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Titelthema<br />

von Asteris Kutulas<br />

Event- und Musikproduzent, Publizist, Übersetzer, Filmemacher, Autor<br />

Biograph von Mikis Theodorakis, Initiator des „Hellas Filmbox Berlin“<br />

Das Phänomen Theodorakis<br />

Mikis Theodorakis, der Komponist, der Weltbürger, der<br />

kompromisslose Demokrat war Zeit seines Lebens ein<br />

Vollblutmusiker, der unaufhörlich komponierte, dirigierte,<br />

produzierte – Songs und Sinfonien, Ballette und Opern,<br />

Filmmusiken und Kammermusik. Sein musikalisches Schaffen<br />

und sein gesellschaftliches Engagement führten häufig zu extremen<br />

Gegenpositionen, er selbst galt stets als gedanklicher Extremist.<br />

Für die Linken ein Rechter, für die Rechten ein Linker. Für<br />

akademische Musikkritiker ein Popmusiker, für die Popmusiker<br />

ein klassischer Komponist. Er richtete sich auf keinem<br />

dieser Plätze ein. Er war und blieb ein Anarchiker.<br />

Ein weltoffener Geist, mit einem minutiösen Gedächtnis, rhetorisch<br />

versiert, gebildet, sensibel, voller Humor, umgeben von einer pulsierenden<br />

Aura, äußerst diszipliniert, ein begnadeter Geschichtenerzähler,<br />

sehr ernsthaft, spontan, lesehungrig – "ein deutscher<br />

Komponist, der im Raum der Ägäis geboren wurde", wie er selbst<br />

sagt, "und ein kretischer Liedermacher, der in Paris gelebt hat".<br />

Eine Umfrage außerhalb Griechenlands ergab, dass Theodorakis<br />

der berühmteste Grieche im Ausland ist. Er hat weltweit mehr als<br />

70 Millionen Platten und CDs – mit "griechischer Musik" – verkauft.<br />

In Griechenland selbst kennt ihn jedes Kind. Für die Griechen<br />

ist er "Mikis". Sie haben ihn geliebt und gehasst, ihn gehört und<br />

ihn verboten. Er musste mehrmals ins Gefängnis, und er wurde<br />

weltweit gefeiert. Für viele ist er der Inbegriff Griechenlands.<br />

Die Gründe, die Ursachen für dieses einmalige Phänomen sind<br />

für Nicht-Griechen wahrscheinlich kaum nachvollziehbar. Es<br />

entstand, als Theodorakis ab 1960 die hohe Dichtung seines<br />

Landes (Elytis, Ritsos, Seferis, Gatsos etc.) "in den Blutkreislauf<br />

der breiten Masse einzuspeisen begann". Der Brite Ron<br />

Hall brachte es wie folgt auf den Punkt: "Es war, als hätte Benjamin<br />

Britten Verse von Auden vertont, und die Platte, besungen<br />

vom Erzbischof von Canterbury, hätte die Beatles aus den Hitlisten<br />

verdrängt". Oder, um das für Deutschland zu übersetzen:<br />

Man stelle sich vor, Hans Werner Henze würde Gedichte von<br />

Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Erich Fried und Hans Magnus<br />

Enzensberger vertonen und die damit veröffentlichten<br />

Platten, besungen von Hermann van Veen, würden sich<br />

fünf Jahre lang durchschnittlich 12 Millionen mal verkaufen.<br />

Genau das geschah mit Theodorakis’ Liedkompositionen in Griechenland<br />

zwischen 1961 und 1966. Allein die Single von "Am Strand"<br />

(mit dem gleichnamigen Text von George Seferis) verkaufte sich 1964<br />

mehr als 400.000 mal, bei einer Bevölkerungszahl von 7 Millionen<br />

Griechen. 1963 bekam George Seferis den Literatur-Nobelpreis –<br />

auch für den Zyklus, den Theodorakis bereits 1961 vertont hatte.<br />

Und für das Werk "Axion Esti", auf dessen Grundlage Theodorakis<br />

1960 sein gleichnamiges Oratorium komponierte,<br />

wurde Odysseas Elytis 1979 der Literatur-Nobelpreis verliehen.<br />

Es gibt selbst heute kaum einen Griechen, der diese Lieder<br />

nicht kennen und singen könnte, der also nicht durch<br />

Theodorakis' Musik die hohe Dichtung inhaliert hätte.

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