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2005 – 2006, nummer 1 - Thauma

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Jagd nach dem zu erstrebenden Ideal fallen; selbst<br />

ein Außenseiter, ist er besonders sensibilisiert für<br />

die Ungerechtigkeiten seiner Zeit.<br />

Europa und Asien kann als das andere<br />

Hauptwerk Lessings gelten. Lessing schrieb es<br />

während des Beginns des Ersten Weltkrieges, und<br />

es wird denn auch natürlich, weil es ein<br />

Antikriegspamphlet ist, 1915 von der<br />

Militärzensur verboten. Es erschien dann 1918 als<br />

Broschüre und 1930 in einer völlig<br />

umgearbeiteten Form bei Meiner. Die Ausgabe<br />

von 1918 muss den jungen Gadamer in<br />

Verzückung versetzt haben:<br />

„Die Emanzipation vom Elternhaus kam<br />

durch das Buch eines mäßigen Literaten:<br />

Theodor Lessings „Europa und Asien“ <strong>–</strong> eine<br />

ganz schwungvolle, sarkastische Kulturkritik,<br />

die mich umwarf. Es gab also noch etwas<br />

anderes in der Welt, als preußische Tüchtigkeit,<br />

Leistung, Disziplin.“ 7<br />

Gadamers Urteil über Europa und Asien war<br />

sofern berechtigt, als das Buch, als Gadamer es<br />

las, noch eine eher broschürenhaften Charakter<br />

hatte, im Gegensatz zu der 1930 erscheinen völlig<br />

umgearbeiteten Version, die zu einem richtigen<br />

Buch ausgewuchsen war. Mit Europa und Asien<br />

versucht Lessing eine Gegenüberstellung dieser<br />

beiden zu bewirken, die nicht nur geographisch,<br />

sondern kulturell motiviert ist. Lessing versucht,<br />

die kulturellen Mentalitätsunterschiede zu<br />

erklären und sieht in den Juden und in der<br />

jüdischen Kultur eine Art Mittlerrolle zwischen<br />

den beiden verschiedenen Lebensformen. Europa<br />

und Asien und Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen<br />

ergänzen sich.<br />

Bekannt ist Lessing wegen seiner<br />

Philosophie der Not. Das ist ein philosophisches<br />

Konzept, das er noch ausarbeiten wollte, aber das<br />

bereits in seinen Büchern Geschichte als Sinngebung<br />

des Sinnlosen und Europa und Asien angelegt war.<br />

Bedauerlicherweise kann das hier aus<br />

Platzgründen nicht erörtert werden, nur so viel,<br />

auch wenn Lessing die Not und das Leiden als<br />

menschliche Urerfahrung sieht und er somit in<br />

der Tradition des Pessimismus steht, aber aus<br />

diesem Pessimismus keine Resignation folgt,<br />

sondern viel eher ganz praktisch <strong>–</strong> eine Praxis, die<br />

Lessing gelebt hat <strong>–</strong> eine Anstiftung zur<br />

Minderung der Not. Man kann das vielen seiner<br />

Texte entnehmen. Lessing schreibt über die<br />

Wildente:<br />

„Das Werk einer nicht mehr zu<br />

überbietenden Lebenskeptik; keiner das Leben<br />

verulkenden, sondern einer heimlich<br />

verzweifelten Skeptik, eines Humors auf<br />

tausend Gräbern. Die Moral Ibsens ist diese:<br />

tue nichts Gutes, dann kommt nichts Böses.<br />

[9]<br />

THAUMA <strong>2005</strong>-<strong>2006</strong> NUMMER 1<br />

Worauf kommt alles an? Aufs Glücklichsein<br />

kommt alles an. Ihr habt die großen<br />

Heroenworte und radotiert: ‚Lewer dot als<br />

Slaw’, aber im Grunde fühlt ihr doch<br />

schließlich alle umgekehrt ‚Lewer Slaw als dot’.<br />

Ihr redet von Fortschritt, Menschheit und<br />

Entwicklung! Ja, gibt es denn dergleichen?<br />

Diese Dinge sind alle sehr ungewiß. Gewiß ist<br />

nur dies, daß das Leben der Menschheit wie<br />

jedes Einzelnen unter einer Devise steht, welche<br />

lautet: ‚Es kommt alles immer <strong>–</strong> ganz<br />

anders.’ Wir sollten einander helfen und gütig<br />

sein <strong>–</strong> das ist das Einzige, was man sicher<br />

weiß.....“ 8<br />

Die ‚Freie Volkshochschule’ wird zusammen<br />

mit seiner Frau gegründet in Hannover-Linden,<br />

und Lessings zweite Frau Ada wird bis 1933 die<br />

erste Volkshochschulleiterin Deutschlands sein.<br />

In den zwanziger Jahren finden zwei<br />

Ereignisse statt, die Lessings Leben von Grund<br />

auf verändern. Das eine ist Lessings<br />

Berichterstattung über den Massenmörder<br />

Haarmann, das andere ist eine Charakterstudie<br />

über den Herrn Generallfeldmarschall<br />

Hindenburg. Beiden würden seiner universitären<br />

Karriere endgültig das Genick brechen.<br />

Fritz Haarmann war ein Massenmörder,<br />

dem 1924 der Prozess gemacht wurde. Lessing<br />

schreibt als Prozessbeobachter einen Bericht über<br />

Haarmann (Haarmann: Die Geschichte eines Werwolfs<br />

(1925)). Lessing zieht den Unmut auf sich<br />

dadurch, dass er deutlich macht, dass Haarmann<br />

auch ein Polizeispitzel war und somit ein<br />

kritisches Licht auf die Methoden der Polizei<br />

wirft.<br />

Spätestens mit der Charakterstudie über den<br />

Herrn von Hindenburg ist das Maß voll und die<br />

völkischen und deutschnationalen Kräfte<br />

machen Lessing auf jede erdenkliche Art das<br />

Leben schwer. Es kommt zu Übergriffen auf<br />

seine Person in der Öffentlichkeit und es wird<br />

dazu aufgerufen, seine Vorlesungen zu<br />

boykottieren. In diesem Hindenburgtext steht<br />

eines der bekanntesten Zitate von Lessing, das<br />

auch erklären mag, warum Lessings<br />

Charakterstudie als so anstößig empfunden<br />

wurde.<br />

„Nach Plato sollen die Philosophen<br />

Führer der Völker sein. Ein Philosoph würde<br />

mit Hindenburg nun eben nicht den Thronstuhl<br />

besteigen. Nur ein repräsentatives Symbol, ein<br />

Fragezeichen, ein Zero. Man kann sagen:<br />

'Besser ein Zero als ein Nero'. Leider zeigt die<br />

Geschichte, dass hinter einem Zero immer ein<br />

künftiger Nero verborgen steht.“ 9<br />

Lessings Situation an der Universität wird so<br />

unerträglich, dass sein Lehrauftrag in einen

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