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Filmanalyse - Gabriele Jutz

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METEOR / EARLY C1NEMA<br />

Jahrhundertwende - etwa Coney Island - bietet reichlich Stoff, der dazu anregt, die<br />

Wurzeln des frühen Kinos zu überdenken.<br />

Wir sollten aber auch nicht übersehen, daß in den Anfängen des Filmevorführens das<br />

Kino selbst eine Attraktion darstellte. Die ersten Zuschauer kamen zu den Präsentatio­<br />

nen, um die dort gezeigten Maschinen zu bestaunen (seinerzeit die neueste Errungen­<br />

schaft der Technik, die den allseits bewunderten Apparaturen und Wunderwerken wie<br />

Röntgengerät und, etwas davor, Phonograph folgte), und nicht, um sich Filme anzuse­<br />

hen. Auf den Plakaten, die zu den Premieren einluden, lockten nicht die Titel LE<br />

DEJEUNER DE BEBE oder THE BLACK DIAMOND EXPRESS, sondern der Cinématographe,<br />

der Biograph und das Vitascope. Auch nachdem der Reiz des Neuen nachgelassen<br />

hatte, setzte sich die Zur-Schau-Stellung der filmischen Möglichkeiten fort, und das<br />

nicht nur in den Zaubererfilmen. Viele Nahaufnahmen in frühen Filmen unterscheiden<br />

sich von späteren Einsatzformen dieser Technik insofern, als der Effekt der Vergröße­<br />

rung nicht zur narrativen Interpunktion genutzt wird, sondern als Attraktion an und für<br />

sich. Die dazwischengeschnittene Nahaufnahme in Edwin Porters THE GAY SHOE<br />

CLERK (1903) mag zwar spätere Continuity-Techniken vorwegnehmen, doch ihre<br />

grundsätzliche Motivation an dieser Stelle ist wiederum purer Exhibitionismus: Die<br />

Dame hebt den Rocksaum und gibt ihr Bein den Blicken preis. Biograph-Filme wie<br />

PHOTOGRAPHING A FEMALE CROOK (1904) oder HOOLIGAN IN JAIL (1903) bestehen<br />

aus einer einzigen Sequenz, in der die Kamera so dicht an die Hauptfigur heranfährt,<br />

bis diese voll im Bild ist. Die Vergrößerung dient hier nicht als Ausdruck einer narrati­<br />

ven Spannung; sie ist selbst eine Attraktion und macht die Pointe des Films aus. 8 )<br />

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Kino der Attraktionen die Aufmerksamkeit<br />

des Zuschauers auf sehr direkte Weise fordert, indem es die visuelle Neugier erweckt<br />

und vermittels eines aufregenden Spektakels Vergnügen bereitet — eines einmaligen<br />

Ereignisses, egal ob fiktiv oder dokumentarisch, das für sich interessant ist. Die ge­<br />

zeigte Attraktion kann auch filmischer Natur sein, so wie die eben geschilderten<br />

frühen Nahaufnahmen oder Tricks, bei denen eine kinematische Manipulation (Zeit­<br />

lupe, Rückwärtslauf, das Ersetzen von Bildern, Mehrfachbelichtung) das Reizvolle und<br />

Neue ausmacht. Die fiktionalen Situationen sind zumeist auf kleine Gags und Vaude-<br />

ville-Aktionen beschränkt. Diese Art des Filmemachens ist durch das direkte Anspre­<br />

chen des Publikums gekennzeichnet, durch einen Kinovorführer, der den Zuschauern<br />

eine Attraktion darbietet. Der dramatischen Zur-Schau-Stellung wird der Vorrang ge­<br />

geben vor dem Narrativen, dem direkten Auslösen von Schocks oder Überraschungen<br />

8) Hier möchte ich Ben Brewster für seine Kommentare nach dem erstmaligen Vortrag dieses Papers<br />

danken, in denen er die Bedeutung dieses Aspekts für das Kino der Attraktionen hervorhob.<br />

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