Drachme 32 WEB
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Titelthema<br />
von Asteris Kutulas<br />
Event- und Musikproduzent, Publizist, Übersetzer, Filmemacher, Autor<br />
Biograph von Mikis Theodorakis, Initiator des „Hellas Filmbox Berlin“<br />
Das Phänomen Theodorakis<br />
Mikis Theodorakis, der Komponist, der Weltbürger, der<br />
kompromisslose Demokrat war Zeit seines Lebens ein<br />
Vollblutmusiker, der unaufhörlich komponierte, dirigierte,<br />
produzierte – Songs und Sinfonien, Ballette und Opern,<br />
Filmmusiken und Kammermusik. Sein musikalisches Schaffen<br />
und sein gesellschaftliches Engagement führten häufig zu extremen<br />
Gegenpositionen, er selbst galt stets als gedanklicher Extremist.<br />
Für die Linken ein Rechter, für die Rechten ein Linker. Für<br />
akademische Musikkritiker ein Popmusiker, für die Popmusiker<br />
ein klassischer Komponist. Er richtete sich auf keinem<br />
dieser Plätze ein. Er war und blieb ein Anarchiker.<br />
Ein weltoffener Geist, mit einem minutiösen Gedächtnis, rhetorisch<br />
versiert, gebildet, sensibel, voller Humor, umgeben von einer pulsierenden<br />
Aura, äußerst diszipliniert, ein begnadeter Geschichtenerzähler,<br />
sehr ernsthaft, spontan, lesehungrig – "ein deutscher<br />
Komponist, der im Raum der Ägäis geboren wurde", wie er selbst<br />
sagt, "und ein kretischer Liedermacher, der in Paris gelebt hat".<br />
Eine Umfrage außerhalb Griechenlands ergab, dass Theodorakis<br />
der berühmteste Grieche im Ausland ist. Er hat weltweit mehr als<br />
70 Millionen Platten und CDs – mit "griechischer Musik" – verkauft.<br />
In Griechenland selbst kennt ihn jedes Kind. Für die Griechen<br />
ist er "Mikis". Sie haben ihn geliebt und gehasst, ihn gehört und<br />
ihn verboten. Er musste mehrmals ins Gefängnis, und er wurde<br />
weltweit gefeiert. Für viele ist er der Inbegriff Griechenlands.<br />
Die Gründe, die Ursachen für dieses einmalige Phänomen sind<br />
für Nicht-Griechen wahrscheinlich kaum nachvollziehbar. Es<br />
entstand, als Theodorakis ab 1960 die hohe Dichtung seines<br />
Landes (Elytis, Ritsos, Seferis, Gatsos etc.) "in den Blutkreislauf<br />
der breiten Masse einzuspeisen begann". Der Brite Ron<br />
Hall brachte es wie folgt auf den Punkt: "Es war, als hätte Benjamin<br />
Britten Verse von Auden vertont, und die Platte, besungen<br />
vom Erzbischof von Canterbury, hätte die Beatles aus den Hitlisten<br />
verdrängt". Oder, um das für Deutschland zu übersetzen:<br />
Man stelle sich vor, Hans Werner Henze würde Gedichte von<br />
Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Erich Fried und Hans Magnus<br />
Enzensberger vertonen und die damit veröffentlichten<br />
Platten, besungen von Hermann van Veen, würden sich<br />
fünf Jahre lang durchschnittlich 12 Millionen mal verkaufen.<br />
Genau das geschah mit Theodorakis’ Liedkompositionen in Griechenland<br />
zwischen 1961 und 1966. Allein die Single von "Am Strand"<br />
(mit dem gleichnamigen Text von George Seferis) verkaufte sich 1964<br />
mehr als 400.000 mal, bei einer Bevölkerungszahl von 7 Millionen<br />
Griechen. 1963 bekam George Seferis den Literatur-Nobelpreis –<br />
auch für den Zyklus, den Theodorakis bereits 1961 vertont hatte.<br />
Und für das Werk "Axion Esti", auf dessen Grundlage Theodorakis<br />
1960 sein gleichnamiges Oratorium komponierte,<br />
wurde Odysseas Elytis 1979 der Literatur-Nobelpreis verliehen.<br />
Es gibt selbst heute kaum einen Griechen, der diese Lieder<br />
nicht kennen und singen könnte, der also nicht durch<br />
Theodorakis' Musik die hohe Dichtung inhaliert hätte.