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Filmanalyse - Gabriele Jutz

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sollte); er war es auch, der mit der Laterna magica einzelne erklärende<br />

Schrifttafeln einblendete und sogar, wie im »Passion«-Film,<br />

den Phonographen mit einem Erzähltext bediente. Man kann sagen,<br />

daß der Filmvorführer der eigentliche erste Erzähler im frühen<br />

Film gewesen ist, eine Rolle, die später der Cutter in der Filmmontage<br />

nur noch selten ausfüllen durfte.<br />

Neu ist an diesem Verfahren, Reihen von Einstellungen zu einem<br />

mehrteiligen Film zu addieren, nur gewesen, daß sich die >Bilder<<br />

bewegten, denn jeder Laterna magica-Vortrag hatte sich bereits des<br />

prinzipiell gleichen Verfahrens bedient: Jede Scheibe illustrierte<br />

eine Szene der Erzählung, die entweder bekannt war oder vom<br />

Vorführer erzählt wird; in der Sammlung des deutschen Projektionskünstlers<br />

Paul Hoffmann (1829-1888) finden sich zum Beispiel<br />

71 Scheiben zu Dantes »Göttlicher Komödie«, 76 zur »Odyssee«,<br />

44 zu den Nibelungen und ebenfalls 47 zum Alten und Neuen<br />

Testament (Vgl. Historisches Museum Frankfurt (Hg.), Laterna<br />

Magica - Vergnügen, Belehrung, Unterhaltung. Der Projektionskünstler<br />

Paul Hoffmann (1829-1888), Frankfurt/M. 1981). Die<br />

Reihung von tableauartigen Einstellungen unter einem gemeinsamen<br />

Thema setzte diese Tradition unmittelbar fort. Reihenfilme<br />

wie die »Passion Christi« konnten gut an die jeweiligen Vorführbedingungen<br />

angepaßt und in kleineren oder größeren Portionen gekauft<br />

werden; sie wurden außerdem in den >Penny Arcades< eingesetzt,<br />

wo in jedem der Kinetoscope-Guckkästen eine Einstellung<br />

zu sehen war; für die Fortsetzung mußte man in den nächsten Kasten<br />

wieder einen Penny einwerfen, man konnte selbstverständlich<br />

die Reihenfolge selbst bestimmen und zum Beispiel bei den 15<br />

Runden eines Boxkampfes im letzten Kasten schon mal nachsehen,<br />

wie der Kampf ausgegangen ist. Überhaupt eignete sich das Verfahren<br />

gut für die Darstellung aktueller sportlicher oder politischer<br />

Ereignisse (und unsere Film-Wochenschauen und Magazinsendungen<br />

des Fernsehens haben diese Struktur erfolgreich übernommen):<br />

So konnten zum Beispiel Aufnahmen des amerikanischen Präsidenten<br />

McKinley zusammengestellt und durch die sensationellen Bilder<br />

von seiner Beerdigung nach seiner Ermordung während des Besuchs<br />

einer pan-amerikanischen Ausstellung in Buffalo 1901 ergänzt<br />

werden. Die Hinrichtung des Attentäters Leon Czolgosz auf<br />

dem elektrischen Stuhl wurde nachgestellt; eine den Film einleitende<br />

lange Parallelfahrt entlang der Gefängnismauern, hinter denen<br />

die Hinrichtung stattfand, konnte auf ausdrückliche Empfehlung<br />

der Edison Company bei der Vorführung weggelassen werden<br />

(Vgl. Musser, 1979, bes. S. 15-21).<br />

Der entscheidende Punkt bei diesen Versuchen, filmische Er-<br />

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zählweisen zu entwickeln, war die Verständlichkeit der dargestellten<br />

Handlung für das Publikum. Der Ablauf aktueller Ereignisse<br />

wie die Beerdigung Präsident McKinleys oder Kriegsereignisse im<br />

spanisch-amerikanischen Krieg, zu dem es erstmals auch Filmberichte<br />

gab, waren durch die Presse bereits bekannt, bevor die Bilder<br />

auf der Leinwand zu sehen waren; der Film hat die bekannten Ereignisse<br />

lediglich >authentisch< illustriert. Aus der Presse wurden<br />

auch karikierende Darstellungen politischer Ereignisse, von Politikern<br />

oder von Alltagsszenen übernommen; in den USA wurde vor<br />

allem >Teddy< Roosevelt gerne in komischen Szenen dargestellt<br />

(Musser, 1979), und auch in Deutschland hat Oskar Messter den<br />

Stoff für komische Filme aus Witzblättern entnommen (Panofsky,<br />

1940, S. 52). Das Publikum kannte die Vorlagen und war zufrieden,<br />

sie in der filmischen Darstellung wiederzuerkennen. Einer der populärsten<br />

Romanstoffe um die Jahrhundertwende, Harriet<br />

Beecher-Stowe's »Uncle Tom's Cabin«, war fester Bestandteil der<br />

populären Theater und Vaudeville-Bühnen (»Das Theaterstück war<br />

über eine Viertelmillionmal einem Publikum gezeigt worden, das<br />

größer als die Bevölkerung der USA [vor der Jahrhundertwende]<br />

war« [Slout, 1973, S. 140]) und hatte immer wieder zu Rassenkonflikten<br />

Anlaß gegeben (Vgl. Csida/Bundy Csida, 1978, S. 114-116).<br />

Die >Verfilmung« des Romans in 14 Tableaus mit einer Länge von<br />

insgesamt 10 Minuten (»eine Serie von insgesamt 14 lebenden Bildern,<br />

Tableaux vivants, die mit einem Prolog die noch nicht dagewesene<br />

Länge von 1100 Fuß erreichten« [Slout, 1973, S. 143])<br />

mußte jedem unverständlich bleiben, der den Roman nicht bereits<br />

kannte; so illustrierten die im Film dargestellten berühmten Szenen<br />

- ohne narrative Verbindung untereinander - das kulturelle Wissen,<br />

das in den Zuschauern vorausgesetzt werden mußte. Es bestand<br />

natürlich auch die Möglichkeit, wie schon bei den Laterna<br />

magica-Vorführungen, den Film durch einen Erklärer bzw. Erzähler<br />

begleiten zu lassen; Schrifteinblendungen waren mit Hilfe einer<br />

Laterna magica möglich und Sache des Vorführers und sogar Tonaufzeichnungen<br />

mit Edisons Phonographen konnten wie zur »Passion<br />

Christi« eingesetzt werden.<br />

So war die Grundvoraussetzung für die Verständlichkeit dieser<br />

Filme, ob sie aus nur einer Einstellung bestanden oder zu thematischen<br />

Reihen zusammengestellt waren, die Gemeinsamkeit der populären<br />

Kultur, die sowohl die Filme mit ihrer Umgebung, in der<br />

sie gezeigt wurden, teilten, als auch mit dem Publikum, das die<br />

Filme in diesem Umfeld populärer Unterhaltung rezipierte. Die<br />

Fähigkeit zu erzählen, blieb diesen frühen Filmen äußerlich, nicht<br />

sie erzählten, sondern sie wurden durch eine Erzählung in ihrem<br />

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