigen James Phipps mit Sekret aus<br />
einer Kuhpockenpustel, die sich auf dem Arm<br />
einer Magd gebildet hatte. Bei dem Jungen<br />
ent wickelte sich ein leichtes Fieber, das bald<br />
abklang. „Sechs Wochen später wagte es Jenner,<br />
James künstlich mit Menschenpocken zu infizieren.<br />
Das riskante Experiment glückte – der<br />
Junge erkrankte nicht.“<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 79
GESCHICHTE ∙ KLASSIKER<br />
Der Rest ist Geschichte: Jenner veröffentlichte<br />
sein Experiment in einer Zeitschrift, wurde<br />
berühmt, und fachsprachlich heißt „Impfstoff “<br />
heute noch „Vakzine“, abgeleitet vom lateinischen<br />
Wort für Kuh. „Medizinischer Fortschritt<br />
wurde früher oft mit riskanten Versuchen<br />
erkauft“, erklärt Medizinhistoriker Jütte.<br />
In der Anfangsphase der modernen Medizin<br />
sei ohne Skrupel experimentiert worden –<br />
Ethikkommissionen gab es noch nicht. „Viele<br />
Ärzte haben heroische Selbstversuche gemacht<br />
und dabei zum Teil ihre Gesundheit ruiniert.<br />
Edward Jenner gehörte nicht dazu.“<br />
1895 vier Impfstoffe: gegen Geflügelcholera,<br />
Milzbrand (Anthrax), die seltene menschliche<br />
Hautkrankheit Schweinerotlauf und Tollwut.<br />
Als Meilenstein der Impfgeschichte gilt<br />
Pasteurs Behandlung des neunjährigen Joseph<br />
Meister im Jahr 1895. Der Junge war von einem<br />
tollwütigen Hund gebissen worden. Pasteur,<br />
der bereits mit dem Tollwuterreger experimentiert<br />
hatte, verabreichte dem Kind zunächst eine<br />
Injektion mit der getrockneten Hirnmasse eines<br />
infizierten Kaninchens und schließlich über einen<br />
Zeitraum von zehn Tagen zwölf Injektionen<br />
mit immer frischerem, also auch zunehmend<br />
Skepsis auch Ängste hervorrufen, hat sicher<br />
historische Gründe: „Bereits in den Anfängen<br />
der Pockenschutzimpfung wurde behauptet,<br />
dass die verwendete Kuhpocken-Lymphe den<br />
Menschen vertieren, also in gewisser Weise<br />
zum Tier machen würde“, so Robert Jütte. Es<br />
gibt Karikaturen, die zeigen, wie den Geimpften<br />
Hörner wachsen.<br />
„Damals wie heute kommt in der Impfgegnerschaft<br />
das Unbehagen an der Modernität zum<br />
Ausdruck, ebenso ein Protest gegen die Enteignung<br />
des Körpers durch die Wissenschaft“,<br />
erklärt der Medizinhistoriker.<br />
Schüler freuen sich im Januar 1970 über die verlängerten Ferien. Andere leiden: In jenem Winter erkranken<br />
mehr als 20 Millionen Menschen in Westdeutschland an der Hongkong-Grippe, circa 50 000 sterben<br />
Gewinner im Kampf gegen die Tuberkulose:<br />
der französische Arzt Albert Calmette (1863–1933)<br />
Verschiedene Skandale der Impfgeschichte –<br />
zum Beispiel das „Lübecker Impfunglück“ von<br />
1930, bei dem 77 Kinder aufgrund eines verseuchten<br />
Tuberkulose-Impfstoffs starben –<br />
führten schließlich dazu, dass Regularien eingeführt<br />
wurden. „Heute sind etwa Tier versuche<br />
vorgeschrieben, bevor man mit gefährlichen<br />
Stoffen am Menschen experimentiert.“<br />
virulentem – das heißt ansteckendem – Material.<br />
Joseph überlebte die Kaninchenhirn-<br />
Behandlung. Damit war die Tollwutimpfung<br />
erfunden.<br />
Mit derart abenteuerlichen Impfstoff-Gemischen<br />
haben die heutigen mRNA-Impfstoffe<br />
gegen Covid-19 zwar nichts mehr gemein. Dass<br />
sie bei vielen Menschen neben begründbarer<br />
EUROPÄISCHE IGNORANZ<br />
Das Grundprinzip einer Schutzimpfung – das<br />
gezielte Infizieren eines Gesunden mit krankheitserregendem<br />
Material, um diesen vor einer<br />
schweren Krankheit zu schützen – war der<br />
Menschheit lange vor Edward Jenners Pockenbehandlung<br />
bekannt. Diese sogenannte Inokulation<br />
wurde schon Jahrhunderte zuvor in Indien und<br />
NEUARTIGE IMPFSTOFFE – ALTE REFLEXE<br />
Seit Jenners Kuhpockenimpfung sind viele<br />
Impfstoffe entwickelt worden. Vor allem die<br />
ersten fünf Jahrzehnte der Bakteriologie ab den<br />
1870er-Jahren, als viele bakterielle Krankheitserreger<br />
das erste Mal beschrieben wurden,<br />
waren eine Hochzeit der Impfstoff-Forschung.<br />
Die Protagonisten jener Zeit heißen Robert<br />
Koch, Emil von Behring oder Wilhelm Kolle.<br />
Ein Ehrenplatz unter den Impfstoff-Pionieren<br />
gebührt dem französischen Chemiker Louis<br />
Pasteur. Er entwickelte zwischen 1879 und<br />
»Viele Ärzte haben heroische<br />
Selbstversuche gemacht<br />
und dabei zum Teil ihre Gesundheit<br />
ruiniert.«<br />
80<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
China praktiziert. In einem Gesundheitsratgeber<br />
in Versform von 1275 aus Salerno im heutigen<br />
Italien hieß es: „Damit die Pocken nicht zum<br />
Tod der Kinder führen / bringe den Gesunden<br />
Pockenmaterie in die Adern.“<br />
Doch offensichtlich geriet dieses Wissen in<br />
Europa in Vergessenheit. Verantwortlich dafür,<br />
dass sich die Technik auf dem Kontinent doch<br />
noch durchsetzte, war schließlich Lady Mary<br />
Wortley Montagu. Die Frau des englischen Botschafters<br />
in Konstantinopel ließ dort 1718 ihren<br />
Sohn auf diese Weise gegen Pocken impfen.<br />
Danach war die Inokulation – bis zur Vakzination<br />
von Edward Jenner – zumindest für fast<br />
100 Jahre bei der Oberschicht en vogue.<br />
IMPFPFLICHT IN DEUTSCHLAND<br />
In Deutschland begann mit der Verfügbarkeit<br />
eines wirksamen Pocken-Impfstoffs eine<br />
politische Diskussion, die auch heute wieder<br />
aktuell ist: Impfzwang ja oder nein? Bei Pocken<br />
gewann der Zwang. Als erster deutscher Staat<br />
führte Bayern 1807 die Impfpflicht ein. Bis zur<br />
Ausrufung des Deutschen Reichs 1871 hatten<br />
lediglich Sachsen, Hamburg und Preußen kein<br />
Impfgesetz. In Preußen verlangte man aber von<br />
Schülern und Lehrlingen einen Impfschein.<br />
Pasteur-Institut in<br />
Paris 1938: Teamarbeit<br />
im Tetanuslabor<br />
bei der Suche nach dem<br />
passenden Impfstoff<br />
Nach der Pockenepidemie der Jahre 1870/71<br />
hatte die Impffreiheit auch in Sachsen und<br />
Hamburg ein Ende, und ab 1874 bestand im<br />
gesamten Reich für Kinder eine Impfpflicht<br />
gegen Pocken.<br />
Aufgehoben wurde sie erst mehr als ein<br />
Jahrhundert später: im Jahr 1983, also drei<br />
VIREN<br />
Was die einzelnen Viren besonders macht<br />
Grippe/Influenza: wandelbare Viren<br />
Influenza – die „echte Grippe“ – ist eine durch Influenzaviren ausgelöste<br />
Infektionskrankheit. Menschen ab 60 Jahren und chronisch Kranken wird<br />
hierzulande jährlich eine Influenza-Impfung empfohlen, jeweils im Herbst<br />
vor Beginn der winterlichen Grippesaison. Grund: Der Impfstoff muss<br />
aufgrund der großen Wandlungsfähigkeit der Influenzaviren jedes Jahr<br />
neu entwickelt werden. Mutationen führen dazu, dass die Viren stetig ihre<br />
Eigenschaften verändern. Vor allem die Zusammensetzung der Oberflächenproteine,<br />
mit deren Hilfe das Virus in Körperzellen eindringt, ist sehr<br />
variabel. Um abschätzen zu können, welche Virusvarianten in der nächsten<br />
Saison gefährlich werden können, überwachen Labors weltweit die zirkulierenden<br />
Viren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt auf Basis<br />
dieser Daten jeweils im Februar eine Empfehlung für die Zusammensetzung<br />
des Impfstoffs ab. Neue Forschungsansätze verfolgen die Entwicklung<br />
eines „Universal-Impfstoffs“, der nur selten angepasst werden müsste.<br />
Pocken: ausgerottet, eigentlich …<br />
Der 8. Mai 1980 war ein bedeutsamer<br />
Tag: Die WHO verkündete das weltweite<br />
Ende der Pocken. Damit war es erstmals<br />
gelungen, durch globale Massenimpfungen<br />
eine hochgradig ansteckende und<br />
oft tödliche Infektionskrankheit auszurotten.<br />
Fast 200 Jahre nach den ersten<br />
Impfstoff-Experimenten von Edward<br />
Jenner waren Impfungen gegen Pockenviren<br />
tatsächlich überflüssig geworden.<br />
Ob das immer so sein wird, bleibt abzuwarten:<br />
In zwei Labors in den USA<br />
und Russland lagern Restbestände des<br />
tödlichen Erregers, zu Forschungszwecken.<br />
Übrigens: Viele Menschen über 40 tragen<br />
noch eine Erinnerung an ihre Pockenimpfung am Oberarm – eine<br />
Pocken gelten seit 1980 als<br />
besiegt. Zwei Länder bewahren<br />
die Viren aber auf<br />
runde, centgroße Narbe von der Impfpistole, mit der damals der Impfstoff<br />
in die Haut geritzt wurde.<br />
Polio: süße Impfung im Kalten Krieg<br />
„Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung<br />
ist grausam“: Mit diesem Slogan wurde<br />
in Westdeutschland für die 1962 begonnene<br />
Impfkampagne gegen die Kinderlähmung<br />
(Poliomyelitis, kurz Polio) geworben.<br />
Mit Erfolg! Dank eines auf einen<br />
Zuckerwürfel oder in Sirup geträufelten<br />
Lebend- Impfstoffs gelang es, die Zahl<br />
der gemeldeten Poliofälle merklich zu<br />
senken. Das hätte man allerdings schon<br />
früher haben können. Denn die DDR setzte<br />
bereits seit 1960 einen sowjetischen<br />
Impfstoff ein und bot ihn dem Klassenfeind<br />
während einer Polioepidemie mit<br />
An Polio (Kinderlähmung)<br />
erkranktes Kind 1947 in<br />
London<br />
mehr als 4000 gemeldeten Fällen und 300 Toten in den Jahren 1960<br />
und 1961 an. Die Bundesregierung unter Kanzler Konrad Adenauer<br />
lehnte dieses Angebot ab.<br />
Masern: Politikum mit Impfpflicht<br />
Die Masernimpfung ist in Deutschland zum Politikum geworden.<br />
Masern zählen zu den ansteckendsten Infektionskrankheiten. Schwere<br />
Krankheitsverläufe können dauerhaft das Gehirn schädigen oder zum<br />
Tod führen. Um die Viruserkrankung auszurotten und auch diejenigen<br />
zu schützen, die nicht geimpft werden können (Säuglinge und Menschen<br />
mit Immunschwäche), müssten 95 von 100 Menschen gegen Masern<br />
geimpft sein. Deshalb beschloss die Bundesregierung im Jahr 2019 eine<br />
Impfpflicht. Sie gilt seit März 2<strong>02</strong>0 für alle Kita- und Schulkinder, für<br />
Erzieher, Lehrer, Tagesmütter und Beschäftigte in Krankenhäusern und<br />
Arztpraxen. Impfverweigerern droht ein Bußgeld von bis zu 2500 Euro.<br />
Die Impfpflicht widerspreche dem Recht auf körperliche Unversehrtheit,<br />
argumentieren Kritiker. Die Gegenseite verweist auf das Recht der<br />
Mitmenschen auf körperliche Unversehrtheit. Weil das Gesundheitsrisiko<br />
einer Masernimpfung wesentlich kleiner ist als das Risiko einer<br />
Masernerkrankung, bleibt die Impfpflicht weiterhin in Kraft.<br />
FOTO: DPA PICTURE-ALLIANCE (2), GETTY IMAGES (3)<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 81
GESCHICHTE ∙ KLASSIKER<br />
Jahre nachdem die Weltgesundheitsorganisation<br />
die Ausrottung der Pocken bekannt<br />
gegeben hatte.<br />
HIV: WO BLEIBT DER IMPFSTOFF?<br />
Zu der Zeit beherrschte bereits eine neue<br />
globale Seuche die Schlagzeilen: Aids. Ein erfolgreiches<br />
Kapitel der Impfstoff-Geschichte wurde<br />
mit der Erforschung dieser Krankheit aber nicht<br />
aufgeschlagen. Auch mehr als 40 Jahre nach der<br />
Entdeckung des HI-Virus gibt es noch keinen<br />
Impfstoff. Aber immerhin haben HIV-Patienten<br />
dank der seit Mitte der 1990er-Jahre verfügbaren<br />
antiviralen Medikamente eine mit Gesunden<br />
vergleichbare Lebenserwartung. „Das ist sicher<br />
Auch mehr als 40 Jahre nach<br />
der Entdeckung des HI-Virus gibt<br />
es noch keinen Impfstoff.<br />
FOTO: ADOBE STOCK, DPA PICTURE-ALLIANCE (2), HANS R. GELDERBLOM/FREYA KAULBARS , TOBIAS HOFFMANN/ROBERT KOCH-INSTITUT<br />
Pfizer-Labor 1963: Beim heute mächtigen Partner von Corona-Impfstoff-Entwickler Biontech lagert<br />
damals ein Laborarbeiter Zellgewebe für einen Lebend-Impfstoff gegen Masern ein<br />
Masern: Schwere Verläufe sind eine Qual – und<br />
können Gehirnentzündung verursachen<br />
Seit 2<strong>02</strong>0 durch die Impfpflicht auch in Deutschland<br />
bekämpft: Masernviren (Paramyxoviren)<br />
82<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Meilensteine der<br />
Impfstoff-Entwicklung<br />
1796<br />
erste Schutzimpfung gegen<br />
Pocken: Edward Jenner impft<br />
Jungen mit Kuhpockenpustel<br />
1885 Tollwut-Impfstoff<br />
(entwickelt von Louis Pasteur)<br />
1890<br />
1894<br />
Tetanus-Impfstoff gegen<br />
Wundstarrkrampf<br />
(passive Immunisierung;<br />
Emil von Behring)<br />
erste Immunisierung gegen<br />
Diphtherie (Emil von Behring<br />
und Erich Wernicke)<br />
1896 Cholera-Impfstoff<br />
(Wilhelm Kolle)<br />
1896 Typhus-Impfstoff<br />
(Almroth Edward Wright)<br />
Diphtherie, der „Würgeengel der Kinder“: Symptomatisch sind bellender Husten, Heiserkeit und Stimmlosigkeit.<br />
Erkrankten fällt das Einatmen schwer, das zudem mit Pfeifgeräuschen verbunden ist<br />
1907<br />
1921<br />
1936<br />
erste Pestimpfung von<br />
Menschen (mit abgeschwächten<br />
Erregern)<br />
Tuberkulose-Impfstoff<br />
„Bacille Calmette-Guérin“<br />
(BCG; Albert Calmette und<br />
Camille Guérin)<br />
Grippe(Influenza)-Impfstoff<br />
(A. A. Smorodinzew)<br />
1954 Polio-Impfstoff<br />
(Jonas Salk)<br />
1961<br />
Masern-Impfstoff<br />
(John Franklin Enders und<br />
Thomas Chalmers Peebles)<br />
1969<br />
Hepatitis-B-Impfstoff (Baruch<br />
Blumberg und Irving Millman),<br />
gleichzeitig auch erster vorbeugender<br />
(prophylaktischer)<br />
Krebs-Impfstoff<br />
1974 Meningokokken-Impfstoff<br />
(Maurice Hilleman)<br />
1980<br />
1981<br />
2006<br />
Ausrottung der Pocken<br />
Hepatitis-A-Impfstoff<br />
(Maurice Hilleman)<br />
HPV-Impfstoff (gegen Humane<br />
Papillomviren) zum Schutz vor<br />
Gebärmutterhalskrebs<br />
2019 Ebola-Impfstoff<br />
2<strong>02</strong>0<br />
Entwicklung von<br />
Covid-19- Impfstoffen innerhalb<br />
eines Jahres<br />
SARS-CoV-2 unter dem Mikroskop: Medikamente existieren noch nicht, doch sind Impfstoffe viel<br />
schneller verfügbar als je zuvor<br />
auch ein Grund, warum man nicht mit ganzer<br />
Kraft in die Impfstoff-Forschung investiert“,<br />
meint Robert Jütte. „Ich glaube, wenn wir jetzt<br />
ein wirksames Therapeutikum gegen Covid-19<br />
hätten, würde man nicht so viel Geld in die<br />
Impfstoff-Forschung stecken.“<br />
LANGES LEBEN: IMPFEN UND MEHR …<br />
Impfen ist im Kampf gegen Infektionskrankheiten<br />
ein wichtiger, aber nicht der einzige<br />
Baustein. Dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung<br />
in den vergangenen 180 Jahren<br />
fast verdoppelt hat, liegt neben wirkungsvollen<br />
Impfstoffen auch an einer besseren Hygiene.<br />
Und an der Entdeckung der Antibiotika, die gegen<br />
lebensbedrohliche Bakterien wirken – derzeit<br />
aber gegen immer mehr resistente Erreger<br />
ihre Wirkung verlieren. Zudem sind sauberes<br />
Trinkwasser, eine zuverlässige und ausgewogene<br />
Nahrungsmittelversorgung, eine leistungsfähige<br />
Notfallmedizin und Chirurgie sowie in<br />
manchen Fällen auch weniger Stress weitere<br />
Faktoren, die uns länger leben lassen.<br />
Ein neugeborener Junge in Deutschland darf<br />
sich heute auf durchschnittlich 78,6 Jahre, ein<br />
Mädchen auf 83,4 Jahre freuen. Bei guter Lebensführung<br />
ist auch mehr drin – und er wird<br />
vielleicht mit 81 noch so berühmt wie William<br />
Shakespeare und sie mit 91 so berühmt wie<br />
Margaret Keenan.<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 83
WISSEN ∙ IMPFPLAN<br />
So viel <strong>Pieks</strong><br />
soll’s sein<br />
Masern, Mumps, Röteln, Grippe, Tetanus oder HPV:<br />
wann welche Impfungen empfohlen sind – und worauf<br />
bei der Reiseplanung unbedingt zu achten ist<br />
Text: Arnd Petry<br />
Zeit für eine Spritze?<br />
Zumindest in den ersten<br />
15 Lebensmonaten für<br />
Babys gefühlt ständig<br />
Wenige Wochen nachdem sie das<br />
Licht der Welt erblickt haben,<br />
erfahren Säuglinge bereits, dass<br />
die Erde ein gefährlicher Ort<br />
sein kann. Denn dann wird gepiekst: Babys<br />
werden gegen klassische „Kinderkrankheiten“<br />
wie Keuchhusten und Kinderlähmung, Masern,<br />
Mumps oder Röteln geimpft. Dabei liegt die<br />
Gefahr weniger in der Impfspritze als in den<br />
Krankheiten, die diese zu verhindern hilft. Die<br />
erste dieser Standardimpfungen sollte bereits<br />
sechs Wochen nach der Geburt erfolgen (Rotaviren).<br />
Die weiteren Impfungen stehen ab dem<br />
zweiten und elften Monat an. Machen sich die<br />
Kleinen dann mit 15 Monaten auf, die Welt auf<br />
eigenen Füßen zu entdecken, haben sie bereits<br />
diverse Nadelstiche hinter sich.<br />
Das Gute: Sie können ihrer Neugier folgen,<br />
ohne dass die Eltern sich Sorgen um die vielen<br />
gefährlichen Infektionskrankheiten machen<br />
müssen. Und die Zahl der Spritzen konnte in<br />
den letzten Jahren auch deutlich reduziert werden:<br />
mit einem Sechsfach-Kombinationsimpfstoff,<br />
der gleichzeitig gegen Tetanus, Diphtherie,<br />
Keuchhusten, Kinderlähmung (Polio), Haemophilus<br />
influenzae Typ b und Hepatitis B schützt,<br />
sowie einer gleichzeitigen Impfung gegen<br />
Masern, Mumps und Röteln (MMR-Impfstoff).<br />
Bei der Impfung gegen Rotaviren ist gar keine<br />
Spritze nötig: Es ist eine Schluckimpfung.<br />
BEI SCHULKINDERN AUFFRISCHEN<br />
In den folgenden Jahren stehen für Kinder<br />
Impfauffrischungen auf dem Plan. Tetanus,<br />
Diphtherie und Keuchhusten sollten im<br />
Alter von fünf oder sechs Jahren aufgefrischt<br />
werden. „Vergessene“ Impfungen können<br />
übrigens jederzeit nachgeholt werden. Das gilt<br />
auch für die Auffrischungsimpfungen. Die<br />
drei genannten stehen zum Ende der Kindheit<br />
nochmals an, ebenso sollte dann die Polio-<br />
Impfung erneuert werden.<br />
JUGENDLICHE: IMPFEN VOR DEM SEX<br />
Mit Beginn der Pubertät wird die Impfung gegen<br />
Humane Papillomviren (HPV) ein Thema.<br />
SÄUGLINGE<br />
Empfohlene Erstimpfungen<br />
in den ersten 15 Monaten<br />
JUGENDLICHE<br />
Empfohlene Erstimpfungen<br />
ab dem 9. Lebensjahr<br />
ERWACHSENE<br />
Empfohlene Erstimpfungen<br />
ab dem 60. Lebensjahr<br />
FOTO: ADOBE STOCK (2), GETTY IMAGES<br />
‸ Diphtherie<br />
‸ Hepatitis B<br />
‸ Hib/Haemophilus influenzae Typ b<br />
‸ Keuchhusten (Pertussis)<br />
‸ Kinderlähmung (Poliomyelitis/Polio)<br />
‸ Masern<br />
‸ Meningokokken C<br />
‸ Mumps<br />
‸ Pneumokokken<br />
‸ Rotaviren<br />
‸ Röteln<br />
‸ Tetanus<br />
‸ Windpocken (Varizellen)<br />
‸ Humane Papillomviren (HPV)<br />
‸ Varizella-Zoster-Viren (VZV)/<br />
Herpes Zoster<br />
‸ Grippe/Influenza (jährlich neu)<br />
84<br />
S01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
OFFIZIELLER NACHWEIS<br />
Impfpass<br />
Der Impfpass soll ein lebenslanger Begleiter<br />
sein und über den Impfschutz seines Inhabers<br />
informieren. Wichtig wird er als Nachweisdokument<br />
im Urlaub, wenn das Reiseland eine<br />
Immunisierung gegen bestimmte Infektionskrankheiten<br />
vorschreibt, etwa Gelbfieber<br />
oder Tollwut. Meist stellt ihn der Kinderarzt<br />
mit der ersten Impfung nach der Geburt<br />
aus. Fort an begleitet er seinen Besitzer ein<br />
Leben lang. Alle Grundimmunisierungen und<br />
Auffrischungen müssen darin dokumentiert<br />
werden. Der Aufbau des mehrsprachigen gel-<br />
ben Heftchens ist standardisiert – so sieht es<br />
das Infektionsschutzgesetz gemäß Vorgaben<br />
der Weltgesundheitsorganisation (WHO)<br />
vor. Jede Impfdokumentation muss demnach<br />
folgende Angaben enthalten: das Datum der<br />
Schutzimpfung, die Bezeichnung und<br />
Chargenbezeichnung des<br />
Impfstoffs,<br />
den Namen der Krankheit, gegen die geimpft<br />
wurde, und den Namen und die Anschrift der<br />
für die Impfung verantwortlichen Person.<br />
IMPFPASS VERLOREN?<br />
Sollte der Impfpass einmal verloren gegangen<br />
sein, stellt der Hausarzt meist problemlos<br />
einen neuen aus. Hilfreich ist es in dem Fall,<br />
anhand bisheriger ärztlicher Unterlagen oder<br />
mithilfe der Krankenkasse die Impfungen der<br />
vergangenen Jahre zu rekonstruieren.<br />
Gelingt das nicht, sollten alle empfohlenen<br />
Impfungen erneuert werden.<br />
DIE DEUTSCHEN IMPFENTSCHEIDER<br />
STIKO<br />
Die Ständige Impfkommission (STIKO) hat gemäß Infektionsschutzgesetz<br />
den Auftrag, Empfehlungen zur Durchführung von<br />
Schutzimpfungen in Deutschland zu geben. Ihre Empfehlungen<br />
werden automatisch Teil des Leistungskatalogs der Krankenkassen,<br />
Versicherte müssen diese Impfungen also nicht extra<br />
bezahlen. Die Kommission hat derzeit 18 Mitglieder und tagt<br />
zweimal im Jahr am Robert-Koch-Institut (RKI), um die Impfempfehlungen<br />
an aktuelle Entwicklungen, also neue Impfstoffe<br />
und neue Erkenntnisse aus der Forschung, anzupassen. Ihren<br />
eigenen Angaben zufolge orientiert sich die STIKO dabei an den<br />
Kriterien der evidenzbasierten Medizin. Das heißt, die Entscheidungen<br />
basieren auf objektiven Studien und medizinischen Kriterien.<br />
Die haben die Mitglieder zuvor in Einzelarbeit gesichtet.<br />
Lange Zeit wurde der 1972 gegründeten Kommission mangelnde<br />
Transparenz vorgeworfen. Die Entscheidungen würden von<br />
wirtschaftlichen Interessen der Impfhersteller beeinflusst,<br />
hieß es. Seit mehr als zehn Jahren müssen die Mitglieder ihre<br />
Beziehungen zur Industrie nun offenlegen. An Beschlüssen,<br />
die derartige Beziehungen betreffen könnten, dürfen die entsprechenden<br />
Mitglieder nicht mitwirken. Zudem werden<br />
alle Sitzungsprotokolle veröffentlicht. Trotzdem: „Über den<br />
Entscheidungen der STIKO liegt immer ein Schatten“, kritisiert<br />
Prof. Dr. Gerd Antes. Der Mathematiker war von 2008 bis<br />
2011 selbst Mitglied der STIKO. „Eine Gesellschaft, die die Arzneimittelforschung<br />
privatisiert, kann nicht erwarten, dass sie<br />
Experten hat, die clean sind.“ Er kenne aber einige Mitglieder<br />
und wisse, dass „die aktuelle Arbeit der STIKO sicher keine<br />
Konzentration von Übel ist“.
WISSEN ∙ IMPFPLAN<br />
SERVICE<br />
Impfkalender des RKI<br />
Der Impfkalender des Robert-Koch-Instituts<br />
(RKI) zeigt anschaulich alle empfohlenen<br />
Standardimpfungen für Säuglinge, Kinder,<br />
Jugendliche und<br />
Erwachsene. Die aktuelle<br />
Fassung ist auf<br />
der Website des RKI<br />
zum Herunterladen<br />
bereitgestellt.<br />
www.rki.de<br />
Empfohlen wird die erste Injektion allen Mädchen<br />
und Jungen im Alter von 9 bis 14 Jahren.<br />
Die zweite Impfdosis sollte frühestens fünf<br />
Monate danach erfolgen. Bei späteren Nachholimpfungen<br />
oder einem zu kurzen Impfabstand<br />
zwischen der ersten und der zweiten Dosis<br />
ist eventuell eine dritte Impfung notwendig.<br />
Grundsätzlich sollte eine HPV-Impfung<br />
vor dem ersten Geschlechtsverkehr erfolgen. Sie<br />
schützt vor vielen (aber nicht allen) gefährlichen<br />
Varianten des Humanen Papillomvirus,<br />
das etwa Gebärmutterhalskrebs, aber auch<br />
Penis-, Anal- oder Kehlkopfkrebs auslösen kann.<br />
Frauen sollten trotz einer HPV-Impfung die<br />
regelmäßigen Früherkennungsuntersuchungen<br />
für Gebärmutterhalskrebs wahrnehmen.<br />
ERWACHSENE: GRIPPESCHUTZ AB 60<br />
Für einen derart gut geschützten gesunden<br />
Erwachsenen werden in Deutschland erst mal<br />
keine weiteren Impfungen empfohlen. Ausnahmen:<br />
Auffrischimpfungen, Impfungen aufgrund<br />
einer Reise in ein Risikogebiet, beruflich<br />
bedingte Impfungen (um sich oder andere zu<br />
schützen) oder weil man wegen einer Krankheit<br />
zu einer Risikogruppe gehört, die sich besonders<br />
schützen sollte. In der Blüte des Lebens<br />
kommt ein gesundes Immunsystem mit vielen<br />
Krankheitserregern gut zurecht. Das ändert sich<br />
mit dem Älterwerden: Frauen und Männern<br />
ab 60 empfiehlt die STIKO daher, sich jährlich<br />
mit dem aktuellen Impfstoff gegen Influenza<br />
(Virusgrippe) zu schützen. Ab 60 ist zudem eine<br />
Impfung gegen Varizella-Zoster-Viren (VZV)<br />
sinnvoll, die eine Gürtelrose (Herpes Zoster)<br />
hervorrufen können.<br />
VORM TRAUMURLAUB: REISEIMPFUNG<br />
Ob nun Kenia, Rio, Tokio, Bangkok, Bali,<br />
Borneo oder der Schwarzwald: Wenn Sie reisen<br />
wollen, reicht der normale Impfschutz oft<br />
nicht aus. Vor allem in tropischen Paradiesen<br />
mit ihrer artenreichen Tier- und Pflanzenwelt<br />
gibt es viele Viren, Bakterien und Parasiten,<br />
die lebensgefährliche Krankheiten auslösen<br />
können. Doch gegen einige dieser Bedrohungen<br />
helfen inzwischen wirksame Impfstoffe. Welche<br />
zusätzlichen Impfungen tatsächlich sinnvoll<br />
sind, hängt vom persönlichen Impfstatus, der<br />
Reiseregion und der Art und Dauer der Reise<br />
ab. Aber auch die Reisezeit – Sommer oder<br />
Winter, Regen- oder Trockenzeit –, geplante<br />
Aktivitäten und möglicherweise bestehende<br />
Grunderkrankungen müssen berücksichtigt<br />
werden. Grundsätzlich sollte vor einer Fernreise<br />
das Thema Impfungen mit dem Hausarzt oder<br />
einem Experten für Tropenmedizin besprochen<br />
werden. Bei einer Reise im eigenen Land darf<br />
das Risiko einer FSME-Ansteckung (siehe<br />
unten) nicht vergessen werden.<br />
Hinzu kommt: Manche Länder schreiben für<br />
die Einreise Impfungen vor, in vielen Ländern<br />
etwa gegen Gelbfieber. Zu den von der STIKO<br />
empfohlenen Reiseimpfungen gehören aktuell<br />
solche gegen Cholera, FSME, Gelbfieber, Hepatitis<br />
A und B, Influenza, Japanische Enzephalitis,<br />
Meningokokken, Polio, Tollwut und Typhus.<br />
REGION UND IMPFUNGEN<br />
‸ Cholera: Schlucken zum Schutz<br />
In Deutschland und Europa ist Cholera heute<br />
kein Thema mehr: Der letzte große Ausbruch<br />
war die Epidemie in Hamburg im Jahr 1892.<br />
Cholera ist eine lebensbedrohliche Durchfallerkrankung,<br />
die durch das Bakterium Vibrio<br />
cholerae verursacht und vor allem über<br />
verunreinigtes Trinkwasser und die Nahrung<br />
übertragen wird. Cholera kommt aber weltweit<br />
noch vor. Seit 2000 ereigneten sich Choleraepidemien<br />
in Afrika, der Karibik (Kuba, Haiti),<br />
in Mexiko und im Jemen. Schutz bietet eine<br />
Schluckimpfung mit abgetöteten Choleraerregern.<br />
‸ FSME: Reiseimpfung für Deutschlandurlauber<br />
Wenn ein Urlaub in den südlichen Teilen<br />
Deutschlands geplant ist, kann eine zusätzliche<br />
Impfung angezeigt sein: Bayern und Baden-<br />
Württemberg (hier insbesondere der Schwarzwald)<br />
sind Risikogebiete für eine Frühsommer-<br />
Meningoenzephalitis (FSME), die von Zecken<br />
übertragen wird. Auch in Thüringen, Hessen,<br />
Sachsen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und<br />
sogar in Niedersachsen gibt es Regionen, in<br />
denen das FSME-Virus vorkommt. Typische<br />
Symptome: Nach grippeähnlichem Fieber, Gliederschmerzen,<br />
Übelkeit und Erbrechen können<br />
sich nach etwa einer Woche neurologische<br />
FOTO: ADOBE STOCK<br />
Wer eine Reise plant, sollte<br />
sich vorab informieren, ob<br />
für die Zielregion Impfungen<br />
empfohlen werden<br />
RISIKEN IM REISELAND<br />
Auswärtiges Amt hilft<br />
Über die in einem Land bestehenden Gesundheitsrisiken<br />
und die Einreisebestimmungen<br />
(welche Impfungen sind vorgeschrieben?)<br />
informiert das Auswärtige Amt auf seiner<br />
Website und in seiner Reise-App. Die Angaben<br />
dort werden regelmäßig aktualisiert<br />
und schließen auch Covid-Regeln ein.<br />
www.auswaertiges-amt.de<br />
86<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Ausprägungen der Krankheit entwickeln, etwa<br />
Gehirn- oder Hirnhautentzündung. Gut zu<br />
wissen: Der Impfstoff schützt nicht nur vor den<br />
in Deutschland, Österreich, Skandinavien und<br />
Osteuropa verbreiteten Virustypen, sondern<br />
auch vor den Virusvarianten im fernen Sibirien.<br />
‸ Gelbfieber: Spritzen nur von Spezialisten<br />
Die früher auch als „Dschungelfieber“ oder<br />
„Schwarzes Erbrechen“ bekannte Erkrankung<br />
wird durch behüllte RNA-Viren ausgelöst, die<br />
von Stechmücken auf den Menschen übertragen<br />
werden. Verbreitet ist Gelbfieber vor allem in<br />
den tropischen und subtropischen Bereichen<br />
Afrikas und Südamerikas. Bei schweren Verläufen<br />
kann Gelbfieber tödlich sein – unter anderem<br />
durch Leberentzündung mit Gelbsucht,<br />
Organschädigungen und Blutungen. Neben dem<br />
Vermeiden von Mückenstichen bietet die seit<br />
1937 verfügbare Impfung den besten Schutz.<br />
Der abgeschwächte Lebend-Impfstoff wird auch<br />
heute noch verwendet. Impfen dürfen aber<br />
nur speziell geschulte Ärztinnen und Ärzte<br />
(Gelbfieber-Impfstellen).<br />
‸ Hepatitis: Impfung gegen A und B möglich<br />
Hepatitis (Gelbsucht) ist eine durch verschiedene<br />
Viren verursachte weltweit vorkommende<br />
Leberentzündung. Chronisch verlaufende<br />
Formen können zu einer Leberzirrhose oder<br />
Leberkrebs führen. Gegen die Virustypen A<br />
und B existieren Impfstoffe.<br />
Das Hepatitis-A-Virus wird mit dem Stuhl<br />
ausgeschieden und durch direkten Kontakt,<br />
verunreinigtes Trinkwasser oder verunreinigte<br />
Nahrungsmittel übertragen. Ein erhöhtes Ansteckungsrisiko<br />
besteht daher in Ländern mit<br />
niedrigen Hygienestandards. Hepatitis-B-Viren<br />
werden überwiegend durch Sex und Kontakt<br />
mit kontaminierten Körperflüssigkeiten (etwa<br />
Blut, auch in Krankenhäusern) übertragen.<br />
Gegen die weitverbreitete Hepatitis C gibt es<br />
bisher keinen Impfstoff, seit einigen Jahren aber<br />
antivirale Medikamente.<br />
‸ Japanische Enzephalitis: für Asienurlauber<br />
In Japan und weiten Teilen (Süd)asiens – China,<br />
Indien, Sri Lanka, Nepal, Vietnam, Philippinen,<br />
Thailand – ist die Japanische Enzephalitis<br />
verbreitet, die von Flaviviren ausgelöst wird.<br />
Überträger sind Stechmücken. Meist verläuft die<br />
Infektion mild oder symptomlos. Bei seltenen<br />
schweren Verläufen kann es zu einer Gehirnentzündung<br />
(Enzephalitis) kommen.<br />
‸ Meningokokken: gefährliche „Mitesser“ im Mund<br />
Meningokokken sind Bakterien (Neisseria<br />
meningitidis), die beim Menschen den Nasenrachenraum<br />
besiedeln. Sie können durch<br />
Tröpfchen übertragen werden und eine<br />
tödliche Hirnhautentzündung (Meningitis)<br />
sowie Blutvergiftung (Sepsis) auslösen. Müssen<br />
sie aber nicht: Viele tragen die Bakterien ohne<br />
Krankheitszeichen im Nasenrachenraum –<br />
und geben sie unbewusst weiter. Aufgrund<br />
der Zusammensetzung ihrer Kapselbausteine<br />
unterscheidet man bei Meningokokken zwölf<br />
Serogruppen. Empfohlen wird eine Impfung<br />
gegen die Serogruppen A, C, W und Y.<br />
‸ Poliomyelitis: fast ausgerottet<br />
Polioviren waren ursprünglich weltweit anzutreffen,<br />
die Polargebiete ausgenommen. Trotz<br />
globaler Impfkampagnen kommt die lebensbe-<br />
drohliche Kinderlähmung heute noch vor, vor<br />
allem in Afghanistan und Pakistan. Polioviren<br />
sind unbehüllte RNA-Viren, die durch Tröpfchen-<br />
oder Schmierinfektionen (Urin, Kot)<br />
übertragen werden können. Folge der Infektion<br />
können Lähmungen sein, etwa in den Beinen<br />
oder der Atemmuskulatur.<br />
‸ Tollwut: tödliche Tierkontakte<br />
Tollwut (Rabies) ist eine fast immer tödlich<br />
verlaufende Infektionskrankheit, die durch<br />
das Rabiesvirus ausgelöst wird und das Gehirn<br />
befällt. Übertragen wird das Virus in der Regel<br />
durch den Biss eines tollwutkranken Tiers.<br />
Tollwut kommt weltweit vor, in Europa ist sie<br />
inzwischen selten. Deutschland gilt als tollwutfrei.<br />
Die meisten Fälle werden heute in Indien<br />
und China gezählt. Überträger sind dort häufig<br />
streunende Hunde. Aber auch Affen können<br />
das Virus durch Kratzen übertragen. Auf Bali<br />
(Indonesien) gibt es seit etwa zehn Jahren<br />
immer wieder Fälle. Doch kann Tollwut auch<br />
noch nach einer Infektion durch eine Impfung<br />
verhindert werden – wenn die typischen<br />
Symptome, etwa Lähmungen, Krämpfe oder<br />
Lichtscheue, noch nicht aufgetreten sind.<br />
KRANKENVERSICHERUNG<br />
Wer zahlt<br />
die Reise impfung?<br />
Reiseimpfungen gehören nicht zum<br />
Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen.<br />
Ausnahmen sind berufliche<br />
Auslandsaufenthalte – oder für Studenten<br />
die Auslandssemester. Einige Krankenkassen<br />
übernehmen unter Umständen dennoch<br />
die Kosten. Wichtig: Die Kostenfrage unbedingt<br />
vor der Impfung klären. Üblicherweise<br />
muss in Vorkasse gegangen werden, die<br />
Rechnung für die Impfstoffe und die Impfung<br />
wird dann bei der Krankenkasse eingereicht.<br />
Auch Affen übertragen<br />
das Tollwutvirus, zum<br />
Beispiel durch einen<br />
harmlosen Kratzer<br />
‸ Typhus: Hygiene hilft<br />
Typhus ist eine durch Bakterien ausgelöste<br />
Infektionskrankheit. Typisches Symptom ist<br />
hohes Fieber. Unbehandelt kann Typhus tödlich<br />
sein. Typhus kommt heute vor allem in Entwicklungsländern<br />
mit schlechten hygienischen<br />
Bedingungen vor (Mittel- und Südamerika,<br />
Karibik, Afrika, Südasien). Das Typhus bakterium<br />
wird durch verunreinigte Nahrungsmittel<br />
oder verschmutztes Wasser übertragen. Der<br />
beste Schutz – neben einer Impfung – ist daher<br />
häufiges Händewaschen und beim Essen das<br />
Beherzigen des alten Reisemottos „Cook it, peel<br />
it or forget it!“, zu Deutsch: „Koch es, schäl es<br />
oder vergiss es!“<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 87
WISSEN ∙ MEDIKAMENTE<br />
SARS-CoV-2 in 3-D: Noch gibt es keine<br />
Medikamente zur Behandlung einer<br />
Erkrankung mit dem Virus, an dessen<br />
Oberfläche das Spike-Protein die<br />
charakteristischen Stacheln bildet<br />
Die<br />
Behandlung<br />
Die Welt ist infiziert, die Forschung läuft auf Hochtouren, noch<br />
nie hat die Pharmaindustrie so schnell mehrere Impfstoffe<br />
gegen einen Erreger auf den Markt gebracht. Doch was ist mit<br />
Medikamenten für diejenigen, für die eine Impfung zu spät<br />
kommt, weil sie bereits am Virus erkrankt sind? Eine erfolgreiche<br />
Behandlung könnte Millionen Menschen vor dem Tod bewahren<br />
Text: Beate Wagner<br />
Die Erkrankung, die durch das Coronavirus<br />
SARS-CoV-2 ausgelöst wird,<br />
heißt Covid-19. Das Gute: Es gibt<br />
inzwischen Impfstoffe, die uns vor einer<br />
An steckung schützen. Das Problem: Bisher gibt<br />
es keine zugelassene Therapie, keine Tablette, die<br />
uns hilft, wenn wir uns angesteckt haben. Einfach<br />
gesagt, gegen Covid-19 existiert kein Mittel<br />
wie Aspirin, das uns die Kopfschmerzen nimmt,<br />
wenn wir morgens damit aufwachen.<br />
Mit welchen Alternativen behelfen sich die<br />
Experten? Welche Wirkstoffe sind in der<br />
Entwicklung, welche sind in experimentellen<br />
Stu dien die Hoffnungsträger? Die Gründe,<br />
warum die Fachwelt die Behandlung der Virus-<br />
erkrankung nicht schneller in den Griff bekommt,<br />
liegen – wie so oft – im Detail. Genauer<br />
gesagt, im Erbmaterial, in den Bausteinen des<br />
Lebens. Um das zu verstehen, braucht es ein paar<br />
Fakten aus dem Biologieunterricht.<br />
Letztlich geht es um Mikroben. Sie sind winzig<br />
und mit bloßem Auge nicht sehen. Sie sind<br />
Es gibt Impfstoffe, die<br />
uns schützen – aber<br />
wo ist das Medikament,<br />
das hilft, wenn wir an<br />
Covid-19 erkranken?<br />
88<br />
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01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 89<br />
FOTO: ADOBE STOCK, STOCKSY/MARC TRAN
WISSEN ∙ MEDIKAMENTE<br />
viele, und sie sind überall: Mikroben bevölkern<br />
die Erde, die Luft, das Wasser, Pflanzen und<br />
uns Menschen. 100 Billionen der Mini lebewesen<br />
besiedeln allein unseren Körper. Manche<br />
Mikroorganismen stärken unsere Gesundheit,<br />
andere machen krank. Robert Koch entdeckte<br />
im 19. Jahrhundert, dass Mikroben die Ursache<br />
für Infektionskrankheiten sind.<br />
Häufige Vertreter der Mikroben sind<br />
Bak te rien oder Viren. Bakterien sind uralt, viele<br />
leisten gute Dienste: im Darm, im Mund, auf<br />
der Haut. Nur etwa ein Prozent aller Bakterien<br />
verursachen, wenn sie in den Körper eindringen,<br />
Krankheiten wie Durchfall, Abszesse,<br />
Lungenentzündung, Scharlach, Tuberkulose<br />
oder Harnwegsinfekte. Bakterielle Infektionskrankheiten<br />
lassen sich wirksam mit Antibiotika<br />
behandeln. Sie zerstören die Zellwand der<br />
Bakterien oder deren Zellstoffwechsel. Die Keime<br />
sterben ab, das Problem ist gelöst. Aber eben<br />
nur bei Bakterien. Und nur, solange die nicht<br />
resistent gegen die Antibiotika geworden sind.<br />
VIREN – KLEIN UND ÜBERALL<br />
Viel komplizierter ist das bei Viren. Sie sind<br />
noch viel kleiner als Bakterien. Auch sie sind<br />
viele und nahezu überall. Bisher galten die<br />
meisten Viren vor allem als Auslöser von Erkältungen.<br />
Einige Viren verursachen aber auch<br />
schwere, teilweise lebensbedrohliche Krankheiten<br />
wie Hepatitis, Masern, Aids oder Gebärmutterhalskrebs.<br />
Hinzu kamen in den jüngsten<br />
100 Jahren einige Krankheiten, die durch Viren<br />
verursacht werden, welche eigentlich aus der<br />
Tierwelt stammen.<br />
Dass diese Erreger nun auch unser Leben<br />
empfindlich stören, haben wir mitverschuldet.<br />
Mit der Globalisierung, dem Klimawandel<br />
und der intensiven Bewirtschaftung dringt der<br />
Mensch in fremde Lebensräume ein – Viren<br />
können so vermehrt von einem tierischen Wirt<br />
auf den Menschen übertreten. Das war bei Aids,<br />
Ebola, SARS, MERS und Zika so. Und nun bei<br />
SARS-CoV-2. Das Virus stammt vermutlich<br />
aus asiatischen Fledermäusen und wurde auf<br />
einem chine sischen Markt auf den Menschen<br />
übertragen. Die genaue Ursache des Ausbruchs<br />
und die Abläufe danach versuchen Experten der<br />
WHO zu ermitteln.<br />
Unsere Waffen gegen Viren, also antivirale<br />
Arzneien, sind Mangelware. Denn Viren sind<br />
schwer zu fassen. Sie haben keine eigene Zellwand,<br />
keinen eigenen Stoffwechsel. Sie haben<br />
nur ihr Erbmaterial. Um sich zu vermehren,<br />
dringen sie in Wirtszellen ein, platzieren dort<br />
ihren genetischen Bauplan und sorgen so dafür,<br />
dass die Wirtszelle haufenweise neue Viren<br />
erzeugt – was die Wirtszelle letztlich tötet.<br />
Viren ändern ihr Erbgut oft, sie mutieren.<br />
Antivirale Präparate bekämpfen dann vielleicht<br />
eine Virusvariante effektiv, die nächste aber<br />
schon nicht mehr. „Das ist der Grund, warum es<br />
jedes Jahr einen neuen Impfstoff gegen die echte<br />
Grippe gibt“, erklärt Dr. Martin Bachmann,<br />
Chefarzt der lungenfachärztlichen Intensivmedizin<br />
des Asklepios-Klinikums Hamburg-<br />
Harburg. „Influenzaviren verändern ihr<br />
Äußeres saisonal, der Impfstoff aus dem letzten<br />
Winter taugt im nächsten nichts mehr.“<br />
Impfungen sind eine Möglichkeit, Viren<br />
schon vor einer Erkrankung zu bekämpfen:<br />
Sie trainieren das körpereigene Immunsystem<br />
vor einer Infektion, sodass es bereits weiß, wie<br />
es die Antikörper bildet, mit denen sich ein<br />
Virus bekämpfen lässt (siehe Seite 38). Doch<br />
wenn ein Mensch erst an einem Virus erkrankt<br />
ist, wird die Behandlung schwieriger. „Gegen<br />
die meisten Viruserkrankungen existiert<br />
kein Medikament, das die Erreger direkt<br />
zerstört“, sagt der Experte aus Hamburg. „Hat<br />
SARS-CoV-2 einmal im Körper eine Infektion<br />
ausgelöst, kann es nur durch die körpereigene<br />
Abwehr erfolgreich bekämpft werden.“<br />
Covid-19 lässt sich daher derzeit lediglich<br />
symptomatisch behandeln.<br />
Die meisten Viren wehrt der gesunde Körper<br />
selbst ab: Das Immunsystem erkennt die Erreger<br />
als bedrohlich und produziert Antikörper,<br />
um die Eindringlinge unschädlich zu machen.<br />
Manchmal reicht das aber nicht – die Viren<br />
vermehren sich im Körper und richten spezifische<br />
Schäden an. Prinzipiell gibt es nur einige<br />
wenige sogenannte Virostatika, die diese Pro-<br />
90<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Bei gut 80 Prozent der mit dem Virus<br />
Infizierten funktioniert das Immunsystem<br />
gut. Sie entwickeln keine oder nur leichte<br />
Beschwerden wie Fieber, Husten,<br />
Gliederschmerzen oder Geruchsstörungen<br />
CORONAVIREN<br />
Warum reagieren<br />
Menschen so<br />
unterschiedlich<br />
auf SARS-CoV-2?<br />
Viele Infizierte haben keine Beschwerden,<br />
andere erkranken schwer. Grund könnte<br />
die sogenannte Kreuzreaktivität sein. Bekanntlich<br />
gibt es neben SARS-CoV-2 noch<br />
weitere Coronaviren. Diese Viren sind weltweit<br />
verbreitet und für etwa 15 Prozent<br />
aller Erkältungen verantwortlich. Jeder<br />
Dritte, der vor der Pandemie eine solche<br />
harmlose Erkältung durchgemacht hat,<br />
verfügt wahrscheinlich über sogenannte<br />
T-Zellen im Blut, die Bestandteile des<br />
Corona virus SARS-CoV-2 erkennen. Das haben<br />
Wissenschaftler in mehreren Stu dien<br />
herausgefunden. T-Zellen sind entscheidend,<br />
um ein immunologisches Gedächtnis<br />
aufzubauen. Menschen, die SARS-CoV-2<br />
problemlos überstehen, könnte also diese<br />
sogenannte Kreuzreaktivität schützen. Ihr<br />
Immunsystem hat ein „Gedächtnis“ entwickelt.<br />
Ihre Abwehr erinnert sich sozusagen<br />
an die altbekannten Coronaviren – und<br />
bekämpft SARS-CoV-2 effektiv.<br />
Etwa 14 Prozent der<br />
an Covid-19 erkrankten<br />
Patienten werden in<br />
einer Klinik behandelt<br />
»Circa zehn Tage nach der Ansteckung<br />
ist ein kritischer Punkt erreicht, da<br />
entscheidet sich, ob jemand mild oder<br />
schwer erkrankt.«<br />
zesse eindämmen können. Dazu zählen etwa<br />
Mittel gegen HIV, Herpes oder Hepatitis B. Eine<br />
innovative, aber extrem teure Therapie gegen<br />
Hepatitis C kann die Viren sogar vollständig<br />
vernichten.<br />
Auch bei Covid-19 hängt viel davon ab, wie<br />
das Immunsystem dem Virus begegnet. „Erkrankte<br />
durchlaufen zwei wesentliche Phasen“,<br />
erklärt Intensivmediziner Bachmann. Nach<br />
der Ansteckung zeigten sich grippeähnliche<br />
Symptome. „Nach etwa zehn Tagen ist dann ein<br />
kritischer Punkt erreicht, da entscheidet sich,<br />
ob jemand mild oder schwer erkrankt.“ Das<br />
hängt vor allem davon ab, ob das Immunsystem<br />
die Eindringlinge schnell abwehren kann.<br />
Die gute Nachricht: Aktuelle Daten zeigen,<br />
dass das Immunsystem bei etwa 80 Prozent der<br />
Infizierten funktioniert, die Betroffenen entwickeln<br />
keine oder nur leichte Beschwerden.<br />
Dazu zählen Fieber, Husten, Gliederschmerzen<br />
sowie Geschmacks- und Riechstörungen.<br />
„Am besten kuriert man diese Beschwerden<br />
zu Hause mit Ruhe, viel Flüssigkeit sowie<br />
entzündungshemmenden und fiebersenkenden<br />
Medikamenten aus“, sagt Bachmann.<br />
Etwa 14 Prozent der Menschen mit SARS-<br />
CoV-2 entwickeln jedoch eine überschießende<br />
Reaktion des Immunsystems. Die Folgen<br />
sind Störungen der Atemwege, der Haut, des<br />
Herz-Kreislauf-Systems, Nierenversagen,<br />
FOTO: ADOBE STOCK<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 91
WISSEN ∙ MEDIKAMENTE<br />
Wer sich mit SARS-CoV-2 angesteckt hat<br />
und einen schweren Verlauf erleidet, dem<br />
wäre mit einem wirksamen Medikament<br />
am besten geholfen. Einige Forschungsergebnisse<br />
lassen jetzt hoffen<br />
FOTO: ADOBE STOCK, STOCKSY/MARC TRAN<br />
gefährliche Blutgerinnsel oder gar ein Schlaganfall.<br />
Diese schwer erkrankten Patienten<br />
müssen in der Klinik behandelt werden.<br />
„Die meisten dieser Betroffenen sind älter als<br />
50 Jahre und haben oft gleich mehrere Risikofaktoren<br />
für Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, erklärt<br />
Intensivmediziner Bachmann. „Sie sind<br />
oft übergewichtig, zuckerkrank, leiden<br />
an Gefäßverkalkungen oder Bluthochdruck.“<br />
Fünf von 100 Infizierten erkranken schnell<br />
lebensbedrohlich. Manche sterben, obwohl<br />
intensivmedizinisch behandelt und beatmet, oft<br />
innerhalb weniger Tage an einem Multiorganversagen.<br />
Die Behandlung schwer an Covid-19<br />
Erkrankter ist äußerst komplex. Sie besteht<br />
vor allem darin, entgleiste Vorerkrankungen<br />
und Komplikationen in Schach zu halten.<br />
KORTISON, HEPARIN, REMDESIVIR & CO.<br />
Auf den Intensivstationen setzen Ärzte dabei<br />
heute flächendeckend Kortison ein. Auch<br />
Chefarzt Bachmann aus Harburg nutzt die bekannte<br />
„Allzweckwaffe“ schon seit Beginn der<br />
Pandemie – also noch bevor es wissenschaftliche<br />
Publikationen zu Kortison bei Covid-19<br />
gab. „Hat der Körper bereits Antikörper gegen<br />
SARS-CoV-2 gebildet und somit die Akutphase<br />
der eigentlichen Virusinfektion überwunden,<br />
mildert Kortison die Immunreaktion deutlich<br />
ab“, so seine Erfahrung. Zahlreiche Studien<br />
belegen mittlerweile, dass schwer Erkrankte weniger<br />
oft sterben, wenn sie Kortison bekommen.<br />
Mitunter behandeln Ärzte ihre Patienten<br />
auch mit Wirkstoffen, die bereits gegen andere<br />
virale Erkrankungen eingesetzt wurden,<br />
etwa mit Remdesivir. Das Präparat wirkt gegen<br />
viele andere Viren, indem es sozusagen die<br />
Kopier maschine in den menschlichen Zellen<br />
unterdrückt, mit der sich die Erreger rasant<br />
vermehren. Remdesivir wurde zuletzt in Afrika<br />
eingesetzt, um Patienten in der Ebola-Epidemie<br />
zu behandeln – ohne großen Erfolg. Seit<br />
Kurzem ist es in der Europäischen Union für<br />
die frühe Covid-19-Therapie zugelassen, wenn<br />
schwer Erkrankte sauerstoffpflichtig sind, aber<br />
noch nicht beatmet werden.<br />
Mangels effektiver Medikamente behelfen<br />
sich Ärzte zudem mit der altbekannten Methode<br />
der sogenannten Serumtherapie, einst von<br />
Emil von Behring entwickelt. Sie setzte man<br />
schon in den 1920er-Jahren gegen die Spanische<br />
Grippe ein. Im März 2<strong>02</strong>0 erlebte das Verfahren<br />
ein Revival in China. Trotz fehlender Wirkungsbelege<br />
wurde die Serumtherapie auch in<br />
den USA populär: Nachdem die FDA die Heilversuche<br />
erlaubt hatte, wurden dort innerhalb<br />
von zwei Monaten 20 000 Patienten behandelt.<br />
Bei der Serumtherapie wird Menschen, die<br />
bereits eine Infektion mit SARS-CoV-2 durchgemacht<br />
haben, Blut abgenommen. Das Plasma,<br />
also der flüssige Anteil des Bluts, enthält Antikörper<br />
gegen das Virus, die konzentriert und<br />
dann verabreicht werden. „Auch wir erforschen<br />
die Wirkung des sogenannten Rekonvaleszenz-<br />
GRENZKONTROLLEN<br />
Diese Abwehrstrategien<br />
hat der Organismus<br />
‸ Plasmaproteine in der Blutbahn<br />
‸ Flimmerhärchen in den Atemwegen<br />
‸ Haut- und Schleimhäute als erste Barriere<br />
‸ Antikörper produzierende Zellen im Darm<br />
‸ Rachenmandeln im Schlund<br />
‸ Salzsäure im Magensaft<br />
‸ Urinfluss in Harntrakt<br />
‸ Enzyme in der Tränenflüssigkeit<br />
»Die meisten schwer<br />
Betroffenen sind älter<br />
als 50 Jahre, haben oft<br />
gleich mehrere Risikofaktoren<br />
für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.«<br />
92<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
Plasmas bei Covid-19“, sagt Winfried Kern,<br />
Professor für Innere Medizin am Universitätsklinikum<br />
Freiburg. „Studien weisen darauf hin,<br />
dass die Gabe dieses therapeutischen Plasmas<br />
das Abwehrsystem von Erkrankten darin unterstützt,<br />
das Coronavirus zu bekämpfen.“<br />
Dem Ärztlichen Leiter der Abteilung Infektiologie<br />
zufolge ist die Serumtherapie jedoch<br />
weder eine flächendeckende Behandlung noch<br />
eine Lösung des Problems fehlender Wirkstoffe.<br />
„Es kann in Einzelfällen bei schwer kranken<br />
Covid-19-Patienten sowie bei Erkrankten mit<br />
einer Immunschwäche ein Therapiebaustein<br />
in einer komplexen Behandlung sein“, sagt Kern.<br />
„Wir diskutieren den Einsatz allerdings bei<br />
jedem einzelnen Patienten und verwenden<br />
nur das Blut individuell ausgesuchter Spender,<br />
das ist sehr aufwendig.“ Die Serumtherapie<br />
ist dem Infektiologen zufolge maximal eine<br />
Interims lösung. „Qualitätsgeprüfte, synthetisch<br />
hergestellte Antikörper, wie sie derzeit erforscht<br />
und hoffentlich bald verfügbar sein werden,<br />
sind natürlich um Längen besser.“<br />
Tatsächlich verlangt die rasante Dynamik<br />
der Pandemie mehr denn je nach neuen Strategien<br />
im Kampf gegen Covid-19. Neben Impfstoffen<br />
prüfen Wissenschaftler und Hersteller<br />
unter Hochdruck mehrere vielversprechende<br />
Ansätze. So werden Wirkstoffe mit Namen wie<br />
Aprotinin, Tocilizumab oder Molnupiravir in<br />
Studien getestet.<br />
DER TRUMP-STOFF: REGN-COV2<br />
Zu den größten Hoffnungsträger gehören – wie<br />
auch Experte Kern aus Freiburg sagt – neutralisierende,<br />
monoklonale Antikörper, die synthetisch<br />
hergestellt werden. Es gibt mehrere Kandidaten,<br />
der Wettlauf um den besten Mix für<br />
diese Passivimpfung hat längst begonnen. Am<br />
weitesten vorn liegt die Firma Regeneron mit<br />
ihrem Antikörper-Cocktail: Im November hat<br />
die US-Arzneimittelbehörde FDA dem Produkt<br />
eine Notfallzulassung erteilt. REGN-COV2,<br />
das auch der damalige US-Präsident Donald<br />
Trump erhielt, kann bereits für die frühe<br />
Therapie von Hochrisikopatienten bei schweren<br />
Covid-19-Symptomen eingesetzt werden.<br />
Ende Januar wurde bekannt, dass auch Deutschland<br />
200 000 Dosen davon eingekauft hat,<br />
obwohl der Wirkstoff keinerlei Zulassung hat.<br />
Neutralisierende Antikörper sind seit Mitte<br />
der 1970er-Jahre bekannt, 1984 gab es für<br />
ihre Erforschung den Medizinnobelpreis. Mittlerweile<br />
werden diese teuren Biologika gegen<br />
viele Krankheiten eingesetzt. Bei einer sogenannten<br />
Passivimpfung erhält der menschliche<br />
Körper fertige Antikörper gegen das Virus, er<br />
muss sie nicht mehr selbst erzeugen. Im Gegensatz<br />
dazu steht die aktive Impfung, die den<br />
Körper anregt, selbst Antikörper zu bilden.<br />
Eine Passivimpfung ist aus mehreren Gründen<br />
kein Ersatz für den selbst aufgebauten<br />
Immunschutz. „Da die Antikörper im Körper<br />
ABWEHRTRAINING<br />
So stärken Sie Ihr<br />
Immunsystem<br />
‸ Regelmäßig bewegen Ausdauersport<br />
wie Schwimmen, Radfahren, Laufen,<br />
Inlineskaten und Nordic Walking erhöht<br />
die Anzahl an weißen Blutkörperchen.<br />
‸ Gesund essen Vitamine, Mineralien,<br />
SpurenelementestärkendieDarmfloraund<br />
wehren Keime aus der Nahrung ab.<br />
‸ Stress abbauen reguliert den Kortisolspiegel<br />
und reduziert Entzündungen.<br />
‸ Ausreichend schlafen fördert die Funktion<br />
der T-Immunzellen.<br />
‸ Regelmäßig saunen hält das Herz-<br />
Kreislauf-Systemfitundsteigertdie<br />
Abwehrkräfte.<br />
‸ Viel spazieren gehen im Tageslicht fördert<br />
die körpereigene Vitamin-D-Produktion.<br />
‸ Zigaretten meiden Sie schwächen<br />
die Abwehr von Krankheitskeimen in den<br />
Atemwegen.<br />
‸ Auf Alkohol verzichten Das Zellgift mindert<br />
die Immunabwehr in allen Organen.<br />
nach und nach abgebaut werden, besteht nur<br />
für etwa vier bis zwölf Wochen eine Immunität“,<br />
sagt Harald Prüß, Forschungsgruppenleiter<br />
am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative<br />
Erkrankungen (DZNE). Nach einer<br />
aktiven Immunisierung bleibt der menschliche<br />
Organismus im besten Fall ein Leben lang<br />
immun. Die Passivvakzine ist zudem in der<br />
Herstellung deutlich teurer.<br />
Während eine Aktivimpfung möglichst viele<br />
Gesunde vor einer Coronainfektion schützt,<br />
ist eine schnell wirksame Passivimpfung vor<br />
allem für die Behandlung von Risikopatienten<br />
vorgesehen, die sich mutmaßlich frisch infiziert<br />
haben. Oder für immungeschwächte Kranke<br />
mit Krebs oder Autoimmunerkrankungen. „Es<br />
wäre ideal, wenn es beide Impfungen gäbe,<br />
dann könnten wir auf jede Situation flexibel<br />
reagieren“, sagt Prüß, der zudem Oberarzt an<br />
der Klinik für Neurologie mit Experimenteller<br />
Neurologie an der Charité Berlin ist.<br />
Zusammen mit seinem Team vom DZNE<br />
und der Charité-Universitätsmedizin veröffentlichte<br />
Prüß jüngst vielversprechende Ergebnisse<br />
für eine Passivimpfung. Aus dem Blut von<br />
Menschen, die eine Covid-19-Erkrankung überstanden<br />
hatten, isolierten die Forscher zunächst<br />
fast 600 verschiedene Antikörper. Durch<br />
Labortests konnten sie diese Zahl auf einige<br />
hochwirksame Exemplare eingrenzen und<br />
diese dann mittels Zellkulturen – quasi in der<br />
Petrischale – künstlich nachbilden. „Drei der<br />
600 identifizierten Antikörper sind für eine<br />
klinische Entwicklung besonders vielversprechend“,<br />
sagt Prüß. „Mittels Strukturanalysen<br />
haben wir gezeigt, dass diese Antikörper an<br />
das Virus binden und so verhindern, dass es in<br />
Zellen eindringen und sich vermehren kann.“<br />
Die Antikörper neutralisieren das Virus sehr<br />
effektiv, das Immunsystem beseitigt die Erreger.<br />
Untersuchungen an Hamstern – sie sind ähnlich<br />
wie Menschen anfällig für eine Infektion<br />
durch SARS-CoV-2 – belegen die hohe Wirksamkeit<br />
der ausgewählten Antikörper.<br />
VIELVERSPRECHENDE HOFFNUNG<br />
Die Chance auf sichere und nebenwirkungsfreie<br />
Vakzinen ist dem Neurologen zufolge sehr<br />
hoch. „Denn wir haben die Antikörper nicht<br />
wie bei der Serumtherapie aus Plasma von<br />
corona infizierten Spendern gewonnen, sondern<br />
aus Antikörper produzierenden B-Immunzellen,<br />
die im Blut schwimmen“, sagt Prüß.<br />
Durch Ablesen deren genetischen Bauplans<br />
konnten sie im Labor rekombinante Antikörper<br />
nachbauen. „So lassen sich die maßgeschneiderten<br />
Antikörper in industriellem Maßstab in<br />
gleichbleibend hoher Qualität und theoretisch<br />
beliebiger Menge produzieren, und der Körper<br />
stößt die identischen, humanen Antikörper<br />
nicht als fremd ab“, sagt der Oberarzt.<br />
Derzeit arbeitet der Industriepartner Miltenyi<br />
Biotec daran, die Antikörper effektiv und den<br />
strengen Zulassungskriterien entsprechend in<br />
großen Mengen herzustellen. Mit einem Wirkstoff,<br />
der in Phase-I- und -II-Studien getestet<br />
wird, rechnen die Wissenschaftler im Frühjahr.<br />
„Die Konkurrenten Regeneron und Eli Lilly<br />
sind unserer Entwicklung klar voraus“, sagt<br />
Prüß. „Aber es wird sicher genügend Raum für<br />
eine Vielzahl therapeutischer Antikörper geben,<br />
da die Produktion aufwendig ist und doch für<br />
viele Patienten potenziell infrage kommt.“<br />
Bis all die Fragen einer effektiven Therapie<br />
gegen Covid-19 geklärt sein werden, ist also<br />
Geduld gefragt. Zwischendrin gibt es aber<br />
immer wieder auch Grund für Zuversicht. So<br />
zeigten jüngst zwei Studien unabhängig voneinander:<br />
Das Risiko, dass sich Menschen nach<br />
einer überstandenen SARS-CoV-2-Infektion<br />
erneut anstecken, ist sehr gering.<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 93
WISSEN ∙ ZUKUNFT<br />
Text: Tom Rademacher<br />
Ende Mai 2<strong>02</strong>0 wurde Maureen Sweeney<br />
für einen Moment weltberühmt. Von<br />
Panama bis Indien berichteten Medien<br />
von der „Einhorn-Oma“ aus New Jersey.<br />
Die Coronapandemie hatte die USA schon fest<br />
im Griff. Maskenpflicht und Abstandsregeln<br />
waren Alltag – gerade um ältere Menschen wie<br />
Maureen zu schützen. Ihre beiden Enkel hatte<br />
sie seit Monaten nicht in den Arm nehmen<br />
können. Als sie es nicht mehr aushielt, schlüpfte<br />
sie in ein quietschpinkes Einhornkostüm. Wie<br />
in einem dieser aufgeblasenen Schutzanzüge, die<br />
man aus Katastrophenfilmen kennt, watschelte<br />
Maureen rüber zum Haus der Enkel. Das Video,<br />
in dem die beiden der sicher verpackten Oma<br />
selig in die Arme fallen, ging um die Welt. Es<br />
traf einen Nerv.<br />
In aller Welt sehnen Menschen sich nach<br />
Normalität und ihrem Leben ohne Corona<br />
zurück. Die Pandemie hat global den Alltag<br />
auf den Kopf gestellt wie kaum ein Ereignis je<br />
zuvor. Ob Kindergarten oder Altersheim, ob<br />
Pilgerfahrt oder Fußballspiel, ob U-Bahn oder<br />
Kreuzfahrtschiff – wo Menschen zusammenkommen,<br />
droht Gefahr. Ausgelassenes Feiern,<br />
Händeschütteln und Umarmen erscheinen<br />
fast schon als skurrile und vom Aussterben<br />
bedrohte Eigenarten.<br />
Der große<br />
Verstärker<br />
Die Coronapandemie hat unseren Alltag aus den<br />
Angeln gehoben. Wann kommen wir wieder<br />
zurück zu einer Normalität? Und wie sieht die aus?<br />
VORSICHTIGE HOFFNUNG<br />
Seitdem nun gleich mehrere Impfstoffe gegen<br />
das Virus verfügbar sind, keimt Hoffnung.<br />
Ein Ende der Pandemie erscheint absehbar.<br />
Experten warnen jedoch, dass es noch dauern<br />
wird. Vor dem Sommer werde Deutschland<br />
kaum genügend Impfstoff für alle Bürger<br />
haben, gestand Bundeskanzlerin Angel Merkel<br />
kürzlich ein. Erst ab dem dritten Quartal sei<br />
der Bedarf gedeckt. Christian Drosten von der<br />
Charité Berlin dämpft die Hoffnung auf eine<br />
baldige Rückkehr zur Normalität weiter. Im<br />
Sommer seien vielleicht die Impfwilligen mit<br />
hohem Risiko geimpft, sagte Deutschlands<br />
bekanntester Virologe im Januar. Daraufhin<br />
FOTO: GETTY IMAGES<br />
Ausgelassenes Feiern,<br />
Händeschütteln und<br />
Umarmen erscheinen<br />
fast schon als skurrile<br />
und vom Aussterben<br />
bedrohte Eigenarten.<br />
aber die Vorsichtsmaßnahmen zurückzufahren<br />
sei brandgefährlich: „Dann werden wir auf den<br />
Intensivstationen in Deutschland eine andere<br />
Art von Intensivpatient sehen: nämlich diejenigen,<br />
die aus voller Gesundheit vollkommen<br />
überraschend einen schweren Verlauf bekommen<br />
haben. Die wird es dann in großen Zahlen<br />
geben“, so Drosten.<br />
Deshalb rechnet auch das Robert-Koch-<br />
Institut noch bis Ende <strong>2<strong>02</strong>1</strong> mit Maskenpflicht,<br />
Abstandsregeln und regionalen Lockdowns.<br />
Vor 2<strong>02</strong>2 wird demnach kaum mit „Normalität“<br />
zu rechnen sein. Aber wie soll diese Normalität<br />
überhaupt aussehen? „Im Moment hört<br />
man oft zwei Extrempositionen“, sagt Michael<br />
Schetsche. „Entweder wird alles anders, oder<br />
alles wird, wie es vorher war. Beides ist falsch.“<br />
Schetsche ist Soziologe, Zukunftsforscher<br />
und lehrt als Professor an der Uni Freiburg. Vor<br />
Corona beschäftigte er sich etwa damit, wie<br />
die Gesellschaft sich verändern könnte, wenn<br />
wir Kontakt zu Außerirdischen aufnähmen.<br />
Die Coronapandemie nennen er und die Zunft<br />
der Zukunftsforscher ein Störereignis: „Das<br />
sind Ereignisse, die starke akute Auswirkungen<br />
haben können, aber langfristig nicht unbedingt<br />
Grundlegendes dauerhaft verändern“, erklärt<br />
Schetsche. Die Coronapandemie beschleunige<br />
vor allem Trends und Tendenzen, die vorher<br />
schon da gewesen seien.<br />
94<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong>
DIE NEUE ARBEITSWELT<br />
Nirgends macht sich das so deutlich bemerkbar<br />
wie in der Arbeitswelt. Laut IT-Branchenverband<br />
Bitkom arbeitete 2<strong>02</strong>0 zwischenzeitlich<br />
fast jeder zweite deutsche Arbeitnehmer<br />
ganz oder teilweise im Homeoffice. Ein Jahr<br />
zuvor war es etwa jeder achte. Binnen Wochen<br />
wurde möglich, worüber zuvor jahrelang<br />
diskutiert worden war. Zum Glück. Auch so<br />
ist die Weltwirtschaft 2<strong>02</strong>0 schon um mehr<br />
als fünf Prozent geschrumpft. Das hat es seit<br />
dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Wie<br />
es ohne die Möglichkeiten digitaler Heimarbeit<br />
ausgesehen hätte? Gastwirte und Friseure<br />
dürften eine dunkle Ahnung davon haben.<br />
„Dass so viele von uns den Arbeitsort frei<br />
wählen können, ist womöglich die wichtigste<br />
gesellschaftliche Erkenntnis dieser Pan demie“,<br />
sagt Zukunftsforscher Schetsche. Sie dürfte<br />
nachwirken. Umfragen zeigen, dass ein Großteil<br />
der Arbeitnehmer hierzulande zwar nicht<br />
ausschließlich zu Hause arbeiten will. Die Möglichkeit,<br />
es zumindest tageweise zu tun, will<br />
die Mehrheit aber beibehalten – zur Not per<br />
Gesetzanspruch. Auf Unternehmerseite Die Welt sehnt tut sich sich<br />
auch etwas. Das Beratungsunternehmen<br />
nach Normalität und einem<br />
KPMG hat Hunderte Leben Firmenchefs ohne Corona in aller zurück. Welt<br />
befragt: 69 Prozent planen Besonders im Zug der vermisst: Digitalisierung<br />
ab <strong>2<strong>02</strong>1</strong> den Abbau eine einfache von Büroflächen.<br />
Umarmung<br />
Die Büros selbst könnten bald anders aus-<br />
sehen. Der Trend zum offenen Großraumbüro<br />
hatte zuletzt schon einen Knick bekommen –<br />
zu laut, zu störend. Seit der Pandemie werden<br />
solche Raumkonzepte noch kritischer hinterfragt.<br />
Genauso die Zahl von Meetings oder<br />
Dienstreisen.<br />
VERÄNDERTE STÄDTE<br />
Wer seltener zur Arbeit pendelt, entlastet zudem<br />
den Verkehr und die Umwelt. Womöglich<br />
verändert er langfristig sogar den Wohnungsmarkt.<br />
Laut einer Bitkom-Umfrage würde jeder<br />
fünfte Berufstätige in Deutschland umziehen,<br />
wenn er in Zukunft größtenteils im Home office<br />
arbeiten könnte. Ein Arbeitszimmer steht<br />
oben auf der Wunschliste, aber auch günstigere<br />
Mieten oder ein attraktiveres Wohnumfeld.<br />
Was macht das mit der Stadt?<br />
Jürgen Oßenbrügge glaubt, dass die Stadtplanung<br />
sich verändern wird. Oßenbrügge ist<br />
Wirtschaftsgeograf und Professor für Stadtund<br />
Regionalforschung an der Uni Hamburg.<br />
„Jahrzehntelang haben Städte das Problem<br />
des fehlenden Wohnraums mit einer Nachverdichtung<br />
zu lösen versucht“, sagt er. Vermeintlich<br />
gute Vorbilder wie Wien hätten so mehr<br />
sozialen Wohnungsbau auch zentrumsnah<br />
geschaffen. „Die Pandemie hat aber gezeigt,<br />
wie die kleine Wohnung ohne Garten oder<br />
Balkon plötzlich zum erweiterten Gefängnis<br />
werden kann.“ Wichtiger werde daher künftig,<br />
was Stadtplaner die „blau-grüne Infrastruktur“<br />
nennen: Balkone, Gärten, Parks und Gewässer.<br />
„Außerdem zählen die Quartierstruktur und<br />
die lokale Versorgung“, so Oßenbrügge. Ganz<br />
neu sei das nicht, aber die Pandemie beschleunige<br />
das Umdenken.<br />
So will etwa Giuseppe Sala, der Bürgermeister<br />
von Mailand, seine von Corona<br />
gebeutelte Stadt für die Zukunft entsprechend<br />
umbauen. Er plädiert immer wieder öffentlich<br />
für die „15-Minuten-Stadt“: „Die Erfahrung<br />
des Lockdowns hat uns gezeigt, dass wir eine<br />
gut aufgestellte lokale Ausstattung brauchen,<br />
wo alle ihren täglichen Bedarf zu Fuß oder per<br />
Fahrrad decken“, so Sala.<br />
KONSUM VON DER COUCH AUS<br />
Doch gerade diese örtliche Versorgung hat<br />
derweil mit einem Gegentrend zu kämpfen.<br />
Laut dem Beratungsunternehmen McKinsey<br />
wuchs der Bereich E-Commerce im Jahr 2<strong>02</strong>0<br />
weltweit in drei Monaten so stark wie in den<br />
vorangegangenen zehn Jahren zusammen. Dem<br />
von Corona befeuerten Boom beim Onlinehandel<br />
steht eine tiefgreifende Krise beim<br />
stationären Handel gegenüber. Viele Geschäfte<br />
dürften sie nicht überleben. Der Rest macht<br />
sich Gedanken.<br />
So prognostiziert ein US-amerikanischer<br />
Branchenverband, dass Verkaufsflächen künftig<br />
kleiner werden könnten, um Raum für Lager<br />
und paralleles Onlinegeschäft zu schaffen.<br />
01/<strong>2<strong>02</strong>1</strong> 95
WISSEN ∙ ZUKUNFT<br />
FOTO: GETTY IMAGES<br />
Kaufhäuser, die bislang mit psychologischen<br />
Tricks die Kundschaft zum Verweilen und Stöbern<br />
animierten, prüfen demnach, wie sie die<br />
kontakt- und bargeldlose Expressabwicklung<br />
voranbringen. Laut Europäischer Zentralbank<br />
haben 40 Prozent der Bürger im Euroraum 2<strong>02</strong>0<br />
deutlich weniger Bargeld verwendet als 2019.<br />
Nach der Pandemie wollen das 90 Prozent von<br />
ihnen beibehalten.<br />
Das Kinosterben dürfte Corona ebenfalls<br />
beschleunigen. Volle 32 Milliarden US-Dollar<br />
hat die Branche 2<strong>02</strong>0 verloren – ein Umsatzeinbruch<br />
von 71,5 Prozent gegenüber 2019.<br />
Auch die letzten Hollywoodstudios haben deshalb<br />
das Streaming für sich entdeckt. Warner<br />
Bros. will alle Produktionen für <strong>2<strong>02</strong>1</strong> sofort per<br />
Streaming verfügbar machen, statt sie zunächst<br />
exklusiv im Kino zu spielen.<br />
Digitalisierung und Pandemie wälzen auch<br />
unsere Essgewohnheiten um. Nicht nur der<br />
selbst gemachte Sauerteig gehörte 2<strong>02</strong>0 zu den<br />
Gewinnern. Liefer-Apps boomen heute noch<br />
stärker als schon vor Corona – genauso wie<br />
„Ghost Kitchens“. So nennt man reine Lieferdienste,<br />
die sich das Restaurant gleich ganz<br />
sparen und in anonymen Lagerhallen kochen.<br />
KULTUR AM WENDEPUNKT<br />
Künstler, Theater, Konzertveranstalter und<br />
Messen haben 2<strong>02</strong>0 ebenfalls notgedrungen im<br />
Internet experimentiert. Ein würdiger Ersatz<br />
war das selten – schon gar nicht wirtschaftlich.<br />
Beim deutschen Verband der Konzert- und<br />
Veranstaltungswirtschaft heißt es, die Hälfte<br />
der Unternehmen werde die Pandemie nicht<br />
überleben. Tontechniker und Beleuchter<br />
schulten längst um. Stirbt damit die Kultur?<br />
Unwahrscheinlich. Viele Konzerthallen sind<br />
für <strong>2<strong>02</strong>1</strong> allein schon mit Nachholterminen<br />
ausgebucht. Der Nachholbedarf beim Publikum<br />
ist womöglich noch viel größer.<br />
„Nach großen Pandemien wie der Pest<br />
in Europa sehen wir, wie das öffentliche Leben<br />
im regelrechten Überschwang aufblüht“, sagt<br />
Bernd Schneidmüller. Er ist Professor für Mittelalterliche<br />
Geschichte an der Uni Heidelberg.<br />
„Wir können das nachlesen bei den Kirchenmännern,<br />
die wortreich über die Ausschweifungen<br />
und eine neue Lasterhaftigkeit klagen. Aber<br />
wir sehen es auch in der Mode und der Kunst,<br />
die freizügiger und freigeistiger werden.“<br />
Wie viele andere zieht Schneidmüller Parallelen<br />
zu den 1920ern – den Roaring Twenties<br />
oder den „verrückten Jahren“ (années folles),<br />
wie sie in Frankreich heißen. Nach dem Ersten<br />
Weltkrieg und der Spanischen Grippe gaben<br />
sich die Menschen dem Rausch hin. Musik, Tanz,<br />
Kultur und Gesellschaft erfanden sich neu.<br />
„Man feierte das Leben und das Über leben“,<br />
sagt Schneidmüller.<br />
Auch für die Städte hat der Historiker gute<br />
Nachrichten. Wer es sich leisten konnte, verließ<br />
zu Pestzeiten zwar die Stadt. „Später wuchsen<br />
die Zentren dagegen umso schneller. Eher dünn<br />
besiedelte Landstriche erholten sich zum<br />
Teil nie mehr“, so Schneidmüller. Auch Stadtplaner<br />
Oßenbrügge glaubt nicht, dass lang fristig<br />
eine Stadtflucht droht: „Städte bleiben die<br />
kreativen Zentren. Daran ändert auch Homeoffice<br />
nichts.“<br />
SORGE UM „GENERATION CORONA“<br />
Was die langfristigen Folgen für Familien und<br />
die „Generation Corona“ angeht, war Sabina<br />
Pauen zu Beginn der Pandemie noch optimistisch.<br />
„Kinder sind sehr anpassungsfähig. Aber<br />
je länger Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen<br />
anhalten, desto deutlicher wirken<br />
sie auf die Entwicklung und die Psyche“, sagt die<br />
Professorin für Entwicklungspsychologie von<br />
der Uni Heidelberg. Gerade in frühen Jahren, in<br />
denen Grundlagen des Sozialverhaltens erlernt<br />
werden, könne der fehlende Kontakt lange<br />
nachwirken. Auch Teenager verpassten 2<strong>02</strong>0<br />
wichtige Meilensteine. Nach Corona sieht<br />
Pauen daher Nachholbedarf, „sowohl beim<br />
Unterrichtsstoff als auch beim Sozialen“.<br />
Ein coronagetriebener Digitalisierungsschub<br />
täte den Schulen gut. „Die neuen Möglichkeiten<br />
sind erst einmal begrüßenswert“, sagt Pauen.<br />
Trotz Rotznase von zu Hause aus am Unterricht<br />
teilnehmen zu können und überhaupt digitale<br />
Lernmedien zu nutzen, das sei nicht nur<br />
in einer Pandemie von Nutzen. Ein Ersatz für<br />
Präsenzunterricht sei es aber nicht. Dazu sei<br />
die Situation in den Familien zu unterschiedlich.<br />
„Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas,<br />
das Ungleichheiten bei den Bildungschancen<br />
verstärkt“, sagt Pauen. „Der Abstand wächst<br />
und ist nur schwer aufzuholen.“ Kämen Krisen<br />
hinzu wie ein Jobverlust der Eltern, konfliktreiche<br />
Enge zu Hause oder gar häusliche Gewalt,<br />
96<br />
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Ob sich die Büros je wieder<br />
füllen? Städte bleiben die<br />
kreativen Zentren. Daran<br />
ändert auch das Homeoffice<br />
nichts, meinen Experten<br />
Ein Historiker sieht Parallelen zu<br />
den 1920ern – den »verrückten<br />
Jahren«, in denen man das Leben<br />
und das Überleben feierte.<br />
Partys, Freunde, Open Air:<br />
für den Sommer <strong>2<strong>02</strong>1</strong><br />
noch mit einem großen<br />
Fragezeichen versehen<br />
DAS ALLZEITGERÜCHT<br />
Bringt Corona einen<br />
Babyboom?<br />
Der Mythos hält sich hartnäckig: Angeblich<br />
führen Stromausfälle, Schneestürme<br />
und dergleichen zu einem Anstieg der<br />
Geburten neun Monate später. Statistisch<br />
erwiesen hat sich das nie. Kein Wunder:<br />
Langeweile mag zu Sex führen, aber<br />
nicht zum Eisprung. Die Pandemie könnte<br />
dennoch Auswirkungen zeigen. Ungeplante<br />
Schwangerschaften könnten steigen,<br />
wo Verhütungsmittel schwerer verfügbar<br />
waren. Da Corona aber mit erheblichen<br />
Zukunftsängsten verbunden ist, dürften<br />
Paare ihren Kinderwunsch eher aufgeschoben<br />
haben. Die Überlastungen im<br />
Gesundheitsbereich erschweren auch<br />
den Zugang zu künstlicher Befruchtung.<br />
Möglich also, dass sich Paare nach der<br />
Pandemie vermehrt ihren Kinderwunsch<br />
zu erfüllen versuchen.<br />
könnten Kinder langfristig traumatisiert bleiben.<br />
„Von einer verlorenen Generation zu reden<br />
wäre sicher übertrieben“, sagt Pauen. „Aber wir<br />
müssen nach der Pandemie deutlich mehr für<br />
diese Kinder und Jugendlichen tun als vorher.“<br />
POLITIK UND WERTE IN BEWEGUNG<br />
Möglich ist, dass Corona politischen Schwung<br />
bringt. „Nach großen Epidemien gibt es eine<br />
regelrechte Regelungsflut“, sagt Historiker<br />
Schneidmüller. In ganz Europa seien nach der<br />
Endlich wieder shoppen<br />
gehen. Doch der stationäre<br />
Handel steckt in einer tiefen<br />
Krise. Viele Geschäfte<br />
dürften sie nicht überleben<br />
Pest Verfassungen, Verträge und Edikte gesprossen.<br />
„Es gab die Tendenz, mehr zu regeln.“<br />
Ob das gute Nachrichten für Bildungspolitik,<br />
Klimaschutz oder internationale Zusammenarbeit<br />
sind? Schneidmüller will es nicht<br />
ausschließen. „Wir erleben gerade eine Renaissance<br />
des Nationalstaats. Menschen erwarten<br />
mehr und sind auch zu mehr Zugeständnissen<br />
bereit.“ Das deckt sich mit der Prognose von<br />
Zukunftsforscher Schetsche: „Die Menschen<br />
wollen, dass Behörden schnell handeln. Die<br />
Exekutive gewinnt an Gewicht. Das bringt ein<br />
Demokratiedefizit, das wir kritisch hinterfragen<br />
sollten.“ Die 1920er ließen schließlich nicht<br />
nur Jazz, Kino und Tanz erblühen. Sie bildeten<br />
auch den Nährboden für den Faschismus.<br />
Die Rollenverteilung zu Hause muss nach<br />
Corona ebenfalls neu verhandelt werden. Laut<br />
einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung haben<br />
Frauen zuletzt für Homeschooling und Kinderbetreuung<br />
hierzulande beruflich deutlich<br />
stärker zurückgesteckt als Männer. Klassische<br />
Geschlechterrollen verfestigen sich wieder.<br />
Franziska Deutsch untersucht derzeit, ob sich<br />
durch die Pandemie auch Werte und politische<br />
Einstellungen verändern. Die Politologin und<br />
ihr Team von der Jacobs-Universität Bremen<br />
wollen Befra gun gen zu Anfang, während<br />
und nach der Pan demie vergleichen. Solche<br />
Studien laufen derzeit in zwölf Ländern – von<br />
Deutschland bis Südkorea. „Wir vermuten, dass<br />
sich Wertvorstellungen in zwei gegensätzliche<br />
Richtungen entwickeln werden“, so Deutsch.<br />
Manche würden durch bedrohliche Ereignisse<br />
sicherheitsorientierter: „Das haben wir etwa<br />
nach den Attentaten vom 11. September 2001<br />
in den USA gesehen“, so Deutsch. Weil Corona<br />
jedoch kein Feind von außen ist, sei auch der<br />
Gegentrend denkbar. „Dann eint uns die Bedrohung<br />
durch das Virus und macht Menschen<br />
eher offener.“ Für besonders wahrscheinlich<br />
hält Deutsch, dass Corona auch hier vor allem<br />
wieder als der große Verstärker für bestehende<br />
Tendenzen wirkt: Konservative werden konservativer,<br />
Progressive progressiver.<br />
Das dürfte tatsächlich auch beeinflussen, wie<br />
jeder Einzelne nach der Pandemie zurück zu<br />
alten Gewohnheiten findet. Menschen werden<br />
neu austarieren, wen sie umarmen und wann.<br />
Aussterben werden Umarmungen und selbst<br />
der Händedruck nicht, glaubt Zukunfts forscher<br />
Schetsche: „Das sind sehr alte und stabile Verhaltensmuster.“<br />
Wenn Corona eins gezeigt hat,<br />
dann ist es, wie sehr wir uns nach menschlichen<br />
Kontakten und Berührungen sehnen. Zur Not<br />
holen wir sie uns halt im Einhornkostüm.<br />
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REAKTIONEN<br />
»Machen Sie sich keine Gedanken<br />
über die schäbigen Kommentare.<br />
Ich lasse mich impfen. Die gehen<br />
alle noch impfen. Auf Facebook<br />
große Klappe.« Imad M.<br />
Den Nerv getroffen!<br />
Unser neues Heft war noch nicht mal gedruckt, da prasselten bereits<br />
heftige Reaktionen herein – auf eine Ankündigung des Hefttitels<br />
per E-Mail-Newsletter, auf Facebook und Instagram. Das reichte aus.<br />
Es bestätigt uns darin, das Richtige getan zu haben: ein Heft auf<br />
den Markt zu bringen über das meistdiskutierte Thema dieser Tage.<br />
Hier ein paar Meinungen zum Heft – bevor es überhaupt<br />
gelesen werden konnte<br />
»pieks Magazin – geht’s<br />
eigentlich noch infantiler,<br />
um die Impfpropaganda<br />
unters Volk zu bringen?«<br />
Thomas M.<br />
»Es ist einfach ekelhaft,<br />
diese Propaganda für eine<br />
RNA. Es ist keine Impfung,<br />
mittlerweile müssten das<br />
alle wissen.« Rosa Maria<br />
»Da wird<br />
eine wirklich<br />
folgenschwere<br />
Entscheidung<br />
verniedlicht.<br />
Schämt Ihr<br />
Euch nicht?«<br />
Peter S.<br />
»Ich vertraue<br />
den Wissenschaftlern,<br />
und<br />
ich vertraue<br />
keinen dummen<br />
Gerüchten.«<br />
Manfred K.<br />
»Der Impfstoff soll mich<br />
selbst und andere schützen.<br />
Nach der Impfung fühle ich<br />
mich sicherer.« Rauheya A.<br />
»Ich bin heute geimpft<br />
worden. Und muss<br />
sagen, ich bin so froh.«<br />
Melanie P.<br />
»Das, was jetzt ist, ist die Neue Normalität. Gewöhnt<br />
Euch endlich dran und hört zu jaulen auf.<br />
Wer jault, hat schlicht und einfach nur das falsche<br />
Mindset. Man liebt tunlichst das, was ist.« O. I.<br />
IMPFEN<br />
Wir freuen uns auf Ihre Meinung, Kritik und Themenideen für weitere Ausgaben<br />
E-Mail: redaktion@pieks-magazin.de<br />
Facebook: @pieksmagazin<br />
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