Drachme29_WEB
You also want an ePaper? Increase the reach of your titles
YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.
Dialogos<br />
23<br />
---------<br />
Kann man anhand der ukrainischen Geschichte die<br />
Tatsache, dass beide Regime in ihrer Unmenschlichkeit<br />
gleichgestellt werden, nachvollziehen?<br />
Seit den 1990er Jahren werden neben dem Gedenken<br />
von Opfern der nationalsozialistischen Gräueltaten,<br />
wie das Massaker von Babij Jar mit 150000<br />
Ermordeten, auch die Massenvernichtungen des bolschewistischen<br />
Terrors bekannt gemacht. In Stalins Plan,<br />
neben der öffentlich angekündigten Völkerfreundschaft und Einigkeit<br />
der sowjetischen Bürger, war ein klar erkennbares Ziel<br />
enthalten: Die Eigenständigkeit aller nationalen Minderheiten<br />
sollte maximal geschwächt werden, damit ihre potentiellen<br />
Widerstandskräfte leichter zu brechen sind. Von allen „Maßnahmen“<br />
dieser Art forderte die menschengemachte Hungersnot<br />
von 1932-1933 in der Ukraine die meisten Opfer, deren<br />
Gesamtzahl auf 3,5 bis 14,5 Millionen Menschen eingeschätzt<br />
wird. Diese Katastrophe wurde während der Arbeit an der<br />
UNO-Konvention gegen den Völkermord als „das klassische<br />
Beispiel eines sowjetischen Genozids“ definiert und 2008 vom<br />
Europäischen Parlament als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />
anerkannt.<br />
Meines Wissens wurden in der Sowjetunion Massenvernichtungen<br />
seit Anfang der 1930er Jahre<br />
regelmäßig begangen, allerdings in unterschiedlichen<br />
Formen und mit vielfältigen Begründungen, von<br />
denen die häufigste „Eliminierung antisowjetischer Personen<br />
und Gruppen“ war. Als solche wurden meist Intellektuelle<br />
und Vertreter nationaler Minderheiten beschuldigt.<br />
Richtig. Ein weiteres Machtinstrument des Stalinismus<br />
waren die Deportationen – zwanghafte Umsiedlungen,<br />
die unter unmenschlichen Umständen<br />
ausgeführt wurden (z. B. in tagelang verschlossenen<br />
Vieh- und Güterwaggons ohne Verpflegung), sodass<br />
ein Teil der Deportierten den Weg nicht überlebte. Die ersten<br />
Deportationen von Polen und Koreanern fanden in den 1930er<br />
Jahren statt; im Sommer 1941 wurden Esten, Letten, Litauer und<br />
Russlanddeutsche als „potentielle Feinde“ nach Kasachstan und<br />
Sibirien deportiert.<br />
Fakt ist jedoch, dass die Krimtataren mit den Nationalsozialisten<br />
zusammengearbeitet haben. Ist dies<br />
etwa unbegründet?<br />
Die Krimtataren, eine turksprachige islamische Ethnie,<br />
bildeten vor dem Krieg 23,5% der Bevölkerung<br />
der Halbinsel. Zu Kriegsbeginn kämpften mehr<br />
als 17000 Krimtataren in der Roten Armee. Nach der<br />
Einnahme der Krim von der Deutschen Wehrmacht verbreitete<br />
sich unter den Tataren die Fehleinschätzung, dass die<br />
Besatzungsmacht als Befreier vom stalinistischen Regime auftrat<br />
(nach dessen politischen Säuberungen hatte die krimtatarische<br />
Minderheit mehr als die Hälfte ihrer Intellektuellen zu beklagen);<br />
ca. 9 000 Krimtataren traten der Wehrmacht bei. Es ist allerdings<br />
zu bemerken, dass dies keine Einzelerscheinung war. So<br />
zählte beispielsweise die ROA, eine der russischen Verbände in<br />
der Wehrmacht, eine Truppenstärke von 125000 Mann und bildete<br />
damit den größten aus Sowjetbürgern bestehenden Truppenteil<br />
des „Dritten Reiches“.<br />
Was genau geschah 1944, nach der Befreiung der<br />
Krim von der nationalsozialistischen Besatzung?<br />
Daraufhin erfolgte ein Befehl Stalins, laut dem die<br />
gesamte tatarische Bevölkerung einer Pauschalanklage<br />
folgend zur Zwangsumsiedlung verurteilt<br />
wurde. Vom 18. bis 20. Mai 1944 wurden 238500<br />
Menschen in Viehwaggons Richtung Usbekistan, Kasachstan<br />
und Ural deportiert. 7889 von ihnen haben den<br />
Weg nicht überlebt. Innerhalb der darauffolgenden 2,5 Jahre<br />
starben infolge der unmenschlichen Lebensbedingungen in den<br />
Arbeitslagern, die offiziell als „Aussiedlungen“ bezeichnet werden,<br />
weitere 109956 Menschen, was 46,2% der Deportierten<br />
ausmachte. Den Überlebenden wurde verboten, sich als Krimtataren<br />
zu bezeichnen. Für die Ausstellung der Ausweispapiere<br />
bestanden in der Sowjetunion Pflichtangaben zur ethnischen<br />
Zugehörigkeit; bei der Selbstbezeichnung einer Person als Krimtatare<br />
verweigerten die Behörden die Ausstellung des Passes.<br />
Noch vor Kriegsende begannen auf den befreiten Territorien<br />
erneut Massendeportationen; als Vorwand wurden ganze ethnische<br />
Gruppen des Kollaborationismus und des Verrats beschuldigt.<br />
Darunter befanden sich Minderheiten der Halbinsel<br />
Krim und des Nordkaukasus.