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Filmanalyse - Gabriele Jutz

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Rolle spielt, ist die Art und Weise, wie der Film selbst die Fähigkeit<br />

zu erzählen, entwickelt, wesentlich:<br />

»Wenn man sich den allerersten Filmen zuwendet, könnte eine der ersten<br />

Fragen, die sich die Narratologie legitimerweise stellt, sein, ob es sich dabei<br />

um narrative Werke handelt oder nicht. Sind die Filme der Brüder Lumiere<br />

Erzählungen? Jedenfalls muß diese wichtige Frage geklärt werden, wenn<br />

man in der Untersuchung der Beziehungen zwischen Film und Erzählen<br />

weiterkommen will« (Gaudrault, 1984, S. 62).<br />

fn dem ersten Film, den die Brüder Lumiere gedreht und später<br />

vorgeführt haben, »La sortie des usines Lumiere« (Länge 1 Minute<br />

oder 17 Meter bei 16 Bildern/Sek), sieht man, wie die Fabriktore<br />

geöffnet werden, Arbeiter und Arbeiterinnen zu Fuß und auf Fahrrädern<br />

auf die Straße strömen und nachdem der/die Letzte die Fabrik<br />

verlassen hat, eines der Tore geschlossen wird.<br />

»Der Film hat einen Anfang und ein Ende, markiert durch Bewegungen des<br />

Tores, durch das die Arbeiter herauskommen. Außerdem, und das ist vielleicht<br />

noch wichtiger, ist die vom Film dargestellte Handlung ein vollständiger<br />

Ablauf. [. . .] Der Film beginnt mit dem Anfang eines sequentiellen<br />

Ablaufs und endet damit, daß dieser Ablauf zu seinem ihm eigenen Schluß<br />

kommt« (Deutelbaum, 1983, S. 301/2).<br />

Ffandelt es sich dabei bereits um eine, wenn auch minimale, Erzählung<br />

oder lediglich um eine Ereignisaussage, wie sie auch der Titel<br />

des Films in einem Satz ausdrückt: »[Die Arbeiter] verlassen die<br />

Fabrik Lumiere«? Folgt man den Bedingungen eines narrativen Minimalschemas,<br />

dann kann diese Einstellung, insofern sie nur diesen<br />

einen Satz ausdrückt, nur eine Ereignisaussage und noch keine Erzählung<br />

sein, zu der mindestens zwei Sätze gehören, damit es zu einer<br />

narrativen Ereignisfolge kommt: Von einem Zustand 1 über einen<br />

Übergang zu einem Zustand 2 (Vgl. Stempel, 1973, S. 331). Da-<br />

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gegen scheint die Beschreibung des Handlungsverlaufs in diesem<br />

Film dem Schema durchaus zu entsprechen: Tore werden geöffnet<br />

(Anfang, Zustand 1), Arbeiter verlassen die Fabrik (Übergang), ein<br />

Tor wird geschlossen (Zustand 2, die Ruhe eines neuen Gleichgewichts).<br />

Tatsächlich ist die Motivation des erzählten Geschehens<br />

als Ereignis nur sehr schwach, dessen Vorhersehbarkeit vermutlich<br />

die Filmaufnahme überhaupt erst ermöglicht hat. Denn »ein Ereignis<br />

wird als das gedacht, was geschehen ist, obwohl möglich war,<br />

daß es nicht geschah. Je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, daß das<br />

betreffende Vorkommnis stattfinden kann [d. h. je mehr Information<br />

die Nachricht überträgt], desto höher wird es auf der Skala der<br />

Sujethaftigkeit [Folge erzählter Ereignisse] lokalisiert« (Jurij Lotman,<br />

Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt/M. 1973, S.<br />

354). In der Perspektive des Fabrikbesitzers (Lumiere), der auch<br />

den Film aus seinem Kontor heraus gedreht hat, wird gerade die<br />

Geschlossenheit der Minierzählung betont, was ihre Wiederholbarkeit<br />

einschließt (er vertraut darauf, daß die Arbeiter Tag für Tag<br />

zur gleichen Zeit die Fabrik verlassen werden); im Titel des Films<br />

dagegen drückt sich eine andere (Erzähl-) Perspektive aus, die den<br />

Film zu der Frage öffnet wie: »Was machen die Arbeiter, wenn sie<br />

die Fabrik verlassen haben, an ihrem Feierabend?« und die nur<br />

durch eine Erzählung beantwortet werden kann, die dem ersten<br />

mindestens einen zweiten Satz (eine weitere Einstellung) hinzufügt.<br />

Es ist also durchaus möglich, daß ein Film mit nur einer Einstellung<br />

die Gliederung des narrativen Minimalschemas realisiert; ein<br />

solcher Film kann als (Mini-)erzählung gelten, weil grundsätzlich<br />

innerhalb einer einzigen Einstellung eine in sich geschlossene<br />

Handlung zu einer kurzen Erzählung abgebildet werden kann.<br />

Ganz offensichtlich ist das in einer der ersten fiktionalen Erzählungen,<br />

dem »Arroseur arrosé« von Lumiere, der Fall: Ein Gärtner<br />

sprengt den Garten (Zustand 1); ein Junge setzt den Fuß auf den<br />

Schlauch und unterbricht die Wasserzufuhr; als der Gärtner in den<br />

Schlauch sieht, erstaunt, wo das Wasser bleibt, nimmt der Junge<br />

den Fuß vom Schlauch, und das Wasser spritzt dem Gärtner ins<br />

Gesicht (das >Ereignis< als Übergang von einem Zustand in einen<br />

anderen); er erkennt den Übeltäter und verfolgt ihn, um ihn zu verhauen<br />

(Zustand 2, Strafe als Folge des Ereignisses).<br />

»Es handelt sich hier, kein Zweifel, um eine kleinste vollständige Handlung:<br />

Man schreitet fort von einem anfänglichen Zustand des Gleichgewichts (der<br />

Gärtner ist friedlich bei der Arbeit) zu einem Zustand der Störung des<br />

Gleichgewichts (der Junge stört die Ruhe des Gärtners), bis am Ende ein<br />

Gleichgewichtszustand wieder hergestellt wird (der Gärtner rächt sich und<br />

kann vermutlich seine Arbeit fortsetzen)« (Gaudrault, 1984, S. 64).<br />

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