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JOHANNES OE GARLANOIA: OE MENSURABILI MUSICA

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VIII<br />

Vorwort<br />

Vorwort<br />

IX<br />

das editorische Problem, aus den beiden nicht, bzw. nur in Details redigierten<br />

Fragmenten und der vollständig überlieferten Bearbeitung einen kritischen<br />

Text zu rekonstruieren 7 • Um trotz der mangelhaften Quellenlage philologisch<br />

gesicherte Rückschlüsse auf die originale Textgestalt zu gewinnen, erwies es<br />

sich als notwendig, die bisher nur teilweise erforschte Garlandia-Rezeption des<br />

13. Jahrhunderts systematisch zu untersuchen und die in den abhängigen<br />

Traktaten ermittelten Textkonkordanzen als sekundäre Quellen für die Rekonstruktion<br />

des Archetypus heranzuziehen. Daß der vorliegende kritische Text<br />

in vielen Details trotz allem nur als Annäherung an den ursprünglichen W ortlaut<br />

und Notentext des Traktats gelten kann, braucht angesichts der besonderen<br />

überlieferungsverhältnisse kaum betont zu werden.<br />

Umfang und Intensität der Rezeption lassen erkennen, welche dominierende<br />

Stellung Garlandias Traktat in der Musiklehre des 13. Jahrhunderts eingenommen<br />

hat. Denn erst gegen Ende des Jahrhunderts scheint sich die ihrerseits von<br />

ihm abhängige, um 1260 (1) entstandene Ars cantus mensurabilis Franeos von<br />

Kölns endgültig durchgesetzt zu haben, während die Autoren der siebziger<br />

Jahre, Anonymus 4 und Anonymus St. Emmeram, noch an der auf Johannes<br />

de Garlandia zurückgehenden Lehrtradition festhalten und Hieronymus de<br />

Moravia (zwischen 1272 und 1304)9 Garlandias und Franeos Traktate nebeneinanderstehend<br />

als gültige Lehrschriften überliefert.<br />

Die Schlüsselstellung, die der Traktat De mensurabili musica in der Musik­<br />

Iehre des 13. Jahrhunderts einnimmt, entspricht insofern seiner historischen<br />

Bedeutung, als er nach heutigem Wissen die älteste umfassende theoretische<br />

Auseinandersetzung mit der MehJ;stimmigkeit der Notre-Dame-Epoche und<br />

der frühen Ars antiqua darstellt, d.h. mit jener Stufe der mittelalterlichen<br />

Mehrstimmigkeit, in der erstmalig der Rhythmus als konstitutiver Faktor der<br />

Komposition greifbar ist. Gemäß der im IncipiPo genannten neuen Generalbezeichnung<br />

der Mehrstimmigkeit, musica mensurabilis, die neben die ältere Bezeichnung<br />

organum tritt, steht die mensuratio temporis, d.h. die Zeitmessung<br />

der Töne und die Methode ihrer graphischen Fixierung, erstmalig im Mittelpunkt<br />

einer größeren musiktheoretischen Abhandlung.<br />

Inwieweit der Autor bei der Abfassung seiner offenbar für den Unterricht an<br />

Summer Canon and its Background, MD V, 1951, 108f., griff bereits auf den von<br />

COUSSElIlAKER nicht edierten Teil der vatikanischen Fassung zurück, da der Traktat<br />

hier - im Unterschied zur Pariser Fassung - "in its own right" aufgezeichnet sei.<br />

T Zur Begründung der hier vorweggeno=enen Untersuchungsergebnisse vgl.<br />

unten, S. 27 ft'.<br />

• Datierung nach H. BESSELER, Artikel Franco von Köln, MGG IV, 1955,692.<br />

In einem nach Abschluß der vorliegenden Arbeit erschienenen Aufsatz (Zur Datierung<br />

von Franco8 Ars cantus mensurabilis, AfMw XXVII, 1970, 122-127) begründet<br />

W. FROBENIU8 eine Datierung auf ca. 1280.<br />

• Datierung nach Cs XXIII. In der hier vorliegenden Bearbeitung von GARLAN­<br />

DlAS Schrift kündigt sich bereits die spätere ausschließliche Geltung der franconi­<br />

Bchen Lehre an; vgI. Teil II, S. H.<br />

10 "Habito de ipsa plane. musica, que.e i=ensurabilis dicitur, nunc est praesens<br />

intentio de ipse. mensurabili, quae organum quantum ad nos appellatur, prout organum<br />

generaliter dicitur ad omnem mensurabilem musicam" (I, 1).<br />

der Pariser Universität bestimmten Scbrift ll auf bereits formulierte Traditionen<br />

zurückgreifen konnte 12 , ist nicht festzustellen, da sämtliche erhaltenen<br />

Mensuraltraktate des 13. Jahrhunderts mit Ausnahme der teilweise älteren<br />

Discantus positio vulgaris 13 später entstanden sind. Dagegen hat die - in den<br />

von Coussemaker edierten Fassungen allerdings stark korrumpierte - systematische<br />

Anlage des gesamten Traktats zweifellos als persönliche Leistung Johannes<br />

de Garlandias zu gelten. In ihr wird das Bestreben des Magisters erkennbar,<br />

aus dem Usus, d.h. den in der Praxis vorgegebenen Satz- und Notationsarten,<br />

mittels rationaler Durchdringung eine Ars, d. h. ein umfassendes<br />

Lehrsystem abzuleiten, das seinerseits der Praxis neue Möglichkeiten der<br />

Rhythmusnotation und damit des mehrstimmigen Satzes eröffnet. Zur Durchführung<br />

dieser Konzeption bedient sich der Verfasser jener für einen wissenschaftlichen<br />

Autor des 13. Jahrhunderts selbstverständlichen Lebr- und Darstellungsform,<br />

die nach ihren äußeren Merkmalen mit Vorbehalt als "scholastische<br />

Methode" bezeichnet werden kann 14. Die spezifische Systematik dieser<br />

Methode ist sowohl für die - von den späteren Autoren weitgehend rezipierte -<br />

übersichtliche Gesamtdisposition des Traktats 16 als auch für die Anlage der<br />

einzelnen Kapitel mit ihren sprachlich stereotypen Klassifikationen, Definitionen<br />

und überleitungsformeln bestimmend 16.<br />

Die im Anschluß an die vorliegende Rekonstruktion des Archetypus unternommene<br />

Interpretation der Notationslehre untersucht das zentrale Thema<br />

der Lehrschrift: die artifizielle Umformung der in der Notre-Dame-Epoche<br />

ausgebildeten Notationspraxis.<br />

*<br />

Die vorliegende Arbeit wurde im Jahre 1969 von der Philosophischen Fakultät<br />

der Universität Freiburg i.Br. als Dissertation angenommen. Der Druckfassung<br />

sind lediglich einige Anmerkungen zu inzwischen erschienener Literatur<br />

11 VgI. dazu die Untersuchungen zur Verfasserfrage, unten S. 1ft'.<br />

" Nur in der Discantus-Lehre findet sich im Zusammenhang mit der Konkordanzen-Setzung<br />

eine Berufung auf auctores: "Et hoc bene permittitur et licentiatur<br />

ab auctoribus primis" (XI, 15).<br />

13 Cs 189-194 (CS I, 94-97). Die überlieferte Fassung des Traktats stellt zweifellos<br />

eine relativ späte Redaktion dar; vgl. FR. RECKow, Proprietas und perfectio,<br />

AMI XXXIX, 1967,137, Anm. 81.<br />

" V gI. M. GRABMANN, Geschichte der scholastischen Methode, Bd. II, Freiburg i. Br.<br />

1911, 384. Zur antiken Tradition dieser Methodologie vgl. M. FUHRMANN, Das systematische<br />

Lehrbuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften in der Antike,<br />

Göttingen 1960.<br />

,. VgI. TeilII, S. 40.<br />

11 Vgl. die Systematik der Ligaturen (II, 21-39) und die der lIfoduskombinationen<br />

(XI, 16-129). Für die systematisierenden Bestrebungen des Autors ist es kennzeichnend,<br />

daß er in einigen Fällen das System der Praxis überordnet, so wenn er in<br />

Analogie zur figura sine proprietate eine figura sine opposito rum proprietate (II, 25 u.<br />

29) definiert oder wenn er die Diskordanzen in Analogie zur Einteilung der Konkordanzen<br />

trichotomisch klassifiziert (IX, 25-33), obwohl sie - im Unterschied zu<br />

den Konkordanzen - in praxi (vgI. Cap. XI) unterschiedslos gebraucht werden; vgl.<br />

auch Teil II, S. 26.

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