30.12.2012 Views

Filmanalyse - Gabriele Jutz

Filmanalyse - Gabriele Jutz

Filmanalyse - Gabriele Jutz

SHOW MORE
SHOW LESS

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

METEOR / EÄRLY C1NEMA<br />

me Entwicklung der Unterhaltungsindustrie seit 1910 und ihre wachsende Akzeptanz<br />

durch die Kultur der Mittelschicht (und die Anpassung, die diese Akzeptanz erst er­<br />

möglichte) machen es schwer zu begreifen, was für eine gewaltige Befreiung die po­<br />

puläre Unterhaltung zu Beginn des Jahrhunderts bot. Ich glaube, es war gerade diese<br />

exhibitionistische Qualität der Populärkunst um die Jahrhundertwende, die sie für die<br />

Avantgarde so attraktiv machte — ihr Freisein von jeglicher Diegese, ihre Betonung<br />

des direkten Reizes.<br />

In seinen Schriften über das variety theater hob Marinetti nicht nur dessen Ästhetik<br />

des Staunenmachens und der visuellen Reize hervor, sondern insbesondere die Tat­<br />

sache, daß es einen neuen Typus des Zuschauers hervorbrachte, der im Gegensatz zum<br />

„statischen, stupiden Voyeur" des traditionellen Theaters stand. Der Zuschauer im<br />

variety theater fühlt sich vom Spektakel direkt angesprochen — und nimmt auch daran<br />

teil, indem er mitsingt oder sich über die Komiker lustigmacht. 12 ) Beschäftigen wir uns<br />

aber mit dem frühen Kino nur innerhalb des archivarisch-akademischen Kontexts, so<br />

entgeht uns womöglich seine ausgeprägte Verbindung zum Vaudeville - immerhin sei­<br />

nem bis ungefähr 1905 wichtigsten Aufführungsort: Das Kino war damals eine der At­<br />

traktionen in Vaudeville-Programmen, umgeben von einem Sammelsurium unzusam­<br />

menhängender Nummern in einer nichtnarrativen und eigentlich fast unlogischen Ab­<br />

folge von Auftritten. Auch wenn diese kurzen Filmchen in den gegen Ende dieser<br />

Phase aufkommenden billigen nickelodeons gezeigt wurden, wurden sie doch weiterhin<br />

im „Format" der variety vorgeführt: Trickfilme wechselten ab mit kurzen Farcen, Ak­<br />

tualitäten, „illustrierten Liedern" und sehr oft auch mit billigen Vaudeville-Nummern.<br />

Und gerade das nichtnarrative Element der variety war auch der Auslöser für die An­<br />

griffe auf diese Unterhaltungsform, die verschiedene Reformgruppen in den Jahren ab<br />

1910 unternahmen. So stellt eine Untersuchung der Russell Sage Foundation über die<br />

populäre Unterhaltung fest, Vaudeville beruhe „auf einem künstlichen und nicht auf<br />

einem natürlichen menschlichen Interesse an Entwicklung, denn diese Nummern wei­<br />

sen keinerlei notwendigen und üblicherweise auch keinen tatsächlichen Zusammen­<br />

hang auf". 13 ) Mit anderen Worten: keine Narration. In den Augen dieser bürgerlichen<br />

Reformgruppe glich ein Abend im variety theater einer Fahrt mit der Straßenbahn oder<br />

einem geschäftigen Tag in einer überfüllten Innenstadt - und löste nur ungesunde Ner­<br />

vosität aus. Natürlich wollten sich Marinetti und Eisenstein genau diesen künstlichen<br />

12) Vgl. Filippo Tommaso Marinetti: The variety theater 1913. In: Umbro Apollonio (Hg.): Futurist<br />

Manifestos. New York 1973, S. 127.<br />

13) Davis, Michael: The Exploitation of Pleasure. New York: Russell Sage Foundation, Dept. of Child<br />

Hygiene (Flugblatt) 1911.<br />

31

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!