Filmanalyse - Gabriele Jutz
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METEOR / EÄRLY C1NEMA<br />
me Entwicklung der Unterhaltungsindustrie seit 1910 und ihre wachsende Akzeptanz<br />
durch die Kultur der Mittelschicht (und die Anpassung, die diese Akzeptanz erst er<br />
möglichte) machen es schwer zu begreifen, was für eine gewaltige Befreiung die po<br />
puläre Unterhaltung zu Beginn des Jahrhunderts bot. Ich glaube, es war gerade diese<br />
exhibitionistische Qualität der Populärkunst um die Jahrhundertwende, die sie für die<br />
Avantgarde so attraktiv machte — ihr Freisein von jeglicher Diegese, ihre Betonung<br />
des direkten Reizes.<br />
In seinen Schriften über das variety theater hob Marinetti nicht nur dessen Ästhetik<br />
des Staunenmachens und der visuellen Reize hervor, sondern insbesondere die Tat<br />
sache, daß es einen neuen Typus des Zuschauers hervorbrachte, der im Gegensatz zum<br />
„statischen, stupiden Voyeur" des traditionellen Theaters stand. Der Zuschauer im<br />
variety theater fühlt sich vom Spektakel direkt angesprochen — und nimmt auch daran<br />
teil, indem er mitsingt oder sich über die Komiker lustigmacht. 12 ) Beschäftigen wir uns<br />
aber mit dem frühen Kino nur innerhalb des archivarisch-akademischen Kontexts, so<br />
entgeht uns womöglich seine ausgeprägte Verbindung zum Vaudeville - immerhin sei<br />
nem bis ungefähr 1905 wichtigsten Aufführungsort: Das Kino war damals eine der At<br />
traktionen in Vaudeville-Programmen, umgeben von einem Sammelsurium unzusam<br />
menhängender Nummern in einer nichtnarrativen und eigentlich fast unlogischen Ab<br />
folge von Auftritten. Auch wenn diese kurzen Filmchen in den gegen Ende dieser<br />
Phase aufkommenden billigen nickelodeons gezeigt wurden, wurden sie doch weiterhin<br />
im „Format" der variety vorgeführt: Trickfilme wechselten ab mit kurzen Farcen, Ak<br />
tualitäten, „illustrierten Liedern" und sehr oft auch mit billigen Vaudeville-Nummern.<br />
Und gerade das nichtnarrative Element der variety war auch der Auslöser für die An<br />
griffe auf diese Unterhaltungsform, die verschiedene Reformgruppen in den Jahren ab<br />
1910 unternahmen. So stellt eine Untersuchung der Russell Sage Foundation über die<br />
populäre Unterhaltung fest, Vaudeville beruhe „auf einem künstlichen und nicht auf<br />
einem natürlichen menschlichen Interesse an Entwicklung, denn diese Nummern wei<br />
sen keinerlei notwendigen und üblicherweise auch keinen tatsächlichen Zusammen<br />
hang auf". 13 ) Mit anderen Worten: keine Narration. In den Augen dieser bürgerlichen<br />
Reformgruppe glich ein Abend im variety theater einer Fahrt mit der Straßenbahn oder<br />
einem geschäftigen Tag in einer überfüllten Innenstadt - und löste nur ungesunde Ner<br />
vosität aus. Natürlich wollten sich Marinetti und Eisenstein genau diesen künstlichen<br />
12) Vgl. Filippo Tommaso Marinetti: The variety theater 1913. In: Umbro Apollonio (Hg.): Futurist<br />
Manifestos. New York 1973, S. 127.<br />
13) Davis, Michael: The Exploitation of Pleasure. New York: Russell Sage Foundation, Dept. of Child<br />
Hygiene (Flugblatt) 1911.<br />
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