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Inhaltsverzeichnis - Fraukefeind

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<strong>Inhaltsverzeichnis</strong><br />

1) In letzter Sekunde .................................................................................................................. 4<br />

2) Neuanfang ............................................................................................................................ 16<br />

3) Aller Anfang ist schwer ....................................................................................................... 33<br />

4) Alice Springs ........................................................................................................................ 53<br />

5) Dreamtime ............................................................................................................................ 68<br />

6) Es wird Ernst ........................................................................................................................ 83<br />

7) Die Last der Lust .................................................................................................................. 97<br />

8) Der Taipan ......................................................................................................................... 107<br />

9) Prostitution und Scham ...................................................................................................... 121<br />

10) Carrie ................................................................................................................................ 132<br />

11) Über den Schmerz ............................................................................................................ 143<br />

12) Guten Morgen .................................................................................................................. 153<br />

13) Die Psyche spielt mit ....................................................................................................... 160<br />

14) Eine Sache des Vertrauens ............................................................................................... 173<br />

15) Ein schöner Abend ........................................................................................................... 184<br />

16) Atemnot ............................................................................................................................ 195<br />

17) Das Andreaskreuz ............................................................................................................ 211<br />

18) Die Wette ......................................................................................................................... 225<br />

19) Haasts Bluff ..................................................................................................................... 239<br />

20) Tante Paula ....................................................................................................................... 252<br />

21) Carries Höhle ................................................................................................................... 265<br />

22) 200 Kilometer .................................................................................................................. 278<br />

23) Die Brücke ....................................................................................................................... 289<br />

24) Lektion in Sachen Hingabe .............................................................................................. 297<br />

25) Hot as hell ........................................................................................................................ 308<br />

26) Brett .................................................................................................................................. 318<br />

27) Kellys Überraschung ........................................................................................................ 332<br />

28) Flächenbrand .................................................................................................................... 344<br />

29) Schmerzlicher Abschied .................................................................................................. 357<br />

30) Krise ................................................................................................................................. 369<br />

31) Neue Tiefpunkte ............................................................................................................... 381<br />

32) Branding ........................................................................................................................... 396<br />

33) Vergewaltigt ..................................................................................................................... 407<br />

1


34) Der Tag danach ................................................................................................................ 417<br />

35) Keine Gnade ..................................................................................................................... 425<br />

36) Reptilien der Urzeit .......................................................................................................... 438<br />

37) Bekenntnisse .................................................................................................................... 448<br />

38) Auf Dundees Spuren ........................................................................................................ 459<br />

39) Die Strafe ......................................................................................................................... 471<br />

40) Kakadu Nationalpark ....................................................................................................... 485<br />

41) Yellow Water ................................................................................................................... 499<br />

42) Bondage ........................................................................................................................... 509<br />

43) Sandmücken ..................................................................................................................... 518<br />

44) Am Echosee ..................................................................................................................... 529<br />

45) Ein bizarres Spiel ............................................................................................................. 542<br />

46) Erinnerungsfetzen ............................................................................................................ 553<br />

47) Bilder im Kopf ................................................................................................................. 565<br />

48) Er bläst! ............................................................................................................................ 577<br />

49) Klammern und Wachs ...................................................................................................... 589<br />

50) Auf nach Queensland ....................................................................................................... 601<br />

51) Der Biss der schwarzen Witwe ........................................................................................ 614<br />

52) Crocodiles inhabit this! .................................................................................................... 627<br />

53) Kapitulation ...................................................................................................................... 643<br />

54) Traumzeit ......................................................................................................................... 657<br />

55) Entführt ............................................................................................................................ 670<br />

56) Die Besucher .................................................................................................................... 683<br />

57) Reefworld ......................................................................................................................... 692<br />

58) Gefährliche Begegnung ................................................................................................... 709<br />

59) Dinner in der Hölle .......................................................................................................... 719<br />

60) Schwimmen mit Delfinen ................................................................................................ 727<br />

61) Terry ................................................................................................................................. 742<br />

62) Das erste Mal ................................................................................................................... 756<br />

63) Nach Nats Vorbild ........................................................................................................... 766<br />

64) Abnabeln .......................................................................................................................... 778<br />

65) Finstere Pläne ................................................................................................................... 783<br />

66) Eine böse Überraschung .................................................................................................. 790<br />

67) Auf nach Sydney .............................................................................................................. 802<br />

68) Bewährungsprobe ............................................................................................................ 812<br />

69) Ein Schritt nach vorn ....................................................................................................... 827<br />

70) Royal National Park ......................................................................................................... 839<br />

2


71) Schlimme Qualen ............................................................................................................. 849<br />

72) In die Tiefe ....................................................................................................................... 862<br />

73) Allein sterben ................................................................................................................... 869<br />

74) Fieber ............................................................................................................................... 879<br />

75) Abschiedsbesuch .............................................................................................................. 893<br />

Epilog ..................................................................................................................................... 903<br />

No easy way out<br />

by<br />

Frauke Feind<br />

We’re not indestructible<br />

Baby better get that straight<br />

I think it’s unbelievable<br />

How you give into the hands of fate<br />

Some things are worth fighting for<br />

Some feelings never die<br />

I’m not asking for another chance<br />

I just wanna know why<br />

There’s no easy way out<br />

There’s no shortcut home<br />

There’s no easy way out<br />

Giving in can’t be wrong<br />

3<br />

Survivor, from Rocky IV, 1985


1) In letzter Sekunde<br />

Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht. Und man siehet<br />

die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.<br />

Berthold Brecht<br />

AFP 1 Special Agent Lauren Demsey landete weich im Sand des kleinen Strandes. Sie<br />

duckte sich und wartete in der Dunkelheit, bis ihr Team ihr gefolgt war. Leise gab sie über ihr<br />

Headset die Anweisung:<br />

„Wir nähern uns dem Haus mit äußerster Vorsicht, verstanden? Auch, wenn den ganzen<br />

Tag über keinerlei Bewegungen registriert wurden, heißt das noch lange nicht, dass sich kei-<br />

ner mehr dort aufhält. Ich will keinen verlieren, klaro? Keinen von euch und keine eventuell<br />

dort fest gehaltenen Gefangenen! Gruppe 1 übernimmt das Obergeschoss, Gruppe 2 Erdge-<br />

schoss, Gruppe 3, wir werden den Keller untersuchen. Der Rettungshubschrauber soll sich mit<br />

dem Notarztteam bereit halten. Auf geht’s!“<br />

Die zwei großen AFP Wasserpolizei-Boote dümpelten in der Dunkelheit keine 10 Meter<br />

vom Strand entfernt vor sich hin. Die Landeboote, einfache Schlauchboote, waren ein Stück<br />

auf den Strand gezogen worden. Die Einsatzkräfte der AFP setzten sich langsam und mit äu-<br />

ßerster Vorsicht in Bewegung, auf das dunkel vor ihnen liegende große Haus zu. Vor zwei<br />

Tagen war bei der Einsatzleitung für Entführungsfälle der Tipp eingegangen, dass auf einer<br />

im Privatbesitz befindlichen Insel vor der Küste Queenslands eine entführte Person gefangen<br />

gehalten werde. Der anonyme Anrufer hatte den Namen des Entführten genannt: Shawn<br />

McLean. Der aus den USA stammende junge Schauspieler galt seit knapp fünf Monaten als<br />

vermisst. Er hatte sich für einige Werbeaufnahmen in Mackay aufgehalten und war nach ei-<br />

nem Discobesuch wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Sollte er sich in dem Haus befin-<br />

den, würde einer der spektakulärsten Entführungsfälle der Neuzeit in Australien endlich die<br />

überfällige Aufklärung erfahren! Lauren hoffte nur, den US Schauspieler lebend vorzufinden<br />

und nicht tot.<br />

Das Team hatte die Eingänge zu dem großen Haus erreicht.<br />

„Alle in Position?“, fragte Demsey leise in ihr Headset und bekam von allen Gruppen po-<br />

sitive Antworten. „Dann los!“<br />

Nun ging alles sehr schnell. Innerhalb einer Minute waren alle Einsatzkräfte im Haus und<br />

verteilten sich auf die ihnen zugewiesenen Etagen des großen Hauses. Lauren führte ihre Leu-<br />

1 Die Australian Federal Police (AFP) ist die australische Bundespolizei. Die australische Polizei ist in zwei Behörden gegliedert: In die<br />

Polizei der Bundesstaaten und die Australian Federal Police. Diese ist für die Durchsetzung des Bundesrechts im ganzen Land zuständig.<br />

Drogenhandel, organisiertes Verbrechen, Computerkriminalität, Geldwäsche, Menschenhandel, Zwangsprostitution, schwere Betrugsfälle<br />

und Terrorismusbekämpfung gehören zu ihren Aufgabengebieten.<br />

4


te hinunter in den Keller, dessen Treppe sie schnell entdeckt hatte. Vorsichtig, jederzeit mit<br />

Widerstand rechnend, arbeiteten sich die Polizeibeamten vor. Immer wieder war von irgend-<br />

woher:<br />

„Gesichert!“, zu hören.<br />

Lauren öffnete die erste von acht Türen, die sie hier unten sah. Mit der auf den Gewehr-<br />

lauf montierten Taschenlampe leuchtete sie den Raum aus. Sie stutzte. Eine Art medizinischer<br />

Notfall - Behandlungsraum, leer.<br />

räte.<br />

„Gesichert!“<br />

Die zweite Tür. Fassungslos starrten die Ermittler auf einen großen Raum voll BDSM Ge-<br />

„Gesichert! Oh Gott!“, stieß Lauren angewidert hervor. „Worauf sind wir denn hier gesto-<br />

ßen?“ Der Raum war ebenfalls leer. Sie eilte weiter zur dritten Tür. Kein Laut war zu hören.<br />

Stattdessen schlug den Beamten ein Übelkeit erregender Geruch entgegen. Demsey tastete<br />

vorsichtig nach einem Lichtschalter, fand ihn rechts neben der Tür, und es wurde hell. Er-<br />

schrocken sog die Ermittlerin die Luft ein. Auf einem großen, stabilen Holztisch in der Mitte<br />

des Raumes lag ein Mensch, ein junger Mann. Nackt, an den Tisch gefesselt, ein Tuch über<br />

den Augen, reglos. Eilig gab Lauren in ihr Headset:<br />

„Wir haben jemanden gefunden. Schnell, wir brauchen den Notarzt!“ Sie eilte an den<br />

Tisch hinüber und verzog angewidert das Gesicht. Der Gefesselte lag in seinen eigenen Ex-<br />

krementen, was darauf hindeutete, dass er schon eine Weile hier lag. Die Haut spannte sich<br />

trocken über seinen Körper, der wirkte, als hätte er in kurzer Zeit viel Gewicht verloren. Au-<br />

ßerdem war der junge Mann schwer dehydriert. Hastig legte Lauren ihm zwei Finger an die<br />

Halsschlagader und musste sich konzentrieren, um noch einen schwachen Puls zu fühlen. „Er<br />

lebt noch. Schnell, los machen.“<br />

Sie löste zusammen mit zwei Kollegen die Fesseln des jungen Mannes und Augenblicke<br />

später kam ein weiterer Beamter mit einer Decke in den Raum gehetzt. Er legte diese auf den<br />

Boden und Lauren befahl:<br />

„Sucht Wasser, los!“<br />

Zwei ihrer Leute eilten aus dem Raum und waren in Rekordzeit zurück, mit kleinen Putz-<br />

eimern voll warmem Wasser in den Händen. Oberflächlich spülte Lauren den jungen Mann<br />

sauber. Er wurde vorsichtig von dem Tisch gehoben und auf die auf dem Boden ausgebreitete<br />

Decke gelegt. Ohne große medizinische Fachkenntnisse war Lauren klar, dass der junge<br />

Mann dehydriert und fast verhungert war. Sein Rücken war wund, am Unterleib, wo er in<br />

seinen Ausscheidungen gelegen hatte, war die Haut aufgeweicht und entzündet. Lauren tastete<br />

mit den Augen den Körper ab. Er wies Spuren von Schlägen auf. Überall am Körper fanden<br />

sich kleine Verletzungen. Unter den Lederbändern, die Hand- und Fußgelenke sowie den Hals<br />

des jungen Mannes umschlossen, war die Haut entzündet und fast bis auf die Knochen aufge-<br />

5


scheuert. Er musste verzweifelt versucht haben, sich zu befreien. Entsetzt starrte Lauren auf<br />

den Besinnungslosen hinunter. So etwas hatte sie in ihrer ganzen Laufbahn noch nie gesehen.<br />

„Was hast du hier nur durch gemacht?“, fragte sie leise.<br />

Zum Glück näherten sich bereits schnelle Schritte. Notarzt und Sanitäter kamen in den<br />

Raum gestürzt. Sie überblickten die Situation rasch und Sekunden später wurde dem jungen<br />

Mann ein Venenkatheter gelegt. Sofort wurde die mehr als notwendige Volumenzufuhr einge-<br />

leitet. Er wurde stabilisiert, dann ging es auf schnellstem Wege zum Rettungshubschrauber.<br />

„Ich fliege mit.“, erklärte Lauren ihren Kollegen. „Ruft ein Spurensicherungsteam und<br />

nehmt die Hütte auseinander, es muss Hinweise auf den Besitzer geben!“ Draußen stieg sie in<br />

den Hubschrauber und keine Stunde später lag der Befreite in der Notaufnahme des Mater<br />

Hospitals in Bundaberg.<br />

*****<br />

Nach der Versorgung seiner zahlreichen Wunden wurde der Schauspieler in ein künstli-<br />

ches Koma versetzt, um dem schwer misshandelten Körper Gelegenheit zur Erholung zu ge-<br />

ben. Vier Tage kämpfte der junge Mann auf der Intensivstation mit dem Tod. Vier Tage, in<br />

denen Lauren oft an seinem Bett saß. Tage, in denen das Haus auf der Insel vor der Küste<br />

mehr als gründlich durchsucht wurde. Aber man fand keine verwertbaren Hinweise auf die<br />

möglichen Entführer. Die Insel war vor vielen Jahren von einer Familie gekauft worden, von<br />

der heute niemand mehr lebte. Haus und Insel standen seit Monaten zum Verkauf. Alle Hin-<br />

weise, die gefunden worden waren, machten deutlich, dass jemand sich das Haus zunutze<br />

gemacht hatte, der nicht zur Familie gehörte. Es waren unzählige Fingerabdrücke gefunden<br />

worden, die dem AFIS 2 nicht zugeordnet werden konnten, obwohl die Beamten auf die Da-<br />

tenbanken der USA und von Interpol zurückgriffen. Man hatte das zuständige Maklerbüro<br />

gründlich überprüft. Mehr als die Tatsache, dass seit Monaten niemand von denen dort auf der<br />

Insel oder im Haus gewesen war, wurde nicht festgestellt. Die Ermittlungen liefen also weiter<br />

auf Hochtouren, doch letztlich konnte nur der junge Mann selbst Erklärungen liefern. Das war<br />

der Grund, warum Lauren so viel bei ihm saß. Am Ende des vierten Tages beschloss der be-<br />

handelnde Arzt, den jungen Mann aus dem Langzeitschlaf zu holen. Die Medikamente wur-<br />

den langsam abgesetzt und man ließ ihn ausschleichen. Am Nachmittag des fünften Tages<br />

wachte er endlich auf. Und war eine riesige Enttäuschung für Lauren, denn er sagte kein<br />

Wort. Fast schien es, als nähme er seine Umgebung gar nicht wahr. Er reagierte auf nichts, lag<br />

in seinem Bett, inzwischen in einem normalen Zimmer, sah stundenlang apathisch aus dem<br />

Fenster, aß und trank wenn man es ihm sagte, ansonsten wirkte er weiter wie im Koma. Wur-<br />

de er von den Ärzten untersucht oder vom Pflegepersonal neu verbunden, zuckte er heftig<br />

2 Das AFIS (automatisierte Fingerabdruckidentifizierungssystem) ist ein elektronisches System, um Fingerabdrücke digital zu Vergleichen.<br />

Die AFIS Datenbank enthält derzeit zirka 3.200.000 Fingerabdrücke und rund 510.000 Handabdrücke, die via Computer sehr schnell mit an<br />

Tatorten gefundenen Abdrücken verglichen werden können.<br />

6


zusammen und zeigte überdeutliche Anzeichen großer Angst, fast Panik. Er ertrug keinerlei<br />

Berührungen, ohne in heftige Furcht zu geraten. Die körperlichen Schäden heilten. Doch auch<br />

nach mehr als drei Wochen zeigte er keinerlei Reaktionen, weder auf Ansprechen noch auf<br />

andere äußerliche Stimulanzien. Es war, als hätte er abgeschaltet. Ständig war jemand bei<br />

ihm, Polizei, Pflegepersonal, oft Lauren selbst. Er wurde als extrem suizidgefährdet einge-<br />

stuft, daher die ständige Überwachung. Lauren hielt ihn von allem abgeschottet, versuchte,<br />

sanft zu ihm vorzudringen, erhielt jedoch keinerlei Antworten. Die behandelnden Ärzte er-<br />

klärten ihr schließlich bedrückt:<br />

„Wir können hier nichts mehr für den jungen Mann tun. Körperlich geht es ihm soweit<br />

gut. Was seinen Geisteszustand betrifft, bleibt uns nur die Möglichkeit, ihn in eine psychiatri-<br />

sche Facheinrichtung zu überstellen.“<br />

Lauren überlegte krampfhaft und bat schließlich:<br />

„Ich hätte da jemanden, der ... Lassen Sie mich bitte kurz telefonieren.“<br />

Sie nahm ihr Handy und wählte eine Nummer in Sydney. Kurz musste sie warten, dann<br />

meldete sich eine sympathische weibliche Stimme:<br />

„Jackson.“<br />

„Hallo, Kelly, ich bin es, Lauren. Ich habe eine Bitte an dich. Kannst du so schnell es geht<br />

nach Bundaberg ins Mater kommen? Ich würde dir gerne hier vor Ort erklären, um was es<br />

geht. Ich schicke dir einen Helikopter, wenn es dir Recht ist. Kelly, es ist wichtig, mit einem<br />

großen W!“<br />

Am anderen Ende war ein entnervtes Seufzen zu hören, aber es kam die erhoffte Antwort.<br />

„Gut, schick mir deinen Heli, ich komme.“<br />

Erleichtert atmete Lauren auf. Bereits zwei Stunden nach dem Anruf konnte sie ihre<br />

Freundin, die Psychotherapeutin Dr. Kelly Jackson, in die Arme schließen. Kurze Zeit später<br />

saßen die beiden Frauen bei einer Tasse Kaffee am Krankenhauskiosk und Lauren setzte die<br />

Freundin in Kenntnis.<br />

„So wie es aussieht wurde der Junge fast fünf Monate in diesem Horrorhaus gefangen ge-<br />

halten und dort systematisch sexuell missbraucht, misshandelt, gefoltert, und schließlich an<br />

den verdammten Tisch gefesselt zum Sterben liegen gelassen. Den Ärzten zu Folge deuteten<br />

die Spuren an seinem Körper auf jede Art der sexuellen Misshandlung und Folter hin, die du<br />

dir vorstellen kannst. Peitschenstriemen und Spuren anderer Schläge, Spuren von Stromschlä-<br />

gen, Verbrennungen, Strangulationsmale, anale Vergewaltigung, er trug Ledermanschetten<br />

um Hand- und Fußgelenke und um den Hals, unter denen die Haut aufgescheuert und entzün-<br />

det war. Der Junge muss dort durch die Hölle gegangen sein. Wenn du dich seiner nicht an-<br />

nimmst, wird er in der Klapse enden, Kelly. Das hat er nach allem, was er durchgemacht hat,<br />

nicht verdient!“<br />

7


Kelly hatte ruhig zugehört und blätterte in der Krankenakte des jungen Mannes herum, die<br />

Lauren ihr in die Hand gedrückt hatte. Fotos belegten seine zahlreichen Verletzungen und die<br />

Spuren der Misshandlungen. Erschüttert starrte Kelly diese Fotos an. Nach einer Weile nickte<br />

sie entschlossen.<br />

„Ich kann dir nichts versprechen, das muss dir klar sein. Ich habe keine Vorstellung, wie<br />

weit sein Verstand von den Leiden, die er durchstanden hat, zerrüttet ist, Lauren. Aber ich<br />

werde ihn mir anschauen. Erst wenn ich ihn gesehen habe entscheide ich, was ich mache.“<br />

Lauren nickte zufrieden.<br />

„Das reicht mir für den Anfang. Kelly, du bist die Beste. Wenn er eine Chance hat, dann<br />

dich! Wir haben hier verbreiten lassen, dass du eine Polizeipsychologin bist und ihn dir an-<br />

schauen willst, um zu entscheiden, in welche Klinik er gebracht wird.“<br />

Kelly nickte verstehend. Das war eine Sicherheitsmaßnahme.<br />

Minuten später standen die beiden Frauen vor dem Zimmer McLeans.<br />

„Ich mache das allein. Warte bitte hier, okay.“, erklärte Kelly. Energisch betrat sie das<br />

Zimmer. Sie sah sich um und entdeckte ihren möglichen Patienten auf einem kleinen Balkon<br />

sitzend, reglos ins Leere starrend. Eine Krankenschwester war bei ihm. Kelly wusste, warum.<br />

Suizidgefahr! Sie holte tief Luft und trat in die Sonne hinaus. Die Schwester nickte ihr zu und<br />

sagte:<br />

„Sie müssen die Polizeipsychologin sein. Ich hoffe, Sie finden eine gute Klink für ihn. Er<br />

tut mir leid.“<br />

Sie zog sich zurück und Kelly trat an den jungen Mann heran. Er reagierte nicht, als sie<br />

sich zu ihm stellte. Weiter war sein Blick ins Leere gerichtet. Kelly setzte sich zu ihm auf<br />

einen zweiten Stuhl und beobachtete ihn lange. Er hatte sich komplett in sich zurückgezogen,<br />

das war ihr schnell klar. Er lebte in seiner eigenen, kleinen Welt, in der es keine Schmerzen<br />

gab, keine Angst, keine Wahrnehmung, aber auch keine Hoffnung. Es würde harte Arbeit<br />

bedeuten, ihn aus seiner selbst auferlegten Starre zu reißen. Kelly fragte sich, wie sie zu ihm<br />

vordringen sollte. Kurz fuhr die junge Frau mit der Rechten vor den Augen ihres möglichen<br />

Patienten hin und her, doch abgesehen von einer unwillkürlichen Reaktion seiner Pupillen auf<br />

die veränderten Lichtverhältnisse zeigte er keinerlei erkennen, dass er die Hand wahr nahm.<br />

Kelly nickte langsam. Sie machte einen weiteren Test, in dem sie dem Schauspieler eine Hand<br />

auf den Arm legte. Sofort zuckte er heftig zusammen, seine Atmung beschleunigte sich stark<br />

und er zitterte am ganzen Leib. Frustriert schüttelte Kelly den Kopf und stieß ein leises, resig-<br />

niertes Lachen aus.<br />

„Wäre ja zu schön gewesen.“, flüsterte sie.<br />

Sie prustete genervt und sagte leise:<br />

8


„Es tut mir leid, aber anders wird es nicht gehen.“ Kelly holte tief Luft und schnauzte den<br />

jungen Mann an: „Sieh mich gefälligst an wenn ich mit dir rede, Sklave!“<br />

Panisch duckte McLean sich zusammen, sein Kopf zuckte zu ihr herum, nur, um sich so-<br />

fort gen Boden zu senken. Hart und laut sagte Kelly:<br />

„Du wirst mir gefälligst zuhören, hast du das verstanden, Sklave?“<br />

Abgesehen von heftigem Zittern und einem hektischen Nicken erhielt sie keine Antwort,<br />

doch Kelly war sicher, dass er mit bekam was sie zu ihm sagte.<br />

„Mein Name ist Dr. Kelly Jackson. Ich bin Psychotherapeutin. Mein Fachgebiet ist die<br />

Behandlung traumatisierter Opfer von Gewaltverbrechen. Du hast zwei Möglichkeiten, mein<br />

Junge. Die Erste ist die Einweisung in eine geschlossene Anstalt. Den ganzen Tag im Pyjama<br />

und Bademantel ohne Kordel herum laufen, verstehst du? Dort würde man dich mit Medis<br />

voll pumpen und das wäre es. Oder ich nehme mich deiner an. Ich werde Hilfe brauchen.<br />

Deine Hilfe. Ich denke, du hast es verdient, dass man sich um dich kümmert. Es wird eine<br />

Mammutaufgabe, aber du hast genug durchgemacht. Du hast es verdient, dass man dir hilft.“<br />

Sie erhob sich und eilte zu Lauren zurück, nicht, ohne die Krankenschwester ins Zimmer zu-<br />

rückgeschickt zu haben. „Das wird ein hartes Stück Arbeit. Er tut mir leid, daher werde ich es<br />

versuchen. Ich brauche Ruhe und Abgeschiedenheit, das weißt du. Ich nehme ihn mit mir in<br />

mein Haus nach Eildon, dort habe ich, was ich brauche. Ich werde meine Praxis dicht machen.<br />

Du musst dafür Sorge tragen dass ich nicht gestört werde. Hat er Kleidung bekommen?“<br />

Lauren schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, weiter noch nichts. Nur das, was er trägt. Ich werde sofort alles Nötige besorgen<br />

lassen. Seine Sachen, die vor sechs Monaten in Mackay zurückblieben, wurden an seine El-<br />

tern geschickt. Daher hat er nicht viel. Ich denke, ich sorge auch für einen Hubschrauber, der<br />

euch direkt nach Eildon bringt. Ich werde seine Eltern informieren und die Genehmigung von<br />

ihnen einholen, dass du ihn mit dir nehmen darfst. Sie rufen mich täglich mehrfach an. Sie<br />

konnten nicht fassen, dass es besser für alle ist, erst einmal nicht zu ihm zu fliegen.“<br />

„Gut. Sorge bitte dringend dafür, dass keiner erfährt, dass ich ihn mit mir nehme.“<br />

Lauren nickte. Das war selbstverständlich. Eine reine Sicherheitsmaßnahme, aber wichtig.<br />

*****<br />

Am nächsten Morgen stiegen Shawn und Kelly in einen Armeehubschrauber und wurden<br />

direkt nach Eildon geschafft. Zwei Koffer voll Kleidung, ein paar Notfallmedikamente, alles<br />

weitere würde Kelly in Eildon besorgen können. Gegen 15 Uhr landete der Hubschrauber auf<br />

dem Parkplatz der Polizeistation, wo keiner erfuhr, wer da den Landeplatz benutzte. Eine<br />

Stunde später erreichte Kelly mit ihrem die ganze Zeit stummen, reglosen, eingeschüchterten<br />

Patient ihr großzügiges Ferienhaus einige Kilometer außerhalb Eildons. Eildon war eine klei-<br />

ne Ortschaft, die am südwestlichen Ufer des Lake Eildon Stausees lag. Der Lake Eildon war<br />

9


mit fast 5.150 Kilometern Uferlänge einer der größten Stauseen im ganzen Land. Kelly führte<br />

Shawn ins Haus und zeigte ihm sein Zimmer.<br />

„Ich weiß, dass du mit bekommst was ich sage. Hier wirst du wohnen. Dies ist dein Zim-<br />

mer. Du hast ein eigenes Bad und wirst dich hier wohlfühlen, da bin ich sicher. Ich werde die<br />

Koffer holen, dann räume ich deine Sachen in den Schrank und mache uns eine Tasse Kaffee.<br />

Ruh dich aus.“ Sie eilte zum Wagen zurück und schleppte die Koffer ins Haus. Erst stapelte<br />

sie Shawns, später ihre eigenen Sachen in die Kleiderschränke. Shawn saß auf seinem Bett<br />

und tat, was er die ganze Zeit gemacht hatte: Ins Leere starren. Kelly seufzte. Hoffentlich hat-<br />

te sie sich diesmal nicht zu viel vorgenommen. Eine so intensive Starre, fast katatonisch, hatte<br />

sie in ihrer Laufbahn noch nicht erlebt. Als sie alles weg sortiert hatte, ging sie in die Küche<br />

und kochte Kaffee. Sie trug diesen auf die Terrasse und verteilte Tassen. Kelly holte ihren<br />

Patienten, der reglos auf dem Bett saß, dazu.<br />

„Komm, der Kaffee ist fertig, wird uns beiden gut tun.“<br />

Abwesend erhob Shawn sich und folgte Kelly wie eine aufgezogene Spielzeugpuppe. Er<br />

ließ sich vorsichtig auf einen Stuhl sinken und sie tranken ihren Kaffee. Kelly ließ den jungen<br />

Mann nicht aus den Augen. Er saß mit weit gespreizten Beinen und gesenktem Kopf da.<br />

„Mach dir keine Sorgen, wir werden das gemeinsam schaffen. Hier stört uns niemand, ich<br />

kann mich ausschließlich dir widmen. Du brauchst hier keine Angst zu haben, niemand wird<br />

dir etwas tun. Du bist hier absolut sicher. Und mit der Zeit werden wir dich aus deiner Starre<br />

lösen, wir schaffen das gemeinsam. Ich muss nur einen Ansatzpunkt finden. Ich werde dich<br />

ein paar Tage beobachten müssen, mein Junge.“<br />

*****<br />

Das tat Kelly in den nächsten vier Tagen ausgiebig. Sie beobachtete Shawn, prägte sich al-<br />

les ein, was ihr an seinem Verhalten auffiel. Es war nicht zu übersehen, dass er Probleme hat-<br />

te, sich an Kleidung zu gewöhnen. Sie beobachtete in den ersten Tagen oft, dass Shawn sich<br />

unbehaglich fühlte, an Hemd oder Hose herum zerrte. Gerne lief er barfuß. Er sah sie nie an.<br />

Wenn sie ihn direkt ansprach, senkte er augenblicklich den Kopf und starrte zu Boden. Stand<br />

er vor ihr, legte er die Hände auf den Rücken und stand mit übertrieben gespreizten Beinen<br />

still. Er zuckte zusammen und verkrampfte sich, wenn sie sich ihm näherte. Bis auf zirka ei-<br />

nen Meter blieb er ruhig, alles, was darunter ging machte ihn unruhig. Berührte sie ihn, zeigte<br />

er überdeutliche Zeichen heftiger Panik. Oft saß Kelly in seinem Zimmer und beobachtete<br />

seinen Schlaf. Meist lag er still auf dem Rücken, neigte dazu, die Arme im Schlaf über den<br />

Kopf zu strecken und spreizte auch im Liegen die Beine. Er schlief unruhig, wurde von Alb-<br />

träumen geplagt, fuhr immer wieder keuchend und zitternd aus dem Schlaf hoch. Langsam<br />

bekam Kelly ein Gefühl dafür, was sein Verhalten in der Gefangenschaft geprägt hatte. Sie<br />

merkte, dass er draußen in der Sonne entspannter wirkte. Hier hatte er einen geringeren<br />

10


Sicherheitsabstand. Mehr und mehr formte sich in Kellys Kopf ein Bild, wie sein Leben in der<br />

Gefangenschaft verlaufen war. Sie saß abends an ihrem PC und gab die Erkenntnisse ein. Of-<br />

fensichtlich hatte er das Haus verlassen dürfen, sonst wäre er wesentlich blasser gewesen.<br />

Scheinbar hatte er sich im Freien ungezwungener bewegen können als im Haus selbst. Sein<br />

Verhalten deutete darauf hin, was sie ohnehin wusste: Er war als Sexsklave gehalten worden.<br />

Das unterwürfige zu Boden schauen, das ständige Spreizen der Beine, die Haltung der Hände<br />

auf dem Rücken, all das machte Kelly klar, wie er gefangen gehalten worden war. Die Ent-<br />

führer hatten an ihm allem Anschein nach alle Sado Praktiken ausgelebt, die ihnen nur einge-<br />

fallen waren. Wenn sie ihn sanft ansprach, reagierte er gar nicht. Wurde sie strenger und deut-<br />

licher, verhielt er sich wie ein dressiertes Tier, er antwortete durch Nicken oder sehr kurz, viel<br />

mehr als ja oder nein war nicht aus ihm heraus zu holen. Von sich aus sagte er nie etwas. Kel-<br />

ly beschloss, mit der eigentlichen Therapie im Freien zu beginnen. Ihr war aufgefallen, dass<br />

Shawn es genoss, auf der Terrasse oder am Seeufer zu sitzen und stundenlang die Landschaft<br />

anzuschauen. So packte sie am Morgen eine Woche nach ihrer Ankunft in Eildon zwei Wan-<br />

derrucksäcke und gab Shawn den eindeutigen Befehl, sich seine Laufschuhe anzuziehen. Has-<br />

tig tat er, was sie verlangte. Kelly tat es unendlich leid, ihn mit harten Befehlen zu malträtie-<br />

ren, aber anders hatte sie im Augenblick keine Chance, zu ihm durch zu dringen.<br />

Ihr Plan war es, mit Shawn eine längere Wanderung zu machen. Eine anstrengende, kräf-<br />

tezehrende Wanderung! Eine Route auf die Berge südwestlich von Eildon. Sie selbst war top-<br />

fit. Shawn war es vor der Entführung sicher gewesen, doch sie vermutete, dass davon nicht<br />

mehr viel übrig war. So wählte Kelly gezielt die schwierige Route, um ihn körperlich auszu-<br />

powern. Ihr Plan war, kurzfristig die körperlichen Qualen größer werden zu lassen als seine<br />

Seelischen. Sie hoffte, ihn damit aus der Reserve locken zu können. Kelly drückte ihm einen<br />

der schweren Rucksäcke, in die sie alles gestopft hatte, was sie für zirka drei Tage brauchten,<br />

in die Hand. Wie ein Schlafwandler nahm der junge Mann den Rucksack entgegen und<br />

schlüpfte in die Gurte. Kelly kontrollierte den Sitz der Gurte, damit Shawn keine wunden<br />

Stellen davon trug. Seine Panik, als sie ihm dabei zwangsläufig sehr nahe kam, ignorierte sie<br />

schweren Herzens. Schweigend marschierten sie los. Bis zum Mittag hielt Shawn problemlos<br />

mit. Nach einer Pause, die sie auf einer kleinen Lichtung im Wald einlegten, wurde er merk-<br />

lich langsamer und hatte zu kämpfen, um Kellys vorgegebenes Tempo beizubehalten. Tief in<br />

ihm war der Gedanke verwurzelt, nicht gegen den Befehl, den er erhalten hatte, zu verstoßen.<br />

Er wusste, das würde für ihn in einem Desaster enden. So gab er sich verzweifelt Mühe, sich<br />

nicht abhängen zu lassen. Er quälte sich weiter, bis Kelly am frühen Abend erklärte:<br />

„So, das war unser erstes Etappenziel. Hilf mir bitte, das Zelt aufzustellen.“<br />

Schwer atmend und mit vor Erschöpfung zitternden Händen und Beinen half der junge<br />

Mann. Zwanzig Minuten später stand ein kleines Zelt, in dem sie heute Nacht schlafen wür-<br />

den. Kelly schickte Shawn energisch zum Holz sammeln und müde und zerschlagen, aber<br />

11


wortlos und hastig tat er, was sie wollte. Als ein kleines Feuer brannte bereitete Kelly ein<br />

spärliches Abendessen. Shawn schlief fast im Sitzen ein. Kelly hielt ihn wach, in dem sie ihm<br />

kleine Aufträge gab, die er erschöpft ausführte. Gegen 21.30 Uhr endlich erklärte die junge<br />

Frau:<br />

„So, wir sollten uns hinlegen. Du musst müde sein.“<br />

Schweigend stand Shawn auf und folgte ihr ins Zelt. Fix und fertig sank er auf seinen<br />

Schlafsack und vergaß, wie üblich die Beine zu spreizen. Das war das erste Mal, dass er dies<br />

nicht tat! Dass in dem kleinen Zelt seine übliche Sicherheitsdistanz nicht eingehalten werden<br />

konnte behelligte ihn an diesem Abend ebenfalls nicht. Kelly war zufrieden, obwohl es ihr<br />

sehr schwer fiel, Shawn so zu quälen. Aber sie spürte, dass sie auf dem richtigen Wege war.<br />

Sie war ebenfalls erschöpft, doch sie bekam mit, dass Shawn mehrfach in der Nacht keu-<br />

chend in die Höhe fuhr und zitternd zurück in die Waagerechte sank. Kelly reagierte nicht<br />

darauf, sie wusste ja, dass er von Albträumen geplagt wurde. Am Morgen ließ sie ihn schla-<br />

fen, bis sie Kaffee fertig hatte. Dann weckte sie ihn. Zerschlagen und steif krabbelte Shawn<br />

aus dem Zelt. Fröhlich begrüßte Kelly ihn.<br />

„Hier hast du Kaffee, wir wollen bald weiter. Es ist noch eine Ecke zu laufen bis wir das<br />

Ziel erreichen.“<br />

Kaum hatte Shawn seinen Kaffee ausgetrunken und ein Sandwich gegessen, trieb Kelly<br />

ihn an, das Zelt abzubauen. Sie selbst verpackte die Schlafsäcke und gegen 9 Uhr waren sie<br />

auf den Beinen. Diesmal legte sie keine Mittagspause ein. Die junge Frau schleppte Shawn<br />

stattdessen ohne Unterbrechung kreuz und quer durch unwegsames, steiles Gelände, bis er am<br />

frühen Nachmittag nicht mehr weiter konnte. Am Ende seiner Kraft sackte er keuchend auf<br />

die Knie und versuchte zu Atem zu kommen. Kelly kannte keine Gnade.<br />

„Sieh zu, dass du hoch kommst, es ist nicht mehr weit, das schaffst du noch.“, trieb sie ihn<br />

unbarmherzig auf die Beine. Verzweifelt rappelte der Schauspieler sich noch einmal auf die<br />

Füße. Er schleppte sich wankend vor Schwäche noch zirka einen Kilometer hinter Kelly her.<br />

Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Sie standen auf dem Gipfel und weit unter ihnen lag der<br />

Lake Eildon in der Sonne. Der Anblick war berauschend und trotz der totalen Erschöpfung<br />

flackerte in Shawns Augen kurz so was wie Interesse auf.<br />

Zusammen bauten sie das Zelt auf. Als es stand, kümmerte Kelly sich um ein Feuer und<br />

ließ Shawn in Frieden. Der Schauspieler stand am Rande des steilen Abbruchs zum See und<br />

starrte versunken in die Tiefe. Kellys Alarmglocke schrillte los und sie sprang auf. Ruhig trat<br />

sie neben den jungen Mann und sagte:<br />

„Es ist eine fantastische Aussicht von hier oben, oder? Ich liebe diesen Platz.“ Unverfäng-<br />

lich legte sie einen Arm um Shawns schlanke Taille und erklärte: „Komm, das Essen ist fer-<br />

tig.“ Er zuckte bei der Berührung zwar heftig zusammen, doch das erste Mal reagierte er nicht<br />

12


vollkommen panisch, als Kelly seinen Sicherheitsabstand ignorierte. Sanft dirigierte sie ihn an<br />

das kleine Lagerfeuer und er ließ sich leise stöhnend nieder. Sie drückte ihm einen Teller mit<br />

einer appetitlichen Dosensuppe in die Hand und hungrig löffelte Shawn diesen leer. Als er<br />

fertig war erhob er sich schweigend und setzte sich ein paar Meter entfernt an den Rand des<br />

Abhangs. Er schaute auf den See hinaus und Kelly überlegte nicht lange. Leise trat sie zu ihm<br />

und setzte sich neben ihn. Erleichtert bemerkte Kelly Tränen auf seinen Wangen. Innerlich<br />

jubelte sie auf. Das war die erste emotionale Reaktion abgesehen von den Panikattacken, die<br />

sie von ihm zu sehen bekam. Leise sagte sie:<br />

„Es ist wunderschön hier, oder?“<br />

Und Shawn nickte! Schwach, aber er nickte. Kelly beschloss, vorsichtig weiter zu tasten.<br />

„Das ist hier mein Lieblingsplatz. Ich komme hier her, so oft ich kann. Hast du auch einen<br />

Lieblingsplatz?“<br />

Erneut nickte er leicht.<br />

„Meinst du, du könntest ihn mir einmal zeigen?“ Eine Weile passierte nichts. Schließlich<br />

sah er zu ihr hinüber und schaute ihr kurz in die Augen. Tränen liefen ihm über die Wangen<br />

und er schüttelte unmerklich den Kopf. Kelly fragte sanft:<br />

„Warum nicht?“ Er hatte den Kopf schon wieder gesenkt und reagierte nicht auf ihre sanf-<br />

te Frage. Plötzlich flüsterte er, so unerwartet, dass Kelly richtig erschrak:<br />

„Da komme ich nie mehr hin.“<br />

Dass er sprach, wenn auch nur diese wenigen Worte, hatte Kelly regelrecht erschreckt.<br />

Liebevoll fragte sie nach:<br />

„Warum denkst du, du kommst da nicht mehr hin, Shawn?“<br />

Doch im Augenblick war von dem traumatisierten, jungen Mann nichts weiter zu holen.<br />

Er schüttelte noch einmal den Kopf, dann starrte er stumm den steilen Abhang hinunter auf<br />

den See. Kelly wollte ihn nicht drängen und so beschloss sie, für heute Schluss zu machen. Er<br />

hatte in der kurzen Zeit mehr Reaktionen gezeigt als in den ganzen Tagen zuvor und sie woll-<br />

te dies als positives Zeichen werten.<br />

„Na komm, du bist erledigt, lass uns Schluss machen für heute.“<br />

Abwesend stemmte Shawn sich mühsam auf die Füße und lag wenige Minuten später in<br />

seinem Schlafsack, abermals ohne die für ihn so normale Haltung mit gespreizten Beinen ein-<br />

zunehmen. Stattdessen rollte er sich auf die Seite und war kurze Zeit später tief und fest ein-<br />

geschlafen. Kelly lag noch lange wach. Sie notierte sich in einem mitgeführten Notizblock im<br />

Schein einer Taschenlampe Shawns Reaktionen und überlegte, wie es weiter gehen sollte. Der<br />

Schauspieler war auch in dieser Nacht unruhig, wimmerte im Schlaf mehrfach verängstigt<br />

auf, warf sich unruhig hin und her und fuhr keuchend in die Höhe, um anschließend genauso<br />

unruhig weiter zu schlafen. - Was musstest du nur alles erdulden? - fragte Kelly sich betrof-<br />

fen. Erst spät in der Nacht schlief sie tief und fest ein.<br />

13


*****<br />

Als sie aufwachte, war Shawn nicht neben ihr. Erschrocken fuhr die junge Psychologin in<br />

die Höhe und war aus dem Zelt, bevor sie die Augen richtig auf hatte. Hastig sah sie sich um.<br />

Es fing gerade an zu Dämmern und hinter ihnen würde die Sonne in Kürze aufgehen. Panisch<br />

suchte Kelly nach Shawn und entdeckte ihn. Er stand dicht am Abgrund und Kelly entfuhr ein<br />

geschocktes:<br />

„Oh, Gott!“<br />

Sie trat vorsichtig näher an Shawn heran und überlegte hektisch, was sie machen sollte. Ihr<br />

war klar, dass er extrem suizidgefährdet war. Wenn sie falsch reagierte, bestand die Gefahr,<br />

dass er sich einfach fallen ließ, das war ihr bewusst. Laut und herrisch schnauzte sie ihn an:<br />

„Was machst du da, Sklave? Komm gefälligst sofort her! Wer hat dir erlaubt, aufzuste-<br />

hen? Willst du eine Abreibung bekommen?“<br />

Shawn zuckte wie unter Schlägen heftig zusammen und fuhr am ganzen Körper zit-<br />

ternd zu Kelly herum. Panik flackerte in seinen Augen und er beeilte sich, zu ihr zu kommen.<br />

Unendlich erleichtert atmete Kelly auf. Sie griff nach Shawns Händen, bevor dieser sie auf<br />

den Rücken legen konnte und zog ihn sanft ein Stück weiter zum Zelt. Sie spürte ihn bei ihren<br />

Berührungen zittern, er wagte jedoch nicht, ihr seine Hände zu entziehen.<br />

„Komm, ich mache uns erst einmal Kaffee, was hältst du davon?“, fragte sie ihn liebevoll.<br />

Zaghaft nickte er und kurze Zeit später saßen sie nebeneinander an der Kante, mit einer<br />

Tasse Kaffee in der Hand. Als sie diesen ausgetrunken hatten, beschloss Kelly, zum Angriff<br />

über zu gehen. Sie kniete sich vor Shawn und sagte harsch:<br />

„Sieh mich an!“ Sofort hob er den Kopf und schaute sie an. In seinen herrlich grünen Au-<br />

gen lag die Traurigkeit und Verzweiflung der ganzen Welt. Kelly spürte einen Kloß im Hals,<br />

dicker, als sie zu schlucken imstande war.<br />

Shawn wollte den Blick senken, doch sie griff sanft nach seinem Kinn und verhinderte,<br />

dass er den Kopf hängen ließ. Er zuckte erneut heftig zusammen, als er die Berührung spürte.<br />

„Nein, Shawn, schau mich weiter an. Du musst mir jetzt genau zuhören, hast du das ver-<br />

standen?“<br />

Erschrocken nickte er. Kelly überlegte kurz und fing ruhig und konzentriert an zu reden.<br />

„Shawn, ich weiß, du hast Schreckliches erlebt in der Gefangenschaft. Du bist durch die<br />

Hölle gegangen. Hör mir zu. Du glaubst im Augenblick, dass du nie damit klar kommen wirst.<br />

Das stimmt aber nicht! Wenn du bereit bist, den Kampf aufzunehmen, werde ich dir zur Seite<br />

stehen und dich in ein normales Leben zurückführen. Verkriechst du dich weiter, bleibt mir<br />

nichts anderes übrig, als dich in eine geschlossene Anstalt einzuweisen, Shawn. Dort wirst du<br />

mit Medikamenten vollgepumpt dahin vegetieren, bis du dich so verloren hast, dass jede<br />

14


Chance, dich zu finden weg ist. Du wirst ein sabberndes Häufchen Unglück unter anderen<br />

sabbernden Haufen Unglück sein und die, die dir das alles angetan haben, werden endgültig<br />

gesiegt haben. Willst du ihnen diesen Sieg überlassen? Du wurdest bei ihnen zu einem willen-<br />

losen Opfer degradiert, zu einem Objekt ihrer kranken Begierde. Willst du für den Rest deines<br />

Lebens ein Opfer bleiben? Du hattest die unglaubliche Kraft, den Horror dort zu überleben.<br />

Willst du jetzt, wo du die einmalige Chance hast, dich aus der Opferrolle zu befreien, ihnen<br />

den Sieg kampflos abtreten? Ist es das, was du willst? Dann werden wir zurückkehren und ich<br />

werde dich einweisen lassen. Du verschwindest hinter hohen Mauern in einem kleinen Raum<br />

ohne Privatsphäre. Einem Raum mit weißen Wänden, einem Bett mit Gurten und Kranken-<br />

schwestern, die dich, wenn du Angst hast und unruhig bist, mit Psychopharmaka voll pum-<br />

pen. Die dich an dein Bett fesseln und so ruhig stellen werden. Ist es das, was du willst?“<br />

Kelly schwieg angespannt und wartete, wie Shawn reagieren würde. Er hatte alles mit be-<br />

kommen, das wusste sie sicher. In seinem Gesicht arbeitete es heftig und seine Augen füllten<br />

sich mit Tränen. Noch einmal hakte Kelly nach:<br />

„Willst du den Schweinen, die dir das alles angetan haben, den Triumph gönnen, dich<br />

noch nachträglich endgültig gebrochen zu haben? Du hast die Wahl, so, wie du sie während<br />

deiner Gefangenschaft nie hattest. Willst du sie davon kommen lassen mit dem, was sie dir<br />

angetan haben? Oder willst du deine Kraft und deinen riesigen Mut zusammen nehmen und<br />

dich wehren? Du wirst den Mut brauchen, denn du musst all das, was du erlebt hast, noch<br />

einmal durchleben, um dich davon zu befreien. Du wirst weinen und toben vor Wut, unglaub-<br />

lich leiden, aber du kannst es schaffen. Wenn du es möchtest, kann ich dir helfen, in ein nor-<br />

males Leben ohne Angst zurück zu finden, Shawn. Ich habe meine Praxis geschlossen um dir<br />

zu helfen, in dein Leben zurückzukehren. Aber ich schaffe das nicht allein, verstehst du? Ich<br />

werde deine Hilfe benötigen und du wirst mich oft verfluchen und hassen, aber zusammen<br />

können wir es schaffen!“<br />

Minutenlang schien der junge Mann die Worte auf sich wirken zu lassen, die Kelly hier so<br />

leidenschaftlich ausgesprochen hatte. Sie war willens, bei ihm zu bleiben, bis er imstande war<br />

allein zu leben. Das würde viele Monate dauern, aber das war ihr egal. Er tat Kelly unendlich<br />

leid. Sie vermutete, dass das, was er hatte erdulden müssen reichte, um mehrere Menschen zu<br />

brechen. Dabei wusste sie noch gar nicht, was ihm ein Einzelnen wiederfahren war. Die The-<br />

rapeutin musste sich noch auf Vermutungen stützen. Sie legte ihm kurz eine Hand auf seinen<br />

linken Arm und sah ihm in die Augen.<br />

„Was meinst du, schaffst du das?“, fragte sie liebevoll.<br />

Shawn zitterte am ganzen Leib. Abermals war er erschrocken zusammengezuckt, als er<br />

Kellys Berührung spürte. Er hatte die Worte gehört und verstanden. Es war das erste Mal seit<br />

seiner Befreiung, dass er etwas bewusst wahr nahm. Er hatte Angst! Er wollte zurück in sein<br />

15


Schneckenhaus, dass er sich nach dem Aufwachen gebaut hatte. Er wollte nicht mehr denken<br />

müssen, erinnern, was ihm geschehen war. Aber Kelly saß vor ihm, sah ihm in die Augen und<br />

erwartete eine Antwort. Sie wollte ihm helfen. Das hatte Carrie ebenfalls gesagt. Sie hatte ihn<br />

am Ende ausgelacht und zum Sterben zurückgelassen. Er hatte ihr lange Zeit vertraut. Ver-<br />

zweifelt brach es aus dem jungen Mann hervor:<br />

„Ich habe ihr vertraut! Ich habe an sie geglaubt! Sie hat mich verarscht, die ganze Zeit! Oh<br />

Gott, Kelly, hilf mir, bitte!“ Er brach zusammen, so heftig und überraschend, dass Kelly un-<br />

vorbereitet war. Er weinte, dass es ihn schüttelte. Kelly überlegte nicht lange. Sie handelte aus<br />

dem Bauch heraus. Entschlossen zog sie Shawn an sich und hielt ihn in den Armen, wie man<br />

ein verschüchtertes Kind in den Armen halten würde. Und er ließ es zu. Er weinte, bis er kei-<br />

ne Kraft mehr hatte, weiter zu schluchzen. Ausgelaugt, am Ende seiner Kraft, hockte er da<br />

und ließ es zu, dass Kelly ihn sanft weiter in den Armen hielt.<br />

Eine Stunde später waren sie auf dem Heimweg. Kelly wählte den kurzen, schnellen Weg,<br />

und schon zwei Stunden später erreichten sie das Haus am See. Ohne Zögern schickte Kelly<br />

Shawn unter die Dusche und anschließend konsequent ins Bett. Zähneklappernd und heftig<br />

zitternd vor Erschöpfung lag der junge Mann da. Kelly setzte sich zu ihm und erklärte beruhi-<br />

gend:<br />

„Ich werde dir ein starkes Schlafmittel geben, damit du ruhig und ohne böse Träume<br />

durchschlafen kannst.“ Sie gab ihm eine Spritze und wenige Minuten später fielen dem jun-<br />

gen Mann die Augen zu. Kelly holte sich ihren Laptop und setzte sich damit in einen Sessel<br />

an Shawns Bett. Sie gab die Ergebnisse des letzten Tages in Shawns Datei ein und behielt ihn<br />

gleichzeitig im Auge, doch der schlief ruhig und entspannt. Und das tat er den Rest des Tages<br />

und die ganze Nacht. Er war an Körper und Seele so erschöpft, dass es mehr als nötig gewe-<br />

sen war, dass er einmal eine ruhige, lange und vor allem entspannte Schlafphase hatte.<br />

2) Neuanfang<br />

Aus den Trümmern unserer Verzweiflung bauen wir unseren Charakter.<br />

Ralph W. Emerson<br />

Am Morgen deckte Kelly einen schönen Frühstückstisch und wartete, bis Shawn aufge-<br />

wacht war und nach einer ausgiebigen Dusche zu ihr auf die Terrasse kam.<br />

„Na, ausgeschlafen?“, fragte sie ihn munter und er nickte. Gut, Wunder erwartete sie<br />

nicht, das würde harte, schwere und emotionale Arbeit werden, das war ihr klar. Als er satt<br />

war und noch eine weitere Tasse Kaffee trank, fragte er leise:<br />

„Wie geht es weiter?“<br />

16


Kelly musste sich erst einmal daran gewöhnen, seine Stimme zu hören. Er hatte eine an-<br />

genehme, fast sanfte Stimme. Hätte sie ihn unter anderen Umständen kennengelernt wäre sie<br />

von dieser Stimme fasziniert gewesen. Sie sah ihn an und er schlug sofort die Augen nieder.<br />

„Damit fangen wir an. Du wirst nie wieder den Blick senken müssen, Shawn, in Ordnung?<br />

Du hast es nicht nötig, zu Boden zu schauen! Sieh mich an. Du musst nicht wegblicken. Du<br />

kannst jedem stolz ins Auge schauen.“<br />

Langsam hob der junge Mann den Blick und schaute Kelly direkt an. Es fiel ihm ungeheu-<br />

er schwer, aber er schaffte es. Kelly strahlte.<br />

„Das ist gut. Du wirst dir vieles, was dir anerzogen, aufgezwungen wurde, mühsam abge-<br />

wöhnen müssen, aber du wirst es schaffen.“<br />

Verzagt nickte er.<br />

„Okay.“<br />

Kelly nahm einen Schluck Kaffee, dann sagte sie ruhig und sachlich:<br />

„Wir beide haben eine Aufgabe vor uns, wie sie größer nicht sein kann. Wir werden ge-<br />

meinsam all das Böse, Schlimme, was man dir angetan hat, wie bei einem Exorzismus aus dir<br />

heraus holen müssen. Dir muss klar sein, dass das eine Aufgabe sein wird, die dich immer und<br />

immer wieder an die Grenzen deiner Kraft treiben wird. Ich sagte dir gestern, dass du mich<br />

manchmal Hassen und Verfluchen wirst, das muss dir klar sein.“<br />

Shawn saß da, sah sie weiterhin an, im höchsten Maße unsicher, und nickte zögernd.<br />

„Was du als erstes lernen musst, ist Vertrauen zu haben. Du hast keines mehr. Nicht in<br />

dich und erst recht nicht in jemand anderen. Du musst mir aber hundertprozentig Vertrauen,<br />

wenn das hier klappen soll. Wenn das geschafft ist wirst du lernen, dir selbst wieder zu ver-<br />

trauen. Wir fangen damit an dass du es zulässt dass ich dich berühre, überall, okay?“ Sie stand<br />

entschlossen auf und forderte den jungen Mann auf, ihr zu folgen. Sie ging mit ihm in sein<br />

Schlafzimmer und bat ihn, sich auf das Bett zu legen. Verkrampft lag er vor ihr und Kelly<br />

erklärte:<br />

„Wir werden damit beginnen, dass ich dich anfassen werde, so lange, bis du verinnerlicht<br />

hast, dass dir dabei nichts passieren wird. Ich werde dir niemals wehtun.“<br />

Shawn biss sich auf die Unterlippe und nickte nervös.<br />

„Versuche, tief und gleichmäßig zu atmen. Tief durch die Nase ein, ebenso tief durch den<br />

Mund aus.“ Minutenlang ließ sie den jungen Mann nur atmen. Als sie das Gefühl hatte, dass<br />

er entspannt war, sagte sie leise: „Schließe deine Augen. Konzentriere dich darauf, dass es<br />

angenehm sein wird, wenn ich dich berühre. Du magst körperliche Nähe, du hast es nur ver-<br />

gessen.“ Sie beugte sich vor und begann sanft, seine Hände, die er auf seinem flachen Bauch<br />

liegen hatte, zu streicheln. Nervös zuckten seine Finger. Kelly sprach ununterbrochen beruhi-<br />

gend und sanft auf ihn ein und er ließ sich nach und nach regelrecht in ihre Stimme fallen.<br />

„Du magst es, wenn man dich zärtlich streichelt, Shawn, jeder mag das. Ich tue dir nicht weh,<br />

17


das wirst du schnell merken. Meine Hände sind sanft und zärtlich zu dir, du hast keinen<br />

Grund, sie zu fürchten, keinen Grund, Angst zu haben. Lass deine Augen geschlossen und<br />

spüre nur meine Berührungen, spüre, wie meine Hände dich streicheln und dir gut tun.“<br />

Sie nahm seine Hände und legte sie rechts und links seines Körpers auf die Matratze.<br />

Dann strich sie liebevoll an seinen Armen hoch und erreichte sein Gesicht. Weiter redete sie<br />

ruhig auf ihn ein und ihre Finger strichen unendlich sanft über seine Wangen. Minutenlang,<br />

bis sie spürte, dass er nicht mehr vor Angst die Zähne zusammen biss. Erst jetzt ließ sie ihre<br />

Finger seinen Hals entlang auf seine Brust hinunter gleiten. Sie legte die Hände locker auf<br />

seine sich hastig hebende und senkende Brust und sprach weiterhin beruhigend auf ihn ein.<br />

Nach vielen Minuten merkte sie, dass seine Atemfrequenz sank. Zufrieden nickte sie. Ihre<br />

Hände tasteten sich zu seinem flachen Bauch vor. Sie ließ sich Zeit. Ließ die Hände jeweils<br />

an Ort und Stelle, zärtlich streichelnde Bewegungen ausführend, bis sie spürte, dass die Ver-<br />

krampfung, die jede neue Körperpartie, die sie berührte in ihm auslöste, sich deutlich lockerte.<br />

Sie ließ bei dieser Übung auch seinen Unterleib nicht aus, sondern legte ihre Hände sanft auf<br />

seine Hüften und Lenden. Hier dauerte es besonders lange, bis er sich entspannte, doch end-<br />

lich gelang es ihm. Weiter ihrer sanften Stimme lauschend, spürte er ihre Hände auf seinen<br />

Oberschenkeln, später auf den Knien und an den Füßen. Von hier glitten sie an seinem Körper<br />

wieder in die Höhe und erreichten irgendwann erneut sein Gesicht, das unendlich liebevoll<br />

und zärtlich gestreichelt wurde.<br />

Ruhig bat Kelly den jungen Mann: „Roll dich bitte auf den Bauch, okay?“<br />

Shawn drehte sich also herum.<br />

„Die Arme am Körper ausstrecken, so ist es wunderbar. Liegst du bequem und ent-<br />

spannt?“<br />

Shawn seufzte leise.<br />

„Bequem ja, ob entspannt wird sich zeigen, was?“<br />

„Du warst eben großartig und wirst es erneut sein, da bin ich sicher.“ Noch einmal beugte<br />

Kelly sich über ihren Patienten und ließ ihre Hände an seinen Armen hochgleiten. Sie nahm<br />

sich wie vorher die Zeit, zu warten, bis Shawn entspannte. Sie redete weiterhin liebevoll und<br />

beruhigend auf ihn ein. Ihre Finger strichen über seine verspannten Schultern und machten<br />

hier sanfte Massagenbewegungen, während sie ihn aufforderte, weiter so ruhig und gleichmä-<br />

ßig zu atmen wie es ging. Nach und nach lockerten sich Shawns Muskeln und Kellys Hände<br />

glitten den Rücken hinab. Hier hatte der Schauspieler nicht so viele Probleme wie vorher auf<br />

Brust und Bauch. Kelly näherte sich seinem Becken und seinem Po und Shawn erzitterte.<br />

Hektisch sog er Luft ein und biss die Zähne zusammen um zu verhindern dass diese aufeinan-<br />

der klapperten. Kelly war nicht übermäßig erstaunt, dass der Po eine extrem empfindliche<br />

Stelle darstellte. Aus den Krankenhausberichten wusste sie, dass Shawn anal vergewaltigt<br />

18


worden war. Sie ließ sich hier viel Zeit und wartete konsequent, bis der Körper unter ihren<br />

Händen nach vielen Minuten langsam entspannte. Endlich erreichte sie erneut seine Füße und<br />

Minuten später wieder seine Schultern. Der Rückweg ging deutlich besser als der Hinweg und<br />

Kelly war zufrieden.<br />

*****<br />

Drei Tage lang machte sie mit dem Schauspieler die Berührungsübungen. Mal auf dem<br />

Bett liegend, mal auf der Terrasse im Stuhl sitzend, beim Abwaschen in der Küche, beim spa-<br />

zieren gehen, wieder und wieder strichen ihre Hände liebevoll, zärtlich und beruhigend über<br />

seinen ganzen Körper. Am dritten Tag war er so weit, dass er nicht nur keine Angst mehr hat-<br />

te, sondern es herbeisehnte, so unendlich liebevoll von Kelly berührt zu werden. Was für ein<br />

Unterschied waren diese sanften, zärtlichen Berührungen im Gegensatz zu dem, was er wäh-<br />

rend der Gefangenschaft hatte ertragen müssen. Am Morgen des vierten Tages erklärte Kelly<br />

beim Frühstück:<br />

„Ich denke, du hast es verinnerlicht, dass diese Hände dir nie wehtun werden, nur da sind,<br />

um dich aufzufangen. Dich zu halten, dich zu streicheln, dich zu liebkosen.“<br />

Zaghaft nickte er. Kelly lächelte. Sie griff nach seinen Händen und spürte, wie er so-<br />

fort entspannte. Das war ein gewaltiger Unterschied zum Beginn ihrer Übung vor drei Tagen.<br />

Zufrieden fuhr sie fort:<br />

„Das ist ein großartiger Erfolg, Shawn. Wir werden nun den nächsten Schritt zusammen<br />

machen. Du weißt jetzt, dass du meinen Händen vertrauen kannst. Dieses Gefühl muss auch<br />

zu mir als Person in dir entstehen. Es gibt eine simple, nichtsdestoweniger schwierige Übung,<br />

die wir zusammen in Angriff nehmen werden, okay? Bist du bereit dazu?“<br />

Langsam nickte Shawn. Leise sagte er: „Ja, ich denke schon.“<br />

Zufrieden erklärte Kelly: „Wunderbar. Lass uns rein gehen.“<br />

Es ging hinunter in den Keller, was bei Shawn heftiges Unbehagen auslöste. Kelly beru-<br />

higte ihn und führte ihn in einen kleinen Raum, in dem einige Sportgeräte standen.<br />

„Hilfst du mir, die dicke Matte hier auf den Boden in die Mitte des Raumes zu legen?“,<br />

bat sie ihn. Zusammen schoben sie eine dicke Sportmatte in die Raummitte. Kelly forderte<br />

Shawn auf, die Schuhe auszuziehen. Sie selbst streifte sich ihre ebenfalls von den Füßen. Ge-<br />

meinsam traten sie auf die Matte. In der Mitte blieben sie stehen.<br />

„Deine Aufgabe ist es, dich mit dem Rücken zu mir hinzustellen.“, erklärte Kelly ruhig.<br />

Zögernd drehte Shawn sich von der jungen Frau weg. Diese trat einen halben Schritt zurück.<br />

„Das ist eine einfache und simple Übung, die dir helfen wird, Vertrauen zu mir zu fassen.<br />

Dir kann hier absolut nichts passieren, weil die Matte alles abfangen wird. Du machst dich<br />

steif und lässt dich nach hinten fallen.“<br />

19


Kelly merkte, dass Shawn sich versteifte, jedoch aus Angst. Erschrocken keuchte er:<br />

„Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“<br />

Liebevoll erklärte die Therapeutin: „Wir haben alle Zeit der Welt. Niemand treibt dich.<br />

Lass dir so viel Zeit wie du nur brauchst.“<br />

Verkrampft nickte Shawn und stieß atemlos:<br />

„Okay ...“, hervor. Er versuchte zu tun, was Kelly verlangt hatte. Doch so sehr er sich an-<br />

strengte, er brachte es nicht über sich, sondern landete zehn, zwölf Mal auf dem Hintern statt<br />

in ihren Armen. Verzweifelt hockte er schließlich da und flüsterte den Tränen nahe:<br />

„Ich schaffe das nicht.“<br />

Seine Stimme klang, als erwarte er, dass Kelly nun ärgerlich werden und ihn strafen wür-<br />

de. Die Therapeutin jedoch half ihm sanft auf die Beine und drehte ihn herum, sodass er<br />

abermals mit dem Rücken zu ihr stand. Die Psychologin trat dicht an ihn heran, er spürte ih-<br />

ren Körper eng an seinen gedrückt. Shawn blieb absolut entspannt, die Berührungsübungen<br />

hatten seine Ängste fort gespült. Kelly griff um ihn herum und bekam seine Hände zu fassen.<br />

„Schließe deine Augen.“, sagte sie sanft. „Höre nur auf meine Stimme, Shawn, sie wird<br />

dir helfen.“<br />

Erst stand der Schauspieler noch hoffnungslos verkrampft da, doch nach vielen Minuten,<br />

in denen Kelly leise und beruhigend auf ihn ein redete, spürte sie endlich, wie die Verkramp-<br />

fung sich löste.<br />

„So ist es gut. Das machst du großartig. Schön weiter die Augen geschlossen halten und<br />

nur auf meine Stimme hören.“ Ihre Hände ließen seine langsam los und glitten stattdessen<br />

seinen Rücken auf und ab. Sanft, massierend, bereits vertraut. Weiter redete sie mit ihm, be-<br />

ruhigend, Mut machend. Energisch erklärte sie endlich: „Jetzt wirst du dich steif machen, wie<br />

ein Brett.“ Dadurch, dass sie die ganze Zeit Körperkontakt zu ihm hielt, merkte sie, dass er<br />

steif wurde. Langsam und vorsichtig trat sie einen Schritt zurück und sagte: „Du bist soweit.<br />

Lass dich fallen, ich werde da sein und dich auffangen!“<br />

Shawn atmete noch einmal tief durch, biss die Zähne zusammen und ließ sich fallen. Kelly<br />

griff blitzschnell zu und fing ihn auf. Lange konnte sie ihn nicht halten, doch lange genug!<br />

Aufatmend ließ sie ihn zu Boden gleiten und er stotterte überwältigt:<br />

„Ich habe es geschafft.“<br />

Kelly lachte. „Ja. Das war toll. Wir üben das noch ein paar Mal und später versuchen wir<br />

es draußen, ohne schützende Matte, okay?“<br />

Fast eine Stunde machten sie mit der Übung weiter. Hatte Shawn anfangs noch gezögert,<br />

ließ er sich am Ende der Stunde fast unmittelbar fallen. Zufrieden erklärte Kelly:<br />

„So, gehen wir raus in den Garten, auf die Steine, dort, wo es richtig wehtun würde, ein-<br />

verstanden?“<br />

20


Schwer atmend nickte Shawn und folgte der jungen Frau nach draußen. Als er auf den<br />

Fliesen der Terrasse stand, atmete er schnell und flach. Langsam drehte er Kelly den Rücken<br />

zu und diese machte sich ein weiteres Mal bereit, den nicht gerade leichten Körper aufzufan-<br />

gen. Sie merkte Shawns erneutes Zögern und sagte liebevoll:<br />

dir.“<br />

„Komm, du schaffst das, ich bin sicher. Ich werde dich nicht fallen lassen, das schwöre ich<br />

Entschlossen atmete Shawn tief durch, schloss die Augen, machte sich steif und ließ sich<br />

fallen. Sicher landete er in Kellys Armen und sanft und vorsichtig ließ sie ihn auf den Boden<br />

gleiten. Shawn saß dort mehrere Minuten still und zitterte. Erschöpft sagte er:<br />

„Danke.“<br />

*****<br />

Weitere drei Tage machten sie diese Übung, überall, ein ums andere Mal, bis Shawn in<br />

keiner Weise mehr zögerte, sich wieder und wieder in die sicheren Arme der jungen Thera-<br />

peutin fallen zu lassen. Nebenbei berührte Kelly ihn so oft wie möglich. Am Morgen des vier-<br />

ten Tages seit Beginn der Übung, saßen sie am Frühstückstisch und Kelly sah Shawn ruhig<br />

an.<br />

das?“<br />

„Du hast unglaubliche Fortschritte gemacht. Ich bin sagenhaft stolz auf dich, weißt du<br />

Verlegen wagte Shawn ein winziges, zaghaftes Grinsen. Schnell aber wurde er blass, als<br />

Kellys nächste Worte ihn kalt erwischten.<br />

„Meinst du, du schaffst es, dich von mir fesseln zu lassen?“<br />

Entsetzt keuchte er auf.<br />

„Oh Gott!“<br />

„Wenn du das schaffst, weißt du, dass du mir absolut vertraust, Shawn, erst dann.“<br />

Von einer Sekunde zur anderen war der junge Schauspieler nur noch ein zitterndes Bündel<br />

Angst. Kelly hatte dies einkalkuliert. Sie nahm seine Hände und zwang ihn, sie anzusehen.<br />

„Shawn, du schaffst das, davon bin ich überzeugt. Du musst dich in meine Hände geben,<br />

vollkommen, nur so haben wir eine Chance, dass ich dir helfen kann. Ich werde öfter Dinge<br />

von dir verlangen müssen, die dir unverständlich erscheinen. Das geht nur, wenn du mir blind<br />

vertraust.“<br />

Zaghaft nickte Shawn.<br />

„Wir ... wir können es ja mal versuchen ...“, flüsterte er unglücklich. Kelly griff nach sei-<br />

ner Rechten und zog ihn sanft mit ins Haus. Sie gingen in sein Zimmer und Kelly bat ihn, hier<br />

zu warten. Sie eilte in ihr Schlafzimmer und nahm dort aus einer Tüte vier Lederbänder, wie<br />

Shawn sie während seiner Entführung getragen hatte. Damit kehrte sie ins Gästezimmer zu-<br />

rück.<br />

21


Shawn lief hier unruhig auf und ab und zuckte heftig zusammen, als Kelly den Raum be-<br />

trat. Als er die Lederbänder sah, wurde er leichenblass.<br />

„Wir machen es ganz, ganz langsam und nur du bestimmst, wann es genug ist, verspro-<br />

chen.“, erklärte Kelly und setzte sich auf Shawns Bett. Langsam ließ er sich neben sie sinken<br />

und biss sich verzweifelt auf die Unterlippe. Zitternd streckte er ihr seine Hände hin. Vorsich-<br />

tig und genau auf Shawns Reaktion achtend, legte Kelly die Lederbänder um seine Handge-<br />

lenke. Er atmete hektisch und flach und sie wartete, bis er sich beruhigt hatte. Sanft bat sie<br />

ihn:<br />

„Lege dich bequem hin, okay?“<br />

Bebend vor Angst machte er sich lang. Rasch legte Kelly das zweite Paar Lederbänder um<br />

seine Fußgelenke. Viel zu schnell und flacht atmete der junge Mann und Kelly griff nach sei-<br />

nen Händen.<br />

„Du musst versuchen, ruhiger zu atmen, sonst hyperventilierst du, Shawn. Komm, wir<br />

machen das zusammen. Tief einatmen durch die Nase und durch den Mund tief ausatmen.“<br />

Minutenlang machte sie die Atemübung mit ihm, bis es ihm gelang, ruhig zu Atmen. Erst jetzt<br />

stand Kelly auf und trat ans Kopfende des Bettes.<br />

Sachlich und ruhig sagte sie:<br />

„Na, dann gib mir mal deine Hände.“<br />

Langsam streckte er die Rechte nach oben und Kelly ließ den an dem Lederband befestig-<br />

ten großen Karabiner um eine der Bettstreben klicken. Shawn zuckte heftig zusammen, als<br />

das Geräusch erklang. Er brauchte Minuten, bis er den Mut aufbrachte, den anderen Arm in<br />

die Höhe zu strecken. Als das Klickgeräusch erklang, überwältigte ihn die Panik wie eine<br />

Woge! Verzweifelt wimmerte er auf.<br />

„Bitte, losmachen, bitte.“<br />

Augenblicklich löste Kelly die Fesseln und setzte sich zu ihm. Beruhigend nahm sie ihn in<br />

die Arme.<br />

„Es tut mir leid.“, keuchte Shawn und Tränen kullerten ihm über die blassen Wangen. Er<br />

zitterte am ganzen Leib.<br />

„Das braucht es nicht.“ meinte Kelly ruhig. „Wir haben alle Zeit der Welt. Es geht hier nur<br />

nach dir, du gibst das Kommando.“ Sie wartete, bis er sich gefangen hatte und fragte: „Neuer<br />

Versuch?“<br />

Erschöpft nickte Shawn und atmete tief durch. Er streckte beide Arme nach oben und<br />

spürte, wie die Karabiner sich um die Bettstreben schlossen. Kelly setzte sich blitzschnell<br />

erneut neben ihn, legte ihm die rechte Hand auf die sich heftig hebende und senkende Brust<br />

und redete beruhigend auf ihn ein.<br />

22


„Du brauchst keine Angst haben, Shawn, du bestimmst, wie lange du es aushältst. Ich ma-<br />

che dich sofort los, wenn du es sagst.“ Ihre Hand strich zärtlich über seine Brust und er<br />

schaffte es, fast drei Minuten halbwegs ruhig liegen zu bleiben. Dann war es mit seiner Be-<br />

herrschung vorbei. Sofort löste Kelly die Haken und sagte begeistert: „Das war hervorragend!<br />

Du bist viel besser, als du denkst.“<br />

Sie übten den ganzen Tag weiter, bis Shawn es abends aushielt, auch an den Füßen gefes-<br />

selt, gute zehn Minuten stillzuliegen. Dass Kelly jedes Mal sofort und ohne zu zögern die Ha-<br />

ken öffnete, sobald ihn Panik überschwemmte, half ihm, langsam ruhiger zu werden. Es war<br />

so, wie sie gesagt hatte: Er bestimmte. Am Abendbrottisch sagte er leise:<br />

„Ich glaube, wenn wir es morgen wieder versuchen, wird es besser klappen.“<br />

Kelly nickte.<br />

„Davon gehe ich aus. Du bist so tapfer. Wenn du es schaffst, dort zu liegen, wirklich ent-<br />

spannt und ruhig, können wir zum nächsten Schritt gehen, eine weitere Übung. Erst dann<br />

werden wir langsam und geduldig die Entführung aufrollen.“<br />

„Ich werde dir alles erzählen müssen, oder?“ fragte er zaghaft.<br />

„Ja, das ist das Ziel. Dass du über das erlebte redest und es so nach und nach verarbeitest<br />

und los wirst.“<br />

Leise, fast unhörbar, flüsterte er:<br />

„Ich ... da gibt es so vieles, für dass ich mich ... entsetzlich schäme ...“<br />

Mitleidig sah Kelly den jungen Mann an.<br />

„Du wirst mit der Zeit begreifen, dass es nichts gibt, dessen du dich schämen müsstest. Du<br />

wurdest gezwungen, geschickt manipuliert, du hast keinen Grund dich zu schämen.“ Verzwei-<br />

felt stieß Shawn ein leises Lachen aus.<br />

„Du hast ja keine Ahnung!“<br />

„Nein, aber ich bin sicher, die werde ich bald haben und ich bin überzeugt, dass du keiner-<br />

lei Grund hast, dich zu schämen.“<br />

Als sie später ins Bett gehen wollten stockte Shawn, bevor er das Gästezimmer betrat. Er<br />

zögerte kurz und drehte sich zu Kelly herum.<br />

„Danke ... dass du mich nicht so aufgegeben hast, wie ich mich selbst.“, sagte er leise.<br />

Kelly lächelte.<br />

„Ich gebe so schnell nicht auf. Das hat mir einen gewissen Ruf eingebracht. Schlaf gut.“<br />

Er zuckte die Schultern. „Tue ich schon lange nicht mehr.“, sagte er bedrückt.<br />

Kelly zögerte kurz und fragte sachlich: „Würde es dir helfen, nicht allein zu sein?“<br />

Erstaunt sah Shawn sie an. Verlegen sagte er: „Ich weiß nicht, möglich. Ich habe schlim-<br />

me Albträume, jede Nacht.“<br />

23


Kelly nickte. „Das habe ich gemerkt. Wenn es dir nichts ausmacht, kannst du gerne einmal<br />

probehalber bei mir schlafen. Wenn das besser geht, können wir es beibehalten.“<br />

Shawn wurde rot und nickte nach kurzem Zögern verlegen.<br />

„Wenn das ginge? Ich fühle mich in deiner Gegenwart ... sicherer.“<br />

„Selbstverständlich. Deine Therapie hört nicht an der Zimmertür auf. Wenn es dir hilft, ist<br />

das in Ordnung.“<br />

So folgte Shawn der jungen Frau betreten in ihr Schlafzimmer. Minuten später lagen sie<br />

nebeneinander im Bett. Unwillkürlich hatte Shawn das Gefühl, die Beine spreizen zu müssen.<br />

Kelly bekam dies mit und sagte:<br />

„Du bist nicht mehr dort, Shawn, vergiss das nicht.“<br />

Ertappt rollte der junge Mann sich daraufhin auf die Seite.<br />

„Gute Nacht.“<br />

„Wenn du unruhig wirst, wecke ich dich, versprochen. Gute Nacht.“<br />

Shawn schlief schnell ein. Kelly war sicher, dass sie aufwachen würde, falls er zappelig<br />

werden würde. Sie drehte sich auf die Seite und schloss die Augen.<br />

Als sie im Schlaf merkte, wie es neben ihr im Bett unruhig wurde, wachte sie sofort auf.<br />

Statt Shawn wie versprochen zu wecken drehte sie sich zu ihm und legte ihm ihre Hand auf<br />

die Brust, ließ ihre Finger sanft streichelnd über seine nackte, warme Haut gleiten. Er seufzte<br />

im Schlaf auf und murmelte irgendetwas vor sich hin. Doch er wurde tatsächlich ruhiger. Kel-<br />

ly blieb so liegen und schlief wieder ein. Sie wachte davon auf, dass der junge Mann neben<br />

ihr krampfhaft nach Luft schnappte. Alarmiert fuhr Kelly in die Höhe und beugte sich über<br />

ihn.<br />

„Shawn, wach auf! Du hast einen Albtraum!“<br />

Sie schüttelte ihn sanft an den Schultern und er wachte mit einem verzweifelten:<br />

„Aufhören ...“, auf. Mit weit aufgerissenem Mund saß er senkrecht und sog keuchend Luft<br />

in sich hinein. Kelly reagierte unwillkürlich: Sie zog ihn in ihre Arme und ließ ihre Linke<br />

Hand beruhigend und entspannend über seinen schweißnassen Rücken streichen.<br />

„Ganz ruhig, du bist in Sicherheit. Hier bei mir kann dir nichts Schlimmes passieren,<br />

Shawn. Du bist in Sicherheit.“ Sie spürte seine Schultern zucken und wusste, dass er weinte.<br />

Und sie spürte erleichtert, dass er auch in dieser angespannten Situation keinerlei Unbehagen<br />

mehr zeigte bei der ziemlich intimen Berührung. Allmählich beruhigte sich seine Atmung und<br />

das heftige Zittern ließ nach. Er hatte sich regelrecht in Kellys Arme fallen lassen und nach<br />

Stunden, so kam es der Therapeutin jedenfalls vor, spürte sie, dass er entspannte und sein<br />

Schluchzen verstummte.<br />

„Besser?“, fragte sie liebevoll und er nickte. Kelly überlegte nicht lange, sie ließ sich in<br />

die Waagerechte sinken und zog Shawn mit sich. „Komm, wir versuchen, noch Schlaf zu be-<br />

24


kommen.“ sagte sie sanft. Ohne sich zu sträuben ließ Shawn es zu, dass sie ihn mit sich zog<br />

und so lagen sie eng nebeneinander und schliefen in dieser Haltung ein.<br />

*****<br />

Am kommenden Morgen machten sie nach dem gemütlichen Frühstück auf der Terrasse<br />

gleich mit den Übungen im Schlafzimmer weiter. Shawn war still, sagte nach wie vor wenig,<br />

aber er war diszipliniert und gab sich Mühe. Nach einigen schweißtreibenden Angstattacken,<br />

war er am Nachmittag so weit, dass er fast entspannt gefesselt auf dem Bett lag. Kelly war<br />

zufrieden.<br />

„Das machst du hervorragend! Wie fühlst du dich?“<br />

Shawn sah zu ihr auf und atmete tief ein. Leise sagte er:<br />

„Verlegen. Und ich habe Angst.“<br />

„Wovor? Du bist locker und ...“<br />

Er schüttelte den Kopf. „Nicht, weil ich gefesselt bin. Ich habe Angst davor, dass es wohl<br />

zwangsläufig bald losgehen wird.“<br />

Kelly wusste sofort, was er meinte. „Ja, das war das Ziel. Shawn, ich bin sicher, du<br />

schaffst das. Du ...“ Sie unterbrach sich und machte Shawn stattdessen erst einmal los.<br />

„Komm, für heute ist Feierabend, lass uns ein Stück spazieren gehen, was hältst du davon?“<br />

Er setzte sich auf und nickte. „Gerne.“<br />

Sie gingen zusammen an den See hinunter und liefen eine Weile schweigend nebeneinan-<br />

der her. Nach einiger Zeit griff Kelly ihren vorher unterbrochenen Satz auf.<br />

„Was ich dir vorhin sagen wollte, Shawn, ist folgendes: Du bist erst einunddreißig, du bist<br />

viel zu jung, um dich von dem, was du erlebt hast, besiegen zu lassen. Du hast dein ganzes<br />

Leben noch vor dir, kannst noch so unendlich viel erreichen. Ich werde nicht zulassen, dass<br />

die Entführung dich zerstört. Wir werden zusammen kämpfen, um dir ein normales Leben zu<br />

ermöglichen, Shawn, hast du das kapiert?“<br />

Er hatte ihr zugehört und nickte. „Ja. Warum ...?“<br />

Kelly wusste, was er fragen wollte, ohne dass er es aussprach.<br />

„Warum ich dir helfe? Das kann ich dir sagen.“ Sie schwieg einen Moment und sagte end-<br />

lich: „Ich war vierzehn, als ich von vier älteren Schülern entführt und tagelang missbraucht<br />

wurde. Sie hielten mich in einer Waldhütte gefangen und vergewaltigten mich einzeln und<br />

auch zu zweit gleichzeitig. Sie haben mich gefoltert und gequält. Nach sechs Tagen endlich<br />

fand mich die Polizei. Ich war in der gleichen Verfassung wie du, Shawn, aber meine Eltern<br />

gaben nicht auf. Sie suchten so lange, bis sie einen Therapeuten fanden, der bereit war, für<br />

mich alles zu geben, um mich in ein normales Leben zurück zu führen. Er hat es geschafft. Es<br />

hat ihn Monate seines Lebens gekostet, aber am Ende bin ich stolz erhobenen Hauptes vor<br />

25


Gericht erschienen, habe die Verhandlung hinter mich gebracht und durch meine Aussage<br />

sicher gestellt, dass die Typen lebenslang in den Bau gewandert sind. Damals habe ich be-<br />

schlossen, Psychologie zu Studieren, um Menschen mit extremen Traumata zu helfen. Ich<br />

habe nach dem Studium ein Projekt ins Leben gerufen, CLTT, Confidence and Long-term<br />

Trauma Therapy, zusammen mit den renommiertesten Traumatherapeuten der Welt. Gemein-<br />

sam haben wir ein Konzept ausgearbeitet, wie man Opfern von Entführungen und schwerem<br />

Missbrauch am besten helfen kann. Es beruht in erster Linie auf Vertrauen und auf Langzeit-<br />

betreuung, nicht auf einzelne Sitzungen. Wir sind weltweit ungefähr einhundert Therapeuten,<br />

die dieses Konzept anwenden. Wir leben mit den Opfern zusammen und betreuen sie Tag und<br />

Nacht, wenn du so willst. Wir gehen immer gleich vor, natürlich individuell auf die Erlebnisse<br />

der Opfer eingehend, und haben damit große Erfolge erzielt. Wir bauen Vertrauen auf, denn<br />

das ist es, was Opfer solcher Gewaltverbrechen verlieren. Sie vertrauen niemandem mehr, oft<br />

am wenigsten sich selbst. Erst, wenn diese Basis geschaffen ist, setzt die eigentliche Bewälti-<br />

gungstherapie ein.“<br />

Shawn hatte konzentriert zugehört. Er prustete angespannt. Was er da zu Hören bekam,<br />

hatte er nicht erwartet. Kelly konnte also mehr als gut nachvollziehen, was er durchgemacht<br />

hatte. Unmittelbar schoss ihm durch den Kopf, dass sie aber sicher nicht noch Erregung und<br />

unvergleichliche Orgasmen erlebt hatte. Kelly spürte, dass er sich verkrampfte und unsicher<br />

wurde.<br />

„Shawn, was du auch erlebt hast, wir schaffen es, das verspreche ich dir. Denke nicht da-<br />

ran, noch ist es nicht so weit. Erst einmal kommt noch Schritt Zwei, bei dem du lernen wirst,<br />

dir selbst wieder zu Vertrauen.“<br />

Der junge Mann blieb stehen und sah auf den See hinaus. „Wie soll ich mir je wieder Ver-<br />

trauen, bei dem, was ich mir geleistet habe?“, fragte er leise. Kelly brannte darauf, zu erfah-<br />

ren, was ihn so bedrückte, dass er sich hasste und verachtete, aber sie schob diese Frage weit<br />

weg.<br />

um.<br />

„Du wirst es lernen, vertraue mir, okay?“<br />

Minutenlang sah Shawn stumm auf den See hinaus. Er drehte sich langsam zu Kelly her-<br />

„Ich habe das Gefühl, dass ... dass ich das bereits tue.“, sagte er leise. „Ich habe nicht für<br />

Möglich gehalten, dass ich das je wieder zu einem Menschen sagen würde.“<br />

Kelly lächelte. „Darauf werden wir aufbauen.“<br />

„Ich werde dich bezahlen, das schwöre ich. Ich habe viel Geld verdient und ...“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Das ist unwichtig, Shawn. Geld spielt bei dieser Therapie kei-<br />

ne Rolle, die meisten so schweren Fälle übernehmen wir kostenlos, denn nicht alle Opfer von<br />

Gewaltverbrechen sind so wohlhabend, dass sie es sich leisten könnten, eine solch intensive<br />

Therapie zu bezahlen. Wenn sie darauf bestehen, lassen wir sie Zahlen was sie sich eben leis-<br />

26


ten können. Wir erhalten Fördermittel und staatliche Unterstützung und wir alle, die wir an<br />

diesem Projekt mitarbeiten, haben Geld genug, es uns leisten zu können, oft kostenfrei zu<br />

behandeln. Mach dir darüber keine Gedanken.“<br />

Sie gingen weiter und Shawn wollte wissen:<br />

„Wie sieht das ... ich meine, wie willst du ... wie soll ich Selbstvertrauen aufbauen?“<br />

Kelly lächelte. „Es gibt Übungen, die wir ausgearbeitet haben. Alle nicht besonders ange-<br />

nehm, aber wirkungsvoll. Morgen werden wir damit beginnen.“<br />

Wieder schwieg Shawn eine Weile, während sie gemütlich weiter am Seeufer entlang<br />

schlenderten. Unvermittelt fragte er leise und sich vor Verlegenheit windend:<br />

„Darf ich ... kann ich weiter bei ... bei dir schlafen?“<br />

Kelly lachte fröhlich, um ihm die Verlegenheit zu nehmen. „Na klar. Ich finde es schön,<br />

nicht mehr allein zu Schlafen.“<br />

„Was sagt dein ... dein Freund dazu, wenn du mit einem anderen Mann ...?“<br />

Kelly grinste. „Keine Bange, da wird niemand kommen und dich aus meinem Bett zerren,<br />

Shawn, ich bin solo. Meine Arbeit lässt eine feste Beziehung nicht zu, weißt du.“<br />

Ein schwaches Grinsen huschte sekundenlang über Shawns Gesicht. „Verstehe.“ Er schau-<br />

te Kelly das erste Mal, seit er bei ihr war, aufmerksamer an. Sie war hübsch, das konnte er<br />

nicht abstreiten. Bisher war ihm das nicht bewusst geworden war. Schlank, ungefähr 1.70<br />

Meter groß, hatte wunderschöne dunkle Augen, die zu ihren fast hüftlangen, dunkelblonden,<br />

leicht gewellten Haaren einen erstaunlichen Kontrast bildeten. Zarte Gesichtszüge, fein ge-<br />

schwungene Lippen, unter normalen Umständen wäre sie ihm sofort aufgefallen. Er seufzte.<br />

Normale Umstände ... Er war so weit von der Normalität entfernt wie die Erde vom Jupiter!<br />

*****<br />

An diesem Abend konnte Shawn nicht einschlafen, im Gegensatz zu Kelly. Erstmals, seit-<br />

dem er klarer Denken, nein, überhaupt wieder Denken konnte, wurde ihm drastisch und<br />

hammerhart bewusst, dass er in absehbarer Zeit gezwungen sein würde, Kelly alles zu erzäh-<br />

len. Dass er bei einigen der von seinen Entführern angewandten Praktiken eine Geilheit emp-<br />

funden hatte, von der er nicht einmal geahnt hatte, dieser fähig zu sein. Er würde Kelly erzäh-<br />

len müssen, dass er vor Erregung geschrien hatte, wenn Carrie, die Anführerin der Gruppe,<br />

ihm den Arsch gevögelt hatte. Er würde zugeben müssen, dass die Orgasmen, die er gehabt<br />

hatte, als er wehrlos gefesselt vor ihr lag, das Intensivste gewesen war, was er bis dato erfah-<br />

ren hatte. Alles in Shawn krampfte sich vor Scham zusammen. Ihm wurde schlecht. Über-<br />

zeugt, dass Kelly ihn verachten würde, wand er sich unter dem Zudeck. Er sah ihre Augen<br />

bildlich vor sich. Entsetzt, voll Abscheu und Unverständnis, blanke Verachtung in ihnen. Sie<br />

würde ihn raus werfen. Shawn konnte nicht mehr verhindern, dass seine Augen sich mit Trä-<br />

27


nen füllten. Er wünschte sich, tot zu sein! Wie sollte er je über all das Reden können, ohne vor<br />

Scham zu sterben? Verzweifelt schluchzte er auf. Sofort wachte Kelly auf. Erschrocken beug-<br />

te sie sich über den hilflos schluchzenden jungen Mann und fragte besorgt:<br />

„Shawn, was ist los?“<br />

Unfähig zu Antworten wollte Shawn sich von Kelly weg drehen, doch das ließ sie nicht<br />

zu. Energisch zog sie ihn an sich und hielt ihn in den Armen. Erst sträubte Shawn sich.<br />

Schließlich hatte er aber nicht mehr die Kraft, sich gegen die liebevollen Arme, die ihn hiel-<br />

ten, zu wehren.<br />

Langsam beruhigte er sich. Ausgelaugt und fertig lag er neben Kelly, weiter von ihr gehal-<br />

ten, und hatte das Gefühl, sein Schädel würde jeden Moment platzen. Er hatte rasende Kopf-<br />

schmerzen. Aufstöhnend presste er eine Hand an seine Stirn. Kelly veränderte ihre Lage ein<br />

wenig und begann, ihre rechte Hand sanft massierend über seine Schläfen gleiten zu lassen.<br />

Nach einiger Zeit merkte sie, dass Shawn sich entspannte. Die Kopfschmerzen ließen nach<br />

und er prustete erleichtert auf.<br />

„Magst du mir sagen, was los gewesen ist oder hatte dein Ausbruch keinen spezifischen<br />

Grund?“, fragte Kelly ruhig. Viel zu fertig, um noch Widerstandskraft aufzubringen, sagte<br />

Shawn tonlos:<br />

„Ich habe daran gedacht, dass ich dir erzählen muss, dass einiges von dem, was Carrie mit<br />

mir angestellt hat, mich tierisch geil gemacht hat.“ Bevor er richtig begriff, was los war, hatte<br />

er diese Worte ausgesprochen. Kelly nickte langsam. Carrie. Diesen Namen hörte sie zum<br />

ersten Mal von Shawn. Wer das war, würde sie sicher bald erfahren. Sie schob den Gedanken<br />

erst einmal beiseite und wandte ihre Aufmerksamkeit Shawn zu. Sie hatte sich so etwas ge-<br />

dacht. Kurz überlegte sie, griff in ihre Nachttischschublade und zog ein kleines Diktiergerät<br />

heraus. Sie fragte sachlich:<br />

„Magst du mir von einer solchen Situation erzählen?“<br />

Er war im Augenblick so fertig, dass er seinen Widerstand aufgegeben hatte. Kelly wollte<br />

die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Das war für ihn das Schwerste, davon zu<br />

berichten, dass er bei einigen Dingen Erregung empfunden hatte, das war Kelly klar. Sie hatte<br />

mit ihrer Vermutung Recht. Shawn reagierte, als hätte sie ihm ein Wahrheitsserum gespritzt<br />

und fing leise an zu erzählen.<br />

*****<br />

Carrie zog ihn weiter den Strand entlang und schließlich sahen sie vor sich die kleine<br />

Klippe auftauchen, die wohl einmal groß gewesen sein musste, bevor die Zeit sie hatte abbrö-<br />

ckeln lassen.<br />

„Da ist es, komm, ich möchte es dir gerne zeigen.“, sagte Carrie und zog Shawn auf ei-<br />

nen Höhleneingang zu. Sie traten ein und Shawn war erstaunt, dass die Höhle gar nicht so<br />

28


klein war. Er sah sich aufmerksam um und spürte, wie sein Herz anfing zu Rasen und eine<br />

Faust seine Kehle zuzudrücken schien. Carrie hatte nicht übertrieben. An einer Wand waren<br />

Ringe aus stabilem Stahl in den Fels geschraubt worden. In einer Ecke war ein Brett am Bo-<br />

den befestigt, in das ebenfalls an verschiedenen Stellen Stahlringe gedreht worden waren.<br />

Diese dienten ebenfalls zum Fixieren. Ein seltsamer Holzhocker, dessen Funktion Shawn<br />

nicht klar war, stand an einer Wand, und er fragte nervös:<br />

„Wozu ist das Teil da?“ Er deutete auf den Hocker. Carrie zog den Hocker in die Mitte<br />

der Höhle und sagte:<br />

„Ich demonstriere es dir. Du kniest dich auf diese Seite.“<br />

Zögernd gehorchte er. Er kniete sich auf zwei V-förmig angebrachte Bretter, auf denen<br />

seine Unterschenkel jetzt ruhten. An den Brettern waren Klettbänder befestigt, mit denen Car-<br />

rie seine Beine etwa in Wadenhöhe fest an die Bretter fixierte. In der Mitte hatte der Holzbock<br />

eine stabile, leicht abgerundete, ungefähr 20 Zentimeter breite Holzplatte. Carrie erklärte:<br />

„Darüber beugst du dich vor. Deine Arme stützt du auf der anderen Seite auf die beiden<br />

Bretter.“<br />

Shawn sah, dass auf der anderen Seite ebenfalls V-förmig weitere zwei Bretter angebracht<br />

waren. Er lehnte sich über die Mittelleiste und legte seine Arme auf diese Bretter. An den<br />

stabilen Halteleisten für das Mittelbrett und an den Brettern für die Arme waren ebenfalls<br />

Klettbänder befestigt, die Carrie stramm über seine Oberarme und die Handgelenke zog. So<br />

kniete Shawn bewegungsunfähig fixiert vor ihr.<br />

„Würdest du mir bitte ... zehn Peitschenhiebe ... verpassen?“, fragte er mit zitternder<br />

Stimme. Er hatte den Befehl, Carrie jeden Tag darum zu bitten, nicht vergessen. Da er fixiert<br />

war konnte sie das gleich hier erledigen. Carrie nickte erfreut, er hatte sich freiwillig dazu<br />

durchgerungen. Sie war zufrieden mit Shawn, denn sie hörte die Angst in seiner Stimme.<br />

„Ja, das mache ich gerne.“, erklärte sie und trat an die hintere Höhlenwand, wo eine Rei-<br />

he von Peitschwerkzeugen hingen. Sie überlegte und griff nach einem geschmeidigen Rohr-<br />

stock. Sie trat hinter Shawn, der zitterte wie Espenlaub. Sein ganzer Vorderkörper brannte<br />

noch von den schlimmen Peitschenhieben am Morgen und nun würde er erneut Schläge spü-<br />

ren. Aber er war bereit, sie aus Carries Hand zu empfangen. Er war bereit, sich fallen zu las-<br />

sen. Er wollte sich nicht beherrschen, er wollte alles aus sich herauslassen. Carrie würde<br />

nicht über ihn Lachen und Lästern. Er zuckte zusammen, als er ihre Hände an seinem einla-<br />

dend ausgestreckten Po spürte. Angst presste sein Herz zu einem kleinen, zuckenden Klumpen<br />

zusammen und er keuchte hektisch nach Luft. Seine Beine waren durch die Form der Knie-<br />

bretter weit gespreizt und er erschrak heftig, als er Carries Hand von hinten durch die Beine<br />

hindurch an seinen Hoden spürte. Sie griff nach dem Plug und zog diesen ein Stück aus sei-<br />

nem After heraus. Weiter zog sie, bis sie das grässliche Teil aus ihm heraus hatte. Sie strei-<br />

chelte seinen Po und trat an eine verschlossene, große Plastikkiste, die neben dem Eingang<br />

29


stand. Sie öffnete diese und suchte, bis sie gefunden hatte, wonach sie gesucht hatte. Mit ei-<br />

nem Analvibrator und Gleitmittel in der Hand kam sie zu Shawn zurück, der sich verzweifelt<br />

nach ihr umdrehte.<br />

„Was hast du vor?“, keuchte er panisch. Carrie zeigte ihm den Vibrator und sagte leise<br />

und erregt:<br />

„Ich werde dich vergewaltigen, du hast ja keine Vorstellung, wie geil das aussieht, wie du<br />

da hockst.“<br />

Shawn keuchte entsetzt auf und fing an, panisch an den Fesseln, die ihn hielten, zu zerren.<br />

Aber so simpel diese Klettbänder waren, so sicher waren sie. Er war durchtrainiert, hatte viel<br />

Zeit im Kraftraum verbracht, hatte jedoch nicht den Hauch einer Chance, die Fesseln zu<br />

sprengen. Verzweifelt schluchzte er auf.<br />

„Nein! Bitte, Carrie, bitte, alles, nur das nicht! Bitte! BITTE!“, wimmerte er fassungslos.<br />

Carrie streichelte erneut seinen Po und sagte beruhigend:<br />

„Ich werde vorsichtig sein, dass verspreche ich dir.“ Sie rieb den Vibrator und seinen Af-<br />

ter gründlich mit Gleitmittel ein und schaltete das Gerät auf niedrigste Stufe. Das sanfte Vib-<br />

rieren machte sie wuschig. Sie trat dicht an Shawn heran und drückte dessen Pobacken aus-<br />

einander. Langsam fing sie an, den Vibrator in ihn zu schieben. Shawn zuckte und schluchzte,<br />

dass es ihn schüttelte. Carrie ließ sich Zeit. Das verzweifelte, hilflose Weinen ignorierte sie.<br />

Mit einer Hand bewegte sie den Vibrator sachte hin und her, mit der anderen Hand stimulier-<br />

te sie Shawns Hoden und Penis, an die sie hervorragend herankam. Shawn wimmerte und<br />

zitterte, mehr vor Scham und Ekel als vor Schmerzen, denn Carrie hielt ihr Versprechen und<br />

war vorsichtig. Nach einer Weile, in der sie den Vibrator geschickt in Shawn hin und her be-<br />

wegte, langsam und sinnlich vor und zurück zog, spürte sie, dass sein Penis zögernd steif<br />

wurde. Shawn merkte dies ebenfalls und war darüber zutiefst entsetzt. Nein! Das war nicht<br />

möglich. Er bekam langsam aber sicher einen kräftigen Steifen. Carrie stellte die nächststär-<br />

kere Vibrationsstufe ein und ehe Shawn sich versah, entfuhr ihm ein Aufkeuchen der Lust, als<br />

Carrie den Vibrator fester und schneller vor und zurückbewegte.<br />

Das konnte nicht wahr sein. Er konnte keine Lust empfinden! Er wollte keine Lust empfin-<br />

den! Niemals. NEIN. Er ertappte sich allerdings, wie er versuchte, ihr den Po entgegen zu<br />

strecken. Er wünschte sich fast, sie würde das grässliche, geile Teil tiefer und fester in ihn<br />

bohren. Shawn wimmerte, vor Scham, Verzweiflung über sich selbst und seinen abartigen<br />

Körper, der ihm übel mitspielte und vor Erregung. Verschämt hörte er sich keuchen:<br />

„Oh, das ... ist ... so geil ...“<br />

Carrie lachte nicht. Sie sagte nichts abfälliges. Sie streichelte nur sanft weiter seine Ho-<br />

den und bewegte den Vibrator fester und tiefer in ihn hinein. Shawn zuckte in den Fesseln,<br />

diesmal eindeutig vor Erregung. Und dann ...<br />

30


„Oh, ja, fester ... bitte...“<br />

Carrie tat ihm den Gefallen. Sie schaltete auf höchste Stufe und drückte den Vibrator in<br />

voller Länge in Shawn hinein. Dieser schrie auf, vor Lust, Schmerz, Scham. Bettelte atemlos:<br />

„Noch mal ... Ich komme gleich!“<br />

Carrie zog das Teil zurück und stieß erneut zu. Shawn schrie. Noch mal und noch mal be-<br />

wegte Carrie das Spielzeug und Shawn schrie bei jedem Zustoßen Lust- und Schmerzvoll auf.<br />

Und dann kam er zu einem Orgasmus, der ihn fast zerriss. Er zuckte noch Minuten später und<br />

hing fix und fertig über dem Gestell. Carrie befreite ihn und er richtete sich langsam auf. Sie<br />

half ihm und zog ihn zu einem Lager aus dicken, weichen Fellen in der linken Ecke der Höhle.<br />

Hier ließ sie sich nieder und zog ihn mit sich. Er wollte sich vor Verlegenheit und Scham von<br />

ihr weg drehen, aber das ließ sie nicht zu.<br />

*****<br />

Kelly hatte zugehört, ohne Shawn zu unterbrechen. Nun schaltete sie das Diktiergerät aus.<br />

Er wagte nicht, aufzuschauen, wollte die Verachtung in ihrem Blick nicht sehen müssen. End-<br />

lich sagte Kelly etwas.<br />

„Deshalb schämst du dich?“<br />

Ehrlich erstaunt klang ihre Stimme, weder Verachtung noch Unglaube über das, was sie<br />

gehört hatte schwang in ihr mit. Nur Erstaunen darüber, dass er sich schämte, dass er Erre-<br />

gung empfunden hatte. Shawn sah nicht weniger erstaunt auf. In Kellys Augen las er nur Ver-<br />

ständnis und Mitleid.<br />

„Du verachtest mich nicht? Dass ich es auch noch geil gefunden habe?“, fragte er verwirrt.<br />

„Natürlich nicht! Shawn, es gibt Menschen, die können dich derart manipulieren, dass du<br />

bereit bist, alles von ihnen zu erdulden und alles für sie zu tun, weil es dir richtig, vernünftig<br />

erscheint. Wann war das, zu welchem Zeitpunkt deiner Entführung?“<br />

Shawn zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, muss so zirka in der zweiten Woche gewe-<br />

sen sein, schätze ich. Vielleicht eher, ich habe schnell jedes Zeitgefühl verloren.“<br />

Kelly nickte verstehend. „Da ich noch nicht weiß, was vorher vorgefallen ist, werde ich im<br />

Moment nichts weiter dazu sagen. Wenn ich eine Vermutung äußern müsste, würde ich den-<br />

ken, dass diese Carrie, ich nehme an, sie hat dort den Ton angegeben, dich nach Misshand-<br />

lungen aufgefangen hat. Sie hat dir versichert, dass du keine Grund hast, dich zu Schämen.<br />

Sie wird dir geholfen, dir Linderung verschafft haben, nehme ich an. Hat dich zwischendurch<br />

normal behandelt, oder?“<br />

Stumm nickte Shawn.<br />

„Siehst du, sie hat dich von der ersten Minute an manipuliert. Sie hat dir klar gemacht, wie<br />

wichtig du ihr bist, dass sie auf dich aufpassen würde, wie wichtig sie für dich ist. Sie hat dich<br />

regelrecht in das Stockholm-Syndrom hinein gezwungen. Das ist es, wie diese Leute arbeiten,<br />

31


verstehst du? Ich habe mit so vielen solchen Männern und Frauen zu tun gehabt, alle nutzen<br />

die Hilflosigkeit ihrer Opfer auf dieselbe Weise aus. Sie sind der einzige Rettungsanker und<br />

über kurz oder lang ist jeder so weit, zu denken, diese Monster wären auf ihrer Seite. Zumin-<br />

dest für eine gewisse Zeit. Denn irgendwann können solche Typen ihr wahres Ich nicht mehr<br />

verbergen.“<br />

Shawn hörte erschöpft zu und langsam dämmerte ihm, dass Kelly Recht hatte. Das war es,<br />

was Carrie mit ihm gemacht hatte. Sie hatte ihm klar gemacht, dass nur sie ihn dort als Men-<br />

schen sah. Dabei hatte Carrie ihn von allen am wenigsten als Mensch gesehen.<br />

„Ich dachte, ich liebe sie ...“, sagte er so leise, dass Kelly es kaum verstand. Diese strich<br />

ihm unbewusst in einer liebevollen Geste über die Stirn.<br />

„Genau das wollte sie erreichen. In einer Situation wie der, in der du dich befunden hast,<br />

noch um ein hundertfaches verstärkt durch die Isolation der Insel, hattest du gar keine andere<br />

Möglichkeit, als dich an den Gedanken zu klammern, dass sie dich mochte. Dass sie die Ein-<br />

zige war, die dich dort beschützten konnte und dich pflegte und tröstete.“ Sie hörte Shawn<br />

leise seufzen. Unglücklich sagte er:<br />

„Sie hat nicht ein einziges Wort ehrlich gemeint. Aber ... Wenn sie ... Wenn ich bis zur<br />

Besinnungslosigkeit ausgepeitscht worden war, dann kam sie und hat ...“ Er fuhr sich fahrig<br />

mit der Hand über die Augen. „... sie hat mich getröstet, hat mir Salbe auf die Striemen getan<br />

... Wenn sie nicht ... Ich hätte nicht ... Ohne sie hätte ich nicht überlebt ...“<br />

Kelly hörte seinem hilflosen Gestammel ruhig zu. Sie wusste nur zu gut, was Shawn emp-<br />

fand. War es ihr doch ähnlich ergangen. Spontan entschloss sie sich, ihm von ihren eigenen<br />

Erfahrungen zu erzählen, es würde ihm helfen, zu verstehen, warum er sich so schnell zu die-<br />

ser Carrie hingezogen gefühlt hatte.<br />

Sie rollte sich auf die Seite, sodass sie Shawn in das müde Gesicht schauen konnte. Ruhig<br />

erzählte sie:<br />

„Bei den Typen, die mich entführt hatten, war auch einer der Anführer. Er war unbestreit-<br />

bar gut aussehend. Groß, sportlich, blond, blaue Augen, absolut dominant ... Er hielt sich für<br />

unwiderstehlich, war der Star des Football Teams und alles, was nach Anerkennung lechzte,<br />

tanzte nach seiner Pfeife. Ich hatte ihn abblitzen lassen, wieder und wieder. Das hat ihn letzt-<br />

lich zu der Entführung veranlasst. Bereits am zweiten Tag kam er, nachdem sie mich alle<br />

schon mehrfach vergewaltigt hatten, mich mit brennenden Zigaretten gefoltert hatten, mit<br />

Tasern, da kam er zu mir. Er hatte Brandwundensalbe bei sich und ein altes Bettlaken. Er be-<br />

handelte meine Verletzungen, legte mir das Bettlaken über den Körper, redete mit mir. Ich<br />

wollte so sehr, dass jemand nett zu mir war, dass ich von mir schob, dass er den Ton angab.<br />

Dass er sagte, wo es lang ging, die anderen nur taten, was er wollte. Er fesselte mich ans Bett<br />

und vergewaltigte mich. Ich wollte nur für ein paar wenige Minuten Positives spüren! Ich<br />

32


hatte einen Orgasmus, obwohl ich mich dafür hasste. Aber für wenige, wundervolle Augen-<br />

blicke hatte ich ein gutes Gefühl, keine Angst, keine Schmerzen. Er brachte mich so weit,<br />

dass ich zum Orgasmus kam, wenn sie mich zu zweit vergewaltigten. Schließlich, kurz bevor<br />

ich gerettet wurde, kam er zu mir und erklärte mir grinsend, dass ich langweilig geworden war<br />

und er mich am Abend wegschaffen und umbringen würde. Das war der schlimmste Moment<br />

in der ganzen Zeit.“<br />

Shawn hatte betroffen zugehört und sah die Parallelen zu dem, was Carrie mit ihm ge-<br />

macht hatte. Unbewusst nickte er langsam. Der junge Mann war am Ende. Dreiviertel der<br />

Nacht war herum und er hatte noch keine Minute geschlafen. Unendlich erschöpft flüsterte er:<br />

„Das Gleiche hat sie mit mir gemacht ... Ich kann nicht mehr ... Ich bin so alle.“<br />

Verständnisvoll erklärte Kelly: „Ja, die Nacht ist bald vorbei, lass uns versuchen, noch<br />

Schlaf zu bekommen.“ Sie hatte dies kaum ausgesprochen, da merkte sie an regelmäßigen<br />

Atemzügen, dass ihr Patient eingeschlafen war. Sie selbst war ebenfalls müde, aber sie wuss-<br />

te, dass diese vergangenen Stunden eine Menge Boden gut gemacht hatten. An den kommen-<br />

den Tagen würde sie weitere Vertrauensübungen machen und mit dem Aufbau von Shawns<br />

Selbstvertrauen beginnen. Erst danach würde die Aufarbeitung der Entführung anfangen.<br />

3) Aller Anfang ist schwer<br />

Courage is not the absence of fear, but the strength to do what is right in the face<br />

of it.<br />

Kelly wachte auf, als die Sonne aufgegangen war. Sie merkte, dass Shawn in ihrem rech-<br />

ten Arm lag und tief und fest schlief. Kurz war sie versucht, ihn noch schlafen zu lassen, ent-<br />

schied sich aber dagegen. Die Nacht hatte ihr mehr als deutlich gemacht, dass dem jungen<br />

Mann die Zeit unter den Nägeln brannte. Je eher sie mit der Aufarbeitung beginnen konnten,<br />

desto besser war es für seine Psyche. So strich sie ihm zärtlich mit der Linken über die Wange<br />

und sagte liebevoll:<br />

„Shawn, aufwachen. Es ist spät.“<br />

Erschrocken zuckte er zusammen und schlug die Augen auf. „Was ist ...?“<br />

„Es ist recht spät und wir haben viel vor, darum solltest du aufstehen.“<br />

Shawn gähnte müde, nickte aber. „Hast Recht.“ Schwerfällig erhob er sich und schlurfte in<br />

sein Zimmer hinüber, in sein Bad. Kelly sah ihm nach und schüttelte mitleidig den Kopf. Mü-<br />

de stand sie ebenfalls auf und eilte in die Küche. Während Shawn duschte, kochte sie Kaffee<br />

und deckte den Frühstückstisch. Als sie hörte, dass die Dusche abgedreht worden war, spülte<br />

sie sich selbst in aller Eile ab und kleidete sich an. Als sie auf die Terrasse zurückkam, saß<br />

33


Shawn bereits bei einem Becher Kaffee. Er sah müde und zerschlagen aus. Dunkle Ränder<br />

unter den Augen deuteten auf die Schlaflosigkeit hin.<br />

Kelly setzte sich zu ihm und fragte: „Shawn, gibt es irgendwas, was dir schon vor der Ent-<br />

führung Angst gemacht hat?“<br />

Verlegen verzog der junge Mann das Gesicht. Er wurde rot, starrte in seine Kaffeetasse,<br />

druckste eine Weile herum und gestand: „Naja, ich habe ... ich ... oh man, ich habe eine aus-<br />

gewachsene Arachnophobie. Und ich habe dunkle, enge Räumen nicht so gerne. Aber sonst ...<br />

Nein, weiter wüsste ich nichts.“<br />

„Das ist gut, damit können wir arbeiten.“<br />

Kellys Worte jagten Shawn Schauer über den Rücken. Kelly sah dies wohl und lächelte<br />

beruhigend.<br />

„Wir fangen mit einfachen Übungen an. Und zwar gleich. Ich möchte, dass du laut und<br />

deutlich sagst: Shawn, ich mag dich.“<br />

Prompt wurde der junge Mann feuerrot. Unwillkürlich entwischte ihm ein betroffenes:<br />

„Ach, du Scheiße!“<br />

Kelly lachte. „Nein, nicht: Ach, du Scheiße, sondern: Shawn, ich mag dich!“ Das erste<br />

Mal, seit sie ihn kennen gelernt hatte, konnte Shawn lachen, ein zwar nur kurzes, nichtsdes-<br />

toweniger fast vergnügtes Lachen. Sekundenschnell war dies jedoch wieder vorbei. Ange-<br />

spannt hockte er Kelly gegenüber. Nach einem tiefen Atemzug kam ein leises, verlegenes:<br />

„Shawn, ich mag dich ...“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, Shawn, so nicht.“ Sie rückte mit ihrem Stuhl vor ihn hin<br />

und griff seine Hände. Laut und deutliche sagte sie: „Shawn, ich mag dich!“<br />

Dem jungen Mann traten unwillkürlich Tränen in die Augen. Kurz schloss er diese, holte<br />

erneut tief Luft und schaffte es endlich, ebenfalls laut zu sagen: „Shawn, ich mag dich!“<br />

Kelly lächelte zufrieden. „Das machst du wieder und wieder. Ich werde darauf achten,<br />

okay? Mindestens hundert Mal am Tag. Shawn, ich mag dich!“<br />

Shawn biss sich auf die Lippe, doch er wiederholte den kleinen Satz noch einmal. Das tat<br />

er drei Tage lang. In den unmöglichsten Situationen. Bis Kelly das Gefühl hatte, er meinte<br />

langsam, was er da sagte. Nebenbei machten sie mit den Berührungsübungen weiter, sowohl<br />

im ungefesselten als im gefesselten Zustand. Sie berührte den Schauspieler so häufig, dass er<br />

schließlich mit einem zaghaften Lächeln meinte:<br />

„Deine Haut an den Fingern wird ganz dünn werden, wenn du so weiter machst.“ Neben-<br />

her machte sie noch eine weitere Übung mit ihm, die sein Vertrauen in sie stärken würde. Sie<br />

erklärte ihm:<br />

34


„Ich möchte gerne eine weitere Übung mit dir machen.“ Sie zog ein Tuch aus der Jeansta-<br />

sche und sagte: „Ich möchte dir dieses Tuch über die Augen binden und dich auf Spaziergän-<br />

ge mitnehmen. Du wirst dich meiner Führung blind anvertrauen müssen. Ist das okay?“<br />

Shawns Herz raste, als er das Tuch sah. Zu oft hatte Carrie ihm die Augen verbunden,<br />

auch, als sie ihn zum Sterben zurückgelassen hatte. Er atmete einige Male tief ein und nickte.<br />

„Wir können es versuchen.“<br />

Er ließ sich von Kelly die Augen verbinden. Bebend stand er vor ihr und spürte, wie sie<br />

nach seinen Händen griff. Sanft zog sie ihn mit sich, erst einfache Wege am Strand entlang,<br />

später in den Wald, durch Buschwerk und über unsichere Pfade. Er wurde sicher von ihr ge-<br />

führt! Er kam nicht ein einziges Mal ins Straucheln, stieß sich nicht einmal die Füße oder den<br />

Kopf an Ästen, Steinen, irgendwas. Zu Anfang war er noch unsicher. Er hielt die Augenbinde<br />

nicht lange aus und ging zaghaft und vorsichtig. Am Ende des dritten Tages folgte er der The-<br />

rapeutin ohne noch zu zögern überall hin, ließ sich mit verbundenen Augen von der jungen<br />

Frau überall berühren und konnte die Binde tragen, solange es nötig war. Er vertraute Kelly<br />

blind.<br />

Am Morgen des nächsten Tages beim Frühstücken erweiterte Kelly seine Aufgabe.<br />

„Ich möchte, dass du dir heute Gedanken darüber machst, was du an dir magst und was<br />

nicht. Ich habe hier ein Klemmbrett, Zettel und Stift für dich. Lege eine Tabelle an, auf der<br />

einen Seite, links, Dinge, die du an dir magst, auf der anderen Seite die Dinge, die du nicht<br />

magst. Alles, vorbehaltlos, okay?“<br />

Shawn nahm das Klemmbrett entgegen und nickte. „Okay.“<br />

„Ich werde dich allein lassen. Setze dich in die Sonne, an den See, wo immer du dich<br />

wohlfühlst, und arbeite in aller Ruhe an der Liste. Lass nichts aus. Schaffst du das?“<br />

Shawn nickte. „Ja, ich denke schon.“<br />

„Gut. Und vergiss nicht deinen Lieblingssatz.“<br />

Ein zaghaftes Schmunzeln huschte kurz über Shawns Gesicht und er sagte: „Shawn, ich<br />

mag dich!“<br />

Kelly lächelte. „Ich mag dich auch.“<br />

*****<br />

Shawn erhob sich und wanderte langsam ans Seeufer hinunter. Kelly beobachtete ihn von<br />

der Terrasse. Ihr war klar, dass er noch nicht ansatzweise über den Berg war. Jederzeit konnte<br />

in seinen traumatisierten Gedanken etwas passieren, dass gefährlich für ihn werden konnte.<br />

Wie fast jedes Opfer derartiger Gewaltexzesse war Shawn in die Kategorie suizidgefährdet<br />

einzuordnen. Daher achtete Kelly aus der Distanz darauf, was er machte. Doch Shawn hatte<br />

sich ruhig ans Ufer gesetzt, an einen kleinen Strandstreifen, und arbeitete konzentriert an sei-<br />

35


ner Tabelle. Kelly ließ ihn zufrieden. Am frühen Nachmittag erst erhob der junge Mann sich<br />

steif und streckte sich. Langsam kam er zum Haus zurück, wo Kelly ein verfrühtes Abendbrot<br />

bereitet hatte. Geistig erschöpft erklärte der Schauspieler:<br />

„So, ich glaube, ich habe es.“<br />

Zufrieden meinte die junge Frau: „Gut. Wir essen und anschließend gehen wir die Liste<br />

gemeinsam durch.“<br />

Nach dem Essen ließ Kelly sich die Liste von Shawn vorlesen.<br />

„Erst einmal die Dinge, die du magst, bitte.“<br />

„Ich mag mein Aussehen. Ich mag mein schauspielerisches Talent. Ich mag meine Sport-<br />

lichkeit. Ich mag meine Lernfähigkeit.“<br />

Kelly unterbrach ihn. „Erkläre mir bitte, was du an deinem Aussehen magst.“<br />

Shawn wurde rot und nickte. „Okay, ich gehöre zu den Menschen, die mit ihrem Erschei-<br />

nungsbild weitgehend zufrieden sind. Ich mag meine Größe, meine Figur, ich mag meine<br />

Grübchen.“ Er grinste kurz. „Ich mag es, braun gebrannt zu sein, stehe nicht auf den in Hol-<br />

lywood gerne propagierten ‘Sonne ist nicht gut‘ Kram. Ich mag meine Muskel ...“ Er ver-<br />

stummte und sah verlegen zu Boden. „Ich mag es gar nicht, dass ich mir gerade unglaublich<br />

dämlich vorkomme.“, erklärte er leise.<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Das brauchst du nicht. Du musst verinnerlichen, dass es vieles<br />

gibt, was du an dir magst. Das ist unerlässlich für die Therapie.“<br />

Shawn nickte zaghaft. „Das war es ...“, sagte er leise.<br />

„Was ist mit deinen Augen? Sie sind wundervoll, Shawn. Sag mir nicht, das hätte dir noch<br />

keine Frau gesagt!“<br />

Verlegen nickte Shawn. „Ja, ich mochte sie, bis ... Jetzt ... Ich sehe in meinen Augen nur<br />

noch Angst, Verzweiflung ... Nicht das, was früher in ihnen war.“<br />

Kelly nickte verstehend. „Das wird aufs Neue in ihnen zu sehen sein, keine Angst. Nimm<br />

sie in deine Liste auf, okay.“<br />

Kurz zögerte Shawn, schrieb es schließlich auf die Positiv-Seite.<br />

Nun wollte Kelly wissen: „Und, was magst du an deinem schauspielerischen Talent?“<br />

Kurz überlegte der junge Mann.<br />

„Ich habe es bereits in der Schule geliebt, an Theateraufführungen teil zu nehmen. Ich<br />

kann mit meiner Darstellung anderen Menschen in meinen Bann ziehen. Ich weiß, dass meine<br />

Mimik großartig ist, dass ich unglaublich vieles damit zum Ausdruck bringen kann. Ich mag<br />

die Schauspielerei, obwohl ich mich selbst nie verstellt habe, ich bin, wie ich bin.“<br />

Kelly konnte ihm im Stillen nur zustimmen. Selten hatte sie einen Menschen kennenge-<br />

lernt, dessen emotionale Gefühlslage so deutlich in das Gesicht und die Augen geschrieben<br />

stand wie bei Shawn. Sie konnte in ihm lesen wie in einem offenen Buch. Laut sagte sie:<br />

36


„Das ist gut. Und deine Sportlichkeit?“<br />

„Es ist toll, aktiv zu sein und sich viel draußen zu bewegen. Ich habe schon als Kind viel<br />

Sport getrieben.“<br />

Kelly hörte interessiert zu und wollte wissen, was es mit der Lernfähigkeit auf sich hatte.<br />

Das konnte Shawn ihr erklären. Noch ein paar Punkte, einige wenige, dann war er mit seinen<br />

positiven Dingen durch. Nun wurde es schwieriger.<br />

„Ich hasse meine Angst vor Spinnen. Ich komme mir jedes Mal extrem bescheuert vor,<br />

wenn ich vor einer Spinne angeekelt das Weite suche! Ich kann sie nicht in meiner Nähe er-<br />

tragen.“<br />

Langsam wurde es dunkel und Kelly fröstelte. In den letzten Minuten war ein kühler Wind<br />

aufgekommen.<br />

„Lass uns hineingehen, mir wird kalt. Wir machen im Wohnzimmer weiter.“<br />

Als sie auf dem Sofa saßen, forderte Kelly Shawn auf, erst einmal seinen Satz von sich zu<br />

geben. Danach sagte sie:<br />

„So, wollen wir mal weiter machen.“<br />

Ergeben las Shawn den nächsten Punkt vor. „Ich hasse meine Schwäche.“<br />

Kelly war klar, von welcher Schwäche er sprach, doch darauf wollte sie zu diesem Zeit-<br />

punkt der Therapie nicht eingehen. So sagte sie nur:<br />

„Darum kümmern wir uns später. Erst einmal der nächste Punkt.“ Der nächste Punkt auf<br />

Shawns Liste war die Angst vor engen Räumen.<br />

„Dazu kommen wir ebenso später. Was noch?“ Ihr entging nicht, dass ihr Patient sich ver-<br />

krampfte. Gespannt wartete sie, was kommen würde.<br />

„Ich hasse ... puh, ich hasse die Male, die zurückgeblieben sind.“<br />

Mitleidig nickte Kelly. Bevor sie etwas dazu sagen konnte, stieß Shawn die nächsten<br />

Punkte hervor.<br />

„Ich hasse meinen Hintern, meinen Penis, und am meisten hasse ich die Brandnarben ...“<br />

Urplötzlich schossen ihm Tränen in die Augen und er schluchzte: „Jede Frau wird das sofort<br />

sehen und sich ihren Teil denken ...“<br />

Kelly war über den Ausbruch regelrecht erschrocken. Sie rutschte dicht an Shawn heran<br />

und nahm ihn in ihre Arme. Er wurde steif und versuchte, sich von ihr zu lösen, doch das ließ<br />

sie nicht zu.<br />

„Komm, lass es zu, Shawn, ich habe keine Probleme damit, dass du Narben an Leib und<br />

Seele davongetragen hast.“<br />

Verzweifelt stieß er hervor: „Die werden mich mein Lebtag verfolgen!“<br />

37


Lange saßen die Beiden da, bis Shawn sich allmählich fing. Kelly überlegte, ob sie ma-<br />

chen sollte, was ihr spontan durch den Kopf geschossen war. Kurz zögerte sie, dann aber<br />

nickte sie entschlossen. Als Shawn sich beruhigt hatte, sagte sie leise und liebevoll:<br />

„Bist du bereit, ein kleines Wagnis einzugehen? Es wird dir einiges abfordern, dir aber auf<br />

lange Sicht helfen.“<br />

Nervös sah er sie an. „Was denn?“, fragte er angespannt.<br />

Kelly erhob sich und zog ihn an den Händen ebenfalls auf die Beine. „Komm mit.“ sagte<br />

sie und er folgte ihr ins Schlafzimmer. „Ich möchte, dass du dich entkleidest. Ich möchte, dass<br />

du mir deine Narben zeigst, okay?“<br />

Erschrocken zuckte Shawn zusammen. „Was?“<br />

„Ich möchte sie sehen. Jetzt. Deine Male und die Brandnarben.“<br />

Hektisch schüttelte Shawn den Kopf. „Nein! Das kann ich nicht!“, stieß er panisch hervor.<br />

Ruhig und sachlich erklärte Kelly:<br />

mir.“<br />

„Denk dir einfach, du bist bei einem Arzt zur Untersuchung. Du kannst das, vertrau mir!“<br />

„Nein! Das ... das kann ich nicht! Du wirst entsetzt sein und ... bitte, verlang das nicht von<br />

Kelly sah ihm in die Augen. Sanft fragte sie:<br />

„Vertraust du mir?“ Shawn erwiderte die Blick und nach einigen Minuten nickte er.<br />

„Ja. Ja, das tue ich.“<br />

„Dann zieh dich aus.“<br />

Mit flatternden Händen begann er, sein Hemd aufzuknöpfen. Es kostete ihn unglaubliche<br />

Überwindung, es abzustreifen. Seinen Oberkörper hatte Kelly allerdings schon gesehen. Er<br />

legte das Hemd entschlossen auf einen Stuhl. Nun versuchte er, die Jeans zu öffnen. Seine<br />

Hände zitterten derart, dass er es nicht schaffte. Kelly trat zu ihm, nahm seine Hände in ihre<br />

und sagte sanft:<br />

„Schließ die Augen.“<br />

Shawn schluckte. Er schloss seine Augen und lauschte nur noch auf Kellys Stimme. Die<br />

junge Frau trat neben ihn und legte ihm eine Hand auf den Rücken, die andere auf den flachen<br />

Bauch in Höhe des Zwerchfells. Ruhig sagte sie:<br />

„Atme durch die Nase ein, tief und gleichmäßig, wie wir es bereits oft gemacht haben.<br />

Beim Einatmen nimmst du positive und stärkende Energien in dich auf. Stell dir zum Beispiel<br />

helles, freundliches Licht, Liebe, Lebenskraft, Freude, Frieden, Freiheit, Leichtigkeit und al-<br />

les, was dir in diesem Moment gut tut vor. Mit dem Ausatmen geben wir etwas ab. Ausatmen<br />

kannst du alles, was du loslassen willst, was dich belastet oder schwächt, wie zum Beispiel<br />

Angst, Ärger, Sorgen Traurigkeit, Stress, Einschränkungen. Stell dir vor, wie sich deine Prob-<br />

leme in Luft auflösen und atme sie aus. Wir machen das zusammen, okay? Tief einatmen.“<br />

Endlich schaffte er es, atmete tief durch die Nase ein und durch den Mund aus.<br />

38


„Ja, das machst du großartig!“<br />

Erstaunt merkte Shawn, wie er ruhiger wurde. Mehrere Minuten lang machten sie zusam-<br />

men die Atemübung, bis Kelly leise sagte:<br />

„So, jetzt schaffst du es, ich bin sicher.“ Sie ließ ihn los und er schaffte es tatsächlich, die<br />

Jeans zu öffnen und herunter zu streifen. Entspannt wartete Kelly, dass er den Mut aufbringen<br />

würde, die Boxershorts auszuziehen. Sie ließ ihm die Zeit, die er brauchte, trieb ihn nicht an.<br />

Endlich atmete er noch einmal tief durch und schob die Shorts herunter.<br />

Kelly nickte langsam. „Hab ich doch gewusst, dass du das schaffst. Komm zu mir. Leg<br />

dich gemütlich auf das Bett.“<br />

Wieder zitterte Shawn, kam zum Bett hinüber und setzte sich neben Kelly. Er biss sich auf<br />

die Lippe, rutschte in eine bequeme Haltung und lag bebend vor ihr. Seine Arme hielt er<br />

krampfhaft an seinen Seiten und die Hände waren zu Fäusten geballt. Kelly lächelte sanft und<br />

sagte beruhigend:<br />

„Entspann dich, okay. Ich werde dir nicht wehtun und du brauchst dich nicht zu schämen,<br />

ich habe selbst ein paar Narben nachbehalten. Und ich bin Ärztin, vergiss das nicht.“ Sie griff<br />

nach seiner Rechten und hielt diese fest, bis sie spürte, dass Shawn sich entspannte. „So ist es<br />

gut, tief ein und aus atmen und entspannen.“ Kelly ließ ihren Blick kritisch über seinen Kör-<br />

per gleiten. Sie sah die feinen Narben, die die Peitschwerkzeuge hinterlassen hatten. Sie beug-<br />

te sich über ihn und ließ ihre Finger tastend an diesen Malen entlang gleiten. Ihr Blick wan-<br />

derte tiefer und ihre Augen blieben an den zwei chinesischen Schriftzeichen hängen, die un-<br />

mittelbar oberhalb des Penis in Shawns Haut eingebrannt waren. Es waren feine rote, leicht<br />

erhobene Narben. Ihr Blick glitt tiefer und sie sah auf seinen Oberschenkeln ebenfalls Male<br />

von Auspeitschungen, Schlägen. Gar zu oft hatte sie solche Male an Körpern gesehen. Wut<br />

und Mitleid überschwemmten sie. Als sie ihren Blick aufwärts wandern ließ, sah sie, dass<br />

Shawn stumme Tränen über die Wangen kullerten. „Dreh dich kurz auf den Bauch, bitte.“<br />

Bebend rollte Shawn sich herum und so konnte Kelly erkennen, dass er auf dem Rücken,<br />

den Schenkeln und dem Po auch feine Zeichnungen der Schläge davon getragen hatte. Ihr war<br />

klar, dass diese Male, mit guten Cremes behandelt, irgendwann kaum mehr zu sehen sein<br />

würden. Entschlossen stand sie auf und eilte ins Bad. Sie hatte von einem Aboriginemedizin-<br />

mann vor Jahren eine Salbe bekommen, die vielen Patienten geholfen hatte. Sie wusste nicht,<br />

was in dieser Salbe enthalten war, wollte es gar nicht wissen, aber eines war sicher: Sie half!<br />

Seither hatte sie für Behandlungszwecke ständig von dieser Salbe im Haus.<br />

Mit dem Tiegel kehrte sie zu Shawn zurück, der starr und angespannt noch auf dem Bauch<br />

lag. Sie kniete sich neben ihn und sagte:<br />

„Bitte, Shawn, versuch dich zu entspannen. Du hast keinen Grund, dich derart zu ver-<br />

krampfen.“ Sie strich sanft massierend seine Wirbelsäule auf und ab und langsam wurde der<br />

39


starre Körper unter ihren liebevollen Händen lockerer und die Verkrampfung ließ deutlich<br />

nach. Schließlich lag Shawn entspannt vor ihr. Liebevoll erklärte Kelly:<br />

„Ich werde dir jeden Tag zwei Mal Salbe auf die Narben auftragen. Frage mich aber bitte<br />

nicht, was das für Salbe ist, das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß nur, dass sie hilft.“<br />

Shawn zuckte zusammen, als er ihre sanften Finger an seinen Pobacken spürte. Was sie da<br />

auf die Male der Prügel strich ließ die Haut leicht brennen. Kurz schlugen Wogen der Panik<br />

über ihm zusammen. Er spürte andere Hände an seinem Po, Hände, die seine Pobacken brutal<br />

auseinander drücken, Hände, die ihm schreckliche Schmerzen zufügten. Gleich darauf wusste<br />

sein Verstand, dass ihm diesmal keine Schmerzen drohen würden. Es waren Kellys Hände,<br />

die sich ohne Zögern und ohne falschen Scham seinem misshandelten Körper widmeten, Lin-<br />

derung und Hilfe brachten. Sein wie wild klopfendes Herz beruhigte sich und er seufzte er-<br />

leichtert auf. Kelly hatte sein Zusammenzucken wohl bemerkt. Sie spürte aber auch, dass er es<br />

schaffte, die Angstattacke zu überwinden. Ihre zarten Finger waren bei den Striemen auf sei-<br />

nen Schenkeln und sie verteilte die Salbe, massierte sie gründlich ein. Endlich sagte sie:<br />

„So, wenn du magst, kannst du dich herumdrehen.“<br />

Shawn rollte sich auf den Rücken und schämte sich nun mehr. Sein enthaarter Intimbe-<br />

reich, der beschnittene Penis und die beiden Schriftzeichen, die Carrie ihm in die Haut ge-<br />

brannt hatte, schienen ihm wie ein Weihnachtsbaum vor Kelly zu blinken.<br />

Diese kümmerte sich nicht im Geringsten um seinen Penis, sondern bearbeitete die Strie-<br />

men auf seiner Brust und seinem flachen Bauch mit der Salbe. Schließlich hatte sie nur noch<br />

die Oberschenkel nach. Sie massierte auch hier die Creme sorgfältig ein. Als sie fertig war<br />

eilte sie ins Bad, um sich die Hände gründlich zu waschen. Im Schlafzimmer hatte Shawn sich<br />

erhoben und wollte sich anziehen.<br />

hen.“<br />

„Warte!“, sagte Kelly schnell. „Ich möchte mir gerne die Brandingnarben genauer anse-<br />

Verlegen senkte Shawn den Blick.<br />

„Shawn, ich bin Ärztin, okay, und nicht sensationsgierig.“<br />

Zögernd ließ Shawn sich wieder auf das Bett sinken. Kelly beugte sich zu ihm herunter<br />

und sah sich die zwar kleinen, nichts desto weniger deutlich sichtbaren Narben an. Zart strich<br />

sie mit dem Zeigefinger darüber. Sie nickte zufrieden.<br />

„Wenn du möchtest, können wir die entfernen.“<br />

Shawn zuckte hoch. „Was?“<br />

Kelly lächelte sanft. „Ich könnte sie dir entfernen, wenn du das möchtest.“<br />

„Im Ernst? Das könntest du?“, fragte er atemlos vor Aufregung.<br />

Die junge Frau lachte. „Ja, Shawn, das könnte ich!“<br />

„Jetzt? Sofort?“<br />

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Sie schmunzelte. „Okay, um ehrlich zu sein, nicht direkt ich, aber ich habe einen Hautspe-<br />

zialisten an der Hand, der macht sie dir fort, ohne dass etwas zurückbleibt. Ich könnte einen<br />

Termin vereinbaren.“<br />

Kurz zögerte der junge Schauspieler, dann nickte er entschlossen. „Mach das, bitte!“<br />

Kelly nickte. „Gerne. Zieh dich an, ich rufe meinen Bekannten sofort an.“<br />

Sie verließ das Schlafzimmer und eilte in ihr Büro. Dort griff sie nach dem Telefon und<br />

wählte eine Nummer im Alexandra District Hospital. Nach dem fünften Klingeln meldete sich<br />

eine Männerstimme.<br />

„Doktor Hollister, was kann ich für Sie tun?“<br />

„Hallo Steve. Du kannst helfen!“<br />

„Kelly, Love, schön, dich zu hören. Bist du in Eildon?“<br />

„Ja, bin ich, seit fast drei Wochen, ein schwerer Fall. Steve, könntest du zwei Branding-<br />

narben entfernen?“<br />

Dr. Hollister erwiderte sofort: „Jederzeit. Wann?“<br />

Kelly atmete auf. „Am besten gestern.“<br />

Lachen am anderen Ende der Leitung. „Okay, gleich morgen früh um 8 Uhr, ist das in<br />

Ordnung?“<br />

Kelly nickte. „Das wäre wunderbar. Ich danke dir. Bis Morgen!“ Sie legte auf und eilte zu<br />

Shawn zurück, der auf der Terrasse saß.<br />

„Morgen früh um 8 Uhr, schneller ging es nicht.“ lachte sie.<br />

Shawn atmete erleichtert auf. „Und das geht weg?“, fragte er besorgt.<br />

„Ja, davon wird hinterher so gut wie nichts mehr zu sehen sein, bestenfalls ein kleiner ro-<br />

ter Fleck, den keiner mehr mit dem, was es war, in Verbindung bringen wird.“<br />

Zaghaft fragte der junge Mann: „Wird das wehtun?“<br />

Beruhigend erklärte Kelly: „Du brauchst keine Angst zu haben, das wird umspritzt und<br />

abgesehen von den Pieksern wirst du nicht das Geringste spüren.“<br />

Shawn nickte verstehend. Hoffnungslos verlegen fragte er leise: „Bleibst du bei mir?“<br />

Erstaunt sah Kelly ihn an. „Wenn du das möchtest.“, meinte sie ein wenig verlegen.<br />

„Wäre schön, bitte.“<br />

*****<br />

Nach dem harten Tag und der vergangenen Nacht waren beide früh müde und legten sich<br />

gegen 21 Uhr ins Bett. Shawn schlief unruhig, allerdings bewirkte Kellys Hand auf seiner<br />

Brust, dass er sich beruhigte und entspannter weiter schlief. Der Wecker klingelte um halb<br />

sieben am kommenden Morgen. Nervös ging Shawn zuerst unter die Dusche. Als er später auf<br />

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die Terrasse kam, hatte Kelly ein schönes Frühstück vorbereitet. Nachdem sie ebenfalls ge-<br />

duscht hatte, ließen sie es sich schmecken. Schließlich sah Kelly auf die Uhr.<br />

„Wir müssten los, es ist ein kleines Stück zu fahren. Alles klar bei dir?“<br />

Angespannt nickte Shawn. „Ja, ich bin nur tierisch nervös. In der letzten Zeit habe ich<br />

nicht so gute Erfahrungen mit ... mit ‘Anwendungen‘ an meinem Körper gemacht.“, meinte er<br />

freudlos.<br />

Voll Mitleid sah Kelly den jungen Mann an. „Ich verspreche dir, abgesehen von den Sprit-<br />

zen wirst du nicht das Geringste spüren. Und ich werde bei dir sein, deine Hand halten und<br />

auf dich aufpassen.“<br />

Shawn wurde rot. „Danke.“, flüsterte er fast unhörbar.<br />

„Das mache ich mehr als gerne. Komm endlich, sonst wird es zu spät!“ Sie zog ihn kur-<br />

zerhand mit zu ihrem Geländewagen und endlich waren sie unterwegs. Auf der Fahrt nach<br />

Alexandra, einer Ortschaft zirka 25 Kilometer westlich von Eildon, schwieg Shawn und hing<br />

seinen Gedanken nach. Kelly ließ ihn in Ruhe. Sie konnte sich vorstellen, was in ihm vor ging<br />

und fand es mutig, dass er den kleinen Eingriff machen lassen wollte, obwohl die Entführung,<br />

die Demütigung, sich dort ständig nackt aufgehalten zu haben und die furchtbaren Schmerzen,<br />

die er hatte erdulden müssen, erst so kurz her waren.<br />

Als sie das Krankenhaus in Alexandra erreichten, prustete Shawn angespannt. Er stieg aus<br />

und folgte Kelly schweigend zum Eingang. Minuten später saßen sie bei Dr. Hollister im Bü-<br />

ro. Der Arzt hatte sich vorgestellt und kurz erklärt, wie die Lasertechnik funktionierte, mit der<br />

er die Narben behandeln würde. Shawn hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Er war nervös und<br />

hatte Angst. Das Einzige was er wollte war, dass es vorbei sein würde! Als der Arzt sagte:<br />

„Na, Mr. McLean, lassen Sie uns den kleinen Eingriff mal in Angriff nehmen.“, zuckte der<br />

Schauspieler zusammen und nickte verkrampft. Dr. Hollister war es von Kellys Patienten ge-<br />

wöhnt, dass sie in zum Teil extrem schlechter Verfassung waren. So war er von Shawns Ver-<br />

halten weder überrascht noch verwirrt. Er nickte Kelly unauffällig zu und diese folgte Shawn<br />

ins Behandlungszimmer.<br />

„Alles klar?“, fragte sie besorgt.<br />

„Nein, eigentlich nicht. Aber ich will es hinter mich bringen, okay?“ Schwer atmend stieg<br />

Shawn aus Jeans und Boxershorts. Mit zitternden Knien ging er zur Behandlungsliege hin-<br />

über. Mühsam um Beherrschung ringend ließ er sich auf dieser nieder und die Erinnerung an<br />

einen anderen Eingriff auf einer solchen Liege überschwemmte ihn. Fast wäre er aufgesprun-<br />

gen und hätte schreiend das Weite gesucht. Kelly spürte seine Panik und trat zu ihm. Sanft<br />

und liebevoll sagte sie:<br />

„Hey, alles ist in Ordnung, Shawn. Du brauchst vor nichts Angst zu haben. Keiner wird<br />

dir wehtun und in einer Stunde bist du die Brandmale ein für alle Mal los.“ Sie griff selbst<br />

nach einem OP Tuch und breitete dies so über Shawns bloßen Unterleib, dass die Stelle ober-<br />

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halb seines Penis frei blieb. Shawn zitterte am ganzen Leib. Zu frisch waren die Erinnerungen<br />

noch, als dass er hier ruhig hätte liegen können. Kelly schob ihm fürsorglich ein kleines Kis-<br />

sen unter den Kopf und deckte seinen Oberkörper mit einer Decke zu. „So frierst du nicht.“,<br />

sagte sie beruhigend. Sie zog sich einen Stuhl heran, ließ sich darauf sinken und setzte sich so,<br />

dass sie Shawn anschauen konnte.<br />

Sie griff nach seiner Rechten und sagte ruhig: „Was hältst du davon, wenn wir uns ein<br />

paar Sachen schnappen und einen Trip ins Outback machen?“<br />

Überrascht von der Frage war Shawn schlagartig von seiner Panik abgelenkt. Das hatte<br />

Kelly erreichen wollen.<br />

„Meinst du denn, das geht?“ fragte er verwirrt.<br />

„Sicher geht das, wo wir die Therapie machen ist egal. Wichtig ist, dass wir sie machen.“<br />

Shawn nickte überlegend. „Stimmt eigentlich. Ein Freund hat mir erzählt, wie großartig es<br />

im Outback sein soll. Ich glaube, ich würde es mir gerne einmal ansehen.“ Shawn hätte fast<br />

verpasst, dass der Arzt hereinkam. Dieser zog sich einen Rollstuhl heran und untersuchte die<br />

Narben des Branding kurz. Sachlich sagte er:<br />

sein.“<br />

„Ich werde Ihnen jetzt eine Lokalanästhesie geben. Das wird pieksen, aber schnell vorbei<br />

Shawn war mit einem Schlag zurück bei dem, was auf ihn zukommen würde. Panisch<br />

nickte er. Kelly spürte, wie er sich regelrecht an ihre Hand klammerte. Liebevoll strich sie<br />

ihm eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte aufmunternd.<br />

„Mach dir keine Sorgen, Holli ist gut. Er wird dir nicht wehtun, sonst würde ich ihm in<br />

den Finger beißen.“<br />

Ein winziges Lächeln huschte sekundenlang über Shawns angespanntes, blasses Gesicht.<br />

Dr. Hollister nahm eine Einwegspritze aus einer sterilen Verpackung und zog aus einem Glas-<br />

fläschchen eine klare Flüssigkeit in die Spritze. Er griff nach einem Wattebausch, tränkte die-<br />

sen mit Desinfektionsmittel und beugte sich über Shawns Unterleib.<br />

„Jetzt wird es ein klein wenig pieksen.“, sagte er ruhig und setzte die Spritze an, nachdem<br />

er eine Stelle desinfiziert hatte. Shawn zitterte am ganzen Körper. Kelly konnte spüren, wie er<br />

bei den Einstichen leicht zusammenzuckte. Sie ließ klaglos zu, dass er ihre Hand schmerzhaft<br />

drückte. Sanft strich sie ihm über die schweißnasse Stirn.<br />

„Das war es. Den Rest merkst du nicht.“, sagte sie leise.<br />

Shawn nickte stumm.<br />

Die Behandlung mit dem Laser dauerte alles in allem fast eine Stunde. Hollister arbeitete<br />

konzentriert und Kelly unterhielt sich mit Shawn, der die ganze Zeit an ihrer Hand hing, über<br />

den Trip ins Outback. Schließlich sagte der Arzt:<br />

„So, das hätten wir geschafft. Wollen Sie es sich anschauen?“<br />

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Shawn nickte zaghaft. Er richtete sich vorsichtig auf und sah sich die Stelle an, an der vor<br />

einer Stunde noch die Narben zu sehen gewesen waren. Jetzt war dort nichts mehr zu erken-<br />

nen und er konnte nicht verhindern, dass ihm vor Erleichterung Tränen in die Augen schos-<br />

sen. Hollister erhob sich und verließ ruhig den Behandlungsraum. Kelly drückte Shawn mit<br />

sanfter Gewalt in die Waagerechte zurück und wartete, bis er sich gefangen hatte. Munter<br />

sagte sie:<br />

„So, wir fahren im Ort ein schönes, großes Eis Essen, was meinst du?“<br />

Shawn nickte. „Das wäre ... schön.“, sagte er erschöpft.<br />

„Zieh dich an. Ich mach das Geschäftliche mit Steve klar.“ Kelly verließ ebenfalls den<br />

Behandlungsraum. Shawn erhob sich und sah noch einmal an sich herunter. Er war so erleich-<br />

tert, dass die elenden Buchstaben fort waren, dass ihm erneut Tränen in die Augen schossen.<br />

Ärgerlich wischte er sie fort. Er zog sich an und verließ den Raum als letzter.<br />

Zehn Minuten später saßen sie im Wagen und Kelly steuerte in die kleine Stadt hinein. Sie<br />

fanden eine Eisdiele und löffelten bald zufrieden jeder einen Eisbecher mit viel frischem<br />

Obst. Shawn hatte seit dem Verlassen des Krankenhauses, abgesehen von der Eisbestellung,<br />

noch kein Wort gesagt. Es war ja nicht so, dass er viel geredet hatte, seit er bei Kelly war.<br />

Und doch fiel es auf, dass er jetzt komplett schwieg. Als sie mit dem Eis fertig waren, fragte<br />

Kelly:<br />

„Was ist los, Shawn? Was geht dir durch den Kopf?“<br />

Der junge Mann zuckte ertappt zusammen. „Nichts.“<br />

„Aha. Darum bist du so unglaublich redselig? Weil dir nichts durch den Kopf geht?“, er-<br />

widerte Kelly mit sanfter Ironie in der Stimme. Sie winkte den Kellner heran und bezahlte.<br />

„Na, komm, du Nicht-Denker, lass uns noch Einkaufen, wenn wir schon in der großen Stadt<br />

sind. Brauchst du noch etwas zum Anziehen? Kurze Hosen und feste Schuhe wären sinnvoll,<br />

wenn wir ins Outback wollen. Mit Vorräten decken wir uns ein, wenn wir in Alice sind.“<br />

Shawn nickte nur und folgte Kelly zum Wagen zurück. Die Psychologin steuerte ein klei-<br />

nes Shoppingcenter am Goulburn Valley Highway an. Sie suchten einen Parkplatz und betra-<br />

ten zusammen das Einkaufszentrum. Kelly führte Shawn zu einem Outdoor Shop und eine<br />

Stunde später hatten sie neben festen Stiefeln, drei kurzen Hosen und zwei Jeans, zwei weite-<br />

re Hemden für ihn gekauft, sowie einen australischen Acubra 3 Hut. Der Schauspieler hatte so<br />

eine gut gestaffelte Garderobe zur Verfügung. Nun suchten sie einen Shop für Fotozubehör.<br />

Shawn fragte nach der digitalen Spiegelreflexkamera EOS 550D von Canon und hatte Glück.<br />

Kurze Zeit später hatte er neben der Kamera auch ein leistungsstarkes Tele- sowie ein gutes<br />

Makroobjektiv und dreißig große Speicherkarten gekauft. Zufrieden machten sie sich auf den<br />

Rückweg nach Eildon.<br />

3 Acubra Hüte werden aus Kaninchenhaarfilz hergestellt. Sie werden heute noch in sehr aufwendiger Handarbeit gefertigt und gehören<br />

sicherlich mit zu den besten Hüten der Welt. Die Name Acubra entstand aus dem Begriff der australischen Ureinwohner für Kopfbedeckung.<br />

Der Acubra-Hut ist extrem langlebig und schützt sie bei jedem Wetter, sowohl vor der Sonneneinstrahlung, als gegen Regen.<br />

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Gegen 16 Uhr erreichten sie Kellys Haus und während Shawn die Einkäufe in sein Zim-<br />

mer schaffte, rief Kelly am Melbourne International an und buchte zwei Flüge nach Alice<br />

Springs für den nächsten Tag. Sie würden 11.45 Uhr mit Australian Airways fliegen und Ali-<br />

ce gegen 15 Uhr erreichen. Kelly buchte noch einen großen Geländewagen, dann hatte sie<br />

alles erledigt. Sie suchte in ihrem Medikamentenschrank einige Medikamente zusammen, die<br />

sie sicherheitshalber mitnehmen wollte, unter anderem Diazepam 4 , sie wollte kein Risiko ein-<br />

gehen. Hinterher ging sie in die Garage und nahm die beiden großen Wanderrucksäcke, die<br />

sie hier verwahrte, aus einem Schrank. Im Haus warf sie einen auf ihr Bett, den Zweiten trug<br />

sie ins Gästezimmer hinüber. Shawn saß auf dem kleinen Balkon, der zum Gästezimmer ge-<br />

hörte und sah geistesabwesend zum See hinunter. Er war mit den Gedanken scheinbar so weit<br />

weg, dass er heftig zusammenzuckte, als Kelly zu ihm trat.<br />

„Hey, kannst du mir mal verraten, was mit dir los ist? Ich bin es ja durchaus gewöhnt, dass<br />

du nicht viel sagst, aber dein Schweigen heute macht mich etwas nervös.“ Sie setzte sich auf<br />

den zweiten Stuhl und griff nach Shawns rechter Hand. Liebevoll schaute sie ihm in die Au-<br />

gen und fragte noch einmal sanft: „Was ist los? Magst du es mir nicht sagen?“<br />

Shawn atmete tief durch. Bedrückt sagte er: „Ich schäme mich für meine Panik ...“<br />

Liebevoll strich Kelly mit dem Daumen über seinen Handrücken. „Shawn, ich kenne kei-<br />

nen Patienten, der nach so kurzer Zeit bereit gewesen wäre, diesen Eingriff vornehmen zu<br />

lassen. Die meisten brauchen Monate, um wieder jemanden an ihre Körper zu lassen.“<br />

Shawn sah Kelly erstaunt an. Er schüttelte resigniert den Kopf. „Das sagst du jetzt um<br />

mich aufzubauen.“<br />

Kelly warf Shawn einen scharfen Blick zu. Energisch erklärte sie: „Hör mir mal gut zu,<br />

Shawn. Wenn ich dir etwas sage, entspricht das der Wahrheit! Platz für Lügen oder Schönre-<br />

derei ist in unserer noch wackeligen Beziehung nicht, hast du das verstanden? Mal abgesehen<br />

davon, dass das ohnehin nicht meine Art ist.“<br />

Unglücklich fragte Shawn: „Ist dein Ernst, was?“<br />

„Selbstverständlich ist es das. Was du gestern und heute geschafft hast, schaffen die al-<br />

lermeisten erst nach Monaten! Das musst du dir vor Augen halten. Ich will, dass du sofort laut<br />

und deutlich deinen Satz sagst!“<br />

dich!“<br />

Shawns Augen schimmerten feucht, aber er sagte laut und deutlich: „Shawn, ich mag<br />

Zufrieden nickte Kelly. Und wagte einen Vorstoß. „Was hat dich an der Liege dort im<br />

Krankenhaus so schrecklich geängstigt?“<br />

Shawn hielt die Luft an vor Schreck. Kelly lächelte liebevoll.<br />

4 Diazepam ist ein Medikament aus der Gruppe der Benzodiazepine. Es wird als Psychopharmakon zur Behandlung von Angstzuständen, in<br />

der Therapie epileptischer Anfälle und als Schlafmittel angewendet.<br />

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„Komm, wir machen es auf die altmodische Art, du legst dich hin und erzählst mir, was<br />

dich so in Panik versetzt hat, ja?“ Die junge Frau stand auf und zog Shawn sanft mit ins Zim-<br />

mer zurück. Dort setzte sie sich auf das Bett und zwar so, dass Shawn sich hinlegen und sei-<br />

nen Kopf auf ihre Oberschenkel legen konnte. Kelly nahm das Diktiergerät aus der Schublade<br />

und schaltete es ein. Shawn registrierte das gar nicht. Sie griff nach seiner Hand und sagte<br />

leise: „Meinst du, du schaffst es?“<br />

Shawn nickte. Er fing leise an zu Reden.<br />

*****<br />

Als Carrie aufwachte, hörte sie leises, schmerzerfülltes Keuchen neben sich im Bett. Sie<br />

drehte sich zu ihrem Gefangenen herum und sah, dass dieser sich unruhig in den Fesseln be-<br />

wegte. Ihre Hand verirrte sich auf seine Brust und er zuckte aufkeuchend vor Schreck heftig<br />

zusammen. Ironisch sagte sie:<br />

„Hallo, Liebling, gut geschlafen? Du wirst dich an die Fesseln gewöhnen müssen, das<br />

wird in Zukunft deine Schlafhaltung sein. Wenn du brav bist, werde ich deine Füße nicht mehr<br />

an das Bett fesseln, alles andere bleibt. Nur so kann ich dich jederzeit nach Belieben benut-<br />

zen, weißt du.“<br />

Shawns Herz hämmerte schmerzhaft gegen seine Rippen. Er hatte sich gerade furchtbar<br />

erschreckt. Nur langsam beruhigte er sich. Und dann hörte er etwas, was ihn unmittelbar in<br />

Panik versetzte.<br />

„Ich habe heute Nacht beschlossen, dich beschneiden zu lassen. Teresa ist Chirurgin, sie<br />

kann es nachher gleich erledigen. So wirst du noch attraktiver sein. Du wirst danach zwar<br />

zirka zwei Wochen nur eingeschränkt zu gebrauchen sein, aber das wird unserem Spaß keinen<br />

Abbruch tun.“<br />

Shawn wurde schlecht. Sein Herz raste jetzt vor Angst und sein Mund wurde trocken. In<br />

seinem Magen schien sich eine eisige Faust zu ballen.<br />

„Was?“, stieß er entsetzt hervor. Er spürte, wie Carrie an seiner Vorhaut zog. Lachend<br />

meinte sie<br />

„Na komm, du wirst es überleben. Ein paar kleine Schnitte, zehn Minuten Schmerzen, dass<br />

wirst du wohl schaffen.“<br />

„Wieso Schmerzen? Das ... Da bekomme ich doch eine Betäubung?“, fragte er hysterisch.<br />

Carrie lachte erneut.<br />

„Für solche Kindereien haben wir keine Zeit. Ich werde dich losmachen, so kannst du ein<br />

Bad nehmen, und anschließend bringen wir das hinter uns. Wenn du vernünftig bleibst und<br />

keine Zicken machst, werde ich dich im Arm halten, während Teresa den kleinen Eingriff vor-<br />

nimmt.“<br />

46


Er spürte Carries Hände an der Augenbinde. Sie wurde ihm abgenommen und Shawn<br />

blinzelte ins Licht. Carrie las in seinen Augen die ungeheure Angst die er hatte und war zu-<br />

frieden. Sie drückte auf einen Knopf am Nachtschrank und Sekunden später kam der Riese ins<br />

Zimmer.<br />

„Guten Morgen, Ma’am.“, sagte er ruhig.<br />

„Morgen. Schaff ihn ins Bad und pass auf, dass er keinen Unsinn macht. Anschließend<br />

bringst du ihn in den Behandlungsraum.“<br />

Alan nickte. „Ja, Ma’am.“ Er ging ins Badezimmer und ließ Wasser in die Wanne laufen.<br />

Carrie machte Shawn vom Bett los und ignorierte die nackte Panik, die ihr Gefangener aus-<br />

strömte. Sie verließ das Schlafzimmer ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. Shawn konnte<br />

erstmals seine Hände benutzen. Zitternd fuhr er sich durch die Haare. Ihm war schlecht vor<br />

Angst! Alan sah ihn auffordernd an und Shawn wankte ins Bad hinüber.<br />

„Los, rein in die Wanne. Du hast zehn Minuten, ich warte vor der Tür.“<br />

Am ganzen Körper ließ Shawn sich in das warme Wasser gleiten. Seine Hände zitterten so<br />

stark, dass ihm die Seife mehrmals aus den Händen glitt. Als er sich fertig gereinigt und die<br />

Haare gewaschen hatte, stieg er aus der Wanne und sah sich nach einem Handtuch um. Er<br />

fand eins und rubbelte sich trocken. Wie gelähmt stand er anschießend da und starrte in den<br />

Spiegel. Hinter sich sah er ein Fenster. Langsam drehte er sich herum. Resigniert überlegte<br />

er, dass er keine Chance hatte, zu entkommen. Sie hätten ihn innerhalb kürzester Zeit einge-<br />

fangen und Shawn wollte sich gar nicht vorstellen, was sie dann mit ihm machen würden.<br />

Verzweifelt sank er auf den Rand der Badewanne und schlug die Hände vor das leichenblasse<br />

Gesicht. Er wimmerte leise auf. Er hatte keine Chance. Die Tür ging auf und<br />

Alan fragte: „Fertig? Auf geht‘s.“<br />

Er trat zu Shawn und packte dessen Handgelenke. Mit einem geübten Griff hatte er diese<br />

schnell hinter Shawns Rücken zusammen gefesselt. Dem jungen Mann zitterten so stark die<br />

Beine, dass er Schwierigkeiten beim Laufen hatte. Es ging durch einen großen Flur, an dessen<br />

Ende eine Treppe nach unten führte. Alan musste Shawn regelrecht stützen. Am Ende der<br />

Treppe gab es mehrere Türen. Durch eine dieser Türen wurde der junge Mann geführt und in<br />

den dahinter liegenden Raum gebracht. Er blieb unwillkürlich wie gelähmt stehen als er sah,<br />

dass es sich hier um einen richtigen, kleinen medizinischen Notfallraum handelte. Sein Selbst-<br />

erhaltungstrieb war nun so stark, dass er versuchte zurück zu weichen. Hinter ihm stand wie<br />

eine Mauer Alan und drückte Shawn erbarmungslos vorwärts. Carrie und Teresa waren an-<br />

wesend und Carrie sagte ruhig und unbeeindruckt:<br />

„Schaff ihn auf den Tisch.“<br />

Alan packte fest zu und drückte Shawn zu dem OP Tisch hinüber. So sehr sich der junge<br />

Mann sträubte, gegen die immensen Kräfte des Riesen hatte er keinerlei Chancen. Er wurde<br />

auf den Tisch gelegt und so lange fest gehalten, bis Carrie ihm selbst eine Spritze in den<br />

47


Oberarm verpasst hatte. Sekunden später merkte Shawn, wie er die Kontrolle über seinen<br />

Körper verlor. Nach einer Minute konnte er nicht einmal mehr mit den Fingern zucken!<br />

Carrie beugte sich über ihn, streichelte ihm zärtlich über die Wange und erklärte sanft:<br />

„Das war ein Muskelrelaxan. Du wirst dich gute dreißig Minuten nicht bewegen können. Da-<br />

nach lässt die Wirkung schnell nach.“<br />

Shawn starrte sie an und seine Augen füllten sich mit Tränen. Verzweifelt versuchte er<br />

sich zu bewegen, aber kein einziger Muskel gehorchte ihm mehr. Hilflos musste er zulassen<br />

dass sie seine Fesseln lösten und ihn bequem auf dem Rücken liegend auf dem Tisch platzier-<br />

ten. Carrie deckte seinen Körper von den Knien bis zum Bauchnabel mit einem OP Tuch ab,<br />

fummelte seinen Penis durch ein Loch in dem Tuch und nickte Teresa zufrieden zu. Diese hat-<br />

te sich einen OP Kittel über gezogen, Gummihandschuhe über gestreift und einen Mundschutz<br />

angelegt. Shawn stürzten ununterbrochen Tränen über die Wangen. Er bestand nur noch aus<br />

nackter Panik. Nie zuvor hatte er derartige Angst verspürt! Verzweifelt bettelte er mit schwe-<br />

rer Zunge:<br />

„Bitte, bitte, bitte, gebt mir doch was zur Betäubung! Bitte! Ich mach doch alles, was ihr<br />

wollt! Bitte!“<br />

Carrie trat zu ihm und sagte ruhig: „Das dauert keine viertel Stunde. Fünfzehn Minuten<br />

wirst du wohl mal Schmerzen aushalten. Ich werde dich halten. Du wirst hinterher viel attrak-<br />

tiver aussehen, das verspreche ich dir.“<br />

Shawn schluchzte verzweifelt auf. Carrie setzte sich auf den OP Tisch und ließ sich von<br />

Alan helfen, Shawns Oberkörper anzuheben und diesen fast liebevoll in den Arm zu nehmen.<br />

Sie griff nach Shawns rechter Hand und hielt diese fest. Gelassen sagte sie:<br />

„Kannst anfangen, aber zieh es nicht unnütz in die Länge, hast du verstanden? Es tut so<br />

oder so genug weh. Sollte ich merken, dass du es hinauszögerst, wirst du es bereuen.“<br />

Erschrocken bestätigte die Terry: „Ich werde mich beeilen, das versprech ich dir.“<br />

Shawn spürte in panischem Entsetzen, wie sie nach seinem Penis griff und diesen mit einer<br />

kühlen Flüssigkeit abtupfte. Kurz erklärte sie:<br />

„Ich kann loslegen.“ Sie griff nach einem Skalpell und sagte zu Alan, der gelangweilt da-<br />

nebenstand: „Halte seine Vorhaut stramm.“<br />

Der Riese hatte sich Handschuhe über gestreift, griff zu und Shawn konnte spüren, wie<br />

seine Haut stramm über die Eichel gezogen wurde.<br />

„Straff sie, so ist gut.“<br />

Shawn schrie! „NEIN! BITTE!“<br />

Schon kam der erste Schnitt. Die Vorhaut wurde vom Eichelkranz bis zur Spitze mit einem<br />

Schnitt aufgetrennt. Shawn schrie gepeinigt auf! Hysterisch spürte er, wie Teresa das Skalpell<br />

48


erneut ansetzte. Die scharfe Klinge drang in die zarte Haut ein und durchtrennte sie mit geüb-<br />

ten Fingern. Der junge Mann schrie erneut in Qualen gellend auf.<br />

„Lasst mich in Ruhe!“ brüllte er verzweifelt. Teresa arbeitete unbeeindruckt weiter. Sie<br />

durchtrennte das letzte Stück Haut und Alan ließ es gleichgültig in eine bereitstehende Schüs-<br />

sel fallen. Er tupfte austretendes Blut fort und Teresa griff nach Nadel und Faden. Sie rückte<br />

eine große Lupe über den OP Bereich und begann sorgfältig, die Wundränder zu vernähen.<br />

Carrie hielt Shawn fest in den Armen und wischte ihm mit einem Tuch Schweiß und Tränen<br />

vom Gesicht.<br />

„Du hast es gleich geschafft.“, sagte sie beruhigend. „Danach darfst du ins Bett, kannst<br />

dich erholen.“<br />

Shawn schluchzte aufgelöst vor sich hin. Es tat schrecklich weh. Er hustete krampfhaft.<br />

Wie lange die Tortur des Nähens dauerte, konnte er nicht sagen, es kam ihm wie Stunden vor.<br />

Endlich hörte er, wie Teresa sagte:<br />

„So, das war‘s. Willst du es dir ansehen?“<br />

Carrie nickte. Vorsichtig rutschte sie unter Shawn hervor und ließ dessen Oberkörper<br />

sanft auf den Tisch sinken. Sie trat zu Teresa und beugte sich über den jungen Mann. Er spür-<br />

te, wie sie seinen Penis in die Hand nahm und begutachtete.<br />

„Sieht großartig aus, das hat sich gelohnt. Gute Arbeit! Ich werde ihn selbst verbinden, du<br />

kannst dich in die Sonne legen.“<br />

Ohne zu zögern schlüpfte Teresa aus dem Kittel und verschwand aus dem kleinen OP.<br />

Carrie griff nach einem weichen Schlauchstück und führte dieses vorsichtig in Shawns<br />

Harnröhre ein. Der junge Mann war still, er war fertig. Noch immer liefen ihm Tränen über<br />

die Wangen, aber er gab keinen Laut mehr von sich. Carrie legte Verbandmull um die rund-<br />

um verlaufende dünne Wunde, wickelte Mullbinde um Shawns Penis und verklebte alles mit<br />

einem Streifen Pflaster. Schließlich sagte sie:<br />

„Alan, trage ihn auf sein Zimmer.“<br />

Der Riese nahm Shawn auf die Arme wie ein kleines Kind und Minuten später lag der<br />

Schauspieler in einem schönen, hellen Zimmer in einem gemütlichen Bett. Carrie war Alan<br />

gefolgt und meinte:<br />

„Du kannst gehen, ich bleibe bei ihm.“<br />

Alan drehte sich wortlos herum und verschwand aus dem Raum. Shawn lag, noch bewe-<br />

gungsunfähig, im Bett. Ihm war entsetzlich kalt. Hätte er gekonnt, er hätte gezittert vor Kälte.<br />

Nicht einmal den kleinen Finger bewegen zu können, war ein absolut grässliches Gefühl.<br />

Carrie verließ kurz den Raum. Als sie zurückkam hatte sie einen feuchten Waschlappen in der<br />

Hand. Mit diesem wischte sie ihm sanft das Tränen und Schweiß bedeckte Gesicht ab.<br />

„Du wirst dich in ein paar Minuten bewegen können. Hast du starke Schmerzen?“<br />

49


Shawn wollte den Kopf schütteln, doch das funktionierte nicht. Also sagte er leise: „Es<br />

geht ...“<br />

Carrie nickte ruhig. „Das wird schnell aufhören.“ Sie griff nach der Zudecke und legte<br />

diese sorgsam über Shawns Körper. Nun zog sie sich einen Sessel an das Bett und setzte sich<br />

neben den jungen Mann. Nach einigen Minuten merkte Shawn, wie die Wirkung der Spritze<br />

nachließ. Er spürte, dass er die Kontrolle über seinen Körper nach und nach zurückgewann.<br />

Er konnte den Kopf bewegen und drehte diesen von Carrie weg. Sie sollte nicht sehen, dass<br />

ihm Tränen kamen.<br />

Die junge Frau bekam das natürlich trotzdem mit.<br />

„Wenn es möglich wäre, würde ich das jeden Tag bei dir machen lassen.“ erklärte sie<br />

ruhig. „Ich liebe es, dich vor Schmerzen schreien zu hören, zu sehen, wie dein Körper sich in<br />

Qualen windet.“<br />

Shawn schluckte. Er versuchte vorsichtig, sich anders hinzulegen und stieß prompt mit den<br />

Penis gegen die Bettdecke. Er zuckte heftig zusammen. Das tat gemein weh. Er wagte Carrie<br />

direkt anzusehen.<br />

„Das heißt, dass ...“<br />

Sie unterbrach ihn. „Das heißt, dass du dich oft schreiend in Schmerzen winden wirst,<br />

richtig. Aber ich kann dir eines versprechen: Du wirst auch den Himmel auf Erden erleben.“<br />

Shawn sah die bildhübsche junge Frau an. Fassungslos sagte er leise: „Du bist ... krank.“<br />

Sie lachte. „Nein, ich bin nicht krank, ich kann es mir nur leisten, meine Träume auszule-<br />

ben. Ich bin wohlhabend, nein, reich. Meine Eltern haben mir Millionen hinterlassen. Ich<br />

kann es mir leisten, mir jeden Wunsch zu erfüllen. Davon, einen Sexsklaven zu besitzen, träu-<br />

me ich schon lange. Ich lebe meine Triebe aus und lasse meine Freunde daran teilhaben. Es<br />

tut mir leid, dass es dich getroffen hat.“<br />

„Dann lass mich laufen, bitte! Ich werde niemandem etwas verraten!“, stieß Shawn be-<br />

bend hervor.<br />

Carrie schüttelte grinsend den Kopf. „Das werde ich nicht, tut mir leid. Du bist die Erfül-<br />

lung all meiner dunklen Träume. Ich kann dir nicht einmal versprechen, dass du es überleben<br />

wirst.“ Sie sah, dass Shawn erstarrte.<br />

„Du ... du würdest mich umbringen?“, stotterte er fassungslos.<br />

„Nicht selbst, ich bin keine Mörderin. Es gibt jemanden, der das gerne täte. Aber darüber<br />

solltest du dir keine Gedanken machen, denn ich glaube eher nicht, dass ich es erlauben wer-<br />

de.“<br />

Sie sah Shawn ruhig an.<br />

„Ich werde verhindern, dass du verletzt wirst, das verspreche ich dir. Du gehörst mir, die<br />

anderen dürfen dich zwar benutzen, aber nur im Rahmen dessen, was ich absegne. Ich werde<br />

50


da sein und auf dich aufpassen. Dafür erwarte ich von dir absoluten Gehorsam. Zeigst du den<br />

nicht, wird das, was ich gestern mit dir gemacht habe, dir wie eine zärtliche Streicheleinheit<br />

vorkommen. Ich möchte dir ein paar Regeln erklären. Merke sie dir gut. Das Wichtigste ist:<br />

Ich bin der Boss, aber du hast den anderen genauso zu gehorchen. Tust du es nicht, steht es<br />

ihnen frei, eine Strafe für dich zu wählen. Du wirst keine Kleidung erhalten, sondern ständig<br />

nackt sein. Die Beine hast du geöffnet zu haben. Die ersten Tage werden deine Hände ständig<br />

auf dem Rücken gefesselt sein, bis du es verinnerlicht hast, dass dein Körper nicht mehr dir<br />

gehört.“ Sie sah kurz aus dem Fenster, dann fuhr sie fort: „Später wirst du hier im Haus und<br />

im Garten Arbeiten erledigen. Wenn meine Freunde dich anfordern, hast du sofort zu reagie-<br />

ren. Du wirst uns nie ins Gesicht sehen, es sei denn, wir fordern das direkt von dir. Du hast<br />

tagsüber Dienst in Haus und Garten, danach stehst du nur noch uns zur Verfügung, wenn wir<br />

Lust auf dich haben. Ansonsten kannst du dich hier in deinen Räumen aufhalten. Essen wirst<br />

du mit mir zusammen im Salon. Abends wirst du an dein Bett gefesselt, aber locker, sodass du<br />

dich bewegen kannst. Und du bekommst jeden morgen vor dem Aufstehen zehn Peitschenhie-<br />

be, im Voraus für etwaige Verfehlungen. Hast du das soweit kapiert?“<br />

Shawn hatte mit wachsendem Entsetzen zugehört. Er schluckte schwer und nickte.<br />

Carrie lächelte. „Mach dir nicht zu viele Sorgen, so schlimm wird es nicht werden. Ich<br />

vermute, die anderen werden schnell das Interesse verlieren. Dann hast du es nur noch mit<br />

mir zu tun. Wir werden auch normal miteinander schlafen. Nicht oft, aber darauf werde ich<br />

auch ab und zu Lust haben. Du darfst mich berühren, aber wagst du es, mich zu küssen, wirst<br />

du es bitter bereuen. Wenn du dich an meine Regeln hältst, wirst du kein schlechtes Leben<br />

hier haben.“<br />

Shawn lag still. Sein Herz raste. Was sie ihm da so ruhig erklärte, trieb ihm Angstschweiß<br />

auf die Stirn. Das Schlimmste war das sichere Wissen, absolut keine Chance zu haben! Er<br />

konnte sich hier schlecht weg beamen. Sollte er sich stur stellen, würde er von der Vorhölle<br />

direkt in die richtige Hölle fahren. Es war, als wäre er dauerhaft mit dem Muskelrelaxan ge-<br />

lähmt. Er konnte absolut nichts machen! Hoffnungslos rollte er sich auf die Seite, weg von<br />

Carrie. Sie sollte verschwinden. In seinem durch den Eingriff stark angeschlagenen Zustand<br />

kam erschreckend ein intensiver Todeswunsch in ihm hoch. Sollte sie ihn umbringen! Das war<br />

besser, als wer weiß wie lange hier gedemütigt, erniedrigt, benutzt und gequält zu werden.<br />

Leise, Carrie den Rücken zugedreht, sagte er:<br />

„Weißt du was? Bring mich gleich um, dann habe ich es hinter mir. Du glaubst doch<br />

nicht, dass ich das alles mitmache, oder? Bring mich um! Jetzt, sofort!“ Er drehte sich zu<br />

Carrie herum und wiederholte noch einmal verzweifelt und unter Tränen: „Mach es! Bring<br />

mich um!“<br />

51


Carrie war erstaunt über diesen Ausbruch. Kurz überlegte sie, dann setzte sie sich auf das<br />

Bett. „Du willst sterben? Gut, das kann ich arrangieren.“ Sie griff nach seinen Händen und<br />

ehe Shawn sich versah, waren diese an die Bettstreben gefesselt. Still und heftig zitternd lag<br />

er da und sah Carrie todunglücklich ins Gesicht.<br />

„Mach es ...“, sagte er mit bebender Stimme.<br />

Carrie nickte. „Dein Wunsch ist mir Befehl.“ Sie griff in die Nachtischschublade und<br />

nahm eine Rolle Klebeband heraus. Schnell hatte sie ihm einen Streifen fest über den Mund<br />

geklebt.<br />

„Bist du bereit?“, fragte sie ihn und wenn ihm auch Tränen über die Wangen stürzten<br />

nickte er. Sein Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen. Er fragte sich panisch, wie sie<br />

es machen würde. Entsetzt weiteten sich seine Augen in nacktem Grauen! Carrie zog eine<br />

Badeklammer aus der Schublade und setzte ihm diese ohne eine Sekunde zu zögern auf die<br />

Nase! Augenblicklich setzte Sauerstoffmangel und damit Todesangst ein. Shawn lag einige<br />

Sekunden geschockt still, dann fing er an, an den Fesseln zu zerren. Es hatte keinen Sinn! Er<br />

bekam den Kopf nicht so weit gedreht, dass er sich die Klammer hätte abstreifen können. Im-<br />

mer qualvoller wurde der Sauerstoffmangel. In wahnsinniger Todesangst raste sein Herz und<br />

seine Augen hingen bettelnd an Carrie. Die Qual wurde mit jeder Sekunde größer. Alles in<br />

ihm schrie nach Luft, doch er konnte nicht atmen! Konvulsivisch zuckend lag er in den Fes-<br />

seln. Als ihm schwarz vor Augen wurde, er spürte, dass er jeden Moment die Besinnung ver-<br />

lieren würde, merkte er, dass Carrie die Klammer und den Klebestreifen blitzschnell entfernte<br />

und die Fesseln löste. Röchelnd und hustend schoss er in die Höhe und sog verzweifelt Luft in<br />

seine malträtierten Lungen. Carrie sah ihn an und zog ihn in ihre Arme. Weinend ließ er es<br />

zu, klammerte sich halt suchend an sie und schnappte krampfhaft nach Luft.<br />

Langsam beruhigte er sich. Carrie hielt ihn im Arm und das tat sie, bis sie merkte, dass er<br />

sich gänzlich entspannt und beruhig hatte. Sie ließ ihn sich hinlegen. Liebevoll hielt sie seine<br />

Hand und sagte ruhig:<br />

„Ist nicht so leicht zu sterben, was?“ Sanft fuhr sie Shawn mit der Hand über die Wangen<br />

und streifte Tränen weg. „Willst du noch immer umgebracht werden?“<br />

Müde schüttelte Shawn den Kopf. Leise sagte er: „Nein. Aber ... ich habe ... so schreckli-<br />

che Angst ...“<br />

Carrie nickte. „Dazu hast du allen Grund. Doch was sind ein paar Minuten Angst und<br />

Schmerz gegen den Tod? Ich habe dir versprochen, dass ich auf dich aufpassen werde. Du<br />

wirst doch wohl imstande sein, ein paar Schmerzen zu ertragen. Ich sagte dir, dass dir nichts<br />

Schlimmes passieren wird, darauf kannst du dich verlassen. Du solltest versuchen zu schla-<br />

fen, das wird dir gut tun. Du bist angeschlagen von dem Eingriff, das ist absolut verständlich.<br />

Ich werde hier sitzen und auf dich aufpassen. Mach die Augen zu und wenn du aufwachst,<br />

wird die Welt anders aussehen.“<br />

52


Shawn rollte sich auf die Seite und schloss die Augen. Dass er einschlafen würde glaubte<br />

er nicht. Aber die durchwachte Nacht und der Stress der Angst forderten Tribut. Zwei Minu-<br />

ten später schlief er tief und fest.<br />

*****<br />

4) Alice Springs<br />

An den Scheidewegen des Lebens stehen keine Wegweiser.<br />

Charles Chaplin<br />

Kelly hatte fassungslos zugehört. Geistesabwesend drückte sie auf den Aus-Knopf des<br />

Diktiergerätes und legte es auf den Nachtschrank. Ab wann der junge Mann nur noch ein<br />

schluchzendes Häufchen Elend auf ihrem Schoß war, hätte die Therapeutin nicht sagen kön-<br />

nen. Der Schauspieler hatte wie unter Zwang weiter geredet, als ihm längst Tränen über die<br />

Wangen stürzten. Jetzt lag er hilflos vor sich hin schluchzend und am ganzen Körper zitternd<br />

auf dem Bett und versuchte verzweifelt, sich zu fangen.<br />

„Es hat so entsetzlich wehgetan. Ich glaube, ich bin kein Schlappschwanz, aber ... als ...<br />

als sie ... als sie den ersten Schnitt ... Gott im Himmel, ich dachte ...“ Er war nicht fähig, den<br />

Satz zu Ende zu bringen. Er klammerte sich an Kellys Hand und wimmerte hoffnungslos:<br />

„Hilf mir ... bitte!“<br />

Kelly merkte nicht, dass ihr vor Mitleid ebenfalls Tränen über die Wangen kullerten. In ihr<br />

machte sich ein Hass breit, wie sie ihn nie zuvor bei einem Patienten verspürt hatte. Sie war<br />

sich sicher, würde diese Carrie zur Tür herein kommen, sie wäre fähig, diese Frau kalt lä-<br />

chelnd zu töten! Erschüttert, wie selten zuvor, hielt sie Shawn an sich gedrückt und flüsterte<br />

mit tränenerstickter Stimme:<br />

„Ich werde dir helfen, Shawn, das musst du mir glauben. Es mag dir noch so hoffnungslos<br />

vorkommen, aber du wirst eines Tages damit klar kommen. Mir ging es nicht besser und ich<br />

habe es geschafft, obwohl ich mit Sicherheit nicht deine innere Stärke habe. Und wenn es das<br />

Letzte ist, was ich in meinem Leben machen werde, ich bleibe bei dir, bis du es geschafft<br />

hast!“<br />

*****<br />

Als sie später im Bett lagen, war Shawn schnell eingeschlafen. Er war hoffnungslos er-<br />

schöpft gewesen und hatte geschlafen, bevor er richtig lag. Kelly war sicher, nicht einmal ein<br />

Erdbeben hätte ihn wecken können. Sie selbst war aufgekratzt und hellwach. So stieg sie leise<br />

und vorsichtig aus dem Bett, überzeugte sich noch einmal, dass Shawn tief und gleichmäßig<br />

53


atmete, tappte im Dunkeln aus dem Raum und ging in ihr Büro. Sie schaltete den PC ein und<br />

als er hoch gefahren war, tippte sie Shawns Bericht in seine Akte. Als sie fertig war nahm sie<br />

das Telefon in die Hand und rief Lauren an.<br />

„Wie geht es euch da draußen?“, fragte die Polizeibeamtin.<br />

„Hallo, Laurie. Es geht soweit. Shawn hat die Eingewöhnungsphase fast hinter sich, er hat<br />

Vertrauen zu mir und wir arbeiten an seinem Selbstvertrauen.“<br />

„Gut. Hat er sich denn über die Entführer geäußert?“<br />

Kelly seufzte. „Nein, soweit sind wir noch lange nicht. Er hat mir vorhin etwas erzählt,<br />

Laurie, ich schwöre bei Gott, sollte mir diese Carrie je vor die Augen kommen, ich wäre fä-<br />

hig, diese miese Natter kalt lächelnd umzubringen!“<br />

Lauren hörte den Hass in der Stimme der Freundin. Ruhig sagte sie:<br />

„Kelly, was immer dieses Miststück getan hat, dass du ihretwegen zur Mörderin wirst, ist<br />

sie definitiv nicht wert. Wir werden sie kriegen und sie wird für lange Zeit ins Gefängnis<br />

wandern, mit Glück für den Rest ihres Lebens. Wie kommst du denn sonst bei Shawn voran?“<br />

Kelly wusste, dass Lauren keine Einzelheiten wissen wollte. Der AFP Beamtin war klar,<br />

dass alles, was zwischen dem Patienten und Kelly gesagt wurde, unter die ärztliche Schwei-<br />

gepflicht fiel. Sie wollte nur erfahren, ob Kelly Erfolg hatte. Die Therapeutin seufzte.<br />

„Es ist schwer, er redet wenig, nur ab und zu bricht etwas aus ihm heraus. Ich habe eine<br />

grobe Vorstellung, wie er gehalten wurde, aber nur ansatzweise Schilderungen über die Situa-<br />

tionen. Er soll auch noch gar nicht darüber reden. Hör zu, du solltest nach ähnlichen Fällen<br />

suchen, junge, attraktive Männer, die zwischen drei und acht Monaten verschwunden waren<br />

und von denen man nur noch die Leichen gefunden hat. Und du solltest dich nicht auf Austra-<br />

lien beschränken. Setz dich mit Interpol und dem FBI in Verbindung und suche nach ähnli-<br />

chen Entführungen. Ich bin mir sicher, Shawn ist nicht das erste Opfer dieser Carrie. Er war<br />

kein Versuch, kein Test, er war eindeutig nicht der erste Entführte. Alles war zu gut durch-<br />

dacht und organisiert. Ich könnte mir vorstellen, dass sie jedes Mal mit anderen Komplizen<br />

gearbeitet hat, aber Carrie ist die Drahtzieherin. Sobald es möglich ist, werde ich versuchen,<br />

Shawn dazu zu bewegen, sie mir näher zu beschreiben. Sie hat mal zu Shawn gesagt, sie wäre<br />

reich, ihre Eltern hätten ihr Millionen hinterlassen. Irgendwie zweifle ich daran. Das wäre<br />

aber ein Ansatzpunkt, wenn es denn stimmt.“<br />

Lauren seufzte. „Ich habe etwas in der Art vermutet. Die Entführung selbst, das war eine<br />

geplante Aktion und virtuos durchgeführt. Die Wahl des Ortes, wo der Junge gefangen gehal-<br />

ten wurde, war perfekt durchdacht. Ich werde mich mit Interpol in Verbindung setzen und<br />

meinen Kumpel beim FBI anrufen. Mal sehen, ob wir etwas herausfinden.“<br />

„Ja, tu das, ich wette, du wirst auf Parallelen stoßen. Ich melde mich wieder, sobald ich<br />

Näheres über die Dame weiß. Noch was, ich werde mit Shawn einen längeren Trip ins Out-<br />

54


ack machen. Morgen fliegen wir los. Also mach dir bitte keine Sorgen, wenn ich mich nicht<br />

melde und du hier niemanden erreichst. Mach‘s gut!“<br />

Kelly legte auf und ging ins Wohnzimmer hinüber. Sie tat etwas, was nur selten vorkam:<br />

Sie nahm sich ein Glas Whiskey mit viel Eis. Damit ging sie auf die Terrasse hinaus und wäh-<br />

rend sie in die Dunkelheit um sie herum blickte, trank sie langsam den ungewohnten Alkohol.<br />

Sie durfte ihre Professionalität nicht verlieren, das war ihr klar. Kelly hatte bei anderen Pati-<br />

enten erfahren, dass es half, wenn der Therapeut mit litt. Sie gingen eine extrem intensive<br />

Bindung mit ihren Patienten ein und dass man deren Leiden und Ängste nicht weg ignorieren<br />

konnte, war klar. Nicht umsonst lautete ein etwas abfälliger Spruch über ihre Berufsgruppe:<br />

Psychiater sind irgendwann ihre eigenen besten Patienten. Kelly musste unbedingt Sorge tra-<br />

gen, dass sie Shawns schreckliche Erfahrungen nicht zu dicht an sich heran ließ. Sie durften<br />

sie gerne berühren, sie durften ihr nur nicht zu sehr unter die Haut gehen. Kelly seufzte. - Mal<br />

abwarten, was der Trip bringt. Er wird Shawn gut tun. - dachte sie und trank ihren Whiskey<br />

aus. Sie trat wieder ins Haus, stellte das leere Glas in die Spüle und schlich ins Schlafzimmer<br />

zurück. Shawn schlief ausnahmsweise einmal ruhig und so legte Kelly sich zufrieden in ihr<br />

Bett und schloss die Augen.<br />

*****<br />

Am Morgen war Shawn vor Kelly wach und stand leise auf. Noch etwas müde ging er in<br />

die Küche und setzte Kaffee auf. Er deckte den Tisch auf der Terrasse und setzte sich mit ei-<br />

nem ersten Becher Kaffee auf die Stufen, die von der Terrasse zum Strand hinunter führten.<br />

Gedankenverloren saß er da und sah auf den See hinaus. Shawn freute sich tatsächlich auf den<br />

Ausflug ins Outback, obwohl er vor Kurzem noch sicher gewesen war, sich nie wieder über<br />

irgendetwas freuen zu können. Er dachte daran, was sie unter Umständen alles sehen würden.<br />

Unerwartet hörte er Kellys Stimme hinter sich.<br />

„Oh, das ist aber eine schöne Überraschung!“<br />

Shawn schrak heftig zusammen. Er wirbelte so hastig herum, dass der Kaffee in seiner<br />

Tasse überschwappte und ihm die Finger verbrannte.<br />

„Au, verdammt!“, fluchte er und schlenkerte die Hand. Kelly wurde rot.<br />

„Oh Gott, das tut mir leid!“, sagte sie verlegen und kicherte dennoch.<br />

„Ach, macht nichts. Ich war auch schon mal weniger schreckhaft.“, meinte Shawn resig-<br />

niert und kam die paar Stufen hoch zu Kelly an den Tisch. Besorgt fragte diese:<br />

„Schlimm geworden?“ Sie nahm sanft Shawns verbrühte Hand und sah sich seine Finger<br />

an, über die der Kaffee gekleckert war. Ein kurzes Grinsen huschte über Shawns Gesicht und<br />

er schüttelte den Kopf.<br />

55


„Ach was, da bin ich anderes gewohnt. Der war nicht mehr so heiß, war mehr der<br />

Schreck.“ Er setzte sich an den Tisch und schenkte Kelly eine Tasse Kaffee ein. Gespannt<br />

fragte er: „Wann müssen wir los?“ Kelly sah auf ihre Armbanduhr und überlegte kurz.<br />

„Es ist kurz nach halb 7 Uhr, ich denke, spätestens um 8 Uhr sollten wir uns auf die So-<br />

cken machen. Wir fahren in den Berufsverkehr hinein und müssen um 10.30 Uhr spätestens<br />

am Airport sein.“<br />

Shawn nickte. „Da sollten wir uns beeilen.“<br />

Sie frühstückten und anschließend verschwand erst Shawn, hinterher Kelly, die in der Zeit<br />

die Küche machte, unter der Dusche. Um Punkt 8 Uhr saßen sie im Wagen.<br />

„Nichts vergessen?“, fragte Kelly und Shawn schüttelte den Kopf.<br />

Auf dem Weg nach Melbourne war Shawn schweigsam, aber Kelly kannte das inzwischen<br />

ja hinlänglich und dachte sich nichts dabei. Sie erzählte von Alice Springs, dem Ayers Rock<br />

und dem Kakadu Nationalpark. Schließlich fragte sie Shawn:<br />

„Hast du schon mal so eine Tour gemacht?“ Shawn schüttelte den Kopf.<br />

„Dann sollte ich dir ein paar grundsätzliche Verhaltensregeln erklären. Du kennst dich da<br />

draußen nicht aus, also halte dich zu deiner eigenen Sicherheit bei mir auf. Wenn wir wandern<br />

pass auf, wo du hin trittst. Wir haben im Outback einige der giftigsten Schlangen der Welt.<br />

Fass nichts an, was lang ist und zischt, okay?“<br />

Shawn nickte ernst.<br />

„Komm bitte nicht auf die Idee, mal einen kleinen Spaziergang allein zu machen. Du hast<br />

keine Ahnung, wie schnell man da draußen jede Orientierung verliert. Unterschätze bitte nie<br />

die Sonne, sonst hast du schneller einen Sonnenstich, als ich es verhindern kann. Und du<br />

musst viel Trinken, wir werden mehr als genug Wasser mit uns führen.“ Kelly musste sich<br />

kurz auf den Verkehr konzentrieren, dann fragte sie: „Alles verstanden?“<br />

Shawn nickte. „Was ist an den Horrorgeschichten vom Taipan so dran?“, wollte er wissen.<br />

Kelly lachte.<br />

„Naja, ich rate dir dringend, tritt nicht auf einen drauf, sonst wirst du der Erste sein, der er-<br />

fährt, was an den Geschichten dran ist. Es gibt zwei Arten des Taipan. Den Küstentaipan und<br />

den Inlandtaipan. Der Küstentaipan gilt allgemein als aggressiv und angriffslustig, während<br />

der Inlandtaipan eher scheu ist und sich versteckt. Richtig ist, dass der Taipan die giftigste<br />

Schlange der Welt ist. Sein Gift ist zum größten Teil neurotoxisch, das heißt, es wirkt speziell<br />

auf Nervenzellen und Nervengewebe. Nach einem Biss treten unter anderem starke Schmer-<br />

zen und Schwellungen an der Bissstelle, Blutgerinnungsstörungen, Übelkeit und Bewusstlo-<br />

sigkeit auf. Wenn du nicht rasch ein Antivenom bekommst, kannst du dich von deinem Arsch<br />

verabschieden. Der Taipan wird zwischen 1.80 Meter und 2.20 Meter lang.“<br />

Shawn verzog ironisch das Gesicht. „Bist du mit vielen deiner Patienten ins Outback ge-<br />

fahren?“<br />

56


Mann.<br />

Kelly lachte. „Nein. So simpel entledige ich nich meiner Patienten nicht!“<br />

Shawn lächelte kurz. Dass Kelly sofort gewusst hatte, was er meinte, freute den jungen<br />

„Da bin ich beruhigt.“ meinte er grinsend. Kelly freute sich, dass er ab und zu ein Lächeln<br />

zeigte. Sie hätte ihn so gerne einmal richtig fröhlich Lachen hören, wusste aber, dass es bis<br />

dahin noch ein weiter Weg war. Wenigstens konnte er ab und zu schon Grinsen, das war ein<br />

Anfang. Er schwieg eine Weile, schaute interessiert aus dem Fenster. Die Landschaft draußen<br />

war wunderschön. Dichte Wälder, zur Linken lag ein lang gezogenes Tal, zur Rechten zog<br />

sich der Wald an Berghängen hoch. Kelly erklärte:<br />

„Wir haben die Berge bald hinter uns, dann kommt Healesville. Danach erreichen wir die<br />

Ausläufer Melbournes. Zum Flughafen sind es noch zirka 70 Kilometer.“<br />

Shawn meinte: „Melbourne kenne ich nicht. Ich war in Sydney und in Mackay ...“ Er<br />

schluckte trocken und fuhr fort: „Sonst kenne ich von Australien nichts, es sei denn von<br />

oben.“ Gerade erreichten sie die Ortschaft Healesville. Zügig passierten sie auf dem Highway<br />

die Ortschaft und näherten sich der Großstadt Melbourne. Kelly blieb auf dem Umgehungs-<br />

highway und schlängelte sich auf der M80 bis zum Airport. Um kurz vor halb 10 Uhr standen<br />

sie auf dem Langzeitparkplatz. Shawn griff sich das Gepäck und folgte Kelly in die Departure<br />

Hall. Das Einchecken verlief problemlos. Sie waren das Gepäck los und Kelly fragte:<br />

„Na, noch eine Tasse Kaffee?“ Shawn nickte und so gingen sie in eines der vielen kleinen<br />

Restaurants, bestellten sich Kaffee und warteten, bis es Zeit war zu boarden.<br />

Als sie eine Stunde später auf ihren Plätzen in der Business Class saßen, fragte Shawn:<br />

„Wie lange fliegen wir?“<br />

Kelly machte es sich gemütlich, sah an Shawn vorbei aus dem Fenster und erklärte: „Mehr<br />

als drei Stunden. Zeit genug, um sich zu Langweilen.“ Da sie hier allein saßen nutzte Kelly<br />

die Gelegenheit, Shawn einen neuen Auftrag zu erteilen. „Ab heute möchte ich, dass du mir<br />

jeden Abend erzählst, was dir den Tag über gelungen ist, verstehst du? Es muss nichts Außer-<br />

gewöhnliches sein, aber es gibt jeden Tag etwas, wofür du dich loben kannst. Lass abends den<br />

Tag Revue passieren, denke nach und sag mir, was dir gelungen ist.“<br />

Shawn hatte aufmerksam zugehört. Er nickte zögernd. Er sagte weiterhin so oft es ging<br />

den ‘Ich mag mich‘ Satz und fand es nicht mehr schlimm, ihn laut auszusprechen.<br />

„Alles klar. Egal, was?“, fragte er nach. Kelly nickte.<br />

„Ganz egal, wenn es nur Positives ist. Du wirst merken, wie viel einem gut gelingt an ei-<br />

nem normalen Tag.“ Die Maschine setzte zum Start an und als sie in der Luft waren, sah Kel-<br />

ly Shawn erneut an.<br />

57


„Die Zeit bis Alice werden wir uns gut vertreiben, in dem du mal richtig gesprächig wirst.<br />

Ich möchte mehr über dich erfahren, über deine Kindheit, Elternhaus, Schule, Studium, deine<br />

Arbeit, dein Leben in den Staaten.“<br />

Shawn verzog das Gesicht. Er setzte sich bequem zurück und begann zu sprechen.<br />

„Ich wurde in Ruskin geboren, das ist eine Kleinstadt in der Nähe von Tampa. Mein Vater<br />

ist 56, Immobilienmakler, er arbeitet in Florida für die US Real Estate 24. Meine Mutter ist<br />

55, arbeitet in Bahia Beach als Leiterin eines Resorts. Ich habe keine Geschwister. Bei meiner<br />

Mutter wurde, als ich drei Jahre alt war, Gebärmutterkrebs diagnostiziert. Man musste ihr die<br />

Eileiter und die Gebärmutter entfernen. Der Krebs ist geheilt, sie konnte natürlich nur keine<br />

weiteren Kinder bekommen. Ich ging auf die Ruskin Highschool und später in Tampa auf die<br />

Uni. Dort machte ich meinen Bachelor in Performing Arts. Nach dem Studium ging ich nach<br />

New York, um dort am Broadway zu arbeiten. Allerdings merkte ich schnell, dass das Theater<br />

nicht das war, was ich wollte und so tat ich, was wohl alle machen, die Schauspielern wollen:<br />

Ich zog nach LA. Und hatte das riesige Glück, einen der Bosse von ABC kennen zu lernen.<br />

Ich bekam einen Festvertrag und landete so in von ABC produzierten Serien. Nebenbei habe<br />

ich an einigen Spielfilmen, alles nichts spektakuläres, mitgearbeitet.“<br />

Kelly hatte aufmerksam zugehört. Sie hakte nach: „Wie war deine Kindheit?“<br />

Shawn sah aus dem Fenster. Unter ihnen wurde es langsam rot, das Grün von Wäldern<br />

und Feldern blieb allmählich hinter ihnen zurück. Er suchte nach Worten.<br />

„Naja, nicht sonderlich aufregend, denke ich. Meine Eltern waren berufstätig, daher war<br />

ich viel allein. Erst hatte ich ein Kindermädchen, später, als ich älter wurde, war das nicht<br />

mehr erforderlich. Ich trieb viel Sport, hatte an der Tampa ein Sportstipendium.“<br />

Kelly sah Shawn aufmerksam an. „Bist du je mit dem Gesetz in Konflikt gekommen?“<br />

Shawn wurde rot. Er räusperte sich verlegen und fragte: „Brauche ich einen Anwalt?“ Kel-<br />

ly lachte. „Nein, keineswegs, ich muss mir nur ein so gutes Bild von dir machen können, wie<br />

es möglich ist, verstehst du?“<br />

Shawn nickte. „Als ich so fünfzehn, sechzehn war, bin ich in eine Gang geraten. Naja,<br />

Gang, nicht so was wie ... also, keine richtig fiese Gang, keine Head Bangers oder Hells An-<br />

gels, so was gab es in Ruskin nicht. Einfach nur Schüler, die schräg drauf waren. Eine Weile<br />

fand ich es großartig, zu ihnen zu gehören. Irgendwann fingen die an, Autos aufzubrechen<br />

und kleine Einbrüche zu begehen. Als ein paar von uns bei einem Ladendiebstahl erwischt<br />

wurden, fanden meine Eltern heraus, was ich in meiner Freizeit trieb. Meine Herren, von dem<br />

Unwetter, das sich über mir austobte, hätte selbst Carrie noch was lernen können. Da wäre<br />

mancher F 5 Tornado blass vor Neid geworden.“ Shawn grinste still vor sich hin bei den Er-<br />

innerungen. „Mein Vater tobte! Er drohte mir an, mich in ein Boot Camp zu stecken! Mir<br />

ging der Arsch auf Grundeis, das kannst du mir glauben. Ich schwor, nie mehr mit einem der<br />

Typen herum zu hängen. Und daran hielt ich mich. Nach etlichen Wochen erst legte sich das<br />

58


schlechte Wetter und mein Vater begann mir zu verzeihen. Dieser Episode habe ich es zu ver-<br />

danken, dass ich unter den drei besten Abgängern der Schule war. Um meine Eltern zu be-<br />

sänftigen, habe ich gebüffelt wie ein Irrer. Heute bin ich dankbar dafür.“<br />

Kelly lachte. „Ja, so ein kleiner Schock zur rechten Zeit kann Wunder bewirken. Andere<br />

Problem, wie Alkohol, Drogen oder so was?“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich mich nie getraut. Dann hätte mein alter Herr<br />

mich erschossen.“ Kurz lachte Shawn ebenfalls.<br />

„Wie warst du vor der Entführung?“, stellte Kelly die nächste Frage.<br />

Schlagartig verging Shawn das Lachen. „Wie meinst du das?“, fragte er unsicher.<br />

„Naja, warst du eher verschlossen, introvertiert, oder extrovertiert? Beziehungen, Freund-<br />

schaften, wie war deine Einstellung zum Sex, Vorlieben, Abneigungen, so was.“<br />

„Oh ...“ Shawn wurde rot, überlegte. „Eindeutig aufgeschlossen, denke ich. Ich hatte einen<br />

großen Freundeskreis ...“<br />

Hier unterbrach Kelly energisch: „Nein, nicht du hattest, Shawn, du hast!“<br />

Bedrückt sah Shawn zu Boden. „Ich weiß nicht ...“, sagte er leise.<br />

Kelly nahm seine linke Hand. „Aber ich weiß. Deine Freunde haben die australische Poli-<br />

zei verrückt gemacht. Sie haben Privatdetektive beauftragt, nach dir zu suchen, haben fünf<br />

Mal die Woche bei der Polizei angerufen, haben Belohnungen ausgesetzt, sie haben nie auf-<br />

gegeben.“<br />

Shawn starrte Kelly an und seine Augen füllten sich mit Tränen. „Ist das wahr?“<br />

Kelly verdrehte die Augen und schüttelte genervt den Kopf. Ärgerlich meinte sie: „Ich ha-<br />

be dir bereits gesagt dass ich dich nicht anlügen würde, okay. Also kannst du gerne aufhören,<br />

an dem, was ich sage, zu Zweifeln.“ Es war das erste Mal, dass Kelly genervt reagierte und<br />

Shawn zuckte erschrocken zusammen, duckte sich regelrecht unter den schroffen Worten.<br />

Sofort tat es der Therapeutin leid.<br />

„Entschuldige, ich wollte nicht genervt reagieren.“<br />

Der junge Mann nickte mit hängendem Kopf.<br />

„War dämlich von mir, zu Zweifeln ...“, sagte er so leise, dass Kelly es über den Ge-<br />

räuschpegel des Flugzeugs kaum verstehen konnte.<br />

Kelly strich Shawn sanft mit dem Daumen über die Hand, die sie noch hielt.<br />

„Nein, ich kann verstehen, dass du Zweifel hast. Es tut mir leid. Shawn, sie rufen jeden<br />

zweiten Tag bei Agent Demsey an, in der Hoffnung, Neues über dich zu erfahren. Du bist<br />

nicht allein, verstehst du? Deine Eltern werden regelmäßig von mir informiert, per e-mail. Sie<br />

wissen Bescheid wie es dir geht und machen sich schreckliche Sorgen.“<br />

Shawn sah Kelly an, als wäre sie ein Marsmensch. „Du stehst mit ihnen in Verbindung?<br />

Warum waren sie ...?“<br />

59


„Weil in dieser Therapie vorerst nur wir beide etwas zu suchen haben. Angehörige und<br />

Freunde haben hier nichts verloren und du musst dich ausschließlich auf dich selbst konzent-<br />

rieren, darum wirst du keinen Kontakt haben, bis ich entscheide, dass du so weit bist. Ich habe<br />

es dir gesagt, du wirst mich manchmal hassen.“<br />

Shawn dachte kurz darüber nach, dann schüttelte er langsam den Kopf. „Nein, das tue ich<br />

nicht. Du hast Recht. In dieser Verfassung soll mich keiner sehen und ich will auch nieman-<br />

den sehen oder sprechen. Nur dich.“ Er schaute Kelly entspannter an und sagte: „Was du für<br />

mich tust, ist mehr, als je jemand für mich getan hat. Ich werde das nie gut machen können,<br />

aber ich bin dir unendlich dankbar und werde mich auf das verlassen, was du sagst.“<br />

Kelly lächelte. „Das ist gut. Komm, erzähl mir von deinem Leben.“<br />

Shawn berichtete von seinem Leben, den Dreharbeiten, seinen sportlichen Aktivitäten,<br />

was er in seiner Freizeit, die ohnehin knapp bemessen war, allein oder mit Freunden unter-<br />

nahm. Er erzählte von nervigen Talkshows, zu denen er hatte gehen müssen, von unangeneh-<br />

men Regisseuren, von Pannen bei Dreharbeiten. Schließlich konnte Kelly sich neben dem,<br />

was sie im Internet über Shawn gefunden hatte, ein genaues Bild von seinem Leben vor der<br />

Entführung machen.<br />

„Ich muss leider auch von deinem Sexualverhalten erfahren, okay? Das ist wichtig, damit<br />

ich mir ein Bild davon machen kann, wie sehr dich die Praktiken, die Carrie und ihre Freunde<br />

angewandt haben belasten, verstehst du?“<br />

Shawn war rot angelaufen und sah sich hektisch um.<br />

„Shawn, außer mir hört dich niemand. Erzähl mir, wie dein Sexleben ausgesehen hat. Vor-<br />

lieben, Abneigungen, deine Partnerinnen, ich muss alles wissen.“<br />

Resigniert nickte der junge Mann. Er begann stockend und verlegen zu Sprechen. „Partne-<br />

rinnen finde ich normalerweise problemlos. In Discos, bei Dreharbeiten, auf Veranstaltungen.<br />

Sie kommen auf mich zu, ich ... naja, ich konnte bisher ... ich konnte wählen.“<br />

Kelly nickte verstehend.<br />

„Du siehst unglaublich gut aus, bist erfolgreich, ich kann mir vorstellen, wie das abgelau-<br />

fen ist.“ sagte sie lächelnd. „Wie magst du Sex normalerweise?“<br />

Verzweifelt verzog Shawn das Gesicht. Es war ihm hochgradig peinlich, hier darüber zu<br />

sprechen, aber er erklärte: „Oh man, also ... nichts ungewöhnliches, ich mag Sex ... oh man,<br />

ich mag es normal, okay? Ich mag es, Frauen, mit denen ich zusammen bin, in Stimmung zu<br />

bringen. Keine Hauruck Nummern. Und ich schlafe nicht sofort mit jeder. Da muss Gefühl im<br />

Spiel sein. One-Night-Stands sind absolute Ausnahmen.“<br />

Kelly nickte. „Gut. Bist du eher dominant oder devot?“<br />

Shawn fuhr sich mit der Rechten durchs Haar. „Scheiße, Kelly, bitte!“ Er schnaufte resig-<br />

niert. „Ich weiß nicht, ich denke, weder das eine noch das andere Extrem. Ich fürchte, ich bin<br />

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langweilig. Ich mag schönen, gefühlsbetonten Sex. Ich hasse Quickies. Missionarsstellung,<br />

Partnerin oben, oder im Stehen unter der Dusche, das war’s.“<br />

Kelly hatte aufmerksam zugehört. Ruhig fragte sie: „Hättest du gerne irgendwann etwas<br />

Spezielles ausprobiert?“<br />

was?“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht. Ich fürchte, ich kann nicht viel bieten,<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Blödsinn! Ich bin sicher, du hast deine Partnerinnen befriedigt<br />

und glücklich gemacht.“<br />

*****<br />

Als die Maschine sich der Landebahn von Alice Springs näherte, wusste Kelly erheblich<br />

mehr über Shawn als vor drei Stunden. Während der Landung sahen beide aus dem kleinen<br />

Fenster. Sanft setzte die Maschine auf und rollte zum Terminal. Kurze Zeit später standen<br />

Shawn und Kelly am Avis Schalter. Sie handelten aus, dass sie den Wagen an jedem beliebi-<br />

gen Flughafen bei Avis abgeben konnte, da sie nicht wussten, wo sie letztlich den Trip been-<br />

den würden. Die nette Angestellte händigte Kelly den Autoschlüssel und die Papiere für den<br />

Leihwagen aus. Sie erklärte, wo der Wagen stand und die Beiden machten sich auf den Weg.<br />

Als sie das Airportgebäude verließen, blieb Shawn kurz prustend stehen. In der Mittagshitze<br />

waren es mindestens 40 Grad.<br />

„Meine Herren!“, ächzte er ungläubig. Kelly lachte.<br />

„Oh, das ist noch gar nichts. Es geht noch heißer. Aber gleich sitzen wir im Wagen, haben<br />

die Air Condition an und werden uns ein Motel für die ersten zwei Nächte suchen.“ Sie beeil-<br />

ten sich, zum Parkplatz zu kommen und fanden ihren großen Jeep Commander Geländewagen<br />

sofort. Schnell waren die Rucksäcke verladen und auch die Zelttasche und die Schlafsäcke<br />

fanden ihren Platz. Sie stiegen ein und Kelly steuerte die knapp 12 Kilometer nach Alice<br />

Springs hinüber. Shawn sah gespannt aus dem Fenster. Rasch erreichten sie die Vororte und<br />

fanden im Stadtteil Desert Palms, im Desert Palms Resort ein schönes, großes Zimmer. Sie<br />

machten sich ein wenig frisch. Anschließend fragte Kelly:<br />

„Bereit für eine kurze Stadtbesichtigung?“<br />

Shawn nickte. „Unbedingt!“ Er hatte seinen neuen Hut in der Hand und wirkte tatendurs-<br />

tig wie noch nicht bisher. Kelly beglückwünschte sich zu ihrer Idee, hierher zu kommen. Sie<br />

marschierten zu ihrem Wagen und Kelly steuerte in das kleine City Center hinein. Sie fanden<br />

einen Parkplatz und sahen sich trotz der Hitze gründlich um. Viel hatte die Stadt selbst nicht<br />

zu bieten. Sie schauten sich ANZAC 5 Hill an, einen kleinen Hügel mit einem Denkmal auf<br />

5 Das Australian and New Zealand Army Corps (ANZAC) war im Ersten Weltkrieg ein Armeekorps der Streitkräfte der britischen Arme.<br />

Aus Australiern und Neuseeländern gebildet, kämpfte er bei der Schlacht von Gallipoli, im Nahen Osten sowie in Frankreich und Belgien.<br />

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der Spitze, dann schlenderten sie zum Alice Springs Reptile Center. Kelly bezahlte den Ein-<br />

tritt und führte Shawn in die australische Schlangenwelt ein.<br />

Als sie vor einem Terrarium mit zwei wunderschönen Inland-Taipanen standen meinte der<br />

junge Schauspieler:<br />

aus.“<br />

„So, ihr seid das also, vor denen alle solche Angst haben. So gefährlich seht ihr gar nicht<br />

Kelly grinste. „Lass dich gerne einmal probehalber beißen! Die Herrschaften haben in der<br />

Schlangengemeinde die längsten Giftfänge! Zwischen 3,5 und 6,2 Millimeter Gemeinheit<br />

bohren sich bei einem Biss in dein Fleisch und injizieren eine Menge von 40 bis 110 Milli-<br />

gramm feinsten Giftes in dich. Das reicht, um im schlimmsten Fall bis zu zweihundertfünfzig<br />

erwachsene Menschen zu killen. Unser Taipan ist 650-mal giftiger als eure geliebte Diamant-<br />

klapperschlange!“<br />

Shawn hatte interessiert zugehört und sah die hübschen Reptilien anerkennend an. „Na, ihr<br />

seid ja Herzchen.“ Sie schlenderten zum nächsten Terrarium und fanden hier eine wunder-<br />

schöne Mulga oder King Brown Schlange, die sich gerade einen neuen Ruheplatz suchte.<br />

„Dieser wunderschöne Schatz injiziert pro Biss die größte Menge Gift, weil sie dazu ten-<br />

diert, auf dem Opfer herum zu kauen. Ihr Gift wirkt antikoagulierend und neurotoxisch, das<br />

heißt, die Blutgerinnung wird stark gehemmt und es zerstört die Nervenzellen beziehungswei-<br />

se das Nervengewebe.“<br />

Sie hielten sich noch eine Zeit in dem Reptilienhaus auf, doch schließlich meinte Kelly:<br />

„Wie sieht es aus, wollen wir uns mal füttern gehen? Ich habe Hunger.“<br />

Shawn nickte zustimmend. „Ja, ich auch.“ Sie machten sich auf den Weg und fanden ein<br />

nettes thailändisches Restaurant. Als sie auf ihr Essen warteten fragte Shawn:<br />

„Was liegt morgen an?“<br />

Kelly nahm einen Schluck Wasser und sah Shawn an. „Ich dachte, wir starten morgen da-<br />

mit, uns gründlich mit Lebensmitteln und Wasser einzudecken. Wenn wir alles haben, werden<br />

wir einen kurzen Ausflug zum Tropic of Capricorn machen.“<br />

Shawn sah Kelly fragend an.<br />

„Wendekreis des Steinbocks, südlicher Wendekreis ...“, grinste Kelly. „Liegt ein paar Ki-<br />

lometer außerhalb, am Stuart Highway. Dort steht ein Denkmal, ist nett anzusehen. Danach<br />

werden wir uns auf die Räder machen nach Yulara. Yulara ist die letzte Ortschaft vor dem<br />

Ayers Rock, dem Uluru, wie er in der Aboriginesprache heißt. Ich hoffe, wir bekommen dort<br />

noch ein Zimmer, sonst müssen wir auf den Campingplatz gehen. Übermorgen werden wir<br />

bergsteigen.“<br />

Shawns Augen strahlten kurz begeistert. „Darauf freue ich mich. Ich habe immer davon<br />

geträumt, den Ayers Rock mal zu besteigen.“<br />

62


Kelly nickte. „Es ist fantastisch. Aber, Shawn, ich möchte, dass du mir eines fest ver-<br />

sprichst!“<br />

Fragend sah der junge Mann Kelly an. „Du musst mir, egal wie peinlich dir das sein mag,<br />

ehrlich sagen, wenn du nicht mehr kannst! Die Gefahren des Besteigens werden unterschätzt.<br />

Eine Menge Gedenktafeln am Fuße des Rock von Menschen, die dort ums Leben gekommen<br />

sind, zeugen davon. Und denke bitte nicht, dass die abgestürzt wären. Sie starben vor Hitze<br />

und Überanstrengung. Du bist nicht in der besten Form deines Lebens. Wenn du also das Ge-<br />

fühl hast, es nicht zu schaffen, sage es ehrlich und riskiere nicht, ebenfalls zu einer Messingta-<br />

fel zu werden, schwöre mir das.“ In Kellys Augen las Shawn aufrichtige Sorge um ihn und er<br />

sagte ernst:<br />

„Ich verspreche es.“<br />

Zufrieden nickte Kelly. „Gut. Es ist keine Schande, es nicht zu schaffen. Ich selbst habe<br />

auch schon zwei Mal abgebrochen.“<br />

„Aber du warst oben?“<br />

„Ja, das war ich. Insgesamt fünf Mal. Es ist unbeschreiblich.“<br />

Shawn seufzte. „Ich hoffe, ich schaffe es!“<br />

Kelly dachte angesichts seiner aufflackernden Begeisterung das Gleiche. Aber es war kei-<br />

nen Zusammenbruch wert. Gerade kam ihr Essen und sie ließen es sich schmecken. Anschlie-<br />

ßend machten sich die Beiden auf den Rückweg zu ihrem Motel. Dort setzten sie sich auf die<br />

kleine Terrasse, lauschten auf die nächtlichen Geräusche. Kelly bat:<br />

„So, es ist an der Zeit, mir zu sagen, was dir heute gelungen ist. Denk einen Moment da-<br />

rüber nach, dann erzählst du es mir. Und anschließend schreibst du es auf. Ich habe ein klei-<br />

nes Notizbuch für dich eingepackt, da wirst du jeden Abend eintragen, was du geschafft hast,<br />

okay?“<br />

Shawn nickte. „Gut.“ meinte er verschämt und sah grübelnd in die Dunkelheit hinaus. Er<br />

ließ den Tag Revue passieren und meinte schließlich: „Ich habe es geschafft, für ein paar Mi-<br />

nuten nicht an das zu denken, was ... was ich erlebt habe. Ich habe alles behalten, was du mir<br />

über eure Schlangen erzählt hast. Und ich habe es geschafft, mich auf etwas zu freuen.“ Er<br />

schwieg einen Moment und fügte hinzu: „Ich dachte, ich würde das nie wieder können.“<br />

Kelly beugte sich zu ihm und legte eine Hand auf seinen Arm. „Das wirst du wie früher,<br />

glaube mir.“<br />

*****<br />

Die Nacht verging halbwegs ruhig, Shawn fuhr nur zwei Mal keuchend aus einem Alb-<br />

traum hoch. Dementsprechend war er am kommenden Morgen ausgeschlafen. Gegen 9 Uhr<br />

machten sie sich auf den Weg zurück nach Alice. Sie suchten sich ein Diner und frühstückten<br />

63


ausgiebig. Anschließend steuerte Kelly ein Shoppingcenter an und sie deckten sich mit Le-<br />

bensmitteln, fünfzig Litern Wasser, löslichem Kaffee, reichlich Sonnencreme, einem Dusch-<br />

sack und einigen anderen Kleinigkeiten ein. Hinterher gingen sie in eine Apotheke und Kelly<br />

kaufte sechs breite, elastische Binden, Sonnenbrandsalbe, Insektenabwehrmittel, Schmerztab-<br />

letten, eine Sportsalbe für Verstauchungen und Prellungen sowie je sechs Ampullen monova-<br />

lentes Antiserum für Taipan, Brown Snake und Death Adder sowie eine Packung Einweg-<br />

spritzen. Als Shawn sie besorgt anschaute, meinte Kelly lächelnd:<br />

„Nur zur Vorsorge, keine Bange. Wenn wir da draußen jenseits von jeder Zivilisation sind,<br />

sollte man vorbereitet sein.“<br />

„Was ist denn bitte ein monovalentes Antiserum? Und wofür sind die vielen elastischen<br />

Binden?“, wollte Shawn wissen. Kelly erklärte:<br />

„Schon mal von der Pressure Immobilization Technique gehört? Die wurde hier in Austra-<br />

lien entwickelt. Man geht davon aus, dass, wenn man von einem Gifttier in eine der Extremi-<br />

täten gebissen wird, eine rasche Ausbreitung des Giftes in das Gewebe und den Blutkreislauf<br />

durch einen festen Verband mit einer elastischen Binde verhindert wird. Die Zeit, die dadurch<br />

gewonnen wird, hat mit Einführung dieser Methode bei Schlangen- und Spinnenbissen die<br />

Mortalitätsrate drastisch gesenkt. Wenn ich im Outback unterwegs bin, habe ich immer Bin-<br />

den bei mir.“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Hab ich noch nichts von gehört. Wird der Arm oder das Bein<br />

damit abgebunden, oder wie?“<br />

„Nein, nicht wirklich abgebunden. Wie bei einer Verstauchung wird ein fester, aber nicht<br />

abschnürender Verband von der Bissstelle aufwärts um das betroffene Glied gewickelt.“<br />

Der Schauspieler nickte verstehend. „Aha.“<br />

Kelly erklärte weiter: „Gut. Seren ... Es gibt zwei Arten von Antivenom. Ein sogenanntes<br />

monovalentes, das heißt, speziell auf einen Schlangentyp abgestimmtes, und ein polyvalentes<br />

Serum, welches auf sehr viele unterschiedliche Komponenten eines Schlangen- oder Spinnen-<br />

giftes wirkt. Dieses kann variabel eingesetzt werden, wenn die genaue Art der Schlange nicht<br />

zu bestimmen ist. Natürlich helfen monovalente Seren besser.“ Sie wandte sich zurück zum<br />

Apotheker und bat noch um je vier Ampullen Prednisolon, Adrenalin und um vier Beutel kris-<br />

talloides Volumenmittel.<br />

Sie hatten alles zusammen, was sie benötigten und kehrten zum Wagen zurück. Kelly ver-<br />

staute die Medikamente in einer von der Autobatterie gespeisten Kühlbox und verschloss die-<br />

se gewissenhaft. Eine weitere Kühlbox wurde mit verderbliche Lebensmittel, von denen sie<br />

nur wenig bei sich hatten, gefüllt. Shawn fragte neugierig: „Was sind das andere denn noch<br />

für Medikamente, sag mal?“<br />

„Prednisolon, Adrenalin und Volumenmittel sind zur Behandlung anaphylaktischer<br />

Schocks. Leider ist die Wahrscheinlichkeit, auf Antiseren mit einem anaphylaktischen Schock<br />

zu reagieren, ziemlich groß. Daher muss man auch gegen derartige Fälle gewappnet sein. Wir<br />

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werden es sicher nicht benötigen, aber dabei haben sollte man es schon. Okay, es kann natür-<br />

lich nicht von jedem x-beliebigen Menschen angewendet werden, aber ich bin Ärztin und<br />

kann es verwenden.“ Sie sah Shawn an. „So, bereit für das Abenteuer deines Lebens?“<br />

Shawn nickte. „Absolut!“<br />

*****<br />

Eine Stunde später standen sie am Tropic of Capricorn und sahen sich das Monument an.<br />

Hier bekam Shawn einen ersten echten Eindruck, wie es in den nächsten Tagen um ihn herum<br />

aussehen würde. Zwar lag das Monument am Highway, aber weit und breit war kein anderer<br />

Besucher zu sehen. Abgesehen von den leisen Geräuschen eines lauen Windes war kein Laut<br />

zu hören. Beeindruckt sagte Shawn:<br />

„Es ist so wundervoll friedlich hier draußen, da kann man vergessen, dass es Hektik,<br />

Stress und Horror gibt.“<br />

Kelly nickte. „Ja, wenn man erst einmal im Outback ist, kommt man sich vor wie der letz-<br />

te Mensch auf Erden. Wir werden direkt nach Norden fahren und schließlich von Darwin aus<br />

zurückfliegen. Wie viel Zeit wir uns nehmen, bleibt uns überlassen. Wir können eine Woche<br />

oder einen Monat oder noch länger fahren, wie wir wollen. Niemand drängt uns, niemand<br />

erwartet uns.“<br />

Shawn lehnte sich an den Wagen, sah sich um und meinte: „Das hört sich wundervoll an.<br />

Ich glaube fast, hier draußen ...“ Peinlich berührt verstummte er.<br />

den.“<br />

„Was?“, hakte Kelly nach.<br />

„Ich denke, hier draußen kann ich ...“ Er atmete tief durch und fuhr fort: „... Frieden fin-<br />

Kelly umarmte den jungen Mann spontan. Ruhig sagte sie: „Das wirst du. Davon bin ich<br />

überzeugt.“<br />

Sie setzten sich ins Auto und Kelly steuerte erst einmal zurück nach Alice, um sich auf<br />

den Highway 87 zu klemmen. 180 Kilometer durch das rote Zentrum Australiens lagen vor<br />

ihnen. Der Stuart Highway verlief fast schnurgerade und rechts und links der Straße präsen-<br />

tierte sich das Land karg, mit wenigen Bäumen und Büschen, die die mörderische Hitze über-<br />

lebten. Kelly hielt ab und zu an, um Shawn Gelegenheit zu geben, das Land in sich aufzu-<br />

nehmen. Sie hatten Zeit, es war gerade erst 13 Uhr. Shawn machte immer wieder Fotos und<br />

als sie gegen 14 Uhr die kleine Ortschaft Erldunda erreichten, erklärte Kelly:<br />

„Von hier aus sind es noch knapp 250 Kilometer bis Yulara.“ Shawn, der gerade ein Foto<br />

von der Kreuzung des Stuart Highway mit dem Lasseter Highway machte, fragte:<br />

„Soll ich mal fahren?“<br />

65


Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, das ist kein Problem. Ich bin es gewohnt zu fahren,<br />

weißt du. Genieß du nur die Landschaft. Mach deinen Kopf frei, du hast nichts weiter zu tun,<br />

als dich zu erholen.“<br />

Verlegen nickte Shawn. „Okay. Aber wenn du nicht mehr kannst, ich fahre gerne weiter.“<br />

„Das weiß ich. Wir sollten hier eine Tasse Kaffee trinken, was meinst du?“<br />

Shawn stimmte zu. „Gerne, Kaffee wäre nicht schlecht.“<br />

Kelly steuerte das Erldunda Roadhouse an und Minuten später saßen sie bei einer Tasse<br />

Kaffee im klimatisierten Restaurant. Außer ihnen befanden sich noch einige Überseetouristen<br />

und zwei Trucker in dem großen Raum.<br />

„Das muss ein unglaublich harter Job sein, mit einem Truck durch diese Einöde zu fah-<br />

ren.“ meinte Shawn und beobachtete die Fahrer aus dem Augenwinkeln.<br />

„Ja, das ist es. Speziell in der Regenzeit, da sind viele Abschnitte der Highways überflutet.<br />

Man kann nie so richtig abschätzen, wie tief es in den Senken ist und viele Trucks bleiben<br />

stecken, weil die Benzinpumpen ins Wasser geraten.“<br />

Als sie sich wieder auf den Weg machten, nutzte Shawn noch schnell die Gelegenheit, ein<br />

Straßenschild mit Kilometerangaben zu fotografieren.<br />

„Na, dann wollen wir mal, sonst ist es dunkel, bevor wir ankommen.“ Das Land wurde<br />

fast noch karger und Kelly gab mehr Gas. Einmal sahen sie in der Ferne eine kleine Herde<br />

Kamele.<br />

„Was ist denn das? Kamele in Australien?“, meinte Shawn schmunzelnd.<br />

„Ja, sie leben hier in großen Herden. Und kommen gut zurecht.“ Nach einiger Zeit tauch-<br />

ten vor ihnen in der flimmernden Luft ein paar Gebäude auf.<br />

„Was ist das denn?“, fragte Shawn staunend.<br />

„Das ist das Mount Ebenezer Roadhouse. Diese winzigen Ansiedlungen gibt es entlang<br />

der Highways immer wieder. Irgendwo muss man ja mal tanken.“, erklärte Kelly. Sie hielten<br />

in der winzigen Ortschaft nicht an, sondern fuhren gleich weiter.<br />

„Himmel, da möchte ich aber nicht wohnen müssen.“, meinte Shawn grinsend. „Da ist<br />

man lebendig begraben.“<br />

Kurz hinter der Tankstelle sichtete Kelly etwas, was sie zu einer Vollbremsung auf dem<br />

Seitenstreifen veranlasste.<br />

„Sie mal dort! Da kommt ein Road Train, ein Großer!“ Sie stieg aus und Shawn sprang<br />

ebenfalls aus dem Wagen, den Fotoapparat in der Hand. Das riesige Gefährt rauschte auf sie<br />

zu. Shawn vergaß vor Staunen das Fotografieren und so nahm Kelly ihm die Kamera ab und<br />

machte ein paar Fotos. Es war ein Shell Truck mit vier Anhängern.<br />

66


„Wahnsinn!“, stieß Shawn begeistert hervor. Der Fahrer machte sich den Spaß, die beiden<br />

Zuschauer mit einem lauten Tröten zu Grüßen. Fröhlich winkte Kelly und schon war der Spuk<br />

vorbei. Schnell verschwand der riesige LKW in der Ferne.<br />

„Meine Herren, was sind das für Fahrzeuge!“, meinte Shawn beeindruckt.<br />

„Ja, die metzeln alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellt. Sie haben nicht den Hauch<br />

einer Chance, etwa für Tiere oder PKWs zu bremsen. Bis sie stehen, ist ohnehin alles zu<br />

spät.“<br />

Sie stiegen in ihren Wagen zurück und Kelly fuhr zügig weiter. Shawn nickte ein wenig<br />

ein, wurde aber wach, als Kelly erneut anhielt. Sie stellte den Wagen an den Straßenrand und<br />

sagte:<br />

„Da hinten, das ist Mount Conner, er wird häufig mit dem Ayers Rock verwechselt.“<br />

Shawn sah aus dem Wagenfenster und griff nach seiner Kamera. Zusammen stiegen sie aus<br />

und gingen ein kleines Stück den staubigen Sandweg, der zu dem Sandsteinfelsen führte, ent-<br />

lang. Kelly erzählte:<br />

„Der Legende der Aborigines nach lebt auf dem Mount Conner, den sie Arttila nennen,<br />

der Eismann. Der Eismann ist es, der dafür sorgt, dass die Temperaturen im Winter nachts auf<br />

unter null Grad sinken. Conner ist 350 Meter hoch und nicht ganz 3 Kilometer lang.“<br />

Shawn hörte interessiert zu. Er sah Kelly an und meinte beeindruckt: „Du weißt gut Be-<br />

scheid, selbst für eine Australierin. Hast du dich immer so für deine Heimat interessiert?“<br />

Kelly lachte vergnügt. „Wenn ich das hätte, würde ich mich perfekt in Virginia auskennen.<br />

Ich wurde in Charlottesville geboren, weißt du.“<br />

„Was? Du bist gar keine Australierin?“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „So wenig wie du.“<br />

Shawn lachte. Das erste Mal, seit er bei Kelly war, lachte er, fröhlich, ansteckend. „Ich<br />

hätte schwören können, du bist eine!“, sagte er.<br />

Kelly freute sich, dass er zum ersten Mal vergnügt Lachen konnte. Er wurde zwar schnell<br />

wieder ernst, aber ein Anfang war gemacht!<br />

*****<br />

Als sie gegen 18.30 Uhr endlich Yulara erreichten steuerte Kelly das größte Motel, das<br />

Ayers Rock Resorts an und hier hatten sie keine Schwierigkeiten, ein Doppelzimmer zu be-<br />

kommen. Nachdem sie ihre Sachen ins Zimmer geschafft hatten, eilten sie ins Resort Restau-<br />

rant und ließen sich mit Steaks verwöhnen. Nach dem Essen gingen sie noch eine Weile spa-<br />

zieren, sahen sich den fast ausschließlich aus Motels bestehenden Ort an. Um 21 Uhr erreich-<br />

ten sie ihr Zimmer und nachdem Shawn überlegt hatte, was ihm im Laufe des Tages gelungen<br />

war erklärte Kelly:<br />

67


„Wir sollten uns hinlegen, morgen klingelt der Wecker um 5 Uhr.“ Sie waren beide müde,<br />

das lange Fahren hatte angestrengt, und so fiel es ihnen nicht schwer, sich ins Bett zu legen<br />

und schnell einzuschlafen. Mitten in der Nacht fuhr Kelly erschrocken aus dem Schlaf hoch,<br />

als Shawn neben ihr im Traum verzweifelt schrie. Sie weckte den jungen Mann auf und sagte<br />

beruhigend:<br />

gut.“<br />

„Hey, ist gut, Schätzchen, du hast einen Albtraum gehabt. Komm, leg dich hin, alles ist<br />

Zitternd und heftig atmend ließ Shawn sich in die Waagerechte ziehen. Langsam beruhigte<br />

er sich und schnaufte verzweifelt:<br />

„Ich habe die Nase so voll davon, jede verdammte Nacht diesen Scheiß zu Träumen! Ich<br />

möchte so gerne mal wieder durch schlafen, ohne schweißnass aufzuwachen!“<br />

Kelly konnte das so gut verstehen. Tröstend sagte sie:<br />

„Ich weiß, dass es schwer ist, aber du wirst wieder ohne böse Träume schlafen, du musst<br />

nur Geduld haben.“ Sie hielt den Schauspieler liebevoll im Arm und strich ihm beruhigend<br />

mit der Hand über den Rücken. Zweifelnd fragte er:<br />

„Denkst du? Im Moment hab ich das Gefühl, ich werde nie mehr eine ruhige Nacht ohne<br />

Albträume verbringen.“<br />

5) Dreamtime<br />

Dreams are journeys that take one far from familiar shores, strengthening the<br />

heart, empowering the souls.<br />

Übermüdet schlief er in Kellys Arm liegend ein. Kelly selbst schlief nach einer Weile<br />

ebenfalls erneut ein und wachte auf, als der Wecker um 5 Uhr klingelte. Erschrocken zuckte<br />

sie hoch und schlug dem aufdringlichen Gerät energisch auf den Aus-Knopf. Shawn stöhnte<br />

genervt.<br />

„Ist es echt schon 5 Uhr?“, nuschelte er müde. Kelly streckte sich, so gut es mit Shawn im<br />

Arm ging, und sagte munter:<br />

„Ja, ist es. Wir haben heute Morgen etwas vor, also, raus aus den Federn!“<br />

Gespielt nörgelig maulte Shawn: „Alte Sklaventreiberin!“ Doch er stand schnell auf und<br />

verschwand im Bad. Zehn Minuten später war er frisch geduscht und nun konnte Kelly eben-<br />

falls duschen. Sie aßen Sandwiches zum Frühstück, die sie sich am Abend aus dem Restau-<br />

rant mitgenommen hatten. Als sie satt waren, füllten sie den großen fünfzig Liter Duschsack<br />

und montierten ihn auf dem Wagendach.<br />

„So ist das Wasser heute Abend schön warm.“, erklärte Kelly. Sie stiegen in den Wagen<br />

und waren um kurz nach halb 6 Uhr auf dem Weg zum Uluru. Die mehr als 10 Kilometer hat-<br />

68


ten sie zügig geschafft und endlich standen sie vor dem riesigen Sandsteinfelsen. Sie stopften<br />

genug Wasserflaschen in zwei kleine Rucksäcke und Kelly fragte:<br />

„Und, bereit?“<br />

Shawn nicke. „Ja, ich bin bereit.“<br />

„Denkst du an dein Versprechen?“<br />

Erneut nickte der junge Mann. „Ja, das tue ich. Ich werde Bescheid sagen, wenn ich das<br />

Gefühl habe, nicht weiter zu können.“<br />

„Gut. Dann lass es uns versuchen. Wir haben Zeit, niemand treibt uns.“<br />

Mit einigen anderen Touristen machten sich Kelly und Shawn auf den anstrengenden,<br />

kräftezehrenden Weg. Ein Band aus Stahlketten war die einzige Hilfe, die es für die Kletterer<br />

gab. Die Gruppe verteilte sich schnell und bald stapften Kelly und Shawn allein mühsam<br />

bergan. Die Sonne ging auf und zu der anstrengenden Wanderung würde in Kürze drückende<br />

Hitze kommen. Unterhalten taten sich die Beiden nicht, sie sparten die Luft, um weiter berg-<br />

auf zu steigen. Shawn war überrascht, wie steil es hinauf ging. 350 Meter hörten sich nicht<br />

schlimm an und insgeheim hatte er Kellys warnenden Worte für übertrieben gehalten. Er war<br />

zwar weit entfernt von seiner ehemaligen Form, um so einen Hügel zu besteigen, reichte es<br />

aber allemal, hatte er gedacht. Doch nach einer halben Stunde hatte er das unangenehme Ge-<br />

fühl, nicht den Ayers Rock, sondern den Nanga Parbat 6 besteigen zu müssen. Er kämpfte mit<br />

jedem Atemzug und seine Beine zitterten so stark, dass er befürchtete, jeden Moment zusam-<br />

men zu sacken. Keuchend bat er:<br />

„Können wir eine Pause machen?“<br />

Kelly blieb stehen und sah Shawn besorgt an. „Gerne, kein Problem.“<br />

Sie setzten sich auf den noch kühlen Sandstein und tranken ausgiebig Wasser. Als Shawns<br />

Atem sich beruhigt hatte und seine Beine nicht mehr zitterten sagte er:<br />

„Okay, meinetwegen können wir weiter.“<br />

Sie machten sich wieder auf den Weg. Sie ließen sich Zeit, hielten hier und da kurz an und<br />

gegen 8.30 Uhr hatten sie es tatsächlich geschafft. Shawn war am Ende seiner Kräfte, aber er<br />

hatte durchgehalten. Er war unendlich glücklich, dass er es geschafft hatte! Nebeneinander<br />

setzten sie sich am nördlichen Rand des Felsplateaus in die Sonne und ruhten sich gründlich<br />

aus. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis Shawn nicht mehr das Gefühl hatte, statt mit der<br />

Lunge nur noch mit der Milz atmen zu können. Seine Beine brauchten ebenso lange, um nicht<br />

mehr vor Überanstrengung derart zu zittern, dass er Angst hatte, jeden Moment in sich zu-<br />

sammen zu sacken. Als er sich gefangen hatte, begann der Schauspieler, sich umzusehen. Der<br />

Ausblick war überwältigend! Vorsichtig stemmte er sich auf die Füße. Kelly erhob sich eben-<br />

falls. Sie sah besorgt zur Sonne hoch, die gleißend am Himmel stand. Energisch drückte sie<br />

6 Der Nanga Parbat – auch unter dem Namen Diamir (‚König der Berge‘) bekannt, ist ein Berg im Westhimalaya, im pakistanischen Teil<br />

der Kashmir Region. Er ist mit 8.125 Metern Höhe der neunthöchste Berg der Erde.<br />

69


Shawn seinen Hut auf den Kopf, den dieser geistesabwesend in der Hand gehalten hatte.<br />

Shawn sah sie an und lächelte entschuldigend.<br />

„Sorry, hab ich nicht dran gedacht.“<br />

Kelly grinste gehässig. „Zum Denken hast du zum Glück mich.“<br />

Über Shawns Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das auch seine Augen erreichte.<br />

„Das stimmt. Danke, dass du mich hierher gebracht hast!“<br />

„Habe ich mehr als gerne gemacht. So, und jetzt solltest du dich umschauen, ewig können<br />

wir uns hier nicht aufhalten, fürchte ich, es wird heiß. Und denke nicht, der Abstieg sei nicht<br />

anstrengend, das wird ebenfalls ein hartes Stück Arbeit.“<br />

Sie umrundeten zusammen das Plateau und Shawn machte viele Fotos. Er hatte sich in<br />

Alice reichlich mit Speicherkarten eingedeckt, sodass er bedenkenlos Fotografieren konnte.<br />

Immer wieder blieb er stehen und ließ seinen Blick in die unendliche Weite des australischen<br />

Outbacks gleiten.<br />

„Es ist unbeschreiblich.“, sagte er leise.<br />

„Ja, das ist es. Siehst du, dort hinten, das ist Kata Tjuta oder die Olgas.“<br />

Shawn folgte Kellys Finger und konnte im Dunst der Morgensonne in einiger Entfernung<br />

die seltsame Bergformation der Olgas erkennen. „Wie weit sind die entfernt?“, fragte er und<br />

Kelly erklärte:<br />

„Ungefähr 30 Kilometer. Sie sind unser nächstes Ziel.“<br />

„Kann man sie besteigen?“ fragte Shawn zaghaft.<br />

„Ja, kann man, wenn die Muskeln einem nach dem Uluru noch gehorchen.“<br />

Shawn machte: „Hm ...“ Noch einmal sah er sich um und erklärte endlich: „Lass uns erst<br />

mal unten sein, dann werden wir sehen, wozu meine Muskeln morgen noch fähig sind, okay?“<br />

Kelly nickte. „Das scheint mir ein vernünftiger Vorschlag zu sein. Na, es wird mit jeder<br />

Minute wärmer, ich denke, wir sollten uns auf die Socken machen. Ich habe kein Interesse<br />

daran, hier einen Hitzschlag zu bekommen.“<br />

Zusammen mit den ersten anderen Besuchern machten sie sich an den Abstieg. Noch deut-<br />

licher konnte man nun erkennen, wie steil es war!<br />

„Warum kommen gar keine Leute mehr hoch?“, fragte Shawn und sah Kelly an.<br />

„Das kann ich dir sagen. An heißen Tagen wird der Aufstieg zwischen 9 und 16 Uhr ge-<br />

schlossen. Ebenso an windigen oder regnerischen Tagen. Da kommt man gar nicht hier hin-<br />

auf.“<br />

„Ist sicher besser. Ich möchte nicht mehr bergan müssen, es ist unglaublich heiß.“ Shawn<br />

wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er spürte ein schmerzhaftes ziehen in den Waden und<br />

schüttelte genervt den Kopf. „Ich muss etwas gegen meine mickerige Kondition unternehmen.<br />

Ich habe das ungute Gefühl, keinen einzigen funktionstüchtigen Muskel im Körper zu ha-<br />

70


en!“, knurrte er giftig. Langsam stiegen sie weiter und gegen 11.30 Uhr hatten sie es endlich<br />

geschafft. Shawn sackte im Schatten des Berges ächzend zu Boden und machte sich stöhnend<br />

lang.<br />

„Man, bin ich fertig!“, keuchte er. „Aber das war das Großartigste, was ich bisher ge-<br />

macht und gesehen habe!“ Kelly war ebenfalls erschöpft und ließ sich neben Shawn in den<br />

roten Sand sinken. Sie tranken den Rest ihres Wassers und gönnten sich eine ausgiebige Pau-<br />

se, bevor sie zu ihrem Wagen hinüber gingen, der in der prallen Sonne auf dem inzwischen<br />

vollen Parkplatz stand. Kelly warf den Wagen an. Sie stellten sich noch eine Weile neben das<br />

Fahrzeug und warteten, bis die Air Condition die Temperatur auf ein erträgliches Maß herun-<br />

ter gekühlt hatte. Shawn sah gedankenverloren zum Berg hinüber.<br />

„Ich werde diesen Tag nie vergessen, da bin ich sicher. Du ahnst nicht, wie dankbar ich<br />

dir bin, dass du mich hergebracht hast!“<br />

Kelly war gerührt. „Das habe ich gerne gemacht. Ich denke, es war eine gute Idee, diesen<br />

Ausflug zu machen. Weit ab von allem wird es dir leichter fallen, das Trauma der Entführung<br />

zu überwinden, davon bin ich überzeugt. Hier draußen zählt der Rest der Welt nicht mehr.<br />

Wenn wir erst dort ...“ Sie deutete vage in die Unendlichkeit, die sie umgab: „... sind, wirst du<br />

loslassen können. Und dann werden wir beginnen, alles aufzuarbeiten.“<br />

Shawn nickte. „Ich habe Angst davor.“ sagte er bedrückt.<br />

„Das ist verständlich, aber es wird leichter werden mit der Zeit.“ Sie öffnete den Wagen<br />

und testete kurz, wie warm es in seinem Inneren noch war. Doch die Klimaanlage hatte ganze<br />

Arbeit geleistet. „Fühlt sich gut an. Lass uns starten, was meinst du?“<br />

Shawn nickte. „Ja, meinetwegen gerne. Auf geht’s.“<br />

Sie stiegen ein und machten sich auf den Weg zum Highway zurück. Nach kurzer Zeit war<br />

der Wagen über und über mit dem roten Staub des Outbacks bedeckt. Als sie die Hauptstraße<br />

erreicht hatten fragte Kelly:<br />

„Bist du mal Off Road gefahren?“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Nein, noch nie.“<br />

„Na, du wirst es lernen. Es erfordert eine Menge Können, sonst liegt man schneller auf der<br />

Seite als einem lieb ist. Ich habe schon einige Male auf der Seite gelegen.“ Sie grinste. „Ein-<br />

mal habe ich mich komplett überschlagen, im Zeitlupentempo. Das war spannend!“<br />

„Spannend?“ Shawn sah Kelly an und zeigte ihr einen Vogel.<br />

Kelly lachte. „Du wirst es erleben!“<br />

„Danke! Ich glaube, auf die Erfahrung kann ich verzichten.“, grinste er. Ein letztes Mal<br />

drehte er sich herum und Kelly tat ihm den Gefallen, am Straßenrand anzuhalten.<br />

„Sieht wie eine Insel aus.“, meinte Shawn und machte ein letztes Foto. Kelly gab Gas und<br />

machte sich ernsthaft auf den Weg.<br />

71


Einen Weile schwiegen beide, dann fragte Kelly:<br />

„Hast du mal von der Aborigine Dreamtime gehört?“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Nein, was ist das?“<br />

„Die Traumzeit beschreibt die Schöpfungsgeschichte und viele andere Mythen der Abori-<br />

gines. Die Traumzeitgeschichten sind mehrere Zehntausend Jahre alt. Das Land um den Uluru<br />

und die Olgas ist den Aborigines heilig. Der Uluru-Mythos zum Beispiel ist ein Mythos der<br />

Traumzeit. Den Uluru gab es zu Beginn der Schöpfung in den Vorstellungen der Aborigines<br />

nicht in der heutigen Form. Er wird in zwei mythische Hälften geteilt: In die Sonnenaufgangs-<br />

seite, Djindalagul, und in die Sonnenuntergangsseite, Wumbuluru. In der Geschichte wird<br />

vom Kampf der Liru, der Giftschlangen-Menschen, und der Kunia, der Teppichschlangen-<br />

Menschen, berichtet. Der Mythos erklärt die Form und Bildung des Uluru, speziell der Mutit-<br />

jilda-Schlucht. In ihr wohnt die Regenbogenschlange Wanambi, die bedeutendste Traumzeit-<br />

figur der Aborigines. Das Land des heutigen Uluru war zu Anbeginn der Zeit flach und es gab<br />

nur das Uluru-Wasserloch und die Mutitjilda-Quelle, an der die Wanambi-Menschen lebten.<br />

Auf der Sonnenseite wohnten die Mala, die Hasenkänguru-Menschen, und auf der Schatten-<br />

seite die Kunia, die Teppichschlangen-Menschen. Zwischen ihnen herrschte Harmonie und<br />

Frieden. In einiger Entfernung lebten die Windulka, die Mulgasamen-Menschen. Diese beab-<br />

sichtigten eines Tages, mit ihren jungen Leuten eine Initiationszeremonie durchzuführen und<br />

ließen ihre Nachbarn durch den Glockenvogel einladen. Der Glockenvogel flog also zu beiden<br />

Stämmen und überbrachte die Einladungen. Die Mala sagten jedoch ab, da sie eigene Initiati-<br />

onen durchführen wollten und baten selbst die Kunia, zu ihnen zu kommen. Die Kunia nah-<br />

men die Einladung an und reisten ab. Sie kamen bis ans Uluru-Wasserloch, um zu übernach-<br />

ten. Am Wasserloch begegneten sie den schläfrigen Echsenfrauen, den Sleepy-Lizard-<br />

Women. Sie verliebten sich in diese und blieben bei ihnen. Gemeinsam ließen sie sich an der<br />

Quelle nieder. Die Mulgasamen-Leute warteten vergeblich auf die Mala und die Kunia und<br />

schickten besorgt abermals den Glockenvogel los, der sich erkundigten sollte, warum Mala<br />

und Kunia nicht zu ihrer Veranstaltung kamen. Die Kunia gaben zu verstehen, dass sie nun-<br />

mehr siedeln wollten und die Mala betonten, dass sie ihre eigenen Zeremonien der Initiation<br />

vorbereiten. Die Mulgasamen-Leute waren verärgert und wollten beide Stämme bestrafen.<br />

Sie erschufen zur Bestrafung der Nachbarn einen teuflischen Dingo und so entstand ein<br />

Kulpunya, ein Hund mit riesigen Zähnen und ohne Haare, der bösartiger als ein Krokodil war.<br />

Der Teufelshund erreichte den Uluru in der größten Mittagshitze, als alle schliefen, und tötete<br />

viele der Mala, obwohl Lorin, die Eisvogelfrau, die als Einzige wach geblieben war, sie noch<br />

warnte. Die Überlebenden vertrieb Kulpunya vom Uluru und das Symbol der Mala, Kedrun,<br />

der Adlerjunge, wurde zum Symbol der Sterblichkeit. Die Mulgasamen-Männer wollten aber<br />

auch die Kunia bestrafen. Dafür beauftragten sie die Liru, die Giftschlangen-Menschen, und<br />

weitere Kämpfer, die am Kata Tjuta lebten, diese Bestrafung vorzunehmen.. Angeführt von<br />

72


Kulikitjeri kämpften die Liru und ihre Helfer gegen die Kunia, die von Ungata angeführt wur-<br />

den. In der folgenden Schlacht wurde Kulikitjeri schwer verletzt. Doch es gelang ihm noch,<br />

Ungata durch seinen Speer ebenfalls zu verletzen. Ungata starb und die Kunia zogen sich gen<br />

Osten zurück. Ingridi, Ungatas Mutter, spuckte daraufhin die mystische Substanz Arukwita<br />

auf ihre Waffe, einen Grabstock, der damit unsichtbar wurde. Mit diesem unsichtbaren Stock<br />

schlug sie Kulikitjeri die Nase ab. An dieser Verletzung starb er. Sein Tod gab den Kunia Mut<br />

und sie kamen zurück, um weiter zu kämpfen. Einem der Liru-Männer gelang es, im Dorf der<br />

Sleepy-Lizard-Frauen Feuer zu legen. Damit fand der Kampf ein Ende. Der Verlust ihres An-<br />

führers ging den Kunia in der Folge so zu Herzen, dass sie sich in den Tod sangen. Das ganze<br />

Geschehen, nämlich der Kampf, die Selbstmorde und das Feuer verursachte im Erdinnern<br />

eine derart massive Bewegung, dass es sich mit der Asche des Lagers verband und den Uluru<br />

hervorhob. Damit war der Geist der Mala und Kunia zu Stein geworden.<br />

Der mystische Zyklus ist für die Aborigine auf immer im Gestein des Uluru für sie er-<br />

kennbar eingeprägt. So sind in der Mutitjilda-Schlucht die Erinnerungen des Kampfes zwi-<br />

schen Liru und Kunia topografisch ausgebildet. An den Felslöchern weit oben am Uluru ver-<br />

blutete damals Ungata. Das Regenwasser, das die Wasserlöcher füllt und durch die Schlucht<br />

fließt, ist Ungatas Blut. Am Felshang sind Stellen durch Hämatit stark rot gefärbt. Dieses Rot<br />

benutzte Ingridi nach dem Tod ihres geliebten Sohnes, um als Zeichen ihrer Trauer ihren<br />

Körper zu bemalen. Die weißen Flecken werden als die mythische Substanz Arukwita gedeu-<br />

tet, die Ingridis Waffe unsichtbar machte. Die abgespaltene Nase Kulikitjeri liegt als Felsab-<br />

bruch in der Schlucht. Auf der östlichen Seite stellen drei Spalten im Stein die Wunden dar,<br />

die Ungata Kulikitjeri zufügte.<br />

Weitere Traumzeitgeschichten um den Uluru sind zum Beispiel Tjatis Versuche, sein Kali<br />

wiederzubekommen. In der Schöpfungszeit kam Tjati, die kleine rote Echse, die in den Mul-<br />

gi-Ebenen lebte, eines Tages zum Uluru. Als sie ihr Kali warf, ein gebogenes Wurfholz, das<br />

zum Jagen verwendet wurde, blieb es dummerweise tief in der Oberfläche des Felsens ste-<br />

cken. Tjati versuchte vergeblich, es mit den Händen auszugraben und hinterließ bei den Ver-<br />

suchen auf der Nordwestseite des Uluru eine Reihe schüsselförmiger Aushöhlungen. Nicht in<br />

der Lage, ihr Kali aus dem Stein zu bekommen, starb Tjati schließlich in seiner Höhle bei<br />

Kantju. Ihre Überreste liegen als große Felsbrocken auf dem Boden der Höhle. Eine andere<br />

Geschichte erzählt von Mita und Lungkata und ihrem Emu-Mahl. Die Glockenvogel-Brüder<br />

pirschten sich eines Tages auf der Jagd an einen Emu heran. Das aufgeschreckte Tier floh<br />

nordwärts zum Uluru. Zwei blauzüngige Echsenmänner, eben Mita und Lungkata, erlegten es<br />

und zerteilten es mit ihren Steinäxten. Große Fleischstücke davon finden sich auf der Südost-<br />

seite des Uluru als Bruchstücke von Sandsteinplatten. Als die Glockenvogel-Brüder den<br />

Schauplatz erreichten, gaben die Echsenmänner ihnen nur ein kleines Stückchen des Emus<br />

73


und erklärten, mehr sei nicht da. Aus Wut setzten die Glockenvogel-Brüder den Unterstand<br />

der Echsen in Brand. Mita und Lungkata versuchten zwar, zu entkommen, indem sie die<br />

Felswand hinaufkletterten, doch sie stürzten ab und verbrannten. Die graue Flechte an der<br />

Felswand ist der Rauch des Feuers und die Echsenmänner sind zwei halb im Boden liegende<br />

Felsbrocken.“<br />

Shawn hatte fasziniert zugehört.<br />

„Das sind wundervolle Geschichten! Woher kennst du sie?“, fragte er begeistert.<br />

„Ich habe sie von den Aborigines gelernt. Es gibt unzählige Mythen und Legenden. Alle<br />

kenne ich selbstverständlich nicht, aber die Wichtigsten sind mir bekannt. Die Aborigines<br />

dulden es nur ungerne, dass viele ihrer Heiligtümer zum Teil für Touristen freigegeben sind.<br />

Da sie aber ebenfalls vom Tourismus profitieren, nehmen sie es zähneknirschend in Kauf. Sie<br />

dürfen selbst bestimmen, an welchen Plätzen sie Touristen zulassen.“<br />

Shawn nickte verstehend. „Das ist gut, so haben sie einiges in der Hand.“ Er dachte über<br />

das Gehörte nach und wurde von Kelly aus den Gedanken gerissen.<br />

„Wir werden bei den Olgas übernachten. Wir suchen uns einen schönen Platz und stellen<br />

das Zelt auf. So können wir morgen früh in aller Ruhe alles anschauen. Heute wird es zu spät,<br />

es ist zu heiß, um draußen lange herumzuturnen.“<br />

„Ja, ich glaube nicht, dass ich heute noch imstande sein werde, mehr als ein paar Schritte<br />

zu machen.“, erklärte Shawn verlegen.<br />

„Du wirst morgen wohl Muskelkater haben. Tröste dich, ich ebenso, das weiß ich. Da hilft<br />

nur eins: Gleich weiter machen.“<br />

Von Shawn kam nur ein leises Ächzen. Kelly lachte.<br />

„Na komm, so ein Schlaffie bist du nun auch nicht!“<br />

Genervt grummelte Shawn: „Na, ich weiß nicht. Ich dachte vorhin, ich breche jeden Mo-<br />

ment zusammen.“ Unglücklich verstummte er.<br />

„Shawn, du hattest während der Gefangenschaft sicher keine Gelegenheit, dich sportlich<br />

zu betätigen. Da ist es normal, dass man außer Form gerät. Gerade, wenn man vor einer sol-<br />

chen Pause intensiv Sport getrieben hat. Bei Sportlern erschlafft die Muskulatur deutlich<br />

schneller als bei Menschen, deren Körper es nicht gewohnt sind, sich aktiv zu betätigen. Du<br />

wirst wieder fit sein, wenn wir den Trip beenden, glaub mir.“ Sie deutete nach vorne. „Schau<br />

dir mal den Anblick an!“ Vor ihnen waren die Olgas jetzt deutlich zu erkennen. Sofort besser-<br />

te sich Shawns Laune.<br />

„Großartig!“, stieß er hervor. „Wie alt das alles wohl sein mag?“<br />

Kelly erklärte: „Das Alter des Uluru wird von Experten auf 500 Millionen Jahre geschätzt.<br />

Genau so alt sind die Olgas.“<br />

„Wahnsinn. Der Grand Canyon wird auf fünf bis sechs Millionen Jahre geschätzt! Unvor-<br />

stellbar, dass das hier hundert Mal so alt ist!“<br />

74


Vor ihnen tauchte der Abbieger zum Kata Tjuta auf und sie verließen die Hauptstraße.<br />

Schließlich hatten sie die gewaltigen Sandsteingebilde erreicht.<br />

„Wir suchen uns einen schönen Platz, wo wir das Zelt aufbauen und wenn es nachher küh-<br />

ler wird, können wir noch ein kleines Stück laufen, was meinst du?“<br />

„Gerne. Schatten werden wir hier wohl nicht im Übermaß finden, also ist es egal, wo wir<br />

übernachten.“ Shawn sah sich um und entdeckte tatsächlich eine schattige Stelle ein Stück vor<br />

ihnen. Einige Bäume fristeten hier ihr eher kärgliches Dasein.<br />

„Wenn der Boden dort gut ist, können wir es da versuchen.“, stimmte Kelly zu. Sie fuhren<br />

hinüber zu der kleinen Baumgruppe und stellten fest, dass der Boden frei von Steinen war.<br />

„Sieht gut aus. Lass uns das Zelt hier aufbauen.“, erklärte Kelly. Eine halbe Stunde später<br />

stand das Zelt und der kleine Gaskocher, den sie bei sich führten, brannte. Kelly setzte Wasser<br />

auf und kurze Zeit später hatten beide eine Tasse Kaffee in der Hand.<br />

„Hör mal, Shawn, ich möchte gerne mit dir durchgehen, was im Falle eines Schlangenbis-<br />

ses zu tun ist, okay. Du musst unbedingt wissen, wie du dich zu verhalten hast, sowohl wenn<br />

du gebissen wirst, als auch wenn es mich treffen sollte.“<br />

Shawn schnaufte angespannt. „Okay, puh. Lass hören.“ Seht konzentriert lauschte er Kel-<br />

lys Worten.<br />

„Das wichtigste überhaupt: Wenn es wider Erwarten dazu kommen sollte, dass du gebis-<br />

sen wirst, ist die oberste Regel, Ruhe bewahren. Wir werden uns im Outback nie über Ruf-<br />

weite hinaus von einander entfernen, verstanden? Wenn es zu einem Biss kommt, entfernst du<br />

dich so ruhig wie möglich soweit von der Schlange, dass du dich ungefährdet auf den Boden<br />

legen kannst. Du legst dich hin und rufst nach mir, sollte ich etwas weiter weg sein.“ Sie er-<br />

hob sich nun und holte eine der elastischen Binden aus dem Wagen. „Ich zeige dir jetzt, wie<br />

du die Binde anzuwenden hast. Du fängst drei Finger breit über den Fingerspitzen bezie-<br />

hungsweise über den Zehen an zu wickeln, je nachdem, ob Arm oder Bein betroffen sind.“<br />

Sie griff nach Shawns linkem Bein und wickelte die Binde fest, aber nicht abschnürend, vom<br />

Fuß beginnend das ganze Bein hoch bis in den Schritt. „So muss es aussehen. Am besten ist<br />

es, eine zweite Binde darüber zu legen.“ Schnell wickelte sie die Binde wieder ab und drückte<br />

sie Shawn in die Hand. „Nun du.“<br />

Sie reichte ihm ihr rechtes Bein und Shawn übte einige Male, die Binde schnell und orden-<br />

tlich um das Bein zu wickeln.<br />

„Das ist gut, nicht zu fest, aber auch keineswegs zu locker. Wenn es einen Arm getroffen<br />

hat, wird dieser zusätzlich in einer Schlinge stillgelegt.“<br />

Shawn nickte. „Okay, bis hier alles verstanden.“<br />

75


„Wenn ich es sein sollte, wäre es gut, wenn du mich zum Wagen tragen würdest. Leider<br />

kann ich das bei dir nicht machen, du müsstest also laufen. Langsam und ohne dich anzu-<br />

strengen. Beim Wagen muss das passende Gegenmittel aufgezogen werden. Du kannst es<br />

nicht injizieren, dass müsste ich selbst machen. Sollte es jedoch zu einem anaphylaktischen<br />

Schock kommen, müsstest du mir allerdings Prednisolon und Adrenalin spritzen. Ich werde<br />

dir vorher sagen, wie viel du aufziehen musst.“<br />

Shawn wurde blass. „Das kann ich nicht!“, schnaufte er erschrocken.<br />

„Doch, das wirst du hin bekommen, da bin ich sicher.“ Kelly war überzeugt davon, dass<br />

Shawn es schaffen würde. „Wir werden das üben, okay? Also, was ist das Wichtigste?“<br />

„Ruhig bleiben.“, meinte Shawn angespannt.<br />

„Genau. Jede unnütze Bewegung vermeiden. Ich würde dir ein Beruhigungsmittel geben,<br />

damit du dich nicht aufregst.“ Kelly lächelte. „Aber ich bin ohnehin überzeugt, dass das alles<br />

Theorie bleiben wird. Mach dir also nicht unnütz Sorge, achte darauf, wohin du trittst und<br />

alles wird gut gehen.“<br />

Am Spätnachmittag wurde es kühler und Kelly fragte:<br />

„Wie sieht es aus, wollen wir noch gucken gehen?“<br />

Steif erhob sich Shawn und meinte: „Klar, lass uns näher heran gehen.“ Er griff nach sei-<br />

nem Hut und Kelly nickte wohlwollend.<br />

„Du bist lernfähig!“, lästerte sie und griff nach ihrem eigenen Hut. Shawn nahm seinen<br />

noch einmal ab und schlug damit nach Kelly, die sich kichernd in Sicherheit brachte.<br />

Langsam gingen sie über das zum Teil mit kleinen Steinen übersäte Gelände zu den Sand-<br />

steinformationen hinüber. Es war doch noch ziemlich warm und so waren sie froh, als sie den<br />

Schatten der Steine erreichten.<br />

„Dieses Rot ist unglaublich intensiv. Man mag es auf Fotos gar nicht glauben, dass es so<br />

extrem ist!“, meinte Shawn fasziniert. Gemächlich wanderten sie ein Stück um die ersten zwei<br />

Gesteinsbrocken herum. Bald wurde es dunkel und sie kehrten zum Zelt zurück. Die letzten<br />

Besucher waren ebenfalls im Aufbruch und als die Sonne dreißig Minuten später in einem<br />

glühend roten Ball am Horizont versank, waren sie allein. Kelly hatte vier Gaslampen verteilt<br />

und angezündet. Um sie herum waren ungewohnte Geräusche in der Wüste zu hören, alles<br />

wirkte unglaublich friedlich. Die junge Frau nahm einen Topf aus dem Wagen, öffnete eine<br />

Dose mit Gulaschsuppe und Minuten später war diese heiß. Sie füllte Shawn und sich einen<br />

Teller und sie saßen in der Dunkelheit und löffelten die heiße Suppe. Satt und zufrieden hock-<br />

ten sie später nebeneinander und Kelly fragte:<br />

„Was du heute geschafft hast, ist sicher einfach, was?“<br />

„Allerdings! Ich bin unglaublich stolz, dass ich es geschafft habe, auf den Rock zu kom-<br />

men. Teilweise dachte ich, ich müsse abbrechen, ich hätte es nie für so unglaublich anstren-<br />

gend gehalten.“, erklärte Shawn begeistert.<br />

76


Kelly nickte. „Ja, 350 Meter hören sich nicht wild an, aber es ist steil, an einigen Stellen<br />

beträgt der Steigungswinkel sechzig Prozent, das darf man nicht unterschätzen. Und die Hitze<br />

tut ihr übriges dazu. Du kannst stolz sein, dass du es geschafft hast. Sehr viele schaffen es<br />

nicht.“<br />

Im Licht der Lampen sah Shawn Kelly an.<br />

„Ich habe erstmals seit ... seit die mich da raus geholt haben ein halbwegs gutes Gefühl.“,<br />

sagte er leise. „Ich glaube, mit deiner Hilfe könnte ich es schaffen.“ Er griff unwillkürlich<br />

nach Kellys linker Hand und hielt diese fest.<br />

„Das wirst du. Ich bin sicher. In dir steckt viel mehr Kraft und Mut als du denkst!“<br />

„Im Moment steckt in mir nur Müdigkeit und totale Erschöpfung.“, knurrte Shawn und<br />

fügte hinzu „Hast du etwa dagegen, wenn wir uns hinlegen?“ Kelly rieb sich massierend über<br />

die Oberschenkel und meinte:<br />

„Nein. Ich mag selbst nicht mehr.“ Sie löschten die Lampen und krabbelten ins Zelt. Als<br />

sie dort nebeneinander auf den Schlafsäcken lagen, sagte Shawn:<br />

„Ich danke dir für den wundervollen Tag.“<br />

Kelly drehte sich zu ihm herum und lächelte. „Eigentlich müsste ich dir danken, dass du<br />

den Trip ermöglicht hast.“<br />

Shawn verzog das Gesicht. „Na, für irgendwas muss das Ganze ja gut gewesen sein.“ Er<br />

gähnte herzhaft. „Gute Nacht!“ Kelly war nicht weniger müde und nuschelte verschlafen<br />

„Ja, gute Nacht!“<br />

Minuten später herrschte Ruhe im Zelt.<br />

Shawn wachte davon auf, dass ein heftiger Schmerz durch seine linke Wade zog. Blitz-<br />

schnell schoss ihm durch den Kopf - Na prima, Wadenkrampf! - Dann konnte er einen Auf-<br />

schrei vor Schmerzen nicht mehr unterdrücken und seine Hände klammerten sich um die<br />

schmerzende, steinharte Wade. Kelly fuhr erschrocken aus dem Tiefschlaf hoch und rappelte<br />

sich auf die Füße. Intuitiv ahnte sie, was los war. Im Dunkeln tastete sie nach Shawns Beinen<br />

und dieser streckte keuchend das linke, heftig schmerzende Bein in die Höhe. Kelly streckte<br />

es nach oben und drückte energisch seinen Fuß Richtung Körper, um den verkrampften Mus-<br />

kel zu lösen. Sie legte sich mit ihrem Gewicht auf den Fuß und nach einigen Minuten meinte<br />

Shawn keuchend:<br />

„Okay, geht wieder ...“ Er bewegte vorsichtig den Fuß, aber der Krampf hatte sich schein-<br />

bar gelöst. Ächzend legte er das Bein ab und stöhnte: „Man, ich hasse Wadenkrämpfe!“ Kelly<br />

kniete sich in der Dunkelheit vorsichtig neben den jungen Mann und tastete nach ihm.<br />

„Dreht dich mal auf den Bauch, ich werde dir den Muskel massieren.“, sagte sie tranig.<br />

Shawn drehte sich herum und spürte Kellys Hände an seiner Wade. Ungefähr zehn Minuten<br />

77


lang massierte Kelly das Bein gründlich, dann sank sie gähnend auf ihren Schlafsack zurück.<br />

Sie drehte sich auf die Seite und hörte am rascheln neben sich, dass Shawn das Gleiche tat.<br />

„Lass uns weiter schlafen, wenn was ist, wecke mich, okay.“<br />

„Meistens bin ich nicht zu überhören.“, murmelte Shawn frustriert und die Augen fielen<br />

ihm zu. Der Rest der Nacht verging ohne Störungen.<br />

*****<br />

Am Morgen war Kelly zuerst wach und schlich aus dem Zelt. Sie schnappte sich Schaufel<br />

und Toilettenpapier und stapfte ein ganzes Stück vom Lager weg. Später setzte sie Kaffee-<br />

wasser auf und als sie damit fertig war, hörte sie Shawn im Zelt aufwachen.<br />

belt.<br />

„Kaffee ist fertig!“, sagte sie laut. Müde kam der junge Schauspieler zu ihr heraus gekrab-<br />

„Da hab ich aber Glück.“, meinte er gähnend und streckte sich ausgiebig. Seine Wade<br />

fühlte sich hart an und war empfindlich. Shawn verschwand erst einmal ein Stück vom Lager,<br />

um sich die Blase zu leeren. Er achtete gründlich darauf, wo er hin trat und kehrte Minuten<br />

später zu Kelly zurück.<br />

„Keine Schlangen.“, grinste er und setzte sich zu ihr.<br />

„Da hast du ja schon wieder Glück gehabt.“, meinte Kelly schmunzelnd und drückte ihm<br />

einen Becher in die Hand.<br />

gen.“<br />

„Was gibt es denn zum Frühstück?“, wollte Shawn verlegen wissen. „Mir knurrt der Ma-<br />

„Wir sollten erst duschen, bevor hier die Touristen ankommen.“, meinte Kelly überlegend.<br />

„Ich habe keine große Lust, hier eine Vorstellung zu geben.“ Shawn verkrampfte sich unwill-<br />

kürlich.<br />

„Na, mir reicht es verständlicher Weise sowieso, ständig vor Leuten nackt zu sein.“, mein-<br />

te er bedrückt.<br />

„Das kann ich gut verstehen. Wenn du lieber allein duschen möchtest, ist das in Ordnung.“<br />

Kelly lächelte liebevoll.<br />

„Nein, das ist in okay. Eigentlich bin ich nicht prüde. Und bei dir ist es ohnehin etwas an-<br />

deres.“ Shawn sah die junge Frau an. „Du siehst mich nicht auf diese ... Art und Weise an wie<br />

die.“<br />

Kelly schoss durch den Kopf, dass sie es durchaus verstehen konnte, wenn man Shawn auf<br />

diese Art und Weise anschaute. Aber das behielt sie für sich.<br />

„Na, lass uns, es wird nicht mehr lange dauern, bis hier die ersten Leute ankommen.“ Kel-<br />

ly stemmte sich leise ächzend in die Höhe. Shawn versuchte ebenfalls, auf die Füße zu kom-<br />

men und scheiterte kläglich.<br />

78


„Oh, man ... Wo habe ich denn überall Muskeln?“, stöhnte er schmerzerfüllt. Kelly lachte.<br />

„Komm, ich helfe dir.“ Sie stellte sich vor den jungen Mann und zog ihn auf die Füße.<br />

„Scheiße! Warum hast du mich da hoch gejagt?“, fragte er jammernd und rieb sich die<br />

Oberschenkel.<br />

„Hey! Wer hat denn wohl wen angebettelt, den blöden Stein zu besteigen?“, fragte Kelly<br />

kampflustig.<br />

„Na, du mich!“, behauptete Shawn frech und setzte sich jammernd und stöhnend in Bewe-<br />

gung. Kelly schubste ihn sanft vor sich her zum Wagen hinüber. Dabei fiel ihr auf, dass der<br />

junge Mann humpelte. Sie montierten die Duschvorrichtung des Wassersackes und sahen sich<br />

um. Noch war niemand zu sehen und so entkleideten sie sich schnell und stellten sich gemein-<br />

sam unter die Dusche. Da sie nur fünfzig Liter zur Verfügung hatten, wurde es ein Etappen-<br />

duschen. Nass machen, Wasser abdrehen. Einseifen, aufdrehen und abspülen.<br />

„Haare waschen wir, wenn wir mal einen Billabong finden.“, erklärte die Psychologin. Sie<br />

trockneten sich ab und schlüpften in kurze Hosen, T-Shirts und ihre festen Stiefel. Als wäre<br />

dies ein Startschuss gewesen, fuhren in diesem Moment zwei PKWs auf den großen Park-<br />

platz.<br />

„Das hat gerade so geklappt.“, meinte Shawn erleichtert.<br />

„Ja, perfekt in time. Bevor du mir verhungerst, mache ich jetzt Frühstück.“<br />

Schnell hatte sie ein paar Eier gebraten und dazu gab es Toast, Speck und eine weitere<br />

Tasse Kaffee. Nach dem Frühstück packten sie zusammen und verluden die Ausrüstung in<br />

den Wagen.<br />

Kelly.<br />

„Bevor wir losgehen sollte ich noch mal deine Wade bearbeiten, was meinst du?“, fragte<br />

„Würdest du das machen? Sie ist hart.“, grinste Shawn verlegen.<br />

„Klar, leg dich hin, ich hole Massageöl.“ Wohlweislich hatte sie dieses in ihre Kulturta-<br />

sche gelegt. Sie träufelte ein wenig auf Shawns Bein und massierte gute dreißig Minuten<br />

gründlich nicht nur die Wade, sondern beide Beine durch.<br />

„Wie fühlt es sich an?“<br />

Shawn bewegte das Bein und grinste. „Viel besser. Danke.“<br />

Kelly wusch sich die Hände, fragte: „Fotoapparat bereit?“, und Shawn nickte.<br />

„Gut, also auf geht’s, lass uns mal die Gegend erkunden.“ Sie machten sich auf den Weg<br />

und näherten sich den runden Sandsteinfelsen. Der Anblick war ebenso berauschend wie der<br />

Anblick des Uluru. Ein ums andere Mal blieben sie stehen, damit Shawn Fotos machen konn-<br />

te. Sie sahen sich aufmerksam um und gingen schließlich zwischen die Felsen. Shawn kam es<br />

vor, als sei es heute fast noch wärmer als am Tage zuvor. Sein T-Shirt klebte ihm nass auf<br />

dem Rücken und unter dem Hut lief ihm der Schweiß über das Gesicht. Trotzdem war er froh,<br />

79


die Kopfbedeckung auf zu haben. Kelly schien die Hitze nicht so viel auszumachen. Als sie<br />

zwischen den Felsen im Schatten eine kurze Pause einlegten, fragte Shawn:<br />

„Sag mal, schwitzt du gar nicht?“<br />

„Doch, aber ich komme gut mit Wärme klar. Solange es trockne Wärme ist. Du solltest dir<br />

lieber nicht wünschen, mich bei schwüler, drückender Luft zu erleben. Da kann ich nervig<br />

werden.“<br />

Sie gingen weiter und kamen schließlich zum Valley of Winds.<br />

„Mein Gott, ist das wunderschön. Man kommt sich hier vor wie auf einem anderen Plane-<br />

ten.“, stieß Shawn überwältigt hervor.<br />

„Ja, es ist fantastisch.“, stimmte Kelly zu. „Schau nur mal da drüben, wie wundervoll die<br />

Felsen in der Sonne aussehen!“ Lange hielten sie sich hier auf und Shawn hatte das Gefühl,<br />

gar nicht genug Fotografieren zu können. Als es ihnen zu heiß wurde rissen sie sich los und<br />

kehrten zu ihrem Wagen zurück. Sie tranken ausgiebig Wasser und Kelly meinte:<br />

„So, jetzt wollen wir mal den Ernst des Lebens beginnen lassen.“ Sie setzte sich ans Steu-<br />

er und nun ging es ernsthaft los, hinein in die Unendlichkeit des Outbacks. Noch einen letzten<br />

Blick konnten sie auf die Olgas genießen, dann verschwanden diese langsam hinter ihnen in<br />

der flirrenden Mittagshitze. Das Gelände war uneben und Kelly schaltete auf Allradbetrieb<br />

um. Es ging hinein in die unwegsame Landschaft des australischen Innenlandes. Bald hatte<br />

Shawn das Gefühl, sie wären die einzigen Menschen auf der Erde. Nichts Lebendes rührte<br />

sich, soweit er schauen konnte. Da sie langsam fuhren, konnte er den Blick aus dem Auto-<br />

fenster ausgiebig genießen.<br />

Kelly erklärte: „Die Kata Tjuta sind den Aborigines ebenso heilig wie Uluru. Ihnen wird<br />

direkte Schöpferkraft aus der Traumzeit zugesprochen. Die Kata Tjuta werden von den Anan-<br />

gu-Männern für Rituale gebraucht. Der Zutritt für Touristen ist eingeschränkt. Ein einziger<br />

Wanderweg im Valley of the Winds, den wir benutzt haben, ist der Öffentlichkeit zugänglich,<br />

er wird allerdings an heißen Tagen zum Schutz der Besucher gesperrt. Ein weiterer kurzer<br />

Wanderweg führt vom Besucherparkplatz als Sackgasse in einen Einschnitt zwischen zwei<br />

Köpfe. Die Regenbogenschlange, die ich schon erwähnt habe, ist eine zentrale Figur in der<br />

Mythologie der Aborigines. Sie wird zweigeschlechtlich dargestellt. Sie formte Berge, Täler<br />

und Wasserlöcher und ist darum der weibliche Erdgeist. Da sie aber auch den Regenbogen<br />

geschaffen hat, ist sie gleichzeitig die männliche Sonne. Das Didgeridoo gibt der Mythologie<br />

nach die Vibrationen wieder, die bei der Erderschaffung entstanden. Die Regenbogenschlange<br />

trägt im Osten den Namen Baiame, im Nordwesten Ungud, Mangela im Westen und Pundjel<br />

im Süden Australiens. James Cowan, ein Schriftsteller, der sich intensiv mit den Aborigines<br />

und der Dreamtime beschäftigt hat, geht davon aus, dass die Regenbogenschlange die aktive<br />

Kraft bei der Erschaffung der Welt in der Weltanschauung der Ureinwohner zu sein scheint.<br />

80


Sie gilt in fast allen Regionen als Schöpferwesen und erscheint als die Kraft, die Flüsse, Was-<br />

serlöcher oder Regen erzeugt. Unter dem Namen Bolan, Kunukban, Galaru oder Unjuat lebt<br />

sie auch in den Tiefen der Meere und erscheint an ihren Ufern.<br />

Da aus der Traumzeit alle Mythen nur mündlich überliefert sind, schriftlich wird nichts<br />

festgehalten, variieren diese je nach Region leicht. Die Schöpfungswesen beziehen sich im-<br />

mer auf Erscheinungsformen, die in der unmittelbaren Umgebung der betreffenden Völker<br />

und Stämme vorkommen. Die Regenbogenschlange erschafft Berge und Täler und ist in ihnen<br />

verborgen. Den Mythen zufolge bewohnt die Regenbogenschlange während der Trockenzeit<br />

die wenigen verbliebenen Wasserlöcher und kontrolliert auf diese Weise die kostbarste Res-<br />

source hier draußen. Als Gegenspieler der Sonne bringt sie den dringend benötigten Regen.<br />

Sie steht auch als Symbol für das beginnende Leben. In den vom Monsun geprägten Gegen-<br />

den erzählen die Legenden von großen Schlachten zwischen der Sonne, der Schlange und<br />

dem Wind. In den zentralen Wüstengebieten sind die Witterungsunterschiede schwächer, was<br />

sich in den dort verbreiteten Geschichten widerspiegelt. Die Regenbogenschlange gilt als Be-<br />

schützer ihres Volkes und als gnadenloser Verfolger von Gesetzesbrechern. Sie kann Men-<br />

schen am Wasser verschlingen. Die Mythen, die sich um sie ranken, dienen als moralischer<br />

Wegweiser im Alltagsleben. Außerdem sind sie mit dem Fruchtbarkeitskult verbunden. Die<br />

Regenbogenschlange war ursprünglich männlich, da sie aber in der Traumzeit zwei weibliche<br />

Wesen verschlang, nahm sie die Kraft der Weiblichkeit in sich auf.“<br />

Ein weiteres Mal hatte Shawn mit offenem Mund begeistert zugehört.<br />

„Das sind wunderschöne Geschichten. Ich könnte dir stundenlang zuhören, wenn du da-<br />

von erzählst. Wie kannst du dir das nur alles merken?“<br />

Kelly lachte. „Märchen, die deine Mutter dir als Kind erzählt hat, wirst du ebenso nicht<br />

vergessen haben, oder?“<br />

Shawn nickte. „Stimmt. Ich weiß nicht, ob ich sie korrekt erzählen könnte, aber das Meiste<br />

ist mir bestimmt im Gedächtnis geblieben.“<br />

„Siehst du, und so geht es mir auch. Dinge, die mich interessieren, kann ich mir gut mer-<br />

ken. Da Australien meine Wahlheimat ist und ich alles über das Land wissen möchte, in dem<br />

ich lebe, habe ich keine Probleme, mir solche Sachen zu merken. Außerdem wird meine<br />

Merkfähigkeit stark durch meine Patienten trainiert, da ich mir vieles, was sie mir erzählen,<br />

nicht sofort aufschreibe.“<br />

muss.“<br />

Shawn seufzte. „Ein solches Gedächtnis könnte ich brauchen, wenn ich Texte lernen<br />

Nachdem sie das Gebiet um die Olgas verlassen hatten, blieben die Sandsteine hinter<br />

ihnen zurück und nur noch karges, mit niedrigen Büschen und wenigen Bäumen bewachsenes<br />

81


Halbwüstenland umgab sie, soweit das Auge reichte. Hier stoppte Kelly und sah Shawn auf-<br />

fordernd an.<br />

„Willst du es mal versuchen?“ Vor ihnen lag eine unwegsame, steinige, zerklüftete Passa-<br />

ge und Shawn sah Kelly überrascht an.<br />

„Hier?“, fragte er skeptisch.<br />

„Ja, hier. Weißt du, Shawn, Selbstvertrauen hat damit zu tun, sich einem Risiko auszuset-<br />

zen und sich verwundbar zu machen. Selbstvertrauen erwächst dadurch, dass wir in der Lage<br />

sind, uns aus Schwierigkeiten zu befreien und uns aufrichten zu können. Es wird dir helfen,<br />

wenn du mit schwierigen Situationen fertig wirst. Ich vertraue dir, du wirst uns nicht umwer-<br />

fen.“<br />

Shawn prustete angespannt und sagte leise: „Ich kann es ja versuchen ...“<br />

Sofort unterbrach Kelly ihn. „Nein! Du wirst es nicht versuchen ...“<br />

„Sorry, klar, ich mache es!“, fuhr Shawn verlegen dazwischen. „Ich mache es!“ Sie<br />

tauschten also die Plätze und Kelly erklärte:<br />

„Dein Job ist es, den Wagen gerade zu halten. Die Übersetzung der Kraft auf die Räder ist<br />

selbstregulierend, der Wagen entscheidet, wie viel Kraft er für welches Rad aufbringen muss,<br />

um das Hindernis am besten zu bewältigen, okay.“<br />

Shawn hatte angespannt zugehört. Er legte den Gang ein und der Wagen rollte los.<br />

Obwohl es im Wagen auf 23 Grad herunter gekühlt war, war Shawn rasch Schweiß geba-<br />

det. Er verkrampfte die Hände um das Lenkrad und wurde vor Anspannung steif. Kelly sah<br />

sich das kurze Zeit an. Nach einer Weile legte sie ihm eine Hand auf den Arm und erklärte:<br />

„Versuch dich zu entspannen, Shawn. Leg die Hände locker um das Lenkrad, du wirst<br />

spüren, was der Wagen will.“<br />

Shawn atmete einige Mal tief durch und zwang sich, sich zu entspannen. So ging es bes-<br />

ser. Bedächtig und vorsichtig steuerte er den Wagen durch das Geröll übersäte Gebiet und<br />

wich immer gekonnter heftigen Lunken und Rissen im Boden aus. Das Ganze begann ihm<br />

Spaß zu machen. Einmal kam der Wagen in einer der tiefen Lunken gefährlich ins Kippen,<br />

doch Shawn schaffte es, ihn gerade zu richten. Als Kelly gegen 17 Uhr sagte:<br />

„So, ich glaube, für heute reicht es. Hier sieht es gut aus, wir sollten unser Lager hier auf-<br />

schlagen.“, war der junge Schauspieler fast enttäuscht. Er lenkte den Wagen zu einer freien<br />

Stelle in der Buschlandschaft und hielt an. Als der Motor verstummte meinte Kelly fröhlich:<br />

„Das hat gut geklappt.“ Sie stiegen aus und sahen sich um. In kurzer Zeit war das Zelt<br />

aufgestellt und ein kleines Lagerfeuer, mit Steinen umlegt, brannte. „Was möchtest du zum<br />

Abendbrot?“, fragte Kelly, während sie Wasser für Kaffee aufsetzte.<br />

„Was hast du anzubieten?“, fragte Shawn skeptisch.<br />

„Dosensuppe, Dosenwürstchen, Dosenfleisch, Dosenobst, Toast, nicht aus der Dose ...“<br />

82


„Dann nehme ich ein T-Bone Steak mit Bohnen und Pommes.“ erklärte Shawn lachend.<br />

Es gab Würstchen!<br />

6) Es wird Ernst<br />

Aus dem Kern des Leidens selbst werden wir die Mittel zur Inspiration und zum<br />

Überleben nehmen.<br />

Winston Churchill<br />

Nach dem Essen wurde es schnell dunkel. Über ihnen funkelte ein unvergleichlicher Ster-<br />

nenhimmel. Kelly hatte die Gaslampen aufgehängt und das kleine Feuer flackerte in der Dun-<br />

kelheit vor sich hin. Shawn holte seinen Schlafsack aus dem Zelt und machte es sich darauf<br />

bequem. Er lag auf dem Rücken, hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und schaute zu<br />

den Abermillionen Sternen hoch.<br />

„Das war großartig heute. Ich hatte zwar am Anfang die Hosen voll. Als ich den Dreh<br />

einmal raus hatte, hat es aber unglaublichen Spaß gemacht.“<br />

Kelly freute sich, dass es dem jungen Mann gefallen hatte. Dass er ein Erfolgserlebnis ge-<br />

habt hatte, machte es ihr leichter, ihm einen Schuss vor den Bug verpassen zu müssen. Denn<br />

heute wollte sie ihn konkret dazu bringen, über die Entführung zu sprechen. Sie wollte in den<br />

nächsten Tagen und Wochen chronologisch von ihm hören, was er erlebt hatte. Ihr war klar,<br />

dass dies eine unglaublich emotionale Angelegenheit werden würde, aber es half alles nichts,<br />

er musste mit der Sprache herausrücken. Es würde anders ablaufen als bei den beiden Aus-<br />

brüchen bisher, wo sie ihn hinterher mit Fragen verschont hatte. Er würde von nun an erzäh-<br />

len müssen, was er empfunden hatte.<br />

Sie sah zu ihm hinüber. Er lag entspannt da und wirkte zufrieden. Sie seufzte leise und<br />

sagte bedrückt:<br />

„Shawn, es hilft nichts, wir müssen irgendwann anfangen. Darum möchte ich dich bitten,<br />

mir von der Entführung und dem ersten Tag in der Gefangenschaft zu erzählen.“<br />

Schlagartig war es mit der Entspannung vorbei. Kelly hörte den jungen Mann schwer at-<br />

men. Sie rückte dicht an ihn heran und sagte liebevoll: „Bleib so liegen, okay. Überlege und<br />

dann redest du dir den ersten Tag von der Seele.“<br />

Shawns Herz raste. Eben noch hatte er fast so etwas wie Zufriedenheit verspürt, jetzt baute<br />

sich vor ihm eine schier unüberwindliche Mauer auf, die er übersteigen sollte. Er hatte in den<br />

vergangenen zwei Tagen geschickt verdrängt, was noch auf ihn zukommen würde. Schlagar-<br />

tig war das Verdrängte nun machtvoll zurück und sprang ihm regelrecht ins Gesicht. Er prus-<br />

tete angespannt, atmete ein paar Mal tief ein und aus und sagte leise:<br />

83


„Okay ...“ Er versuchte, sich die ersten Stunden bei Carrie ins Gedächtnis zu rufen. Kelly,<br />

die dicht an ihn herangerückt war, spürte ihn zittern. Sie zog das kleine Diktiergerät aus der<br />

Hosentasche und schaltete es ein. Sanft sagte sie:<br />

„Leg deinen Kopf bequem auf mein Bein. Versuch, entspannt zu bleiben. Du schaffst das,<br />

ich bin sicher.“<br />

Shawn atmete noch einmal zitternd ein, rollte sich auf die Seite, platzierte seinen Kopf auf<br />

Kellys Oberschenkeln, tastete nach ihrer Hand und klammerte sich an ihr fest. Leise fing er an<br />

zu sprechen.<br />

*****<br />

Laute Musik dröhnte durch die Diskothek Blue Oyster in Mackay. Tanzende Pärchen<br />

tummelten sich schwitzend auf der Tanzfläche. An der Bar herrschte Hochbetrieb. Der junge<br />

Schauspieler Shawn McLean kam gerade mit seiner Tanzpartnerin zurück an ihren Tisch. Er<br />

gähnte herzhaft.<br />

„Ich glaube, mir langt es für heute. Ich bin geschafft.“ Er griff nach seinem Bier und<br />

trank das halb volle Glas mit großen Schlucken leer. „Ich muss morgen früh um 9 Uhr fit<br />

sein. Deshalb verzieh ich mich mal langsam. War ein netter Abend. Ich wünsche euch noch<br />

viel Spaß.“ Zwei Pärchen, die mit am Tisch saßen, wünschten Shawn eine gute Nacht. Der<br />

junge Mann ging an den Tresen und bezahlte seine Zeche. Er kämpfte sich durch die Men-<br />

schenmenge zum Ausgang. Sein Leihwagen stand am Ende des Parkplatzes. Gähnend schlen-<br />

derte der Schauspieler zwischen den anderen parkenden Wagen hindurch auf das Gebüsch<br />

am Ende des Platzes zu. Dort, in einer dunklen Ecke, stand sein roter Toyota. Shawn zog den<br />

Schlüssel aus seiner Jeanstasche und wollte die letzten Schritte hinter sich bringen, als er<br />

hinter sich ein leises Geräusch vernahm. Er wollte sich umschauen, doch soweit kam es nicht<br />

mehr! Verwirrt spürte er, wie ihm etwas Feuchtes über Mund und Nase gepresst wurde. Er<br />

hatte nicht einmal die Zeit, erschrocken zu sein. Kaum spürte er das mit einer stark riechen-<br />

den Flüssigkeit getränkte Tuch in seinem Gesicht, wurde ihm schwindelig, seine Beine gaben<br />

Sekunden später nach und es wurde schwarz vor seinen Augen.<br />

*****<br />

Carrie ließ sich Zeit, zu lange hatte sie diesmal auf eine solche Gelegenheit gewartet. Der<br />

Junge würde noch eine Weile schlafen. Ihn hierher auf die Insel zu schaffen, hatte sie einiges<br />

gekostet. Er lag auf dem extrabreiten Bett und Carrie nahm sich Zeit, ihn anzusehen. Er sah<br />

so gut aus. Die nackenlangen, dunkelblonden Haare, der drei Tage Bart, unter dem seine<br />

Grübchen, entspannt wie er im Schlaf war, deutlich zu erkennen waren, die perfekte Figur ...<br />

Sie spürte, wie ihr warm wurde. Carrie hatte alles, was sie benötigte, seit Tagen bereit liegen.<br />

Der junge Mann lag in der Mitte des Bettes. Sie drückte seine Arme langsam und genussvoll<br />

84


in Richtung der oberen Bettpfosten. Stricke lagen parat und Carrie schlang diese stramm,<br />

aber nicht abschnürend, um die Handgelenke ihres Gefangenen. Sie wickelte das andere Ende<br />

der Stricke jeweils fest um die Bettpfosten. Genauso verfuhr sie mit seinen Fußgelenken,<br />

nachdem sie ihm Schuhe und Strümpfe ausgezogen hatte. Er lag stramm ausgestreckt mit weit<br />

gespreizten Armen und Beinen gefesselt auf dem großen Bett und Carrie seufzte vor Erre-<br />

gung. Sie setzte sich eine Maske auf, die ihr Gesicht verbarg, dann waren alle Vorbereitungen<br />

geschafft. Sie brauchte nur zu warten, bis er zu sich kam. Das dauerte nicht mehr lange. Er<br />

seufzte leise, sein Kopf bewegte sich unruhig hin und her. Schwerfällig öffnete er die Augen.<br />

Der Gefesselte brauchte ein paar Minuten, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Schließlich<br />

wurde er klarer und erstarrte in der Bewegung, als er realisierte, dass er gefesselt war!<br />

los!“<br />

Hektisch sah er sich um.<br />

„Was soll das?“, fragte er nervös. „Wer bist du? Wo bin ich hier? Mach mich sofort<br />

Carrie lachte leise. „Das hättest du wohl gerne, kann ich mir vorstellen. Daraus wird<br />

nichts.“<br />

„Du sollst mich losmachen, du dämliche Bitch!“, fuhr er sie laut an und zerrte wütend an<br />

den Fesseln. Carrie zuckte die Schultern.<br />

„Okay, wenn du die Klappe nicht halten kannst, werde ich nachhelfen müssen, dass du sie<br />

hältst. Vorerst. Später will ich dich hören können.“ Sie beugte sich über ihn und stopfte ihm<br />

blitzschnell einen Knebel zwischen die Lippen, was der Gefesselte mit einem giftigen Knurren<br />

quittierte. Nun wurde sie nicht mehr gestört. Carrie ging zu dem Rollwagen, auf dem sie ihr<br />

Equipment bereit gelegt hatte, und griff nach dem extrem scharfen Messer. Damit trat sie ans<br />

Bett zurück. Als ihr Gefangener das Messer sah, flackerte erstmals Angst in seinen Augen auf.<br />

Er verkrampfte sich und konnte ein Zittern nicht mehr unterdrücken. Unwillkürlich zerrte er<br />

an den Fesseln. Von einer Sekunde zur anderen atmete er flach und hektisch. Sie sah, wie<br />

seine Hände sich zu Fäusten ballten und genoss seine Angst. Entsetzt beobachtete er, wie sie<br />

mit dem Messer in der Hand zu ihm auf das Bett stieg. Er keuchte durch den Knebel panisch<br />

auf, als die Frau sich über ihn beugte und das Messer am ersten oberen Hemdknopf ansetzte.<br />

Ein Schnitt und der Knopf flog davon. Genüsslich verfuhr sie so mit jedem Knopf des Hemdes,<br />

bis sie es geschafft hatte. Die Augen ihres Gefangenen waren vor Angst und hilfloser Wut<br />

gleichermaßen weit aufgerissen, wusste er ja nicht, was sie plante.<br />

Mit dem Messer stieß Carrie das Hemd zur Seite, sodass sein Oberkörper nackt vor ihr<br />

lag. Sanft setzte sie das Messer verkehrt herum an seinem Adamsapfel an und zog es seinen<br />

Körper herunter bis zum Bund seiner Jeans. Auf seiner muskulösen Brust konnte Carrie kein<br />

einziges Haar entdecken und war froh darüber. Nichts hasste die junge Frau mehr als be-<br />

haarte Männerbrüste. Ihr Gefangener hielt die Luft an und versuchte verzweifelt, den schlan-<br />

85


ken Bauch einzuziehen. Carrie ließ die Messerspitze sanfte Kreise um seine Brustwarzen zie-<br />

hen. Der junge Mann atmete hastig ein und aus, erwartete jeden Moment einen Schnitt. Der<br />

erfolgte nicht. Erregt zog die junge Frau das Messer sanft einmal am Bund seiner Jeans ent-<br />

lang. Der Gefesselte gab durch den Knebel dumpfe Laute von sich und wand sich in den Fes-<br />

seln. Carrie setzte das Messer an seinem rechten Hemdsärmel an und schnitt diesen vorsich-<br />

tig auf bis zur Schulter. Ein weiterer Schnitt und das Hemd war im Schulterbereich durch-<br />

trennt. Rasch verfuhr sie mit dem linken Ärmel ebenso. Dann legte sie das Messer so auf seine<br />

Brust, dass die Spitze gegen seine Kehle stieß. Sie stand auf und griff nach den Resten des<br />

Hemdes, die sie mit einem kräftigen Ruck unter ihm herauszog. Grinsend nahm Carrie das<br />

Messer in die Hand und beschäftigte sich auf die gleiche Weise mit seiner Jeans. Nach eini-<br />

gen Minuten hatte sie diese aufgeschnitten, sodass sie sie ihm vom Körper ziehen konnte.<br />

Damit bewies sie ihm endgültig, wie scharf das Messer in ihrer Hand war. Carrie kniete sich<br />

zwischen seine weit gespreizten Beine und führte das Messer vorsichtig in das linke Bein sei-<br />

nes Boxershorts. Verzweifelt wand der junge Mann sich in den Fesseln, hatte jedoch keine<br />

Chance, zu verhindern, dass nach einer Minute das letzte Kleidungsstück dem Messer zum<br />

Opfer gefallen war. Er lag nackt und gefesselt vor der Frau!<br />

Der junge Mann atmete schwer vor Angst, Wut und Scham. Er war nicht prüde, aber hier<br />

hilflos nackt vor einer wildfremden Frau zu liegen, die noch dazu mit einem rasiermesser-<br />

scharfen Schneidewerkzeug spielte und ihn an ein Bett gefesselt hatte, war mehr als unange-<br />

nehm. Carrie behielt das Messer in der Hand und betrachtete ihn eine Weile in aller Ruhe. Er<br />

war so verdammt gut gebaut. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Knebel und sah, dass ihr<br />

Gefangener heftig würgte. Carrie beugte sich über ihn und setzte ihm das Messer spielerisch<br />

erneut an die Kehle. Sanft sagte sie:<br />

„Wirst du deine Klappe halten? Dann erlöse ich dich von dem Knebel.“<br />

Er versuchte verzweifelt, dem Messer zu entgehen, aber je fester er sich in die Matratze<br />

presste, um der Schneide an seinem Hals auszuweichen, desto fester drückte sie nach. Er<br />

schluckte trocken. Hektisch nickte er und Carrie war zufrieden. Sie zog ihm den mit Speichel<br />

vollgesogenen Knebel aus dem Mund und der junge Mann atmete erleichtert auf. Aber nicht<br />

lange! Er schrak heftig zusammen, als Carrie die Messerspitze von seinem Hals abwärts bis<br />

zu seinen Schamhaaren langsam über seinen Körper zog. Verzweifelt zog er den Bauch ein,<br />

eine unwillkürliche Reaktion, die er nicht steuern konnte. Leise, mit zitternder Stimme fragte<br />

er:<br />

„Was hast du vor?“<br />

Carrie sah ihn strafend an und zog das Messer leicht über seine rechte Brustseite. Augen-<br />

blicklich hinterließ es einen kleinen, harmlosen Schnitt. Erschrocken keuchte er auf. Er biss<br />

sich auf die Lippe, um nichts mehr zu sagen. Zufrieden nickte die junge Frau.<br />

86


„So ist es besser. Du wirst noch Gelegenheit genug bekommen, mich mit deiner Stimme<br />

zu erfreuen.“<br />

Er sah sie mit einer Mischung aus Angst und Wut an und schwieg verbissen.<br />

Sie kniete zwischen seinen weit gespreizten Beinen und ließ das Messer spielerisch über<br />

seine Lenden bis zum Schambein gleiten, noch mit der stumpfen Seite. Diese bedrohliche Be-<br />

rührung ließ ihn erneut zusammenzucken. Als das Messer seinen Penis erreichte und Carrie<br />

es vorsichtig herumdrehte, sodass die Schneide gegen die hier so zarte Haut drückte, keuchte<br />

er vor Schreck auf.<br />

„Was meinst du, soll ich ihn dir abschneiden?“ fragte die Frau und grinste unter der<br />

Maske, als sie den Schrecken in den Augen ihres Gefangenen sah. Shawn schüttelte panisch<br />

den Kopf. Carrie lachte leise.<br />

„Verrätst du mir deinen Namen?“, fragte sie sanft.<br />

Schwer atmete er und stieß hervor: „Shawn ...“<br />

„Shawn ...? Und weiter?“ Fester drückte sie das Messer gegen seine Haut und er zuckte<br />

zusammen, als sie einen winzigen Schnitt an seiner Vorhaut verursachte. Hastig keuchte er:<br />

„Shawn McLean.“<br />

Carrie nickte zufrieden. „Okay, Shawn McLean, du willst wissen, was das hier soll? Ich<br />

werde es dir sagen. Vor einiger Zeit haben ein paar Freunde und ich darüber gesprochen, wie<br />

es sein muss, einen Sexsklaven zu haben, den man nach Belieben behandeln und benutzen<br />

kann. Du hast die Ehre, diese Rolle auszufüllen. Du wirst unser Gefangener sein, uns befrie-<br />

digen, wenn wir es von dir verlangen und dein Körper wird uns als Spielplatz dienen. Mit<br />

Glück wirst du das hier überleben, es sei denn, einer von uns möchte gerne sehen, wie es ist,<br />

jemanden umzubringen. Alles klar? Du bist hier auf einer kleinen Insel, es gibt hier nur mein<br />

Haus, also kannst du hier nach Herzenslust schreien. Ich kann dir versprechen, das wirst du<br />

bald tun! Wenn ich es zulasse, wird ein Freund von mir sich mit dir amüsieren. Er hat viele<br />

Wünsche geäußert. Du wirst mir gehorchen, sonst wirst du es mehr als bitter bereuen, das<br />

kann ich dir ebenfalls versprechen. Fliehen kannst du nicht, es sei denn, du kannst fliegen.“<br />

Zunehmend panischer hatte Shawn gelauscht und starrte die junge Frau fassungslos und<br />

entsetzt an.<br />

„Das ist nicht dein Ernst!“, keuchte er geschockt.<br />

„Oh doch, mein Schöner. Meine Freunde werden bald zu uns stoßen, so lange werden wir<br />

warten. Du kannst dich auf eine lustige Zeit einrichten. Gehören tust du mir, ich habe die<br />

oberste Verfügungsgewalt über dich, mir obliegt es, den drei anderen zu erlauben, dich zu<br />

benutzen. Ich habe hier einen ... nennen wir es mal Diener, der dir im Falle, dass du nicht<br />

gehorchst, auf die Sprünge helfen wird.“ Die Frau rief einen Namen. „Alan!“ Augenblicklich<br />

87


etrat ein gut 2.10 Meter großer, muskulöser Riese den Raum und musterte den Nackten kalt<br />

und gierig. Shawn erschauderte. Wie gerne hätte er seine Blößen verdeckt.<br />

„Ja, Ma’am?”<br />

Die Frau lächelte. „Ich wollte nur, dass unser Gast dich kurz kennenlernt, danke.“ Der<br />

Riese verzog sich mit einer Verbeugung nach draußen und ließ Shawn schockiert zurück. Der<br />

überlegte hektisch, was er tun könnte. Im Moment wohl gar nichts, das war dem jungen Mann<br />

klar. Auf einer Insel. Sie konnte ihm viel erzählen. Bei der ersten, sich bietenden Gelegenheit<br />

würde er fliehen! Insel! Dass er nicht lachte! Die junge Frau lächelte. Sie schien seine Ge-<br />

danken zu ahnen.<br />

„Ich werde dich losbinden und dir etwas zeigen. Solltest du mir dumm kommen, rufe ich<br />

Alan. Du hast ihn gesehen. Überlege dir also lieber, was du tun wirst.“ Sie machte Shawn los<br />

und befahl ihm:<br />

„Hoch mit dir.“ Dass sie das große Messer noch locker in der Hand hatte, half ihm bei<br />

der Entscheidung, erst einmal anstandslos zu gehorchen. Es würde sich schon eine Gelegen-<br />

heit ergeben. Vorsichtig stand er auf und versuchte unwillkürlich, seine Blöße mit den Hän-<br />

den zu verdecken. Die junge Frau lachte, sagte aber nichts.<br />

„Komm mit.“, erklärte sie und er folgte ihr zögernd. Es ging durch einen Flur, eine Trep-<br />

pe hoch, der eine weitere, lange Treppe folgte. Am Ende dieser Treppe öffnete die junge Frau<br />

eine Tür und Shawn erkannte, dass es auf eine Art Dachterrasse hinaus ging. Er trat in das<br />

helle Sonnenlicht. Die junge Frau forderte ihn auf:<br />

„Sieh dich um.“<br />

Erstaunt tat Shawn, was sie wollte. Ihm blieb der Mund offen stehen! Er befand sich tat-<br />

sächlich auf einer Insel! Von hier aus konnte er diese komplett überblicken. Fassungslos<br />

drehte er sich im Kreis und sah rund herum Wasser, so weit sein Auge reichte. Kein Land.<br />

Überdeutlich wurde ihm brutal bewusst, dass er gefangen war!<br />

„Hast du dich überzeugt?“, fragte die junge Frau und sah sich um. „Du hast keine Chan-<br />

ce zu fliehen. Es gibt hier kein Boot, das du dir nehmen könntest und bis zum Land, von dem<br />

du nicht weißt, in welcher Richtung es liegt, sind es vierzig Meilen. Je eher du dich damit ab-<br />

findest, dass du hier nicht wegkommst, desto besser ist es für dich. Solltest du versuchen, über<br />

das Wasser zu fliehen, bist du tot.“<br />

Bis ins Innerste erschüttert stand Shawn da und starrte hoffnungs- und fassungslos auf das<br />

Meer hinaus. Resigniert ließ er schließlich den Kopf hängen. Ihm war überdeutlich klar, dass<br />

er auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, keine noch so kleine Chance hatte.<br />

„Warum ich?“ fragte er leise. Die junge Frau deutete mit einem Kopfnicken an, dass er<br />

ins Haus gehen sollte und sagte ruhig:<br />

„Du hast mir gefallen. Dein Pech. Mehr Grund gab es nicht.“<br />

„Man wird mich suchen! Ich bin bekannt!“<br />

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Sie lachte. „Das tut man seit drei Tagen.“, erklärte sie kalt, während sie vor ihm die<br />

Treppe hinunter stieg. „So lange hat die Reise gedauert. Du hast selig geschlafen und bist<br />

medizinisch gut versorgt worden.“<br />

„Drei Tage?“ Wo, um alles in der Welt, war er? Shawns Stimme war die Resignation an-<br />

zuhören.<br />

„Ja, drei Tage. Tut mir leid, eher finden die Atlantis als dich hier.“ Sie öffnete eine Tür<br />

und Shawn folgte gezwungener Maßen. Er stand in einem riesigen Salon. Seine Blicke zuckten<br />

durch den Raum. Er war geschmackvoll und gemütlich eingerichtet. Ein großes Panorama-<br />

fenster mit integrierter Terrassentür zeigte eine große, zum Teil überdachte Terrasse und ei-<br />

nen wunderschönen Garten, der zum Strand führte. Eine schwere, schneeweiße Ledersitz-<br />

gruppe war so platziert, dass man in den Garten schauen konnte. Herrliche helle Kiefermöbel<br />

an den Wänden, ein offener Kamin, in einem riesigen Bücherregal hunderte von Büchern. In<br />

einer Ecke stand ein Steinway Flügel. All das nahm Shawns geschultes Auge beiläufig war.<br />

Dann entdeckte er zwei vielleicht 30 Zentimeter dicke Steinsäulen, die in einem Abstand von<br />

zirka 1,5 Metern nebeneinander vom Boden bis zur Decke reichten. Von ihnen hingen stabile<br />

Ketten ein Stück herunter. Er schluckte. Hinter sich hörte die junge Frau lachen. Sie hatte<br />

seinen Blick bemerkt.<br />

„Später.“, sagte sie vergnügt. Sie setzte sich in einen Sessel und musterte Shawn auf-<br />

merksam. Dieser hatte die Hände vor seinen Genitalien verschränkt.<br />

„Ich heiße Carrie.“, erklärte die junge Frau und nahm die Maske ab, die ihren ganzen<br />

Kopf bisher bedeckt hatte. Sie schüttelte ihre lang über den Rücken fallenden dunklen Haare<br />

und sah Shawn an. Dieser konnte nicht anders: Er starrte fasziniert zurück. Die junge Frau,<br />

erst jetzt sah er richtig, dass sie noch jung war, Ende zwanzig vielleicht, war eine Schönheit.<br />

Große, dunkle Augen, ebenmäßige Gesichtszüge, fein geschwungene Lippen, die seidig glän-<br />

zenden Haare fielen ihr bis zur Taille.<br />

„Gefällt dir, was du siehst?“, fragte sie lachend und Shawn zuckte ertappt zusammen.<br />

Verbissen schwieg er und starrte zu Boden. Von draußen war das Geräusch eines Hub-<br />

schraubers zu hören. Carrie stand auf und sagte:<br />

„Oh, da kommen sie.“ Sie trat vor Shawn und erklärte: „Du wirst dich dort auf das Po-<br />

dest stellen.“ Als er nicht reagierte, fuhr sie ihn kalt an: „Los, mach schon! Du kannst es dir<br />

leichter machen, indem du gehorchst. Andernfalls wird Alan dir auf die Sprünge helfen und<br />

ich verspreche dir, wenn ich ihn auf dich loslasse, wirst du sehr schnell begreifen, dass du es<br />

dir mit Gehorsam leichter machst.“<br />

Blitzschnell ließ Shawn sich die Möglichkeiten die ihm blieben durch den Kopf gehen.<br />

Sollte er sich weigern, würde Alan ihn krankenhausreif schlagen. Das Letzte, was er in seiner<br />

Situation brauchen konnte, war eine vorzeitige Schwächung. Er hatte das unangenehme Ge-<br />

fühl, dass er in nächster Zeit all seine Kraft benötigen würde. Shawn senkte resigniert den<br />

89


Kopf. Er setzte sich langsam in Bewegung und trat an das Podest heran. Es war aus Marmor<br />

und gute 40 Zentimeter hoch. Shawn biss sich auf die Lippe und stieg frustriert hinauf. Er<br />

hörte Carrie hinter sich treten.<br />

„Nimm die Hände auf den Rücken und spreize die Beine.“ Unwillkürlich zögerte er und<br />

zuckte heftig zusammen, als unerwartet ein brennender Schmerz über seinen Po zuckte. Er<br />

keuchte erschrocken auf und beeilte sich, die Hände auf den Rücken zu nehmen. Carrie trat<br />

um ihn herum und er sah, dass sie eine Art Gerte in der Hand hielt. Kalt sagte sie:<br />

„Wenn du dich rührst, wirst du kennenlernen, welche Schmerzen meine kleine Freundin<br />

hier verursachen kann, verstanden?“<br />

Shawn nickte verzweifelt. Sofort holte Carrie zu einem weiteren Schlag aus, der brennend<br />

über seine Oberschenkel zischte. Unwillkürlich krümmte Shawn sich kurz zusammen vor<br />

Schmerzen.<br />

„Verstanden?“, wiederholte sie und Shawn beeilte sich, klar und deutlich:<br />

„Ja, verstanden!“, zu sagen.<br />

Carrie war zufrieden.<br />

„Beug dich zu mir.“<br />

Shawn schluckte und beugte sich vor. Sie legte ihm ein Tuch über die Augen und er er-<br />

schauderte. Er durfte sich aufrichten. Er wagte nicht, sich zu rühren. Hastig atmend lauschte<br />

er und hörte Sekunden später Schritte in den Raum kommen. Zwei weibliche und eine männli-<br />

che Stimme begrüßten Carrie. Er hörte ihre Stimme sagen:<br />

„Da ist er. Was haltet ihr von ihm?“<br />

Shawns Hände zuckten. Er schämte sich furchtbar. Nicht seines Körpers, aber hier vor<br />

Wildfremden nackt wie ein Sklave ausgestellt zu werden, war grässlich! Eine der weiblichen<br />

Stimmen seufzte verzückt.<br />

„Carrie! Er ist ... perfekt!“ Die zweite Frau bestätigte:<br />

„Da hast du Recht! Du hast eine großartige Wahl getroffen. Ich bin beeindruckt.“<br />

Shawn kam sich wie auf einem Sklavenmarkt vor. Er zuckte heftig zusammen, als er eine<br />

Hand an seinem linken Oberschenkel spürte. Die männliche Stimme sagte:<br />

„Wir werden sicher viel Spaß mit ihm haben.“<br />

Die erste Frauenstimme fragte aufgeregt: „Wollen wir ihm die Manschetten anlegen?“<br />

Carries Stimme antwortete. „Sicher, ich habe sie bereit liegen.“<br />

Shawn spürte, wie ihm etwas um beide Fußgelenke gelegt wurde. Stramm, aber nicht<br />

schnürend. Anschließend kam der Befehl von Carrie:<br />

„Strecke deine Arme nach vorne.“<br />

Als er nicht schnell genug reagierte, zischte erneut ein brutaler Schlag über seinen Po.<br />

Schwer atmend gehorchte er schneller. Der Schauspieler spürte, wie etwas um seine Handge-<br />

90


lenke gelegt wurde, das gleiche Gefühl wie an den Fußgelenken. Er fühlte sich an den Armen<br />

gepackt und Carrie befahl:<br />

„Komm von dem Podest runter.“<br />

Vorsichtig tastete er nach dem Rand und die Hände, die ihn gepackt hatten, halfen ihm,<br />

sicher von dem Podest zu turnen. Er spürte, wie ihm etwas um den Hals gelegt wurde. Nun<br />

sagte Carries Stimme:<br />

„Bringt ihn zu den Säulen.“ Bei diesen Worten begann Shawn zu zittern.<br />

Er wurde ein paar Schritte geführt, spürte, wie sich an den Manschetten an Hand- und<br />

Fußgelenken zu schaffen gemacht wurde. Heftig erschrak er! Er spürte, wie Zug auf seine<br />

Arme und Beine ausgeübt wurde. Er konnte nichts dagegen machen, dass seine Beine ge-<br />

spreizt und seine Arme langsam in die Höhe und ebenfalls nach außen gezogen wurden.<br />

Schließlich hing er hilflos da. Er schrak heftig zusammen, als die Augenbinde von seinen Au-<br />

gen entfernt wurde. Blinzelnd versuchte er, etwas zu erkennen. Er sah Carrie vor sich und<br />

rechts und links von ihr standen zwei Frauen, die ähnliche Masken trugen wie Carrie zuvor.<br />

Bei ihnen stand ein Mann, ebenfalls mit einer der Masken über dem Kopf. Shawn zitterte. Er<br />

hatte Angst, das konnte er nicht abstreiten. Carrie erklärte ruhig:<br />

„Wir werden ihm beibringen, was auf ihn zukommt, oder was meint ihr?“ Die drei Neu-<br />

zugänge nickten begeistert.<br />

„Ich möchte gerne anfangen, bitte.“, sagte eine der Frauen.<br />

Carrie nickte. „Nur zu.“<br />

Sie und die beiden Anderen zogen sich Stühle heran und setzten sich gemütlich hin, wäh-<br />

rend die maskierte Frau zu Shawn trat. Sie sah ihn lange an, dann streichelten ihre Hände<br />

über seine Brust. Shawn biss die Zähne zusammen. Am liebsten hätte er losgebrüllt, sie solle<br />

ihre Finger von ihm lassen. Tiefer rutschten die streichelnden Hände und erreichten seinen<br />

Intimbereich. Sie spielte mit seinem Penis, seinen Hoden, zog an ihnen. Der Mann kam jetzt<br />

näher, ließ seine Hände über den wehrlosen Körper gleiten und zog spielerisch an Shawns<br />

Penis. Verzweifelt starrte dieser an die Decke. Tränen der hilflosen Wut und des Schams lie-<br />

fen ihm unaufhaltsam über die Wangen. Die Frau trat langsam um ihn herum und er spürte<br />

ihre Hände auf seinem Rücken. Sie griff von hinten um ihn herum und streichelte erneut sei-<br />

nen Penis, seine Hoden. Shawn keuchte vor Abscheu und wand sich verzweifelt in den Fes-<br />

seln. Er spürte die Hände an seinen Pobacken und gleichzeitig begrapschten die zweite Frau<br />

und der Mann ihn von vorne. Und jetzt konnte Shawn sich nicht mehr beherrschen! Angewi-<br />

dert keuchte er:<br />

„Nehmt eure Finger von mir!“<br />

91


Carrie sah ihn ruhig an und in ihren Augen las er mehr als deutlich, dass er gerade einen<br />

Fehler gemacht hatte! Angst schnürte ihm sofort die Kehle zu. Die Frau, die ihn berührt hat-<br />

te, bekam von Carrie den klaren Befehl:<br />

„Geh weg von ihm, Teresa.“ Die Frau gehorchte augenblicklich. Sie trat zurück und setz-<br />

te sich abwartend auf den Stuhl, auf dem Carrie bis eben gesessen hatte. Diese trat eng an<br />

Shawn heran, so eng, dass ihr Körper gegen seinen drückte.<br />

„Was hast du gesagt?“ fragte sie leise.<br />

„Bitte, das ist mir raus gerutscht ...“, stieß er hastig hervor. „Es tut mir leid.“<br />

Carrie nickte. „Das wird es, darauf kannst du dich verlassen!“ Sie trat zurück und spielte<br />

mit der Gerte in ihrer Hand. Sanft ließ sie die Spitze um seine Brustwarzen kreisen, seinen<br />

Körper hinunter, bis sie seinen Penis berührte. Shawn zuckte zusammen und versuchte ins-<br />

tinktiv, sich vor der Gerte in Sicherheit zu bringen, in dem er in den Fesseln zurückwich. Das<br />

war jedoch Wunschdenken. Er konnte sich keinen Zentimeter weit bewegen. Fast sanft sagte<br />

Carrie:<br />

„Du wirst nie wieder etwas sagen, wozu wir dich nicht ausdrücklich auffordern. Das<br />

wirst du lernen, mein armer Schatz. Du wirst lernen, wie schrecklich weh ein Glasfaserstock<br />

tut.“ Sie trat hinter ihn und er spürte mit wachsendem Entsetzen, wie der lederumwickelte<br />

Stock von hinten zwischen seinen weit gespreizten Beinen hindurch bis an seine Hoden ge-<br />

schoben wurde. Spielerisch stieß er gegen seinen Penis. Der Stock wurde zurückgezogen und<br />

zischte ohne zu zögern brutal über seinen Po.<br />

Shawn zuckte in den Fesseln nach vorne und keuchte gequält auf. Der nächste Hieb traf<br />

ihn noch härter. Beim dritten Schlag schaffte er es nicht mehr, einen leisen Aufschrei zu un-<br />

terdrücken. Carrie schlug schnell, präzise und hart zu und Shawn hing nach kurzer Zeit zu-<br />

ckend, schreiend und krampfhaft schluchzend in den Fesseln. Er hatte nie für möglich gehal-<br />

ten, dass er imstande gewesen wäre, vor Schmerzen so zu schreien. Nach einigen Minuten<br />

hörte er sich sogar verzweifelt betteln, sie möge aufhören, er könne diese Schmerzen nicht<br />

mehr ertragen! Sie kümmerte sich nicht um sein Betteln und schlug weiter zu, bis er nicht<br />

mehr die Kraft hatte, weiter zu schreien. Wimmernd hing er in den Fesseln, Tränen stürzten<br />

über sein leichenblasses Gesicht, vermischten sich mit Schweiß, der ihm in Strömen aus jeder<br />

Pore seines Körpers floss. Er war am Ende. Nach einer Weile trat Carrie schwer atmend zu-<br />

rück. Sie sagte zu dem jungen Mann, der aufmerksam und erregt der Abstrafung Shawns zu-<br />

gesehen hatte:<br />

„Verbinde ihm die Augen, Brett, und dann ist Schluss für heute. Er bleibt hier hängen, ihr<br />

werdet ihn in Ruhe lassen. Eure Zimmer sind fertig, macht es euch gemütlich. Morgen versu-<br />

chen wir es erneut.“<br />

Shawn bekam nur noch wie durch Watte mit, dass seine Augen verbunden wurden. Was er<br />

mit bekam war, dass die Schläge aufgehört hatten. Vor Erleichterung schluchzte er erneut<br />

92


auf. Dass alle den Raum verließen und ihn dort in seinen Schmerzen hängen ließen, bekam er<br />

nur unterbewusst mit. Allmählich beruhigte er sich. Das schreckliche Brennen hörte auf und<br />

machte einem dumpfen, erträglicheren Schmerz Platz. Je mehr der Schmerz von den Hieben<br />

nachließ, desto mehr spürte der Gefesselte den Schmerz, den die Fesselung selbst verursach-<br />

te, in den Armen. Dieser wurde mit jeder Minute stärker. Immer öfter entwich ihm ein gequäl-<br />

tes Stöhnen und er ertappte sich bei dem Gedanken, dass er alles getan hätte, um losgebunden<br />

zu werden. Unter der Augenbinde traten ihm erneut Tränen in die Augen.<br />

„Bitte ... Ich kann nicht mehr ...“, wimmerte er verzweifelt.<br />

Er war kein Held, der stoisch alles ertrug, was man ihm antat. Er war nur ein normaler<br />

Mensch, der alles getan hätte, um Schmerzen zu vermeiden, um losgebunden zu werden.<br />

„Bitte! Ich werde nie wieder etwas sagen ...“, flüsterte er leise. Es kam niemand, ihn zu<br />

erlösen. Als er glaubte, seine Arme würden jeden Moment aus den Gelenken gerissen werden,<br />

zuckte er heftig zusammen. Eine Hand legte sich sanft auf seine Brust und er hörte Carries<br />

Stimme.<br />

„Na, wie hängt es sich so?“<br />

„Bitte, ich tue alles, ich schwöre es! Ich kann nicht mehr! Bitte, es tut so weh!“, schluchz-<br />

te er verzweifelt.<br />

„Oh, das wirst du sicher tun. Alan, mach ihn los und schaffe ihn in mein Schlafzimmer.“<br />

Unendlich erleichtert hörte Shawn diese Worte Carries und spürte, wie die Fesseln gelöst<br />

wurden. Als seine Arme herabsanken, stöhnte er erneut auf vor Schmerzen. Seine Beine tru-<br />

gen ihn nicht mehr und hätte der Riese ihn nicht gehalten, er wäre in sich zusammen gesackt.<br />

Shawn wurde hoch genommen und Alan warf sich den jungen Mann lässig über die breite<br />

Schulter. So schleppte er ihn in das Schlafzimmer seiner Geldgeberin. Dort ließ er den Jun-<br />

gen auf das überbreite Bett fallen.<br />

leise.<br />

„Das war alles, du kannst gehen.“, hörte Shawn Carrie sagen und eine Tür schloss sich<br />

*****<br />

Kelly hatte stumm zugehört, während Shawn mit tonloser, leiser Stimme von diesem ers-<br />

ten Tag berichtete. Sie ließ ihm Zeit, sich zu fangen. Erst einmal schaltete sie das Diktiergerät<br />

aus und legte es neben sich. Kelly spürte, dass Shawn am ganzen Körper zitterte. Sie hatte,<br />

während er redete, zärtlich liebkosend ihre Hand durch seine Haare gleiten lassen. Die Thera-<br />

peutin spürte deutlich, dass diese sanfte Geste ihm half. Er spürte Zuneigung, menschliche<br />

Wärme und das machte ihm die Sache leichter. Zwar war er ab und zu ins Stocken geraten,<br />

doch Kelly ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um weiter zu sprechen. Als er verstummte und<br />

starr ins Feuer schaute, fragte sie sachlich:<br />

93


„Shawn, meinst du, du kannst mir eine Beschreibung der drei anderen Leute geben?<br />

Kriegst du das hin?“ Sie wollte ihn mit dieser sachlichen Frage erst einmal ablenken. Shawn<br />

atmete zitternd ein und schien wie aus einem Traum zu erwachen.<br />

„Ähm ... ja ... Ich denke, das kann ich. Teresa ... Sie war die Ärztin, Chirurgen. Sie war ...<br />

groß, um die 1,78 Meter.“ Er verstummte erneut, atmete hastig und wurde unruhig. Verzwei-<br />

felt fuhr er sich mit den Händen durch die Haare. „Ich ... ich weiß nicht ... Ich kann mich nicht<br />

erinnern ...“ Hektisch richtete er sich auf und zog die Beine an den Körper. „Ich kann mich<br />

nicht erinnern.“<br />

Kelly richtete sich ebenfalls auf. Sie setzte sich im Schneidersitz Shawn gegenüber und<br />

griff nach seinen Händen.<br />

„Shawn, sieh mich bitte an. Ja, so ist es gut. Du hast ihre Gesichter, ihr Aussehen ver-<br />

drängt, darum kannst du dich nicht erinnern. Ich kann dir helfen, diese Erinnerungen auszu-<br />

graben, damit wir wissen, wonach wir suchen müssen. Carrie hast du beschrieben: Groß,<br />

dunkle Augen, ebenmäßige Gesichtszüge, fein geschwungene Lippen, seidig glänzenden dunk-<br />

le Haare bis zur Taille. Es gibt eine Möglichkeit, wir nennen es kognitive Befragung, deine<br />

Erinnerungen zu wecken, in dem wir gemeinsam zu dem Ort, an dem alles passierte, zurück-<br />

kehren. Du wirst erstaunt sein, an was dein Gehirn sich erinnert, ohne dass du es bewusst<br />

weißt. Wollen wir es versuchen?“<br />

Shawn nickte nervös.<br />

„Gut. Schließe deine Augen und atme wie ich es dir beigebracht habe. Tief durch die Nase<br />

ein.“ Sie ließ ihn einige Minuten atmen, dann sagte sie ruhig und liebevoll: „Wir gehen ins<br />

Wohnzimmer zurück, dorthin, wo du Carrie das erste Mal ohne die Maske gesehen hast. Du<br />

stehst vor ihr, du siehst dich im Raum um. Kannst du ihn sehen? Erinnerst du dich an den<br />

Geruch dort? Parfum zum Beispiel?“<br />

„Ja ... Carrie ... sie benutzt Escada. Der Raum ... es duftet nach Blumen aus dem Garten.<br />

Ich sehe das große Fenster zum Garten Es ist offen ... Warme Luft, die nach Salzwasser riecht<br />

... Die weiße Ledergarnitur ... Ein Steinway Flügel in einer Ecke. Die Säulen mit den Ketten.<br />

Ich habe Angst!“<br />

„Die brauchst du nicht zu haben. Ich bin bei dir, denke daran. Ich werde nicht zulassen,<br />

dass sie dir etwas tut. Sie sitzt auf dem Sessel und schaut dich an.“<br />

Shawn nickte. „Ja, sie sieht mich an, ich schäme mich so. Ich halte meine Hände vor mei-<br />

nen Unterleib. Sie lacht mich aus.“<br />

Kelly fuhr leise fort „Sie sieht dich an und nimmt die Maske vom Kopf. Sie ist hübsch,<br />

dunkle Augen, dunkle Haare bis zur Taille. Sieh sie dir genau an. Was fällt dir an ihr auf?“<br />

Shawn bewegte unwillkürlich leicht den Kopf, wie, um jemanden genauer zu mustern.<br />

94


„Sie ... Die Haare, sie sind gefärbt. Dass ist nicht ihre natürliche Haarfarbe. Ich habe einen<br />

Blick für so was.“<br />

Kelly notierte diese Beobachtung gedanklich. Ruhig sagte sie: „Das ist gut, Shawn. Sieh<br />

hin, was fällt dir noch auf? Sie steht vor dir, nackt, du siehst ihren Körper an und ...“<br />

Shawn zuckte zusammen. „Sie ist ... 1,72 Meter ungefähr, sie hat ... Sie hat ein Muttermal<br />

auf der linken Schulter, wie ein Kleeblatt.“<br />

Kelly notierte auch das gedanklich unter wichtig! „Sie kommt zu dir, in der Hand hält sie<br />

eine Gerte. Siehst du noch irgendetwas Wichtiges?“<br />

Shawn zitterte stark. Er sah Carrie auf sich zu kommen, die Gerte in der linken Hand. Sie<br />

drohte ihm damit.<br />

„Sie ist Linkshänderin ... Auf dem Mittelfinger ihrer linken Hand ... Ein ... ein Tattoo ...<br />

Eine winzige Rose ... Sie wird mich schlagen ...“<br />

„Shawn, das wird sie nicht. Ich werde es nicht zulassen. Komm zu mir zurück, ich werde<br />

dich vor ihr schützen!“<br />

Shawn riss die Augen auf und atmete schnell und flach ein und aus.<br />

„Psst, siehst du, sie hat dir nichts getan. Beruhige dich. Ich bin da und passe auf dich auf.“<br />

Sie zog Shawn an sich und er ließ sich die Umarmung gefallen, fand er doch Halt und Schutz<br />

in Kellys Armen. Als er sich gefangen hatte, erklärte die junge Therapeutin:<br />

„Nun kommt noch etwas, was du für mich tun musst, Shawn. Ich möchte, dass du mir<br />

schilderst, wie du dich gefühlt hast, was du empfunden hast an diesem ersten Tag, okay?“<br />

Kopf.<br />

Shawn sah überrascht auf und zog die Stirn in Falten. Er schüttelte verständnislos den<br />

„Was? Was soll ich? Was ... was soll das? Was soll das bringen?“<br />

Kelly blieb ruhig. Das war der Punkt, an dem alle Patienten überreagierten, sie kannte das.<br />

„Shawn, es ist wichtig, dass du dich deinen Gefühlen stellst. Deine Empfindungen gerade<br />

aus der Anfangsphase sind unendlich wichtig für die Therapie. Du musst dich ihnen stellen,<br />

denn nur so wirst du es überwinden können. Es nützt dir nichts, mir nur zu berichten, was<br />

vorgefallen ist, du musst lernen, dich deinen Gefühlen zu stellen, darfst dich ihrer nicht schä-<br />

men. Um zu Verarbeiten musst du lernen, damit zu leben und das bedeutet, darüber zu spre-<br />

chen.“<br />

„Ich verstehe nicht, was das bringen soll.“, fuhr er ärgerlich auf. „Was willst du denn hö-<br />

ren?“ Es war das erste Mal, dass er eine andere Emotion als Angst und Verzweiflung zeigte.<br />

„Was willst du hören? Dass ich panische Angst hatte? Ist es das, was du hören willst? Dass<br />

ich zu feige war, mich zu wehren? Dass ich alles habe machen lassen, ohne die geringste Ge-<br />

genwehr? Ist es das, was du verdammt noch mal hören willst?“<br />

95


Die letzten Worte schrie er verzweifelt heraus. Kelly hob ihre Stimme ein wenig, sagte<br />

laut und deutlich:<br />

„Ja, das und vieles mehr! Deine Empfindungen, deine Gedanken, deine Gefühle, lass sie<br />

raus. Was hast du empfunden, Shawn?“<br />

Dem jungen Mann kullerten Tränen über die Wangen und er schrie verzweifelt: „Ich hab<br />

mich beschissen gefühlt, okay? Als ich aufwachte und da nackt und gefesselt hilflos vor die-<br />

ser Irren mit dem großen Messer lag, als sie mich gemustert hat wie ein Stück Fleisch, hatte<br />

ich das Gefühl, jeden Moment sterben zu müssen. Ich hatte Todesangst! Ich dachte, sie sticht<br />

mich jeden Moment ab, überlegt nur noch, wo sie zuerst rein stechen soll. Dann erzählte sie<br />

mir, was sie mit mir vorhat und ... Oh Gott, schlagartig war ich überzeugt, schon so gut wie<br />

raus zu sein da. Verstehst du? Ich dachte: Großartig, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit<br />

haust du ab! Und dann ...“, er schluchzte verzweifelt auf. „... dann zeigte sie mir, dass wir auf<br />

einer beschissenen Insel waren! Ich konnte nicht fliehen! Sie stellte mir Alan vor. Der Typ ...<br />

Er hätte mich locker in der Mitte auseinanderbrechen können, verstehst du? Ich habe viel<br />

Sport gemacht, aber nie Kampfsport. Er hätte mit mir den Boden gewischt. Und alles, was ich<br />

denken konnte war, - Shawn, du schaust besser, dass du bei Kräften bleibst, du wirst sie noch<br />

brauchen können. - Als ich realisierte, dass ich auf einer Insel war, ohne die geringste Chance<br />

abzuhauen, ohne Chancen, je gefunden zu werden ... Ich habe alle so gehasst. Ich war dort so<br />

allein, Kelly, so schrecklich allein. Niemand kam, um mir zu helfen. Ich musste alles ertragen,<br />

um zu überleben. Draußen, da ging das Leben weiter. Wie konnte das sein? Ich war doch da,<br />

ich hab so verzweifelt auf Hilfe gewartet! Kein Schwein hat mir geholfen! Als sie mich da im<br />

Wohnzimmer ausgestellt hat wie ... wie einen Sklaven, habe ich mir gewünscht, zu sterben.<br />

Sie haben mich betatscht, haben mich angefasst, ich konnte es nicht mehr aushalten!“<br />

Shawn lag zuckend in Kellys Armen. Er schluchzte zum Steinerweichen.<br />

„Ich habe so verzweifelt auf Hilfe gehofft. Jemand musste mit bekommen haben, was pas-<br />

siert war! Ich dachte ... Keiner kam, um mir da raus zu helfen. Was hätte ich denn machen<br />

sollen? Ich hatte keine Chance, keine verdammte Chance! Wenn ich mich gewehrt hätte ...<br />

Alan hätte ... Er hätte mich halb tot geschlagen und dann ... dann hätten sie doch gemacht,<br />

was sie gemacht haben. Sie waren zu fünft! Ich ... Kelly, ich wollte nur Leben! Überleben, nur<br />

Überleben! Ich bin erst einunddreißig, ich wollte nur weiter leben. Sie hätten mich leicht ge-<br />

waltsam zu allem zwingen können. Was hätte ich denn ausrichten können? Ich hatte keine<br />

Wahl. Ich bin kein Held, verstehst du? Ich kann nicht ... ich kann nicht unbegrenzt Schmerzen<br />

ertragen. Was sie mit mir gemacht haben, Kelly, es hat oft so furchtbar wehgetan. Und dann<br />

war Carrie da und hat mir geholfen, hat mir die Striemen eingesalbt und hat mich massiert,<br />

wenn sie mich wieder mal ... Sie hatte unbegrenzte Ideen, mich in qualvollen und demütigen-<br />

den Positionen zu fesseln. Sie hat mich geknebelt, weil ich sonst nach fünf Minuten vor<br />

96


Schmerzen nur noch geschrien hätte. Ich will nie wieder allein sein und ich will nie wieder<br />

solche Schmerzen haben müssen! Ich hab mich nicht gewehrt, ich hatte doch keine Wahl!“<br />

Er hatte alles aus sich heraus geschrien, jetzt verstummte er und schluchzte hilflos in Kel-<br />

lys Armen weiter, bis er keine Tränen mehr übrig hatte. Erschöpft, am Rande des physischen<br />

und psychischen Zusammenbruchs, lag er in Kellys Armen und fühlte sich unendlich leer und<br />

ausgebrannt. Dünn klang seine Stimme, als er nach ein paar Minuten fragte:<br />

„War es das, was du hören wolltest?“<br />

Kelly hatte während des Ausbruchs Probleme gehabt, ihre Professionalität nur ansatzweise<br />

zu Wahren. Ihr waren Tränen in die Augen geschossen und sie hatte mit ihrem Patienten ge-<br />

weint, was dieser gar nicht realisiert hatte. Die schreckliche Einsamkeit und Hilflosigkeit, die<br />

Verzweiflung und der Hass auf die, die nicht kamen um zu helfen und auf sich selbst, weil<br />

man so schwach war, kannte sie nur zu gut. Sie hatte lange gebraucht, um ihre Eltern und<br />

Freunde nicht mehr zu verfluchen, um zu begreifen, dass diese genauso hilflos gewesen wa-<br />

ren. Ebenso lange hatte sie gebraucht, um sich selbst nicht mehr für ihre Schwäche zu hassen.<br />

Shawn ging es nicht anders. Er hielt sich für einen Feigling. Er kam sich von der ganzen Welt<br />

verraten und im Stich gelassen vor. Er würde lange brauchen, um zu verstehen, dass keiner<br />

hatte wissen können, wo er war und ihm also keiner hätte helfen können. Dass er, wenn er<br />

weiter Leben wollte, keine andere Wahl gehabt hatte. Um das zu begreifen war es so unglaub-<br />

lich wichtig, dass er sich seinen Gefühlen stellte, sich ihrer klar wurde. Als er ausgelaugt und<br />

fertig in ihren Armen lag, hatte Kelly das wilde Verlangen, ihn nie mehr los zu lassen. Er<br />

wirkte so verletzlich und unglücklich, dass ihr Herz vor Mitleid heftig schlug. Leise sagte sie:<br />

„So lange ich bei dir bin wirst du nicht allein sein und keine Schmerzen ertragen müssen,<br />

das schwöre ich dir!“<br />

7) Die Last der Lust<br />

Je mehr es einem um die Lust geht, umso mehr vergeht sie einem.<br />

Mit dünner Stimme fragte Shawn nach:<br />

„Du schwörst es?“<br />

Victor Frankl<br />

„Ja, das tue ich! Du warst großartig heute Abend. Du hast alles aus dir herausgelassen, das<br />

war großartig. Wir sollten jetzt versuchen zu schlafen, du musst dich erholen. Morgen werden<br />

wir weiter darüber sprechen und versuchen, heraus zu finden, wie Alan, Teresa ...?“<br />

„Karen und Brett.“, sagte Shawn leise.<br />

„Karen und Brett ausgesehen haben, damit ich Lauren informieren kann.“<br />

97


Shawn wirkte, als würde er jeden Moment im Sitzen einschlafen. Er war erschöpft wie sel-<br />

ten zuvor in seinem Leben. Unendlich müde nickte er. Er versuchte, auf die Beine zu kom-<br />

men. Ihm zitterten so die Knie, dass er Kellys Hilfe brauchte, um auf die Füße zu kommen.<br />

Sie stand selbst auf und reichte ihm ihre Hände. Sanft zog sie ihn in die Höhe und griff seinen<br />

Schlafsack. Sie legte Shawn den Arm um die Taille und so gingen sie zum Zelt hinüber. Kelly<br />

half Shawn hinein, löschte die Lampen und schlagartig fiel die Dunkelheit wie ein Tuch über<br />

das kleine Lager. Kelly turnte ins Zelt, kleidete sich bis auf Slip und T-Shirt aus und legte sich<br />

auf ihren Schlafsack, den sie in der Dunkelheit ertasten musste. Sie drehte sich auf die Seite,<br />

zu Shawn hin, und sagte:<br />

„Du wirst gut schlafen, da bin ich sicher. Gute Nacht.“ Sie tastete nach seinem Gesicht,<br />

beugte sich zu ihm und gab ihm einen liebevollen Kuss auf die Stirn. Shawn murmelte im<br />

Halbschlaf:<br />

„... Nacht ...“<br />

*****<br />

Am Morgen wachte Kelly auf und stellte als erstes beruhigt fest, das Shawn noch tief und<br />

fest schlief. Sie stand leise auf und trat ins Freie. Die Sonne war aufgegangen und Kelly reck-<br />

te sich ausgiebig. Es war ungewohnt, im Schlafsack statt in einem bequemen Bett zu schlafen.<br />

Sie sah sich um, konnte aber keine Schlange, Spinne oder etwas anderes entdecken. Zufrieden<br />

entzündete sie das kleine Lagerfeuer erneut und sammelte trockenes Holz. Sie setzte Wasser<br />

für Kaffee auf. Während das Wasser heiß wurde, ging sie zum Wagen hinüber und nahm ein<br />

Notizheft heraus. Sie setzte sich zurück ans Feuer und begann, sich aufzuschreiben, was sie<br />

am Abend von Shawn erfahren hatte. Eine spezielle Seite legte sie an für die Beschreibung<br />

der Entführer. Die würde sie vervollständigen, wenn sie nähere Infos von Shawn erhalten hat-<br />

te und die Erkenntnisse bei nächster, sich bietender Gelegenheit an Lauren weitergeben. Als<br />

Kelly mit ihren Notizen fertig war, kam Shawn aus dem Zelt gekrabbelt. Verlegen sagte er:<br />

„Guten Morgen. Bist du schon lange auf den Beinen?“<br />

Kelly lächelte. „Ja, eine Weile. Du hast gut geschlafen, das freut mich.“<br />

„Ja, erstaunlich. Nachdem ich gestern dermaßen fertig war ... psychisch ...“<br />

Er setzte sich zu Kelly und sie reichte ihm einen Becher Kaffee. Ruhig sagte sie:<br />

„Shawn, ohne Niederlagen und Rückschläge gäbe es keine Erfolge. Nicht das hinfallen ist<br />

es, was zählt, sondern die Zeit in der du es schaffst, wieder aufzustehen. Sieh dich an: Du<br />

stehst!“<br />

Shawn lächelte schwach. „Wackelig, aber ich stehe.“<br />

„Und du wirst mit jedem fallen stärker erstehen.“<br />

98


Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Schließlich erhob Shawn sich und ver-<br />

schwand kurz, um sich zu erleichtern. Als er zurück ins Lager kam fragte er:<br />

„Ist noch Wasser da? Kann ich duschen?“<br />

Kelly nickte. „Ja, kannst du. Hinterher müssen wir auffüllen.“<br />

So entkleidete Shawn sich und stellte sich unter die Dusche. Das Wasser war über Nacht<br />

abgekühlt, aber das störte ihn nicht. Als er sich sauber fühlte und bekleidet war, kam er zu<br />

Kelly zurück, die begann, das Lager abzubrechen. Wortlos packte Shawn mit an und zwanzig<br />

Minuten später drückte Kelly ihm den Autoschlüssel in die Hand.<br />

„Hier. Schaff uns weiter.“<br />

Shawn biss sich auf die Lippe, grinste und sagte: „Okay, wo lang?“<br />

Sie stiegen ein und Kelly schaltete das Navi ein.<br />

„Fahr ruhig los, das wird ein paar Minuten dauern bis es uns gefunden hat.“, erklärte sie<br />

und Shawn fuhr langsam an. Die Landschaft um sie herum veränderte sich nicht. Flaches<br />

Land, von kleinen Büschen und kargen Bäumen bewachsen. An einigen Stellen wurde es fel-<br />

sig, dann folgte fest gebrannter Sand. Das Gelände war schwierig zu befahren und so kamen<br />

sie nur langsam voran. Kelly grinste.<br />

„Wenn wir zehn bis 15 Kilometer am Tag schaffen, ist das gut. Hier draußen läuft die Zeit<br />

anders ab.“<br />

Gegen Mittag erklärte Kelly:<br />

„Wir müssen uns weiter östlich halten, sonst kommen wir zu weit vom Wege ab.“ Sie leg-<br />

ten eine kleine Pause ein, aßen Obst und anschließend übernahm Kelly das Steuer. Das fahren<br />

hier draußen war anstrengend und erforderte höchste Konzentration. So war Shawn nicht bö-<br />

se, dass er eine Pause einlegen konnte. Er war den ganzen Morgen über schweigsam gewesen.<br />

Als sie nun wieder unterwegs waren, machte er erstmals den Mund auf.<br />

„Ich würde dich gerne mal etwas fragen.“, sagte er angespannt.<br />

Kelly lächelte. „Raus damit.“<br />

Shawn atmete tief durch. „Dieses Gefühl, dieser Hass, den ich hatte, ist das normal?“<br />

Ohne Zögern antwortete die junge Frau: „Ja, Shawn, das ist normal. Man hasst die ganze<br />

Welt draußen, weil niemand kommt, um einem zu helfen. Diese Hilflosigkeit macht es sol-<br />

chen Menschen leicht, zu manipulieren. Sie wissen geschickt auszunutzen, dass der Gefange-<br />

ne sich maßlos im Stich gelassen fühlt. Selbst in ... wie soll ich sagen, selbst in erreichbarer,<br />

in hoffnungsvollerer Haftumgebung ist man schnell bereit, sich dem Ersten, der nett zu einem<br />

ist, hinzugeben. Man hat Angst, bangt ständig um sein Leben, ist verzweifelt, und nur zu be-<br />

reit, das erste nette Wort, die erste freundliche Geste aufzusaugen wie ein Schwamm. In dei-<br />

ner Situation, auf der Insel, fern jeder Hoffnung, gerettet zu werden, potenzierte sich dieses<br />

Gefühl der absoluten Einsamkeit und Hilflosigkeit ins Unermessliche. Du hattest keine andere<br />

Wahl, als dich Carrie hinzugeben.“<br />

99


Leise seufzte Shawn. „Das habe ich bereits am ersten Abend getan.“<br />

Es war zwar nicht gerade der passende Zeitpunkt, aber Kelly beschloss, Shawns Mittei-<br />

lungswillen auszunutzen. Liebevoll sagte sie:<br />

„Wenn du magst, kannst du mir gerne erzählen, wie der Abend weiter verlief.“ Unauffällig<br />

schaltete sie das Diktiergerät, das sie in der Hosentasche hatte, an. Shawn sah unglücklich aus<br />

dem Fenster und holte tief Luft.<br />

*****<br />

Unendlich erleichtert lag Shawn still und versuchte ein Keuchen zu unterdrücken. Seine<br />

Schultern und Arme schmerzten, er hätte die Wände hochgehen können, und sein Po brannte,<br />

da das Laken gegen die Striemen drückte, wie Feuer. Endlich hörte er Carries Stimme.<br />

„Roll dich auf den Bauch.“ So schnell es ihm in seinem momentanen Zustand möglich<br />

war, rollte er sich herum und lag still. Er schrak heftig zusammen, als er spürte, wie Kühles<br />

auf seinen Rücken geträufelt wurde. Im nächsten Moment fühlte er zarte Hände, die ihn ge-<br />

konnt zu massieren begannen. Es tat unendlich gut und nach und nach wurden die Schmerzen<br />

in Armen und Schultern weniger.<br />

Carrie arbeitete eine Weile, bis sie spürte, wie Shawn sich entspannte. Sie wischte ihm Öl-<br />

reste mit einem kleinen Handtuch ab und griff nach einer kühlenden Heilsalbe, die sie er-<br />

staunlich sanft auf die dicken, roten, blutunterlaufenen Striemen auf seinem Po verteilte. Als<br />

sie fertig war, sagte sie:<br />

„Dreh dich auf den Rücken.“<br />

Shawn gehorchte. Vorsichtig rollte er sich auf den Rücken und lag erneut still. Carrie sah<br />

ihn einen Moment lang an und stand auf. Sie trat an das Fußende des Bettes und griff nach<br />

einer Kette, die am Bettgestell befestigt war. Sie beugte sich vor, drückte Shawn die Fußge-<br />

lenke zusammen und ließ die Karabinerhaken, die an den Ledermanschetten, die sie ihm um-<br />

gelegt hatte, befestigt waren, zusammen schnappen. Die Kette selbst war ebenfalls mit einem<br />

Karabinerhaken ausgestattet, den sie in die Karabiner der Manschette einschnappen ließ. So<br />

waren Shawns Beine an das Bett gefesselt. Sie trat an das Kopfende und befahl ihm ruhig:<br />

„Streck die Arme nach oben.“<br />

Shawn schluckte und gehorchte schwer atmend. Er konnte spüren, wie die Karabiner inei-<br />

nander schnappten und gleich darauf waren seine Arme an das Bett gefesselt.<br />

Shawn versuchte, ruhig zu atmen, aber das gelang ihm nicht. Hektisch und angstvoll at-<br />

mete er ein und aus, darauf wartend, was geschehen würde. Erst einmal passierte gar nichts.<br />

Carrie nahm sich die Zeit, den jungen Mann nur in aller Ruhe zu betrachten. Sie setzte sich zu<br />

ihm auf das breite Bett und sah, wie schnell und flach er atmete. Sie genoss die Angst, die sie<br />

100


ei dem wehrlosen Gefangenen spürte. Er war das perfekte Opfer, da hatte sie Recht gehabt.<br />

Die reiche, bildschöne junge Frau hatte ihn sich vor einem halben Monat in einer Nobeldisco<br />

auserwählt. Er war ihr sofort aufgefallen. Groß, fast 1.90 Meter, grüne Augen, Grübchen, die<br />

bei jedem Lächeln zuckten, blonde, nackenlange Haare, braun gebrannt, ebenmäßige Zähne,<br />

die strahlend weiß zwischen seinen Lippen blitzten, schlank, durchtrainiert und muskulös. Sie<br />

hatte Erkundigungen über ihn eingeholt. Er hieß Shawn McLean, war einunddreißig Jahre<br />

alt, lebte normalerweise in Sausalito, San Francisco und arbeitete dort als Schauspieler und<br />

Model. In Mackay hielt er sich für einen Fernsehspot auf und hatte ein paar Tage Urlaub<br />

angehängt. Es war perfekt. Ihn zu entführen und auf die Insel zu schaffen, war ein Kinderspiel<br />

gewesen. Jetzt lag er hier auf ihrem Bett. Verängstigt, verzweifelt, und nach der Abreibung<br />

heute war Carrie sicher, von nun an willig.<br />

Die hübsche, junge Frau legte sich neben den Gefesselten und strich ihm fast zärtlich eine<br />

Haarsträhne aus der Stirn. Erschrocken zuckte Shawn erneut zusammen und atmete schnell<br />

und flach vor Angst.<br />

„Du musst keine Angst haben, nicht im Moment. Ich werde dir nichts tun.“, sagte sie be-<br />

ruhigend. Shawns Kopf mit der Augenbinde bewegte sich nervös in die Richtung, aus der die<br />

Stimme kam. Er zuckte unruhig in den Fesseln und Carrie fragte:<br />

„Ist irgendwas?“<br />

Hektisch nickte der junge Mann.<br />

„Sag mir, was los ist.“<br />

Er biss sich auf die Unterlippe, erklärte endlich leise: „Ich ... muss zur Toilette, bitte.“<br />

Carrie hatte sich das fast gedacht. Sie löste die beiden Ketten, die ihn hielten, öffnete aber<br />

die Fesseln an den Hand und Fußgelenken nicht. Dann nahm sie ihm die Augenbinde ab. Er<br />

blinzelte und Carrie sagte:<br />

„Du darfst gehen.“<br />

Unbeholfen richtete Shawn sich auf und sah sich suchend um. Er entdeckte eine Tür an<br />

der Wand gegenüber und sah Carrie an. Diese nickte. Vorsichtig schwang Shawn die zusam-<br />

men gefesselten Füße aus dem Bett und erhob sich mühsam. Winzig kleine Schritte machend,<br />

mehr ließen die Karabinerhaken nicht zu, schaffte er es gerade noch, das Klo zu erreichen. Er<br />

machte sich hastig auf den Rückweg, um Carrie nicht zu verärgern.<br />

Als er mühsam das Bett erreicht hatte, sah er, dass Carrie sich entkleidet hatte. Mit offe-<br />

nem Mund starrte er sie sekundenlang an. Verlegen senkte er den Kopf, als ihm bewusst wur-<br />

de, dass er starrte. Sie sah ihm entgegen und sagte:<br />

„Bleib dort stehen und rühr dich nicht.“<br />

101


Shawn erstarrte. Carrie musterte ihn, wie man ein Stück Rindvieh mustern würde, dass<br />

man zu kaufen beabsichtigte. Jeder Zentimeter seines Körpers wurde von ihr regelrecht ge-<br />

scannt. Schließlich sagte sie:<br />

„Heb die Arme und leg sie hinter deinen Nacken.“<br />

Bis eben hatten seine Hände vor seinem Intimbereich herunterhängend den Blick dorthin<br />

verwehrt. Shawn presste die Lippe zusammen und hob schwer atmend langsam die gefesselten<br />

Arme in die Höhe. Er konnte Carries Blicke fast körperlich spüren und es fiel ihm extrem<br />

schwer, die Hände nicht herunter zu nehmen. Lange ließ sie ihn stehen, solange, dass seine<br />

Beine anfingen zu schmerzen. Endlich sagte sie ruhig:<br />

„Dreh dich um.“<br />

Vorsichtig, um nicht ins Wanken zu kommen, drehte er ihr den Rücken zu. Nach einigen<br />

Minuten hörte er sie sagen:<br />

„Komm aufs Bett.“<br />

Gehorsam setzte Shawn sich in Bewegung und legte sich unbeholfen neben sie. Sekunden<br />

später waren seine Beine erneut an die Kette gelegt und Carrie sah ihn an.<br />

„Ich möchte, dass du mich darum bittest, dir die Hände an das Bett zu fesseln.“<br />

Shawn sah Carrie an und schluckte schwer. Verzweifelt schloss er kurz die Augen. Leise<br />

sagte er:<br />

„Bitte, fessle ... meine Hände ... ans Bett.“ Seine Stimme zitterte bedenklich. Er starrte die<br />

Wand an und kämpfte mit Tränen, die ihm der pure Scham in die Augen treiben wollte.<br />

Carrie nickte zufrieden und sagte ruhig:<br />

„Gib sie mir.“ Shawn schloss erneut die Augen, aber er streckte die Hände über seinen<br />

Kopf. Sie waren zu Fäusten geballt. Er spürte den Karabiner der Kette einrasten und biss die<br />

Zähne zusammen, dass es knirschte. Sich hier freiwillig komplett hilflos machen zu lassen,<br />

war unerträglich. Carrie nickte zufrieden. Sie rutschte zu ihm auf das Bett und hockte sich<br />

rittlings über seine Oberschenkel.<br />

„Du siehst gut aus, das weißt du sicher?“, sagte sie und musterte seinen Körper erneut.<br />

„Ich habe eine ausgezeichnete Wahl getroffen.“ Er erstarrte, als sie sich vor beugte und ihr<br />

Hände sinnlich über seinen Oberkörper glitten. Auf dem Nachtschrank neben ihm lag noch<br />

die Augenbinde und sie griff nach dieser. Genüsslich legte sie ihm diese um. Sanft fragte sie:<br />

„Weißt du, warum ich dir die Augen verbinde?“<br />

Er stutzte kurz, schüttelte den Kopf. „Nein ... Gesehen habe ich euch ja ...“<br />

Sie lachte leise. „Wenn man des wichtigsten Sinnes beraubt ist, werden alle anderen Sinne<br />

geschärft. Wenn du nichts sehen kannst, wird dein fühlen extrem intensiviert.“<br />

Er zuckte heftig zusammen, als er ihre Hände auf seiner Brust spürte. Sanft streichelte sie<br />

ihn, ließ ihre Finger an seinem Körper herunterrutschen, bis sie seinen Penis erreicht hatte.<br />

102


Und zu seinem nachhaltigen Entsetzen spürte er, dass dieser sich selbstständig machte! Ohne<br />

es verhindern zu können, wurde er steif.<br />

Shawn stöhnte auf. Vor Erregung und Verzweiflung über die Schwäche seines Körpers<br />

gleichermaßen. Carrie lachte leise und rutschte von ihm herunter. Sie kniete neben ihm und<br />

beugte sich vor. Er spürte ihre Haare auf seinen Körper fallen und zuckte erneut heftig zu-<br />

sammen, als ihre Lippen sich sinnlich um seinen Penis legten. Ihre Finger schoben seine Vor-<br />

haut zurück und er spürte ihre Zunge sanft um seine Eichel kreisen. Er konnte ein Keuchen<br />

der Erregung nicht mehr unterdrücken. Oh Gott! Das fühlte sich gut an! Plötzlich war das<br />

Gefesselt sein, die Hilflosigkeit, nicht mehr nur beschämend und beängstigend, sondern erre-<br />

gend. Als ihre Zähne sanft an seiner Eichel knabberten keuchte er erneut auf. Er atmete has-<br />

tig mit leicht geöffnetem Mund ein und aus und hatte Angst, dass sie aufhören könnte. Shawn<br />

merkte gar nicht bewusst, dass er sich bebend in den Fesseln wand. Er versuchte, seinen Un-<br />

terleib in die Höhe zu drücken, aber da er wenig Spielraum in den Fesseln hatte, war der Ver-<br />

such nicht sonderlich erfolgreich. Als ihre Zunge spielerisch durch seine Kranzfurche rutsch-<br />

te, keuchte er heftig auf und seine gefesselten Hände ballten sich erneut zu Fäusten, diesmal<br />

aus andersgearteten Gründen. Er wollte es nicht, wollte sich beherrschen, aber er war ge-<br />

schlagen.<br />

Carrie war zufrieden. Ihr Gefangener wand sich unter ihren Berührungen in seinen Fes-<br />

seln. Ihre Zunge spielte mit ihm und sie merkte dass er kurz vor dem Orgasmus war. Sofort<br />

hörte sie auf, so schnell wollte sie es nicht beenden. Als sie sich aufrichtete, stöhnte Shawn<br />

vor Enttäuschung. Zuckend vor Erwartung lag er da. Sachte ließ sie ihre Finger streichelnd<br />

über seine Brust gleiten. Als er sich entspannt hatte, beugte sie sich erneut vor und ihre Lip-<br />

pen schlossen sich um sein steifes Glied. So unerwartet kam diese neuerliche Berührung, dass<br />

ihm ein heftiges Stöhnen entwich. In Sekundenschnelle wand er sich erneut ihren Liebkosun-<br />

gen entgegen. Dass sein Po leicht brannte von den Peitschenhieben förderte in diesem Mo-<br />

ment seine Erregung höchstens noch. Er zuckte in den Fesseln und wünschte sich, endlich in<br />

einem Orgasmus Erlösung zu finden. Bevor es dazu kommen konnte, hörte Carrie erneut auf.<br />

Ein Geräusch wie ein Schluchzer entwich Shawns Lippen. Doch nicht lange. Er spürte, wie<br />

Carrie sich über ihn kniete. Sie ließ sich langsam auf ihn sinken. Einige Augenblicke saß sie<br />

nur still da, während sein Körper sich ihr so gut es ging entgegen bäumte. Endlich bewegte<br />

sie sich, langsam, quälend langsam. Shawn hatte das Gefühl, jeden Moment explodieren zu<br />

müssen. Fast schmerzhaft war die Erregung. Als er ein leises Wimmern von sich gab, wurden<br />

Carries Bewegungen endlich schneller. Sie wurde von ihrer eigenen nur noch mühsam unter-<br />

drückten Erregung überschwemmt und ließ alle Beherrschung fahren. Schließlich merkte sie,<br />

dass er so weit war. Sie ließ sich nach vorne fallen und er spürte erneut ihre langen Haare<br />

auf seinem Körper. Noch einmal ließ sie sich in seiner ganzen Länge auf ihn herab sinken und<br />

103


endlich löste sich Shawns Erregung in einem heftigen Orgasmus, der unmittelbar von Carries<br />

gefolgt wurde. Ihre Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in seinen Bauch und er zuckte<br />

krampfartig. Dann wurde er erschöpft und nach Luft keuchend schlaff.<br />

Einige Minuten blieb Carrie regungslos auf ihm liegen. Dann ließ sie sich von seinem<br />

schweißnassen Körper gleiten und Shawn konnte ein leises, enttäuschtes Seufzen nicht zu-<br />

rückhalten. Sofort fragte er sich, ob die Entführung bereits irreparablen Schaden an seinem<br />

Hirn verursacht hatte! Diese Frau hatte ihn gewaltsam entführt, gedemütigt, ausgepeitscht<br />

und gequält und ihn regelrecht vergewaltigt und das einzige, was ihm dazu einfiel, war Be-<br />

dauern, als sie sich zurückzog. Er schüttelte über sich selbst gedanklich den Kopf. Was war<br />

nur los mit ihm? Nach wenigen Stunden ein Stockholm-Syndrom zu entwickeln, war wohl un-<br />

möglich. Das konnte es nicht sein. Shawn musste sich eingestehen, nie zuvor einen so intensi-<br />

ven Sexualakt erlebt zu haben. Er sah, das hatte auch Carrie gesagt, gut aus und konnte sich<br />

über Mangel an weiblicher Gesellschaft nicht beklagen. Doch mit keiner Partnerin hatte er<br />

bislang einen solchen Orgasmus erlebt. Er spürte Carrie neben sich liegen und wünschte, sie<br />

würde sich mit ihm beschäftigen. Das geschah nicht. Nach einiger Zeit hörte er im Gegenteil<br />

ihre ruhigen Atemzüge und wusste, dass sie eingeschlafen war. Er lag weiter wach. Zu vieles<br />

ging ihm durch den Kopf. Sie hatte ihn benutzt. Benutzt, um ihre eigenen Bedürfnisse an ihm<br />

auszuleben. Dass sie sich kommentarlos von ihm abgewandt hatte, ließ Shawn erkennen, dass<br />

er nur ein Objekt für die junge Frau gewesen war. Ein Objekt, das nach Gebrauch ignoriert<br />

wurde. Shawn stöhnte auf. Er fühlte sich nicht nur hilflos und den Launen einer Irren ausge-<br />

liefert, er fühlte sich entsetzlich gedemütigt.<br />

Er war entführt worden. Ein leises, verzweifeltes Lachen schlich sich über Shawns Lippen.<br />

Was hatte sie gesagt? Er sollte ein Sexsklave sein. Eine Gänsehaut huschte über seinen Kör-<br />

per. Das, was sie gerade mit ihm gemacht hatte, war es wohl, was sie damit ausdrücken woll-<br />

te. Was mochte das aber sonst noch bedeuten? Gut, hier gefesselt zu liegen und von einer<br />

hinreißend schönen Frau vergewaltigt zu werden war nicht gerade etwas, wovor man Angst<br />

haben musste, selbst wenn es extrem demütigend war. Shawn war sich aber sicher, dass dies<br />

nur der Gipfel des Eisberges war, der hier noch auf ihn zukommen würde. Das Auspeitschen<br />

war da schon eine andere Kategorie gewesen. Körperlicher Schmerz war neu für Shawn. Die-<br />

se Art Schmerz jedenfalls! Bewusst herbeigeführter Schmerz durch einen anderen Menschen.<br />

Noch immer hatte er das Gefühl, den qualvollen Biss der Gerte auf seiner Haut zu spüren. Er<br />

war kein Feigling und erst recht kein Jammerlappen, davon zeugten seine vielen Extrem-<br />

sportarten. Hilflos ausgeliefert und gezielt von einem anderen Menschen derartige Schmerzen<br />

zugefügt zu bekommen, nur zu deren Unterhaltung, war eine ganz andere Erfahrung. Das<br />

Wissen, dass es diesen Leuten hier Spaß und Erregung verschaffte, ihn brutal zu foltern, war<br />

Folter an sich. Als sie endlich aufgehört hatte ihn zu schlagen, hatte er ein Schluchzen der<br />

104


Erleichterung nicht mehr zurückhalten können. Er hatte danach, vor Schmerzen verkrampft,<br />

in seinen Fesseln gehangen und nichts so herbei gewünscht wie befreit zu werden. In der an-<br />

genehmeren, liegenden Haltung merkte er allerdings auch allmählich, wie unangenehm die<br />

stramme Fesselung war. Sein Hintern brannte und er hätte einiges gegeben, sich bewegen zu<br />

können. Ihm wurde kalt, doch weder konnte er sich zudecken noch wagte er, sich bemerkbar<br />

zu machen. So lag er zitternd vor Kälte, Angst, Schmerzen, Verzweiflung still und hoffte, ein-<br />

schlafen zu können. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Zu ungewohnt und auf Dauer<br />

schmerzhaft war es, so stramm gefesselt stillliegen zu müssen. Zu groß war die Angst, die er<br />

vor seiner Zukunft hatte.<br />

*****<br />

Kelly hatte ruhig zugehört und drückte das Diktiergerät aus. Shawn musste erst einmal tief<br />

durch atmen. Er flüsterte unglücklich:<br />

„Ich habe schon bei diesem ersten Mal einen tierischen Orgasmus gehabt, Kelly. Ich habe<br />

mich dafür so sehr gehasst!“ Tränen glitzerten auf seinen Wangen. Kelly hielt den Wagen an<br />

und sagte entschlossen:<br />

„Komm, wir gehen ein kleines Stück spazieren, vergiss deinen Hut nicht.“ Sie stiegen aus<br />

und marschierten los, Richtung Westen. In einiger Entfernung fanden sie einen umgestürzten<br />

Baumstamm. Kelly untersuchte diesen gründlich, bevor sie sagte:<br />

„Lass uns hier einen Moment hinsetzen, okay?“ Nebeneinander ließen sie sich nieder. Ru-<br />

hig fing Kelly an: „Ich nehme an, über die männliche Anatomie muss ich dir nichts erzählen.<br />

Aber vielleicht über Sexualempfindungen. Etwas, was dir helfen kann, zu erklären, warum du<br />

von Carrie so leicht zu überwältigen warst.“ Sie sah Shawn an und dieser hörte aufmerksam<br />

zu. „Erst einmal seid ihr Männer generell empfänglicher für sexuelle Stimulation als Frauen.<br />

Bei erotischer Stimulation über das parasympathische, unwillkürliche Nervensystem reagieren<br />

die Schwellkörper in eurem Penis fast unmittelbar, in dem sie sich mit Blut füllen. Die soge-<br />

nannten Rankenarterien füllen sich sofort mit Blut. Diese Zuflüsse zum Penisschwellkörper<br />

sind Sperrarterien. Sie lassen das Blut rein und halten es dort. Die glatte Muskulatur des Pe-<br />

nisschwellkörpers erschlafft. Der Musculus ischiocavernosus erzeugt durch rhythmische Kon-<br />

traktionen auf die blutzuführende Penisarterie und gleichzeitiges Abdrücken des venösen Ab-<br />

flusses über die Vena profunda penis im Schwellkörper einen Blutdruck von zirka ~1.6 Bar,<br />

was etwa dem Zehnfachen des arteriellen Blutdrucks im Körper entspricht. Der Penisschaft<br />

verdickt und versteift sich. In der Phase der maximalen Erektion kommen sowohl Blutzu- als<br />

auch Abfluss des Penisschwellkörpers zum Erliegen, sodass der Penisschwellkörper ein ge-<br />

schlossenes System darstellt. Der Harnröhren- und Eichelschwellkörper werden im Gegensatz<br />

zum Penisschwellkörper im erschlafften Zustand von Blut durchströmt. Während der Erektion<br />

drückt der Musculus bulbospongiosus den Abfluss über die Vena bulbi ab, sodass es zu einer<br />

105


vermehrten Füllung dieser Schwellkörper kommt. Dies führt zu einer Vergrößerung der Ei-<br />

chel, die Steifigkeit des Gliedes wird davon nicht beeinflusst. Zudem wird der Blutabfluss<br />

hier nicht vollständig gedrosselt, da ein zweiter Abfluss über die Vena dorsalis bestehen<br />

bleibt, sodass beide Schwellkörper bei maximaler Erektion eindrückbar bleiben. Der Muscu-<br />

lus bulbospongiosus führt kurz vor dem Samenerguss rhythmische Kontraktionen aus, die<br />

aufgrund des noch bestehenden zweiten Abflussweges pulsierende Erektionswellen erzeugen<br />

und damit den Samenausstoß unterstützen. Im Allgemeinen kommen Männer schneller zum<br />

Orgasmus als Frauen. Carrie hat sich mit Sicherheit lange mit dem Thema BDSM beschäftigt.<br />

Was du bisher erzählt hast, deutet auf einen Profi hin. Sie kennt die männlichen Sexualorgane<br />

besser als die meisten Männer selbst. Und sie ist eine hervorragende Beobachterin. Sie wird<br />

deine Reaktionen auf die sexuelle Stimulation durch sie schneller bemerkt haben, als du selbst<br />

diese registrieren konntest.“<br />

Kelly machte eine kurze Pause und fuhr sachlich fort:<br />

„In der Sexualforschung ist ein direkter Zusammenhang zwischen Angst und Orgasmus<br />

bekannt. So unglaublich es sich anhört, aber in Stresssituationen kommt man schneller und<br />

heftiger zum Orgasmus, als man denken mag. Das fängt mit dem simplen Reiz des ertappt<br />

werdens an. Für viele Menschen ist Sex an Orten, wo jederzeit jemand kommen könnte, um<br />

sie zu erwischen, ein unglaublicher Reiz. Versuche haben gezeigt, dass auch Menschen, die<br />

weder sadistisch noch masochistisch veranlagt sind, den starken Reiz von Fesselspielen als<br />

unglaublich stimulierend empfinden. Das Gefühl des ausgeliefert seins, die Hilflosigkeit, we-<br />

der forcieren noch verhindern zu können, wirkt sich auf unsere Sexualempfindungen extrem<br />

stimulierend aus. Das ist weder anormal noch abstoßend, sondern eine natürliche Reaktion<br />

unseres Körpers. Dass du dachtest, die Schmerzen auf deiner Haut würden die Lust in dem<br />

Moment noch steigern, war eine Vorgaukelung falscher Tatsachen. Der Schmerz hat deine<br />

Erregung nicht gesteigert, sondern deine Erregung hat den Schmerz nebensächlicher gemacht.<br />

Du wolltest in dem Moment den Schmerz vergessen und das hat dein Körper für dich erledigt.<br />

Du hattest keine Chance, den Orgasmus zurückzuhalten, sowenig, wie du Kraft deines Wil-<br />

lens verhindern kannst, dass dir Schweiß ausbricht oder deine Blase sich füllt.“<br />

Shawn hatte konzentriert zugehört. Er stieß ein kurzes Lachen aus und sagte bedrückt,<br />

aber erleichtert:<br />

„Etwas ähnliches hat Carrie mir auch mal gesagt, in einem anderen Zusammenhang.“<br />

Kelly nickte. „Siehst du, ich sage ja, die Frau hat Ahnung. Die ist keine Anfängerin.“<br />

Shawns Blick hing gedankenversunken in der Weite des Outbacks. „Das heißt, ich bin<br />

nicht zum Perversling mutiert?“<br />

Kelly konnte nicht anders, sie lachte liebevoll. „Nein, Shawn, nein, bestimmt nicht! Dein<br />

Körper hat der Situation entsprechend normal reagiert. Du hast ja bei der Zufügung von<br />

106


Schmerzen keine Lust empfunden. Selbst das wäre nicht pervers, sondern für unglaublich<br />

viele Menschen normal.“<br />

„Aber als sie mir den ... als sie mich anal ...“ Er konnte es nicht aussprechen, aber Kelly<br />

wusste so, was er fragen wollte.<br />

„Ach, Shawn, das ist nicht anstößig! Viele Männer empfinden es als außerordentlich lust-<br />

voll, anal stimuliert zu werden. Ich arbeite mit Sexualtherapeuten zusammen, ich kenne mich<br />

in dem Metier gut aus, verstehst du? Analsex ist so normal wie reiner Vaginalsex. Dass Män-<br />

ner es erregend finden, anal penetriert zu werden, ist keineswegs anstößiger, als wenn eine<br />

Frau es mag. Bei euch liegt bloß der Gedanke an Homosexualität zugrunde, sonst würden viel<br />

mehr Männer diese Art der Reize hin und wieder von ihren Partnerinnen erbitten. In Gesprä-<br />

chen mit Sexualtherapeuten kommt der Wunsch nach Analsex bei Männern extrem häufig<br />

zum Tragen, sie haben nur nicht den Mut, ihre Partnerinnen darum zu bitten. Glaube mir, dass<br />

hat in keiner Art und Weise damit zu tun, dass all diese Männer verkappte Homosexuelle<br />

sind! Wenn du es als lustvoll empfunden hast, ist das in Ordnung. Du musst dich in keiner<br />

Weise schämen. Der Anus ist aufgrund zahlreicher Nervenenden eine extrem erogene Zone.<br />

Anale Stimulation wird oft sehr lustvoll empfunden. Um den äußeren Schließmuskel herum<br />

befinden sich sehr viel Nervenenden, aber auch der innere Teil sowie der Enddarm können<br />

durch Druck und Bewegung stimuliert werden. Die meisten Menschen können allein durch<br />

passiven Analverkehr nicht zum Orgasmus kommen, das heißt, sie benötigen zusätzliche ge-<br />

nitale Stimulation zum Erreichen des Höhepunktes. Unter bestimmten Umständen ist ein Or-<br />

gasmus aber durch rein anale Stimulation möglich: Für euch Männer geschieht das durch Sti-<br />

mulation der Prostata, für Frauen durch Anspannung der Beckenbodenmuskulatur. Ohne Car-<br />

rie hättest du es nie kennen gelernt, sie hat dir gezeigt, was dein Körper mag und was nicht.<br />

Das Wissen solltest du mit zukünftigen Partnerinnen ausnutzen.“<br />

8) Der Taipan<br />

Die menschliche Stimme kann nie so weit reichen wie die leise Stimme des Gewis-<br />

sens.<br />

Mahatma Ghandi<br />

Shawn hatte aufmerksam zugehört. Bevor er es noch verhindern konnte, entschlüpfte ihm<br />

eine Frage.<br />

„Würdest du so was machen, wenn dein Partner dich bitten würde?“<br />

Kelly nickte. „Selbstverständlich. Im Sex sollte alles erlaubt sein, was gefällt, solange es<br />

den betreffenden Partner nicht überfordert. Wenn mein Partner beim Analsex Lust empfinden<br />

würde, spricht nichts dagegen, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Frauen können es als ziemlich<br />

107


anregend empfinden, ihren Männern das Gefühl der Penetration zu vermitteln. Da ein Mann<br />

anatomisch nur diesen einen Eingang hat, bleibt keine andere Möglichkeit, dieses Gefühl zu<br />

vermitteln.“<br />

Unglaublich verlegen flüsterte Shawn: „Ich fand es manchmal geil.“<br />

Kelly sah ihn an und erwiderte: „Das ist nichts Schlimmes oder Verwerfliches. Dass du im<br />

gefesselten Zustand zu wundervollen Orgasmen gekommen bist, ist ebenfalls nichts anstößi-<br />

ges.“<br />

Shawn seufzte. „Bei dir hört sich alles so ... einfach an. Ich winde mich innerlich, wenn<br />

ich daran denke, dass ich vor Geilheit geschrien habe, während Carrie mich gevögelt hat. Ich<br />

habe ein derart schlechtes Gewissen, weil ich das Gefühl habe, nicht annähernd genug getan<br />

zu haben um es zu verhindern.“ Shawn kullerten vor Scham einzelne Tränen über die Wan-<br />

gen. Kelly rutschte dich an den jungen Mann heran und nahm ihn in den Arm.<br />

„Ich wünschte, ich könnte dir die Scham nehmen, Shawn. Das kannst aber nur du selbst.<br />

Du findest irgendwann eine Partnerin, der du so viel Vertrauen entgegen bringst, dass du ihr<br />

deine geheimsten Wünsche offenbaren kannst.“<br />

Shawn wischte sich ärgerlich mit der Rechten über die Wangen. Bedrückt sagte er: „Glaub<br />

ich nicht. Egal. Wollen wir weiter?“<br />

Kelly nickte. „Ja, sollten wir. Ich würde gerne heute noch ein Stück weit kommen. Viel-<br />

leicht schaffen wir es bis Lake Amadeus.“<br />

„Lake Amadeus?“, fragte Shawn erstaunt. „Hier gibt es einen See?“<br />

Kelly grinste. „Ja, und was für einen, du wirst staunen.“<br />

Sie beeilten sich, zum Wagen zurückzukommen und Kelly klemmte sich hinters Steuer.<br />

Shawn war gesprächiger als am Vormittag.<br />

„Meinst du, wir können mit dieser ... kognitiven Befragung aus meinem Hirn graben, wie<br />

die anderen ausgesehen haben?“<br />

Kelly nickte. „Ja, das denke ich schon. Wenn das nicht hilft, werde ich dich Hypnotisie-<br />

ren. So bekommen wir es bestimmt heraus.“<br />

Erstaunt sah Shawn sie an. „Das kannst du?“<br />

„Ja, ich habe es gelernt. Es hilft in vielen Fällen.“<br />

Er schwieg einige Minuten, dann fragte er: „Wenn ... wenn die gefasst werden und es zu<br />

einer Verhandlung kommt, muss ich das alles vor Gericht wiederholen?“ In seiner Stimme<br />

schwang eindeutig panische Angst mit.<br />

„Nein, Shawn, das wird nicht nötig sein. In solchen Fällen erkennt das Gericht Aussagen<br />

an, die vor den Therapeuten gemacht werden. Nur wer keine therapeutische Hilfe in Anspruch<br />

nimmt, ist gezwungen, alles im Gericht zu wiederholen. Darum habe ich von Anfang an ein<br />

Bandgerät mitlaufen lassen.“<br />

Erstaunt sah Shawn sie an. „Hast du? Habe ich gar nicht gemerkt.“<br />

108


„Dazu bin ich bei allen Patientengesprächen verpflichtet.“, erklärte Kelly ruhig.<br />

Sie kamen gerade gut voran und Kelly war zufrieden.<br />

„Ich denke, wir werden heute noch den See erreichen. Das ist gut. Heute Abend wirst du<br />

mir von dem Tag nach deiner Beschneidung erzählen, okay.“<br />

Shawn seufzte. „Okay.“<br />

„Denke erst einmal an etwas anderes! Zum Beispiel daran, was wir noch alles sehen wer-<br />

den.“ Sie stoppte abrupt den Wagen und deutete aus dem Fenster nach Osten. „Das da zum<br />

Beispiel!“, sagte sie grinsend. Shawn folgte ihrem Finger und riss die Augen auf! Zwischen<br />

ein paar Bäumen und Büschen stand ein kleines Rudel Kamele!<br />

„Ich kann mich da nicht dran gewöhnen, hier Kamele zu sehen.“, stieß der junge Mann<br />

aufgeregt hervor und zog seinen Fotoapparat aus dem Handschuhfach. Er ließ das Fenster auf<br />

seiner Seite herunter und machte ein paar Fotos. „Echt mal, Kamele in Australien. Das glaubt<br />

mir doch kein Mensch.“, erklärte er grinsend.<br />

„Oh, die werden hier zur Landplage. Die Regierung ist dabei, einen Plan auszuarbeiten<br />

wie sie die Anzahl der Tiere auf einem dem Land verträglichen Maß halten kann. Die Tiere<br />

finden hier ideale Lebensbedingungen und haben sich explosionsartig vermehrt. Wie so viele<br />

eingeschleppte Tiere, mit denen das Land nicht fertig wird, weil es, abgesehen von Dingos,<br />

keine natürlichen Feinde gibt.“<br />

„Ja, davon habe ich gelesen. Kaninchen, Wildpferde, Mäuse, aber Kamele?“<br />

Kelly nickte. „Nicht zu vergessen die Wasserbüffel. Zwischen 1823 und 1840 wurden<br />

achtzig Wasserbüffel zur Fleischproduktion im Northern Territory eingeführt. Davon verwil-<br />

derten einzelne Tiere und Herden und vermehrten sich unter den neuen Lebensbedingungen<br />

so schnell, dass nach Schätzungen der Regierung zwischen 1880 und 1970 insgesamt sieben-<br />

hundert Tausend Tiere erlegt werden mussten. 1985 lebten mit einem Bestand von dreihun-<br />

dertfünfzig Tausend Tieren mehr als die Hälfte der nicht als Haustiere gehaltenen Wasserbüf-<br />

fel in Australien. Die verwilderten Büffel stellten in den Marschregionen der Nordküste ein<br />

gravierendes ökologisches Problem dar. Sie forcierten durch ihre Trampelpfade und Suhlen<br />

die Bodenerosion. Außerdem veränderten sie durch ihr Fressverhalten die Zusammensetzung<br />

der lokalen Flora und erleichterten durch ihr Suhlen das Eindringen von Salzwasser in Süß-<br />

wasserhabitate. Sie veränderten damit ihren Lebensraum so nachhaltig, dass die Anzahl der<br />

dort lebenden Krokodile, des Barramundi und anderer einheimischer Arten drastisch zurück-<br />

ging. Zu diesen gravierenden ökologischen Auswirkungen trug auch bei, dass sich in der Tro-<br />

ckenzeit auf einem Quadratkilometer Marschland bis zu fünfunddreißig Tiere aufhielten.<br />

Wasserbüffel sind obendrein Überträger von Rinderkrankheiten wie der Tuberkulose und der<br />

Rinderbrucellose. Alles zusammen hat dazu beigetragen, dass der Wasserbüffelbestand so-<br />

109


wohl von der Regierung als auch von der Mehrheit der Australier als zu bekämpfende Plage<br />

angesehen wird.“<br />

Fasziniert hörte Shawn Kellys Erklärungen zu. Er war begeistert, dass die junge Frau ein<br />

so fundiertes Wissen über ihre Wahlheimat hatte. Wenn sie ihr Wissen so mit ihm teilte, hätte<br />

er ihr stundenlang zuhören können. Kelly erzählte weiter.<br />

„Von 1979 bis 1997 wurde von der Regierung ein Abschussprogramm verwilderter Was-<br />

serbüffel durchgeführt. Die Tiere, die im unzugänglichen Marschland lebten, wurden zum<br />

Teil vom Helikopter aus abgeschossen. Die Anzahl der Büffel ist dadurch deutlich zurückge-<br />

gangen. Im Kakadu-Nationalpark wurde die Anzahl der Tiere von zwanzig Tausend im Jahr<br />

1988 auf zweihundertfünfzig im Jahr 1996 reduziert. Damit wurde erreicht, dass die Bestände<br />

einheimischer Pflanzen wie einige Eukalyptus-Arten und die Rote Wasserlilie sich erholten.<br />

Ähnlich sieht es leider mit den Kamelen aus. Sie sind Überbleibsel der ersten Expeditionen<br />

ins Outback. Ohne sie wäre die Erschließung des Landes nicht möglich gewesen. Als sie nicht<br />

mehr gebraucht wurden, ließ man sie einfach frei. Sie fanden ein Schlaraffenland für Kamele<br />

vor. Ungefähr zwölf Tausend wurden zwischen 1840 und 1910 eingeführt. Heute wird ihre<br />

Zahl auf mehr als achthundert Tausend geschätzt! Größere Herden leben nirgendwo auf der<br />

Welt. Ungefähr alle acht Jahre verdoppelt sich die Zahl der Tiere, fast unvorstellbar. Es wird<br />

höchste Zeit etwas zu unternehmen. Allein im vergangenen Sommer haben zehntausende<br />

Kamele auf der Suche nach Wasser flächendeckend die ohnehin karge Vegetation zerfressen<br />

oder zertrampelt, Zäune niedergerissen und Trinkwasser verschmutzt. Das ist nicht nur exis-<br />

tenzbedrohend für die Viehwirtschaft der weißen Farmer, sondern für die Siedlungen der<br />

Aborigine-Stämme.“<br />

„Unglaublich!“, stieß Shawn erschüttert hervor.<br />

Kelly nickte. „Ja. Aber aus der Not wollen die Australier eine Tugend machen, aus der<br />

Kamelplage ein Geschäft. Ein Riesengeschäft, nebenbei bemerkt. Experten sehen darin eine<br />

Ressource von Hunderten Millionen Dollar im Jahr. Die Vereinigung der Viehzüchter im<br />

Northern Territory entwickelt Pläne zum Bau eines großen Schlachthofes im Outback. Von<br />

dort aus soll das Kamelfleisch im großen Stil vermarktet werden, als Delikatesse für Edel-<br />

Restaurants ebenso wie als Tierfutter für Viehfarmen. Für die Milch, das Leder, die Wolle<br />

und für Kamel-Öl-Cremes aus Höckerfett hoffen die Australier auf eine Nachfrage aus aller<br />

Welt. Mich erinnert das an den Zauberlehrling von Goethe: Die ich rief die Geister, werd ich<br />

nun nicht los.“<br />

Shawn lachte. „Die Assoziation liegt nahe. Es ist schade, dass es die Tiere sind, die Fehler<br />

der Menschen ausbaden müssen.“<br />

110


Kelly nickte. „Ja, sie sind die Leidtragenden. Vor einiger Zeit ging weltweit ein empörter<br />

Aufschrei durch die Medien, als bekannt wurde, dass riesige Herden Brumbies aus der Luft<br />

gnadenlos abgeschossen wurden.“<br />

Shawn sah Kelly fragend an. „Brumbies? Was ist das?“<br />

Kelly erklärte es ihm. „Verwilderte Pferde. Die ersten nach Australien eingeführten Pferde<br />

waren Kap-Pferde aus Südafrika, danach kamen Pferde aus Südamerika ins Land. Noch später<br />

wurden Timorponies aus Indonesien und verschiedene britische Pony- und Kaltblutrassen<br />

sowie zahlreiche Vollblut- und Araberpferde eingeführt. All dieser Rassen finden sich heute<br />

in der australischen Wildpferdpopulation. Obwohl sie in vielen Regionen vorkommen, sind<br />

die bekanntesten Brumbies in der Gegend der Snowy Mountains in Südwestaustralien zu fin-<br />

den. Die meisten leben im Northern Territory, die zweitgrößte Population existiert in Queens-<br />

land. In Australien gibt es mehr Wildpferde als in jedem anderen Land. Brumbies vermehren<br />

sich so schnell, dass sie mittlerweile ebenfalls als Plage angesehen werden. Man versucht,<br />

durch gezielte Abschussaktionen den Bestand in Grenzen zu halten. Ab und zu werden einige<br />

Exemplare gefangen und gezähmt und als Reit- oder Arbeitspferd verwendet. Es gibt einige<br />

Spielfilme, die das australische Wildpferd thematisieren. Der silberne Hengst und beide Teile<br />

von Snowy River. In den Filmen werden unsere Brumbies von ihrer besten Seite gezeigt.“<br />

„Es ist unglaublich, dass du das alles weißt!“<br />

Kelly wiegelte verlegen ab. „Ach, nicht so aufregend. Ich interessiere mich nur für das<br />

Land, in dem ich lebe. Und ich habe ein überdurchschnittliches Gedächtnis, ich behalte<br />

scheinbar extrem viel.“<br />

„Wie lange lebst du hier?“, wollte Shawn wissen.<br />

„Ich bin mit neunzehn nach Sydney gegangen. Die Uni in Sydney hat einen hervorragen-<br />

den Ruf in Sachen Psychologiestudium. Ursprünglich wollte ich nur hier Studieren, aber ich<br />

war derart begeistert von Land und Leuten, dass ich schnell beschloss, meine Praxis in Syd-<br />

ney aufzumachen.“<br />

„Und wie alt ...“? Shawn brach verlegen ab.<br />

„Ich bin einunddreißig, wie du.“, erklärte Kelly grinsend. Sie deutete nach vorne aus dem<br />

Fenster.<br />

„Da ist er, Lake Amadeus!“, sagte sie zufrieden. Shawn folgte erneut ihrem Blick und ver-<br />

zog das Gesicht.<br />

„Ein Salzsee!“ meinte er schmunzelnd. „Na, klasse! Und ich hatte mich auf ein kühles Bad<br />

gefreut!“ Vor ihnen in einiger Entfernung breitete sich die weiße Oberfläche eines riesigen<br />

Salzsees aus. Kelly fuhr dichter an den See heran und sah sich nach einem geeigneten Platz<br />

für das Nachtlager um. Schließlich hatte sie ein Plätzchen gefunden.<br />

du?“<br />

„Hier werden wir für die Nacht lagern, denke ich. Der Boden sieht gut aus. Was meinst<br />

111


Shawn konnte Kelly nur zustimmen. Sie hielten an und stiegen steif aus dem Wagen.<br />

Erneut war Shawn überrascht, wie still es hier draußen war. Er sah sich um, aber er ent-<br />

deckte nirgendwo Vögel.<br />

„Wenn ihr auch alle möglichen Säugetiere im Überfluss habt, an Vögeln mangelt es hier<br />

draußen eindeutig, was?“<br />

Kelly nickte. „Ja, die sind schlau und halten sich in den grünen Küstenregionen auf. Später<br />

im Kakadu wirst du Vögel genug sehen.“ Sie bauten zusammen das Zelt auf, dann fragte Kel-<br />

ly:<br />

„Wie sieht es aus, wollen wir uns, solange wir noch Licht haben, die Füße vertreten?“<br />

„Nichts lieber als das!“, erklärte Shawn. „Das Sitzen im Wagen macht steif.“<br />

Sie machten sich also auf den Weg zum See herunter. Shawn hatte den Fotoapparat in der<br />

Hand und machte einige Bilder. Die weiße Oberfläche des Sees schimmerte in der Abendson-<br />

ne.<br />

„Hat der auch mal Wasser?“, wollte er wissen.<br />

„Ja, in der Regenzeit. Es versickert und verdunstet schnell.“, erklärte Kelly. Sie liefen eine<br />

Weile am Seeufer entlang doch schließlich machten sie sich auf den Rückweg. Am Lager<br />

angekommen, nutzten sie das letzte Tageslicht, um ein Lagerfeuer zu machen und sich eine<br />

Dose Suppe aufzuwärmen. Shawn genoss die Ruhe um sie herum sichtlich. Gegen 18 Uhr<br />

ging die Sonne in einem tief orangefarbenen Glutball über dem See unter.<br />

„Es ist so wundervoll und friedlich hier draußen!“, sagte Shawn ergriffen. „Man hat das<br />

Gefühl, dass einem hier nichts und niemand etwas anhaben kann. Der Rest der Welt mit ihrem<br />

Stress und Horror existiert hier nicht. Ich könnte hier draußen Leben.“<br />

Kelly fühlte sich miserabel, dass sie den Frieden, den Shawn hier fand, gleich würde stö-<br />

ren müssen. Sie waren aus einem bestimmten Grund hier, nicht, um nur Urlaub zu machen. Es<br />

half Shawn keineswegs, wenn er anfing, die schrecklichen Geschehnisse, die ihn erst zu ihr<br />

geführt hatten, zu verdrängen. Er musste weiter darüber reden, nur so konnte er das Trauma<br />

überwinden. So sagte sie schweren Herzens:<br />

„Shawn, es tut mir leid, aber ich muss dich Quälen. Wir dürfen bei aller Schönheit des<br />

Landes nicht vergessen warum wir hier sind. Ich würde es dir so gerne ersparen, aber das geht<br />

nicht. Es wird dir nicht helfen, wenn wir das Thema totschweigen. Auf diese Weise wirst du<br />

das Trauma ewig mit dir herum schleppen und eines Tages daran zerbrechen. Also lass uns<br />

den nächsten Tag in Angriff nehmen, okay?“<br />

Shawn war unter Kellys Worten regelrecht geschrumpft. Er fragte schüchtern: „Können<br />

wir es so machen wie gestern Abend?“<br />

112


„Selbstverständlich! Komm, leg dich hier her zu mir und erzähl mir vom nächsten Tag.“<br />

Shawn seufzte, machte es sich so bequem wie möglich und versuchte sich in Erinnerung zu<br />

rufen, was am Tag zwei geschehen war. Leise sagte er:<br />

„Das war die Beschneidung. Davon habe ich dir erzählt. Ich durfte schlafen ...“<br />

*****<br />

Carrie ließ ihn schlafen. Es brachte ihr nichts, wenn er nach einem Tag schlapp machte.<br />

Als er am späten Nachmittag aufwachte, hatte sie ihm Essen machen lassen und er aß hung-<br />

rig, während Carrie ihm zusah. Als er aufgegessen hatte, erklärte die junge Frau:<br />

„Ich werde mir jetzt deine Wunde anschauen. Nimm die Decke zur Seite.“<br />

Shawn schlug die Zudecke weg und Carrie beugte sich über ihn. Sie begann, die Binde ab-<br />

zuwickeln und kam bei der Wundauflage an. Shawn hielt unwillkürlich die Luft an, als er<br />

merkte, dass die Auflage an der Wunde fest geklebt war. Carrie nahm den Waschlappen,<br />

machte ihn im Bad nass und weichte die Wundauflage gründlich ein, bevor sie sie entfernte.<br />

Sie reinigte seinen Penis sanft von Blutresten. Anschließend begutachtete sie die Naht und<br />

nickte zufrieden.<br />

„Solange du auf den Beinen bist, machen wir da nichts herum. Das heilt an der Luft<br />

schneller. Nur im Bett bekommst du zum Schutz einen leichten Verband.“ Sie stand auf und<br />

sah Shawn an.<br />

„Spielst du Schach?“, fragte sie ihn aus dem Zusammenhang gerissen. Er schüttelte er-<br />

staunt den Kopf.<br />

„Nein, kann ich nicht.“<br />

Carrie zuckte die Schultern. „Macht nichts, das werde ich dir beibringen. Du wirst ein<br />

Stündchen ausgestellt, komm mit.“<br />

Ergeben erhob Shawn sich und musste es zulassen, dass Carrie seine Hände unmittelbar<br />

auf den Rücken fesselte. Die Manschetten waren mit stabilen Panikhaken bestückt, sodass sie<br />

jederzeit ineinander oder an anderen Haken befestigt werden konnten. Eine simple aber effek-<br />

tive Methode, Shawn überall zu jeder Zeit mit kurzen Handgriffen zu fixieren. Er fühlte sich<br />

hilflos und vor allem wehrlos, als er ihr folgte. Sie brachte ihn in den Salon und befahl ihm,<br />

sich zwischen die Säulen zu stellen. Schnell war er dort gefesselt wie am Tage zuvor. Carrie<br />

zog die Ketten nur nicht so stramm wie beim ersten Mal. Sie ließ sie locker, sodass es nur<br />

unangenehm, nicht schmerzhaft war. Sie verband ihm die Augen diesmal nicht, er sollte se-<br />

hen. Ruhig sagte sie:<br />

„Kann sein, dass du ein paar Peitschenhiebe bekommen wirst. Ich hole dich in zwei Stun-<br />

den ab.“ Damit drehte sie sich um und verließ den Raum.<br />

113


Sie ließ ihn zurück wie ein Bild, das man an die Wand hängte. Shawn graute es. Er ver-<br />

krampfte sich vor Scham und Angst. Alan kam mehrmals in der ersten Stunde in den Raum<br />

und sah Shawn grinsend an. Bei einem der Besucher fragte er:<br />

„Na, wie hängt es sich so?“<br />

Shawn schwieg verbissen und versuchte, den Riesen zu ignorieren. Als dieser ihm hart<br />

zwischen die Beine fasste, entwich dem Wehrlosen ein schmerzerfülltes Keuchen. Er biss sich<br />

auf die Zunge, um nur kein Wort zu sagen. Die Abreibung vom Vortag war noch mehr als<br />

deutlich auf seinem Hintern zu sehen und vor allem zu spüren. Er legte keinen Wert darauf,<br />

die Erfahrung zu wiederholen. So zwang er sich mit aller Kraft, den Mund zu halten. Ihm<br />

schossen Tränen der Abscheu, des Ekels und der hilflosen Wut in die Augen. Alan spielte ei-<br />

nen Moment an ihm herum, dann lachte er.<br />

„Der Tag wird kommen, an dem ich dich vögeln werde, Sklave.“, sagte er und Shawn<br />

musste sich beherrschen, um nicht aufzuschluchzen. Er war sicher, auf der Stelle den Ver-<br />

stand zu verlieren, wenn dieser Typ machen würde, was er hier gerade angekündigt hatte!<br />

Zum Glück verschwand Alan und ließ Shawn verzweifelt dort hängen.<br />

Minuten später kamen Brett, Teresa und Karen in den Raum. Sie waren schwimmen gewe-<br />

sen und lachten und unterhielten sich vergnügt. Grinsend sahen sie den Sklaven zwischen den<br />

Säulen stehen und waren sofort gefangen von seinem Anblick. Teresa trat zu ihm und fragte<br />

grinsend:<br />

„Na, eingekriegt? Hat wohl wehgetan, was?“ Sie bückte sich und unterzog Shawns Penis<br />

einer genauen Begutachtung. Er schämte sich furchtbar, als sie ihn gründlich untersuchte.<br />

Dass Karen und Brett näher traten und sich sein Glied ebenfalls betrachteten, war extrem<br />

demütigend. Brett zog mit dem Zeigefinger die Naht nach und sagte:<br />

„Sieht das geil aus.“ Er ließ seine Blicke über Shawns nackten Körper wandern und trat<br />

hinter ihn. Shawn spürte entsetzt, wie Brett seine Pobacken auseinander drückte und ohne zu<br />

zögern einen Finger in seinen Anus bohrte.<br />

„Du bist zu eng.“, sagte er, als spräche er über das Wetter. „Wir werden dich weiten<br />

müssen. Ich werde gleich mal mit Carrie reden. Und du musst lernen, dir den Darm zu reini-<br />

gen.“<br />

Shawn glaubte, sich verhört zu haben! Brett verschwand und Karen meinte genervt:<br />

„Schade, heute dürfen wir dich wohl noch nicht benutzen. Aber ab Morgen bist du freige-<br />

geben. Dann werden wir uns mit dir amüsieren, dass es raucht.“<br />

Brett klopfte an Carries Arbeitszimmertür.<br />

„Ja?“ Er trat ein.<br />

„Carrie, ich habe gerade festgestellt, dass der Sklave sehr eng ist. Ich würde ihn gerne<br />

weiten, wenn es dir Recht ist. Wir müssen ihm auch noch zeigen, wie er sich reinigt.“<br />

114


Carrie nickte. „Klar. Lass uns gleich anfangen. Bring ihn ins Badezimmer, wir werden<br />

ihm zeigen, was er zu tun hat.“<br />

Freudig schwirrte Brett ab und eilte ins Wohnzimmer. Schnell hatte er Shawn los gemacht<br />

und fesselte ihm die Hände auf den Rücken.<br />

„Los, vorwärts, Sklave, es gibt einen Einlauf.“<br />

Shawn erstarrte innerlich. Was sollte das werden? Teresa und Karen folgten erregt und<br />

Augenblicke später standen sie im großen Bad, dass zu Shawns Zimmer gehörte.<br />

„Mach seine Hände los.“, gab Carrie Anweisung und Brett löste die Fesseln. Shawn be-<br />

kam den Befehl, in die Badewanne zu steigen. Gestresst gehorchte er und stand bebend in der<br />

Wanne. Er bekam von Carrie den Schlauch in die Hand gedrückt und sah, dass dieser am<br />

Ende keinen Hahn, sondern einen fingerdicken, 10 Zentimeter langen Aufsatz hatte. Ruhig<br />

erklärte Carrie:<br />

„Es ist einfach und du wirst es ab jetzt zwei Mal am Tag und nach Benutzung der Toilette<br />

machen. Du schiebst dir den Aufsatz in den After, drehst vorsichtig das Wasser auf, und lässt<br />

dich voll laufen, bis du es nicht mehr aushältst. Du wartest einige Sekunden und drückst das<br />

Wasser raus. Vier Mal hintereinander, kapiert, Sklave?“<br />

Shawn stand zitternd vor Scham in der Wanne und nickte.<br />

„Na los, zeig es mir!“, befahl Carrie und sah Shawn auffordernd an. „Sonst hole ich<br />

Alan, der hilft dir sicher gerne.“ Carrie grinste gehässig. Shawn stürzten Tränen über die<br />

Wangen. Er beugte sich zitternd vor und tastete mit dem Aufsatz nach seinem Anus. Schluch-<br />

zend führte er sich den Aufsatz ein und drehte das Wasser auf. Auf diese Weise spülte er sich<br />

unter den gierigen Augen der Zuschauer den Darm gründlich sauber. Das Gefühl, welches<br />

entstand, als das Wasser in seinen Darm floss, war grässlich.<br />

Endlich erklärte Carrie:<br />

„Das war genug, trockne dich ab und komm ins Wohnzimmer.“ Zusammen verließen die<br />

Vier das Bad und Shawn sank wimmernd in der Wanne auf die Knie. Eine schlimmere Demü-<br />

tigung konnte er sich nicht vorstellen! Er brauchte einige Minuten, sich so weit zu beruhigen,<br />

dass er aus der Wanne steigen und sich abtrocknen konnte. Kurz überlegte er, ob abzuhauen<br />

und sich ins Wasser zu stürzen, selbst, wenn es seinen Tod bedeuten würde, nicht eine echte<br />

Option war. Bald siegte jedoch sein Überlebenswillen und er setzte sich langsam in Bewe-<br />

gung, um ins Wohnzimmer zu gehen. Dort wurde er sehnsüchtig erwartet.<br />

„Da bist du endlich! Brett, du darfst ihn über den Tisch binden, ich hole die Plugs.“<br />

Brett nickte. „Okay.“ Brett sah Shawn auffordernd an. „Los, zum Tisch hinüber.“, sagte<br />

er ruhig und Shawn setzte sich wohl oder übel zögernd in Bewegung. Er wurde zu dem gro-<br />

ßen, schweren Esstisch, der im Salon stand, geführt. Hier befahl Brett ihm:<br />

„Spreiz die Beine!“<br />

115


Shawn biss sich verzweifelt auf die Lippe, tat aber, was man ihm gesagt hatte. Er spreizte<br />

gehorsam die Beine. Verängstigt spürte er, wie Brett diese an die Tischbeine fixierte, die mit<br />

Vorrichtungen dafür versehen waren. Der Mann drückte ihn mit dem Körper auf den Tisch<br />

nieder und die beiden Frauen griffen nach Ketten, die an den Tischbeinen befestigt waren. Sie<br />

passten diese Ketten mit an ihnen befestigten Haken schnell Shawns Armlänge an, dann wur-<br />

den seine Arme ebenfalls fixiert. Schwer atmend lag Shawn halb auf dem Tisch und spürte mit<br />

wachsendem Entsetzen Hände an seinem Po. Carrie kam dazu, in der Hand einen Kasten. Sie<br />

stellte diesen auf Shawns Rücken ab und drückte seine Pobacken auseinander. Sie führte ihm<br />

tastend zwei Finger ein und er stöhnte auf. Das tat weh und war extrem unangenehm. Er<br />

wand sich in den Fesseln und musste sich zwingen, nicht vor Scham und Schmerz zu wim-<br />

mern. Unwillkürlich spannte Shawn den Schließmuskel an und machte damit die Schmerzen<br />

nur schlimmer. Dass die Anderen bei dieser grässlichen Demütigung aufmerksam zuschauten<br />

und mit Kommentaren nicht sparten, machte den seelischen Schmerz noch schlimmer. Carrie<br />

griff in den Kasten und entnahm ihm einen 4 Zentimeter dicken und 10 Zentimeter langen<br />

Buttplug. Sie griff nach einer Tube Gleitmittel, das ebenfalls in dem Kasten lag, strich den<br />

Plug gut damit ein und sagte ruhig zu Shawn:<br />

„Je lockerer du lässt, desto weniger schmerzhaft wird es.“ Sie wartete nicht groß ab, ob<br />

Shawn sich entspannte, sondern fing an, ihm das Teil langsam in den After zu schieben.<br />

Shawn keuchte gequält auf und ihm schossen Tränen in die Augen. Tiefer drang das Teil in<br />

ihn ein und er stöhnte vor Schmerzen. Es gab einen letzten Ruck und Carrie sagte zufrieden:<br />

„So, den wirst du vier Tage lang ständig tragen. Nur, wenn du zur Toilette musst, wird er<br />

entfernt. In vier Tagen werden wir ihn gegen einen größeren Plug ersetzen.“<br />

*****<br />

Die Erinnerung an diese Demütigung machte Shawn schwer zu schaffen. Von sich aus<br />

sagte er:<br />

„Als Alan an mir herum getatscht hat, Kelly, ich weiß nicht, woher ich die Kraft hatte,<br />

nicht loszubrüllen! Es ist schlimm genug gewesen, dass die Frauen an mir herum gefummelt<br />

haben, aber die Hände von Männern an ... mir zu spüren war die Hölle! Die Vorstellung, dass<br />

Alan und Brett mich vergewaltigen würden, war schlimmer als alles andere!“<br />

Kelly spürte ihn am ganzen Leib zittern. „Das kann ich gut verstehen. Vergewaltigt zu<br />

werden ist für Männer nicht weniger schlimm als für Frauen. Die entsetzliche Demütigung<br />

wird von beiden gleich schwer empfunden.“ Sie strich Shawn sanft durch das Haar und fragte<br />

einfühlsam: „Du solltest versuchen, deine Gefühle zu schildern, Shawn.“<br />

Der junge Schauspieler seufzte schwer. „Wozu ist das gut?“, fragte er leise.<br />

116


Kelly erklärte es ihm geduldig. „Das ist zur Traumabewältigung unerlässlich. Du musst<br />

nicht nur erzählen, was du dort erlebt hast, du musst über deine Empfindungen und Gefühle<br />

sprechen.“<br />

war.<br />

Shawn schwieg einen Moment Er versuchte in Worte zu fassen, was in ihm vorgegangen<br />

„Dort zu hängen war entsetzlich. Als Alan kam und anfing, mich zu berühren, überall, am<br />

... Penis, an den Eiern, Gott, ich dachte, ich werde verrückt. Es war so erniedrigend und ekel-<br />

haft! Ich weiß nicht, was ich mehr gewünscht habe: Selbst tot umzufallen, oder das Alan tot<br />

umfällt. Ich habe mich nur darauf konzentriert, nicht hysterisch loszubrüllen. Endlich ver-<br />

schwand er und ich ... Aber schon kamen die anderen, Brett ... Er griff meinen Schwanz und<br />

...“<br />

Kelly merkte, dass Shawn aufschluchzte. Eben hatte er sich nur analysiert, jetzt sprudelten<br />

seine Gefühle aus ihm heraus!<br />

„So ist es gut, lass es raus.“, sagte sie sanft. „Lass all die schlechten Gefühle heraus.“<br />

„Sie haben rum gelästert. Was für einen geilen Fick-Arsch ich hätte. Dass sie es nicht ab-<br />

warten könnten, mich flach zu legen und zu vögeln. Als ich vor Schmerzen ... Gelacht haben<br />

sie, Kelly, sie haben gelacht. Als ich da in der Wanne stand ... Sie sahen alle zu ... Diese De-<br />

mütigung ... Ich dachte, es zerreißt mich!“, wimmerte Shawn fassungslos. „Die haben zuge-<br />

guckt! Ich habe einen Moment ernsthaft überlegt, abzuhauen und lieber zu ersaufen, als diese<br />

Erniedrigungen noch länger mit zu machen! Als Carrie den Plug in mich schob ... Es hat so<br />

weh getan! Es war so ein grässliches Gefühl! Wenn man sich verletzt und Schmerzen hat, ist<br />

das eine Sache, aber wenn einem von anderen Menschen mutwillig Schmerzen zugefügt wer-<br />

den ... Ich hätte nie für möglich gehalten, dass das so schlimm ist. Ich werde nie wieder im-<br />

stande sein, einem anderen Lebewesen, egal, welcher Art, etwas anzutun. Ich habe mich so ...<br />

so wertlos und unwichtig gefühlt. Es war ihnen allen so egal, was ich empfunden habe, wie<br />

ich mich gefühlt habe, ob ich lebe oder sterbe, so gleichgültig. Kelly, bitte, wie können Men-<br />

schen nur so werden?“<br />

Kelly hielt Shawn fest in ihren Armen. Ihr kullerten angesichts seiner fassungslosen Ver-<br />

zweiflung Tränen über die Wangen. Aber sie wusste, dass mit jedem Wort, das Shawn hervor<br />

stieß, ein klein wenig von all dem Erlebten von ihm abfiel. Sie musste tief durchatmen, bevor<br />

sie imstande war, zu antworten. Sachlich versuchte sie, ihm eine verständliche Erklärung zu<br />

geben.<br />

„Warum es bei manchen Menschen zu einer derartigen emotionalen Gleichgültigkeit ge-<br />

genüber den Leiden anderen Menschen kommt, ist ein psychologisches Fachgebiet, das welt-<br />

weit Wissenschaftler, Psychologen und Ärzte beschäftigt. Carrie ist eine echte Sexualsadistin.<br />

Und mit Sicherheit eine Serientäterin, davon bin ich überzeugt. Ich bin sicher, dass sie auch<br />

117


eine Serienmörderin ist. Sie hat erst am Ende ihr wahres Gesicht gezeigt, in dem Augenblick,<br />

als sie dich zum Sterben zurückgelassen hat. Erfahrungsgemäß ist die Kindheit solcher Men-<br />

schen von emotionaler Kälte, familiärer Gewalt und Alkoholismus geprägt. Auffallend häufig<br />

werden bei Serientätern Gehirnanomalien festgestellt. Die sind nicht angeboren, sondern wur-<br />

den ihnen anerzogen. Wenn sich, wie in diesem Falle, gleich mehrere Menschen mit ähnli-<br />

chen Störungen und ähnlichen Bedürfnissen treffen, was erstaunlich selten vorkommt, neben-<br />

bei bemerkt, wird es wirklich kritisch. Im Zwischenhirn wo unsere Emotionsempfindungs-<br />

zentrale liegt, um es einmal einfach auszudrücken, liegen bei vielen Serientätern Störungen<br />

vor. Sie habe nie gelernt, Mitleid zu empfinden. Dieser Bereich ihrer Hirne ist nur noch rudi-<br />

mentär vorhanden. Sie sind gar nicht in der Lage, Gefühle wie Mitleid oder Reue zu entwi-<br />

ckeln.“ Kelly seufzte leise. „Ich weiß, das hilft dir nicht und ich will damit nicht entschuldi-<br />

gen, was dir angetan wurde. Es kann dir aber vielleicht helfen zu verstehen, wie solche Men-<br />

schen funktionieren. Sie sind emotional nicht in der Lage, sich in das Leid anderer hinein zu<br />

versetzen. Was mit anderen geschieht, ist ihnen egal. Sie sind narzisstisch, grausam und un-<br />

menschlich. Ihnen fehlt all das, was uns erst zu Menschen macht.“<br />

Shawn hatte Kellys Ausführung zugehört. Jetzt sagte er leise:<br />

„Du hast Recht, helfen tut mir das nicht. Es erklärt aber zumindest, was in denen vorge-<br />

gangen ist. Ich glaube, dieses Gefühl, jemandem so absolut gleichgültig zu sein, war das<br />

Schlimmste. Die ... die Schmerzen, die sie mir zugefügt haben, waren schlimm. Aber schlim-<br />

mer war eindeutig das Gefühl, das entstand. Wenn man ... naja, wenn man selbst des Mitleids<br />

fähig ist, ist es umso schlimmer, wenn man merkt, dass man in Händen von Menschen ist, die<br />

dazu nicht fähig sind. Die sich daran aufgeilen, zuzusehen, wie du dich in Schmerzen windest,<br />

die ständig neue Methoden erfinden, dich zu Quälen. Das Gefühl der Machtlosigkeit ... Wenn<br />

man gefoltert wird, um Informationen preis zu geben, hat man es in der Hand, die Qualen zu<br />

beenden. Wenn man aber weiß, dass man nicht das Geringste tun kann, um sich zu helfen, ist<br />

das viel, viel schlimmer. Egal, was ich getan habe, es hat mir nicht geholfen. Die Hilf- und<br />

Machtlosigkeit, etwas an der Situation zu ändern, war wohl das Schlimmste. Dass Carrie mir<br />

nach Behandlungen mit Salben und Massagen geholfen hat, hat alles fast noch schlimmer<br />

gemacht, verstehst du? Ich wusste, dass sie mir nur hilft, um schneller neue sadistische Spiel-<br />

chen mit mir treiben zu können.“<br />

Shawn schniefte leise und fragte:<br />

„Ich bin fix und fertig, können wir uns hinlegen, bitte?“<br />

„Für heute reicht es. Du hast heute Abend einen großen Durchbruch geschafft! Du fängst<br />

an, zu reden, das ist wunderbar.“ Kelly ließ Shawn los und stand auf. Sie reichte ihm die Hän-<br />

de und zog ihn ebenfalls auf die Füße.<br />

118


„Komm, lass uns schlafen gehen.“, sagte sie liebevoll. Zusammen gingen sie zum Zelt<br />

hinüber. Shawn breitete seinen Schlafsack auf dem Boden aus und stieg aus Jeans und Hemd.<br />

Neben sich in der Dunkelheit hörte er es leise rascheln und wusste, dass Kelly aus ihren Sa-<br />

chen schlüpfte. Als sie nebeneinanderlagen, sagte er leise:<br />

„Ich kapiere es nicht, aber ich habe das Gefühl, durch ... naja, durch unsere Gespräche ...<br />

Komischerweise fühle ich mich hinterher besser, so schlimm es ist, darüber sprechen zu müs-<br />

sen.“<br />

Kelly lächelte, was Shawn nicht sehen konnte. „Das ist der Zweck der Übung, Shawn. Da-<br />

rum machen wir das hier. Wenn du in das Stadium kommst, dass du dir von der Seele redest,<br />

was du erlebt hast, empfunden hast, gefühlt, ist das ein gewaltiger Schritt in Richtung Aufar-<br />

beitung.“ Eine Weile schwieg Shawn und Kelly dachte schon, er sei eingeschlafen, da fragte<br />

er leise:<br />

„Kelly?“<br />

„Ja, Shawn?“<br />

„Meinst du, ich schaffe es, den ganzen Scheiß zu vergessen?“<br />

„Nein, du wirst es nie vergessen, aber du wirst lernen, mit den Erinnerungen leben zu<br />

können. Das ist unser Ziel, okay?“<br />

*****<br />

Am kommenden Morgen wachte Kelly auf und stellte fest, dass Shawn nicht neben ihr<br />

lag. Sie seufzte verschlafen, streckte sich und verließ nur in Slip und T-Shirt das Zelt. Barfuß<br />

stand sie in der Morgensonne und streckte sich noch einmal. Müde bückte sie sich und griff<br />

nach ihren Stiefeln. So, wie sie es Shawn eingeimpft hatte, schüttelte sie diese vorsichtig aber<br />

gründlich aus, bevor sie hineinschlüpfte. Sie sah sich suchend um, konnte Shawn allerdings<br />

nicht entdecken. Erstmals machte ihr das keine Sorgen. Das Lagerfeuer brannte und über dem<br />

Feuer hing der Wasserkessel. Kelly lächelte. Sie griff sich aus dem Gepäck das Toilettenpa-<br />

pier und verschwand ein Stück vom Lager. Als sie zurückkam, war von Shawn noch nichts zu<br />

sehen. Kelly nahm sich heißes Wasser und machte sich einen Becher Kaffee fertig. Mit die-<br />

sem in der Hand schlenderte sie langsam zum See hinunter. Ihr Gefühl hatte sie nicht getro-<br />

gen. Dort unten am Ufer saß Shawn auf einigen kleinen Felsbrocken und genoss den Anblick.<br />

Sie sagte von weitem:<br />

„Hey, guten Morgen.“<br />

Shawn drehte sich herum und erwiderte den Gruß. „Morgen. Es ist fantastisch hier!“<br />

Kelly lachte und schlenderte langsam näher. Doch dann gefror ihr sprichwörtlich das Blut<br />

in den Adern und das Lachen verging ihr schlagartig! Keine 20 Zentimeter hinter Shawn, in<br />

der wärmenden Sonne auf dem Stein lag ein großer Taipan, richtete sich bei Shawns Bewe-<br />

gung genervt auf und fixierte seinen Rücken!<br />

119


„Oh Gott! Bitte nicht!“ Kelly fühlte eine Welle der Angst über sich zusammenschlagen!<br />

„Shawn, hör mir bitte zu! Rühr dich nicht von der Stelle! Bewege dich nicht!“, stieß sie hastig<br />

hervor und hoffte, dass Shawn begriff, um was es ging.<br />

„Was ...?“ Shawn wollte erschrocken zu ihr herumfahren, doch Kelly schrie panisch:<br />

„NICHT BEWEGEN!“<br />

Der junge Mann erstarrte. Die Schlange hinter ihm hatte sich bei seinem Zucken genervt<br />

weiter aufgerichtet und ihr Kopf bewegte sich in Shawns Richtung. Kelly wiederholte noch<br />

einmal eindringlich:<br />

„Nicht bewegen, Shawn, hörst du! Ich werde dir helfen, aber du darfst dich nicht bewegen.<br />

Bitte, du musst mir Vertrauen.“ Sie überlegte hektisch, was sie machen konnte. Erst einmal<br />

stellte sie hastig den Kaffeebecher auf den Boden. Shawn konnte nicht dort sitzen bleiben, bis<br />

das gefährliche Tier beschloss, sich zu verziehen. Wenn Kelly näher heran ging, konnte die<br />

Schlange dies als zusätzliche Bedrohung empfinden und ihre Abwehrmechanismen erst ein-<br />

mal gegen die deutlich nähere Bedrohung wenden. Jede ruckartige Bewegung vermeidend<br />

ging Kelly näher an Shawn heran. Sie sah in seinen Augen die nackte Angst und das Flehen<br />

um Hilfe. Tonlos formten seine Lippen das Wort:<br />

„Bitte!“<br />

Er hatte aus dem Augenwinkeln die große Schlange gesichtet und aus Kellys Worten ent-<br />

nahm er, dass es keine harmlose Schlange war. Panisch bettelnd hingen seine Augen an Kelly.<br />

Er zitterte am ganzen Leib und atmete vor Anspannung flach und hektisch. Die junge Frau<br />

machte einen Bogen, um die Schlange zu zwingen, sich ihr zuzuwenden. Und ihr Plan ging<br />

auf. Angespannt wandte das Reptil seinen Kopf in ihre Richtung. Seine Schwanzspitze zuckte<br />

nervös. Behutsam und weiter schnelle Bewegungen vermeidend, bückte Kelly sich nach ei-<br />

nem dörren Ast, der am Boden vor ihr lag. Noch weiter ging sie um die Schlange herum und<br />

diese drehte sich mehr und mehr in die Richtung der neuen Bedrohung. Genervt zischte sie<br />

und das Geräusch jagte Shawn Schauer über den ungeschützten Rücken. Er hatte Todesangst.<br />

„Bitte, Kelly, bitte!“<br />

Kelly trat langsam, hektische Bewegungen weiter krampfhaft vermeidend, näher an den<br />

Felsen heran, auf dem Shawn wie erstarrt saß. Der Taipan schlängelte sich ein Stück in ihre<br />

Richtung. Kelly atmete auf. Es klappte! Es gelang ihr, die Giftschlange von Shawn abzulen-<br />

ken. Sie bewegte den Ast in Richtung des Schlangenkopfes und das Tier behielt diesen als<br />

vermeintlichen Gegner im Augen. Ruhig erklärte Kelly:<br />

„Wenn ich ‘jetzt‘ sage stehst du langsam auf und gehst dort weg, verstanden?“<br />

Mit zitternder Stimme erwiderte Shawn: „Ja ...“<br />

120


Kelly behielt den Taipan im Auge. Sie senkte das Ende des Astes langsam dem Boden<br />

entgegen und die Schlange folgte den Bewegungen. Angespannt glitt sie in Richtung des As-<br />

tendes. Hastig sagte Kelly:<br />

„Jetzt!“<br />

Shawn erhob sich in Zeitlupe und hoffte, dass seine zitternden Beine ihn tragen würden.<br />

Jede ruckartige Bewegung vermeidend machte er zwei, drei, vier Schritte und hörte Kelly<br />

sagen:<br />

„Alles in Ordnung, du bist außer Gefahr!“<br />

Sie wartete, bis Shawn sich ihr genähert hatte, dann warf sie den Stock in Richtung der<br />

Schlange und diese beschloss, dass es an Aufregungen für einen Morgen reichte. Geschmei-<br />

dig glitt sie von dem Stein herunter und verschwand in entgegengesetzter Richtung im Busch.<br />

Mit ein paar schnellen Schritten war Kelly bei Shawn und im nächsten Moment lagen sich die<br />

Beiden in den Armen!<br />

9) Prostitution und Scham<br />

Je mehr ein Mensch sich schämt, desto anständiger ist er.<br />

George Bernhard Shaw<br />

Shawn zitterte am ganzen Körper und Kelly nicht weniger. Der junge Mann vergrub sein<br />

Gesicht in Kellys Haaren und seine Schultern zuckten. Viele Minuten standen sie so beiei-<br />

nander, den anderen fest im Arm haltend, bis sich beide allmählich beruhigten.<br />

„Komm, lass uns zum Lager gehen.“, meinte Kelly leise. Sie versuchte krampfhaft, ihre<br />

Professionalität zurückzugewinnen. Sie gab unumwunden zu, dass sie kurz vor einer ausge-<br />

wachsenen Panik gestanden hatte und das machte ihr Kopfzerbrechen. So etwas kannte sie bei<br />

sich nicht. Was es bedeuten konnte, darüber wollte sie nicht nachdenken und schob den Ge-<br />

danken energisch zur Seite. Shawn nickte und sie machten sich langsam, Arm in Arm, eng<br />

aneinander gedrückt auf den Weg. Kelly bückte sich im vorbeigehen nach ihrem Kaffee und<br />

kurze Zeit später saßen sie am verlöschenden Lagerfeuer. Shawn fing sich langsam und stieß:<br />

„Verdammte Scheiße!“, hervor. „Was würde ich für einen Drink geben. Kelly, ich habe<br />

das Mistvieh nicht bemerkt! Wenn du nicht gekommen wärst ... War das ...?“<br />

Kelly nickte. „Ja, Shawn, das war ein Taipan. Ein großer noch dazu. Du hast unglaubli-<br />

ches Glück gehabt!“ - Und ich habe mir vor Angst um dich fast in die Hose gemacht! - fügte<br />

sie in Gedanken hinzu. Shawn schüttelte den Kopf. Leise sagte er:<br />

„Nein, kein Glück, dich. Ich ... Danke!“<br />

Kelly seufzte. „Wenn ich nur fünf Minuten später gekommen wäre ... Ich mag gar nicht<br />

daran denken!“ Sie erhob sich und sagte energisch: „Lass uns duschen und hier verschwin-<br />

den.“<br />

121


Sie spülten sich den Schweiß vom Körper, aßen noch eine Kleinigkeit und packten das<br />

Lager zusammen. Shawn war noch nicht so fit, dass er fahren konnte, und so übernahm Kelly<br />

erst einmal das Steuer. Sie verließen Lake Amadeus, hielten sich Richtung Nordosten und<br />

kamen dank eines gut befahrbaren Geländes schnell voran. Am frühen Nachmittag tauchten<br />

vor ihnen am Horizont Felsen auf, die schnell höher wurden.<br />

„Was ist das?“, fragte Shawn erstaunt.<br />

„Das ist der Kings Canyon 7 .“, erklärte Kelly lächelnd. „Wenn wir Glück haben, können<br />

wir heute Nacht in einem Bett schlafen.“<br />

Erstaunt sah Shawn Kelly an.<br />

„Ja, da gibt es ein Resort. Möglicherweise bekommen wir ein Zimmer. Wir können unse-<br />

re Vorräte an Wasser und Benzin auffrischen. Und etwas vernünftiges essen.“<br />

Shawn grinste. „Zivilisation?“, fragte er vergnügt. Kelly nickte. Sie war froh, dass er sich<br />

von dem Schrecken scheinbar schnell erholt hatte. Sie selbst hatte mehr zu kämpfen. Energi-<br />

scher als geplant gab sie Gas und erreichte die Zufahrtsstraße zum Canyon Nationalpark. Kel-<br />

ly wandte sich nach links und kurze Zeit später tauchten vor ihnen Gebäude auf. Die junge<br />

Frau steuerte den großen Geländewagen vor die Rezeption des Resorts und zehn Minuten<br />

später kam sie mit einem Zimmerschlüssel winkend zu Shawn zurück, der sich umgesehen<br />

hatte.<br />

„Wir schlafen heute Nacht in einem richtigen Bett!“, erklärte Kelly zufrieden. „Und wir<br />

werden ein richtiges Abendbrot bekommen!“<br />

Shawn strahlte. „Steaks ...“<br />

Kelly lachte. „Muss ich dir gleich den Sabber vom Kinn wischen?“ Sie stiegen ins Auto<br />

und Kelly fuhr zu dem Block, in dem sich ihr Zimmer befand. Als sie den Raum betreten hat-<br />

ten, seufzte Shawn zufrieden.<br />

„Draußen ist es wundervoll, aber ein Bett ist unbezahlbar.“<br />

Kelly lachte. „Ja, das ist es.“ Sie ließ sich neben dem jungen Mann auf das Bett sinken und<br />

erklärte: „Hör zu, die Gelegenheit ist günstig, wir werden heute Abend intensiv daran arbei-<br />

ten, dass du dich an das Aussehen der Anderen erinnerst, okay?“<br />

Schlagartig verging Shawn das Grinsen. Angespannt nickte er. „Gut.“<br />

Kelly nahm seine Linke und erklärte: „Ich kann von hier aus Lauren anrufen und ihr die<br />

Beschreibungen durchgeben. Wer weiß, wann wir wieder in einem Resort sind.“<br />

Shawn nickte angespannt. „Ist richtig. Je eher die wissen, nach wem sie suchen müssen ...“<br />

Er seufzte. Kelly fuhr fort:<br />

„Ich werde mal schnell zur Tankstelle fahren und unsere Kanister auffüllen. Bei der Gele-<br />

genheit werde ich gleich unsere Vorräte aufstocken und frische Lebensmittel kaufen.“ Kelly<br />

7 Der Kings Canyon liegt 323 Kilometer südwestlich von Alice Springs und ist Teil des Watarrka-Nationalparks.<br />

122


sah, dass Shawn blass wurde, doch zum einen brauchte sie nach der Sache am Morgen eine<br />

Weile, um allein zu sein, um nachzudenken, und zum Anderen tat es Shawn gut, eine Weile<br />

für sich zu bleiben. So ignorierte sie sein Erblassen, schnappte sich den Autoschlüssel und<br />

sagte im rausgehen: „Ich schätze, eine Stunde werde ich weg sein.“ Schon war sie zur Tür<br />

hinaus.<br />

*****<br />

Shawn sah Kelly betroffen hinterher. Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, fiel<br />

Unbehagen, Angst über ihn her wie eine Woge. Er hockte auf dem Bett und seine Hände zit-<br />

terten. Er war seit dem aufwachen im Krankenhaus nicht mehr allein gewesen und Kellys<br />

Nähe gab ihm ungeheure Sicherheit, die jetzt mit einem Schlag verschwunden war. Mühsam<br />

versuchte der junge Mann, sich unter Kontrolle zu kriegen. Er zwang sich, aufzustehen und<br />

ihre Kleidungsstücke durchzusehen. T-Shirts und zwei Hemden nahm er mit ins Bad und<br />

spülte diese im Waschbecken gründlich aus. Auf der kleinen Terrasse, die zum Zimmer ge-<br />

hörte, hängte er die Sachen in die Sonne zum trocknen. Er ging ins Zimmer zurück und setzte<br />

sich auf das Bett. Und hier brach die Angst nun richtig über ihm herein, von einer Sekunde<br />

zur anderen. Er sank seitwärts auf das Bett, zog die Beine an den Körper und musste sich<br />

zwingen, nicht aufzuwimmern. Er hatte das Gefühl, jeden Moment würde Carrie zur Tür her-<br />

ein kommen und ihn schrecklich quälen. Er dachte an den Morgen, an die Schlange, die ihn<br />

fast attackiert hatte. Er zitterte am ganzen Leib und rollte sich noch enger zusammen. Seine<br />

Augen füllten sich mit Tränen und er flüsterte:<br />

„Kelly, komm bitte zurück ...“<br />

*****<br />

Kelly war froh als sie im Wagen saß. Sie fuhr zur Tankstelle, füllte die leeren Ersatzkanis-<br />

ter, und machte sich anschließend sofort auf den Weg zu dem kleinen Supermarkt, der zum<br />

Resort gehörte. Schnell kaufte sie ein paar Lebensmittel. Als sie das erledigt hatte, steuerte sie<br />

das kleine Resort Restaurant an, setzte sich auf die Terrasse und bestellte sich einen Kaffee.<br />

Während sie diesen trank dachte sie an die Begegnung mit dem Taipan am Morgen und sie<br />

dachte über ihre Reaktion nach. Das Ergebnis, zu dem sie kam, gefiel ihr keineswegs. Shawn<br />

begann ihr unter die Haut zu gehen. Auf eine Art und Weise, die nicht sein durfte. Sie durfte<br />

sich nicht in ihren Patienten verlieben! Das war ihr noch nie passiert und Shawn war nicht der<br />

einzige gut aussehende junge Mann, den sie behandelt hatte. Sie musste gegen das Gefühl<br />

ankämpfen! - Du bist NICHT in ihn verliebt! - erklärte sie sich energisch. Tief in ihrem Inne-<br />

ren wusste sie, dass sie genau darauf zusteuerte. Kelly war Profi genug, das zu erkennen. Da-<br />

mit konnte und durfte sie sich nicht beschäftigen. Die Zuneigung, die sie für ihren Patienten<br />

123


empfand, war verständlich und würde nicht tiefer werden, da war sie sich sicher. Sie durfte<br />

nicht tiefer werden! Entschlossen trank Kelly ihren Kaffee aus und sah auf die Uhr. Sie war<br />

fast neunzig Minuten unterwegs, es wurde Zeit, dass sie zu Shawn zurückkehrte. Er war das<br />

erste Mal seit seiner Befreiung allein. Kelly wusste nicht, wie er reagieren würde. So bezahlte<br />

sie und stieg in den Wagen. Minuten später stand sie vor ihrem Zimmer und eilte zur Tür.<br />

Sie trat schwungvoll in das kühle Zimmer und erschrak heftig! Shawn lag zusammen ge-<br />

rollt auf dem Bett und zitterte am ganzen Leib. Bestürzt eilte Kelly zu ihm.<br />

„Hey, Shawn, was ist denn?“<br />

Shawn zuckte zusammen, sah auf und stammelte hilflos:<br />

„Ich ... Wo warst du so lange? Ich hatte ... Scheiße, Kelly ...“<br />

Die Therapeutin setzte sich auf das Bett und zog Shawn an sich. „Ist gut, alles ist gut. Ich<br />

bin ja da. Alles ist gut.“ Sie war schockiert, dass es Shawn so mitgenommen hatte, eine Weile<br />

allein zu sein. Damit hatte sie nicht gerechnet. Er klammerte sich bebend an sie und brauchte<br />

eine ganze Zeit, um sich halbwegs zu fangen. Allmählich ließ das Zittern nach. Kelly redete<br />

sanft und beruhigend auf ihn ein. Ihre Linke strich liebevoll über Shawns Rücken und sie<br />

spürte, dass er sich entspannte.<br />

„Geht es wieder?“, fragte sie sanft und konnte hören, wie Shawn tief und zittrig durchat-<br />

mete. Er nickte unmerklich.<br />

„Ich ... konnte mich nicht rühren.“, stieß er leise hervor. Kelly schüttelte den Kopf.<br />

„Das ist meine Schuld, Shawn, es tut mir so leid. Ich hätte dich noch nicht allein lassen<br />

dürfen. Du bist noch nicht so weit.“<br />

Shawn setzte sich langsam auf und sah Kelly an. Tränen liefen ihm über die Wangen und<br />

er flüsterte:<br />

„Ich bin großartig! Ich kann nicht mal eine Stunde für mich sein, ohne zusammenzubre-<br />

chen!“ Er schluchzte auf und stieß verzweifelt hervor: „Am besten, du bringst mich gleich in<br />

die Klapse!“ Kelly drehte sich zu ihm herum und packte ihn an den Oberarmen. Energisch<br />

sagte sie:<br />

„Hör mir mal zu, Herzchen! Nach allem, was du erlebt hast, ist es kein Wunder, wenn du<br />

eine Panikattacke bekommst, verstanden? Ich hätte dich nie allein lassen dürfen, du bist noch<br />

nicht so weit. Du hast keinen Grund, dich zu schämen, Shawn. Ich muss mich schämen! Du<br />

gehörst überall hin, nur nicht in die Psychiatrie. Also schlage dir solche dummen Gedanken<br />

gefälligst aus dem Kopf.“<br />

Shawn sah Kelly lange verzweifelt an und nickte schließlich zaghaft. „Okay ... Das ist<br />

normal?“, fragte er leise.<br />

„Ja, absolut normal. Also mache dir keinen Kopf, bitte! Du wirst wieder allein sein kön-<br />

nen und du wirst wieder ohne Angst leben. Aber du musst Geduld haben, verstehst du? Das<br />

124


geht nicht von heute auf morgen. Traumata lösen sich nicht in Luft auf, nur weil sie nervig<br />

sind. Es ist ein langwieriger Prozess, bis der Betreffende ein normales Leben führen kann.<br />

Angstattacken, Depressionen, Schlafstörungen, all das sind Symptome solcher Trau-mata. Es<br />

ist wie eine schwere Erkältung. Husten, Schnupfen, Halsweh ... Deswegen verzweifelst du<br />

auch nicht, oder? Da wartest du ab, bis sich die Symptome legen. Das dauert ebenfalls seine<br />

Zeit. Also mache dich nicht verrückt, weil du Angst bekommen hast.“<br />

Shawn hatte zugehört und schluckte trocken.<br />

„Ich habe Angst vor dieser Art Angst. Ich will loswerden, was Carrie mir angetan hat! Ich<br />

will keine Albträume mehr haben und dich nachts wach schreien! Ich will nicht daran denken,<br />

dass Carrie rein kommt und mich quält ... Ich will, dass das aufhört!“<br />

Kelly seufzte. „Das wird es, glaube mir. Schneller, als du denkst.“ Sie lächelte. „Komm,<br />

Bewegung wird dir gut tun, lass uns noch ein Stück gehen, solange wir Licht haben, ja?“<br />

Shawn nickte. „Ja, gute Idee, frische Luft würde mir gut tun.“<br />

Zusammen schlenderten sie in Richtung Nordosten aus dem Resort hinaus. Als um sie<br />

herum nur noch Outback zu sehen war, wurde Shawn ruhiger und entspannte merklich. In<br />

einiger Entfernung konnte man die Formationen des Kings Canyon erkennen.<br />

„Gehen wir da morgen hin?“, fragte er bedrückt.<br />

„Ja, das werden wir.“ Kelly blieb stehen und drehte sich zu dem jungen Mann herum.<br />

„Shawn, bitte denke nicht mehr daran, dass du Angst bekommen hast, okay. Das ist eine nor-<br />

male Reaktion gewesen und ich gehöre getadelt. Es ist noch viel zu früh, um dich allein zu<br />

lassen, es ist alles noch viel zu frisch. Sieh dir lieber die wundervolle Natur um uns herum an<br />

und denke nicht mehr daran.“<br />

Shawn sah sich um und erneut empfand er die Stille, die Einsamkeit um sie herum als<br />

tröstlich.<br />

„Du hast sicher Recht. Ich kann es im Moment ohnehin nicht ändern. Ich freue mich auf<br />

morgen, wenn wir uns das dort hinten ansehen.“ Er atmete tief ein und nickte. „Es geht wie-<br />

der, aber ich möchte nicht, dass du dir die Schuld gibst, okay?“ Kelly biss sich auf die Lippe<br />

und erklärte:<br />

„Ich mache mir keine Vorwürfe und du denkst nicht mehr so dumme Sachen, deal?“<br />

Shawn lächelte zaghaft. Er hielt ihr die Rechte hin und sagte:<br />

„Deal!“<br />

*****<br />

Als sie später wieder im Resort ankamen, war es dunkel geworden. Die Laternen an den<br />

Wegen spendeten ein warmes, anheimelndes Licht. Shawn und Kelly schlenderten zum Res-<br />

125


taurant hinüber und bekamen einen Platz auf der Terrasse. Sie entschieden sich beide für<br />

Steak mit Pommes, Salat und Sour Creme. Kelly fragte Shawn:<br />

„Wie wäre es zur Feier des Tages mit einem Glas Rotwein?“<br />

Shawn nickte langsam. „Gerne. Wo ich heute doch vor 8 Uhr schon einen Drink hätte ver-<br />

tragen können ...“<br />

Kelly lächelte. „Ich ebenfalls, das kannst du mir gerne glauben.“<br />

Während sie auf ihr Essen warteten, fragte Kelly sanft:<br />

„Bist du nach der ganzen Aufregung heute noch bereit zu versuchen, mir die Mittäter zu<br />

beschreiben?“<br />

Shawn prustete angespannt und nickte entschlossen. „Wir sollten es versuchen.“<br />

„Das ist gut. Wenn es klappt, kann ich morgen früh Lauren anrufen und ihr die Beschrei-<br />

bungen durchgeben.“<br />

Eine Weile herrschte Schweigen. Unerwartet fragte Shawn auf einmal:<br />

„Wie kam es eigentlich dazu, dass die ... dass die mich gefunden haben?“<br />

Erstaunt sah Kelly auf. „Oh, das weißt du nicht? Hat man es dir nicht erzählt?“<br />

Shawn wurde rot. „Möglich, dass es jemand erwähnt hat am Anfang. Ich kann mich nicht<br />

erinnern.“<br />

Kelly nickte verständnisvoll. „Ich gehe davon aus, dass Lauren es dir gesagt hat. Aber du<br />

weißt am besten, in welch schlechter Verfassung du warst. Du wirst es nicht mitbekommen<br />

haben. Bei der AFP ging ein anonymer Hinweis ein. Ein Mann rief an und erklärte, wo man<br />

dich finden könnte.“<br />

Shawn schwieg betroffen. Nach einer Weile sagte er leise:<br />

„Brett.“<br />

Kelly verstand nicht, worauf Shawn hinaus wollte. Fragend sah sie ihn an.<br />

„Brett. Das ... könnte Brett gewesen sein.“<br />

Erstaunt fragte Kelly: „Wie kommst du darauf?“<br />

Erneut schwieg Shawn eine Weile, starrte gedankenverloren auf das Weinglas, das er in<br />

der Rechten hielt. Dann erklärte er betreten:<br />

„Er hat mir gestanden, sich in mich verliebt zu haben.“<br />

*****<br />

Als sie später auf der Terrasse ihres Zimmers saßen fragte Kelly:<br />

„Wie kam es dazu, dass Brett dir gestanden hat, sich in dich verliebt zu haben?“<br />

Shawn schluckte. Bedrückt erzählte er:<br />

„Er hat mich ab und zu ... an den Strand gebracht. Er meinte dann, wir würden zum Pick-<br />

nick gehen.“ Shawn lachte verzweifelt auf. „Er nahm eine Decke mit, was zu trinken und ...<br />

Er liebte es, wenn ich ... Ich musste mich auf die Decke knien und ... Er hat ... er hat mich<br />

126


dann ... gevögelt.“ Shawn kullerten Tränen über die Wangen. Kelly griff nach seinen Händen<br />

und hielt diese fest. Sie gab ihm damit Halt und Trost. Angespannt prustete Shawn und er-<br />

zählte weiter:<br />

„Wenn ich ... so tat, als würde es mir gefallen, hat er mich einen ganzen Tag in Beschlag<br />

genommen. Dann haben wir Fernsehen geguckt, Karten gespielt, uns unterhalten, ich hatte<br />

Ruhe vor den anderen.“ Er schluchzte verzweifelt auf. „Ich hab ... Scheiße, ich habe mich<br />

verkauft. Ich hab gestöhnt und ... tat so, als wäre es ... Ich habe ... ihm was vor gemacht und<br />

mir damit Ruhe erkauft. Verstehst du? Einfach mal einen Tag lang in Ruhe gelassen werden!<br />

Er hat mich ... an solchen Tagen mehrmals ... gefickt, aber es tat irgendwann nicht mehr weh<br />

und ... Und dann ... hat er am Strand nach einem Orgasmus ... Er wollte sich an mich kuscheln<br />

und ... Als er so lag, fing er an, mich zu streicheln ... Ich hab es mit der Zeit gelernt, auszu-<br />

blenden, dass es Brett war, der mich berührte. Er hat ... er hat mich zum Orgasmus gebracht.<br />

Und dann hat er es mir gesagt. Dass er mich liebt.“<br />

Aufgelöst schluchzte Shawn vor sich hin. Kelly gab ihm Zeit, sich zu fangen. Schließlich<br />

sagte sie leise:<br />

„Das ist normal, Shawn. Das war deine einzige Möglichkeit, dir ab und zu Ruhe und Frie-<br />

den zu verschaffen. Es gibt keinen Grund, sich zu schämen. Und darüber, dass du zum Or-<br />

gasmus gekommen bist haben wir ausgiebig gesprochen. Es ist gut möglich, dass der Tipp<br />

von ihm kam. Außer den Fünfen wusste keiner, dass du dort bist. Dieser Alan scheint Carrie<br />

ergeben zu sein, er wird es sicher nicht gewesen sein.“<br />

„Der Bastard war es sicher nicht. Kelly, ich habe mich prostituiert für ein bisschen Ruhe.<br />

Wenn ich von morgens bis abends ran genommen worden war, hätte ich alles getan für einen<br />

Tag Pause. Vierundzwanzig Stunden keine Schmerzen, keine Angst, ein paar nette Worte.<br />

Wenn ich dafür die Beine breitmachen musste ... Ich habe es getan.“ Seine Stimme war leiser<br />

geworden und verstummte ganz. Kelly spürte, wie schwer Shawn dieses Selbstschutzverhal-<br />

ten auf der Seele lag. Sie überlegte, wie sie ihm klar machen konnte, dass das reiner Selbster-<br />

haltungstrieb und in keiner Weise tadelnswert war. Schließlich fing sie ruhig an zu reden.<br />

„Shawn, was würdest du tun, wenn eine Horde Schläger hinter dir her wäre?“<br />

Erstaunt über diese Frage sah Shawn auf. „Na, was wohl: Abhauen, so schnell es geht!“<br />

Kelly nickte. „Und wenn es wie aus Kübeln gießt und du zwei Möglichkeiten hast: Rein<br />

zu gehen oder draußen zu bleiben?“<br />

„Reingehen ...“<br />

„Und wenn dich ein Bullterrier angreifen würde und du hättest ein Messer in der Hand?“<br />

Shawn begriff nicht, worauf Kelly hinaus wollte, antwortete aber: „Abstechen?“<br />

„Genau. Und wenn du die Wahl hättest zwischen Folter und gestehen?“<br />

Shawn nickte langsam. „Gestehen wohl.“<br />

127


„Eben! Und wenn du die Möglichkeit hast, zu schauspielern, um damit heftigen Misshand-<br />

lungen zu entgehen?“<br />

Schlagartig begriff Shawn, was Kelly ausdrücken wollte.<br />

„Das ist aber was anderes. Ich habe mich freiwillig ...“<br />

Hier unterbrach Kelly energisch. „Nein, das hast du nicht! Du hast dich ihm nicht freiwil-<br />

lig hingegeben. Du hattest keine Wahl. Du hast nur aus der Situation aus purer Selbstverteidi-<br />

gung, Selbsterhaltung, das Beste gemacht. Du hast die winzigen Möglichkeiten, die dir blie-<br />

ben, sinnvoll genutzt, um dich vor weiteren Qualen zu schützen. Das ist menschlich, verstehst<br />

du? Nur dumme Helden und Masochisten hätten diese Chance nicht genutzt.“<br />

Shawn saß eine Weile still da. Endlich sah er Kelly an.<br />

„Bei dir hört sich das alles so leicht an. Ich weiß nicht mal, ob ich nicht doch was empfun-<br />

den habe.“<br />

ders.“<br />

Überzeugt sagte Kelly: „Ja, das hast du sicher. Abscheu, Ekel und Verachtung! Nichts an-<br />

Erneut überlegte Shawn einen Moment und nickte schließlich. „Du hast Recht ... Mehr<br />

habe ich nicht gefühlt.“<br />

Er ließ seufzend den Kopf gegen die Stuhllehne sinken und sagte bedrückt:<br />

„Ich bilde mir ein, dass man es mir ansieht, verstehst du? Dass jeder sofort sieht, was mit<br />

mir passiert ist. Jede Frau sofort merkt, dass ich monatelang ... anal vergewaltigt wurde. Dass<br />

ich es noch geil gefunden habe. Ich habe das Gefühl, dass es mir deutlich sichtbar auf den<br />

Hintern tätowiert wurde: Geiler Fickarsch ...“<br />

Kelly wusste, was Shawn meinte. Ihr war es nicht anders gegangen. Sie hatte das Gefühl<br />

gehabt, ein Schild um den Hals hängen zu haben auf dem deutlich sichtbar stand: Ich wurde<br />

vergewaltigt! Es hatte lange gedauert, bis sie dieses Gefühl nicht mehr gehabt hatte. Als sie<br />

mehr als vier Jahre nach der Entführung das erste Mal mit einem Mann zusammen gewesen<br />

war, endete der Abend in einem Desaster. Nicht etwa, weil sie es nicht ertragen hätte, von<br />

einem Mann berührt zu werden, das war nicht das Problem. Als sie sich ausgezogen hatten<br />

und sich ins Bett legen wollten, hatte sie vielmehr das Gefühl gehabt, ihr Intimbereich würde<br />

rot leuchtend davon künden, was man ihr dort angetan hatte! Sie war sprichwörtlich schreiend<br />

aus dem Raum gerannt, noch bevor der junge Mann Gelegenheit gehabt hatte, sie zu berühren.<br />

Ruhig sagte sie:<br />

„Shawn, das Gefühl wird dich lange verfolgen, darüber musst du dir im Klaren sein. Ich<br />

habe vier Jahre nach der Entführung erstmals den Mut aufgebracht, mich mit einem Mann<br />

einzulassen. Bei unserem ersten Versuch miteinander zu Schlafen bin ich heulend ausgeris-<br />

sen. Ich bildete mir ein, mein Schoss und mein Po würden rot leuchtend verkünden, was ihnen<br />

widerfahren war. Es hat noch einmal ein paar Monate gedauert, bis ich einen weiteren Ver-<br />

128


such startete. Ich habe dem Jungen erzählt, was mir passiert war und er hat verständnisvoll<br />

reagiert. Er hat mir alle Zeit gelassen, die ich brauchte. Und du wirst irgendwann eine Partne-<br />

rin finden, die dir über dieses Gefühl hinweg helfen wird.“<br />

„Meinst du? Das ist nicht wie die Narben vom Branding. Ich werde beständig daran den-<br />

ken müssen, was man mit meinem Hintern gemacht hat, wenn mich je wieder eine Frau anfas-<br />

sen sollte.“ Verzweifelt fuhr Shawn sich mit den Händen über das Gesicht. „Und das<br />

schlimmste ist, vielleicht wünsche ich mir eines Tages, dass das wieder jemand mit mir macht<br />

...“<br />

„Wenn du eine liebevolle, verständnisvolle Partnerin hast, könnt ihr es ausprobieren. Ich<br />

erklärte dir schon, dass an Analverkehr nichts anstößiges ist. Ich bin sicher, du wirst eines<br />

Tages eine wundervolle Frau an deiner Seite haben, die dir alles gibt, was du dir wünscht.“<br />

Sie zog ihren Stuhl direkt vor Shawn hin und sagte:<br />

„Wir sollten jetzt versuchen, deine Erinnerungsblockade zu brechen, was meinst du? Du<br />

warst in Gedanken bei Brett. Erinnerst du dich, wie er ausgesehen hat?“<br />

Shawn war froh, aus seinen trüben Gedanken gerissen zu werden. Er schloss die Augen,<br />

atmete tief durch und versuchte, sich Bretts Aussehen ins Gedächtnis zu rufen. Er konzentrier-<br />

te sich und fing langsam an: „Um die 1,85 Meter, ungefähr vierzig, plus/minus ein, zwei Jah-<br />

re, schlank, aber durchtrainiert, Brustwarzen und Penis waren gepierct, kleine goldene Kreo-<br />

len. Er hat einen kleinen, erigierten Penis auf die linke Pobacke tätowiert, hat goldene Ringe<br />

am Daumen. Er ist homosexuell und SMler, dürfte wohl in der Szene zu finden sein. Er hat<br />

graue Haare, natur, nicht gefärbt, okay, für so was habe ich einen Blick. Geheimratsecken,<br />

drei Tage Bart.“<br />

Kelly war begeistert.<br />

„Du hast eine unglaubliche Beobachtungsgabe.“, sagte sie beeindruckt.<br />

„Die musst du als Schauspieler haben. Da fällt mir ein, er hatte einen starken Akzent ... Ir-<br />

gendwo habe ich den vorher schon mal gehört.“ Shawn überlegte krampfhaft und stieß aufge-<br />

regt hervor „Die Beatles!“<br />

Verständnislos sah Kelly den jungen Mann an. „Bitte?“<br />

„Da habe ich diesen Akzent gehört! Er hörte sich genauso an!“<br />

Kelly verstand und sagte gespannt: „Dann muss er Brite sein. Aus dem Raum Liverpool.<br />

Shawn, das ist großartig!“ Spontan umarmte sie den Schauspieler und sprang auf, um sich<br />

Zettel und Stift zu besorgen. Hastig suchte sie im Zimmer nach ihrem Notizbuch und griff<br />

sich einen Stift. Sie eilte zu Shawn zurück und erweiterte ihre Personenbeschreibung um<br />

Brett.<br />

„Was meinst du, hast du noch die Kraft, weiter zu machen? Noch fehlen Alan, Karen und<br />

Teresa.“<br />

129


Shawn nickte. „Ja, es geht noch. Alan ... Dieser Bastard war Anfang dreißig würde ich<br />

schätzen, mindestens 2,10 Meter groß. Er hat kurz geschorene, dunkle Haare und dunkle Au-<br />

gen. Eine klassische Wrestlerfigur, Muskeln wie ... Hulk Hogan. Auf dem rechten Oberarm<br />

hat er ‘Semper Fi‘ tätowiert, auf dem linken Unterarm eine Seeschlange, die ein Boot ver-<br />

schlingt, einfarbig, wie ein Gefängnistattoo.“ Shawn schwieg erschöpft. Und Kelly notierte<br />

eifrig, was er beschrieb. Liebevoll sagte sie:<br />

„Du bist so gut. Ich bin sagenhaft stolz auf dich.“<br />

Ein zögerndes Lächeln zuckte über Shawns Lippen. Dann aber sagte er bedrückt: „Noch<br />

fehlen Karen und Teresa. Teresa ... Ich ... Sie hatte eine Vorliebe dafür, mich ... Sie liebt Luft-<br />

reduktionsspiele.“ Er verstummte und sah Kelly Hilfe suchend an. Kelly griff nach seinen<br />

Händen und sagte ruhig:<br />

„Schließ deine Augen, lehn dich entspannt zurück. Wir machen erst unsere Atemübung.“<br />

Shawn ließ sich nach hinten sinken und schloss die Augen. Minutenlang ließ Kelly ihn ein<br />

und aus atmen. Schließlich sagte sie leise:<br />

„Wir werden gemeinsam in das Haus zurückgehen. Du bist ruhig, du bist in Sicherheit,<br />

Shawn. Dir kann nichts passieren, ich bin an deiner Seite. Du hast Teresa das erste Mal bei<br />

der Beschneidung gesehen. Da wirst du dich nicht an sie erinnern. Aber am Nachmittag, als<br />

Carrie dich ausgestellt hat, kommen Brett, Karen und Teresa zu dir. Daran erinnerst du dich.<br />

Carrie bringt dich ins Wohnzimmer ...“<br />

Shawn nickte. „Ja, sie führt mich zwischen die Säulen.“<br />

„Was siehst du?“, fragte Kelly ruhig.<br />

„Ich stehe mit dem Gesicht zur Zimmertür. Hinter mir ist die Sitzecke, das Gartenfenster.<br />

Vor mir ... Der große Tisch, auf dem ich immer gefesselt wurde ... Und die Zimmertür in den<br />

Flur. Regale mit Büchern ...“<br />

„Gut, Shawn, was siehst du noch?“<br />

Schwer atmete der junge Mann durch. Stockend sagte er: „Alan ... Er kommt zu mir und ...<br />

er fasst mir zwischen die Beine ... Es ist ekelhaft ...“<br />

Kelly spürte Shawn zittern und sagte ruhig:<br />

„Er geht weg, Shawn, er ist weg, er fasst dich nicht mehr an.“<br />

Shawn nickte. „Ja, er verschwindet. Die anderen kommen rein.“<br />

„Shawn, sie können dir nichts tun, ich bin bei dir. Du sollst sie dir nur anschauen. Was<br />

siehst du?“<br />

„Sie kommen zu mir ... Karen, sie ist ... Mitte dreißig, klein, 1,60 Meter höchstens, mollig.<br />

Sie hat naturrote Haare. Sie trägt immer schwarzen Nagellack, auf Finger- und Fußnägeln. Sie<br />

hat schmale Lippen, graugrüne Augen, Sommersprossen, hohe Wangenknochen. Erwähnte<br />

mal, dass sie was mit Kunst gemacht hat.“<br />

130


Kelly nickte. „Das machst du gut, Shawn. Neben Karen steht Teresa. Erzähle mir von ihr.<br />

Denke daran, dass sie dir nichts tun wird. Ich werde das verhindern.“<br />

Shawn fing heftig an zu zittern. „Ich habe Angst ...“, flüsterte er leise.<br />

„Ich weiß, Schätzchen, aber du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich stehe neben dir,<br />

ich bin da, um sie von dir fernzuhalten. Sag mir nur, was du siehst.“<br />

„Sie ... Anfang vierzig, groß, 1,78 Meter mindestens. Sie hat blonde, kurze Haare, kalte,<br />

blaue Augen. Sie muss Medizin studiert haben, sie konnte ja ... konnte die ... Beschneidung<br />

machen. Ein blasser Typ, aufgespritzte Lippen, definitiv künstliche Brüste. Sie ist ... sie ...<br />

muskulös, sie macht Kraftsport ... Ihre ... sie hat eine gepiercte Klitoris, einen Platinring. Sie<br />

hat eine Narbe auf dem rechten Schienbein, eine Handbreit unterhalb des Knies, 5 Zentimeter<br />

lang. Bitte, ich will hier weg ...“<br />

Kelly atmete unendlich erleichtert auf. „Du kannst weg, jederzeit. Komm zu mir, wir ha-<br />

ben es geschafft! Du wirst nie mehr dorthin zurück müssen.“<br />

Shawn zuckte zusammen und schlug die Augen auf. „Ich habe es geschafft!“<br />

Kelly lächelte und nahm Shawn noch einmal fest in die Arme.<br />

„Ja, das hast du, du hast es geschafft! Du hast unglaublichen Mut bewiesen. Du hast eine<br />

so detaillierte Beschreibung von allen geliefert, dass es kein Problem sein dürfte, sie in Poli-<br />

zeiakten zu finden, falls sie mal erfasst wurden. Wenn nicht, reicht die Beschreibung aus, sie<br />

zu erkennen.“<br />

Erleichtert seufzte Shawn: „Gott sei Dank. Ich sehe die Bitch vor mir. Sie war am grau-<br />

samsten. Gott, ich habe sie so gehasst!“ Er schwieg erschöpft und schloss müde die Augen.<br />

„Ich bin total fertig. Können wir uns hinlegen?“<br />

Kelly nickte. „Ja, es reicht für heute. Ich schreibe mir nur noch schnell auf, was du erzählt<br />

hast, dann komme ich auch.“<br />

Shawn stand schwerfällig auf und schlurfte ins Zimmer. Er verschwand kurz ins Bad, Mi-<br />

nuten später lag er im Bett. Kelly machte schnell die letzten Notizen, folgte ihm und lag kurze<br />

Zeit darauf neben ihm im Bett. Shawn hatte sich auf die Seite gedreht und sah Kelly an. Sie<br />

fragte ihn liebevoll:<br />

„Na, geht es einigermaßen? Das war ein harter Tag.“<br />

Shawn stimmte ihr zu. „Das war es. Ich weiß nicht, ich bin total ausgelutscht.“<br />

Kelly musste über den Ausdruck schmunzeln. „Du hast heute einiges geleistet.“<br />

Shawn schwieg eine Weile. Schließlich fragte er leise: „Sag mal, der Taipan ... Wenn der<br />

mich in den Rücken gebissen hätte ...“<br />

Kelly zuckte zusammen. „Wenn das passiert wäre ... Da hätte das Antivenom nicht mehr<br />

viel gebracht. Das Gift wäre viel zu schnell zum Herzen gelangt.“<br />

Shawn lief eine Gänsehaut über den Körper. „Wäre es schnell gegangen?“<br />

131


gen.“<br />

„Warum fragst du das?“<br />

Shawn zuckte die Schultern. „Ich wüsste es nur gerne.“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Wenn du es wissen willst, nein, es wäre nicht schnell gegan-<br />

„Verstehe.“ Seine Stimme zitterte.<br />

„Shawn, bitte, denke nicht mehr daran! Es ist nichts passiert und wir sollten dankbar sein.“<br />

Shawn schluckte. „Dank dir. Was würde ich nur ohne dich machen?“ Er tastete nach Kel-<br />

lys rechter Hand und hielt diese fest in seinen Händen. „Du hast mir schon zweimal das Leben<br />

gerettet. Wie soll ich das gut machen?“<br />

Kelly fragte unwillkürlich erstaunt: „Wieso zweimal?“<br />

Leise erklärte der junge Mann „Weil ich mich ... ich hätte ... Schluss gemacht ...“ Er lachte<br />

verzweifelt. „Diesmal hätte ich nicht gekniffen. Bei Carrie wollte ich sterben und als es so<br />

weit war hatte ich nur noch Angst. Da war ich froh, dass sie mich nicht umgebracht hat. Nach<br />

der Befreiung ... Ich habe nur auf einen passenden Moment gewartet. Und heute Morgen? Ich<br />

hatte solche Angst, Angst zu sterben, verstehst du? Dabei war es vor ein paar Wochen noch<br />

das, was ich mir sehnlichst wünschte. Das hast du geschafft.“<br />

Kelly hatte ruhig zugehört. „Suizidgedanken sind nach solchen Erlebnissen normal. Meist<br />

führt man sie nicht aus. In unseren Gehirnen ist die Erleichterung über die Rettung so fest<br />

verankert, dass sie uns vor dem letzten Schritt bewahrt. Da deine Depressionen nicht patholo-<br />

gisch sind, sondern eine kurzfristige Erscheinung aufgrund eines schweren Traumas, gehör-<br />

test du zwar grundsätzlich in die Gruppe suizidgefährdeter, aber das hat sich inzwischen erle-<br />

digt. Du willst nicht mehr sterben. Du hattest heute Morgen Todesangst, das beweist es. Mach<br />

dir keine Gedanken mehr über deinen Tod, okay? Du wirst noch lange leben und du wirst<br />

glücklich leben, Shawn, da bin ich sicher. Wir sollten versuchen zu schlafen, es ist spät.“<br />

Shawn gähnte herzhaft.<br />

„Du hast Recht. Gute Nacht.“ Er ließ Kellys Hand nicht los und so blieb Kelly liegen wie<br />

sie lag und erwiderte:<br />

„Gute Nacht!“, und schloss die Augen.<br />

Schon kurze Zeit später waren nur noch gleichmäßige Atemgeräusche zu hören.<br />

*****<br />

10) Carrie<br />

Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht.<br />

Abraham Lincoln<br />

132


Gegen 8 Uhr am kommenden Morgen saßen sie im Resort Restaurant und ließen sich<br />

Rühreier mit Speck, Toast, gebratenen Pilzen und Kaffee schmecken. Die Sonne brannte von<br />

einem strahlend blauen Himmel und es war heiß. Shawn hatte gut geschlafen und war dem-<br />

entsprechend gut gelaunt. Nach dem Frühstück ging Kelly an die Theke und fragte:<br />

„Entschuldigen Sie, dürfte ich wohl mal ihr Telefon benutzen? Ich bezahle das Gespräch<br />

selbstverständlich.“<br />

„Gerne, kommen Sie mit ins Büro.“ Die freundliche Angestellte führte Kelly in ein kleines<br />

Büro und erklärte:<br />

„Es hat einen Zähler, also kein Problem, nur zu.“ Sie verließ das Büro und Kelly wählte<br />

Laurens Nummer. Nach kurzem Klingeln meldete sich die Freundin.<br />

„Agent Demsey.“<br />

„Hallo Lauren.“<br />

Erfreut klang die Stimme zurück. „Oh, Kelly, hallo. Wo treibt ihr euch rum?“<br />

„Wir sind am Kings Canyon. Hör zu, ich habe die Beschreibungen der Typen, nimm dir<br />

Zettel und Stift.“<br />

„Sekunde. So, kann losgehen.“ Kelly hatte ihr Notizbuch in der Hand und las vor.<br />

„Hör zu: Carrie: Ende zwanzig, Anfang dreißig, 1,75 Meter groß, dunkle Augen, dunkle,<br />

aber gefärbte Haare, hübsch, schlank, fast zierlich, kleeblattförmiges Muttermal auf der linken<br />

Schulter, am linken Mittelfinger ein Tattoo in Form einer kleinen Rose. Teresa: Anfang vier-<br />

zig, 1,78 Meter mindestens, kräftig gebaut, Shawn meint, sie mache Kraftsport, blonde, kurze<br />

Haare, blaue Augen, Chirurgin, blasser Typ, aufgespritzte Lippen, definitiv künstliche Brüste,<br />

gepiercte Klitoris, Narbe auf dem rechten Schienbein, handbreit unterhalb des Knies, zirka 5<br />

Zentimeter lang. Karen: Mitte dreißig, 1,60 Meter höchstens, mollig, naturrote Haare, trägt<br />

schwarzen Nagellack, schmale Lippen, graugrüne Augen, Sommersprossen, hohe Wangen-<br />

knochen, erwähnte mal, dass sie was mit Kunst gemacht hat. Brett: 1,85 Meter, um die vier-<br />

zig, schlank, aber durchtrainiert, Brustwarzen und Penis gepierct, er trägt dort kleine Kreolen<br />

aus Gold, hat einen Penis auf die linke Pobacke tätowiert, goldene Ringe am Daumen, homo-<br />

sexuell und SMler, graue Haare, Geheimratsecken, Drei Tage Bart, er hat einen starken Li-<br />

verpooler Akzent. Da er homosexuell und SMler ist, wird er in der Szene bekannt sein. Alan:<br />

Anfang dreißig, 2,10 Meter mindestens, kurz geschorene, dunkle Haare, dunkle Augen, klas-<br />

sische Wrestlerfigur, auf dem rechten Oberarm Semper Fi Tattoo, auf dem linken Arm eine<br />

Seeschlange, die ein Boot verschlingt, einfarbig, Shawn meint, wie ein Knast Tattoo.“<br />

Lauren schrieb eifrig mit. Als sie fertig war sagte sie: „Er hat eine erstaunliche Beobach-<br />

tungsgabe!“<br />

„Ja, ich nehme an, das bringt die Schauspielerei mit sich. Gut, so kannst du die Fahndung<br />

heraus geben. Wir verschwinden zurück ins Outback, aber ich melde mich wieder. Sei bitte so<br />

gut und informiere Shawns Eltern, sie warten auf einen Bericht. Sag ihnen, Shawn ginge es<br />

den Umständen entsprechend gut. Er macht Fortschritte. Bye.“<br />

133


„Mache ich gerne. Bei allem weiter viel Spaß, Kelly. Ich warte auf deinen Anruf. Bye.“<br />

Kelly legte auf und sah auf die Summe, die sie vertelefoniert hatte. Sie kehrte in den<br />

Speiseraum zurück, bezahlte und legte noch 5 A$ drauf.<br />

„Vielen Dank. Bye.“ Kelly beeilte sich, zu Shawn zurück zu kommen und sagte fröhlich:<br />

„So, die Fahndung wird in Kürze raus sein und wir können los.“<br />

Erleichtert atmete Shawn auf. „Hoffentlich haben wir Glück und sie erwischen sie schnell.<br />

Ich würde mich wohler fühlen.“ Er trank einen Schluck Kaffee und Kelly leerte ihre Tasse.<br />

„Kannst du mal die Heizung abstellen?“, bat Shawn grinsend, als sie später zu ihrem Gelän-<br />

dewagen marschierten. Kelly grinste ebenfalls.<br />

„Nein, ich friere so leicht!“, erklärte sie gehässig.<br />

„Biest!“ Shawn stöhnte theatralisch. „Es ist wie in einem Backofen. Ich habe mir tatsäch-<br />

lich eingebildet, in Florida wäre es warm. Ich unwissender Tropf.“<br />

Kelly lachte. „Ja, es ist heiß, aber dafür sind wir in Australien. Ich habe schon so liebevol-<br />

le Bezeichnungen wie Hochofen der Erde oder Vorhölle als Bezeichnung für unser Outback<br />

gehört.“<br />

Shawn nickte. „Das trifft es in etwa. Trotzdem freue ich mich auf den Canyon. Nur bitte<br />

ohne lange, zischende Tiere ohne Beine.“<br />

Kelly lachte. „Nein, keine Bange, nur einen langen, warmen, anstrengenden Weg!“<br />

Sie hatten den Wagen erreicht und stiegen ein. Kelly drehte die Klimaanlage voll auf und<br />

wenige Minuten später hatte die leistungsstarke Anlage die Temperatur im Wagen auf ein<br />

erträgliches Maß herunter gekühlt. Sie stellte die Temperatur auf 25 Grad ein und fuhr los.<br />

Eine halbe Stunde später standen sie am Canyon und Shawn war begeistert. Er vergaß ange-<br />

sichts dessen, was er hier zu sehen bekam, komplett, dass ihm heiß war. Fasziniert sah er sich<br />

um.<br />

„Es ist unglaublich beeindruckend! Was habt ihr nur für einzigartige Natur hier! Etwas<br />

derart Schönes würde man hier draußen gar nicht erwarten. Ich bin dir so dankbar, dass ich<br />

das alles zu sehen bekomme.“<br />

„Das tue ich gerne. Ich profitiere auch davon, Shawn, nicht nur du. Ich bin gerne hier<br />

draußen.“<br />

„Hast du solch einen Ausflug schon mal mit Patienten gemacht?“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nein. Dieses Privileg ist einzig und allein für dich. Ich habe<br />

gleich am Anfang der Therapie bemerkt, dass du draußen entspannter bist als im Haus. Darum<br />

hatte ich die Idee, diesen Ausflug zu unternehmen.“<br />

Shawn sah gedankenverloren in den Canyon hinein. Leise sagte er: „Draußen war es ... da<br />

haben sie mich weitestgehend zufriedengelassen. Carrie hat mich häufig mit an den Strand<br />

genommen. Dort hat sie mir nichts getan. Höchstens mal ... vergewaltigt oder mich ... oral<br />

134


efriedigt.“ Er war rot angelaufen und sah verlegen zu Boden. Er fügte hinzu: „Sie hat sich<br />

auch mit mir unterhalten. Ganz normal.“<br />

Kelly nickte verstehend. „Davon kommt es wohl, dass du draußen gelassener bist. Magst<br />

du mir von einer solchen Situation erzählen?“<br />

Shawn überlegte kurz. Schließlich fing er leise an zu reden.<br />

*****<br />

„Komm mit.“, sagte Carrie, als sie Shawns Zimmer betreten hatte und Shawn erhob sich<br />

sofort. Sie fesselte seine Hände, trat auf die kleine Terrasse hinaus und Shawn folgte ihr er-<br />

staunt. Nebeneinander gingen sie an den Strand hinunter. Hier löste sie seine Fesseln und<br />

schlüpfte aus dem leichten Sommerkleid, dass sie trug. Darunter war sie nackt. Sie sah ihn an<br />

und lächelte.<br />

„Na, was ist? Bist du wasserscheu?“ Lachend lief sie ins Meer und stürzte sich kopfüber<br />

in die Wellen. Shawn sah einen Moment verdutzt zu, folgte ihr ein wenig verkrampft. Das kal-<br />

te Wasser linderte den Schmerz, den der Plug verursachte und Shawn konnte entspannter das<br />

überraschende Bad genießen. Eine Weile ließen sie sich von den Wellen herum spülen.<br />

Schließlich verließ Carrie das Wasser und setzte sich an den Strand. Shawn blieb noch einen<br />

Moment im Meer, doch bald folgte er ihr. Unsicher stand er vor ihr und wusste nicht, wie er<br />

sich verhalten sollte. Sie klopfte in den Sand neben sich und sagte:<br />

„Komm, setzt dich zu mir.“<br />

Steif setzte er sich und spürte sofort verstärkt den unangenehmen Druck des Plugs. Unru-<br />

hig versuchte er, eine weniger schmerzhafte Haltung einzunehmen. Carrie sah ihn an.<br />

„Du wirst dich in einigen Tagen daran gewöhnt haben. Das Beste ist, wenn du versuchst,<br />

dich zu entspannen.“<br />

Er wurde rot und nickte. Er bemühte sich, seinen Schließmuskel locker zu lassen und war<br />

überrascht, dass es sofort weniger schmerzte. Carrie bemerkte, dass er entspannte.<br />

„Siehst du.“, sagte sie lächelnd. Sie sah ihn von der Seite an und fragte: „Was treibst du<br />

so, außer der Schauspielerei und dem Modeling?“<br />

Erstaunt über die Frage erwiderte er leise, peinlich vermeidend, sie anzusehen: „Ich lasse<br />

mich von Verrückten entführen und foltern.“ Erschrocken biss er sich auf die Lippe, aber<br />

Carrie lachte.<br />

„Und außerdem?“<br />

Hastig antwortete Shawn: „Ich ... Das ist mir raus gerutscht, tut mir leid. Ich ... Naja, ich<br />

liebe Wellenreiten. Fallschirmspringen, Rafting, Extremsportarten. Ich höre gerne klassische<br />

Musik. Ich tanze gerne. Opern, ab und zu einen guten Film im Kino, im Winter lese ich viel.“<br />

Er schwieg verlegen.<br />

135


„Hast du eine Freundin?“<br />

Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe schon eine Weile keine feste Beziehung mehr.“<br />

„Hast du mal Kontakt zur SM Szene gehabt?“<br />

„Nein!“<br />

Sie grinste. „Brett ist schwul und ein echter SMler. Er wird dich hart ran nehmen. Da<br />

musst du durch. Du wirst es überleben.“ Sie sah auf das Wasser hinaus, wo die Sonne blutrot<br />

unterging. „Willst du heute Nacht bei mir schlafen?“, fragte sie unvermittelt. Shawn wusste<br />

nicht, was er antworten sollte. Ihre Behandlung vor der Beschneidung gehörte zu den inten-<br />

sivsten sexuellen Erfahrungen, die er bisher gemacht hatte. Aber er hatte Angst vor ihr. So<br />

sagte er leise:<br />

„Ich weiß nicht ... Wenn du es möchtest ...“<br />

Sie sah ihn an und überlegte. Statt einer Antwort sagte sie aber: „Wir sollten zurückge-<br />

hen, dass Essen wird fertig sein.“ Sie stand auf und reichte ihm die Hände. Vorsichtig ließ er<br />

sich auf die Beine ziehen. Sie schlüpfte in das Kleid und zusammen gingen sie zum Haus zu-<br />

rück. In seinem Zimmer erklärte sie:<br />

„Wir sollten uns schnell noch einmal abspülen, wir sind salzig und sandig.“ Sie hatte ihm<br />

die Hände am Strand auf den Rücken gefesselt und dirigierte ihn so zum Bad hinüber. Sie<br />

drückte ihn zur Dusche und folgte ihm. Sie drehte das Wasser an und griff nach der Seife.<br />

Sanft seifte sie Shawn ein und reinigte seine Haut gründlich von Salzwasser und Sand. Er<br />

spürte wohlige Schauer über seinen Körper huschen, als sie mit eingeseifter Hand zwischen<br />

seine Beine rutschte und ihn dort gründlich säuberte. Seine noch auf den Rücken gebundenen<br />

Hände zuckten. Carrie sah seine Erregung und lächelte. Sie nahm den Duschkopf und spülte<br />

ihn gründlich ab. Schnell reinigte sie sich selbst und drehte das Wasser ab. Sie schnappte sich<br />

ein neues Handtuch und rubbelte ihn gründlich trocken. Anschließend trocknete sie sich selbst<br />

ab. Die junge Frau schlüpfte in das Kleid zurück und sagte:<br />

„Komm, wir gehen Essen.“<br />

Im Salon war der Tisch für zwei Personen gedeckt. Sie löste seine Handfesseln und deutet<br />

auf den Stuhl ihr gegenüber.<br />

„Setz dich. Lass es dir schmecken. Alan ist ein hervorragender Koch.“<br />

Es gab einen saftigen, zarten Rinderbraten, Gemüse und Kartoffeln. Während des Essens<br />

unterhielten sie sich über Opern und Shawn vergaß fast, dass er nackt und mit einem Buttplug<br />

im Po bei einer Frau am Tisch saß, die ihn entführt hatte. Sie kannte sich großartig in der<br />

Welt der Opern aus und die Unterhaltung war interessant und anregend. Sie tranken einen<br />

großartigen Rotwein und als sie nach dem Essen noch einen Aperitif zu sich nahmen, musste<br />

Shawn im Stillen zugeben, dass er sich selten mit einer Frau so wunderbar unterhalten hatte.<br />

Sie fragte ihn:<br />

„Magst du einen Film gucken?“<br />

136


Überrascht nickte er. „Ja, gerne.“<br />

Zusammen gingen sie zum Sofa hinüber.<br />

„Kennst du die Herr der Ringe Filme?“, fragte sie ihn und er schüttelte leicht verschämt<br />

den Kopf.<br />

„Nein, ich wollte sie mir ansehen und ... Ich hab es bisher nicht geschafft.“<br />

Sie lachte. „Ja, so geht es einem manchmal. Okay, dann werde ich dich in die wunderbare<br />

Welt Peter Jacksons einführen.“ Sie ging an das gut bestückte DVD Regal und zog eine Hülle<br />

hervor. Carrie legte die DVD in den Player und setzte sich bequem auf das Sofa. „Dort drü-<br />

ben in dem Schrank ist ein Gürtel mit vier Stahlringen, hole ihn und lege ihn dir um.“, sagte<br />

sie ruhig und Shawn beeilte sich, ihrer Aufforderung nachzukommen. Er legte sich den Gür-<br />

tel, den er sofort fand, um die Taille.<br />

„Komm zu mir.“ Er trat zu ihr und sie ließ die Karabiner seiner Handgelenkmanschetten<br />

in die Ringe an der Seite des Gürtels einschnappen. Jetzt deutete sie neben sich auf das Sofa<br />

und sagte: „Setz dich zu mir.“<br />

Er ließ sich vorsichtig auf dem Sofa nieder und versuchte, es sich bequem zu machen.<br />

Carrie drückte auf die Play-Taste und der Film begann. Nach kurzer Zeit wurde Shawn unru-<br />

hig und Carrie lachte.<br />

„Du nervst. Leg dich hin, wenn das angenehmer für dich ist.“<br />

Unsicher sah er sie kurz an.<br />

„Mach schon.“<br />

Erleichtert streckte er sich auf dem Sofa aus und Carrie ließ ihn seinen Kopf auf ihre<br />

Oberschenkel legen. So war es angenehmer und Shawn atmete erleichtert auf. Er konnte den<br />

Film genießen.<br />

Als drei Stunden später die letzten Szenen über den Bildschirm geflackert waren und Car-<br />

rie den Player ausschaltete, sagte er beeindruckt:<br />

„Ein großartiger Film.“<br />

Sie nickte. „Ja, das ist er. Die beiden anderen Teile sind ebenso grandios, die werden wir<br />

uns später mal gemeinsam anschauen.“ Sie hatte während des Filmes ihre Hände sanft mit<br />

seinen Haaren spielen lassen und als sie meinte: „Wollen wir uns hinlegen?“, war Shawn fast<br />

enttäuscht. Die sanften Berührungen waren schön gewesen. Er beeilte sich, zu nicken.<br />

„Wenn du willst.“ Umständlich stemmte er sich hoch. Das war ohne die Hände benutzen<br />

zu können gar nicht so leicht. Sofort schoss Schmerz durch seinen After und er verzog das<br />

Gesicht. Er folgte Carrie, die das Zimmer verließ. Sie forderte ihn auf, mit ihr zu kommen und<br />

eine Minute später betrat er ihr Schlafzimmer.<br />

„Darf ich bitte ins Bad?“, bat er verlegen und sie nickte.<br />

„Ja, geh nur.“<br />

Hochrot im Gesicht bat er: „Kannst du ... ich ...“<br />

137


Sie nickte. „Verstehe.“ Sie deutete auf eine kleine Anrichte, die an der Wand stand. „Lehn<br />

dich dort mit dem Oberkörper auf und spreize die Beine.“ Verlegen tat er, was sie ihm gesagt<br />

hatte. Carrie trat zu ihm und griff nach dem Plug, begann langsam und vorsichtig, ihn zu ent-<br />

fernen. Shawn schossen unwillkürlich Tränen in die Augen. Das Gefühl, das entstand, war<br />

derart unangenehm, dass er aufkeuchte. Endlich spürte er das grässliche Teil aus sich her-<br />

ausrutschen.<br />

„Danke.“ Er richtete sich auf und Carrie löste seine Hände von dem Gürtel. Sie drückte<br />

ihm den Plug in die Hand.<br />

„Nimm ihn mit und reinige ihn und dich hinterher gründlich.“, befahl sie und er ver-<br />

schwand ins Bad. Als er nach einigen Minuten zurückkam, hatte er den gründlich gereinigten<br />

Plug in der Hand, sich selbst ebenfalls gereinigt und trat schwer atmend an die Anrichte. Er<br />

lehnte sich vor und spreizte zögernd die Beine. Carrie nickte zufrieden, strich Gleitmittel auf<br />

den Plug und schob ihm das Teil zurück in den Anus. Zufrieden sagte sie:<br />

„Das war gut.“ Sie nahm ihm den Gürtel ab. Dafür schloss sie seine Hände vor seinem<br />

Körper zusammen und sagte:<br />

„Leg dich hin.“ Sie verschwand selbst noch einmal im Bad und Shawn legte sich auf das<br />

herrlich breite Bett. Als sie zurückkam, trat sie ans Kopfende und zog die Kette hervor. Sie<br />

sah Shawn auffordernd an und dieser streckte ergeben die gefesselten Hände nach oben.<br />

Schnell lag er mit stramm über den Kopf gefesselten Händen da. Er biss sich auf die Lippe,<br />

um ein verzweifeltes Geräusch zu unterdrücken. Carrie hatte die Lampe an der Zimmerdecke<br />

ausgeschaltet und stattdessen einige Kerzen entzündet, die auf den Nachttischen standen. Sie<br />

setzte sich im Schneidersitz nackt neben ihn und fragte:<br />

„Was war bisher das Schlimmste für dich?“<br />

Shawn konnte den Blick nicht von ihrem Körper nehmen und es fiel ihm schwer, sich zu<br />

konzentrieren.<br />

Energisch riss er sich zusammen.<br />

„Ich ... Die Beschneidung. Das ...“ Er wollte nicht zugeben, wie entsetzlich es wehgetan<br />

hatte. „Aber alles andere war auch nicht witzig.“<br />

Sie sah ihn an und ließ ihre rechte Hand streichelnd über seinen Körper gleiten.<br />

„Du ahnst nicht, wie geil es war, dich schreien zu hören und zu sehen, wie du dich ge-<br />

wunden hast vor Schmerzen. Ich könnte das ständig beobachten.“<br />

Shawn spürte die Berührung ihrer schlanken Finger bis in den Unterleib, obwohl sie nur<br />

seine Brust liebkoste.<br />

„Warum erregt dich das so?“, fragte er schüchtern und um sich von ihren zärtlichen Be-<br />

rührungen abzulenken. Sie zuckte die Schultern.<br />

138


„Kann ich dir nicht sagen, ich weiß es nicht. Ich habe wie gesagt seit vielen Jahren davon<br />

geträumt, jemanden als Sexsklaven zu halten. Du bist unglaublich attraktiv und daher ideal.<br />

Du hast einen tollen Körper und siehst extrem gut aus. Es macht Spaß, dich zu beobachten,<br />

egal, ob du dich vor Schmerzen oder vor Geilheit windest. Zu beobachten, wie andere dir<br />

wehtun hat einen besonderen Reiz. Obwohl es mir immer Spaß bringen wird, dich selbst zum<br />

Schreien zu bringen.“ Sie ließ ihre Hand langsam zu seinen Lenden hinunter rutschen und er<br />

zuckte ihr unwillkürlich entgegen. So wenig wie gegen die Tatsache, vor Schmerzen zu schrei-<br />

en, konnte er sich gegen die erregenden Gefühle wehren, die ihre Berührungen in ihm auslös-<br />

ten. Als Karen ihn vorhin berührt hatte, war er nicht annähernd so erregt gewesen. Bei Car-<br />

rie pulsierte die Erregung sofort durch ihn hindurch, ohne dass er etwas machen konnte. Er<br />

spürte, wie sein Penis fast sofort steif wurde. Der sachte Schmerz, der von der OP Narbe aus-<br />

ging, steigerte diese Erregung noch. Die Tatsache, dass er die Hände nicht einsetzen konnte,<br />

weder verhindern, noch forcieren konnte, gab ihm den Rest. Als ihre Finger sich seinem Glied<br />

näherten, zuckte sein Unterleib ihr erwartungsvoll entgegen.<br />

Carrie benutzte nicht die Hand, um ihn zu stimulieren. Sie wollte eine Reizung der Wunde<br />

vermeiden, damit er schnell wieder voll einsatzfähig sein würde. Sie ließ ihre Hände nur<br />

streichelnd an Shawns Hoden gleiten und führte dort sanfte, stimulierende Bewegungen aus.<br />

Seinen erigierten Penis umschloss sie vorsichtig mit ihren Lippen. Sie spürte ihn vor Erre-<br />

gung zucken und spielte mit ihrer Zunge zart um seine Eichel herum. Er keuchte lustvoll auf<br />

und erzitterte vor Erwartung. Fordernder wurden ihre Berührungen und ihre Zungenspitze<br />

bohrte sich fast schmerzhaft erregend in seine Harnröhrenöffnung. Seine gefesselten Hände<br />

zuckten, ballten sich zu Fäusten und er konnte ein lautes Aufstöhnen nicht mehr unterdrücken.<br />

Er wollte kommen! Carrie spürte dies und ließ augenblicklich von ihm ab. Erneut stöhnte er<br />

auf, diesmal vor Enttäuschung. Hätte er gekonnt, er hätte ihren Kopf fest an sich gedrückt.<br />

Machtvoll wurde ihm bewusst, dass er ihr ausgeliefert war. Seine Erregung nahm augenblick-<br />

lich zu. Er hatte das Gefühl, nie zuvor so geil gewesen zu sein. Sein Körper zuckte und er<br />

spürte erstmals, wie viel angenehmer es war, dass keine störende Vorhaut den Genuss behin-<br />

derte. Ironisch musste er sich eingestehen, dass Carrie Recht gehabt hatte, der Schmerz der<br />

Beschneidung hatte sich gelohnt. Seine Augen hingen an ihrem herrlichen, nackten Körper<br />

und am liebsten hätte er gefleht, dass sie weiter machen sollte. Er wusste, dass ihm das<br />

höchstens eine Strafe eingebracht hätte. So lag er bebend vor Erwartung da und konnte nur<br />

hoffen, dass sie ihn bald befriedigen würde.<br />

Carrie machte schließlich weiter. Sie wartete, bis seine Erregung abgeklungen war und<br />

beugte sich erst dann erneut über ihn. Ihre Lippen spielten mit seinen Brustwarzen und knab-<br />

berten und liebkosten diese sanft. Bei anderen Partnerinnen hatte er diese Art der Stimulation<br />

als reine Zeitverschwendung betrachtet, jetzt seufzte er wohlig auf. Die sanften Berührungen<br />

139


sandten Impulse bis in seine Hoden und er schloss die Augen, um sich noch intensiver auf die<br />

Liebkosungen konzentrieren zu können. Carrie ließ ihre Zunge an seinem Körper hinab glei-<br />

ten und schließlich erreichte sie erneut seinen Penis. Ihre Lippen schlossen sich sinnlich um<br />

diesen und trieben Shawn nach kürzester Zeit fast in den Wahnsinn. Er wand sich konvulsi-<br />

visch in den Fesseln, seine Beine zuckten über die Matratze und diesmal machte Carrie keine<br />

Pause mehr. Sie spürte, dass er reif war und ihre Berührungen wurden fester. Endlich ließ sie<br />

ihn kommen, in einem Orgasmus, der einer Eruption glich! Als er anschließend schwer at-<br />

mend aber entspannt still da lag, reinigte sie ihn mit einigen Tissues die sie aus einer Box auf<br />

dem Nachttisch zog und fragte:<br />

„Wie ist es, gefesselt zu sein?“<br />

Bevor Shawn noch wusste, was er sagte, war ihm:<br />

„Geil!“, herausgerutscht. Er spürte, dass ihm das Blut in die Wangen schoss und Carrie<br />

lachte. Sie erhob sich noch einmal, verschwand kurz ins Bad und als sie zurückkam, löste sie<br />

den Panikhaken, der seine Hände ans Bett fesselte und hakte ihn ein ganzes Stück tiefer ein.<br />

Zwar lag Shawn noch gefesselt da, doch er konnte sich auf die Seite rollen.<br />

„Wenn du brav bist, lassen wir es so.“<br />

Shawn nickte dankbar. „Ich werde ... brav sein.“, versprach er. Carrie zog die Zudecke<br />

über ihn und blies die Kerzen aus. Sie rollte sich auf die Seite, sodass sie ihn anschauen konn-<br />

te und sagte:<br />

„Gute Nacht.“<br />

Leise erwiderte er: „Gute Nacht.“ Ihm fielen vor Müdigkeit die Augen zu.<br />

*****<br />

Als Shawn verstummte, sagte Kelly sachlich:<br />

„Wenn es häufiger so ablief ist es kein Wunder, dass du draußen relaxter bist. Das waren<br />

tatsächlich angenehme Stunden für dich. Diese Carrie scheint großes Allgemeinwissen zu<br />

haben und gebildet zu sein.“<br />

Shawn nickte. „Das ist sie definitiv. So was kam zwar nicht so extrem oft vor, aber ab und<br />

zu. Sie hat ein großes Allgemeinwissen. Sie kennt sich nicht nur mit klassischer Musik gut<br />

aus. Sie besitzt definitiv medizinisches Fachwissen, ist geografisch gebildet, kennt sich in der<br />

Politik gut aus, und hat ein fundiertes Finanzwissen. Man kann sich mit ihr über fast alles<br />

unterhalten.“<br />

„Eine gebildete Sadistin. Nett. Sie beherrscht die Gabe der Manipulation und lügt wie ein<br />

Profi. Ich würde mich mit der Dame gerne mal unterhalten.“<br />

Shawn seufzte. „Sie hat eine natürliche Dominanz, scheint es gewohnt zu sein, den Ton<br />

anzugeben. Karen, Brett und Teresa hatten regelrecht Angst vor ihr. Und Alan ... Ich bin nicht<br />

dahinter gekommen, wie das Verhältnis zwischen den Beiden war. Sie hat ihn mir als ihren<br />

‘Diener‘ vorgestellt und es wirkte, als würde er diesen Posten innehaben, er kümmerte sich<br />

140


um Haus und Garten, er kochte, er war es, der aufs Festland flog, wenn etwas gebraucht wur-<br />

de. Aber ...“ Shawn verstummte, überlegte angestrengt. „Irgendwas war seltsam an dem Ver-<br />

halten der beiden. Ich könnte nicht den Finger drauf legen, was es war. Ich vermute, zwischen<br />

ihnen ist mehr gewesen als nur Arbeitgeber und Arbeitnehmer.“<br />

Kelly hatte interessiert zugehört. Nachdenklich meinte sie:<br />

„Darüber sollten wir bei Gelegenheit noch einmal nachdenken, wir könnten dabei mit<br />

kognitiver Befragung noch mehr wissenswertes zutage fördern.“ Sie sah sich um. Während<br />

Shawn erzählt hatte, waren sie weiter gegangen. Nun standen sie im Canyon. „Schau dir das<br />

Naturschauspiel an!“, sagte Kelly begeistert.<br />

Am strahlend blauen Himmel zogen ein paar vereinzelte Wölkchen vorbei und bildeten<br />

einen wunderschönen Kontrast zu den fast leuchtend roten Sandsteinen. Links und rechts er-<br />

hoben sich steile, mit kleinen und größeren Steinen und kargen Büschen überzogene Hänge<br />

bis zu den steil aufragenden Klippen den Canyons. Vor ihnen, tiefer hinein in den Canyon,<br />

wurden die Hänge schmaler und verschwanden schließlich ganz. Hier ragten die Felswände<br />

unmittelbar bis zu 100 Meter hoch steil und wie mit einem Messer beschnitten rechts und<br />

links auf. Shawn stand still da und war von dem Bild, welches sich ihnen bot, überwältigt.<br />

„Da kommt man sich als Menschlein klein und unbedeutend vor, oder?“, fragte Kelly leise<br />

und ergriffen.<br />

„Ja! Was ist das, was der Mensch geschaffen hat gegen das, was die Natur hervorbringt?“<br />

Sie gingen weiter, tiefer in den Canyon hinein, und Shawn meinte: „Alle Technik, die der<br />

Mensch mit den aufwendigsten Mitteln hervor gebracht hat verblasst gegenüber dem, was<br />

Mutter Natur mit simpelsten Mitteln zustande bringt.“<br />

Kelly nickte zu diesen Worten gerührt. Sie freute sich darüber, dass Shawn so dachte wie<br />

sie selber. Ganz ergriffen meinte sie:<br />

„Das denke ich jedes Mal, wenn ich in der Natur unterwegs bin. Es gibt so einmalig schö-<br />

ne Orte auf der Welt. Warst du je am Great Barrier Reef, am Grand Canyon, Yellowstone,<br />

Yosemite?”<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Nein, zu meiner Schande muss ich gestehen, dazu war nie<br />

die Zeit. Ich war im Monument Valley, weil ich dort Aufnahmen hatte, und meine Eltern sind<br />

mit mir, als ich noch ein Kind war, im Big Bend Nationalpark und im Redwood Forrest gewe-<br />

sen, aber das war es.“<br />

Sie schlenderten weiter und plötzlich blieb Kelly stehen. Sie packte Shawn am Arm und<br />

deutete nach rechts.<br />

„Sieh mal, da!“ Shawn folgte ihrem Blick und riss die Kamera hoch!<br />

„Was ist das?“, fragte er aufgeregt, während sein Finger auf dem Auslöser klebte.<br />

141


„Das ist ein Großwaran. Großwarane sind die, wie der Name sagt, größten Warane, die<br />

wir hier haben. Sie können bis zu 2 Meter lang werden.“<br />

Sie beobachteten das beeindruckende Tier noch eine Weile. Es war von der Grundfarbe<br />

her dunkel. Sein Kopf mit Hals war fast so lang wie sein Körper. Der kräftige Schwanz, der in<br />

einer dünnen Spitze auslief, war gut doppelt so lang wie der Körper. Über seinen Rücken zo-<br />

gen sich in Reihen dunkel eingefasste hell beige Tupfer von der Größe eines Dollars. Am<br />

Schwanz und an den Beinen waren diese Tupfer deutlich kleiner. Sein Bauch war beige bis<br />

rosa. Beim Gehen bewegte das große Reptil den Kopf von links nach rechts. Nach einigen<br />

Minuten rissen sie sich los und marschierten weiter. Tiefer ging es hinein in den Canyon. Die<br />

Wände warfen Schatten, so dass sie nicht in der prallen Sonne laufen mussten. Immer wieder<br />

boten sich ihnen wunderschöne Ausblicke. Die Wände des bis zu 100 Meter hohen Canyons<br />

ragten rechts und links von ihnen auf. Ab und zu mussten sie klettern. Shawn klebte das<br />

Hemd Schweiß durchtränkt am Körper. Er hatte jedoch trotzdem Spaß an der anstrengenden<br />

Wanderung. Gegen halb 12 Uhr hatten sie eine Stelle erreicht, an der eine schmale Brücke<br />

über einen kleinen Fluss plätscherte. Kelly sah Shawn an und zog ein Tuch aus der Tasche.<br />

Sie wedelte damit lächelnd herum und Shawn biss sich auf die Lippe. Grinsend nickte er.<br />

„Warum?“<br />

Kelly lachte. „Lass dich überraschen, okay? Du weißt, dass du bei mir sicher bist.“<br />

Ergeben nickte Shawn und ließ sich von der jungen Frau die Augen verbinden.<br />

Sie trat dich an ihn heran und sagte sanft: „Leg deine Hände um meine Taille, ja, so. Und<br />

jetzt komm.“ Langsam setzte sie sich in Bewegung und führte Shawn vorsichtig über die Brü-<br />

cke. Shawn ging sicheren Schrittes und absolut vertrauensvoll hinter Kelly her. Ungefähr fünf<br />

Minuten ging es über steinigen, unebenen Boden bergab. Shawn konnte an seinen Beinen<br />

spüren, dass sie scheinbar durch Buschwerk gingen. Um ihn herum schien sich die Luft zu<br />

ändern, es war weniger warm, und er roch Blumen, Leben. Erstaunt schnupperte er. Er hörte<br />

Vogelstimmen. Kelly erklärte:<br />

„So, wir sind da.“<br />

Der Schauspieler spürte, wie sie stehen blieb und die Augenbinde entfernte. Shawns Au-<br />

gen brauchten ein paar Sekunden, um sich auf das helle Sonnenlicht einzustellen. Als er sehen<br />

konnte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen! Vor ihm breitete sich sprichwörtlich das Pa-<br />

radies aus. Bäume, blühende Büsche, Blüten, Blumen, ein kleiner Schwarm Wellensittiche<br />

flog gerade zwitschernd über sie hinweg, und unter ihnen lag ein klarer See.<br />

„Das ist ... unbeschreiblich!“, stieß der junge Mann überwältigt hervor.<br />

Kelly stand zufrieden lächelnd neben ihm. „Na, hat es sich gelohnt?“, fragte sie. Shawn<br />

stand mit offenem Mund neben ihr und schaute überwältigt auf das Bild vor ihnen. Kelly<br />

lachte leise.<br />

142


„Willkommen im Garden of Eden!“<br />

„Das ist unglaublich! Eine Oase mitten in der Wüste. Gott, Kelly, es ist so einmalig schön<br />

hier. Sieh mal da. Wellensittiche!“ Shawn war begeistert! Vergnügt strahlte Kelly vor sich<br />

hin.<br />

„Und weißt du, was das schönste ist?“<br />

Fragend sah Shawn die junge Frau an. „Was denn?“<br />

Kelly nahm ihn an der Hand und zog ihn mit sich, tiefer in die Schlucht hinein. Hier unten<br />

war es schattig und deutlich angenehmer als auf den Felsen, wo die Sonne ungehindert auf sie<br />

niederbrannte. Ein gut begehbarer Pfad führte weiter abwärts und sie erreichten den Grund<br />

der Schlucht. Plötzlich standen sie vor einem herrlich klaren, kleinen See. Shawn stand stau-<br />

nend da und merkte gar nicht, dass er einen Arm um Kelly legte und die junge Frau so an sich<br />

zog. Kelly ließ es lächelnd zu. Gespannt stellte Shawn die alles entscheidende Frage.<br />

„Kann man da schwimmen?“<br />

Kelly lachte. „Klar. Wenn du Krokodile magst ...“<br />

Erschrocken schaute Shawn sie an. Er zog die Stirn in Falten und machte: „Hm ...“<br />

Kelly kicherte. Und erstmals, seit er bei ihr war, konnte Shawn richtig herzhaft lachen.<br />

„Du bist eine Hexe, weißt du das?“<br />

Ernsthaft nickte Kelly. „Ich weiß!“<br />

Minuten später waren beide damit beschäftigt, sich zu entkleiden. Sie waren die einzigen<br />

Besucher im Moment und so nutzten sie die einmalige Chance, nackt in den See zu springen<br />

und sich gründlich abzukühlen.<br />

„Das Wasser ist herrlich kühl!“, schwärmte Shawn erfreut.<br />

„Ja, und so klar. Das ist es nicht immer. In der Regenzeit, so sie denn eintrifft, sieht es an-<br />

ders aus. Dann ist es hier teilweise gesperrt, weil zu viel Wasser ankommt.“ Sie schwammen<br />

nebeneinander zum Ende des Sees und Kelly fragte:<br />

„Wollen wir mal sehen, wie tief es hier ist?“<br />

Shawn nickte. „Klar. Kann nicht so tief sein, oder?“<br />

Sie holten Luft und tauchten unter. Der kleine See war an dieser Stelle 3 Meter tief.<br />

„Das ist mehr als ich dachte.“, meinte Shawn, als sie an die Wasseroberfläche zurückge-<br />

kommen waren. Kelly nickte.<br />

„Ja, hätte ich nicht erwartet.“ Sie sah sich um und meinte: „Wir sollten uns was über die<br />

Hintern ziehen, es könnte jederzeit jemand kommen. Wir sind nicht die einzigen Menschen<br />

hier.“<br />

11) Über den Schmerz<br />

143


Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle<br />

ich den Schmerz.<br />

William Faulkner<br />

Sie schwammen ans Ufer zurück und turnten aus dem Wasser. Ein paar Minuten stellten<br />

sie sich in die Sonne, um sich zu trocknen, bevor sie sich anzogen. Eng nebeneinander hock-<br />

ten sich noch eine Weile auf einen Felsen und genossen die herrliche Umgebung. Schließlich<br />

sagte Kelly:<br />

„Es sind fast 3 Kilometer zum Wagen zurück. Und es ist anstrengend. Wir sollten uns also<br />

auf den Weg machen.“<br />

Shawn seufzte leise. „Na gut. Aber hier könnte man sich verlieren.“<br />

Kelly wusste, was er meinte. „Ja, es hilft nur nichts. Komm, auf geht’s.“<br />

Schweren Herzens machten sie sich auf die Füße. Es war fast 14 Uhr. Kelly grinste.<br />

„Wenn wir in diesem Tempo weiter machen, sind wir nächstes Jahr noch nicht zuhause.“<br />

Shawn biss sich auf die Lippe und sagte leise: „Wenn es nach mir geht, brauchen wir da so<br />

schnell nicht hin.“<br />

Kelly erwiderte ruhig: „Du wirst irgendwann das Bedürfnis haben, zu deiner Familie zu-<br />

rückzukehren, Shawn, nur im Moment magst du nicht daran denken. Das ist verständlich. Du<br />

hast Angst vor Fragen, vor Mitleid und dummen Blicken.“<br />

Shawn nickte bedrückt. „Ja. Was soll ich denn antworten, wenn man mich fragt, was da<br />

passiert ist? Ich kann nicht der ganzen Welt erzählen, dass ... dass ich ... Das kann ich nicht!“<br />

Er geriet richtig in Panik. Schnell griff Kelly nach seinen Händen.<br />

„Hey! Psst. Das brauchst du nicht. Du musst niemandem erzählen, was du nicht erzählen<br />

willst.“<br />

„Aber die werden alle Fragen stellen! Meine Eltern ... Du hast keine Ahnung, wie hartnä-<br />

ckig die sein können! Wenn mein Vater erfährt, dass sein Sohn zu sexuellen Praktiken ge-<br />

zwungen wurde, trifft ihn der Schlag!“<br />

Kelly sah Shawn ruhig an. „Hör zu, Shawn, du bestimmst was du erzählst. Bitte beruhige<br />

dich. Du musst nur bei einer einzigen Person alles erzählen und diese Person bin ich.“<br />

„Aber wenn es zur Verhandlung kommt ...“ Erneut schimmerte Panik in seinen Augen.<br />

„Hey, hey, ruhig, Shawn. Das lass mal meine Sorge sein. Da gibt es Mittel und Wege, die<br />

wir zusammen mit den Staatsanwaltschaften ausgearbeitet haben. Du wirst nicht in den Zeu-<br />

genstand müssen und dort detailliert alles erzählen müssen, was man dir angetan hat. Die<br />

Verhandlung wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Deine Eltern und Freunde<br />

werden nie erfahren, was geschehen ist, wenn du es ihnen nicht freiwillig erzählt.“<br />

„Sicher?“<br />

144


„Ja, sicher. Mache dir darüber bitte erst Gedanken, wenn es soweit ist. Viel wichtiger für<br />

dich ist, erst einmal auf die Füße zu kommen.“<br />

Shawn atmete tief durch. Endlich sagte er leise: „Okay.“<br />

Sie setzten ihren Weg zurück zum Wagen fort und nach kurzer Zeit war Shawn in der La-<br />

ge, sich erneut dem Zauber der Natur zu ergeben. Sie konnten von ihrem Standort aus noch<br />

einen Blick hinunter in das Tal mit dem Garden of Eden werfen.<br />

„Das Australien solche Naturwunder zu bieten hat, wusste ich nicht. Ich bin dir so unend-<br />

lich dankbar, dass du mir all das zeigst!“<br />

Kelly erwiderte sanft: „Weißt du, das wird deiner kranken Seele helfen, sich zu heilen. Ich<br />

merke, wie gut dir der Aufenthalt hier tut.“<br />

Verlegen nickte Shawn. „Ja, hier draußen mit dir zu allein sein ist bei der ganzen Angele-<br />

genheit einfacher für mich. Hier sind Carrie und Co. so weit weg, dass es mir leichter fällt,<br />

über manches zu Sprechen.“<br />

Kelly nickte. „Das ist das Ziel. So, mal hurtig weiter zu unserem nächsten Ziel.“<br />

Energisch marschierten sie los und erreichten gegen 15 Uhr endlich den Wagen, der in der<br />

prallen Sonne stand.<br />

„Lass bloß erst mal frische Luft in die Karre.“, schnaufte Shawn, „Sonst sind wir gleich<br />

gegart.“<br />

Kelly grinste. „Ja, allerdings.“<br />

Sie öffneten alle Türen und ließen die heiße Luft aus dem Wagen. Als er abgekühlt war,<br />

stiegen sie ein und fuhren los, Richtung Nordwesten.<br />

Sie fuhren noch etwa 30 Kilometer durch zum Teil unwegsames Gelände. Schließlich war<br />

es fast 17 Uhr und Kelly erklärte:<br />

„Ich mag nicht mehr. Lass uns hier das Lager aufschlagen, okay?“<br />

Shawn hatte keine Einwände. Der Ausflug rund um den Kings Canyon war extrem an-<br />

strengend gewesen.<br />

„Gerne, ich könnte einen weichen Schlafsack gebrauchen. Die Beine lang machen.“<br />

Kelly suchte eine Stelle, die sich als Nachtlager eignete und stellte den Wagen aus. Zu-<br />

sammen bauten sie in Rekordzeit das kleine Zelt auf, dann gab es Abendbrot in Form von<br />

Bratwürsten, über dem Feuer gegrillt, und Brot. Als beide satt waren, wurde es langsam<br />

schummrig. Kelly sah Shawn auffordernd an und klopfte neben sich auf den Boden. Shawn<br />

seufzte und nickte langsam. Er griff sich seinen Schlafsack und breitete diesen am Boden aus.<br />

Fragend sah er Kelly an und diese lächelte.<br />

„Komm, leg deinen Kopf ruhig auf mein Bein.“ Shawn ließ seinen Kopf in die gewohnte<br />

Position sinken und schloss die Augen. Er versuchte sich darauf zu Konzentrieren, wie es<br />

weiter gegangen war. Er wusste, er würde von Karen und ihrer speziellen Vorliebe erzählen<br />

145


müssen. Eine Gänsehaut zuckte ihm über den Körper, als er an die Schmerzen dachte, die sie<br />

ihm grinsend zugefügt hatte. Leise fing er an zu reden.<br />

*****<br />

Carrie ließ ihre Finger spielerisch über die noch deutlich sichtbaren Striemen der Aus-<br />

peitschung gleiten. Dann riss sie sich zusammen und fragte in die Runde:<br />

„Er kann alles machen, wer möchte?“<br />

Sofort meldete sich Karen. „Darf ich?“<br />

Carrie nickte. „Aber sicher. Viel Spaß.“ Sie trat einige Schritte zurück und fragte: „Was<br />

hast du denn vor?“<br />

Erregt fragte Karen: „Können wir ins Folterzimmer gehen?“<br />

Shawn verkrampfte sich, als er das hörte. Angst schlug über ihm zusammen. Folterzim-<br />

mer? Großer Gott, was würde da kommen? Carrie nickt.<br />

„Gerne.“<br />

Sie machten Shawn los und drückten dessen Arme auf den Rücken. Dieser konnte ein lei-<br />

ses Stöhnen nicht unterdrücken. Der Plug in seinem After tat extrem weh und Shawn bewegte<br />

sich auch so. Vorsichtig und zaghaft. Sie nahmen keine Rücksicht drauf. Es ging in den Flur<br />

und zu der Tür, hinter der die Treppe nach unten verborgen war. Sie führten Shawn diese<br />

Treppe hinunter und er sah sich um. Erst jetzt realisierte er, wie es hier aussah. Morgens hat-<br />

te er das in seiner Panik nicht beachtet. Acht Türen gingen hier von einem weiteren langen<br />

Flur ab. Auf die zweite Tür in diesem Flur wurde er zu geführt. Brett öffnete und sie traten<br />

ein. Shawn blieb erneut erschrocken stehen. Der Raum war groß und er war mit den unter-<br />

schiedlichsten Gegenständen für SM Spiele ausgestattet. Eine lederbezogene Liege mit diver-<br />

sen Fesselungsmöglichkeiten, ein sogenannter Y-Stuhl, ein Andreaskreuz, eine Hängeschlin-<br />

ge, die von der Decke baumelte, zwei Säulen, eine Streckbank, ein gynäkologischer Stuhl, ein<br />

Fesselungsgalgen, ein Sklavenstuhl, ein Strafbock, kurz alles, was in ein gutes SM Studio ge-<br />

passt hätte. Shawn wurde schlecht. Langsam dämmerte ihm, was auf ihn zukommen würde!<br />

Sie gaben ihm kurz Zeit, sich umzusehen. Doch schließlich packte Karen ihn am Arm und<br />

führte ihn zu der Streckbank hinüber. Sie löste seine Handfesseln und befahl ihm, sich auf die<br />

lederbezogene schwarze Holzbank zu legen. Shawn biss die Zähne zusammen, dass es<br />

knirschte und atmete tief ein. Schließlich legte er sich zögernd auf die Bank. Sein Herz schlug<br />

ihm bis in den Hals. Angsterfüllt musste er zulassen, dass Karen seine Fußgelenke mit zwei<br />

gepolsterten Stahlmanschetten an der Bank befestigte. Sie lockerte seine Manschetten und<br />

schob diese aus dem Weg. Jetzt trat sie ans Kopfende und befahl:<br />

„Streck deine Arme aus!“<br />

146


Bebend streckte Shawn die Arme über den Kopf und spürte, wie diese ebenfalls mittels ge-<br />

polsterter Stahlmanschetten an der Bank befestigt wurden. Karen griff nach dem Rad, das am<br />

Kopfteil der Bank angebracht war und begann langsam und genussvoll, daran zu drehen.<br />

Shawn spürte, wie der Zugmechanismus des Tisches auseinandergezogen wurde. Teresa,<br />

Brett und Carrie sahen erregt zu, wie Karen Shawn auf diese Weise streckte. Bald stöhnte der<br />

Gefesselte auf vor Schmerzen. Karen hatte noch nicht genug. Sie drehte noch weiter, bis Car-<br />

rie ihr einen Blick zuwarf. Daraufhin arretierte sie das Rad und trat neben Shawn, der schwer<br />

atmend vor ihr lag. Er keuchte leise vor Schmerzen und atmete flach und hastig.<br />

Ganz sanft ließ Karen ihre Finger über seinen straff gespannten Körper gleiten. Dann trat<br />

sie zurück und ging zu einem Schrank an der gegenüberliegenden Wand. Sie nahm einen klei-<br />

nen Kasten heraus und trat an die Streckbank heran. Konzentriert klebte sie Shawn an unter-<br />

schiedlichen Stellen Elektroden auf den Körper. Auf den Bauch, die Seiten, selbst auf seine<br />

Hoden, auf seine Eichel, seinen Damm, den Penis, auf die Innenseiten der Schenkel. Sie griff<br />

nach seinem Penis, tröpfelte Gleitmittel auf seine Harnröhrenöffnung und führte hier vorsich-<br />

tig und mit geübter Hand einen weichen, etwa Bleistift dicken Faserdraht, den sie ebenfalls<br />

gründlich mit Gleitmittel behandelte, ein. Der wehrlose junge Mann stöhnte vor Scham und<br />

Schmerzen. Er verkrampfte sich noch mehr, als er es durch die Streckung ohnehin war. Karen<br />

steckte die Anschlussstecker der Elektroden in einen Transformator, den sie an eine Steckdose<br />

an der Wand anschloss. Der Transformator hatte ein Drehrad und verschiedene kleine Kipp-<br />

schalter, mit denen sie die einzelnen Elektroden aktivieren oder deaktivieren konnte. Noch<br />

war sie aber nicht bereit, anzufangen. Erst einmal trat sie ans Kopfende und befahl Shawn,<br />

den Mund weit zu öffnen. Er gehorchte zitternd. Sie schob ihm einen Mundspreizer zwischen<br />

die Zähne und sicherte diesen mit einem weichen Lederband um seinen Kopf. Sie drehte an<br />

dem Stellrad, bis Shawns Mund weit geöffnet war.<br />

„Wir wollen doch nicht, dass du dir auf die Zunge beißt.“, sagte sie und streichelte sanft<br />

über Shawns schweißnasse Stirn. Anschließend griff Karen entschlossen nach dem Transfor-<br />

mator und schaltete diesen ein.<br />

Sie betätigte einige der Hebel und drehte langsam an dem Drehknopf. Erst spürte Shawn<br />

nur ein sanftes Kribbeln in seinem Penis, an den Schenkeln und an den Hoden. Schnell wurde<br />

das Kribbeln stärker und er keuchte mit dem gewaltsam geöffneten Mund schmerzvoll auf.<br />

Dann schoss urplötzlich ein heftiger Schmerz durch die aufgeklebten Elektroden und ließ ihn<br />

aufbrüllen! Seine Muskeln zuckten unwillkürlich heftig, eine Reaktion auf den Strom. So<br />

schnell, wie der Schmerz eingesetzt hatte, hörte er auf. Karen bediente den Drehknopf und die<br />

Schalter virtuos. Mehrfach wechselte sie in den nächsten Minuten Stromstärke und Ort.<br />

Shawn konnte sich in keiner Weise auf den nächsten schmerzhaften Impuls einstellen. Das<br />

verstärkte die Qual unendlich. Schließlich stellte Karen alle Elektroden bis auf die an den<br />

147


Hoden und den Leiter im Penis ab. Ganz leichte Impulse sandte sie aus und Shawn konnte zu<br />

seinem Entsetzen spüren, wie sein Körper auf diese ungewohnte Stimulation reagierte. Sein<br />

Penis erigierte und ein lustvolles Stöhnen entwich seinen weit geöffneten Lippen, trotz der<br />

Schmerzen in den Armen. Intensiver wurde die Erregung und er keuchte vor Geilheit. Karen<br />

jedoch wusste diese schnell umzukehren! Sie drehte die Stromstärker erneut auf stark und in<br />

die Erregung hinein fuhr ein solcher Schmerz, dass Shawns Körper trotz der strammen Stre-<br />

ckung zuckte. Tränen schossen ihm in die Augen und liefen an seinen Wangen hinab. Jetzt<br />

folterte Karen ihn noch einmal richtig. Shawn brüllte den Schmerz hinaus, obwohl er versu-<br />

chen wollte, sich vor diesen Leuten zu beherrschen. Er wollte nicht schreien, aber die<br />

Schmerzen waren zu intensiv. Hätte der Mundspreizer es nicht verhindert, er hätte um Gnade<br />

gebettelt! Und dann war es so überraschend vorbei, dass er einige Momente brauchte, um<br />

dies zu begreifen. Karen strahlte vor Zufriedenheit und schaltete den Transformator aus. Sie<br />

entfernte seelenruhig die Elektroden und säuberte sofort alles. Shawn lag erschöpft still und<br />

Tränen kullerten ihm über das blasse Gesicht. Karen löste endlich das Rad und lockerte da-<br />

mit die Streckung.<br />

Carrie hatte die Folterung hochgradig erregt beobachtet. Shawns verzweifelte Schmer-<br />

zensschreie hatten heiße Wellen durch ihren Körper gejagt. Sie spürte es zwischen ihren Bei-<br />

nen pulsieren und feucht werden. Sein in Qualen zuckender Körper hatte ihr den Rest gege-<br />

ben. Sie hätte gerne noch weiter gemacht, aber angesichts der Tatsache, dass ihm die Be-<br />

schneidung noch in den Knochen steckte, erklärte sie:<br />

„Kinder, ich denke, das reicht für heute. Morgen geht es weiter, dann ist Teresa an der<br />

Reihe. Jetzt wollen wir ihm Ruhe gönnen.“ Sie trat an die Bank und machte Shawns Hände<br />

und Füße los. Sie entfernte selbst den Mundspreizer und sagte:<br />

„Ihr könnt gehen, ich werde ihm ein paar Minuten Erholung gönnen und ihn nach oben<br />

bringen. Alan wird euch das Abendessen auf der Terrasse servieren.“<br />

Die Drei nickten und verschwanden augenblicklich wortlos aus dem Folterraum. Shawn<br />

rollte sich auf die Seite und zog die Beine an. Sein After schmerzte, Arme und Beine sowie der<br />

Rücken ebenfalls und er hatte das unangenehme Gefühl, sein Körper vibriere von den Strom-<br />

schlägen noch nach. Er war fix und fertig. Carrie trat dichter und ließ ihre Hände sanft mas-<br />

sierend an seiner Wirbelsäule auf und ab gleiten, bis er deutlich entspannter war. Dann sagte<br />

sie:<br />

„So, schaffst du es, aufzustehen?“<br />

Er nickte und setzte sich langsam auf. Seine Beine zitterten noch, aber er konnte stehen.<br />

Carrie schloss ihm die Hände auf den Rücken und führte ihn aus dem Raum und nach oben in<br />

sein Zimmer. Sie löste die Handfesseln und erklärte:<br />

„Du hast eine Stunde Pause, dann hole ich dich zum Abendessen ab.“ Und schon ver-<br />

schwand sie aus dem großen, schönen Zimmer.<br />

148


Shawn sank auf das Bett nieder und zitterte heftig. Nach einigen Minuten hatte er sich ge-<br />

fangen und ging verkrampft und langsam ins Bad. Erst jetzt registrierte er, dass neben der<br />

großen Badewanne eine Dusche vorhanden war. Er drehte das Wasser auf und stand dann<br />

unter dem warmen Strahl. Gründlich duschte er sich ab, wickelte sich ein Handtuch um die<br />

Hüfte und ging zurück in das Zimmer. Endlich hatte er die Zeit, sich umzusehen. Der Raum<br />

war schön geräumig. Ein großes Fenster ließ einen zauberhaften Blick bis hinunter auf den<br />

herrlichen Sandstrand zu. Eine Balkontür führte auf eine kleine, teilweise überdachte Terras-<br />

se hinaus, auf der ein Tisch, zwei Stühle und ein bequem aussehender Liegestuhl standen. Im<br />

Zimmer stand neben dem breiten Doppelbett ein kleiner runder Tisch mit bequemen Sesseln<br />

und einem Sofa. In einer Ecke stand ein großer Plasma Bildschirm, darunter ein Regal mit<br />

einem DVD Player und einem CD Player. Ein weiteres Regal voll Bücher lud zum Lesen ein.<br />

In einem Schrank entdeckte er diverse DVDs und Musik CDs. Und er sah ein Barfach mit<br />

einigen Flaschen. Eine kleine Auswahl guter Weine, Bier, eine Flasche exzellenter schotti-<br />

scher Scotch, ein kleines Eisfach mit Eiswürfeln, daneben ein Fach mit verschiedenen Glä-<br />

sern. Alles in allem ein luxuriöser Raum, da gab es keine Zweifel. Shawn goss sich einen<br />

Scotch ein und ließ sich vorsichtig auf das Bett sinken. Sitzen war mit dem Buttplug unange-<br />

nehm, darum ließ er sich in die Waagerechte sinken. Er schlenkerte das Eis in seinem Glas,<br />

hob den Kopf und trank einen Schluck. Müde schloss er die Augen. Er war fertig. Liebend<br />

gerne wäre er hier liegen geblieben. Aber die Uhr an der Wand gegenüber sagte ihm, dass er<br />

nur noch knapp dreißig Minuten hatte, bevor Carrie ihn abholen würde. Er nahm einen wei-<br />

teren Schluck und zuckte erschrocken zusammen. Carrie kam in den Raum.<br />

*****<br />

Kelly hatte Shawn aufmerksam zugehört. Karen stand also auf Strom. Die Therapeutin<br />

merkte, dass es Shawn nicht so schwer fiel, davon zu berichten, wie er gefoltert wurde als<br />

über die Situationen, in denen er sexuellem Missbrauch ausgesetzt gewesen war. Zwar spürte<br />

sie, dass er zitterte, aber er war nicht annähernd so betroffen wie in anderen Situationen, die er<br />

ihr geschildert hatte. Das entsprach dem Bild, welches sie sich von dem Schauspieler gemacht<br />

hatte. Er wirkte auf Kelly nicht wie jemand, der grundsätzlich agliophobisch 8 war. Er hatte ihr<br />

im Flugzeug erzählt, dass er auf Extremsport stand. Rafting, Snowboarden, Base Jumping,<br />

Kite Surfen, das alles waren Sportarten, die die Gefahr von schmerzhaften Verletzungen be-<br />

inhalteten. Auch bei Dreharbeiten, wo er sich laut eigener Aussage nur ungern doubeln ließ,<br />

war er einer hohen Verletzungsgefahr ausgesetzt. Dass alles machte Kelly klar, dass die ihm<br />

zugefügten Schmerzen sicher entsetzlich gewesen waren, aber nicht in erster Linie ausschlag-<br />

gebend für seine derzeitige Verfassung. Schlimmer wog da das Wissen, Schmerzen zugefügt<br />

8 Agliophobie, die Angst vor Schmerzen.<br />

149


ekommen zu haben, um anderen Menschen Lustgefühle zu bescheren. Ein Verhörspezialist,<br />

der Folter anwandte, um Informationen zu erhalten, ließ sofort von seinem Opfer ab, wenn er<br />

erfahren hatte, was er wissen wollte. Shawn hatte keinerlei noch so kleine Chance gehabt, zu<br />

beenden, was man ihm antat. Weil es ihm zu keinem anderen Zweck als der Unterhaltung und<br />

der Befriedigung kranker Gelüste zugefügt worden war. Wenn sie ihn gefoltert hatten, war er<br />

darauf angewiesen, dass ihre Lust befriedigt sein würde und sie darum für den Moment<br />

Schluss machten. Eine nicht enden wollende Tortur.<br />

Kelly ließ ihre schlanken Finger durch Shawns Haare gleiten und merkte erneut, wie gut<br />

ihm diese einfache Geste der Zuneigung tat. Er hatte sich entspannt und starrte abwesend in<br />

die Flammen. Nach einer Weile sagte er leise:<br />

„Wenn man mich vor der Entführung gefragt hätte, ob ich angesichts mir zugefügter kör-<br />

perlicher Schmerzen in der Lage wäre, zu schreien und um Gnade zu betteln, hätte ich nein<br />

gesagt. Ich habe mich für tough gehalten.“ Er lachte verzweifelt auf. „Wie schnell man eines<br />

Besseren belehrt werden kann.“<br />

Kelly schwieg kurz, dann sagte sie ruhig: „Es ist eine Sache, zum Beispiel beim Zahnarzt<br />

zu sitzen und Schmerzen beim Bohren zu empfinden, oder Schmerzen bewusst zugefügt zu<br />

bekommen. Wenn du, so wie neulich Nacht, einen Wadenkrampf hast und vor akuten<br />

Schmerzen kurz aufschreist, weißt du, der Schmerz wird gleich nachlassen. Wenn du hilflos<br />

gefesselt darauf warten musst, dass dir schlimme Schmerzen zugefügt werden, gegen die du<br />

nicht das Geringste tun kannst und deren Ende du in keiner Weise beeinflussen kannst, ist das<br />

eine andere Geschichte. Ob Schmerzen als schwach, unangenehm, heftig oder unerträglich<br />

empfunden werden, hängt neben der Stärke des Schmerzreizes von der Reaktionsbereitschaft<br />

des Organismus ab. Da spielen viele Faktoren eine Rolle, zum Beispiel die individuelle Erfah-<br />

rung mit Schmerzen und die psychische Verfassung, die Situation, in der man Schmerzen<br />

empfindet, und die Stimmungslage. In einer mit Angst durchsetzten Situation wird Schmerz<br />

als wesentlich intensiver empfunden. Du hattest Angst und du wusstest zusätzlich, dass nur<br />

die Laune deiner Entführer deinen Schmerz beenden würde. Du hast keinen Einfluss darauf<br />

gehabt. Dein Gehirn hat den zugefügten Schmerz subjektiv als schlimmer empfunden, als<br />

wenn du ihn hättest beenden können. Bei den Rollenspielen im BDSM Bereich hat der devote<br />

Part ein Safe Wort. Wenn die vom dominanten Part zugefügten Schmerzen zu groß werden,<br />

wird das Spiel sofort unterbrochen, wenn der Sub das Wort ausspricht, oder im geknebelten<br />

Zustand beispielsweise als Zeichen ein in der Hand gehaltenes Tuch fallen lässt, um zu signa-<br />

lisieren, dass es reicht. Der Dom 9 ist ständig darauf konzentriert, die Stimmungslage seines<br />

Subs im Auge zu behalten, um nicht etwa Zeichen, dass es zu viel wird, zu übersehen, ver-<br />

stehst du? Du wusstest, dass nichts, aber auch gar nichts dir die Schmerzen ersparen würde.<br />

Du warst komplett hilflos. Daher hat dein Hirn jeden Schmerz gleich als heftiger eingestuft.<br />

9 Dom und Sub: Auch Top & Bottom, Dominanter und submissiver (unterwürfiger) Part einer SM Beziehung.<br />

150


Und Schmerz ist etwas, womit wir Menschen nicht gut umgehen können. Nicht umsonst war<br />

die Suche nach Mitteln, die Schmerzen lindern oder ausschalten, das Erste, wonach die<br />

Menschheit gesucht hat.“<br />

Shawn hatte zugehört und seufzte. Dann sagte er unglücklich:<br />

„Da zu liegen, nackt, absolut wehrlos und hilflos, und darauf zu hoffen, dass es ihnen rei-<br />

chen würde ... Ich habe manchmal das Gefühl gehabt, ich wäre ein absoluter Feigling, Kelly!<br />

Ich habe wie ein kleines Kind geheult, wenn ich gefesselt herumlag und darauf wartete, dass<br />

sie anfingen, mich zu quälen. Sie kannten in ihrem Einfallsreichtum keine Grenzen mehr. Ich<br />

habe halbe Nächte wach gelegen aus Angst vor dem nächsten Tag. Sie haben mir gerne ange-<br />

kündigt, wann was gemacht werden würde. Carrie hat sich daran schon vorher aufgegeilt. Sie<br />

hat es so genossen, die Angst in meinen Augen zu sehen, das hat sie mir mehr als einmal ge-<br />

sagt.“ Er schluchzte leise auf. „Und ich hatte Angst! Wenn sie mich auch nie wirklich verletzt<br />

haben, aber das, was sie mit mir machten ... Sie wussten alle, wo und wie sie mir mit gerin-<br />

gem Aufwand möglichst große Schmerzen zufügen konnten. Die Stellungen, in denen sie<br />

mich fesselten, waren so qualvoll, dass es Stunden dauerte, bis die Schmerzen nachließen. Ich<br />

habe mir mehr als einmal gewünscht, zu sterben ... Und wenn es vorbei war, war ich froh, am<br />

Leben zu sein, weil ... Ich habe jeden einzelnen Tag gehofft, dass ein Wunder geschieht. Man<br />

mich befreit. Dass es noch Gerechtigkeit geben muss.“<br />

Wenn Kelly auch bei Shawns Worten Tränen in die Augen geschossen waren, war sie<br />

froh, dass er von selbst angefangen hatte, über seine Gefühle zu sprechen. Jetzt sagte sie:<br />

„Shawn, du bist kein Feigling! Ich kann gar nicht oft genug wiederholen, wie entsetzlich<br />

deine Situation gewesen ist. Du warst auf einer Insel! Da du dich nicht zum Kiemenatmer<br />

oder zum Vogel entwickeln konntest, waren deine Chancen, dich selbst zu retten gleich Null!<br />

Du hast jeden einzelnen Tag nur die Wahl gehabt, durchzuhalten oder dich umzubringen. Du<br />

bist kein pathologisch depressiver Mensch, also würdest du sogar unter extremen Bedingun-<br />

gen nie den Freitod wählen. Dazu sind gesunde Menschen fast nicht fähig. Wären deine Qua-<br />

len noch größer gewesen, schwere Verletzungen, menschenunwürdige Unterkunft, schlechte<br />

Ernährung, wäre der Wunsch zu Sterben möglicherweise übermächtig geworden. Aber durch<br />

die geschickte Balance zwischen Zuckerbrot und Peitsche haben sie dafür gesorgt, dass der<br />

Wunsch zu Sterben in dir nie Überhand gewann. Auf diese Weise hättest du die Torturen<br />

noch lange durchgehalten. Wenn du es vielleicht auch gedacht hast, sie haben dich nie gebro-<br />

chen. Und das hat dir das Leben gerettet!“<br />

Shawn liefen Tränen über die Wangen, aber er musste Kelly zustimmen.<br />

„Ja, sie haben mich bei der Stange gehalten.“<br />

151


Kelly nickte. „Das Wechselspiel zwischen unerträglichen Qualen und den überwältigen-<br />

den Orgasmen, die du bei Carrie hattest, haben es dir unmöglich gemacht, eine andere Ent-<br />

scheidung zu treffen als die, durchzuhalten. Das hat nicht das Geringste mit Feigheit zu tun.“<br />

„Ich habe versucht, ihnen die Genugtuung, zu schreien, nicht zu geben, aber ... Sie haben<br />

es immer geschafft. Ich habe nicht nur geschrien, ich habe gebettelt, gefleht, versprochen,<br />

alles zu tun ...“ Er konnte nicht weiter reden. Kelly hielt seine Hand und streichelte ihm sanft<br />

über den zuckenden Rücken.<br />

„Hey, das ist nicht schlimm. Das haben schon ganz andere in weniger hoffnungslosen Si-<br />

tuationen versucht und sind gescheitert.“<br />

Aufgelöst keuchte Shawn: „Ich wollte es nicht, ich wollte mich beherrschen, aber sie ha-<br />

ben es immer geschafft! Immer und immer wieder!“ Er drehte sich und klammerte sich wei-<br />

nend an Kelly. „Immer wieder!“<br />

Kelly hielt ihn fest in den Armen und erklärte: „Weil sie keinerlei Rücksicht nehmen<br />

brauchten, Shawn. Sie konnten so weit gehen, wie es ihnen gefiel. Sie hatten keinerlei Hem-<br />

mungen. Du hattest keine Chance. Wenn man einen Menschen zum Schreien bringen will und<br />

braucht keinerlei Rücksicht zu nehmen, dann schafft man das. Und sie waren Fachleute darin.<br />

Ich bin wahrlich kein Fachmann, aber selbst ich würde es schaffen, dich innerhalb von Minu-<br />

ten zum Schreien und Betteln um Gnade zu bringen, wenn nicht mein für Mitleid zuständiger<br />

Hirnbereich einwandfrei funktionieren würde.“<br />

Shawn schluchzte heftig. „Es war so entsetzlich ... Du machst dir keine Vorstellung davon,<br />

wie weh Schläge auf die Hoden und den Penis tun. Sie haben irgendwann angefangen, mir ...<br />

mir die Hoden und den Penis ... abzubinden. Dann haben sie mit allen möglichen flachen<br />

Schlagwerkzeugen ... drauf rum geschlagen. Jeder einzelne Treffer ... ist wie ein feuriger<br />

Strahl. Man denkt, es zerreißt einen den Unterleib.“ Er stammelte die Worte mühsam hervor.<br />

„Wenn sie dann genug hatten und die Fesseln entfernten ... Du denkst, es platzt alles.“<br />

Kelly wusste aufgrund ihrer jahrelangen Erfahrung, was Shawn da beschrieb. Es gab wohl<br />

keine SM Praktik, die der jungen Frau nicht geläufig war. Ihre Patienten berichteten davon<br />

und Kelly hatte sich mit Ärzten, Sexualtherapeuten und Dominas unterhalten, um zu verste-<br />

hen, was kranke Sadisten ihren Opfern antun konnten. Sie hatte Seriensexualstraftäter und<br />

ihre Taten studiert. Kein Aspekt der Verrohung war ihr unbekannt. So wusste sie, was es mit<br />

diesen Abbindspielen auf sich hatte. Durch den Blutstau kam es gerade in den männlichen<br />

Genitalien bei extremer Anwendung zu starken Schmerzen. Unmittelbar nach dem Abbinden<br />

kam es zu einer Übersensibilisierung der Haut, dann setzten langsam Schmerzen ein. Wurden<br />

Schläge auf die Hoden oder den Penis ausgeführt, so wurden die entstehenden Schmerzen von<br />

freiwilligen Probanden von extrem bis unerträglich eingestuft. Wenn nach dieser Tortur die<br />

abschnürenden Bänder entfernt wurden, schoss das Blut schlagartig in die Arterien zurück,<br />

152


was erneut heftige Schmerzen auslöste. Es wunderte Kelly nicht im Geringsten, dass Carrie<br />

und ihre Freunde diese Spielart bei Shawn benutzt hatten. Mitfühlend sagte sie:<br />

„Nein, das kann eine Frau sich nicht vorstellen, das ist klar. Aber dass es starke Schmer-<br />

zen sind, ist mir klar.“<br />

„Gelacht haben sie. Mich ausgelacht! Und mir erzählt, wenn sie einen Orgasmus hatten.<br />

Carrie hat ... sie hat mir den Penis abgebunden, und mich dann ... dann stimuliert. Oh man ...“<br />

Zusammenhanglos und stockend redete Shawn über seine Gefühle. Und Kelly wusste, dass er<br />

gar keinen Zuspruch brauchte, sondern jemanden, der zuhörte und Mitleid beziehungsweise<br />

Verständnis hatte. So unterbrach sie ihn nicht, ließ ihn reden, wie er es schaffte.<br />

„Weißt du, wenn ... der Schwanz versucht, steif zu werden, und das nicht geht ...“<br />

Kelly spürte, wie heftig Shawn zitterte. Schon stammelte er weiter.<br />

„Als Karen mir den Leiter in ... in die Harnröhre schob, das fühlte sich an, als würde ein<br />

glühender Draht da rein geschoben. Und dann, als sie den Strom da durchjagte ... Ich hatte das<br />

Gefühl, als würde meine Blase explodieren. Sie hat es genossen. Ich konnte nicht mal richtig<br />

schreien, wegen des Mundspreizers. Ich habe mich gewunden vor Schmerzen und diese<br />

Schweine hatten einen Orgasmus!“ Lauter wurde Shawns verzweifelte Stimme. „Ihnen ist<br />

einer abgegangen und ich ... Und dann weißt du, das wird wieder gemacht werden. Und wenn<br />

sie dir dann ankündigen, dass du abends dran bist und du weißt, was auf dich zukommt ... Ich<br />

habe mich manchmal vorher übergeben vor Angst.“ Die letzten Worte kamen leise über<br />

Shawns Lippen. Er schwieg, erschöpft, einmal mehr ausgelaugt von den verzweifelten Be-<br />

kenntnissen. Die ganze Zeit hatte er sich Hilfe suchend an Kelly geklammert und diese hielt<br />

ihn fest im Arm. Das war es, was der junge Mann brauchte. Eine ganze Weile hockten sie so<br />

noch schweigend und gedankenversunken am Feuer, dann sagte Shawn leise:<br />

„Wollen wir uns hinlegen? Ich bin so alle.“<br />

Kelly nickte. „Ja, es langt. Ich bin unglaublich stolz auf dich. Du hast von dir aus so viel<br />

raus gelassen, das ist großartig!“<br />

*****<br />

12) Guten Morgen<br />

Das Glück ist das einzige, das sich verdoppelt, wenn man es teilt.<br />

Albert Schweitzer<br />

Nach einer erstaunlich ruhigen Nacht, in der Shawn durchgeschlafen hatte, ohne von Alb-<br />

träumen gestört zu werden, krabbelte Kelly am Morgen gegen 6 Uhr aus dem warmen Zelt.<br />

153


Sie streckte sich ausgiebig und ächzte leise. Und krabbelte sofort zurück ins Zelt, um Shawn<br />

zu wecken.<br />

„Shawn, es tut mir leid, aber das solltest du dir ansehen.“<br />

Verschlafen rappelte Shawn sich auf und folgte Kelly vor das Zelt. „Mein Gott, ist das<br />

schön!“ stieß er bewegt hervor. Gerade schickte sich die Sonne an, über den Weiten des Out-<br />

back aufzugehen. Der Himmel war leicht wolkenverhangen und die Sonnenstrahlen ließen ihn<br />

tieforange leuchten. Eng nebeneinander standen Kelly und Shawn da und sahen dem einmalig<br />

schönen Naturschauspiel zu, bis das orange Leuchten in das helle Licht der Sonne über ging.<br />

Andächtig meinte Shawn:<br />

„Das war es wert, geweckt zu werden.“ Er sah Kelly an und senkte den Blick verlegen zu<br />

Boden. „Das war gestern Abend ...“<br />

Kelly unterbrach ihn. „... genau das Richtige!“, erklärte sie fest. „So soll es sein. Du sollst<br />

alles aus dir herauslassen, Shawn. So, wie du es gestern Abend getan hast.“<br />

Erleichtert lächelte der Schauspieler. „Wirklich?“<br />

„Wirklich!“, erklärte Kelly entschieden. Shawn stieß ein kleines Lachen aus.<br />

„Wie kommt es nur, dass mir bei dir gar nichts peinlich sein muss?“<br />

Kelly lächelte ebenfalls. „Weil ich deine Therapeutin bin?“, meinte sie schelmisch. Shawn<br />

tat, als müsse er überlegen. Grinsend nickte er.<br />

„Ja, das wäre denkbar.“<br />

Zusammen machten sie sich Frühstück und hatten zwanzig Minuten später jeder einen Be-<br />

cher Kaffee in der Hand. Shawn fragte:<br />

oder?“<br />

„Was für Wunder zeigst du mir heute?“<br />

Kelly grinste. „Dir ist klar, dass ich nicht jeden Tag den vorangegangenen toppen kann,<br />

Beleidigt tuend meinte Shawn: „Nicht?“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nein. Aber was wir uns heute anschauen, wird dich begeis-<br />

tern, da bin ich mir sicher.“<br />

Versonnen schaute Shawn Kelly an. „Weißt du, was mich wirklich begeistert?“<br />

Erstaunt schüttelte Kelly den Kopf. „Nein, was denn?“<br />

Verlegen erwiderte Shawn: „Die Morgen mit dir. Du hast keine Vorstellung, wie schön es<br />

ist, so liebevoll geweckt zu werden, mit dir den Morgenkaffee zu trinken, so viel Frieden und<br />

... Man muss keine Angst haben, dass ... Ich kenne das anders, weißt du.“<br />

*****<br />

Als er am kommenden Morgen aufwachte, war es hell im Zimmer. Carrie lag nicht neben<br />

ihm, aber er hörte es im Badezimmer rauschen. Sie musste unter der Dusche stehen. Shawn<br />

154


hatte trotz der Fesseln gut geschlafen. Er rollte sich auf dem Rücken und wunderte sich, dass<br />

die Zudecke an seinem Penis kaum noch Schmerzen verursachte. Scheinbar heilte die Wunde<br />

gut. Dass sie am Abend zuvor vergessen hatten, ihn für die Nacht neu zu Verbinden schien<br />

keinen Schaden angerichtet zu haben. Langsam wurde sein Verstand wacher und er fragte<br />

sich, was der heutige Tag wohl bringen mochte. Unwillkürlich ballte sich in seinem Magen<br />

eine kalte Faust. Erst einmal brachte der Tag Carrie, die nackt und mit nassen Haaren aus<br />

dem Bad kam. Als er ihren herrlichen Körper sah, kam er nicht umhin, sich vorzustellen, wie<br />

es sein musste, sie zu berühren. Sie sah ihn lächelnd an und sagte:<br />

„Guten Morgen, na, gut geschlafen?“<br />

„Morgen. Ja, es ging.“ Er war häufig aufgewacht, die Fesseln waren noch störend gewe-<br />

sen, aber sofort wieder eingeschlafen. Sie trat zu ihm und schlug die Bettdecke zur Seite.<br />

„Das freut mich. Du wirst dich schnell daran gewöhnen, im Bett fixiert zu sein.“ Sie trat<br />

an den großen Schrank, der im Raum stand und öffnete die Linke der drei Türen. Shawn zuck-<br />

te erschrocken zusammen, als er an der Schranktürinnenseite einige verschiedene Peitschen<br />

hängen sah. Carrie griff nach einer mehrschwänzigen Lederpeitsche von 50 Zentimetern<br />

Länge und kehrte mit dieser in der Hand zum Bett zurück. Ruhig sagte sie:<br />

„Ich möchte, dass du die Beine anwinkelst und zur Seite fallen lässt.“<br />

Shawn schluckte. Seine Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten und er begann zu Zit-<br />

tern. Aber er tat, was sie von ihm erwartete. Schwer atmend lag er so auf dem Bett und Carrie<br />

nickte zufrieden. Sie stieg auf die Matratze und stellte sich mit dem Rücken zu Shawn breit-<br />

beinig über diesen. Sanft sagte sie:<br />

„Ich werde dir deine morgendlichen zehn Schläge verpassen. Du wirst die Beine in dieser<br />

Haltung lassen. Solltest du wegzucken oder die Beine schließen, wird es für jedes einzelne<br />

Mal einen weiteren Schlag geben. Hast du das verstanden?“<br />

Mit zitternder Stimme erwiderte Shawn: „Okay.“ Der Schweiß brach ihm aus und er war-<br />

tete auf den ersten Schlag. Als er registrierte, dass Carrie ausholte, hielt er gestresst die Luft<br />

an. Und schon zischten die Peitschenriemen heiß über die Innenseite seines rechten Ober-<br />

schenkels und der Schmerz war so stark, dass sein Körper unwillkürlich damit reagierte, dass<br />

sein Bein in die Höhe zuckte. Erschrocken drückte er es auf die Matratze zurück, aber Carrie<br />

sagte unbeeindruckt:<br />

„Elf.“<br />

Der zweite Schlag traf seinen linken Oberschenkel. Diesmal gelang es Shawn unter Auf-<br />

bietung aller Kräfte, still liegen zu bleiben. Der dritte Schlag zielte in die Mitte, zischte bren-<br />

nend heiß über seine Hoden und seinen Penis. Gequält schrie er auf! Tränen schossen ihm in<br />

die Augen und er keuchte. Es erfolgte der fünfte und sechste Schlag, diesmal auf die Schenkel-<br />

innenseiten. Carrie machte eine künstlerische Pause, dann ließ sie die Peitsche erneut in die<br />

Mitte klatschen. Bevor Shawn es noch zu verhindern imstande war, zuckten seine<br />

155


Beine in die Höhe und er presste sie für Sekunden wimmernd zusammen. Erschrocken öffnete<br />

er sie sofort wieder, aber Carrie erklärte nur gelassen:<br />

„Zwölf.“<br />

Zitternd lag Shawn still und wartete voll Panik auf die nächsten Schläge, aber Carrie zö-<br />

gerte das Ganze geschickt hinaus. Als er glaubte, das Warten nicht länger auszuhalten,<br />

schlug sie erneut hart zu und traf diesmal seinen linken Schenkel. So überraschend war der<br />

Schlag gekommen, dass Shawn trotz allem guten Willens nicht mehr verhindern konnte, dass<br />

sein Bein erneut in die Höhe zuckte. Verzweifelt keuchte er auf. Und Carrie sagte lässig:<br />

„Dreizehn.“<br />

Der neunte Treffer zuckte brennend über seinen rechten Schenkel und wurde unmittelbar<br />

vom zehnten Hieb gefolgt. Shawn schrie verzweifelt auf, schaffte es aber unter Aufbietung all<br />

seines Willens, stillzuliegen. Die letzten drei Schläge überstand er aufschreiend ebenfalls,<br />

ohne sich zu Rühren. Keuchend, schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd lag er still,<br />

wagte nicht, die Beine zu schließen. Carrie nickte zufrieden und ließ sich gemütlich im<br />

Schneidersitz neben ihm auf die Matratze sinken. Sie ließ ihm Zeit, sich zu fangen, dann sagte<br />

sie:<br />

„Fürs erste Mal war das gar nicht schlecht.“ Ihre Rechte glitt sanft über seine brennen-<br />

den Schenkel und sie sagte: „Hier ist die Haut zart, da muss man aufpassen, dass man nicht<br />

zu stark schlägt, sonst bleiben hässliche Narben.“ Sie zog ein Tissue aus der Box auf ihrem<br />

Nachtschrank und wischte ihm zärtlich die Tränen und Schweiß aus dem Gesicht. Langsam<br />

fing der jungen Mann sich und atmete ruhiger. Er wusste nicht, ob er die Beine schließen<br />

durfte, blieb also vorsichtshalber so liegen. Er hätte dringend auf die Toilette gemusst, Angst<br />

führte zu vermehrtem Harndrang. Carrie wartete, bis er sich entspannt hatte, beugte sich<br />

über ihn und löste die Handfesseln. Sie öffnete die Karabiner, die noch seine Handgelenke<br />

zusammen fesselten und sagte:<br />

„Du kannst ins Bad gehen, ich werde dich in zwanzig Minuten abholen zum Frühstück.“<br />

Noch unsicher erhob Shawn sich und nickte. „Ich werde mich beeilen.“ Dann ver-<br />

schwand er so schnell er konnte im Bad.<br />

*****<br />

„So fing der Tag bei mir an.“, sagte Shawn leise, nachdem er mit der Erzählung fertig war.<br />

„Jeder einzelne Morgen fing so an. Carrie hat es nie vergessen. Es war nicht jedes Mal die<br />

gleiche Stelle, das variierte. Aber unmittelbar nach dem Aufwachen bekam ich ... zehn Hiebe.<br />

Sie nahm die Gerte, ab und zu die mehrschwänzige Peitsche, selten den Rohrstock. Der war<br />

am schlimmsten. Wenn ich Glück hatte, benutzte Carrie einen Lederpaddel. Das war am er-<br />

156


träglichsten. Heftig war auch ein langer Paddel aus Holz. Zwischen die Beine ging es am häu-<br />

figsten, aber sie ... Auf den Hintern, Rücken, Bauch, Brust. Weißt du, ich hatte irgendwann<br />

Angst vorm Einschlafen, weil ich Angst vor dem Aufwachen hatte.“<br />

Kelly war erstaunt, dass Shawn von sich aus gleich da weiter machte, wo er am Abend<br />

aufgehört hatte. Doch sie ließ ihn reden und hörte zu.<br />

„Schön waren die gemeinsamen Frühstücke. Ab und zu hatte ich das Glück, dass sie mir<br />

Frühstück aufs Zimmer brachte, oder wir beide gemeinsam Frühstückten. Aber in der Regel<br />

musste ich mit allen zusammen beim Frühstück hocken. Gleich am zweiten Morgen, unmit-<br />

telbar nach den ersten von unzähligen zehn Hieben ...“<br />

*****<br />

Carrie holte ihn zwanzig Minuten später ab und führte ihn mit gefesselten Händen auf die<br />

Terrasse. Die drei Freunde saßen hier bei einer Tasse Kaffee und sahen neugierig auf, als<br />

Carrie mit ihrem Spielzeug auf die Terrasse trat. Sie befahl Shawn, still stehen zu bleiben und<br />

setzte sich selbst auf einen der gemütlichen Gartenstühle. Gut gelaunt erzählte sie:<br />

„Ich habe ihm vorhin die Schenkelinnenseiten und die Genitalien gepeitscht. War ein ab-<br />

solutes Highlight!“<br />

Die Augen Bretts strahlten. Er sah Shawn an und befahl diesem:<br />

„Komm her!“<br />

Schwer atmend, aber gehorsam, trat Shawn näher. Brett löste seine Hände und klinkte die<br />

Haken stattdessen an den Haken der Manschette um Shawns Hals ein. Grinsend befahl er:<br />

„Leg dich auf den Tisch dort.“<br />

Shawn sah erst jetzt, dass außer dem großen Esstisch noch ein schwerer, stabiler, großer<br />

Holztisch in einer Ecke der Terrasse stand. Schweigend trat er an den Tisch und legte sich<br />

unbeholfen darauf nieder.<br />

„Zieh die Beine an und spreize sie, los!“<br />

Shawns Lippen zitterten, aber erneut gehorchte er, im Hinterkopf Alans beeindruckende<br />

Erscheinung. Brett trat an den Tisch und begutachtete die noch deutlich sichtbaren Striemen,<br />

die die Peitsche hinterlassen hatte. Shawn kniff verzweifelt die Augen zusammen, lag aber<br />

still. Als er gleich darauf Bretts Hände an seinem Penis spürte, hätte nicht viel gefehlt und er<br />

hätte aufgeschrien und um sich getreten! Er zwang sich, weiter stillzuliegen, zitterte aber am<br />

ganzen Leib. Bretts Finger strichen über seine Schenkel und seine Genitalien und Shawn tra-<br />

ten Tränen des Abscheus und der Scham in die Augen. Es gelang ihm nur unter Aufbietung<br />

aller Willenskraft, weiterhin stillzuliegen. Die Alternative aber ließ ihn am ganzen Körper<br />

zitternd stillhalten. Carrie beobachtete ihn und seufzte vor Erregung, als sie sah, welch<br />

Überwindung es ihren Gefangenen kostete, still liegen zu bleiben. Schließlich hatte Brett ge-<br />

nug gesehen und sagte zu Shawn:<br />

157


„Okay, das sieht heiß aus. Ich werde das selbst später mal ausprobieren. Du kannst dich<br />

aufsetzen und an den Tisch kommen.“<br />

Hastig richtete Shawn sich auf und glitt vom Tisch herunter. Dann ließ er sich verlegen<br />

auf den freien Stuhl zwischen Teresa und Carrie sinken.<br />

Carrie löste seine Hände, damit er sie beim Frühstück benutzen konnte. Er wusste nicht<br />

Recht, wie er sich zu verhalten hatte und sah Carrie Hilfe suchend an. Sie nickte ihm aufmun-<br />

ternd zu und sagte:<br />

„Du darfst normal Frühstücken, keine Hemmungen.“ Sie bemerkte, dass er die Beine un-<br />

ter dem Tisch unbewusst übereinandergelegt hatte und sagte: „Du hast mit gespreizten Bei-<br />

nen zu sitzen, verstanden?“<br />

Erschrocken und beschämt änderte er die Haltung und zuckte zusammen, als Carries<br />

Hand über seinen Schenkel Richtung Schoss glitt. Sofort reagierte sein Körper auf ihre Be-<br />

rührung und er fluchte innerlich. Warum löste diese Frau nur so extreme Reaktionen bei ihm<br />

aus? Er biss sich verzweifelt auf die Lippe, aber das änderte nichts daran, dass er schnell<br />

eine heftige Erektion hatte. Carrie grinste und machte es damit noch schlimmer. Shawn<br />

wünschte sich ein Loch, in das er verschwinden konnte. Er war froh, dass sie ihn schließlich<br />

in Frieden ließ. Da er sich nicht an den Gesprächen beteiligen durfte, fühlte er sich mehr als<br />

überflüssig. Er trank zwei Tassen Kaffee und aß Rührei mit Speck und Toast, dann war er<br />

satt. Gegen das Abendessen gestern war dieses Frühstück eine unangenehme Tortur. Die vier<br />

Freunde unterhielten sich locker darüber, dass sie am Nachmittag Tennis spielen wollten.<br />

Shawn hatte am ersten Tag vom Dach aus einen Tennisplatz gesehen, links hinter dem Haus.<br />

Er selbst spielte gerne Tennis. Bedrückt überlegte er, dass er das wohl so schnell nicht mehr<br />

machen würde. Doch da fragte Carrie ihn:<br />

„Spielst du Tennis?“<br />

Erstaunt sah er auf. „Was?“<br />

„Ob du gerne Tennis spielst.“, wiederholte Carrie schmunzelnd.<br />

„Ja, ja, tue ich ...“, antwortete er.<br />

„Dann wirst du zusammen mit Brett gegen Karen und mich spielen.“<br />

Verdutzt sah Shawn Carrie an, senkte aber schnell den Blickt. „Gerne ...“<br />

Die junge Frau sah ihre Freunde an. „Seid ihr fertig?“<br />

Alle nickten.<br />

„Gut, ich möchte gerne in den Keller gehen, ich habe etwas vor.“ Sie erhob sich und die<br />

anderen standen ebenfalls auf. Shawn wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, aber Carrie<br />

half ihm, in dem sie sagte:<br />

„Komm, auf geht‘s.“ Er erhob sich, ließ sich die Hände auf den Rücken fesseln und folgte<br />

Carrie, die voranging, ins Haus. Minuten später standen sie in dem Raum mit den SM Gerä-<br />

ten.<br />

158


*****<br />

Kelly war von dem Gehörten betroffen. Sie wartete, dass Shawn etwas sagte. Und sie<br />

brauchte nicht lange zu warten.<br />

„Ich hätte mich so gerne gewehrt, als Brett mich befummelte, aber wenn ich mir vorstelle,<br />

was das für Konsequenzen gehabt hätte ... Ich glaube, für eine Frau wäre es nicht annähernd<br />

so schlimm von einer anderen Frau berührt zu werden.“<br />

Kelly nickte. „Da magst du Recht haben. Heterosexuelle Männer haben extreme, tiefsit-<br />

zende Ängste davor, von Männern sexuell berührt zu werden. Schon ein Besuch bei einem<br />

Urologen ist für viele der absolute Horror.“<br />

Shawn nickte trübe. „Ja ... Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, still liegen zu bleiben.<br />

Alles in mir schrie danach, um mich zu treten. Brett hat das gewusst und es in die Länge ge-<br />

zogen, soweit es nur möglich war. Als er mich endlich zufriedenließ, hatte ich das Gefühl, mir<br />

würde ... mir würde der Penis abfallen.“ Er stieß ein verzweifeltes Lachen aus. „Genau ge-<br />

nommen habe ich mir gewünscht, er würde abfallen, damit Brett und Alan mich nie wieder<br />

dort anfassen könnten.“ Er seufzte leise. „Hätte ich geahnt, dass ich mal von einem Kerl einen<br />

geblasen kriege und noch einen Orgasmus dabei habe ... Und sie haben alle hübsch zuge-<br />

schaut. Ich habe oft gedacht, es gäbe keine Steigerung der Erniedrigung und Demütigung<br />

mehr, aber sie haben es spielend geschafft, unentwegt neue Höhen zu erreichen. Ich glaube,<br />

irgendwann habe ich im Hirn abgeschaltet. Ich wollte nicht mehr daran denken, wie grauen-<br />

haft beschämend alles war. Ich habe ... Puh, ich habe sie machen lassen. Ich war ab da das,<br />

was sie wollten, ein willenloses Sexspielzeug, das man benutzen kann. Wenn mein Körper<br />

mit Erregung reagierte, habe ich gedanklich die Schultern gezuckt und gedacht - Okay, mach,<br />

was du willst, ich kann es ohnehin nicht ändern! - Es war nicht immer, aber oft so, als würde<br />

ich selbst gar nicht mehr in mir drinnen stecken, verstehst du? Als wären ich und mein Wille<br />

aus meinem Körper verschwunden und als würde ich diesen nur beobachten.“<br />

Kelly nickte gedankenversunken. „Das ist ein Abwehrmechanismus, weißt du. Man hat<br />

das häufig von Opfern solcher Straftaten gehört. Sie schalten ab, verlassen ihren Körper und<br />

sehen zu, was mit diesem geschieht, nehmen nicht mehr bewusst wahr, dass sie es sind, die<br />

gequält werden. Aber dieser Schutzmechanismus bricht schnell zusammen, wenn starke<br />

Schmerzen im Spiel sind.“<br />

Shawn nickte. „Ja, das funktionierte nur bei den rein sexuellen Spielchen.“ Er trank einen<br />

Schluck Kaffee und meinte: „Das war in etwa die Zeit, wo ich ihnen wohl langsam langweilig<br />

wurde. Ich habe zu dem Zeitpunkt bei Carrie kaum noch ... Sie hat mich nicht mehr ... Es<br />

wurde für sie immer schwerer, mich zu befriedigen, verstehst du? Da ging nicht mehr viel.“<br />

Kelly nickte verständnisvoll. „Ja, du stumpftest mehr und mehr ab.“<br />

159


„Richtig. Wenn ich gewusst hätte, dass sie mich daraufhin ... zum Sterben zurücklassen<br />

würde ... Aber mein Körper hat häufig einfach nicht mehr reagiert.“ Shawn kullerten ein paar<br />

Tränen über das Gesicht. Er räusperte sich verlegen und meinte: „Wollen wir langsam mal<br />

zusammenpacken? Sonst sitzen wir heute Abend noch hier.“<br />

Kelly nickte. „Klar. Lass uns aufbrechen.“<br />

Schnell war das kleine Lager abgebaut, Kelly und Shawn hatten inzwischen perfekte Rou-<br />

tine. Das Zelt wurde im Wagen verstaut, ebenso die Schlafsäcke und dann füllten sie noch<br />

gemeinsam den Duschsack auf. Gegen 9 Uhr waren sie unterwegs.<br />

13) Die Psyche spielt mit<br />

Es ist unglaublich, wie viel Kraft die Seele dem Körper zu leihen vermag.<br />

Wilhelm von Humboldt<br />

Sie hielten sich nach Osten und kamen dank des guten Geländes schnell voran. Shawn war<br />

still, aber diesmal hatte Kelly das deutliche Gefühl, er schwieg, weil er die Ruhe und den<br />

Frieden um sie herum genoss. Er sah entspannt aus dem Fenster und wirkte zufrieden. Einmal<br />

nötigte er Kelly, anzuhalten, weil er etwas entdeckt hatte.<br />

„Halt mal bitte schnell an! Da sitzt was unter dem Strauch dort!“<br />

Kelly trat auf die Bremse und sie stiegen aus. Was Shawn entdeckt hatte war ein Blue<br />

Tongue Lizzard. Das kleine Reptil, das um die 45 Zentimeter lang war, und wie ein überdi-<br />

mensionaler Tannenzapfen mit Beinen aussah, hatte sich vor der Sonne unter ein kleines Ge-<br />

strüpp verzogen. Es zischelte ihnen mit seiner blauen Zunge aufgeregt entgegen. Kelly ging<br />

vorsichtig an das Tierchen heran und hatte es mit einem schnellen, geübten Griff gleich darauf<br />

in der Hand. Sanft hielt sie es fest und zeigte es Shawn.<br />

„Das sind meine Lieblingsechsen. Sie sind harmlos und zutraulich. Ich habe viele von ih-<br />

nen von Straßen aufgesammelt und eine Ecke weit weg von der Straße ausgesetzt, damit sie<br />

nicht überfahren werden.“<br />

Shawn strich dem Tier, das keine Angst zeigte, sanft mit dem Zeigefinger über die warme<br />

Schuppenhaut. Kelly drückte ihm das Tierchen kurzerhand in die Hände. Liebevoll und vor-<br />

sichtig hielt Shawn den kleinen Lizzard fest und betrachtete ihn in aller Ruhe.<br />

„Er ist hübsch.“, sagte er und strich dem Tierchen über den Rücken. Schließlich bückte er<br />

sich und setzte das Tier unter das kleine Gestrüpp. „So, wir lassen dich in Ruhe. Halt dich mal<br />

schön im Schatten auf solange es so heiß ist.“<br />

Träge machte der Lizzard zwei Schritte, dann war er der Meinung, weit genug weggelau-<br />

fen zu sein. Kelly und Shawn ignorierend nahm er seine so drastisch unterbrochene Siesta<br />

wieder auf und Shawn grinste.<br />

„Hast Recht, die sind nicht sehr scheu.“<br />

160


Sie kehrten zum Wagen zurück und jetzt fuhr Shawn weiter. Im Norden erhoben sich die<br />

Höhenzüge der MacDonnell Ranges aus der Ebene. Shawn fragte:<br />

„Was sind das für Berge dahinten?“<br />

Kelly erklärte: „Das sind die MacDonnell Ranges. Eine fast 650 Kilometer lange Sand-<br />

stein-Gebirgskette. Sie bestehen aus mehreren parallel verlaufenden Bergkämmen. Mount<br />

Liebig mit 1.524 Metern und Mount Zeil mit 1.510 Metern sind die höchsten Erhebungen. An<br />

vielen Stellen sind die Ranges von tief eingeschnittenen und manchmal nur wenige Meter<br />

breiten Spalten durchbrochen. Simpsons Gap, Standley Chasm, Serpentine Gorge und Glen<br />

Helen Gorge zählen zu deren Berühmtesten. Die Ranges wurden 1860 von John McDouall<br />

Stuart entdeckt und von ihm nach Sir Richard MacDonnell, dem damaligen Gouverneur von<br />

South Australia, benannt.“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Man, hast du ein eidetisches Gedächtnis?“<br />

Kelly lachte. „Nein, das nicht. Es ist ohnehin nicht wissenschaftlich belegt, dass es das<br />

gibt. Mein Gedächtnis ist einfach nur gut. Allerdings nur bei gehörtem oder gelesenem. Wie<br />

es in einer Wohnung aussah, oder wo ich abbiegen muss, um da und da hinzukommen kann<br />

ich mir nie merken. Oder Gesichter, schlimm. Andererseits vergesse ich selten etwas, was ich<br />

einmal gelesen habe und so gut wie nichts, was man mir erzählt.“<br />

Shawn lachte. „Na, da würden wir uns wundervoll ergänzen. Ich bin ein durch und durch<br />

optischer Mensch. Was ich mal gesehen habe, vergesse ich so schnell nicht mehr.“ Er stutzte.<br />

Dann grinste er. „Wenn ich nicht gerade mitten in einem Trauma stecke.“<br />

Kelly freute sich, dass Shawn in der Lage war, darüber zu scherzen. „Und trotzdem hast<br />

du sie alle so gut beschrieben, dass ich sie erkennen würde, wenn sie mir auf der Straße be-<br />

gegnen würden. Mir ist schon mehrfach aufgefallen, dass du eine unglaubliche Beobach-<br />

tungsgabe hast.“<br />

Shawn nickte. „Ja, das wird dir als Schauspieler antrainiert. Man bekommt einen Blick für<br />

Details. Unechte Haare, gefärbt oder natur, Schönheitsoperationen, Kleinigkeiten, die anderen<br />

gar nicht auffallen würden.“<br />

Kelly lachte. „Wir wären das perfekte Ermittlerteam! Du würdest dir die Tatorte perfekt<br />

einprägen können, ich die Aussagen von Zeugen, Opfern oder Tätern.“<br />

„Möglicherweise sollten wir den Beruf wechseln ...“ Shawn schmunzelte. Dann musste er<br />

sich auf den Weg konzentrieren, denn das Gelände wurde holperig. Für eine Weile kamen<br />

sich nur langsam voran. Ironisch meinte der Schauspieler: „Ein Highway ist etwas anderes!“<br />

Kelly lachte. „Ach, was du nicht sagst. Ist mir tatsächlich noch nicht aufgefallen.“<br />

Vor ihnen tauchten im Dunst der Sonne und des vom Wind aufgewirbelten Staubs in eini-<br />

ger Entfernung die Silhouetten weiterer Berge auf. Shawn sah Kelly an.<br />

161


„Da sind schon wieder Berge. Was sind das für welche?“<br />

Kelly grinste vergnügt. „Das ist Gosses Bluff. Gosses Bluff ist ein Einschlagkrater.<br />

Wahlweise von einem Asteroid oder einem Meteor, das konnte nie geklärt werden. Er wird<br />

von den Aborigines Tnorala genannt. Vom gesamten Kraterinneren ist nur ein kleiner Teil für<br />

Besucher freigegeben, da das Gebiet, wie so viele andere, den Aborigines heilig ist. Gosses<br />

Bluff entstand durch den Einschlag eines tonnenschweren Brockens vor rund 143 Millionen<br />

Jahren, während des Juras. Sein Kraterdurchmesser betrug ursprünglich mal rund<br />

22 Kilometer und hat sich durch Erosion bis heute auf 4,8 Kilometer verringert. Er ist unge-<br />

fähr 150 Meter tief. Es gibt eine Legende aus der Aborigine Traumzeit: Eine Gruppe himmli-<br />

scher Frauen tanzte, einst wie Sterne in der Milchstraße, am Himmel. Eine der Frauen wurde<br />

müde und legte ihr Baby, um schlafen zu können, in einen Holzkorb. Als die himmlische Frau<br />

schließlich ausgeschlafen hatte und weiter tanzte, stieß sie versehentlich gegen den Korb und<br />

dieser fiel auf die Erde nieder. Als das Baby auf der Erde aufschlug, drückte es die Felsen<br />

beiseite und formte so die runden Felsformationen Tnoralas. Die Eltern des Babys, Abend-<br />

stern und Morgenstern, hörten nie auf, nach ihrem Kind zu suchen.“<br />

„Eine wunderschöne Geschichte und weit weniger zerstörerisch als ein Meteoritenein-<br />

schlag.“, meinte Shawn versonnen. Kelly nickte.<br />

„Ja, stimmt. So, dort vorne fängt der Highway an.“ Tatsächlich sah Shawn vor ihnen eine<br />

gerade, rot leuchtende, staubige, schmale Straße.<br />

„Highway ...?“, meinte er skeptisch grinsend.<br />

„Was willst du denn? Eine achtspurige Straße?“ Kelly schüttelte gespielt verständnislos<br />

den Kopf. Shawn lachte fröhlich.<br />

„Nein danke, das hier reicht, so ist hier nicht der Teufel los.“ Er bog nach links ab auf die<br />

unbefestigte Piste und zwanzig Minuten später hatten sie den Krater erreicht. Es war nach 16<br />

Uhr und so suchten sie sich einen Platz für das Nachtlager. Shawn fand eine geschützte, stein-<br />

freie Stelle unter ein paar Bäumen und sie bauten in Rekordzeit das Zelt auf.<br />

den.<br />

„Es wird nicht mehr lange dauern, bis es sich von selbst aufstellt.“, erklärte Shawn zufrie-<br />

„Das wäre praktisch.“, meinte Kelly grinsend. Sie setzte sich im Schneidersitz auf ihre<br />

Sitzmatte, die sie am Boden ausgebreitet hatte. Interessiert sah sie auf den Punkt vor sich.<br />

Einige Minuten beobachtete Shawn sie verwirrt. Schließlich fragte er:<br />

„Sag mal, was machst du da eigentlich?“<br />

Kelly sah zu ihm auf. „Ich warte, dass sich auch das Lagerfeuer von allein macht.“<br />

Shawn verzog das Gesicht und ging drohend auf Kelly zu. Diese stand sicherheitshalber<br />

auf und in der nächsten Sekunde rannte sie lachend vor Shawn davon, der sie ebenfalls la-<br />

chend verfolgte. Als er sie endlich zu fassen bekam, riss er Kelly mit sich zu Boden. Kichernd<br />

rangen sie im warmen Staub, bis Kelly sich ergeben musste.<br />

162


„Du hast gewonnen!“, keuchte sie atemlos.<br />

„Das will ich meinen!“, grinste Shawn und erhob sich geschmeidig. Er zog Kelly an den<br />

Händen ebenfalls auf die Füße und sekundenlang standen sie dicht beieinander.<br />

Wie ein Blitz durchfuhr Kelly der Wunsch, Shawn an sich zu ziehen und zu küssen. Sie<br />

schob den Gedanken energisch von sich und trat zurück. Ihre Augen wurden groß und sie<br />

sagte hastig:<br />

„Oh, sieh mal dort!“ In höchstens 4 Metern Entfernung bewegte sich träge eine recht ge-<br />

drungene, höchstens 60 Zentimeter lange Schlange. Sie war abwechselnd rotbraun und gelb-<br />

lich hübsch gezeichnet. Der plump wirkende Körper endete in einem vielleicht 10 Zentimeter<br />

langen, gegen den Körper sehr dünn wirkenden Schwanz. Der Kopf war dunkel und recht<br />

groß.<br />

„Was ist das?“, fragte Shawn gespannt.<br />

„Das, mein lieber Shawn, ist eine Death Adder. Ein weiteres Beispiel für unsere liebli-<br />

chen, hochgiftigen Tierchen. Aufgrund des starken und rasch wirkenden Giftes und der Träg-<br />

heit der Todesottern sind sie hier für einen hohen Anteil der schwerwiegenden Schlangenbisse<br />

verantwortlich. Sie beißen eher, als dass sie verschwinden würden. Vor allem das Neurotoxin<br />

ist wirksam und etwa 50 Prozent der unbehandelten Bisse sind für den Menschen aufgrund<br />

der induzierten Atemlähmung tödlich. Bis vor wenigen Jahrzehnten sind jährlich viele Men-<br />

schen an den Folgen der Bisse durch Todesottern gestorben. Seit es hochwirksame monova-<br />

lente Gegengifte gibt, sind die Todesfälle nach einem Biss stark zurückgegangen. Aber selbst<br />

damit muss die Atmung künstlich aufrecht erhalten werden.“<br />

Shawn verzog das Gesicht. „Na klasse! Behalte sie bitte im Auge, ich hole schnell den Fo-<br />

toapparat!“ Er rannte zum Wagen und war schnell mit der Kamera zurück bei Kelly. Vorsich-<br />

tig näherte er sich der Schlange bis auf 2 Meter, dann sagte Kelly:<br />

„Das reicht! Wenn sie auch träge ist, sie kann trotz ihrer Trägheit schnell werden, okay.“<br />

Shawn blieb also sicherheitshalber stehen und machte Fotos von dem hübschen Reptil.<br />

Schließlich kehrten sie zum Wagen zurück und Shawn schloss grinsend das Zelt, zog den<br />

Reißverschluss bis unten.<br />

„Sicher ist sicher!“, meinte er, als er Kellys Blick auffing.<br />

„Ach, die wird sich in entgegengesetzter Richtung davon machen, da bin ich sicher.“,<br />

meinte diese schmunzelnd. Sie entzündete ein Lagerfeuer, kurze Zeit später blubberte ko-<br />

chendes Wasser im Kessel und es gab eine Tasse Kaffee. Nachdem sie diese ausgetrunken<br />

hatten, machten sie sich zu Fuß auf den Weg, um sich nach der langen Fahrerei zu bewegen.<br />

Hunger hatte noch keiner von beiden. Shawn war vorsichtig, er achtete peinlich darauf, wo er<br />

hintrat. Doch es zeigte sich keine weitere Schlange und die, die Kelly entdeckt hatte, war<br />

spurlos verschwunden. Über eine Stunde marschierten sie in der Abendsonne, dann erreichten<br />

163


sie ihr Lager wieder. Kelly bereitete ein warmes Abendbrot, bestehend aus einer kräftigen<br />

Bohnensuppe.<br />

„Morgen Abend gibt es ein Bett und etwas Vernünftiges zu Essen.“<br />

„Wie das?“, fragte Shawn neugierig.<br />

„Ganz einfach. Wir werden morgen Abend im Glen Helen Resort übernachten. Das ist auf<br />

der anderen Seite der MacDonnell Ranges.“<br />

Shawn grinste. „Hört sich gut an. Was nicht heißen soll, dass mir deine leckeren Suppen<br />

nicht schmecken.“<br />

Kelly lachte. „Ach, gib es ruhig zu, du bist von meinen Kochkünsten nicht begeistert.“<br />

Shawn schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, das stimmt nicht. Deine Kochkünste sind<br />

großartig. Allerdings ... Wenn du kochen lässt und nur aufwärmst ...“ Er ließ in der Luft hän-<br />

gen, was er davon hielt. Nach dem lukullischen Abendessen machten sie es sich am Feuer<br />

gemütlich und Shawn seufzte.<br />

„Na, dann will ich mal von den beglückenden Ereignissen erzählen, was?“<br />

Mitleidig nickte Kelly. „Nützt nichts.“<br />

Shawn legte sich bequem hin, Kellys Hand verirrte sich fast unmittelbar in seine Haare<br />

und so begann der Schauspieler leise zu reden...<br />

*****<br />

Shawn lief eine Gänsehaut über den Rücken. Bebend stand er da und wartete. Carrie for-<br />

derte ihn auf:<br />

„Ich möchte, dass du dich auf den Stuhl setzt.“ Sie deutete auf den gynäkologischen<br />

Untersuchungsstuhl und löste seine Handfesseln. Zögernd setzte er sich hin und starrte zu<br />

Boden. Carrie bat Brett:<br />

„Stellst du bitte die Rückenlehne waagerecht und fixierst unseren Sklaven dann?“ Sofort<br />

trat Brett grinsend an den Stuhl, löste die Arretierung der Rückenlehne und senkte diese ab.<br />

Er drückte Shawns Körper zurück, bis dieser lag. Carrie hatte ihn aufgefordert, die Beine in<br />

die Schienen zu legen und schnallte sie an den Oberschenkenkeln mit breiten Gurten fest. Die<br />

Fußgelenke fixierte sie mit den Haken. Brett zog derweil Shawns Arme stramm über den Kopf<br />

und fixierte sie an dort befestigten Metallringen. Teresa zog einen weiteren breiten Gurt über<br />

Shawns Unterleib und fesselte so dessen Körper auf der Stuhlfläche. Zuletzt legte Brett ihm<br />

eine Augenbinde an. Shawn spürte, wie die Schienen soweit nach außen gedrückt wurden, bis<br />

es in seinen Oberschenkeln unangenehm zu ziehen begann. Dann wurden die Schienen in die-<br />

ser Haltung arretiert. Shawn lag weit gespreizt vor den Freunden und ihm traten vor Scham<br />

und Angst Tränen in die Augen.<br />

„Was hast du vor?“, fragte Brett neugierig.<br />

164


„Wir werden ihn gründlich enthaaren. Das nervt. Ich kaue nicht so gerne auf Schamhaa-<br />

ren herum.“, sagte Carrie vergnügt.<br />

an.<br />

Shawn entspannte. Das hörte sich zwar extrem peinlich, aber nicht gerade schmerzhaft<br />

„Oh, gute Idee, ich hole das Equipment.“, meine Karen zufrieden und Shawn hörte, wie<br />

sich ihre Schritte entfernten und gleich darauf wieder näherten. Carrie zog sich einen Stuhl<br />

heran, die drei Anderen beugten sich interessiert über Shawns weit gespreizte Beine. Der<br />

Schauspieler hörte ein leises Brummen und dachte an einen Rasierapparat. Er zuckte heftig<br />

zusammen, als er an den Haaren am Oberschenkel ein schmerzhaftes Ziepen spürte. Das war<br />

kein Rasierer, das war ein Epilierer!<br />

An den Schenkeln war das Ziepen noch halbwegs erträglich, obwohl es Shawn den<br />

Schweiß aus den Poren trieb. Endlich waren beide Schenkel fertig und Carrie wandte ihre<br />

Aufmerksamkeit mit geübten Fingern dem eigentlichen Intimbereich zu. Und jetzt konnte<br />

Shawn ein Keuchen nicht mehr zurückhalten. Sein gefesselter Körper zuckte und seine Hände<br />

ballten sich zu Fäusten. Carrie ging gründlich und ohne zu zögern ans Werk und 40 Minuten<br />

später lag Shawn schweißgebadet, aber glatt wie ein Baby in der extrem demütigenden Fesse-<br />

lung. Hände überzeugten sich von dem hervorragenden Resultat und er spürte, wie etwas<br />

Kühlendes auf die frisch enthaarte Haut gerieben wurde. Erleichtert prustete er leise auf. Er<br />

hoffte inständig, dass sie ihn aus dieser extrem demütigenden Haltung befreien würden. Dann<br />

aber trafen ihn die nächsten Sätze wie Schläge in den Magen. Brett fragte erregt:<br />

„Wo er gerade so praktisch hier liegt, würde ich gerne mal mit der Peitsche spielen. Ist<br />

das okay?“<br />

Shawn zuckte heftig zusammen, als sich eindeutig Bretts Hand an seinen Genitalien zu<br />

schaffen machte. Kalter Schweiß brach ihm aus und er verkrampfte augenblicklich vor Angst.<br />

Er hörte Carrie antworten:<br />

„Gerne, aber nicht länger als fünfzehn Minuten und sieh bitte zu, dass du die Wunde nicht<br />

in Mitleidenschaft ziehst. Und du weißt, dass die Haut hier weich und empfindlich ist, also<br />

halte dich zurück, ich will keine hässlichen Narben, verstanden?“<br />

Brett lachte zufrieden. „Klar, wie du willst. Teresa, reich mir mal die Peitsche.“<br />

Shawn zitterte am ganzen Leib wie Espenlaub. Heute Morgen, Carries Schläge, sie hatten<br />

fünf Minuten gedauert, aber das volle fünfzehn Minuten ertragen müssen, war der blanke<br />

Horror! Ganz leise wimmerte er auf. Überrascht spürte er Hände, die liebevoll seinen Kopf<br />

umfassten. Er wusste sofort, das waren Carries Hände. Sie hielt ihn fest und schon klatschte<br />

der erste Schlag auf seinen rechten Oberschenkel.<br />

Shawn biss die Zähne zusammen das es knirschte. Er kämpfte verzweifelt darum, nicht die<br />

Beherrschung zu verlieren, sich nicht die Blöße zu geben, vor Teresa, Karen und Brett erneut<br />

165


zu brüllen vor Schmerzen, aber das war nicht nach Bretts Geschmack. Er wollte das Spiel-<br />

zeug schreien hören! Hatte der Mann die ersten Schläge noch langsam und mit kurzen Pau-<br />

sen gesetzt, schlug er jetzt schneller zu und schließlich hatte er Shawns verzweifelten Wider-<br />

stand gebrochen. Der junge Mann schrie gepeinigt auf und Brett war zufrieden. Weiter<br />

klatschten die Schläge schnell und ohne Erholungspause für den Gefesselten auf dessen Beine<br />

und den Intimbereich nieder und die Haut, noch gereizt von Carries Schlägen und der Ent-<br />

haarung, brannte wie Feuer. Die Schmerzen zuckten durch Shawns ganzen Körper und ließen<br />

ihn sich in den Fesseln konvulsivisch Winden. Hysterisch flehte er, eine Pause zu machen.<br />

„Bitte! Ich halte das nicht mehr aus, bitte! Es tut so weh!“<br />

Wie durch Watte hörte er Carries sanfte Stimme an seinem Ohr.<br />

„Du hast es bald geschafft. Fünfzehn Minuten wirst du wohl schreien können.“<br />

Aber Shawn brüllte:<br />

„NEIN! Ich kann nicht mehr! Bitte! BITTE!“<br />

Es nützte nichts. Er musste bis zum bitteren Ende durchhalten. Als Brett schließlich die<br />

Peitsche schwer atmend aus der Hand legte und keuchte:<br />

„Gott, war das geil, mir ist einer abgegangen ...“, schluchzte Shawn heftig auf. Er ver-<br />

suchte, Carries Hände abzuschütteln, wollte allein sein in seiner Qual und Verzweiflung, aber<br />

daraus wurde nichts. Carrie nahm ihm die Augenbinde ab und hielt weiterhin seinen Kopf<br />

liebevoll in ihren Händen. Leise sagte sie, nur für Shawn verständlich:<br />

„Ich hatte auch einen Orgasmus.“<br />

Er schluchzte.<br />

Nach einer Weile wurde der junge Mann ruhiger. Der schlimmste Schmerz klang ab und<br />

nur noch ein dumpfes brennen war zu spüren. Noch lag er in derselben Position und wünschte<br />

sich, dass sie ihn endlich losbinden würden. Er sah, dass Karen und Teresa zwischen seinen<br />

gewaltsam gespreizten Beinen standen und ihn betrachteten. Seine Beine zuckten. Wie gerne<br />

hätte er ihnen den Blick verwehrt. Er fühlte die Demütigung wie körperlichen Schmerz. Tere-<br />

sa sah Carrie an und fragte:<br />

„Wann darf ich denn?“<br />

Carrie überlegte. „Wir machen eine Pause, ich denke, das reicht für den Moment. Macht<br />

es euch oben gemütlich. Heute Abend darfst du ran, nach dem Abendbrot, ist das okay?“<br />

Teresa nickte erregt. „Oh ja! Ich kann es nicht erwarten!“<br />

Zusammen mit den beiden Anderen verließ sie den Raum und Carrie und Shawn waren al-<br />

lein. Sie ließ seinen Kopf los und trat zwischen Shawns Beine. Ihr Blick war ihm im höchsten<br />

Maße unangenehm und er spürte Tränen in seine Augen treten. Das fehlen der Haare hatte<br />

einen starken, psychologischen Effekt. Er fühlte sich doppelt nackt und schutzlos. Carrie zog<br />

sich den Stuhl zurecht und begann sanft und vorsichtig, noch einmal von der kühlenden Salbe<br />

auf seine brennende Haut aufzutragen. Das tat gut. Trotzdem wünschte er, sie würde ver-<br />

166


schwinden. Er wollte allein sein, wollte sich seiner Verzweiflung, seinem Schamgefühl und<br />

seinen Schmerzen hingeben. Warum ging sie nicht? Eher er es verhindern konnte, stieß er mit<br />

zitternden Lippen hervor:<br />

„Kann du nicht verschwinden? Mich in Ruhe lassen?“<br />

Carrie sah ihn an, dann nickte sie. „Wie du willst.“ Sie stand auf und verließ wortlos den<br />

Raum. Und ließ ihn so liegen!<br />

Als die Tür sich hinter ihr schloss und Shawn allein war, schloss er müde die Augen. Er<br />

war erleichtert, konnte er doch nun ungestört seinen Tränen freien Lauf lassen. Minutenlang<br />

schluchzte er verzweifelt vor sich hin. Schließlich beruhigte er sich. Die kühlende Salbe hatte<br />

die Schmerzen erstaunlich gemildert. Er spürte, dass seine Beine vor Anstrengung zitterten,<br />

die Haltung war auf Dauer extrem unangenehm. Krampfhaft bemühte Shawn sich, zu ent-<br />

spannen. Die Zeit tropfte langsam dahin und er wurde unruhig. Warum kam Carrie nicht zu<br />

ihm? Sie musste wissen, wie grässlich es war, so zu liegen. Shawn hatte das Gefühl, schon<br />

stundenlang hier gefesselt herum zu liegen. Er schrak heftig zusammen, als tatsächlich die<br />

Tür geöffnet wurde. Freudig sah er hin, aber es war nur Alan, der hereinkam. Er sah erstaunt<br />

auf, als er Shawn auf dem grässlichen Stuhl liegen sah und trat interessiert näher. Der Gefes-<br />

selte spürte, wie ihm die Schamesröte in die Wangen schoss. Er hätte sonst was gegeben, die<br />

Beine zusammenkneifen zu können. Er fühlte sich wie ... ein Sklave. Alan stellte sich demonst-<br />

rativ zwischen Shawns einladend geöffneten Beine und betrachtete dessen Intimbereich inte-<br />

ressiert. Shawn fühlte sich erneut ohne die Schamhaare noch nackter und bloß gelegter. Alan<br />

strich probehalber mit der Hand über Shawns Hoden, ließ seine Finger dann weiter gleiten<br />

zum Schließmuskel, den er mit zwei Fingern dehnte, und nickte beeindruckt. Shawn kullerten<br />

erneut Tränen über die Wangen. Er hatte sich noch nie so geschämt und gedemütigt gefühlt.<br />

Er hatte das Gefühl, seine Hoden würden sich jeden Moment vor Abscheu in den Körper zu-<br />

rückziehen. Er biss die Zähne zusammen, dass es knirschte und wünschte, er könne sich in<br />

Luft auflösen. Alan griff nach seinem Penis und unterzog diesen einer genauen Untersuchung.<br />

Shawn zerrte fassungslos an den Fesseln, aber das war ein nutzloses Unterfangen. Scheinbar<br />

hatte Alan aber genug gesehen, denn gleichgültig ließ er Shawn los und trat an einen der<br />

Schränke. Er nahm etwas heraus, drehte sich, ohne Shawn noch eines Blickes zu würdigen,<br />

herum und verschwand so wortlos, wie er hereingekommen war. Kaum fiel die Tür hinter dem<br />

Diener ins Schloss, schluchzte Shawn hysterisch auf. Carrie, die in ihrem Büro vor einem<br />

großen Monitor saß, nickte zufrieden. Sie hatte das kleine Intermezzo beobachtet. Als sie sah,<br />

wie ihr Gefangener haltlos aufschluchzte, beschloss sie, dass die Zeit bald reif sein würde, zu<br />

ihm zu gehen. Aber noch wollte sie ihn eine Weile zappeln lassen.<br />

Interessiert beobachtete sie ihn weiter. Er lag wimmernd da und weinte krampfhaft.<br />

Schließlich beruhigte er sich. Carrie konnte ihn vor Schmerzen leise Stöhnen hören. Sie ließ<br />

167


ihn noch eine gute Stunde allein. Dann schaltete sie den Monitor aus und setzte sich in Bewe-<br />

gung, um in den Keller zu gehen. Shawn war so weit, dass er leise ihren Namen wimmerte.<br />

„Carrie ... Bitte. Komm bitte zurück.“<br />

Und tatsächlich ging die Tür erneut auf. Carrie kam in den Folterraum. Shawns Herz<br />

pochte vor Freude. Jetzt würde sie ihn befreien. Aber seine Freude schlug in Entsetzen um,<br />

als die junge Frau geschäftig zu einem Schrank an der Wand hinter Shawn eilte, ohne den<br />

jungen Mann eines Blickes zu würdigen. Shawn verrenkte sich fast den Hals, um zu sehen,<br />

was sie tat. Sie suchte hektisch in dem Schrank herum und griff nach etwas, dass Shawn nicht<br />

erkennen konnte. Sie schloss die Schranktür und schickte sich an, den Raum so eilig zu ver-<br />

lassen, wie sie herein gekommen war. Shawn ließ alle Vorsicht und das letzte bisschen Stolz<br />

fahren und stieß panisch hervor:<br />

„Bitte! Nicht weggehen, Carrie! Bitte lass mich nicht allein!“<br />

Sie schien seine Worte gar nicht gehört zu haben, eilte weiter und war dabei, die Tür hin-<br />

ter sich zu schließen, als Shawn aufgelöst schrie:<br />

„BITTE, Carrie!“<br />

Jetzt erst blieb die junge Frau stehen und drehte sich langsam herum.<br />

„Was?“, fragte sie kalt.<br />

„Lass mich nicht ... hier allein ... Bitte, Carrie, es tut mir leid! Ich ... ich halte das nicht<br />

mehr aus, bitte!“<br />

Ganz langsam drehte Carrie sich herum und sah zu dem Tränen überströmten jungen<br />

Mann zurück. „Du möchtest, dass ich bei dir bleibe? Vorhin hast du mich rausgeworfen.“,<br />

erklärte sie kalt und abweisend. Er schluchzte auf.<br />

„Es tut mir leid! Carrie, ich kann nicht mehr! Bitte!“<br />

Sie schien zu überlegen und drehte sich langsam zur Tür. Panisch wimmerte Shawn auf.<br />

„Nein. Nein! NEIN!“<br />

Langsam drehte sie sich herum und trat an den Stuhl heran. „So, jetzt wo du nicht mehr<br />

kannst, darf ich bleiben, oder wie sieht es aus?“<br />

Leise wimmerte er erneut: „Bitte ...“<br />

Sie zog sich den Stuhl heran und setzte sich neben ihn. „Wenn du willst, dass ich bleibe<br />

und dich losbinde, möchte ich, dass du mich bittest, dir zur Strafe noch einmal zehn Peit-<br />

schenhiebe zu geben.“<br />

Shawn erstarrte. Das Weinen blieb ihm in der Kehle stecken. Er atmete flach und viel zu<br />

schnell. Und brachte keinen Ton hervor. Er wusste nicht, welche Angst überwog: Die, hier<br />

weiter allein zu liegen oder die vor weiteren Schmerzen. Carrie wartete kurz, dann zuckte sie<br />

gleichgültig die Schultern und stand auf. Schnellen Schrittes näherte sie sich der Tür. Shawns<br />

Herz raste! Nein, sie sollte nicht gehen! Aber die Schmerzen ... Aber allein sein ... Er keuchte.<br />

Und rief panisch:<br />

168


„Bitte, Carrie, gib mir noch zehn Peitschenhiebe, zur Strafe!“<br />

Sofort kehrte die junge Frau um. „Gut. Wenn du das möchtest, werde ich es tun.“ Sie griff<br />

sich die Peitsche, die Brett liegen gelassen hatte und trat zwischen Shawns Beine. Dieser<br />

schluchzte aufgelöst vor sich hin und zitterte so stark, dass nur die Fesseln verhinderten, dass<br />

er vom Stuhl rutschte. Carrie holte aus und schon klatschten erneut die Lederschnüre auf sei-<br />

ne Genitalien und er schrie. Er hatte keinerlei Widerstandskraft mehr und brüllte seinen<br />

Schmerz hemmungslos hinaus. Als der zehnte Hieb ihn getroffen hatte, tanzten rote Kreise vor<br />

seinen Augen. Er spürte nicht, wie Carrie seine Handfesseln löste. Er bekam nicht mit, dass<br />

sie die Ledergurte, die seinen Körper und seine Oberschenkel an den Stuhl fixiert hatten,<br />

ebenfalls löste. Sie befreite seine Fußgelenke und endlich fuhr sie die Schienen zusammen,<br />

sodass er bequemer lag. Er brauchte viele Minuten, um all das zu registrieren. Carrie stand<br />

neben ihm und beobachtete seine Bemühungen, sich zu fangen. Sie war noch lange nicht in<br />

Vergebungslaune. Als sie merkte, dass er halbwegs aufnahmefähig war, sagte sie kalt:<br />

„Wirst du mich noch einmal wegschicken, wenn ich dir helfen will?“<br />

Panisch schüttelte Shawn den Kopf. „Nein, nie wieder!“<br />

Sie nickte. Kalt herrschte sie ihn an: „Steh gefälligst auf, lieg da nicht rum!“<br />

So schnell es ihm möglich war setzte Shawn sich auf und stand mit heftig zitternden Bei-<br />

nen vor ihr. Er vergaß, die Hände auf den Rücken zu legen und Carrie ahndete diese Ver-<br />

säumnis sofort. Gnadenlos schlug sie ihm die Peitsche, die sie noch in der Hand hatte, quer<br />

über den Unterleib. „Nimm gefälligst die Hände hinter den Rücken!“<br />

Aufwimmernd streckte Shawn die Hände nach hinten und stand so zitternd vor Carrie. Sie<br />

musterte ihn abfällig, dann sagte sie ruhig:<br />

„Du wirst von nun an ein perfekter Sklave sein. Du wirst ohne zu zögern alles tun, was wir<br />

dir sagen. Du wirst klaglos ertragen, was wir dir antun. Du darfst schreien und betteln, soviel<br />

du willst, aber du hast nicht das Recht, wegen irgendwas beleidigt zu sein, hast du das ver-<br />

standen?“<br />

Hektisch nickte Shawn. „Ja, verstanden.“<br />

Carrie sah ihn kalt an. „Du wirst mich von morgen an jeden Tag, solange bis ich dir sage,<br />

dass es reicht, freiwillig und unaufgefordert bitten, dir zu deinen zehn Peitschenhieben weite-<br />

re zehn zu verpassen.“<br />

Shawn liefen Tränen über die Wangen, aber er beeilte sich erneut, zu nicken und zu sa-<br />

gen: „Ja, das werde ich machen.“<br />

Sie nickte zufrieden. „Gut. Und du wirst zehn Tage lang jeden Tag für zwei Stunden in ei-<br />

ner schmerzhaften und unangenehmen Position gefesselt im Salon zur Schau gestellt.“<br />

Ergeben nickte Shawn. „Ja.“ Seine Beine drohten nachzugeben und seine Hände tasteten<br />

unwillkürlich nach dem Stuhl, um sich festzuhalten. Doch Carrie war bereit, zu vergessen,<br />

169


dass er sich gegen sie aufgelehnt hatte. Sie trat an ihn heran und legte ihm einen Arm um die<br />

Taille.<br />

„Ich werde dich in dein Zimmer bringen. Stütz dich auf mich, wenn du es nicht schaffst.“<br />

Er scheute davor zurück, sie anzufassen, aber es ging nicht anders. Er musste sich auf sie<br />

stützen, zu sehr war er angeschlagen. Langsam führte sie ihn die Treppe hoch und dann stan-<br />

den sie vor seiner Zimmertür.<br />

„Ruh dich aus. Bis heute Abend hast du frei. Dann darf Teresa dich behandeln.“ Carrie<br />

drehte sich herum und ließ ihn zurück. Mit zitternden Händen öffnete Shawn die Tür zu sei-<br />

nem Zimmer und wankte zum Bett hinüber. Unendlich fertig sank er darauf nieder und rollte<br />

sich zusammen. Er war am absoluten Limit angelangt. Jetzt wünschte er sich, Carrie wäre bei<br />

ihm geblieben, um ihn ... ja, was? Er sehnte sich nach ihren sanften Händen, die ihm Salbe<br />

auftrugen, sehnte sich nach ihrem Lächeln, dass ihm viel bedeutete und er sehnte sich nach<br />

ihrer Stimme, die ihm Mut machte und ihn beruhigte.<br />

*****<br />

Kelly war einmal mehr überrascht, wie kaltherzig und brutal Carrie war. Shawn lag erneut<br />

als weinendes, zitterndes Bündel Verzweiflung in ihren Armen und rang um Fassung. Und<br />

Kelly kullerten Tränen des Mitleids über das blasse Gesicht. Es berührte sie sehr, was ihre<br />

Patienten durchgemacht hatten. Und sie konnte es nicht mehr verleugnen: Shawns Schicksal<br />

ging ihr zu Herzen. Der junge Mann stammelte schluchzend:<br />

„Wie konnte sie mich nur so einwickeln? Wie ist so was möglich? Ich meine, sie hat mich<br />

behandelt ... Ich kapiere das nicht! Ich bin ... ich bin nicht völlig verblödet, aber ... ich habe<br />

nicht geschnallt, dass diese Bitch mich derart ... derart manipuliert hat. Ich habe mich ... oh<br />

mein Gott! Ich habe mich danach gesehnt, dass sie zu mir kommt. Ich wollte es ... Sie war es,<br />

die alles initiiert hat. Sie hatte die Fäden in der Hand. Und doch wollte ich, dass sie zu mir<br />

kommt.“ Er verstummte verzweifelt und Kelly musste erst einmal schlucken. Dann erklärte<br />

sie ihm erneut, was sie ihm bereits mehrfach gesagt hatte: Dass er in seiner Situation keine<br />

andere Wahl gehabt hatte, als sich an den einzigen Menschen zu klammern, der ihm neben<br />

Qualen auch Zuneigung und Hilfe entgegen gebracht hatte. Dass es die Art dieser Leute war,<br />

ihre Sklaven so an sich zu binden. Selbst in den freiwilligen BDSM Spielen ging es darum:<br />

Der Top quält den Bottom, um seine sadistischen Gelüste auszuleben und belohnt diesen<br />

durch Zuneigung, Hilfe, Trost und Liebe. Diese Art der Partnerschaft funktionierte nur bei<br />

absolutem Vertrauensverhältnis. Und ein guter Top, ein guter Dom, wusste dieses Vertrauen<br />

geschickt aufzubauen. Carrie hatte nichts anderes gemacht. Nur, dass sie die Zuneigung zu<br />

Shawn nur vorspielte, um diesen bei der Stange zu halten. Er hatte nicht den Hauch einer<br />

Chance gehabt, sich Carries Einfluss zu entziehen. Er war von ihr dank der Taktik Zuckerbrot<br />

und Peitsche zu einem willenlosen Objekt degradiert worden, dass seine Existenzberechtigung<br />

170


schnell nur noch darin sah, den wenigen Momenten entgegen zu fiebern, in denen er von Car-<br />

rie gut, liebevoll, menschlich behandelt wurde. Wie hilflos er ohne sie war, hatte sie mit der<br />

Aktion, ihn auf dem Untersuchungsstuhl liegen zu lassen, mehr als deutlich demonstriert.<br />

Wenn er nicht funktionierte, war er allein. Tat er nicht, was sie erwartete, war er allein. Kelly<br />

ging jede Wette ein, dass Shawn sich nach diesem Tag nie mehr gegen Carrie aufgelehnt hat-<br />

te, aus Angst, ihre Zuneigung erneut zu verlieren.<br />

Shawn hörte Kelly aufmerksam zu und auch wenn er es bereits einige Mal gehört hatte,<br />

brachten ihre Worte ihm Trost und eine Erklärung für sein Verhalten, die ihm einleuchtete.<br />

Trotzdem konnte er sich im Augenblick für seine Hingabe an diese Frau nur Verachten.<br />

„Ich wäre ihr auf Knien hinterher gerutscht, nur um ein liebes, ein freundliches Wort, eine<br />

liebevolle Geste von ihr zu empfangen. Wie soll ich mir je wieder in die Augen schauen kön-<br />

nen, Kelly?“<br />

Kelly strich Shawn liebevoll durch die blonden Haare. „In dem du aus der Gerichtsver-<br />

handlung, die es geben wird, das schwöre ich dir, hoch erhobenen Hauptes als Sieger hervor<br />

gehen wirst! Du wirst sie hinter Gitter bringen. Du wirst am Ende triumphieren!“<br />

Shawn hatte sich gefangen und seufzte. „Ich weiß nicht, ob ich je wieder aus irgendwas<br />

als Sieger hervor gehen werde.“, schniefte er todunglücklich. „Der Tag hat sich in mein Ge-<br />

dächtnis eingebrannt als der Tag meiner absoluten Niederlage. Sie hatte gewonnen, auf der<br />

ganzen Linie.“ Einen Moment schwieg er, bevor er heftig hervor stieß: „Als ich auf dem ver-<br />

dammten Stuhl lag ... Dieses ... dieses Enthaaren ... Ich habe mich doppelt und dreifach nackt<br />

gefühlt! Das tue ich heute noch. Sie hat später ... naja, die ... dauerhaft ... Ich werde nie mehr<br />

... Bei Frauen mag ich es, aber ich ... Das ist so demütigend, so erniedrigend, als Mann keine<br />

...“ Hoffnungslos verlegen stammelte er vor sich hin und konnte es nicht aussprechen: Dass er<br />

sich ohne Schambehaarung fast entmannt fühlte.<br />

Kelly wusste, was er ausdrücken wollte. Sie beschloss, ehrlich zu ihm zu sein.<br />

„Hör zu, Shawn, ich weiß aus meiner Praxis und aus diversen Gesprächen mit Sexualthe-<br />

rapeuten und Patienten, dass unglaublich viel Frauen es außerordentlich begrüßen, wenn ein<br />

Mann keine Schamhaare hat. Ich selbst finde es unglaublich attraktiv. Weißt du, ihr mögt es<br />

nicht, beim Liebesspiel auf Haaren herumzulutschen, warum sollte es uns Frauen anders ge-<br />

hen? Es gibt ja genug Frauen, die grundsätzlich Männer ohne Körperbehaarung vorziehen. Ich<br />

liebe es, weiche, zarte Haut zu streicheln und nicht durch einen Dschungel von Haaren irren<br />

zu müssen. Männer mit Brustbehaarung sind mir zuwider. Und ich ziehe eindeutig Männer<br />

mit wenig oder noch besser gar keiner Schambehaarung vor. Du hast so wundervolle Haut,<br />

wenn ich deine Partnerin wäre, ich hätte Probleme, meine Finger bei mir zu halten.“ Sie lach-<br />

te leise. „Ich würde dich ständig streicheln, berühren, liebkosen wollen.“<br />

171


Da Shawn wusste, dass Kelly nicht aus Rücksichtnahme oder Schönrederei log, trösteten<br />

ihre Worte ihn tatsächlich. In seinem Kopf formte sich ein Bild, das er schnellstens in die<br />

tiefsten Ecken seines Gehirns verbannte: Kelly, die ihn sanft und zärtlich streichelte. Ener-<br />

gisch kämpfte er dieses unglaublich schöne Bild nieder. Stattdessen seufzte er leise und er-<br />

klärte:<br />

„Okay, aber das ändert rein gar nichts an der Tatsache, dass ich mir unglaublich nackt und<br />

schutzlos vorkam. Ich hätte nie für Möglich gehalten, dass ein paar Haare eine so starke<br />

Schutzfunktion haben. Als ich ... Als Carrie fertig war und sie mich alle begafften ... Es war<br />

nur entsetzlich! Erst da kam ich mir richtig nackt vor, als könnten sie direkt in mich hinein<br />

schauen, verstehst du?“<br />

Kelly nickte. „Ja, ich verstehe, was du meinst. Es wurde dir aufgezwungen, du hast es<br />

nicht für eine Partnerin freiwillig gemacht. Du fühltest dich bloß gelegt, nichts war mehr da,<br />

was psychologischen Schutz bot.“<br />

Shawn stieß ein verzweifeltes, hartes Lachen aus. „Obwohl ich mir selbst sagte, dass das<br />

Blödsinn war. Als ob ein paar Haare mich dort vor irgendwas geschützt hätten. Aber das Feh-<br />

len der Haare machte die Erniedrigung komplett, sozusagen. Nun verwehrte gar nichts mehr<br />

den Blick auf ... Naja, auf alles dort unten.“ Er schauderte. „Jedes Detail war ... Es war, als<br />

könnten sie in mich hinein schauen.“ Erschöpft schwieg er. Kelly warf einen Blick auf ihre<br />

Armbanduhr und stellte fest, dass es fast 23 Uhr war. Liebevoll sagte sie:<br />

„Wir sollten für heute Schluss machen, es ist spät.“<br />

Shawn seufzte. „Ich bin alle. Du schaffst mich.“ Müde stemmte er sich auf die Beine. Mi-<br />

nuten später lagen die Beiden erschöpft auf ihren Schlafsäcken im Zelt.<br />

Eine Weile herrschte Stille und Kelly dachte, Shawn wäre eingeschlafen. Plötzlich fragte<br />

er leise und bedrückt: „Wie kommt es nur, dass fehlende Schambehaarung dazu führt, dass<br />

man sich noch verletzlicher fühlt?“<br />

Kelly drehte sich zu ihm und erklärte ruhig: „Weil man es dir gewaltsam angetan hat.<br />

Wenn deine Partnerin dich darum gebeten hätte, weil sie es sexy findet, hättest du mit Freu-<br />

den zugestimmt. Aber so wurde es dir brutal aufgezwungen. Du hattest keine Chance, es zu<br />

Verhindern, warst, während Carrie es machte, in einer absolut erniedrigenden Position gefes-<br />

selt und musstest es dir gefallen lassen.“ Sie hörte Shawn in der Dunkelheit schwer atmen.<br />

„Dort so zu liegen, so ... ausgebreitet ... Weißt du, ich halte mich nicht für prüde oder ver-<br />

klemmt, und schäme mich meines Körpers nicht, aber das war ... Sie haben alle rumgelästert.<br />

Haben Bemerkungen über ... über ... Sie haben ... über meine Hoden gesprochen und ... Brett<br />

meinte, er könne es gar nicht mehr abwarten, meinen ... Er wolle endlich ...“ Es fiel Shawn<br />

extrem schwer, auszusprechen, was gesagt worden war. Kelly versuchte, ihm die Hemmungen<br />

zu nehmen.<br />

172


„Du brauchst dich nicht zu schämen! Es gibt nichts, was ich nicht schon gehört hätte,<br />

glaube mir. Sag, was du sagen möchtest, ohne Rücksicht zu nehmen. Dafür bin ich da.“<br />

Müde fragte Shawn: „Wie schaffst du es nur, dass dir das alles nichts ausmacht?“<br />

Kelly stieß ein frustriertes Lachen aus. „Oh, da irrst du dich gewaltig! Es macht mir eine<br />

ganze Menge aus. Gerade bei dir ...“ Ehe sie sich versah, waren ihr die Worte heraus ge-<br />

rutscht. Hastig fuhr sie fort: „Aber wenn es mir nichts mehr ausmachen würde, könnte ich<br />

diesen Beruf nicht mehr ausüben, verstehst du? Wenn mir das, was meine Patienten mir er-<br />

zählen, nicht mehr unter die Haut fahren würde, wäre ich zu abgestumpft, um den Job noch zu<br />

machen. Ich darf es nur nicht zu nah an mich heran kommen lassen. Denn dann wäre ich ge-<br />

nauso wenig noch in der Lage, Patienten zu betreuen.“<br />

„Das verstehe ich. Brett meinte, er könne es nicht mehr abwarten, mir endlich einen zu<br />

Blasen und meinen Arsch zu vögeln.“ So schnell kamen diese Worte aus Shawn heraus ge-<br />

sprudelt, dass das Gefühl entstand, er hätte Angst, dass ihn auf halber Strecke der Mut verlas-<br />

sen würde. Endlich war es ausgesprochen und er fuhr langsamer fort: „Das zu hören und zu<br />

wissen, was da noch auf mich zukommen würde ... Wenn man überfallen wird und dann ver-<br />

gewaltigt, weiß man es vorher nicht. Aber es gesagt zu bekommen, und dann nur auf den Tag<br />

warten zu müssen, an dem es passiert ... Gott, das war so unmenschlich grausam. Ich habe mir<br />

ständig vorgestellt, wie es sein würde, seinen Schwanz in meinem Hintern zu spüren. Wie er<br />

mich ... fickt. Aber als es dann passierte, war es noch viel schlimmer als alles, was ich mir<br />

vorgestellt hatte. Es hat so tierisch weh getan, er hat ... keine Rücksicht ... “ Shawn verstumm-<br />

te schluchzend. Kelly wusste aus ihrem Job, wie wenig Anlaufstellen es für vergewaltigte<br />

Männer gab und wie wenig Hilfe sie erfuhren. Sie tastete im Dunkeln nach dem jungen Mann<br />

und zog ihn in ihre Arme.<br />

„Das wirst du mir später erzählen, Shawn. Vergiss das erst mal. Wir werden das zu einem<br />

späteren Zeitpunkt aufarbeiten. Du solltest erst einmal abschalten. Du musst schlafen, das<br />

wird alles zu viel für dich.“<br />

„Darf ich bitte so liegen bleiben?“, fragte Shawn schüchtern.<br />

„Selbstverständlich.“<br />

Shawn seufzte. „Du ahnst nicht, wie tröstlich es ist, dass du ... Du meinst es ehrlich, im<br />

Gegensatz zu Carrie. Es gibt mir so unglaublich viel Halt ...“<br />

14) Eine Sache des Vertrauens<br />

Vertrauen zu genießen ist ein größeres Kompliment als geliebt zu werden.<br />

George Macdonald<br />

173


Am nächsten Morgen wachte Kelly allein auf. Shawn hatte sich aus dem Zelt geschlichen.<br />

Müde rekelte die Therapeutin sich auf dem Schlafsack. Ein Blick zur Uhr zeigte ihr, dass es<br />

kurz vor 8 Uhr war. Seufzend erhob sie sich schließlich und turnte steif aus dem Zelt. Das<br />

kleine Lagerfeuer brannte, über dem Feuer hing der Wasserkessel, eine Tasse Kaffeepulver<br />

stand für sie bereit und Kelly goss dankbar Wasser auf. Dann sah sie sich um. Shawn war<br />

nirgends zu sehen, aber Kelly machte sich keine Sorgen mehr. Über das Stadium, sich etwas<br />

anzutun, war Shawn hinweg. Die junge Frau sah sich weiter um und schließlich entdeckte sie<br />

Shawn ein Stück entfernt auf einer Bank am Besucherparkplatz sitzend. Langsam ging sie zu<br />

ihm hinüber. Er hörte sie kommen und drehte sich zu Kelly herum.<br />

„Morgen. Es ist fantastisch hier.“, sagte er und klang aufrichtig zufrieden.<br />

„Morgen. Ja, es ist schön hier. Nach dem Frühstück werden wir mal herumlaufen. Der<br />

größte Teil des Kraters ist wie gesagt gesperrt. Bist du schon lange wach?“<br />

Shawn nickte. „Ja, eine Weile. Die Albträume lassen im Moment nach, dafür kommt der<br />

Denkomat kontinuierlich mehr zu Wort.“<br />

„Denkomat?“ Kelly lachte. „Den Ausdruck habe ich noch nicht gehört.“ Sie trank einen<br />

Schluck Kaffee, dann fragte sie sanft: „Worüber denkst du denn nach?“<br />

leise:<br />

Shawn seufzte. Einen Moment lang starrte er gedankenversunken geradeaus, dann sagte er<br />

„Du hast gesagt, du hättest über vier Jahre gebraucht, bevor du in der Lage warst, dich mit<br />

einem Mann einzulassen?“<br />

Ruhig erwiderte Kelly: „Ja, vorher war ich nicht bereit, es in Erwägung zu ziehen.“<br />

Shawn nickte langsam. Bedrückt fragte er: „Was denkst du, wie wird ... wie wird sich das<br />

Ganze auf mich auswirken? Ganz ehrlich.“<br />

Kelly überlegten einen Augenblick und sagte langsam:<br />

„Die akuten Auswirkungen spürst du noch. Panikattacken, Schlafstörungen, Depressionen,<br />

mangelndes Selbstvertrauen, in sich zurückziehen, all das sind Erscheinungen eines schweren<br />

Traumas. Die werden verschwinden, das verspreche ich dir. Selbst wenn du im Augenblick<br />

nicht daran glaubst. Du wirst es mit der Zeit lernen, mit den Erinnerungen daran zu leben und<br />

es wird dich stärker machen.“ Sie legte eine kleine Pause ein, überlegte kurz und fuhr fort:<br />

„Ich vermute aber, du sprichst speziell darauf an, wie das Ganze dein zukünftiges Sexualver-<br />

halten beeinflussen wird, richtig?“<br />

Betreten nickte Shawn und starrte zu Boden.<br />

„Das ist unmöglich vorherzusehen zu diesem Zeitpunkt. Theoretisch ist alles möglich: von<br />

Panik bei jeder nur im Entferntesten sexuellen Handlung, über psychisch bedingte Impotenz<br />

bis zu unersättlichem Verlangen nach Sex. Ebenso wie entweder sehr devotes oder dominan-<br />

tes Verhalten. Es ist stark abhängig davon, wie deine zukünftige Partnerin sich verhält. Du<br />

solltest ehrlich sein, was nicht bedeuten muss, dass du von nun an jeder Frau, mit der du zu-<br />

174


sammen bist, alles detailliert schildern musst. Aber du solltest erklären, dass du schwer miss-<br />

handelt wurdest.“<br />

Shawn hatte betroffen zugehört und schwieg einen Moment erschüttert. Leise meinte er:<br />

„Am besten wird es sein, ich halte mich zukünftig zurück. Andernfalls bitte ich noch eines<br />

Tages eine Frau, mich zu fesseln und zu schlagen ...“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Ach, Shawn, du wirst wieder Sex haben, vertrau mir. Und<br />

vielleicht wirst du ganz normales Verhalten zeigen, ich sagte, theoretisch ist alles möglich.<br />

Möglicherweise wirst du nur experimentierfreudiger sein. Niemand kann das vorher sagen.<br />

Du wirst eines Tages eine Frau so lieben, dass du mit ihr schlafen möchtest und dann wird es<br />

passieren.“<br />

Shawn sah Kelly von der Seite mit einem seltsamen Blick an, der diese beunruhigte. Leise<br />

sagte er:<br />

„Möglich ...“ Er seufzte. „Ich denke, das Beste wird sein, ich mutiere zum Asketen.“<br />

Kelly schmunzelte. „Oh, da verliert die Frauenwelt aber ein begehrenswertes Mitglied der<br />

Männergilde.“<br />

Shawn wurde rot. „Quatsch!“, stieß er verlegen hervor.<br />

Kelly lachte. „Kein Quatsch! Sieh dich an! Du siehst hervorragend aus und ich gehe jede<br />

Wette ein, dass du ein wundervoller Liebhaber bist. Du wirst eines schönen Tages eine hüb-<br />

sche Frau kennenlernen, der du so viel Vertrauen entgegen bringst, dass du erzählen kannst,<br />

was dir passiert ist und mit der du glücklich werden wirst!“ Den Stich, den Kelly bei ihren<br />

Worten im Herzen verspürte, ignorierte sie gekonnt. Shawn sah Kelly mit einem Blick an, der<br />

Bände sprach. Die Therapeutin registrierte diesen Blick wohl und war besorgt. Shawns nach-<br />

folgende Worte vertieften diese Besorgnis noch.<br />

„Die habe ich schon gefunden. Dich. Ich vertraue dir uneingeschränkt.“ Er prustete ange-<br />

spannt, dann sagte er leise: „Komischerweise hat Carrie das ebenfalls geschafft ... Nach der<br />

Enthaarung ...“<br />

*****<br />

Carrie grinste still vor sich hin. Sie hatte bemerkt, dass ihr Sklave kurz vor dem Zusam-<br />

menbruch stand. Als sie in ihrem Arbeitszimmer saß, schaltete sie den Monitor an und drückte<br />

auf einer Schalttafel unter dem Monitor auf eine Taste. Sofort sah sie das Bild von Shawns<br />

Zimmer und konnte beobachten, wie ihr Gefangener sich erschöpft, am Ende seiner Kraft, auf<br />

das Bett sinken ließ und sich so eng es ging zusammenrollte. Er lag mit dem Rücken zu ihr,<br />

aber sie konnte sehen, dass seine Schultern zuckten und hörte das leise, krampfhafte Weinen.<br />

Sie wartete eine Weile, dann stand sie auf und verließ das Büro. Sie kehrte zu Shawn zurück.<br />

Er hörte nicht, wie sie zur Tür herein kam und zuckte erschrocken zusammen, als er eine<br />

175


Hand auf seiner Schulter spürte. Panisch fuhr er herum und sah Carrie neben seinem Bett<br />

stehen. Er drehte sich zu ihr herum und kniete sich auf die Matratze.<br />

„Es tut mir so leid! Ich wollte das nicht! Das wird nie wieder passieren, das schwöre ich<br />

dir. Bitte, bitte, sei mir nicht mehr böse. Wenn du nicht ... Wie soll ich das hier überstehen<br />

ohne dich?“ Seine Augen bettelten Carrie an, lagen sprichwörtlich vor ihr auf den Knien und<br />

er vergaß, dass er sie nicht anschauen sollte.<br />

„Ich bin es, die dir all das hier antut, hast du das vergessen?“, fragte sie ihn ruhig.<br />

„Nein, das habe ich nicht. Aber du bist die Einzige, die ... die mir hilft, die sich um mich<br />

sorgt. Du bist hier mein Engel und mein Teufel. Ich ...“ Er verstummte und sackte in sich zu-<br />

sammen. Carrie trat dichter an das Bett heran und setzte sich zu ihm. Leise sagte sie:<br />

„Du bist mein wertvollster Besitz und glaube mir, ich besitze nicht wenig. Natürlich bin<br />

ich besorgt um dich. Aber ich erwarte unbedingten Gehorsam. Wir werden Gäste haben, dann<br />

will ich mich nicht für dich schämen müssen. Ich werde dich rigoros und konsequent erziehen<br />

und du wirst alles, aber auch alles tun, was ich von dir verlange. Im Gegenzug wirst du in mir<br />

eine Beschützerin haben, die genauso rigoros und konsequent auf dich aufpassen wird, dich<br />

beschützt und für dich da ist, wenn du es brauchst.“<br />

Shawn hatte mit gesenktem Kopf zugehört. Leise sagte er: „Ich brauche dich jetzt ...“<br />

Carrie nickte. „Ich weiß. Und ich bin da.“ Sie stand auf und verschwand kurz ins Bad. Als<br />

sie Sekunden später zurückkam, hatte sie eine Tube Salbe in der Hand. Sie kniete sich auf das<br />

Bett und sagte zu Shawn: „Leg dich hin und spreiz die Beine.“ Ohne zu zögern legte Shawn<br />

sich hin, zog die Beine an und ließ sie weit auseinanderklappen. Carrie rutschte so zu ihm auf<br />

das Bett, dass sie zwischen ihnen knien konnte. Sanft begann sie die Striemen, die Shawn da-<br />

von getragen hatte, mit der Salbe zu behandeln. Nach und nach spürte er, wie das Brennen<br />

allmählich nachließ. Als Carrie fertig war, erklärte sie:<br />

„Mach es dir bequem, ich bin gleich zurück.“ Sie stand auf und ging ins Badezimmer.<br />

Hier wusch sie sich gründlich die Salbe von den Händen. Anschließend kehrte sie in das<br />

Schlafzimmer zurück. Shawn hatte sich auf die Seite gedreht und sah aus dem Fenster. Es war<br />

ein herrlicher Tag und er hätte gesurft oder etwas in der Art, wäre er nicht entführt worden.<br />

Er schrak aus seinen Gedanken hoch, als Carrie zu ihm auf das Bett glitt. Sie lächelte.<br />

„Wo warst du mit deinen Gedanken?“, fragte sie ihn und setzte sich so, dass er seinen<br />

Kopf auf ihre Oberschenkel legen konnte. Sanft ließ sie ihre zarten Finger durch seine Haare<br />

streichen. Shawn seufzte.<br />

„Ich habe überlegt, dass ich an einem so schönen Tag gesurft hätte oder am Strand gele-<br />

gen, um ...“ Er verstummte verlegen. Carrie lachte.<br />

„Um jemanden aufzureißen. Verstehe.“<br />

176


Shawn lag eine Weile still und genoss das Gefühl, dass Carries Finger, die sanft in seinen<br />

Haaren spielten, verursachte. Leise sagte er:<br />

„Als du vorhin gegangen bist, dachte ich zuerst, du ... du würdest schnell zurückkommen.<br />

Und als ich merkte, dass du das nicht ... Darf ich ... Darf ich etwas sagen?“<br />

Carrie spielte mit einer Haarsträhne und sagte: „Ja, sicher darfst du.“<br />

Shawn holte tief Luft und sagte mit leicht zitternder Stimme: „Ich weiß, dass ... dass ich<br />

hier gefangen bin, nichts machen kann, euch ausgeliefert bin ... Ihr könnt mich Foltern, Quä-<br />

len, was euch einfällt, ich kann es nicht verhindern. Aber ... lass mich bitte nie wieder ... lass<br />

mich nie wieder so allein, bitte!“<br />

Sie spürte, dass nicht nur seine Stimme zitterte. Er bete am ganzen Leib. „Shawn, wenn du<br />

dich meinen Wünschen entsprechend verhältst, verspreche ich dir, dich nie wieder allein zu<br />

lassen.“<br />

Er seufzte erleichtert auf. „Ich werde dich nie wieder enttäuschen, und wenn, kannst du<br />

ohnehin mit mir machen, was du willst, um mich zu bestrafen. Ich muss alles hinnehmen. Aber<br />

das allein sein ...“ Er zitterte wieder heftig. „Das war schlimmer als alles andere.“, sagte er<br />

schließlich mit leiser Stimme. Er veränderte seine Haltung, hätte so gerne die Arme um ihren<br />

schlanken, biegsamen, weichen Körper geschlungen, aber das durfte er nicht, unter gar kei-<br />

nen Umständen. Sein Schoß brannte und er öffnete die Beine weiter, damit die Haut nicht<br />

aneinander rieb. Schon jetzt hatte er Angst vor den nächsten Schlägen.<br />

Carrie sah auf die Uhr an der Wand. Dann sagte sie:<br />

„Ich möchte mich eine Weile an den Strand legen, was hältst du davon? Willst du mit?“<br />

Er sah sie erstaunt an. „Wenn ich darf?“<br />

Sie erhob sich vorsichtig. „Ja, du darfst mich begleiten.“<br />

Er stand ebenfalls auf und Carrie fesselte seine Hände auf den Rücken. Sie sagte:<br />

„Du wartest hier, ich bin gleich zurück.“ Sie eilte aus dem Raum und kam ein paar Minu-<br />

ten später zurück, mit einer Tasche in der Hand. Shawn hatte sich nicht gerührt. Carrie ver-<br />

ließ das Zimmer über die Terrasse und Shawn folgte ihr. Noch war das Gefühl, die Hände<br />

nicht benutzen zu können, im höchsten Maße unangenehm. Er bewegte sich leicht verkrampft,<br />

wozu der Buttplug kräftig beitrug. Zusammen erreichten sie schließlich den Strand und Car-<br />

rie entkleidete sich. Sie breitete eine große Decke im warmen Sand aus und ließ sich darauf<br />

nieder. „Setz dich zu mir.“, forderte sie Shawn auf und dieser ließ sich umständlich auf die<br />

Decke sinken. Erst jetzt machte sie seine Hände los, sodass er sich bequem hinsetzen konnte.<br />

Sie genossen eine Weile die herrliche Stille, das leise Rauschen der Wellen, die Sonne auf<br />

ihrer nackten Haut. Dann sagte Carrie unvermittelt:<br />

„Brett wird dich demnächst ficken, das ist dir klar, oder?“<br />

Der junge Mann wurde unter der Sonnenbräune blass. Er sah auf das Wasser hinaus und<br />

nickte. Er hatte es gewusst, fragte sich nur, wie er das überleben sollte. Die Vorstellung reich-<br />

177


te, um ihm den Schweiß aus allen Poren zu Treiben. Von einem Mann berührt zu werden war<br />

mehr als unerträglich gewesen. Aber die Vorstellung, dass Brett ... Er schüttelte sich unwill-<br />

kürlich. Carrie sah dies wohl. Sie griff nach Shawn und zog ihn in die Waagerechte. Als er<br />

neben ihr lag, öffnete er unwillkürlich die Beine und Carrie nickte zufrieden.<br />

„Du wirst es überleben. Ich freue mich darauf. Ich finde es schade, dass ich das gute<br />

Werk nicht selbst durchziehen kann. Mir fehlt da anatomisch gesehen ein wichtiger Teil für.<br />

Aber wenn du geweitet genug bist, werde ich dich öfter dort benutzen, es gibt zum Glück ge-<br />

nug Hilfsmittel.“ Ihr Rechte war bei diesen Worten zwischen seine Beine gerutscht und spielte<br />

an den Plug herum. Shawn verzog das Gesicht.<br />

Es tat weh und war ein derart widerliches Gefühl, dass er ein Stöhnen der Abscheu nicht<br />

unterdrücken konnte. Carrie lachte leise.<br />

„Wer weiß, eventuell empfindest du es bald nicht mehr als so schlimm. Vielleicht macht<br />

es dir Spaß.“ Sie zog den Plug ein kleines Stück aus Shawns Anus heraus und bewegte ihn<br />

langsam hin und her. Shawn gelang es bei aller Kraftaufbietung nicht, stillzuliegen. Seine<br />

Beine zuckten, ohne dass er es hätte verhindern können, zusammen und Carrie lachte.<br />

„Ich sehe, für diese Spiele wirst du wohl noch fixiert werden müssen.“ Sie drückte das<br />

furchtbare Teil in Shawn zurück und sagte unvermittelt: „Wollen wir Schwimmen gehen?“<br />

Überrascht von dem Stimmungswechsel antwortete er: „Gerne.“ Er stand auf und zögerte<br />

kurz, dann aber hielt er Carrie seine Hände hin, um sie auf die Füße zu ziehen. Sie ließ es zu.<br />

Gemeinsam gingen sie zum Wasser hinunter und hier sagte Carrie:<br />

„Warte.“<br />

Er blieb erstaunt stehen.<br />

„Dreh dich um und leg deine Hände auf den Rücken.“ Shawn gehorchte, aber sein Herz<br />

raste. Schnell waren seine Hände erneut auf den Rücken gefesselt und Carrie lächelte sanft.<br />

„Hast du Vertrauen zu mir?“, fragte sie. Shawn zögerte kurz und nickte.<br />

„Ja.“<br />

„Dann komm!“ Sie ging ins Wasser und Shawn setzte sich zaudernd in Bewegung, folgte<br />

ihr. Langsam und vorsichtig ging er weiter und erschrak zu Tode, als unter ihm der Boden<br />

rapide abfiel und er den Halt verlor. Seine gefesselten Hände zuckten nutzlos auf seinem Rü-<br />

cken und er spürte Wasser über sich zusammenschlagen. Unwillkürlich riss er den Mund auf<br />

und Wasser drang ihm in die Kehle. In Todesangst zappelte er mit den Füßen, doch ohne die<br />

Hände benutzen zu können, war er hilflos. Unerwartet waren Hände da, die ihn griffen und<br />

hoch zogen. Sein Kopf durchstieß die Wasseroberfläche und er hustete und keuchte nach Luft.<br />

Fest und sicher hielt Carrie ihn in den Armen und sagte leise:<br />

„Ganz ruhig. Ich passe auf, dass dir nichts passiert.“<br />

178


Er kam zu Atem und schloss ergeben die Augen. Und ließ sich komplett fallen. Carrie<br />

spürte, dass er in ihren Armen regelrecht schlaff wurde und hielt ihn sicher fest. Sie drehte<br />

sich auf den Rücken und zog Shawn mit sich, hielt ihn in den Armen, achtete peinlich darauf,<br />

dass sein Kopf über Wasser blieb und so schwamm sie langsam in Rückenlage dem Strand<br />

entgegen. Shawn hatte die Augen geschlossen. Er spürte ihren herrlichen Körper an seinen<br />

gedrückt, wusste, dass sein Überleben in Carries Hand lag und verspürte keine Angst mehr.<br />

So hilflos er war, mit den gefesselten Händen würde er sich nicht an der Wasseroberfläche<br />

halten können, so sicher fühlte er sich in ihren Armen. Sein Leben lag in ihrer Hand. Er gab<br />

sich in diesem Moment auf, überließ es Carrie, zu entscheiden, ob er Leben oder Sterben<br />

würde. Sie hielt in den Schwimmbewegungen inne und sagte zu ihm:<br />

„Hol tief Luft, okay, und ich werde dir etwas zeigen.“<br />

Tief atmete er zwei, drei Mal ein und aus, holte ein weiteres Mal tief Luft und hielt diese<br />

an. Er spürte, wie Carrie die Luft anhielt. Sie ließ sich, ihn fest in den Armen haltend, lang-<br />

sam sinken. Das Wasser schlug erneut über seinem Kopf zusammen, aber er blieb ruhig. Er<br />

ließ die Augen geöffnet und schließlich spürte er Grund unter seinen Füßen. Carrie hielt ihn<br />

sicher fest. Sie deutete an seinem Kopf vorbei in Richtung offenes Meer. Überrascht sah er<br />

einen dunklen Schatten auf sie zukommen. Er riss die Augen auf! Ein kleiner, vielleicht 2 Me-<br />

ter langer Riffhai kam gemächlich auf sie zu geschwommen.<br />

Kurz spürte Shawn Panik in sich aufsteigen, doch er merkte, dass Carrie absolut ent-<br />

spannt blieb. So kämpfte er seine eigene Panik nieder und überließ sich ihren Entscheidun-<br />

gen. Wäre es nicht sicher gewesen, so hätte sie diese Aktion nicht riskiert. So lange wie mög-<br />

lich hielten sie beide die Luft an, dann tauchte Carrie, Shawn sicher in ihren Armen haltend,<br />

auf. Als sie an der Wasseroberfläche waren, lachte Carrie begeistert.<br />

„War er nicht wunderschön?“, keuchte sie atemlos.<br />

Shawn nickte. „Ja, das war er.“<br />

„Wollen wir noch mal?“, fragte sie aufgeregt und er nickte.<br />

„Ja ...“<br />

Sie holten tief Luft und ließen sich erneut hinab gleiten in die Tiefe. Der Hai war noch da,<br />

kam deutlich näher und Shawn verspürte leichtes Unbehagen. Noch näher kam der Raubfisch<br />

und Shawn verkrampfte sich. Dazu hatte er jedoch keinen Grund. Carrie beobachtete den<br />

Räuber entspannt. Unmittelbar vor ihnen drehte das Tier sich schwungvoll herum und ver-<br />

schwand so schnell, wie es auf sie zu geschossen war. Erneut tauchte Carrie mit Shawn auf.<br />

Sie paddelte an Land zurück. Als sie im seichten Wasser standen und sich zum Strand hinauf<br />

bewegten, erklärte Carrie:<br />

„Ich habe sie einige Male gefüttert, darum kommen sie gucken, wenn ich im Wasser bin.“<br />

Sie löste Shawns Handfesseln und zusammen kehrten sie auf die Decke zurück. Carrie sah<br />

Shawn an.<br />

179


„Du hast dich fallen lassen. Das hatte ich nicht erwartet. Du hast dein Leben in meine<br />

Hände gelegt.“<br />

Shawn nickte langsam. Leise sagte er: „Ich weiß, dass du mich Quälen wirst, mir<br />

schrecklich wehtun wirst. Aber ich weiß auch, dass du nicht zulassen wirst, dass mir etwas<br />

geschieht. Ich ... Es ist komisch, aber es ist ... ein gutes Gefühl, mich aufzugeben, mich in dei-<br />

ne Hände zu legen.“<br />

Carrie war nicht weiter erstaunt, dass er es so sah. Das hatte sie mit ihren geschickten<br />

Aktionen erreichen wollen. Sie war zufrieden. Er war in die aufgestellte Falle getappt und<br />

steckte rettungslos in dieser fest. Sie war eine Meisterin der Manipulation und hatte es bei<br />

dem jungen, hilflosen Mann in Rekordzeit geschafft, ihm das Gefühl zu geben, sie wäre trotz<br />

allem sein einziger Schutz. Innerlich grinste sie. Er war ihr mit Haut und Haaren verfallen,<br />

war sie doch sein einziger Rettungsanker. Er merkte nicht, dass sie das hatte erreichen wol-<br />

len. Spontan entschloss sie sich, ihn zu Belohnen. Sie griff nach seinen Handgelenken und<br />

hakte diese zusammen. Dann drückte sie seine Arme in die Höhe und in seinen Nacken. Dort<br />

war am Halsband ebenfalls ein Haken befestigt, den sie in die Handfesseln einklinkte. Auf<br />

diese Weise waren Shawns Hände hinter seinem Nacken fixiert. Ruhig sagte sie:<br />

„Leg dich hin.“<br />

Sofort ließ Shawn sich zurücksinken. Er lag mit dem Kopf auf seinen Händen. Sie klickte<br />

die Haken an seinen Fußgelenken zusammen. Anschließend setzte sie sich auf seine Ober-<br />

schenkel und begann sanft, ihre Hände über seinen Oberkörper gleiten zu lassen. Zärtlich<br />

streichelte sie ihn und stimulierte seine Brustwarzen. Fast sofort spürte sie, wie sein Glied<br />

steif wurde. Sie bearbeitete ihn viele Minuten, bis er das Gefühl hatte, jeden Moment loszu-<br />

schreien, wenn sie sich nicht endlich um seinen Penis kümmern würde. Er lag leise stöhnend<br />

und sich vor Erregung windend vor ihr und sie genoss es, ihn berühren zu können, ohne be-<br />

rührt zu werden. Langsam rutschten ihre Hände tiefer und tiefer und er hielt vor Erwartung<br />

die Luft an. Endlich erreichte sie sein erigiertes Glied und er konnte einen leisen Lustlaut<br />

nicht unterdrücken, als ihre zarten Finger sich fordernd um es schlossen. Dass die Narbe der<br />

Beschneidung noch ziepte, förderte seine Erregung nur. Sie bewegte die Hand langsam und<br />

sinnlich auf und ab und er zuckte vor Geilheit. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie hob<br />

ihren Körper kurz an, ließ sich auf ihn sinken und nahm ihn in sich auf. Er drückte keuchend<br />

seinen Unterleib in die Höhe und atmete heftig. Langsam fing sie an, sich auf ihm zu bewe-<br />

gen. Sie befahl ihm:<br />

„Rühr dich nicht!“, und er zwang sich, stillzuliegen, obwohl alles in ihm danach schrie,<br />

sich ihr entgegen zu heben. Sein Penis pulsierte! Und endlich wurde sie schneller und<br />

schwungvoll und Shawn keuchte laut auf, als sie durch ihre Bewegungen Schmerzen an der<br />

Narbe verursachte. Schließlich fühlte er den Orgasmus kommen, wild, mitreißend, explosi-<br />

onsartig! Carrie kam ebenfalls zu ihrem Recht. Sie keuchte so heftig wie ihr Sklave und kam<br />

180


fast zeitgleich mit ihm zum Höhepunkt. Einige Zeit blieb sie noch so auf ihm sitzen, dann ließ<br />

sie sich langsam nach vorne auf seine Brust sinken und blieb in der Haltung liegen.<br />

*****<br />

Shawn seufzte verzweifelt auf. „So viel zum Thema Vertrauen.“, meinte er leise. „Das<br />

zeugt nicht gerade von meiner Fachkenntnis, oder?“<br />

Kelly hatte überrascht reagiert, als Shawn von sich aus anfing zu Reden. Sie war angewi-<br />

dert fasziniert, wie geschickt diese Carrie war. Sie hatte Shawn derart gekonnt manipuliert,<br />

dass Kelly langsam der Gedanke kam, Carrie könnte Psychologie studiert haben. Shawn<br />

hockte neben ihr wie ein Häufchen Unglück und sie schob den Gedanken an Carrie erst ein-<br />

mal fort. Stattdessen wandte sie sich Shawn zu.<br />

„Shawn, ich wäre ohne mein psychologisches Fachwissen ebenfalls mit fliegenden Fahnen<br />

auf Carrie herein gefallen. Jeder wäre das, du bildest da keine unrühmliche Ausnahme, okay?<br />

Ich bin hundertprozentig überzeugt, dass du nicht ihr erstes Opfer warst. Alles, was du bisher<br />

erzählt hast, macht mir klar, dass diese Frau genug Versuchsobjekte hatte, um ihre Taktik zu<br />

perfektionieren. In der Situation dort, auf einer Insel, weit weg von jeder Hoffnung, hattest du<br />

nicht die geringste Chance, anders als mit Vertrauen und Hingabe auf Carrie zu reagieren. Sie<br />

war das einzige menschliche Wesen dort, das dir Halt und Hilfe gab. Jeder, der in der selben<br />

Situation stecken würde, wäre auf sie hereingefallen. Ich möchte wetten, sie hat etwas mit<br />

Psychologie studiert. Kein abgeschlossenes Studium vielleicht, aber sie hat ein fundiertes<br />

Fachwissen. Shawn, ein gut geschulter Psychologe könnte dich in einer solchen Situation zu<br />

allem bringen, glaube mir das bitte.“<br />

Unglücklich seufzte Shawn auf. „Ich habe sie angebettelt! Ich kann es nicht fassen. Ich<br />

habe vor ihr auf den Knien gelegen und sie angefleht, mich nicht allein zu lassen. Angefleht!<br />

Sie hat mich schlimmer gedemütigt als ich es für möglich gehalten hätte und dann habe ich<br />

elender Feigling sie noch angebettelt!“ Shawn kullerten Tränen über die Wangen und er<br />

wischte sie ärgerlich weg.<br />

Kelly legte tröstend den Arm um ihn, doch diesmal schüttelte er sie ab und sprang auf.<br />

Hastig ging er einige Schritte und sank schluchzend auf die Knie. Kelly war erschrocken über<br />

seinen heftigen Ausbruch und wollte ihm spontan nacheilen. Sie entschied sich dagegen, blieb<br />

erst einmal sitzen. Er wollte für sich sein und sie war bereit, das zu akzeptieren. So wartete sie<br />

ruhig, dass er sich fing. Sie behielt den jungen Mann genau im Auge. Er hockte dort mindes-<br />

tens zehn Minuten auf den Knien im Staub. Schließlich wurde sein Schluchzen leiser und er-<br />

starb endlich. Zusammengesunken kniete er am Boden und erst jetzt erhob Kelly sich. Lang-<br />

sam ging sie zu ihm hinüber. Als sie neben ihm stand fragte sie ruhig:<br />

„Geht es wieder?“<br />

181


Erschöpft sah Shawn aus seiner knienden Position zu ihr auf. Seine Augen waren gerötet<br />

und auf seinen Wangen waren noch Tränenspuren zu sehen. Müde nickte er. Kelly lächelte<br />

und reichte ihm die Hände. Zaghaft griff er nach diesen und ließ sich auf die Füße ziehen.<br />

Dann stand er wie ein geprügelter Hund vor der Therapeutin und wusste nicht, wohin er gu-<br />

cken sollte. In seinen Augen flackerte nackte Angst! Als er das letzte Mal jemanden abge-<br />

wehrt hatte, der ihm hatte helfen wollen, hatte er es mehr als bitter bereut. Kelly merkte, wie<br />

verlegen und verängstigt er war und sagte sanft:<br />

„Ist alles in Ordnung, geht es?“<br />

Mit dünner Stimme fragte Shawn: „Du bist ... nicht wütend?“<br />

„Warum sollte ich denn wütend sein?“<br />

„Weil ... Ich hab ... dich abgewiesen ...“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, Schätzchen, ich bin dir nicht böse.“<br />

Shawn schossen vor Erleichterung neue Tränen in die Augen. „Ich hatte Angst, dass du<br />

sauer bist.“<br />

Kelly zog den jungen Mann an sich und diesmal ließ er sich die Umarmung gefallen. Un-<br />

endlich erleichtert genoss er es, in ihren Armen gehalten zu werden. Viele Minuten standen<br />

die beiden Menschen in der sie umgebenden Einsamkeit still da, eng aneinander geschmiegt,<br />

bis sie das leise Brummen eines sich nähernden Wagens hörten. Kelly meinte leicht genervt:<br />

„Oh, da kommt der erste Besucher. Komm, lass uns zum Wagen gehen, okay?“<br />

Shawn hatte enttäuscht die Augen geschlossen, als er das sich nähernde Motorengeräusch<br />

gehört hatte. Er wäre am liebsten bis in alle Ewigkeit so stehen geblieben. Leise seufzte er auf<br />

und nickte. Keiner der Beiden brachte es fertig, den anderen loszulassen und so marschierten<br />

sie Arm in Arm zu ihrem Lager zurück. Schweigend, nur die Nähe des anderen genießend.<br />

Beide wussten, dass dieses Wohlgefühl falsch war, inakzeptabel, und doch genossen sie es.<br />

Als sie schließlich an ihrem Wagen standen, fiel es ihnen schwer, sich voneinander zu lösen.<br />

Mühsam rissen sie sich voneinander los und Kelly fragte ablenkend:<br />

„Magst du noch Kaffee?“<br />

Shawn nickte und Kelly machte noch einmal zwei Tassen fertig. Schweigend hockten sie<br />

nebeneinander am verlöschenden Lagerfeuer und hingen ihren Gedanken nach. Shawn ver-<br />

fluchte die Gefühle, die er für Kelly entwickelte. - Du dämlicher Idiot bist nicht verliebt, du<br />

empfindest bloß Dankbarkeit! Schlag dir den Gedanken bloß schnell aus dem Kopf! – Doch<br />

egal, wie sehr er mit sich haderte, die Gefühle, die er für Kelly entwickelte, gingen weit über<br />

bloße Dankbarkeit hinaus. Innerlich seufzte er verzweifelt auf. Kelly durfte auf keinem Fall<br />

merken, was er für sie empfand. Er würde gegen diese Gefühle an kämpfen. Das durfte ihm<br />

nicht passieren. Er hatte wahrlich genug Probleme, da durfte er sich unter gar keinen Umstän-<br />

den noch ein weiteres auf den Hals holen!<br />

182


Kelly war verwirrt und betroffen. Sie spürte, dass ihre Gefühle für Shawn das Maß des<br />

Arzt/Patient Verhältnisses überschritten hatten. Das durfte sie unter gar keinen Umständen<br />

zulassen! Wenn sie sich in Shawn verliebte, müsste sie ihn aufgeben und an einen Kollegen<br />

weiter geben. Denn dann wäre sie nicht mehr in der Lage, ihn so zu Betreuen, wie es nötig<br />

war. Sie musste diese Gefühle energisch bekämpfen. Er verdiente es, dass sie sich weiter pro-<br />

fessionell um ihn bemühte, da durften ihr diese Gefühle auf gar keinem Fall in die Quere<br />

kommen. Wütend biss sie sich auf die Lippe. Nein! Sie würde es nicht so weit kommen las-<br />

sen. Er war ein Patient wie jeder andere, den sie betreut hatte. Das fehlte noch, dass sie, Kelly<br />

Jackson, anfing, sich unprofessionell zu verhalten.<br />

„Wollen wir uns auf den Weg machen, bevor es zu heiß wird?“, fragte sie energisch. Dass<br />

sie noch gar kein Frühstück gehabt hatten, vergaß Kelly. Aber sie hatte ohnehin keinen Appe-<br />

tit und Shawn schien es ähnlich zu gehen, denn er nickte hastig.<br />

„Ja, gute Idee.“ Er sprang eilig auf die Füße und Kelly erhob sich ebenfalls. Sie verschloss<br />

das Auto, dann fragte sie:<br />

„Hast du deinen Fotoapparat?“ Shawn nickte. „Gut, lass uns mal sehen, was der Krater zu<br />

bieten hat.“ Sie marschierten schweigend los und hielten sich auf den vorgegebenen Wegen.<br />

Die Bäume, die im Krater wuchsen, boten Schutz vor der Sonne und sie versuchten, sich so<br />

viel wie möglich in deren Schatten aufzuhalten. Durch die Felswände, die den Krater um-<br />

schlossen, wurde es beständig heißer. Shawn blieb alle paar Meter stehen und wischte sich<br />

den Schweiß von der Stirn. Langsam tauchten andere Besucher auf, die sich hier umsahen.<br />

„Wie muss es hier nach dem Einschlag ausgesehen haben ...“, überlegte Shawn, als sie<br />

sich schließlich auf den Rückweg zum Wagen machten. „Ein solcher Einschlag wird wohl für<br />

die Ausrottung der Dinosaurier verantwortlich sein. Ob es dieser war oder ein anderer von<br />

ähnlichen oder noch größeren Ausmaßen wird wohl nie geklärt werden können.“<br />

Als sie gegen 11 Uhr bei ihren Wagen ankamen, herrschte noch weitgehend verlegenes<br />

Schweigen zwischen Shawn und Kelly. Beide versuchten, sich nichts anmerken zu lassen,<br />

doch das gelang nur mäßig. Shawn hielt kurz seinen Kopf unter den Duschsack, dann fragte<br />

er:<br />

„Wo geht es von hier aus hin?“<br />

„Wir werden uns auf den Highway klemmen und zum Glen Helen Resort fahren. Das ist<br />

nordöstlich von hier, zirka 50 Kilometer. Ich hoffe, wir bekommen dort ein Zimmer. Mal ein<br />

Bett wäre nett, oder was meinst du?“<br />

Shawn grinste. „Ach, ich habe mich so an meinen Schlafsack gewöhnt ... Aber da wird es<br />

sicher ein Restaurant geben, oder?“<br />

Kelly lachte. „Kann es sein, Mister, dass du ziemlich magenbezogen denkst?“<br />

Unschuldig grinsend schüttelte Shawn den Kopf. „Nein, wie kommst du nur auf solche<br />

Ideen? Ich liebe Dosenfutter.“<br />

183


Kelly lachte auf. „Du lügst! Dir läuft der Sabber aus dem Mund!“ Dieses kleine Streitge-<br />

spräch hatte die Verlegenheit, die seit dem Morgen zwischen ihnen geherrscht hatte, ge-<br />

sprengt. Deutlich entspannter stiegen sie ins Auto, Shawn setzte sich hinters Steuer und Kelly<br />

erklärte ihm:<br />

„Du folgst der Straße. Später kommt eine Kreuzung, da müssen wir dann nach links ab-<br />

biegen.“<br />

„Straße ...“, meinte Shawn ironisch und warf den Wagen an. Er fuhr los und hinter ihnen<br />

wirbelte der rote Staub durch die Luft. Da sie an diesem Morgen den ankommenden Touristen<br />

entgegen fuhren, mussten sie immer wieder die Belüftung ausschalten, um nicht den von den<br />

entgegenkommenden Fahrzeugen aufgewirbelten Staub in den Wagen zu bekommen. Ab und<br />

zu betätigte Shawn den Scheibenwischer, um die Staubschicht von der Windschutzscheibe zu<br />

fegen.<br />

15) Ein schöner Abend<br />

Finde einen Ort in deinem Inneren, an dem es Freude gibt, und diese Freude<br />

wird den Schmerz verbrennen.<br />

Joseph Campbell<br />

Unterwegs fragte Shawn schüchtern: „Sag mal, abgesehen von ... naja, davon, dass sich<br />

mein Sexualverhalten möglicherweise ändern wird ... Ich weiß nicht gerade viel über PTSD,<br />

man hörte nach dem 11.September und nach dem Golfkrieg einiges darüber, aber ich habe<br />

mich nie weiter damit beschäftigt. Ich ... Das ist es wohl, was bei mir ... was ich habe, oder?“<br />

Kelly nickte. „Ja, das ist es. Ich erkläre dir das PTSD gerne, aber nicht während der Fahrt,<br />

okay? Wir haben gleich die Kreuzung erreicht und von dort sind es nur noch knappe 15 Ki-<br />

lometer bis zum Resort. Es ist noch früh, wir werden uns Badezeug schnappen und uns an den<br />

See setzen. Da erkläre ich dir gerne, was es mit dem Syndrom auf sich hat.“<br />

Shawn nickte zustimmend. „Gut, ist besser, das in aller Ruhe zu machen. See? Da gibt es<br />

Wasser? Zum Schwimmen?“<br />

Kelly schmunzelte. „Ja, richtiges Wasser, zum Schwimmen. Es wird dir gefallen.“<br />

Shawn sah sie von der Seite an, dann gab er Gas. Kelly lachte.<br />

Gegen 14.30 Uhr tauchten vor ihnen in der Einöde einige Gebäude auf.<br />

„Da ist es.“, erklärte Kelly zufrieden. Sie fuhren in das Resort hinein und Shawn steuerte<br />

die ausgeschilderte Rezeption an. Minuten später hatten sie ein Zimmer. Es waren nur wenige<br />

andere Gäste im Resort, wie ihnen der Besitzer mitteilte. Er erklärte den Beiden, dass am<br />

Abend eine kleine Tanzveranstaltung war, vorher wurde ein Barbie geboten. Verständnislos<br />

sah Shawn Kelly an, als sie draußen beim Auto standen.<br />

184


„Barbie?“<br />

Kelly lachte schallend los. „Barbecue. Grillen, mein süßer Ami.“<br />

Shawn wurde rot. „Ich habe sowieso nur die Hälfte von dem verstanden, was der Typ da<br />

gerade von sich gegeben hat.“<br />

Kelly lachte noch mehr. „Ja, er ist ein echter Outbackaussie. Er hat erzählt, dass zurzeit<br />

wenig Gäste hier sind, weil keine Urlaubszeit ist. Heute Abend gibt es, abgesehen vom Bar-<br />

bie, noch eine Tanzvorführung einer Gruppe Aborigines und anschließend ist für alle Tanzen<br />

angesagt.“<br />

Shawns Augen leuchteten auf. „Ich würde so gerne mal wieder Tanzen.“ Schlagartig wur-<br />

de er ernst. „Wie lange bin ich bei dir?“<br />

Kelly machte: „Puh!“ Sie überlegte. „Wir sind gute zwei Wochen unterwegs. Vorher wa-<br />

ren wir knappe vier Wochen in Eildon. Raus warst du dort über drei Wochen.“, meinte sie<br />

nach kurzem Nachdenken. Shawn atmete tief durch.<br />

„Dann hast du es in nicht einmal acht Wochen geschafft, dass ich von völliger Apathie<br />

zum Tanzen gehen möchte ...“ Er sagte dies in einem Tonfall, als hätte er ein schlechtes Ge-<br />

wissen. Kelly erklärte ruhig:<br />

„Das ist nichts schlimmes, Shawn. Du tust gerade so, als würdest du es nicht verdienen,<br />

dich auf simples zu freuen wie Tanzen. Wenn es jemand verdient, einmal eine Weile fröhlich<br />

und gut gelaunt zu sein, wohl du!“<br />

Ertappt wurde Shawn erneut rot. „Woher ...?“<br />

Kelly schmunzelte. „Weil ich dich mehr als gut kenne und es deiner Stimme angehört ha-<br />

be, dass du es für unangemessen hältst, dich auf den Tanz zu freuen.“<br />

Shawn schnaufte. „Warum kennen mich die Frauen in der letzten Zeit alle besser als ich<br />

mich selbst?“, fragte er leicht frustriert.<br />

„Weil die letzten beiden Frauen in deinem Leben dich in extrem intensiven Situationen er-<br />

leben. Und jetzt vergiss Carrie für heute, hörst du? Wir spielen heute Abend Urlaub haben,<br />

verstanden? Du wirst dich amüsieren, tanzen, soviel du willst, gegrilltes Fleisch futtern bis dir<br />

schlecht wird und erst morgen an das denken, was dich hierher geführt hat, klar?“<br />

Shawn sah verlegen zu Boden und nickte entschlossen. „Okay, ich werde es versuchen,<br />

das verspreche ich dir.“<br />

Kelly nickte zufrieden. „Wunderbar. Wir werden uns unser Zimmer anschauen und uns<br />

anschließend auf machen zum baden.“ Sie sahen sich suchend um und lasen an einem der<br />

Wohnblocks eine große 4.<br />

„Dort, da müsste unser Zimmer sein.“, meinte Shawn und setzte sich ans Steuer. Er fuhr<br />

den Wagen vor den Block 4, Zimmer 2 und sie stiegen aus. Zusammen schafften sie die<br />

Rucksäcke mit der Kleidung ins Zimmer und waren begeistert.<br />

185


„Was für eine schöne Unterkunft.“, meinte Kelly zufrieden. Shawn warf einen leicht be-<br />

sorgten Blick auf das Bett, dass nur Queensize war. Er würde Kelly somit in der Nacht erheb-<br />

lich näher kommen als ihm im Augenblick lieb war. Er seufzte unhörbar. Seine Gefühle für<br />

die junge Frau waren etwas, was ihm nicht behagte. Er wusste nur nicht, was er machen soll-<br />

te. Fürs Erste schob er den Gedanken energisch von sich. Er wollte Kellys Rat befolgen und<br />

nur diesen Abend genießen.<br />

„Wie war das mit dem See?“, fragte er Kelly und diese nickte.<br />

„Ja, wir suchen unsere dreckigen Sachen heraus, stopfen sie in die Waschmaschine und<br />

gehen anschließend zum See hinunter.“ Sie begann, ihren Rucksack auszuleeren und Minuten<br />

später waren sie mit ihrer dreckigen Wäsche und einer kleinen Tasche mit Badesachen auf<br />

dem Weg. In der Waschküche war nichts los und so konnten sie ihre Wäsche sofort anstellen.<br />

Als die Maschine lief, führte Kelly Shawn in westlicher Richtung aus dem Resort und wenige<br />

Minuten später standen sie an einem wunderschönen kleinen See. Da es noch sehr heiß war<br />

zögerten Shawn und Kelly keine Sekunde. Blitzschnell waren sie ausgekleidet und schlüpften<br />

in ihre Badesachen. Sie stürzten sich lachend in das erstaunlich kühle Wasser. Sie schwam-<br />

men eine ganze Weile in dem klaren Wasser, bis beide das Gefühl hatten, genug abgekühlt zu<br />

sein. Dann verließen sie den kleinen See und setzten sich in den Schatten der Felswand, die zu<br />

ihrer Linken aufragte.<br />

Nun fragte Kelly: „Was möchtest du über PTSD wissen?“<br />

Shawn sah auf das Wasser hinaus und erklärte leise: „Was es bedeutet.“<br />

Kelly nickte verstehend. Sie überlegte kurz, um Shawn keinen Fremdwörterkauderwelsch,<br />

mit dem er nichts anfangen konnte, um die Ohren zu hauen. Dann fing sie langsam an.<br />

„Die posttraumatische Belastungsstörung ist simpel ausgedrückt eine verzögerte Reaktion<br />

des Geistes auf ein belastendes Ereignis. Dazu zählen auch Situationen mit außergewöhnli-<br />

chen Bedrohungen oder katastrophenartigen Ausmaßen. Unter der Bezeichnung PTSD wer-<br />

den psychische und psychosomatische Symptome zusammengefasst, die als Langzeitfolgen<br />

eines Traumas auftreten können. Schwere, Zeitpunkt und vor allem Dauer der Traumatisie-<br />

rung haben erhebliche Auswirkungen auf das Ausmaß und die Schwere der Störungen. Durch<br />

eine frühzeitige psychotherapeutische Behandlung kann man einer PTSD gut entgegen wir-<br />

ken.“ Sie machte eine Pause und sah Shawn fragend an. Der nickte.<br />

„Alles verstanden bisher.“, erklärte er.<br />

Kelly fuhr also fort: „Bekannte und besonders schwere Formen einer PTSD sind zum Bei-<br />

spiel das sogenannte KZ-Syndrom bei Überlebenden des sowjetischen Gulag-Systems oder<br />

des Holocaust. Eine weitere schwere Form ist das in den Vereinigten Staaten bekannte Post<br />

Vietnam Syndrome. Während des Ersten Weltkriegs sprach man von der bomb-shell disease.<br />

In jüngster Zeit wurden weitere Unterformen der PTSD anerkannt. Dazu gehört etwa das Post<br />

186


Cult Syndrome, das bei Menschen auftritt, die einen sektenähnlichen religiösen Kult verlassen<br />

haben.“<br />

her?“<br />

Erneut machte Kelly eine Pause, trank einen Schluck Wasser und fragte: „Alles klar bis-<br />

Shawn nickte. „Ja, du erklärst es gut.“<br />

So fuhr die junge Therapeutin fort. „Die Symptome der PTSD gibt es schon so lange es<br />

die Menschheit gibt. Man findet sie schon in historischen Berichten, zum Beispiel im Tage-<br />

buch von Samuel Pepys, der 1666 das große Feuer von London 10 miterlebte. Monate nach der<br />

Katastrophe schrieb er in sein Tagebuch: Wie merkwürdig, dass ich bis zum heutigen Tag kei-<br />

ne Nacht schlafen kann, ohne von großer Angst vor dem Feuer erfasst zu werden; und in die-<br />

ser Nacht lag ich bis fast zwei Uhr morgens wach, weil mich die Gedanken an das Feuer<br />

nicht losließen. In der Medizin findet die PTSD erst in jüngster Zeit ernsthafte Beachtung.<br />

Ende des 19en Jahrhunderts formte der deutsche Psychiater Emil Kraepelin den Begriff<br />

Schreckneurose. Er wollte mit diesem Ausdruck die Symptome beschreiben, die sich bei Op-<br />

fern von Feuersbrünsten, schweren Unfällen oder Naturkatastrophen zeigen.“<br />

„Dann wird es noch nicht lange als echte Erkrankung anerkannt, was?“, meinte Shawn<br />

überlegend.<br />

„Nein, obwohl es so lange bekannt ist. Die posttraumatische Belastungsstörung wird durch<br />

ein oder auch mehrere traumatische Erlebnisse ausgelöst. Dazu zählen zum Beispiel Kriegser-<br />

fahrungen, Vergewaltigung, Folter, sexueller Missbrauch oder Gewalterfahrungen in der<br />

Kindheit, terroristische Anschläge, schwere Unfälle, Naturkatastrophen, Stalking und Miter-<br />

leben von Verbrechen wie zum Beispiel Amokläufen. Das traumatisierende Ereignis löst To-<br />

desangst, Entsetzen, einen Schock oder Gefühle von Hilflosigkeit aus. Eine posttraumatische<br />

Belastungsstörung stellt einen Versuch des Organismus dar, eine mögliche Existenzbedro-<br />

hung zu überstehen. Es handelt sich eigentlich gar nicht um eine Störung beziehungsweise<br />

Fehlfunktion, sondern um eine gesunde und zweckdienliche Reaktion des Körpers auf das<br />

Gewaltereignis. Neurowissenschaftler der Universität Utrecht konnten zum Beispiel nachwei-<br />

sen, dass PTSD-Patienten deutlich schwächer auf physischen Schmerz reagierten.“<br />

„Toll.“, meinte Shawn resigniert. „Vielleicht hätte ich die Störung dort entwickeln sollen,<br />

dann wären mir einige Schmerzen erspart geblieben.“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, nicht erspart, du hättest sie bestenfalls als nicht so<br />

schlimm empfunden. So, weiter. Ich sagte, es handle sich um eine gesunde und zweckdienli-<br />

che Reaktion des Körpers auf das Gewaltereignis. Sie ist in der jeweiligen Gefahrensituation<br />

10 Der Große Brand von London war eine Feuersbrunst, die vom 2. bis 5. September 1666 vier Fünftel der City of London, darunter die<br />

meisten mittelalterlichen Bauten, zerstörte, etwa 100.000 Einwohner obdachlos machte, aber nach offiziellen Zahlen nur neun Personen das<br />

Leben kostete.<br />

187


durchaus angemessen. Erst, wenn die körperlichen Reaktionen anhalten, obwohl das Ereignis<br />

längst vorbei ist, wird es krankhaft. Merkmale für PTSD sind das wiederholte Erleben des<br />

Traumas in Erinnerungen, sogenannte Nachhallerinnerungen oder Flashbacks, Träume oder<br />

Albträume, die mit dem Gefühl von betäubt sein und emotionaler Stumpfheit auftreten. In<br />

Studien hat man Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit gegen-<br />

über der Umgebung, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die<br />

Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten, festgestellt. Oft tritt ein Zustand von Über-<br />

erregtheit mit extremer Wachsamkeitssteigerung, eine übermäßige Schreckhaftigkeit und<br />

Schlafstörungen auf. Mit den genannten Symptomen und Merkmalen sind häufig Angst und<br />

Depressionen assoziiert und Suizidgedanken kommen ebenfalls oft vor. Der Verlauf ist unter-<br />

schiedlich, in der Mehrzahl der Fälle werden die Patienten vollkommen gesund. In seltenen<br />

Fällen nimmt die Störung einen chronischen Verlauf und geht in die andauernde Persönlich-<br />

keitsänderung nach Extrembelastung über.“<br />

Shawn nickte langsam. „Ja, bei vielem kann ich nur zustimmen. Obwohl ich nicht glaube,<br />

dass ich gleichgültig gegenüber anderen geworden bin oder ...“<br />

Kelly unterbrach ihn sanft. „Shawn, du musst nicht zwangsläufig alle Symptome entwi-<br />

ckeln, okay? Das tut kaum ein Betroffener. Einige dieser Symptome wirst du bei jedem Be-<br />

troffenen finden, viele, um genau zu sein, aber nie alle. Und in den ersten vier, fünf Wochen<br />

warst du von den meisten Symptomen betroffen.“<br />

„Stimmt, da war mir alles gleichgültig. Ich mir selbst, andere, alles.“<br />

Kelly nickte. „Ja. Du hast das große Glück gehabt, dass Lauren mich sofort in Erwägung<br />

gezogen hat, dir zu helfen. Je schneller mit einer Therapie begonnen wird desto besser für den<br />

Erfolg derselben. Es gibt einige diagnostische Voraussetzungen für ein PTSD, die erfüllt wer-<br />

den müssen. Dazu gehören eine Konfrontation mit einem traumatischen Ereignis und zwar<br />

eine Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, oder eine ernsthafter Verletzung,<br />

oder eine echte Gefahr für eigene oder fremde körperliche Unversehrtheit. Das nennt sich<br />

objektive Bedrohung. Darauf folgt eine Reaktion des Betroffenen, wie intensive Furcht, Hilf-<br />

losigkeit oder Entsetzen, was dann subjektive Bedrohung ist. Als ein schweres Symptom<br />

kommt es zum Wiedererleben des Ereignisses in Form von wiederkehrenden und eindringli-<br />

chen Erinnerungen wie Bildern, Gedanken, Wahrnehmungen, Träumen. Es kann zu einem<br />

Handeln oder Fühlen, als ob das Ereignis wiederkehrt, kommen.“<br />

Kelly trank erneut einen Schluck Wasser, dann erklärte sie weiter. „Trauma-Überlebende<br />

berichten von sprachlosem Entsetzen, das sie überkommt, wenn sie sich an das Trauma zu-<br />

rückerinnern. Sie sind oft nicht fähig auszudrücken, wie sie über die Ereignisse fühlen oder<br />

denken, und sind häufig nicht fähig, das Trauma in Worte zu fassen. Dadurch wird die Verar-<br />

188


eitung des Geschehenen deutlich erschwert. Das ist der Grund, warum ich dich dazu anhalte,<br />

über deine Gefühle zu sprechen, verstehst du das jetzt?“<br />

Shawn nickte. „Ja, jetzt kapiere ich ...“<br />

Kelly lächelte sanft. „Du siehst, es hat alles seinen Grund. Laut Abraham Maslow, einem<br />

amerikanischen Psychologen und wichtigem Gründervater der humanistischen Psychologie,<br />

gehört das Bedürfnis nach Sicherheit zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Wir ziehen<br />

eine sichere, berechenbare, kontrollierbare Umgebung einer Umgebung vor, die gefahrvoll,<br />

unkontrollierbar und wenig berechenbar ist. Normalerweise lernt ein Mensch im Laufe seiner<br />

Kindheit und Jugend, dass sein Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz vor Gefahren befriedigt<br />

wird. Eine Ausnahme bilden hier Kinder, die von ihren Eltern vernachlässigt wurden, auch<br />

emotional, die misshandelt oder missbraucht wurden. Natürlich auch Kinder, die in Kriegsge-<br />

bieten aufwachsen und oder in ähnlichen Ausnahmesituationen. Ein Mensch, dessen Sicher-<br />

heitsbedürfnisse befriedigt wurden, kommt zu der Grundeinstellung, dass die Welt ein siche-<br />

rer Platz ist, die meisten Leute freundlich und wohlwollend sind. Viele glauben, dass die Din-<br />

ge, die auf der Welt passieren, aus bestimmten Gründen geschehen. Dass das menschliche<br />

Leben eine Bedeutung hat. Und dass guten Menschen gute Dinge passieren. Nach einem<br />

Trauma geraten diese Grundüberzeugungen oft schwer ins Wanken. Die Welt erscheint trau-<br />

matisierten Menschen plötzlich feindselig, unberechenbar und chaotisch. Die Überzeugung,<br />

dass die Welt zuverlässig ist, geht verloren. Symptome wie die, die ich dir beschrieben habe,<br />

können direkt nach dem Trauma, doch auch mit Verzögerung von Jahren oder sogar Jahr-<br />

zehnten auftreten. Viele Menschen haben nach einem Trauma große Schwierigkeiten, ihr frü-<br />

heres Leben wieder aufzunehmen. Es gibt Statistiken, die besagen, dass jeder vierte Obdach-<br />

lose in den USA Veteran eines Krieges ist. Angaben des Ministeriums für Veteranenangele-<br />

genheiten machen deutlich, dass fast 200 Tausend Ex-Soldaten ohne feste Bleibe sind. Ein<br />

Großteil davon sind Vietnamveteranen. Doch es gibt leider auch zunehmend arbeits- und ob-<br />

dachlose Irakveteranen. Traumatisierte Menschen befinden sich ständig in einer Alarmstim-<br />

mung. Kleinigkeiten, die an das Trauma erinnern, wie zum Beispiel sexuelle Schlüsselreize,<br />

uniformierte Menschen, Nachrichten, Lärm und Enge, sogenannte Trigger, können körperli-<br />

che Symptome wie Herzrasen, Zittern, Angstschweiß, Atemnot, Übelkeit und Ohnmachtsan-<br />

fälle auslösen. So, nun weißt du alles. Und wir beide werden dein Trauma überwinden und du<br />

wirst als Sieger aus der ganzen Sache hervor gehen!“<br />

Shawn seufzte. „Wenn ich nur so fest daran glauben könnte wie du.“, sagte er leise und<br />

bedrückt. Kelly griff nach seiner linken Hand und drückte diese liebevoll.<br />

„Du hast so große Fortschritte gemacht, in so kurzer Zeit.“<br />

Shawn zog ironisch eine Augenbraue in die Höhe. „Klar, angefangen damit, dass ich nicht<br />

einmal eine Stunde allein sein konnte über die Tatsache, dass ich jede Nacht Albträume habe<br />

bis hin zu der Tatsache, dass ich mir vor Angst in die Hose mache, wenn ich daran denke, mit<br />

189


einer Frau zusammen zu sein.“ Er seufzte. „Von meinen Weinkrämpfen will ich gar nicht<br />

sprechen ...“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Das alles sind nach so kurzer Zeit normale Erscheinungen.<br />

Shawn, du darfst alles, nur nicht ungeduldig werden, okay? So etwas lässt sich nicht erzwin-<br />

gen. Das ist nichts, wo der Therapeut mit den Fingern schnippt und dann ist alles gut. Es ist<br />

so, dass die erfolgversprechendste Therapie die ist, die das Trauma Punkt für Punkt aufarbei-<br />

tet. Bei dir war es eine lange Phase, in der du traumatisiert wurdest, kein kurzes, einschnei-<br />

dendes Erlebnis wie beispielsweise ein Überfall, ein Unfall, eine Naturkatastrophe. Du bist<br />

bei der Aufarbeitung gerade über die Anfänge hinweg. Bitte versuche Geduld zu wahren. Nur<br />

so hast du eine Chance, das alles hinter dir zu lassen.“<br />

Shawn starrte trübsinnig auf den See hinaus. „Ich habe Angst ...“, sagte er leise. Erstaunt<br />

fragte Kelly:<br />

„Wovor?“ Es kostete den jungen Schauspieler alle Kraft, die nächsten Worte auszuspre-<br />

chen. „Ich habe Angst, dass du ... dass du es leid sein wirst ... Dass es dir zu lange dauern<br />

wird ... Dass du mich ...“<br />

Hier unterbrach Kelly ihn energisch. Sie kniete sich vor ihn und packte ihn hart an den<br />

Oberarmen. „Rede keinen solchen Quatsch, Shawn! Wie kommst du nur auf so was? Ich habe<br />

dir ein Versprechen gegeben, vergessen? Ich würde dich ... nein, ich KÖNNTE dich nie im<br />

Stich lassen, verstanden? Und wenn es zehn Jahre dauert, dann dauert es zehn Jahre. Mich<br />

wirst du erst los, wenn ich dir gesagt habe, dass du es überwunden hast. Wenn du noch einmal<br />

eine so dämliche Äußerung von dir gibst, werde ich richtig stinkig, kapiert?“<br />

Shawn war unter Kellys Worten heftig zusammengezuckt. Er zitterte am ganzen Leib und<br />

duckte sich regelrecht zusammen. Seine ganze Körperhaltung machte deutlich, dass er unbe-<br />

wusst auf körperliche Konsequenzen wartete. Sofort taten Kelly ihre harten Worte leid. Sie<br />

schüttelte leicht den Kopf und seufzte. Dann zog sie Shawn in ihre Arme und hielt ihn sanft<br />

fest.<br />

„Ach, Shawn, es tut mir leid, ich wollte dich nicht ängstigen. Es ist alles gut. Ich schwöre<br />

dir, dass ich dich nie im Stich lassen werde, bitte glaube mir das.“ Sie strich Shawn sanft über<br />

den Rücken und spürte, dass er sich langsam entspannte. Dass sie seinen nackten Oberkörper<br />

so eng an ihrem spürte, führte jedoch nicht gerade dazu, dass Kelly sonderlich entspannt war.<br />

Trotzdem ließ sie Shawn erst los, als sie sicher spürte, dass er sich gefangen hatte. Er sah Kel-<br />

ly an und seufzte.<br />

„Ich bin ein Idiot.“<br />

Kelly stieß ein leises Lachen aus. „Ja.“<br />

Shawn verdrehte die Augen und musste selbst grinsen. „Hast Recht.“, meinte er kopf-<br />

schüttelnd.<br />

190


„Und weil ich Recht habe, wirst du mir heute Abend zeigen, was für ein Tänzer du bist.<br />

Zur Strafe!“<br />

*****<br />

Kelly trat unter der Dusche hervor und rubbelte sich trocken. Nach dem langen Gespräch<br />

am Nachmittag waren sie gegen 18 Uhr ins Resort zurückgegangen und hatten ihre fertige<br />

Wäsche in den Trockner geworfen. Anschließend waren sie nacheinander Duschen gegangen<br />

und Shawn hatte sich angezogen. Er hatte, wie Kelly, eine saubere Jeans und ein Jeanshemd<br />

im Rucksack. Als sie angezogen waren fragte die junge Therapeutin:<br />

„Na, bereit für ein gesellschaftliches Großereignis?“<br />

Shawn nickte ernst. „Aber so was von!“ Er reichte Kelly den rechten Arm und fragte:<br />

„Darf ich bitten?“<br />

Gut gelaunt hakte sich Kelly bei ihm ein und so marschierten sie zum Grillplatz hinüber,<br />

der sich langsam füllte. Sie wurden freundlich begrüßt, stellten sich vor und setzten sich an<br />

einen der drei großen Tische. Kelly unterhielt sich mit den Tischnachbarn und erfuhr, dass sie<br />

von einer Farm in der Nähe kamen. Shawn hörte aufmerksam zu, beteiligte sich allerdings<br />

nicht an dem Gespräch. Als Kelly ihm einen fragenden Blick zuwarf, verdrehte er kurz die<br />

Augen. Die junge Frau musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. Shawn verstand<br />

ihre Tischnachbarn nicht! Als das Ehepaar einmal zusammen an den Grill ging, um sich noch<br />

Fleisch zu holen, flüsterte Kelly hastig: „Mach dir nichts draus, viele TV Berichte aus dem<br />

Outback werden hier in Australien untertitelt, weil die Großstadtaustralier ihre eigenen Lands-<br />

leute zum Teil nicht verstehen.“<br />

Shawn grinste erleichtert. „Und ich dachte, es liegt an mir.“<br />

Das Grillfleisch war hervorragend und die Beilagen fanden ebenfalls die volle Zustim-<br />

mung der Gäste. Shawn wurde bei einem Gang an den Grill gefragt:<br />

„Wie ist es, mate, mal vom Barra probieren?“<br />

Hilfe suchend schaute er Kelly an. Sie grinste, dann erwiderte sie:<br />

„Ja, solltest du machen, der Barramundi sieht großartig aus.“<br />

Grinsend und insgeheim den Kopf schüttelnd nahm Shawn von dem herrlichen Speise-<br />

fisch. Als schließlich alle gesättigt waren, trat der Leiter des Ressorts auf eine kleine freie<br />

Fläche am Rande des Grillplatzes und erklärte:<br />

„Leute, ich freu mich, euch Amparralamtua und seine Truppe aus den backblocks präsen-<br />

tieren zu können. Sie werden uns heut Abend Szenen aus der Tjukurrpa zeigen. Ich wünsch<br />

euch viel Spaß!“<br />

Alle Lichter verloschen und dort, wo die ‘Bühne‘ war, ertönte ein Didgeridoo in der Dun-<br />

kelheit. Kelly flüsterte Shawn zu:<br />

191


„Tjukurrpa, das ist die Aborigine Dreamtime, die Schöpfungsgeschichte.“<br />

Shawn nickte verstehend. Dann fragte er leise: „Woher kommen die? Aus den black-<br />

bocks?“<br />

Kelly kicherte haltlos: „Backblocks, die Bezeichnung für das Buschland.“ Shawn verdreh-<br />

te kopfschüttelnd die Augen. Auf der Bühne erschienen dunkle Gestalten, die sich vor dem<br />

Hintergrund der untergehenden Sonne abhoben. Eine Stimme erzählte:<br />

„Wie das Land entstand ... Zu Anbeginn der Zeit gab es nur das große Salzwasser. Aus<br />

den Tiefen stieg Ungud, die Regenbogenschlange, empor. Hoch richtete sie sich auf und warf<br />

ihren Bumerang in einem weiten Bogen über das Meer. Mehrmals berührte der Bumerang auf<br />

seinem Flug die Fläche des Salzwassers und dort schäumte das Wasser auf und glattes, ebenes<br />

Land kam zum Vorschein. Ungud wanderte über dieses neue, weiche Land und legte viele<br />

Eier, aus denen neue Urzeitwesen schlüpften. Es waren die Wondjina und sie verschwanden<br />

in alle Richtungen.“<br />

Shawn spürte vor Ergriffenheit eine Gänsehaut über den Körper kriechen. Die Tänzer<br />

spielten die Schöpfungsgeschichte nach und die anwesenden Zuschauer sahen gefesselt zu.<br />

Nach und nach wurden rund um die Tänzer Lagerfeuer entzündet, die die Szenerie erhell-<br />

ten. Zwanzig Minuten tanzen die Männer, dann verstummte die Musik langsam und die<br />

Stimme erklang erneut.<br />

„Wie Mutter Sonne die Welt zum Leben erweckte ... Einst lagen Finsternis und Stille über<br />

der Erde und nichts regte sich auf ihrer öden Oberfläche. In einer tiefen Höhle unter der Nul-<br />

larbor-Ebene 11 schlief eine wunderschöne Frau, die Sonne. Der mächtige All-Vater weckte sie<br />

sanft und gebot ihr, aus ihrer Höhle zu steigen und die Welt zum Leben zu erwecken. Mutter<br />

Sonne schlug ihre Augen auf und die Finsternis verschwand, als ihr strahlender Blick über die<br />

Erde glitt. Sie holte tief Atem und die Luft veränderte sich und erzitterte, und ein milder Wind<br />

wehte über das Land. Mutter Sonne begab sich auf eine lange Wanderung von Ost nach West<br />

und von Nord nach Süd. Sie wanderte über das öde Land und überall, wo ihre sanften Strah-<br />

len die Erde berührten, kamen Gräser, Büsche und Bäume zum Vorschein, bis das nackte<br />

Land mit einem Pflanzenkleid bedeckt war. In den dunklen Erdlöchern und Erdhöhlen fand<br />

Mutter Sonne Lebewesen, die wie sie dort seit undenklicher Zeit in tiefem Schlaf gelegen<br />

hatten. Sie weckte die Insekten und sandte sie in die Gräser und in die Bäume und Büsche.<br />

Dann weckte sie die Schlangen und Eidechsen und alle anderen Reptilien, und sie krochen aus<br />

ihren Erdlöchern und belebten die Erde. In der Spur der Schlangen bildeten sich Wasserläufe,<br />

in deren Wasser sich die Fische und die anderen Wasserlebewesen verbreiteten. Dann rief die<br />

Sonne die übrigen Tiere ins Leben und sie verteilten sich über die Erde und bevölkerten sie.<br />

Mutter Sonne sprach zu ihnen und erklärte, dass sich die Zeiten des Jahres von kalt in heiß<br />

und von feucht in trocken verändern würden und schuf so die Jahreszeiten. Sie wanderte den<br />

11 Die Nullarbor-Ebene ist mit rund 200.000 Quadratkilometern das größte Kalksteingebiet der Erde. Sie liegt in Südaustralien, direkt an der<br />

großen Australischen Bucht. Der Name Nullarbor leitet sich vom lateinischen nulla arbor, kein Baum, ab.<br />

192


Himmel entlang weit hinüber in den Westen, der Himmel färbte sich rot und die Sonne ver-<br />

schwand aus der Sicht der Tiere. Als sich die Finsternis über die Erde legte, verbreiteten sich<br />

Furcht und Schrecken unter aller Lebewesen, und sie versammelten sich und kauerten sich<br />

eng aneinander in ihrer großen Angst. Doch bald färbte sich der Himmel rot und die Sonne<br />

stieg im Osten wieder in den Himmel auf. Und von nun an schenkte die Sonne täglich den<br />

Lebewesen auf der Erde eine Zeit des Lichtes, in der sie ihren Angelegenheiten nachgehen<br />

konnten, und eine Zeit der Dunkelheit, in der sie sich von den Anstrengungen des hellen Ta-<br />

ges erholen und ausruhen konnten.“<br />

Jetzt folgte die Nacherzählung der Geschichte in Tanz und Musik. Shawn merkte gar<br />

nicht, dass er nach Kellys Hand gegriffen hatte und diese fest in seiner hielt. Er war gefangen<br />

von der schönen Geschichte. Der junge Mann nahm sich fest vor, Kelly zu fragen, ob sie noch<br />

mehr Mythen der Aborigines kannte. Die ungewohnte Musik des Didgeridoos und der ande-<br />

ren seltsamen Instrumente rührte Shawns Herz. Die ganze Atmosphäre, die Dunkelheit des<br />

Outbacks, die Stille um sie herum, die flackernden Lagerfeuer, die dunklen, tanzenden Gestal-<br />

ten, all das jagte Shawn eine wohlige Gänsehaut über den Rücken. Als die letzten Töne ver-<br />

klangen und die Lichterketten Helligkeit spendeten, wachte Shawn wie aus einem schönen<br />

Traum auf. Er klatschte genauso begeistert Beifall wie alle anderen Gäste und erklärte Kelly:<br />

„Das war das Ergreifendste, was ich je gesehen und gehört habe!“<br />

Kelly freute sich, dass es Shawn so gut gefallen hatte. Die Tänzer mischten sich unter die<br />

Gäste und aus Lautsprechern kam Tanzmusik der modernen Art. Shawn zuckte es in den Bei-<br />

nen. Es war Monate her, das letzte Mal an dem Abend, an dem er entführt worden war, dass<br />

er getanzt hatte. Ein Schauer, diesmal eindeutig unangenehmer Natur huschte ihm über den<br />

Körper, als ihm dies einfiel. Schlagartig war sein Tanzbedürfnis wie fortgeblasen. Schwer<br />

atmend stand er da und versuchte, das Zittern seiner Hände zu verbergen. Kelly bekam das<br />

sofort mit.<br />

„Was ist denn?“, fragte sie ihn leise.<br />

„Mir fiel gerade ein, dass ich ... puh, dass ich an dem Abend, als sie mich ... geschnappt<br />

haben, das letzte Mal getanzt habe ...“, erklärte er mit zitternder Stimme.<br />

„Umso mehr ein Grund, Tanzen mit einer positiven Erinnerung zu verbinden.“, meinte<br />

Kelly sanft und nahm ihn an den Händen. Heftig atmend und zögernd folgte er ihr gezwunge-<br />

nermaßen auf die Tanzfläche. Gerade tönten aus den Lautsprechern die ersten Takte des Titels<br />

‘St. Elmos Fire‘ von John Parr. Kelly sah ihn auffordernd an und Shawn schloss kurz die Au-<br />

gen und atmete tief durch. Dann nickte er entschlossen und griff nach Kelly. Die ersten Be-<br />

wegungen waren noch verkrampft, doch als die junge Frau näher an Shawn herantrat, spürte<br />

er, wie die bedrückenden Erinnerungen von ihm abbröckelten und als der Song zu Ende war,<br />

und Whitney Houston mit ‘My name is not Susan‘ gespielt wurde, war er fast entspannt. Er<br />

193


konzentrierte sich auf das wundervolle Gefühl, Kelly in den Armen zu halten. Shawn wurde<br />

langsam sicherer. Der harte Beat des Titels stieg allen Tänzern in die Adern und schließlich<br />

dachte Shawn nicht mehr an den Abend seiner Entführung. Kelly war begeistert, welch her-<br />

vorragender Tänzer Shawn war. Sie blieben noch einige Titel lang auf der Tanzfläche, dann<br />

bat Kelly um eine Pause. Schwitzend kehrten sie an ihren Platz zurück und tranken erst ein-<br />

mal etwas Kaltes. Kurze Zeit später kam einer der Aborigine Tanzgruppe an ihren Tisch und<br />

bat Kelly um einen Tanz. Lachend folgte sie dem jungen Mann auf die Tanzfläche und Shawn<br />

spürte einen schmerzhaften Stich im Herzen, als er sie zwei Tänze lang beobachten musste,<br />

wie sie in den Armen des jungen Aborigines über die Tanzfläche glitt.<br />

Während Kelly mit dem jungen Aborigine tanzte, der sich ihr als Tommy Long vorstellte,<br />

fiel ihr ein, dass Shawn einmal beiläufig erwähnt hatte, dass er für eine seiner Rollen Lamba-<br />

da hatte lernen müssen. Als sie von der Tanzfläche zurückkam, bat sie Tommy, beim DJ an-<br />

zufragen, ob er den Titel auf einer seiner CDs hatte. Ferner sollte er nach dem Titel ‘Time of<br />

my life‘ fragen. Tommy versprach, das zu erledigen. Kelly kehrte an den Tisch zurück und<br />

stutzte, als sie Shawns Gesichtsausdruck sah. Sie tat, als bemerke sie nichts und setzte sich zu<br />

ihm.<br />

„Es ist noch so warm, länger als zwei, drei Titel hält man es nicht aus, ohne etwas zu<br />

Trinken.“, sagte sie unverfänglich. Shawn nickte.<br />

„Ja, es kühlt nicht ab.“, erwiderte er kurz angebunden. Kelly ignorierte seine Einsilbigkeit,<br />

wie sie seinen Blick ignoriert hatte. Sie blieben einige Titel lang am Tisch sitzen, unterhielten<br />

sich und dann strahlte Kelly. Der DJ spielte tatsächlich ‘Lambada‘! Shawn sah erstaunt hoch,<br />

als Kelly auf die Füße sprang und lachend erklärte:<br />

„Arbeit!“<br />

Shawn lachte ebenfalls auf und zog Kelly eilig auf die Tanzfläche, die bei diesem Song<br />

nicht gerade voll war. Anscheinend waren Gäste und Einheimische mit dem Tanz überfordert.<br />

Shawn und Kelly dagegen waren keineswegs überfordert und genossen den erotischen Tanz<br />

bis zum letzten Takt. Shawn war versucht, die Augen zu schließen und den warmen, ge-<br />

schmeidigen Körper, der eng gegen seinen drückte, nie mehr loszulassen. Ihm war klar, dass<br />

das Gefühl irrational war und doch konnte er sich nicht dagegen wehren. Der mitreißende<br />

Rhythmus des Songs fuhr beiden durch den Körper und sie waren begeistert, wie gut der je-<br />

weils andere diesen Tanz beherrschte. Dass sie die einzigen Gäste auf der Tanzfläche waren,<br />

merkten sie nicht. Die anderen Gäste standen um sie herum und klatschten begeistert den Takt<br />

mit. Als die Musik schließlich leiser wurde und verklang, brandete Beifall auf und erst jetzt<br />

wurden sich Kelly und Shawn bewusst, dass sie hier gerade unfreiwillig eine kleine Vorfüh-<br />

rung gegeben hatten. Lachend und verlegen standen sie auf der Tanzfläche und der DJ rettete<br />

sie, indem er ‘Time of my life‘ spielte.<br />

194


Immer wieder tanzten sie im weiteren Verlauf des Abends miteinander. Kelly wurde von<br />

anderen Männern um Tänze gebeten, bei Shawn merkten die anderen Frauen schnell, dass er<br />

nicht bereit war, mit ihnen zu tanzen. Da der so gut aussehende junge Mann keine Anstalten<br />

machte, seinerseits andere anwesende weibliche Gäste zum Tanzen aufzufordern, marschierte<br />

schließlich eine der jungen Frauen zu ihm und fragte:<br />

„Wie sieht es aus, darf ich um den Tanz bitten?“ Shawn spürte sein Herz von einer Sekun-<br />

de auf die andere in der Kehle pochen. Körperkontakt mit Kelly war eine Sache, aber sie war<br />

die einzige, mit der Shawn es ertrug. Er war im Krankenhaus nach seiner Befreiung jedes Mal<br />

in Panik geraten, wenn eine der Schwestern oder ein Arzt ihn berührt hatte und diese Panik<br />

zeigte sich auch hier sofort. Er war sicher, es nicht ertragen zu können, berührt zu werden.<br />

Krampfhaft bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, schüttelte er den Kopf.<br />

„Das ist nett, aber ich würde lieber eine Pause einlegen, ich bin das Klima hier nicht ge-<br />

wohnt.“, stotterte er verlegen. Enttäuscht zog die junge Frau ab. Noch zwei, drei andere ver-<br />

suchten im Verlauf des Abends ihr Glück, wurden aber mit der gleichen Entschuldigung ab-<br />

gespeist. Und schließlich gaben die Frauen ihre Bemühungen auf. Ihnen blieb nichts, als den<br />

attraktiven jungen Mann anzuhimmeln, wenn er mit seiner Begleiterin tanzte.<br />

Gegen drei Uhr morgens fielen Kelly und Shawn schließlich müde, aber glücklich und zu-<br />

frieden ins Bett.<br />

„Du tanzt großartig!“, meinte Kelly begeistert, als sie nebeneinanderlagen. Shawn strahlte.<br />

„Du aber auch. Ich ... Man lernt es während der Schauspielausbildung, weißt du. Und ich<br />

habe freiwillig Zusatzkurse belegt, weil ich leidenschaftlich gerne tanze. Gott, die Rolle John-<br />

ny Castles hätte ich für mein Leben gerne gespielt!“<br />

Da Kelly den Film ‘Dirty Dancing‘ liebte, wusste sie sofort, was Shawn meinte.<br />

„Ich habe, nachdem ich ihn das erste Mal gesehen hatte, da war ich dreizehn oder vier-<br />

zehn, geübt wie blöde, bis ich die Bewegungen beherrschte.“ erklärte sie lachend.<br />

„Ich auch! Ich hatte eine Freundin, mit der habe ich geübt. Meine Eltern haben mich ver-<br />

flucht, weil von morgens bis abends die Musik dudelte.“ Shawn kicherte vergnügt. „Wir hat-<br />

ten ein großes Straßenfest, haben die jeden Sommer gemacht, die Nachbarn. Da haben Jasmin<br />

und ich ein paar der Tänze vorgeführt. Wir haben großen Beifall bekommen und meine Eltern<br />

waren versöhnt.“ Er gähnte herzhaft und seufzte. „Ich bin hundemüde.“<br />

Kelly nickte. „Das bin ich auch. Schlaf gut.“<br />

„Du auch ...“ nuschelte Shawn halb im Schlaf.<br />

16) Atemnot<br />

195


Und schließlich gibt es das älteste und tiefste Verlangen, die große Flucht dem<br />

Tode zu entrinnen.<br />

J.R.R. Tolkien<br />

Als Kelly aufwachte war es kurz nach 10 Uhr. Verschlafen rekelte sie sich im Bett. Shawn<br />

war nicht bei ihr, das registrierte sie sofort. Noch müde erhob sich die junge Therapeutin und<br />

wankte zur Kaffeemaschine, die zur Einrichtung des Zimmers gehörte. Tranig machte sie sich<br />

eine Tasse und ging auf die Terrasse hinaus. Hier fand sie Shawn, der gedankenverloren in die<br />

Ferne schaute. Er schrak heftig zusammen, als Kelly zu ihm trat. Frustriert schnaufte er auf<br />

und wischte sich hastig Kaffee vom Oberschenkel, den er beim Zusammenzucken verschüttet<br />

hatte.<br />

„Übertriebene Schreckreaktionen, was?“, meinte er mit einem verlegenen Lächeln.<br />

„Guten Morgen. Nein, eine normale Schreckreaktion.“, wiegelte Kelly lächelnd ab.<br />

„Ich war früher nicht schreckhaft.“, knurrte Shawn genervt. „Und jetzt zucke ich bei jeder<br />

Kleinigkeit heftig zusammen.“<br />

Kelly ließ sich auf einen Stuhl sinken und fragte herausfordernd: „Na und? Was ist<br />

schlimm daran? Es gibt Millionen Menschen, die ohne ein Trauma extrem schreckhaft sind,<br />

Shawn.“<br />

Resigniert nickte der junge Mann. Dann fragte er: „Und, gut geschlafen?“<br />

„Ja, wunderbar. Du ?“<br />

„Ja ... Ich hatte keinen Albtraum.“, stellte Shawn fest. „Scheinbar lassen die wirklich lang-<br />

sam nach.“ Er klang erstaunt.<br />

„Selbstverständlich lassen die nach. Du wirst bis an dein Lebensende hin und wieder da-<br />

von träumen, aber nicht mehr als von jeder anderen Sache.“, erklärte Kelly ruhig.<br />

Eine Weile schwiegen sie, dann sagte Shawn bedrückt: „Gestern Abend ... Da hat mich ei-<br />

ne junge Frau zum Tanzen aufgefordert und ich habe die Panik gekriegt. Von dir berührt zu<br />

werden ist eine Sache, eine schöne Sache, aber von anderen ...“ Er verstummte unglücklich.<br />

Ruhig erklärte Kelly ihm:<br />

„Shawn, das ist normal. Du wirst lange brauchen, um gelassen auf Körperkontakt zu rea-<br />

gieren. Meine Berührungen kannst du ertragen, weil wir vor allem anderen mit den Vertrau-<br />

ensübungen angefangen haben. Nur so kann eine Therapie Erfolg bringen. Du wirst nach und<br />

nach merken, dass andere Menschen dir nicht wehtun werden. Du wirst Vertrauen entwickeln.<br />

Im Moment ist das noch zu erschüttert.“<br />

„Ja, ich könnte es nicht ertragen.“ Energisch schüttelte er die trüben Gedanken ab. „Das<br />

war ein zauberhafter Abend!“, meinte er stattdessen.<br />

Kelly stimmte zu. „Ja, das war es.“<br />

„Kennst du zufällig noch weitere Mythen der Aborigines?“<br />

196


„Ja, ich kenne viele, ich liebe diese kleinen Geschichten. Was ich vom Uluru und Kata<br />

Tjuta weiß, habe ich dir ja erzählt.“<br />

Erfreut fragte Shawn: „Magst du mir da ab und zu mal von erzählen?“<br />

„Herzlich gerne. Es sind wunderschöne Geschichten. Sie werden von Generation zu Gene-<br />

ration weiter gegeben und in den Tänzen nachgestellt. Jeder Aborigine kennt die Tänze und<br />

weiß sofort, welche Geschichte erzählt wird.“<br />

Shawn nickte langsam. „Das ist wohl vielen Naturvölkern zu Eigen, ihre Stammesmythen<br />

in Tänzen auszudrücken. Ein Brauch, so alt wie die Menschheit. Schon die Cro-Magnon<br />

Menschen haben diese Kunst beherrscht.“<br />

Erstaunt sah Kelly den jungen Mann an. „Ich habe mich immer sehr für die Geschichte der<br />

Menschheit interessiert.“, erklärte dieser grinsend.<br />

Er rieb sich den Bauch und meinte: „Wie wäre es mit Frühstück? Mir knurrt der Magen.“<br />

Kelly trank ihren Kaffee aus.<br />

„Ja, ich habe selbst Hunger. Ich habe mir überlegt, dass wir noch eine Nacht hierbleiben<br />

sollten. Wenn wir uns heute in der Gorge umschauen wollen wird es zu spät, um noch loszu-<br />

fahren. Was meinst du?“ Während sie ins Zimmer gingen und sich anzogen meinte Shawn:<br />

„Klingt gut. Könnten wir uns heute Abend zu unserer Sitzung an den See setzen, was<br />

meinst du?“<br />

Kelly stimmte zu. „Das ist eine schöne Idee. Es ist wunderschön dort. So, Mister McLean,<br />

ich bin fertig, wie sieht es bei Ihnen aus?“<br />

„Meinetwegen können wir, Lady Jackson!“, schmunzelte der junge Mann. Sie gingen ge-<br />

mütlich hinüber zum Restaurant und waren dort nicht die einzigen, die auf ein verspätetes<br />

Frühstück hofften. Die Gruppe Aborigine Tänzer waren anwesend und Tommy Long begrüß-<br />

te Kelly fröhlich. Kelly zog Shawn mit an den Tisch, an dem die jungen Männer saßen und<br />

stellte Shawn vor.<br />

„Das ist Shawn, er ist ein guter Freund von mir. Ami, also sprecht deutlich.“ Sie warf<br />

Shawn einen gehässigen Blick zu, den dieser mit einem:<br />

„Hexe!“, quittierte. Er schüttelte den jungen Männern kurz die Hand, die einzige Berüh-<br />

rung, die er ertrug ohne in Panik zu geraten. Eine Kellnerin kam zu ihnen und fragte vergnügt:<br />

„Na, ein verspätetes breakky?“<br />

Um Shawn aus der Verlegenheit zu helfen bestellte Kelly.<br />

„Ja, wäre nett. Kaffee, Spiegeleier sunny side up, Speck und Toast, bitte.“<br />

„Klar, kein Problem. Die cockys haben gestern frische cackle berries mitgebracht.“<br />

Shawn warf Kelly einen leicht verzweifelten Blick zu und fragte: „Was zum Geier sind<br />

cockys und crackle berries?“<br />

197


Kelly lachte. „Cackle. Cackle berries. Ganz einfach: Cockys sind kleine Farmer, cackle<br />

berries sind Hühnereier.“ Sie grinste fröhlich und Shawn verdrehte die Augen. Zu Tommy<br />

sagte er:<br />

„Ich fand eure Vorführung faszinierend. Ich hatte vorher noch nie von der Dreamtime ge-<br />

hört, das ist in den USA nicht gerade etwas, was man in der Schule lernt. Ich würde gerne<br />

mehr Mythen hören. Kelly kennt viele, sie hat mir versprochen, mir davon zu erzählen.“<br />

Die jungen Aborigines gaben sich Mühe, deutlich zu sprechen. Tommy erwiderte erfreut:<br />

„Schön, dass es dir gefallen hat. Wir pflegen unsere Sitten und Gebräuche und freuen uns,<br />

wenn wir sie gut rüber bringen. Wir sind in unserem eigenen Land eine Minderheit, so, wie<br />

die amerikanischen Ureinwohner bei euch eine Minderheit darstellen. Uns ist es wichtig, den<br />

Weißen unsere Lebensart klar zu machen.“<br />

Interessiert fragte Shawn: „Wie groß oder besser klein ist eure Minderheit denn?“ Einer<br />

der anderen jungen Männer antwortete:<br />

„Bei der letzten großen Zählung 2006 wurden 464 Tausend gezählt. Wir sind eindeutig auf<br />

dem aufsteigenden Ast. 1991 waren es nur 265 Tausend.“<br />

„Die Indianer in den Staaten werden ebenfalls wieder mehr.“, meinte Kelly. „So sind sie<br />

für die Regierung schwer zu übersehen und man gesteht ihnen heute mehr Rechte zu, die sie<br />

in der Art früher nicht hatten.“<br />

Der junge Mann stimmte zu. „Ja, so geht es uns auch. Wir werden lauter. Aber unser<br />

Kampf geht weiter, die Regierung gesteht uns noch lange nicht die Rechte zu, die uns zuste-<br />

hen.“<br />

„Ja, so ist die Armut bei uns deutlich höher als bei den Weißen, die Bildungsmöglichkei-<br />

ten verschwindend gering, Kindersterblichkeit ist ein gravierendes Problem, kurz, es muss<br />

noch viel getan werden.“<br />

Sie unterhielten sich während des Frühstücks angeregt über die Situation der Aborigines,<br />

über das Land und über das Leben in Australien. Dann verabschiedeten Shawn und Kelly sich<br />

von den jungen Männern und während Shawn in ihr Zimmer ging und Wasser einpackte,<br />

machte Kelly an der Rezeption eine weitere Nacht klar. Kurze Zeit später waren sie zu Fuß<br />

unterwegs, sich die Gorge anzuschauen. Kelly führte Shawn in südöstlicher Richtung aus dem<br />

Resort und nach weniger als einem Kilometer hatten sie die Gorge erreicht. Der sich durch die<br />

Schlucht schlängelnde Finke River führte hier noch Wasser. Es hatte längere Zeit nicht mehr<br />

geregnet und so war das Wasser klar und sauber. Shawn war einmal mehr begeistert von der<br />

wunderschönen Natur.<br />

„Ich kann verstehen, dass die Aborigines ihr Land lieben. Ich hätte nie geglaubt, dass das<br />

Outback so viel Wunderschönes zu bieten hat.“ Kelly freute sich, dass es ihrem Schützling<br />

erneut so gut gefiel.<br />

198


„Wenn du magst können wir ins Wasser hüpfen.“, schlug sie vor. Da es heiß war hatte<br />

Shawn keinerlei Einwände. Sie hatten ihre Badesachen unter den Shorts und T-Shirts angezo-<br />

gen und so war es kein Problem, sich zu entkleiden und in das kühle Wasser zu laufen. Als sie<br />

sich genug abgekühlt hatten setzten sie sich zum Abtrocknen auf einen Stein am Ufer. Inzwi-<br />

schen waren einige andere Besucher eingetroffen, die fröhlich grüßten. Die meisten waren am<br />

Abend auf der Veranstaltung gewesen.<br />

Plötzlich sah Shawn auf. „Da, sieh mal, ein Hubschrauber.“, sagte er erstaunt. „Wo kommt<br />

denn der her?“<br />

Kelly klärte ihn auf. „Man kann im Resort Hubschrauberflüge über die MacDonnell Ran-<br />

ges buchen.“<br />

Shawns Augen strahlten. „Wäre es möglich ...?“<br />

Kelly lachte. „Selbstverständlich. Buchen wir nachher sofort für morgen früh, okay?“<br />

Shawn strahlte. „Das muss von oben unglaublich schön aussehen. Ich weiß nicht, wie ich<br />

dir je danken soll für alles.“<br />

legt.“<br />

Kelly grinste. „In dem du in Ordnung kommst. Und ansonsten habe ich eine Liste ange-<br />

Shawn verdrehte die Augen, dann lachte er vergnügt. Es war wunderbar, ihn lachen zu se-<br />

hen. Er hatte eine Art, mit dem ganzen Körper zu lachen, die ansteckend war. Und diesmal<br />

wurde er nicht sofort ernst.<br />

„Sag mal, wie viele deiner Patienten haben schon versucht, dich zu killen?“<br />

Kelly wehrte ab. „Kein einziger! Sie lieben mich alle.“ Frech schmunzelte sie vor sich hin.<br />

„Kann ich mir nicht vorstellen. Du bist zu gemein.“ Er fasste sich an die Badehose und<br />

meinte: „Fast trocken. Die Fetzen, die du anhast, dürften sowieso schon trocken sein, oder?<br />

Dann könnten wir doch weiter gehen.“<br />

„Ja, ist so gut wie trocken. Meinetwegen gerne.“ Sie stiegen in ihre Shorts und streiften<br />

die T-Shirts über. Zuletzt schlüpften sie in die festen Stiefel und gingen weiter. Sie hielten<br />

sich an dem Wasserlauf und marschierten in südlicher Richtung, bis das Wasser langsam we-<br />

niger wurde und schließlich im Boden versiegte. Hier stiegen sie auf eine kleine Anhöhe, von<br />

der aus man einen herrlichen Ausblick auf den versiegten Flusslauf hatte.<br />

„Wie sieht es hier wohl nach schweren Regenfällen aus?“, fragte Shawn beeindruckt.<br />

„Heftig! Dann wird das ganze Flussbett überspült mit einer braunen, von Unrat durchsetz-<br />

ten Brühe. Ausgerissene Bäume, tote Tiere. Das sind Naturgewalten, die unvorstellbar sind.“<br />

„Ich habe mal den Colorado River zu Hochwasser erlebt. Nicht am Grand Canyon, son-<br />

dern weiter südlich. Aber was da durch den Canyon donnert ist eine tödliche Wasserwalze.<br />

Wie ein Tsunami.“, sagte Shawn nachdenklich. „Es sah so schon schlimm aus, man möchte<br />

sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn man unten im Canyon wäre.“<br />

199


„Ja, diese Sturzfluten reißen alles mit sich, was sich ihnen in den Weg stellt. Tiere, die<br />

nicht schnell genug sind, werden in den Wassermassen zermalmt.“<br />

Sie gingen langsam weiter und es boten sich am anderen Ufer des Flusses wundervolle<br />

Ausblicke in die Gorge. Einmal tauchte eine senkrecht aufragende Felswand auf.<br />

„Die wäre was fürs Freeclimbing ...“, überlegte Shawn laut.<br />

„Klar! Sonst noch Wünsche?“, fragte Kelly ironisch.<br />

„So einige, aber die werde ich dir nicht unter die Nase reiben.“ Er grinste Kelly frech an<br />

und diese freute sich, dass der junge Mann heute so extrem gut drauf war.<br />

„Warum nicht?“, fragte sie und sah Shawn auffordernd an. Der wurde prompt rot. Hastig<br />

zeigte er auf die Felswand.<br />

„Hm ... Wie hoch die wohl sein mag?“<br />

Kelly lachte. „Nein, Freundchen, so kommst du mir nicht davon. Raus mit der Sprache!“<br />

„Keine Chance, Frau Psychologin.“<br />

Kelly zog die Stirn in Falten.<br />

„Ich könnte dich jederzeit Hypnotisieren und dann alles aus dir heraus kitzeln, das ist dir<br />

hoffentlich klar?“<br />

nicht!“<br />

Shawn tat, als erschrecke er heftig. Lachend bettelte er: „Nein! Das ist gemein! Mach das<br />

Es war das erste Mal, seit er bei Kelly war, dass er sich auf Albernheiten einließ. Lachend<br />

marschierten sie weiter und erreichten gegen 17.30 Uhr das Resort. Kelly eilte schnell in die<br />

Rezeption und buchte den Flug, was keinerlei Probleme bereitete. Dann gingen sie auf ihr<br />

Zimmer, um sich frisch zu machen. Kurze Zeit später saßen sie im Restaurant und bestellten<br />

sich jeder ein Steak mit Pommes, Bohnen und einer großen Cola. Als sie satt waren fragte<br />

Kelly:<br />

„Na, wie sieht es aus? Wollen wir ans Wasser runter?“<br />

Schlagartig war Shawns gute Laune wie weggeblasen.<br />

„Was ist denn?“, fragte Kelly besorgt.<br />

„Heute ist Teresa dran ...“, erklärte Shawn unglücklich.<br />

„Shawn, du hast bereits so viele schlimme Situationen geschildert, das wirst du auch<br />

schaffen, da bin ich sicher.“<br />

Bedrückt nickte Shawn. „Ja, muss ich wohl.“ Er schwieg auf dem Weg an den See hinun-<br />

ter beharrlich. Als sie im warmen Sand nebeneinandersaßen, fragte er leise:<br />

„Kann ich ...?“ Er brauchte den Satz nicht beenden, Kelly wusste, was er wollte.<br />

„Gerne, leg dich so bequem wie möglich hin.“<br />

Shawn streckte sich aus, legte seinen Kopf bei Kelly auf die Beine und tastete nach ihren<br />

Händen. Halt suchend klammerte er sich regelrecht an diesen fest. Kelly spürte, wie ange-<br />

spannt er war und sagte sanft:<br />

200


„Komm, wir machen erst mal die Atemübungen, okay? Sonst hyperventilierst du.“ Mehre-<br />

re Minuten lang ließ sie ihn die Atemübungen machen, bis sie spürte, dass die Anspannung<br />

wich. Nun forderte sie ihn liebevoll auf:<br />

„So, nun kannst du erzählen.“<br />

*****<br />

Nach dem Abendbrot, das Shawn und Carrie zusammen im Salon eingenommen hatten,<br />

sagte die junge Frau ruhig zu ihm:<br />

fragte:<br />

„Du wirst dich jetzt auf den Esstisch legen, rutsch ans Ende.“<br />

Sofort tat Shawn, was sie von ihm erwartete. Alan kam auf Carries Ruf in den Raum und<br />

„Sie wünschen?“<br />

Carrie forderte ihn auf: „Hilf mir, ihn zu fixieren.“<br />

Unbeeindruckt trat der Riese zu Carrie an den Tisch. Diese ging an den Schrank in der<br />

Ecke, in dem die Peitschen hingen und überlegte kurz. Dann griff sie sich eine Spreizstange.<br />

Shawn kannte diese Stangen vage von zufällig entdeckten Fotos in Pornozeitschriften. Carrie<br />

und Alan befestigten diese Spreizstange an den Haken seiner Fußmanschetten. Nun wurde<br />

diese auf größtmögliche Weite gestellt. Das unangenehme Ziehen in den Oberschenkeln kann-<br />

te Shawn von dem gynäkologischen Stuhl. Während Alan die so gespreizten Beine in die Höhe<br />

drückte, dass Shawn unwillkürlich aufkeuchte, griff Carrie nach seiner rechten Hand und zog<br />

diese auf die Spreizstange zu. Dann klickte sie den Haken der Handgelenkmanschette an den<br />

Stahlring am Ende der Stange ein. Mit dem anderen Arm verfuhr sie genauso. Alan hielt<br />

Shawns Beine weiter in der schmerzhaften Position. Carrie trat nun an das Kopfende des Ti-<br />

sches. Sie griff nach den hier an den Tischbeinen angebrachten Ketten und veränderte die<br />

Reichweite dieser, indem sie die Haken, die an den Ketten hingen, in andere Glieder einklink-<br />

te. Zuletzt befestigte sie die Haken ebenfalls an den Außenringen der Spreizstange. Shawn<br />

biss sich auf die Lippen. Diese Haltung war noch um ein vielfaches demütigender als die Hal-<br />

tung auf den gynäkologischen Stuhl und um ein vielfaches schmerzhafter. Wie er das zwei<br />

Stunden aushalten sollte, war ihm rätselhaft. Schon jetzt hatte er das Gefühl, auseinanderzu-<br />

brechen. Er stöhnte gepeinigt auf. Doch es war noch nicht zu Ende. Carrie trat zu ihm, einen<br />

Knebel in Form eines kleinen Penis in der Hand und sah ihn auffordernd an. Ergeben öffnete<br />

Shawn den Mund und ließ sich den Knebel zwischen die Zähne schieben. Carrie legte das<br />

Halteband um seinen Kopf und zog es stramm. Sie begutachtete ihr Werk. Zufrieden ließ sie<br />

ihre Hände über seine Oberschenkel und seinen einladend offen gelegten Schoß gleiten und<br />

sagte:<br />

„Zwei Stunden.“ Sie schickte Alan aus dem Raum und stellte Weingläser, eine Flasche<br />

Rotwein sowie Spielkarten auf den Tisch. Minuten später kamen die drei Anderen und sahen<br />

201


egeistert auf Shawn, der sich einmal mehr wünschte, sich in Luft auflösen zu können. Carrie<br />

legte noch einen Lederpaddel auf den Tisch und erklärte:<br />

„Der Sieger jeder Runde darf ihm auf jede Pobacke jeweils einen Schlag versetzen.“ Be-<br />

geistert wurde der Vorschlag angenommen.<br />

Die Vier setzten sich an den Tisch. Sie hatten eine großartige Aussicht auf Shawn, der das<br />

Gefühl hatte, jeden Moment vor Scham zu sterben, und begannen, Karten zu spielen. Carrie<br />

gewann die erste Runde und griff nach dem Lederpaddel. Es klatschte zwei Mal und Shawn<br />

biss auf den Knebel. Es war zwar kein Vergleich zu den Peitschenhieben, brannte aber ge-<br />

mein. Die erzwungene Haltung wurde mit jeder Minute schmerzhafter und Shawn wand sich,<br />

soweit es die Fesselung zuließ, vor Schmerzen. Aber er wurde gnadenlos die vollen zwei<br />

Stunden liegen gelassen, erhielt während der Zeit permanent schmerzhafte Schläge mit dem<br />

Lederpaddel und war sicher, wäre der Knebel nicht gewesen, nach fünfzehn Minuten gebettelt<br />

zu haben, man möge ihn losmachen. Dieser Möglichkeit beraubt, musste er die Qual stumm<br />

ertragen. Mehr, als dumpfe Stöhnlaute drangen nicht aus seinem Mund. Tränen, die ihm der<br />

Schmerz in die Augen trieb, liefen ihm unaufhaltsam über die Wangen und vermischten sich<br />

mit Schweiß. Er zählte die Minuten, dann die Sekunden. Und endlich stand Carrie auf und<br />

sagte:<br />

„Okay, Freunde, lasst ihn uns los machen, die zwei Stunden sind um.“<br />

Vor Erleichterung aufschluchzend ließ Shawn sich von den Fesseln befreien. Klatschnass<br />

geschwitzt und zitternd lag er auf dem Tisch und versuchte, sich zu entspannen. Sie gönnten<br />

ihm zehn Minuten, seine Knochen zu sortieren. Dann erklärte Carrie:<br />

„Okay, Terry, ich wünsche dir viel Spaß.“<br />

Teresa strahlte. Endlich durfte sie ihren Spaß haben! So lange hatte sie darauf gewartet.<br />

Sie befahl Shawn aufzustehen und als er mit noch wackeligen Beinen vor ihr stand, führte sie<br />

ihn zwischen die Säulen. Schnell war er dazwischen gefesselt und wartete zitternd vor Angst,<br />

was kommen würde. Sein Blick irrte zu Carrie hinüber. Diese hatte es sich auf dem Sofa ge-<br />

mütlich gemacht und beobachtete, was Teresa trieb. Die Frau ging gerade zu dem Schrank<br />

hinüber und kam mit etwas Schwarzem in der Hand zu Shawn zurück. Als sie bei ihm stand,<br />

erkannte er, was es war. Eine schwarze Latexmaske. Mit geübter Hand legte sie Shawn diese<br />

an. Sie umschloss seinen Kopf wie eine zweite Haut. Die Augen waren frei, die Nase wurde<br />

verschlossen und atmen konnte er nur durch einen Schlauch, der direkt in seinem Mund ende-<br />

te. Teresa straffte die Ketten noch und Shawn hing ausgespannt wie ein Stück Leder zwischen<br />

den Säulen. Er war schweißnass und seine Haut glänzte. Teresa trat an ihn heran und sagte<br />

erregt:<br />

„Dann wollen wir mal.“ Sie griff nach dem Schlauch, durch den Shawn atmete und legte<br />

fast sanft den Zeigefinger auf die Schlauchöffnung.<br />

202


Shawns Augen weiteten sich vor Entsetzen! Schlagartig bekam er gar keine Luft mehr! Er<br />

hing zuckend in den Fesseln und riss den Kopf hin und her, aber der Schlauch war lang ge-<br />

nug, sodass Teresa keine Probleme hatte, ihn weiter zuzuhalten. Nach dreißig Sekunden löste<br />

Teresa den Griff und Shawn saugte verzweifelt Luft ein. Sie gab ihm Zeit, sich zu beruhigen,<br />

wartete geschickt ab, dass er ausgeatmet hatte und presste blitzschnell den Finger wieder auf<br />

den Schlauch. Auf diese Weise setzte die Atemnot unmittelbar ein und Shawn wand sich in<br />

Qualen! Dumpfe Laute drangen unter der Maske hervor und ihm stürzten Tränen aus den<br />

Augen. Diesmal wartete Teresa sechzig Sekunden. Als Shawns Beine bedenklich zu Wackeln<br />

begannen und seine Bewegungen langsamer wurden, gab sie den Schlauch endlich frei. Keu-<br />

chend saugte er Sauerstoff in seine malträtierten Lungen und seine Augen suchten, dunkel vor<br />

Grauen und Todesangst, Carries Blick. Diese saß auf dem Sofa, ließ ihre Hand sinnlich zwi-<br />

schen ihre Beine gleiten und lauerte darauf, dass Teresa weiter machte. Diese wartete ab, bis<br />

Shawn sich gefangen hatte, dann grinste sie und er wusste, es sollte erneut losgehen. Panisch<br />

wimmerte er unter der Maske auf und schüttelte verzweifelt den Kopf. Aber es nützte ihm<br />

nicht das Geringste. Wieder und wieder presste Teresa den Finger auf den Schlauch, ge-<br />

schickt in dem Moment, in dem der Wehrlose ausgeatmet hatte. Die Todesangst, die der Sau-<br />

erstoffmangel verursachte, presste Shawns Herz zu einem kleinen, rasenden Klumpen zusam-<br />

men. Als rote Kreise vor seinen weit aufgerissenen Augen tanzten, kam Carries Stimme:<br />

„Es reicht!“<br />

Teresa ließ augenblicklich den Schlauch los und keuchte extasisch. Sie hatte gerade einen<br />

wundervollen Orgasmus gehabt und sank auf einen der Stühle am Esstisch nieder. Brett und<br />

Karen wirkten zufrieden. Carrie stand bei Shawn und sagte ruhig:<br />

„Ihr könnt gehen, für heute ist Schluss.“<br />

Als die anderen verschwunden waren, lockerte sie die Ketten, bis Shawn schwankend al-<br />

lein da stand. Sie machte seine Hand- und Fußgelenke los, um die Hände sofort auf den Rü-<br />

cken zu fesseln. Nun führte sie ihn, noch mit Maske auf, zu ihrem Schlafzimmer und stieß ihn<br />

dort hart rückwärts auf das Bett. Blitzschnell kniete sie über ihm und drückte ihn so auf die<br />

Matratze. Erregt keuchte sie:<br />

„Das ist so geil ...“, und beugte sich vor. Sie nahm das Schlauchende in den Mund und<br />

verschloss es mit ihrer Zunge. Ihr Kopf war keine 30 Zentimeter von Shawns Kopf entfernt<br />

und sie sah die Todesangst in seinen Augen. Sie gab den Schlauch schnell frei und Shawn<br />

saugte verzweifelt nach Luft. Carries rechte Hand verirrte sich zwischen seine Beine und sti-<br />

mulierte seinen Penis. Shawn zweifelte ernsthaft an seinem Verstand, als er merkte, dass die-<br />

ser sich augenblicklich versteifte. Carrie hätte ihm erklären können, dass Atemreduktion zu<br />

Euphorie führte, wenn sie fachgerecht ausgeführt wurde. Und Carrie beherrschte das Spiel!<br />

Sie stimulierte sein Glied, während sie gleichzeitig wieder und wieder seine Atmung blockier-<br />

203


te. Er wand sich in Qualen unter ihr, obwohl sie höchstens dreißig Sekunden verhinderte,<br />

dass er Luft holen konnte. Schließlich ließ sie sich auf ihn gleiten und behielt den Schlauch<br />

noch im Mund. Diesmal fühlte Shawn sich wirklich vergewaltigt! Und es war erregender als<br />

alles zuvor. Im Moment des Orgasmus drückte ihre Zunge erneut auf den Schlauch und in<br />

höchster Not erreichte Shawn einen Höhepunkt, der beinah schmerzhaft war. Aber auch Car-<br />

rie hatte einen Orgasmus, wie sie ihn selten zuvor erlebt hatte. Sie sackte auf Shawn zusam-<br />

men und musste sich zwingen, diesem schnellstens die Maske abzunehmen. Seine gefesselten<br />

Hände hatten sich sinnlos in die Zudecke verkrallt. Er lag heftig zitternd da und jappste ver-<br />

zweifelt nach Sauerstoff.<br />

Carrie zwang sich, ihm die Handfesseln zu lösen und kaum hatte er die Hände frei, konnte<br />

er sich erstmals nicht mehr beherrschen. Keuchend und triefend nass geschwitzt klammerte er<br />

sich halt- und hilfesuchend an ihr fest und sie ließ es zu. Sie hielt den zitternden, schluchzen-<br />

den jungen Mann in den Armen und redete leise und beruhigend auf ihn ein, streichelte ihm<br />

über den Rücken und wartete geduldig, bis er sich nach und nach beruhigte. Dann machte sie<br />

sich los und eilte ins Bad. Hier ließ sie die Badewanne voll laufen und während das Wasser<br />

stieg, ging sie zu Shawn zurück, der zusammengerollt auf dem Bett lag.<br />

ne.<br />

„Komm, lass uns Baden, wir sind verschwitzt.“, sagte sie ruhig und half ihm auf die Bei-<br />

„Ich muss dringend ...“, flüsterte er verlegen und stellte sich freiwillig an die Anrichte.<br />

Vorsichtig entfernte Carrie den Plug und gab ihm diesen mit, um ihn zu Reinigen. Sie nutzte<br />

die Zeit, die Shawn benötigte, um Alan aufzutragen, dass Bett neu zu beziehen, denn es war<br />

schweißnass und total zerwühlt. Als Shawn aus dem Bad rief, dass er fertig war, ging sie zu<br />

ihm und drehte den Wasserhahn ab. Die Wanne war fertig. Carrie entkleidete sich ebenfalls<br />

und stieg als erstes in die Wanne. Shawn stand mit gesenktem Kopf da und wartete, was er<br />

tun sollte.<br />

„Komm zu mir.“, sagte sie und hielt ihm eine Hand hin. Zögernd griff er danach und stieg<br />

mit noch wackeligen Knien in das herrlich warme Wasser.<br />

Unsicher blieb er stehen und Carrie lachte leise.<br />

„Setzt dich hin.“ Erleichtert ließ er sich ins Wasser sinken und Carrie zog ihn an sich. Sie<br />

betätigte einen Schalter, der an der Wand neben der Wanne angebracht war und dimmte das<br />

Licht im Bad. Gleichzeitig ertönte leise Schmusemusik aus versteckten Lautsprechern. Carrie<br />

zog den jungen Mann eng an sich und ließ ihn sich mit dem Rücken gegen sie lehnen. Sie legte<br />

zärtlich die Arme um ihn und schlang ihm ihre Beine um den Körper. Erledigt hing er mehr,<br />

als dass er saß, in ihren Armen und langsam ließ sein Zittern nach. Sie spürte sein Herz<br />

schnell und unregelmäßig pochen und sagte liebevoll:<br />

„Du hast es für heute überstanden, mein Sklave. Du warst hinreißend.“<br />

204


Shawn hörte ihre sanften, liebevollen Worte und merkte, dass ihm Tränen in die Augen<br />

stiegen. Leise sagte er:<br />

„Es war ... furchtbar.“ Unwillkürlich atmete er schneller.<br />

„Jetzt ist es erst einmal vorbei. Entspann dich. Du hast es dir verdient. Das war heute ein<br />

harter Tag.“<br />

„Wird das ... öfter gemacht?“, fragte er kläglich. Ihre Hände strichen entspannend über<br />

seine Brust und sie erklärte:<br />

„Ja, Teresa steht da total drauf. Und ich muss sagen, ich fand es auch geil. Ich bin aber<br />

auch pervers.“ Sie lachte. „Ich mag alles.“ Sie griff nach einem weichen Schwamm und seifte<br />

diesen gründlich ein. Dann ließ sie den Schwamm sanft über Shawns Brust gleiten. Der<br />

Schauspieler lag mit geschlossenen Augen still da und genoss es unglaublich, zur Abwechs-<br />

lung einmal sanft und liebevoll behandelt zu werden. Als Carrie merkte, dass er entspannt<br />

war, stieg sie aus der Wanne und wusch ihn zu Ende. Erneut hatte sie ihn geschickt manipu-<br />

liert und war zufrieden mit sich. Sie forderte ihn auf, aus der Wanne zu steigen und rubbelte<br />

ihn trocken. Schließlich dirigierte sie ihn aus dem Schlafzimmer zurück in sein eigenes Zim-<br />

mer. Sie befahl ihm, sich über den Tisch zu beugen und führte ihm den Plug ein. Dann sagte<br />

sie:<br />

„Leg dich hin, auf die Seite.“<br />

Bedrückt gehorchte er.<br />

Carrie klinkte die Haken an seinen Fußgelenkmanschetten ineinander. Sie nahm aus der<br />

Nachttischschublade einen weiteren Lederriemen, der genauso mit Panikhaken bestückt war<br />

wie die Hand- und Fußgelenkmanschetten. Diesen Riemen legte sie Shawn knapp oberhalb<br />

der Knie um beide Beine und zog ihn stramm. Sie griff nach einer kurzen Kette, die sie zwi-<br />

schen die Fußmanschette und den Riemen um die Knie spannte, und zwar so stramm, dass<br />

Shawn die Beine nicht mehr ausstrecken konnte. Als letztes zog sie seine Arme so, dass sie die<br />

Handfesseln innerhalb des erzwungenen Winkels der Beine zusammen haken konnte. Shawn<br />

hatte still alles geschehen lassen. Ihm lag die Frage auf der Zunge, womit er das verdient<br />

hatte, schwieg aber selbstverständlich. Sie zog ein weiteres Teil aus der Schublade und<br />

Shawn erschrak. Ein Ballknebel.<br />

„Mach den Mund auf!“, befahl sie ruhig und er öffnete verzweifelt den Mund. Sie drückte<br />

ihm den Knebel zwischen die Zähne und dieser füllte seinen Mund komplett aus. Dann schloss<br />

sie das Sicherheitsband hinter seinem Kopf. Sie beugte sich zu Shawn herunter, gab ihm einen<br />

Kuss auf die Stirn und deckte ihn sorgfältig zu.<br />

„Bis morgen früh.“, sagte sie, strich ihm noch liebevoll eine Haarsträhne aus der Stirn<br />

und verließ das Zimmer, nachdem sie das Licht ausgeschaltet hatte.<br />

205


Shawn lag wie vom Donner gerührt in der extrem unangenehmen Haltung unter der De-<br />

cke und fragte sich verzweifelt, warum Carrie das getan hatte. Hatte er sie mit irgendetwas<br />

verärgert? Aber so hatte sie nicht gewirkt. Der liebevolle Kuss und die zärtliche Bewegung,<br />

als sie sein Haar beiseite gestreift hatte, waren nicht gerade Gesten der Wut. Er versuchte,<br />

sich zu entspannen. Die Fesselung war nicht direkt schmerzhaft, aber unbequem. Und der<br />

Knebel war grässlich, Shawn bekam kaum Luft durch den Mund. Er versuchte einzuschlafen,<br />

aber das gelang ihm nicht. Stunde um Stunde lag er wach und spürte, wie ihm Speichel aus<br />

dem Mund lief. Er konnte mit dem Ball zwischen den Zähnen nicht schlucken. Er döste kurz<br />

ein, nur um schnell wieder aufzuschrecken. Er war so müde und sein Rücken fing an, wehzu-<br />

tun. Und er wusste nicht, was der kommende Tag an Qualen bringen würde. Wie gerne hätte<br />

er geschlafen. Bei Carrie. Und nicht wie ein Paket verschnürt in seinem Bett. Ihm kamen die<br />

Tränen. Wütend über sich selbst versuchte er, sie zurückzudrängen. Er wurde noch zur richti-<br />

gen Heulboje. Es blieb beim frommen Wunsch. Sie tat ihm die schlimmsten Dinge an und<br />

doch konnte er es nicht erwarten, dass sie zu ihm kam. Er schluchzte heftig auf. Und dabei<br />

verstopfte seine Nase. Shawn bekam Angst! Er bekam keine Luft mehr durch die Nase und<br />

durch den Mund konnte er wegen des Knebels schlecht atmen. Immer panischer jappste er<br />

nach Luft und schadete sich damit selber, denn je hektischer er versuchte, zu Atmen, desto<br />

schwerer viel es ihm, genug Sauerstoff einzusaugen. Er zuckte in der Fesselung und rote<br />

Kreise tanzten vor seinen Augen. Sein Herz raste. Er erstickte!<br />

*****<br />

Unglaublich betroffen hatte Kelly zugehört. Bei der Schilderung der Stellung, in der er auf<br />

dem Tisch gefesselt worden war, hatte Shawns Stimme bedenklich gezittert. Als er schließlich<br />

begann, vom weiteren Verlauf des Abends zu berichten, war das Zittern in fassungsloses<br />

Schluchzen über gegangen. Kelly hielt den jungen Mann fest in den Armen und versuchte ihn<br />

zu beruhigen. Mehrfach stockte er, machte lange Pausen beim Erzählen, weil er nicht mehr<br />

sprechen konnte. Als er an der Stelle angekommen war, wo er im Bett liegend langsam und<br />

qualvoll zu ersticken drohte, war er endgültig an einem Punkt angekommen, an dem er nicht<br />

mehr weiter konnte. Hoffnungslos weinend lag er in Kellys Armen und zitterte am ganzen<br />

Leib.<br />

„Ich konnte ... nicht ... atmen ...“, keuchte er verzweifelt.<br />

„Psst, ganz ruhig. Beruhige dich. Hier tut dir keiner etwas. Du kannst atmen. Tief und oh-<br />

ne Probleme. Atme tief ein. Komm, tief einatmen.“<br />

Endlich reagierte er auf Kellys eindringliche, beruhigende Stimme. Krampfhaft versuchte<br />

er, langsam und tief durchzuatmen. Doch es wollte ihm erst nach mehreren Anläufen halb-<br />

wegs gelingen. Kelly redete weiter beruhigend auf ihn ein. Ihre Stimme war es, die ihm half,<br />

206


sich so weit zu beruhigen, dass er endlich tief einatmen konnte. Die junge Therapeutin spürte,<br />

dass er allmählich ruhiger wurde und ließ in ihren Bemühungen nicht nach.<br />

„So ist es gut. Das machst du großartig. Schön tief und gleichmäßig atmen. Niemand tut<br />

dir etwas, du bist nicht in Gefahr. Dass alles liegt hinter dir. Ich bin bei dir und werde verhin-<br />

dern, dass dir jemand wehtut. So ist es gut. Schön ruhig und gleichmäßig atmen.“ Endlich<br />

spürte sie, wie das Zittern ihres Patienten nachließ. Von sich aus stotterte er aufgelöst weiter...<br />

*****<br />

Carrie hatte Shawn gern in der Haltung allein gelassen. Sie hatte es zwischen ihren Bei-<br />

nen pulsieren gespürt, als sie ihn in der Stellung zusammengeschnürt hatte. Die Angst und<br />

Verzweiflung in seinen Augen hatte sie fast körperlich an ihren Schamlippen gespürt. Sie war<br />

zurück in ihr Schlafzimmer geeilt und hatte dort die Überwachungsanlage angeschaltet. Sie<br />

saß im Bett und beobachtete Shawn, der schlaflos da lag und Stunde um Stunde verzweifelter<br />

wurde. Irgendwann schlief sie ein und schreckte hoch, als ihr klar wurde, dass sie geschlafen<br />

hatte. Sofort sah sie auf den Monitor und im nächsten Moment sprang sie entsetzt aus dem<br />

Bett!<br />

„Scheiße!“<br />

Sie rannte so schnell sie konnte den Flur entlang zu Shawns Zimmer. Sie riss die Tür auf<br />

und rief:<br />

„Ich bin da, Shawn, keine Angst!“ Und schon saß sie neben ihm auf der Matratze und öff-<br />

nete mit fliegenden Fingern den Knebel. Sie nahm Shawn das Teil ab und schleuderte es acht-<br />

los in die Ecke. Er rührte sich nicht mehr.<br />

„Oh verdammt, nein!“ So schnell sie konnte löste sie die Haken, die für solche Notsituati-<br />

onen ausgelegt waren. Sie ließen sich spielend leicht öffnen. Sie rollte Shawn auf den Rücken<br />

und tätschelte ihm sanft die Wangen.<br />

„Komm schon, Shawn, atme!“<br />

Hektisch drückte sie seinen Kopf in den Nacken und öffnete ihm den Mund. Sie hielt<br />

Shawn die Nase zu und blies ihm drei Atemstöße in den Mund. Dann machte sie Herzmassa-<br />

ge, beatmete ihn wieder. Und endlich hustete er krampfhaft und holte röchelnd Luft. Seine<br />

Hände zuckten fahrig und Carrie griff nach ihnen.<br />

„Ich bin da, keine Angst.“<br />

Shawn hustete und keuchte, dann merkte er, dass er sich bewegen konnte. Und dass der<br />

Knebel fort war. Und dass er Luft bekam. Und dass Carrie bei ihm war!<br />

Er lag erschöpft still und Tränen liefen ihm die Wangen herunter. Carrie streichelte ihm<br />

sanft über die schweißnassen Haare und sagte leise:<br />

„Ich bin da, ich bleibe bei dir. Wie ist das denn passiert?“<br />

207


Unendlich fertig sagte er: „Ich habe keine Luft mehr durch die Nase bekommen ... Und<br />

durch den Mund auch nicht und dann ...“ Fassungslos schluchzte er auf und Carrie legte sich<br />

zu ihm, zog ihn eng an sich. Er kuschelte sich an sie und sie hielt ihn fest, streichelte ihn be-<br />

ruhigend und atmete schließlich erleichtert auf, als sie merkte, dass er sich langsam ent-<br />

spannte. Dicht an sie gedrückt, fielen ihm, kaum, dass er sich beruhigt hatte, die Augen zu.<br />

Carrie ließ ihn liegen wie er lag. Sie war selbst müde und schlief schließlich ebenfalls ein. Als<br />

Shawn aufwachte spürte er als erstes, dass er nach wie vor in Carries Armen lag. Er wagte<br />

nicht, sich zu rühren, aus Angst, sie würde ihn dann loslassen. Ihm fiel schlagartig ein, wa-<br />

rum er in ihren Armen lag und er erzitterte. Er war qualvoll erstickt! Und wenn Carrie nicht<br />

noch rechtzeitig gekommen wäre, wäre er jetzt tot gewesen!<br />

*****<br />

Sie hatte ihm also das Leben gerettet. Kelly schüttelte fassungslos den Kopf. Shawn lag<br />

hilflos schluchzend auf ihren Schoss. Er zitterte wie Espenlaub, aber Kelly zitterte nicht we-<br />

niger am ganzen Leib. Ihr stürzten ebenfalls Tränen über die Wangen.<br />

„Das hat sie ... Sie hat ... Waterboarding 12 ...“ Shawn versagte die Stimme. Minutenlang<br />

war er unfähig, weiter zu sprechen. Dann stammelte er: „Immer wieder ... Sie hat ... immer<br />

angekündigt ... Morgen ... morgen machen wir dich nass ... Das war ihr Ausdruck für das Wa-<br />

terboarding ... Kannst du ... kannst du dir vorstellen, wie das ist? Wenn du weißt ... Wenn du<br />

abends weißt, dass das am nächsten Tag ... Einmal die Woche hat Carrie es erlaubt ... Ich<br />

konnte nicht ... Alan musste ... Er hat mich ... mit Gewalt ...“ Abermals schaffte der junge<br />

Mann es nicht, weiter zu sprechen. Und Kelly weinte die ganze Zeit mit ihm. Sie war fas-<br />

sungslos. Sie hatte ein- oder zweimal Patienten gehabt, Soldaten des Irakkrieges, die dieser<br />

Folter durch Taliban Soldaten ausgesetzt gewesen waren. Beide hatten übereinstimmend ge-<br />

schildert, wie unerträglich diese Folter gewesen war. Entsetzt flüsterte sie:<br />

„Oh Gott, Shawn ...“<br />

Der Schauspieler brauchte Minuten, um sich so weit zu fangen, dass er mit bebender<br />

Stimme weitersprechen konnte.<br />

„Keine Luft bekommen ist das entsetzlichste was es gibt.“, wimmerte er leise. „Sie hat ...<br />

Bis zur Bewusstlosigkeit hat sie mich ... Und dann aufgeweckt und von vorne. Das fand sie<br />

geil. Beim Waterboarding ... Du bist nach einer Minute fertig. Du denkst, du stirbst jeden<br />

Moment. Die ganze Zeit ... sagst du dir, es kann nichts passieren ... Aber nach dreißig Sekun-<br />

den ... hast du das Gefühl, zu ertrinken. Das ist so ... furchtbar! Und dann weißt du es am<br />

12 Waterboarding: Folter, bei dem der Delinquent auf einer abschüssigen Platte o.ä. mit dem Kopf abwärts gerichtet gefesselt wird. Die<br />

Haltung verhindert, dass Wasser in den Rachenraum gelangt. Ein feuchtes Tuch wird über dem Gesicht platziert und mit fließendem Wasser<br />

nass gehalten. Durch das Tuch ohnehin in der Atmung beeinträchtigt, erzeugt das Wasser bei dem Gefesselten zusätzlich das Gefühl des<br />

Ertrinkens.<br />

208


Abend ... Dass du am nächsten Tag fällig bist. Ich hatte Angst ... vor Angst den Verstand zu<br />

verlieren.“ Er sprach weiter wie in Trance. „Du liegst da, wach, gefesselt, kannst nicht weg ...<br />

Und dann kam Alan ... Er ... musste mich raus schleifen ... Ich konnte nicht ... Auf der Terras-<br />

se haben sie es gemacht. Beim ersten Mal zur Strafe ... Ich habe ... Ich konnte keine ... Erekti-<br />

on ... bei Teresa kriegen ... Sie war so wütend. Ich konnte nicht. Es klappte nicht! Sie konnte<br />

machen, was sie wollte, ich ... Und dann hat sie ... Sie durfte es, Carrie hat es erlaubt. Dann<br />

hat sie es zur Strafe gemacht. Ich hatte immer weniger die Chance, sie zu befriedigen, weil ich<br />

aus Angst nicht konnte. Das wusste sie genau. Alan musste mich jedes Mal auf das Brett<br />

zwingen. Alles andere ... Da konnte ich es noch ... allein. Ich habe es allein geschafft, aber auf<br />

das Brett ... Ich habe mich verzweifelt gewehrt ... Aber er war ... Brett hat ihm geholfen. Sie<br />

haben mich fest geschnallt, den Kopf ... Dann das Tuch über das Gesicht und ... Es war so<br />

grauenvoll! Das Wasser läuft dir in den Mund und du denkst, es läuft direkt in die Lunge. Du<br />

willst schreien, aber das geht nicht! Du kannst nicht schreien. Du kriegst keine Luft! Du liegst<br />

da und kannst nicht atmen ...“<br />

Wie unter Zwang redete Shawn sich die Folter vom Leib. Endlich war er so erschöpft,<br />

dass er nicht mehr weiter reden konnte. Kelly hatte ihn nicht unterbrochen. Es ging an diesem<br />

Abend nicht darum, dass sie etwas dazu sagte, sondern darum, dass Shawn es loswerden<br />

konnte, dass jemand da war, der ihn hielt, zuhörte. Mehr war an diesem Abend nicht nötig.<br />

Und Kelly hörte zu. Vor Mitleid schluchzend, fassungslos, erschüttert. Sie hielt Shawn im<br />

Arm, streichelte ihm über den Rücken und als sie später ins Motel zurückgingen, stützte sie<br />

ihn, denn allein hätte er es fast nicht geschafft. Als sie im Bett lagen sagte Shawn leise:<br />

„Danke.“<br />

„Wofür?“, fragte Kelly erstaunt.<br />

„Weil du mir zugehört hast, für mich da bist ... Verständnis hast.“<br />

Kelly zog Shawn an sich und er ließ sich dies gerne gefallen. Nach diesem Abend, nach<br />

der Erinnerung an die schlimmste aller durchgestandenen Foltern, war er mehr als dankbar,<br />

dass jemand bei ihm war, der es gut meinte. Der ihm Trost und Halt gab. Er war am Ende.<br />

Schlafen ... Das war alles, woran Shawn noch denken konnte. Schlafen und nicht mehr an den<br />

ganzen Horror denken müssen. Die Augen fielen ihm zu vor Müdigkeit und er nuschelte:<br />

„Nacht ...“<br />

*****<br />

Kelly irrte durch ihr Haus. Sie war genervt. Wo zum Henker stecke Shawn? Er musste<br />

wissen, dass sie sich Sorgen machte! Sie sah in jedem Raum nach, konnte ihn aber nirgends<br />

finden. Ob er an den See hinunter gegangen war? Schnell rannte die junge Therapeutin zum<br />

See hinunter. Aber auch hier war keine Spur von Shawn zu finden. Gleich hinter dem Haus<br />

209


war der Ayers Rock. Ob er allein dort hinaufgestiegen war? Heute lag viel zu viel Schnee auf<br />

dem Felsen! Keine Fußspuren. Vor ihr tauchte einen runde Tür auf ... Als sie diese öffnete sah<br />

sie die Amparralamtua Truppe beim Einüben eines neuen Tanzes.<br />

„Was ist das für eine Legende?“, fragte sie Tommy, der ein langes, weißes Kleid trug.<br />

„Es geht um einen jungen Mann.“, erklärte Tommy ihr und sah ernst aus. „Er wollte<br />

durch den Colorado River schwimmen und wenn ihn niemand rettet, wird er sterben.“<br />

Entsetzt rannte Kelly weiter. Ein junger Mann? Ob es sich um Shawn handeln könnte?<br />

Dort, da hinten fing der Fluss an. Er entsprang in dem großen Swimmingpool. Der Pool hatte<br />

Hochwasser. Es schwappte über und lief Kelly über die Füße. Sie sah in den Pool hinein und<br />

wimmerte vor Entsetzen auf! Da, unter Wasser, auf ein Brett gefesselt, trieb Shawn. Leblos ...<br />

Jemand hatte ihm ein buntes, mit Aborigine Zeichnungen bemaltes Tuch über das Gesicht<br />

gelegt. Kelly sprang in das trübe Wasser und tauchte zu Shawn hinunter. Sie legte ihm zwei<br />

Finger auf die Hauptschlagader am Hals und versuchte verzweifelt, seinen Puls zu fühlen. Da<br />

war kein Puls mehr. Er war tot! Es war kein Wasser mehr im Pool. Shawn lag tot und aufge-<br />

bahrt vor ihr, um ihn herum lagen Millionen Jacarandablüten 13 . Er war tot! Kelly schrie gel-<br />

lend auf.<br />

„Shawn!“<br />

*****<br />

Schreiend und schweißgebadet schoss Kelly in die Höhe. Shawn neben ihr fuhr aus dem<br />

Schlaf hoch.<br />

„Was ist los, Süße?“, stieß er erschrocken hervor und zog die junge Frau an sich. Zitternd<br />

und schluchzend klammerte Kelly sich an ihn. Sie hörte sein Herz heftig klopfen und war<br />

unendlich erleichtert darüber. War es sonst Shawn, der sich nach Albträumen an sie klammer-<br />

te, war es erstmals Kelly, die dringend den Halt benötigte, den Shawn ihr in diesem Moment<br />

gab. Er hielt sie fest in seinen Armen und seine Rechte strich, wie so oft ihre rechte Hand über<br />

seinen zuckenden Rücken gestreichelt hatte, nun über den Rücken der jungen Frau. Er redete<br />

sanft und beruhigend auf sie ein.<br />

„Hey, Kleines, ist gut. Du hast schlecht geträumt. Für Albträume bin doch ich hier zustän-<br />

dig. Es ist alles in Ordnung.“<br />

Fassungslos stammelte Kelly: „Es tut mir leid ... Du warst tot ... Ertrunken ... Ich dachte,<br />

ich hätte dich verloren ...“ Noch enger drücke Kelly sich an Shawns warmen Körper und dem<br />

jungen Mann schoss durch den Kopf, dass sie dies gerne öfter tun könnte.<br />

„Es geht mir gut. Das war ein Traum.“, sagte er sanft. Langsam beruhigte Kelly sich. Und<br />

wurde sich bewusst, dass sie sich an Shawn klammerte. Verlegen stotterte sie:<br />

13 Die Jacaranda gehört der Familie der Trompetenbaumgewächse an. Die Gattung besteht aus etwa 50 Arten. Es sind mittelgroße bis große,<br />

sommer- oder immergrüne Bäume mit verhältnismäßig kleinen Blättern. Jacaranda-Bäume haben glockenförmige, überwiegend purpur-, lila-<br />

bis malvenfarbige Blüten. In der Blütezeit sind sie über und über mit Blüten übersät.<br />

210


„Ich ... Es tut mir leid. Ich bin ... ganz durcheinander ...“<br />

Leise meinte Shawn: „Na und? Wie oft war ich das schon.“ Er ließ sich langsam in die<br />

Waagerechte sinken und zog Kelly mit sich. Eng kuschelte die junge Frau sich an ihn und es<br />

war ihr im Augenblick egal, wie das wirkte und was dabei herauskommen mochte. Das Ge-<br />

fühl, vor einem toten Shawn zu stehen, steckte ihr im Moment noch viel zu stark in den Kno-<br />

chen. Sie spürte seinen warmen Körper, hörte seinen beruhigenden, kräftigen Herzschlag und<br />

alles andere war ihr egal!<br />

*****<br />

17) Das Andreaskreuz<br />

Oft besteht das einzige Heilmittel unserer Schmerzen im Vergessen.<br />

Balthasar Gracián y Morales<br />

Als Shawn am kommenden Morgen aufwachte spürte er, dass Kelly eng an ihn ge-<br />

schmiegt in seinen Armen lag. Kurz dachte er an die Nacht, als er bei Carrie fast erstickt war<br />

und eine Gänsehaut huschte ihm über den Körper. Da war er es gewesen, der am darauf fol-<br />

genden Morgen eng an Carrie gekuschelt aufgewacht war. Er seufzte frustriert. Wie hatte er<br />

auf diese Frau hereinfallen können? Kelly hatte mit dem, was sie sagte, sicher Recht. Carrie<br />

war eine Meisterin der Manipulation. Anders war es nicht zu erklären. Sie hatte mit ihm ge-<br />

spielt, er war Wachs in ihren Händen gewesen. Wie wundervoll war es gewesen, wenn sie<br />

sich nach harten Sessions liebevoll um ihn gekümmert hatte. Er hatte jede einzelne Sekunde<br />

genossen. Hatte es genossen, wenn sie ihn vorsichtig mit schmerzstillender Salbe versorgte,<br />

wenn sie ihn tröstend in die Arme nahm, es war wie eine andere Welt gewesen, in die er sich<br />

für wenige, wundervolle Minuten hatte flüchten können. Für eine Weile alles vergessen. Sich<br />

geliebt und verstanden fühlen. Shawn wurde langsam deutlicher klar, dass er in seiner ver-<br />

zweifelten Situation keine andere Wahl gehabt hatte, als auf Carrie herein zu fallen. Er be-<br />

gann zu Akzeptieren, dass er sich keine Vorwürfe zu machen brauchte, weil er auf die junge<br />

Frau hereingefallen war. Wenn man die Wahl hatte zwischen unerträglichen Schmerzen und<br />

einem Schmerzmittel, das süchtig machte, würde jeder das Schmerzmittel wählen, egal, wel-<br />

che Konsequenzen es verursachen würde.<br />

Er spürte, dass Kelly sich neben ihm regte. Unbewusst, noch im Halbschlaf, strichen die<br />

Finger ihrer rechten Hand, die auf seiner Brust lag, sanft über seine Haut. Wie viel ehrlicher<br />

diese sanften, unbewussten Berührungen im Gegensatz zu jeder von Carries Liebkosungen<br />

wirkten. Obwohl in Shawns Kopf das Bewusstsein, dass mit Kelly nie mehr laufen würde als<br />

innige Zuneigung zwischen Patient und Arzt, durchaus vorhanden war, konnte er nicht anders<br />

211


als das Gefühl genießen. Er wunderte sich selbst darüber, hatte er doch nicht angenommen,<br />

wieder Berührungen ertragen zu können ohne in Angstschweiß auszubrechen. Die junge Frau<br />

wachte richtig auf und rekelte sich verschlafen.<br />

„Guten Morgen ...“, nuschelte sie noch müde.<br />

„Guten Morgen.“ Shawn seufzte unhörbar auf, als Kelly sich sanft aus seinen Armen löste.<br />

Sie erhob sich gähnend und streckte sich. Dann knurrte sie kopfschüttelnd:<br />

„Es tut mir so leid, dass ich dich heute Nacht gestört habe. Was für ein beschissener Alb-<br />

traum!“<br />

Shawn grinste frustriert. „Hey, du sprichst hier mit dem Meister der Albträume. Du<br />

brauchst mir nicht zu erzählen, wie mies diese Dinger sind.“ Er sah Kelly an und schüttelte<br />

leicht genervt den Kopf.<br />

„Was ist?“, fragte die junge Frau neugierig. Shawn setzte sich auf und meinte knurrig:<br />

„Ich habe daran gedacht, dass ich nach der Horrornacht morgens in Carries Armen aufge-<br />

wacht bin, so, wie du eben ...“ Er verstummte. Dann erzählte er schnell...<br />

*****<br />

Carrie spürte Shawns heftiges Zittern im Schlaf und schlug die Augen auf. Sie lächelte,<br />

als sie merkte, dass er eng an sie geschmiegt in ihren Armen lag. Leise sagte sie:<br />

„Guten Morgen.“<br />

Erschrocken zuckte Shawn zusammen. „Guten Morgen ...“<br />

„Wie fühlst du dich?“, fragte sie und drehte sich zu ihm herum. Noch müde erklärte er:<br />

„Ganz gut. Der Schreck steckt mir noch in den Knochen.“<br />

Sie lächelte sanft. „Das kann ich mir vorstellen. Wir werden das mit dem Knebel üben<br />

müssen, damit so was nie mehr passiert. Du darfst keine Panikattacke bekommen, nur, weil<br />

du geknebelt bist.“<br />

Er nickte. „Okay.“ Im Augenblick hatte er das Gefühl, nichts könnte ihm Panik verursa-<br />

chen, immerhin lag er in Carries Armen. Doch das Gefühl war vorbei. Sie machte sich frei<br />

und stand auf. Sie sah ihn an und sagte ruhig:<br />

„Du weißt, was als erstes kommt, also streck bitte deine Hände nach oben.“ Ergeben<br />

drehte er sich auf den Rücken und streckte die Hände über den Kopf. Carrie fixierte diese an<br />

den Bettstreben und trat zum Schrank, aus dem sie die gleiche Peitsche nahm wie am Morgen<br />

zuvor.<br />

„Ich möchte, dass du die Beine in die Position bringst, die du gestern einnehmen muss-<br />

test.“ Schwer atmend zog er die Beine an und ließ sie zu den Seiten aufklappen.<br />

„Wir werden das so lange ungefesselt üben, bis du es schaffst, alle zehn Schläge zu über-<br />

stehen, ohne zu Zucken, verstanden?“<br />

Er nickte. „Verstanden.“<br />

212


Carrie stieg auf die Matratze und stellte sich breitbeinig mit dem Rücken zu ihm über sei-<br />

nen Körper. Schwer atmend wartete Shawn auf den ersten Schlag. Seine Hände waren zu<br />

Fäusten geballt und er war wild entschlossen, still liegen zu bleiben. Er sah, dass Carrie aus-<br />

holte und hielt die Luft an.<br />

Die ersten zwei Schläge zischten brennend heiß auf seine Schenkel, der dritte traf seine<br />

Hoden und den Penis. Als der vierte Schlag unmittelbar folgte, entwich ihm ein leiser<br />

Schmerzensschrei. Seine Beine zuckten, aber er schaffte es, sie geöffnet zu halten und Carrie<br />

nickte zufrieden. Nochmals klatschten die Riemen schmerzhaft auf seine Schenkel und dann<br />

traf ein weiterer Schlag seine Genitalien und zwar so hart, dass sein Wille zerbröselte und<br />

seine Beine sich krampfhaft schlossen. Gequält schrie er auf. Und öffnete hastig die Beine.<br />

Carrie sagte ruhig:<br />

„Elf.“, und holte erneut aus. Shawn wand sich auf der Matratze und schaffte es ausge-<br />

rechnet beim letzten Schlag nicht mehr, die Beine in der vorgeschriebenen Haltung zu lassen.<br />

Prompt fing er sich noch einen zwölften Schlag ein. Zufrieden meinte Carrie:<br />

„Das war besser als gestern. So, du hast dreißig Minuten, dann hole ich dich zum Früh-<br />

stück, okay.“<br />

Zitternd und schwer atmend, schweißgebadet, lag Shawn auf den Bett und stieß mit be-<br />

bender Stimme hervor:<br />

„Ich werde fertig sein.“<br />

Carrie machte ihn los und verließ den Raum. Shawn blieb noch einen Moment liegen,<br />

dann rappelte er sich mit zitternden Beinen auf und ging ins Bad. Als er unter der Dusche<br />

stand, drehte er das Wasser kalt und kühlte sich zähneklappernd die brennenden Striemen.<br />

Als die Schmerzen auf ein erträgliches Maß gesunken waren, wusch er sich gründlich und<br />

stellte fest, was für ein seltsames Gefühl es war, keine Vorhaut mehr zu haben und keine Haa-<br />

re im Intimbereich. Komischerweise verursachte das Fehlen der Intimbehaarung ein starkes<br />

Gefühl der Schutzlosigkeit. Dass war psychologischer Natur, aber es war vorhanden. Er lach-<br />

te frustriert. Als ob ein paar Haare ihn vor irgendetwas hier schützen könnten!<br />

*****<br />

„Es war wesentlich schöner, mit dir im Arm aufzuwachen.“ Kelly hatte sich auf die Bett-<br />

kante neben Shawn gesetzt und zugehört. Immer mehr widerte die Vorstellung, dass der junge<br />

Mann sich in Schmerzen gewunden hatte, sie an. Es jagte ihr heftige Schauer über den Rü-<br />

cken, wenn sie sich Shawn nackt, qualvoll gefesselt und vor Schmerzen schreiend vorstellte.<br />

Energisch schüttelte sie die Vorstellung ab. Das war vorbei. Er würde nie wieder vor Schmer-<br />

zen schreien müssen, nicht, solange sie bei ihm war! Unmittelbar schoss ihr durch den Kopf,<br />

dass sie dies aber nicht für immer wäre. Verflucht! Wie sollte sie ihre Gefühle für Shawn be-<br />

213


kämpfen? Warum musste sie anfangen, sich in ihn zu verlieben? Das durfte nicht passieren!<br />

Wütend über sich selbst und ihre Gefühle stand Kelly energisch auf. Sie machte erst einmal<br />

für Shawn und sich eine Tasse Kaffee fertig. Damit setzte sie sich neben ihn und drückte ihm<br />

seine Tasse in die Hand. Ruhig meinte sie:<br />

„So wirst du nie wieder geweckt werden, Shawn. Nie wieder! Das gehört der Vergangen-<br />

heit an, okay. Du wirst dich ohne Angst daran erinnern können.“ Sie sah Shawn aufmunternd<br />

an. Leise sagte dieser:<br />

„Ich habe das Gefühl, ich finde mich langsam mit der Tatsache ab, dass ich keine Chance<br />

hatte, mich gegen Carries Manipulationen zu wehren. Ist das gut?“<br />

Freudig erwiderte Kelly: „Aber sicher ist es das. Wenn du es akzeptieren kannst, dass du<br />

keine Schuld daran trägst, dass du dich Carrie hingegeben hast, wird dich dein Verhalten nicht<br />

mehr behelligen können. Das ist ein großer Schritt!“ Erfreut umarmte sie Shawn, der sich dies<br />

gerne gefallen ließ.<br />

„Es wird Zeit, dass wir in die Gänge kommen, der Hubschrauber kommt zu um 10 Uhr.“,<br />

erklärte Kelly nun.<br />

„Ja, wird Zeit. Du zuerst oder ich?“<br />

Kelly grinste. „Geh du. Ich packe unsere Sachen zusammen.“ Sie hatten am Abend auf<br />

dem Heimweg noch ihre Kleidungsstücke aus dem Trockner geholt. Kelly legte diese zusam-<br />

men und verstaute sie im Rucksack. Als sie alles gepackt hatte, war Shawn mit Duschen fertig<br />

und die junge Frau konnte sich abspülen gehen. Um 9 Uhr saßen sie nebeneinander auf der<br />

Terrasse des Resort Restaurants und ließen sich mit Spiegeleiern, Speck, Kaffee und Toast<br />

verwöhnen.<br />

„Wir müssen noch Tanken, Wasser zuladen und ein paar Lebensmittel kaufen, bevor wir<br />

zurück ins Outback gehen.“<br />

Shawn nickte. „Habe ich dran gedacht. Machen wir nach dem Flug in aller Ruhe, was?“<br />

„Ja, das war mein Plan. Die nächsten Tage werden wir draußen verbringen, da darf uns<br />

nichts fehlen.“ Kelly warf einen Blick auf die Uhr und wie verabredet war in diesem Moment<br />

das leise Geräusch eines sich nähernden Hubschraubers zu hören. Schnell trank Shawn seinen<br />

Kaffee aus, dann sagte er:<br />

„Der ist superpünktlich. Ich freue mich auf den Flug!“<br />

Kelly lachte. „Das sehe ich. Na, lass uns zum Startplatz gehen, nachher fliegt der noch oh-<br />

ne uns.“<br />

Shawn erhob sich und sie marschierten zum Landeplatz des Hubschraubers hinüber. Da<br />

sie die einzigen Gäste waren, die an diesem Morgen fliegen wollten, hob der kleine Helikop-<br />

ter unmittelbar ab, nachdem Shawn und Kelly den Piloten begrüßt und Platz genommen hat-<br />

ten. Sie stülpten sich die bereitliegenden Kopfhören über. Der Pilot flog in südlicher Richtung<br />

aus dem Resort heraus und hielt sich an den Verlauf des Finke River, dessen spärliches Was-<br />

214


ser unter ihnen in der Sonne glitzerte. Shawn war begeistert. Von oben sah das rote Land noch<br />

endloser aus. Ein ums andere Mal drückte der junge Mann den Auslöser des Fotoapparates<br />

und zeigte fasziniert auf hübsche Stellen. Kelly freute sich, dass er entspannt und zufrieden<br />

wirkte. Sie machte ihn selbst auf schöne Ausblicke aufmerksam. Der Pilot ließ sich Zeit, da<br />

Kelly die doppelte Summe bezahlt hatte. Er wandte sich nach Südwesten und vor ihnen tauch-<br />

te Gosses Bluff auf.<br />

„Von hier oben sieht es viel größer aus!“, sagte Shawn in das kleine Mikrofon, das an den<br />

Kopfhörern befestigt war.<br />

„Ja, aber außen ist der Umfang auch größer als innen drin.“<br />

In einem weiten Bogen flog der Pilot in Richtung Nordwesten. Er flog bis ans Ende der<br />

MacDonnell Ranges und Shawn konnte sich überzeugen, dass die Bergketten von oben wie<br />

riesige Wellenkämme aussahen.<br />

„Das ist ein faszinierender Anblick!“, erklärte er begeistert. Die Therapeutin konnte ihm<br />

nur zustimmen. Wie endlose, grün-rote Wellen zogen sich die Ranges unter ihnen entlang.<br />

Der Pilot folgte ihnen eine Weile, dann machte er erneut einen Schwenk, diesmal direkt nach<br />

Norden. In einiger Entfernung tauchte ein rotes Band auf, das Shawn beim Näherkommen als<br />

unbefestigte Straße identifizierte. Wie mit einem Lineal ausgerichtet zog sich die Straße durch<br />

das karge, leere Land. Ein einsames Auto war auf ihr unterwegs und hinterließ eine dicke<br />

Staubwolke, die sich eine ganze Weile in der Luft hielt, da es absolut windstill war.<br />

send.<br />

„Da werden wir später unterwegs sein. Das ist die Haasts Bluff Road.“ meinte Kelly grin-<br />

„Von hier oben sieht es fast beängstigend leer aus.“, meinte Shawn schmunzelnd. „Ich<br />

weiß nicht, ob ich mich mit dir da hinauswagen soll.“<br />

Die junge Frau streckte ihm die Zunge aus und meinte gehässig: „Kannst gerne in Glen<br />

Helen bleiben. Wenn du dort Wurzeln geschlagen hast, schicke ich jemanden vorbei, der dich<br />

ausgräbt.“<br />

Langsam näherten sie sich den Ranges und Shawn vergaß, auf Kellys Gehässigkeit zu<br />

antworten. Lieber sah er nach unten und war ergriffen von der Schönheit des Landes.<br />

„Sehen wir uns das noch von dichtem an?“ fragte er Kelly. Diese nickte.<br />

„Ja, wir werden uns eine Stelle anschauen, und ich denke, wir werden da heute Nacht<br />

bleiben. Dort gibt es noch einmal Wasser ...“ Sie deutete nach unten. „Schau dir das an!“<br />

Noch einmal waren die Ranges zu sehen, wie sie sich nach Westen in das Land hinein zogen.<br />

Shawn machte ein weiteres Bild, dann blieben die Bergkämme allmählich hinter ihnen zurück<br />

und der Hubschrauber näherte sich langsam der Glen Helen Gorge. Schon tauchte der Finke<br />

River auf. Man konnte deutlich sehen, dass er an einigen wenigen Stellen noch Wasser führte.<br />

Wie kleine Pfützen wirkten die übergebliebenen Wasserstellen von hier oben.<br />

215


„Wann ist Regenzeit hier?“, fragte Shawn interessiert.<br />

„Im August und September fällt der meiste Regen. Dann sind viele Straßen im Outback<br />

unpassierbar. Aber es fällt nicht jedes Jahr Regen, wir haben auch oft Jahre der Trockenheit.<br />

Dieses Jahr hatten wir im August und Anfang September viel Regen. Das dort unten sind die<br />

Überbleibsel.“<br />

Shawn hörte aufmerksam zu und machte noch einige letzte Bilder. Schließlich aber näher-<br />

te sich der Helikopter dem Resort und ging dort sanft zu Boden. Als es leise wurde sagte<br />

Shawn überwältigt:<br />

„Das war einmalig schön!“<br />

Der Pilot grinste gutmütig und erklärte: „Es macht viel mehr Spaß, wenn die Passagiere es<br />

zu schätzen wissen, wie schön unser Outback ist.“ Er verabschiedete sich von Shawn und<br />

Kelly und diese eilten zu ihrem Wagen, der bereits beladen war. Sie hatten das Zimmer am<br />

Morgen räumen müssen.<br />

Sie fuhren den Wagen zur kleinen Tankstelle des Resorts, füllten den Tank und die Reser-<br />

vekanister sowie ihre Wasservorräte auf. Abschließend kauften sie im Store fehlende Le-<br />

bensmittel, die sie in die Kühlboxen verpackten. Als alles erledigt war, drückte Kelly Shawn<br />

den Wagenschlüssel in die Hand und meinte:<br />

„Bitte nach Westen, Mister McLean.“<br />

Shawn nickte gehorsam. „Wie Sie wünschen, Ma’am.“ Er setzte sich ans Steuer und sie<br />

verließen Glen Helen endgültig. Erst einmal ein kleines Stück in nördlicher Richtung, bis sie<br />

den Highway 2, den Namatjira Drive erreicht hatten. Diese Straße zog sich zirka 120 Kilome-<br />

ter durch das Outback, beginnend am Larapinta Drive, dem Highway 6, an der Nordseite der<br />

MacDonnell Range entlang, bis er schließlich auf die Haasts Bluff Road stieß. Hier machte<br />

der Drive eine scharfe Kurve nach Süden zum Kings Canyon. Die MacDonnell Ranges endete<br />

am Haasts Bluff. Sie kamen auf der staubigen, roten Piste, die nicht befestigt war, schnell<br />

voran und erreichten am frühen Nachmittag das Gebiet an den Ranges, welches Kelly hatte<br />

erreichen wollen.<br />

Abseits der Straße dirigierte sie Shawn zu einem kleinen Wasserloch zwischen steilen<br />

Felswänden. Hier war die Landschaft durch das Wasser grün und nicht staubig und trocken<br />

wie an der Straße.<br />

„Das ist ein wunderschöner Übernachtungsplatz.“, schwärmte Shawn und steuerte den<br />

Wagen zwischen einige Palmen, die sich sanft im Wind bewegten. „Schatten, Wasser, was<br />

will man mehr?“ Sie stiegen aus und sahen sich um. Weit und breit war an diesem Nachmittag<br />

kein anderer Tourist hier zu sehen.<br />

„Allein auf weiter Flur.“, meinte Kelly grinsend. „Darf ich dich denn zu einem erfrischen-<br />

den Bad einladen?“<br />

216


Shawn lachte. „Na klar!“ Lachend rannten sie an das Wasser hinunter und zogen sich aus.<br />

Dann stürzten sie sich in die kühlen Fluten und genossen das Bad in vollen Zügen. Als sie<br />

sich abgekühlt hatten, hockten sie sich zum abtrocknen nebeneinander am Ufer auf einen um-<br />

gestürzten Baum. Nach kurzer Zeit waren sie in der heißen Sonne trocken und schlüpften in<br />

ihre Kleidungsstücke zurück.<br />

„So, und jetzt werden wir mal wandern, sonst bist du am Ende des Trips noch so schlapp<br />

wie am Anfang.“, erklärte Kelly gehässig, was ihr sofort eine Schimpfkanonade von Shawn<br />

einbrachte.<br />

„Ich bin kein Schlappie! Ich habe den höchsten Berg Australiens bestiegen!“<br />

Kelly lachte. „Da träume mal nachts von, mein Herz. Der Mount Kosciusko ist mit 2.230<br />

Metern der höchster Berg Australiens. Und den wirst du nur mit Sauerstoffzelt und auf einer<br />

Trage erklimmen, wenn du nicht in Form kommst.“<br />

Vorsichtshalber brachte Kelly sich nach diesen Worten in Sicherheit. Sie hatte die Rech-<br />

nung ohne Shawn gemacht, der ihr bewies, dass er sehr wohl gut genug in Form war, um sich<br />

solche Sticheleien nicht gefallen zu lassen.<br />

„Na warte, du Hexe! Jetzt reicht es!“, schnaufte er gespielt wütend und nahm die Verfol-<br />

gung auf. Kelly flüchtete zwischen die Bäume und Shawn rannte ihr lachend hinterher.<br />

Schließlich holte er sie ein und packte sie um die Taille. Er drehte sie zu sich herum und drü-<br />

cke die junge Frau gegen einen Baum.<br />

„Langsam komme ich dahinter, warum du bisher nie mit einem deiner Patienten einen sol-<br />

chen Ausflug gemacht hast. Du musstest befürchten, dass sie dich in der Wüste aussetzen, du<br />

kleines, gehässiges Lästermaul.“<br />

Kelly machte: „Ha!“ Kichernd versuchte sie sich zu befreien. Kämpferisch erklärte sie:<br />

„Mich setzt niemand in der Wüste aus. Und so ein Schlaffie wie du schon gar nicht!“<br />

Hinterher hätte keiner der Beiden mehr sagen können, wie es passiert war. Shawns Lippen<br />

verschlossen Kellys frechen Mund. Es war für beide selbstverständlich. Doch kaum wurde<br />

ihnen bewusst, was sie da taten, drifteten sie höchst verlegen auseinander. Leise sagte Kelly:<br />

„Das dürfen wir nicht, Shawn. Du weißt das, ich weiß das ... Wir dürfen es nicht so weit<br />

kommen lassen. Du darfst mir nicht das bedeuten, worauf es Gefahr läuft, hinauszulaufen und<br />

ich darf dir dies genauso wenig bedeuten. Ich bin deine Therapeutin. Ich wäre gezwungen,<br />

dich an einen Kollegen zu überweisen, wenn wir es darauf ankommen ließen.“<br />

Shawn war zurückgetreten und ließ den Kopf hängen. Leise erwiderte er:<br />

„Ist mir klar. Es wird nicht mehr vorkommen, okay.“ Seine Stimme zitterte leicht und er<br />

musste schlucken. „Es tut mir leid, das war ... unangemessen.“ Shawn wollte sich herumdre-<br />

hen und eilig dem Lager zustreben. Kelly hielt ihn zurück.<br />

„Warte.“<br />

217


Zögernd blieb der junge Mann stehen. „Was?“, fragte er leise und klang verängstigt, als<br />

erwarte er, dass Kelly ein Donnerwetter über ihn herein brechen lassen würde.<br />

„Shawn, ich empfinde viel zu viel für dich. Aber ... Ich werde dir keine Hilfe mehr sein<br />

können, wenn ich das zulasse, verstehst du? Wir müssen vernünftig sein. Du möchtest sicher<br />

nicht, dass deine weitere Therapie ein anderer übernimmt und ich will es auch nicht. Wir sind<br />

erwachsene Menschen und müssen uns zusammen reißen. Ich habe nicht mit so was gerech-<br />

net, das ist mir noch nie zuvor passiert. Ich möchte dich weiter betreuen, also müssen wir ei-<br />

nen klaren Strich ziehen, okay? Bis hier hin und nicht weiter.“<br />

Shawn hatte mit gesenktem Kopf zugehört. Unglücklich erwiderte er: „Ich bin sicher, dass<br />

ich das in den Griff bekomme. Bitte, schicke mich nicht fort, bitte! Wer außer dir könnte mir<br />

wohl so helfen?“ Er geriet richtig in Panik. „Wenn du mich nicht weiter betreust, werde ich<br />

das nie überwinden. Bitte, Kelly, ich schwöre dir, ich werde nie ...“<br />

Kelly trat schnell an Shawn heran und griff nach seinen Händen. „Hey, bleib ruhig. Ich<br />

werde dich nicht fort schicken, hab keine Angst. Beruhige dich, okay?“<br />

...“<br />

Mühsam kratzte Shawn einen Rest Beherrschung zusammen und atmete tief durch. „Okay<br />

„Lass uns zum Lager zurückgehen.“, meinte Kelly so beherrscht wie möglich und Shawn<br />

nickte. Schweigend kehrten sie zu ihrem Wagen zurück und schweigend bauten sie das Zelt<br />

auf. Kelly kümmerte sich ums Abendessen und als es dunkel wurde und sie satt waren, meinte<br />

sie:<br />

„So, wie sieht es aus? Bist du bereit?“ Shawn hatte trübselig vor sich hin gestarrt. Er<br />

schreckte auf und prustete angespannt.<br />

„Ja ... Es kommt ein besonders schöner Tag ...“ Er streckte sich auf der anderen Seite des<br />

Lagerfeuers aus, doch Kelly schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, komm her. Wie immer, okay?“ So legte er sich zu ihr und begann zu sprechen...<br />

*****<br />

Dreißig Minuten später war Carrie zurück und hatte ein Tablett in der Hand, auf dem ein<br />

hervorragendes Frühstück stand, statt ihn, wie angekündigt, zum Frühstück abzuholen. Sie<br />

stellte es auf den Tisch und sagte:<br />

„Guten Appetit.“ Sie setzte sich im Schneidersitz auf sein Bett und beobachtete ihn, wäh-<br />

rend er aß. Peinlich achtete er darauf, nicht versehentlich die Beine zu schließen. Carrie re-<br />

gistrierte seine Konzentration darauf zufrieden. Als er fertig gegessen hatte und sich noch<br />

eine weitere Tasse Kaffee genommen hatte, erklärte sie ruhig:<br />

„Du wirst heute deinen Hausdienst anfangen, ich denke, die Eingewöhnungszeit ist vor-<br />

bei. Und um 13 Uhr werden wir dich mit dem Andreaskreuz bekannt machen. Karen möchte<br />

dich gründlich auspeitschen. Sie ist ganz heiß darauf.“<br />

218


Ihm wurde schlagartig ebenfalls heiß! Zu wissen, was kommen würde, war grausam. Und<br />

genau zu wissen wann es kommen würde, war noch grausamer. Mühsam beherrscht trank er<br />

seinen Kaffee und versuchte verzweifelt, das Zittern seiner Hand zu verbergen. Carrie sah<br />

dies sofort und ein warmer Schauer der Erregung huschte über ihren Körper.<br />

„Ich möchte, dass du dich um Punkt 13 Uhr selbst im Keller meldest.“ Jetzt konnte er ein<br />

Zittern nicht mehr verbergen. Mühsam quetschte er ein:<br />

„Okay.“, hervor.<br />

Carrie lächelte. „Gut, komm, ich werde dich zu Alan bringen, der dir deine Arbeit zutei-<br />

len wird.“ Shawn trank den letzten Schluck Kaffee aus, erhob sich und folgte Carrie, die ihn<br />

in den herrlichen Garten führte. Hier war Alan damit beschäftigt, Unkraut zu ziehen. Er sah<br />

auf, als Carrie mit Shawn hinzu trat und sagte:<br />

„Na, da ist er ja. Dann mal los. Du wirst hier weiter das Unkraut entfernen.“ Er deutete<br />

auf die Blumenbeete und drückte Shawn Hacke und Unkrautstecher in die Hand. Dieser kam<br />

sich extrem blöde vor, hier nackt und mit dem elenden Plug im Hintern, der in gebückter Hal-<br />

tung überdeutlich zu sehen war wie eine rote Lampe, Unkraut jäten zu müssen, aber er fing<br />

kommentarlos an. Carrie sah ihm noch einen Moment zu, dann ging sie zufrieden ins Haus.<br />

Einerseits war Shawn froh, eine Beschäftigung zu haben, denn das lenkte ihn ab. Anderer-<br />

seits war es nicht angenehm, nackt gebückt in der heißen Sonne zu stehen und Unkraut zu<br />

Zupfen. Er hatte mit bekommen, dass Carrie und ihre Freunde sich gemütlich auf die Terras-<br />

se in den Schatten gesetzt hatten und sich unterhielten. Dass sie ihn im Auge behielten, war<br />

ihm nicht entgangen. Krampfhaft bemühte er sich, den Gedanken auszublenden. Gelingen<br />

wollte ihm dies nicht. Er war nach kurzer Zeit verschwitzt und staubig und fühlte sich nackt<br />

mit jeder Minute unwohler. Aber das war nicht zu ändern und so arbeitete er verbissen wei-<br />

ter. Gegen Mittag erschien Alan und sah prüfend das Beet an, an dem Shawn arbeitete.<br />

wird.“<br />

„Sieht gut aus. Okay, Mittag, du kannst Duschen und hinterher wartest du, dass es 13 Uhr<br />

Shawn streckte sich, die ungewohnte Arbeit spürte er im Rücken. Wortlos reichte er Alan<br />

das Werkzeug und marschierte unter den Blicken der vier Freunde ins Haus. Erleichtert stand<br />

er Minuten später unter der Dusche und spülte sich Dreck und Schweiß vom Körper. Als er in<br />

den großen Raum zurückkam, stand ein Tablett mit Sandwiches auf dem Tisch und eine Ka-<br />

raffe Eistee. Durstig trank Shawn ein Glas Tee und ließ sich in einen Sessel fallen. Sein Blick<br />

huschte zur Uhr an der Wand und ihm wurde heiß. Kurz nach halb 1 Uhr. Jetzt, wo er nichts<br />

mehr hatte, mit dem er sich ablenken konnte, schlug die Angst gnadenlos über ihm zusammen.<br />

Eine eisige Faust schien sich in seinem Magen zu ballen und sein Herz hämmerte<br />

schmerzhaft in seiner Brust. Mit zitternder Hand griff er nach einem Sandwich, aber nach<br />

zwei Bissen legte er es entnervt aus der Hand. Sein Mund war trocken und er nahm ein weite-<br />

219


es Glas Tee. Unaufhaltsam näherte sich der Minutenzeiger der 12. Shawn wurde zusehends<br />

nervöser. In seinem Hals bildete sich ein Klumpen, den er nicht mehr herunterschlucken<br />

konnte. Er stand auf und sah aus der offenen Terrassentür zum Meer hinunter. Alles in ihm<br />

schrie danach, wegzurennen, aber wohin hätte er rennen sollen? Verzweifelt stöhnte er auf.<br />

Sein Magen flatterte und er musste dringend Pinkeln. Zehn vor 1 Uhr. Eilig ging er noch ein-<br />

mal zur Toilette, dann machte er sich mit zitternden Beinen auf den Weg zum Keller. Hektisch<br />

durch den Mund atmend und am ganzen Leib zitternd stand er schließlich vor der Tür zum<br />

Folterraum und konnte sich nicht überwinden, die Tür zu öffnen. Er schloss die Augen und<br />

ein Geräusch wie ein Schluchzer kam ihm über die Lippen. Er atmete noch einmal tief ein und<br />

öffnete entschlossen die Tür.<br />

Die vier Freunde saßen gemütlich auf der Streckbank und unterhielten sich. Als Shawn<br />

den Raum betrat, warf Carrie einen Blick auf ihre Armbanduhr und nickte zufrieden. Shawn<br />

biss die Zähne zusammen, sonst hätten sie vor Angst aufeinander geklappert. Carrie begrüßte<br />

ihn.<br />

uns.“<br />

„Da bist du ja. Wunderbar, da können wir loslegen. Stell dich an das Kreuz, Gesicht zu<br />

Seine Beine wollten nachgeben, aber Shawn zwang sie, ihn zu dem Andreaskreuz zu tra-<br />

gen. Langsam drehte er sich herum und trat zurück, bis er das Gerät an seinem Körper spür-<br />

te. Carrie trat zu ihm und forderte ihn auf, die Beine so weit zu spreizen, dass sie ihn an das<br />

Kreuz fixieren konnte. Als seine Fußgelenke gefesselt waren, legte sie ihm am Kreuz befestigte<br />

Riemen stramm, knapp oberhalb der Knie, um die Beine. Dann richtete sie sich auf und zog in<br />

der Mitte des Kreuzes, in Höhe seiner Taille, einen weiteren Riemen um seinen Körper. Es<br />

fehlten noch die Hände. Sie trat dich an ihn heran, so dicht, dass er ihren Körper an seinem<br />

spürte. Langsam griff sie nach seiner linken Hand und ebenso quälend langsam drückte sie<br />

diese nach oben, bis der Arm ausgestreckt war und sie den Haken an dem dafür vorgesehenen<br />

Stahlring befestigen konnte. Sie spürte sein heftiges Zittern und seufzte leise vor Erregung.<br />

Als der Haken einrastete, hatte Shawn das Gefühl, als zerreiße etwas in ihm. Er zitterte so<br />

stark, dass seine Beine ihn nicht mehr getragen hätten, wäre er nicht an das Kreuz gefesselt<br />

gewesen. Carrie griff nach seiner rechten Hand und seine Finger verschlangen sich panisch<br />

in ihren. Genauso langsam drückte sie diese Hand in die Höhe und sah ihm in die Augen. Die<br />

unsägliche Angst, die sie in ihnen sah, ließ ihren Schoß pulsieren vor Erregung. Einige Se-<br />

kunden ließ sie es noch zu, dass er sich an ihre Hand krallte, dann hakte sie den Karabiner<br />

ein und Shawn war gefesselt. Verzweifelt folgten seine Augen ihr. Sie trat zurück und ließ ihre<br />

Hände sanft über seinen Körper gleiten. Schließlich aber trat sie wortlos beiseite und setzte<br />

sich ihm gegenüber auf einen Sklavenbock. Seine Augen hingen an ihr und bettelten sie um<br />

Gnade an. Aber sie wollte ihn schreien hören! Sie sah Karen an und nickte.<br />

220


Diese trat an den Schrank mit den Peitschen und entschied sich, eine Bullenpeitsche zu<br />

benutzen. Diese zirka 90 Zentimeter lange, einschwänzige, aus Leder gefertigte Peitsche ver-<br />

ursachte heftige Schmerzen. Ein, zwei Tage würde der Sklave gezeichnet sein, dann würden<br />

die Striemen verschwinden. Langsam trat Karen an den gefesselten Shawn heran und sagte:<br />

„Deine Besitzerin möchte dich gerne Brüllen hören. Wir sollten ihr den Gefallen tun,<br />

sonst wird sie sauer.“ Langsam trat sie zwei Schritte zurück und hob die Peitsche. Shawn<br />

atmete viel zu schnell und flach und alles in ihm verkrampfte sich. Seine Hände ballten sich zu<br />

Fäusten. Er sah, dass sie zuschlagen würde und hielt unwillkürlich die Luft an. Und schon<br />

klatschte der Riemen unglaublich schmerzhaft über seinen Bauch. Zischend entwich Shawn<br />

die Luft aus dem Lungen und er zuckte heftig zusammen. Zitternd atmete er ein und schon traf<br />

ihn der nächste Schlag, diesmal über die Oberschenkel. Karen ließ sich Zeit. Sie legte kleine<br />

Pausen ein, um ihm Gelegenheit zu geben, durchzuatmen. Schnell war Shawns Körper sowohl<br />

mit dünnen, roten Striemen als mit Schweiß überzogen. Noch hatte er es geschafft, außer hef-<br />

tigem Keuchen keinen Laut von sich zu geben, doch Karen wusste seinen Widerstand zu bre-<br />

chen. Sie schlug schneller zu und Shawn hatte keine Chance mehr, sich wenigstens ansatzwei-<br />

se zu fangen. Und schließlich war es so weit. Der erste Aufschrei entwich ihm. Er versuchte<br />

noch einmal, sich zu beherrschen, aber seine Kräfte ließen schnell nach und schließlich brüll-<br />

te er bei jedem Treffer gellend auf.<br />

Brust, Bauch und Schenkel brannten, als hätte jemand Feuer darauf entzündet und Shawn<br />

schrie seine Schmerzen haltlos hinaus. Konvulsivisch wand er sich, soweit die strammen Fes-<br />

seln es erlaubten. Schweiß lief ihm in Strömen über den Körper und brannte ihm in den Au-<br />

gen. Er schluchzte und keuchte. Ein weiterer brutaler Schlag über den Bauch und Shawn<br />

schrie!<br />

„BITTE! Bitte! Das tut so weh ... Lieber Gott, hilf mir!“<br />

Der nächste Schlag traf die Oberschenkel<br />

„Carrie ... BITTE!“<br />

Seine tränenüberströmten Augen hingen bettelnd an ihr und er wimmerte um Gnade. Doch<br />

er hatte keine zu erwarten.<br />

„Es tut so weh ... es tut so weh ...“<br />

Und dann endlich, nach schier endloser Zeit, hörte er wie durch Watte Carries Stimme.<br />

„Okay, das reicht, Karen, du hast das gut gemacht. Es war ... wow, so geil!“<br />

Shawn hing in den Fesseln, seine Beine trugen ihn nur noch, weil er gefesselt war. Er<br />

wünschte sich, zu sterben! Brett, Teresa und Karen traten an ihn heran und Karen erklärte:<br />

„Ich kann es nicht erwarten, das erneut zu machen.“ Shawn beachtete sie gar nicht. Seine<br />

Augen hingen an Carrie, er bekam nichts mehr mit. Das einzige, was er noch bewusst mitbe-<br />

kommen hatte, war Carries Stimme, die der Sache ein Ende machte. Vor seinen Augen tanzten<br />

blutrote Kreise und Geräusche drangen nur noch wie durch Watte an seine Ohren. Er bekam<br />

221


nicht mit, dass Karen, Teresa und Brett den Kerker verließen. Er hing am Kreuz und kämpfte<br />

gegen die Wellen der Ohnmacht an. Und verlor den Kampf. Ihm wurde schwarz vor Augen<br />

und er merkte nichts mehr.<br />

*****<br />

Kelly schluchzte nicht weniger heftig als Shawn. Was sie da gehört hatte, erschütterte sie<br />

bis ins innerste. Die viel zu tiefen Gefühle, die sie für Shawn hegte, standen ihr, das spürte sie<br />

überdeutlich, im Wege. Sie hatte vorher mit ihm gelitten, wenn er von den Torturen erzählt<br />

hatte, die er bei Carrie hatte ertragen müssen. Jetzt aber war es um ein hundertfaches schlim-<br />

mer. Sie sah das Bild plastisch vor sich: Shawn an dem Andreaskreuz, Brust, Bauch und<br />

Schenkel von blutroten Striemen überzogen, schreiend und weinend vor unerträglichen<br />

Schmerzen ... Ihr wurde schlecht. Hastig atmete sie durch den Mund ein, um die Übelkeit<br />

zurückzudrängen. Sie spürte Shawn in ihren Armen krampfhaft schluchzen und zittern. Er<br />

brauchte viele Minuten, um sich halbwegs zu fangen. Und Kelly brauchte diese Zeit ebenfalls,<br />

um sich zu beruhigen. Alles in ihr schrie danach, ihn an sich zu ziehen, ihn zu küssen, zu<br />

liebkosen, ihn so seine Ängste und Verzweiflung vergessen zu lassen. Sie drängte diese Vor-<br />

stellung energisch zurück. Als sie spürte, dass er sich beruhigte, sagte sie mit tränenerstickter<br />

Stimme liebevoll:<br />

„Das war entsetzlich. Aber es ist vorbei, sie werden dir nie wieder wehtun. Du bist bei mir<br />

in Sicherheit.“ Shawn hatte, während er erzählte, den Biss der Peitsche erneut gespürt, hatte<br />

gespürt, wie das Leder seine Haut traf, hatte die unerträglichen Schmerzen gespürt. Leise<br />

wimmerte er:<br />

„Es hat so weh getan ...“<br />

Es tat ihm unendlich gut, in Kellys Armen zu liegen, zu wissen, dass sie mit ihm litt und<br />

Verständnis hatte. Und dass ihr Mitgefühl ehrlich gemeint war.<br />

„Als ich ... Als ich endlich die Besinnung verlor ... Das letzte, was ich dachte, bevor es<br />

dunkel wurde war: Hoffentlich wache ich nie wieder auf!“ Erneut kämpfte sich ein Schluchzer<br />

über seine Lippen. „Ich wollte nie wieder solche Schmerzen ertragen müssen ... Ich bin kein<br />

Jammerlappen. Ich habe gedacht, ich sei hart im nehmen. Man hat ... Die haben mir eine hohe<br />

Schmerztoleranz nachgesagt ... Ärzte, meine Eltern, aber da ... Ich hätte alles getan, alles, da-<br />

mit sie aufhört.“<br />

Kelly ließ ihre Finger sanft durch Shawns Haare gleiten. Sie erklärte:<br />

„Hör zu, Shawn. Schmerz entsteht im Gehirn. Deine innere Haltung ist stark ausschlagge-<br />

bend, wie schwach oder stark Schmerz empfunden wird. Es ist wissenschaftlich erwiesen,<br />

dass man in Situationen, die einem suggerieren, es wäre sinnvoll, Schmerzen zu haben, eine<br />

viel höhere Schmerzgrenze hat als in Situationen, wo Schmerz als sinnlos empfunden wird.<br />

222


Man hat Versuche gemacht, in denen eine Gruppe von Probanden Helden spielten, die eine<br />

Prinzessin befreien mussten. Eine zweite Gruppe wurde durch ein Labyrinth gejagt und dort<br />

sinnlosen Schmerzimpulsen ausgesetzt. Beide Gruppen waren vorher neutral getestet worden<br />

und man hatte Probanden ausgesucht, die eine ziemlich gleiche Schmerztoleranz hatten. Sie<br />

konnten in diesem Versuch die Schmerzen, die sie bereit waren ihrer Rolle entsprechend zu<br />

ertragen, selbst bestimmen. Sie hatten mittels eines Schalters die Möglichkeit, sich Hitzereize<br />

zuzufügen. Es stellte sich schnell heraus, dass die ‘Helden‘ bereit waren, Schmerzen in Kauf<br />

zu nehmen, die so groß waren, dass die Wissenschaftler eingreifen mussten, weil akute Ver-<br />

letzungsgefahr bestand. Ab 53° gibt es Verbrennungen und diese Temperatur wurde von eini-<br />

gen der Probanden schnell erreicht. Dagegen waren die Gejagten im Labyrinth viel empfindli-<br />

cher als in der vorher ermittelten neutralen Situation. Sie hatten vorher eine Temperatur von<br />

32° bis 35° als okay empfunden, doch nun lag ihre Grenze deutlich darunter und schon 25°<br />

wurden zum Teil als sehr unangenehm empfunden.“<br />

Kelly spürte, dass Shawn entspannte. Er seufzte leise und meinte:<br />

„Dann war ich wohl im Labyrinth, was?“<br />

Die junge Frau nickte. „Allerdings. Und du wusstest, dass du sein Ende nie würdest errei-<br />

chen können. Dass du dazu verurteilt warst, bis in alle Ewigkeit durch das Labyrinth zu ir-<br />

ren.“<br />

Shawn überlegte eine Weile. Schließlich sagte er leise: „Wenn sie ... gedroht hätten, dir<br />

etwas zu tun, wenn ich nicht die Schmerzen aushalten würde, hätte ich es wesentlich besser<br />

ertragen?“ Er verstummte verlegen. Kelly musste tief durchatmen, nickte aber ehrlich.<br />

„Ja, das ist der Punkt. Hätte Carrie dir gesagt, du müsstest einmalig eine Stunde lang<br />

durchhalten, um dann nie mehr gequält zu werden, du hättest die Stunde locker überstanden.<br />

So aber wusstest du, bevor der erste Schlag dich traf, dass dies der Anfang einer nicht enden<br />

wollenden Tortur war. Weißt du, wir Menschen haben ein inneres Schmerzdämpfungssystem,<br />

das auf der Wirkung von Opioiden beruht. Diese körpereigenen Schmerzmittel docken in Not-<br />

fallsituationen an bestimmte Rezeptoren der Neuronen an und unterdrücken so das Schmerz-<br />

empfinden. Wie viele Opioide ausgeschüttet werden, steuert das Gehirn. Hat das Leiden einen<br />

Sinn, beispielsweise weil man damit Schlimmeres abwenden kann oder anderweitig profitiert,<br />

kann das Erdulden von Schmerzen ein evolutionärer Vorteil sein. Sinnloses Leiden hat nega-<br />

tive Folgen und sollte nicht in Kauf genommen werden - die Schmerzschwelle sinkt.“<br />

Shawn hörte aufmerksam zu. Kelly fuhr fort: „Neben den Opioiden im Gehirn verfügt der<br />

Körper noch über einen weiteren Biomechanismus, der die Schmerzschwelle beeinflusst: das<br />

sogenannte Dorsalhorn. Es liegt im Rückenmark und ist die Schaltstelle zwischen den<br />

schmerzempfindlichen Nervenfasern des Körperumfeldes und den Neuronen. Du kannst es dir<br />

als eine Art Schmerzwächter vorstellen, der entscheidet, in welchem Umfang die Schmerzin-<br />

223


formationen an dein Hirn weitergeleitet werden. Das Rückenmark ist aber keine Einbahnstra-<br />

ße, verstehst du? Du musst es dir vielmehr als eine Art Ausstülpung des Gehirns vorstellen.<br />

Somit kann es, je nach psychischer Verfassung, das Dorsalhorn beeinflussen. Ist der Mensch<br />

ängstlich oder traurig, wird der Wächter beispielsweise ausgeschaltet und Schmerzinformati-<br />

onen gelangen ungefiltert ins Schmerzzentrum. Menschen mit Depressionen sind zum Bei-<br />

spiel sehr empfindlich. In Wettkampf- und Gefahrensituationen, bei akutem Stress, oder wenn<br />

ein Mensch abgelenkt oder entspannt ist, aktiviert das Gehirn den Schmerzwächter. Der<br />

Schmerz wird daraufhin nicht oder weniger stark wahrgenommen. Du warst in einer mehr als<br />

depressiven Stimmung. Folglich hast du die Schmerzen von vornherein als schlimmer emp-<br />

funden, weil dein Dorsalhorn ausgeschaltet war und die Schmerzimpulse ungedämpft in dei-<br />

nem Gehirn ankamen.“<br />

Leise und stockend meinte Shawn: „Dann bin ich kein Schlappschwanz, was?“<br />

Kelly schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, Shawn, das bist du ganz sicher nicht!“ Sie<br />

hatte ihm das Ganze bereits mit anderen Worten erklärt, aber Kelly würde es ihm geduldig<br />

wieder erklären, so lange, bis er es akzeptierte. So, wie er langsam begann zu begreifen und<br />

zu akzeptieren, dass er sich keine Vorwürfe machen brauchte, weil er auf Carrie hereingefal-<br />

len war. Das Begreifen und Akzeptieren war ein extrem wichtiger Schritt zum Erfolg der The-<br />

rapie.<br />

Shawn schwieg erneut eine Weile, ließ sacken, was Kelly ihm erklärt hatte. Tief in ihm<br />

regte sich das Verständnis, dass er kein Feigling war und dieses Verständnis half ihm, sich<br />

selbst in einem besseren Licht zu sehen. Er begriff, warum es für ihn so überaus wichtig war,<br />

nicht nur zu berichten, sondern sich seinen Gefühlen und Empfindungen zu stellen. Shawn<br />

spürte, egal, wie schwer es ihm fiel, darüber zu reden, es ihm half. Er war jedes Mal fix und<br />

fertig, doch fühlte er sich nach jeder Sitzung ein kleines bisschen besser. Allmählich hatte er<br />

selbst das Gefühl, einmal tatsächlich über all den Horror hinweg kommen zu können. Ihm war<br />

klar, dass es bis dahin noch ein langer, qualvoller Weg war, aber in ihm keimte eine winzige<br />

Flamme der Hoffnung auf. Er legte sich anders hin und konnte so zu Kelly aufschauen. Leise<br />

sagte er:<br />

„Das war das erste Mal, dass sie mich gezielt vorher unterrichtete, was mir später am Tag<br />

blühen würde. Es war schlimm, aber viel schlimmer war es in späteren Situationen, weißt du,<br />

als ich wusste, wie weh das, was sie machen wollten, tat. Wenn man sich nicht vorstellen<br />

kann, wie etwas sein wird, hat man Angst. Wenn du es aber am eigenen Leib erfahren hast ...“<br />

Er prustete angespannt. „Als ich im Garten am Arbeiten war ... Ich kam mir so unglaublich<br />

blöde vor. Das war dermaßen erniedrigend, ich hab mir gewünscht, der Boden würde sich<br />

auftun und mich verschlucken.“ Ein verzweifeltes Lachen quälte sich über seine Lippen. „Ich<br />

hatte einen leuchtend roten Plug im ... Es war grässlich. Aber so war ich abgelenkt. Die letzte<br />

halbe Stunde im Zimmer, allein mit der Uhr, die unaufhaltsam gegen mich getickt hat ... Aber<br />

224


wenigstens wusste ich da noch nicht, was auf mich zu kommt. Okay, ich war auf den Hintern<br />

und zwischen die Beine geschlagen worden, aber nicht auf Bauch und Brust ...“<br />

Shawns Stimme fing bedenklich an zu zittern. „Als ich los gegangen bin dachte ich, ich<br />

schaffe es nicht. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment ... Ich dachte, ich müsse mich überge-<br />

ben. Die haben da gehockt und auf mich gewartet wie auf den Eismann. Carrie ... Sie hat sich<br />

daran aufgegeilt, als sie mich an das Kreuz fesselte. Ich hatte so schreckliche Angst. Als Ka-<br />

ren loslegte, dachte ich, die Fesseln zerreißen mich. Diese beschissene Peitsche hat dermaßen<br />

weh getan. Ich habe gebetet, endlich ohnmächtig zu werden. Aber erst, als alles vorbei war,<br />

hab ich endlich die Besinnung verloren.“<br />

Kelly spürte Shawns Schultern zucken. Er tat der junge Frau so unendlich leid. Neben der<br />

Erinnerung an die Schmerzen quälte ihn noch die Frage, ob er ein Jammerlappen und Feigling<br />

war. „An dem scheiß Kreuz ... da habe ich oft dran gehangen. Carrie und Karen liebten es,<br />

wenn ... wenn ich mich so gut wie nicht rühren konnte. Brett und Teresa fanden es geiler,<br />

wenn ich eine gewisse Bewegungsfreiheit hatte. Ich weiß nicht, was schlimmer war. Verhin-<br />

dern konnte ich so oder so nichts.“ Seine Linke glitt in einer unwillkürlichen Bewegung an<br />

seine Brust, als könne er noch immer die Schmerzen der Auspeitschung spüren. „Ich habe<br />

Carrie angefleht, Schluss zu machen ... Nach einer Weile hat sie dann gesagt, es reicht. Das<br />

war das einzige, was ich noch bewusst mitbekommen habe. Alles andere ... Das ist wie in<br />

einen blutroten Nebel getaucht. Die fiesen Bemerkungen der anderen, Teresa hatte mitbe-<br />

kommen, dass es auf dem Bauch am schlimmsten war. Sie hat Karen angefeuert, dort hin zu<br />

zielen. Wenn ... die Fesseln mich nicht ... Ich wäre auf der Hälfte der Strecke zusammenge-<br />

brochen.“<br />

18) Die Wette<br />

Mensch: ein vernunftbegabtes Wesen, das immer dann die Ruhe verliert, wenn<br />

von ihm verlangt wird, dass es nach Vernunftgesetzen handeln soll.<br />

Oscar Wilde<br />

Shawn redete sich diesen Tag noch lange von der Seele. Und Kelly hörte zu, erwiderte an<br />

den richtigen Stellen etwas und schwieg ansonsten. Es war nicht wichtig, dass sie etwas sagte,<br />

zuzuhören und Trost zu spenden war wichtiger als alles andere. Und so hörte sie zu, erschüt-<br />

tert, fassungslos, mitleidig. Wie Shawn, kullerten der jungen Frau Tränen über die Wangen.<br />

Als sie im Zelt lagen, schlief Shawn unmittelbar ein. Er war bis an die Grenzen seiner Leis-<br />

tungsfähigkeit gegangen. Unendlich müde und ausgelaugt schlief er, kaum, dass er richtig lag,<br />

ein. Kelly konnte an diesem Abend nicht einschlafen. Sie lag wach und stand schließlich ge-<br />

225


nervt wieder auf. Leise schlich sie sich aus dem Zelt und setzte sich zurück an das verlö-<br />

schende Lagerfeuer. Sie war erstmals, seit sie ihre Praxis eröffnet hatte, überfordert. Selbst-<br />

verständlich musste sie für ihre Patienten Sympathie und eine Art der Liebe empfinden. Sonst<br />

konnte sie ihren Job nicht machen. Sie hatte es bislang zwei Mal erlebt, dass sie mit Patienten<br />

nicht klargekommen war. Der erste Fall war eine junge Frau aus sehr reichem Haus gewesen.<br />

Sie war Zeit Lebens verwöhnt worden, materiell und in jeder anderen Hinsicht. Einzelkind,<br />

jeder Wunsch war ihr erfüllt worden, in ihrem Elternhaus hatte sich alles um sie gedreht. Als<br />

sie nach einem Überfall schwer traumatisiert zu Kelly kam, hatte sie gemeint, Kelly wäre ihre<br />

Angestellte. Die narzisstische junge Frau hatte weniger an der Therapie als vielmehr daran<br />

Interesse gehabt, dass Kelly den ganzen Tag nach ihrer Pfeife zu tanzen hatte. Nach einer<br />

Woche hatte Kelly die junge Frau höflich, aber bestimmt gebeten, sich einen anderen Thera-<br />

peuten zu suchen. Die Eltern waren ausgeflippt und hatten Kelly mit Klagen gedroht. Darüber<br />

konnte die Therapeutin nur lachen. Sie war selbst wohlhabend und hatte zu diesem Zeitpunkt<br />

bereits in der Branche einen bekannten Namen. So hatte sie lächelnd erklärt, dass sie keine<br />

Probleme damit habe, verklagt zu werden. Die Eltern hatten eine Weile versucht, gegen Kelly<br />

zu hetzen, doch diese Versuche waren kläglich gescheitert.<br />

Der zweite Patient, den sie fort geschickt hatte, war ein Mann mittleren Alters gewesen,<br />

der Opfer eines Banküberfalles geworden war, einer Bank, die er leitete. Kelly hatte schnell<br />

heraus gefunden, dass der dreiundvierzigjährige an ADHS 14 litt. Sie hatte von Anfang an das<br />

starke Gefühl gehabt, dass der Mann etwas vor ihr verheimlichte. Er hatte selbstsicher einer<br />

Befragung unter Hypnose zugestimmt und so erfuhr sie, dass er den Überfall selbst inszeniert<br />

hatte, um Geldprobleme zu lösen. Sie behielt dieses Wissen vor ihm für sich. Da sie zur ärzt-<br />

lichen Schweigepflicht verurteilt war, konnte sie ihn nicht anzeigen. Er hatte aber das Leben<br />

mehrerer Kunden aufs Spiel gesetzt, es hatte vier schwer Verletzte gegeben bei dem Überfall,<br />

darunter ein fünfjähriges Kind, welches nach der Schussverletzung geistig behindert geblie-<br />

ben war. So war Kelly in eine schwere Konfliktsituation geraten. Einerseits zum Schweigen<br />

verurteilt, andererseits über eine schwere Straftat informiert. Nach langem Überlegen hatte sie<br />

zu einem Trick gegriffen. Sie hatte dem Mann einen Trigger ins Hirn gepflanzt, bei dessen<br />

Auftreten er den zwanghaften Wunsch verspüren würde, zur Polizei zu gehen und seine Mit-<br />

täterschaft zu gestehen.<br />

Nun aber, in dieser Situation, war sie ratlos. Ihr war mehr als klar, dass man Gefühle nicht<br />

abschalten konnte. Aber das war es, was sie tun musste! Sie durfte nicht zulassen, dass die<br />

Gefühle für Shawn Oberhand gewannen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das in den Griff<br />

bekommen sollte. Bei sich nicht und noch viel weniger bei Shawn. Normalerweise hätte sie<br />

14 Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ist eine psychische Störung, die sich durch Mangel an Aufmerksamkeit, Impulsivität<br />

und häufige Hyperaktivität bereits im Kindesalter bemerkbar macht. Häufiger als bei Mädchen zeigen sich diese Störungen bei Jungen.<br />

Die Symptome können sich mit variierender Stärke bis ins Erwachsenenalter zeigen.<br />

226


spätestens jetzt Schluss machen müssen, hätte Shawn an einen Kollegen oder eine Kollegin<br />

weiter leiten müssen. Aber ihr war klar, dass Shawn dies nicht verkraften würde, nicht zum<br />

jetzigen Zeitpunkt der Therapie. Sein Wohlergehen war wichtiger als ihre Gefühle. Es lag bei<br />

ihr, dagegen an zu kämpfen, nicht bei dem ohnehin schwer traumatisierten jungen Mann. Er<br />

begann gerade, kleine Fortschritte zu machen. So musste Kelly den Kampf aufnehmen. Sie<br />

musste sich zwingen, ihre Liebe zu ihm zu unterdrücken und ihn weiterhin als normalen Pati-<br />

enten zu sehen. - Komm schon, Jackson, reiß dich gefälligst zusammen! Du musst ihm zu Lie-<br />

be stark bleiben! - Entschlossen erhob sich die junge Frau und stieg leise ins Zelt zurück. Als<br />

sie neben Shawn lag seufzte sie. Er war unruhig, wand sich auf seinem Schlafsack hin und<br />

her. Kelly drehte sich auf die Seite, legte ihm ihre Rechte auf die Brust und ließ ihren Daumen<br />

sanft über seine weiche, warme Haut gleiten. Shawn seufzte im Schlaf leise und wurde deut-<br />

lich ruhiger.<br />

*****<br />

Am kommenden Morgen war Shawn lange vor Kelly wach. Er brachte das Feuer in Gan-<br />

ge, setzte Kaffeewasser auf und schlenderte mit der ersten Tasse an den kleinen Strand hinun-<br />

ter. Nachdenklich sah er auf das klare, stille Wasser hinaus. Seine Gedanken kreisten um Kel-<br />

ly. Er stöhnte gequält auf. Warum musste er sich in die junge Frau verlieben, zum Teufel! Als<br />

ob er nicht genug Probleme hatte. Ein Vaux pas wie gestern durfte ihm nicht mehr passieren.<br />

Krampfhaft versuchte Shawn sich einzureden, dass es Dankbarkeit war, die er empfand. Es<br />

musste so sein. Es durfte nichts anderes sein! Eigentlich hatte er seine Gefühle gut unter Kon-<br />

trolle. Aber seit der Entführung war ohnehin alles anders geworden. Shawn fühlte sich so ver-<br />

letzlich und schwach wie noch nie zuvor in seinem Leben. Verzweifelt stöhnte er abermal auf.<br />

Er durfte seine Gefühle gegenüber Kelly nicht Oberhand gewinnen lassen. Er musste sich<br />

darauf konzentrieren, in Ordnung zu kommen und die junge Frau schleunigst aus seinem<br />

Kopf streichen. Ob das so einfach werden würde, war mehr als fraglich. Wenn sie ihn tröstend<br />

in den Armen hielt, war Shawn glücklich. Er fühlte sich geborgen wie er es nie zuvor bei je-<br />

mandem empfunden hatte. Andererseits hatte er noch nie zuvor eine derart große Zufrieden-<br />

heit, Verbundenheit empfunden, wenn er eine Frau in seinen Armen gehalten hatte. Es war,<br />

als gehöre Kelly genau dort hin: In seine Arme. Nein! Er durfte solche Gedanken nicht zulas-<br />

sen. Sie war seine Therapeutin, nicht mehr und nicht weniger. Punkt!<br />

Entschlossen erhob er sich und kehrte zum Lager zurück. Kelly war noch nicht aufgestan-<br />

den. Doch gerade schien sich im Zelt etwas zu regen. Leise Geräusche drangen durch die<br />

dünnen Wände und schon turnte Kelly gähnend durch den kleinen Eingang.<br />

„Morgen ...“, nuschelte sie reichlich verschlafen.<br />

„Guten Morgen.“, erwiderte Shawn grinsend. „Sieht aus, als hättest du gut geschlafen ...“<br />

227


Kelly warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Harhar! Ich habe die halbe Nacht wach ge-<br />

legen. Ich hatte ... Magenschmerzen.“ Die Ausrede kam ihr leicht über die Lippen. Shawn<br />

biss sich auf die Lippe. Er ahnte, dass es sich um eine Ausrede handelte, sagte aber mitfüh-<br />

lend:<br />

„Oh. Das tut mir leid. Geht es denn jetzt?“<br />

Kelly streckte sich ausgiebig und bückte sich nach ihren Schuhen.<br />

„Ja, alles wieder gut. Ab und zu habe ich mal Probleme mit dem Magen ...“ - und neuer-<br />

dings auch mit dem Herzen! - fügte sie in Gedanken hinzu. Shawn sagte nichts weiter dazu.<br />

Er fragte stattdessen:<br />

„Magst du denn Kaffee?“<br />

Kelly nickte. „Klar, ohne schlafe ich im stehen weiter.“ Shawn machte ihr eine Tasse fer-<br />

tig und nahm sich selbst noch eine Tasse.<br />

Als sie nebeneinander am Feuer saßen meinte Shawn leise: „Das war ein intensiver<br />

Abend, was?“<br />

„Ja, das war es. Aber das ist in Ordnung. Mit jedem erneut durchlebten Horror wirst du ei-<br />

nen Teil davon los.“<br />

Shawn starrte abwesend ins Feuer. „Ich habe das Gefühl, dass mein Hirn langsam nicht<br />

nur kapiert, dass ich keine Chance hatte, mich Carries Einflüsterungen zu entziehen, sondern<br />

auch, dass ich kein jammernder Waschlappen bin.“<br />

Kelly lächelte erfreut. „Das ist gut, Shawn. Wenn du das langsam aber sicher erkennst, ist<br />

das ein großer Schritt auf dem Weg zur Heilung. Du musst es uneingeschränkt verinnerlichen,<br />

dass nicht du die Schuld an dem trägst, was geschehen ist, sondern dass du das hilflose und<br />

vor allem wehrlose Opfer warst. Dass man dich auf die schlimmste Art und Weise miss-<br />

braucht und misshandelt hat. Je intensiver das Wissen in dich eindringt desto einfacher wird<br />

es dir fallen, das Ganze zu verarbeiten. Es war nicht deine Schuld! Du konntest nichts ma-<br />

chen. Um zu Überleben musstest du es ertragen. Niemand wird dir je Vorwürfe machen. Du<br />

konntest nicht fliehen, noch dich gegen fünf zu allem entschlossene psychopathische Verbre-<br />

cher wehren. Du hast mit viel Glück und eisernem Willen überlebt. Und du wirst als Sieger<br />

aus der Sache hervor gehen.“<br />

Shawn saugte Kellys Worte auf wie ein Schwamm. Er merkte, dass er anfing, daran zu<br />

glauben. Wenn er nun noch daran würde glauben können, dass seine Gefühle für Kelly der<br />

Dankbarkeit entsprangen...<br />

rung?“<br />

*****<br />

Nach dem Frühstück fragte Kelly: „Wie sieht es aus, bist du fit für eine kleine Wande-<br />

228


„Auf jedem Fall. Nachdem gestern nichts mehr daraus geworden ist.“<br />

„Gut, dann schnapp dir deine Kamera und deinen Hut und auf geht’s.“ Sie griffen nach<br />

den kleinen Rucksäcken, in denen sie je zwei Flaschen Wasser mit sich führten, und machten<br />

sich auf den Weg. Sie blieben erst einmal am Wasser und Shawn war erneut fasziniert, wie<br />

wunderschön es hier war. Er schaute verträumt auf das in der Sonne glitzernde Wasser hinaus<br />

und meinte:<br />

„Es ist gut, dass es in der Restwelt nicht so übermäßig publik gemacht wird, wie unglaub-<br />

lich schön das Outback ist. Sonst würde hier ein mehrspuriger, ausgebauter Highway her füh-<br />

ren und die Touristen würden einfallen wie die Ameisen. Wie in den Nationalparks in den<br />

Staaten. Wo man bequem mit dem Wagen überall hin kommen kann.“<br />

Kelly lachte. „Ja, das würde uns noch fehlen. Kleine Souvenirshops inmitten der Olgas.“<br />

Schließlich wandten sie sich vom Wasser ab und stiegen zwischen die Felsen. Hier war es<br />

heiß. Shawn blieb stehen, um einen Schluck Wasser zu trinken.<br />

„Es ist frustrierend, wenn ich mir hier einen abschwitze und dir merkt man es nicht an,<br />

dass es warm ist.“, schnaufte er giftig, nachdem er erneut anhalten musste, um einen Schluck<br />

zu trinken und sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Kelly grinste gehässig.<br />

„Tja, ich bin eben aus einem anderen Holz ...“ Sie verstummte und deutete Shawn an, still<br />

zu sein. Sie zeigte nach rechts und Shawn folgte ihrem Blick. Er hielt die Luft an. Schnell,<br />

aber leise griff er nach seinem Fotoapparat und drückte auf den Auslöser. Ein vielleicht 60<br />

Zentimeter großer, wunderschöner Waran hockte lauernd zwischen einigen Steinen, auf dem<br />

kieseligen Untergrund kaum auszumachen.<br />

„Was ist das?“ flüsterte der junge Mann und Kelly erklärte ebenso leise:<br />

„Das ist ein Stachelschwanzwaran. Seine Heimat ist Nord- und Westaustralien, wo er Tro-<br />

ckengebiete und steinige Halbwüsten wie hier bewohnt. Er ernährt sich unter anderem von<br />

Mäusen und Insekten. Aber kleinere Echsen lässt er auch nicht aus, wenn er sie erwischt. Er<br />

erreicht eine Länge um die 60 bis 70 Zentimeter, wobei das Weibchen kleiner ist. Das<br />

Höchstalter kann bis zu zehn Jahre betragen. Seinen Namen hat er von stachelartigen Fortsät-<br />

zen an seinem Schwanz. Tagsüber versteckt er sich normalerweise in Felsspalten und unter<br />

Steinen, wobei er seinen Schwanz benutzt, um den Eingang zu verschließen. Er keilt sich so<br />

fest, dass er schwer von Fressfeinden erreicht werden kann.“<br />

Shawn hörte gespannt zu und machte nebenbei noch ein paar Fotos. Dann aber bekam das<br />

Tier Wind von ihnen und zog sich schnell zurück.<br />

„Du hast ein erstaunlich gutes Auge!“, schwärmte Shawn begeistert. „Ich wäre da so dran<br />

vorbei gelaufen. Der war auf den Kieseln fast nicht zu sehen.“<br />

Kelly lächelte verlegen. „Ach, ich habe von einem Aborigine gelernt, auf meine Umge-<br />

bung zu achten. Ich habe ihn kennengelernt, als ich in Sydney studiert habe. Sein Sohn war in<br />

229


meinem Kurs für klinische Psychologie. Einer der wenigen Aborigines, die einen erfolgrei-<br />

chen Abschluss an der University of Western Sydney gemacht haben. Er hat mich in den Se-<br />

mesterferien mitgenommen zu seinem Stamm. Sein Vater, der inzwischen leider verstorben<br />

ist, hat mir alles beigebracht, was ich über das Leben im Outback weiß, über das Überleben.“<br />

Shawn grinste gutmütig. „Dann bist du eine echte Buschfrau, was?“<br />

Kelly stieß ein spöttisches Lachen aus. „Gib mir zwei Minuten Vorsprung und ich wette<br />

mit dir um alles, was du willst, dass du mich nicht wiederfinden wirst!“<br />

Shawn zog ironisch die Augenbrauen in die Höhe. „Zwei Minuten?“ Kelly nickte. „Zwei<br />

Minuten.“ Der junge Mann zögerte keine Sekunde.<br />

„Die Wette gilt!“ Er setzte sich auf einem Stein, sah Kelly an und sagte: „Bis gleich.“<br />

Die Therapeutin grinste, stieg aus den Stiefeln und hängte sich diese um den Hals.<br />

„Bis Weihnachten!“, meinte sie lachend und ging gemächlich los in Richtung einiger<br />

Bäume, die im Schatten der Felswand westlich von ihrem Standort standen. Shawn sah ihr<br />

aufmerksam hinterher. Er warf einen Blick auf seine Uhr und grinste. Als er hoch schaute<br />

stutzte er. Kelly war weg! Das gab es gar nicht. Er kam sich vor wie in dem Film ‘Crocodile<br />

Dundee 2‘, als der einheimische Fährtenleser, den der Bösewicht Rico angeheuert hatte um<br />

Mick Dundee zu finden, von einer Sekunde zur anderen spurlos im Busch verschwunden war.<br />

Shawn sprang auf die Füße und starrte sprachlos dorthin, wo Kelly eben noch gewesen war.<br />

Langsam kamen ihm Zweifel, ob er den Hauch einer Chance hatte, die junge Frau zu finden.<br />

Er sah auf seine Uhr und stellte fest, dass die zwei Minuten um waren. Eilig rannte er los,<br />

dorthin, wo er Kelly zuletzt gesehen hatte. Sie war weg! Er sah nicht die kleinste Spur von<br />

ihr. Leise fluchte er vor sich hin.<br />

„Das kann nicht wahr sein. Verdammter Mist!“ Ratlos sah er sich um. Niedrige Büsche,<br />

ab und zu ein Baum, Felsen, hohe Gräser. Wohin, zum Teufel, war Kelly verschwunden?<br />

Shawn dämmerte, dass er sich furchtbar blamieren würde.<br />

Kelly war klar, dass Shawn keine Chance haben würde, sie zu finden. Sie hatte sich hinter<br />

ein Gebüsch geduckt und beobachtete den jungen Mann. Im Gegensatz zu ihm konnte sie ihn<br />

gut sehen. Sie würde nicht riskieren, ihn aus den Augen zu verlieren. Gerade sah er sich ratlos<br />

um und entschied sich, in westlicher Richtung zu suchen. Kelly grinste. Diese Wette würde<br />

sie haushoch gewinnen. Sie hatte kein Problem damit, ihn diese Wette verlieren zu lassen.<br />

Das würde ihm nicht schaden. Leise schlich sie dem jungen Mann nach. Er bewegte sich vor-<br />

sichtig durch das Buschland und achtete darauf, wo er hin trat. Zufrieden dachte Kelly - Das<br />

hast du nicht vergessen, gut! - Gute zehn Minuten ging Shawn im Zickzack durch das mit<br />

niedrigen Büschen, Spinifex 15 und einzelnen höheren Bäumen bewachsene Land. Immer öfter<br />

sah er sich frustriert um, doch er konnte keine Spur von Kelly entdecken. Schließlich kam er<br />

15 Spinifex ist eine vor allem in Australien vorkommende Gattung der Süßgräser.<br />

230


zu einigen Felsen und krabbelte auf diese hinauf, in der Hoffnung, von hier oben etwas von<br />

seiner Begleiterin zu entdecken. Kelly war wenige Meter hinter ihm, aber er sah sie im Schat-<br />

ten der Büsche nicht. Genervt stieg er weiter in die Felsen hinein. Er dachte bei sich, dass er<br />

sich am ehesten hier verstecken würde. Ungefähr eine Stunde turnte er zwischen den zum Teil<br />

recht steil abfallenden Felsen herum, dann schüttelte er wütend den Kopf und beschloss, um-<br />

zukehren. Schwitzend setzte er sich einen Moment auf einen kleinen Vorsprung und sah frus-<br />

triert in die Tiefe. Als er hinter sich ein leises Zischen hörte, verzog er das Gesicht. Er war<br />

nicht beunruhigt, nach einer Schlange hörte sich das nicht gerade an. Langsam drehte er sich<br />

herum. Und erstarrte! Was da hinter ihm auf dem Stein saß war viel schlimmer als jede<br />

Schlange. Eine Handteller große, schwarze Spinne stand keine 30 Zentimeter hinter ihm auf<br />

dem Stein. Hoch aufgerichtet, die langen Giftfänge demonstrativ vor gereckt, zischte sie<br />

Shawn leise warnend an.<br />

Fassungslos und wie erstarrt vor Angst saß Shawn da und konnte die Augen nicht von der<br />

großen Spinne nehmen. Das musste eine Funnel Web 16 sein, Kelly hatte ihm von diesen<br />

hochgiftigen Mistviechern erzählt. Shawn zitterte schlagartig am ganzen Leib. Es hätte ja<br />

schon eine harmlose Spinne gereicht, um ihn in Panik zu versetzen.<br />

„Oh Gott!“<br />

Vorsichtig stand Shawn auf und stand zitternd vor dem großen Tier, das warnend zischte.<br />

Hinter ihm ging es gute 10 Meter in die zerklüftete Tiefe. Shawn raffte allen Mut zusammen<br />

und holte tief Luft. Er machte einen großen Schritt über die Spinne hinweg und rannte einige<br />

Schritte weiter, bis er keuchend auf die Knie sank.<br />

Kelly hatte die Spinne entdeckt, noch bevor sie Shawn angezischt hatte. Kurz war sie ver-<br />

sucht, sofort loszueilen, um Shawn zu helfen. Schließlich entschied sie sich dagegen. Sie<br />

würde nur eingreifen, wenn er in Schwierigkeiten geraten würde. Angespannt beobachtete sie<br />

ihn. Es würde seinem Selbstbewusstsein unendlich gut tun, wenn er sich allein aus der Situa-<br />

tion befreien könnte. Kelly hielt die Luft an vor Anspannung, als Shawn sich langsam und<br />

vorsichtig aufrichtete.<br />

„Ja, Baby, du schaffst das.“, flüsterte sie leise. Und er schaffte es! Mit einem riesen Schritt<br />

stieg er, wenn auch heftig zitternd, über die Funnel Web hinweg und hastete ein paar Schritte<br />

fort von der Spinne. Schwer atmend sackte er dort auf die Knie. Schnell trat Kelly aus ihrem<br />

Versteck und eilte zu Shawn hinüber. Er sah auf und keuchte:<br />

„Da war eine riesige Spinne!“<br />

16 Trichternetzspinne (Atrax robustus) Weibliche Tiere erreichen eine Körperlänge von bis zu 4 cm. Männchen bis zu 3 cm. Auffällig sind<br />

der massive Körperbau und die langen Giftklauen von bis zu 5 mm. Das Gift des Männchens ist fünfmal stärker als das des Weibchens, was<br />

bei Spinnen sehr selten ist. Nach einem Biss erreicht das Nervengift der Sydney-Trichternetzspinne die Blutzirkulation in kaum 2 Minuten.<br />

Bei geschwächten, älteren oder sehr jungen Menschen kann der Tod nach 15 Minuten bis 3 Tagen eintreten, bei gesunden Erwachsenen nach<br />

bis zu 6 Tagen. Symptome: Übelkeit, Erbrechen, Abdominal-Schmerzen, Schwitzen, Speichelabsonderung, Tachykardie, Bluthochdruck,<br />

Herzarrhythmie, Lungenödem, Nierenfunktionsstörungen bis hin zu akutem Nierenversagen, Fieber, Taubheitsgefühl, Krämpfe, Verwirrtheit,<br />

Koma, Hirnschäden und Atemlähmung.<br />

231


Kelly zog den jungen Mann auf die Füße und an sich. „Ich weiß, ich habe es gesehen. Ich<br />

war noch zu weit weg, um eingreifen zu können. Aber du hast es geschafft! Das war großar-<br />

tig. DU warst großartig!“<br />

Dass sie eine kleine Notlüge verwendete schadete in diesem Falle nicht. Shawn klammerte<br />

sich heftig zitternd an Kelly und stöhnte:<br />

„Warum ausgerechnet eine Spinne?“<br />

Kelly erklärte beruhigend: „Du hast die Situation hervorragend gemeistert. Wenn ich dich<br />

heute Abend frage, was dir gelungen ist, hast du allen Grund, das stolz zu erwähnen.“<br />

Shawn lachte gequält auf. „Ja, aber du hast mich hübsch in die Leere laufen lassen. Du<br />

warst so schnell verschwunden, dass ich an die Szene in ‘Crocodile Dundee‘ denken musste.<br />

Als der Fährtenlesen im Busch verschwand.“ Er sah sich um. „Und weißt du, was das Beste<br />

ist? Ich wüsste nicht mal, wie ich zum Wagen zurückkomme.“<br />

Kelly schmunzelte mitleidig. „Das war es, was ich dir am Anfang sagte. Hier draußen ver-<br />

irrt man sich schneller als man denkt. Man muss wissen, worauf es ankommt, um hier überle-<br />

ben zu können. Ich hatte dich die ganze Zeit im Auge, also, keine Gefahr. Wie mein großes<br />

Vorbild, Mick Dundee.“<br />

„Was? Du warst so dicht an mir dran, dass du mich gesehen hast?“<br />

Kelly nickte. „2, 3 Meter zum Teil.“<br />

Shawn verdrehte die Augen. „Na klasse. Da habe ich mich ja richtig mit Ruhm bekleckert.<br />

Was habe ich denn verloren?“<br />

Kelly lachte. „Abgesehen von Stolz ... werde ich mir was einfallen lassen.“ Sie drehte sich<br />

herum und sagte: „So, und nun werde ich dich nach Hause führen und dir noch etwas von der<br />

Umgebung zeigen.“ Kelly schlüpfte in ihre Stiefel und sie marschierten los. Zuerst grummelte<br />

Shawn noch vor sich hin, doch schnell fand er seine gute Laune zurück. Schließlich kamen sie<br />

an eine Stelle, an der eine kleine Felswand sich auf einer Länge von mehreren 100 Metern<br />

durch den Busch zog. Der Sandstein war hier nicht so tiefrot, wie Shawn es gewohnt war. Er<br />

schimmerte vielmehr in den unterschiedlichsten Ockertönen. Shawn machte noch einige Fo-<br />

tos. Sie marschierten weiter und nach über drei Stunden erreichten sie endlich ihr Lager wie-<br />

der. Es war nach 16 Uhr und Kelly meinte seufzend:<br />

„Na, wie ich das sehe, werden wir heute nicht mehr weiter kommen. Also, auf zum Baden,<br />

oder was meinst du?“ Shawn hatte keine Einwände.<br />

Nach dem erfrischenden Bad legten sich Shawn und Kelly in die Spätabendsonne. Früh<br />

morgens und abends waren die einzigen Zeiten, zu denen man sich zum Sonnen legen konnte.<br />

Ansonsten brannte die Sonne viel zu heiß vom Himmel. Eine Weile lagen sie schweigend<br />

nebeneinander. Shawn war es, der es brach.<br />

232


„Als dieses Mistvieh da hinter mir auftauchte, man, ich habe mir fast in die Hose gemacht.<br />

Ich war im ersten Moment wie gelähmt. Ich ekel mich vor Spinnen, ich weiß nicht einmal<br />

warum. Ich kann mich nicht erinnern, wann das anfing. Als Kind und Jugendlicher hatte ich<br />

definitiv keine Angst vor den Scheißviechern.“<br />

Kelly sah Shawn an. „Obwohl du eine Arachnophobie hast, bist du vernünftig in deiner<br />

Handlungsweise geblieben. Andere wären in Panik geraten, zumal auf dem Felssimms. Wa-<br />

rum viele Menschen so irrationale Angst vor Spinnen haben ist nicht geklärt. Als Ursache<br />

dieser Angststörung wird häufig eine merkwürdige Erklärung angegeben: Je weiter ein Tier<br />

oder Gegenstand vom menschlichen Erscheinungsbild abweicht, desto stärker, mehr und wei-<br />

ter verbreitet ist die Angst davor. Im Tierreich existieren aber viele Lebensformen, die noch<br />

viel mehr vom menschlichen Erscheinungsbild abweichen, aber weit weniger ausgeprägt Ge-<br />

genstand von Phobien sind. Ein weiterer Grund für Arachnophobie wird darin gesehen, dass<br />

Spinnen mitunter plötzlich und unerwartet nahe am Körper bemerkt werden. Dabei wird ihre<br />

in Relation zur Körpergröße schnelle und unvorhersehbare Art der Fortbewegung für Spin-<br />

nenangst verantwortlich gemacht. Eine andere Theorie besagt, dass die Gefährlichkeit man-<br />

cher Spinnentiere für den Menschen das arachnophobe Verhalten im Rahmen der evolutionä-<br />

ren Entwicklung des Menschen gefördert haben könnte. Immerhin sterben heute noch jedes<br />

Jahr zwischen tausend und fünftausend Menschen an Stichen von Skorpionen. Selbst wenn<br />

heute in den meisten Regionen die von Spinnen ausgehende Gefahr für den Menschen gering<br />

ist, könnten solche Verhaltensmuster genetisch fixiert sein und erhalten bleiben. Schließlich<br />

könnte es sich bei der Spinnenfurcht auch schlicht um erlerntes Verhalten handeln. Ein Klein-<br />

kind orientiert sich in vielen Lebensäußerungen an den eigenen Eltern und anderen engen<br />

Bezugspersonen. Leidet eine dieser Personen an Arachnophobie, so erlebt das Kind diese<br />

Angst und lernt, dass Spinnen gefährlich sind. Für Arachnophobie als erlernte Verhaltenswei-<br />

se spricht auch die Beobachtung, dass sie nur in bestimmten Regionen der Welt verbreitet ist.<br />

Bei Naturvölkern ist sie so gut wie unbekannt.“<br />

Shawn grinste leicht. „Ja, dass ein Aborigine zitternd vor eine Spinne flüchtet kann ich mir<br />

nicht vorstellen ...“<br />

„Nein, sicher nicht. Die wachsen anders mit allen Arten von Tieren auf, das beinhaltet na-<br />

türlich auch Spinnen und Insekten. Hör zu, wenn es dich bedrückt, können wir zum einen<br />

unter Hypnose herausfinden, was deine Angst ausgelöst hat, zum anderen können wir mit<br />

einer Konfrontationstherapie die Angst langfristig behandeln.“<br />

„Konfrontation?“ Shawn wurde blass. Kelly nickte.<br />

„Ja, das ist die gängigste Methode. Aber das werden wir nicht jetzt anfangen. Wenn du es<br />

möchtest, können wir das in Angriff nehmen, wenn es dir deutlich besser geht. Obwohl es<br />

dein Selbstbewusstsein immens stärken würde, wenn du merkst, dass du eine deiner größten<br />

Ängste aus dem Leben vor der Entführung meistern könntest.“<br />

233


Shawn schnaufte genervt. „Nicht eine der größten, DIE größte Angst. Gott, ich komme<br />

mir so dämlich vor.“<br />

Kelly drehte sich auf den Bauch und meinte: „Warum? In der Statistik gibt es zwar vier<br />

Mal mehr Frauen, die unter Spinnenangst leiden, aber auch mehr als genug Männer. Für euch<br />

Kerle ist es beschämender, obwohl das ausgemachter Blödsinn ist. Ängste kann man nicht mit<br />

dem Verstand steuern. Wenn sie einem das Leben zur Hölle machen, sollte man etwas tun.“<br />

Shawn verzog das Gesicht. „Du hast keine Angst, nehme ich an?“<br />

„Nein. Spinnen sind faszinierende Geschöpfe! Sie können sich jeder Lebensbedingung<br />

anpassen, haben unerreichbare Jagdstrategien und es gibt gerade unter den Vogelspinnen<br />

wunderschöne Arten.“<br />

„Klar ... Wunderschön.“ Shawn schnaufte ironisch. „Riesig, ekelerregend, behaart, absolut<br />

grässlich.“<br />

Kelly musste Lachen. „Ich sehe, du bist ein wahrer Spinnenfreund. Aber unter Umständen<br />

hast du den Mut, dich deiner Angst zu stellen.“ Sie setzte sich auf und sah zur Sonne hoch, die<br />

langsam unterging. „Ich denke, wir sollten Abendbrot machen und dann ...“<br />

Shawn nickte. „Ja, dann ...“<br />

*****<br />

Als er zu sich kam, spürte er, dass er nicht mehr stand, sondern weich lag. Sein Kopf<br />

dröhnte, ihm war schwindelig und speiübel und er spürte die brennenden Striemen am Vor-<br />

derkörper. Mühsam öffnete er die Augen und sah direkt in die dunklen Augen Carries. Sie<br />

hielt seine Hand und sagte zärtlich:<br />

„Hey, da bist du wieder. Einfach schlapp machen. Ich habe einen Schreck bekommen,<br />

weißt du?“ Sie strich ihm sanft mit dem Handrücken über die Wange und wischte Tränenspu-<br />

ren fort. Er versuchte, etwas zu sagen, aber seine Zähne klapperten vor Schwäche so heftig<br />

aufeinander, dass er kein Wort hervorbrachte. Carrie wollte aufstehen, aber er krallte sich so<br />

panisch an ihrer Hand fest, dass sie sie nicht aus seiner lösen konnte.<br />

„Bleib ... bitte.“, presste er mühsam hervor. Liebevoll beruhigte Carrie ihn.<br />

„Ich bin sofort zurück, ich werde nur ins Bad gehen und etwas zur Linderung holen.“ Mit<br />

sanfter Gewalt machte sie sich los und eilte ins Badzimmer. In ihrem Medikamentenschrank<br />

fand sie das gesuchte Xylocain Gel, ein Medikament, das zwei Prozent Lidocain enthielt und<br />

zur Oberflächenschmerzlinderung eingesetzt wurde. Schnell kehrte sie zu Shawn zurück, der<br />

zitternd und schwer atmend auf dem Bett lag und ihr panisch entgegen schaute. Er hatte die<br />

Hände schützend auf Bauch und Unterleib gelegt. Sie kniete sich zu ihm auf die Matratze und<br />

erklärte beruhigend:<br />

„Ich werde dich eincremen, dann lassen die Schmerzen schnell nach. Du musst aber die<br />

Hände zur Seite nehmen.“<br />

234


Seine Augen hingen bettelnd an ihr und langsam und zögernd nahm er die Hände zur Sei-<br />

te. Carrie drückte sich von dem Gel in die Handfläche und begann vorsichtig Shawns Brust<br />

und Bauch damit einzucremen. Er zuckte mehrfach zusammen, aber schnell begann das Gel<br />

seine Wirkung zu entfalten und sie sah, dass er tief einatmete und schluckte. Langsam ließ das<br />

Zittern nach und er wurde ruhiger. Als sie schließlich seine Oberschenkel ebenfalls behandelt<br />

hatte, lag er fast entspannt vor ihr. Leise flüsterte er:<br />

„Danke.“<br />

Carrie setzte sich so, dass sie Shawns Oberkörper in die Arme nehmen konnte. Er ließ sich<br />

fallen und schloss müde die Augen. Dann aber sah er sie an und fragte:<br />

„Warst ... Warst du zufrieden?“<br />

Carrie strahlte. „Und wie. Ich weiß nicht, was besser ist, zuzusehen oder es selbst zu tun.<br />

Du warst so ein geiler Anblick. Das nächste Mal werde ich dich selbst auspeitschen, ich<br />

möchte, dass du dich unter meinen Hieben so windest.“<br />

Leise sagte er: „Das nächste Mal ...“ Seine Lippen zitterten bedenklich und seine Augen<br />

wurden feucht. Erstickt sagte er: „Ich dachte, ich sterbe ... Es hat so schrecklich wehgetan.“<br />

Einzelne Tränen kullerten ihm über die Wangen und Carrie sagte zärtlich:<br />

„Ich weiß, das sollte es ja. Karen ist gut. Aber ich bin besser. Ich bin verrückt danach,<br />

deinen herrlichen Körper zu sehen, wenn er sich windet. Ich bin verrückt danach, die Angst in<br />

deinen Augen zu sehen, zu hören, wenn du um Gnade bettelst.“ Ihre Augen leuchteten und<br />

Shawn seufzte.<br />

„Das hab ich befürchtet.“, sagte er mit zitternder Stimme. Carrie lächelte.<br />

„Wenn du so weit fit bist, würde ich gerne mit dir spazieren gehen.“<br />

„Darf ich noch ein paar Minuten liegen?“, fragte er schüchtern und sie nickte.<br />

„Ja. Das war hart, ich weiß.“ Eine Weile saßen sie so still beieinander. Shawn genoss es<br />

unglaublich, in ihren Armen zu liegen. Er fühlte sich beschützt und das, obwohl sie ihm indi-<br />

rekt deutlich gemacht hatte, dass er solche Torturen häufig würde ertragen müssen. Um nicht<br />

weiter daran denken zu müssen, sagte er schließlich:<br />

„Okay, ich glaube, ich könnte los.“<br />

Carrie nickte. „Gut, wenn du kannst ...“ Sie erhob sich und reichte Shawn die Hände.<br />

Vorsichtig zog sie ihn hoch. Kurz wurde ihm schwindelig, dann aber hatte er sich gefangen.<br />

Zusammen traten sie auf die Terrasse hinaus und gingen nebeneinander zum Strand hin-<br />

unter. Sie hatte ihm die Hände auf den Rücken gefesselt und Shawn empfand es fast als Er-<br />

leichterung, machte es ihm doch deutlich, dass er in Carries Hand war. Während sie am<br />

Strand entlang schlenderten, fragte er:<br />

„Wie groß ist deine Insel? Von oben sah sie nicht groß aus.“<br />

235


Carrie lachte. „Ja, sie sieht kleiner aus als sie ist. Es sind fast 5 Quadratkilometer. Ich<br />

werde sie dir heute zeigen.“ Vor ihnen tauchten Bäume auf und Shawn staunte.<br />

„Du hast sogar Bäume, was?“ Er konnte tatsächlich lächeln und seine Grübchen zuck-<br />

ten. Carrie nickte.<br />

„Ja, habe ich. Und gar nicht mal so wenige. Ich mache dich mit meinem Lieblingsbaum<br />

bekannt ...“, sagte sie geheimnisvoll. Unter einer Palme, die dicht am Wasser stand und<br />

Schatten spendete, machten sie kurz Halt. Carrie fragte Shawn:<br />

„Was machen die Striemen?“<br />

Er sah unwillkürlich an sich herunter und sah, dass es nicht mehr so rot leuchtete auf sei-<br />

nem Bauch.<br />

„Geht langsam wieder. Dieses Gel hat gut geholfen.“, erklärte er verlegen. Carrie war<br />

zufrieden. Sie deutete auf das Wasser hinaus.<br />

„Wenn du dort geradeaus fahren würdest, hättest du in zirka einer Woche Amerika er-<br />

reicht.“ <br />

en.“<br />

Erstaunt sah Shawn sie an. „Wir sind nicht ... in den Staaten?“<br />

Carrie schüttelte den Kopf. „Nein, sind wir nicht. Du befindest dich weiterhin in Australi-<br />

Sie stand auf und half Shawn auf die Beine. „Komm, ich zeige dir meinen Lieblingsbaum,<br />

du sollst ihn kennenlernen.“ Sie zog ihn mit sich in das kleine Wäldchen hinein und schnell<br />

standen sie vor einer großen Palme, die sanft im Wind rauschte. Carrie löste Shawns Fesseln<br />

und sagte:<br />

„Stell dich mit dem Rücken an den Baum.“ Zögernd gehorchte er. Carrie zog seine Arme<br />

um den Stamm herum und fesselte sie zusammen. Am Fuße des Stammes waren geschlossene<br />

Haken in das Holz gedreht, hier befestigte Carrie seine Füße. Sie zog ein Tuch aus der Jeans-<br />

tasche und verband ihm die Augen. Verunsichert stand er still und wartete, was sie vorhatte.<br />

Kurz kroch Angst in ihm hoch, aber Carrie schien das zu ahnen und sagte liebevoll:<br />

„Hab keine Angst, ich werde dir nicht wehtun, für heute reicht es.“<br />

Er entspannte sich und wartete ab. Und dann zuckte er heftig zusammen, als er Carries<br />

Lippen sanft und liebkosend an seinen Brustwarzen spürte. Ein leises, überraschtes Keuchen<br />

entwich seinen geöffneten Lippen. Sinnlich spielte ihre Zunge mit seinen Nippeln und er spür-<br />

te, wie die Erregung bis in seinen Unterleib pulsierte. Als ihre Zunge langsam an seinem<br />

Körper herunter glitt, stöhnte er leise auf. Jetzt hatte sie seinen Penis erreicht, der sich ihr<br />

vibrierend entgegen streckte. Carrie kniete sich hin und ließ ihre Lippen spielerisch um<br />

Shawns Eichel gleiten. Dieser empfand es extrem Lust steigernd, dass er sich nicht bewegen<br />

konnte. Als Carrie sanft anfing, ihre Zungenspitze in seine Harnröhre zu bohren, während<br />

ihre Lippen den Druck um seine Eichel verstärkten, keuchte er laut auf. Carries Zunge kitzelte<br />

ihn und Shawn zuckte vor Geilheit. Er spürte ihre Hand an seinen Hoden, wo sie sanft mas-<br />

236


sierende Bewegungen ausführte, die seine Erregung noch steigerten. Lustvoll drückte er sei-<br />

nen Unterleib vor, soweit es die Fesseln zuließen. Carrie spürte nach einer Weile, dass er<br />

unmittelbar vor dem Orgasmus war und unterbrach ihre Bemühungen augenblicklich.<br />

Sie wartete eine ganze Zeit, bis Shawns Erregung langsam abklang, dann erst beugte sie<br />

sich vor und ließ ihre Zunge erneut in Aktion treten. Shawn hatte vor Enttäuschung aufge-<br />

stöhnt und zuckte krampfhaft vor Erregung. Langsam klang diese schließlich ab. Und jetzt<br />

fühlte er erneut die sinnlichen Lippen und die Zunge, die ihn zum Wahnsinn trieben. Schneller<br />

als beim ersten Anlauf war er so weit. Sein Penis pulsierte fast schmerzhaft und er war nur<br />

noch von dem Gedanken beseelt, endlich kommen zu dürfen. Und diesmal tat Carrie ihm den<br />

Gefallen. Er zuckte heftig und konnte ein lustvolles Keuchen nicht mehr zurückhalten. Carrie<br />

sah zufrieden zu. Erst, als er sich gefangen hatte, löste sie die Fesseln und befreite ihn von<br />

der Augenbinde. Schwer atmend stand er da und wusste vor Verlegenheit nicht, wohin mit<br />

seinem Blick. Lächelnd trat sie dicht an ihn heran. Sie hob seinen Kopf sanft an und zwang<br />

ihn so, ihr in die Augen zu sehen.<br />

„Hey, das braucht dir nicht peinlich sein, okay.“ Sie nahm ihn an die Hand und zog ihn<br />

mit sich an den Strand zurück. Hier ließ sie sich in den warmen Sand sinken und zog Shawn<br />

zu sich herunter.<br />

„Es macht dir Spaß, befriedigt zu werden, wenn du gefesselt bist, richtig?“, fragte sie ihn<br />

direkt und Shawn wurde feuerrot.<br />

„Nein ...“, stieß er hastig hervor. Dann lachte er verlegen. „Okay, es ist extrem geil, das<br />

gebe ich zu. Da kommt einiges zusammen. Das Gefühl des Ausgeliefertseins, unterschwellige<br />

Angst, weil man sich nicht wehren kann, die Vorstellung, gegen nichts etwas machen zu kön-<br />

nen, weder forcierend noch abwehrend, und dass alles ist eine Mischung, die eine solche Wir-<br />

kung hat, das ich bei dem Gedanken, dass du mich wieder fesselst um mich zu befriedigen,<br />

scharf werde.“ Dieses Geständnis hatte ihm alles abverlangt und er starrte unglaublich ver-<br />

legen zu Boden.<br />

Carrie legte einen Arm um ihn und sagte sanft: „Das braucht dir nicht peinlich sein, ich<br />

freue mich, dass es dir so gut gefällt. So kann ich ein klein wenig an dir gut machen.“ Sie sah<br />

ihn an. „Ich werde weiter experimentieren, manchmal ist Schmerz in Maßen ein überaus wir-<br />

kungsvoll Reiz. Du würdest dich wundern, wie viele Menschen, die dachten, Schmerz würde<br />

sie nie erregen, leichte Schmerzreize überaus erregend empfinden, wenn sie nichts gegen die-<br />

se machen können, weil sie gefesselt sind. Oft weiß der Körper besser, was ihm gefällt als das<br />

Hirn.“<br />

Shawn fragte leise: „Wie gestern, als du mich hoch gekriegt hast, obwohl du mir die Luft<br />

genommen hast?“<br />

237


Sie nickte. „Ja, Sauerstoffmangel führt kurzzeitig zu Euphorie im Hirn, darum ist es kein<br />

Wunder, dass du so erregt warst. Damit können wir jederzeit Experimentieren. Ich habe beim<br />

besten Meister gelernt, den man sich denken kann, ich weiß, was ich tue. Ich werde im Laufe<br />

der Zeit vieles bei dir ausprobieren, weil ich dich nicht erst umständlich um Erlaubnis fragen<br />

muss, verstehst du? Ich mache, wozu ich Lust habe und du wirst es ertragen.“<br />

Shawn spürte eine Gänsehaut über seinen Rücken huschen, die eigenartigerweise nicht<br />

nur unangenehmer Natur war. Er versuchte, sich vorzustellen, was Carrie alles ausprobieren<br />

würde, aber er hatte viel zu wenig Ahnung von der Materie. Wie sie sagte: Sie würde machen<br />

und er würde ertragen müssen. Sie spürte seine Unsicherheit und sagte:<br />

„Keine Bange, es kommt mir dabei nur darauf an, dich zu befriedigen. Darin werde ich<br />

perfekt werden im Laufe der Zeit. Und du wirst geil werden, wenn du nur daran denkst, was<br />

ich mit dir machen werde.“<br />

Shawn spürte ein Zucken in seinem Penis und wurde erneut feuerrot. Dann sagte er leise:<br />

„Das werde ich jetzt schon ...“<br />

Sie stand auf und zog ihn auf die Füße. „Komm, lass uns weiter gehen, ich habe dir die<br />

ganze Insel versprochen. Ich habe eine kleine Höhle, am westlichen Strand, dort sind ein paar<br />

Klippen. Diese Höhle habe ich zu einem richtigen Kerker ausbauen lassen. Dort hin werden<br />

wir uns zurückziehen, wenn ich dich einmal für mich haben möchte. Ich würde sie dir gerne<br />

zeigen.“ Sie griff nach seiner Hand und so gingen sie weiter. Shawn war still, seine Gedanken<br />

kreisten um die Vorstellung, mit Carrie allein zu sein. Im Haus hatte er ständig das Gefühl,<br />

die Anderen könnten alles hören oder sehen und dort hatte er mehr Schwierigkeiten, sich ge-<br />

hen zu lassen. Es fiel ihm ungeheuer schwer, vor den Anderen seine Gefühle zu zeigen, wenn<br />

er gefoltert wurde. Es fiel ihm schwer, vor diesen ständig nackt zu sein. Scham und Abscheu<br />

verhinderten, dass er sich ergab. Er hatte ständig das Gefühl, sich beherrschen zu müssen,<br />

obwohl ihm danach war, sich gehen zu lassen. Eventuell würde es ihm leichter fallen, wenn er<br />

mit Carrie allein war. Er hatte eine Idee!<br />

*****<br />

Das war ein erstaunlich friedlicher Part gewesen. Shawn war dementsprechend ruhig. Ver-<br />

legen meinte er:<br />

„Als ich ... naja, zum Orgasmus kam ... Ich habe mich derart geschämt für meine Geilheit,<br />

aber ... Man, das war so wahnsinnig erregend.“ Ihm blieben die Worte sprichwörtlich im Hal-<br />

se stecken. Es fiel ihm noch schwer, über diese Dinge offen mit Kelly zu sprechen. Schon<br />

über normale sexuelle Aktivitäten wäre es ihm schwer gefallen. Aber davon zu erzählen, dass<br />

er bei Carries Aktionen eine derartige Erregung empfunden hatte, war fast unerträglich. Kelly<br />

ermunterte ihn, offen darüber zu reden, um ihm die Scheu zu nehmen.<br />

238


„Ich habe dir gesagt, dass du dich nicht zu schämen brauchst, mit mir darüber zu sprechen,<br />

Shawn. Sexualität ist etwas so normales, dass du keinen Grund hast, dich dessen zu schämen.<br />

Ich kann mir vorstellen, wie erregend es sein muss, gefesselt verwöhnt zu werden. Das ist<br />

nichts Schlimmes.“<br />

Shawn lachte verzweifelt auf. „Klar, an eine Palme gefesselt zu sein und einen geblasen zu<br />

bekommen ist normal ...“, schnaufte er. Kelly sah Shawn im Licht des Lagerfeuers fragend<br />

an.<br />

„Kann es sein, das du allgemein ein Problem mit Oralsex hast?“, fragte sie ihn. Dass es im<br />

Dunkeln zu sehen war, dass Shawn feuerrot wurde, gab Kelly Recht. Der junge Mann stotterte<br />

verlegen:<br />

„Naja ... Ich habe das nie ... nie zugelassen ... Ich meine ... Ab und zu wollte ... Oh, man<br />

...“ Er verstummte endgültig. Kelly stieß ein mitleidiges, liebevolles Lachen aus.<br />

„Ach, Shawn, Oralverkehr ist so alt wie die Menschheit. Es gibt nichts schöneres, als den<br />

Partner liebevoll mit dem Mund zu stimulieren.“ Shawn schnaufte unglücklich.<br />

„Ich wollte das meinen Partnerinnen nicht abverlangen. Es ist der Ausgang für ... Aber bei<br />

Carrie konnte ich nichts machen. Das war das Geile! Hätte ich gesagt, sie soll es lassen, wür-<br />

de sie vermutlich noch immer vor Lachen auf dem Rücken liegen. Gleich am ersten Abend,<br />

als sie mich das allererste Mal oral befriedigt hat, hätte ich am liebsten ‘Nein‘ geschrien. Und<br />

schon da konnte ich es nicht verhindern. Und fand es ... so was von erregend.“<br />

*****<br />

19) Haasts Bluff<br />

Ein bisschen Freundschaft ist mir mehr wert als die Bewunderung der ganzen<br />

Welt.<br />

Otto von Bismarck<br />

Die Nacht verging ohne Zwischenfälle, Shawns Albträume ließen langsam nach. Beim<br />

Frühstück am kommenden Morgen erklärte Kelly:<br />

„Wir werden von hier aus nach Westen fahren, nach Haasts Bluff und Mount Liebig. Wir<br />

müssen auf die Haasts Bluff Road zurück, einen deiner geliebten Highways.“<br />

wo.“<br />

Shawn sah Kelly fragend an. Diese lachte.<br />

„Zwei echte Aborigine Städte ... Okay, Orte. Städte ist zu viel gesagt. Mitten im Nirgend-<br />

Shawn trank einen Schluck Kaffee und meinte: „Da bin ich mal gespannt. Die leben hier<br />

draußen nicht in Saus und Braus, was?“<br />

Bedrückt schüttelte Kelly den Kopf.<br />

239


„Nein, wirklich nicht. Die Verhältnisse, in denen die Aborigine leben, sind zum Teil mehr<br />

als schlecht. Alkohol, Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildungsmöglichkeiten, all das macht es<br />

den Ureinwohnern schwer. Ich bin seit Jahren aktives Mitglied einer Hilfsorganisation, habe<br />

ein spezielles Projekt ins Leben gerufen, dass für Schulen und gut ausgebildete Lehrkräfte in<br />

abgelegenen Aborigine Siedlungen sorgt. Care for School and teaching aid. Insgesamt haben<br />

wir den Bau von zwölf Schulen ermöglicht, in denen die Kinder bis zum Highschoolabschluss<br />

ausgebildet werden. Kinder von Stämmen, die in der Nähe wohnen, werden in diese Schulen<br />

gebracht. Ein Schulbussystem, dass wir ausgeklügelt haben, holt die Kinder ab und fährt sie<br />

abends heim. Für die, die es sich nicht leisten können, wird das Lehrmaterial zur Verfügung<br />

gestellt. Außerdem arbeiten Leute der Organisation in vielen Städten im Land und helfen Ab-<br />

origines, die die Schule geschafft haben, Ausbildungsplätze zu bekommen. Ich kann mich viel<br />

zu selten aktiv beteiligen, da ich Patienten habe, die meine volle Aufmerksamkeit verlangen.“<br />

Shawn hatte gespannt zugehört und fragte: „Da werdet ihr viel Geld brauchen. Darf ich ...<br />

Ich habe so viel verdient und nach einer sinnvollen Möglichkeit gesucht, irgendwo zu helfen<br />

... Hier würde ich unglaublich gerne etwas beisteuern.“<br />

Kelly strahlte. „Das wäre großartig! Wir leiden an chronischem Geldmangel, wie alle an-<br />

deren Hilfsorganisationen der Welt.“<br />

Sie beendeten das Frühstück und begannen, zusammenzupacken. Gegen 9.30 Uhr waren<br />

sie unterwegs. Das erste Stück fuhr Kelly, da es über sehr unwegsames Gelände ging. Sie<br />

hielt sich nach Norden und knappe 10 Kilometer später hatten sie die Haasts Bluff Road er-<br />

reicht. Hier überließ sie Shawn das Steuer.<br />

„Bis Haasts Bluff sind es gute 25 Kilometer. Die Landschaft ist eindrucksvoll. Geradeaus,<br />

nicht zu verfehlen, da es keine Abzweigungen gibt.“<br />

Shawn gab also Gas. Er ließ sich Zeit, um die Landschaft genießen zu können. Einmal trat<br />

er so hart auf die Bremse, dass Kelly unwillkürlich erschrocken aufkeuchte.<br />

„Was ist denn jetzt los?“, fragte sie leicht atemlos. Shawn grinste.<br />

„Ich entwickel langsam auch ein gutes Auge.“, erklärte er und deutete nach rechts. Kelly<br />

folgte seinem Finger und nickte zufrieden.<br />

„Hey, klasse!“ Sie stiegen aus und gingen zu der Stelle, an der Shawn etwas entdeckt hat-<br />

te. Ein buschiges, weißes, undefinierbares, sich bewegendes Band auf dem roten Boden<br />

schlängelte sich auf Kelly und Shawn zu. Als sie näher an das merkwürdige Gebilde kamen,<br />

konnten sie erkennen was es war. Raupen! Ein meterlanger Zug von Raupen, die sich über<br />

den ausgetrockneten Boden bewegten. Kelly lachte.<br />

„Komm nicht auf die Idee, mich zu fragen, was das für Raupen sind und was aus denen<br />

mal wird, das kann ich dir nicht beantworten.“ Eine Weile beobachteten sie die kleinen Tier-<br />

chen, die ihren Zug unverdrossen fortsetzten, doch schließlich kehrten sie zum Wagen zurück<br />

und fuhren weiter.<br />

240


Später passierten sie ein Straßenschild, das besagte, dass der werte Besucher sich auf Abo-<br />

rigine Land befand.<br />

„Oh, das ist aber offiziell.“, meinte Shawn, als er das Hinweisschild sah. Es besagte, dass<br />

man sich auf Aborigine Land befand, dass es verboten war, die Straße zu verlassen und dass<br />

Zuwiderhandlungen mit Geldstrafen bis 1.000 Dollar geahndet wurden. Shawn staunte.<br />

„Warum darf man nicht von der Straße runter?“, fragte er verwirrt. Kelly erklärte:<br />

„Das geht noch auf den Aborigine Lands Right Act von 1976 zurück. Die Verordnung<br />

verlieh den traditionell lebenden Aborigines das Eigentumsrecht an ihren angestammten Ge-<br />

bieten, ehemaligen Reservaten und ungenutzten staatlichem Land. Heute gehört ihnen etwa<br />

die Hälfte des Northern Territory. Um den Aborigines entgegen zu kommen, wurde nur die<br />

Durchfahrt durch ihr Land genehmigt. Heute würde keiner auf die Idee kommen, die Strafe<br />

einzufordern. Aber viele halten sich aus Respekt an die Regeln, da den Aborigines weite<br />

Landstriche heilig sind und das heute akzeptiert wird.“<br />

Shawn hatte aufmerksam zugehört. „Gibt es hier Bodenschätze?“<br />

Kelly nickte. „Einiges, ja. Bauxit, Kohle, Eisenerz, Kupfer, Zinn, Gold, Silber, Uranerz,<br />

Nickel, Wolfram, Edelsteine, Blei, Zink, Diamanten, Erdgas, Öl. Wir verfügen über gute<br />

dreißig Prozent der westlichen Uranreserven. Die Ranger Mine, nordöstlich des Kakadu Nati-<br />

onalparks gilt als eine der profitabelsten Minen der Welt. Und die Argyle Diamond Mine in<br />

Western Australia, in der Nähe des Lake Argyle, fördert die derzeit wohl größte Menge Dia-<br />

manten weltweit, und einen der seltensten Steine, den rosa Diamant. Und 550 Kilometer öst-<br />

lich von Perth liegt Kalgoorlie und die Super Pit, die größte Goldmine Australiens.“<br />

„Wow! Da dürfte Australien gut versorgt sein für die nächsten Jahre, was?“, meinte<br />

Shawn beeindruckt. Kelly lachte.<br />

„Ja, nur schade, dass nicht jeder etwas davon hat.“<br />

Vor ihnen tauchte im Flimmern der Sonne eine Ortschaft auf. „Das ist Haasts Bluff.“, er-<br />

klärte Kelly. „Wir werden mal einen kleinen Stopp einlegen und ich werde dir das Ikuntji Art<br />

Center zeigen.“<br />

Shawn stutzte. „Das was?“<br />

„Das Ikuntji Art Center. Hier wird hochwertige Aborigine Kunst ausgestellt. Es gibt wun-<br />

derschöne Exponate zu sehen. Die Bilder in meinem Haus sind von hier.“<br />

Shawn wurde rot.<br />

„Hast du gar nicht gesehen, dass da Bilder hängen, was?“, lachte Kelly.<br />

„Doch, aber ... Keine Ahnung, was darauf zu sehen ist. Ich schätze, da hatte ich noch kei-<br />

nen Blick für das, was um mich herum vorging. Ich werde sie mir anschauen und merken<br />

können, wenn wir zu ... Wenn wir wieder bei dir im Haus sind.“ Er verstummte verlegen. Kel-<br />

ly dirigierte ihn lachend zu einem großen Gebäude. Über dem Eingang stand ‘Ikuntji Arts<br />

241


Center‘. Shawn parkte und ließ sich von Kelly in die Galerie führen. Sie wurden von einer<br />

älteren Frau begeistert begrüßt.<br />

„Kelly! Du hast dich lange nicht sehen lassen.“ Sie umarmte die Therapeutin freudig.<br />

„Hallo, Apari! Ja, ich war lange nicht hier. Aber du weißt, ich habe viel zu tun. Shawn,<br />

das ist Apari Gulara, eine der Künstlerinnen hier. Apari, das ist mein derzeitiger Patient,<br />

Shawn MacLean, er ist Amerikaner, also reiß dich zusammen!“<br />

Die ältere Frau reichte Shawn die Hand. „Willkommen in Haasts Bluff. Du hast Glück,<br />

dass du Kelly an deiner Seite hast, mein Hübscher, sonst würde ich dich nicht wieder weg<br />

lassen.“ Sie sah Shawn wohlwollend an und dieser flirtete zurück.<br />

„Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, Apari. Und es wird mir schwer fallen, mich<br />

von Ihnen loszureißen.“ Er lächelte, dass seine Grübchen zuckten. Apari kicherte vergnügt.<br />

nicht.“<br />

„Lass mal das Sie weg, mein Junge. Das kennen wir nicht. In Pintupi gibt es das gar<br />

„Pintupi?“, fragte Shawn nach.<br />

„Der Dialekt, den wir sprechen.“, erklärte Apari grinsend. „In keinem Dialekt der Urein-<br />

wohner gibt es ein Wort für Sie.“<br />

Die Frau hakte Shawn unter und erklärte: „Na, dann kommt mal, ich werde euch die neu-<br />

sten Stücke zeigen. Und wehe, du kaufst nicht einige Teile.“ Sie sah Kelly strafend an und<br />

diese lachte, behielt aber Shawn im Auge. Obwohl die ältere Frau ihn unter gehakt hatte, blieb<br />

er verhältnismäßig entspannt. Beruhigend lächelte er Kelly zu. Diese lächelte aufmunternd<br />

zurück. Sie wandte sich an Apari.<br />

„Keine Bange, Apari, du weißt, dass ich nie hier raus komme, ohne etwas gekauft zu ha-<br />

ben. Erzähl mal, wie geht es Gideon, Eunice und den anderen?“<br />

Die Frau lachte. „Na, wie schon! Gedala und Gideon fetzen sich den ganzen Tag, es hat<br />

sich nichts geändert. Elizabeth ist hochschwanger, das weißt du ja. Kann jeden Tag losgehen.“<br />

Während Apari erzählte, betraten sie die Galerie. Kelly lachte.<br />

„Gedala und Gideon sollten endlich heiraten. Sie leben so viele Jahre zusammen, streiten<br />

sich, dass die Fetzen fliegen, er sollte endlich Nägel mit Köpfen machen.“<br />

Apari grinste. „Wem erzählst du das, Sweety. Aber soweit wird es nicht kommen, fürchte<br />

ich. So, hier sind die neusten Bilder, seht euch in Ruhe um.“<br />

Sie hatten einen großen, weiß gestrichenen, von Oberlichtern erhellten Raum erreicht, an<br />

dessen Wänden an die zwanzig Bilder hingen. Nicht zu eng, gut ausgestrahlt, war jedes ein-<br />

zelne Bild ein Kunstwerk. Shawn blieb der Mund offen stehen.<br />

„Die sind wunderschön!“<br />

Apari strahlte zufrieden. Sie hockte sich auf einen Stuhl an der Tür und ließ Kelly und<br />

Shawn in aller Ruhe die Bilder betrachten. Nach einer guten drei viertel Stunde standen sie<br />

wieder am Eingangstresen. Kelly hatte sich drei Bilder ausgesucht und erklärte:<br />

242


„Schick die Bilder wie immer an die Polizeistation, die wissen Bescheid. Ich habe keine<br />

Ahnung, wie lange wir uns noch hier draußen herumtreiben, alles zwischen einem Monat und<br />

einem Jahr scheint mir wahrscheinlich.“ Sie lachte vergnügt. Apari nickte. Sie kämpfte mit<br />

Luftpolsterfolie, um die Bilder, die Kelly und Shawn sich ausgesucht hatten, sicher zu verpa-<br />

cken.<br />

„Klar, kein Problem. Wollt ihr sofort weiter oder bleibt ihr über Nacht?“<br />

Kelly sah auf ihre Armbanduhr und zuckte die Schultern. „Wir können genauso gut hier<br />

bleiben, es ist ohnehin schon spät. Und ich würde mich freuen, all endlich mal wieder zu Ge-<br />

sicht zu bekommen. Was meinst du Shawn, wollen wir hier übernachten?“<br />

Shawn nickte. „Gerne.“<br />

Apari grinste. Sie zog einen Schlüssel aus der Tasche ihres Rockes und sagte:<br />

„Okay, macht es euch schon mal bequem, ich hab noch zwei Stunden nach und es hat sich<br />

eine Reisegruppe angemeldet, die jeden Moment kommen müsste. Wir sehen uns später.“ Sie<br />

drückte Shawn das dicke Paket mit den Bildern in die Hand. „Hier sind eure Bilder. Die könnt<br />

ihr schon mal mitnehmen.“<br />

Im Auto verstaute Shawn den Bilderpack und stieg ein. Kelly steuerte den Wagen zu ei-<br />

nem Haus am Ende der Ortschaft. Shawn war schockiert, wie ärmlich das Dorf wirkte. Auf<br />

dem Grundstücken lag zum Teil eine Menge Unrat herum, die Häuser wirkten baufällig, die<br />

Autos waren alt und rostig, kurz, überall schrie einem das Wort Armut ins Gesicht. Im Vor-<br />

garten eines der Häuser entdeckte er schockiert einen vielleicht fünfjährigen Jungen, der in<br />

einem angerosteten Fass mit rotem Gefahrgutaufkleber, welches mit Wasser gefüllt war.<br />

hockte und darin herum planschte. Kelly bemerkte seine Bestürztheit und sagte leise:<br />

„Die meisten sind arm, und ich meine arm. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, da die Bil-<br />

dungsmöglichkeiten fehlen. Es ist ein Kreislauf, der schwer zu durchbrechen ist. Darum betei-<br />

lige ich mich so intensiv an der Förderung.“<br />

Shawn nickte verstehend. „Es ist erschütternd! Ich habe es mir nicht so schlimm vorge-<br />

stellt, ehrlich. Die Situation ist hier schlimmer als bei den Native Americans. Kelly, ich<br />

schwöre dir, wenn ich wieder in Ordnung bin, werde ich euch unterstützen. Himmel, ich habe<br />

so viel Geld verdient, das kann ich gar nicht ausgeben. Ich brauche nicht viel, da kann ich was<br />

sinnvolles mit meinen Gagen anfangen.“<br />

Komischerweise schoss Kelly bei diesen Worten durch den Kopf, dass sie gar nicht wuss-<br />

te, wie und wo Shawn vor der Entführung gelebt hatte. Darüber hatten sie auf dem Flug nach<br />

Alice wenig gesprochen. Sie nahm sich vor, ihn später zu fragen.<br />

Erst einmal erreichten sie Aparis Haus. Es war eines der gepflegtesten im ganzen Dorf.<br />

„Apari verdient gut mit ihren Kunstwerken.“, erklärte Kelly beim aussteigen. Sie griffen<br />

sich ihre Rucksäcke und Shawn nahm zusätzlich das Bilderpaket unter den Arm. Minuten<br />

243


später standen sie in Aparis Gästezimmer. Es war einfach, aber geschmackvoll eingerichtet.<br />

An den Wänden hingen einige Bilder, wie Shawn sie in der Galerie gesehen hatte. Dem Gäs-<br />

tezimmer angeschlossen war ein kleines Bad. Kelly fragte:<br />

„Magst du eine Tasse Kaffee trinken?“<br />

Shawn nickte. „Gerne.“ Die junge Therapeutin verschwand in die Küche. Shawn wickelte<br />

vorsichtig die Bilder noch einmal aus. Er hatte sich selbst eines ausgesucht, dass in wunder-<br />

schönen warmen Farbtönen eine Ansicht der West McDonnell Ranges darstellte. Traumverlo-<br />

ren sah er das Bild an und wünschte, er wäre zusammen mit Kelly wieder dort, würde ihre<br />

Lippen auf seinen spüren und ... trat sich selbst gedanklich in den Hintern! - Vergiss es,<br />

McLean. Verdammt noch mal, du dämlicher Hund, schaff diese Gedanken endlich aus deinem<br />

verdrehten Hirn. Kelly hat Recht, was du für Liebe hältst, ist nichts anderes als Dankbarkeit.<br />

Sie kümmert sich um dich, sie meint es ehrlich und du verwechselst das mit echten Gefühlen. -<br />

Hastig verpackte er die Bilder wieder, damit Apari sie bei Gelegenheit zur Post bringen<br />

konnte.<br />

„Kaffee ist fertig!“ Kellys Stimme riss ihn aus seinen dummen Gedanken.<br />

„Ich komme!“, rief er zurück und verließ das Zimmer. Kurz sah er sich suchend um, dann<br />

konnte er durch eine offene Tür am Ende des Korridors die Küche erkennen und schlenderte<br />

hinüber. Er bemerkte eine Tür, die auf eine holzverkleidete Terrasse hinausführte und sah<br />

Kelly dort an einem Tisch sitzen. Sie lächelte ihm entgegen und er setzte sich zu ihr.<br />

„Weißt du, was mir aufgefallen ist?“, fragte sie ihn grinsend.<br />

„Nein, was denn?“ Er nahm einen Schluck Kaffee und sah Kelly fragend an.<br />

„Ich weiß nicht, wo du wohnst, wie du wohnst, wie deine Arbeit so aussieht, darüber ha-<br />

ben wir bisher nie gesprochen.“<br />

Shawn stieß ein leises Lachen aus. „Naja, es gab irgendwie wichtigere Gespräche, was?<br />

Ich wohne derzeit in Sausalito, hab mir dort ein kleines Appartement gemietet. Die Serie, an<br />

der ich ... gearbeitet habe, spielt in Frisco. Was Eigenes will ich nicht haben, bevor ich nicht<br />

sicher weiß, wo ich mal landen werde. Eine eigene Immobilie bindet einen, oder?“<br />

Kelly war aufgefallen, dass er kurz gezögert hatte. „Du wirst wieder arbeiten, Shawn, und<br />

ABC steht hinter dir. Wie sah dein Tag so aus?“<br />

Der junge Mann war rot angelaufen. „Wirklich? Man, das hätte ich nicht erwartet. Puh ...“<br />

Er musste erst einmal tief durchatmen. „Mein Tag ... Ja, also, die Dreharbeiten begannen so<br />

zwischen 9 und 11 Uhr, seltener erst nachmittags oder abends, je nach dem, was anlag. Ich<br />

bin Frühaufsteher, jaja, grins nur, auch, wenn ich manchmal ein Morgenmuffel bin. Meist war<br />

ich gegen 7 Uhr im Gym. Dann fuhr ich zu den Sets. Gedreht wurde so um die sechs bis sie-<br />

ben Stunden. Wenn das Wetter und die Wellen es zuließen, bin ich hinterher noch nach Rodeo<br />

Beach zum Surfen.“<br />

244


Kelly hatte interessiert zugehört. „Das ist ein langer Tag. Was treibst du denn in deiner<br />

Freizeit?“<br />

Shawn überlegte. Es schien ihm Jahre her, dass er etwas wie Freizeit gehabt hatte. „Ich<br />

habe mich mit Freunden getroffen. Mal sind wir ins Kino, oder in eine Disco, aber ich war<br />

auch gerne zuhause, habe gelesen oder Fernsehen geschaut. Ich bin kein Partylöwe. Wenn es<br />

sich ergab, okay, aber ich muss nicht jeden Abend auf die Piste, verstehst du? Und wenn ich<br />

mal einen Monat gar nicht ausgehe, ist das auch in Ordnung.“ Er nahm einen Schluck Kaffee<br />

und seufzte leise. „Und alle zwei Wochen bin ich nach Möglichkeit nach Hause geflogen,<br />

wenn es sich einrichten ließ. Ich habe in Ruskin eine Menge Freunde und bin gerne zuhause<br />

bei meinen Eltern. Wir haben ein gutes Verhältnis. Sie haben mich sehr unterstützt, weißt du.<br />

Als ich beschloss, Schauspielerei zu studieren, waren sie alles andere als begeistert, da ich<br />

mal mit dem Gedanken gespielt hatte, Medizin zu studieren. Aber sie haben nicht gezögert,<br />

mir jede Unterstützung zukommen zu lassen, die ich brauchte.“<br />

ben.“<br />

Shawns Eltern waren Kelly sehr sympathisch. Sie lächelte.<br />

„Wo wir gerade dabei sind, ich muss Lauren anrufen und ihr News für deine Eltern ge-<br />

Shawn sah auf. Fast flehend sah er Kelly an. „Meinst du, ich könnte ... Ich würde sie so<br />

gerne mal sprechen, ihnen selbst sagen, dass es mir soweit ... gut geht ...“<br />

Die junge Therapeutin überlegte kurz. Shawn hatte gute Fortschritte gemacht, ein kurzes<br />

Gespräch mit seinen Eltern wäre zu diesem Zeitpunkt das richtige für ihn.<br />

gen:<br />

„Klar!“, sagte sie also entschlossen. Shawns Augen strahlten. Dann aber stotterte er verle-<br />

„Oh, bleib ... du bleibst bei mir, oder? Zur Unterstützung?“<br />

Kelly nickte. „Wenn du das möchtest ...“<br />

Sie ging ins Haus und kam gleich darauf mit einem Telefon in der Hand zu Shawn zurück.<br />

„In den Staaten wird geschlafen, wir müssen bis 22 Uhr warten, dann sollten deine Eltern<br />

wohl aufgestanden sein, oder?“<br />

Shawn rechnete schnell, dann nickte er. „Ja, sie stehen um 6 Uhr auf.“<br />

„Gut, dann rufe ich Lauren an und später meldest du dich bei deinen Eltern.“ Sie wählte<br />

eine Nummer und hatte gleich darauf Lauren am Apparat.<br />

„Hallo, Süße.“<br />

„Oh, Kelly, schön, dass du dich meldest! Wie geht es euch? Wo steckt ihr?“<br />

„Wir sind bei Apari in Haasts Bluff. Es geht uns soweit gut. Ich wollte mal hören, ob sich<br />

bei dir was getan hat.“<br />

„Oh, einiges, nichts Gutes.“ Sie redete eine Weile und Kelly hörte aufmerksam und er-<br />

schütterter zu. Nach gut zehn Minuten sagte sie bestürzt:<br />

245


„Das ist unglaublich. Es ist ein Wunder, dass Shawn noch lebt! Okay, Süße, ich melde<br />

mich bald wieder, das muss ich erst einmal verdauen. Viel Glück weiterhin, die müssen auf-<br />

gehalten werden!“ Sie drückte das Gespräch weg und atmete tief ein.<br />

„Wer muss geschnappt werden?“, fragte eine Stimme hinter ihnen und Shawn zuckte hef-<br />

tig zusammen, wirbelte herum. Aber auch Kelly fiel vor Schreck fast der Kaffeebecher aus<br />

der Hand und sie fuhr herum.<br />

„Verdammt noch mal, Nat! Eines Tages reiße ich dir deinen Kopf ab! Hast du je daran ge-<br />

dacht, dass es Menschen gibt, die ein schwaches Herz haben?“ Sie sprang auf und fiel dem<br />

Neuankömmling lachend und schimpfend um den Hals. Und Shawn verspürte einen schmerz-<br />

haften Stich im Herzen, als er sah, dass Nat die junge Frau ungeniert küsste, und zwar auf die<br />

Lippen.<br />

Er stand ebenfalls auf und reichte dem jungen Aborigine noch etwas zitterig die Hand.<br />

Kelly stellte ihn vor.<br />

„Nat, das ist mein derzeitiger Patient, Shawn McLean, Shawn, das ist Nat, Aparis Sohn<br />

und mein früherer Studienkollege, ich hatte dir von ihm erzählt. Sein Vater war es, der mir<br />

den Gewinn der Wette ermöglichte.“<br />

Shawn und Nat reichten sich die Hände. „Oh, du bist ein Patient? Ich hatte gefürchtet, du<br />

bist Kellys Freund, dann hätte ich einen Grund gehabt, dir eine rein zu hauen.“ Nat grinste<br />

über das ganze Gesicht und Kelly boxte ihm auf den Arm.<br />

„Du bist unmöglich, das weißt du, oder?“<br />

Nat lachte. „Ach komm, du weißt, dass ich dich vergöttere. Aber du willst mich nicht.“<br />

„Wie auch, du bist eklig!“, lachte Kelly und umarmte den jungen Mann erneut. Dann setz-<br />

ten sie sich alle an den Tisch und Nat fragte:<br />

„Ist noch Kaffee da?“<br />

Kelly nickte. „Klar, hier.“ Sie drückte dem jungen Mann ihre Tasse in die Hand und er<br />

nahm dankbar einen Schluck.<br />

„Das tut gut. Ich war den ganzen Tag mit Gideon und Neville im Busch. - Du darfst deine<br />

Wurzeln nicht vergesse, nur, weil du in der Stadt lebst ... - Du kennst ja Gideon ...“ Nat<br />

schnaufte genervt. „Ich hasse den Busch! Ich bin nicht Arzt geworden, um irgendwelche<br />

Schlangen und Spinnen zu suchen.“<br />

Kelly lachte schallend. „Kein Wunder, dass dein Vater mir alles gezeigt hat, du bist eine<br />

Memme!“<br />

Nat grinste gutmütig. „Ja, bin ich. Ich mag eben nicht im Busch herum laufen und mich<br />

von Viechern beißen lassen. Wie sieht es bei dir aus?“ Er sah Shawn auffordernd an.<br />

„Naja, beißen lasse ich mich nicht so gerne, aber ich liebe euer Outback.“, erklärte Shawn<br />

begeistert. Nat strahlte, was seine abfälligen Worte über den Busch Lügen strafte. Grinsend<br />

meinte er:<br />

246


den?“<br />

„Naja, wer Staub, Hitze, Schlangen, Spinnen und Verdursten mag ...“<br />

Er nahm noch einen Schluck Kaffee, dann fragte er: „Wer soll denn nun geschnappt wer-<br />

Kelly sah Shawn kurz an und dieser nickte. „Shawn wurde im März entführt und ...“<br />

Nat unterbrach die junge Frau. „Warte mal! Shawn McLean ... Hey, ich habe davon in der<br />

Zeitung gelesen. Du wurdest nach einem Discobesuch in Mackay vermisst, richtig?“<br />

Shawn prustete angespannt. „Ja ...“<br />

„Er wurde erst nach fast 5 Monaten befreit. Die Entführer, eine Gruppe von fünf Leuten,<br />

hatten ihn gefesselt zum Sterben zurückgelassen.“ Kelly sah Shawn an und fuhr fort: „Lauren<br />

hat weltweit nach ähnlichen Verbrechen gesucht und wie es aussieht, gibt es Parallelen zu<br />

Fällen rund um den Globus. Sie wurden nie in Zusammenhang gebracht und als Einzeltaten<br />

gesehen, weil nie zwei Fälle in einem Land bekannt wurden. Es lässt sich bis 1999 zurück<br />

verfolgen. Damals wurde in der Nähe von Paris in einem leer stehenden Haus eine stark ver-<br />

weste männliche Leiche gefunden, die an eine Wand im Keller gefesselt war. Es handelte sich<br />

um einen achtundzwanzigjährigen Spanier, ein Student, der 3 Monate zuvor in Madrid ver-<br />

misst gemeldet wurde. Und ähnliche Funde ziehen sich wie ein roter Faden durch die Zeit. Im<br />

Frühjahr 2000 wurde ein in Paris entführter zweiunddreißigjähriger, der im Dezember spurlos<br />

verschwunden war, in Amsterdam gefunden. Im Herbst 2001 fand die Polizei die Leiche eines<br />

siebenundzwanzigjährigen, der in Hamburg entführt worden war, in London, in einem leer<br />

stehenden Haus, an ein Bett gefesselt. Im Spätsommer 2002 ein junger Mann, neunundzwan-<br />

zig Jahre alt, entführt in Kopenhagen, gefunden 4 Monate später in Lissabon. In einem Haus,<br />

leer stehend, gefesselt im Keller liegen gelassen. Schon 5 Monate später ein ähnlicher Fund,<br />

diesmal in Ankara, ein dreißigjähriger Arzt, entführt in Mailand. So geht es weiter bis zu dir.“<br />

Sie sah Shawn an. „Die Leichen wurden erst gefunden, nachdem sie so stark verwest waren,<br />

dass nicht mehr erkennbar war, was vor ihrem Tod mit ihnen geschehen war. Und da es sich<br />

um andere Länder handelte, in denen die Opfer gefunden wurden, machte sich niemand Ge-<br />

danken, dass es sich um Serienverbrechen handeln könnte. Da immer wieder weltweit Opfer<br />

von Verbrechen irgendwo gefesselt gefunden werden, brachte die Art des Todes auch nie-<br />

mand in Zusammenhang. Nun wird alles neu aufgerollt.“<br />

Shawn hatte entsetzt zugehört. Jetzt stotterte er geschockt: „Es ist ein Wunder, dass ich<br />

noch lebe ...“ Er sprang auf und trat von der Terrasse herunter in den Hintergarten. Nat spürte,<br />

dass eine dumme Bemerkung nicht angebracht war und schwieg. Er wusste von Kellys Pati-<br />

enten. Er wusste, was sie machte. Und so konnte er sich ausrechnen, dass Shawn ein schweres<br />

Trauma erlitten hatte.<br />

247


Kelly wartete einen Moment, dann erhob sie sich und folgte Shawn langsam. Als sie ihn<br />

eingeholt hatte, drehte er sich zu ihr herum. Tränen liefen ihm über die Wangen und er stam-<br />

melte fassungslos:<br />

„Wie viele Leichen ...?“<br />

Leise sagte Kelly: „Bisher zwölf.“<br />

Shawn prustete entsetzt und sah zum Himmel hinauf, als hoffe er, dort eine Antwort zu<br />

finden. „Warum lebe ich noch?“ Er schluchzte leise auf. „Warum gerade ich? So viele sind tot<br />

... Ich sollte auch nicht mehr leben.“ Kelly trat dicht an ihn heran und zog ihn an sich.<br />

„Doch, Shawn, das solltest du! Nichts geschieht umsonst auf der Welt. Du wirst dafür<br />

Sorge tragen, dass keine weiteren jungen Männer sterben müssen.“ Sie sah ihm in die Augen.<br />

„Das ist deine Aufgabe! Und du wirst sie meistern müssen, sonst geht das Morden weiter.“<br />

Shawn atmete tief durch. Er schien zu überlegen. Schließlich nickte er langsam.<br />

„Ja. Du hast Recht! Ich muss dafür sorgen, dass diese Schweine ihre Strafe bekommen.“<br />

Er straffte die Schultern. „Und ich werde das schaffen.“ Es war das erste Mal, seit er bei Kelly<br />

war, dass sie ihn so entschlossen erlebte. Sie freute sich darüber, denn diese Entschlossenheit<br />

würde ihm helfen. Liebevoll sagte sie:<br />

„Und das wirst du, Shawn, da bin ich sicher. Zusammen werden wir diese Killer ihrer<br />

wohlverdienten Strafe zuführen.“<br />

*****<br />

Nach dem Abendessen, welches sie zusammen mit Nat und Apari auf der Terrasse einge-<br />

nommen hatten, kamen ein paar Nachbarn aus der Ortschaft vorbei. Shawn wurde vorgestellt<br />

und freundlich begrüßt. Der kleine Junge, den er am Nachmittag in der rostigen Tonne gese-<br />

hen hatte, war unter ihnen. Er hieß Jack und hatte schnell einen Narren an Shawn gefressen.<br />

Er saß auf dessen Schoß und redete ununterbrochen auf den jungen Schauspieler ein. Wie sich<br />

herausstellte, war er der Sohn der örtlichen Postbeamtin, Rose Multa. Shawn lernte Gideon<br />

kennen, den Mann, der Nat unerbittlich in den Busch entführte. Und er lernte Jindali Kumali<br />

und Coorah Burrendah, zwei weitere Künstlerinnen der Ikuntji Galerie kennen, sowie die<br />

schwangere Elizabeth Kent, deren Mann Leonard als Trucker arbeitete und zurzeit unterwegs<br />

war. Coorah war die Hebamme und sie untersuchte Elizabeth kurzerhand vor Ort. Diese hatte<br />

erklärt, dass sie seit dem Morgen Wehen hatte. Sie war gerade angekommen, da platzte ihre<br />

Fruchtblase und sie stöhnte genervt:<br />

„Verflixt! Das hätte noch gerne eine Weile dauern können. Ich hätte mich gerne mit dir<br />

unterhalten.“ Sie und Kelly waren eng befreundet. Kelly lachte.<br />

„Was denn, ich komme mit, ich lasse dich doch nicht allein mein zweites Patenkind zur<br />

Welt bringen!“ Der erste Sohn Elizabeths, Matt, war Kellys Patenkind. Im Moment war er bei<br />

seinem Vater, der ihn ab und zu auf Touren mitnahm. Elizabeth grinste.<br />

248


„Willst du dir das antun?“<br />

Kelly nickte lachend. „Auf jedem Fall! Shawn, kommst du klar?“<br />

„Ja, sicher. Geh nur.“<br />

So verschwanden Kelly, Coorah und Elizabeth und fuhren zur Health Station hinüber.<br />

„Schaff bitte die Mutter deines zukünftigen zweiten Patenkindes ins Bett, okay.“, bat Coo-<br />

rah Kelly als sie die Erste Hilfe Station erreicht hatten. Beth wurde von einer heftigen Wehe<br />

durchgeschüttelt und stöhnte auf.<br />

„Aber schnell ...“, keuchte sie. „Da hat es jemand verflucht eilig ...“ An Kellys Arm<br />

schaffte sie es ins vorbereitete Bett und Kelly half der jungen Frau, die Kleidung auszuziehen<br />

und in ein Nachthemd zu schlüpfen. Dann kam Coorah zu ihnen und legte Beth die Elektro-<br />

den für die Kardiotokographie auf den Bauch und sicherte diese mit einem Gurt. So konnte<br />

sie die Herzfrequenz des Babys und die Wehentätigkeit im Auge behalten. Sie schaltete das<br />

Gerät ein und warf einen prüfenden Blick auf die ausgeworfenen Kurven, die sie auf der Pa-<br />

pierrolle des Gerätes ablesen konnte.<br />

mit.“<br />

„Na, das wird nicht mehr lange dauern, Bethie. Das sind Presswehen. Dann mal raus da-<br />

Keine Stunde später hielt Kelly ein winziges Menschlein im Arm, selbst auf der dunklen<br />

Haut zu erkennen rot angelaufen von der Anstrengung der Geburt, und wütend ob der erfah-<br />

renen Behandlung schreiend. Beth hatte während des Geburtsvorgangs keine Probleme gehabt<br />

und lag erschöpft, aber glücklich im Bett.<br />

„Amanda ...“, sagte sie müde und kämpfte gegen den Schlaf an.<br />

„Ein wunderschöner Name.“, sagte Kelly liebevoll und lächelte sanft. „Hey, Amanda, ich<br />

bin es, Tante Kelly. Willkommen auf unserer schönen Welt.“ Sie drückte das kleine Wesen an<br />

sich und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Dann drückte sie der Mutter das Baby in<br />

den Arm und erklärte: „Ich werde mal drüben Bescheid sagen gehen. Die werden alle ge-<br />

spannt warten.“<br />

Beth hielt sie zurück. „Warte. Versuch bitte, ob du Lenny erreichen kannst, okay? Er<br />

müsste im Raum Sydney sein, ist also möglich, dass er Mobilempfang hat.“<br />

„Klar, mache ich sofort. Ruh du dich aus, ich komme morgen früh vorbei.“ Sie ver-<br />

schwand endgültig und wanderte durch den dunklen Ort zurück zu Aparis Haus.<br />

*****<br />

Shawn hatte Kelly betroffen nachgeschaut, als sie mit Elizabeth und Coorah verschwand.<br />

Er fühlte sich nach wie vor unwohl, wenn sie nicht bei ihm war. Doch der kleine Jack auf<br />

seinem Schoß ließ ihm keine Zeit für unangenehme Überlegungen. Der kleine Junge plapperte<br />

vergnügt vor sich hin und erzählte Shawn von seiner Hausspinne Tante Paula.<br />

249


„Die hab ich im Sommer gefangen, weißt du, sie ist verletzt gewesen, hat sich n Bein aus-<br />

gerissen, sonst hätte ich sie ja gar nicht fangen können, Huntsman sind so schnell. Magst du<br />

Spinnen? Wenn ich mal groß bin, will ich im Labor arbeiten und Gegengifte bauen.“<br />

Shawn verzog das Gesicht. „Um ehrlich zu sein, ich mag Spinnen nicht besonders. Warum<br />

willst du denn in einem Labor arbeiten?“<br />

„Na, ist doch klar! So eine fiese Funnel Web hat meine Schwester gebissen und sie ist da-<br />

ran gestorben!“ Betroffen hörte Shawn zu. „Sie hat im Garten gespielt und die blöde Spinne<br />

hat sie in den Arm gebissen. Aber Chrissy hat nichts gesagt. Und dann ist sie gestorben ...“<br />

Jack verstummte traurig. „Das tut mir leid.“, sagte Shawn sanft und schauderte. So ein<br />

Vieh war es gewesen, das hinter ihm gesessen hatte.<br />

„Ich war ganz doll traurig und Mammy und Daddy auch und darum will ich später Gegen-<br />

gifte bauen.“ Unglücklich seufzte der kleine Junge. „Ich weiß aber nicht, ob das geht.“<br />

„Warum denn nicht?“, fragte Shawn.<br />

Jack seufzte erneut. „Gideon hat mir das erklärt. Ich muss in einer großen Stadt, am besten<br />

in Sydney, studieren. Und das kostet ganz viel Geld. Und Mammy und Daddy haben kein<br />

Geld, um mich auf die große Schule in Alice Springs zu schicken. Meine Oma wohnt da, aber<br />

wenn sie kein Geld haben ...“<br />

In Shawn reifte ein Entschluss. Er würde nachher darüber mit Kelly sprechen. Es musste<br />

möglich sein, dem Jungen die Ausbildung zu finanzieren! Nat hatte sich neben Shawn gesetzt<br />

und sagte:<br />

„Seine Grandma würde ihn zu sich nehmen, damit er in Alice auf die Schule gehen und<br />

später studieren könnte, aber die großen Schulen sind teuer. Schon die Uniformen kosten ein<br />

Vermögen, weil die Kinder so schnell aus allem herauswachsen. Und das Studium ...“ Er ver-<br />

zog genervt das Gesicht. „Wir tun in der Organisation, was wir können, aber Hilfe wird an so<br />

vielen Stellen benötigt, dass wir nicht hinterher kommen.“ Shawn hatte aufmerksam zugehört.<br />

Jetzt sagte er zu Jack:<br />

„Magst du mir etwas zu Trinken holen, ein Glas Wasser?“<br />

Jack hüpfte von seinem Schoß, krähte: „Klar!“, und flitzte ins Haus. Hastig und leise er-<br />

klärte Shawn:<br />

„Ich würde gerne anbieten, die Ausbildung zu finanzieren, ich habe Kelly gesagt, dass ich<br />

mich, wenn ich wieder ... in Ordnung bin, mit meinem Geld an eurer Organisation beteiligen<br />

möchte. Ich weiß nicht, ob das angebracht ist, ich bin ein Fremder für euch.“<br />

Nat strahlte. „Das würdest du machen?“, fragte er begeistert.<br />

Shawn nickte. „Ja, auf jedem Fall. Ich bin Schauspieler, weißt du, ich habe viel Geld ver-<br />

dient und wenig ausgegeben, ich würde mich unglaublich gerne mit meinem Geld bei euch<br />

beteiligen.“ Gerade kam Jack zurück auf die Terrasse und reichte Shawn ein Glas Wasser.<br />

250


„Bitte.“, sagte er vergnügt. Shawn bedankte sich und schon saß Jack erneut auf seinen<br />

Beinen. Nat stand auf und ging zu Rose hinüber, die ihren Sohn und den fremden jungen<br />

Mann beobachtete. Er sprach kurz mit ihr und die junge Frau erhob sich. Sie sagte zu Jack:<br />

„Schatz, es wird Zeit, es ist spät. Tante Paula ist so lange allein, sie wird auf dich warten.“<br />

Jack verzog genervt das Gesicht. Dann fragte er: „Du, Shawn, versprichst du mir, dir mor-<br />

gen Tante Paula anzusehen?“ Jetzt war es Shawn, der das Gesicht verzog. Wenig begeistert<br />

sagte er:<br />

„Okay, ich verspreche es.“, und Jack war zufrieden. Er umarmte Shawn und rief in die<br />

Runde: „Gute Nacht.“ Und schon flitzte er los in der Dunkelheit nach Hause.<br />

Rose, Jacks Mutter, setzte sich zu Shawn und reichte ihm die Hand.<br />

„Ich bin Rose. Nat sagte, du ...“ Sie brach betroffen ab.<br />

Verlegen, dass Nat geplaudert hatte, sah Shawn die junge Frau an. „Ich würde gerne Kel-<br />

lys Hilfsorganisation unterstützen und ich dachte mir, Jack seine Ausbildung zu finanzieren,<br />

wäre ein guter Einstieg. Vorausgesetzt, es macht dir und deinem Mann nichts aus, dass ein<br />

Wildfremder das übernimmt.“<br />

Rose schwieg einen Moment. Sie sah Shawn im Licht der Fackeln, die Apari und Nat ent-<br />

zündet hatten, an und meinte:<br />

„Jack wird eine ausgesprochen gute Menschenkenntnis nachgesagt. Wenn er sich so<br />

schnell an jemanden hängt, kann man sicher sein, dass derjenige in Ordnung ist. Nein, ich<br />

glaube nicht, dass wir etwas dagegen haben. Meine Mutter lebt in Alice, sie würde Jack zu<br />

sich nehmen. Es zerreißt mir das Herz, wir haben vor einem Jahr unsere Chrissy verloren,<br />

Jack hat es dir erzählt. Und wenn ich Jack gehen lassen muss ... Aber wenn er so die Chance<br />

bekommen würde, die Highschool zu besuchen und möglicherweise zu studieren ... Ich muss<br />

an den Jungen denken und darf da nicht egoistisch sein, verstehst du? Er will doch unbedingt<br />

Gegengifte bauen.“ Sie lachte und auch Shawn musste grinsen.<br />

„Es wäre mir eine Freude und Ehre, wenn ich das ermöglichen könnte.“, sagte er ernst.<br />

„Und er würde in den Schulferien nach Hause kommen.“<br />

Rose seufzte. „Das ist teuer und wir ...“<br />

Shawn unterbrach die junge Frau. „Blödsinn, das würde ich selbstverständlich auch bezah-<br />

len. Wenn es mir möglich wäre, würde ich den Jungen selbst nach Hause fahren.“<br />

Rose schaute Shawn an und sagte leise: „Du hast ein großes Herz. Wenn du das für mei-<br />

nen Sohn machen würdest, wäre es mehr als großzügig.“<br />

Sie beugte sich vor und umarmte Shawn spontan. Überrascht zuckte dieser zusammen und<br />

fing an, heftig zu zittern. Doch er schaffte es unter Aufbietung aller Kraft, halbwegs stillzu-<br />

halten und Rose fiel sein merkwürdiges Verhalten nicht auf. Trotzdem atmete er erleichtert<br />

auf, als Rose die Umarmung schließlich löste.<br />

251


„Ich habe keine Geschwister, weißt du, und so niemanden, der mich mit einer Nichte oder<br />

einem Neffen beglücken könnte. Wenn es deinem Mann und dir Recht ist, tue ich so, als wäre<br />

Jack mein Neffe.“, erklärte er mit einem verräterischen Zittern in der Stimme. Rose sah<br />

Shawn noch aufmerksam an.<br />

„Im Christentum gibt es den Brauch des Patenkindes. Das ist fast so was wie ein Neffe<br />

oder eine Nichte, oder?“<br />

„Ja, im Allgemeinen nennen die Kinder ihre Paten Onkel oder Tante, selbst, wenn diese<br />

nicht mit ihnen verwandt sind.“<br />

Rose nickte langsam. „Mein Mann und ich leben nach der alten Religion der Aborigines,<br />

bei uns gibt es so was wie Paten nicht. Aber ich bin sicher, Jackson hätte nichts dagegen,<br />

wenn du so eine Art Pate für Jack wärest.“ Sie stand entschlossen auf. „Ich werde ihn fragen.<br />

Er musste nach Mount Liebig, aber er wollte noch in der Nacht zurückkommen. Da du dir<br />

morgen ohnehin Tante Paula ansehen musst ...“, sie grinste gehässig, denn sie hatte gemerkt,<br />

wie erfreut Shawn gewesen war, als Jack ihm das Versprechen abgenommen hatte „... wirst<br />

du ihn dann morgen kennenlernen. Ich bin überzeugt, er wird einverstanden sein. Du ahnst<br />

nicht, wie dankbar ich dir bin.“ Shawn erhob sich ebenfalls und Rose ließ es sich nicht neh-<br />

men, den jungen Mann noch einmal herzlich zu umarmen. Diesmal spürte sie, dass der blonde<br />

Mann heftig zitterte und ließ ihn erstaunt los. Unglaublich verlegen stotterte Shawn:<br />

„Okay ... Ich ... Wir sehen uns dann morgen ... Gute Nacht.“<br />

„Ja, gute Nacht, bis ... morgen.“ Sie verabschiedete sich bei den Nachbarn und ver-<br />

schwand in die Dunkelheit.<br />

20) Tante Paula<br />

Es gehört Mut dazu, sich einer Angst zu stellen und sie auszuhalten.<br />

Hoimar von Ditfurth<br />

Shawn hatte das Gefühl, von allen angestarrt zu werden. Er wünschte sich sehnlich, dass<br />

Kelly endlich zurückkommen würde. Nat hatte die kleine Unsicherheit Shawns ebenfalls mit-<br />

bekommen und verschwand kurz im Haus. Augenblicke später war er mit zwei Flaschen Bier<br />

zurück bei Shawn und fragte diesen leutselig:<br />

„Na, kleine Nachtwanderung gefällig?“ Shawn sah erstaunt auf und nutzte die Gelegen-<br />

heit, die Flucht zu ergreifen.<br />

„Gerne.“ Zusammen verschwanden die jungen Männer von der Terrasse. Nebeneinander<br />

schlenderten sie durch die Dunkelheit und schließlich blieb Nat stehen. Er prostete Shawn zu<br />

und meinte:<br />

252


„Auf Onkel Shawn und sein neues Patenkind.“ Sie tranken einen Schluck Bier. Schließlich<br />

sagte Nat:<br />

„Ich weiß, was Kelly macht. Sie hat zwar noch nie einen ihrer Patienten ins Outback ver-<br />

schleppt, aber ich habe in Eildon den einen oder anderen kennen gelernt. Du hast scheinbar<br />

nicht die besten Erfahrungen gemacht, was?“<br />

Verwirrt über die Direktheit des jungen Aborigines stammelte Shawn: „Nicht wirklich,<br />

nein ... Ich ...“ Er prustete angespannt. „War wohl nicht zu übersehen, dass ich Berührungen<br />

gerade nicht so gut vertrage, was?“<br />

„Du sagst es, mate. Bei Jack hat es dich nicht gestört ...“<br />

Shawn seufzte. „Nein, er ist noch zu klein, um mir ...“ Wehzutun, wollte Shawn hinzufü-<br />

gen, doch er schaffte es nicht. So beendete Nat den angefangenen Satz.<br />

„Um dir wehzutun, vermute ich mal ins Blaue hinein.“<br />

Shawn nickte angespannt. Er nahm einen Schluck Bier und stieß heftig hervor: „Du weißt<br />

ja, dass ich entführt wurde. Sie haben mich fast fünf Monate gefangen gehalten und ich wurde<br />

... Ich wurde schwer misshandelt, gefoltert ...“ Er schaffte es nicht, Nat zu sagen dass er miss-<br />

braucht worden war. Nat hatte sich etwas in der Art gedacht und meinte:<br />

„Hey, mate, das ist okay, das ist ein Grund, Körperkontakt zu meiden. Kelly wird das hin-<br />

bekommen, da mach dir mal keine Sorgen.“ Diese ruhige und entschiedene Erklärung machte<br />

Shawn eigenartigerweise unglaublich Mut.<br />

„Du kennst sie schon länger als ich. Ich vertraue ihr blind, sie hat schon so unglaublich<br />

viel bewirkt bei mir!“, meinte er leise.<br />

„Du bist hübsch verknallt in meine Kleine, was?“, grinste Nat.<br />

Shawn wurde feuerrot. „Nein!“, keuchte er erschrocken.<br />

Nat lachte schallend. „Klar, mate, kein bisschen.“, meinte er gehässig. „Wem willst du das<br />

denn weis machen?“<br />

Shawn schluckte. „Oh, Scheiße, ich ... Ich darf das nicht, das ist Dankbarkeit, da bin ich<br />

sicher.“, stieß er viel zu schnell um ehrlich zu klingen hervor.<br />

Nat lachte leise. „Gute Antwort. Hätte ich jetzt auch gesagt, ehrlich.“<br />

Shawn stöhnte leise auf. „Ich ... Wir dürfen das nicht, Nat. Dann müsste sie mich abgeben<br />

an einen Kollegen und das würde ich nicht ...“ Er brach den angefangenen Satz ab und starrte<br />

unglücklich in die Dunkelheit. Nat schwieg einen Moment. Schließlich sagte er leise:<br />

„In Sydney an der Uni ... Ich war der einzige Aborigine dort. Sie hat dir sicher erzählt,<br />

dass wir uns im Psychologiekurs kennengelernt haben, oder? Sie war von Anfang an der ein-<br />

zige Student dort, der mich nicht schief angesehen hat. Wäre sie nicht gewesen, ich weiß<br />

nicht, ob ich das tägliche Spießrutenlaufen durchgehalten hätte. Sie war von Tag eins an mei-<br />

ner Seite. Ohne sie hätte ich den ganzen Scheiß hingeschmissen. Sie hat mir nicht nur in Psy-<br />

chologie geholfen, sie hat mich durch die Anatomie, Pathologie, Pharmakologie und Toxiko-<br />

253


logie geschleppt. Als ich sagte, ich bin vernarrt in sie, hab ich das absolut ernst gemeint. Ich<br />

liebe Kelly. Wie eine Schwester, mate. Sie ist für mich im Laufe der Jahre wie eine Schwester<br />

geworden. Mein Vater, er starb vor ein paar Jahren bei einem Unfall, und meine Mum lieben<br />

Kelly ebenfalls. Sie fühlt sich hier wie zuhause. Ihre Eltern sind lange tot, sie starben bei ei-<br />

nem Autounfall vor zehn Jahren, weißt du. Als wir noch zusammen auf der Uni waren. Sie ist<br />

eine ganze Weile vor mir fertig gewesen. Als sie weg war, hatte ich das Gefühl, ein Teil von<br />

mir wäre gegangen.“ Shawn staunte. Dass Kellys Eltern tot waren, war neu für ihn. Das hatte<br />

die junge Frau nicht erwähnt.<br />

„Dein Dad muss ein wunderbarer Mensch gewesen sein.“, sagte er leise. „Ich habe vor ein<br />

paar Tagen eine haarsträubende Blamage erlebt ...“ Er lachte. „Ich war so dumm, mit Kelly zu<br />

wetten, dass ich sie im Busch jederzeit finden würde und ...“<br />

Nat unterbrach ihn, schallend lachend. „Oh, mate! Nicht mal ich würde sie wiederfinden,<br />

das kannst du mir glauben. Ich liebe unser Land, aber ganz ehrlich, Mann, ich hasse den<br />

Busch! Ich bin genetisch aus der Art geschlagen, eindeutig. Mein Dad hat Kelly und mich<br />

unterrichtet, aber ich bin sicher, sie würde im Busch überleben, ich nicht. Ich hab eine pani-<br />

sche Angst vor Schlangen, kann die Viecher nicht leiden. Und ich verirre mich in wunderba-<br />

rer Regelmäßigkeit da draußen, wenn ich unterwegs bin. Mein Dad hat meine Mum verdäch-<br />

tigt, mit nem verwöhnten Weißen ein Verhältnis gehabt zu haben, aus dem dann sein missra-<br />

tener Sohn hervor gegangen ist.“<br />

Der junge Mann lachte schallend. „Er konnte es nicht fassen, dass ein Aborigine Angst vor<br />

Schlangen hat.“<br />

Shawn musste ebenfalls lachen. „Ich bin kein Fachmann, aber etwas Weißes hast du nicht<br />

an dir.“, erklärte er.<br />

Nat kicherte. „Nein, meine Mum hätte Dad niemals betrogen. Er musste sich schließlich<br />

damit abfinden, dass er mein Erzeuger war, wenn er es auch nie fassen konnte.“ Einen Mo-<br />

ment schwiegen die jungen Männer, dann fragte Nat: „Und dir gefällt es hier draußen?“<br />

Enthusiastisch erwiderte Shawn: „Und wie! Ich könnte mir mehr als gut vorstellen, nach<br />

Australien über zu siedeln, wenn diese ganze Scheiße mal hinter mir liegt.“<br />

„Wo lebst du denn in den Staaten?“, wollte Nat wissen.<br />

„In Sausalito. Kommen tue ich aus einer Kleinstadt in Florida, in der Nähe von Tampa.“<br />

„Oh, San Francisco kenne ich. Ich war nach dem Studium ein halbes Jahr in den Staaten,<br />

hab mich da umgesehen. In Tampa direkt war ich nicht, aber in Miami. Und Sausalito hab ich<br />

mir angesehen, als ich in Frisco war. Ich lebe in Sydney, daher kann ich Kelly oft sehen, wenn<br />

sie keine Patienten hat, die es erforderlich machen, in Eildon zu sein.“<br />

Neugierig fragte Shawn: „Wo wohnt sie denn in Sydney?“<br />

Nat grinste. „Oh, ganz zurückhaltend und bescheiden. Als ihre Eltern ums Leben kamen<br />

haben sie ihr ein kleines Vermögen hinterlassen. Die haben irgendwas mit Öl gemacht und<br />

254


stanken vor Geld. Sie hat sich eine kleine, bescheidene Villa in Double Bay gekauft. Die Syd-<br />

neyaner sagen zu dem Stadtteil Double Pay. Weil es dort so günstig ist.“ Er lachte schallend.<br />

„Aber das ist das einzige, was sie sich gönnt. Sie hat ihr Vermögen angelegt und kann allein<br />

von den Zinsen gut leben. So kann sie es sich leisten, nicht so gut situierte Patienten kostenlos<br />

zu behandeln. Und die, die es sich leisten können, dürfen schön abdrücken. Das Geld geht in<br />

den AEE Trust.“<br />

Shawn fragte verwirrt: „Wohin?“<br />

Nat erklärte: „Aborigine education and encouragement. Die Hilfsorganisation.“<br />

Langsam machten sich die jungen Männer auf den Rückweg zur Terrasse. Kurz bevor sie<br />

sie erreichten hielt Nat Shawn noch einmal zurück. „Es ist unglaublich großzügig von dir,<br />

dass du Jack helfen willst, das weißt du, oder?“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Nein, ist es nicht, ich habe Geld genug, warum sollte ich es<br />

nicht endlich vernünftig verwenden? Und, hey, ich bekomme Tante Paula zu sehen.“ Er lachte<br />

verkniffen.<br />

„Tante Paula ...“, meinte Nat nachdenklich. „Na, ich wünsche dir viel Spaß.“ Er lachte und<br />

marschierte auf die Terrasse zurück. Hier war Kelly wieder aufgetaucht, mit der guten Nach-<br />

richt, dass die Geburt problemlos über die Bühne gegangen war und Beth eine gesunde Toch-<br />

ter zur Welt gebracht hatte. Gerade schenkte Apari einen selbst gebrannten Schnaps in kleine<br />

Gläser und drückte Nat und Shawn eines in die Hand.<br />

„Auf Amanda!“, sagte Kelly fröhlich und prostete allen zu.<br />

*****<br />

„Ich hatte eine kleine Panikattacke.“ Shawn und Kelly lagen endlich im Bett. Der Abend<br />

war lang geworden und es war nach 3 Uhr. Shawn war hundemüde. Er hatte sich sichtlich<br />

gefreut, als er mit Nat zusammen zurückgekommen war und Kelly entdeckt hatte.<br />

„Warum?“, fragte die junge Frau müde.<br />

„Rose ... Sie hat ... Ach, verflucht! Sie hat mich umarmt. Und ich bin fast zusammenge-<br />

brochen. Wann wird das aufhören?“<br />

Kelly zuckte die Schultern. „Shawn, das weiß ich nicht. Morgen, in einem Monat, in ei-<br />

nem Jahr, es gibt keine feste Regel. Wenn du nicht ganz zusammengebrochen bist, ist das ein<br />

Fortschritt.“<br />

„Ja, klar, ich habe mich nicht komplett lächerlich gemacht ...“, seufzte Shawn unglücklich.<br />

„Nebenbei, als du mit Elisabeth und Ca... ähm, sorry, den Namen habe ich vergessen ...“ Kel-<br />

ly lachte. „Coorah ...“<br />

255


„Ja, richtig, Coorah ... Als du mit ihnen verschwandest ... Da habe ich gedacht, oh man,<br />

hoffentlich kommt sie bald zurück.“ Er verstummte bedrückt. Kelly legte eine Hand auf sei-<br />

nen Arm und erklärte:<br />

„Aber du hast es geschafft. Das ist es, was zählt. Du hast es aufrecht geschafft. Ich bin<br />

stolz auf dich.“<br />

Shawn dachte einen Moment nach. Erstaunt meinte er schließlich: „Du hast Recht ... So<br />

habe ich es noch nicht gesehen. Vor ... Im Kings Canyon Resort bin ich noch ausgeflippt!<br />

Aber da war ich allein. Das war wohl noch was anderes, oder?“<br />

„Nein, ich bin im Moment dein Sicherheitsanker, egal, ob du allein bist oder jemand bei<br />

dir ist. Wenn du es ohne mich geschafft hast, ist das ein toller Fortschritt.“<br />

Shawn seufzte. „Unter Umständen hast du Recht. Ich glaube, ich bin zu müde, um noch<br />

darüber nachzudenken. Morgen ...“ Er war eingeschlafen, bevor er den Satz noch beenden<br />

konnte.<br />

*****<br />

Am kommenden Morgen machten Shawn und Kelly sich nach dem Frühstück auf den<br />

Weg zur Krankenstation. Beth ging es gut, sie strahlte, als Kelly und ihr Begleiter den Raum<br />

betraten.<br />

„Hey, sieh mal Amanda, da kommt deine Patentante.“<br />

Kelly umarmte ihre Freundin und sagte: „Du siehst gut aus. Lenny habe ich erreicht. Er<br />

überlässt seine Tour einem Kollegen und will so schnell wie möglich mit Matt heim kom-<br />

men.“<br />

Beth sah ihre Tochter an, die lauthals brüllend in ihrem Arm lag. „Hast du gehört? Daddy<br />

und dein Bruder kommen heim.“ Sie sah Shawn an. „Nimmst du sie bitte einen Moment? Kel-<br />

ly, sei so gut und hilf mir ins Bad, ja? Coorah musste in die Galerie und allein schaffe ich es<br />

glaube ich noch nicht.“ Ehe Shawn sich versah hatte er den Säugling im Arm und Beth erhob<br />

sich zitterig. Kelly hakte die Frau unter und zusammen verschwanden sie Richtung Bad. Als<br />

sie zwanzig Minuten später ins Krankenzimmer zurückkamen, saß Shawn gemütlich auf ei-<br />

nem der Stühle, die im Raum standen und hielt Amanda unendlich liebevoll und sanft in sei-<br />

nen Armen. Leise sprach er mit dem Säugling.<br />

„... wenn du soweit bist, wird alles viel besser für euch aussehen. Deine Tante und ich<br />

werden alles tun, um zu helfen, weißt du, kleiner Engel. Ich habe so viel Geld verdient, ich<br />

brauche es gar nicht. Wenn ich wieder arbeiten kann, werde ich höhere Gagen verlangen, da-<br />

mit ich noch mehr Geld habe, was ich hier einsetzen kann. Dir sollen mal alle Wege offen<br />

stehen.“<br />

256


Kelly kamen vor Rührung die Tränen, als sie Shawn mit dem Baby sitzen sah. Selbst Beth<br />

musste Schlucken. Dann aber sagte sie, um die Verlegenheit zu überspielen:<br />

okay?“<br />

„Amanda, Honey, lass dir das von dem hübschen Mann doch bitte schriftlich geben,<br />

Shawn sah erschrocken auf und stotterte: „Oh, ich hab euch ... gar nicht zurückkommen<br />

gehört ...“ Er wollte das Baby seiner Mutter zurückreichen, doch diese lächelte.<br />

„Halt sie ruhig noch eine Weile. Sie ist so schön still bei dir.“ Fast erleichtert hielt Shawn<br />

die Kleine also noch in den Armen. Schließlich meinte Kelly:<br />

„Was meinst du, sollen wir mal zu Jack gehen? Er wird mit Tante Paula sehnsüchtig auf<br />

uns warten.“<br />

Angewidert verzog Shawn das Gesicht. „Danke!“, sagte er genervt. „Inständigen Dank!<br />

Von einer entzückenden, kleinen Lady zu einer Spinne. Kelly, ich danke dir wirklich. Make<br />

my day.“<br />

Beth lachte gehässig, ließ sich ihre Tochter in den Arm legen und sagte: „Kommt ihr noch<br />

mal rein, bevor ihr euch auf die Räder macht?“<br />

„Natürlich. So, wie ich das sehe, wird es ohnehin erst morgen etwas mit der Weiterfahrt.<br />

Wir sehen uns also auf jedem Fall noch.“<br />

Fünf Minuten später standen sie vor dem Haus der Postbeamtin. Jack spielte vor dem<br />

Haus auf dem braun verdorrten Rasen und schrie begeistert:<br />

„Shawn! Ich dachte, du hättest mich vergessen!“ Er kam angerannt und Shawn fing ihn la-<br />

chend auf.<br />

„Wie könnte ich dich denn vergessen?“, fragte er erstaunt.<br />

„Mum hat mir erzählt, was du für mich tun willst! Ist das wahr? Ist das wirklich wahr?“<br />

Wild umarmte der Junge den Schauspieler. „Dann kann ich später doch Gegengifte bauen.<br />

Dann muss niemand mehr sterben, weil ihn eine dumme Spinne gebissen hat!“, jubelte der<br />

Junge begeistert. „Willst du dir denn Tante Paula anschauen?“ Er strampelte, um sich von<br />

Shawns Armen freizumachen. Dieser verzog das Gesicht und meinte:<br />

an.<br />

„Kann es kaum erwarten ...“ Er sah Hilfe suchend Kelly an. Die junge Frau lächelte ihn<br />

„Keine Panik, wir machen das zusammen, okay.“ Sie wandte sich an Jack. „Hör mal,<br />

Schätzchen, deine Mum hat uns erlaubt, kurz euer Telefon zu benutzen. Shawn möchte gerne<br />

mit seiner Mum und seinem Dad in Amerika telefonieren. Wenn wir das gemacht haben, wird<br />

er sich Tante Paula anschauen. Wir beide gehen rein und du zeigst sie mir zuerst, dann<br />

nimmst du sie mit auf die Terrasse und wenn Shawn telefoniert hat, wird er sie sich anschau-<br />

en, ist das ein Wort?“<br />

Jack nickte zufrieden. „Klasse! Komm, ich zeig dir mein Zimmer.“ Er schnappte sich Kel-<br />

lys Hand und zog diese hinter sich her ins Haus.<br />

257


Als sie sein Zimmer erreichten, zog Kelly den kleinen Jungen zu sich. Leise und ver-<br />

schwörerisch sagte sie: „Hör mir mal zu, Schatz. Du musst mir ganz doll helfen, okay? Du<br />

magst Shawn, oder?“<br />

Jack nickte ernsthaft. „Oh, ja! Ich find ihn toll.“<br />

Kelly lächelte. „Das ist gut. Dann kannst du ihm helfen. Weißt du, Shawn hat schreckliche<br />

Angst vor Spinnen. Wir können ihm mit Tante Paulas Hilfe zeigen, dass das nicht nötig ist,<br />

was meinst du?“<br />

Jack sah Kelly groß an. „Was soll sie denn machen?“, fragte er leise.<br />

„Wir werden sie zuerst in die Hand nehmen und wir lassen Shawn viel Zeit, damit er sich<br />

an sie gewöhnen kann, verstanden?“<br />

du?“<br />

„Ja!“<br />

okay?“<br />

„Du darfst ihn nicht drängen oder auslachen, dann würde er sehr traurig sein, verstehst<br />

„Das würd ich nie machen. Ich will nicht, dass er traurig ist.“, erklärte Jack erschrocken.<br />

„Das ist super, dann wirst du bei der Therapie mein Assistent sein, klar?“<br />

Jack strahlte. „Klar! Wir werden ihm helfen, dass er nicht mehr so große Angst hat.“<br />

„Genau das. Ich gehe zu ihm und du bringst deine Tante Paula raus auf die Terrasse,<br />

„Mach ich.“ Jack ging an einen kleinen Schreibtisch, der vor dem Fenster stand und griff<br />

nach einer Glasbox, die dort stand. Damit schwirrte er ab nach draußen.<br />

Kelly eilte ins Wohnzimmer hinüber, wo Shawn unentschlossen und nervös auf und ab<br />

ging. Der Anruf bei seinen Eltern, der auf heute Morgen verschoben worden war, würde eine<br />

gute Voraussetzung für die anschließende Spinnenkonfrontation sein. Als sie in den Raum<br />

kam, zuckte Shawn erschrocken herum.<br />

zelte.<br />

„Verflucht noch mal! Das nervt.“, stöhnte er mit leicht zitternder Stimme. Kelly schmun-<br />

„Ich sagte dir bereits, dass es Millionen Menschen auf der Welt gibt, die auch ohne Trau-<br />

mata schreckhaft sind. Also höre auf zu Jammern.“ Sie nahm das Telefon und drückte es<br />

Shawn in die Hand. Sie zog ihn zum Sofa hinüber und setzte sich neben ihn. „Du sagst, was<br />

du sagen möchtest, wie wir es gestern Abend besprochen haben, okay?“<br />

Shawn nickte angespannt. Er wählte. Am anderen Ende der Leitung knackte es und<br />

schließlich war der Klingelton zu hören. Shawn hatte auf Lautsprecher gestellt, sodass Kelly<br />

mithören konnte. Schließlich meldete sich eine weibliche Stimme.<br />

„Ja?“<br />

Shawn schluckte. „Hallo, Mum ...“ Einen Moment herrschte Stille, dann ...<br />

„SHAWN! Liebling! Bist du es wirklich?“<br />

258


Dem jungen Mann kullerten Tränen über die Wangen. Mit zitternder Stimme sagte er: „Ja,<br />

Mum, ich bin es.“ Am anderen Ende der Leitung war ein Schluchzen zu hören, gefolgt von<br />

einem lauten Ruf.<br />

„PAUL! Schnell! Shawn ist am Telefon! Liebling. Wie geht es dir? Wo bist du? Gott im<br />

Himmel, wir vermissen dich so schrecklich!“ Jetzt war eine sympathische Männerstimme zu<br />

vernehmen.<br />

„Anna, was ist los?“<br />

„Es ist Shawn, Paul.“<br />

„Shawn? Mein Junge ...“<br />

„Hey, Dad!“ Shawn brachte nur einen Gruß zu Stande. Seine Rechte klammerte sich an<br />

Kellys Hand und er zitterte.<br />

„Liebling, wie geht es dir?“, wollte seine Mutter wissen. Shawn brauchte drei Anläufe, um<br />

eine Antwort hervor zu stoßen.<br />

„Es geht soweit ...“<br />

„Wo bist du denn, mein Junge?“ Paul McLean war es, der diese Frage stellte. Shawn at-<br />

mete tief durch und antwortete:<br />

„Dad ... Ich bin ... in der Mitte von Nirgendwo. Wir sind in einer kleinen Ortschaft mitten<br />

im Outback. Ich wollte ... Ich wollte eure Stimmen ...“ Er schluchzte selbst auf und konnte<br />

keinen Ton mehr hervor bringen. Kelly drückte seine Hand und lächelte ihm aufmunternd zu.<br />

„Komm, du schaffst das.“, sagte sie sanft. Shawn nickte entschlossen.<br />

„Geht es dir gut?“, fragte die tränenerstickte Stimme seiner Mutter. „Es ist so wundervoll,<br />

deine liebe Stimme zu hören, mein Schatz.“<br />

Shawn seufzte. „Was glaubst du, wie wundervoll es ist, eure Stimmen zu hören. Ihr fehlt<br />

mir schrecklich.“<br />

„Du fehlst uns auch, mein Junge!“ Die Stimme Paul McLeans klang belegt.<br />

„Bitte, sag uns, ob es dir gut geht, Liebling.“ Anna fragte noch einmal nach.<br />

„Mum, ja, es geht mir viel besser, okay. Es wird noch dauern, bis ... bis ich soweit bin,<br />

nach Hause zu kommen, aber ich mache gute Fortschritte. Sagt Kelly.“<br />

„Dr. Jackson? Ist sie bei dir?“<br />

Kelly erklärte ruhig: „Hallo, Mister und Misses McLean. Ja, ich bin bei Ihrem Sohn.“<br />

„Dr. Jackson. Ich weiß nicht, wie wir gut machen können, was Sie für unseren Jungen<br />

tun.“ Anna schien sich gefangen zu haben. „Liebling, wir können es nicht erwarten, dich in<br />

die Arme zu schließen. Es ist so wundervoll, dass du dich melden konntest. Geht es dir wirk-<br />

lich gut?“<br />

Shawn schmunzelte unter Tränen. „Ja, Mum, macht euch bitte nicht so viele Sorgen. Dr.<br />

Jackson ist großartig. Sie hat mir so unendlich geholfen.“<br />

259


„Liebling, selbstverständlich machen wir uns Sorgen. Wir können es nicht mehr erwarten,<br />

dich endlich wiederzusehen.“<br />

an.<br />

„Wie lange wird es noch dauern?“ Paul stellte diese Frage. Shawn sah Kelly Hilfe suchend<br />

„Mister McLean, das kann ich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Shawn macht gute Fort-<br />

schritte, aber bis zur Genesung ist es noch ein langer, steiniger Weg, den wir alle vier gehen<br />

müssen, okay. Sie dürfen nie aufhören, an ein gutes Ende zu glauben.“<br />

Anna seufzte auf. „Daran glaube ich fest. Shawn, Liebling, versprich uns, auf dich aufzu-<br />

passen. Dr. Jackson, passen Sie bitte auf unseren Jungen auf, bitte. Wir wollen dich wieder<br />

haben, Dad und ich.“<br />

Kelly bat Shawn leise, das Gespräch zu beenden und auf die Terrasse hinaus zu gehen. So<br />

sagte der junge Mann:<br />

„Mum, Dad, ich muss Schluss machen. Ich melde mich wieder, wenn es passt. Denkt da-<br />

ran, dass ich bald zuhause sein werde. Ich liebe euch!“<br />

„Wir lieben dich auch, mein Junge. Wir warten auf dich.“<br />

Shawn drückte Kelly abrupt den Hören in die Hand und verließ hastig den Raum. Kelly<br />

drückte den Lautsprecher aus und sagte ruhig:<br />

„Hören Sie, ich habe es gerne, wenn meine Patienten ihre Angehörigen während der The-<br />

rapie zu einem Zeitpunkt, der dem Patienten nicht mehr schadet, unter meiner Aufsicht sehen.<br />

Es ist schwierig, weil wir in Australien sind, Sie in den Staaten. Wenn Sie es einrichten kön-<br />

nen, werde ich mit Shawn in ... drei Wochen in Tennant Creek sein. Dass ist ein Kaff, zirka<br />

500 Kilometer nördlich von Alice Springs am Stuart Highway. Es gibt dort einen kleinen Air-<br />

port, der von Chartermaschinen benutzt werden darf. Wenn Sie es also einrichten könnten,<br />

würden wir Sie dort im Eldorado Motor Inn erwarten ...“<br />

Entschlossen kam die Stimme Paul McLeans. „Das werden wir einrichten können, Dr.<br />

Jackson, und wenn es das letzte wäre, was wir einrichten können.“<br />

Kelly nickte zufrieden. „Das wäre für Shawn großartig. Bitte bedenken Sie aber, dass sie<br />

ihm keinerlei Fragen stellen, zu dem, was ihm geschehen ist. Er ist noch nicht ansatzweise so<br />

weit, sich jemand anderem anzuvertrauen und es wäre nachteilig für ihn, wenn Sie ihn be-<br />

drängen würden. Ich werde die ganze Zeit bei ihm sein, denn das letzte, was wir brauchen<br />

könnten, wäre ein Einbruch. Haben Sie bitte Verständnis.“<br />

„Selbstverständlich, wir werden uns an das halten, was Sie sagen, Dr. Jackson. Sie wissen<br />

im Augenblick am besten, was für unseren Sohn gut ist. Wir möchten ihn wiedersehen, ihn in<br />

die Arme schließen können, verstehen Sie?“<br />

Kelly seufzte leise. „Sie sollten wissen, das Shawn im Augenblick empfindlich ist, was<br />

Körperkontakt betrifft. Aber machen Sie sich darüber noch keine Gedanken, über die Brücke<br />

gehen wir, wenn es soweit ist. Gut, dann werden wir uns in drei Wochen persönlich kennen-<br />

260


lernen.“ Sie verabschiedete sich und blieb noch einen Moment sitzen. Hoffentlich hatte sie<br />

das Richtige getan. Aber Shawn war soweit und es würde ihm gut tun, davon war Kelly über-<br />

zeugt.<br />

Entschlossen erhob sie sich und folgte dem Schauspieler auf die Terrasse. Hier fand sie<br />

Jack und Shawn in einem ernsthaften Gespräch vertieft.<br />

„Aber wenn ich bei Oma bin und in die Schule gehe, und ganz viel lerne, werde ich später<br />

so viel Geld verdienen, dass ich dir alles zurückzahlen kann.“<br />

Shawn lachte. „Das brauchst du aber nicht, Jack. Ich gebe es dir gerne und ich freue mich<br />

auf den Tag, an dem du deine Graduierungsfeier an der Uni hast. Dann werde ich da sein, das<br />

schwöre ich dir!“<br />

„Was ist das?“, wollte Jack verwirrt wissen.<br />

„Das ist der Tag, an dem du dein Abschlusszeugnis an der Universität bekommst. Das ist<br />

eine große Feier.“<br />

Jack überlegte. „Das hört sich toll an. Werden Mum und Dad auch da sein?“<br />

„Klar werden sie das. Und wir werden so laut klatschen, wenn du an der Reihe bist, dass<br />

alle Leute denken werden, die ganzen Besucher wären nur für dich gekommen.“<br />

Kelly lachte. „Und ich werde ebenfalls da sein, das verspreche ich dir.“<br />

Shawn sah auf und obwohl seine Augen noch rot waren, strahlte er. Die junge Frau lächel-<br />

te und sagte leise:<br />

„Später, okay. Jetzt wollen wir uns erst einmal ausführlich mit Tante Paula unterhalten.“<br />

Nicht einmal diese Ankündigung konnte Shawns gute Laune trüben.<br />

„Okay, lass es uns in Angriff nehmen.“, sagte er angespannt. Jack erklärte:<br />

„Hör mal, Shawn, Tante Paula ist eine Huntsman 17 Spinne. Die sind groß, aber sie tun ei-<br />

nen nichts. Ich hab viel mit ihr geübt, darum bleibt sie in der Hand ruhig sitzen, weißt du.“<br />

Er stand auf und eilte noch mal ins Haus. Als er zu Shawn und Kelly trat, hielt er vorsich-<br />

tig etwas in der Hand.<br />

„Sieh mal, sie hat sich letzten Monat gehäutet.“ Er hielt Shawn seine Hand hin und in die-<br />

ser hielt er den leeren Chitinpanzer der Spinne. Kelly war überrascht, wie verständnisvoll der<br />

kleine Junge war. Er hielt Shawn die leere Hülle hin und sagte: „Schau dir das mal an. Zum<br />

Glück brauchen wir nicht so aus unserer Haut schlüpfen, wenn wir wachsen. Dann hätte Mum<br />

viel wegzuräumen, sie sagt immer ich wachse wie Unkraut.“ Er kicherte. Shawn war zusam-<br />

mengezuckt, als Jack ihm zeigte, was er da bei sich hatte. Ergeben sah er sich den Chitinpan-<br />

zer genauer an. „Willst du ihn mal halten?“, fragte Jack aufgeregt.<br />

17 Huntsman-Spinnen gehörten zur Familie der Riesenkrabbenspinnen Sie sind mit 14 Arten in Australien vertreten. Ihre Nahrung besteht<br />

aus Insekten und anderen wirbellosen Tieren. Die schnelle Jagdspinne kann sehr groß werden und eine Beinlänge von 15 cm erreichen. Sie<br />

ist harmlos.<br />

261


„Ja, das ist eine gute Idee.“, stimmte Kelly zu und nahm Jack die Hülle vorsichtig aus der<br />

Hand. Sie betrachtete sie selbst eingehend, dann schaute sie Shawn fragend an. Dieser atmete<br />

tief ein, nickte und ließ sich von Kelly vorsichtig den Panzer auf die Handfläche legen. Seine<br />

Atmung beschleunigte sich und Kelly sagte leise und beschwichtigend:<br />

„Keine Sorge, es ist alles gut. Jack, bist du so lieb und holst uns etwas zu Trinken?“<br />

„Klar, Mum hat extra frischen Eistee gemacht.“ Schon rannte er ins Haus. Kelly legte<br />

Shawn eine Hand auf den Arm und sagte:<br />

„Atme ganz ruhig und tief, wie wir es so oft gemacht haben.“ Shawn nickte angespannt<br />

und bemühte sich, tief ein und auszuatmen. Als Jack mit zwei Gläsern auf die Terrasse zurück<br />

kam, hatte Shawn seine Atmung unter Kontrolle. Entspannter sah er sich den leeren Panzer<br />

an.<br />

„Ist eine merkwürdige Sache, dass diese Tiere aus ihrer Haut schlüpfen, wenn sie wach-<br />

sen.“, sagte er ehrlich beeindruckt. Jack strahlte.<br />

„Find ich auch. Gideon hat mir mal was aus dem Busch mitgebracht, wartet.“ Er flitzte<br />

noch einmal ins Haus und kam stolz mit einer leeren Schlangenhaut zurück. „War n Taipan!“,<br />

erklärte er altklug. Beeindruckt sahen sich Shawn und Kelly diese Hülle an. Die Therapeutin<br />

fragte:<br />

„Wie ist es, wollen wir mal Tante Paula die Ehre erweisen?“<br />

Shawn schluckte. „Ja ...“, meinte er nervös. Jack schob den Glasbehälter mit der großen<br />

Spinne näher zu Shawn und Kelly hinüber.<br />

„Schaut sie euch erst mal so an, damit sie keine Angst vor euch kriegt.“, sagte er ernsthaft.<br />

Kelly hätte den kleinen Jungen am liebsten in den Arm genommen. „Ist sie nicht hübsch?“,<br />

fragte dieser hingerissen. Kelly hatte keine Angst oder Ekel vor Spinnen, aber soweit zu ge-<br />

hen, diese Tiere als hübsch zu bezeichnen, würde sie abgesehen von einigen Vogelspinnenar-<br />

ten normalerweise nicht. Doch erklärte sie ernsthaft:<br />

„Ja, du hast Recht, sie ist sehr hübsch.“<br />

Shawn starrte erschrocken auf die große Spinne und schluckte. „Hübsch ...“, stieß er ange-<br />

spannt hervor. Kelly beschloss, einen Schritt weiter zu gehen.<br />

„Gibst du sie mir?“, fragte sie Jack und hielt ihre Hand hin. Strahlend öffnete der Junge<br />

das kleine Terrarium und griff ruhig hinein. Die Spinne ließ sich widerstandslos herausneh-<br />

men und Jack setzte sie auf Kellys Hand. Shawn wurde starr und blickte wie hypnotisiert auf<br />

das große Tier, dass Kellys Hand fast komplett bedeckte.<br />

„Oh Gott ...“, stieß er leise hervor.<br />

Tante Paula hatte wohl beschlossen, ergeben mitzuspielen, denn sie blieb ruhig auf Kellys<br />

Hand sitzen.<br />

262


„Sieh sie dir an. Sie ist ganz ruhig.“, sagte Kelly liebevoll. Shawn zwang sich, ruhig zu<br />

atmen und sah die Spinne an. Sie erschien ihm groß, hässlich und bedrohlich. Doch er ver-<br />

suchte, dies zu ignorieren. Stattdessen bemühte er sich, irgendetwas an dem Tier zu finden,<br />

was ein klein wenig hübsch war. Sie hatte eine hellbraune Farbe, der Kopfteil war dunkel und<br />

auf dem Rücken hatte sie einen dunklen Streifen.<br />

„Der ... Streifen auf dem Rücken ist ... hübsch.“<br />

Kelly hob die Hand und ließ Shawn die Spinne lange und in aller Ruhe betrachten. Tante<br />

Paula tat ihm den Gefallen, ruhig sitzen zu bleiben. Nach vielen Minuten, in denen es Shawn<br />

gelang, ruhiger zu atmen, fragte Kelly schließlich:<br />

„Willst du sie mal halten?“ Shawn schloss gestresst die Augen, nickte aber schließlich.<br />

„Okay, aber bitte langsam und vorsichtig.“ Seine Hand zitterte, als er sie ausstreckte. Kel-<br />

ly legte ihre freie Linke unter Shawns Hand und gab ihm so Unterstützung.<br />

„Alles klar? Kann es losgehen?“, fragte sie leise und sanft. Shawn nickte. Jack war still<br />

gewesen und hatte ruhig gewartet. Er sah Kelly fragend an und diese nickte. Sanft tippte der<br />

Junge die Spinne am Hinterleib an und diese setzte sich langsam, als wisse sie, um was es<br />

ging, in Bewegung. Jetzt berührten ihre Beine Shawns Hand.<br />

„Ganz ruhig, okay. Es ist alles in Ordnung, sie wird dir nichts tun.“ Kelly redete beruhi-<br />

gend auf den Schauspieler ein und dann war es so weit. Tante Paula machte es sich in Shawns<br />

Hand gemütlich.<br />

„Oh Gott! Ich hab sie!“, keuchte der junge Mann nervös. Es gelang ihm, die Hand nicht<br />

panisch zu schlenkern, um das Tier los zu werden. Minutenlang saß er angespannt da und<br />

wagte nicht, den Blick von der Spinne zu nehmen. „Es geht!“, stieß er fassungslos hervor.<br />

Langsam und vorsichtig hob er die Hand und sah sich Tante Paula an. Er bekam gar nicht mit,<br />

dass Kelly ein Foto machte. Minutenlang sahen sich auf diese Weise Mensch und Tier direkt<br />

in die Augen. Dann wurde es der Spinne scheinbar langweilig, denn sie fing an, langsam<br />

Richtung Fingerspitzen zu gehen. Shawn hielt die Luft an und Kelly sah Jack auffordernd an.<br />

Dieser sagte gelassen:<br />

„Ich denk, ich pack sie zurück in ihr Haus, das war Aufregung genug für sie für heute. Sie<br />

ist so viele Fremde gar nicht gewohnt.“ Zielsicher und vorsichtig griff er nach dem Tier und<br />

setzte es Sekunden später in ihr Terrarium. „So, nun kannst du dich erholen.“, sagte er liebe-<br />

voll und schloss den Deckel.<br />

*****<br />

„Das war unglaublich!“ Shawn und Kelly saßen auf Aparis Terrasse zusammen mit Nat<br />

bei einem kalten Bier. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das schaffe. Es ist ... boh!“ Er nahm<br />

einen großen Schluck Bier und meinte noch einmal: „Unglaublich. Was für ein Riesenvieh.“<br />

263


Kelly lachte. „Ja, sie ist ein großes Exemplar. Du warst einmalig. Jack war so begeistert.“<br />

Shawn lächelte. „Ohne den Jungen hätte ich das nie gemacht.“<br />

„Das ist eine Leistung. Ne Huntsman nimmt noch lange nicht jeder auf die Hand.“, erklär-<br />

te Nat wohlwollend. Er erhob sich und erklärte: „Ich muss Mum zu den Napanangkas fahren,<br />

sie hat versprochen, mit Katungka einige neue Farben auszuprobieren.“ Er verabschiedete<br />

sich von Kelly und Shawn und verschwand, um Apari von der Galerie abzuholen.<br />

„Wo wohnen die denn, dass man da nicht zu Fuß hinkommt?“, fragte Shawn erstaunt.<br />

„Das ist doch keine Großstadt hier.“<br />

Kelly nickte. „Du hast grundsätzlich Recht, aber die Napanangkas wohnen fast 2 Kilome-<br />

ter außerhalb und wenn Nat zuhause ist, fährt er seine Mutter gerne mal herum. Apari ist nicht<br />

mehr die Jüngste und der Tod ihres Mannes hat sie schwer getroffen.“<br />

„Verstehe. Das ist etwas anderes.“ Er lehnte sich gemütlich zurück und sah in den Himmel<br />

hinauf, der langsam dunkler wurde.<br />

„Ich glaube, ich bin heute das erste Mal richtig glücklich, seit ich ... da raus bin.“<br />

„Das hast du dir verdient.“ erklärte Kelly liebevoll.<br />

„Dass ich Mum und Dad sprechen konnte, war wunderschön.“, meinte Shawn leise. „Es<br />

hat so gut getan, ihre Stimmen zu hören, zu wissen, dass sie ... dass sie mich lieben und an<br />

mich glauben.“<br />

„Selbstverständlich tun sie das. Sie können es nicht erwarten, dich in ihre Arme zu neh-<br />

men.“ Kelly drückte Shawns Hand.<br />

er:<br />

Shawn schwieg eine Weile. Träumend sah er in die Dunkelheit hinaus. Plötzlich meinte<br />

„Tante Paula war der Hit! Ich kann es gar nicht glauben, dass ich sie tatsächlich in der<br />

Hand hatte. Habe ich mir das eingebildet?“ Er grinste. Kelly schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, hast du nicht. Ich habe einen Beweis.“ Sie nahm die Digitalkamera vom Tisch und<br />

schaltete diese an. Dann zeigte sie Shawn das Bild, das sie gemacht hatte.<br />

„Oh, man, das habe ich gar nicht mit bekommen. Ich hatte sie also ehrlich in der Hand,<br />

was? Das hätte ich nie für möglich gehalten, dass ich mich dazu überwinden kann.“ Er grins-<br />

te. „Aber ich werde mir noch lange keine Spinnensammlung zulegen.“<br />

Kelly lachte. „Das will ich stark hoffen. So gerne mag ich die Tiere nicht, dass ich mich<br />

mit ihnen umgeben müsste.“ Viel zu spät bemerkte Kelly, was sie da gerade gesagt hatte.<br />

Shawns Herz machte einen Satz. Doch schnell erklärte er sich selbst Kellys Worte als eine<br />

Floskel. Ablenkend meinte er:<br />

„Wenn wir mal Internetzugang haben, würde ich gerne eine Zahlungsanweisung an den<br />

AEE Trust machen.“ Kelly prustete leise. Sie überlegte, wie sie Shawn am besten sagen soll-<br />

te, dass sie das im Augenblick für keine so gute Idee hielt. Schließlich fing sie an:<br />

264


„Shawn, niemand freut sich mehr darüber als ich, dass du beabsichtigst, uns zu unterstüt-<br />

zen. Aber ... Ich kann nicht zulassen, dass du aus einer emotionalen Sentimentalität heraus<br />

eine solche Entscheidung triffst, verstehst du das? Du bist angeschlagen, siehst die Zustände<br />

hier, bist emotional total neben der Spur. Deine Entscheidung, uns Geld zukommen zu lassen,<br />

ist impulsiv und von deiner derzeitigen Gefühlslage geprägt. Ich möchte, dass du erst einmal<br />

gesund wirst und nach Hause zu deinen Eltern zurückkehrst, in dein Leben. Wenn du Abstand<br />

von allem gewonnen hast, und uns noch unterstützen willst, bin ich so schnell mit den Konto-<br />

daten zur Stelle, dass dir schwindelig werden wird.“<br />

Shawn hatte still zugehört. Er wusste nicht Recht, wie er reagieren sollte. Gerührt oder<br />

verärgert. Er atmete tief durch und meinte bedrückt:<br />

„Denkst du wirklich, dass ich impulsiv handel?“<br />

„Ja, Shawn, das denke ich. Du bist noch weit davon entfernt, normal und unvoreinge-<br />

nommen solch wichtige Entscheidungen zu treffen. Wenn ich dich das machen lasse, und du<br />

dir später zuhause überlegst, dir ... was weiß ich, eine Villa in Hollywood zu kaufen, wirst du<br />

mich verfluchen, wenn du merkst, dass dir das Geld fehlt, das du uns gespendet hast. Bitte,<br />

versuche das zu verstehen und triff diese Entscheidung in aller Ruhe, brich es nicht übers<br />

Knie.“<br />

Shawn schnaufte frustriert. „Bist du immer so verdammt überlegen und vernünftig?“, frag-<br />

te er genervt. - Offensichtlich bin ich das nicht, sonst würde ich dich nicht lieben. - dachte<br />

Kelly wütend. Laut sagte sie:<br />

„Ich versuche es. Besonders bei Menschen, die mir am Herzen liegen.“<br />

„Na toll. Gut, ich verstehe deine Argumente. Ich werde also warten. Aber Jack ...“<br />

Kelly unterbrach Shawn. „Das werde ich vorschießen. Du kannst es mir zurückzahlen.<br />

Dagegen ist nichts einzuwenden.“<br />

Shawn seufzte. „Du bist schwierig.“, sagte er leise.<br />

21) Carries Höhle<br />

Der Reiz der Erkenntnis wäre gering, wenn nicht auf dem Wege zu ihr so viel<br />

Scham zu überwinden wäre.<br />

Friedrich Nietzsche<br />

„Das ist die Papunya/Haasts Bluff Road.“ Kelly deutete auf die staubige, schmale, unbe-<br />

festigte Straße vor ihnen. Sie hatten sich am frühen Morgen von den Bewohnern Haasts<br />

265


Bluffs verabschiedet und waren unterwegs, versehen mit guten Wünschen, Tipps und fri-<br />

schem Wasser sowie Lebensmitteln und Benzin.<br />

„Lass mich raten, Papunya ist eine Ortschaft?“, fragte Shawn nach.<br />

Kelly lachte. „Ja, ebenso eine Großstadt wie Haasts Bluff.“<br />

„Und du kennst dort auch alle Einwohner?“<br />

„Nein, dort kenne ich niemanden.“<br />

Shawn grinste. „Ich dachte. Wie weit ist es denn bis dort?“<br />

„Ungefähr 30 Kilometer. Auf dem Weg dorthin machen wir einen kleinen Abstecher,<br />

nichts Aufregendes, einfach eine schöne Stelle. Ich würde sie dir gerne zeigen.“ Eine Weile<br />

schwiegen beide. Da Kelly fuhr, konnte Shawn die Landschaft genießen. Einmal sahen sie in<br />

kaum 20 Metern Entfernung Wildkamele im Busch stehen. Shawn machte ein Foto, dann ging<br />

es weiter. Auf der Straße kamen sie gut voran. Sie zogen eine Staubwolke hinter sich her, von<br />

der Shawn meinte, dass sie bis Sydney zu sehen sein müsste. Kelly lachte. „Ja, könnte man<br />

denken. Wie hat es dir gefallen in Haasts Bluff?“<br />

Shawn brauchte nicht zu überlegen. „Großartig. Das sind wundervolle Menschen dort. Ich<br />

verstehe, dass du dich unter ihnen unglaublich wohlfühlt. Sie strahlen eine Herzlichkeit und<br />

Freundlichkeit aus, die man unter der weißen ‘Herrenrasse‘ selten findet. Ich bin dankbar,<br />

dass du mich ihnen vorgestellt hast und dass du mir einen Einblick in das Leben der Aborigi-<br />

nes verschafft hast.“ Kelly strahlte glücklich. Sie hatte im Laufe der Zeit die Feststellung ge-<br />

macht, dass die Australier zwar durchweg freundliche Menschen, aber Recht oberflächlich<br />

und teilweise gleichgültig waren. So konnte es passieren, dass man jemanden, den man bisher<br />

aus einer Bäckerei als Brotverkäufer kannte, in einer Bank als Berater wiedertraf. Kelly war<br />

häufig in den USA, Asien oder Europa unterwegs und hatte oft schulterzuckend feststellen<br />

müssen, dass, wenn sie mit Qantas flog, ab und zu nicht das heraus kam, was sie gebucht hat-<br />

te. Überbuchungen, Doppelbelegungen von Sitzplätzen oder Falschbuchungen von Sitzen<br />

waren an der Tagesordnung und niemand regte sich noch groß darüber auf, der häufiger mit<br />

Qantas flog. Diese ‘was soll’s‘ Mentalität konnte anstrengend sein, aber wenn man in Austra-<br />

lien lebte, gewöhnte man sich daran.<br />

„Ja, die Herzlichkeit ist ihnen zu Eigen. Umso schlimmer ist es, dass sie so gnadenlos un-<br />

terdrückt wurden und heute noch unterdrückt werden. Es sind fleißige, intelligente, zuverläs-<br />

sige Menschen, keine Halbwilden, wie sie heute noch von vielen Australiern genannt werden.<br />

Es ist wie mit den Indianern: Wir sind es, die in ihr Land eingedrungen sind. Die Aborigines<br />

sind die eigentlichen Australier! Alles, was hier sonst noch so rum turnt, ich denke, Australien<br />

ist das multikulturellste Land, ist zugereist. Es gibt keine weißen Australier.“<br />

„So, wie es keine weißen US Amerikaner gibt.“<br />

Sie waren während ihrer Unterhaltung gut vorangekommen und Kelly sah auf den Tacho.<br />

266


„Wir müssen demnächst ein kleines Stück von der Straße herunter. Ich denke, wir gehen<br />

zu Fuß, ist nicht so weit. Das Auto steht hier gut am Straßenrand.“ Sie fuhr noch ein kleines<br />

Stück, dann verließ sie die Straße und stellte das Auto in den dürftigen Schatten einiger Bäu-<br />

me. „So, hier steht er gut. Nimm genug Wasser mit. Es ist heiß heute.“<br />

Shawn grinste säuerlich. „Was du nicht sagst. Ist mir tatsächlich noch gar nicht aufgefal-<br />

len.“ Er griff sich seinen Hut und drücke Kelly ihren in die Hand. „So, startklar. Wohin geht<br />

es denn?“<br />

Kelly deutete nach Norden. „Es ist nichts sonderlich aufregendes, aber man hat von dort<br />

hinten eine schönen Blick auf einen ungewöhnlich geformten Berg.“ Nebeneinander und<br />

schwitzend kämpften sie sich durch niedriges Buschwerk und über glühend heißen Sand.<br />

Einmal deutete Kelly auf eine freie Fläche. Shawn riss die Augen auf.<br />

„Was ist denn das?“, fragte er verblüfft und eilte vorsichtig zu dem kleinen, vielleicht 20<br />

Zentimeter großen Tierchen hinüber, das Kelly entdeckt hatte. Eine kleine Echse, über und<br />

über mit Stacheln besetzt, gerade noch als Tier zu erkennen. Sie war an Beinen und Schwanz<br />

hellgrau, der Körper war mit rötlichen, braunen und gelben Flecken gezeichnet. Langsam gin-<br />

gen die Beiden näher heran und Kelly erklärte leise:<br />

„Das ist ein Dornteufel. Eine harmlose Echse.“ Das kleine Tierchen machte sich gerade<br />

langsam und gemächlich aus dem Staub. Shawn flitzte wie ein gelernter Fotograf um es her-<br />

um, um schöne Bilder zu bekommen.<br />

Lachend erklärte er beim Weitergehen: „So viele Tiere wie ich hier zu Gesicht bekommen<br />

habe, hab ich in allen Urlauben zusammen bisher noch nicht gesehen!“<br />

„Tja, wir haben viel zu bieten.“, schmunzelte Kelly.<br />

„Und da du eine richtige Buschfrau bist, siehst du so was alles.“, meinte Shawn zufrieden.<br />

„Ich hätte mir keine bessere Reisebegleiterin aussuchen können.“ Sie gingen weiter und<br />

Shawn war erneut fasziniert, wie still es hier draußen war. Heute war wieder einmal kein<br />

Wind, Vögel waren nicht zu hören, um sie herum herrschte eine fast beängstigende Stille. Die<br />

Luft flirrte vor Hitze und der junge Mann wäre nicht undankbar gewesen, wenn sie das Ziel<br />

bald erreicht hätten. Als hätte Kelly ein Einsehen mit ihm, blieb sie nach fünfzehn Minuten<br />

stehen und sagte:<br />

„So, da ist er.“ Von ihrem Standpunkt aus hatten sie einen schönen Blick auf einen eigen-<br />

willig geformten Berg.<br />

„Das sieht aus wie eine Mütze.“, meinte Shawn grinsend. Sie setzten sich einen Moment<br />

auf einen kleinen Felsbrocken, Shawn machte einige Fotos, dann sah er sich um und meinte<br />

betroffen: „Sag mal, von wo sind wir gekommen?“<br />

Kelly grinste. „Hey, du Held, dein Orientierungssinn ist nicht sonderlich ausgeprägt, was?<br />

Du solltest weniger über die Buschfrau an deiner Seite lästern. Na komm, Mama bringt dich<br />

zum Wagen zurück.“ Sie erhob sich und zog Shawn an der Hand hinter sich her. Willig ließ er<br />

267


sich mitziehen. Er hatte die Orientierung komplett verloren und wäre ohne Kelly nicht zum<br />

Wagen zurückgekommen. Doch die junge Frau wusste, wo es lang ging und so standen sie am<br />

Ende bei ihrem Fahrzeug, eingestaubt und verschwitzt. Shawn war blass um die Nase und ihm<br />

war leicht schwindelig. Kelly merkte dies wohl und erklärte:<br />

„Na, war zu viel, was? Komm, steig ein und ich schaffe uns hier schnell weg.“<br />

Mit leicht zittrigen Beinen stieg Shawn ein und atmete auf, als die Air Condition die Tem-<br />

peratur im Wagen auf 24 Grad herunter gekühlt hatte.<br />

„Geht es?“, fragte Kelly besorgt.<br />

„Ja, es geht langsam wieder. Puh, das war hart an der Grenze. Wie steckst du das so locker<br />

weg?“ Shawn hing mehr auf dem Sitz als dass er saß. Kelly beschloss, früh Schluss zu ma-<br />

chen. Sie antwortete:<br />

„Weißt du, ich bin es gewohnt, mir macht die Hitze nicht so viel aus. Ich denke, wir ma-<br />

chen heute früh Schluss, dann kannst du dich ausruhen.“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nicht nötig. Es geht. Nur bitte keine weiteren<br />

Ausflüge zu Fuß, bevor die böse Sonne untergegangen ist, okay?“<br />

Noch besorgt erwiderte Kelly. „Okay. Wenn etwas ist, sag mir bitte sofort Bescheid, ja?“<br />

Shawn nahm noch einen großen Schluck Wasser. „Verspreche ich. Aber es geht mir gut,<br />

das war nur die Hitze.“ Kelly blieb skeptisch, doch sie musste sich auf Shawns Wort verlas-<br />

sen. So gab sie Gas und fuhr so schnell es die eintönige, staubige, unbefestigte Straße erlaub-<br />

te, weiter. Da es hier keine Sehenswürdigkeiten gab, konnten sie es sich leisten, aufs Tempo<br />

zu drücken. So erreichten sie am frühen Nachmittag die kleine Ortschaft Papunya. Da es noch<br />

früh war und es in dem Ort ohnehin keine Übernachtungsmöglichkeiten gab, beschloss Kelly<br />

noch ein Stück zu fahren, um dann im Outback zu übernachten. Von einigen Frauen, die am<br />

Straßenrand in einem Wasserbecken irgendwelche Kleidungsstücke ausspülten, verwirrt ge-<br />

mustert, durchquerten sie den Ort und fuhren in östlicher Richtung aus Papunya hinaus. Eine<br />

gute Stunde fuhr Kelly zügig über das hier flache, karg bewachsene Buschland, dann tauchten<br />

vor ihnen einige Hügel auf.<br />

„Dort werden wir uns einen Übernachtungsplatz suchen, die Bäume dort hinten bieten uns<br />

Schutz vor der Sonne.“<br />

Zwanzig Minuten später waren sie damit beschäftigt, das Zelt aufzubauen. Shawn war<br />

nichts mehr anzumerken und Kelly war darüber mehr als erleichtert. Sie beobachtete ihn. Er<br />

hielt sich aus der tief stehenden Sonne heraus und trank viel. Das war gut, so bestand nicht die<br />

Gefahr, dass er dehydrierte. Als das Zelt stand, marschierte Kelly los, um Holz für ein Lager-<br />

feuer zu sammeln. Sie fand schnell genügend trockene Zweige und kurze Zeit später brannte<br />

ein Feuer. Da es für das Abendessen noch zu früh war, setzte die junge Frau Kaffeewasser auf<br />

und drückte Shawn später einen Becher Kaffee in die Hand.<br />

268


„Hier, das wird deinem Kreislauf auf die Sprünge helfen.“, erklärte sie liebevoll.<br />

Shawn verdrehte die Augen. „Mach da kein Drama draus, weil mir bei gefühlten 60 Grad<br />

mal der Kreislauf abgeschmiert ist.“<br />

Kelly lachte. „60 Grad?“<br />

„Mindestens!“, schnaufte der Schauspieler grinsend. Er trank seinen Kaffee und sah sich<br />

zufrieden um. „Weißt du, es war toll in Haasts Bluff, mit deinen Freunden und so. Aber noch<br />

schöner ist es, hier draußen mit ... hier draußen zu sein.“ Er konnte im letzten Moment ver-<br />

hindern, dass ihm zusätzlich ‘mit dir‘ herausrutschte. Kelly konnte sich denken, was er ur-<br />

sprünglich hatte sagen wollen.<br />

Hastig fuhr Shawn fort: „Das Telefonat mit meinen Eltern war unglaublich schön. Ich ha-<br />

be sie noch nie so lange nicht gesehen. Versteh mich bitte nicht falsch, ich bin kein Mutter-<br />

söhnchen, aber ich habe ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern und sie fehlen mir.“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Shawn, das ist nichts, wofür du dich entschuldigen oder recht-<br />

fertigen müsstest, ich verstehe das. Ich hatte zu meinen Eltern bis zu ihrem Tod ein wunder-<br />

volles Verhältnis. Die Entführung hat uns näher zusammen gebracht.“<br />

„Ich hoffe, dass sich das nicht als Störfaktor herausstellen wird in meiner Beziehung zu<br />

meinen Eltern.“ Er sah Kelly an. „Du hast nicht erwähnt, dass deine Eltern ... umgekommen<br />

sind.“<br />

Kelly sah gedankenversunken ins Feuer. Leise sagte sie: „Das ist zehn Jahre her. Ich war<br />

noch an der Uni. Ich saß in einer Vorlesung für Psychiatrie, als zwei Polizisten zusammen mit<br />

dem Leiter der Uni in den Hörsaal kamen und nach mir fragten. Im Leitungsbüro erklärten sie<br />

mir dann, dass meine Eltern bei einem schweren Verkehrsunfall in Los Angeles ums Leben<br />

gekommen waren. Sie hielten sich dort geschäftlich auf und waren in ihrem Leihwagen von<br />

einem betrunkenen Truckfahrer regelrecht überrollt worden. Sie starben noch an der Unfall-<br />

stelle. Der Notarzt konnte nichts mehr für sie tun. Der Truckfahrer hatte 3,8 Promille im Blut.<br />

Er wurde wegen schwerer Körperverletzung und fahrlässiger Tötung zu siebzehn Jahren Ge-<br />

fängnis verurteilt.“ Kelly verstummte. Shawn legte einen Arm um die junge Frau und zog sie<br />

an sich.<br />

„Das tut mir unendlich leid.“, sagte er bedrückt.<br />

Kelly seufzte. „Ich vermisse sie noch heute jeden einzelnen Tag. Wenn sie nicht so hart-<br />

näckig gewesen wären, bei der Suche nach mir, wie auch später bei der Therapie, weiß ich<br />

nicht, wo ich gelandet wäre. Die Polizei wollte damals die Suche nach mir einstellen, weil sie<br />

davon ausgegangen waren, dass ich nur abgehauen bin. Ich habe ihnen alles zu verdanken,<br />

weißt du.“<br />

269


Erneut schwieg Kelly eine Weile und genoss das Gefühl, sicher und beschützt in Shawns<br />

Arm gehalten zu werden. Sie hatte sich noch nie zuvor so geborgen gefühlt bei einem Mann.<br />

Leise sagte sie,<br />

„Ich musste eine Entscheidung treffen. Das Unternehmen meiner Eltern fortsetzen, oder<br />

mein Studium beenden. Nat hat mir geholfen. Er hat nächtelang bei mir gesessen und mich<br />

überzeugt, meinen Traum zu verwirklichen. So habe ich die Firma meiner Eltern verkauft und<br />

den Erlös so angelegt, dass ich nicht mal die Zinsen ausgeben kann. Ja, Shawn, ich bin<br />

sprichwörtlich stinkreich. Und das ist gut so, denn andernfalls könnte ich nicht Patienten um-<br />

sonst behandeln und gleichzeitig sowohl die AEE und die Organisation von Therapeuten, der<br />

ich angehöre, finanziell unterstützen.“ Sie stieß ein frustriertes Lachen aus. „Man könnte sa-<br />

gen, so hat der Tod meiner Eltern einen Sinn gehabt.“ Die junge Frau fuhr sich energisch mit<br />

der Hand über die Augen, um die Tränen, die ihr ungewollt über die Wangen kullerten, fort-<br />

zuwischen. Schließlich erklärte sie: „So, ich werde uns Abendbrot machen, mir knurrt der<br />

Magen. Und anschließend bist du an der Reihe, okay?“<br />

Shawn nickte seufzend. „Ja, muss weiter gehen.“ Nach dem Essen legte er sich in die ge-<br />

wohnte Haltung, Kopf auf Kellys Beinen und überlegte. „Das war nach ... unmittelbar, nach-<br />

dem Carrie mich ... anal ... vergewaltigt hatte.“<br />

*****<br />

„Ich erlaube nicht, dass du dich schämst, hörst du? Das hast du nicht nötig. Du hast dich<br />

zum allerersten Mal seit du hier bei mir bist, komplett gehen lassen. Du hast dich vorbehalt-<br />

los in deine Angst, in dein Schamgefühl und in deine Geilheit fallen lassen. Du hast alle Be-<br />

denken, die du hattest, über Bord geworfen und hast dich mir ergeben. Das ist nichts, wofür<br />

du dich schämen musst. Du hast endlich das getan, was du als Sklave sollst: dich deiner Her-<br />

rin ergeben. Ich bin es, die dich in den Himmel, oder aber in die Hölle führen kann. Und dei-<br />

ne Aufgabe ist es, es geschehen zu lassen. Es ist nichts Furchtbares daran, dass du erregt<br />

warst durch den Vibrator. Ich habe dir gesagt, der Körper weiß besser als das Gehirn, was<br />

ihm gefällt.“<br />

Shawn hatte Carrie zugehört. Er stieß verzweifelt hervor: „Ich komm mir vor wie der<br />

letzte Schwulie. Ich hab einen Orgasmus gehabt, während du mir den Arsch gefickt hast.“<br />

Sie zwang ihn ihr ins Gesicht zu sehen. „Hast du es genossen?“<br />

Erneut traten dem jungen Mann Tränen in die Augen. „Ja ...“<br />

„Dann ist es gut.“ Sie richtete sich auf und stieg langsam aus ihren Sachen. Schließlich<br />

stand sie nackt vor ihm und er konnte nicht anders, als ihren herrlichen Körper anstarren.<br />

„Ich will dich, jetzt.“, sagte sie und kniete neben ihm nieder. Sie liebkoste seine Brust,<br />

seinen Bauch, seine Schenkel. Shawn reagierte tatsächlich erneut. Diesmal war es Carrie die<br />

sich fallen ließ. Sie legte sich neben Shawn und sah ihn auffordernd an. Unsicher fragte er:<br />

270


„Darf ich dich berühren?“<br />

Sie lächelte. „Du darfst nicht, du musst.“<br />

Shawn konnte es nicht fassen. Er hatte sich danach gesehnt, diese herrliche junge Frau<br />

endlich selbst einmal berühren zu dürfen und endlich war es so weit. Er tastete mit den Augen<br />

jeden Zentimeter ihres Körpers ab und schließlich zogen seine Finger zögernd und vorsichtig<br />

die Konturen ihrer Brüste nach. Er richtete sich halb auf und beugte sich über sie. Er legte<br />

sanft seine Lippen auf ihre Brustwarzen und stimulierte abwechselnd die linke und rechte<br />

Brust. Ihre Nippel wurden steif und sie seufzte leise auf. Shawns Berührungen wurden fester<br />

und Carrie wand sich ihm entgegen. Er ließ eine Hand sanft an ihrem schlanken Körper<br />

herabgleiten und sie hielt vor Erwartung die Luft an. Endlich spürte sie seine Finger an ihren<br />

Schamlippen und keuchte unwillkürlich auf. Shawn stimulierte sie eine Weile, dann rutschte<br />

er langsam zwischen ihre Beine. Er winkelte diese mit sanftem Druck an und drückte sie aus-<br />

einander, hielt sie in dieser Position. Er beugte sich zu ihr herunter und Carrie stieß einen<br />

leisen Lustschrei aus, als sie seine Zunge an ihrem Kitzler spürte. Heftig zuckte sie ihm ent-<br />

gegen und er tat ihr den Gefallen. Während er zwei Finger in sie schob, kreiste seine Zunge<br />

fest und fordernd um ihre Klitoris und Carrie keuchte. Ihre Hände zuckten haltlos über die<br />

Felle und sie wurde feucht. Einige Augenblicke machte Shawn noch weiter, dann beugte er<br />

sich langsam über sie und drang mit einem lustvollen Stöhnen in sie ein. Er steckte in seiner<br />

ganzen Länge in ihr und Carrie keuchte extasisch. Ihre Beine schlangen sich um ihn und sie<br />

wölbte sich ihm weit entgegen. Er fing an, sich in ihr zu bewegen. Fest stieß er zu und<br />

schließlich merkte er, dass er so weit war. Zwei, drei Mal stieß er noch fester zu, dann spürte<br />

er Carries Fingernägel, die sich schmerzhaft in seinen Rücken bohrten und kam im selben<br />

Moment wie die junge Frau zu einem heftigen Orgasmus. Ausgepowert brach er auf ihr zu-<br />

sammen.<br />

Kaum noch fähig, den Kopf zu heben, lag er auf ihr und jappste nach Luft. Als sein Atem<br />

sich langsam beruhigte, wollte er sich erschrocken von ihrem Körper rollen, aber sie hielt ihn<br />

fest.<br />

„Bleib liegen.“, sagte sie selbst noch atemlos. Shawn hob mühsam den Kopf und sah sie<br />

fragend an. Ihre Gesichter waren sich nah und er hatte das wilde Verlangen, sie zu Küssen.<br />

Aber sofort drehte sie den Kopf zur Seite und er erinnerte ihn daran, dass sie gesagt hatte, er<br />

solle nie versuchen, sie zu küssen. Hastig rollte er doch von ihr herunter und murmelte:<br />

„Tut mir leid, Reflex ...“ Sie drehte sich zu ihm und legte einen Arm um seinen schlanken<br />

Körper.<br />

„Reflexe werden nicht bestraft.“, sagte sie. „Küssen ist für mich mit Gefühlen verbunden,<br />

verstehst du? Mit tiefen Gefühlen. Mit Liebe. Und die empfinde ich nicht für dich. Nicht so.<br />

Die werde ich so nie für dich empfinden. Du bist mein Lustsklave, nicht mehr und nicht weni-<br />

271


ger.“ Komischerweise trafen Shawn diese Worte schlimmer als alle Peitschenhiebe zusam-<br />

men. Seine Augen wurden dunkel vor Traurigkeit und er nickte.<br />

„Ja, das ist klar. Ich werde es nicht mehr vergessen.“ Seine Stimme zitterte und er<br />

wünschte sich, sie würde endlich die zehn fälligen Hiebe austeilen, um ihn auf andere Gedan-<br />

ken zu bringen. Mit dünner Stimme sagte er: „Da stehen noch zehn Peitschenhiebe aus ...“<br />

Carrie schien kurz zu überlegen, dann erhob sie sich und holte den am Bock fallen gelassenen<br />

Rohrstock. Sie forderte:<br />

„Knie dich hin und zeige mir deinen Hintern.“<br />

Schwer atmend hob Shawn sich auf die Knie und beugte den Oberkörper zu Boden.<br />

„Du wirst dich jedes Mal, wenn du weg zuckst, zurück in diese Position bringen, verstan-<br />

den?“, gab Carrie ihm Anweisung<br />

„Verstanden.“<br />

Shawn schloss die Augen und wartete ergeben auf den ersten Hieb. Als dieser aber erfolg-<br />

te, hatte er das unangenehme Gefühl, ein Messer wäre glühend heiß in sein Fleisch einge-<br />

drungen! Aufbrüllend zuckte er weg und seine Linke fuhr unwillkürlich an seinen heftig<br />

schmerzenden Po. Keuchend rieb er über die Stelle, die Carries Hieb getroffen hatte. Die jun-<br />

ge Frau wartete seelenruhig, dass er sich zurück in die vorgegebene Stellung begab. Shawn<br />

raffte allen Mut und alle Kraft zusammen und kniete sich ordnungsgemäß hin. Er vergrub das<br />

Gesicht in den Fellen und wartete panisch auf den nächsten Schlag. Der erfolgte, schwächer<br />

als der Erste. Shawn schaffte es, hocken zu bleiben. Und hörte Carries Stimme:<br />

„Das reicht, ich habe keine Lust auf mehr.“ Sie warf den Stock achtlos auf den Boden und<br />

legte sich zu ihm. In seinen Augen sah sie eine heftige Traurigkeit, die sie ignorierte. „Warum<br />

hast du auf dem Bock vorhin nach den Schlägen gefragt?“, wollte sie wissen.<br />

Shawn sah sie an. Krampfhaft suchte er nach Worten. „Ich ... ich wollte ... Im Haus hab<br />

ich ... Das Nacktsein und die Anderen ... Ich weiß nicht, ich habe unterwegs vorhin gedacht,<br />

wenn wir mal allein wären, ob es mir dann leichter fallen würde, mich gehen zu lassen, ver-<br />

stehst du?“<br />

Carrie hatte seinem Gestammel zugehört und nickte. „Du bist durch die Anderen ge-<br />

hemmt?“, fragte sie nach.<br />

„Ja, ich habe das Gefühl, sie lachen über mich und will mich, wenn sie mit von der Partie<br />

sind, krampfhaft beherrschen. Dabei würde ich viel lieber ... Gott, ich höre mich an wie ein<br />

echter Sklave!“, stieß er erstaunt hervor. „Ich würde mich gerne ergeben, mich gehen lassen,<br />

wie vorhin, als du mich ... als du mich gefickt hast, verstehst du? Da habe ich nachgegeben,<br />

hab mich absolut fallen lassen. Das war ... geil.“<br />

Carrie sah ihn fragend an. „Hast du Spaß an den Schmerzen?“<br />

272


Entsetzt schüttelte er den Kopf. „Nein, wirklich nicht, ich habe schreckliche Angst davor,<br />

werde ich immer haben, ich bin kein Masochist, aber es ist einfacher, wenn man diese Angst<br />

raus lassen kann. Ich habe vor dir keine Hemmungen, ich habe sowieso das Gefühl, du kennst<br />

mich nach dieser kurzen Zeit deutlich besser, als ich mich je gekannt habe. Bei dir kann ich<br />

alles raus lassen. Weinen, Schreien, Stöhnen, Jammern, Betteln, du wirst mich nie verachten.<br />

Du wirst nie über mich Lachen und mich schief angucken. Aber bei Brett, Teresa und Karen<br />

habe ich ständig dieses Gefühl. Solange sie da sind, werde ich nie ...“ Er verstummte.<br />

„Was wirst du nie?“, hakte Carrie nach.<br />

„Nie ... genießen können, dein Sklave zu sein.“, flüsterte er. „Darum habe ich gehofft, du<br />

nimmst mich hier, wo wir allein sind, ran und ich kann so reagieren, wie ich reagieren möch-<br />

te.“ Er verstummte erneut, unfähig, weiter zu sprechen.<br />

Carrie nickte verstehend. „Wir werden hier ab und zu herkommen, dann sind wir allein.<br />

Du brauchst dich hier zu nichts zwingen. Du kannst tatsächlich alles raus lassen. Und heute<br />

Nacht bleiben wir hier.“<br />

Jetzt war Shawn verblüfft. „Hier?“, fragte er nach.<br />

„Ja, genau. Und morgen früh werde ich die Schläge nachholen, okay?“<br />

Shawn biss sich auf die Lippe und sagte: „Okay. Da werde ich ... mich leichter fallen las-<br />

sen können.“ Er schwieg einen Moment, dann fragte er leise: „Du hast etwas davon gesagt,<br />

dass Gäste kommen werden ...“<br />

„Ja, ab und zu gebe ich Dinnerpartys.“<br />

Shawn Stimme zitterte. „Werde ich dabei sein?“, fragte er leise.<br />

„Ja! Du bist die Attraktion. Du wirst bedienen, vielleicht möchte der eine oder andere<br />

Gast dich gerne einmal benutzen.“ Carrie strich ihm sanft eine Haarsträhne aus der Stirn<br />

und sagte, „Ich kann es nicht erwarten, mit dir anzugeben. Du bist der attraktivste Mann, den<br />

ich je kennen gelernt habe. Dein Körper ist eine Offenbarung für jede Frau und sicher für<br />

viele Männer. Ich habe bisher nur mit Männern gearbeitet, die sich freiwillig zur Verfügung<br />

gestellt haben, die es liebten, dominiert zu werden, die Schmerzen liebten. Du bist eine andere<br />

Kategorie. Es ist um so vieles erregender, dir all das anzutun, weil du echte Angst verspürst,<br />

es hasst und fürchtest.“<br />

„Allerdings.“<br />

Carrie kuschelte sich an ihn und er legte zögernd die Arme um ihren zarten Körper. Er<br />

konnte es nicht fassen, dass er sie in den Armen halten durfte. Alles andere schrumpfte zu<br />

einem Nichts zusammen. Unerwartet fragte sie:<br />

„Hast du einen stabilen Blutdruck?“<br />

Erstaunt antwortete er: „Ja, ich wüsste nicht, dass es anders ist, wieso?“<br />

„Weil einiges vom dem, was wir mit dir machen werden, nicht für Leute mit labilem Blut-<br />

druck geeignet ist. Und ich habe keine Lust, dich alle paar Tage aufzuwecken.“<br />

273


Shawn spürte, dass er rot wurde. „Heute Morgen ...“<br />

Sie unterbrach ihn sanft. „Heute Morgen, das war etwas anderes. Das wird sicher nicht<br />

das letzte Mal sein, dass wir dich auspeitschen bis zur Bewusstlosigkeit. Dass ist einkalku-<br />

liert.“ Er schluckte trocken. Wunderbare Aussichten.<br />

Draußen wurde es dunkel und Carrie sagte: „Ich bin neugierig, welche Praktiken dir ge-<br />

fallen werden.“<br />

„Keine!“, stieß er heftig hervor. Sie sah ihm ins Gesicht und lächelte milde.<br />

„So? Ich habe das anders in Erinnerung.“ Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen<br />

schoss und nicht nur dort hin, als er an seinen Lustschrei dachte, den er ausgestoßen hatte,<br />

während sie ihn mit dem Vibrator gefickt hatte. Verzweifelt meinte er:<br />

„Das ... war eine Ausnahme.“ Carrie presste ihren Körper fester an ihn und spürte seine<br />

Erregung. Jetzt lachte sie doch, aber nicht bösartig, sondern liebevoll.<br />

„Ja, den Eindruck habe ich auch.“, kicherte sie und er konnte nicht anders, er musste<br />

ebenfalls Lachen.<br />

„Gut, erwischt. Aber ich bin sicher, das wird eine Ausnahme bleiben.“ Sie sah ihm in die<br />

faszinierenden, grünen Augen und sagte fest:<br />

„Okay, ich schlage dir eine Wette vor. Ich wette, dass wir schnell noch weitere Dinge her-<br />

ausfinden werden, die dir gefallen. Ich wette mit dir um ein Wochenende auf dem Festland!“<br />

sein!“<br />

Shawn starrte sie verwirrt an. „Auf dem Festland? Carrie, das kann nicht dein Ernst<br />

Sie lächelte. „Doch. Sollte ich gewinnen, werden wir gemeinsam ein Wochenende lang<br />

Urlaub machen, auf dem Festland, ohne jede Folter. Solltest du gewinnen, hast du hier eine<br />

Woche lang absolut frei, was hältst du davon? Allerdings solltest du wissen, dass wir merken<br />

würden, wenn du versuchst, so zu tun, also komm gar nicht erst auf diese Idee.“<br />

Er schüttelte den Kopf. „Wenn wir an Land wären, würde ich sofort versuchen zu fliehen,<br />

das ist dir wohl klar, oder?“<br />

Sie schmunzelte. „Wir werden sehen, okay?“ Er überlegte und eine wilde Hoffnung<br />

durchzuckte ihn. Er hielt ihr spontan die Hand hin und sie schlug ein und war sich absolut<br />

sicher, dass sie gewinnen würde und dass er NICHT versuchen würde, zu fliehen!<br />

*****<br />

Shawn seufzte leise. „Dazu ist es nie gekommen. Sie hat mich immer wieder vertröstet.“<br />

Er spürte Kellys Finger in seinen Haaren spielen und dachte - Wie soll ich nur ohne dieses<br />

wunderschöne Gefühl leben können? - Energisch schob er den Gedanken zur Seite. „Weißt<br />

du, das Schlimmste ist, ich bin nicht einmal sicher, ob ich die Chance zur Flucht genutzt hätte.<br />

Nicht zu bestimmten Zeitpunkten. Am Anfang sicher, aber später ... Sie hatte mich in ihrer<br />

274


Hand. Ich war der festen Überzeugung, um mir ... um mir einen Orgasmus zu verdienen, die<br />

Schmerzen in Kauf nehmen zu müssen. Sie ... Carrie, sie hat mich mit ... Gott, was sie mit mir<br />

gemacht hat, war, wenn sie mich nicht gefoltert hat, so unglaublich ... geil.“ Er brauchte ein<br />

paar Minuten, um weiter reden zu können, zu sehr schämte er sich für die Erregung, die er<br />

empfunden hatte. „Ich denke, wenn mein Sexleben vor der Entführung nicht so langweilig<br />

gewesen wäre, nicht so null acht fuffzehn, dass mich das, was Carrie mit mir angestellt hat,<br />

nicht so wahnsinnig heiß gemacht hätte. Und dann denke ich: Hey, McLean, das ist Schönre-<br />

derei. Ich war so geil, dass ich ... dass ich gebettelt habe, sie angefleht, ihr versprochen habe,<br />

alles zu tun, wenn sie mich endlich kommen lassen würde!“ Seine Stimme kippte und er<br />

schluchzte auf. „Ich habe ... solche Angst ... solche Angst davor, dass ich nie wieder ... norma-<br />

len Sex haben kann ... Dass ich ständig daran denken werde, was Carrie gemacht hat ...“ Er<br />

verstummte und lag weinend in Kellys Armen.<br />

Sie ließ ihn eine Weile Schluchzen, bevor sie sanft sagte: „Shawn, wenn ich sagen würde,<br />

ich weiß, dass du Genuss an normalem Sex haben wirst, würde ich dich belügen. Aber wenn<br />

ich sage, ich bin davon überzeugt, entspricht das der Wahrheit. Weil man dich zu pervertier-<br />

ten Sexspielen gezwungen hat, heißt das noch lange nicht, dass du ebenfalls pervers geworden<br />

bist. Wobei das falsch ausgedrückt ist, denn für überzeugte SMler ist daran nichts perverses.<br />

Und nur, weil es nicht der Norm entspricht, dürfen wir uns nicht anmaßen, die Praktiken als<br />

pervers zu bezeichnen. Ich sagte dir mal, erlaubt ist, was gefällt. Aber damit meine ich die<br />

Dinge, die grundsätzlich nicht verboten sind, damit das klar ist. Ich heiße damit nicht Kinder-<br />

pornografie oder Pädophilie gut! Aber wenn ein Mann es mag, in den Po penetriert zu wer-<br />

den, dann ist das nicht abartig, gesetzwidrig oder pervers, sondern genauso etwas normales,<br />

als wenn es einer Frau Spaß macht. Und wenn du es erregend fandest, ist das in Ordnung.“<br />

„Nein, das ist es nicht!“, wimmerte Shawn verzweifelt. „Und das war lange nicht das ein-<br />

zige, was mich total angemacht hat. Ich fand es geil, wenn ich gefesselt war. Ich habe Orgas-<br />

men gehabt, wenn Carrie mir die Luft genommen hat. Ich bin gekommen, wenn sie mir ...“<br />

Kelly unterbrach den junge Mann energisch. „Shawn! Hör auf! Wie lange hast du es geil<br />

gefunden?“<br />

Überrascht von der Frage sah er Kelly an. „Wie meinst du ... das?“<br />

„Ich will wissen, wie lange du die Praktiken erregend gefunden hast. Bis zum Schluss?“<br />

Mehrere Minuten herrschte Schweigen, dann spürte Kelly sachtes Kopfschütteln auf ihrem<br />

Schoss.<br />

„Nein ... Nein, das war nur ... Ich fand es am Anfang ... Lange, bevor sie mich ... da zu-<br />

rückgelassen haben, wurde es schwieriger für Carrie ... Oft ging gar nichts mehr ... Dann war<br />

sie jedes Mal stinksauer und hat es mich deutlich spüren lassen ...“<br />

275


„Na siehst du! Es war das Neue, was dich gereizt hat. Die Tatsache, dass Carrie eine Meis-<br />

terin auf ihrem Gebiet ist, dass sie in Sekundenschnelle erkannte, womit sie dich erregen<br />

konnte, machte es ihr leicht, dich zu überrollen. Sie wusste, im Gegensatz zu dir, welche Re-<br />

aktionen einige Praktiken bei Männern auslösen, weil du nicht ihr erstes Opfer warst, ver-<br />

stehst du? Sie hat jahrelang herumexperimentieren können und alles, was sie tat, hat sie im<br />

Laufe der Jahre perfektioniert. Ich wette mit dir um alles, was du willst, dass sie sich vorher<br />

genau über dich informiert hat. Als sie dich zum Ausziehen an das Bett gefesselt vor sich lie-<br />

gen hatte, wusste sie alles über dich, was sie wissen musste. Sie wusste, dass du in Sachen<br />

Sex nicht zur experimentierfreudigen Gruppe gehörst, sondern wunderschönen, gefühlsbeton-<br />

ten Sex magst. Ihr war somit klar, dass du leichte Beute warst. Angst, Schmerz, Einsamkeit<br />

und völlige Hoffnungslosigkeit, gepaart mit all den Sexpraktiken und der vorgetäuschten Zu-<br />

neigung, denen sie dich ausgesetzt hat, machten dich zu Wachs in ihren Händen. Sie konnte<br />

dich nach ihren Vorstellungen formen und hat das schnell geschafft. Aber, Shawn, und das ist<br />

das Wichtigste: Du hast von dir aus recht schnell die Lust an all dem verloren. Die Faszinati-<br />

on des Neuen war schnell fort und in dem Moment hast du dich auf dich besonnen. Und du<br />

hast immer weniger Erregung bei all den Spielchen empfunden, die sie mit dir trieben. Du<br />

hast für dich entschieden, dass es doch nicht so geil und aufregend war, was sie tat. Du hast<br />

keinen aktiven Widerstand geleistet, sondern gemerkt, dass diese Art der Befriedigung auf<br />

Dauer nicht so schön ist. Darum bin ich überzeugt, dass du in nicht ferner Zukunft glücklich<br />

sein wirst mit einer Partnerin, die dir das gibt, was du dir ersehnst.“<br />

Shawn hatte sich während Kellys Erklärungen beruhigt. Ihm dämmerte, dass sie mit jedem<br />

Wort Recht hatte. Trotzdem konnte er den Gedanken nicht loswerden, das, wenn er sich mehr<br />

angestrengt hätte, er nie eine solche Erregung empfunden hätte. Es fühlte sich an, als hätte er<br />

darauf gewartet, derartige Erfahrungen zu machen. Es kam dem jungen Mann vor, als hätte er<br />

freiwillig bei allem mitgemacht, was Carrie so eingefallen war. Auf der anderen Seite wusste<br />

sein Verstand, dass dem nicht so gewesen war. Er hatte keine Wahl gehabt. Er hätte nicht:<br />

Nein, danke! sagen können. Er hätte nichts von dem, was passiert war, verhindern können.<br />

Wäre es ihm von Anfang an gelungen, Widerstand in Form von Verweigerung zu leisten, hät-<br />

ten sie ihn schneller, erheblich schneller abserviert. Dann wäre er tot gewesen. Brett hätte<br />

nicht die Gelegenheit gehabt, sich in Shawn zu verlieben und ihm so das Leben zu retten. Lei-<br />

se sagte der Schauspieler:<br />

„Weißt du, ich komme mir teilweise richtiggehend schizophren vor, weil ich einerseits<br />

weiß, dass du Recht hast, andererseits sage ich mir ständig, dass ich mehr hätte tun müssen ...<br />

oder besser, weniger, um ... Ich habe derartige Schuldgefühle, dass ich denke, die werde ich<br />

nie hinter mir lassen können.“<br />

Kelly wusste, was er meinte. „Das geht jedem Opfer von Vergewaltigung so. Man zermar-<br />

tert sich das Hirn, ob man nicht etwas hätte tun können, um es zu verhindern. Und ich sage<br />

276


jedem Patienten, der aufgrund einer Vergewaltigung zu mir kommt, dass es nicht zu verhin-<br />

dern war. Was hättest du deiner Meinung nach denn machen sollen?“<br />

Shawn überlegte. „Ich weiß es doch nicht!“, stieß er schließlich verzweifelt hervor. „Mich<br />

wehren ... Es nicht zulassen ... Es nicht noch geil finden ...“ Die Absurdität seiner Worte wur-<br />

de ihm sofort bewusst. Und Kelly sprach es aus.<br />

„Dich wehren? Gegen fünf entschlossene Gegner? Von denen einer dich in der Mitte hätte<br />

durchbrechen können? Es nicht zulassen? Was? Hättest du zu Carrie ‘NEIN‘ sagen wollen?<br />

Hättest du sagen sollen: Ich will das nicht? Oh, ich bin sicher, sie hätte viel Spaß dran gehabt.<br />

Und dann hätte sie dich halb tot geschlagen und schließlich doch gemacht, was sie machen<br />

wollte. Und zum Thema, es nicht erregend zu finden, habe ich dir alles erklärt. Das ist etwas,<br />

was gerade Männer nicht verstandesgemäß steuern können. Die meisten Frauen können sich<br />

gegen manche Stimulationen nicht zur Wehr setzen, Männer können dies aufgrund ihrer gene-<br />

tischen Funktionen noch viel weniger. Shawn, du musst es begreifen: Du hattest keine Chance<br />

und erst recht keine Wahl! Und es ist nicht im Geringsten deine Schuld gewesen! Du hast<br />

nicht laut ‘HIER‘ gerufen, als sie ein neues Opfer suchten. Sie haben dich ausgewählt, weil du<br />

in ihr Beuteschema passtest. Du hast keinen Zettel auf dem Rücken getragen, auf dem stand:<br />

Nehmt mich, ich will es! Verstehst du das?“<br />

Unter Tränen musste Shawn lachen. „Eigentlich schon. Aber diese scheiß Zweifel ...“<br />

„Ach, die Zweifel werden noch lange bleiben und immer wieder einmal aufflammen. Da-<br />

mit musst du dich abfinden. Ich denke heute noch ab und zu, ob ich alles getan habe, was<br />

möglich war. Und dann gebe ich mir selbst einen Tritt in den Allerwertesten und sage laut und<br />

deutlich: Ja, das hast du, Kelly, es war nicht deine Schuld! Ich möchte, dass du diesen Satz<br />

von jetzt an genauso oft laut und deutlich sagst wie: Shawn, ich mag dich!“<br />

Shawn schluckte. Zögernd und leise sagte er: „Shawn, es ist nicht deine Schuld ...“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, war das laut und deutlich? Komm, setzt dich auf und<br />

sieh mir in die Augen.“<br />

Shawn richtete sich auf und drehte sich zu Kelly herum. Minutenlang saß er so da und<br />

schließlich meinte er laut: „Shawn, es ist nicht deine Schuld! Es ist nicht deine verdammte<br />

Schuld! Du hast keine Schuld an alledem!“<br />

Das klang zwar noch mehr verzweifelt als überzeugt, aber Kelly war zufrieden. Sie fragte:<br />

„Ihr habt die Nacht in der Höhle verbracht. Das war für dich sicher schön. Schön, nicht<br />

gefesselt zu sein.“<br />

Shawn seufzte und machte sich lang. „Ja, es war ein herrliches Gefühl, sich bewegen zu<br />

können. Wie oft habe ich nachts wach gelegen, weil ich zur Toilette gemusst hätte. Das war<br />

die Hölle. Und Carrie ... Sie im Arm zu halten, erschien mir als unglaubliches Geschenk. Aber<br />

277


der Hieb mit dem Bambusstock ... Ich habe das Mistding später öfter zu spüren bekommen,<br />

einmal die Woche.“<br />

Kelly spürte ihn zittern.<br />

„Das hat dermaßen weh getan ... Ich dachte jedes Mal, ich sterbe. Sie hat ihn regelmäßig<br />

... benutzt. Leichte Schläge, nicht stark, das hat sie sich für Bestrafungen aufgehoben. Am<br />

Ende ... als ich nicht mehr ... Als es nicht mehr klappte, hat sie mich mit dem Scheißding blu-<br />

tig geschlagen. Auf den Hintern, aber ... Die Schmerzen ... waren absolut unerträglich.“<br />

Shawn lag zitternd und erneut schluchzend in Kellys Armen. „Ich hätte meine Eltern verkauft<br />

um den Schmerzen zu entgehen.“<br />

Die junge Frau strich ihm begütigend über den zuckenden Rücken. „Psst, das ist vorbei,<br />

Shawn. Sie wird dir nie mehr wehtun. Du bist in Sicherheit. Das liegt hinter dir und kann dich<br />

nicht mehr behelligen.“<br />

„Ich werde die Schmerzen bis an mein Lebensende nicht mehr vergessen, ich werde sie<br />

immer spüren.“, schluchzte Shawn verzweifelt.<br />

„Nein, das wirst du nicht, aber du wirst mit der Erinnerung leben können, glaube mir. Ich<br />

dachte auch, ich würde sie bis zu meinem Tod spüren, die Schmerzen von den brennenden<br />

Zigaretten auf meinem Körper. Aber über kurz oder lang erinnert man nur noch, dass es weh-<br />

getan hat, nicht mehr, wie weh es tat.“<br />

Leise fragte Shawn: „Kannst du das versprechen?“<br />

Kelly nickte überzeugt. „Ja, das kann ich. Ich verspreche es dir, ganz fest!“<br />

„Ich möchte es so gerne vergessen, alles ... Aber das werde ich nicht, oder?“<br />

Mitleidig erklärte Kelly: „Du wirst es nie ganz vergessen, Shawn, aber ich sagte dir, du<br />

wirst mit den Erinnerungen klar kommen, wie mit jeder anderen Erinnerung an etwas gutem<br />

oder schlechtem .“<br />

*****<br />

22) 200 Kilometer<br />

Tränen reinigen das Herz.<br />

Fjodor M. Dostojewski<br />

Mitten in der Nacht fuhr Kelly erschrocken aus dem Schlaf hoch. Shawn lag, verzweifelt -<br />

Bitte! Nein! - schreiend neben ihr. Sie tastete in der Dunkelheit nach ihm und bekam ihn an<br />

den Schultern zu fassen. Als der junge Mann im Albtraum die Berührung spürte, schlug er<br />

verzweifelt um sich.<br />

„Nein!“<br />

278


Kelly spürte einen Treffer auf ihrer Unterlippe, ließ Shawn aber nicht los. Sie schüttelte<br />

ihn sanft und sprach ihn laut an. „Shawn! Wach auf, du hast einen Albtraum, komm schon.“<br />

Es dauerte eine Weile, bis der Schauspieler keuchend in die Höhe schoss. „Was ...?“<br />

„Shawn, du hattest einen Albtraum, beruhige dich.“, sagte Kelly sanft. Shawn atmete keu-<br />

chend und stoßweise und zitterte am ganzen Körper. Liebevoll zog Kelly ihn an sich und er<br />

ließ es widerstandslos zu, dass sie ihn fest in die Arme nahm.<br />

„Ist gut, es war ein Traum, alles ist gut.“<br />

Es dauerte lange, bis Shawn sich fing. „Oh, Scheiße!“, stieß er schließlich schnaufend<br />

hervor und Kelly konnte spüren, dass er sich mit der Rechten über das Gesicht strich. „Oh,<br />

man ...“<br />

Die junge Frau spürte Blut auf ihrer Lippe und fuhr mit der Zunge über die schmerzende<br />

Stelle. Shawn hatte sie ungewollt ganz schön erwischt. Sie konnte spüren, dass die Lippe an-<br />

schwoll. „Hey, alles klar?“, fragte sie dessen ungeachtet sanft.<br />

Schwer atmend nickte Shawn. „Ja ... Verfluchter Mist ...“<br />

Liebevoll sagte Kelly: „Versuch, wieder einzuschlafen. Es war ein Traum, hier bei mir bist<br />

du in Sicherheit.“ Es war wichtig, dass sie das kontinuierlich betonte, damit Shawn es tiefer<br />

und tiefer verinnerlichen konnte. Der Schauspieler schluckte schwer. Müde sagte er:<br />

„Ja, ich denke, ich kann einschlafen.“ Er schloss die Augen und auch Kelly tat dies. Sie<br />

spürte Shawns Körper an sich gekuschelt, spürte, dass er entspannte und schlief selbst ein.<br />

Shawn gelang dies nicht. Zu intensiv war der Albtraum gewesen. Als er die Augen<br />

schloss, zuckten sofort die Traumbilder durch seinen Verstand. Erschrocken riss er die Augen<br />

auf und versuchte, an etwas anderes zu denken. Doch das Gespräch am Abend hatte die Erin-<br />

nerungen an den verdammten Bambusstock so lebhaft gemacht, dass er im Moment nicht im-<br />

stande war, die Gedanken so abzuschütteln. Nach einiger Zeit verrieten ihm die gleichmäßi-<br />

gen Atemzüge Kellys, dass die junge Frau zumindest wieder eingeschlafen war. Shawn seufz-<br />

te leise. Noch einmal versuchte er, ebenfalls einzuschlafen. Kaum hatte er die Augen ge-<br />

schlossen, fuhren die Bilder der Höhle, des Hockers und des Bambusstockes durch seinen<br />

Kopf. Er konnte das grausame Brennen, das der Stock auf seinem Po verursacht hatte, fast<br />

körperlich spüren und riss die Augen erneut auf. Vorsichtig löste er sich aus Kellys Armen<br />

und diese Bewegung veranlasste die Schlafende, sich seufzend herumzudrehen. - Tut mir leid,<br />

ich will dich nicht stören. - dachte er und richtete sich vorsichtig auf. So leise es ihm möglich<br />

war krabbelte er aus dem kleinen Zelt. Draußen reckte er sich kurz, dann sah er zum Sternen-<br />

himmel hoch. In wenigen Tagen würde Vollmond sein. Der Erdtrabant spendete genügend<br />

Licht, dass Shawn sich orientieren konnte. Er tappte zum erloschenen Lagerfeuer hinüber und<br />

ließ sich seufzend auf seine noch dort liegende Sitzmatte sinken.<br />

279


Wild polterten seine Gedanken durcheinander. Er dachte an Carrie, die ihn so grausam be-<br />

trogen hatte und unmittelbar darauf an Kelly, die ihn nie betrügen würde. In diese angenehme<br />

Vorstellung mischte sich sofort das Wissen, dass Kelly ihm nie sein würde, was er wünschte.<br />

Wie Carrie. Carrie ... Unbewusst tastete Shawns Linke nach seinem Po. Ein Schauer huschte<br />

ihm über den Körper. - Denk gefälligst an was anderes! - schnauzte er sich selbst an.<br />

Krampfhaft bemühte er sich in den nächsten Minuten, die Gedanken an die brutalen Schläge<br />

zu verdrängen, gelingen wollte ihm dies nicht. Zu aufgewühlt waren seine Erinnerungen an<br />

diese erste Nacht in der Höhle. Er seufzte leise auf.<br />

„Lasst mich bitte, bitte in Frieden!“, stöhnte er unglücklich.<br />

„Wer soll dich in Frieden lassen?“<br />

Shawn hatte das Gefühl, sein Herz würde stehen bleiben. Er war so in Gedanken versun-<br />

ken gewesen, dass er Kelly nicht hatte aus dem Zelt kommen hören.<br />

„Gott, willst du mich umbringen?“, keuchte er zitternd.<br />

„Oh, das tut mir leid, ich war sicher, du hättest mich gehört ...“ Kelly war erschrocken. Sie<br />

setzte sich zu Shawn und legte liebevoll einen Arm um seine Taille. „Du hast mich nicht ge-<br />

hört ...“<br />

Der junge Mann schüttelte den Kopf. Sein rasender Herzschlag beruhigte sich langsam.<br />

„Nein. Ich war mit den Gedanken ...“<br />

„... bei Carrie.“, beendete Kelly den Satz für den Schauspieler.<br />

Dieser erwiderte unglücklich. „Ja.“<br />

Kelly nickte verständnisvoll. „Am besten ist es, du redest es dir von der Seele, sonst<br />

kommst du nicht zur Ruhe.“, erklärte sie sanft. Sie setzte sich so, dass Shawn sich gemütlich<br />

an sie lehnen konnte und schlang die Arme um ihn, griff um ihn herum nach seinen Händen.<br />

Der junge Mann fühlte sich in dieser Umarmung unendlich geborgen. Leise sagte er:<br />

„Du hast Recht.“ Er fing an zu reden.<br />

*****<br />

Die Nacht wurde für Shawn wunderschön. Carrie blieb in seinen Armen liegen und er ge-<br />

noss es, ohne Zwang zu sein. Er schlief auf den Fellen und mit Carrie im Arm besser, als er je<br />

zuvor geschlafen hatte. Am Morgen weckte sie ihn zärtlich mit einem Kuss auf die Stirn. Woh-<br />

lig rekelte er sich auf den weichen Fellen und schlug die Augen auf. Er konnte nicht fassen,<br />

dass sie noch nackt und anschmiegsam in seinen Armen lag.<br />

„Hey, du. Gut geschlafen?“, fragte sie und er nickte selig.<br />

„Ja, und wie. Und du?“<br />

„Ja, du bist ein wunderbares Kissen.“, lachte sie. Einen Moment lagen sie noch eng bei-<br />

einander.<br />

280


„Wir sollten uns mal im Haus blicken lassen, sonst sind die Anderen enttäuscht. Vorher<br />

...“ Schlagartig war er in der Realität zurück. Er senkte den Blick und wartete, was sie von<br />

ihm wollte.<br />

„Du gehst auf den Hocker, okay.“ Ergeben erhob er sich und trat mit wild klopfendem<br />

Herzen zu dem noch in der Mitte der Höhle stehenden Hocker hinüber. Tief atmete er ein,<br />

dann hockte er sich in die gleiche Haltung wie am Abend zuvor auf das Teil und spürte zit-<br />

ternd, wie Carrie die Fesseln schloss. Erneut war er hilflos ausgeliefert. Panisch sah er, dass<br />

sie nach dem Rohrstock griff. Er zitterte am ganzen Körper und Schweiß brach ihm aus. Seine<br />

Zähne klapperten aufeinander. Der eine Schlag am Abend hatte ihm gezeigt, wie entsetzlich<br />

weh dieser Stock tat. Carrie trat mit dem Stock in der Hand hinter ihn und streichelte sanft<br />

über seinen Po. Bevor sie anfing, ihn zu schlagen, ging sie noch einmal zu der Plastikkiste<br />

und suchte nach einem größeren Plug. Sie fand einen passenden und schmierte gründlich<br />

Gleitmittel auf das gut 6 Zentimeter dicke Gummi. Sie trat zu Shawn zurück und sagte:<br />

„Der ist dicker, aber kürzer, er wird dir nach kurzer Zeit weniger Unbehagen bereiten als<br />

der Längere. Versuch, dich so gut es geht, zu entspannen.“ Sie strich ihm sanft Gleitmittel auf<br />

den Anus und massierte diesen mit zwei Fingern. Shawn spürte, wie sie in ihn rutschte und<br />

merkte augenblicklich, dass sein Körper sich erneut selbstständig machte. Wie von jemand<br />

anderem gelenkt, spannte und lockerte sich sein Schließmuskel abwechselnd und verkrampfte<br />

sich dann vor Schreck, als er merkte, was er getan hatte.<br />

Carrie hatte seine Reaktion ebenfalls gespürt und überlegte blitzschnell. Er wollte sich<br />

gerne fallen lassen, also würde sie ihm die Gelegenheit geben. Sie zog ihre Finger aus ihm<br />

heraus und ging zur Kiste hinüber. Hier griff sie sich einen stärkeren Vibrator, den sie sich<br />

umschnallen konnte, und kehrte damit zu Shawn zurück. Dieser hockte mit geschlossenen Au-<br />

gen da und kämpfte mit seinen Empfindungen. Er wollte keine Erregung spüren. Er hasste es,<br />

wenn sie an seinem Anus herumspielte. Und dann erinnerte er sich daran, was er sich vorge-<br />

nommen hatte: Sich in ihrer Gegenwart gehen zu lassen, sich ihr zu ergeben. Okay, also wür-<br />

de er das tun. Er wollte diese Gefühl, dass er beim Tauchen und gestern Abend bei der Ver-<br />

gewaltigung gehabt hatte, erneut spüren. Sich in ihre Hände zu geben. Er wollte es zurück,<br />

dieses herrliche Gefühl. Als sie vorsichtig zwei Finger in ihn gleiten ließ, gab er seinem<br />

Wunsch nach. Er entspannte sich total und Carrie merkte das. Zufrieden lächelte sie. Jetzt<br />

war er bereit!<br />

Sie massierte ihn weiter und ließ sich Zeit. Er sollte darum bitten, mehr zu bekommen.<br />

Ohne Hemmungen, ohne schlechtes Gewissen, ohne Vorbehalte. Sanft bewegte sie ihre Finger<br />

in ihm und spürte, wie er langsam anfing, ihr seinen Po entgegen zu drücken, soweit es die<br />

Fesseln zuließen. Sie sagte kein Wort, wollte diesen Moment nicht stören. Ihre zweite Hand<br />

glitt zwischen seine Beine und liebkoste dort sanft seine Hoden. Doch nur kurz, sie wollte ihn<br />

281


nicht vom eigentlichen Ziel ablenken. Sie schaltete den Vibrator ein und als Shawn das Ge-<br />

räusch hörte, hielt er unwillkürlich erwartungsvoll den Atem an. Dann spürte der das erre-<br />

gende Vibrieren an seinem Anus und stöhnte leise auf. Carrie führte das Gerät nicht ein, sie<br />

ließ es sanft gegen seinen Schließmuskel vibrieren. Minutenlang stimulierte sie ihn auf diese<br />

Weise, bis er fast platzte vor Erwartung. Sie sollte es endlich in ihn einführen! Aus seinem<br />

leisen Stöhnen war lautes, erregtes Keuchen geworden. Alles in ihm schrie danach, erneut<br />

kennen zu lernen, wie es war, vergewaltigt zu werden. Und dann passierte es.<br />

„Kannst du ihn bitte ... einführen ...“, bettelte er atemlos. Carrie ging nicht darauf ein,<br />

das reichte ihr noch nicht. Weiter ließ sie ihn das Gerät sachte von außen spüren. Schließlich<br />

hielt Shawn es nicht mehr aus.<br />

„Bitte, Carrie, ich will ihn in mir spüren!“, keuchte er unglaublich erregt. Carrie lächelte<br />

wissend. Sie legte sich den Gurt fest um und trat an Shawn heran. Die Höhe stimmte perfekt<br />

und so konnte sie ihn den Vibrator erneut spüren lassen. Als er ihre Hände links und rechts<br />

an seinem Becken spürte, zuckte er zusammen.<br />

Sie drückte vorsichtig gegen seinen Anus, bis der Widerstand nachgab und der Vibrator<br />

langsam in ihn glitt. Sofort hielt sie inne und ließ ihn das Gefühl spüren, dass das Gerät ein<br />

kleines Stück in ihm steckte. Shawn hatte den Kopf in den Nacken gelegt und keuchte<br />

„Ja ... Oh, Gott, das fühlt sich so geil an ...“ Sie wartete einige Minuten, in denen Shawn<br />

heftiger zuckte, dann drückte sie langsam vorwärts und der Vibrator glitt tiefer in ihn hinein.<br />

Shawn hielt die Luft an. Es tat so weh und war so geil! Erneut legte sie eine Pause ein, um<br />

ihm Gelegenheit zu geben, sich daran zu gewöhnen, was der Vibrator bei ihm auslöste.<br />

Shawn wimmerte, vor Geilheit und Schmerz gleichermaßen. Es tat weh, war aber ein so un-<br />

glaublich gutes Gefühl, dass er wollte, dass sie tiefer glitt und das Gerät bewegte. Er flehte:<br />

„Bitte ... tiefer ...“<br />

Sie tat ihm den Gefallen. Unerwartet stieß sie zu und Shawn schrie auf. Er wusste nicht<br />

mehr, was überwog: die Erregung oder der Schmerz. Es war ihm egal. Er wollte beides. Sie<br />

sollte ihn nehmen, ihn besitzen wie ... wie einen ergebenen Sklaven. Carrie schien seine Emp-<br />

findung zu spüren. Sie fing an, sich zu bewegen. Vor und zurückglitt der Vibrator und Shawn<br />

keuchte bei jedem Zustoßen leise auf. Er wollte, dass es aufhörte ... Er wollte, dass sie nie<br />

mehr aufhörte. Er hörte sich keuchen:<br />

„Ja ... so ... fester ...“ Sie stieß härter zu und Shawn bäumte sich in den Fesseln auf.<br />

„Ja ...“ Er spürte, dass er jeden Moment kommen würde. Abermals fuhr der Vibrator in<br />

ihn und er hatte das Gefühl, etwas würde in ihm zerreißen. Er wand sich und schließlich stieg<br />

der Orgasmus in ihm hoch. Carrie stieß noch drei, vier Mal kräftig zu und dann entrang sich<br />

Shawns Lippen ein heiserer Lustschrei und er kam keuchend und zuckend zu einem derart<br />

heftigen Orgasmus, dass ihm Tränen in die Augen schossen.<br />

282


Minutenlang zuckte er noch, bevor er sich langsam beruhigte und sein Atem ruhiger wur-<br />

de. Er war schweißgebadet, aber so unendlich entspannt und zufrieden wie selten. Er verspür-<br />

te keine Verlegenheit, keine Schuldgefühle, nur Erleichterung und Zufriedenheit. Carrie steck-<br />

te noch tief in ihm und fing vorsichtig an, sich aus ihm zurückzuziehen. Als der letzte Zentime-<br />

ter aus ihm herausglitt, keuchte er unwillkürlich noch einmal leise auf. Sie nutzte seine Ent-<br />

spannung, um ihm endlich den neuen Plug einzuführen, was ihm angesichts seiner Entspan-<br />

nung keinerlei Probleme bereitete. Dann säuberte sie den Vibrator und packte ihn zurück in<br />

die Kiste. Sicher verschloss sie diese und kehrte zu Shawn zurück. Sie streichelte sanft über<br />

seinen Rücken und sagte leise:<br />

„So, mein Liebling, jetzt musst du die Zähne zusammen beißen.“ Er hatte gewusst, dass<br />

das noch kommen würde, aber der Akt der Penetration hatte dieses Wissen erfolgreich ver-<br />

drängt. Nun kehrte es mit brutaler Macht zurück. Von einer Sekunde zur Anderen war Shawn<br />

aus dem Paradies in der Hölle zurück. Wellen der Angst überspülten ihn und er zitterte am<br />

ganzen Körper. Carrie trat einen Schritt zurück und holte ohne zu zögern aus. Der Rohrstock<br />

klatschte über Shawns Pobacken und dieser brüllte auf!<br />

Noch so gefangen von dem überwältigenden Orgasmus und der Erkenntnis, dass er diesen<br />

ausschließlich der Penetrierung seines Afters zu verdanken hatte, kam dieser Schlag wie der<br />

sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel. Er hatte gar nicht erst Zeit gehabt, sich vorzu-<br />

nehmen, sich zu beherrschen. In die Euphorie hinein ließ Carrie gnadenlos den Rohrstock<br />

zischen und alles, was Shawn bisher gespürt hatte, verrauchte angesichts der Schmerzen, die<br />

dieses brutale Schlaggerät verursachte, zu einem Nichts. Der zweite Schlag tat noch mehr<br />

weh und Shawn schluchzte hemmungslos auf. Ab dem fünften Schlag brüllte er um Gnade. Er<br />

heulte, er bettelte, er wimmerte, aber Carrie verschloss ihre Ohren. Blutrote Striemen über-<br />

zogen Shawns Po und er hatte das Gefühl, als würden ihn die Fesseln zerreißen. Er hatte sich<br />

vorgenommen, sich gehen zu lassen und nun ließ Carrie ihm keinerlei Wahl! Die Schmerzen<br />

waren so unerträglich, dass ihm nur die eine Möglichkeit blieb, sich gehen zu lassen. Zu et-<br />

was anderem hatte er keine Kraft mehr. Achtzehn Schläge musste er aushalten, achtzehn<br />

Schmerzensschreie, achtzehn Mal die Hölle, dann war nur noch sein hilfloses Schluchzen zu<br />

hören. Wären die Fesseln nicht gewesen, er wäre nach dem dritten Treffer von dem Hocker<br />

gerutscht.<br />

Carrie räumte seelenruhig den Rohrstock weg, dann trat sie zu Shawn, der noch hem-<br />

mungslos schluchzte. Sie machte seine Beine und seine Handgelenke los, legte den Arm um<br />

seine Taille und befreite ihn erst von den Fesseln um seine Oberarme. Sie half ihm auf die<br />

Beine und führte ihn zu den Fellen zurück. Wimmernd sank er auf ihnen zusammen und Car-<br />

rie hielt ihn im Arm, bis er sich langsam beruhigte. Schweiß lief ihm in Strömen am Körper<br />

herunter und sein Po fühlte sich an, als hätte jemand diesen in flüssige Lava getaucht. Er zit-<br />

283


terte noch wie das sprichwörtliche Espenlaub und wunderte sich, dass er nicht die Besinnung<br />

verloren hatte. Nach langer Zeit gelang es ihm, sich in Carries Armen liegend zu fangen. Der<br />

Schmerz ließ etwas nach und machte einem dumpfen Brummen Platz. Fahrig wischte Shawn<br />

sich mit der Hand über das Gesicht und hob langsam den Kopf. Er sah Carrie an und sah in<br />

ihren Augen Verständnis. Keine Spur von Schadenfreude, Verachtung oder Schlimmerem.<br />

Aber auch keine Spur von Gnade. Sanft fragte sie:<br />

„Geht es langsam?“<br />

Er schluckte trocken und nickte. Dann brach es aus ihm heraus. „Du hast mir keine<br />

Chance gelassen ... Ich glaube, das war die intensivste Stunde meines Lebens. Erst diese alles<br />

andere in den Schatten stellende Geilheit, dann der ebenfalls alles andere in den Schatten<br />

stellende Schmerz. Ich glaube, mehr ist nicht möglich ... Ich hatte mir vorgenommen, mich<br />

gehen zu lassen und ... mehr geht nicht. Weißt du, was das seltsamste ist? Dass waren mit<br />

Abstand die schlimmsten Schmerzen, die ich je gefühlt habe, absolut, aber ich ... Nein, ich<br />

habe sie wahrlich nicht genossen, aber ich habe ... Es war gut, dass ich sie von dir bekommen<br />

habe.“<br />

Carrie verstand, was er meinte. Viele Sklaven dachten so. Es bildete sich ein enges Ver-<br />

hältnis zwischen Meister und Sklave. Im normalen BDSM war der Meister, egal, ob männlich<br />

oder weiblich, dafür da, Schmerz und wundervolle Befriedigung zu bringen und ein perfektes<br />

Verhältnis bildete sich nur bei hundertprozentigem Vertrauen. Wenn der Bottom absolutes<br />

Vertrauen zum Top hatte, bildeten sie eine Symbiose. Bei Carrie und Shawn würde sich diese<br />

freiwillige Symbiose nie so bilden können, da Shawn nicht freiwillig der Bottom war. Den-<br />

noch bildete sich bei ihm deutlich das Vertrauen, das nötig war, und jetzt hatte sich in kürzes-<br />

ter Zeit bei ihm die Hingabe entwickelt, die ein Bottom mit seinem Top verband. Er hatte kein<br />

Safety Word, Carrie würde nie aufhören, weil er schrie und nicht mehr konnte. Aber für ihn<br />

machte dies keinen Unterschied, weil er kein freiwilliger Sklave war. Aber eins wusste er si-<br />

cher: Carrie war sein Rettungsanker. Sie war es, die ihn nach überstandener Tortur tröstete<br />

und pflegte und sie war es, die ihn auffing und Mensch sein ließ.<br />

Sie lächelte und zog ihn fest an sich. Und er empfand diese Geste als unglaubliche Beloh-<br />

nung. Die Schmerzen hatten langsam etwas nachgelassen und einem dumpfen Pochen Platz<br />

gemacht. In Carries Armen ließ das Zittern nach und er entspannte allmählich. Schließlich<br />

sagte Carrie:<br />

„So, wir werden uns abkühlen, dann gehen wir nach Hause, ich habe Kaffeedurst und<br />

Hunger.“ Sie erhob sich, stieg in ihre Kleidungsstücke und zog Shawn auf die Beine. Sein Po<br />

fühlte sich leicht taub an und er sagte:<br />

„Kaltes Wasser wird meinem Hintern sicher gut tun.“<br />

284


Sie lachte. „Ja, das wird es sicher. Ich denke, ich werde dich einmal die Woche mit dem<br />

Rohrstock bearbeiten. Und ich verspreche dir, keiner von den Anderen darf ihn bei dir ver-<br />

wenden.“ Sie zog ihn mit sich zum Wasser hinunter und sie stürzten sich in die Morgen hohen<br />

Wellen. Zuerst brannte das Salzwasser an den Striemen, schließlich aber setzte die erwartete<br />

Kühlung ein und Shawn seufzte erleichtert auf.<br />

*****<br />

Krampfhaft schluchzend hing Shawn in Kellys Armen. „Achtzehn Mal, sie hat achtzehn<br />

Mal zugeschlagen. Es war die Hölle.“, wimmerte er verzweifelt. „Mein Hintern fühlte sich an,<br />

als träfe der Stock nach dem dritten Schlag rohes Fleisch ...“ Kelly weinte einmal mehr mit<br />

ihm. Ihr war speiübel. Gewaltsam versuchte sie, das Bild des schreienden Shawn, gefesselt<br />

auf den grässlichen Hocker, sich in entsetzlichen Schmerzen windend, aus ihrem Kopf zu<br />

bekommen, doch das gelang mangelhaft. Er hing in ihren Armen, zitternd, schluchzend, am<br />

Ende. Erneut geschafft von einer Erinnerung an die schrecklichste Zeit seines Lebens.<br />

„Wenn sie mich in dem Moment gefragt hätte was ich lieber hätte, weitere zehn Schläge<br />

oder eine Kugel in den Kopf ... Ich hätte die Kugel gewählt.“ Shawn war bemüht, sich zu fan-<br />

gen. „Sie hat bei diesem ersten Mal nicht mal mit aller Kraft zugeschlagen. Du machst dir<br />

keine Vorstellung, wie weh ...“ Er verstummte mitten im Satz. Dass Kelly ihn im Arm hielt,<br />

gab dem jungen Mann in diesem Moment unglaublich viel. Jemand war da, der ihn verstand,<br />

der Mitleid hatte, der da war, um ihm über diesen Schrecken hinweg zu helfen. Er hatte vor-<br />

her eine tiefe Dankbarkeit für Kelly empfunden, doch in diesen Minuten potenzierte sich die-<br />

se ins Unermessliche. Er ließ sich, wie er es bei Carrie getan hatte, gänzlich fallen. Kelly<br />

spürte, wie er in ihren Armen regelrecht schwerer wurde. Er sagte nichts mehr, er weinte nur<br />

noch. Ließ auf diese Weise alles, was ihn im Augenblick bedrückte aus sich heraus. Als er<br />

schließlich seine ganze Angst und Verzweiflung aus sich heraus geweint hatte, flüsterte er<br />

erschöpft:<br />

„Es geht mir besser ...“ Er klang verwirrt. Kelly hatte ihn weinen lassen. Jetzt sagte sie un-<br />

endlich liebevoll:<br />

„Das ist gut, Shawn. Lass den ganzen Dreck aus dir heraus poltern, egal wie. Wenn du<br />

magst, können wir uns hinlegen. Wenn nicht, bleiben wir hier sitzen und du kannst über deine<br />

Gefühle reden.“<br />

Shawn schüttelte schwerfällig den Kopf. „Ich bin viel zu müde, um noch zu denken. Lass<br />

uns versuchen, noch Schlaf zu bekommen, okay?“<br />

*****<br />

285


„200 Kilometer?“ Shawn schnaufte. Sie waren an diesem Morgen erst spät aufgewacht<br />

und als sie weiter fuhren, war es 10 Uhr durch. Kelly hatte dem jungen Mann gerade erklärt,<br />

dass 200 Kilometer Outback ohne Siedlungen und über weite Strecken ohne Straßen vor ih-<br />

nen lagen. „Wie lange werden wir brauchen?“<br />

Kelly überlegte. „Auf den Sandpisten schaffen wir 30 Kilometer am Tag, wenn wir Glück<br />

haben. Im Buschland zwanzig. Später, durchs Bergland ... mit viel Glück 15 Kilometer. Von<br />

unserem jetzigen Standort geht es erst einmal gute 70 Kilometer off road, bis wir Lake Lewis<br />

erreichen. Freu dich nicht, ist ein Salzsee.“, lachte Kelly, als sie das Funkeln in Shawns Au-<br />

gen bemerkte.<br />

„Schade ...“<br />

„Dort kommen wir beim Tilmouth Roadhouse auf eine schmale sogenannte Stock Route.<br />

Auf dieser werden wir die knapp 35 Kilometer bis in die winzige Ortschaft Laramba fahren.<br />

Ab da wird es dann richtig haarig, ungefähr 90 Kilometer durch bergiges Land bis Ti Tree,<br />

einem Kaff am Stuart Highway.“ Sie rechnete nach. „Bis Lake Lewis brauchen wir drei Tage.<br />

Weiter auf der Stock Route bis Laramba, das sollten wir an einem Tag schaffen, wenn wir<br />

stramm durchfahren. Tja, und von Laramba durch die Berge nach Ti Tree ... Ich schätze,<br />

wenn nichts dazwischen kommt, sechs bis sieben Tage.“<br />

Shawn seufzte leise. „Wow, also gute zehn Tage durchs nirgendwo, klingt toll.“<br />

Und so ging es erst einmal hinaus in unwegsames, mit Spinifex, Eukalypten, Mulgabüs-<br />

chen und Grasbäumen bewachsenes Buschland. Hier kamen sie Recht gut voran. Kelly ließ<br />

Shawn fahren, sie wusste, der junge Mann hatte Spaß am Allradfahren. Nach dem Zusam-<br />

menbruch in der Nacht würde ihn das aufbauen. Sie lachte bei seinen Worten vergnügt auf.<br />

„Was denn? Stehst du nicht auf Abenteuer?“<br />

Shawn grinste. „Doch, sicher. Und solange wir von Schlangen und Spinnen verschont<br />

werden, ist das in Ordnung.“<br />

„Ausschließen kann ich Begegnungen der Art nicht. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie<br />

uns nahe kommen, ist eher gering.“ Eine Weile fuhren sie schweigend dahin. Plötzlich packte<br />

Kelly Shawn am Arm und sagte:<br />

„Halt mal an!“ Der junge Mann trat auf die Bremse und sah Kelly fragend an.<br />

„Na, da drüben!“ Die Therapeutin deutete auf einen Punkt links ihres Standortes. Shawn<br />

riss die Augen auf. Keine 10 Meter entfernt hockte ein rotes Riesenkänguru. Es schaute miss-<br />

trauisch zu dem großen, lauten, stinkenden Gefährt hinüber. Shawn sah das Tier fasziniert an.<br />

„Es ist gar nicht scheu, was?“, sagte er erstaunt, während sein Finger den Auslöser der<br />

Kamera berührte.<br />

„Nein, hier im Outback geschieht ihnen nichts. Nur in Regionen, wo sie Überhand nehmen<br />

und Äcker gefährden, werden sie bejagt. Das ist ein rotes Riesenkänguru. Sie werden hier<br />

Boomer genannt.“ Shawn nickte verstehend. Er beobachtete das Tier noch eine Weile, doch<br />

286


schließlich setzte dieses sich mit gemächlichen Hopsern in Bewegung und verschwand hin-<br />

term Gebüsch aus ihrer Sicht.<br />

„Komisch, dass es die nur hier gibt.“, meinte er überlegend.<br />

„Das stimmt nicht ganz. Es gibt sie auf New Guinea. Allerdings sind dort die Populationen<br />

eher klein.“<br />

Shawn grinste. „Klugscheißer!“<br />

Kelly zeigte ihm die Zunge. „Ich kann dich ja nicht dumm sterben lassen.“ Sie kamen wei-<br />

ter gut voran und am späten Nachmittag hatten sie fast 35 Kilometer geschafft.<br />

„Das ist eine gute Tagesleistung.“, meinte Kelly. „Wenn es morgen genauso gut geht,<br />

schaffen wir es nach Tilmouth in zwei Tagen.“ Vor ihnen tauchte ein Streifen üppigerer Ve-<br />

getation auf. „Das muss ein ausgetrocknetes Flussbett sein. Wir sollten hier übernachten, was<br />

meinst du?“<br />

Shawn bewegte die verspannten Schultern. „Gerne, ich bin steif. Das Fahren hier draußen<br />

ist anstrengender als auf einer Straße.“ Er sah sich suchend um und fand schließlich einen<br />

freien Platz im Schatten einiger Bäume. „Das sieht gut aus.“, meinte er und steuerte den Wa-<br />

gen hinüber. Gemeinsam suchten sie das Unterholz nach Schlangen ab, aber es waren keine<br />

zu finden. So bauten sie das Zelt auf und während Kelly Holz sammelte, formte Shawn<br />

schnell mit einigen Steinen, die er vor dem Aufheben vorsichtig erst herumdrehte, eine Feuer-<br />

stelle. Kurze Zeit später hing der Wasserkessel über dem Feuer und sie tranken gemütlich<br />

Kaffee.<br />

Shawn starrte abwesend ins Feuer. Eine Weile beobachtete Kelly ihn stumm. Schließlich<br />

fragte sie ihn:<br />

„Hey, Swaggie, was ist mit dir? Du bist so still.“<br />

Der junge Mann hatte ein großes Fragezeichen im Gesicht, als er sich zu Kelly herum<br />

drehte. „Swaggie?“, fragte er nach.<br />

Kelly kicherte. „Landstreicher.“, übersetzte sie vergnügt.<br />

Shawn verdrehte die Augen. Er schnaufte gestresst und meinte: „Ich habe an letzte Nacht<br />

gedacht.“ Bedrückt schaute er ins Feuer. „Ich hatte gedacht, ich sei über diese Art von Zu-<br />

sammenbrüchen hinweg.“<br />

Kelly tat es weh, ihm die Hoffnung nehmen zu müssen, aber sie musste ehrlich sein.<br />

„Ho... Ähm, hör mal, Shawn, es tut mir leid, aber über den akuten Zustand bist du noch lange<br />

nicht hinweg.“ Sie atmete innerlich auf, dass sie das ‘Honey‘, das sie auf der Zunge gehabt<br />

hatte, gerade noch in ein ‘hör mal‘ hatte umwandeln können. Leise fuhr sie fort: „Es wird<br />

langfristig immer mal Situationen geben, in denen sogenannte Trigger dich an Begebenheiten<br />

während der Gefangenschaft erinnern und heftige Reaktionen auslösen können.“<br />

287


Shawn seufzte trübsinnig. „Das heißt im Klartext, ich könnte zum Beispiel mitten in einer<br />

Szene stecken, irgendwas löst so einen Trigger aus und ich breche zusammen, oder was?“<br />

„Theoretisch ... Ja, so was in der Art.“<br />

Unglücklich biss Shawn sich auf die Lippe. „Willst du mich heiraten? Dann bist du gleich<br />

zur Stelle, wenn ich ...“ Er schüttelte frustriert den Kopf. „Ach, verdammte Scheiße!“<br />

Kelly griff nach seiner rechten Hand. „Shawn, bitte, noch ist es nicht so weit. Es ist gar<br />

nicht gesagt, dass es passieren wird. Die letzten Situationen, die du geschildert hast, waren<br />

vergleichsweise harmlos, darum hast du nicht so extrem reagiert. Die von gestern Abend war<br />

aber alles andere als harmlos. Die Schläge mit dem Bambusstock haben dich sowohl körper-<br />

lich als emotional extrem belastet. Daher hat dich die intensive Erinnerung daran stark belas-<br />

tet. Lass uns ein Stück gehen. Später reden wir darüber. Ist das ein Vorschlag?“ Sie wollte ihn<br />

aus den trüben Gedanken reißen und hielt einen kleinen Spaziergang für eine gute Idee.<br />

„Ja, ich würde gerne Bewegung bekommen.“<br />

Er stand auf und reichte Kelly die Hände, um sie auf die Beine zu ziehen. Als sie vor ihm<br />

stand, sah er schuldbewusst zu Boden. „Deine Lippe ist noch geschwollen ...“, sagte er leise.<br />

Er hatte die kleine Verletzung am Morgen entdeckt und war geschockt gewesen, dass er die<br />

Schuld daran trug. Ein ums andere Mal hatte er sich entschuldigt, bis Kelly aufgebracht er-<br />

klärt hatte, er würde gleich ebenfalls mit einer geschwollenen Lippe herumlaufen, wenn er<br />

nicht aufhören würde, sich zu entschuldigen. Als er nun deutlich sah, dass die Schwellung<br />

noch nicht wesentlich zurückgegangen war, packte ihn das schlechte Gewissen. Kelly sah ihn<br />

streng an.<br />

er!“<br />

„Fang nicht wieder an, dich hundert Mal zu entschuldigen, Swaggie, sonst werde ich sau-<br />

Ergeben schüttelte der junge Mann den Kopf. „Nein, werde ich nicht.“ Sie marschierten<br />

los. In dem dichten Gebüsch mussten sie sich vorsichtig fortbewegen. Einmal zeigte Kelly auf<br />

ein großes Spinnennetz, das zwischen zwei Bäumen gesponnen war. In seiner Mitte saß eine<br />

Radnetzspinne, deren Körper so lang war wie Shawns Ringfinger. Der junge Mann schüttelte<br />

sich, machte aber ein Foto.<br />

Sie kämpften sich weiter durch das Dickicht und erreichten schließlich schwitzend das<br />

ausgetrocknete Flussbett, welches für die recht dichte Vegetation verantwortlich war. Shawn<br />

wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte in der prallen Sonne seinen Hut auf, den er<br />

in der Hand gehalten hatte. Sie sahen sich hier um. Aufgeregt packte Kelly Shawn am Arm.<br />

„Dort!“ Sie zeigte ein Stück nach vorne. Shawn erstarrte. Keine 3 Meter entfernt bewegte<br />

sich eine lackschwarze Schlange über den Sand. Ihr Bauch glänzte rot.<br />

„Was ist das?“, fragte er gespannt.<br />

288


„Eine Black Snake. Giftig, gilt aber als beissfaul. Sie kann bis zu 3 Meter lang werden und<br />

frisst Frösche, Fische. Sie schwimmt gut. Aber sie verschmäht auch Säuger wie Mäuse nicht<br />

und nimmt sogar Vögel und Eidechsen als Beute. Ihr Gift wirkt neurotoxisch und führt zu<br />

Lähmungen, insbesondere des Atemzentrums.“<br />

„Sie ist wunderschön!“, stieß Shawn aufgeregt hervor und ging vorsichtig dichter an die<br />

schöne Schlange heran, um ein gutes Bild zu bekommen. Mehrmals drückte er den Auslöser,<br />

dann hatte die Schlange genug und schlängelte sich zwischen einige kleine Büsche.<br />

Nach dieser Begegnung war der junge Mann besser drauf. Als sie eine gute Stunde später<br />

an ihrem Lager ankamen, machte Kelly Abendbrot. Anschließend bat sie Shawn:<br />

„Du hattest dich heute Nacht so an den Hieben fest gebissen, ich würde gerne noch über<br />

die erneute anale Vergewaltigung am folgenden morgen hören, okay?“<br />

Shawn wurde rot. „Hab ich befürchtet ...“, seufzte er leise. „Was soll ich da groß zu sagen.<br />

Es war ... grässlich ... geil. Als sie ihre Hände an meine Hüften legte ... Das war noch anders<br />

als am Abend davor, als sie ‘nur‘ mit dem Vibrator ... Dass sie sich dann so ein Teil umge-<br />

schnallt hat und mich richtig ... richtig gevögelt hat ...“ Er verstummte vor Scham. Es auszu-<br />

sprechen war noch etwas anderes als es aus der Erinnerung zu erzählen. Leise sagte er: „Als<br />

das Teil ... in mich hinein ... Das hat geschmerzt, aber es war unglaublich erregend. Ich kann<br />

nicht fassen, dass ich Carrie angebettelt habe ... Wenn das jemand anderes als du heraus be-<br />

kommt, sterbe ich glaube ich vor Scham. Meine Kollegen ... Wenn die das wüssten, dass<br />

McLean in den Hintern gebummst wurde und das noch geil fand ...“ Einmal mehr geriet der<br />

junge Mann regelrecht in Panik. „Wenn die das erfahren ... Oh Gott!“<br />

„Hey! Shawn, ganz ruhig! Das werden sie nie erfahren, beruhige dich.“ Kelly packte<br />

Shawns Hände und zwang ihn sie anzusehen. „Ganz ruhig.“ wiederholte sie noch einmal. Sie<br />

spürte Shawn zittern. „Niemand wird je mehr erfahren als dass, was du dem Betreffenden<br />

selbst sagst.“<br />

„Aber bei einer Verhandlung ...“<br />

„Shawn, bei der Verhandlung werden nur Richter, Staatsanwalt und Geschworene Details<br />

hören und die haben alle Schweigepflicht.“<br />

„Ich will keine Verhandlung!“, keuchte Shawn panisch. „Will ich wirklich nicht.“<br />

Kelly kannte das. Jedes Opfer eines sexuellen Missbrauchs bekam bei der Vorstellung,<br />

das, was ihm wiederfahren war in einer Verhandlung erzählen zu müssen, Panik. Sie wusste<br />

aus Erfahrung, dass es das Beste war, das Thema erst einmal zu wechseln. So sagte sie:<br />

„Erzähl mir, wie es weiter ging, okay? Was passierte an diesem Tag noch?“ Shawn ließ<br />

sich tatsächlich ablenken. Er überlegte, dann begann er...<br />

23) Die Brücke<br />

289


Von allen Qualen, die den Menschen heimsuchen, ist die Selbstverachtung die<br />

Höchste.<br />

Berthold Auerbach<br />

*****<br />

Zwanzig Minuten später stand er in seinem Zimmer und goss sich einen Scotch ein. Es<br />

war ihm egal, dass er noch nichts gegessen hatte. Carrie hatte ihm die Anweisung gegeben,<br />

Duschen zu gehen und gesagt, sie würde ihn in dreißig Minuten abholen. Er hatte ihr fast<br />

bedauernd hinterher geschaut, als sie zu ihrem eigenen Schlafzimmer eilte. Als er den Whis-<br />

key in sich hinein kippte, dachte er an die beiden Analvergewaltigungen, die er hatte hinneh-<br />

men müssen und spürte, wie ihm warm wurde. Hätte ihm jemand vor ein paar Wochen gesagt,<br />

dass er, Shawn McLean, beim Analsex zum Orgasmus kommen würde, er hätte demjenigen<br />

ins Gesicht geschlagen! Und jetzt ertappte er sich, wie er hoffte, dass Carrie das bald wieder<br />

einmal mit ihm anstellen würde. Sein Hintern tat ihm noch immer heftig weh, von den Schlä-<br />

gen und dem Analverkehr und doch konnte er es nicht erwarten, dieses unglaubliche Gefühl<br />

zu erleben.<br />

„Himmel noch mal, McLean, reiß dich zusammen!“ schnauzte er sich selbst an und mar-<br />

schierte ins Bad. Unter der Dusche drehte er das Wasser auf kalt und stand minutenlang zit-<br />

ternd vor Kälte unter dem Wasserstrahl, bis er das Gefühl hatte, nicht sofort einen Ständer zu<br />

bekommen, wenn er daran dachte, wie sich der Vibrator angefühlt hatte.<br />

Er seifte sich gründlich ab und wusch sich die Haare, spülte sich angewidert den Darm<br />

gründlich aus und verließ schließlich die Dusche. Er rubbelte sich trocken. Carrie war pünkt-<br />

lich und führte ihn auf die Terrasse hinaus, wo die Anderen noch am Frühstückstisch saßen.<br />

Verwirrt sah er, dass ein seltsamer Stuhl dort stand, wo er vorgestern gesessen hatte. An ei-<br />

nem stabilen Gestänge waren zwei Schalen angebracht, die Y förmig auseinander zeigten und<br />

in der Mitte keine Verbindung hatten. Ziemlich weit auseinander. Von diesen Schalen hingen<br />

breite Klettbänder herunter. Eine weitere Stange diente als Lehne. An ihr war eine gepolsterte<br />

Querstange befestigt, die scheinbar höhenverstellbar war. Das Ganze war auf einer ebenfalls<br />

stabilen Hartgummiplattform befestigt, die mit Metallösen versehen war, an beiden Seiten der<br />

Plattform. Carrie deutete auf diesen Stuhl und sagte:<br />

„Mach es dir gemütlich.“ Shawn musste tief durchatmen, dann aber setzte er sich vorsich-<br />

tig hin. Seine Beine kamen in den Schalen zu liegen, der Hintern hing in der Luft, was ange-<br />

sichts der Stiemen nicht das Schlechteste war. Carrie zog die Klettbänder, die in Höhe seine<br />

Oberschenkel lagen, stramm und schloss sie. Sie bückte sich und hakte seine Fußgelenkman-<br />

schetten in die Ösen der Plattform ein. Sie löste kurz seine Hände, zog seine Arme über die<br />

290


gepolsterte Querstange und fesselte sie innen vor der Lehne zusammen. Wieder einmal war er<br />

hilflos.<br />

Die weit gespreizten Beine ließen einen ungehinderten Blick auf seine Genitalien zu. Brett<br />

grinste und fasste Shawn ungeniert an den Penis. Der junge Mann hatte das ungute Gefühl,<br />

unter der Hand Bretts, würde sein Penis sich jeden Moment in den Körper zurückziehen vor<br />

Scham. Der Wehrlose biss die Zähne zusammen und starrte zu Boden. Carrie war noch nicht<br />

fertig. Sie griff nach einer dünnen Kette, die sie durch den Haken vorne in der Mitte seiner<br />

Halsmanschette fädelte. Am Ende der Kette waren Krokodilklemmen angebracht. Carrie setz-<br />

te diese Klammern geschickt an Shawns Brustwarzen an. Dieser presste die Lippen zusammen<br />

und kniff die Augen zu. Das tat gemein weh. Die Kette war so lang, wie sie sein musste, um<br />

einen sanften Zug auszuüben, wenn Shawn den Kopf anhob. Er atmete kurz und schnell, aber<br />

nach ein paar Minuten ließ der Schmerz nach und Carrie fragte, als säße er normal am<br />

Tisch:<br />

„Willst du Kaffee?“<br />

Am liebsten hätte Shawn den Kopf geschüttelt, aber er hatte sowohl Hunger als auch<br />

Durst und so nickte er verkniffen.<br />

„Ja, bitte.“<br />

Carrie schenkte ihm eine Tasse ein und hielt ihm diese vorsichtig an die Lippen. Dankbar<br />

und extrem verlegen trank er in kleinen Schluck. Jetzt sagte Carrie:<br />

„Teresa, sei so gut, gib unserem Gast zu Essen.“<br />

Hochgradig verlegen musste Shawn sich füttern lassen. Carrie selbst aß mit gutem Appetit<br />

ihr eigenes Frühstück. Zwischendurch fütterte sie Shawn mit Kaffee. Als sie fertig waren, ver-<br />

band sie Shawn die Augen, dann kam Alan und räumte den Tisch ab. Shawn hörte sie sagen:<br />

„Was haben wir heute auf dem Zettel?“<br />

Karen meldete sich zu Wort. „Wir haben darüber gesprochen, ihn nachher eine Weile auf<br />

die Brücke zu binden, was hältst du davon?“<br />

Carries Stimme klang erregt. „Oh, gerne. Wir machen einen Wettbewerb, was haltet ihr<br />

davon? Wer es schafft, ihm einen Orgasmus zu verschaffen, bekommt eine Flasche Cham-<br />

pus.“ Allgemeines Gelächter erschallte und Shawn kamen unter der Augenbinde vor Scham<br />

fast die Tränen. Er wusste zwar nicht, was diese Brücke war, aber die Vorstellung, dass er<br />

dort liegen sollte und unter den Augen aller zum Orgasmus gebracht werden sollte, ließ ihn<br />

vor Scham stöhnen.<br />

Grinsend sagte Carrie: „Okay, dann wollen wir mal.“ Shawn spürte, dass die Fesseln ge-<br />

löst und seine Hände auf den Rücken gefesselt wurden. Man packte ihn an den Oberarmen<br />

291


und sie führten ihn vorsichtig ins Haus und eine Treppe hinunter. Er war sicher, in den Fol-<br />

terkeller gebracht zu werden. Eine Tür ging auf und zu und es hieß:<br />

„Stehen bleiben.“<br />

Die Handfesseln wurden gelöst und Carrie sagte ruhig: „Setz dich hin.“ Unsicher, da er<br />

nichts sah, ließ er sich langsam sinken und spürte schnell Widerstand unter dem Hintern.<br />

Hart, aber gepolstert. „Rutsch ein kleines Stück zurück.“ Er gehorchte. „Stopp, das reicht.“<br />

Shawn spürte, dass seine Fußgelenke an Haken befestigt wurden. Seine Beine spürten, dass<br />

das, worauf er saß, eine halbrunde Form haben musste. Als er Hände an seinem Oberkörper<br />

spürte, die ihn zurückdrückten, keuchte er erschrocken auf. Noch erschrockener war er, als er<br />

merkte, dass in der Waagerechten noch nicht Schluss war! Unwillkürlich wurde er steif, hörte<br />

aber sofort Carries Stimme beruhigend sagen:<br />

„Keine Angst, dir passiert nichts, okay, bleib entspannt.“ Er schluckte trocken, ließ sich<br />

aber weiter herunterdrücken, bis er Widerstand im Rücken spürte. Schlagartig wusste er, was<br />

die Brücke war. Er hatte das Teil gesehen. Ein lederbezogener, gepolsterter, Halbbogen, groß<br />

genug, um seine ganze Körperlänge aufzunehmen. Seine Hände wurden über den Kopf gezo-<br />

gen und fixiert. Er lag durchgedrückt, Kopf nach unten, auf dieser Brücke. Einige Minuten<br />

brauchte sein Körper, um sich an die gebogene Haltung zu gewöhnen, dann tat es nicht mehr<br />

weh, war nur noch unangenehm.<br />

Er zuckte zusammen, als jemand ihm endlich die Brustklemmen entfernte und konnte einen<br />

leisen Aufschrei nicht unterdrücken, als dies zu einem kurzen, heftigen Schmerz führte. Es<br />

dauerte Minuten, bis der Schmerz in seinen Brustwarzen endlich nachließ. Er lag still, warte-<br />

te angstvoll, was passieren würde. Und zuckte heftig zusammen. Er spürte an beiden Brust-<br />

warzen und gleichzeitig am Penis Lippen. - Oh Gott, bitte, lass es nicht zu! - dachte er ver-<br />

zweifelt. Krampfhaft versuchte er, die unglaublich sinnlichen Berührungen an allen drei Stel-<br />

len wegzudenken. Er wollte es nicht! Er kämpfte mit aller Kraft dagegen an. Er wusste nicht<br />

einmal, wer was tat. Endlich verschwanden zwei Lippenpaare und nur noch ein Paar machte<br />

sich an ihm zu schaffen. Während diese an seinen Nippeln saugten, spielte eine Hand mit sei-<br />

nen Eiern, dann schloss sie sich fordernd um seinen Penis, bemühte sich, diesem eine Reakti-<br />

on zu entlocken. Er konzentrierte sich so stark er konnte auf seinen schmerzenden Hintern<br />

und versuchte, das Brennen der Striemen als sein ganzes Gefühlsleben zu erfassen. Er leistete<br />

tapfer Widerstand. Irgendwann gaben die Lippen ihr Bemühen auf. Man ließ ihn eine ganze<br />

Zeit zufrieden, dann ging der Kampf von vorne los. Und Shawn schaffte es erneut! Es kostete<br />

ihn unglaubliche Konzentration, aber er schaffte es, sich zu wehren.<br />

Man ließ ihm Zeit, sich, soweit es die unangenehme Fesselung zuließ, zu Entspannen,<br />

dann spürte er erneut Lippen und eine Zunge, die alles tat, um ihn zu Erregen. Aber sofort<br />

spürte er feine Bartstoppeln und wusste augenblicklich, dass es Brett war, der sich an ihm zu<br />

292


schaffen machte. Tränen des Abscheus und des Schams schossen ihm sofort in die Augen!<br />

Lieber Gott, wie sollte er das ertragen, ohne hysterisch zu Schreien? Er wand sich keuchend<br />

in den Fesseln und wünschte fast, augenblicklich zu sterben. Ein Mann blies ihm einen. Fas-<br />

sungslos keuchte er auf. Eine Stimme, Karen, sagte ironisch:<br />

„Tja, Brett, ich fürchte, unser Gast steht nicht auf dich.“ Bretts Stimme klang wütend, als<br />

er antwortete:<br />

„Gut, wenn er so nicht will, werde ich ihm nachher mal zeigen, wie weh Schläge auf die<br />

gespannte Bauchdecke tun!“ Der Mund verschwand von seinen Penis und Shawn lag zuckend<br />

und keuchend still. Er brauchte eine Weile, um sich zu beruhigen. Dann aber dankte er Gott,<br />

dass sein Penis nicht auf die Stimulation reagiert hatte. Denn Brett verstand sein Handwerk.<br />

Hätte Shawn nicht sofort die Bartstoppeln gespürt, er war sich nicht sicher, ob er nicht die<br />

Beherrschung verloren hätte.<br />

Als er ruhig atmete, hörte er Karens Stimme erneut.<br />

„So, letzter Versuch. Wenn es jetzt nicht klappt, erkläre ich unseren Gast für frigide.“ Sie<br />

lachte gehässig. Und auch Brett und Teresa lachten. Shawn hörte die Gemeinheit in den Wor-<br />

ten und biss sich auf die Lippe, dass es schmerzte. Er zuckte zusammen, als sich erneut un-<br />

glaublich zärtliche Lippen um seine rechte Brustwarze legten und eine Zunge begann, diese<br />

sanft und sinnlich zu stimulieren. Sie kreiste sanft auf seinen Vorhof und stieß spielerisch ge-<br />

gen die Warze, die sich langsam verhärtete. Als die Lippen und die Zunge sich um seine linke<br />

Brustwarze bemühten, spürte Shawn zu seinem nachhaltigen Entsetzen sofort, dass sich hier<br />

die Warze versteifte. Und er spürte, dass warme Wellen durch seinen Körper bis in die Len-<br />

den schossen. Die Zunge glitt liebkosend über seine straff gespannte Haut an seinem Körper<br />

herab und Shawn ertappte sich, wie er sich vorstellte, dass diese Zunge gleich seinen Penis<br />

erreichen würde. Doch das passierte nicht. Stattdessen machte die Zunge eine Pause und das<br />

war erregender, als wenn sie sofort weiter gemacht hätte. Oh, Gott. Er spürte, dass er erwar-<br />

tungsvoll die Luft anhielt, wann es denn endlich weiter gehen würde. Er wusste, dass er den<br />

Kampf verloren hatte! Heftig zuckte er zusammen, als die Lippen erst einmal wieder an seinen<br />

Brustwarzen zu spüren waren. Dann begab sich die Zunge erneut auf Wanderschaft über sei-<br />

nen Körper, der sich selbstständig gemacht hatte. Ein leises, eindeutig lustvolles Keuchen<br />

entwich seinen leicht geöffneten Lippen und er spürte, wie sein verräterischer Penis sich auf-<br />

richtete. Er schien wie eine Fahne zu wedeln, man möge sich bitte um ihn kümmern. Und end-<br />

lich war es so weit. Die Lippen schlossen sich um seine Eichel und Shawn keuchte auf.<br />

Die Zungenspitze drang quälend erregend in seine Harnröhre ein und heiße Wellen schos-<br />

sen durch Shawns Unterleib. Die Fesselung, die seinen Unterleib einladend in den Mittel-<br />

punkt des Geschehens rückte, war sein Verderben. Die Zunge kreiste über die Naht der Be-<br />

schneidung und verursachte dort einen leichten Schmerz, der stimulierend wirkte. Verzweifelt<br />

293


versuchte Shawn, an irgendetwas Grauenhaftes zu denken, aber als sanft an seiner Eichel<br />

geknabbert wurde, überrollte ihn eine Welle der Erregung. Sein Penis zuckte dem Mund ent-<br />

gegen, der sich so hingebungsvoll seiner widmete und verlangte energisch nach mehr Auf-<br />

merksamkeit. Unter der Augenbinde füllten sich Shawns Augen einmal mehr mit Tränen, aber<br />

er konnte nichts mehr tun, er hatte verloren. Als die Zunge mit dem Eingang zu seiner Harn-<br />

röhre spielte, sie beinah schmerzhaft dehnte, und die Lippen sich gleichzeitig fester um seinen<br />

Eichelkranz pressten, entfuhr ihm ein eindeutig erregtes Stöhnen. Die Vorstellung, dass Tere-<br />

sa, Karen und Brett nicht nur Zeugen seiner Erniedrigung wurden, sondern einer von ihnen<br />

der Auslöser war, ließ ihn aufschluchzen, gleichzeitig aber hätte er sonst was gegeben, seinen<br />

Unterleib der liebevollen Behandlung entgegen zu heben. Das war durch die Fesselung un-<br />

möglich und so blieb seinem erigierten Glied nur noch, erwartungsvoll zu zucken, was es<br />

ausgiebig tat.<br />

Die Lippen arbeiteten fordernder und bewegten sich auf seinem Penis auf und ab und die<br />

Zunge fuhr fest und unglaublich erotisch durch seine Kranzfurche. Er stöhnte vor Geilheit,<br />

obwohl ihm gleichzeitig Tränen aus den Augen stürzten und in der Augenbinde versickerten.<br />

Und dann spürte er den Orgasmus kommen. Heiße Wellen zuckten durch seinen Unterleib.<br />

Alles krampfte sich dort zusammen für den Ausbruch. Im letzten Moment entfernten sich die<br />

Lippen und wurden durch eine sanfte Hand ersetzt, die die Restarbeit übernahm. Und mit<br />

einem nicht mehr zu unterdrückenden leisen Lustschrei schien sein Penis zu Explodieren. Er<br />

spürte, wie sein Sperma auf seinen Unterleib spritzte und wimmerte auf. Heftig schluchzend<br />

lag er in den Fesseln, wünschte, er würde sterben. Karen, Teresa und Brett lachten.<br />

„Klasse, Carrie, das hast du geil gemacht, da konnte sich unser frigide Madonna nicht<br />

mehr wehren.“ Jedes dieser gemeinen Worte traf Shawn wie ein Schlag und trieb ihm weitere<br />

Tränen aus den Augen. Eine schlimmere Erniedrigung konnte er sich im Moment nicht vor-<br />

stellen. Unvermittelt hörte er Carries Stimme. Kalt, streng.<br />

„Wenn ihr das so lustig findet, könnten wir das Gleiche mal mit einem von euch machen.<br />

Bei nächster Gelegenheit lasse ich Shawn jemandem von euch einen Orgasmus verpassen,<br />

wäre mal etwas Neues, oder was meint ihr?“ Erschrocken hörte Shawn Teresa antworten:<br />

„Hey, war nicht so gemeint!“ Erneut ertönte Carries Stimme, kein bisschen lauter, aber<br />

klirrend vor Kälte:<br />

„Doch, das war es, darum werdet ihr drei Witzfiguren nie gute Doms werden! Ver-<br />

schwindet, für heute ist Schluss.“ Sekunden später klappte eine Tür.<br />

*****<br />

„Das war das erste Mal, dass Carrie die anderen vor mir getadelt hat. Wobei ich sicher bin,<br />

das war vorgespielt, hinterher haben sie sich alle über mich lustig gemacht.“ Er seufzte leise.<br />

294


„Wenn ich darüber nachdenke, wie schnell ich nachher aufgehört habe, mich zu schämen ...<br />

Erschreckend, wie schnell man sich an Sachen gewöhnt, was?“ Er sah Kelly traurig an. „Da<br />

bin ich noch im Erdboden versunken, dass ich vor den anderen einen Orgasmus hatte.“ Er<br />

lachte resigniert. „Später war es normal, eine Reaktion wie ... Schwitzen. Carrie hat es zwar<br />

am häufigsten geschafft, aber als ich resignierte, haben es auch Brett, Teresa, Karen und Alan<br />

geschafft. Das ist so erbärmlich.“ Er schaute zu Boden und fuhr sich fahrig mit der Hand über<br />

die Augen. „An dem Tag war ich so froh, dass es nicht bei Brett passiert ist ... Ich glaube,<br />

dann wäre ich vom Turm gesprungen.“ Er schniefte leise. „Als ich die Bartstoppeln fühlte ...<br />

Du hast keine Vorstellung, wie es war, da so demütigend gefesselt zu liegen und sich von<br />

einem Mann einen Blasen lassen zu müssen, ohne das Geringste machen zu können. Und das<br />

Schlimmste war, dass er es fast geschafft hätte. Diese Haltung, den Unterleib so in die Höhe<br />

gereckt ... Ich hatte das Gefühl, wenn mein Penis reden könnte, er hätte abwechselnd aufhören<br />

und weiter machen gerufen. Bei Teresa und Karen hatte ich keine großen Probleme, bei Brett<br />

... Ausgerechnet bei ihm ... erheblich mehr. Und Carrie ... Gott, sie wusste, was sie tat, und die<br />

Haltung hat mir da den Rest gegeben.“ Als er daran dachte, wie erregend es gewesen war,<br />

spürte er heute noch heiße Wellen durch seinen Körper schießen. Doch als er an die Lästerei-<br />

en dachte, an die gemeinen Kommentare, während sich Karen, Teresa und Brett abgemüht<br />

hatten, ihn zu erregen, verging ihm schnell jedes positive Gefühl. Leise sagte er: „Vermutlich<br />

hat Carrie später am lautesten gelästert.“<br />

Bisher hatte Kelly still zugehört. Als Shawn verstummte und trübsinnig vor sich hinstarrte,<br />

sagte sie liebevoll:<br />

„Weißt du, mit der Scham ist es so eine Sache. Man kann da schnell abstumpfen. So ist es<br />

kein Wunder, dass dir das alles nicht mehr peinlich war. Eine natürliche Reaktion, weder er-<br />

staunlich noch erschreckend. Du musstest die ganze Zeit nackt herumlaufen, es gab schnell<br />

nichts mehr zu verbergen. Und dass sie dich auf der Bühne bearbeitet haben, trug dazu bei,<br />

dass du abstumpftest. Sie hatten alles gesehen, was hattest du noch zu verbergen? Für dich<br />

zählte ab einem bestimmten Punkt nur noch das Überleben, alles andere war nebensächlich.<br />

Du hast das getan, was du tun musstest, um das alles zu überstehen. Und zum Thema Erre-<br />

gung sage ich jetzt nicht noch mal das Gleiche. Ich habe es dir ausführlich erklärt, warum du<br />

Erregung nicht verhindern konntest. Brett ... Dass er es fast geschafft hätte, ist kein Wunder,<br />

Shawn. Er ist ein Mann! Wer anders als ein Mann könnte besser wissen, wie sich was wo an-<br />

fühlt bei einem Mann? Keine Frau kann das je fühlen. Sowenig, wie ihr fühlen könnt, was wir<br />

bei Berührungen an welchen Stellen empfinden. Er benötigte keine Versuche, er wusste so-<br />

fort, wie er dich wo berühren muss, um ein Höchstmaß an Erregung hervor zu rufen. Nur<br />

noch du selbst weißt besser, was du machen musst, um dich in Stimmung zu bringen.“<br />

295


Shawn leuchteten Kellys Worte sofort ein. Über diesen Aspekt hatte er bislang noch nicht<br />

nachgedacht. Selbstverständlich hatte sie Recht! Wer anderes als ein Mann sollte wissen, wo<br />

ein Mann erogene Punkte hatte? Wer war besser geeignet, jemandem beim Sex die höchste<br />

Erregung zu verschaffen als ein gleichgeschlechtlicher Partner? Nur der oder die konnte<br />

nachempfinden, was der Partner empfand. Darum hatten Brett und Alan so gerne Abbindspie-<br />

le betrieben. Sie wussten, wie weh Derartiges tat. Warum nur hatte er nicht früher daran ge-<br />

dacht? Klar, weil er zu sehr damit beschäftigt gewesen war, sich zu verachten, dass Brett ihm<br />

später unglaublich erregende Orgasmen verschafft hatte. Shawn sah Kelly an.<br />

„Du hast Recht! Du hast keine Ahnung, wie mir das, was du gerade gesagt hast, hilft. Ich<br />

habe nie darüber nachgedacht, dass selbstverständlich nur ein Mann nachempfinden kann,<br />

was ein Mann empfindet. Ich habe mich so sehr gehasst dafür, dass Brett und Alan es ge-<br />

schafft haben, aber logischerweise haben sie das beste Insiderwissen, das man sich denken<br />

kann. Kelly, ich ... Danke!“ Er richtete sich auf und nahm die junge Frau fest in die Arme.<br />

„Danke!“ wiederholte er noch einmal leidenschaftlich. Und Kelly hatte endlich das Gefühl, in<br />

Sachen Schuldgefühle bei Shawn soeben einen großen, entscheidenden Schritt gemacht zu<br />

haben.<br />

Nach einer Weile ließ Shawn die Therapeutin los und legte sich hin. Leise sagte er:<br />

„Weißt du, es hat mich derart belastet, dieses Gefühl, womöglich homosexuelle Tendenzen zu<br />

haben, dass ich mich für meine Erregung bei Brett und Alan wirklich gehasst habe. Ich bin<br />

ehrlich, ich habe kein Problem mit gleichgeschlechtlicher Liebe bei Frauen, aber die Vorstel-<br />

lung, als Mann ...“<br />

Er schnaufte verlegen. Kelly hatte ihre Streichelbewegungen durch Shawns Haare wieder<br />

aufgenommen, eine normale Handbewegung. Sie merkte es gar nicht mehr, wenn sie ihn auf<br />

diese Weise liebkoste. Ruhig sagte sie:<br />

„Es ist schade, dass Homosexualität unter Männern von Heterosexuellen noch mit derart<br />

viel Abneigung und zum Teil Ekel beäugt wird. Liebe ist etwas so unendlich Wichtiges und<br />

Wertvolles für uns Menschen, da sollte es nicht mit einem Makel behaftet sein, wer wen liebt.<br />

Statistiken beweisen, dass homosexuelle Paare, egal, welchen Geschlechts, viel liebevoller<br />

und verständnisvoller miteinander umgehen und die Beziehungen prozentual gesehen, stabiler<br />

sind als die Beziehungen Heterosexueller. Frauen finden die Vorstellung, eine andere Frau<br />

sexuell zu lieben, nicht annähernd so anstößig wie Männer dies in Bezug auf die Liebe zwi-<br />

schen Männern tun.“<br />

„Da magst du Recht haben. Wenn man im Kino oder Fernsehen mal eine Szene sieht, in<br />

der zwei Frauen intim sind, finde ich das schön, bei Szenen mit Männern, wie zum Beispiel in<br />

‘Brokeback Mountain‘ ... Ich habe die ganze Zeit nur gedacht, dass ich zu solchen Szenen<br />

nicht fähig wäre. Ledger und Gyllenhaal haben da eine Glanzleistung hingelegt, die Ihresglei-<br />

296


chen sucht.“ Er verstummte kurz. Dann meinte er bedrückt: „Okay, ich hatte so was dann ja in<br />

der Realität ...“<br />

24) Lektion in Sachen Hingabe<br />

Lang ist der Weg durch Lehren, kurz und wirksam durch Beispiele.<br />

Lucius Annaeus Seneca<br />

Die Nacht verging ohne Zwischenfälle, Shawn schlief wie ein Baby. Die Last, die Kelly<br />

ihm unbewusst von den Schultern genommen hatte, machte dies möglich. Sicher zu wissen,<br />

dass er weder schwul noch abartig war und die Erkenntnis, warum es Brett und Alan möglich<br />

gewesen war, ihn so zu erregen, ließ ihn entspannt schlafen. Als er am Morgen aufwachte,<br />

war er allein im Zelt. Einen Moment starrte er geistesabwesend und verschlafen auf den lee-<br />

ren Schlafsack neben sich. - Kelly - Er merkte gar nicht, dass seine Rechte sich selbstständig<br />

machte und auf dem zweiten Schlafsack nach Restwärme von Kellys Körper tastete. Als er es<br />

merkte, zog er die Hand erschrocken zurück und biss sich auf die Lippe bis es schmerzte.<br />

Frustriert erhob er sich und krabbelte aus dem kleinen Zelt. Es war unglaublich warm. Kelly<br />

stand unter der Brause des Duschsacks und rief Shawn fröhlich zu:<br />

„Guten Morgen! Herrliches Wetter!“<br />

Der junge Mann grunzte genervt. „Ja, wunderschön heiß ...“ Er drehte sich herum. Das<br />

Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war Kellys Anblick unter der Dusche. Im Schneidersitz<br />

ließ er sich am Lagerfeuer nieder und löffelte tranig löslichen Kaffee in einen bereitstehenden<br />

Becher. Im Kessel kochte noch genug Wasser und auf einem Teller neben dem Feuer lagen<br />

Sandwiches mit Käse. Shawn seufzte leise. Kelly sorgte mit einer solchen Selbstverständlich-<br />

keit für ihn, dass er es gar nicht mehr bemerkte. Es kam beiden völlig normal vor. Grade kam<br />

die Therapeutin an das Feuer und fragte:<br />

„Na, hast du gut geschlafen?“ Sie hatte ein Handtuch in der Hand und rubbelte sich noch<br />

die Haare trocken.<br />

„Ja, habe ich.“ Er sah Kelly an. „Danke fürs Frühstück.“<br />

Die junge Frau lachte. „Gerne. Ich bin schon eine Weile auf, der Sonnenaufgang heute<br />

Morgen war einmalig schön.“ Sie setzte sich zu ihm und griff nach ihrer Tasse. Die Ange-<br />

wohnheit, den Kaffee kalt werden zu lassen veranlasste Shawn fast jeden morgen dazu, ange-<br />

widert das Gesicht zu verziehen.<br />

„Du und dein lauwarmer Kaffee.“<br />

Zwanzig Minuten später hatten sie das Lager abgebaut und die Sachen ins Auto verfrach-<br />

tet. Kelly hatte gedrängt, da es mit jeder Minute heißer wurde. Shawn atmete erleichtert auf,<br />

als sie im Wagen saßen und die Air Condition lief.<br />

297


„Kann es sein, dass es jeden Tag wärmer wird?“, fragte er besorgt.<br />

„Kommt mir im Moment auch so vor.“, erwiderte sie. „Zum Glück haben wir die nächs-<br />

ten Tage keine großen Aktivitäten auf dem Plan. Es wird eine anstrengende Fahrerei werden.“<br />

„Bin ich nicht böse drum.“, erklärte Shawn überzeugt.<br />

Sie konnten an diesem Tag einer schmalen Piste folgen und kamen so gut voran. Nachdem<br />

sie am frühen Nachmittag ungefähr 35 Kilometer geschafft hatten, blieb das Buschland hinter<br />

ihnen zurück und machte einem sandigen Wüstengebiet Platz. Nur noch vereinzelt wuchsen<br />

kärgliche Bäume und kleine Spinifexbüsche.<br />

„Wow, das ist aber trostlos hier.“, staunte Shawn und sah fasziniert aus dem Fenster.<br />

„Ja, das ist australische Wüste.“, stimmte Kelly zu. „Wir werden bald den Lake Lewis er-<br />

reichen, von dort ist es nicht mehr weit bis Tilmouth Well. Wenn wir Glück haben und nicht<br />

zu viele Trucker dort sind, bekommen wir eine Cabin für die Nacht.“<br />

„Eine was?“<br />

„Eine Cabin. Das sind einfache Unterkünfte aus starkem Wellblech, aber oft überraschend<br />

nett eingerichtet. Sie sind billiger als richtige Motels. In Tilmouth Well gibt es zehn Stück.<br />

Sie haben Air Condition!“ Kelly grinste. Draußen waren es laut Auto-Thermometer 46 Grad.<br />

Shawn grinste ebenfalls.<br />

„Wir nehmen eine. Falls alle besetzt sind, werfen wir Gäste raus, was meinst du?“<br />

Kelly lachte. „Du wirfst, ich besetze!“<br />

Sie fuhren eine Weile schweigend weiter, dann deutete die junge Frau nach vorne.<br />

„Dort hinten, da ist Lake Lewis.“ In einiger Entfernung schimmerte es weiß in der roten<br />

Einöde. Sie fuhren zügig weiter und standen schließlich am Ufer des großen Salzsees. Die<br />

weiße Kruste zog sich kilometerweit in die Wüste hinein.<br />

„Wollen wir einen Augenblick aussteigen?“, fragte Kelly.<br />

„Ja, gerne, ich habe schon immer davon geträumt, gebacken zu werden ...“, meinte Shawn<br />

ironisch.<br />

„Jammerlappen!“, lästerte Kelly lachend und stieg aus. Die Hitze wirkte wie ein Schlag.<br />

Selbst die Therapeutin, der es normalerweise nicht viel ausmachte, musste erst einmal durch-<br />

atmen. Nichts bot hier Schatten. Der Boden schien zu glühen und das Weiß der Salzkruste<br />

flimmerte in der sengenden Sonne. Shawn kniff geblendet die Augen zusammen.<br />

„Mein Gott, ist das unerträglich heiß.“, stöhnte er.<br />

„Ist es. Zu warm für die Jahreszeit. Hoffen wir, dass es nicht so bleibt.“ Sie entfernten sich<br />

nur wenige Schritte vom Wagen, Shawn machte einige Fotos und schon eilten sie zum Auto<br />

zurück. Aufatmend schlug Shawn die Beifahrertür zu.<br />

„Man, unglaublich!“, stöhnte er und wischte sich Schweiß von der Stirn. „Wie lange über-<br />

lebt man so was draußen?“ Kelly warf den Wagen an und erklärte:<br />

298


„Die Aborigines halten das aus und die weißen Outbackfarmer ebenso. Aber wenn man es<br />

nicht gewohnt ist, bist du da draußen nach einem Tag am Ende. Ohne ausreichende Wasser-<br />

mengen bist du binnen vierundzwanzig Stunden tot.“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Ein schönes Land, Australien.“ Er lachte. Kelly sah ihn an<br />

und meinte:<br />

„Was denn? So zimperlich, nur, weil es heiß ist und es hier ein paar mehr Viecher gibt, die<br />

dich killen könnten, als irgendwo anders? Wir haben doch nur die zehn giftigsten Schlangen<br />

hier bei uns. Das ist doch nun wirklich nicht so schlimm. Gut, fünf andere Tierarten, die Wür-<br />

felqualle, der Blauringkrake, die Trichternetzspinne, der Steinfisch und eine Zeckenart, sind<br />

natürlich ebenfalls tödlich giftig für uns Menschen. Ach, und bevor ich die vergesse: Wenn du<br />

am Strand mal eine hübsche Kegelschnecke aufhebst, wirst du schnell merken, dass die klei-<br />

nen Mistviecher darauf nicht nur verblüffend flink und ziemlich genervt reagieren, sondern<br />

obendrein auch sehr giftig sind. Und selbst wenn du nicht plötzlich und unerwartet zu Tode<br />

gestochen oder gebissen wirst, besteht ja noch die Möglichkeit, von Haien oder Krokodilen<br />

lebendigen Leibes gefressen zu werden. Naja, du kannst natürlich auch dabei umkommen,<br />

wenn du mutterseelenallein durchs brütend heiße Outback taumelst.“ Kelly lachte bei ihrer<br />

Aufzählung. „Du hast Recht, das klingt alles nicht einladend.“<br />

„Du hast die Redback vergessen.“, schnaufte Shawn schmunzelnd.<br />

„Ach, die Süße ... Naja, ich will dich ja nicht komplett verunsichern.“<br />

Vor ihnen tauchte eine recht breite Sandpiste auf.<br />

„Oh, Zivilisation!“, meinte Shawn lachend. Mit einigen Hüpfern überwand der Gelände-<br />

wagen den hohen Straßenrand und Kelly steuerte nach links.<br />

„Das ist die Tanami Road. Sie ist nur in Bereichen von Roadhouses geteert. Sie ist gute<br />

1.000 Kilometer lang und führt vom Stuart Highway nördlich von Alice quer durchs Outback<br />

nach Halls Creek, wo sie auf den Highway 1 trifft, den Great Northern Highway. Sie ist die<br />

kürzeste Verbindung zwischen Alice und der Kimberley 18 Region. Früher wurden hier Rinder<br />

von den McDonnell Ranges nach Halls Creek getrieben. Das war ein Weg von über 750 Ki-<br />

lometern. Eine Qual für Mensch und Tier.“<br />

Shawn schüttelte ungläubig den Kopf. „Was die früher auf sich nehmen mussten, um ihre<br />

Rinder zu verkaufen, ist Wahnsinn. Denke nur mal an den Chisholm Trail von Texas nach<br />

Abilene. Das waren gute 800 Kilometer und es wurden im Laufe der Jahre an die fünf Millio-<br />

nen Rinder, die so nach Kansas gelangten.“<br />

Kelly nickte. „Ja, das waren mörderische Touren, die die Züchter auf sich nahmen, um gu-<br />

te Preise für ihr Vieh zu erhalten. Heute werde die Tiere per Truck zu den riesigen Schlacht-<br />

18 Kimberley ist eine von neun Regionen in Western Australias. Sie liegt im Norden des Bundesstaates und wird im Norden durch die Timorsee,<br />

im Westen durch den indischen Ozean, im Süden durch die Große Sand- und Tanamiwüste und im Osten durch das Northern Territory<br />

begrenzt. Die Gesamtfläche beträgt 424.517 km2.<br />

299


höfen geschafft, gerade bei diesen heißen Temperaturen ist auch das eine Tortur.“ Kelly deu-<br />

tete nach vorne. „Siehst du, da beginnt der Asphalt.“ Tatsächlich wurde kurz vor ihnen das<br />

Rot der Straße von grauem Belag abgelöst. Kurz darauf sahen sie die Gebäude des Roadhouse<br />

vor sich auftauchen.<br />

Minuten später stieg Kelly aus und eilte in die Anmeldung des Campgrounds und der Ca-<br />

bins. Strahlend kam sie mit einem Schlüssel in der Hand zum Wagen zurück.<br />

„Hat geklappt. Heute Nacht werden wir es angenehm kühl haben.“ Sie fuhr die paar Meter<br />

zu den Cabins hinüber und hielt den Wagen vor der Nummer 6 an. „Trautes Heim, Glück al-<br />

lein.“, erklärte sie grinsend.<br />

„Haben die Duschen?“, fragte Shawn und stieg zusammen mit Kelly aus. Sofort fiel die<br />

Hitze wie eine Glocke über sie her. Sie griffen sich die Rucksäcke und betraten die Unter-<br />

kunft. Der kleine Raum war zweckdienlich und gepflegt eingerichtet. Zwei kleine Stühle und<br />

ein Tisch, Doppelbett und ein kleines Bad. Shawn warf den Rucksack achtlos auf den Boden<br />

und ließ sich aufs Bett fallen.<br />

„Ich gehe nie mehr raus!“, schnaufte er.<br />

„Na gut. Ich sage deinen Eltern dann, wo sie dich zukünftig finden können, okay?“ Kelly<br />

ließ sich neben ihm auf das Bett sinken. Sie schaltete ein Radio ein, das auf dem Nacht-<br />

schrank stand und sah auf ihre Armbanduhr. Kurz vor 17 Uhr. „Gleich gibt es Nachrichten,<br />

mal sehen, was der Wetterbericht meint.“ Sie warteten, erfuhren Neuigkeiten aus der Welt<br />

und am Ende kam der Wetterbericht.<br />

„... das heiße Wetter wird uns noch einige Tage erhalten bleiben. Die Höchstwerte morgen<br />

werden bei 47 Grad liegen. Viel zu heiß für die Jahreszeit. Aus einigen Gebieten werden erste<br />

kleine Buschfeuer gemeldet. Für die kommenden Tage erwarten wir keine geänderten Tempe-<br />

raturen. Erst am Wochenende soll es kühler werden. Der Wind weht leicht aus Nordwesten<br />

und sorgt nicht für Abkühlung. Am Freitag frischt er auf und dreht nach Süden.“<br />

Kelly schaltete das Radio aus und seufzte. „Das ändert meinen Plan. Ich denke, wir sollten<br />

bei diesen Temperaturen nicht draußen im Outback bleiben. 5 Kilometer nördlich beginnt eine<br />

gut befahrbare Stock Route, die knappe 80 Kilometer weiter auf den Stuart Highway trifft.<br />

Von dort sind es noch ungefähr 15 Kilometer bis Aileron, einem kleinen Kaff am Highway.<br />

Dort können wir übernachten. Diese Temperaturen werden selbst mir im Zelt zu viel.“<br />

Shawn seufzte dankbar. „Das klingt nach einer guten Idee.“ Er setzte sich auf. „Ich werde<br />

mal die Dusche inspizieren, wenn es dir Recht ist.“<br />

„Ja, geh nur, ich werde mal gucken, ob ich einen Tisch im Restaurant reserviert bekom-<br />

me.“ Sie verschwand nach draußen und eilte im Schutz des Gebäudes zurück zur Anmeldung.<br />

Minuten später saß sie an einem Telefon und wählte die Nummer von Shawns Eltern. Der<br />

Anrufbeantworter lief, es war in Florida mitten in der Nacht.<br />

300


„Ich bin es, Dr. Jackson. Wir mussten aufgrund der Witterung hier unsere Pläne ändern<br />

und werden früher in Tennant sein. Ich denke, wir werden für die verbleibenden Kilometer<br />

ungefähr eine Woche brauchen. Es tut mir sehr leid, dass ich Sie damit unter Druck setze. Ich<br />

werde morgen Abend anrufen und hoffe, dass Sie es trotzdem einrichten können. Bye.“ Kelly<br />

legte auf und bezahlte das Telefonat an der Rezeption. „Wie sieht es mit Abendbrot aus, müs-<br />

sen wir einen Tisch bestellen?“ Die junge Frau an der Anmeldung schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, so viele Gäste sind nicht hier. Ihr könnt ab 18 Uhr zu Essen bekommen.“ Kelly be-<br />

dankte sich und eilte zu Shawn zurück. Dieser kam gerade mit einem Handtuch um die Hüf-<br />

ten aus dem Bad und erklärte:<br />

„Das ist um einiges angenehmer als der Duschsack.“ Er ließ sich auf das Bett fallen und<br />

genoss die kühlen Temperaturen im Raum.<br />

„Ja, das ist es. Ich werde das selbst mal ausprobieren. Essen für heute Abend ist klar.<br />

Möchtest du vor dem Abendbrot noch spazieren gehen?“ Sie lächelte unschuldig. Shawn ver-<br />

zog das Gesicht und griff nach einem der Kopfkissen. Blitzschnell warf er dies nach Kelly.<br />

Lachend flüchtete die junge Frau ins Bad und rief:<br />

„Ich deute das als ein Nein!“<br />

Eine Stunde später marschierten Kelly und Shawn ins Restaurant hinüber. Die Auswahl<br />

war nicht groß, es gab Steaks oder Rinderbraten. Aber das Essen war hervorragend und reich-<br />

lich. Satt und zufrieden schob Shawn den Teller zurück und seufzte.<br />

„Das war eines der besten Steaks die ich je gegessen habe.“<br />

Kelly stimmte ihm zu. „Ja, das war hervorragend. Ich platze gleich. Wollen wir uns noch<br />

ein wenig bewegen? Wenigstens ein kleines Stück gehen?“ Da die Sonne untergegangen war,<br />

war Shawn einverstanden. So machten sie sich auf den Weg, nachdem sie sich kleine Ta-<br />

schenlampen aus ihrem Wagen geholt hatten. Im Stockdunklen blieben sie auf der Straße.<br />

Kelly erklärte:<br />

„Du musst auf dem Asphalt sehr darauf achten wohin du trittst, okay. Schlangen liegen in<br />

der Nacht gerne auf Asphalt, weil er die Wärme speichert. Sie sind dann unglaublich agil.<br />

Also, schön aufpassen!“<br />

Sie marschierten eine Stunde lang stramm auf der Tanami Road. Deutlich ausgeglichener<br />

kamen sie am Roadhouse an und nahmen sich eine kalte Cola aus dem kleinen Kühlschrank.<br />

Wenn auch die Sonne fort war, herrschten noch immer Temperaturen um die 30 Grad. Er-<br />

leichtert setzten sie sich auf die überdachte Veranda und tranken ihre Cola. Kelly fragte leise:<br />

„Magst du weiter erzählen? Was geschah, nachdem Carrie die Anderen raus gejagt hatte?“<br />

Shawn lehnte den Kopf zurück und sah zu den Abermillionen Sternen hinauf. Er schwieg eine<br />

Weile, dann seufzte er.<br />

„Klar, zurück in die Hölle.“<br />

301


sagte:<br />

*****<br />

Shawn spürte, wie seine Hände befreit wurden und Carries Stimme, sanft und liebevoll,<br />

„Komm langsam hoch, sonst kriegst du noch einen Bandscheibenvorfall.“ Er fühlte ihre<br />

zarten Hände in seinen und hielt sich fest, ließ sich langsam in eine sitzende Position ziehen.<br />

Ihm wurde schwindelig, zu lange hatte er mit dem Kopf nach unten gelegen. Aber das verging<br />

schnell und Carrie fragte ruhig:<br />

„Geht es?“ Er nickte. Er wünschte sich weg von hier, sogar den Strafbock und den Rohr-<br />

stock hätte er vorgezogen. Aber Carrie hatte andere Vorstellungen. Sie spürte, dass Shawn<br />

einen Absturz hatte. Er war psychisch am Ende. Der erzwungene Orgasmus und die lästern-<br />

den Worte Karens hatten ihm mehr zugesetzt als alles andere bisher. Sie beeilte sich, seine<br />

Füße loszumachen, dann zog sie ihn auf die Beine.<br />

„Komm, lass uns hier verschwinden, für heute langt es.“ Sie legte ihm einen Arm um die<br />

Taille und zog ihn fest an sich. Er hatte noch die Augenbinde um und so musste er sich auf<br />

Carries Führung verlassen. Sie hatte keine Einwände, als er zögernd einen Arm um sie legte.<br />

Durch einen zusätzlichen Ausgang direkt aus dem Keller führte sie ihn an den Strand hinun-<br />

ter. Neben der Tür lag eine kleine Pressluftflasche mit Schlauch und Mundstück, diese griff<br />

sich Carrie im Vorbeigehen. Sie begegneten keinem der Anderen und das war gut so.<br />

Als sie am Strand angekommen waren, legte Carrie Shawn die Hände auf den Rücken und<br />

ließ die Haken einrasten. Sie führte ihn zum Wasser und sagte:<br />

„Warte kurz.“ Schnell entkleidete sie sich, griff nach der Pressluftflasche und trat zu ihm.<br />

Erneut legte sie einen Arm um ihn und er ließ sich ins Wasser führen. Nichts sehen zu können<br />

war mehr als beängstigend und Shawns Herz raste. Er war so fertig, wollte nur noch seine<br />

Ruhe haben und nie mehr den Anderen unter die Augen treten! Warum konnte Carrie ihn<br />

nicht in Ruhe lassen? Als er rapide den Boden unter den Füßen verlor, war er diesmal so<br />

überrascht, weil er mit den Gedanken weit weg gewesen war, dass ihm unwillkürlich ein er-<br />

schrockener Aufschrei entfuhr, der gleich darauf von in seinen Mund eindringendem Wasser<br />

erstickt wurde. Wie rasend hämmerte sein Herz, doch schon waren Carries Arme da, die ihn<br />

nach oben zogen. Panisch zappelte er und keuchte vor Angst, aber sie sagte ruhig:<br />

„Hey, wenn du so zappelst kann ich dich nicht halten, Schatz. Du solltest ruhig bleiben,<br />

unter uns geht es tief runter.“ Shawn hustete Wasser aus, dann konzentrierte er sich auf Car-<br />

rie und darauf, dass sie bei ihm war, ihn hielt. Er wurde ruhiger und ergab sich erneut. Da-<br />

durch, dass er nichts sehen konnte, war er ihr diesmal noch viel mehr ausgeliefert. Noch<br />

hämmerte sein Herz gegen seine Rippen und Carrie spürte, dass seine gefesselten Hände<br />

zuckten, doch er entspannte langsam. Sie musste ihm noch einmal deutlich machen, dass sie<br />

302


da sein würde, ihn aufzufangen, und er, solange sie da war, keinen Grund hatte, sich für ir-<br />

gendwas zu schämen. Darum wollte sie nach einer drastischen Methode greifen.<br />

„Hör zu, mein Schatz, du hast noch zu große Schwierigkeiten, dich damit abzufinden, dass<br />

uns dein Körper gehört. Du brauchst dich für nichts zu Schämen, denn wir bestimmen, was<br />

mit dir geschieht. Du kannst absolut nichts tun und machst es dir nur unnötig schwer, wenn<br />

du dich wehrst. Karen, Teresa und Brett werden dich für deinen Widerstand schwer strafen,<br />

sie sind verärgert. Einen technischen Gegenstand, der sich einem widersetzt, wirft man auf<br />

den Müll. Aber einen Sklaven, der sich widersetzt, was glaubst du, was mit dem passiert? Ich<br />

kann sie nicht davon abhalten, dich furchtbar zu betrafen, verstehst du? Sie sind zu gleichen<br />

Teilen an dir beteiligt, selbst wenn ich deine Besitzerin bin. Ich bremse sie oft genug, das<br />

kann ich nicht immer machen. Sie haben das Recht, deinen Körper zu besitzen, so, wie ich es<br />

habe.“ Sie hielt Shawn sicher in ihren Armen und sah es in seinem Gesicht trotz der Augen-<br />

binde heftig arbeiten. „Wenn du nicht volles Vertrauen zu mir aufbringst, wirst du dich nie<br />

damit abfinden, dass du uns gehörst. Ich kann die Drei eher bremsen, wenn du dich nicht<br />

wehrst, verstehst du? Du musst dich hundertprozentig in meine Hände legen. Nur dann funk-<br />

tioniert das Spiel. Ich werde dir etwas antun, was ich nur für den Notfall geplant habe. Der ist<br />

eingetreten. Du bist mir ausgeliefert, dass muss dir ein für alle Mal klar werden, verstan-<br />

den?“ Sie spürte den Körper in ihren Armen zittern, hörte sein hektisches Atmen und dann<br />

nickte er zaghaft.<br />

„Wir werden abtauchen und du wirst merken, dass dein Körper mir gehört.“ Ohne Vor-<br />

warnung schlug das Wasser über Shawn zusammen. Er zwang sich, ruhig zu bleiben. Bald<br />

spürte er Grund unter den Füßen. Und glaubte, in einem Albtraum gefangen zu sein. Seine<br />

Hände stießen gegen etwas Hartes im Wasser und er spürte mit wachsendem Entsetzen, wie<br />

die Fesseln an etwas Metallenes gehängt wurden. Er war unter Wasser fixiert! Im ersten Im-<br />

puls begann er, fast rasend vor Angst, an den Fesseln zu zerren. Dabei verbrauchte er viel zu<br />

viel wertvolle Luft. Er spürte Carries Körper nicht mehr. Sein Herz schien fast seine Brust zu<br />

sprengen, so heftig schlug es. Er brauchte Luft! Und dann war ein Mundstück zwischen sei-<br />

nen Lippen und er biss in seiner Panik fest darauf und sog den lebensrettenden Sauerstoff ein.<br />

Zwei, drei Mal atmete er tief durch. Doch schon wurde ihm das lebensrettende Teil entzogen.<br />

Erneut überrollten ihn Wogen der Panik. Er sah nichts, er konnte sich nicht befreien, er konn-<br />

te nicht atmen! Plötzlich wurde ihm so überwältigend deutlich klar, dass er nur noch durch<br />

Carrie lebte, dass dieses Gefühl alles andere verdrängte. Er war nichts, nichts außer einem<br />

Spielzeug, das man aus der Ecke holte, sich damit befasste und ins Regal zurückstellte. Wenn<br />

das Spielzeug nicht funktionierte, wurde es entsorgt. Er hatte nicht das Recht, sich aufzuleh-<br />

nen. Er merkte kaum, dass das Mundstück zwischen seinen Zähnen steckte und er atmen<br />

303


konnte. Er wurde ruhig. Die Angst war weg. Carrie würde entscheiden, was mit ihm geschah.<br />

Sie hatte das Recht dazu. Er würde sich nicht mehr wehren!<br />

*****<br />

Kelly war einmal mehr überrascht, mit welch gnadenloser Präzession Carrie vorgegangen<br />

war, um Shawn dort hin zu bringen, wo sie ihn hatte haben wollen: als willenlosen Sklaven,<br />

der nur auf die Zuwendungen Carries wartete. Kelly nahm sich fest vor, mit der Frau zu spre-<br />

chen, wenn sie gefasst worden war. Aufgrund ihrer Tätigkeit hatte die Therapeutin die Mög-<br />

lichkeit, um Gespräche mit Tätern zu bitten. Sie hatte bereits einige Gewaltverbrecher, Ver-<br />

gewaltiger und Entführer interviewt. Es war für ihre Arbeit wichtig, die Denkweise dieser<br />

Menschen zu verstehen und nachzuvollziehen. Kelly traf sich nach solchen Gesprächen mit<br />

ihren Kollegen und teilte ihre Erkenntnisse mit diesen. Je tiefer es ihr möglich war, in die<br />

Psyche derartiger Verbrecher einzudringen, desto besser konnte sie ihren Patienten helfen. Sie<br />

schüttelte den Gedanken entschlossen ab und wandte ihre Aufmerksamkeit Shawn zu. Dieser<br />

hatte einige Minuten geschwiegen. Nun sagte er leise:<br />

„Weißt du, wenn ich heute darüber nachdenke, kommt mir das fast unwirklich vor. Da<br />

stand ich gefesselt, mit verbundenen Augen und fixiert unter Wasser und war auf Gedeih und<br />

Verderb Carries Entscheidung unterworfen. Hätte sie mich verrecken lassen, würde nie je-<br />

mand über meinen Verbleib erfahren haben. Unvermittelt wusste ich, dass alles, was sie tat,<br />

gut war ...“<br />

„Das war der letzte Anstoß, den du brauchtest, um dich zu ergeben. Bei aller Grausamkeit<br />

ist Carrie gut in dem, was sie macht. Sie hat dich Stück für Stück dahin manövriert. Kein chi-<br />

nesischer Umerzieher hätte die Gehirnwäsche besser hin bekommen. Ich vermute mal, sie hat<br />

dich noch am selben Tag erneut Bretts Versuchen ausgesetzt?“ Shawn nickte. Bedrückt setzte<br />

er seinen Bericht fort.<br />

*****<br />

Minuten später lag er ungefesselt und ohne Augenbinde im warmen Sand des Strandes,<br />

eng an Carrie angekuschelt, und spürte ihre Hand streichelnd auf seinem Rücken. Seine<br />

Rechte ruhte auf Carries flachem Bauch und liebkoste diesen unbewusst mit sanft streicheln-<br />

den Bewegungen. Er war glücklich und erleichtert. Was sie beschloss, mit ihm zu machen,<br />

würde er hinnehmen. Er schloss die Augen, um das Gefühl, dass ihn durchströmte, intensiver<br />

zu fühlen. Lange lagen sie dort, eng umschlungen, und Carrie war zufrieden. Sie hatte das<br />

Gefühl, den Durchbruch geschafft zu haben. Natürlich würde er weiterhin Angst haben, das<br />

war ja der Sinn der Sache. Aber er würde sich nicht mehr wehren. Was geschehen sollte,<br />

würde er akzeptieren. Einen solchen Absturz aus reinem Scham würde er nicht noch einmal in<br />

304


der Art haben, da war sie sich sicher. Sie würde noch heute Abend, nachdem sie ihn zwei<br />

Stunden einer demütigenden Fesselung ausgesetzt hatte, die Probe machen. Sie drehte sich in<br />

seinen Armen, sodass sie ihm ins Gesicht gucken konnte. Dann sagte sie:<br />

„Es wird langsam dunkel, wir müssen zum Haus zurück. Heute Abend steht noch einiges<br />

auf dem Programm.“ Ergeben stemmte Shawn sich auf die Beine und half Carrie hoch. Er<br />

klopfte sich den Sand vom Körper, drehte sich mit dem Rücken zu ihr und ließ sich die Hände<br />

fesseln. Carrie zog sich an, griff nach der Pressluftflasche und zusammen gingen sie zum<br />

Haus zurück. Shawn durfte in sein Zimmer, sie entfernte den Plug, dann hatte er dreißig Mi-<br />

nuten Zeit, sich frisch zu machen.<br />

„Ich hole dich ab.“, sagte sie und verschwand.<br />

Dreißig Minuten später war sie da und brachte ihn in den Salon, wo er auf dem Sklaven-<br />

hocker Platz nehmen musste. Diesmal wurden nur seine Beine gefesselt, Essen durfte er<br />

selbst. Es gab Steaks, Bohnen im Speckmantel und Kartoffeln. Sogar Wein durfte er Trinken.<br />

Zu Schweigen fiel ihm heute nicht schwer. Er war froh, dass er seinen Gedanken nachhängen<br />

konnte. Still und die Augen auf den Teller gerichtet, aß er das gute Steak. Nach dem Essen<br />

musste er sich ans andere Ende des Tisches legen. Seine Arme befestigte Carrie wie am<br />

Strand an dem Haken in seinem Nacken. Sie legte um beide Knie weiche Seile in einer Schlin-<br />

ge. Sie befahl ihm, die Beine anzuwinkeln und sie und Teresa schnürten weitere Seile stramm<br />

um seine angewinkelten Beine herum. Er konnte sie auf diese Weise nicht mehr ausstrecken.<br />

Zuletzt wurden die Beine mit den zuvor um seine Knie angelegten Seilen weit gespreizt. Die<br />

Seile wurden am Tisch befestigt und Carrie nickte zufrieden. Die Haltung führte schnell dazu,<br />

dass seine Füße einschliefen und es in seinen Oberschenkeln schmerzhaft zog. Um Schmerz-<br />

laute zu unterbinden bekam er zusätzlich einen Knebel zwischen die Zähne gedrückt. Wieder<br />

begannen die vier Freunde, in aller Ruhe Karten zu spielen. Diesmal durfte der jeweilige Ge-<br />

winner Shawn leichte Schläge mit der Riemenpeitsche auf die Schenkel geben. Da diese so<br />

extrem straff gedehnt waren, verursachten die verhältnismäßig verhaltenen Schläge ziemliche<br />

Schmerzen und Shawn schossen jedes Mal Tränen in die Augen. Nach zwei Stunden war die<br />

Tortur vorbei und Shawn wurde von den Fesseln befreit. Sie ließen ihm zehn Minuten Zeit,<br />

sich von der schmerzhaften Fesselung zu erholen, die er mehr als dringend brauchte. Carrie<br />

gab ihm sogar zu Trinken.<br />

Als Shawn sich erholt hatte, wurde er in einen angrenzenden Raum gebracht und sah sich<br />

um. Hier stand außer einem großen Bett mit Metallstreben und einer Anrichte sowie drei<br />

Stühlen kein weiteres Möbelstück. Carrie befahl ihm ruhig, sich auf das Bett zu legen und<br />

fixierte ihm selbst Hand- und Fußgelenke an die Bettstreben. Nicht stramm und die Beine ge-<br />

schlossen. Dann meinte sie:<br />

305


„Brett, du solltest noch einmal versuchen, ob du unserem Sklaven nicht Lust verschaffen<br />

kannst.“ Shawn hörte diese Worte und spürte, wie sich alles in ihm verkrampfte. Er schloss<br />

die Augen und atmete tief ein. Er würde sich nicht mehr wehren, soviel war sicher. Wenn es<br />

passierte, passierte es. Er wünschte sich nur, sie würden ihm die Augen verbinden. Aber den<br />

Gefallen taten sie ihm nicht. Er sollte es mitbekommen. Brett strahlte. Er kleidete sich aus und<br />

legte sich neben Shawn auf das Bett. Die drei Frauen machten es sich auf den Stühlen bequem<br />

und sahen interessiert zu. Brett ließ seine Linke liebkosend über Shawns Oberkörper gleiten<br />

und dieser spürte, wie sich eine Gänsehaut bei ihm bildete. Keine angenehme! Er schloss die<br />

Augen und bemühte sich verzweifelt, wegzudenken, dass es Brett war, der ihn streichelte.<br />

Krampfhaft dachte er an Carries Hände und Mund, die so perfekt wussten, wie sie ihn berüh-<br />

ren mussten. Er war sich sicher, dass er bei aller Ergebenheit nicht fähig sein würde durch<br />

Brett in Erregung zu geraten.<br />

Dieser ließ sich Zeit. Es war dem Homosexuellen klar, dass es für einen nicht schwulen<br />

Mann unglaublich schwer war, Berührungen von einem anderen Mann zu erdulden. Er wollte<br />

ihren Sklaven einfach nur befriedigen. So ließ er diesem Zeit, sich an den Gedanken zu ge-<br />

wöhnen, von einem Mann berührt zu werden. Brett liebkoste eine Weile nur Shawns Brust-<br />

warzen, bis er merkte, dass diese sich tatsächlich verhärteten. Shawn konnte es nicht fassen!<br />

Die zarten, stimulierenden Berührungen schossen bis in seine Lenden. Er spürte, dass sein<br />

Penis sich aufrichtete. Brett bemerkte das ebenfalls und war begeistert. Sofort wandte er seine<br />

Aufmerksamkeit Shawns Unterleib zu. Dieser wand sich in den Fesseln. Er begriff nichts<br />

mehr. Er wollte nur, dass Brett sich seiner annahm. Als er spürte, wie Lippen sich um seinen<br />

steifen, zuckenden Schwanz legten, keuchte er auf. Er dachte an die Analvergewaltigung und<br />

wurde augenblicklich noch geiler. Brett machte seine Sache gut. Er zögerte den Orgasmus<br />

nicht hinaus, sondern ließ Shawn kommen und dieser lag zuckend und keuchend da und<br />

brauchte Minuten, um runter zu kommen. Carrie sah zufrieden aus und sagte:<br />

„Sehen wir wohl, eine kleine Unterrichtsstunde in Sachen Hingabe hilft. Damit hat Shawn<br />

wohl einiges gut gemacht. Lasst uns Morgen weiter machen, okay.“ Die anderen hatten damit<br />

keine Probleme.<br />

*****<br />

„Das dachte ich mir. Diese Aktion war notwendig, sowohl, um dir zu beweisen, dass es<br />

keinen Ausweg für dich gab als die Aufgabe und um den Anderen zu beweisen, dass du ein<br />

guter Sklave sein kannst.“ Kelly hatte mit dieser Szenerie gerechnet.<br />

„Ja, sie musste mich testen und gleichzeitig den Beweis bringen, dass sie Recht hatte. Ich<br />

... hätte nie gedacht, dass er es schafft. Als ... als ich kam, da wusste ich, dass ich ... besiegt<br />

war. Es gab zwar Situationen, in denen ich letztlich doch ... puh, in denen ich Widerstand leis-<br />

306


tete, aber sie wurden schnell weniger. Ich hatte das Gefühl, einschließlich meines eigenen<br />

Körpers wären alle gegen mich, warum also noch wehren? Manche Dinge waren nicht weni-<br />

ger peinlich, aber ich konnte sowieso nichts machen, verstehst du? Es war egal, wie ich mich<br />

verhielt, was geschehen sollte, geschah auch ohne meine Zustimmung. Ich dachte mir, ich<br />

spare meine Kraft lieber, durchzuhalten ...“ Er schwieg einen Moment und meinte dann: „So<br />

konnte ich den guten Momenten dort etwas abgewinnen. Ich habe da resigniert.“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Du hast getan, was nötig war, um zu überleben. Wenn du dich<br />

weiter aktiv geweigert hättest, mitzuspielen, hätten sie dich tot geprügelt. Ich denke nicht,<br />

dass es für sie einen Unterschied gemacht hat, wie sie ihre Leichen hinterließen. Die meisten<br />

wurden ohnehin erst so spät gefunden, dass die Todesursache nicht mehr festzustellen war.“<br />

Shawn dachte kurz nach. „Ja, vermutlich stimmt das. Ich habe ab da nur noch für den ei-<br />

nen Moment gelebt, befriedigt zu werden, um in all dem Horror die schönen Minuten für<br />

mich zu haben. Es waren ohnehin wenig genug, es ging ihnen nicht darum, mich zu befriedi-<br />

gen, sondern in erste Linie sich selbst. Was ich empfand war ihnen herzlich egal. Ich glaube,<br />

sie haben mir nur Befriedigung verschafft, um mich bei der Stange zu halten. Sonst wäre ihr<br />

Spielzeug viel zu schnell untauglich geworden.“ Da war es wieder, dieses Gefühl, wertlos zu<br />

sein. Shawn hatte gedacht, dies hinter sich zu haben, doch nun brach es mit Macht über den<br />

jungen Mann herein. „Es ist ein Scheiß Gefühl, so wertlos für die gewesen zu sein.“, flüsterte<br />

er verzweifelt. „Ich dachte, da wäre ich drüber weg ...“ Hilflos schluchzte er auf. „Gerade<br />

wird es mir aber drastisch bewusst, wie oft mein Leben am seidenen Faden hing. Wenn ich<br />

nicht ... funktioniert hätte ... Sie hätten mich ohne mit der Wimper zu zucken umgebracht. Ich<br />

war ihnen vollkommen gleichgültig! Jederzeit austauschbar.“<br />

Kelly war klar gewesen, dass dieses Gefühl bei Shawn jederzeit wieder hatte aufbrechen<br />

können und gerade wurde sie in ihrer Meinung bestätigt. Sanft legte sie Shawn einen Arm um<br />

die zuckenden Schultern und erklärte:<br />

„Du warst ihnen gleichgültig, aber sie sind Geschichte für dich. Es kann dir heute egal<br />

sein, was sie von dir dachten, denn du bist jetzt bei Menschen, denen du viel bedeutest. Du<br />

stehst weit über Carrie und Co. Sie sind es, die unwichtig sind! Wichtig ist an ihnen nur noch,<br />

dass sie gefasst werden, damit sie hinter Gittern verschwinden, Shawn.“<br />

Shawn war krampfhaft bemüht, die Tränen zurückzudrängen. „Ich bedeute dir viel?“, frag-<br />

te er mit zitternder Stimme.<br />

- Mehr als du ahnst. - dachte Kelly frustriert. Laut sagte sie: „Natürlich tust du das! Du<br />

bedeutest vielen Menschen sehr viel. Das darfst du nie vergessen. Du bist ein sehr wertvoller,<br />

unglaublich liebenswerter Mensch. Carrie und ihre Freunde sind der Abschaum und ihren<br />

Vorstellungen, ihrer Gedankenwelt darfst du keine Aufmerksamkeit mehr widmen. Sie sind es<br />

nicht wert, dass du dir den Kopf darüber zerbrichst, was du ihnen bedeutet oder nicht bedeutet<br />

307


hast. Sie alle sind soziale Randerscheinungen, auf deren Meinung niemand Wert legt außer sie<br />

selbst. Sie sind so veranlagt, dass sie denken, die Welt und alles, was sich auf ihr befindet,<br />

würde sich nur um sie drehen. Sie werden im Gefängnis schneller als ihnen lieb sein dürfte<br />

merken, wie unangenehm es sein kann, wenn sich zu viel um sie dreht! Und du wirst am Ende<br />

Triumphieren!“<br />

Shawn atmete tief durch. „Ich möchte das so gerne glauben.“<br />

„Das kannst du! Du hast es in der Hand, verstehst du? Du hast dich entschieden, nicht den<br />

Kopf in den Sand zu stecken, egal, wie schmerzlich die Erinnerungen und Gefühle sein wer-<br />

den. Du hast den Kampf aufgenommen. Und du wirst ihn gewinnen, das darfst du nie verges-<br />

sen. Solche Rückschläge wie heute Abend können immer einmal auftreten, sie dürfen dich<br />

aber nicht hindern, weiter zu kämpfen. Ich habe es dir gesagt: Wichtig ist nicht, wie oft du<br />

fällst, sondern wie oft du aufstehst. Nur das zählt! Und du hast die Kraft und den Willen, ein-<br />

mal mehr aufzustehen als du gefallen bist.“ Kelly sah auf ihre Uhr. „Es ist spät, lass uns<br />

Schluss machen und schlafen gehen. Wenn wir es morgen bis Ti Tree schaffen wollen, müs-<br />

sen wir hier früh los.“<br />

25) Hot as hell<br />

Besser ist ein schneller Tod, als alle Tage schmachten unter Angst und Qual.<br />

Äschylus<br />

Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung, als Shawn von einem heftigen Albtraum ge-<br />

quält wurde, verlief die Nacht ruhig. Kelly hatte den Wecker auf 6 Uhr gestellt und um halb 7<br />

Uhr waren sie unterwegs. Die Sonne war aufgegangen und hing schon zu dieser frühen Ta-<br />

geszeit als heiß glühender Ball am Himmel. Auf der schmalen Schotterpiste war das fahren<br />

anstrengend und so wechselten Shawn und Kelly sich alle zwei Stunden ab. Gegen 15 Uhr<br />

hatten sie gute 73 Kilometer hinter sich gebracht.<br />

„Bis zum Highway sind es noch zirka 13 Kilometer, dann haben wir es geschafft.“, erklär-<br />

te Kelly. Gerade fuhren sie durch ein leicht hügeliges und stärker bewachsenes Gebiet, nach-<br />

dem die meiste Zeit des Tages karge Wüste um sie herum gewesen war.<br />

„Die Napperby Road, auf der wir uns hier gerade mehr schlecht als Recht vorwärts bewe-<br />

gen, stößt etwa 70 Kilometer südlich von Ti Tree auf den Highway. Wir haben also noch ei-<br />

nige Kilometer vor uns und werden erst verhältnismäßig spät dort eintreffen. Es gibt dort ein<br />

Motel, wenn wir viel Glück haben können wir ein Zimmer ergattern.“<br />

Shawn war einen Blick auf das Thermometer und schnaufte. „Hoffentlich!“ Die Außen-<br />

temperatur betrug 46 Grad. Auch Kelly hoffte auf einen klimatisierten Raum für die Nacht.<br />

Die derzeit vorherrschenden Temperaturen überschritten selbst ihr Wohlempfinden um eini-<br />

ges. Die Piste war hier besser in Schuss und so schafften sie die letzten Kilometer schnell. Als<br />

308


endlich das graue Band des Stuart Highway vor ihnen auftauchte, atmeten beide erleichtert<br />

auf.<br />

„Geschafft! Man, das war eine Höllentour.“, schnaufte Shawn. „Wahnsinn.“ Er drehte sich<br />

herum und sah nach hinten, dann nach vorne und fragte grinsend: „Könnt ihr euch keine Kur-<br />

ven leisten?“<br />

Kelly musste lachen. Wie mit einem Lineal gezogen lag die endlos scheinende Straße vor<br />

ihnen. „Sieht so aus.“, meinte sie vergnügt.<br />

Sie übernahm das Steuer, Shawn hatte die letzten zwei Stunden gefahren. Als sie Gas gab<br />

war es ein Gefühl, als wären sie viel zu schnell unterwegs.<br />

„Himmel, fahr nicht so schnell, mir wird schlecht.“, lachte Shawn.<br />

„Ja, kommt einem nach dem Gejuckel auf der Stock Road extrem schnell vor, was?“ Kelly<br />

sah auf den Tacho. „130, Wahnsinn.“ Gegenüber der üblichen 15 bis 20 Stundenkilometer auf<br />

den Outbackpisten kam es beiden vor, als flögen sie. Kelly stellte die Speed Control bei 135<br />

Stundenkilometer ein und machte es sich bequem. „Der Stuart Highway beginnt unten im<br />

Süden in Port Augusta. Dort treffen von Osten der Princes Highway und von Westen der Eyre<br />

Highway zusammen. Der Princes Highway kommt von Sydney und führt an der Küste ent-<br />

lang, 2.200 Kilometer, über Melbourne und Adelaide nach Post Augusta. Der Eyre Highway<br />

beginnt in Perth und ist 1.600 Kilometer lang. Und der Stuart Highway ist 2.800 Kilometer<br />

lang und verbindet Port Augusta und Darwin.“ „2.800 Kilometer geradeaus, ist eine Leis-<br />

tung.“, lästerte er vergnügt. Er hatte den Zusammenbruch am Abend zuvor gut überwunden.<br />

Für die verbleibenden Kilometer brauchten sie gute fünfzig Minuten. Dann tauchten vor<br />

ihnen Häuser auf und Kelly erklärte:<br />

„Willkommen in Ti Tree.“ Sie kamen am Ortsschild vorbei und Kelly zeigte darauf. „Wie<br />

du siehst, derzeitige Population 1.400, wobei die nicht alle im Ort leben, sondern sich auf elf<br />

Rinderfarmen in der Umgebung, sechs Aborigine Siedlungen, einigen Farmen und der Barrow<br />

Creek Community verteilen. Ti Tree ist ein wichtiges Zentrum der australischen Melonen-<br />

und Grapefruitzucht.“ Kelly steuerte beim Erklären das einzige Motel der Ortschaft an und<br />

sah besorgt viele Autos auf dem Parkplatz stehen. „Ich werde mal versuchen, ob wir Glück<br />

haben.“, meinte sie und stieg vor der Rezeption aus dem Wagen. Sie betrat das kleine Büro<br />

und grüßte die Angestellte freundlich. „Hey, bitte sagen Sie, dass noch ein Raum frei ist!“<br />

frei.“<br />

Die junge Frau am Tresen grinste. „Hallo. Ja, Sie haben Glück, es sind noch zwei Räume<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, jetzt nur noch einer.“ Sie bezahlte und erhielt den<br />

Schlüssel.<br />

„Raum 11, am Ende.“, erklärte die junge Frau und deutete vage nach links.<br />

309


„Vielen Dank.“ Gut gelaunt verließ Kelly die Anmeldung und schlenkerte mit dem<br />

Schlüssel. Sie deutete Shawn an, ihr zu folgen und dieser rutschte hinter das Steuer. Wenige<br />

Minuten später ließen sich beide nebeneinander auf das breite Doppelbett in einem gemütlich<br />

ausgestatteten, erstaunlich großen Zimmer fallen.<br />

„Ich glaube, das war der heißeste Tag, den ich je erlebt habe.“, meinte Shawn ächzend.<br />

Kelly hatte die Augen geschlossen und genoss die Kühle des Raumes. „Ja, war heftig. Und<br />

die Fahrerei war anstrengend. Wir waren...“ Sie rechnete kurz nach. „... elf Stunden unter-<br />

wegs, zehn davon auf Stock Roads. Ich bin platt.“<br />

Shawn nickte müde. „Ich auch.“ Er stemmte sich hoch und trat ans Fenster. „Die haben<br />

einen schönen Pool, wie wäre es mit ein paar Runden, bevor wir zum Essen gehen?“<br />

Mühsam richtete Kelly sich ebenfalls auf. „Ja, gerne, geh schon vor, ich rufe kurz bei Lau-<br />

ren an, dann komme ich nach.“ Shawn suchte im Rucksack nach seiner Badehose, kleidete<br />

sich um und verschwand nach draußen. Kelly griff zum Telefon und rief nicht Lauren, son-<br />

dern die McLeans an. Zwei Minuten später wusste sie Bescheid. Paul McLean hatte den Flug<br />

nach Alice umgebucht bekommen und so würden sie sich in sechs Tage in Tennant Creek<br />

treffen. Schnell schlüpfte Kelly in einen Bikini und eilte Shawn hinterher. Dieser zog seine<br />

Bahnen in dem großen Pool, in dem sich weiter kein Gast aufhielt. Kelly sprang vom Rand<br />

aus in das kühle Wasser und sie schwammen eine gute halbe Stunde. Gut gelaunt erklärte die<br />

junge Frau schließlich:<br />

„Ich habe Hunger, wollen wir langsam zusehen, dass wir etwas zu Essen auftreiben?“<br />

Shawn hatte keine Einwände. Ihm hing der Magen ebenfalls durch. „Gerne.“ Er stemmte<br />

sich geschmeidig aus dem Wasser und reichte Kelly die Hände, um ihr ebenfalls herauszuhel-<br />

fen.<br />

*****<br />

Nach dem Abendbrot, welches sie im Roadhouse zu sich nahmen, schlenderten sie noch<br />

eine Weile durch den kleinen Ort. Sie hatten das Bedürfnis, sich zu bewegen. Sie marschier-<br />

ten einmal um den ganzen Ort herum, dann waren sie total durchgeschwitzt und kehrten zum<br />

Motel zurück. Nacheinander duschten sie. Kelly gab aus der kleinen Bar eine kalte Cola mit<br />

viel Eis aus und erklärte:<br />

„Hoffentlich wird es bald kühler, denn es gibt ab hier öfter schöne Stellen entlang des<br />

Highway, die wir anschauen sollten. Es wäre ärgerlich, wenn wir die nur wegen der Hitze<br />

verpassen würden.“<br />

Shawn hatte es sich auf dem Bett gemütlich gemacht und lag dort nur mit Boxershorts be-<br />

kleidet entspannt angelehnt. Kelly kam nicht umhin, seinen durchtrainierten Körper zu be-<br />

310


wundern. Energisch riss sie sich von dem Anblick los und zog stattdessen ihr kleines Diktier-<br />

gerät aus dem Rucksack. Als Shawn es sah, verzog er das Gesicht.<br />

„Wie schön, dass du es nie vergisst, mir die Abende zu versauen.“<br />

Kelly grinste. „Ach, komm, du darfst mich jeden Abend als Kopfkissen missbrauchen, ist<br />

das nichts?“ Sie rutschte zu ihm auf das Bett, lehnte sich ebenfalls bequem an die Kissen, die<br />

sie sich in den Rücken stopfte und Shawn blieb nichts anderes übrig, als sich lang zu machen.<br />

Er musste eine Weile überlegen, dann aber nickte er.<br />

„Okay, nachdem Brett ... nachdem er mich befriedigt hatte ...“<br />

*****<br />

Carrie befreite Shawn von den Fesseln und führte ihn in ihr eigenes Schlafzimmer. Auf<br />

dem Bett lag ein dickes, keilförmiges Schaumstoffpolster, die Zudecken waren sauber zusam-<br />

mengelegt worden und lagen auf einem Stuhl neben dem Bett. Sie wies Shawn an, sich mit<br />

dem Po so auf das Polster zu legen, dass sein Unterleib ab den Pobacken über das Kissen<br />

hinaus ragte. Das Kissen war erstaunlich fest und doch weich. Als Shawn richtig lag, ragte<br />

sein Unterleib einladend in die Höhe. Carrie fesselte seine Hand- und Fußgelenke weit ge-<br />

spreizt an die Bettpfosten, dann zog sie ihm sanft den Plug aus dem Hintern. Sie verschwand<br />

im Bad und ließ Shawn so einladend geöffnet liegen. Und dieser spürte erneut Erregung<br />

durch sich hindurch schießen.<br />

Carrie kam zurück und betrachtete Shawn zufrieden. Ihr Blick blieb zwischen seinen weit<br />

gespreizten Beinen hängen und sie lächelte. Shawn hatte das Gefühl, ihre Blicke wie Berüh-<br />

rungen zu spüren.<br />

„Wenn ich dich so sehe, weiß ich nicht, was ich zuerst machen soll.“, grinste Carrie und<br />

ging an den Schrank. Sie nahm die mehrschwänzige Peitsche heraus, überlegte kurz und griff<br />

nach einem Harnröhrenvibrator, einem speziellen Anal-Vibrator, der für die Stimulation der<br />

Prostata geeignet war, einer Eichelelektrode nebst Batteriegerät und Gleitmittel. Mit diesen<br />

Dingen kam sie zum Bett zurück. Shawn konnte abgesehen von der Peitsche nicht identifizie-<br />

ren, was sie in der Hand hielt. Sie legte die Sachen zwischen seine Beine auf das Bett und<br />

erklärte:<br />

„Ich werde dir jetzt zwanzig Schläge geben, zur Strafe, dass du dich heute gegen die Drei<br />

gewehrt hast. Alle zwanzig werden direkt zwischen deine Beine gehen. Wenn ich fertig bin,<br />

wirst du mich um weitere zehn bitten, verstanden?“<br />

gen.“<br />

Shawn schluckte. Mit dünner Stimme sagte er: „Verstanden.“<br />

Carrie sah ihn an. „Du wirst dich jedes Mal, wenn du weg zuckst, erneut in Position brin-<br />

311


Er nickte und sagte leise: „Okay.“ Sie stellte sich neben ihn auf das Bett. So konnte sie<br />

zwar nicht so elegant zuschlagen als hätte sie breitbeinig über ihm gestanden, aber sie wollte<br />

diesmal sein Gesicht sehen, wollte die Angst in seinen Augen sehen. Langsam holte sie aus<br />

und ließ sich Zeit mit dem ersten Schlag, was Shawns Angst ins unermessliche trieb. Dann<br />

schlug sie zu und die Riemen trafen brennend alles, was dort so schön ausgebreitet vor ihnen<br />

lag: Hoden, Penis und Anus. Leise wimmerte Shawn auf und zuckte zur Seite weg, soweit die<br />

Fesseln es zuließen. Carrie wartete seelenruhig, bis er sich zurecht gelegt hatte, dann klatsch-<br />

te der zweite Schlag über die empfindlichsten Körperpartien.<br />

Dass er sich jedes Mal wieder in die richtige Position begeben musste, war für den Gefes-<br />

selten unglaublich schwer. Sein Selbsterhaltungstrieb schrie danach, die Beine zu schließen,<br />

um weitere Qualen zu vermeiden! Stattdessen musste er nach jedem Hieb freiwillig die Hal-<br />

tung einnehmen, in der er am verletzlichsten war. Schweiß und Tränen vermengten sich auf<br />

seinem Gesicht und er schrie bei jedem Treffer leise auf. Dass es nicht noch schlimmer war,<br />

verdankte er der Tatsache, dass Carrie nicht mit voll Wucht zuschlug. Sie spürte, wie es zwi-<br />

schen ihren Schenkeln feucht wurde. Seinen Körper zu beobachten, der sich wand vor<br />

Schmerzen, seine Augen, aus denen nackte Angst leuchtete, die Tränen auf seinen Wangen,<br />

seine verzweifelten Schreie, all das trieb ihr Hitzewellen durch den ganzen Körper. Dann<br />

aber waren die ersten zwanzig Hiebe verabreicht. Sie sah Shawn an und dieser schluchzte<br />

verzweifelt:<br />

„Würdest du mir bitte zur Strafe noch zehn weitere Hiebe verpassen?“<br />

Zu seiner riesigen Überraschung schüttelte Carrie den Kopf. Sie legte die Peitsche aus der<br />

Hand und sagte zufrieden:<br />

„Nein, werde ich nicht, es langt, glaube ich.“ Unendlich erleichtert wurde Shawn regel-<br />

recht schlaff in den Fesseln.<br />

„Danke! Ich danke dir.“, schniefte er kläglich. Carrie kniete sich neben ihn und wischte<br />

ihm Tränen von den Wangen.<br />

„Du hast allen Grund, mir zu danken, mein Schatz.“, erklärte sie grinsend. „Ich habe dir<br />

vorhin in das Wasser, das ich dir nach der Fesselung gereicht habe, ein paar Libido steigern-<br />

de Tropfen gegeben, damit Brett Erfolg bei dir hatte.“ Sie lachte über Shawns verblüfftes Ge-<br />

sicht. „Ich wollte nicht, dass sie Grund haben, sauer auf dich zu sein. Ohne das wärest du<br />

nicht in der Lage gewesen, einen Ständer zu kriegen.“<br />

Shawn starrte sie an. „Dann hab ich nur ... Ich hab nicht von selbst ...? Ich bin nicht von<br />

allein bei einem Mann gekommen?“<br />

Carrie schüttelte den Kopf. „Nein, keine Bange, bist du nicht. Er hätte sich einen Wolf ge-<br />

blasen und das wäre dir nicht gut bekommen, Honey. Darum habe ich nachgeholfen. Du bist<br />

kein verkappter Homosexueller.“<br />

312


„Oh Gott, Carrie, ich danke dir!“, flüsterte der junge Mann unendlich erleichtert. Mit ei-<br />

nem Schlag war das Brennen an seinen Genitalien nicht mehr schlimm. Er hätte mit Freude<br />

noch weitere Schläge von Carrie genommen. Sie hatte dafür gesorgt, dass Bretts Blasen Er-<br />

folg gehabt hatte, nicht sein abartig veranlagter Körper! Shawn hatte noch nie zuvor so eine<br />

Erleichterung in sich gespürt.<br />

*****<br />

Shawn seufzte. „Als Carrie mir das erzählte ... Du machst dir keine Vorstellung, wie er-<br />

leichtert ich war! Und wenn ich darüber nachdenke, bin ich nicht mal sicher, ob es gestimmt<br />

hat. Okay, sie hat mir zu Trinken gegeben, aber ob da ... ob da was drinnen gewesen ist ... Ich<br />

weiß es nicht. Damals hab ich vor Erleichterung fast einen Luftsprung gemacht. Ich wollte es<br />

glauben, verstehst du? Ich wollte, dass es so gewesen sein musste. Ich hätte keine Chance<br />

gehabt, mich gegen Bretts Bemühungen zu wehren, weil ich etwas bekommen habe. Das war<br />

alles, was ich denken wollte. Nicht ich, sondern das Aphrodisiakum hatte es bewirkt.“<br />

Kelly hatte sich bei Shawns Schilderung innerlich geschüttelt. Sie konnte sich viel zu gut<br />

vorstellen, was Shawn da beschrieb. Ihr wurde fast schlecht bei der Vorstellung, was Carrie<br />

dem jungen Mann da angetan hatte. - Wie ich dieses Weib hasse! - dachte die Therapeutin und<br />

ballte unbewusst die linke Hand zur Faust. Sie erklärte Shawn<br />

„Es gibt verschiedene Stoffe, die die Libidofähigkeit steigern. Bremelanotid, Bupropion,<br />

Crocin, Dopamin, Melanotan, Oxytocin, all diese Drogen haben nachweislich Libido stei-<br />

gernde Wirkung. Es ist möglich, dass Carrie dir bei der einen oder anderen Gelegenheit eines<br />

dieser Mittel untergejubelt hat. Sie wollte etwas von dir haben.“<br />

Shawn seufzte. „Wie kommt es dann, dass ich später oft gar nicht mehr konnte? Wenn sie<br />

dies mit Verabreichung eines Mittels hätte erreichen können ...“<br />

Kelly unterbrach Shawn. „Ich sagte, es wäre möglich. Genauso kann es sein, dass sie dich<br />

belogen hat. Wenn sie dir aber hin und wieder etwas gegeben hat, hattest du dich daran ge-<br />

wöhnt und es wirkte später nicht mehr.“<br />

Shawn machte leise „Hm.“ Dann schüttelte er resigniert den Kopf. „Oder ich bin ihnen<br />

langweilig geworden. Egal. Carrie war an dem Abend noch lange nicht fertig. Sie wollte mir<br />

beweisen, dass es mehr gab als nur die anale Vergewaltigung, um mich in Fahrt zu bringen.<br />

Sie hatte sich wohl vorher etwas ausgedacht.“<br />

*****<br />

Carrie rutschte zwischen seine weit gespreizten Beine und streichelte sinnlich seine Ho-<br />

den, seinen Anus und zuletzt seinen Penis. Er zuckte zusammen und sie lachte.<br />

313


„Und jetzt werde ich mich mal ausführlich meinem Gewinn unserer kleinen Wette wid-<br />

men. Ich habe da drei Spielzeuge, von denen ich denke, dass sie dir gefallen werden.“<br />

ben.“<br />

Shawn konnte tatsächlich lachen. „Hey, das ist unfair! Du hast mir dieses Mittel gege-<br />

Carrie grinste. „Honey, die Wirkung ist vorbei. Darum musste ich dich erst einmal Fol-<br />

tern. Du bist Herr all deiner Empfindungen.“ Sie stand noch einmal auf, verband Shawn die<br />

Augen und sagte: „Du wirst nur spüren, nichts sehen. Konzentriere dich auf dass, was ich dir<br />

antun werde, alles andere kommt von selbst.“<br />

Shawn nickte. „Okay ...“ Sie wartete noch einige Minuten, bis sie sicher war, dass das<br />

Brennen der Striemen aufgehört hatte, dann griff sie nach der Eichelelektrode, die sie neben<br />

dem Metallstab und dem speziell geformten Anal-Vibrator aus dem Schrank genommen hatte.<br />

Geschickt legte sie die Elektrode um Shawns Eichel und schaltete den batteriegetriebenen<br />

Transformator an. Shawn keuchte auf, als er die Stromstimulation spürte. Fast augenblicklich<br />

richtete sein Penis sich auf. Carrie griff nach dem Metallstab, der 10 Zentimeter lang war<br />

und ungefähr die Stärke eines normalen Bleistiftes aufwies. Der Stift endete an einer kleinen<br />

Kugel und sein unteres Ende lief in einer kleinen Spitze aus.<br />

Diesen Stab hielt Carrie einige Minuten in der Hand, um ihn zu wärmen, dann behandelte<br />

sie ihn mit Gleitgel. Shawn wurde durch die sanfte Stimulation der Elektrode in Stimmung<br />

gehalten. Es war ein hochgradig erotisches Gefühl, aber noch zu schwach, um einen Orgas-<br />

mus auszulösen. Carrie griff nach seinem Penis und begann langsam und vorsichtig, den Me-<br />

tallstab Zentimeter für Zentimeter in Shawns Harnröhre einzuführen. Der Gefesselte verstei-<br />

fet sich, das war erst einmal ein unangenehmes Gefühl. Er hatte den Eindruck, sein Penis<br />

würde Platzen. Langsam senkte Carrie, ohne auf Shawns gequältes Stöhnen zu achten, den<br />

Stab so tief es ging in Shawn hinein. Sie drehte kurz an der Kugel und der Metallstab fing an,<br />

sachte zu vibrieren. Es dauerte einige Minuten, bis Shawn sich an den ungewohnten Fremd-<br />

körper gewöhnt hatte. Jetzt schritt Carrie zum letzten Angriff. Sie tat sich Gleitmittel auf zwei<br />

Finger und führte diese ein kleines Stück in Shawns After ein. Sinnlich massierte sie seinen<br />

Anus und nach einigen weiteren Minuten keuchte der junge Mann vor Erregung. Carrie zog<br />

ihre Finger zurück und rieb den Vibrator ebenfalls gründlich mit Gleitmittel ein. Sie schob<br />

diesen langsam 2 Zentimeter tief in Shawn hinein. Als dieser das sinnliche Vibrieren spürte,<br />

keuchte er laut auf und wand sich vor Lust in den Fesseln. Auf einmal war das Gefühl in sei-<br />

ner Harnröhre nur noch geil. Er wollte den Vibrator tiefer in sich spüren. Viel tiefer! Carrie<br />

schien das zu ahnen und bohrte das Gerät langsam weiter in Shawn hinein. Der Vibrator war<br />

aus acht zwischen 2 und 3 Zentimeter großen Kugeln geformt und jedes Mal, wenn eine dieser<br />

Kugeln in Shawn hinein glitt, stieß dieser einen heiseren Lustschrei aus. Endlich spürte er das<br />

Gerät tief in sich und glaubte, jeden Moment zu platzen, als die erste der Kugeln unglaublich<br />

314


stimulierend gegen seine Prostata drückte. Carrie wartete einige Minuten ab und ließ ihn<br />

hochgradig erregt liegen.<br />

Durch den Metallstab in seiner Harnröhre wurde der Orgasmus verzögert, aber die Erre-<br />

gung steigerte sich. Endlich beschloss Carrie, ihn zu erlösen. Sie wartete, bis er seinen Unter-<br />

leib zuckend und keuchend in die Höhe drückte, dann zog sie schnell das Kissen unter ihm<br />

heraus. Shawn schien das gar nicht bewusst mitzukriegen. Carrie lächelte. Sie entfernte den<br />

Metallstab und kaum war er draußen, glitt sie selbst auf Shawns zuckenden Penis. Die Elekt-<br />

rode störte nicht. Sie ließ sich auf Shawn gleiten und griff nach dem Transformator. Langsam<br />

begann sie sich zu bewegen und drehte gleichzeitig die Stromstärke höher. Und Shawn schrie<br />

vor Lust auf. Er kam in einem derart heftigen Orgasmus, dass er erneut leise schrie. Ihm war<br />

alles egal. Carrie keuchte ebenfalls vor Erregung und drehte die Stromstärke noch höher und<br />

Shawn konnte es selbst nicht fassen: Er kam nach wenigen Minuten zu einem zweiten Orgas-<br />

mus! Dann schaltete Carrie den Strom ab, beugte sich nach hinten und zog vorsichtig den<br />

Vibrator aus Shawn heraus. Sie hatte selbst zwei extrem geile Höhepunkte gehabt und lag<br />

verschwitzt aber zufrieden auf Shawn, der noch heftig zuckend tief in ihr steckte. Tränen, die<br />

ihm die Höhepunkte und die pure Lust in die Augen getrieben hatten, vermischten sich auf<br />

seinem Gesicht mit Schweiß. Außer Atem keuchte er:<br />

„Ich fürchte, du hast gewonnen ...“<br />

Seine Erektion ließ nur langsam nach und Carrie blieb auf ihm liegen, spürte, wie er nach<br />

vielen Minuten allmählich erschlaffte. Sie wollte ihn weiter spüren und ließ ihn gefesselt lie-<br />

gen. Shawn hätte seinen rechte Arm gegeben, sie umarmen zu dürfen, aber sie machte ihn<br />

nicht los. Später schliefen die Beiden in derselben Haltung ein. Carrie war es, die zuerst auf-<br />

wachte, weil ihr kalt war. Sie stutzte, als sie merkte, dass sie auf Shawn lag und sich an seinen<br />

Körper kuschelte. Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. Sie stand auf und löste seine Fesseln,<br />

ging ins Bad und benutzte die Toilette. Minuten später lag sie im Bett, zog die Zudecke über<br />

Shawn und sich und kuschelte sich eng an ihn. Er wachte halb auf, seufzte und drückte sie im<br />

Halbschlaf fest an sich. Carrie grinste zufrieden, dann fielen ihr die Augen ebenfalls zu.<br />

*****<br />

„Tja, sie hat sich ins Zeug gelegt. Und mein Körper hat reagiert, wie Carrie es sich vorge-<br />

stellt hat.“ Er schwieg einen Moment und schien an dem Ort zu sein, wo all dies geschehen<br />

war. Bedrückt starrte er ins Leere. „Dieses ... Ding, dieser Harnröhrenvibrator ... Als sie ... als<br />

sie den eingeführt hat ...“ Shawns Stimme zitterte. „... das fühlte sich an, als würde mir jeden<br />

Moment der Penis platzen. Es tat weh und war ... war ein derart widerliches Gefühl ... Sie hat<br />

keine Rücksicht genommen und sie war ... ich denke, sie war vorsichtig. Es war nicht das ers-<br />

315


te Mal, dass sie so was gemacht hat. Als sie dann die Elektrode um ... als sie sie mir umlegte<br />

und einschaltete, wow ... Das war ein irres Gefühl. Ich hatte keine Chance, was zu tun. Sie<br />

hatte mich weich geklopft, noch bevor sie richtig loslegte.“ Er legte sich anders hin und fuhr<br />

fort: „Dass sie es sich nicht verkneifen konnte, mich vorher durchzuprügeln ...“ Er merkte gar<br />

nicht, das seine rechte Hand unwillkürlich nach unten zwischen seine Beine glitt und sich<br />

schützend über seinen Intimbereich legte. „Manchmal hab ich gedacht, wenn sie noch weiter<br />

darauf herumschlagen ist es bald aus mit ... Ich hatte schreckliche Angst, dass dort etwas irre-<br />

parabel kaputt gehen könnte, weißt du? Dass ... keine Ahnung, Adern platzen, oder Schwell-<br />

körper Schaden nehmen oder der Hodensack ... Aber bei allen Schmerzen, die die Schläge<br />

verursachten schienen sie genau zu wissen, wie stark sie schlagen durften.“ Er verstummte<br />

unglücklich.<br />

Kelly hatte still zugehört, was Shawn berichtete. Jetzt sagte sie: „Es wirkt alles empfindli-<br />

cher als es ist. Sie wussten, wie und womit sie wo wie stark zuschlagen durften. Bei Ab-<br />

bindspielen muss man vorsichtig sein. Gefährlich wird es bei zu langem Abbinden, da durch<br />

den Blutstau keine optimale Sauerstoffversorgung des Gewebes mehr gewährleistet ist. Be-<br />

sonders die sensorischen Nerven sind davon betroffen. Das kann sich durch Kribbeln oder<br />

Taubheit bemerkbar machen. Spätestens wenn ein kribbelndes Gefühl einsetzt ist es an der<br />

Zeit, die Bindung zu entfernen, da ab diesem Moment die Nerven deutlich Sauerstoff-<br />

unterversorgt sind. Bei zu strammem Abbinden können Nerven direkt durch den Druck ge-<br />

schädigt werden, besonders da, wo sie dicht unter der Haut verlaufen. Wenn Hoden und Penis<br />

abgebunden sind, darf man auf keinem Fall starre Schlaggeräte benutzen, weil die Haut dann<br />

nicht elastisch ist und schnell reißen kann, was zu schweren Verletzungen führen könnte.<br />

Aber das alles wussten sie.“<br />

„Muss wohl so sein. Verletzt haben sie mich nie ...“ Er stutzte kurz, bevor er weiter<br />

sprach. „Carrie war zufrieden. Und ich ... Ich weiß nicht, es war ein Mischmasch aus den un-<br />

terschiedlichsten Gefühlen. Scham, Angst, Erwartung, Selbsthass, ich weiß nicht, was über-<br />

wog. Nach einiger Zeit sagte ich mir, dass es egal war, denn ändern konnte ich es nicht mehr.<br />

Ab da zappelte ich am Haken, wie sie es sich gewünscht hatte.“<br />

*****<br />

Spät in der Nacht wurde Kelly unruhig. Sie hatte einen heftigen Albtraum. Sie stand vor<br />

einer riesigen Glasscheibe, hinter der sie Shawn sah. Er hing zwischen den Säulen, wurde<br />

ausgepeitscht und schrie verzweifelt Kelly um Hilfe an.<br />

„Hilf mir! Bitte! Du hast es versprochen! Warum tust du nichts?“ Kelly suchte hysterisch<br />

nach einer Möglichkeit, zu ihm zu gelangen. Doch die Scheibe, die sie von Shawn trennte,<br />

schien endlos. Verzweifelt warf sie sich gegen diese, spürte, wie das Glas zerbarst und merk-<br />

316


te, dass sie sich an den Splittern verletzte. Sie ignorierte die Schmerzen, rannte los und prallte<br />

in vollem Lauf gegen eine weitere Scheibe! Entsetzt schrie sie auf.<br />

„Nein!“<br />

Abermals drang Shawns schreien an ihre Ohren. „Tu endlich was. Bitte, Kelly! Sie<br />

schlägt mich tot. Hilf mir! Du hast es versprochen!“ Kelly nahm erneut Anlauf und warf sich<br />

mit ihrem ganzen Gewicht gegen die neue Scheibe. Auch diese zersplitterte und neue Scher-<br />

ben fügten ihr neue Wunden zu. Wieder rannte sie los, um endlich zu Shawn zu gelangen und<br />

prallte abermals gegen eine weitere Scheibe. Hysterisch schrie sie auf! „Nein! Shawn! Ich<br />

kann nichts tun!“<br />

Und leiser, ersterbend, klang es zurück: „Du hast es versprochen ...“<br />

*****<br />

Mit einem lauten Keuchen fuhr die junge Frau aus dem Albtraum hoch. Shawn neben ihr<br />

wachte ebenfalls auf und fragte erschrocken:<br />

„Kelly, ist alles in Ordnung? Was ist mit dir?“ Schweißgebadet und zitternd saß die The-<br />

rapeutin im Bett und stotterte:<br />

„Nichts ... Ein Albtraum ... Alles okay ...“ Sie tastete mit zitternder Hand nach der Lampe<br />

auf dem Nachtschrank. Als sie sie gefunden hatte sah sie unwillkürlich erst Shawn an, dann<br />

an sich selbst herunter. Es waren keine Schnitte, kein Blut und bei Shawn keine blutigen<br />

Striemen zu sehen. Zittrig schwang Kelly die Beine aus dem Bett und wankte ins Bad. Mit<br />

beiden Händen schöpfte sie sich kaltes Wasser in das total verschwitzte Gesicht. Müde hob<br />

sie den Kopf und sah in den Spiegel. Noch schimmerte der Schreck in ihren Augen.<br />

„Scheiße!“, flüsterte sie genervt.<br />

„Was ist Scheiße?“ Erschrocken fuhr Kelly herum. Sie hatte nicht mit bekommen, dass<br />

Shawn ihr gefolgt war.<br />

„Na, was schon, der Albtraum.“, erwiderte sie und trocknete sich das Gesicht ab. Shawn<br />

stand in der Tür uns sah besorgt aus.<br />

„Geht es denn wieder?“, fragte er leise.<br />

„Ja, ja, ist alles klar. Leg dich ruhig hin, ich komme gleich.“ Langsam nickte der Schau-<br />

spieler und verschwand Richtung Schlafraum. Kelly blieb noch einen Moment vor dem<br />

Waschbecken stehen und versuchte, ihre zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen.<br />

Ganz wollte ihr dies nicht gelingen. Langsam verließ sie das Bad und ging ins Schlafzimmer<br />

zurück. Shawn lag im Bett.<br />

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er noch einmal besorgt.<br />

„Ja, mach dir bitte keine Sorgen, okay? Ich werde mal frische Luft schnappen gehen, ich<br />

muss den Kopf frei bekommen. Schlaf bitte weiter, ja?“<br />

317


Ohne noch auf Shawn zu achten, verließ Kelly den Raum und wanderte im Dunkeln an<br />

den Pool hinüber. Sie setzte sich auf einen Stuhl und genoss die Stille um sich. Am Himmel<br />

waren die Sterne zum Greifen nahe, so kam es der jungen Frau vor. Sie legte den Kopf zurück<br />

und versuchte, die Traumbilder abzuschütteln. Warum hatte sie davon geträumt, Shawn nicht<br />

helfen zu können? Jetzt hätte sie gerne selbst Rat bei einem Kollegen gesucht. Es musste mit<br />

ihren Gefühlen für den jungen Mann zusammenhängen. Sie hatte ähnliche Träume noch nie<br />

zuvor gehabt. Kelly glaubte an die Bedeutung vieler Träume. Diesen fasste sie beinahe als<br />

Warnung auf. War damit gemeint, dass sie Shawn im Wege stehen würde? Ihr war klar, dass<br />

er für sie ebenfalls viel zu viel empfand. Kelly seufzte. - Ich muss dich fortschicken, wenn es<br />

dir gut genug geht. Ich darf deinem Glück nicht im Wege stehen. Du musst in dein normales<br />

Leben zurückkehren und da darf ich dir kein Klotz am Bein sein. Du kannst im Augenblick<br />

Dankbarkeit von Liebe nicht unterscheiden. - Entschlossen nickte sie. Das war der Punkt.<br />

Egal, was sie für ihren Patienten empfand, sie musste ihn fortschicken, sobald er allein klar<br />

kommen würde! Kelly war klar, dass es ihr das Herz zerreißen würde, aber das war unwich-<br />

tig. Wichtig war nur Shawns Wohlergehen. Und dieses konnte er nur in der vertrauten Umge-<br />

bung finden. Nur dort, weit weg von ihr, konnte er merken, ob er sie liebte oder ob es nur Ge-<br />

fühle der Dankbarkeit waren, die er empfand. Entschlossen stand die junge Frau auf und ging<br />

zu ihrem Zimmer zurück. Shawn war nicht wieder eingeschlafen. Er hatte auf sie gewartet.<br />

Erleichtert legte Kelly sich zurück ins Bett.<br />

„Alles klar?“, fragte der Schauspieler leise.<br />

„Ja, alles klar. Versuch noch zu schlafen, der Morgen kommt früh genug.“, erwiderte Kel-<br />

ly ruhig. Sie rollte sich auf die Seite und kurze Zeit später waren beide eingeschlafen.<br />

26) Brett<br />

Unser Leben besteht aus dem Sterben anderer.<br />

Leonardo da Vinci<br />

Als Kelly am Morgen erwachte war Shawn nicht mehr im Bett. Die Entscheidung, die sie in<br />

der Nacht getroffen hatte, ließ sie erleichtert und zufrieden aufstehen. Schnell schlüpfte sie in<br />

ihren Bikini und eilte nach draußen. Sie hatte sich nicht getäuscht: Shawn schwamm im Pool,<br />

winkte ihr fröhlich zu und fragte:<br />

„Morgen. Na, noch gut geschlafen?“<br />

Kelly hechtete mit einem geschmeidigen Kopfsprung zu ihm ins Wasser und tauchte einmal<br />

durch die Länge des Pools. Am anderen Ende kam sie prustend an die Oberfläche und strich ihre<br />

nassen Haare zurück. „Ja, habe ich. Tut mir leid, dass ich dich gestört habe.“<br />

Shawn grinste. „Hey, das macht dem Meister der Albträume nichts aus. Ich kann ja ein Lied<br />

davon singen, wie es ist, aus den Mistdingern hochzuschrecken. Nicht schön.“<br />

318


Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Bei dir wird es weniger und bei mir kommt<br />

es selten vor.“ Sie warf einen Blick nach oben zum Himmel. „Ich bin gespannt, mit welchen<br />

Temperaturen uns die Sonne heute beglücken wird. Wir werden uns heute bis Barrow Creek<br />

durchschlagen. Das sind 80 Kilometer.“<br />

Shawn sah verwirrt aus. „Das werden wir ja schnell geschafft haben, oder?“<br />

„Theoretisch ja, aber es gibt dazwischen ein wenig anzusehen. Ich denke, wir werden am frü-<br />

hen Nachmittag den Ort erreichen. Ich werde nach dem Frühstück mal vorsichtshalber im Hotel<br />

dort anrufen und sicher stellen, dass wir einen Raum für die Nacht bekommen. Ich nehme nicht<br />

an, dass du gerne draußen schlafen möchtest?“<br />

Shawn verzog das Gesicht. „Ich nehme nicht an, dass du morgens neben einem gebratenen<br />

Leichnam aufwachen möchtest?“<br />

„Ach, wäre mal ein neues Gefühl.“, lachte Kelly und begann, einige Bahnen zu schwimmen.<br />

Gegen 8 Uhr saßen sie im Roadhouse und ließen sich mit Rühreiern, Speck, kleinen Bratwürs-<br />

ten und literweise glühend heißem Kaffee verwöhnen. Anschließend erledigte Kelly den Anruf im<br />

Hotel Barrow Creek und bekam ein Zimmer zugesagt. Sie konnten zusammenpacken und saßen<br />

um 9 Uhr im Wagen. 20 Kilometer hinter Ti Tree stoppte Kelly den Wagen und bog vom High-<br />

way ab nach links auf eine unbefestigte Straße.<br />

„Wo geht es hin?“, fragte Shawn neugierig.<br />

Kelly deutete auf einen kleinen Berg, der vor ihnen auftauchte. „Dorthin. Das ist Central<br />

Mount Stuart. Ich dachte, wir sehen ihn uns an. Mit einem Geländewagen wie unserem kommt<br />

man gut zur Hälfte rauf und das letzte Stück schaffen wir zu Fuß, was meinst du?“<br />

Shawn warf einen skeptischen Blick auf das Thermometer und seufzte etwas besorgt.<br />

„42 Grad ... Naja, wir können es ja versuchen, wenn ich zusammenbreche, trägst du mich zum<br />

Auto zurück.“<br />

Kelly lachte. „Ich werde dich an den Haaren runter schleifen. Du wirst es schaffen, wir lassen<br />

uns viel Zeit und es lohnt sich. Der Ausblick ist fantastisch.“<br />

„Na gut, bisher hattest du immer Recht, also werde ich es versuchen.“<br />

Kelly steuerte von dem Weg herunter ins Gelände. Langsam stieg dieses an und die Therapeu-<br />

tin erklärte:<br />

„Zieh den Sicherheitsgurt stramm, okay, das wird eine holprige Angelegenheit.“ Sie suchte<br />

den bestmöglichen Weg und schaffte Meter um Meter bergan. Shawn kam nicht umhin, zu be-<br />

wundern, wie gut die junge Frau mit dem Allradwagen umgehen konnte. Er war sich sicher, er<br />

hätte das hier nicht geschafft. Doch endlich ging es nicht mehr weiter, zu unwegsam wurde das<br />

Gelände, und Kelly stoppte den Wagen.<br />

„So, das war es wohl, Endstation. Weiter geht es nicht. Sonst riskieren wir einen Achsenbruch<br />

oder Schlimmeres. Ich möchte nicht den Berg hinab rollen.“ Sie stiegen aus und griffen sich ihre<br />

Hüte und Wasser. Kelly erklärte:<br />

319


okay?“<br />

„Wir gehen schön langsam und wenn du eine Pause brauchst, sage bitte sofort Bescheid,<br />

„Klar, ich möchte ja nicht von dir den Berg herunter geschleift werden.“<br />

Sie setzten sich in Bewegung und brauchten für die verbleibenden Meter eine gute Stunde.<br />

„Wie hoch ist er im Ganzen?“, fragte Shawn unterwegs.<br />

Kelly erklärte: „Gute 840 Meter. Der Berg wurde am 22. April 1860 von dem schottischen<br />

Forschungsreisenden John McDouall Stuart auf seinem Weg von der Südküste rauf nach Norden<br />

entdeckt. Stuart berechnete damals einen Punkt ungefähr 2 Kilometer von hier als den Mittelpunkt<br />

des Kontinentes. Daraus resultierte der Name für den Berg. Anfang April hatten er und seine Be-<br />

gleiter einen Fluss überquert, den Stuart Finke River nannte, nach seinem besten Freund William<br />

Finke.“<br />

„Oh, der Finke River, in der Glen Helen Gorge?“<br />

„Genau der. Sie folgten dem Fluss bis zur McDonnell Ranges. Von dort wandten sie sich nach<br />

Norden und erreichten diesen Punkt hier.“<br />

Gut gelaunt marschierten sie weiter und bald erreichten sie den Gipfel des Berges. Shawn sank<br />

zu Boden und Kelly goss ihm vorsichtig Wasser über den Nacken.<br />

„Das tut gut, danke.“, keuchte der junge Mann erleichtert. Nach einigen Minuten war er so<br />

weit erholt, dass er sich auf die Beine stemmte und sich umschaute. Kelly hatte Recht gehabt, der<br />

Ausblick war fantastisch.<br />

„Oh, man, das hat sich wirklich gelohnt!“, stieß er überwältigt hervor.<br />

Vor ihnen breitete sich in seichten Wellen der Rest des Berges aus und rund um den Mount Stuart<br />

herum leuchtete endlos die rote Wüste Australiens im gleißenden Sonnenlicht. Kelly freute sich,<br />

dass Shawn so begeistert war. Eine Weile standen sie in der Hitze des Tages auf dem Gipfel und<br />

ließen den Ausblick auf sich wirken. Endlich meinte Kelly:<br />

„Wir sollten uns auf den Rückweg machen, es wird mit jeder Minute heißer.“<br />

Shawn, dem leicht schwindelig war, nickte. „Ja, bloß raus aus der Sonne.“ Er goss sich noch<br />

etwas Wasser über den Kopf und den Nacken, dann machten sie sich auf den Rückweg zum Wa-<br />

gen. Beide atmeten erleichtert auf, als die Autotüren hinter ihnen zufielen und die Air Condition<br />

anlief.<br />

Kelly hatte das Steuer übernommen und wendete den Wagen. Vorsichtig lenkte sie den großen<br />

Geländewagen hangabwärts. Sie kamen nur langsam voran, da Kelly behutsam fahren musste. Als<br />

sie gut die Hälfte der Strecke geschafft hatten, geriet der Wagen einmal stark in Schlagseite.<br />

Shawn keuchte, sich hastig am Haltegriff festklammernd, unwillkürlich erschrocken auf, doch<br />

Kelly gelang es, den Jeep gerade zu richten. Grinsend erklärte sie:<br />

„Du bist mir ja ein Abenteurer!“<br />

Shawn schüttelte lachend den Kopf. „Na hör mal, wenn du mich aufs Kreuz legen willst, bitte,<br />

aber ohne Wagen.“<br />

„So macht es mehr Spaß.“, erwiderte Kelly vergnügt. Sie fuhr bedächtig und konzentriert wei-<br />

ter und nach einer guten Stunde hatten sie ebene Erde erreicht. „Wenn das jemand wüsste, dass<br />

320


wir den Mount Stuart mit dem Wagen erklommen haben ...“ Kelly lachte. „Die würden uns für<br />

verrückt erklären.“<br />

Shawn stutzte. „Wieso? Ich denke, das ist ...“<br />

Die junge Frau grinste.<br />

„Das war gelogen, oder?“, fragte Shawn erstaunt.<br />

„Ja, das hat bestimmt noch nie jemand versucht!“ Sie lachte schallend über Shawns dummes<br />

Gesicht. „Was denn, wir haben es geschafft, oder?“<br />

Shawn ließ den Kopf gegen die Nackenstütze sinken und seufzte. „Von fünf Irren zu einer Ir-<br />

ren, was für eine Verbesserung.“ Doch er musste selbst lachen. „Wenn das noch nie jemand ver-<br />

sucht hat, bist du großartig gewesen.“<br />

Schließlich erreichten sie den Highway und Kelly gab Gas. Es war fast 14 Uhr, der Ausflug<br />

hatte länger gedauert als die junge Frau angenommen hatte. Rechts und links der Straße tauchten<br />

in Abständen schräge Pisten auf, die ein kurzes Stück in die Landschaft führten. Neugierig fragte<br />

Shawn:<br />

„Sag mal, was sind das für kleine Wege, die hier seitlich abgehen?“<br />

Kelly erklärte es ihm. „Das sind Abbremsspuren für Road Trains. Sie werden hauptsächlich an<br />

abschüssigen Stellen der Straßen angelegt, falls mal ein Truck in Schwierigkeiten gerät. Auf ebe-<br />

nen Straßenabschnitten sind solche Nothaltebuchten seltener. Safety first, weißt du.“<br />

Das leuchtete Shawn ein. „Clever. Könnten wir in den Staaten auch an einigen Stellen gebrau-<br />

chen.“ Er sah aus dem Fenster und fragte: „Wie weit ist es noch bis Barrow Creek?“<br />

Kelly warf einen Blick auf den Kilometerzähler und meinte: „Ungefähr 40 Kilometer.“<br />

„Ist Barrow Creek groß?”<br />

„Nein, kann man nicht sagen. Elf Einwohner.“<br />

Shawn lachte schallend los. „Doch so viele?“<br />

„Weißt du, der Barrow Creek in der Nähe des Orts wurde von John Stuart im Juli 1860 auf<br />

seiner Durchquerung Australiens entdeckt und er gab ihm den Namen. Pate war John Henry Bar-<br />

row, ein Geistlicher, Journalist und Politiker. 1871 wurde von der Regierung beschlossen, an die-<br />

ser Stelle eine Telegrafenstation der transaustralischen Telegrafenleitung zu errichten. Als Ort-<br />

schaft konnte sich Barrow Creek aber nicht weiter entwickeln, da das Wasservorkommen zu ge-<br />

ring und das Wasser noch obendrein qualitativ schlecht war. Deswegen wurde die Telegrafensta-<br />

tion zwanzig Jahre später etwa 40 Kilometer entfernt am Übergang des Taylor Creek neu aufge-<br />

baut.“ Sie sah nachdenklich aus der Frontscheibe. „Es gab hier mal einen brutalen Mord an zwei<br />

Angestellten der Telegrafenlinie.“<br />

Shawn staunte. „Im Ernst?“, fragte er nach.<br />

„Ja, 1872 wurde die erste Telegrafenstation von James Stapleton und John Frank in Betrieb<br />

genommen. Die Beiden wurden am Ende Februar 1874 von mehr als zwanzig Aborigines vom<br />

Stamm der Kajtitia an der Telegrafenstation attackiert und getötet. Die beiden Angestellten waren<br />

draußen am Arbeiten und konnten sich nicht mehr in das Gebäude retten. Stapelton starb nach<br />

321


dem Überfall wohl erst Stunden später und konnte noch ein Telegramm absetzen. Die Gräber sind<br />

in Barrow Creek durch einen Steinwall markiert. Der Vergeltungsschlag für diesen Überfall im<br />

Massaker am Skull Creek, bei dem rund sechzig bis siebzig Aborigines getötet wurden.“<br />

was?“<br />

„Oh Gott! Wie das?“, fragte Shawn schockiert.<br />

„Als Prävention, um die Stämme vor weiteren Übergriffen auf weiße Siedler abzuhalten.“<br />

Shawn nickte verstehend. „Wie in den Staaten. Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer,<br />

„Ja, es war eine grausame Zeit. Warum nur maßen sich Weiße an, über Leben und Sterben an-<br />

derer, andersartiger Menschen bestimmen zu können?“<br />

Shawn schaute versonnen aus dem Fenster. „In Sachen Menschenrechte gegenüber Urvölkern<br />

haben die Weißen sich wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert.“ Vor ihnen tauchte ein Schlenker im<br />

Highway auf und der junge Mann grinste. „Oh, ihr könnt euch ja doch so was wie Kurven leis-<br />

ten!“ Damit hatte er schnell die trüben Gedanken verscheucht und Kelly musste schmunzeln.<br />

„Ja, ab und zu ... So, dort vorne ist Barrow Creek.“<br />

Sie deutete auf ein paar Gebäude, die in der hitzeflimmernden Luft zu sehen waren wie eine<br />

Fata Morgana.<br />

„Na, Wahnsinn, ich bin so gerne mal in Großstädten.“, lachte Shawn und sah sich um. „Sechs<br />

Gebäude, wenn ich nicht den Überblick verloren habe ... Ich habe Angst, mich zu verlaufen!“<br />

hast.“<br />

„Läster du nur über unsere Städte.“, erwiderte Kelly streng. „Du wirst ja sehen, was du davon<br />

„Städte ...“, meinte Shawn lang gezogen. „Eine Stadt ist das hier ja nicht.“<br />

„Dafür bekommst du heute Nacht ein Dach über dem Kopf.“<br />

„Touchè.“<br />

Lachend stiegen sie vor dem Motel aus und Kelly übernahm die Anmeldung.<br />

Minuten später standen sie in ihrem Zimmer für diese Nacht. Shawn fiel regelrecht aus seinen<br />

Kleidungsstücken und stand unter der Dusche, bevor Kelly noch etwas sagen konnte.<br />

„Hat der das eilig!“, lachte sie und begann, Shampoo und Seife aus dem Rucksack zu suchen.<br />

Grinsend betrat sie das Bad und fragte Shawn über das Rauschen der Dusche hinweg: „Ich denke<br />

mir, das wirst du brauchen.“ Verlegen nahm der Schauspieler die Sachen entgegen. Kelly verließ<br />

kichernd den Raum. Sie suchte aus den Rucksäcken schmutzige Wäsche heraus und rief Shawn<br />

zu:<br />

„Ich stopfe schnell unsere Wäsche in die Waschmaschine, bin gleich wieder da.“ Sie eilte in<br />

den kleinen Waschraum des Motels hinüber und hatte Glück, eine der drei Waschmaschinen war<br />

frei. Eine junge Frau befüllte gerade eine der anderen Maschinen. Sie grüßte Kelly freundlich, mit<br />

unverkennbar deutschem Akzent.<br />

„Hallo. Es ist ja unglaublich heiß im Augenblick!“<br />

Kelly lächelte. „Hey. Ja, es ist viel zu warm für die Jahreszeit.“<br />

322


„Mein Mann und ich wollten im Wohnmobil schlafen, aber bei diesen Temperaturen verzich-<br />

ten wir dankend darauf. Zuhause ist tiefster Winter und hier kommt man um vor Hitze.“<br />

Die Therapeutin lachte. „Ich kann gegen Wärme gut an, doch das hier im Moment ist selbst<br />

mir zu viel. Von wo in Deutschland kommen Sie?“<br />

Die junge Frau wurde rot. „Das haben Sie sofort gehört? Oh. Wir kommen aus Heide, einer<br />

Stadt im Norden Deutschlands, in Schleswig Holstein, genauer gesagt.“<br />

Kelly schaltete die Waschmaschine an und grinste. „Ja, ist nicht zu überhören, so schön deut-<br />

lich sprechen nur Deutsche. Schleswig Holstein ist mir ein Begriff. Ich war vor Jahren einmal in<br />

Kiel. Ist ein wunderschönes Land.“<br />

Die junge Frau war begeistert. „Das ist ja irre! Sie kennen das? Ich bin Martina. Da ist man in<br />

der Mitte von Nirgendwo und trifft eine Australierin, die Kiel kennt.“<br />

Kelly lachte. „Ich bin Kelly. Und ich bin gar keine richtige Australierin, sondern gebürtige<br />

Amerikanerin. Ich komme aus Charlottesville, Virginia, lebe aber bereits zwölf Jahre in Sydney.“<br />

Sie sah die junge Frau näher an. „Wie lange sind Sie schon unterwegs?“<br />

„Seit einer Woche. Wir wollen über Tennant Creek nach Townsville an die Küste.“ Sie mus-<br />

terte ihrerseits Kelly und fragte verlegen: „Kennen Sie sich aus? Mein Mann und ich sind das<br />

erste Mal in Australien und könnten ein paar Tipps brauchen.“<br />

„Ja, ich kenne mich gut aus, wie wäre es mit einer Tasse Kaffee und Sie fragen mir Löcher in<br />

den Bauch?“<br />

„Großartig! Ich lade Sie ein.“<br />

„Gerne, in einer halben Stunde, ich muss schnell duschen, mein Begleiter und ich sind heute<br />

in der Hitze auf den Mount Stuart rauf. Treffen wir uns doch im Roadhouse.“<br />

„Gerne. Ich bringe meinen Mann gleich mit, er ist der Planer bei uns. In einer halben Stunde.“<br />

Die jungen Frauen verließen die Waschküche und Kelly eilte zu ihrem Zimmer zurück. Shawn<br />

war fertig und saß angezogen mit einer Cola in der Hand auf dem Bett.<br />

„Wir sind in einer halben Stunde verabredet.“, erklärte Kelly grinsend und begann sich zu ent-<br />

kleiden. Hastig stellte sie sich ebenfalls unter die Dusche und dreißig Minuten später machten sie<br />

sich auf den Weg. Kelly hatte Shawn kurz aufgeklärt. Im Restaurant wurden sie von Martina und<br />

deren Mann Thomas begrüßt. Kelly stellte Shawn vor und sie setzten sich an einen der Tische. Als<br />

sie alle Kaffee vor sich stehen hatten, fragte Kelly:<br />

„Was wollt ihr denn wissen?“<br />

Thomas erklärte: „Alles!“ Er lachte. „Was gibt es am Stuart Highway so zu sehen bis Tennant<br />

Creek? Und am Barkly beziehungsweise Flinders Highway? Muss man auf etwas achten?“<br />

Kelly überlegte. „Zuerst einmal, überlebenswichtig, genug Benzin und Wasser mitführen.<br />

Wenn ihr schlau seid, geht nie ohne Hut in die Sonne. Hier im Outback solltet ihr besser nie die<br />

Wege verlassen, das könnte sonst schnell euer letzter Fehler sein. Ganz wichtig: Solltet ihr auf<br />

dem Highway vor euch einen einzelnen verunglückten Wagen sehen, haltet nicht an, sondern fahrt<br />

so schnell es geht zum nächsten Roadhouse und informiert die Polizei! Nehmt das bitte nicht auf<br />

323


die leichte Schulter. Es gibt Banden, die sich darauf spezialisiert haben. Sie fingieren Unfälle,<br />

überfallen dann etwaige Helfer und rauben sie im besten Falle nur aus ...“ Sie ließ offen, was im<br />

schlimmsten Falle geschehen konnte, doch Martina fragte erschrocken nach.<br />

„Im besten Falle?“<br />

„Ja, es gibt Streckenabschnitte auf den Highways, die sind berüchtigt dafür, dass immer wie-<br />

der Menschen spurlos verschwinden. Der Capricorn Highway zwischen Rockhampton und Eme-<br />

rald zum Beispiel trägt den Spitznamen Murderer Highway.“<br />

Besorgt warf Martina ihren Mann einen kurzen Blick zu. „Danke für den Tipp!“<br />

„So, Sehenswürdigkeiten. Wycliffe Well, das ist das selbst ernannte UFO Center in Australi-<br />

en.“ Kelly lachte über die drei verblüfften Gesichter, die ihr entgegen starrten.<br />

„UFOs?“, fragte Thomas grinsend.<br />

„Ja, jedem Land sein Roswell. Die Weller schwören, dass man so gut wie jede Nacht UFOs<br />

beobachten kann. Das sollte man aber nicht allzu ernst nehmen. Aber das Roadhouse ist sehens-<br />

wert. Kurz hinter Wycliffe Well findet ihr die Devils Marbles. Die sind absolut sehenswert. Da-<br />

nach kommt Tennant Creek. Auf dem Barkly Highway ist Barkly Roadhouse die erste Tankmög-<br />

lichkeit nach Tennant Creek. Bis zum nächstmöglichen Stopp sind es schlappe 250 Kilometer,<br />

also genügend Benzin im Tank haben. Das Tableland zwischen Barkly und Camooweal ist schön,<br />

bietet aber keine besonderen Sehenswürdigkeiten, abgesehen von der Grenze zwischen dem Nor-<br />

thern Territory und Queensland. Gute 100 Kilometer weiter passiert ihr den Buckley River. Dort<br />

ist es wunderschön und ein Ausflug entlang des Flusses lohnt allemal. Weitere 80 Kilometer spä-<br />

ter kommt ihr zum Lake Moondara, Lake Julius und der Stadt Mount Isa. Isa ist flächenmäßig die<br />

drittgrößte Stadt der Welt. Ihre knapp 19.000 Einwohner verteilen sich auf sagenhafte 43.000<br />

Quadratkilometer. Auf den beiden Stauseen dort sind jede Menge Wassersportaktivitäten mög-<br />

lich.“<br />

Kelly schenkte sich noch eine Tasse Kaffe ein und erklärte weiter:<br />

„In Isa gibt es das ‘Outback at Isa‘ Museum, in dem unter anderem das Riversleigh Fossile<br />

Center untergebracht ist. Nordwestlich der Stadt liegt der Lawn-Hill-Nationalpark, wo bedeutende<br />

prähistorische Funde gemacht wurden. Diese kann man im Fossile Center anschauen. Wir haben<br />

einige Dinoarten, die nur in Australien vorkamen. Außerdem gibt es in Isa ein Royal Flying Doc-<br />

tors Besuchercenter, dass einen Besuch lohnt. 120 Kilometer östlich stoßt ihr auf Cloncurry. Ab-<br />

gesehen von einem im Bau befindlichen riesigen Solarkraftwerk gibt es dort nicht so viel zu se-<br />

hen. Allerdings startete von Cloncurry am 15. Mai 1928 der erste Flug des Royal Flying Doctor<br />

Service. Ein schönes Besucherzentrum erinnert daran. Die nächste Ortschaft ist nur knappe 130<br />

Kilometer entfernt, Julia Creek. Tank- und Übernachtungsmöglichkeit. Es folgt Richmond, später<br />

Hughenden. Auf der Strecke gibt es schöne Möglichkeiten, an den Flinders River zu gelangen.<br />

Das nächste Roadhouse ist Torrens Creek. In Abständen folgen weitere Roadhouses, bis ihr zirka<br />

100 Kilometer westlich von Townsville auf Charters Towers stoßt. Charters Towers entstand En-<br />

de des neunzehnten Jahrhunderts in Folge des Goldrausches, der nach Goldfunden in der Umge-<br />

324


ung einsetzte. Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges wurden hier über zweihundert Tonnen<br />

Gold gewonnen. Damit waren die Goldfelder um die Stadt die ergiebigsten Felder Australiens.<br />

Dann musste tiefer gegraben werden und es wurde unprofitabel. Heute kommt die Goldgewin-<br />

nung dank modernerer Arbeitsmethoden wieder in Schwung. Tja, und von dort ist es nur noch ein<br />

Katzensprung bis zur Küste.“<br />

Thomas hatte sich, während Kelly berichtete, einige Notizen gemacht. Jetzt bedankte er sich<br />

für die Tipps. Martina wollte noch ein paar Dinge etwas genauer wissen und Kelly gab bereitwil-<br />

lig Auskunft. Gegen 18 Uhr bestellten sie sich Abendbrot. Shawn war an den Flying Doctors inte-<br />

ressiert.<br />

„Man hat davon gehört, aber wie arbeiten die und wo?“, fragte er.<br />

Kelly erklärte: „Der RFDS ist eine gemeinnützige Institution, die wie gesagt 1928 gegründet<br />

wurde. Der Pfarrer John Flynn wollte damit den untragbaren Zustand bekämpfen, dass es für zwei<br />

Millionen Quadratkilometer nur zwei Ärzte gab. Er hatte 1912 die Australian Inland Mission ins<br />

Leben gerufen und einige Buschkrankenhäuser errichten lassen. Die großen Entfernungen waren<br />

nur per Flugzeug zu bewältigen und so entstand die Idee für die Flying Doctors. Der Stützpunkt in<br />

Cloncurry wurde später nach Mount Isa verlegt. 1939 wurde ein weiterer Stützpunkt in Alice<br />

Springs eröffnet. Zusammen mit den Stützpunkten in Port Augusta, Yulara und Adelaide bildet er<br />

die Zentralsektion. Der RFDS betreut heute nahezu alle gering besiedelten Gebiete Australiens.<br />

Insgesamt wird ein Gebiet von etwa 7,15 Millionen Quadratkilometer bedient, was in etwa zwei<br />

Dritteln der Gesamtfläche Australiens entspricht. Allein der Stützpunkt in Alice Springs ist für ein<br />

Gebiet von 1,25 Millionen Quadratkilometer zuständig, in dem etwa 16 Tausend Menschen leben.<br />

Neunzig Prozent von ihnen sind Aborigines. Der RFDS kann innerhalb von zwei Stunden jede<br />

Person in Australien erreichen. Er besitzt fünfzig Flugzeuge an siebenundzwanzig Standorten.<br />

Ungefähr sechshundertdreißig Personen arbeiten für die Flying Doctors. Ärztliche Beratungen<br />

erfolgen nach Bedarf. Anrufe werden im Kontrollzentrum über Telefon oder Sprechfunk entge-<br />

gengenommen und bei Bedarf direkt mit einem Arzt zur medizinischen Beratung verbunden. Heu-<br />

te wird der Funk in den meisten Fällen nur noch als Ersatz bei Ausfall des Telefons eingesetzt.<br />

Außerhalb der Dienststunden werden die Funkfrequenzen auf Fernbedienung umgeschaltet und<br />

auf Anrufe für den Arzt hin abgehört, sodass der Funk vierundzwanzig Stunden täglich rund um<br />

die Uhr für Notrufe in Bereitschaft ist.“<br />

„Wer finanziert denn diesen Service?“, fragte Thomas interessiert.<br />

„Die laufenden Unterhaltungskosten des RFDS werden durch Zuschüsse des Bundes und der<br />

Regierung des Northern Territory finanziert. Kosten für den Ersatz von Ausrüstung oder von me-<br />

dizinischen Geräten muss der Dienst selbst decken. Deshalb ist er in starkem Maße auf öffentliche<br />

Spenden und andere Aktivitäten, wie zum Beispiel das Besucherzentrum und Café in Alice<br />

Springs, sowie andere Besucherzentren angewiesen. Außerdem erzielt er Einnahmen durch die<br />

Erstattung der Kosten für medizinische Dienste durch die Versicherungen oder Patienten. Privat-<br />

personen, die durch Medicare, die australische Krankenversicherung, oder durch internationale<br />

325


Versicherungsabkommen auf Gegenseitigkeit versichert sind, brauchen für die Dienste des RFDS<br />

nichts zu zahlen, gleichgültig, ob sie im Outback leben, es Durchreisende oder Besucher aus ei-<br />

nem anderen Bundesstaat oder dem Ausland sind. Patienten ohne Versicherung müssen die Kos-<br />

ten der Behandlung selbst bezahlen.“<br />

„Eine großartige Einrichtung!“, meinte Shawn beeindruckt.<br />

„Ja, das ist es. Der RFDS hat im Laufe seiner langen Geschichte unzählige Leben gerettet und<br />

ist in seiner Art einmalig in der Welt.“ Kelly legte ihr Besteck auf den Teller. „Ich habe das Ge-<br />

fühl, ich platze gleich. Wie sieht es aus, Shawn, wollen wir uns noch bewegen, bevor wir ins Bett<br />

verschwinden?“<br />

„Gerne, ich bin auch ziemlich voll.“<br />

Sie verabschiedeten sich von Martina und Thomas, wünschten ihnen viel Spaß und bezahlten<br />

ihr Essen. Zusammen traten sie nach draußen in die warme Abendluft. Sie gingen eine gute Stun-<br />

de spazieren. Verschwitzt erreichten sie das Motel und machten es sich auf dem Bett gemütlich.<br />

Kelly nahm zwei Flaschen Cola aus der Minibar und reichte eine davon Shawn.<br />

„Die waren ja nett.“, sagte Shawn zwischen zwei Schlucken.<br />

„Ja, ein nettes Paar.“, bestätigte Kelly. „Sie haben eine hübsche Strecke vor sich.“<br />

„Was du da von den Highways und den fingierten Unfällen erzählt hast ist ja gruselig.“, mein-<br />

te Shawn fassungslos.<br />

„Ja, es ist schade, dass man auf eine solche Weise überfallen wird. Wenn wirklich etwas pas-<br />

siert, ist keiner bereit, anzuhalten, weil jeder Angst hat. Die Polizei ist machtlos gegen diese Ver-<br />

brecher und im Outback kann ein Mensch absolut spurlos verschwinden.“ Die junge Frau setzte<br />

sich zu Shawn auf das Bett und sah ihn an. „Wollen wir uns über das nächste Ereignis unterhal-<br />

ten?“, fragte sie sanft.<br />

Der Schauspieler seufzte. „Muss ja sein. Langsam bin ich nicht mehr so sicher, was wann ge-<br />

schah.“<br />

„Kann ich mir vorstellen, das macht nichts, es ist klar, dass du die Reihenfolge nicht mehr so<br />

zusammen bekommst. Wichtig ist nur, dass du drüber sprichst, was dort passiert ist.“<br />

Shawn überlegte. „Okay, das war nach dem Abend, als Carrie die Wette, die nie ausgezahlt<br />

wurde, gewonnen hatte.“<br />

*****<br />

Als sie am späten Vormittag erwachten, war Shawn verlegen. Er war still und gab nur kurze<br />

Antworten, wenn Carrie ihn etwas fragte oder ihn ansprach. Während des Frühstücks, das Shawn<br />

auf dem Sklavenstuhl zu sich nehmen musste, heute ohne die Anderen, fragte Carrie:<br />

„Sag mal, was ist mit dir los?“<br />

Ertappt seufzte der junge Mann. Einige Minuten schwieg er, bevor er begann, leise zu Reden.<br />

„Weißt du, mein Sexualleben bisher war zwar ausgefüllt, aber ... Naja, viel mehr als Missionars-<br />

stellung war nicht. Ab und zu mal die Frau oben, das war alles. Ich hatte nie das Gefühl, dass mir<br />

326


etwas fehlt. Und jetzt ... jetzt machst du Dinge mit mir, die ich geil finde, an die ich nicht mal den-<br />

ken mochte, geschweige denn, sie mir ernsthaft vorstellen. Wenn mir eine Frau angeboten hätte,<br />

mich anal zu befriedigen, hätte ich sie so weit hinaus geworfen, dass sie die Adresse vergessen<br />

hätte, verstehst du?“ Er wurde feuerrot und sah auf seinen Teller. „Ich würde glaube ich ausras-<br />

ten, wenn Teresa oder Karen das machen würden. Aber bei dir ist es etwas anderes. Du machst<br />

mit einer Selbstverständlichkeit Dinge mit mir, die so ... anders sind, so abstoßend und unglaub-<br />

lich erregend ... Ich weiß im Moment echt nicht, was schlimmer ist: Das Schamgefühl oder die<br />

Erwartung, dass du es endlich wieder machst. Es ist abartig, dass ich es genieße, anal befriedigt<br />

zu werden.“<br />

Shawns Stimme war leiser geworden und zuletzt blieben ihm die Worte im Hals stecken. Car-<br />

rie trank einen Schluck Kaffee und griff sanft nach Shawns Hand. Sie drehte mit der anderen<br />

Hand sein Gesicht in ihre Richtung und sagte ernst:<br />

„Es ist nicht abartig. Hör zu, alles, was gefällt, ist erlaubt. Sex ist nicht gleich deshalb etwas<br />

Abartiges oder Anstößiges, wenn er nicht der Norm entspricht. Du entdeckst hier zwangsläufig<br />

Dinge, die du im Alltag so nie kennen gelernt hättest. Wenn dir einiges davon gefällt, ist das in<br />

Ordnung. Anderes wird dir nie gefallen, auch das ist in Ordnung. Ich liebe es, dich zu vögeln,<br />

deine unglaubliche Geilheit zu sehen. Und ich liebe es, herkömmlich mit dir zu Schlafen, du bist<br />

ein wundervoller Liebhaber. Ich habe nie auf langweiligen Sex gestanden. Nur mit freiwilligen<br />

Sklaven zu Arbeiten ist aber auf Dauer unbefriedigend. Mit dir ist das was Anderes. Ich kann tun,<br />

wozu ich Lust habe und du wirst nie Nein sagen können.“ Sie lächelte und spürte, wie ihr warm<br />

wurde. „Im Moment hätte ich Lust, etwas auszuprobieren. Heute Abend werde ich dich vergewal-<br />

tigen, wenn mir danach ist und du wirst zu Höhepunkten kommen, die du nie für möglich gehalten<br />

hättest. Das ist okay, nichts, was dir peinlich sein muss.“<br />

Sie streichelte von unten sanft seinen Anus, bohrte ihm einen Finger hinein. Der Plug war<br />

heute Morgen weggelassen worden, Carrie hatte erklärt, sie würde ihn lieber auf andere Weise<br />

dehnen, und Shawn hatte ein verräterisches Ziehen in den Lenden verspürt.<br />

Ihm wurde schlagartig warm, als er Carries Finger sanft massierend in sich spürte. Sein Pe-<br />

nis zuckte und er biss sich leise stöhnend auf die Lippe. Seine Hände, die ja ungefesselt waren,<br />

zuckten hilflos in der Luft. Er wünschte, sie wären gefesselt gewesen. Carrie ließ ihn schnell wie-<br />

der in Ruhe, ihr stand heute Morgen der Sinn nach etwas anderem. Sie machte ihn von dem Stuhl<br />

los und er legte die Hände sofort auf den Rücken. Zufrieden lächelte sie.<br />

„So ist es gut, lass sie da und wir verzichten auf die Fesseln. Komm mit.“ Sie führte Shawn in<br />

den Folterkeller hinunter, wo Teresa, Karen und Brett warteten.<br />

„Was hast du vor?“, fragte Karen erwartungsvoll.<br />

Carrie lächelte. „Warte es ab.“, sagte sie geheimnisvoll und befahl Shawn, sich auf eine dicke<br />

Matte zu legen, die Carrie unter dem Fesselgalgen platzierte. Vorher hakte sie seine Hände nun<br />

doch zusammen. Er legte sich zögernd auf den Rücken, was mit den gefesselten Händen unbe-<br />

quem war. Carrie ging an den Schrank und kam mit zwei dick gepolsterten, breiten, stabilen Le-<br />

327


dermanschetten zurück, die an den Seiten mit einem breiten Lederriemen geschlossen wurden und<br />

auf einer Unterseite in zwei 10 Zentimeter langen, mit einem Stahlring bestückten, Lederlaschen<br />

endeten. Carrie kniete neben Shawn nieder, befreite ihn von seinen Fußmanschetten und legte ihm<br />

stattdessen sorgfältig diese neuen Ledermanschetten um. Sie prüfte, ob diese gut saßen, nicht zu<br />

stramm, nicht zu locker, nirgends drückten oder scheuerten. Erst, als sie sicher war, dass das<br />

nicht der Fall war, nickte sie zufrieden. Sie trat unter den Galgen und zog zwei Ketten aus einer<br />

Flaschenzugrolle am Querbalken des Galgens. Am Ende dieser Ketten waren kräftige Karabiner-<br />

haken angebracht. Diese hakte Carrie in die Stahlringe an den Fußmanschetten ein. Sie bat Brett:<br />

„Ziehst du ihn bitte hoch?“<br />

Der Mann trat an den Galgen und zog sachte an dem zusammenlaufenden Ende der beiden<br />

Ketten. Durch den Flaschenzug war es ein Kinderspiel, Shawns gute achtzig Kilo anzuheben.<br />

Carrie kniete neben Shawn und achtete peinlich darauf, dass er sich nicht den Nacken verletzte,<br />

als er in die Höhe gezogen wurde.<br />

Schließlich hing Shawn kopfüber an den Ketten. Sein Kopf baumelte gute 50 Zentimeter über<br />

der Matte. Carrie trat zufrieden an den Galgen und setzte einen Mechanismus in Gange, der die<br />

beiden Aufhängungen der Ketten auseinander fuhr, sodass Shawns Beine stark gespreizt wurden.<br />

Dessen auf den Rücken gefesselte Hände zuckten hilflos. Er hatte die Prozedur des Angehoben<br />

werdens mit zusammen gebissenen Zähnen hingenommen. Nun spürte er, wie ihm das Blut in den<br />

Kopf lief. Carrie trat dicht an ihn heran und streichelte sinnlich über seinen Schoß. Seine Beine<br />

zuckten. Er spürte, dass Brett hinter seinem Rücken ebenfalls dich an ihn herantrat und merkte<br />

geschockt, wie Brett ihm einen Finger in den Po bohrte. Ein verzweifeltes Keuchen entrang sich<br />

Shawns Lippen und er wand sich in den Fesseln. Carrie sah zufrieden aus und trat an den<br />

Schrank mit den verschiedenen Peitschen. Sie nahm eine Gerte mit breitem Lederstück am Ende<br />

und kehrte damit zu Shawn zurück. Teresas Augen glänzten, als sie die Gerte sah.<br />

„Darf ich?“, fragte sie erregt.<br />

„Gerne. Amüsiere dich nur.“ Carrie setzte sich bequem im Schneidersitz vor Shawn hin und<br />

sah diesem in die angstvoll geweiteten Augen. Teresa trat seitlich an Shawn heran und tätschelte<br />

ihm mit der Peitsche sanft die Hoden, den Penis. Der Wehrlose war sich nur zu bewusst, dass es<br />

nicht bei dem sanften Tätscheln bleiben würde. Er verkrampfte sich vor Angst und dann klatschte<br />

das breite Lederende der Gerte mit großer Kraft auf seinen rechten Hoden.<br />

Shawn zuckte und wand sich in der Fesselung und kam heftig ins Schwingen.<br />

„Halt ihn fest!“, befahl Carrie ruhig und Brett griff zu, hielt Shawns Körper fest. Teresa<br />

schlug zu und Shawn zuckte mit knirschenden Zähnen heftig zusammen. Die Frau ließ sich Zeit,<br />

machte zwischen den Schlägen gekonnte Pausen und variierte die Schlagstärke so geschickt, dass<br />

Shawn nie wusste, ob der nächste Schlag heftig oder schwach ausfallen würde. Schweiß lief ihm<br />

in Strömen über den Körper und er wartete auf den Moment, wo Teresa loslegen würde. Angst<br />

davor schnürte ihm die Kehle zu. Er sah direkt in Carries Gesicht, las darin die Erregung und<br />

dann traf ihn der nächste Schlag, direkt auf den Penis. Bei diesem gemeinen Schlag war es mit<br />

328


Shawns Beherrschung vorbei. Gequält schrie er auf und Tränen schossen ihm in die Augen. Hätte<br />

Brett ihn nicht eisern festgehalten, Shawn hätte sich zusammengekrümmt vor Schmerzen. Schnell<br />

hatte Teresa genug davon ihm zwischendurch Erholungspausen zu gönnen. Schneller und härter<br />

kamen die Schläge und bei jedem Treffer schrie der Gefesselte gellend auf. Er wusste, es brachte<br />

nichts, wenn er bettelte, dennoch flehte er um eine Pause.<br />

„Bitte, nur eine Minute .... Ahhh ... bitte ...“<br />

Er hatte keine Gnade zu erwarten. Einmal wechselte Teresa die Position und ein schmerzhaf-<br />

ter Treffer klatschte auf Shawns linke Brustwarze. Das war nur ein Einzeltreffer, sofort wandte<br />

sich Teresa erneut Hoden und Penis zu und Shawn schüttelte es vor Schmerzen. Er hatte das Ge-<br />

fühl, Stunden geschlagen zu werden. Als er glaubte, jeden Moment ohnmächtig zu werden, hörte<br />

Teresa keuchend vor Lust endlich auf.<br />

*****<br />

Müde verstummte der junge Mann. Kelly war froh, dass er erst einmal schwieg. Ihr waren bei<br />

dem Bericht Tränen in die Augen geschossen und sie rang um Fassung. Als Shawn den Mund<br />

aufmachte, hatte sie sich gefangen.<br />

„Die Haltung war brutal. Das Blut schießt dir in den Kopf und nach einiger Zeit hast du das<br />

Gefühl, der Schädel platzt dir jeden Moment.“<br />

„Und durch die Schmerzen wird dein Blutdruck zusätzlich in die Höhe getrieben, was die Hal-<br />

tung noch unangenehmer macht.“, stellte Kelly sachlich fest.<br />

„Ja, ich habe teilweise nur noch Sterne gesehen. Ich konnte während der ganzen Zeit direkt in<br />

Carries Augen schauen. Sie hat es genossen. Ich wollte nicht betteln, aber ... bald konnte ich nicht<br />

mehr. Dabei wusste ich, dass ... Ich wusste, dass es mir nichts nützen würde. Trotzdem ...“ Er<br />

presste die Lippen zusammen und schloss kurz die Augen. „Irgendwann hoffte ich nur noch, wie<br />

am Andreaskreuz endlich die Besinnung zu verlieren.“<br />

Kelly seufzte. „Das ist so eine Sache mit der Ohnmacht. Wenn man sie braucht, tritt sie meis-<br />

tens nicht ein. Das Adrenalin, das durch den Körper gejagt wird, verhindert die Ohnmacht oft.“<br />

Sie konnte spüren, wie Shawn kurz nickte. „Das hat nur geklappt, wenn es ganz heftig wurde<br />

... Oder wenn sie es gezielt darauf anlegten. Dann haben sie es geschafft.“ Er gähnte. „Ich bin<br />

müde, lass uns schlafen, okay?“ Die Therapeutin hätte gerne noch mehr von Shawn gehört, aber<br />

sie spürte, dass er an diesem Abend nicht gewillt oder in der Lage war, noch über seine Gefühle<br />

zu sprechen. Also stimmte sie zu.<br />

*****<br />

In dieser Nacht schliefen beide gut. Als Kelly am kommenden Morgen aufwachte, war Shawn<br />

nicht mehr im Bett. Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es nach halb 8 Uhr war. Wohlig<br />

rekelte die junge Frau sich einen Moment im Bett. Endlich raffte sie sich auf und erhob sich. Sie<br />

machte sich eine Tasse Kaffee, griff zum Telefon und rief in Sydney bei Lauren an.<br />

329


„Hey, Love, wie geht es euch?“, fragte die Freundin erfreut.<br />

„Gut. Es ist entsetzlich heiß und wir sind zurück auf den Stuart Highway. Shawn kommt mit<br />

den Temperaturen nicht so gut klar und ich bin ehrlich, es ist mir auch eindeutig zu warm. Im Zelt<br />

zu Übernachten ist eine Qual. Letzte Nacht waren wir in Ti Tree, im Augenblick sind wir in Bar-<br />

row Creek.“<br />

Lauren lachte. „Da seid ihr ja nicht weit gekommen.“<br />

Kelly musste ebenfalls lachen. „Hast du eine Ahnung! Wir sind gestern auf den Mount<br />

Stuart.“<br />

Lauren fragte erstaunt nach: „Was? Ich denke, es ist so heiß?“<br />

„Ist es. Ich bin den halben Berg hoch gefahren.“, erklärte Kelly vergnügt.<br />

„WAS? Hast du einen Knall?“ Lauren war entsetzt, das war ihrer Stimme deutlich anzuhören.<br />

Kelly lachte schallend. „Das hat Shawn mich ebenfalls gefragt.“<br />

Sie konnte vor ihrem geistigen Auge sehen, wie Lauren den Kopf fassungslos schüttelte.<br />

„Du bist nicht dicht.“<br />

Kurz herrschte Stille, dann sagte Lauren ernst: „Kelly, es ist gut, dass du anrufst. Hör zu. Ges-<br />

tern am frühen Morgen wurde in einem verlassenen Lagerhaus in Penrith 19 eine männliche Leiche<br />

gefunden, die Arme auf den Rücken gefesselt und ein Loch im Hinterkopf.“<br />

Kelly verzog das Gesicht. „Das ist schrecklich und du erzählst mir das, weil ...?“<br />

„... der Mann 1,85 Meter groß ist, um die vierzig, schlank und durchtrainiert, Brustwarzen und<br />

Penis gepierct sind, er kleine Kreolen aus Gold trägt und einen Penis auf die linke Pobacke täto-<br />

wiert hat.“<br />

Kelly wurde abwechselnd kalt und heiß. „Brett?“, stieß sie erschrocken hervor.<br />

Lauren seufzte. „Davon können wir aus gehen. Wir haben ihn als Stuart Evans identifiziert.<br />

Brett war nicht sein richtiger Name. Er stammt aus Prescot ...“<br />

Kelly unterbrach die Freundin. „Bei Liverpool. Oh, verfluchte Scheiße!“<br />

„Du sagst es.“ Lauren hatte gewusst, welche Wirkung die Nachricht auf Kelly haben würde.<br />

„Kelly, es sieht nach einer regelrechten Hinrichtung aus.“, erklärte sie.<br />

Kelly stöhnte. „Die wissen, dass er es war, der Shawns Aufenthaltsort verraten hat. Und so<br />

wissen sie auch, dass Shawn lebt! Himmel, Arsch und Zwirn!“<br />

Lauren seufzte. „Davon kann man wohl ausgehen. Sie werden nicht wissen, wo er ist, dass<br />

wissen nur seine Eltern und ich. Doch der Hubschrauberpilot würde ihn wiedererkennen und die<br />

Beamten in Eildon ebenfalls. Kelly, es ist möglich, dass Carrie und ihre Freunde rausfinden, wo<br />

Shawn sich aufhält!“<br />

Kelly überlegte hektisch. Genervt sagte sie: „Okay, hier draußen sind wir sicher, gefährlich<br />

wird es erst, wenn wir nach Eildon zurückkehren. Lauren, ich weiß nicht, ob ich Shawn davon<br />

erzählen soll. Ich bin ratlos. Der Ehrlichkeit halber müsste ich es ihm sagen, doch er macht gerade<br />

gute Fortschritte. Das könnte ihn übel zurückwerfen.“<br />

19 Penrith: Stadtteil von Sydney am Westrand der Stadt, kurz vor den Blue Mountains.<br />

330


Lauren erwiderte ernst: „Das ist eine schwierige Entscheidung. Lass dir Zeit damit, es muss ja<br />

nicht sofort sein. Und, Kelly, wenn es auch unmöglich scheint, hab ein Auge auf eure Umgebung,<br />

okay?“<br />

Die Therapeutin schnaufte angespannt. „Ich werde die Augen offen halten, verlass dich drauf.<br />

Ich melde mich wieder. Ich muss erst einmal die Nachricht verarbeiten.“<br />

Die Frauen verabschiedeten sich und Kelly legte den Hörer auf die Gabel. Was sie da gehört<br />

hatte, musste sie erst einmal verarbeiten. Carrie wusste also, dass Shawn überlebt hatte, dass ein<br />

Zeuge herumlief, der in der Lage war, sie und ihre Freunde zu identifizieren. Die Therapeutin fuhr<br />

sich mit den Händen durchs Haar. Einen Moment blieb sie noch auf dem Bett sitzen. Schließlich<br />

erhob sie sich und ging an ihren Rucksack. Aus einem der kleinen Seitenfächer nahm sie ein<br />

schwarzes Lederholster. Sie öffnete dies und zog eine Smith & Wesson 9 mm hervor. Sie besaß<br />

diese Waffe seit vielen Jahren und hatte sie stets in greifbarer Nähe. Lauren hatte ihr dies geraten.<br />

Sie hatte damals zu Kelly gesagt:<br />

„Süße, du bist Psychologin, keine Hellseherin. Du holst dir deine Patienten ins Haus und<br />

weißt nie, was hinter ihnen steckt. Tu mir den Gefallen, mach einen Waffenschein und hol dir<br />

einen Revolver, bitte.“<br />

Sie hatte Lauren den Gefallen getan. Bisher hatte sie die Waffe nie benötigt, doch sie pflegte<br />

sie und ging regelmäßig auf den Schießstand, um fit zu bleiben. Kelly war eine hervorragende<br />

Schützin.<br />

Erstmals, seit sie die Waffe gekauft hatte, war sie froh darüber. Mit geübten Fingern kontrol-<br />

lierte sie sie und steckte sie anschließend in das Holster zurück. Noch war sie unschlüssig, ob sie<br />

Shawn von Brett erzählen sollte. Kelly seufzte. Sie steckte die Waffe oben in ihren Rucksack und<br />

ging unter die Dusche. Als sie fertig war, kam Shawn mit Frühstück in der Hand ins Zimmer.<br />

„Hey, da bist du ja.“, begrüßte Kelly ihn fröhlich.<br />

„Morgen. Ich habe Frühstück besorgt.“, grinste der junge Mann.<br />

Kelly freute sich, dass er so gut gelaunt war. Gleichzeitig gab es ihr einen Stich. Sie entschied<br />

sich spontan, ihm vorerst nichts von Brett zu erzählen. Sie selbst würde die Augen offen halten,<br />

sie brauchte Shawn jedoch nicht in Panik zu versetzen. Es war fraglich, ob Carrie herausfinden<br />

konnte, dass Kelly sich des jungen Mannes angenommen hatte. Im Krankenhaus hatten sie er-<br />

zählt, Shawn würde nach Sydney überführt werden. Der Hubschrauberpilot wusste nur, dass er ein<br />

Pärchen nach Eildon geflogen hatte. Auf dem örtlichen Polizeirevier war Shawns Name unbe-<br />

kannt, nur ein weiterer Patient. Steve Hollister war der einzige, der Shawns Namen kannte. Auf<br />

ihn zu stoßen wäre eine große Leistung gewesen und Steve würde nie seine ärztliche Schweige-<br />

pflicht vergessen und Patientennamen preis geben. Alles in allem war die Gefahr, dass Carrie und<br />

ihre Freunde heraus bekommen konnten, wo Shawn sich aufhielt, eher gering. Entschlossen nickte<br />

Kelly, was bei Shawn einen erstaunten Gesichtsausdruck zur Folge hatte.<br />

„Was?“, fragte er verwirrt.<br />

331


„Ach, ich hatte nur überlegt, ob wir heute direkt bis Wycliffe Well fahren sollen.“ Die Ausre-<br />

de kam Kelly leicht über die Lippen. Sie setzte sich an den Tisch im Zimmer und fragte: „Wie<br />

sieht es aus mit Frühstück?“<br />

*****<br />

27) Kellys Überraschung<br />

Nur in den Minuten des Wiedersehens und der Trennung wissen die Menschen<br />

um die Fülle ihrer Liebe.<br />

Johann P.F. Richter<br />

Eine Stunde später waren sie unterwegs. Kurz hielt Kelly, die das Steuer übernommen hatte,<br />

noch an der Telegrafenstation an und zeigte diese Shawn.<br />

„Hier sind Stapleton und Frank umgebracht worden.“, erklärte sie.<br />

„Das muss ein unangenehmes Gefühl sein, so mutterseelenallein hier draußen Leben zu müs-<br />

sen.“, meinte Shawn schaudernd.<br />

„Ja, das wird es gewesen sein. Es war eine andere Zeit. Na, ich werde dir jetzt mal die netten<br />

Spinner in Wycliffe Well zeigen.“ Kelly warf den Wagen an und gab Gas. Rechts und links des<br />

Highway waren ab und zu ein paar Berge zu erkennen, ansonsten breitete sich, soweit das Auge<br />

reichte, trostlose Wüste und Einsamkeit um sie aus. Einmal kam ihnen ein Road Train entgegen,<br />

den Shawn begeistert bestaunte.<br />

„Es ist unglaublich, was das für Gefährte sind!“<br />

Kelly grinste. „Ja, so lang wie bei uns sind sie nirgends sonst. Die geringe Verkehrsdichte hier<br />

im Outback erlaubt im Vergleich zum Rest der Welt außergewöhnliche Zuglängen. In Ballungs-<br />

räumen ist der Betrieb von Road Trains nicht erlaubt. Sie fahren durch größere Städte nur auf<br />

festgelegten Strecken. Die Road Trains werden außerhalb der größeren Ballungszentren oder auf<br />

von ihnen nicht befahrbaren Strecken, wie zum Beispiel Pässen, zu normalen Beförderungseinhei-<br />

ten geteilt und fahren als kürzere Züge auf diesen Teilstrecken. Bei unseren Lastwagenkombinati-<br />

onen spricht man ab einer Länge von 36,50 Metern von einem Road Train. Ab da ist das Befesti-<br />

gen des gleichlautenden Warnschildes zwingend vorgeschrieben. Erlaubt sind maximal 53,50<br />

Meter Länge, ein maximales Fahrzeuggewicht bis hundertzweiunddreißig Tonnen ohne Zugwa-<br />

gen und eine maximale Höhe 4,60 Meter. Sie dürfen in den Staaten Victoria und Western Austra-<br />

lia eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h und von 90 km/h in New South Wales, Queensland<br />

und South Australia nicht überschreiten. Die Zugmaschine eines Road Train muss eine Leistung<br />

von 370 kW, entspricht so um die 500 PS, haben.“<br />

Sie kamen zügig voran und erreichten Wycliffe Well gegen 10.30 Uhr. Schon am Ortseingang<br />

musste Shawn herzlich lachen. Ein Schild verkündete, dass man eine UFO Landezone betrat.<br />

332


„Wie niedlich!“, lachte der Schauspieler und fotografierte das Schild. Gemütlich fuhren sie in<br />

die winzige Ortschaft hinein. Überall waren kleine, grüne Männchen zu sehen und grinsten den<br />

interessierten Besucher freundlich an. Ein weiteres Straßenschild verkündete, dass man sich im<br />

UFO Capital Australiens befand. Kelly steuerte auf das Roadhouse zu und parkte.<br />

„Na, komm, das musst du gesehen haben!“, grinste sie und stieg aus dem Wagen. Shawn folg-<br />

te ihr schmunzelnd. Angesichts seiner guten Laune hatte Kelly ein schlechtes Gewissen. War ihre<br />

Entscheidung, ihm nichts von Brett zu erzählen, richtig? Shawn war ein erwachsener Mann, hatte<br />

er nicht das Recht, eine solch wichtige Neuigkeit zu erfahren? Die junge Therapeutin war noch<br />

nie zuvor so unsicher gewesen, was sie tun sollte.<br />

Als sie das Roadhouse betraten wurde sie für den Moment aus ihren Grübeleien gerissen. Aus<br />

versteckten Lautsprechern war in einer Endlosschleife die Erkennungsmelodie der TV Serie ‘X<br />

Files‘ zu hören. Überall lagen Ordner mit diversen Zeitungsartikel, fein säuberlich in Kunststoff-<br />

hüllen drapiert, herum und man konnte erfahren, was es mit den UFOs auf sich hatte. All die Auf-<br />

regung um Wycliffe Well begann im Zeitraum vom 15. März bis 15. April 2002. Damals wurden<br />

im australischen Hinterland fast jede Nacht angeblich UFOs gesehen. Die Zeitungen waren voll<br />

von derartigen Berichten. Es soll eine Konzentration der Beobachtungen entlang der gerade im<br />

Bau befindlichen neuen Bahnstrecke zwischen Alice Springs und Darwin gegeben haben. Augen-<br />

zeugenberichte, Fotografien, einen kurzen Film, alles gab es darüber. Die tollste Story erzählte ein<br />

gewisser Lou Farkis. Er kannte eine Frau, die im März 2002, als sie von Alice Springs nach Hause<br />

fuhr, südlich von Wycliffe Well direkt neben dem Stuart Highway ein Licht sah. Sie merkte, dass<br />

es nicht von Bahnarbeitern oder dem Militär stammte und hielt an. Sie sah zunächst ein dreiecki-<br />

ges Raumschiff, aus dem drei silberfarbene Wesen herauskamen und auf sie zu gingen. Da geriet<br />

sie in Panik und fuhr davon. Lou Farkis, der ‘Experte‘, war heute zufällig der Manager des Wyc-<br />

liffe Well Holiday Parks. So gelang es ihm durch seine vielen Berichte Wycliffe Well zur angeb-<br />

lichen UFO Capital of Australia zu machen.<br />

Shawn las sich viele Berichte durch und auf seinem Gesicht wurde das Grinsen breiter. Leise<br />

fragte er Kelly:<br />

„Die glauben an diesen Mist, was?“<br />

Die junge Frau nickte. „Und wie! Wenn du nicht gesteinigt werden willst, sag lieber nicht laut,<br />

dass du zweifelst.“ Kelly grinste ebenfalls. Sie trat an den Tresen heran und bestellte zwei Tassen<br />

Kaffee, mit denen Shawn und sie sich an einen der freien Tische setzten. Als sie ausgetrunken<br />

hatten, bezahlte Kelly und sie verließen das Roadhouse. Auf dem weiteren Weg durch den Ort<br />

hindurch wurden sie an jedem Gebäude auf die Außerirdischen aufmerksam gemacht: durch große<br />

Zeichnungen an Hauswänden, grüne Plastikmännchen in Gärten, auf Dächern, fliegende Untertas-<br />

sen, kurz, es war nichts ausgelassen worden.<br />

„Unglaublich, dass erwachsene Menschen ernsthaft an so was glauben, oder?“, meinte der<br />

Schauspieler, als sie Wycliffe Well verließen. Kelly zuckte die Schultern.<br />

333


„Weißt du, man sollte nicht konsequent alles bestreiten, was unglaublich erscheint. Warum<br />

sollten ausgerechnet die Menschen die einzige Lebensform sein, die denken kann? Es gibt Aber-<br />

millionen Planeten da draußen, warum sollte nur die Erde besiedelt sein? Es ist nicht so, dass ich<br />

an Besucher von anderen Planeten glaube, aber ich lehne diese Vorstellung auch nicht generell ab.<br />

Wir sind nicht einmal fähig, der Erde ihre letzten Geheimnisse zu rauben und das Weltall ist für<br />

uns nach wie vor unergründlich. Dort oben mag es Lebensformen geben, die noch höher entwi-<br />

ckelt sind als wir.“<br />

Shawn hatte nachdenklich zugehört. „Hm, möglicherweise ... Du hast Recht, man sollte nicht<br />

alles, was man nicht sehen kann, ablehnen.“ Der Schauspieler sah aus dem Fenster und meinte:<br />

„Hier ist nichts mehr, nur endlose Wüste, was?“<br />

Geistesabwesend nickte Kelly. „Ja ...“<br />

Sie war mit den Gedanken woanders. Nach einer Weile fiel Shawn auf, wie schweigsam Kelly<br />

an diesem Morgen war. Unwillkürlich fragte der junge Mann sich, ob er etwas getan hatte, was<br />

die Therapeutin möglicherweise verärgert hatte. Er wurde zusehends nervöser. Angespannt sah er<br />

nach vorne aus dem Fenster und kaute auf seinen Lippen herum. Letztlich hielt er es nicht mehr<br />

aus.<br />

„Kelly, habe ich dir ... habe ich dich mit irgendwas verärgert oder so?“, fragte er besorgt und<br />

verängstigt.<br />

Kelly erwachte aus ihren Gedanken und sah Shawn an. „Oh Gott, nein, Shawn, wirklich nicht.<br />

Es tut mir leid, ich war mit den Gedanken woanders. Nein, du hast doch nichts getan.“<br />

Unendlich erleichtert atmete Shawn auf. „Man, ich hatte schon Angst ...“, sagte er leise.<br />

„Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht beunruhigen. Ich habe nur überlegt, wie wir weiter ma-<br />

chen. Ich denke, wir fahren heute bis Wauchope und übernachten dort. Das ist zwar nicht mehr<br />

weit, aber von dort sind es nur 10 Kilometer zu den Devils Marbles und einen Tag mal etwas frü-<br />

her Schluss machen ist nicht verkehrt.“<br />

Shawn war so erleichtert, dass Kelly nicht verärgert war, dass er sofort zustimmte. „Klar, wir<br />

haben ja Kilometer genug abgerissen in den letzten Tagen, da schadet es nicht, einmal früh Feier-<br />

abend zu machen.“<br />

Kelly war froh, dass sie Shawn mit der kleinen Ausrede erst einmal beruhigt hatte. Die weni-<br />

gen Kilometer bis Wauchope brachten sie zügig hinter sich. Im örtlichen Hotel ein Zimmer zu<br />

bekommen war kein Problem, war es doch noch vor 12 Uhr. Sie brachten ihre Rucksäcke auf das<br />

Zimmer und Kelly schlug vor:<br />

„Wie wäre es, wenn wir uns faul an den Pool legen?“<br />

„Hört sich nach einer vernünftigen Idee an. Der scheint mit Segelplane überdacht zu sein. So-<br />

mit liegen wir nicht in der prallen Sonne.“<br />

Sie zogen sich also um und lagen Minuten später auf bequemen Liegen an dem herrlich gro-<br />

ßen Pool im Schatten. Eine Bedienung kam und fragte, ob sie etwas Essen oder Trinken wollten.<br />

334


Kelly bestellte sich einen Obstsalat und eine große Flasche Wasser. Shawn stand der Sinn mehr<br />

nach etwas herzhaftem. Er fragte:<br />

„Was gibt es denn noch so zu essen?“<br />

Die junge Frau schlug vor: „Wir haben großartige Burger with the lot.“<br />

Fragend sah Shawn Kelly an und diese nickte. „Solltest du mal versuchen, Spezialität aus<br />

down under.“<br />

7up.“<br />

Skeptisch meinte Shawn: „Hm, naja, ich werde mal einen probieren. Und bitte ein großes<br />

Minuten später hatte Shawn einen Burger mit Käse, Frikadelle, Tomaten, Gewürzgurke, Ana-<br />

nas, Speck, Rote Bete, Spiegelei, Zwiebeln, Salat, Senf, Mayo und Tomatenketchup vor sich ste-<br />

hen. Er lachte.<br />

„Du hast vergessen zu erwähnen, dass das eine vollständige Mahlzeit ist.“<br />

Kelly und die Bedienung erklärten wie aus einem Mund: „Du kannst es doch ab.“<br />

Shawn wurde tatsächlich leicht rot.<br />

„Na, ich wünsche guten Appetit.“, grinste die Bedienung und verschwand nach drinnen.<br />

Shawn sah den riesigen Burger ein wenig ratlos an und Kelly erklärte grinsend:<br />

„Hinterher brauchst du eine Dusche, das ist normal.“<br />

Sie selbst hatte ihren Obstsalat vor sich stehen und fing an zu Essen. Shawn machte sich über<br />

den Burger her. Eine Dusche brauchte er zwar hinterher nicht, aber er war an den Händen total<br />

verschmiert.<br />

„War ein guter Tipp.“, erklärte er zufrieden. „Ich gehe mir schnell mal die Finger waschen.“<br />

Er verschwand Richtung Eingang und war kurze Zeit später da, mit sauberen Händen. „Was für<br />

ein Schweinkram.“ Grinsend ließ er sich in den Liegestuhl sinken. „Hat aber gut geschmeckt.<br />

Burger with the lot ...“<br />

Kelly hatte die ganze Zeit weiter über Brett nachgedacht. Letztlich war sie zu der Überzeu-<br />

gung gekommen, dass sie es Shawn nicht verheimlichen durfte. Es wäre ein grober Vertrauens-<br />

bruch gewesen und sie war sicher, dass sie mögliche Panik eher in den Griff bekommen würde als<br />

einen Bruch des Vertrauens, das Shawn ihr entgegen brachte. Da sie allein am Pool waren und<br />

weit und breit kein Mensch zu sehen war, nahm sie sich ein Herz und sagte ruhig:<br />

„Shawn, wir müssen reden. Ich habe heute Morgen, als du Frühstück besorgt hat, bei Lauren<br />

angerufen.“<br />

Shawn sah sie an. „Oh. Hat sich etwas ergeben?“, fragte er nervös.<br />

„In gewissem Sinne.“, erwiderte Kelly.<br />

Der junge Mann sah besorgt aus. „Was ist denn?“<br />

Die Therapeutin seufzte. „Die Polizei in Sydney hat Brett gefunden.“<br />

Shawn spürte, wie ihm heiß wurde. „Was?“ Sein Herz raste von einer Sekunde zur anderen<br />

heftig gegen seine Rippen. „Das ... Das ist gut! Ich würde mich gerne bei ihm bedanken, er hat<br />

mir das Leben gerettet.“<br />

335


Kelly atmete tief durch. Leise und bedrückt erklärte sie: „Das dürfte schwierig werden. Er<br />

wurde in Penrith, einem Stadtteil von Sydney, in einem verlassenen Lagerhauskomplex gefunden.<br />

Shawn, er ist ... tot.“<br />

Fassungslos starrte Shawn die junge Frau an. „Tot? Wie ...? Ich meine, warum ...?“<br />

Kelly griff nach seinen Händen, die heftig zitterten. „Die Polizei fand ihn, gefesselt und eine<br />

Kugel im Kopf. Er wurde regelrecht hingerichtet.“<br />

Der Schauspieler wurde unter der Sonnenbräune leichenblass. Kelly brauchte gar nichts mehr<br />

zu sagen, Shawn konnte sich zusammen reimen, was das gerade Gehörte bedeutete. Die Thera-<br />

peutin konnte spüren, wie sich sein Griff um ihre Hände verstärkte. Er starrte zu Boden und<br />

schwieg einige Augenblicke. Dann sagte er mit dünner Stimme:<br />

„Sie wissen es. Sie haben es raus gekriegt. Dass er verraten hat, wo ich bin. Sie haben ihn für<br />

den Verrat bestraft. Sie wissen, dass ich am Leben bin ...“ Er zitterte am ganzen Körper. „Sie<br />

werden alles daran setzen, mich zu finden und ... Oh Gott, sie dürfen keine Zeugen hinterlassen.“<br />

Hilflos und verängstigt sah er Kelly an. „Die werden mich finden. Oh mein Gott. Ich muss ... Ich<br />

muss weg!“<br />

Kelly setzte sich neben Shawn auf die Liege und zog ihn an sich. „Shawn, du musst ruhig<br />

bleiben, du darfst nicht in Panik geraten. Hörst du? Niemand außer Lauren und deinen Eltern<br />

weiß, dass du bei mir bist. Sie können dich gar nicht finden. Es weiß niemand, der etwas verraten<br />

könnte.“<br />

Shawn lag bebend in ihren Armen. „Wenn die rauskriegen, wo ich bin, werden die mich um-<br />

bringen!“, flüsterte er verzweifelt. „Die werden nicht eine Sekunde zögern, mich zu killen.“<br />

Kelly hielt den jungen Mann fest in den Armen. Seine Angst schnitt ihr wie ein Messer ins<br />

Herz. Beruhigend sagte sie:<br />

„Shawn, selbst wenn sie über irgendwelche Quellen herausfinden könnten, dass du bei mir<br />

bist, werden sie uns hier draußen im Outback garantiert nicht finden, okay! Solange wir hier un-<br />

terwegs sind, besteht keine Gefahr. Wenn wir später in Eildon sind, müssen sie auch das erst ein-<br />

mal herausfinden. Und dann bin ich ja auch noch da.“<br />

Shawn hob den Kopf und sah Kelly unglücklich an. „Was denkst du, dass du gegen Carrie und<br />

Alan ausrichten kannst?“, fragte er mit zitternder Stimme.<br />

Kelly griff nach ihrer kleinen Badetasche, die sie mit an den Pool genommen hatte und zog die<br />

Walther P99 hervor.<br />

„Das zum Beispiel.“, erklärte sie ruhig.<br />

Shawn riss die Augen auf. „Du hast eine Waffe?“, fragte er fassungslos und vergaß für einen<br />

Moment seine Panik.<br />

„Ja. Ich bin nicht lebensmüde, weißt du. Ich hole mir wildfremde Menschen ins Haus und fah-<br />

re zum Teil allein im Outback herum. Ich muss mich verteidigen können, wenn es hart auf hart<br />

kommt. Und ich kann nicht nur mit der Waffe umgehen, ich werde sie ohne zu zögern einsetzen,<br />

wenn es nötig wird.“, erklärte Kelly fest.<br />

336


„Du würdest ... sie einsetzen?“, fragte er leise.<br />

- Ich würde für dich töten! - dachte Kelly grimmig. Laut sagte sie: „Jederzeit! Du kannst mir<br />

glauben, ich kann es.“<br />

Shawn starrte eine Weile geistesabwesend auf den Boden vor sich, dann hob er den Kopf. „Ich<br />

habe eine Scheiß Angst.“, sagte er leise.<br />

„Das weiß ich, Shawn. Ich habe dir versprochen, dass ich nicht zulassen werden, dass dir et-<br />

was geschieht. Ich halte meine Versprechen. Ich weiß, dass du den Gedanken an Carrie nicht aus<br />

deinem Kopf beamen kannst, aber versuche, dich nicht von Panik überwältigen zu lassen. Hier<br />

draußen kann dir absolut nichts passieren und in Eildon werden wir später Vorkehrungen treffen,<br />

die dich schützen werden. Ich werde alles tun, um zu verhindern, dass dir etwas zustößt, das<br />

schwöre ich dir.“<br />

Shawns Augen schimmerten feucht. Leise sagte er: „Eigentlich sollte es anders herum sein ...“<br />

Er konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen über die Wangen kullerten. Genervt fuhr er sich mit<br />

der Hand über das Gesicht. Er atmete tief ein und erklärte entschlossen: „Ich werde mich nicht<br />

von meiner Angst überwältigen lassen. Ich werde nicht zulassen, dass Carrie mir das alles hier<br />

versaut!“<br />

*****<br />

In dieser Nacht schlief der Schauspieler sehr unruhig. Mitleidig zog Kelly ihn an sich und er<br />

kuschelte sich in ihre Arme. So schlief er deutlich ruhiger. Kelly selbst hatte den einen oder ande-<br />

ren Traum, durch den eine brünette Frau geisterte, die versuchte, ihre Adresse zu erfahren. Als sie<br />

am Morgen aufwachte, schüttelte sie die unangenehmen Gedanken schnell ab. Einen Moment ließ<br />

sie es zu, das herrliche Gefühl, Shawn im Arm zu haben, zu genießen. Sie gönnte sich dies jedoch<br />

nur wenige Minuten. Sanft weckte sie den jungen Mann. Sie wollten ja zu den Devils Marbles,<br />

bevor die Sonne zu hoch stand. Also mussten sie früh los.<br />

...“<br />

„Shawn, aufwachen, da warten ein paar teuflische Kugeln auf uns.“<br />

Verwirrt schlug Shawn die Augen auf. Müde nuschelte er: „Muss das sein? Will keine Teufel<br />

„Dich wird gleich der Teufel holen, wenn du nicht wach wirst.“ Kelly erhob sich und zog die<br />

Zudecke zur Seite. Verschlafen rekelte Shawn sich auf der Matratze und seufzte:<br />

„Du gibst ohnehin keine Ruhe ...“ Er stemmte sich ebenfalls aus dem Bett und schlurfte ins<br />

Bad. Tranig drehte er die Dusche an und stand gleich darauf unter dem Wasserstrahl. Zwanzig<br />

Minuten später war er deutlich wacher zum Aufbruch bereit. Kelly duschte ebenfalls schnell. Um<br />

halb 8 Uhr saßen sie im Restaurant und frühstückten. Abends waren noch mehr Gäste eingetroffen<br />

und von diesen saßen einige in der Lounge. Unauffällig ließ Kelly ihre Blicke über die anderen<br />

Gäste wandern. Sie trank einen Schluck Kaffee und fragte:<br />

„Bist du fit? Wir werden laufen müssen.“<br />

„Klar. Ich habe beschlossen, die Hitze zu ignorieren.“<br />

337


Kelly lachte. „Schöner Plan. Mal sehen, ob du das hinbekommst.“ Sie sah Shawn aufmerksam<br />

an und las in seinem Gesicht wie in einem offenen Buch. Er versuchte, seine Angst, die ihn seit<br />

dem vergangenen Tag umklammerte, zu überspielen. Sanft erklärte die Therapeutin:<br />

„Hör zu, Shawn, es ist in Ordnung, wenn du Angst hast. Du brauchst mir nichts vorzuspielen.<br />

Wenn du Angst hast, bist du wachsam und das ist gut.“<br />

„Warum weißt du nur immer so verdammt genau, was in mir vorgeht?“, wollte Shawn ver-<br />

blüfft wissen.<br />

Kelly lächelte. „Du hast es einmal selbst gesagt: Du könntest mit deiner Ausdruckskraft und<br />

Mimik Menschen in den Bann schlagen. Naja, und wer etwas davon versteht, kann in dir lesen<br />

wie in einem Buch. Dir steht ins Gesicht geschrieben, was du empfindest.“<br />

Frustriert schnaufte Shawn. „Ich kann nichts vor dir verheimlichen, was?“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, kaum. Es ist meine Aufgabe, mit zu bekommen, was du<br />

denkst und fühlst. Das ist in Ordnung.“<br />

„Muss ich mich wohl mit abfinden. Gut, was sind diese Devils Marbles?“<br />

„Die Karlu-Karlu, so werden sie von den Aborigines genannt, sind Granitsteine, die von Wit-<br />

terung und Korrosion zu runden Gebilden geformt wurden. Karlu-Karlu bedeutet ‘runde Gebilde‘,<br />

wobei die Aborigines damit nicht nur die Sachlage an sich erklären. Nach ihrer Überlieferung sind<br />

es die Eier der Regenbogenschlange. Die Gegend dort spielt dementsprechend in ihren Legenden<br />

und Zeremonien eine extrem wichtige Rolle. Wie der Uluru und die Olgas sind die Karlu-Karlu<br />

ihnen heilig. Bei den meisten damit in Verbindung stehenden Ritualen und Geschichten handelt es<br />

sich um geheimes Wissen, welches Außenstehenden nicht zugänglich gemacht wird. Bekannt ist,<br />

dass die Ureinwohner davon überzeugt sind, dass Wesen aus der Traumzeit in Höhlen unter den<br />

Steinen wohnen.“<br />

Shawn seufzte. „Wunderschöne Vorstellung.“, meinte er hingerissen.<br />

„Ja, das ist es. Solche korrosionsbedingten runden Steine gibt es nicht nur dort, sie sind an vie-<br />

len Orten der Welt zu finden, aber nur hier kommen sie in solchen Mengen und vor allem in sol-<br />

cher Größe vor.“<br />

Der Schauspieler schob sich das letzte Stück Spiegelei in den Mund. „Na, dann sollten wir uns<br />

die Dinger mal anschauen gehen.“, meinte er, als er geschluckt hatte. „Du hast mich neugierig<br />

gemacht.“<br />

Kelly war fertig und so bezahlten sie die Übernachtung und holten ihre Sachen aus dem Zim-<br />

mer. Draußen war es an diesem Morgen nicht ganz so heiß wie in den letzten Tagen und Shawn<br />

atmete erleichtert auf.<br />

„Wenn es so bleibt, ist es halbwegs erträglich.“, meinte er zufrieden.<br />

„Ja, so geht es.“, stimmte die junge Frau zu.<br />

Sie stopften ihre Rucksäcke ins Auto und stiegen in den Wagen. Die nicht einmal 10 Kilome-<br />

ter hatten sie schnell geschafft. Kelly fuhr auf den großen Parkplatz und sie stiegen aus. Shawn<br />

sah sich um und schüttelte fassungslos den Kopf.<br />

338


„Das ist ja irre!“, stieß er begeistert hervor.<br />

Überall um sie herum lagen Granitsteine übereinander und nebeneinander in den unterschied-<br />

lichsten Größen und Formen. Einige waren ganz kugelrund, andere eiförmig. Einige türmten sich<br />

beängstigend aufeinander und man hatte das Gefühl, der kleinste Windstoß würde sie voneinander<br />

herunter wehen. Wieder andere waren in der Mitte auseinandergebrochen und lagen einträchtig in<br />

zwei Hälften nebeneinander.<br />

Zusammen mit einigen anderen Besuchern, die es so früh am Morgen hierher verschlagen hat-<br />

te, machten sich Shawn und Kelly daran, das gut 2 Quadratkilometer große Areal zu durchwan-<br />

dern. Shawn machte viele Fotos. Er hatte das Gefühl, jede Felsformation war auf ihre Weise ein-<br />

malig.<br />

„Schau dir die da nur an!“ Er deutete auf zwei der Steine, die nebeneinander auf regelrechten<br />

Podesten ruhten. „Der Rechte muss umkippen, wenn man sich gegen ihn lehnt.“<br />

„Versuch es gerne. Du bist sicher erst der millionste Besucher, der das probiert.“<br />

Tatsächlich konnten sie beobachten, wie an anderen Stellen Touristen drollige Fotos machten,<br />

auf denen der eine oder andere sich gegen die runden Granitsteine presste und tat, als versuche er,<br />

diese zu Rollen. Shawn grinste.<br />

„Okay, solche Peinlichkeiten erspare ich mir wohl lieber.“<br />

Sie wanderten weiter und umrundeten das Gebiet einmal ganz. Gute zwei Stunden später er-<br />

reichten sie vollkommen verschwitzt und staubig den Wagen.<br />

Sie hockten sich in den Schatten des Autos und warteten, bis ihnen nicht mehr so heiß war.<br />

Noch einmal ließ Shawn den Blick über die Devils Marbles gleiten und meinte begeistert:<br />

„Es sieht befremdlich und unglaublich beeindruckend aus.“<br />

Kelly stimmte ihm zu. Sie war einige Male hier gewesen und jedes Mal war sie erneut faszi-<br />

niert von dem Anblick.<br />

„Ja, es sieht irre aus. Einige sehen aus, als seien sie absichtlich von Riesen übereinandergesta-<br />

pelt worden.“ Sie stemmte sich auf die Beine. „Was meinst du, wollen wir?“<br />

Shawn zog sich am Türgriff auf die Beine. „Gerne, im Auto bei Air Condition ist es angeneh-<br />

mer.“ Sie stiegen ein und Kelly steuerte vom Parkplatz hinunter zurück auf den Highway.<br />

„Wie weit ist es bis Tennant Creek?“, fragte Shawn, als die junge Frau Gas gab.<br />

„Gute 100 Kilometer. Es ist 11 Uhr, wir werden also gegen 12 Uhr dort sein. Es gibt in Ten-<br />

nant Creek ein nettes Motel, das Eldorado Motor Inn. Ich denke, wir werden uns dort ein Zimmer<br />

nehmen und mal die Vorteile einer etwas größeren Stadt genießen.“<br />

Shawn zuckte die Schultern. „Klar, wenn du meinst. Wie groß ist der Ort denn?“<br />

„Knapp 3.000 Einwohner, viele Aborigines. Es gibt einige Restaurants, überdies kann man ei-<br />

ne alte Goldmine besuchen. Ist mal etwas anderes als die winzigen Kaffs, die wir in den letzten<br />

Tage gesehen haben.“<br />

339


Kelly wollte Shawn noch nicht sagen, dass sie seine Eltern in Tennant Creek treffen würden.<br />

Erst wenn sicher war, dass alles geklappt hatte, würde sie ihm davon erzählen. Gerade sah der<br />

junge Mann traumverloren aus dem Fenster. Ihm war noch deutlich ins Gesicht geschrieben, wie<br />

sehr ihn die Nachricht von Bretts Tod verunsichert hatte. Selbst wenn der Besuch bei den Devils<br />

Marbles ihn abgelenkt hatte, konnte er den Gedanken an Carrie nicht so abschütteln. Er hatte<br />

Angst, das war Kelly klar. So kam der Besuch seiner Eltern gerade richtig, ihm Aufwind zu ge-<br />

ben. Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können. Kelly zeigte nach rechts aus dem Fenster.<br />

„Die Berge dort hinten, das sind die Murchison Ranges.“<br />

Shawn folgte ihrem Blick. „Ich wusste gar nicht, dass es so viel Berge im Outback gibt.“<br />

„Ja, wir haben eine Menge Hügel und Berge, nicht nur im Outback. Die Snowy Mountains<br />

haben größere Skigebiete als die Schweiz.“<br />

„Habe ich von gehört. Ein Freund fliegt oft nach Thredbo Village zum Ski fahren. Er<br />

schwärmt jedes Mal von den Hängen am Mount Kosciuszko.“<br />

„Ich fahre im Winter oft dort hin. Ich fahre nicht Ski, ich genieße nur die Natur, Schnee, und<br />

wandere stundenlang.“ Kelly sah die schneebedeckten Hänge, Wälder und Täler lebhaft vor sich.<br />

„Es ist so wunderschön dort.“<br />

Shawn verzog das Gesicht. „Ich ...“ Er räusperte sich etwas verlegen. „Ich war noch nie im<br />

Schnee.“, gestand er, rot anlaufend.<br />

„Was? Wirklich nicht?“<br />

„Nein. Ich wollte immer mal in die Rocky Mountains oder so, doch letztlich bin ich im Win-<br />

ter lieber in der Sonne geblieben.“<br />

Die junge Therapeutin lachte schallend. „Was für ein Weichei!“<br />

Shawn grinste. „Hey, ich bin ein Kind der Sonne.“<br />

Links neben der Straße tauchte ein großes Gehöft auf. „Das gehört zu Tennant Creek. Wir ha-<br />

ben es gleich geschafft.“<br />

„Eine echte Stadt. Mit Kino wohlmöglich?“ Shawn grinste.<br />

„Ja, Kino, Museum, Restaurants, Kneipen, Goldminen, einem Krankenhaus, vier Motels, ei-<br />

nem kleinen Flughafen für kleinere bis mittlere Maschinen, richtigen Straßen mit Fußwegen und<br />

Straßenbeleuchtung ...“<br />

Kelly zählte lachend die Vorzüge der Stadt auf. Tatsächlich sah das, worauf sie zu fuhr, wie<br />

eine echte Stadt aus. Die ersten Gebäude waren zu sehen, links der Straße tauchten Schienen auf.<br />

„Schienen?“, staunte Shawn.<br />

„Jepp, seit 2004 ist Tennant Creek an das Bahnnetz angeschlossen, the Ghan, so heißt die<br />

Bahn, wurde von Alice nach Darwin verlängert. Zwei Mal die Woche kommt sie hier durch.“<br />

„Großstadt!“, grinste Shawn ironisch.<br />

Sie passierten die Stadt und Geschäfte, Wohnhäuser und das erste Motel waren zu sehen. Kel-<br />

ly fuhr durch den Ort hindurch und am Ende tauchte auf der linken Straßenseite ein weiteres Mo-<br />

tel auf. Ein großes Schild verkündete, dass man das Eldorado Motor Inn vor sich hatte.<br />

340


sie:<br />

Kelly fuhr zur Anmeldung und sah sich um. Nirgends war jemand zu sehen. Erleichtert sagte<br />

„Warte doch hier, ich besorge uns schnell ein Zimmer.“ Sie stieg aus und betrat die kleine<br />

Anmeldung. Ein junger Mann begrüßte sie freundlich.<br />

„Hallo. Willkommen im Eldorado. Was kann ich für Sie tun?“<br />

„Hallo. Ich brauche ein Doppelzimmer, für vier Nächte, wenn es möglich ist. Und ich brauche<br />

eine Auskunft. Mein Begleiter und ich sind hier bei Ihnen mit einem älteren Ehepaar verabredet,<br />

Mr. und Mrs. Paul und Anna McLean. Sind die Herrschaften eingetroffen?“<br />

Der junge Mann sah in sein Anmeldungsbuch und nickte. „Ja, sind sie, sie haben gestern ein-<br />

gecheckt. Haben Raum Nummer 12, ich könnte Ihnen Raum 11 anbieten, so würden Sie nebenei-<br />

nander Wohnen.“<br />

Kelly nickte zustimmend. „Das wäre großartig. Sind die Beiden im Moment in ihrem Zimmer,<br />

haben Sie das zufällig mitbekommen?“<br />

„Nein, sie sind mit ihrem Leihwagen in die Stadt gefahren, vor ungefähr einer Stunde.“, wurde<br />

Kelly erklärt.<br />

„Okay, haben Sie vielen Dank.“ Sie füllte das Anmeldeformular aus und erhielt daraufhin den<br />

Zimmerschlüssel.<br />

„Auf der rechten Seite am Ende des Parkplatzes.“, erklärte der junge Mann und Kelly bedank-<br />

te sich noch einmal. Sie eilte zu Shawn zurück und erklärte:<br />

„Raum 11, am Ende des Parkplatzes.“ Schnell fuhr sie den Wagen vor ihre Unterkunft. Shawn<br />

schnappte sich die Rucksäcke vom Rücksitz, Kelly schloss die Tür auf und ein schöner Raum<br />

sowie angenehme Kühle empfing sie.<br />

„Das sind wirklich überraschend nette Zimmer.“, stellte Shawn anerkennend fest. „Selbst in<br />

den Roadhouses bisher waren die Zimmer super. In den Staaten sieht das in solch winzigen Kaffs<br />

anders aus, da sind die Motels oft verlauste Buden.“<br />

„Naja, gerade hier im Outback leben die Leute von den Touristen, die sich hierher verirren. Da<br />

sorgen sie dafür, dass es einladend aussieht. Die Gäste sollen sich wohlfühlen.“ Sie setzte sich auf<br />

das Bett und klopfte auf die Bettdecke neben sich. „Setz dich mal einen Moment zu mir, Shawn,<br />

ich muss dir da etwas sagen.“<br />

Der Schauspieler wurde blass. „Oh, was denn jetzt?“, fragte er nervös und setzte sich zu ihr.<br />

Kelly nahm seine Hände und sagte sanft: „Ich habe eine große Überraschung für dich.“<br />

Shawn sah die junge Frau erstaunt an. „Wie? Was für eine Überraschung denn?“<br />

Kelly lächelte. „Wir werden hier jemanden treffen. Lass dich überraschen, okay?“<br />

Shawns Gesicht drückte Verständnislosigkeit aus. Aber er nickte. „Na gut. Ich lasse mich<br />

überraschen.“, sagte er angespannt.<br />

Kelly erklärte liebevoll: „Keine Bange, es ist ...“ Sie sah aus dem Augenwinkel draußen einen<br />

Wagen vorbei fahren und neben ihrem Geländewagen stoppen. Shawn bekam das nicht mit, er<br />

stand gerade auf, um ins Bad zu gehen.<br />

„Ich mach mich mal frisch.“<br />

341


„Ja, mach das nur.“, lächelte Kelly.<br />

Shawn verschwand im Bad und Sekunden später rauschte die Dusche.<br />

Kelly nutzte die Gelegenheit, verließ leise das Zimmer und klopfte nebenan an die Tür. Ein<br />

gut aussehender Mann in den Mittfünfzigern öffnete ihr. Kelly sah sofort, dass es Shawns Vater<br />

war. Die Ähnlichkeit war verblüffend.<br />

„Mr. McLean.“<br />

„Oh, Sie müssen Dr. Jackson sein. Wo ist Shawn? Geht es ihm gut? Bitte, wie geht es unse-<br />

rem Sohn? Anna, Dr. Jackson ist hier!“<br />

Aus dem Bad kam eine attraktive, dunkelblonde, schlanke Frau zu ihnen geeilt.<br />

„Dr. Jackson, Sie sind da.“ Sie griff nach Kellys Hand und drückte diese fest. „Sagen Sie, bit-<br />

te, wie geht es Shawn? Weiß er ...?“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. Hastig erklärte sie: „Nein, er weiß es noch nicht. Ich habe ihm nur<br />

gesagt, dass wir hier jemanden treffen würden. Hören Sie bitte kurz zu. Ich möchte Sie bitten,<br />

Shawn auf gar keinem Fall nach der Entführung zu fragen, das ist wichtig. Wir haben gestern<br />

erfahren, dass einer der Entführer, der, der Shawns Aufenthaltsort an die Polizei weiter gegeben<br />

hat, in Sydney ermordet aufgefunden wurde. Shawn hat das sehr erschreckt und durcheinander<br />

gebracht. Ihm ist klar, dass die Entführer alles daran setzten werden, ihn zu finden, um einen Zeu-<br />

gen, der sie identifizieren könnte, zu beseitigen. Es hat mich einige Anstrengung gekostet, ihn<br />

halbwegs zu beruhigen. Freuen Sie sich, ihren Sohn zu sehen und nutzen Sie die Tage, mit ihm<br />

zusammen zu sein. Wenn er von sich aus etwas preis gibt, hören Sie es sich an, machen Sie ihm<br />

Mut und zeigen Sie ihm, dass Sie an ihn glauben und an eine vollständige Genesung.“<br />

Anna und Paul hatten Kelly konzentriert zugehört. Als sie von Brett berichtete, waren beide<br />

leichenblass geworden. Jetzt nickten sie entschlossen.<br />

„Wir werden uns nach Ihnen richten, das schwöre ich.“, erklärte Paul McLean ernst.<br />

Kelly nickte erleichtert. „Okay, das ist gut. Ich sagte ja am Telefon, dass ich auf jedem Fall<br />

ständig bei Shawn sein werde, ich bitte Sie, Verständnis zu haben.“<br />

„Ja, das haben wir.“<br />

„Dann lassen Sie uns mal rüber gehen.“<br />

Sekunden später standen die McLeans neben Kelly vor Zimmer 11. Anna McLean kullerten<br />

Tränen über die Wangen. Kelly lächelte ihr aufmunternd zu und öffnete die Tür. Shawn stand mit<br />

dem Rücken zu ihnen am Bett und wühlte in seinem Rucksack herum.<br />

„Ich muss sehen, dass ich neue Speicherkarten für den Fotoapparat bekomme. Meinst du, ich<br />

kriege so was hier?“ Er drehte sich herum und erstarrte. „MUM, DAD!“<br />

In der nächsten Sekunde lagen sich die drei Menschen in den Armen. Kelly lächelte zufrieden.<br />

Ihre Augen schwammen in Tränen. Anna und Shawn weinten um die Wette, Paul McLean ver-<br />

suchte, sich zu beherrschen, er bekam jedoch ebenfalls feuchte Augen. Minuten reihten sich anei-<br />

nander. Abgesehen von gestammelten: „Wie geht es dir?“ und: „Wie kommt ihr denn hier her?“,<br />

342


war nur Schluchzen zu hören. Endlich gelang es der Familie, sich voneinander zu lösen. Im nächs-<br />

ten Moment hatte Shawn Kelly an sich gerissen. Fassungslos stotterte er:<br />

„Ich liebe dich! Du bist ... unglaublich! Ich fasse es ja nicht.“ Unter Tränen lachte er. Er ließ<br />

Kelly los und umarmte erneut seine Mutter. Es dauerte noch weitere Minuten, bis sich die Drei<br />

halbwegs beruhigt hatte.<br />

Als sie sich gefangen hatten schlug Kelly vor: „Wie wäre es, wenn wir uns gemütlich an den<br />

Pool setzen und Reden?“ Der Vorschlag wurde erfreut aufgenommen. Kelly nahm das Telefon<br />

und fragte: „Wer möchte etwas Trinken?“<br />

Shawn grinste. „Einen doppelten Scotch.“<br />

Die Therapeutin lachte. „Da träume mal nachts von, mein Kleiner. Kaffee für alle?“<br />

Shawn warf ihr einen Blick zu, der besagte - Würde ich mal von Scotch träumen! - erklärte<br />

aber: „Ja, Kaffee hört sich gut an, oder?“<br />

Paul und Anna nickten. So wählte Kelly die Nummer der Lobby und bat:<br />

„Zimmer 11, ob es wohl möglich wäre, dass wir Kaffee und vier Tassen an den Pool bekom-<br />

men könnten? Und eine große Schüssel Obstsalat?“<br />

Der junge Mann an der Anmeldung erklärte freundlich: „Das ist kein Problem, Ma’am. Ich<br />

leite das sofort in die Wege.“<br />

„Recht herzlichen Dank.“ Kelly legte auf. „So, das wäre erledigt.“<br />

Sie zog ihren Bikini aus dem Rucksack und verschwand kurz ins Bad, um sich umzuziehen.<br />

Paul und Anna erklärten:<br />

„Wir werden uns dann auch mal umziehen.“<br />

Sie eilten in ihr Zimmer hinüber und Shawn sah Kelly an, die fertig war. Seine Augen füllten<br />

sich erneut mit Tränen und er fragte mit zitternder Stimme: „Wie soll ich das alles nur gut ma-<br />

chen?“<br />

Kelly lächelte liebevoll. „In dem du gesund wirst und ich eines Tages schöne Filme mit dir als<br />

Hauptdarsteller sehen werde.“<br />

„Ich werde tun, was in meiner Macht steht, das verspreche ich dir.“ Er trat an die Therapeutin<br />

heran und zog sie noch einmal innig an sich. „Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Was du für<br />

mich tust ist ... unbeschreiblich. Ich habe noch nie einen Menschen wie dich kennen gelernt. Was<br />

ich vorhin sagte ... Du weißt, dass ich dich ... Und ich weiß, dass ich es nicht darf. Aber ...“<br />

„Genau, Shawn, wir dürfen es nicht. Komm, lass uns gehen.“<br />

Hastig verließ sie das Zimmer, nachdem sie sich aus Shawns Armen frei gemacht hatte. Anna<br />

und Paul traten gerade aus ihrem Zimmer, beide in Badesachen. Sie nahmen Shawn in die Mitte<br />

und Anna sagte überwältigt:<br />

„Ich kann es noch gar nicht fassen, mein Liebling, dass ich dich wieder habe.“<br />

Shawn gab seiner Mutter einen Kuss auf die Stirn. „Denkst du, mir geht es anders? Kelly hat<br />

nichts verraten. Ihr wusstet es ja wenigstens.“<br />

343


Sie erreichten den Poolbereich und Shawn öffnete die Gittertür. Sie waren die einzigen Gäste<br />

hier und so konnten sie sich den besten Tisch auswählen, im Schatten einiger Palmen unter einem<br />

riesigen Sonnenschirm. Wenige Augenblicke später kam ein Angestellter des Restaurants, wel-<br />

ches zum Motel gehört, mit einem Tablett angeschleppt. Er stellte Tassen, zwei Thermoskannen<br />

mit Kaffee, Milch, Zucker, vier kleine Schüsselchen mit Löffeln und eine große Schüssel mit fri-<br />

schem Obstsalat auf den Tisch und wünschte einen angenehmen Aufenthalt. Kelly schenkte Kaf-<br />

fee ein und griff nach ihrer Tasse.<br />

„Schön, dass alles geklappt hat.“, sagte sie vergnügt.<br />

Die drei McLeans konnten ihr nur zustimmen.<br />

28) Flächenbrand<br />

Mit Kummer kann man allein fertig werden, aber um sich aus vollem Herzen freu-<br />

en zu können, muss man die Freude teilen.<br />

Mark Twain<br />

Natürlich wollten Paul und Anna endlich wissen, wie es Shawn ging. Es war für sie ein<br />

komisches Gefühl, nicht fragen zu können was passiert war, wie es ihm bei den Entführern<br />

ergangen war, doch sie hielten sich an das, was Kelly gefordert hatte. Shawn selbst wirkte,<br />

nachdem Ruhe eingekehrt war, angespannt. Es war für Kelly deutlich zu spüren, dass er,<br />

nachdem sein Verstand richtig erfasst hatte, dass seine Eltern bei ihm waren, Angst vor dem<br />

bekam, was zwangsläufig kommen musste: Fragen. Er wurde angenehm überrascht. Seine<br />

Mutter fragte:<br />

„Liebling, wie geht es dir? Erzähl endlich, was hast du alles zu sehen bekommen? Du<br />

siehst ... großartig aus. Du hast uns so schrecklich gefehlt! Es ist wundervoll, dich endlich<br />

wieder zu haben.“<br />

Shawn fiel ein Stein vom Herzen. Keine einzige Frage zu dem, was geschehen war. Un-<br />

glaublich erleichtert sagte er:<br />

„Naja, wie es mir geht, seht ihr ja. Gut! Dank Kelly. Sie ist unbezahlbar. Stellt euch vor,<br />

sie hat es geschafft, dass ich eine riesige Spinne auf die Hand genommen habe!“<br />

Anna und Paul, die um Shawns Arachnophobie wussten, rissen die Augen auf.<br />

„Mein Sohn, eine Spinne angefasst?“ fragte Paul verblüfft.<br />

Kelly lachte. „Ja. Eine große Huntsman, Tante Paula.“<br />

„Tante Paula?“ Anna war fassungslos.<br />

Shawn kicherte. „Gehört einem entzückenden, kleinen Aborigine Jungen Namens Jack.<br />

Ich habe ihn in Haasts Bluff, einem winzigen Kaff mitten im Outback, kennen gelernt. Er hält<br />

die Spinne als Haustier und hat sie Tante Paula getauft.“<br />

344


Die McLeans schüttelten ungläubig den Kopf.<br />

„Ich habe ein Beweisfoto!“, lachte Shawn. Nachdem er gemerkt hatte, dass seine Eltern<br />

nichts über die Entführung fragten, wurde er deutlich entspannter.<br />

„Wir glauben dir ja, Schatz.“, lächelte Anna und griff nach der Hand ihres Sohnes. Sie<br />

sah, dass er sich verändert hatte. Eine Mutter spürte so was. Sie sah seine Augen und konnte<br />

die Veränderung in ihnen sehen. Sie erkannte die Angst, Traurigkeit und unterschwellige<br />

Hoffnungslosigkeit in den sonst so frech blitzenden Augen ihres Sohnes und war schockiert.<br />

Das war nicht mehr der Shawn, der vor sieben Monaten vergnügt und gut gelaunt nach Aust-<br />

ralien geflogen war. Anna sah Spuren in seinem Gesicht, die vorher nicht dort zu sehen gewe-<br />

sen waren. Ihre Gefühle waren so zwiespältig wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie war Shawns<br />

Mutter! Einerseits wollte sie wissen, was mit ihrem geliebten Sohn geschehen war. Anderer-<br />

seits hatte sie Angst davor. Sich vorzustellen, was er unter Umständen durch gemacht hatte<br />

während der Gefangenschaft ... Sie wusste nicht, ob es nicht besser war, es nicht zu wissen.<br />

So aber konnte die Fantasie Purzelbäume schlagen. Sie träumte fast jede Nacht davon, dass<br />

Shawn in einem feuchten, finsteren Keller lag und halb verhungert und verdurstet war. Oder<br />

sie sah ihn an eine Wand gekettet von einem brutalen Schläger mit Fäusten bearbeitet. Sie<br />

wachte davon jedes Mal schweißnass auf. Nun endlich saß er vor ihr, offensichtlich körperlich<br />

gesund und unbeschadet, psychisch jedoch ebenso offensichtlich fast gebrochen und sie durfte<br />

nicht fragen, was ihm widerfahren war. Und sie durfte sich nichts anmerken lassen, was noch<br />

viel schwieriger war.<br />

Kelly beobachtete die McLeans. Shawn wirkte entspannter, nachdem seine Eltern nicht<br />

nach Details der Entführung fragten. Paul McLean gelang es gut, zu verbergen, was in ihm<br />

vorging. Anna waren ihre Gedanken ähnlich deutlich ins Gesicht geschrieben wie ihrem<br />

Sohn. Die Therapeutin konnte sich gut denken, was in Shawns Eltern vorging. Der Druck,<br />

nicht zu wissen, was Shawn widerfahren war, musste für sie grausam sein. Aber das Wissen<br />

wäre möglicherweise noch grausamer. Kelly würde zu gegebener Zeit mit Paul und Anna<br />

sprechen, ihnen, soweit es möglich war, ohne die Schweigepflicht zu verletzen, einige Infor-<br />

mationen geben. Natürlich nicht, ohne vorher mit Shawn gesprochen zu haben. Im Augen-<br />

blick sollten die Drei aber erst einmal das Wiedersehen genießen. Alles andere musste warten.<br />

Locker meinte die junge Frau:<br />

„Erzähle, wie ich dich auf den Ayers Rock tragen musste.“<br />

Shawn warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Das stimmt ja gar nicht! Ich habe es ohne<br />

Hilfe geschafft, auf das Hügelchen zu kommen.“, meinte er großspurig.<br />

Kelly lachte schallend. „Ja, klar. Aus dem letzten Loch hast du gepfiffen und wolltest auf<br />

der Milz weiter atmen. Und am Tag danach hast du mir die Ohren voll gejammert wegen dei-<br />

nes Muskelkaters.“<br />

345


Shawn schüttelte entschieden den Kopf. „Hört nicht auf sie, sie ist ja so gehässig! Mum,<br />

Dad, ihr ahnt nicht, wie wunderschön das Outback ist! Der Ayers Rock ist ... wow. Ich bin<br />

wirklich fast nicht hoch gekommen, ich dachte, ich müsse abbrechen. Das Mistding ist nur<br />

knappe 400 Meter hoch, aber so steil und anstrengend, gerade bei der Hitze, dass es unglaub-<br />

lich schwer ist, ihn zu besteigen. Ist man einmal oben hat man eine absolut überwältigende<br />

Aussicht. Aber zwischendurch habe ich wirklich nach einem Sauerstoffzelt geschrien!“ Er<br />

lachte.<br />

„Australien muss ein unglaublich schönes Land sein. Dad und ich haben viel gegoogelt in<br />

den letzten Wochen. Man weiß viel zu wenig über diesen Kontinent.“ Anna sah ihren Sohn<br />

liebevoll an. „Es ist zu spüren, dass du begeistert bist.“<br />

„Das bin ich. Australien könnte ... Ich könnte hier leben.“ Dass er Kelly anschaute, fiel<br />

außer dieser niemandem auf. „Ich überlege ernsthaft, hier herzuziehen.“<br />

„Shawn, du wirst erst einmal nach Florida zurück gehen und dein altes Leben aufnehmen.<br />

Wenn du später, viel später noch den Wunsch hast, nach Australien zu kommen, werde ich dir<br />

gerne helfen. Das verspreche ich dir.“, meinte Kelly liebevoll.<br />

Anna nickte zustimmend. „Das klingt vernünftig. Im Moment bist du gefangen von der<br />

Schönheit des Landes. Alles, was du dir in den Staaten aufgebaut hast, einfach über Bord zu<br />

werfen ist nicht der richtige Weg, denke ich. Aber Liebling, erzähle erst einmal weiter. Dad<br />

und ich möchten erfahren, was du noch gesehen hast und was ihr gemacht habt.“<br />

Shawn hatte bei Kellys Worten kurz resigniert den Blick gesenkt. Er versuchte, die Situa-<br />

tion zu überspielen indem er von seinen Erlebnissen im Outback, wie etwa seiner Begegnung<br />

mit der Giftspinne und dem Versteckspiel mit Kelly erzählte. „Wir sind zig Kilometer auf<br />

unbefestigten ‘Straßen‘ unterwegs gewesen.“ Er betonte das Wort Straßen ironisch. „Kelly hat<br />

mir beigebracht, off road zu fahren. Anfangs war es unglaublich schwer. Dad, du müsstest das<br />

mal ausprobieren. Wenn man mit dem Wagen über Stock und Stein fährt, die Kiste sich mehr<br />

und mehr zur Seite neigt, das ist unglaublich! Kelly kann mit dem Geländewagen perfekt um-<br />

gehen.“ Er versuchte, weiterhin fröhlich und entspannt zu klingen, doch die Therapeutin hörte<br />

seiner Stimme an, dass ihre klare Aussage, er solle erst einmal heimkehren, ihn bedrückte.<br />

„Wir sind an manchen Tagen keine 15 Kilometer weit gekommen. Ein oder zwei Mal musste<br />

Kelly mir ins Lenkrad greifen, weil ich drohte, uns auf die Seite zu werfen. Später hatte ich<br />

den Dreh raus. Oder?“<br />

Er sah Kelly fragend an. Diese schmunzelte.<br />

„Ja, das hattest du, ich kann dir bedenkenlos die off road Tauglichkeitsbescheinigung aus-<br />

stellen. Du hast unglaublich dazu gelernt.“<br />

Shawn strahlte, doch das Strahlen erreichte nicht seine Augen. Anna und Paul bemerkten<br />

dies nicht. Sie waren froh, dass ihr Sohn so begeistert von der Reise erzählte.<br />

346


Shawn nahm einen Schluck Kaffee. „Aber aufpassen muss man auf alles. Am Anfang ha-<br />

ben wir irgendwann an einem Salzsee übernachtet. Morgens war ich früh wach und habe mich<br />

mit meinem Kaffee an den See auf einen Stein gesetzt. Und nicht mitbekommen, dass sich<br />

hinter mir ein Taipan auf den Stein schlängelte. Wenn Kelly nicht dazu gekommen und das<br />

Vieh von mir abgelenkt hätte ...“ Er seufzte. „Ich bin eindeutig nicht buschtauglich.“<br />

Kelly lachte, um Anna und Paul zu beruhigen. „Du hast ja mich. Shawn hat Recht, man<br />

muss hier draußen sehr aufpassen. Viele unserer Schlangen sind hochgiftig. Und wir haben<br />

einige von ihnen gesehen. Das mit dem Taipan war ganz am Anfang des Trips. Heute ist<br />

Shawn wesentlich wachsamer und weiß, worauf er achten muss. Er wird noch ein richtiger<br />

Buschmann.“ Sie sah die McLeans fragend an. „Wir könnten ja morgen einen Ausflug ins<br />

Outback machen. Was halten Sie davon?“<br />

Paul McLean grinste auf eine so vertraute Weise, dass Kelly unwillkürlich ebenfalls grin-<br />

sen musste. Es war, als schaue man einer älteren Ausgabe Shawns ins Gesicht. Dieses freche<br />

Grinsen war bei ihm noch viel zu selten zu sehen. Doch wenn es aufblitzte, bekam man un-<br />

willkürlich gute Laune. Anna sah skeptisch aus, nickte aber entschlossen.<br />

„Warum nicht. Das wäre eine großartige Erfahrung.“<br />

„Gut, also werden wir morgen einen kleinen Ausflug machen. Shawn, du kannst beweisen,<br />

wie gut du mit dem 4 Wheel Drive umgehen kannst. Es gibt in der Nähe einen Krater, unge-<br />

fähr 40 Kilometer entfernt. Dort könnten wir hinfahren.“<br />

Shawn nickte. „Das hört sich gut an.“<br />

Seine Eltern stimmten fröhlich zu.<br />

Sie verbrachten den Nachmittag gemütlich am Pool, Shawn erzählte weiter viel von dem<br />

Trip. Er stellte die eine oder andere Frage nach Zuhause und was seine Eltern so gemacht hat-<br />

ten. Gegen 18 Uhr verschwanden sie alle in ihre Zimmer, um sich für das Abendessen umzu-<br />

ziehen. Als sich die Tür hinter Shawn und Kelly schloss, fragte die Therapeutin:<br />

„Na du, alles in Ordnung soweit?“<br />

„Ja, ich bin nur fassungslos, dass du das heimlich gemanagt bekommen hast. Ich dachte<br />

im ersten Moment, ich halluziniere. Und ich hatte schreckliche Angst. Was, wenn sie mich<br />

etwas gefragt hätten?“<br />

Kelly griff nach Shawns Händen. „Das hätte ich nie zugelassen. Das weißt du. Es wird die<br />

Zeit kommen, wo du ihnen Erklärungen wirst geben müssen, doch das ist ferne Zukunftsmu-<br />

sik. Genieße erst einmal die Zeit, die ihr habt. Deine Eltern sind großartige Menschen. Sie<br />

sind so unendlich glücklich, dich wieder zu haben, nur das zählt.“<br />

„Das wird das Beste sein. Ich habe es so oft gesagt, aber ... Ich bin dir unendlich dankbar,<br />

Kelly. Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Ohne dich ...“<br />

347


Kelly schüttelte den Kopf und unterbrach den Schauspieler energisch. „Hey, das ist in<br />

Ordnung, ich brauche keine Dankbarkeit. Ich mache es mehr als gerne und du brauchst mir<br />

nicht zu danken.“<br />

„Doch, das muss ich! Du tust erheblich mehr als nötig wäre.“ Er zog Kelly an sich und<br />

hielt sie einen Moment fest in seinen Armen. Schweren Herzens löste er sich von ihr und frag-<br />

te leise: „Wenn sie was wissen wollen, was soll ich ihnen bloß sagen?“<br />

Kelly lächelte beruhigend. „Wir werden das entscheiden, wenn es so weit ist, okay? Denke<br />

jetzt nicht daran. Geh duschen, sie werden auf uns warten.“<br />

*****<br />

Zwei Stunden später schoben sie alle ihre Teller im Restaurant zurück.<br />

„Puh, das war gut.“, erklärte Shawn und rieb sich über den Bauch. „Ich werde platzen, be-<br />

vor ich nach Hause komme. Die Australier verstehen etwas vom Kochen.“<br />

„Du musst nur jeden Tag 10 Kilometer joggen, dann wird es nicht ansetzen.“, erklärte<br />

Kelly zuckersüß.<br />

Shawn verzog das Gesicht. „Ja, läster du nur über mich. Bei den Backofentemperaturen in<br />

eurem komischen Land kann man bestenfalls im Kühlschrank joggen.“<br />

Anna lachte. „Ja, mein Sohn und Wärme, da stoßen ab einer bestimmten Temperatur zwei<br />

Welten aufeinander.“<br />

„Naja, zu seiner Ehrenrettung muss ich gestehen, die letzten Tage waren heftig, selbst für<br />

das Outback viel zu heiß. Das war ja der Grund, warum ich von unserem ursprünglichen Plan<br />

abgewichen bin. Selbst ich, die ich keine Probleme mit großer Hitze habe, hatte keine Lust,<br />

im Zelt zu übernachten.“, erklärte Kelly.<br />

Paul meinte: „Als wir in Alice Springs aus dem Flieger gestiegen sind, war es, als würde<br />

jemand eine Heizdecke über uns ziehen. In Florida ist es wirklich nicht kalt im Sommer,<br />

Temperaturen über 30 Grad sind normal, aber das, was wir hier erleben, ist kein Vergleich.“<br />

Die Therapeutin seufzte. „Ja, es ist viel zu heiß und eigentlich sollte es um diese Jahreszeit<br />

regnen, das wird dieses Jahr wohl ausfallen. Da wird es Waldbrände geben und das Wasser<br />

wird knapp werden.“<br />

Etwas später fingen Shawns Eltern an zu gähnen. Paul entschuldigte sich und seine Frau.<br />

„Der Jetlag, seid uns nicht böse, aber uns fallen die Augen zu. Wann wollen wir denn<br />

morgen aufbrechen?“<br />

Kelly winkte den Kellner heran und Paul bezahlte für alle. „Vielen Dank. Ich denke, so<br />

gegen 8 Uhr spätestens. So haben wir den ganzen Tag Zeit. Wenn es Ihnen Recht ist?“<br />

Anna und Paul nickten. „Ja, bis dahin werden wir ausgeschlafen haben.“ Zusammen<br />

machten sie sich auf den Weg zu ihren Zimmern. Vor der Zimmertür 11 verabschiedeten sie<br />

sich für die Nacht von einander.<br />

348


„Schlaft gut.“, wünschte Shawn und umarmte seine Eltern. „Bis morgen früh.“<br />

*****<br />

Pünktlich um 8 Uhr saßen sie alle in dem Geländewagen. Shawn und Kelly hatten diesen<br />

umgepackt, sodass der Rücksitz frei war. Shawn fuhr, Kelly saß auf dem Beifahrersitz. Sie<br />

dirigierte ihn nach Westen aus der Stadt hinaus und kurze Zeit später wurde das Gelände un-<br />

eben und zerklüftet. Kelly zeigte auf einen Berg, der südlich am Horizont zu sehen war.<br />

„Das ist Mount Samuel. Wir überqueren seine Ausläufer und arbeiten uns nach Süden<br />

weiter.“<br />

Shawn schaltete auf Allradbetrieb um und die nächste Stunde wurden sie schön durchge-<br />

schüttelt. Nach einiger Zeit hatten sie die Ausläufer der Berge hinter sich. Anfangs hatten<br />

Paul und Anna noch ab und zu vor Schreck auf gekeucht, doch nach und nach wurde es stiller<br />

auf der Rückbank. Nicht etwa, weil sie vor Angst gelähmt waren, sondern weil sie sich zu-<br />

nehmend sicherer fühlten und Spaß an der Fahrt hatten. Als das Geschaukel aufhörte lachte<br />

Anna.<br />

„Das hast du großartig gemacht, Liebling. Ich hatte anfangs Angst! Später hat es viel Spaß<br />

gemacht.“<br />

Da das Gelände nun eben und leichter zu befahren war fragte Kelly: „Wie sieht es aus, Mr.<br />

McLean, wollen Sie es einmal versuchen?“<br />

Paul grinste. „Nennen Sie uns doch bitte Paul und Anna. Ja, ich würde es schrecklich ger-<br />

ne mal versuchen.“<br />

„Gut, Paul, ich bin Kelly. Shawn, gehst du auf den Rücksitz?“<br />

Shawn hielt und stieg aus. Er setzte sich zu seiner Mutter, während sein Vater auf den<br />

Fahrersitz rutschte. Nach einer kurzen Einweisung durch Kelly startete Paul McLean den Wa-<br />

gen und es ging langsam, bald jedoch schon schneller und sicherer weiter.<br />

ly:<br />

Man merkte deutlich, dass Shawns Vater großen Spaß an der Sache hatte. Einmal rief Kel-<br />

„Anhalten!“, und Paul ging auf die Bremse. Kelly stieg aus und deutete an, dass die<br />

McLeans ihr folgen sollten. Behutsam näherten sie sich etwas, dass auf einem Stein in der<br />

Sonne hockte. Als sie nah genug dran waren, richtete das Etwas sich auf und spreizte einen<br />

Hautlappen rund um seinen Hals. Gefährlich zischend warnte es seine Besucher, nicht näher<br />

zu kommen. Die McLeans blieben erschrocken stehen, Kelly ging lachend dichter.<br />

„Gib hier bloß nicht so an, mein kleiner Schatz.“, sagte sie liebevoll zu der kleinen, viel-<br />

leicht 25 Zentimeter großen Echse. „Kommt ruhig näher, die tut zwar, als wäre sie ein T-Rex,<br />

ist aber vollkommen harmlos. Das ist eine Kragenechse.“<br />

349


Shawn und seine Eltern ließen sich nach diesen Worten nicht mehr abschrecken und traten<br />

näher. Shawn machte einige Fotos, doch bald reichte es dem Reptil und es rannte auf zwei<br />

Beinen erstaunlich schnell davon. Begeistert sahen sie dem kleinen Tier hinterher. Shawn<br />

grinste.<br />

„So ist es, wenn man mit Kelly unterwegs ist. Sie sieht Dinge, die uns nie auffallen wür-<br />

den. Es ist, als wäre man mit Davy Crockett unterwegs.“<br />

Sie marschierten zum Wagen zurück und es ging weiter. Einmal kreuzten sie eine unbefes-<br />

tigte Straße. In dem ebenen, buschbestandenen Gelände kamen sie gut voran. Erneut tauchte<br />

eine Sandpiste vor ihnen auf. Kurze Zeit später wurde das Gelände unebener und schwerer zu<br />

befahren. Kelly achtete darauf, dass Paul McLean keine Lenkfehler machte. Er schaffte es<br />

ohne größere Probleme, die Unebenheiten zu überwinden. Wieder ging es über spärlich be-<br />

wachsene Ebene.<br />

„Die Weite dieses Landes ist unfassbar.“, meinte Anna und sah gebannt aus dem Fenster.<br />

„Ja, das habe ich auch gedacht.“, sagte Shawn und drückte seiner Mutter die Hand. „Man<br />

kann tagelang fahren und keine Menschenseele treffen. Es hat mir unendlich gut getan in der<br />

ersten Zeit.“<br />

Shawn brachte damit ungewollt die Gedanken seiner Mutter auf die Zeit der Entführung<br />

zurück.<br />

„Schatz, wir haben jede Sekunde an dich gedacht.“, sagte sie liebevoll. „Bis zu ... deiner<br />

Befreiung war es für Dad und mich ein einziger, nicht enden wollender Albtraum. Ich weiß<br />

heute nicht mehr, wie wir es durch gehalten haben. Als der Anruf kam, dass man dich lebend<br />

gefunden hatte ...“ Anna konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen über die Wangen kullerten.<br />

Shawn zog seine Mutter in seine Arme.<br />

„Das ist Vergangenheit, Mum, ich bin hier, und es geht mir gut. Versuch das alles zu ver-<br />

gessen.“<br />

Kelly hatte der Unterhaltung gelauscht. Ruhig sagte sie:<br />

„Shawn hat Recht, Anna, Sie sollten das vergessen. Sie haben ihn unverletzt zurück und<br />

nur das sollte für Sie zählen.“<br />

„Das sagen Sie so leicht. Als es hieß, wir dürften nicht zu ihm, war das absolut grausam!<br />

Erst als Sie uns erklärten, warum es notwendig war, jede weitere Aufregung zu vermeiden,<br />

konnten wir uns halbwegs damit abfinden, nicht zu unserem Sohn zu dürfen. Wir waren fünf<br />

Monate lang im Unklaren, ob er noch lebte!“, erklärte Paul angespannt.<br />

„Ja, das war für Sie beide grausam. Auf lange Sicht hat es Shawn allerdings geholfen. Er<br />

wird bald fast der Alte sein und sie werden gemeinsam aufarbeiten, was geschehen ist.“<br />

Shawn hatte still zugehört. Bedrückt bat er: „Könnten wir bitte das Thema wechseln?“<br />

350


„Liebling, es tut mir leid, ich wollte nicht davon anfangen. Lass uns den wunderschönen<br />

Ausflug genießen, ja?“ Anna biss sich auf die Lippe und war um Fassung bemüht.<br />

Kelly war erleichtert, dass das unangenehme Thema damit vorerst vom Tisch war. Schnell<br />

hätte auf diese Weise aus einem kleinen Feuer ein Flächenbrand werden können. Um die<br />

McLeans abzulenken sah sie sich aufmerksam draußen um und die australische Tierwelt tat<br />

ihr den Gefallen, gerade zur rechten Zeit mit einigen Kängurus in Erscheinung zu treten. Sie<br />

bat Paul erneut, anzuhalten und zeigte auf eine Gruppe von trockenen Büschen. Malerisch vor<br />

einem dieser Büsche hockte ein graues Känguru und sah wachsam zu ihnen hinüber.<br />

„Seht mal dort!“<br />

Anna und Paul hielten unwillkürlich die Luft an. „Es ist unglaublich, welch gute Augen<br />

Sie haben, Kelly!“, staunte Paul und schüttelte ungläubig den Kopf.<br />

„Halb so wild.“, wiegelte Kelly ab. „Man muss nur wissen, worauf man achten muss. Das<br />

ist ein graues Riesenkänguru. Normalerweise trifft man sie nicht so weit nördlich. Der Größe<br />

nach muss das dort ein westliches Riesenkänguru sein. Sie leben eigentlich in South Australia,<br />

Western Australia und bis New South Wales. Sie sind ohne Schwanz, der zirka einen Meter<br />

lang ist, zwischen 110 und 130 Zentimeter groß. Seht ihr, dass sein Bauch leicht weißlich ist?<br />

Das unterscheidet das westliche vom östlichen Riesenkänguru.“<br />

Mit großen Augen starrten Anna und Paul Kelly an. Shawn lachte schallend los.<br />

„Oh, Kelly weiß unglaublich viel über die Tierwelt und über Australien an sich. Frag sie<br />

was, Dad, und du wirst es sehen!“<br />

Paul grinste frech. Er überlegte kurz, dann strahlte er. „Salties!“ Er lachte siegessicher.<br />

„Salties?“, fragte Shawn verblüfft.<br />

Kelly grinste ebenfalls. „Das Leistenkrokodil, von den Australiern Salzwasserkrokodil<br />

oder kurz Saltie genannt, ist das größte heute lebende Krokodil nach dem Nilkrokodil. Es ge-<br />

hört zu den echten Krokodilen. Das Leistenkrokodil dringt nachweislich von allen Krokodil-<br />

arten am weitesten in den Ozean vor. Meistens ist es allerdings im Brackwasser von Flüssen<br />

und Sümpfen im Inland zu finden. Neben seiner Größe von bis zu über 7 Metern und einem<br />

Gewicht von bis zu einer Tonne, besitzt das Leistenkrokodil eine Reihe weiterer Merkmale,<br />

die eine Unterscheidung zu anderen Krokodilarten in seinem Verbreitungsgebiet möglich ma-<br />

chen. Der Körper ist breit mit einer langen, großen und breiten Schnauze. Dadurch kann man<br />

es gut vom Australien-Krokodil unterscheiden. Die ausgewachsenen Tiere sind grau bis grau-<br />

braun oder goldbraun. Jungtiere sind heller und besitzen eine dunkle Zeichnung aus Flecken<br />

und Querbändern. Die Panzerung des Rückens ist gleichmäßig und die Form der Einzel-<br />

schuppen ist oval. Direkt hinter dem Kopf fehlt die Panzerung. Von den Augen ziehen sich<br />

schräg über die Schnauze zwei erhabene Grate, von denen der Name abgeleitet wurde. Vom<br />

Alligator ist es unter anderem dadurch zu unterscheiden, dass bei allen Krokodilarten bei ge-<br />

schlossenem Maul die Zähne des Unterkiefers außen zu sehen sind. Beim Alligator ver-<br />

351


schwinden diese in dafür vorgesehenen Taschen des Oberkiefers. An Bauch und Schnauze<br />

besitzen Salties Sinneszellen, mit denen sie Vibrationen im Wasser wahrnehmen. Ihr Verbrei-<br />

tungsgebiet ist groß. Es reicht von Südostasien über Ostindien bis nach Australien und um-<br />

fasst die gesamte ozeanische Inselwelt. Ein berühmtes Saltie-Männchen legte 1.400 Kilometer<br />

von Palau bis nach Pohnpei in Mikronesien zurück. Der ursprüngliche Lebensraum der Salties<br />

sind Flussmündungen und Mangrovensümpfe. Es dringt aber auch weit in Süßwasserflüsse<br />

ein und kann in großen Seen und Sümpfen des Inlandes angetroffen werden. Beim Saltie wur-<br />

de übrigens erstmals ein im Blut von Krokodilen vorkommendes, natürliches Antibiotikum,<br />

heute Crocodillin genannt, festgestellt. Dieser Stoff hat in Labortests Bakterienstämme getö-<br />

tet, die gegen jedes andere Antibiotikum resistent waren.“<br />

Paul hatte vergessen, weiter zu fahren. Fasziniert hörte er Kelly zu.<br />

„Unglaublich. Sind Sie sicher, dass Sie Psychologie und nicht Zoologie studiert haben?“,<br />

fragte er frustriert.<br />

Shawn hakte nach: „Wenn du das Gespräch schon auf Krokos bringt: Wie gefährlich sind<br />

die für Menschen?“<br />

Kelly drehte sich zu Shawn herum. „Sagt dir der Spruch: Wo es Krokodile gibt, gibt es<br />

niemals Haie etwas?“ Sie kicherte über Shawns dummes Gesicht. „Okay, im nördlichen Aust-<br />

ralien kommt es leider regelmäßig zu Angriffen von Salties auf Menschen. Durchschnittlich<br />

kommt es etwa zweimal pro Jahr zu einem belegten Krokodilangriff. Zwischen 1971 und<br />

2004 wurden zweiundsechzig unprovozierte Angriffe registriert, die in siebzehn Fällen tödlich<br />

endeten. Um solche Attacken zu vermeiden, werden Leistenkrokodile von Wildhütern an Ba-<br />

deplätzen eingefangen und weit fortgebracht. Außerdem wird versucht, Badestrände mit Net-<br />

zen zu schützen. In den 1950ger und 1960ger Jahren verringerte sich der Bestand an Salties<br />

dramatisch, weil die Haut der Krokos sehr gefragt war. Vor ungefähr zwanzig Jahren began-<br />

nen die Bestände zum Glück, sich zu erholen, da ihr Lebensraum weitgehend unberührt ge-<br />

blieben war. Seit Leistenkrokodile durch das Washingtoner Artenschutzabkommen geschützt<br />

sind, werden sie in Farmen für die Lederproduktion gezüchtet, ihr Fleisch wird in Australien<br />

als Nahrungsmittel verkauft. Heute sind sie natürlich eine große Touristenattraktion.“<br />

Shawn verzog angewidert das Gesicht. „Ist es wahr, dass die ihre Beute im Wasser herum<br />

rollen?“, fragte er.<br />

Kelly nickte. „Ja, grundsätzlich ist das wahr. Wenn die Beute kleiner ist, ziehen sie sie un-<br />

ter Wasser und ertränken sie. Ist die Beute größer, müssen sie sie von den Beinen holen. Sie<br />

drehen sie sich im Wasser um ihre eigene Achse. Die gerne zitierte Todesrolle hat aber nichts<br />

mit der Jagd an sich zu tun. Krokos können nicht kauen wie andere Raubtiere. Sie müssen<br />

Stücke aus ihrer Beute heraus reißen, wenn diese zu groß ist, sie im Ganzen zu verschlingen.<br />

352


Dafür verbeißen sie sich in die Beutetiere und drehen sich mehrmals schnell herum. Auf diese<br />

Weise reißen sie Fleischstücke heraus, die sie dann schlucken können.“<br />

„Lecker ...“, meinte Shawn ironisch. Plötzlich stutzte er. „Was ist denn das dort hinten?“,<br />

fragte er nervös.<br />

Kelly sah in die Richtung, in die Shawn zeigte. „Oh, das ist nichts weiter schlimmes hier<br />

draußen. Es gibt oft Buschfeuer, gerade in der trockenen Jahreszeit. Kein Grund zur Sorge.<br />

Die laufen sich meistens tot, weil ihnen die Nahrung aus geht.“<br />

Im Hintergrund waren Rauchschwaden zu erkennen. Diese hatten Shawn beunruhigt. „Bist<br />

du sicher?“, fragte er nach.<br />

„Ja, ganz sicher, aber wenn es dich beruhigen würde, sage ich Bescheid, dass es hier<br />

brennt, okay? Sie schicken ein Flugzeug und überprüfen den Brand.“<br />

Shawn nickte verlegen. Kelly griff nach dem Funkgerät, warf einen Blick auf den Navi,<br />

stellte eine andere Frequenz ein und drückte das Knöpfchen am Sender.<br />

los?“<br />

„Hallo, kann mich jemand hören?“<br />

Es knackte und eine Stimme meldete sich. „Ja? Fire Department Tennant Creek, was ist<br />

„Wir stehen 19°47'25.31" südliche Breite, 134° 1'59.77" östliche Länge und sehen zirka 2<br />

Kilometer von unserem Standort Richtung Nordwesten ein Buschfeuer. Sie sollten sich das<br />

mal anschauen.“<br />

„Notiert, wir schicken einen Flieger, danke für die Meldung.“<br />

Kelly lächelte Shawn an. „Zufrieden?“<br />

„Ja, danke.“<br />

„Okay, dann können wir wohl weiter. Es sind noch ein paar Kilometer bis zum Krater.“<br />

Paul gab Gas und nachdem sie eine weitere unbefestigte Straße passiert hatten, wurde das<br />

Gelände rauer. Hier musste Paul aufgeben.<br />

„Puh, das traue ich mir nicht mehr zu. Kelly, übernehmen Sie?“<br />

Die Therapeutin lachte vergnügt. „Bevor Sie uns auf die Seite werfen, ja.“<br />

So stoppte Paul den Wagen und wechselte mit Kelly den Platz.<br />

„Wir haben es bald geschafft, das hier sind die Ausläufer des Kraters.“ Sie musste sich<br />

konzentrieren, denn das Gelände wurde extrem rau. Schließlich erklärte sie: „So, ab hier zu<br />

Fuß. Alle ihre Hüte bei sich?“ Alle McLeans nickten und schwenkten ihre Hüte. „Na, auf<br />

geht‘s.“<br />

Kelly führte die Drei durch teilweise dichtes Buschwerk sanft bergan, bis sie in eine Art<br />

flache Schüssel schauen konnten.<br />

„Der Kelly West Krater wurde erstmals 1973 erwähnt. Der Krater hat einen Durchmesser<br />

von fast 10 Kilometern. Sein Alter wird auf 550 Millionen Jahre geschätzt.“<br />

353


Sie stiegen ein kleines Stück in den Krater hinein. Die Vegetation war hier dichter als<br />

oben in der Ebene. Einmal entdeckte Kelly einen Emu, der im Gebüsch nach Fressbarem<br />

suchte. Sie machte die McLeans auf das Tier aufmerksam und Shawn versuchte, für ein gutes<br />

Foto dichter an den großen Laufvogel heran zu kommen. Als das Tier sich von dem Men-<br />

schen, der sich ihm näherte, bedrängt fühlte, und mit eindeutigen Drohgebärden auf Shawn<br />

zuging, zog dieser den schnellen Rückzug vor. Kelly lachte Tränen.<br />

„Du bist mir vielleicht ein Held!“, kicherte sie.<br />

Shawn lachte ebenfalls. „Weiß ich, ob der Kerl Vegetarier ist?“<br />

„Der Kerl war eine Dame und es war schlau, dass du dich zurückgezogen hast. Die kön-<br />

nen gefährlich werden wenn sie sich bedroht fühlen. Die Krallen an ihren Füßen sind gefähr-<br />

liche Waffen, mit denen sie zielsicher treten. Aber der nächste Crocodile Dundee wirst du so<br />

nicht!“<br />

Großspurig machte Shawn: „Pah.“ Er sah Kelly herausfordernd an und meinte: „Wer sagt<br />

denn, dass ich ein blöder Kroko-Jäger werden will? Ich strebe nach Höherem. Ich werde der<br />

nächste Tarzan!“<br />

Gemütlich machten sie sich auf den Rückweg. Bis in die Ebene fuhr Kelly, ab dort über-<br />

ließ sie Paul das Steuer. Dieser hatte großen Spaß an der Fahrerei off road. Sie fuhren in ei-<br />

nem weiten Bogen um den Krater herum und es ging in nordöstlicher Richtung zurück nach<br />

Tennant Creek. In der Nachmittagssonne zeigte sich das Outback in seiner ganzen Schönheit.<br />

Paul erklärte begeistert:<br />

„Anna, wir sollten einen längeren Urlaub in Australien einplanen. Mir gefällt unglaublich<br />

gut, was ich hier sehe. Shawn, ich kann nicht erwarten, die Bilder zu gucken, die du offen-<br />

sichtlich zuhauf gemacht hast.“ An Kelly gewandt meinte er: „Shawn ist ein großartiger Foto-<br />

graf. Er hat einen wunderbaren Blick für das Wesentliche.“<br />

Kelly und Shawn lachten gleichzeitig los. „Für das Wesentliche vielleicht, für das Offen-<br />

sichtliche nicht so ...“, bemerkte Kelly frech und Shawn konterte:<br />

„Ich glaube, ich war in den letzten Nächten zu friedlich, ich muss dich wohl mal wieder<br />

wach schreien.“<br />

Erst, als er es ausgesprochen hatte, merkte er, was er da von sich gegeben hatte. Anna und<br />

Paul waren bei seinen Worten blass geworden und Shawn verstummte betroffen. Kelly erklär-<br />

te locker:<br />

„Seit er Tante Paula auf der Hand hatte, träumt er gerne von Spinnen, was meine Nachtru-<br />

he manchmal erheblich stört.“<br />

Man konnte drei Steine hören, die den McLeans vom Herzen fielen. Selbst, wenn Paul und<br />

Anna die Erklärung zweifelhaft fanden, saugten sie Kellys Worte auf wie ein Schwamm Was-<br />

ser. Alle anderen Erklärungen waren zu schlimm, als dass sie sie hätten wissen wollen. Shawn<br />

354


fühlte Wogen von Dankbarkeit in sich, als er hörte, wie locker Kelly seinen Versprecher über-<br />

spielte. Er ging darauf ein und erklärte:<br />

„Ich habe Glück, dass Kelly so geduldig ist. Wenn ich um mich schlagend aufwache, weil<br />

überall Spinnen herumkrabbeln, schafft sie es immer, mich zu beruhigen.“ Damit war das<br />

Thema erledigt.<br />

*****<br />

Gegen 19 Uhr saßen sie gemütlich in Rockys Pizzeria. Shawn und sein Vater waren in ein<br />

hitziges Gespräch über die Vorzüge von Allradwagen in der Stadt vertieft. Anna war<br />

schweigsam und warf Shawn besorgte Blicke zu, die dieser nicht bemerkte. Als alle satt und<br />

zufrieden waren, bestellten die Männer sich noch ein weiteres Tooheys Red und als das Bier<br />

kam fragte Anna:<br />

„Kelly, haben Sie Lust, ein paar Schritte zu laufen? Nach dem reichhaltigen Essen könnte<br />

ich etwas Bewegung vertragen. Das kann hier noch dauern, wenn Paul und Shawn einmal in<br />

eine Debatte verstrickt sind, kann eine Weile vergehen, bis sie sich einig sind.“<br />

sich.<br />

Shawn sah erschrocken auf, doch Kelly warf ihm einen beruhigenden Blick zu.<br />

„Klar, lassen Sie uns Schaufenster bummeln.“, lachte sie fröhlich und die Frauen erhoben<br />

„Bis später im Motel. Prügelt euch nicht.“, verabschiedete Anna sich von ihren beiden<br />

Männern und folgte der Therapeutin nach draußen. Sie wandten sich nach links in Richtung<br />

des Motels und schlenderten in der warmen Abendluft einen Moment schweigend nebenei-<br />

nander her. Anna war es, die das Schweigen brach.<br />

„Ihnen ist klar, dass das eine Ausrede war, oder?“<br />

„Ja. Sie waren den ganzen Abend schweigsam, Anna. Was bedrückt Sie?“<br />

Die Frau seufzte. „Alles ... Nein, das ist nicht richtig. Es ist so wundervoll, meinen Sohn<br />

endlich wiederzusehen. Seine Stimme zu hören, ihn neben mir zu spüren ... Aber ... Ich kann<br />

spüren, dass er zusammenzuckt, wenn ich ihn berühre, ich kann sein Zittern fühlen. Ich sehe<br />

seine Augen ...“ Anna schniefte leise. „Sie hätten seine Augen vor dieser Sache sehen sollen,<br />

Kelly. Sie sprühten vor Lebensfreude, Frechheit und jetzt ... Ich sehe nur noch Angst, Ver-<br />

zweiflung und Hoffnungslosigkeit in ihnen. Bitte, Kelly, sagen Sie mir ehrlich, wird unser<br />

Junge je wieder so sein wie er war?“<br />

Vor ihnen tauchte das Motel auf und Kelly erklärte: „Wir sind gleich da. Wir werden uns<br />

gemütlich auf die Veranda vor den Zimmern setzen und in Ruhe darüber sprechen, wenn es<br />

Ihnen Recht ist. Ich mag wichtige Dinge nicht im Laufen besprechen.“<br />

Anna nickte unglücklich. Wenige Minuten später saßen sie auf der großzügigen Veranda,<br />

Kelly reichte Anna ein Glas Wasser und setzte sich zu ihr. Die Therapeutin überlegte, wie sie<br />

355


viel zu Shawns Zustand sagen konnte, ohne näheres zu den fünf Monaten sagen zu müssen, in<br />

denen er gefangen gehalten worden war. Sie bemerkte, dass Anna sie flehend anschaute.<br />

„Anna, Ihnen ist hoffentlich klar, dass alles, was zwischen Shawn und mir gesagt wird,<br />

unter die ärztliche Schweigepflicht fällt?“<br />

Mrs. McLean nickte. Verzweifelt sagte sie: „Ja. Aber er ist mein Sohn! Unser Sohn! Unser<br />

ein und alles, unser Leben. Haben wir nicht das Recht, zu erfahren, was geschehen ist? Damit<br />

wir ihm angemessen helfen können?“<br />

Kelly seufzte. Mitleidig schüttelte sie den Kopf. „Shawn ist ein erwachsener Mann, Anna.<br />

Es sieht leider so aus, dass das, was Sie und Paul wollen, im Augenblick unerheblich ist.<br />

Nein, lassen Sie mich bitte ausreden, okay?“ Anna wollte die Therapeutin unterbrechen,<br />

schwieg auf Kellys Bitte jedoch weiter.<br />

„Es ist unerheblich.“, nahm Kelly den Faden auf. „Wichtig ist zu diesem Zeitpunkt nur,<br />

was Shawn möchte. Er möchte keine Details preis geben. Damit werden Paul und Sie sich<br />

wohl oder übel abfinden müssen. Es mag der Tag kommen, an dem Shawn bereit sein wird,<br />

Ihnen Einzelheiten zu berichten. Es kann ebenso gut sein, dass dieser Tag nie kommen wird.<br />

Auch damit werden Sie sich abfinden müssen. Anna, Shawn ist durch eine Hölle gegangen,<br />

wie sie schlimmer nicht sein kann.“ Und nun log die junge Frau das erste Mal in ihrem Leben<br />

bewusst jemanden an, denn sie spürte, dass Anna irgend eine Erklärung brauchte. Sie fuhr<br />

fort: „Ursprünglich ging es wohl um eine Lösegeldzahlung. Ab wann alles schief ging und<br />

außer Kontrolle geriet bei den Entführern weiß Shawn nicht mehr zu sagen. Sie wussten nicht<br />

mehr weiter, waren sich uneins, ob sie ihre Geisel leben lassen sollten oder sie töten. Ihre Wut<br />

und Unsicherheit haben sie ungehemmt an Shawn ausgelassen. Er wurde schwer misshandelt<br />

und unter menschenunwürdigen Bedingungen eingesperrt. Mehr kann und darf ich Ihnen<br />

nicht sagen.“<br />

Anna hatte entsetzt gelauscht. Jetzt stieß sie: „Oh mein Gott! Mein armer Junge!“, hervor.<br />

Kelly nahm die Hände der älteren Frau in ihre und sagte: „Das Beste, was Sie für Shawn<br />

tun können ist, ihn nicht zu bedrängen, Verständnis für ihn zu haben und ihn zu unterstützen,<br />

wo Sie nur können. Ihre Frage, ob er je der Alte sein wird, kann ich nur verneinen. Anna, er<br />

wird nie wieder so werden wie vor dieser schrecklichen Entführung. Aber Sie und Shawn<br />

werden mit der Zeit mit den Erinnerungen leben können und das ist das Wichtigste. Shawn<br />

hat ungeheure Fortschritte gemacht. Er ist willens, um sein Leben zu kämpfen. Er braucht Ihre<br />

Unterstützung. Shawn ist ungeheuer stark und tapfer. Er wird zu Ihnen zurückkehren und ir-<br />

gendwann mit dem klar kommen, was man ihm angetan hat. Es wird immer einmal Tage ge-<br />

ben, an denen er verzweifelt und depressiv sein wird, Tage, in denen die Erinnerung an die<br />

schlimmste Zeit seines Lebens ihn heftig einholen wird. An solchen Tagen müssen Sie für ihn<br />

da sein, ihm Mut machen und ihm darüber hinweg helfen. Das wird Ihr Job sein in den kom-<br />

356


menden Jahren. Zeigen Sie ihm, wie sehr Sie ihn lieben und an ihn glauben. Und wie gesagt,<br />

bedrängen Sie ihn nicht, damit helfen Sie Shawn am meisten. Er hatte entsetzliche Angst da-<br />

vor, dass sie ihn mit Fragen überhäufen würden.“ Sie sah Anna in die Augen. „Das wird Ihnen<br />

alles abverlangen, doch auch Shawn wurde alles abverlangt und noch mehr. Und wird es noch<br />

weiter. Er hat alles gegeben, nun muss er alles zurückbekommen.“<br />

Mrs. McLean hatte stumm zugehört. Tränen stürzten ihr ununterbrochen über die blassen<br />

Wangen.<br />

„Ich danke Ihnen für ihre offenen Worte. Sie haben Recht. Paul und ich müssen lernen,<br />

damit umzugehen, dass wir vielleicht nie Einzelheiten erfahren werden. Und damit, dass<br />

Shawns Wohlergehen über allem steht.“ Die Tränen versiegten langsam und Anna schaute<br />

Kelly an. „Sie empfinden sehr viel für Shawn, richtig?“<br />

Kelly zögerte kurz. „Ja, das tue ich. Sehr viel mehr als ich dürfte. Ich mag Ihren Sohn<br />

sehr. Er ist ein wundervoller Mensch. Er verdient es mehr als jeder andere, dass ihm geholfen<br />

wird. Er braucht nicht nur meine Hilfe. Er muss wissen, dass Sie zu hundert Prozent zu ihm<br />

stehen, egal, was war und egal was noch sein wird.“<br />

Anna atmete tief durch. Sie straffte entschlossen die Schultern. „Ich vertraue Ihnen, Kelly.<br />

Ich glaube, Sie sind das Beste, was Shawn passieren konnte. Wenn Sie mir schon nicht sagen<br />

dürfen, was passiert ist, können Sie mir wenigstens sagen, ob Shawn Fortschritte gemacht<br />

hat?“<br />

Die Therapeutin nickte entschieden. „Ja, das kann ich Ihnen versichern! Ohne Shawns<br />

Einwilligung darf ich Ihnen nicht sagen, in welchem Zustand er zu mir kam. Sie können mir<br />

aber glauben, wenn ich Ihnen sage, dass seine Fortschritte beachtlich sind und das Beste hof-<br />

fen lassen. Sie dürfen nur nie vergessen, dass es noch nach Jahren zu Rückschlägen kommen<br />

kann. Shawn selbst darf das ebenfalls nie vergessen. Er wird von mir darauf vorbereitet und<br />

wird lernen, damit umzugehen.“<br />

29) Schmerzlicher Abschied<br />

Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen,<br />

wenn wir weggehen.<br />

Albert Schweitzer<br />

Anna hatte aufmerksam zugehört und wirkte erleichtert. „Das werden wir lernen, da bin<br />

ich sicher. Shawn ist unser einziges Kind, wie Sie wissen. Paul und ich würden alles für ihn<br />

tun. Sie müssen uns sagen, wie viel Sie für die Behandlung und all das hier bekommen, Kel-<br />

ly.“<br />

357


Die junge Frau lächelte beruhigend. „Da machen Sie sich bitte keine Gedanken. Ich gehö-<br />

re einer Gruppe von Psychotherapeuten an, die staatlich unterstützt werden. Wir arbeiten wei-<br />

testgehend unentgeltlich. Shawn und ich werden uns, wenn es so weit ist, einigen, was das<br />

Finanzielle angeht.“<br />

Mrs. McLean war erstaunt. „Sind Sie sicher?“, fragte sie nach.<br />

„Absolut.“<br />

„Gut. Noch eine Sache. Sie sagten, dass einer der Entführer ermordet aufgefunden wurde.<br />

Sie deuteten an, dass die anderen Entführer dementsprechend wüssten, dass Shawn lebt und<br />

alles daran setzen werden, ihn ausfindig zu machen. Bitte, Kelly, ist unser Sohn in Gefahr?“<br />

Kelly hatte mit dieser Frage früher oder später gerechnet. Sie wollte vorbehaltlos ehrlich<br />

sein. „Das werden Sie sich selbst denken können, Anna. Ja, er ist in Gefahr.“<br />

Anna wurde leichenblass.<br />

„Machen Sie sich keine zu großen Sorgen. Erstens müssen die herausfinden, dass er bei<br />

mir ist. Das wissen nur Sie und ihr Mann sowie Officer Demsey. Für alle anderen ist er in<br />

eine Klinik in Sydney verlegt worden. Und wenn die Entführer es tatsächlich herausfinden,<br />

müssen sie erst an mir vorbei. Auch wenn Ihnen das seltsam erscheint, ich bin durchaus in der<br />

Lage, Shawn zu schützen. Er ist bei mir sicher, darauf können Sie sich verlassen.“<br />

Anna seufzte. „Gott, das ist alles so schrecklich. Ich muss mich darauf verlassen was Sie<br />

sagen. Wir sind weit weg, wir können ihm nicht helfen. Ich habe furchtbare Angst, Kelly.<br />

Bitte, lassen Sie nicht zu, dass unserem Jungen etwas zustößt. Ich flehe Sie an!“<br />

Kelly zog die ältere Frau an sich und strich ihr beruhigend über den Rücken. „Das werde<br />

ich verhindern, verlassen Sie sich darauf.“<br />

„Worauf soll Mum sich verlassen?“<br />

Anna und Kelly zuckten gleichermaßen zusammen und herum. In der Verandatür standen<br />

Paul und Shawn. Sie sahen verwirrt und besorgt auf die Frauen hinunter.<br />

„Ist bei euch alles in Ordnung?“, fragte Paul angespannt.<br />

„Sicher, ich habe Anna nur gerade versprochen, weiter dafür zu sorgen, dass kein Taipan<br />

oder anderes giftiges Mistvieh Shawn anknabbert. Die Begegnung mit dem Taipan hat Anna<br />

nervös gemacht.“<br />

Kelly kam die Ausrede leicht über die Lippen und Anna drückte ihr unauffällig und dank-<br />

bar die Hand. Shawn lief rot an.<br />

„Mum, reg dich nicht wegen dieses Regenwurmes so auf. Kelly passt auf mich auf wie ein<br />

Bodyguard. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Sie ist die beste Buschfrau in Australi-<br />

en. Sie sieht die Schlangen, bevor die sich selbst sehen.“<br />

Anna zog ihren Sohn in den Stuhl neben sich. „Es macht mir Angst, dass du fast von einer<br />

Giftschlange erwischt worden wärest. Pass bitte gut auf dich auf, Liebling, versprich mir<br />

das!“<br />

358


Shawn griff nach den Händen seiner Mutter und erklärte: „Ich verspreche dir hoch und<br />

heilig, ich werde in Zukunft noch besser auf Regenwürmer achten.“<br />

Anna lachte. „Du bist unmöglich, mein Schatz. Was wollen wir denn morgen unterneh-<br />

men?“ Sie wandte sich an Kelly. Diese hatte darüber nachgedacht.<br />

„Wir könnten zum Lake Mary Ann fahren. Herrliches Badewasser und frei ganz von Sal-<br />

ties und Haien.“, erklärte sie.<br />

„Baden ist eine gute Idee, bei diesen Temperaturen.“, meinte Paul und sah seine Frau an.<br />

„Wie sieht es aus, Honey, ich bin erledigt, wollen wir uns zurückziehen?“<br />

Anna nickte gähnend. Sie war ebenfalls müde. „Gute Idee. Morgen früh um 8 Uhr beim<br />

Frühstück?“<br />

Kelly und Shawn nickten. „Klingt gut. Schlaft schön, ihr Beiden.“<br />

Shawn stand auf und umarmte seine Eltern. Dann zogen diese sich zurück.<br />

Kaum waren sie fort, fragte Shawn: „Es ging nicht um die Schlangen, oder?“<br />

„Nicht nur. Deine Mutter bat mich, allgemein auf dich aufzupassen.“<br />

Shawn schaute versonnen in die Dunkelheit hinaus. „Hat sie dich nicht mit Fragen gelö-<br />

chert?“<br />

Die Therapeutin seufzte. „Selbstverständlich hat sie das. Was hattest du erwartet?“<br />

Panisch fragte Shawn: „Du hast ihr nicht ...“<br />

Kelly unterbrach ihn und meinte: „Lass uns rein gehen, ich bin ebenfalls müde.“ Sie deu-<br />

tete nach nebenan und Shawn verstand. Im Zimmer erklärte Kelly: „Selbstverständlich habe<br />

ich ihr nichts gesagt! Abgesehen davon, dass ich es ohne deine Einwilligung ohnehin nicht<br />

darf, hätte ich es auch nie gemacht.“<br />

Sie begann, sich zu entkleiden und verschwand kurz im Bad. Als sie zurückkam ließ sie<br />

sich ächzend auf das Bett fallen. Shawn stand regungslos tief in Gedanken mitten im Zimmer.<br />

Er raffte sich ebenfalls auf und verschwand im Bad. Minuten später lag er neben Kelly und<br />

sagte leise:<br />

„Es tut mir leid, die Frage war dämlich.“<br />

„Ach was, ist in Ordnung. Ich habe deiner Mutter vage angedeutet, dass es sich bei deiner<br />

Entführung um eine gescheiterte Lösegelderpressung gehandelt hat. Wenn du der Meinung<br />

bist, sie könnten mehr erfahren, kannst du das richtig stellen. Sonst ist es eine Erklärung, die<br />

deinen Eltern ein wenig Licht in die Sache bringen wird.“<br />

Shawn seufzte leise. „Ich danke dir. Du hast die Gabe, jederzeit das Richtige zu sagen. Ich<br />

weiß nicht, ob ich je in der Lage sein werde, meine Eltern aufzuklären, ich denke eher nicht.<br />

Wenn ja, würdest du ... Ich meine, auch wenn ich dann nicht mehr dein Patient bin ... Wärest<br />

du bereit, bei mir ...“<br />

359


Kelly unterbrach den jungen Mann. „Du wirst immer mein Patient bleiben, Shawn. Ja,<br />

wenn du es möchtest, werde ich bei dir sein. Ich würde zu euch in die Staaten kommen und<br />

dir helfen.“<br />

*****<br />

Pünktlich um 8 Uhr am kommenden Morgen saßen die McLeans und Kelly an einem<br />

Tisch im Motelrestaurant. Der Tag sollte heiß werden, doch in den kommenden Tagen war<br />

eine leichte Abkühlung zu erwarten. Shawn hatte erleichtert aufgeatmet, als der Wetterbericht<br />

im Radio diese Ankündigung gemacht hatte.<br />

„Gott sei Dank! Langsam fängt diese Affenhitze an zu nerven.“<br />

Während des Frühstücks erzählten Paul und Anna, was sich in Florida in den letzten Mo-<br />

naten getan hatte.<br />

„Der Umbau des Dollar General ist abgeschlossen, du wirst es nicht mehr erkennen. Das<br />

hat sich gelohnt.“<br />

kelt.“<br />

Kelly sah Shawn fragend an.<br />

„Ein Einkaufszentrum in Ruskin. Da haben die fast anderthalb Jahre dran herum gewer-<br />

Paul berichtete weiter: „In den westlichen Außenbezirken Miamis haben die Probleme mit<br />

Alligatoren stark zugenommen. Immer häufiger müssen die Ranger ausrücken, um Tiere aus<br />

Pools und Gärten zu sammeln.“<br />

„Das Problem haben wir hier oben in Darwin mit den Krokos. Die Siedlungen breiten sich<br />

immer mehr in die angestammten Habitate der Krokodile aus und diese können sich gar nicht<br />

so schnell zurückziehen, wie der Mensch nachdrängt. Zum Glück werden die Tiere lebend<br />

gefangen und weit weg von Siedlungen wieder frei gelassen.“, seufzte Kelly.<br />

„Ja, so machen sie es mit den Alligatoren auch. Sie werden weit hinein in die Everglades<br />

geschafft und dort frei gelassen. Ausnahmen bilden Alligatoren, die nachweislich Menschen<br />

angegriffen haben. Die werden dann in Gehege geschafft. Es kommt regelmäßig zu Angriffen,<br />

sogar zu tödlichen. Die Statistik belegt, dass seit 1948 neunzehn Menschen durch Alligatoren<br />

getötet wurden. Offiziell. Inoffiziell können es durchaus mehr sein.“<br />

Kelly nahm einen Schluck Kaffee und meinte: „Wir sind es, die in die Lebensräume der<br />

Tiere eindringen. Wer sich unvernünftig verhält, muss damit rechnen, von Wildtieren ange-<br />

griffen zu werden. In den afrikanischen Savannen latscht auch niemand zu Fuß durch Löwen-<br />

gebiet, aber hier gehen die Leute in Flüssen schwimmen, an denen Hinweisschilder, groß wie<br />

Scheunentore, davor warnen, dort Baden zu gehen. Ist erst einmal ein Unfall geschehen, ist<br />

das Geschrei hinterher groß.“<br />

360


Shawn war es, der schließlich fragte: „Wie sieht es aus, wollen wir?“ Alle waren satt und<br />

zufrieden und so machten sie sich auf den Weg zum Lake Mary Ann. Bis zu dem Stausee<br />

waren es knapp 6 Kilometer. Als sie im Wagen saßen fragte Paul:<br />

„Wie sieht es denn mit Haiangriffen aus?“<br />

„Ach je, da wird vieles übertrieben. Durchschnittlich haben wir zirka fünfzehn belegte<br />

Angriff pro Jahr. Nur ein einziger davon verläuft tödlich. Das ist wie gesagt der Durchschnitt.<br />

Wenn man die Millionen von Badegästen, Tauchern, Wassersportlern dagegen rechnet, ist der<br />

Hai keine Bedrohung für den Menschen. Eine Statistik besagt, dass es jährlich vier bis sechs<br />

tödliche Angriffe weltweit gibt, aber zehn Menschen jährlich schon an einfachen Löffeln er-<br />

sticken, einhundertfünfzig Menschen sterben an den Folgen von simplen Kratzern ihrer Kat-<br />

zen. Von den Toten durch unsere Haushunde will ich gar nicht erst anfangen. Die Hetzkam-<br />

pagnen gegen Haie sind überzogen und viel gefährlicher als die Haie selber.“ Kelly grinste.<br />

Shawn, der neben Kelly saß, schnaufte. „Das ist ja alles schön und gut, aber die Vorstel-<br />

lung, von einem Fisch gefressen zu werden ist unangenehm.“<br />

Die Therapeutin lachte. „Gefressen wird so gut wie niemand, man stirbt zu neunundneun-<br />

zig Prozent am Blutverlust, weil die Bisse von großen Haien, wie Carcharodon Carcharias,<br />

Galeocerdo cuvier oder Carcharhinus leucas extrem große Wunden verursachen. Die Bisse<br />

dienen in erster Linie der Abwehr von Feinden, das sind die sogenannten Rempelangriffe,<br />

oder sie testen damit, ob das Objekt als Futter geeignet ist. In den allermeisten Fällen bleibt es<br />

bei dem einen Testbiss. Da kann also von Gefressenwerden keine Rede sein.“<br />

Shawn schnaufte erneut. „Erstens weiß ich nicht, welche Haie du da angesprochen hast ...“<br />

„White Pointer oder Weißer Hai, Tigerhai und Bullenhai. Sie sind für die meisten Unfälle<br />

verantwortlich.“<br />

„Okay, und zweitens ist es ziemlich egal, ob du als Appetithäppchen eingeplant bist oder<br />

‘nur‘ stirbst, weil du versehentlich zwischen ihre Zähnchen geraten bist. Wenn das Resultat<br />

das Gleiche ist, ein qualvoller Tod!“<br />

Kelly schüttelte grinsend den Kopf. „Ich sehe, du bist ein wahrer Haifreund. Bei Gelegen-<br />

heit machen wir mal einen Tauchausflug zu Haifütterungen, da könntest du dich überzeugen,<br />

dass die nicht mit Messer und Gabel klappern, wenn sie einen Menschen nur von Weitem<br />

sehen.“<br />

Shawn dachte an die Begegnung mit dem Hai, als Carrie ihn das erste Mal mit an den<br />

Strand genommen hatte. Sie hatte ihm hinterher gesagt, dass es sich um einen Weißspitzen<br />

Riffhai gehandelt hatte. Damals hatte er keine große Angst gehabt, das Tier war jedoch höchs-<br />

tens 1,40 Meter groß gewesen. Die Vorstellung, einem Hai unter Wasser zu begegnen, der<br />

zweimal so groß war wie er selbst, jagte dem Schauspieler Schauer über den Rücken.<br />

„Ich weiß nicht ...“, erklärte er grinsend. „Ich glaube, ich bleibe lieber an Land bei den<br />

Schlangen.“<br />

361


Gerade erreichten sie die Abfahrt zum Mary Ann Drive und Kelly setzte den Blinker.<br />

Kurze Zeit später tauchte der See vor ihnen auf. Kelly steuerte den Parkplatz an, wo bereits<br />

einige Wagen standen, und sie stiegen aus. Sie hatten Handtücher aus dem Motel bei sich und<br />

suchten sich einen netten Platz im Schatten einiger Bäume, wo sie es sich gemütlich machten.<br />

Sie hielten sich bis zum späten Nachmittag am See auf, schwammen wegen der brütenden<br />

Hitze immer wieder in dem erstaunlich kühlen Wasser und genossen das Faulenzen.<br />

Ihre Unterhaltungen drehten sich um alles Mögliche, nur nicht um die Entführung und den<br />

Grund, warum Shawn sich bei Kelly aufhielt. Als es anfing abzukühlen, wanderten sie noch<br />

ein Stück am Seeufer entlang. Shawn hatte seine Mutter eingehakt und unterhielt sich mit<br />

dieser. Paul blieb an Kellys Seite und sagte leise, sodass Shawn es nicht hören konnte:<br />

„Anna hat mir von eurem Gespräch erzählt. Wir können nie gut machen, was Sie für unse-<br />

ren Jungen tun, Kelly. Bitte, haben Sie ein Auge auf ihn, er ist so gar nicht der harte Typ, der<br />

sich gegen Verbrecher durchsetzen könnte. Verstehen Sie mich bitte nicht verkehrt, er ist alles<br />

andere als ein Feigling, sehr zu unserem Leidwesen, aber er ist kein Schläger. Er hat sich ver-<br />

nünftigerweise aus Ärger heraus gehalten. Nicht wie viele aus seiner Klasse und später an der<br />

Uni. Ganze Kerle, dachten sie, nur, weil sie sich herum prügelten. Shawn ist nicht so. Er ist<br />

kein Kämpfer, nicht in Schlägereien, im wörtlichen Sinne.“<br />

Kelly sah Paul an. „Dass er kämpfen kann, beweist er gerade hinlänglich. Mir ist klar, was<br />

Sie meinen. Ich halte Shawn für einen ungeheuer mutigen jungen Mann. Man muss seinen<br />

Mut nicht in Schlägereien beweisen. Ich hasse kaum etwas mehr als Schläger. Ich werde nicht<br />

nur ein Auge auf ihm haben, sondern beide, bitte glauben Sie mir das.“<br />

„Sie sind selbst eine ungeheuer mutige junge Frau, wissen Sie das? Wie halten Sie all das<br />

Leid, mit dem Sie konfrontiert werden in ihrem Beruf, nur aus?“<br />

Kelly war über diese Frage überrascht. Kurz schwieg sie, bevor sie antwortete:<br />

„Die ersten Patienten waren am schwersten. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich da-<br />

ran ... gewöhnt hatte ... Nein, das ist nicht richtig, man gewöhnt sich eigentlich nie daran, man<br />

sieht nur die Notwendigkeit ein, das alles zu hören zu bekommen. Nur so kann man diesen<br />

bedauernswerten Menschen helfen. Die ersten Erfolge ließen die Arbeit in einem so sinnvol-<br />

len Licht erscheinen, dass man das Grauen vergaß, welches die Opfer erfahren hatten.“ Kelly<br />

machte eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr: „Man darf es sich nur nicht unter die Haut gehen<br />

lassen, sonst bleibt man selbst als Opfer zurück und findet sich eines Tages in den fähigen<br />

Händen eines Kollegen wieder.“<br />

Paul nickte verstehend. Und dann stellte er eine Frage, die Kelly fast umwarf.<br />

„Wurde unser Sohn sexuell missbraucht, Kelly?“<br />

Die Therapeutin, die sich sonst so gut unter Kontrolle hatte, war von dieser ruhigen Frage<br />

überrascht. So überrascht, dass sie unwillkürlich hervor stieß:<br />

362


„Woher wissen Sie das?“ Im selben Moment merkte sie, was sie da gerade gesagt hatte.<br />

Sie versuchte abzuwiegeln: „Ich meine, wie kommen Sie darauf?“<br />

Paul seufzte gequält auf. Kelly sah Tränen in seinen Augen und hatte Angst vor dem, was<br />

kommen würde. Abscheu, die Frage, warum Shawn es nicht verhindert hatte ... Doch noch<br />

einmal riss es die junge Frau fast von den Beinen.<br />

„Mein armer Junge. Diese elenden Schweine!“<br />

Kelly musste sich erst einmal fangen. Leise fragte sie: „Woher ...?“<br />

Paul schluckte. Ebenso leise erwiderte er: „Segen und Fluch des Internets. Sie haben ja<br />

keine Ahnung, was man dort alles findet. Ich habe mich über Sie informiert, ich hoffe, Sie<br />

nehmen mir das nicht übel. Ich habe Expertisen über Sie gefunden, aus denen hervor geht,<br />

dass Ihre Patienten in erster Linie Opfer von sexuellem Missbrauch sind. Anna darf das nie<br />

erfahren, hören Sie? Sie würde daran zerbrechen.“ Es war interessant, das Gleiche hatte<br />

Shawn befürchtet, sollte sein Vater die Wahrheit erfahren. Und dieser wusste, oder ahnte es<br />

und zerbrach keineswegs. Im Gegenteil sagte er:<br />

„Sie müssen Shawn helfen, damit fertig zu werden. Er wird ... Wie ich sagte, Gewalt ist<br />

etwas, dass er nicht kennt. Er hat Konflikte nie gewaltsam gelöst und wurde nie mit Gewalt<br />

gegen sich selbst konfrontiert. Wir haben alles getan, um ihn aus solchen Sachen herauszuhal-<br />

ten. Dass ihm so etwas passiert ist, wird ihn entsetzlich belasten, habe ich Recht?“<br />

Kelly prustete angespannt. Dieses Gespräch hatte einen Verlauf genommen, mit dem sie<br />

nicht gerechnet hatte.<br />

„Er ist stark, ungeheuer stark. Und er hat den absoluten Willen, sich aus der ihm aufge-<br />

zwungenen Opferrolle zu lösen. Er wird es schaffen, davon bin ich überzeugt.“<br />

Sie wurden von Anna und Shawn unterbrochen, die ein Stück vor ihnen stehen geblieben<br />

waren, um auf Paul und Kelly zu warten.<br />

„Was tuschelt ihr da? Versucht Dad, dich zu überreden, ihm bei der Anschaffung eines<br />

Jeep Commanders zu helfen?“, fragte Shawn vergnügt.<br />

Kelly schaffte es, fröhlich zu lachen. „Wenigstens hat er sich die Vor- und Nachteile des-<br />

selben aufzählen lassen.“, erklärte sie.<br />

„Ach Dad, ich sagte doch, was willst du mit einem Geländewagen?“<br />

Paul gelang es ebenfalls, blitzschnell umzuschalten. „Na, man wird sich wohl mal schlau<br />

machen dürfen.“ Er sah auf seine Armbanduhr. „Ich habe Hunger, wollen wir uns auf den<br />

Rückweg machen?“<br />

So ging es ihnen allen und keiner hatte Einwände gegen den Vorschlag. Eine gute Stunde<br />

später saßen sie geduscht und umgezogen im Motelrestaurant. Shawn und sein Vater hatten<br />

sich Steaks bestellt, Kelly und Anna stand der Sinn nach Fisch.<br />

„Den Barramundi sollten Sie versuchen, Anna, ein hervorragender Speisefisch.“<br />

363


Paul:<br />

So wählten die Frauen den Barramundi und waren begeistert. Nach dem Essen erklärte<br />

„Wir werden morgen um 11 Uhr abgeholt. Unser Rückflug geht um 15.30 Uhr ab Darwin.<br />

Kelly, nachdem wir Sie kennen gelernt haben, sind Anna und ich uns sicher, dass es für<br />

Shawn keinen besseren Therapeuten als Sie geben kann. Wenn viele Fragen auch weiterhin<br />

offen sind, so sind wir viel beruhigter und überzeugt, dass für Shawn alles getan wird. Die<br />

Worte: Das werden wir Ihnen nie vergessen haben Sie bestimmt oft gehört, Sie sollen aber<br />

wissen, dass es keine Floskel ist. Wir werden nie vergessen, was Sie für uns alle getan haben<br />

und noch tun werden.“<br />

Shawn saß still da und spielte mit seinem Glas.<br />

„Ich danke Ihnen, Paul. Ich selbst weiß jetzt, dass Shawn zuhause alle Unterstützung be-<br />

kommen wird, die er benötigt. Es war gut, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt kennen gelernt<br />

haben.“<br />

*****<br />

Später, als Shawn und Kelly im Bett lagen, fragte der junge Mann leise: „Denkst du, sie<br />

sind beruhigt?“<br />

Kelly hatte sich auf die Seite gerollte und konnte Shawn im Licht der Nachttischlampe an-<br />

schauen. „Ja, das sind sie mit Sicherheit. Mach dir keine Sorgen um sie, okay. Deine Eltern<br />

sind großartige Menschen. Sie kommen klar. Und das wirst du ebenfalls, davon bin ich mehr<br />

denn je überzeugt.“<br />

Shawn tastete schüchtern nach der Hand der Therapeutin. „Das erste Mal überhaupt denke<br />

ich das auch. Ich hatte wahnsinnige Angst davor, ihnen gegenüber treten zu müssen, weißt<br />

du? Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.“<br />

Kelly lächelte. „Aus diesem Grunde mache ich das ja. Ich organisiere Treffen mit den An-<br />

gehörigen, um meine Patienten nicht ins kalte Wasser zu stoßen.“<br />

„Was denkst du, wie lange es noch dauern wird, bis ich nach Hause kann?“<br />

Kelly war von der Frage überrascht. „Warum? Hast du es eilig?“, fragte sie lächelnd.<br />

Shawn zuckte verlegen die Schultern. „Ja und nein. Ich bin über sieben Monate aus meinem<br />

Leben heraus. Wird bald Zeit, dass ich zurückkehre, oder?“<br />

Kelly freute sich, dass Shawn darüber nachdachte. „Shawn, ich kann es dir nicht sagen.<br />

Das ist stark abhängig davon, wie die Therapie weiter verlaufen wird. Lass uns darüber spre-<br />

chen, wenn wir weiter gemacht haben. Ich greife nicht gerne vor.“<br />

„Okay. Ich werde mir Mühe geben. Gute Nacht.“<br />

„Gute Nacht, schlaf gut.“<br />

*****<br />

364


Beim Frühstück waren die McLeans in gedrückter Stimmung. Der nahe Abschied machte<br />

ihnen zu schaffen. Gespräche kamen nicht auf, alle hingen ihren überwiegend trüben Gedan-<br />

ken nach. Gegen 10 Uhr hatten sowohl Anna und Paul als auch Shawn und Kelly ihre Sachen<br />

in die Wagen verladen und bezahlten ihre Räume. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg<br />

zum Flugplatz, der westlich außerhalb der Ortschaft lag. In dem kleinen Büro saß eine Ange-<br />

stellte und langweilte sich. Anna und Paul gaben ihren Leihwagen zurück und kurze Zeit spä-<br />

ter landete die Maschine, die sie nach Darwin bringen würde. Der Pilot stieg aus und begrüßte<br />

seine Fluggäste locker.<br />

„Hey, Leute, wenn ihr wollt, können wir gleich los. Mehr werden es heute Morgen nicht.“<br />

Anna und Paul umarmten Kelly und bedankten sich noch einmal bei ihr. Dann zog die<br />

Therapeutin sich zurück, um den McLeans die Möglichkeit zu geben, sich voneinander zu<br />

verabschieden. Sie wollte nicht stören. Die junge Frau setzte sich in den Wagen und warf ei-<br />

nen Blick auf die Karte, die sie bei sich hatten. Sie plante, heute bis Dunmarra zu kommen.<br />

Das war ein Roadhouse zirka 350 Kilometer nördlich von Tennant Creek. Dazwischen gab es<br />

nichts, was sehenswert gewesen wäre. Kelly warf einen Blick zu den McLeans hinüber.<br />

Shawn umarmte gerade seine Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann zog er seinen<br />

Vater an sich. Es war ihnen anzusehen, wie schwer es den Männern fiel, sich zu verabschie-<br />

den. Hastig stiegen Paul und Anna in die kleine Maschine. Shawn stand wie gelähmt da und<br />

sah ihnen nach. Das kleine Flugzeug setzte sich in Bewegung und näherte sich dem Rollfeld.<br />

Kelly verließ den Wagen und trat zu Shawn hin. Sie sah seine Schultern zucken und legte ihm<br />

liebevoll einen Arm um die Taille. Dem jungen Mann stürzten Tränen über die Wangen. Auf<br />

dem Rollfeld hob die Maschine gerade ab und Kelly dirigierte ihren Patienten mit sanfter<br />

Gewalt zum wartenden Wagen hinüber. Sie schob ihn auf den Beifahrersitz und klemmte sich<br />

hinters Steuer. Eilig verließ sie die Stadt in Richtung Norden. Ebenso eilig brachte sie die<br />

knapp 13 Kilometer zur alten Telegrafenstation außerhalb des Ortes hinter sich. Hier stoppte<br />

sie den Wagen und stieg aus. Shawn saß wie paralysiert auf dem Beifahrersitz. Kelly eilte um<br />

den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. Sanft griff sie nach Shawns Hand und zog<br />

diesen aus dem Wagen.<br />

„Komm, wir gehen ein Stück, okay?“, sagte sie liebevoll.<br />

Apathisch ließ der junge Mann sich aus dem Wagen ziehen und stolperte neben Kelly her,<br />

bis sie einen kleinen, halb ausgetrockneten Fluss nahe den Telegrafenstationsgebäuden er-<br />

reichten. Hier blieb die Therapeutin stehen. Shawn starrte in das trübe Wasser hinunter und<br />

schluchzte verzweifelt auf. Kelly zog ihn an sich und spürte den jungen Mann am ganzen<br />

Leib zittern. Sie sagte nichts, ließ ihn weinen. Ihr war klar, was in ihm vorging. Natürlich war<br />

ihr bewusst gewesen, dass es zu dieser Reaktion kommen musste. Doch sie wusste, dass<br />

Shawn damit umgehen konnte. Das Wiedersehen mit seinen Eltern hatte mehr geholfen als<br />

365


der Abschied anrichten würde. Kelly ließ Shawn noch einige Minuten ungestört in seiner<br />

Verzweiflung und dem Abschiedsschmerz, bevor sie begann, leise auf ihn einzureden.<br />

„Na, geht es wieder?“, fragte sie sanft. Shawn schüttelte den Kopf. Liebevoll erklärte die<br />

Therapeutin:<br />

„Du wirst sie bald wiedersehen, Shawn. Sie sind nicht aus der Welt. Bevor es so weit ist,<br />

haben wir noch einige Arbeit vor uns. Den schwierigsten Schritt hast du hinter dich gebracht.<br />

Vor dem Wiedersehen hattest du unterbewusst mehr Angst als du dir eingestehen würdest.<br />

Und das hast du hinter dir. Deine Eltern haben und werden dich in Zukunft nicht bedrängen,<br />

sie werden dich nicht mit Fragen löchern und du kannst dich ganz auf dich selbst konzentrie-<br />

ren.“<br />

Unglücklich sah Shawn die junge Frau an. „Und du denkst, das wäre das einzige außer-<br />

halb der Therapie, was mich bedrückt?“, fragte er mit zitternder Stimme.<br />

Kelly senkte betroffen den Blick. „Nein, Shawn, ich weiß, dass die Sache zwischen uns dir<br />

starke Kopfzerbrechen macht. Und du weißt, dass wir das auf keinem Fall zu einem Fegefeuer<br />

werden lassen dürfen. Dann ist unsere Beziehung beendet, egal, ob Patient/Arzt oder ... Das<br />

ist es nicht, was du willst, nehme ich an. Also müssen wir uns wie erwachsene Menschen be-<br />

nehmen und uns zusammen reißen. Können wir uns nicht erst einmal darauf einigen, dass wir<br />

das Thema hinten anstellen? Dass wir sagen, wir werden sehen, was am Ende unterm Strich<br />

übrig ist von dem, was wir im Moment fühlen, oder denken, es zu fühlen? Wäre das eine Op-<br />

tion, die dir im Augenblick helfen würde?“<br />

Shawn nickte. Mit dünner Stimme sagte er: „Ja! Wenn du nicht von vornherein erklärst,<br />

dass das nie was wird, würde es mir helfen.“ Er sah Kelly an und bat verzweifelt: „Bitte, Kel-<br />

ly, versprich mir, dass du das nicht grundsätzlich als erledigt betrachtest, ich flehe dich an!“<br />

„Das kann ich gar nicht. Dafür ist es viel zu spät. Aber ich lasse mich, solange du mein<br />

Patient bist, auf gar nichts ein, das muss dir klar sein, Shawn. Du bist mein Patient, nicht<br />

mehr!“<br />

So etwas wie neue Hoffnung flammte in Shawns Augen auf. „Damit kann ich leben. Ich<br />

schwöre dir, ich werde das Thema nicht mehr anschneiden, nicht, bis du mir meine Genesung<br />

bestätigt hast, okay? Und dann werden wir sehen, wie es weiter gehen wird.“<br />

Kelly hielt ihm die Rechte hin. „Deal?“<br />

Shawn prustete unglaublich erleichtert auf. „Deal!“<br />

„Fühlst du dich besser?“, fragte die Therapeutin, als sie sich zurück auf den Weg zum<br />

Wagen machten.<br />

„Ja, erheblich. Der Abschied und was meine Mutter gesagt hat und ...“<br />

Hier unterbrach Kelly den jungen Mann. „Wieso, was hat Anna denn gesagt?“<br />

366


Shawn wurde rot. „Sie sagte mir auf den Kopf zu, dass sie merke, was ich für dich emp-<br />

finde und dass sie der Meinung sei, ich solle das erst mit dir klären, bevor wir mit der Thera-<br />

pie weiter machen.“<br />

Kelly lachte leise auf. „Deine Eltern sind bemerkenswerte Menschen, weißt du das?“<br />

„Darum dürfen sie nie erfahren, was los war.“<br />

- Das wissen sie längst! - dachte Kelly, sagte aber laut: „Das werden wir sehen, okay. Da-<br />

rüber sollten wir nicht zu schnell urteilen. Ich glaube, in der Beziehung irrst du dich über dei-<br />

ne Eltern.“<br />

„Ist mir egal, ich werde es ihnen nicht antun, davon zu erzählen, was man ihrem Sohn an-<br />

getan hat.“, erklärte Shawn bestimmt. Kelly beschloss, das Thema erst einmal ruhen zu las-<br />

sen. Shawn sah die grün bedachten Gebäude und fragte: „Was ist das, soweit draußen?“<br />

„Das ist die alte Telegrafenstation.“<br />

Sie hatten das Auto erreicht und Shawn machte vom Parkplatz aus ein Foto.<br />

„Wie geht es weiter?“<br />

Kelly stieg ein und Shawn folgte ihr. Als sie losfuhr erklärte sie: „Die nächsten paar hun-<br />

dert Kilometer gibt es hier draußen nichts spannendes. Wenn es dir Recht ist, fahren wir heute<br />

bis Dunmarra, einem Roadhouse, gute 350 Kilometer weiter nördlich. Ab da wird das Land<br />

wieder interessant.“<br />

„Klar, ich verlasse mich auf dich und deine Kenntnisse. 350 Kilometer, gut, auf geht’s.“<br />

Sie fuhren auf den Highway zurück und hier stellte Kelly die Speed Control auf 135 Stun-<br />

denkilometer. Sie lehnte sich bequem zurück und meinte zu Shawn:<br />

„Weck mich, wenn was ist.“<br />

Artig und deutlich besser gelaunt erwiderte dieser: „Okay, mach ich.“<br />

Er behielt Kelly eine Weile im Auge, doch sie machte keine Anzeichen, einzuschlafen.<br />

„Pah, du schläfst ja gar nicht ein.“<br />

„Na, als ob ich mich auf dich verlassen würde, du Schnarchnase.“<br />

Empört setzte Shawn sich zur Wehr. „Ich schnarche nicht!“<br />

Er machte ein Gesicht, als hätte Kelly ihn des Milchdiebstahls an einem Baby bezichtigt.<br />

Fast hätte die junge Frau vor Lachen das Steuer verrissen. Doch so viel, wie im Augenblick<br />

auf dem Highway los war, hätte selbst das nichts geschadet. Shawn konnte ebenfalls lachen.<br />

„Schnarche ich wirklich?“, fragte er grinsend.<br />

„Nein, tust du nicht, oder ich habe es noch nicht gehört.“, erklärte Kelly beruhigend,<br />

nachdem sie sich gefangen hatte.<br />

„Wollte ich auch meinen.“ Er sah aus dem Fenster und lästerte: „Hier ist ja heute die Hölle<br />

los. Alle fünf Stunden ein Auto, Wahnsinn! Die reinste rush hour.“<br />

„Doch so oft?“, meinte die Therapeutin gedehnt. Sie alberten eine Weile herum. Schließ-<br />

lich war es der junge Schauspieler, der gelangweilt einschlief.<br />

367


„Na, du bist mir ein Herzchen.“, sagte Kelly leise und kam nicht umhin, den schlafenden<br />

jungen Mann anzuschauen. Die dunklen Schatten, die am Anfang ständig unter seinen Augen<br />

zu sehen gewesen waren, waren verschwunden. Er war braun gebrannt, trotzdem er draußen<br />

ständig seinen Hut trug. Im Schlaf wirkte sein Gesicht entspannt und locker, seine Grübchen<br />

waren deutlich unter den Drei Tage Bartschatten zu erkennen. In den ersten Wochen hatte er<br />

im Schlaf mit den Zähnen geknirscht, das war vorbei. Die dunkelblonden Haare hingen ihm<br />

frech in die Stirn. Zwischen seinen leicht geöffneten Lippen blitzten schneeweiße, ebenmäßi-<br />

ge Zähne.<br />

Kelly seufzte. - Es wäre um einiges einfacher, wenn du nicht so verdammt gut aussehen<br />

würdest! - dachte sie frustriert. Dass sie sich tatsächlich das Versprechen, über die Gefühle für<br />

einander am Ende noch einmal nachzudenken, hatte abnehmen lassen, behagte Kelly nicht.<br />

Ihr war klar, dass sie wohl nachdenken, Shawn aber trotzdem fort schicken würde. Es ging<br />

nicht, dass sie aus dieser Situation heraus eine Beziehung anfingen. Wie hatte Sandra Bullock<br />

in dem Film ‘Speed‘ zu Keanu Reeves gesagt? Beziehungen, die aus einer Extremsituation<br />

entstehen, haben keine Zukunft. Wenn Kelly auch nicht unbedingt an diese Aussage glaubte,<br />

war ihr doch klar, dass es über kurz oder lang ein böses Erwachen geben konnte. Ein Erwa-<br />

chen, welches Shawn nicht verkraften würde. Nicht in der Verfassung, in der er sich befand. -<br />

Oder du redest dir das alles nur so hin, wie du es gerne sehen würdest, Süße, und bist nur zu<br />

feige, dich auf eine Beziehung einzulassen. - Kelly schüttelte den Kopf. Nein, das war nicht<br />

der Grund, da war sie sich sicher. Sie wollte Shawn nur nicht verletzen. Er sollte nicht ir-<br />

gendwann merken, dass er sein Leben an einen Traum verschwendet hatte. An einen Traum,<br />

der der Dankbarkeit für Hilfe in einer schrecklichen Situation entsprungen war. Entschlossen<br />

schüttelte sie noch einmal den Kopf. Nein, das kam nicht infrage.<br />

Und dann trat die Therapeutin voll auf die Bremse! Shawn fuhr mit einem erstickten Keu-<br />

chen aus dem Schlaf hoch.<br />

„Was ist passiert?“, fragte er benommen.<br />

„Noch gar nichts, aber fast!“, erklärte Kelly und sprang aus dem Wagen. Shawn folgte ihr,<br />

noch leicht verschlafen. Er sah, was Kelly zu der Vollbremsung veranlasst hatte. Vor ihnen<br />

auf der Fahrbahn bewegte sich eine Schlange langsam von rechts nach links.<br />

ren?“<br />

„Was ist das?“, fragte er gespannt und griff in den Wagen, nach seinem Fotoapparat.<br />

„Das ist eine King Brown oder Mulga Snake.“<br />

Shawn überlegte kurz. „Waren dass nicht die, die pro Biss die größte Menge Gift injizie-<br />

Kelly nickte erfreut. „Das hast du dir gemerkt?“, fragte sie lächelnd.<br />

„Tja, wenn mein Gedächtnis auch nicht so gut ist wie deines, aber einiges kann ich mir<br />

schon merken.“, erklärte Shawn grinsend. Er bewegte sich vorsichtig und mit nötigem Sicher-<br />

368


heitsabstand um die hübsche braune Schlange herum und machte einige Fotos. Das Tier fühlte<br />

sich belästigt und beschleunigte seine Vorwärtsbewegungen, bis es die Sicherheit der anderen<br />

Straßenseite erreicht hatte und im Unterholz verschwand.<br />

30) Krise<br />

Die Verzweiflung schickt uns Gott nicht, um uns zu töten, er schickt sie uns, um<br />

neues Leben in uns zu erwecken.<br />

Hermann Hesse<br />

„Ich weiß nicht, ob es nur daran liegt, dass du so wahnsinnig gute Augen hast, oder ob<br />

man in den Staaten die Tiere nicht so zu Gesicht bekommt.“, meinte Shawn, als sie wieder im<br />

Wagen saßen. Draußen war es noch unglaublich heiß und so verging einem schnell die Lust,<br />

sich außerhalb des Wagens aufzuhalten. Kelly lachte.<br />

„Ich kann es dir nicht sagen. Vielleicht machen wir nach der Therapie mal eine Tour durch<br />

die Staaten und du kannst vergleichen, ob ich dort ...“<br />

Sie unterbrach sich erschrocken. Viel zu oft rutschte ihr etwas in dieser Art heraus. Es<br />

würde kein nach der Therapie für Shawn und sie geben! Der junge Mann hatte bemerkt, was<br />

Kelly gesagt hatte. Als sie ihren angefangenen Satz so abrupt abbrach, biss er sich unglück-<br />

lich auf die Lippe und sah bedrückt aus dem Seitenfenster. Leise fragte er nach einer Weile:<br />

„Wie geht hier es weiter?“<br />

Kelly atmete tief durch. „Wir können entweder in Dunmarra oder 50 Kilometer weiter in<br />

Daly Water übernachten. Von dort sind es keine 250 Kilometer mehr nach Katherine.“<br />

„Dunmarra und Daly Water ... Sind das Großstädte?“ Shawn zog das Wort Großstädte iro-<br />

nisch in die Länge.<br />

Kelly schmunzelte. „Dunmarra ist ein Roadhouse. Es wurde nach Dan O’Mara benannt,<br />

einem Weißen, der in der Gegend um das heutige Dunmarra spurlos verschwand. Selbst Abo-<br />

rigine Spurensucher konnten den Mann nicht finden. Seine Leiche wurde nie entdeckt. Daly<br />

Water wurde um 1930 gegründet. Ein Rollfeld wurde gebaut und der kleine Ort diente als<br />

Zwischenstopp-Tankstelle für Qantasflüge. Der Pub dort ist in ganz Australien berühmt. Das<br />

Essen ist hervorragend. Im September und zu Ostern wird in Daly Water ein großes Rodeo<br />

veranstaltet.“<br />

Shawn hatte aufmerksam zugehört. „Klingt ja interessant. Wie weit ist es ab hier?“<br />

„Nicht ganz 400 Kilometer. Wenn wir es schaffen, werden wir bis Daly Water fahren.“<br />

Eine Weile herrschte Schweigen im Wagen. Beide hingen ihren Gedanken nach. Shawn<br />

war noch lange nicht mit der Trennung von seinen Eltern durch. Außerdem drifteten jetzt, wo<br />

ihm die Ablenkung fehlte, seine Gedanken zu Brett. Er fühlte widersprüchliche Empfindun-<br />

369


gen. Einerseits war der Schwule nicht weniger grausam gewesen als die anderen. Andererseits<br />

aber hatte er später geholfen, dass Shawn ab und zu ruhige Tage ohne weitere Qualen wie<br />

Auspeitschungen oder sonstiges gehabt hatte. Shawn hatte es nicht weniger verabscheut,<br />

wenn Brett ihn am Strand gefickt hatte. Aber Brett hatte ihn an solchen Tagen wie einen Men-<br />

schen behandelt. Am Ende verdankte Shawn Brett sogar sein Leben! Dafür war dieser von<br />

Carrie und ihren Freunden hingerichtet worden, als Verräter. Das brachte Shawn sofort zu<br />

dem Gedanken, dass diese vermutlich, nein, sicher, Himmel und Hölle in Bewegung setzen<br />

würden, um ihn zu finden. War er aus dem Horrorhaus nur gerettet worden, um eine Frau<br />

kennen zu lernen, die er mehr liebte als irgendjemanden zuvor, die er aber wie es aussah nie<br />

bekommen würde, und um von wahnsinnigen Psychopathen gejagt und schlussendlich doch<br />

noch gekillt zu werden? In der Stimmung, in der Shawn im Augenblick war, ließen ihn diese<br />

trüben Gedanken erzitternd aufseufzen. Er merkte nicht, dass ihm Tränen über die Wangen<br />

kullerten.<br />

Kelly beobachtete Shawn unauffällig und bekam mit, dass er in einer extrem depressiven<br />

Stimmung war. Sie war zügig gefahren und Tennant lag fast 200 Kilometer hinter ihnen.<br />

Demnächst würde der große Salzsee Lake Woods linker Hand auftauchen. Spontan entschied<br />

die Therapeutin sich zu einer kleinen Planänderung. Sie spürte, dass Shawn an einem Punkt<br />

war, an dem er dringend Ruhe zum Nachdenken und Gespräche brauchte. So wurde sie lang-<br />

samer und lenkte den Wagen vorsichtig nach links vom Highway herunter. Shawn schien dies<br />

gar nicht mit zu bekommen. Er sah nur starr geradeaus und schwieg. Dreißig Minuten rumpel-<br />

te der Geländewagen über unebenes Gelände. Plötzlich schimmerte einmal mehr vor ihnen in<br />

der Sonne die blendend weiße Oberfläche eines Salzsees. Kelly suchte nach einem Platz, der<br />

etwas geschützt lag und entdeckte ein paar Büsche und Bäume, die Schutz vor der Sonne bo-<br />

ten. Entschlossen steuerte sie darauf zu und erst, als sie den Wagen abstellte erwachte ihr Pa-<br />

tient aus seiner Starre.<br />

„Was ... was ist los?“, fragte er verwirrt.<br />

„Das kann ich dir sagen. Ich habe eine kleine Planänderung vorgenommen. Ich habe nicht<br />

den Eindruck, als ob die Unterhaltung einer Ortschaft das ist, was du brauchst. Vielmehr<br />

drängt sich mir der Verdacht auf, dass Einsamkeit dir im Moment gut tun würde.“<br />

Shawn nickte bedrückt und stieg wortlos aus. Er öffnete die hintere Tür und griff nach<br />

dem Zeltsack. Schweigend folgte er Kelly, die den Boden um den geplanten Zeltplatz gründ-<br />

lich absuchte. Zwanzig Minuten später stand das Zelt und Kelly bat Shawn, sich zu ihr zu<br />

setzen. Sie hatte die Sitzmatten am Boden ausgebreitet und sich auf ihrer nieder gelassen.<br />

Shawn zögerte kurz, bevor er sich neben der junge Frau auf die Matte sinken ließ.<br />

„Was?“, fragte er genervt und bedrückt gleichermaßen.<br />

370


„Hör zu, Shawn, ich möchte, dass du dich für eine Weile ans Seeufer setzt und gründlich<br />

über alles nachdenkst, was dich im Augenblick gerade bedrückt. Ich werde dich dafür allein<br />

lassen und eine Runde um den See fahren. Ich werde eine gute Stunde benötigen. Wenn ich<br />

wieder bei dir bin, wirst du mir sagen, was es ist, dass dich so herunterreißt und wir werden<br />

gemeinsam darüber reden, was wir machen können, um dir aus dieser Depression zu helfen,<br />

okay?“<br />

Shawn war blass geworden als er hörte, das Kelly fort wollte. „Warum willst du weg?“,<br />

fragte er nervös.<br />

„Ganz einfach. Deine Probleme im Moment haben nichts mit deiner Entführung zu tun.<br />

Und andere Probleme hast du früher ja auch ohne Hilfe meistern müssen. Das wirst du schaf-<br />

fen, da bin ich sicher.“<br />

„Woher ...?“ Verwirrt schaute der junge Mann Kelly an. Diese lächelte.<br />

„Shawn, ich kenne dich besser als du dich selbst kennst. Ich weiß, was in dir vorgeht.<br />

Denke in aller Ruhe darüber nach, während ich fort bin. Und sage mir später, wie es weiter<br />

gehen soll, okay?“<br />

Ohne eine Antwort abzuwarten erhob Kelly sich und eilte zum Wagen hinüber. Sie stieg<br />

ein und gab Gas. Es fiel ihr unglaublich schwer, Shawn zurückzulassen, aber er musste darü-<br />

ber nachdenken, wie es weiter gehen sollte. Die Therapeutin war überzeugt, er würde das<br />

schaffen. Ihr selbst würde es ebenfalls gut tun, eine Weile für sich zu sein und sich über ihre<br />

Gefühle und Empfindungen klar zu werden. So fuhr sie am Ufer entlang und gab auf dem von<br />

der Sonne fest gebackenen Uferstreifen richtig Gas. Der See war gute 30 Kilometer lang und<br />

sie würde eine Weile brauchen, um ihn zu umrunden. Sie überlegte, was sie für oder gegen<br />

die Gefühle, die sich zwischen Shawn und ihr entwickelt hatten, tun konnte. Ehrlich genug,<br />

um zu wissen, dass sie ihn hätte abgeben müssen, war die junge Frau. Ebenso wusste sie, dass<br />

Shawn einen Wechsel des Therapeuten nicht verkraftet hätte. Ihr Versprechen, ihr Schwur,<br />

bei ihm zu bleiben, bis er von ihr als geheilt erklärt wurde, band sie an ihn. Selbst wenn dem<br />

nicht so gewesen wäre, hätte sie Shawn nie im Stich gelassen. Doch wenn sie ihre und seine<br />

Gefühle zulassen würde, wäre der weitere Verlauf der Therapie ebenfalls nicht mehr gewähr-<br />

leistet. Wie sie es drehte und wendete, das Resultat war das Gleiche: Sie würden weiter ma-<br />

chen mit der Therapie, und die Gefühle, die sie füreinander empfanden, ignorieren müssen.<br />

Sie wusste, ihr würde dies gelingen. Shawn jedoch ... Kelly war klar, dass er durch die Tren-<br />

nung von seinen Eltern und durch die Tatsache, dass man Brett erschossen, ermordet, aufge-<br />

funden hatte, im Augenblick angeschlagen war. Ihre klaren Worte, ihn nach Hause zu schi-<br />

cken, egal, was er für sie empfand, hatten allem die Krone aufgesetzt. Er musste am Ende sein<br />

im Moment. Kelly bremste abrupt. Auf einmal war sie nicht mehr sicher, dass es eine so gute<br />

Idee gewesen war, Shawn zurückzulassen. Spontan entschied sie sich, umzukehren. In einem<br />

weiten Bogen umfuhr sie das südliche Ende des Sees und stellte den Wagen in einiger Entfer-<br />

371


nung zu ihrem Lager zwischen die Büsche. Zu Fuß machte sie sich vorsichtig auf den Weg<br />

und nach zehn Minuten sah sie das Zelt vor sich auftauchen. Leise und vorsichtig schlich sie<br />

näher.<br />

*****<br />

Shawn stand fassungslos da und starrte dem sich schnell entfernenden Wagen nach. Er zit-<br />

terte am ganzen Körper. Sie konnte ihn doch nicht hier allein lassen! Panik drohte ihn zu<br />

überschwemmen, wie eine Woge.<br />

„Kelly ...“, wimmerte er leise und hatte das unangenehme Gefühl, jeden Augenblick hys-<br />

terisch loszuschreien zu müssen. Das wollte er auf keinem Fall. Verzweifelt kämpfte Shawn<br />

um Beherrschung. Allein ... Überwältigend deutlich merkte er, wie er auf die Anwesenheit<br />

Kellys angewiesen war. Schon jetzt fühlte es sich an als wäre sie Stunden fort und nicht erst<br />

Minuten. Zu allem Überfluss schossen ihm die Gedanken an den toten Brett und an Carrie<br />

und Alan durch den Kopf. Wenn sie ihn finden würden wenn Kelly nicht bei ihm war, war er<br />

verloren! Am ganzen Leib zitternd sank Shawn auf die Knie. Hatte er die unendliche Weite in<br />

Kellys Gegenwart bisher als tröstlich empfunden, war es nun der nackte Horror, sich vorzu-<br />

stellen, dass niemand in seiner Nähe war. Er bestand nur noch aus Angst. Viele Minuten knie-<br />

te er auf dem harten Boden und kämpfte verbissen darum, nicht völlig die Kontrolle zu verlie-<br />

ren. Brett - Kelly - Carrie - Brett - Kelly - Carrie - In seinem Kopf drehten sich die Gedanken<br />

im Kreis. Shawn spürte Schweiß seinen Rücken hinab laufen und fühlte sein Herz schmerz-<br />

haft in seiner Brust schlagen. Er hatte das unangenehme Empfinden, keine Luft zu bekom-<br />

men. Gleichzeitig wollte er sich nicht von der Panik besiegen lassen.<br />

Der Schauspieler zwang sich, die Augen zu schließen. Unendlich verzweifelt versuchte er,<br />

langsam und tief durch die Nase einzuatmen. In Kellys Gegenwart gelang ihm dies so gut.<br />

Dass musste auch allein hin zu bekommen sein. Der junge Mann hätte später nicht sagen kön-<br />

nen, ob er fünf oder fünfzig Minuten auf dem Boden kniete, bevor es ihm endlich gelang, ei-<br />

nen halbwegs ruhigen, tiefen Atemzug zu tun. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er<br />

konzentrierte sich mit aller Macht darauf, den zweiten, dritten und alle folgenden Atemzüge<br />

hin zu bekommen. Mit jedem gelungenen Einatmen spürte er neue Kraft in sich hinein gelan-<br />

gen. Ein durch die Nase, aus durch den Mund, ein das Gute, aus das Böse. Endlich merkte er,<br />

dass das Zittern nachließ und er tatsächlich ruhiger wurde. Vorsichtig öffnete Shawn die Au-<br />

gen und stand auf. Er konnte nicht verhindern, dass sein Blick in die Unendlichkeit der Wüste<br />

schweifte und neue Angst durch ihn hindurch fegte. Doch nun hatte er es unter Kontrolle.<br />

Shawn ging zu seiner Sitzmatte hinüber. Er wollte sich auf ihr niederlassen, überlegte es sich<br />

aber anders. Stattdessen ging er in Richtung Seeufer, wie Kelly vorgeschlagen hatte. Dass er<br />

seinen Hut vergaß, merkte er nicht.<br />

372


Als die glitzernde weiße Salzfläche sich scheinbar endlos vor seinen Augen ausbreitete,<br />

seufzte er leise. Ohne auf die Sonne zu achten, die gnadenlos auf ihn niederbrannte, hockte<br />

Shawn sich an das Seeufer und ließ seine Gedanken bewusst treiben. Er würde ja merken,<br />

worauf das hinauslief und was ihn im Augenblick am stärksten belastete. Eine Weile kreisten<br />

seine Gedanken so um den Abschied von seinen Eltern. Er hatte sich wahnsinnig gefreut, sie<br />

nach so langer Zeit endlich wieder zu sehen. Dass Kelly das ohne sein Wissen organisiert<br />

hatte, war unglaublich. Da die Meldung von der Ermordung Bretts unmittelbar vorher ge-<br />

kommen war, hatte der Besuch ihm geholfen, nicht an die Tatsache zu denken, dass Carrie<br />

wusste, dass er noch am Leben war. Nun waren sie fort, seine Eltern, und wenn er auch um<br />

die Angst, dass sie ihn mit Fragen zu der Entführung löchern würden, erleichtert war, breitete<br />

sich nun um so mehr die Angst vor Carrie in ihm aus. Etwas sagte ihm, dass Carrie ihm kei-<br />

nen schnellen, sauberen Tod gönnen würde. Er war es, der sie mit Sicherheit ans Messer ge-<br />

liefert hatte! Seine Beschreibung war es, die sicher stellen würde, dass die Verbrecher verhaf-<br />

tet werden würden. Davon ging er fest aus. Er war überzeugt, dass das, was er in den fast fünf<br />

Monaten dort hatte ertragen müssen, einem Sonntagsspaziergang ähneln würde im Vergleich<br />

zu dem, was ihm blühen würde, wenn sie ihn jetzt erwischten.<br />

Ohne dass der Schauspieler es merkte stürzten ihm Tränen über die Wangen. Er hatte<br />

schreckliche Angst. Das brachte ihn zum letzten Punkt seiner Überlegungen. Kelly. Solange<br />

sie bei ihm war, das wusste er sicher, würde ihm nichts passieren. Das war sie aber gerade<br />

nicht und, viel schlimmer noch, würde sie nur noch eine begrenzte Zeit sein. Damit war er an<br />

dem Punkt angekommen, der ihn derzeit am schlimmsten belastete. Kelly. Wie sollte er nur<br />

die Zeit an ihrer Seite überstehen, ohne ...<br />

„Mum, wie soll ich es nur durchhalten, so dicht neben Kelly und doch zu wissen, ich wer-<br />

de sie nie ... Mum, bitte, bitte, hilft mir!“<br />

Weinend schlug er die Hände vor das Gesicht. Er wusste, dass seine Gefühle für die junge<br />

Frau nicht der Dankbarkeit entsprangen. Er liebte sie, er hatte noch nie zuvor etwas ähnliches<br />

für eine Frau empfunden. Selbstverständlich war er von tiefer Dankbarkeit erfüllt, aber alles<br />

andere, ihre Unterhaltungen, die sich nicht um die Therapie drehten, der Spaß, den er und<br />

Kelly hatten, ihre vielen Übereinstimmungen in wichtigen Dingen, all das hatte nicht das Ge-<br />

ringste mit Dankbarkeit zu tun. - Du hast auch gedacht, Carrie zu lieben, du Arsch! - dachte<br />

er unglücklich. Doch ihm war klar, dass das etwas anderes gewesen und so schnell abgeklun-<br />

gen wie es in ihm auf aufgeflackert war. Seine Gefühle für Kelly wurden mit jedem Tag stär-<br />

ker. Er wusste nicht, was er machen sollte. Hätte Carrie es nur geschafft, ihn umzubringen!<br />

Wenn er dort gestorben wäre, er wäre besser dran gewesen. Mühsam kam Shawn auf die Bei-<br />

ne und schrie mit aller Kraft:<br />

„CARRIE! ICH BIN HIER! KOMM UND VOLLENDE DEIN GUTES WERK!“<br />

373


*****<br />

Kelly beobachtete Shawn besorgt. Sie musste sich mit aller Kraft zurückhalten, um sich<br />

ihm nicht zu zeigen. Zwar saß er mit dem Rücken zu ihr, doch selbst diesem konnte sie seine<br />

Angst und Verzweiflung ansehen. Sie wollte zu ihm, wollte ihn in den Arm nehmen und trös-<br />

ten. Energisch zwang sie sich, dies nicht zu tun. Lange hockte er da am Ufer und starrte auf<br />

den See hinaus. Dann stemmte er sich in die Höhe. So plötzlich, dass Kelly erschrocken zu-<br />

rückzuckte. Schon brüllte er aus voll Kraft:<br />

„CARRIE! ICH BIN HIER! KOMM UND VOLLENDE DEIN GUTES WERK!“<br />

Fassungslos sprang Kelly auf und rief: „Shawn!“<br />

Dieser schien es gar nicht mehr mit zu bekommen, dass sein Name gerufen wurde. Als er<br />

aufsprang spürte er unerwartet einen heftigen Schwindel. Das, was er sich bei Carrie so oft<br />

gewünscht hatte, nämlich endlich die Besinnung zu verlieren, trat jetzt und hier unmittelbar<br />

ein. Er hatte das letzte Wort gerade hinaus gebrüllt, da merkte er erschrocken, wie ihm<br />

schwarz vor Augen wurde. Er hatte nicht einmal mehr die Zeit, haltlos um sich zu greifen, so<br />

schnell sackte er in sich zusammen und merkte nichts mehr.<br />

Kelly schrie erschrocken auf. „SHAWN!“<br />

Schon war sie bei dem besinnungslosen jungen Mann und ein Blick in sein Gesicht sagte<br />

ihr mehr als deutlich, was los war. Schnell packte sie ihn unter den Armen und schleppte ihn<br />

rückwärtsgehend zum Lager zurück. Zum Glück war die Sonne so weit herumgewandert, dass<br />

das Zelt im Schatten lag. Kelly ließ Shawn sanft auf den Boden sinken und hetzte ins Zelt<br />

hinein. Sie raffte ihren Schlafsack an sich und trug diesen nach draußen. Schnell legte sie ihn<br />

zusammen und schob ihn unter Shawns Beine, sodass diese erhöht lagen. Sie eilte zum Wa-<br />

gen, fuhr diesen zum Zeltplatz zurück und griff sich zwei Flaschen Wasser aus dem Esky.<br />

Hektisch schnappte sie sich noch Handtücher und hetzte zu Shawn zurück. Kelly tränkte ein<br />

Handtuch mit dem kalten Wasser und legte es ihm in den Nacken. Ein weiteres machte sie<br />

feucht und tupfte ihm damit sanft über das hochrote Gesicht. Mit fliegenden Fingern öffnete<br />

sie Shawns Hemd und ließ Wasser in ihre Hand laufen. Damit rieb sie ihm die Brust ab. An-<br />

schließend legte sie das zweite Handtuch über seinen Oberkörper und eilte noch einmal zum<br />

Wagen, um ein weiteres, kleines Handtuch zu holen. Dieses legte sie dem jungen Mann mit<br />

Wasser getränkt auf die Stirn. Die Therapeutin kniete neben ihn und hielt seine Rechte in ih-<br />

ren Händen. Nervös wartete sie ab, dass der Schauspieler zu sich kommen würde. Ihre Geduld<br />

wurde nicht lange geprüft.<br />

Fünf Minuten später wurde Shawn unruhig und seine Augenlider zuckten. Er öffnete die<br />

Augen und war einen Moment orientierungslos. Liebevoll sagte Kelly:<br />

374


sagt?“<br />

„Hey, du hast mich zu Tode erschreckt weißt du das? Was hatte ich dir über den Hut ge-<br />

Benommen murmelte Shawn: „Den hab ich vergessen.“ Er stöhnte leise auf und fasste<br />

sich an den Kopf. „Was ist ... passiert?“<br />

Kelly hob unendlich sanft Shawns Kopf ein wenig an und gab dem jungen Mann erst ein-<br />

mal Wasser, bevor sie erklärte:<br />

„Das kann ich dir sagen: Du hast einen kleinen Sonnenstich.“ Sie sah auf ihre Armband-<br />

uhr. Es war kurz vor 16 Uhr. „Du bleibst hier bitte ruhig liegen, verstanden?“<br />

Shawn nickte. Kläglich ächzte er: „Mir ist hundeübel ...“<br />

Die Therapeutin strich ihm sanft mit der Hand über die Wange. „Das wird schnell besser.<br />

Bleib bitte liegen, dann wirst du dich schnell berappeln.“ Sie stand auf und baute in aller Eile<br />

das Zelt ab, stopfte es achtlos ins Auto auf die Rückbank. Sie drehte den Beifahrersitz ganz<br />

herunter. Schnell eilte sie zu Shawn zurück und erklärte: „Wir werden dich mal hoch hieven<br />

und ins Auto schaffen. Lass dir Zeit, damit dir nicht schwindelig wird, okay?“<br />

Müde nickte Shawn und griff nach Kellys Händen, die sie ihm helfend entgegen streckte.<br />

Wenige Minuten später lag er im Auto und Kelly raffte die letzten Sachen zusammen. Als<br />

alles verpackt war, fuhr sie so schnell es ging auf den Highway zurück. Shawn döste vor sich<br />

hin und das war gut. Gegen 18 Uhr fuhr Kelly auf den Parkplatz des Dunmarra Roadhouse.<br />

Schnell hatte sie ein Zimmer für zwei Nächte gemietet.<br />

Kurze Zeit später lag Shawn im Bett und trank Wasser. Er war noch etwas benommen,<br />

fing sich aber in der Kühle des Raumes immer mehr.<br />

„Es tut mir so leid. Ich habe mich wie ein Idiot benommen. Du hast es mir wieder und<br />

wieder gesagt, dass ich den Hut aufsetzen soll.“<br />

Kelly saß bei ihm auf dem Bett und hielt seine Rechte. „Du solltest versuchen zu Schlafen,<br />

wir werden morgen über alles reden.“<br />

Shawns Augen füllten sich mit Tränen. „Bist du mir böse?“, fragte er unglücklich.<br />

„Nein, selbstverständlich nicht!“ Kelly strich ihm liebevoll eine Haarsträhne aus der Stirn.<br />

„Schlaf, das wird dir gut tun.“<br />

Shawn fielen die Augen zu und kurze Zeit später verrieten ruhige, gleichmäßige Atemzü-<br />

ge, dass er tief eingeschlafen war. Vorsichtig löste Kelly ihre Hand aus seiner und stand auf.<br />

Sie nahm sich eine Cola aus der Minibar und ging damit auf die kleine Terrasse, die zum<br />

Raum gehörte. Erschöpft sank sie auf einen der zwei Stühle, die hier standen. Die Sache ge-<br />

riet mehr und mehr außer Kontrolle. Sie hatte sich zwingen müssen, nicht hysterisch zu rea-<br />

gieren, als Shawn zusammengebrochen war. Ihre Rationalität litt extrem unter den tiefen Ge-<br />

fühlen, die sie für den Schauspieler hegte. Das war es, was sie befürchtet hatte. Wenn sie<br />

nicht schnellstens einen Weg fand, ihre berufliche Professionalität trotz ihrer Liebe zu ihrem<br />

Patienten zurückzufinden, war die Therapie zum Scheitern verurteilt!<br />

375


*****<br />

Die Nacht verging ruhig. Shawn schlief ungestört durch und am kommenden Morgen sah<br />

er deutlich besser aus. Kelly wollte auf Nummer sicher gehen und einen Tag hier bleiben. Ein<br />

Sonnenstich war keine Lappalie. Beim Frühstück, welches sie aufs Zimmer bestellt hatte, er-<br />

klärte sie dem jungen Mann: „Wir werden heute hier bleiben und du wirst dich schonen. Mor-<br />

gen sehen wir dann zu, dass wir weiter kommen.“<br />

Shawn nickte ergeben. Er war still an diesem Morgen und vermied es, Kelly direkt anzu-<br />

sehen. Als beide satt waren räumte die Therapeutin das Geschirr zur Seite und setzte sich zu<br />

Shawn auf das Bett.<br />

„So, Shawn, es ist Zeit zu Reden.“<br />

„Ja, ich weiß. Hör mir bitte einen Moment zu, okay? Ich liebe dich, Kelly. Ich weiß, dass<br />

es nicht sein darf, aber ich kann nichts für meine Gefühle und ich weiß, dass sie nicht der<br />

Dankbarkeit entspringen. Du magst mir zu Recht eingeschränkte Objektivität vorwerfen, doch<br />

ich kann durchaus zwischen Dankbarkeit und Liebe unterscheiden. Ich weiß wie gesagt, dass<br />

es nicht sein darf. Ich werde, wenn du mir grünes Licht gibst, nach Florida zurückkehren. Ich<br />

werde mein Leben wieder aufnehmen, das ist klar. Ich werde dich nicht mehr bedrängen, das<br />

verspreche ich dir. Auf Sex lege ich derzeit aus verständlichen Gründen ohnehin keinen<br />

Wert.“ Er verstummte kurz. Leise fuhr er fort: „Ich weiß nicht, was du für mich empfindest,<br />

ich weiß nur sicher, was ich für dich empfinde. Ich habe gestern lange darüber nachgedacht.<br />

Der Abschied von meinen Eltern, die Hiobsbotschaft mit Brett ... All das hat mich gestern voll<br />

erwischt. Als ich da am See saß wurde mir aber immer klarer, dass meine größte Angst im<br />

Augenblick die ist, dass du mich fortschickst zu einem anderen Therapeuten. Wenn du das<br />

tust ...“<br />

Hier unterbrach Kelly Shawn energisch. „Ich habe dir zugehört. Jetzt bin ich dran, okay.<br />

Ich werde dich nicht fortschicken. Ich ... liebe dich auch, das ist mir schon lange klar gewor-<br />

den. Nein, freue dich bitte nicht zu sehr drüber. Wir werden so weiter machen wie bisher, es<br />

wird nichts passieren zwischen uns. Als du gestern vor meinen Augen zusammengebrochen<br />

bist, ist mir vor Schreck fast das Herz stehen geblieben, verstehst du? Ich war verrückt vor<br />

Angst! Ich war kaum noch fähig, sinnvoll zu reagieren. Das darf nicht sein. Davor hatte ich<br />

Angst. Wenn wir es zulassen, dass unsere Gefühle füreinander uns überrennen, werde ich<br />

nicht mehr in der Lage sein, dir zu helfen. Darum dürfen wir es nicht so weit kommen lassen!<br />

Das hat nichts mehr mit Willen zu tun, dich weiter zu betreuen. Ich will es, aber wenn ich<br />

mich hinreißen lasse, werde ich es nicht mehr können. Verstehst du das?“<br />

376


Shawn nickte traurig. „Ja, das verstehe ich gut. Wenn wir uns beide beherrschen, wird es<br />

nicht so weit kommen müssen.“ Er schwieg kurz und fragte Kelly dann: „Sag mal, wo kamst<br />

du gestern überhaupt so schnell her?“<br />

„Ich bin im richtigen Moment zurückgekommen, scheint mir. Ich habe noch gehört, was<br />

du gerufen hast ...“<br />

Shawn wurde feuerrot. „Vergiss das bitte. Das war ... verrückt und ich habe es nicht so<br />

gemeint.“<br />

Kelly lächelte. „Das will ich hoffen. Sonst kann ich dich nicht mehr allein lassen.“ Sie sah<br />

Shawn prüfend an. „Wie fühlst du dich?“<br />

Kurz lauschte dieser in sich hinein. „Gut. Ein bisschen schlapp, aber gut.“<br />

Zufrieden meinte Kelly: „Das hört sich gut an. Du musst viel trinken und heute bleibst du<br />

bitte überwiegend in der Waagerechten. Wir machen es uns hier gemütlich, in Ordnung?“<br />

„Stubenarrest habe ich wohl verdient.“<br />

„Stimmt. Ich werde mal das Auto aufräumen, da habe ich gestern alles wild durcheinander<br />

rein gefeuert.“ Kelly lachte. Sie erhob sich und verließ das Zimmer. Draußen war es nicht<br />

mehr so entsetzlich heiß wie in den letzten Tagen. Sie ging zu ihrem Wagen und sortierte ihre<br />

Sachen durch. Nach einer halben Stunde war alles geordnet und Kelly war zufrieden. Sie<br />

kehrte zu Shawn ins Zimmer zurück. Dieser lag entspannt auf dem Bett und döste vor sich<br />

hin, schreckte aber auf als Kelly den Raum betrat.<br />

„Na, alles sortiert bekommen?“, fragte er etwas tranig.<br />

„Ja, alles aufgeräumt.“ Die Therapeutin trat ans Bett und legte Shawn die Hand auf die<br />

Stirn. „Nicht heiß, das ist gut.“ Sie warf einen Blick auf die Wasserflasche, die auf den Nacht-<br />

schrank stand und erklärte streng: „Du sollst trinken, Herzchen, sonst flöße ich dir Wasser<br />

intravenös ein.“<br />

Shawn richtete sich auf und stopfte sich das Kissen in den Rücken. Er griff nach dem<br />

Wasser und trank den Rest, der noch in der Flasche war, auf einem Zug aus.<br />

„Zufrieden?“, fragte er verlegen.<br />

„Wenn du so weiter machst, ja.“ Kelly ersetzte die leere Flasche gleich gegen eine neue<br />

und setzte sich zu Shawn auf das Bett. „Es ist draußen nicht mehr ganz so heiß, hoffentlich<br />

haben wir diese Hitzewelle geschafft.“, erklärte sie.<br />

Inbrünstig stimmte Shawn zu. „Hoffentlich!“<br />

Einen Moment herrschte verlegenes Schweigen. Kelly brach dieses.<br />

„Wie geht es dir heute in Bezug auf den Abschied von deinen Eltern und mit dem Gedan-<br />

ken an Brett? Der hieß übrigens gar nicht Brett, sondern Stuart Evans. Du hattest Recht mit<br />

seinem Akzent. Er stammte aus Prescot, direkt bei Liverpool. Ich würde gerne von dir hören,<br />

was du fühlst, abgesehen von deiner Angst.“<br />

377


Shawn seufzte leise. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Kelly gleich damit anfangen<br />

würde. Sie schien seine Gedanken zu ahnen, denn sie erklärte ruhig: „Es hilft nichts, wenn du<br />

das erst in dich hinein frisst, Shawn. Dass er tot ist, ist eine neue Situation. Damit war nicht zu<br />

rechnen. Er war es, der dir trotz allem das Leben gerettet hat. Ich möchte wissen, was du emp-<br />

findest.“<br />

Bedrückt nickte Shawn. Er musste tief durchatmen, bevor er anfangen konnte zu Reden.<br />

„Puh ... Okay. Der erste Gedanke war wohl, Gott sei Dank, einer weniger. Das hat nur Se-<br />

kunden angehalten, dieses Gefühl. Carrie ... Sie hat mir hin und wieder ja auch ein paar schö-<br />

ne Stunden verschafft. Sie hat sich mit mir unterhalten, hat mich zwischendurch mal wie ei-<br />

nen Menschen behandelt. Aber bei ihr war es nur vorgetäuscht, um mich bei der Stange zu<br />

halten. Brett war anders. Er war auf seine Art nicht weniger grausam als die anderen, aber<br />

später ... Da muss er was für mich empfunden haben. Er hat weniger ... Was er mit mir machte<br />

war immer mehr ... immer mehr sexbetont und immer weniger, um Schmerzen zu verursa-<br />

chen.“<br />

Shawn fuhr sich fahrig mit der Rechten über die Stirn. Es fiel ihm schwer, davon zu erzäh-<br />

len, dass er von einem Mann geliebt worden war.<br />

„Ich habe seine Gefühle für mich nie forciert, Kelly, das musst du mir glauben. Ich habe<br />

ihn nie ermuntert! Bitte, das musst du mir glauben!“ Er geriet richtig in Panik bei der Vorstel-<br />

lung, Kelly könne denken, er hätte Brett Entgegenkommen gezeigt. Kelly spürte seine Angst<br />

und rutschte dichter an Shawn heran. Sie griff schnell nach seinen Händen und sagte beruhi-<br />

gend:<br />

nicht.“<br />

bist.“<br />

„Shawn, das weiß ich, bitte bleib ruhig!“<br />

Mühsam zwang Shawn die Panik in sich nieder. „Okay. Ich bin nicht schwul, wirklich<br />

„Shawn, ich weiß das. Beruhige dich, ich weiß, dass du Brett nicht entgegen gekommen<br />

„Ehrlich?“<br />

„Selbstverständlich, mach dir darüber bitte keine Gedanken mehr.“<br />

„Okay. Brett hat es ehrlich gemeint. Er hat ... naja, er hat mich ... er war ...“ Shawn fiel es<br />

unglaublich schwer, erneut auszusprechen, dass Brett ihn geliebt hatte.<br />

Kelly beschloss, Shawn auf die Sprünge zu helfen. „Er hat dich geliebt, Shawn, daran ist<br />

nichts schlimmes. Ich kann ihn so gut verstehen.“<br />

Diese Worte taten Shawn unglaublich gut. Verlegen nickte er und sah aus dem Fenster.<br />

„Ja, er hat mich geliebt. Auf eine seltsame Art und Weise. Ich bin nicht sicher, ob ... Können<br />

solche Leute richtig lieben?“<br />

378


Kelly dachte kurz über seine Frage nach. „Zu echter Liebe sind Psychopathen nicht fähig.<br />

Bei ihnen ist der Bereich des Hirns, der für solche Empfindungen zuständig ist, wenn über-<br />

haupt nur noch rudimentär vorhanden, das erklärte ich dir ja. Der Part, der bei uns für Liebe,<br />

Mitleid, Mitgefühl zuständig ist, ist bei diesen Menschen deutlich unterentwickelt. Da ich die<br />

Entführer bisher nur aus deinen Schilderungen kenne, kann ich schwer beurteilen, wer von<br />

ihnen psychopathisch veranlagt ist. Psychopathie bezeichnet eine schwere Persönlichkeitsstö-<br />

rung, bei der die Betroffenen weitgehend oder völlig unfähig zur Empathie, also dem Hinein-<br />

versetzen in andere und zur sozialen Verantwortung sind. Ihnen fehlt das Gewissen. Sie kön-<br />

nen auf dem ersten Blick charmant sein, sie verstehen es, oberflächliche Beziehungen herzu-<br />

stellen. Doch sie sind extrem manipulativ, um ihre Ziele zu erreichen. Psychopathen sind<br />

kaum zu sozialen Verhaltensweisen fähig, sodass oft gleichzeitig dissoziale beziehungsweise<br />

antisoziale Persönlichkeitsstörungen vorliegen. Trotzdem ist die Zahl der echten Psychopat-<br />

hen selbst unter Gefängnisinsassen in Sicherheitsverwahrung eher niedrig. Eher hat man es<br />

mit Soziopathen zu tun. Um es simpel auszudrücken ist Soziopathie eine mildere Form der<br />

Psychopathie. Dir das zu erläutern führt zu weit. Soziopathen sind ebenfalls unfähig, sich in<br />

andere Menschen hinein zu versetzen und können keine Verantwortung übernehmen, aber<br />

nicht in dem Maße wie echte Psychopathen. Soziopathen zeigen eine deutliche Ablehnung<br />

und Missachtung aller Normen, Regeln und Verpflichtungen. Längerfristige Bindungen kön-<br />

nen sie nicht eingehen, sie sind aber durchaus fähig, neue Beziehungen aufzunehmen. Sie<br />

neigen häufig zu Aggressivität und gewalttätigem Verhalten und haben keinerlei Schuldbe-<br />

wusstsein. Wo man Carrie und die anderen klassifizieren müsste, wäre nur in langen, intensi-<br />

ven Gesprächen zu ermitteln.“<br />

Kelly nahm einen Schluck Wasser und fuhr fort: „Es gibt noch Abgrenzungen, stärker<br />

ausgeprägte und mildere Formen, um es einfach auszudrücken. Bei einer milderen Form der<br />

Soziopathie wäre es möglich, für eine gewisse Zeit echte Liebe zu entwickeln. Diese Gefühle<br />

entsprechen dem, was diese Menschen für Liebe halten.“<br />

Shawn hatte aufmerksam zugehört. „Okay. Also hat er mich ... geliebt.“<br />

„Ja, irgendwie ...“<br />

„Weißt du, meine Empfindungen Brett gegenüber sind ... wie soll ich sagen, ambivalent.<br />

Er war anfangs so brutal und fies wie die anderen. Er war es ja, der mich ... Ach, nicht so<br />

wichtig.“ Shawn unterbrach sich abrupt, um hastig fortzufahren. „Als er später anfing, mich<br />

an den Strand zu schleppen, war ich unsicher, ich wusste ja nicht, worauf das hinaus laufen<br />

würde. Wenn er mich da ... puh, wenn er mich ... vögelte war er ... er war vorsichtiger, wenn<br />

wir für uns waren, er wollte ... ich hatte das Gefühl, er wollte mir nicht ... nicht wehtun. Wenn<br />

er ... mich im Haus ... vergewaltigt hat, sah das anders aus ...“<br />

Kelly unterbrach Shawns hilfloses Gestammel nicht. Ihr war klar, dass es ihm schwerer<br />

fiel, davon zu berichten, von einem Mann penetriert worden zu sein als davon, von Carrie<br />

379


mittels eines Dildos befriedigt zu werden. Die Schilderung des ersten Males würde zu einem<br />

Drama werden, das war Kelly klar.<br />

Shawn hatte einige Male tief durch geatmet und fuhr bedrückt fort. „Ich habe ... es ge-<br />

hasst. Wenn Carrie es tat, mit einem Vibrator oder strap-on Dildo ... Sie hat mich befriedigen<br />

wollen. Brett und Alan ... Die wollten nur sich selbst Befriedigung verschaffen. Später, da am<br />

Strand, war Brett ... Er hat versucht, es mir nicht zu schwer zu machen, verstehst du? Er war<br />

... vorsichtig und oft hat er ... Er hat ... mich ... gestreichelt und ab und zu ... Ich musste mich<br />

hinknien. So brauchte ich ihm nicht ins Gesicht zu sehen.“ Shawn liefen Tränen über die<br />

Wangen und er sprach stockend und unsicher. „Im Haus war ich ... da haben sie mich immer<br />

gefesselt. Das war leichter als freiwillig stillzuhalten ... Aber er hat mir nicht wehgetan. Und<br />

er hat mich ... Wir haben uns oft gut unterhalten, weißt du. Wir haben zusammen Bier getrun-<br />

ken oder Wein. Er hat Karten mitgenommen und wir haben gespielt. Er wollte oft Kuscheln<br />

und so haben wir ... Arm in Arm am Strand gelegen.“ Shawn schluchzte verzweifelt auf. „Ich<br />

hab mitgespielt. Ich habe gespürt, dass er es ernst meinte, als ich schon lange ahnte, das Car-<br />

rie nur mit mir spielt. Endlich war da jemand, der ... Er hat mir im Haus nichts mehr angetan,<br />

verstehst du? Er hat darauf verzichtet, mir wehzutun, und wenn er merkte, dass ich am Ende<br />

war, hat er einen Strandtag eingelegt. Er hat mir über die letzten Wochen geholfen. Ich hatte<br />

regelmäßig Suizidgedanken am Ende. Wenn Brett nicht gewesen wäre, und mich da ab und zu<br />

raus geholt hätte, Kelly, ich hätte eine Möglichkeit gefunden, Schluss zu machen!“<br />

Der Schauspieler weinte, dass es ihn schüttelte. Kelly rutschte neben ihn und nahm ihn in<br />

die Arme. Beruhigend redete sie auf ihn ein.<br />

„Es ist ja alles gut, Shawn, niemand verurteilt dich. Du hattest mehr als alles andere das<br />

Recht auf etwas echte Zuneigung.“<br />

Es dauerte eine Weile, bis Shawn in der Lage war, weiter zu sprechen. „Ich habe es verab-<br />

scheut, mich freiwillig vögeln zu lassen, gleichzeitig habe ich jeden Tag, an dem Brett mich<br />

mitnahm, herbeigesehnt. Er hat sich mit Carrie angelegt, er hat darauf bestanden, mich mit zu<br />

nehmen. Er hat ihr die Stirn geboten. Ich weiß nicht, welches Abkommen sie trafen, sie hat es<br />

später kommentarlos zugelassen. Ich habe Brett gehasst und geliebt, dass er ... mir da raus<br />

half, und wenn es nur für ein paar Stunden war. Dass er mir das Leben gerettet hat und des-<br />

wegen drauf gegangen ist, ist schrecklich.“<br />

Shawn verstummte erschöpft. Er griff nach der Wasserflasche und nahm einen tiefen<br />

Schluck. Kelly hielt ihn weiterhin im Arm und fragte nach einer Weile liebevoll:<br />

„Geht es?“<br />

„Muss ja ... Ich werde das nie aus dem Kopf bekommen. Du hast keine Vorstellung, wie ...<br />

mich das belastet. Es ist für mich fast unerträglich, dass ein Kerl mich ... dass ich ...“<br />

380


Kelly spürte ihn heftig zittern, vor Abscheu und purer Verzweiflung.<br />

„Ich werde das ewig mit mir herumschleppen.“, stieß er heftig hervor. „Wie kann mich je<br />

eine Frau, du, oder ... anfassen, ohne daran zu denken, dass ich bei einem Kerl einen Orgas-<br />

mus hatte!“<br />

Er wollte sich aus Kellys Armen drehen, doch diese hielt ihn weiter fest an sich gedrückt.<br />

Im Gegenteil verstärkte sie ihren Griff noch und sagte ruhig:<br />

„Ich kann es, Shawn, ich habe keine Probleme damit. Ich kann dich nicht nur anfassen, ich<br />

kann dich lieben, und das würden andere Frauen ebenso problemlos können. Du bist nicht mit<br />

einem Makel behaftet. Dir wurde gegen deinen Willen schreckliches angetan. Du konntest<br />

dich weder wehren noch es verhindern.“<br />

Shawn hörte Kellys Worte und machte sich energisch von ihr los. Er sah ihr in die Augen<br />

und stieß heftig hervor:<br />

„Sieh mir in die Augen und sag mir, dass du nicht daran denkst, dass mein Arsch vor<br />

Geilheit gezuckt hat, wenn Brett mich fickte und gleichzeitig streichelte. Sag es!“<br />

Die letzten Worte schrie er fast hinaus. Kelly schossen angesichts seiner Verzweiflung<br />

Tränen in die Augen. Nicht minder heftig erklärte sie:<br />

„Ich denke nicht daran, dass dein Arsch vor Geilheit gezuckt hat! Es ist mir gleichgültig,<br />

dass du einige der Sachen, die sie mit dir gemacht haben, unglaublich erregend fandest. Es ist<br />

mir egal, dass ein Mann dich berührt, dich befriedigt hat. Es ist mir egal, so was von egal!“<br />

Jetzt war es Kelly, die die letzten Worte mehr als heftig hervor schrie. Shawn sah in Kel-<br />

lys Augen überdeutlich, dass sie die Wahrheit sagte. Es war ihr egal. Als hätte jemand die<br />

Fäden, die ihn aufrecht hielten, durchtrennt, sackte er zusammen.<br />

„Davon werde ich nur nie etwas haben ...“, flüsterte er kaum hörbar.<br />

31) Neue Tiefpunkte<br />

Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird.<br />

Winston Churchill<br />

Kelly fing ihn auf und drückte ihn an sich. „Shawn, beruhige dich, bitte. Wir wissen nicht,<br />

was noch kommt, keiner von uns kann in die Zukunft schauen. Wir müssen Geduld haben und<br />

abwarten, was von unseren Gefühlen übrig ist, wenn du erst einmal dein reales Leben wieder<br />

aufgenommen hast. Ich habe nie gesagt, dass es keine Hoffnung gibt. Und selbst, wenn es sich<br />

nur als vorübergehend erweisen sollte, was wir füreinander empfinden, wirst du eine Frau<br />

finden, die dich ebenfalls liebt und der es gleichgültig ist, dass du von einem Mann berührt<br />

381


wurdest. Du denkst nicht allen Ernstes, dass eine liebende Frau sich von so was abschrecken<br />

lässt!“<br />

Shawn zuckte hilflos die Schultern. „Wenn wir beide nicht ... ich meine, wenn es mal eine<br />

andere Frau geben sollte ... Gott, wie soll die das je verstehen können? Ich verstehe es ja<br />

selbst nicht.“ Er schluchzte fassungslos vor sich hin. Plötzlich stieß er total verängstigt hervor:<br />

„Ich habe solche Angst, Kelly! Wenn Carrie mich findet, wird sie mich nicht einfach killen.<br />

Sie wird sich rächen, weil meine Beschreibungen sie und ihre Freunde ans Messer liefern<br />

werden. Sie wird mich ... ganz langsam zu Tode quälen. Sie wird mich in Streifen schneiden!“<br />

Zum ersten Mal, seit Shawn bei ihr war, war Kelly fassungslos. Dieser völlig unerwartete<br />

abrupte Themenwechsel überforderte sie kurz etwas. Eben noch war Shawn bei Brett und dem<br />

aufgezwungenen Analsex gewesen, jetzt dachte er an Carrie. Sie musste ihn beruhigen, ablen-<br />

ken, sonst würde er einen Zusammenbruch erleiden, der ihn um einiges zurückwerfen würde.<br />

„Shawn. Hör mir zu!“, sagte sie laut und energisch. Erschrocken hob der junge Mann den<br />

Kopf. „Du wirst dich jetzt gemütlich anlehnen, komm.“ Zitternd und heftig schluchzend<br />

rutschte Shawn in eine bequeme Haltung an das Kopfteil des Bettes. Kelly setzte sich über<br />

seine Beine und sah ihm in die Augen. Nur nackte Panik und abgrundtiefe Verzweiflung war<br />

in ihnen zu erkennen.<br />

„Shawn, ich möchte, dass du mir genau zuhörst. Schließe deine Augen und höre mir zu.“<br />

Sie griff nach Shawns Händen und hielt diese sanft fest. Unsicher schloss der Schauspieler<br />

die Augen und lauschte auf Kellys Stimme. Dass er sofort reagierte, war ohnehin nur dem<br />

starken Band aus Vertrauen zwischen ihnen zu verdanken.<br />

„Ich möchte, dass du dir vorstellst, ganz intensiv, dass wir beide auf der Spitze einer Py-<br />

ramide stehen, hoch oben. Kannst du das?“<br />

Shawn nickte langsam. „Ja.“<br />

„Wir stehen ganz oben, um uns herum ist nur die Wüste. Ein endloses Meer aus warmem,<br />

gelben Sand. Kannst du es sehen?“<br />

„Ja ...“<br />

„Die Sonne scheint warm vom Himmel, ein lauer Wind spielt in deinen Haaren. Spürst du<br />

den Wind?“<br />

„... Ja ...“<br />

Kelly atmete erleichtert auf. „Das ist gut, Shawn. Lass den Anblick einen Moment auf<br />

dich wirken. Um uns herum erstreckt sich ein sanftes Meer aus Sand, aus warmem, feinem<br />

Sand, soweit dein Auge reicht.“<br />

Zitternd und schwer atmend saß Shawn da. Kelly redete weiter, ruhig und eindringlich.<br />

„Die Sonne wärmt dich und du spürst ihre Strahlen angenehm auf deiner Haut. Sieh dich<br />

um. Hinter dir ist der Eingang zur Pyramide, siehst du ihn?“<br />

Shawn nickte. „Ja ...“<br />

382


„Dort drinnen ist es friedlich ... Niemand kann dich dort finden. Du wirst dort absolut si-<br />

cher sein ... Du trittst langsam ein ...“<br />

„Ja!“<br />

Kelly spürte in Shawns Händen, dass er begann, sich etwas zu entspannen. Die Tränen<br />

versiegten. Sanft legte sie seine Hände auf seine Oberschenkel und er ließ sie entspannt dort<br />

liegen. Sie machte weiter.<br />

„Du siehst warmes, beruhigendes Fackellicht die Stufen erhellen. Langsam steigst du die-<br />

se Stufen hinab.“<br />

Zaghaft nickte Shawn.<br />

„Vorsichtig steigst du tiefer. Mit jedem Schritt, den du machst, fällt mehr Anspannung und<br />

Angst von dir ab. Du wirst ruhiger und ruhiger, je tiefer du kommst.“<br />

Kelly behielt den jungen Mann im Auge und bemerkte die Körperhaltung, die sich sicht-<br />

bar veränderte. Hatte er vorher noch angespannt und verkrampft da gesessen, lockerte sich<br />

seine gesamte Muskulatur mehr und mehr. Ihre Stimme war ruhig und gleichmäßig, als sie<br />

nun weiter sprach.<br />

„Du gehst tiefer und tiefer hinab. Ruhe und Frieden sind um dich und kein Mensch kann<br />

dich hier noch erreichen. Du entspannst und wirst immer ruhiger. Alle Angst und Unsicher-<br />

heit bleibt hinter dir zurück. Die Pyramide bietet dir den absoluten Schutz. Wenn du den Bo-<br />

den erreicht hast, bist du im Zustand absoluter Entspannung ... Siehst du den Boden?“<br />

Etwas tranig erklärte Shawn: „Ja ... Ich seh den Boden ...“<br />

„Du bist fast am Ziel. Du stehst in einem runden Raum, der in wunderschönen warmen<br />

Orangetönen gestrichen ist. Eine wundervoll warme, beruhigende Farbe. Der Boden ist hoch<br />

mit dicken, weichen, gemütlichen Kissen ausgelegt. Du lässt dich in diese herrlichen Kissen<br />

fallen wie in ein weiches Bett. Deine Muskeln sind völlig locker und entspannt, du bist völlig<br />

locker und entspannt ... Du verspürst keinerlei Angst und Unsicherheit mehr. Du bist in abso-<br />

luter Sicherheit ... Das hier ist dein persönlicher Panikraum. Du weißt uneingeschränkt, dass<br />

dir hier nichts, aber auch gar nichts passieren kann. Niemand findet dich hier.“<br />

Shawn nickte langsam. „Niemand ...“, erklärte er überzeugt.<br />

Kelly wartete einige Minuten, in denen Shawn entspannt und ruhig atmend vor ihr saß.<br />

Sein Gesicht drückte den unübertrefflichen Frieden aus, den er in diesem Augenblick emp-<br />

fand. Die Therapeutin holte tief Luft und erklärte:<br />

„Shawn, hör mir zu. Wenn ich in Zukunft ‘Panikraum‘ zu dir sage, wirst du sofort wieder<br />

hier sein, sicher und geschützt. Du bist dann augenblicklich hier unten, wo dir niemand etwas<br />

tun kann.“<br />

„Ja ...“<br />

383


Zufrieden schloss Kelly kurz die Augen. Sie hatte den Trigger in Shawns Gehirn veran-<br />

kert. Nun konnte sie ihn im Notfall unmittelbar an den Ort des absoluten Friedens zurückschi-<br />

cken.<br />

„Wenn du gleich zurück ans Tageslicht steigst, wirst du ausgeruht, frisch und zufrieden<br />

sein wie nach einem langen, erholsamen Schlaf. Ich warte oben auf der Pyramide auf dich. Du<br />

steigst langsam und ruhig die Stufen wieder hoch. Mit jeder zurückgelegten Stufe wirst du<br />

mehr zu mir zurückkommen. Du steigst höher und höher. Bald siehst du mich. Du bist voll-<br />

kommen entspannt und zufrieden. Kannst du mich sehen? Ich warte in der warmen Sonne auf<br />

dich, um dich abzuholen.“<br />

Shawn seufzte leise. „Ja, ich sehe dich ... Du hast auf mich gewartet ...“<br />

„Das habe ich. Ich werde immer für dich da sein und auf dich warten. Komm zu mir ans<br />

Licht und öffne deine Augen.“<br />

Shawn atmete tief durch und seine Augen öffneten sich langsam. Keine Angst war mehr in<br />

ihnen zu erkennen, nur die Freude, Kelly zu sehen. Etwas verwirrt fragte er:<br />

„Was ist passiert?“<br />

Kelly lächelte. „Das kann ich dir sagen. Du bist sozusagen kurz eingeschlafen.“<br />

Skeptisch zog Shawn die Stirn in Falten. „Sozusagen?“<br />

Ernsthaft nickte die Therapeutin. „Sozusagen ...“ Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht.<br />

Ironisch wiederholte Shawn das Wort noch einmal.<br />

„Sozusagen ...“ Er stieß ein kleines Lachen aus. „Sag schon, was war los? Was hast du<br />

gemacht?“<br />

Erstaunt zog Kelly die Augenbrauen in die Höhe. „Ich?“ Sie zog das kleine Wort übertrie-<br />

ben in die Länge.<br />

Shawn lachte. „Ja, du! Oder siehst du hier noch jemand anderen?“<br />

Kelly musste ebenfalls lachen. Sie griff nach der Wasserflasche auf dem Nachtschrank<br />

und drückte diese Shawn in die Hand. „Hier, trink.“<br />

Der Schauspieler lachte erneut. „Lenk nicht ab, Ma’am!“ Er nahm einen tiefen Schluck<br />

und sah Kelly herausfordernd an.<br />

„Okay, okay, ich habe dich hypnotisiert. Du warst völlig aufgelöst, ich konnte dich nicht<br />

anders beruhigen, verstehst du?“<br />

Erstaunt fragte Shawn: „Ich weiß gar nichts davon ... Ich dachte, man merkt das, wenn<br />

man hypnotisiert wird?“<br />

„Dein Unterbewusstsein weiß es. Wie fühlst du dich?“<br />

Der junge Mann zuckte die Schultern. „Gut. Wir haben über Brett gesprochen, richtig?<br />

Und ... über Carrie. Ich ...“ Er versuchte sich zu erinnern, worüber er mit Kelly gesprochen<br />

384


hatte, doch es war unklar, verschwommen. „Hast du mich ...? Nein, ich weiß, dass du das<br />

nicht hast. Ich bin ehrlich gesagt verwirrt.“<br />

Kelly griff nach seiner Rechten und drückte diese sanft. Ruhig erklärte sie: „Das macht<br />

nichts, Schatz, das liegt an der Hypnose. Wir haben über Brett gesprochen, das stimmt. Und<br />

über deine Angst, dass Carrie dich finden könnte. Jetzt hast du keine Angst mehr, das ist das<br />

Wichtigste.“<br />

Shawn nickte. „Stimmt. Ich ... Ich danke dir. Das ist ... merkwürdig. Das darfst du gerne<br />

öfter machen, weißt du das?“ Er schwang die Beine vom Bett und meinte verlegen: „Und da<br />

wunderst du dich, dass ich dich liebe?“ Er verschwand ins Badezimmer und kurze Zeit später<br />

hörte Kelly die Dusche rauschen.<br />

„Nicht zu warm, okay.“, rief sie ihm hinterher und aus dem Bad kam ein:<br />

„Okay.“, zurück.<br />

Eine halbe Stunde später saßen die Beiden im Schatten auf der kleinen Terrasse in beque-<br />

men Liegestühlen. Shawn hatte eine neue Flasche Wasser neben sich stehen und fragte gera-<br />

de:<br />

„Was liegt in den nächsten Tagen denn so an?“<br />

„Unser nächstes Ziel ist der Elsey Nationalpark. Dort wirst du mal das grüne Australien<br />

kennen lernen. Regenwald, Vögel, Krokos, Koalas, lass dich überraschen.“<br />

Shawn strahlte. „Mal was anderes als Wüste ist gar nicht so schlecht. Und von dort?“<br />

„Von dort aus fahren wir nach Katherine und machen einen Ausflug in die Katherine Gor-<br />

ge. Es sind nur noch etwas mehr als 200 Kilometer bis zum Kakadu. Wie lange wir uns dort<br />

aufhalten, werden wir ja erleben.“<br />

Shawn machte: „Hm ...“ Er nahm einen Schluck Wasser, grinste Kelly frech an und mein-<br />

te: „Ich trinke. Sag mal, ich weiß über den Kakadu Nationalpark so gut wie gar nichts. Nur,<br />

dass es dort zauberhaft schön sein muss.“<br />

Kelly grinste. „Der Kakadu Nationalpark wurde 1981 gegründet. Er hat eine Fläche von<br />

fast 20.000 Quadratkilometern.“ Sie rollte sich auf den Bauch und erklärte weiter.<br />

„Der Park gilt als einer der schönsten Nationalparks in Australien, wegen seiner einzigar-<br />

tigen Tier- und Pflanzenwelt. Er liegt in der Alligator Rivers Region im Northern Territory<br />

und erstreckt sich fast 200 Kilometer von Nord nach Süd und über 100 Kilometer von Ost<br />

nach West. Wegen seiner großartigen natürlichen und kulturellen Werte wurde der Park in die<br />

Liste der UNESCO-Weltnaturerben aufgenommen. Im Kakadu findest du eine der schönsten<br />

und umfangreichsten Sammlungen an Felsmalereien. Es gibt einzigartige Landschaften, von<br />

den Sandsteinflanken des Hochplateaus über die weitläufigen Waldgebiete bis hin zu den<br />

großen Feuchtgebieten. In den Schutz des Nationalparks fällt auch das gesamte Einzugsgebiet<br />

des South-Alligator-River. Der Park wird heute von seinen eigentlichen Eigentümern, den<br />

385


Aborigines, und den Mitarbeitern von ‘Parks Australia‘ gemeinsam verwaltet. Sie streben den<br />

Schutz der Interessen der Aborigines an, nämlich das Kulturerbe des Parks zu bewahren und<br />

Besucher des Parkes anzuregen, sich seiner zu erfreuen. So, in einer Stunde frage ich dich ab,<br />

ob du gut aufgepasst hast.“<br />

Shawn winkte ab. „Vergiss es. Ich wurde hypnotisiert und seitdem ist mein Gehirn durch-<br />

einander.“ Er verdrehte gekonnt die Augen. „Das hört sich gut an. Ob wir Krokodile zu sehen<br />

bekommen?“<br />

„Davon kannst du ausgehen.“<br />

Shawn seufzte. „Und dann sind wir bald in Darwin ... Schade.“ Er wirkte bedrückt.<br />

„Noch sind wir nicht da. Wenn es uns im Kakadu gut gefällt, bleiben wir dort solange wir<br />

wollen. Niemand wartet auf uns. Von Darwin aus kann man großartige Bootstouren machen.<br />

Wale Watching zum Beispiel.“ Kellys Worte munterten den jungen Mann auf. Begeistert sag-<br />

te er:<br />

„Gott, das muss großartig sein. Möglich, dass wir Zeit haben ...“<br />

Die Therapeutin lachte vergnügt. „Wir haben Zeit für alles, was du magst. Gibt es denn ir-<br />

gendwas Spezielles, was du gerne sehen würdest?“<br />

Shawn wurde rot und druckste herum. Verlegen meinte er: „Nein ... Es ist einmalig, was<br />

du mir alles gezeigt hast.“<br />

Kelly setzte sich auf. Sie sah ihren Patienten streng an und meinte: „Komm, sag mir, wenn<br />

du einen Wunsch hast, oder ich hypnotisiere dich wieder und lass dich dann Gackern wie ein<br />

Huhn.“<br />

Lachend meinte der Schauspieler: „Naja, ich habe von einem kleinen Ort gehört ... Ir-<br />

gendwas mit ... Money ... Money ...“ Shawn kaute auf dem Wort herum. Kelly ging ein Licht<br />

auf.<br />

„Monkey, Monkey Mia, richtig?“<br />

Shawn nickte eifrig. „Ja, genau. Monkey Mia. Da soll man angeblich Delfine am Strand<br />

streicheln können. Das ... Aber das ist bestimmt viel zu aufwendig, da hin zu kommen.“<br />

Kelly widersprach heftig. „Nein, gar nicht, wir fliegen von Darwin nach Perth und ab<br />

Perth mit einer kleinen Maschine nach Monkey Mia. Das ist kein so großer Aufwand, Shawn,<br />

wir sind andere Entfernungen gewohnt. Ich sage es dir gerne noch einmal: Wir haben Zeit<br />

genug!“<br />

Shawn strahlte dankbar. „Wäre das möglich?“<br />

„Klar. Ich war selbst noch nie dort, würde mir das aber gerne anschauen. Das werden wir<br />

machen!“<br />

*****<br />

386


Als die Sonne unterging bestellte Kelly etwas zu Essen. Groß war die Auswahl nicht. Satt<br />

und ausgeglichen hockten sie anschließend auf der Terrasse und unterhielten sich über San<br />

Francisco. Kelly war einige Male zu Symposien in der Stadt gewesen und kannte sie recht<br />

gut.<br />

„Das letzte Mal habe ich auf dem Union Square so zugeschlagen, dass ich später am Flug-<br />

hafen tüchtig für Gewichtsüberschreitung beim Gepäck nachzahlen durfte. Und es ist wahr-<br />

haftig nicht so, dass man in Sydney nicht gut einkaufen könnte.“, erzählte sie lachend.<br />

Shawn verzog das Gesicht. „Frauen ...“, sagte er gewollt abfällig.<br />

Kelly lachte noch mehr. „Pass lieber auf, das diese Frau dich nicht in der Wüste aussetzt.“<br />

„Hast du dir Alcatraz mal angeschaut?“, fragte Shawn hinterhältig.<br />

Die junge Frau nickte. „Ja, gleich beim ersten Mal. Ich war allerdings auch in Gefängnis-<br />

sen, deren Insassen noch anwesend waren.“<br />

Erstaunt sah Shawn zu der Therapeutin hinüber. „Wie das?“<br />

Kelly seufzte. „Ich habe mit einigen unangenehmen Insassen Interviews geführt, tagelang.<br />

Es gehört zu unserem Job, dass wir versuchen, die Denkweise von Serientätern zu ergründen,<br />

was sie zu ihren Taten trieb. Wir versuchen, so viel wie möglich über den familiären Hinter-<br />

grund, ihre Kindheit, zu erfahren. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, unter anderem mit<br />

Stephan Letter, einem deutschen Serienmörder, zu sprechen. Er hat als Krankenpfleger gear-<br />

beitet und nachweislich neunundzwanzig Menschen getötet. In den USA sprach ich unter an-<br />

derem mit Chester Turner, der zwischen 1987 und 1998 mindestens zwölf Prostituierte er-<br />

mordete. Der Typ war redselig. Er hat es genossen, mir zu schildern, was er seinen Opfern<br />

antat.“<br />

Shawn war entsetzt. „Wie erträgst du so was?“, fragte er betroffen.<br />

„In dem ich versuche, Abstand zu wahren. Wenn man so viel schreckliches hört, muss<br />

man es auf Distanz halten, sonst geht man vor die Hunde.“<br />

Shawn wurde in diesem Moment überdeutlich bewusst, was Kelly daran hinderte, ihrer<br />

Liebe zu ihm nachzugeben. Bestürzt sagte er:<br />

„Du kannst bei mir diesen Abstand nicht mehr einhalten, habe ich Recht?“<br />

Kelly sah ihn ernst an. „Nein, das kann ich nicht mehr. Schon lange nicht. Verstehst du,<br />

warum ich es nicht weiter gehen lassen darf?“<br />

Das erste Mal überhaupt verstand Shawn es. Kelly schnaufte angespannt. Dann sagte sie<br />

ruhig: „Und wo wir gerade dabei sind, es wird Zeit, weiter zu machen, okay?“<br />

Shawn nickte ergeben. Minuten später saßen sie auf dem Bett, Shawn hatte seinen Kopf<br />

auf Kellys Oberschenkeln und fing leise an zu Reden.<br />

*****<br />

387


Einen Moment ließen sie ihn noch so hängen. Endlich erklärte Carrie mit gepresst klin-<br />

gender Stimme:<br />

„Brett, lass ihn ein Stück herunter, ich werde seine Hände lösen.“ Sie trat an Shawn her-<br />

an, ließ ihre Rechte liebkosend über seine brennenden Genitalien gleiten, und öffnete die<br />

Handfesseln. Brett ließ Shawn so weit herunter, dass Carrie ihn auffangen und in eine liegen-<br />

de Position bringen konnte. Der junge Mann keuchte und zitterte, obwohl die Schmerzen<br />

schnell nachließen. Nur noch ein unangenehmes Brennen war zu spüren. Sie ließen ihn noch<br />

eine Weile mit in die Höhe gestreckten und gespreizten Beinen liegen, bis er sich beruhigt<br />

hatte. Endlich löste Carrie die Fußmanschetten und Shawn atmete erleichtert auf, als seine<br />

Beine befreit waren. Er bekam den Befehl, aufzustehen und kam schwankend auf die Füße.<br />

Fast wäre er gestürzt, weil ihm schwindelig wurde, aber sofort waren Carries Arme da und<br />

stützten ihn sorgfältig. Als der Schwindel nachließ, erklärte sie ihm:<br />

„Du gehst zu Alan, wir werden dich später holen.“<br />

Shawn setzte sich erleichtert in Bewegung und verließ den Folterkeller. Auf der Treppe<br />

ließ er leise stöhnend seine Rechte zwischen seine Beine gleiten und rieb sich mit schmerzver-<br />

zerrtem Gesicht kurz seinen Penis und seine Hoden.<br />

„Scheiße.“, flüsterte er leise. Minuten später stand er in der Küche und erklärte Alan, der<br />

hier das Abendbrot vorbereitete: „Ich soll mich bei dir melden. Was soll ich tun?“<br />

Den Rest des Tages verbrachte Shawn damit, die vielen Quadratmeter Böden des riesigen<br />

Hauses zu Wischen. Er schämte sich furchtbar, aber er arbeitete verbissen weiter. Nach einer<br />

Weile kam Karen an ihm vorbei und beobachtete ihn eine Weile. Grinsend trat sie zu ihm und<br />

befahl:<br />

„Stell dich an die Wand, spreiz die Beine und zeig mir deinen Hintern, los.“<br />

Schwer atmend gehorchte Shawn. Er beugte sich vor, stemmte die Hände gegen die Wand<br />

und drückte seinen Hintern Karen entgegen. Zufrieden erklärte die Frau:<br />

„Ich komme in zwanzig Minuten zurück, dann will ich dich in genau dieser Haltung vor-<br />

finden, verstanden?“<br />

Shawn schloss kurz die Augen und sagte leise: „Verstanden.“<br />

Karen verschwand und Shawn blieb in der Haltung stehen, obwohl ihm vor Scham fast die<br />

Tränen kamen. Dass Alan Minuten später vorbei kam, machte die Sache nicht einfacher. Der<br />

Diener sah Shawn an und sagte grinsend:<br />

„Bald bitte ich Carrie mal darum, dich vögeln zu dürfen, du hast einen geilen Arsch.“<br />

Shawn zuckte unter den Worten zusammen wie unter Peitschenhieben. Als er gleich darauf<br />

die große Hand des Mannes spürte, die ihn an den Hoden packte, schossen ihm nun doch<br />

Tränen in die Augen. Es kostete Shawn alle Kraft, still stehen zu bleiben. Verzweifelt wünsch-<br />

te er, Alan möge verschwinden. Dieser spürte wohl die Verzweiflung des Gefangenen, denn er<br />

lachte auf.<br />

388


„Was denn? Wenn sie dir den Arsch fickt, keuchst du auch vor Geilheit.“ Lachend ent-<br />

fernte sich Alan und ließ Shawn vor Wut, Hilflosigkeit und Scham schluchzend zurück.<br />

Endlich erschien Karen wieder. Sie nickte zufrieden und sagte:<br />

„Brav. Ich werde dich später noch mal anfordern. Du kannst weiter machen, ich glaube,<br />

da sind noch Flecken zu sehen. Carrie mag es gerne sauber.“<br />

Sie verschwand leise vor sich hin summend und Shawn richtete sich zitternd auf. Er muss-<br />

te einige Male tief durchatmen bevor er mit bebenden Händen nach dem Wischeimer greifen<br />

konnte. Eine gute Stunde putzte er noch, dann hatte er es geschafft. Er leerte den Eimer und<br />

brachte die Putzutensilien in die Besenkammer. Gerade wollte er in die Küche gehen, um zu<br />

schauen, ob Alan dort war und nach neuer Beschäftigung fragen, als er Carrie auf sich zu<br />

kommen sah.<br />

„Da bist du ja. Komm, Abendbrot ist fertig.“, sagte sie und er folgte ihr schweigend in<br />

den Salon.<br />

Die gemeinsamen Essen mit den Freunden waren Shawn ein Gräuel. Dass er ständig auf<br />

dem Sklavenstuhl sitzen musste, machte das Ganze noch schlimmer. Heute wurde er ange-<br />

nehm überrascht. Der Tisch war nur für zwei Personen gedeckt und er durfte auf einem nor-<br />

malen Stuhl sitzen. Alan hatte einen Rostbraten zubereitet, der so zart und saftig war, dass er<br />

auf der Zunge zerging. Während des Essens unterhielten sich Shawn und Carrie über Filme<br />

und Carrie erklärte:<br />

„Ich habe mir deine Filme angeschaut. Du bist gut. Du bist imstande, die Zuschauer in<br />

deinen Bann zu ziehen. Die Hinrichtungsszene in ‘San Jacinto‘ hat mich tatsächlich berührt.“<br />

Shawn war überrascht, dass sie über die Filme, in denen er mitgewirkt hatte, so gut Be-<br />

scheid wusste.<br />

„Ich habe intensiv recherchiert, habe mir Videos von und über Hinrichtungen angeschaut<br />

und wenn ich auch fast das Kotzen gekriegt habe, ich habe viel darüber erfahren.“, erklärte<br />

er.<br />

„Ich habe selbst einmal live eine Hinrichtung gesehen. Vor sechs Jahren. Ich habe sie ge-<br />

nossen.“, sagte Carrie kalt.<br />

Shawn sah sie erstaunt an. „Als Zeugin?“, fragte er erstaunt.<br />

„Ja. Der Dreckskerl hatte eine Freundin und mich verschleppt, tagelang schwer gefoltert<br />

und meine Freundin dann vor meinen Augen umgebracht. Dass ich es überlebte, war dem<br />

Zufall zu verdanken. Ich habe es genossen, dem Schwein beim Krepieren zuzusehen.“ Sie sah<br />

Shawn an. „Aber denke nicht, dass ich deswegen so bin, wie ich bin. Die Neigung hatte ich<br />

schon vorher und du kannst mir gerne glauben, dass ich wegen dieser Erfahrung nicht zum<br />

Männerhasser geworden bin.“<br />

Shawn hatte betroffen zugehört. Leise sagte er: „Das tut mir leid.“<br />

389


Carrie lächelte. „Das ehrt dich, wo ich gerade mit dir fast das gleiche mache. Allerdings<br />

hat der Schweinehund uns schwer verletzt und ich habe dir versprochen, dass du nicht verletzt<br />

werden wirst.“ Sie erhob sich und sagte: „Komm, deine zwei Stunden stehen noch aus.“<br />

Von einer Sekunde zur Anderen war Shawn wieder Sklave, nicht Gesprächspartner. Er er-<br />

hob sich und Carrie befahl ihm:<br />

„Leg dich auf den Tisch, dass kennst du ja inzwischen.“<br />

Resigniert legte er sich auf den Tisch und Carrie trat an den Schrank. Sie nahm zwei<br />

Klettbänder heraus und trat zu Shawn zurück.<br />

„Zieh die Beine an die Brust und leg deine Arme in die Kniekehlen.“<br />

Leise ächzend nahm er die gewünschte Haltung ein. Carrie half nach und zog seine Un-<br />

terarme übereinander. Jetzt schnürte sie auf beiden Seiten in Höhe der Ellbogen die Klett-<br />

bänder um beide Arme. Shawn atmete schwer. Die Haltung war extrem unbequem und<br />

schmerzhaft. Er bekam noch den Knebel zwischen die Zähne gedrückt und Carrie legte einen<br />

langen, aus zehn Kugeln bestehenden Analdildo und Gleitmittel auf den Tisch. Kurze Zeit<br />

später erschienen Karen, Teresa und Brett und waren begeistert von der Haltung, die Carrie<br />

Shawn aufgezwungen hatte. Carrie erklärte:<br />

„Heute darf der Gewinner Shawn eine Kugel einführen, was haltet ihr davon?“<br />

Brett lachte. „Na, was denkst du? Her mit den Karten.“<br />

Shawn hatte Carries Worte entsetzt gehört. Schwer atmend lag er da und zitterte vor<br />

Scham und Angst.<br />

Die Freunde begannen mit ihrem Kartenspiel und Teresa gewann die erste Runde. Freu-<br />

dig drückte sie Gleitmittel auf Shawns Schließmuskel. Dieser keuchte vor Entsetzen und ver-<br />

krampfte sich derart, dass das Einführen der ersten Kugel unglaublich schmerzhaft war. Der<br />

Dildo steckte gut 3 Zentimeter tief in ihm und Teresa strahlte. Die nächste Runde gewann<br />

Brett und er schob mit Freude die nächste Kugel in Shawns Hintern. Dem jungen Mann liefen<br />

Tränen die Wangen hinunter. Runde drei gewann wieder Brett und abermals verschwand<br />

eine Kugel in Shawn. Durch den Knebel wimmerte er leise vor Verzweiflung. Seine Beine ta-<br />

ten weh, die Arme wurden langsam taub und die Erniedrigung machte die erzwungene Hal-<br />

tung noch viel schlimmer. Die nächsten zwei Kugeln durfte Carrie in ihn schieben und nun<br />

spürte er eine der Kugeln gegen seine Prostata drücken. Und er fühlte ein ziehen in den Len-<br />

den, dass er verfluchte! Das Gefühl, das entstand, wenn etwas von innen gegen die Prostata<br />

gedrückt wurde, war ungemein erregend, und Shawns Körper reagierte nur natürlich auf die-<br />

se Stimulation. Zwei weitere Kugeln landeten noch in ihm und endlich waren die zwei Stun-<br />

den herum. Ohne ihn von dem Dildo zu befreien, löste Carrie selbst seine Fesseln und erklär-<br />

te:<br />

„Du wirst noch fünf Minuten so liegen bleiben, hast du das verstanden?“<br />

390


Noch den Knebel im Mund nickte Shawn und rührte sich nicht, obwohl alles in ihm da-<br />

nach schrie, die schmerzhafte Haltung zu lösen. Dass er unter einer heftigen Erregung litt,<br />

machte das Ganze noch schlimmer. Endlich waren die fünf Minuten vorbei und er durfte die<br />

Arme bewegen. Vorsichtig streckte er die Beine und ein dumpfes Keuchen drang durch den<br />

Knebel. Er stieß gegen den Dildo, der noch tief in ihm steckte und keuchte auf, als dies zu<br />

einer heftigen Reaktion in der Prostata führte. Carrie lachte sanft.<br />

„Ich werde dir mal zeigen, wozu das Organ dich bringen kann.“, sagte sie und zog vor-<br />

sichtig den Dildo aus ihm heraus.<br />

*****<br />

Einen Moment herrschte Stille. Shawn hatte stockend erzählt und war erleichtert, es hinter<br />

sich zu haben.<br />

„Wenn ich geahnt hätte, was Carrie meinte, als sie sagte, sie wolle mir mal zeigen ...“<br />

Er verstummte verzweifelt. Kelly konnte sich denken, was Carrie ihm gezeigt hatte. Sie<br />

sagte nichts, sondern strich Shawn nur beruhigend mit den Fingern durch die Haare.<br />

„Du musstest also Putzen ...“, meinte sie nur leise.<br />

„Ja ... Ich ... musste die ganze Zeit an ... Kennst du ... die Filme ‘Ein Käfig voll Narren‘?“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, sagen mir nichts.“<br />

Shawn stieß ein verzweifeltes, hartes Lachen aus. „Das waren Filme über zwei Homose-<br />

xuelle aus den Jahren 1973 und ... ich weiß nicht mehr, wann der Zweite raus kam. Waren<br />

Komödien. Die beiden schwulen Hauptdarsteller, Roberto und Albin, hatten eine Haushalts-<br />

hilfe, einen schwulen jungen Schwarzen, Jacob. Der lief in der Wohnung oft mit ... Er hatte<br />

ein weißes Häubchen auf und ... und eine kleine, weiße Schürze um. Wenn sie so was ... Oh<br />

Gott, wenn sie so was von mir verlangt hätten, ich schwöre dir, hätte Brett mir nicht mehr das<br />

Leben retten können!“ Shawn starrte einen Moment abwesend aus dem Fenster. Er schluckte<br />

schwer, als er an Alan dachte. „Weißt du, von Brett angefasst zu werden war schlimm. Aber<br />

viel schlimmer noch war es, wenn Alan an mir rum fummelte. Dort im Flur ... Als ich da ste-<br />

hen musste, den ... den Hintern weit ausgestreckt und der Dreckskerl kam vorbei ... Ich weiß,<br />

ich wiederhole mich, aber ich kapiere nicht, woher ich die Kraft nahm, nicht um mich zu<br />

schlagen.“<br />

Kelly streichelte sanft über Shawns Rücken. „Das kann ich dir sagen. Selbsterhaltungs-<br />

trieb. Das ist eine der stärksten Motivationen des Menschen und jedes Lebewesens. Du<br />

machst dir keine Vorstellungen, was man zu leisten imstande ist, wenn das nackte Überleben<br />

davon abhängt. Da werden Kräfte mobilisiert, von denen wir nicht im entferntesten ahnen,<br />

dass sie in uns stecken. Dein oberstes Ziel war es, zu überleben. Dein Körper hat richtig rea-<br />

giert, um dieses Überleben zu sichern. Jeder andere an deiner Stelle hätte genauso gehandelt.<br />

391


Du warst in der Hölle. Stell dir vor, was geschehen wäre, wenn du dich jedes Mal gewehrt<br />

hättest. Sie hätten dich zu Tode geprügelt.“<br />

Der Schauspieler hatte aufmerksam zugehört. „Ja, das hätten sie ... Davon kann man wohl<br />

ausgehen. Ich habe mir also selbst zu Anfang das Leben gerettet, was?“ Shawn drehte sich<br />

herum und sah Kelly an. „Es ging ja noch weiter an den Tag ...“<br />

*****<br />

Carrie befahl ihm, in den Keller zu gehen und sich auf den gynäkologischen Stuhl zu set-<br />

zen. Wortlos marschierte Shawn also in den Keller hinunter. Als er vor dem verhassten Stuhl<br />

stand, musste er alle Kraft zusammen nehmen, um sich zu setzen. Mühsam beherrscht, ließ er<br />

sich in die Waagerechte sinken und legte die Beine auf die weit auseinander gedrückten Hal-<br />

teschalen. Lange ließen sie ihn hier sitzen. Er verkrampfte immer mehr vor Scham und Angst.<br />

Nach scheinbar endloser Zeit hörte er Schritte die Treppe herunterkommen und die Tür ging<br />

auf. Lachend und sich unterhaltend kamen die Vier herein und Shawn hatte das Gefühl, im<br />

Boden versinken zu müssen. Seine Beine zuckten in dem Begehren, sich zu schließen und den<br />

Blick auf seinen Intimbereich zu verwehren. Ohne ein Wort an ihn zu richten wurde er in der<br />

ihm bekannten Weise erneut an den Stuhl gefesselt. Carrie zog sich einen Hocker heran und<br />

bat Karen:<br />

„Gib mir mal Gleitmittel und Vibrator.“<br />

Karen ging an den Schrank und kam mit den gewünschten Sachen zum Stuhl zurück. Car-<br />

rie nickte zufrieden und sah Shawn an.<br />

„Wir werden dich melken. Du fragst dich, was das ist. Es gibt die Möglichkeit, bei Män-<br />

nern einen Orgasmus zu erzwingen, weißt du. Eure Prostata ist dafür verantwortlich. Beim<br />

Melken werdet ihr zur Ejakulation gezwungen, ohne Lustgefühle zu haben.“<br />

Shawn hatte betroffen zugehört. Abgesehen davon, dass es im höchsten Maße peinlich<br />

war, auf dem Stuhl zu sitzen, war er beinah erleichtert. Er war sicher, nicht zum Samenerguss<br />

zu kommen, nur, weil Carrie seine Prostata stimulieren wollte. Er schloss die Augen. Er spür-<br />

te, wie sie seinen Anus gründlich mit Gleitmittel behandelte, dann folgte das Schlimmste: Der<br />

Vibrator wurde eingeführt.<br />

So verkrampft vor Scham wie er war, verursachte das erst mal Schmerzen. Letztlich saß<br />

das Teil richtig und Shawn spürte, dass es Druck auf seine Prostata ausübte. Das führte fast<br />

unmittelbar zu einer gewissen Erregung, die nicht sonderlich stark war. Nun schaltete Carrie<br />

den Spezialvibrator ein und Shawn erstarrte regelrecht. Augenblicklich fühlte er, wie die<br />

Drüse sich mit Blut füllte und wenige Minuten später hatte er ohne die geringste Chance, et-<br />

was tun zu können, den ersten Orgasmus, ohne Lust zu empfinden. Und dann folgten schnell<br />

392


hintereinander weitere, heftige Orgasmen, die mit jedem Mal schmerzhafter wurden. Carrie<br />

beobachtete ihren Sklaven und nach dem siebten heftigen Samenerguss sagte sie zufrieden:<br />

„Das reicht.“<br />

Ihrem geschulten Auge war nicht entgangen, das Shawn am Ende war. Er hing keuchend<br />

und zitternd in den Fesseln und wimmerte leise auf, wenn erneut ein Abspritzen kam. Sie<br />

schaltete den Spezialvibrator aus und entfernte ihn vorsichtig. Shawn lag schnell und flach<br />

atmend mit schmerzverzerrtem Gesicht still. Carrie schickte die Freunde aus dem Raum und<br />

wünschte ihnen eine gute Nacht. Schon war sie allein mit Shawn. Sie ging in eine Ecke des<br />

Raumes, wo ein kleines Waschbecken angebracht war, befeuchtete einen Waschlappen und<br />

trat zurück zu dem jungen Mann. Fast sanft begann sie, Shawns über und über mit Sperma<br />

bespritzten Unterleib, Bauch und Brust zu reinigen. Reglos ließ der junge Mann das über sich<br />

ergehen. Als er sauber war, löste Carrie die Handfesseln. Die Beine ließ sie noch auf den<br />

Schienen. Vorsichtig richtete sie die Rückenlehne des Stuhles auf und als Shawn in eine halb<br />

sitzende Position aufgerichtet worden war, fragte sie ihn liebevoll:<br />

„Na, geht es wieder?“<br />

Verkniffen nickte der junge Mann. Er fühlte sich ausgelaugt. Sein Unterleib tat weh und er<br />

wäre dankbar gewesen, hätte Carrie ihn ins Bett gelassen. Er konnte es nicht fassen. Jedes<br />

Mal, wenn er dachte, eine schlimmere Erniedrigung als bereits durch gestandenes gäbe es<br />

nicht, machte Carrie ihm überdeutlich klar, dass es sehr wohl eine Steigerung gab. Sein eige-<br />

ner Körper schien gegen ihn zu sein. Carrie ahnte offensichtlich seine Gedanken. Sie machte<br />

ihn von den Schienen los und half ihm aufzustehen.<br />

„Komm, es ist gut für heute. Wir werden noch ein schönes Glas Wein trinken, was hältst<br />

du davon?“<br />

Erstaunt sah Shawn kurz auf, dann senkte er schnell den Kopf und nickte. „Gerne.“, sagte<br />

er müde.<br />

Carrie lachte. „Na, komm, lass den Kopf nicht hängen.“<br />

Sie legte ihm einen Arm um die Taille und zögernd folgte er ihrem Beispiel. So marschier-<br />

ten sie nach oben in den Salon, wo Kerzen brannten und eine gemütliche Atmosphäre schaff-<br />

ten. Sie dirigierte Shawn zum Sofa und er ließ sich erschöpft darauf sinken. Carrie schenkte<br />

aus einer bereit stehenden Flasche Wein in zwei Gläser, drückte Shawn eins davon in die<br />

Hand und sagte: „Cheers.“ Sie stießen an und Carrie erklärte:<br />

„Du hast keine Chance gehabt, okay. Du brauchst dir nicht blöde vorkommen. Kein Mann<br />

auf der Welt kann dagegen etwas machen. Du kannst auch nicht Kraft deines Willens verhin-<br />

dern, dass dir der Schweiß ausbricht.“<br />

„Ist das vergleichbar?“, fragte er leise.<br />

„Ja.“<br />

393


Shawn entspannte sich etwas. Er starrte in sein Glas und sagte unglücklich: „Ich habe<br />

hier das Gefühl, selbst mein eigener Körper ist gegen mich.“<br />

Carrie lachte. „Dein Körper lernt hier Dinge kennen, an die nur zu denken du dir bisher<br />

nie erlaubt hast. Wenn auch vieles schmerzhaft und erniedrigend ist, beherrschen wir die<br />

Kunst des Befriedigens gut. Du wirst dich oft gegen deine Gefühle nicht wehren können, egal,<br />

wie sehr du es möchtest. Ich bin gespannt, wie es sein wird, wenn Brett dich vögelt.“<br />

Sie sah zufrieden, wie Shawn blass wurde. Er biss sich auf die Lippen, um keine unüber-<br />

legten Worte von sich zu geben. Lächelnd meinte Carrie:<br />

„Du wirst dich daran gewöhnen.“ Sie zog den jungen Mann in die Waagerechte, sodass<br />

sein Kopf auf ihrem Schoß zu liegen kam und sagte: „Der Bereich Sadomaso bietet so unend-<br />

lich viele Möglichkeiten, wir haben gerade erst angefangen. Erniedrigung gehört dazu, aber<br />

bestimmte Dinge in diesem Sektor wirst du nicht kennen lernen. Ich freue mich auf unseren<br />

Landausflug.“<br />

Verwirrt über ihren abrupten Themawechsel sagte er leise: „Was macht dich so sicher,<br />

dass ich nicht die erste, sich bietende Gelegenheit nutzen werde, um abzuhauen?“<br />

Sanft strich Carrie ihm durch die langen Haare. „Ich glaube, du hast so viel Angst wie du<br />

Erwartungen hast, wie du es genießt, wenn ich dich befriedige. Noch überwiegt die Erwar-<br />

tung. Dir ist klar, dass ich dich noch unendlich vieles Lehren kann. Dich zu Orgasmen brin-<br />

gen kann, die dir den Schwanz zerreißen. Ich glaube, das reizt dich bei aller Angst derzeit<br />

mehr als der Wunsch zu fliehen. Wenn meine Vermutung falsch ist, werde ich die Erste sein,<br />

die das merkt.“<br />

Shawn dachte über ihre Worte nach und wusste, dass sie Recht hatte. Er hatte unglaubli-<br />

che Angst vor den Schmerzen, gleichzeitig sehnte er sich danach, von Carrie in Sexualprakti-<br />

ken eingeführt zu werden, die ihm Hören und Sehen vergehen ließen. Er wusste nicht, wie er<br />

sich verhalten würde, wenn sie an Land gingen.<br />

„Was ist, wenn mich jemand erkennt?“, fragte er zögernd. „Dann werden wir sagen, du<br />

bist raus aus dem Show Bizz, weil du die Frau deiner Träume kennen gelernt hast. Ganz ein-<br />

fach.“ Sie ließ ihre Hand über seinen Oberkörper gleiten und sagte unvermittelt: „Ich werde<br />

dich deutlich als mein Besitz kennzeichnen.“<br />

„Wie das?“, fragte er schüchtern nach.<br />

„Da gibt es verschiedene Möglichkeiten, aber mir schwebt ein chinesisches Schriftzeichen<br />

vor.“ Sie erhob sich vorsichtig und ging an einen der Schränke. Dann kam sie mit einem Zet-<br />

tel in der Hand zu Shawn zurück. Shawn erkannte chinesische Schriftzei- chen.<br />

„Was heißt das? Sklave?“, fragte er bedrückt.<br />

„Nein, das heißt Carrie.“, erklärte sie ihm ruhig.<br />

394


sen?“<br />

„Du willst mich mit deinem Namen Kennzeichnen? Wie? Willst du es mir Tätowieren las-<br />

Sie schüttelte sachte den Kopf. „Nein, mein Schatz, mir schwebt etwas anderes vor. Ich<br />

werde dir die Zeichen hier einbrennen.“ Ihre Hand streichelte sanft seinen Schambereich.<br />

Leicht geschockt fragte Shawn nach: „Einbrennen?“<br />

„Ja, vorher werden wir dir die Haare dauerhaft entfernen. Das wird eine etwas unange-<br />

nehme Angelegenheit, aber ich habe keine Lust, dich alle paar Wochen neu zu enthaaren.<br />

Wenn wir das gemacht haben, werde ich dir die Schriftzeichen direkt oberhalb der Peniswur-<br />

zel in die Haut Brennen.“<br />

Shawn wurde blass. Carrie nahm seine Linke in ihre Hände und sagte beruhigend:<br />

„Das tut weniger weh als du denkst. Die Nerven werden unmittelbar abgetötet, so ist es<br />

nur ein kurzer, ziehender Schmerz. Wenn du dich beispielsweise an einer Zigarette oder ei-<br />

nem Bügeleisen verbrennst, tut das mehr weh.“<br />

Skeptisch sah Shawn Carrie an. Diese lächelte sanft.<br />

„Vertrau mir, bitte. Ich habe gesagt, ich passe auf dich auf.“<br />

Ergeben nickte Shawn. „Angst habe ich trotzdem davor.“, sagte er leise.<br />

„Die werde ich dir vertreiben.“ Carrie erhob sich, stellte ihr leeres Weinglas auf den<br />

Tisch und reichte Shawn die Hände. „Komm, ich bin müde, lass uns Schlafen gehen.“<br />

Er ließ sich von ihr auf die Füße ziehen und sie gingen Richtung der Schlafräume. Karen,<br />

Teresa und Brett waren in einem anderen Haustrakt untergebracht. Carries Schlafzimmer lag<br />

direkt neben dem Shawns. Kurz zögerte die junge Frau, dann aber dirigierte sie ihn in seinen<br />

eigenen Schlafraum.<br />

„Leg dich auf dein Bett, auf den Bauch, Beine weit spreizen.“, befahl sie ihm und Shawn<br />

gehorchte. Augenblicke später spürte er, wie Carrie seine Fußgelenke an die Bettpfosten fi-<br />

xierte. Sie befahl ihm, die Arme nach oben zu den Bettpfosten zu strecken. Shawn atmete tief<br />

durch und gehorchte abermals. Sie fesselte seine Handgelenke an das Bett und deckte ihn zu.<br />

„Ich hoffe, du kannst schlafen. Wenn nicht, denke an all die schönen Dinge, die du noch<br />

kennen lernen wirst.“<br />

Sanft strich ihre Rechte über seinen Kopf. Sie drehte sich herum und verließ das Zimmer.<br />

Shawn blieb zurück. Er dachte darüber nach, was sie ihm gesagt hatte und spürte trotz Car-<br />

ries Versicherung, dass das Branding nicht annähernd so weh tun sollte wie das Verbrennen<br />

mit einer Zigarette, eine Gänsehaut über seinen Rücken huschen. Energisch schob er den Ge-<br />

danken beiseite. Stattdessen dachte er daran, was sie vorher mit ihm gemacht hatte. Melken.<br />

Zwangsentsamung. Sein Unterleib verkrampfte sich, als er daran dachte. Ohne es zu merken<br />

ballten sich seine gefesselten Hände zu Fäusten. Er versuchte krampfhaft, an etwas Schönes<br />

zu denken und am Ende fielen ihm trotz der Fesselung die Augen zu.<br />

*****<br />

395


32) Branding<br />

Humanität besteht darin, dass niemals ein Mensch einem Zweck geopfert wird.<br />

Albert Schweitzer<br />

Kelly hatte fassungslos zugehört. Carrie schöpfte aus dem Vollen und ließ keine Erniedri-<br />

gung aus. Es war kein Wunder, dass Shawn sich selbst von seinem eigenen Körper verraten<br />

gefühlt hatte. Die Therapeutin veränderte ihre Haltung so, dass sie neben Shawn lag und die-<br />

sen an sich drücken konnte.<br />

„Du kannst ... konntest nichts machen, Shawn, es ist, wie ich dir einmal bereits erklärte,<br />

und wie Carrie es dir richtig erklärt hat. Du hast nicht die Macht, Kraft deine Willens zu ver-<br />

hindern, dass dir der Schweiß ausbricht. Also, denke nicht mehr daran. Die Körperorgane<br />

machen, wofür sie da sind, niemand kann das verhindern.“<br />

Leise seufzte Shawn: „Stimmt wohl. Das macht es aber nicht leichter. Dass sie alle ge-<br />

nüsslich zugeschaut haben ... Die Bemerkungen, die sie machten ... Sie haben komplett igno-<br />

riert, dass ich alles hören konnte, weißt du. Es war ihnen egal. Es hat ... bis zuletzt wehgetan,<br />

dass sie mich nicht als ... als Mensch, als empfindende Person wahr nahmen. Es war, als wür-<br />

den sie über ein Gerät reden, über ein Gerät, das man anschalten und benutzen kann.“<br />

Kelly wusste, was Shawn meinte. „Sie nehmen ihre Opfer nicht als Mensch wahr. Das ist<br />

bekannt. Sie entmenschlichen sie, entpersonifizieren ihre Opfer. Sie sehen sie nur als Objekt,<br />

als Gegenstand ihrer Gelüste, nur dazu da, ihnen die Befriedigung zu verschaffen, die sie in<br />

dem Moment dringend benötigen. Darum wird beispielsweise bei den Verhandlungen mit<br />

Entführern so intensiv der Name des Entführten genannt, es wird darauf hingewiesen, dass es<br />

Menschen gibt, die das Entführungsopfer lieben, vermissen, Angst um es haben. So sind die<br />

Täter gezwungen, die Opfer als Mensch wahr zu nehmen. Als Brett begann, sich in dich zu<br />

verlieben, hat er dich als fühlenden, empfindenden Menschen wahr genommen. Für die ande-<br />

ren warst du ein Spielzeug.“<br />

Shawn hatte Kelly still zugehört. Er stieß ein leises, unglückliches Lachen aus.<br />

„Ich hätte mir nicht mal in meinen schlimmsten Albträumen ausgemalt, dass ich eines Ta-<br />

ges so viel über Psychopathen lernen würde. Ist erstaunlich, welche Erfahrungen man so im<br />

Leben macht. Würde mich mal interessieren, auf welche Erfahrungen jeder gerne verzichten<br />

würde.“ Er gähnte müde. „Als ich da auf dem Tisch in dieser netten Position gefesselt herum-<br />

lag ... Wie viel Demütigung man doch ertragen kann. Man sagt so oft: Wenn man dies oder<br />

jenes mit mir machen würde, ich würde auf der Stelle sterben. Tja, leider tut man das nicht. Es<br />

gab Tage, da hab ich nicht nur einmal gedacht, wie schön es wäre, wenn man sich selbst ein-<br />

fach ausschalten könnte. Einen Schalter umlegen und tot sein. Wenn die Schmerzen unerträg-<br />

lich waren, oder die Demütigungen und Erniedrigungen. Sterben und nichts mehr merken.<br />

396


Wir Menschen sind ziemlich fehlerhaft konstruiert. Da hätte Gott sich etwas mehr Mühe ge-<br />

ben können.“ Er seufzte leise.<br />

Kelly strich ihm sanft mit der Hand über den Rücken. „Wenn das ginge, würdest du nicht<br />

bei mir sein.“, sagte sie liebevoll. „Du bist ein Kämpfer und du wirst diesen Horror überste-<br />

hen. So, ich denke, für heute reicht es. Wir sollten schlafen. Du bist müde und fertig.“<br />

Shawn nickte. „Das bin ich, ich kann nicht mehr.“<br />

*****<br />

Am kommenden Morgen waren sie gegen 8 Uhr unterwegs. Shawn hatte unruhig geschla-<br />

fen, trotzdem war er viel besser drauf als am Tage zuvor. Beim Frühstück hatte er gesagt:<br />

„Weißt du, was komisch ist? So schlimm es ist, wieder durch den ganzen Mist gehen zu<br />

müssen, fühle ich mich jedes Mal erleichtert, wenn etwas ausgesprochen ist.“<br />

Später im Auto erklärte Kelly: „Dass du dich jedes Mal erleichterter fühlst ist Zweck der<br />

Therapie. Du wirst die Erlebnisse nie vergessen, sie werden immer ein Teil deines Lebens<br />

sein. Aber du wirst es lernen, damit zu Leben. Abschütteln kann man so was nicht. Wenn du<br />

es allerdings in dich hinein fressen würdest, würde es dich kaputt machen. Der menschliche<br />

Geist ist nicht darauf ausgelegt, dauerhaft solche schlimmen Erlebnisse zu unterdrücken. Es<br />

gelingt, oberflächlich. Unterbewusst richten die Erinnerungen viel mehr Schaden an, als man<br />

sich vorstellen kann. Darum ist es so unendlich wichtig, dass du es alles aus dir hinauslässt.“<br />

„Ich verstehe das allmählich besser.“, meinte Shawn ruhig. „Am Anfang hätte ich dich<br />

schütteln können, wenn du von mir verlangt hast, darüber zu sprechen. Jetzt ist es ... fast nor-<br />

mal, dir das alles zu erzählen. Es fällt mir nicht leichter, aber ich weiß, dass es sein muss.“<br />

Vor ihnen flimmerten Straßenschilder in der Sonne.<br />

„Nanu, was ist denn das?“, frage Shawn erstaunt.<br />

Kelly lachte. „Eine der wenigen Abzweigungen eines anderen Highways. Dort vorne be-<br />

ginnt der Carpentaria Highway, der an die Küste führt.“<br />

Ein Schild am Straßenrand wies darauf hin, dass es auf dem Carpentaria für die nächsten<br />

500 Kilometer kein Benzin geben würde.<br />

„Was? 500 Kilometer? Oh, man, da darf man wirklich nicht vergessen, eine Notfallration<br />

bei sich zu haben.“, lachte Shawn erstaunt.<br />

Kelly grinste. „Ja, das sollte man nicht vergessen. Wenn du da liegen bleibst, kann es dau-<br />

ern, bis jemand vorbei kommt, um zu helfen. Und zur nächsten Tankstelle laufen ist nicht mal<br />

ebenso einfach.“<br />

Sie passierten die Kreuzung und keine 5 Kilometer weiter tauchte die Abfahrt zu der win-<br />

zigen Ortschaft Daly Water auf. Kelly hielt nicht an. Zügig fuhr sie weiter, auf der so gut wie<br />

397


schnurgeraden Straße nach Norden. Allmählich veränderte sich das Straßenbild. Mehr Bäume<br />

waren zu sehen, weniger Wüste.<br />

„Man merkt, dass sich die Landschaft langsam verändert, finde ich.“, meinte Shawn und<br />

sah interessiert aus dem Fenster.<br />

„Ja, es wird schrittweise grüner werden. Nicht gerade subtropisch, aber mehr Pflanzenbe-<br />

wuchs.“<br />

Sie kamen schnell voran und gegen 11 Uhr waren vor ihnen, links und rechts des High-<br />

way, erste Felder zu sehen.<br />

„Gleich haben wir es geschafft. Dort vorne geht der Roper Highway zur Ostküste ab und<br />

auf der rechten Seite, dort hinten ...“, Kelly deutete in die Richtung, „... das ist der Elsey Nati-<br />

onalpark.“<br />

Shawn erkannte in einiger Entfernung so etwas wie eine grüne Insel inmitten der roten<br />

Landschaft.<br />

„Ist das Regenwald?“, fragte er erstaunt.<br />

„Ja. Der Elsey Nationalpark, der noch ziemlich neu ist, er wurde 1991 gegründet, liegt am<br />

Roper River. Der Fluss führt sogar in der Trockenzeit Wasser, so dass sich an seinem Ufer ein<br />

üppiger Grünstreifen hält. Im Park gibt es zwei schöne Thermalquellen. Wir werden uns im<br />

Mataranka Resort eine Cabin nehmen und von dort im Park herum schnüffeln. Ich denke,<br />

zwei Tage wären angemessen.“<br />

Shawn zuckte die Schultern. „Ich verlasse mich auf dich. Du bist die Reiseführerin.“ Er<br />

grinste zufrieden.<br />

Kelly bog vom Highway ab und folgte einer unbefestigten Straße nach rechts. Nach unge-<br />

fähr 5 Kilometern kamen sie zu einer kleinen Brücke.<br />

„Ist das der Fluss?“, fragte Shawn neugierig.<br />

„Nein, das ist nur ein kleiner Nebenarm. Der Roper River ist größer.“, erklärte Kelly.<br />

Nachdem sie die Brücke passiert hatten ging es noch fast 1,5 Kilometer weiter, bevor endlich<br />

Gebäude vor ihnen zu sehen waren.<br />

Kelly parkte vor einem Haus, an dem unübersehbar ein großes Schild mit dem Schriftzug<br />

‘Reception‘ stand. Direkt darunter war ein weiteres Schild angebracht, auf dem in roten Buch-<br />

staben ‘Vacancy‘ leuchtete. Sie stieg aus. Shawn verließ ebenfalls den Wagen und sah sich<br />

interessiert um.<br />

„Ich besorge uns eine Cabin, bin gleich wieder da.“<br />

Schnell eilte die Therapeutin in das kleine Haus und kam fünf Minuten später strahlend<br />

mit einem Schlüssel in der Hand zu Shawn zurück.<br />

„Glück gehabt. Wir haben eine.“, erklärte sie.<br />

398


Sie stieg zurück in den Wagen und Shawn folgte ihr zu Fuß, als sie zu einigen kleinen<br />

Blechhütten hinüber fuhr, die zwischen Palmen und Bäumen auftauchten. Alle hatten kleine<br />

Terrassen und waren, wie Shawn und Kelly Augenblicke später fest stellten, nett eingerichtet.<br />

Es gab eine winzige Küche, ein schönes Bad, Sitzecke und Schlafraum. Die Air Condition<br />

lief, sodass es angenehm kühl in dem kleinen Haus war. Kelly sah auf die Uhr.<br />

„Es ist kurz vor 12 Uhr. Was hältst du davon, wenn du uns aus dem Restaurant etwas zu<br />

Essen holst und ich Kaffee aufsetze?“<br />

Shawn nickte. „Gerne. Was möchtest du denn?“<br />

Die Therapeutin überlegte kurz und erklärte: „Weißt du, einen schönen, großen Salat, ir-<br />

gendwas werden die haben. Warm essen werden wir heute Abend.“<br />

„Okay, ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“, meinte Shawn grinsend.<br />

Er schnappte sich seinen Fotoapparat und verließ das Häuschen. Kelly setzte Kaffee auf<br />

und als dieser durchgelaufen war, trug sie Tassen und den Kaffee auf die kleine Terrasse. Sie<br />

machte es sich gemütlich und wartete auf Shawn. Kurze Zeit später kam dieser zurück. Als er<br />

Kelly auf der Veranda sitzen sah hob er den Fotoapparat und machte ein Foto.<br />

Während sie aßen fragte er: „Ob wir hier im Fluss Krokos zu sehen bekommen?“<br />

Kelly schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, Shawn, eher nicht. Das kommt später, verlass<br />

dich drauf. Du wirst noch genügend Salties zu sehen bekommen.“<br />

Enttäuscht verzog Shawn das Gesicht. „Na gut, muss ich noch warten.“, grummelte er.<br />

„Ich bin aber gespannt auf den Regenwald. Das ist eine ganz andere Landschaft als die Wüste.<br />

Muss wunderschön sein.“<br />

„Ja, das ist es. Ich denke, du wirst mit der Tierwelt zufrieden sein. Es gibt dort Vögel.“<br />

Shawn lachte. Er wirkte im Gegensatz zum vergangenen Tag wie ausgewechselt. Solche<br />

Stimmungsschwankungen waren normal für traumatisierte Patienten. Sie war froh, dass er<br />

heute deutlich besser drauf war als am gestrigen Tag.<br />

„Bevor wir losmarschieren muss ich erst einmal wissen, wie du dich fühlst, okay?“, erklär-<br />

te sie, als beide aufgegessen hatten.<br />

Shawn lächelte. „Kein Problem, ich fühle mich topfit. Mach dir bitte keine Sorgen.“<br />

Kelly sah ihn scharf an, doch er sah gut aus. „Dann sollten wir uns mal auf die Beine ma-<br />

chen. Vergiss deine Kamera nicht, den Hut wirst du im Wald nicht brauchen. Wir sollten uns<br />

mit Insektenmittel einsprühen, hier gibt es Mücken und Sand Flies.“<br />

Sie eilte noch einmal ins Haus und kam mit einer Flasche Abwehrspray heraus. Gründlich<br />

sprühte sie Shawn die Beine, Arme und den Nacken ein. Eine kleine Menge sprühte sie sich<br />

in die Hand und verteilte diese sanft und vorsichtig, um nichts in die Augen zu reiben, in<br />

Shawns Gesicht. Während sie ihr eigenes Gesicht ebenfalls vorsichtig einrieb, übernahm<br />

Shawn das Sprühen bei der jungen Frau.<br />

„So sind wir gegen Angriffe gewappnet.“<br />

399


Gut gelaunt machten sich die Beiden auf den Weg Richtung Roper River. Sie waren eben<br />

hinter dem Resort angelangt, als Kelly Shawn am Arm festhielt.<br />

„Sieh mal dort!“ Sie zeigte nach rechts auf eine kleine Wiese. Zehn, fünfzehn Gelbhauben<br />

Kakadus saßen dort im Gras und suchten nach Samen. Shawn strahlte. Er ging vorsichtig und<br />

langsam näher an die wunderschönen, schneeweißen Vögel mit den gelben Federbüscheln am<br />

Hinterkopf heran und machte Fotos. Zufrieden eilte er zu Kelly zurück.<br />

„Die sind niedlich. Schade, dass sie so einen Krach machen.“ Sie hatten die Baumgrenze<br />

erreicht und betraten für Shawn unbekanntes Gebiet. „Ich war noch nie im Regenwald.“, er-<br />

klärte er vergnügt. „Das ist eine Premiere.“ Aufmerksam betrachtete er die grüne Umgebung.<br />

„Das ist unglaublich schön!“, schwärmte er begeistert.<br />

Kelly freute sich einmal mehr, dass es dem Schauspieler so gut gefiel. Sie hatte das Ge-<br />

fühl, neben dem Horror der Aufarbeitung des Traumas war sie es ihm schuldig, ihm viel<br />

Schönes zu zeigen. Ein kleiner Weg führte tiefer in den Dschungel hinein. Rechts und links<br />

des Weges wucherten üppige Farne, Palmen, Banksia, Mangroven, Würgefeigen, Bromelien<br />

und Schlingpflanzen, die sich an den Bäumen emporarbeiteten. Das Grün um sie herum war<br />

so anders als die Wüste, dass Shawn sich gar nicht sattsehen konnte. Die Geräusche, die im<br />

Wald zu hören waren, waren ihm unbekannt und er lauschte angespannt.<br />

„Was ist das für ein eigenartiges Lachen?“, fragte er erstaunt, als genau das, eine Art La-<br />

chen, durch die Blätter schallte.<br />

Kelly klärte ihn auf. „Das ist ein Kookaburra oder Lachender Hans. Ein einheimischer<br />

Eisvogel. Hört sich fast unheimlich an, oder?“<br />

Shawn grinste. „Ja, ein wenig seltsam.“<br />

Sie gingen weiter. Kelly behielt die Umgebung im Blick und hatte damit Erfolg. Sie hielt<br />

Shawn am Arm fest und deutete nach oben in die Baumwipfel. „Sieh mal dort hin.“<br />

Shawn hob den Kopf und folgte mit dem Blick ihrem Arm. „Oh, Fledermäuse.“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nicht ganz. Dass sind Flying Foxes. Ich liebe diese Tierchen.<br />

Sie sind nachtaktiv und reine Vegetarier. Sie leben in Kolonien von wenigen Dutzend bis zu<br />

Millionen Tieren zusammen. Tagsüber ruhen sie in den Bäumen, nachts schwärmen sie aus,<br />

um auf Nahrungssuche zu gehen. Sie legen dabei erstaunlich große Strecken zurück.“<br />

Shawn sah zu den 30 bis 40 Zentimeter großen Tieren hinauf, die sich fest in ihre Leder-<br />

hautflügel eingewickelt hatten.<br />

„Man assoziiert Fledermäuse gleich mit Vampiren. Die gibt es hier aber nicht, oder?“,<br />

fragte er grinsend, während er sich bemühte, ein paar gute Fotos zu machen.<br />

Kelly beruhigte den jungen Mann. „Nein, Vampirfledermäuse gibt es in Australien nicht.<br />

Da kannst du beruhigt sein.“<br />

400


Sie marschierten weiter und erreichten die erste Thermalquelle.<br />

„Und, Interesse an einem warmen Bad?“, fragte Kelly grinsend.<br />

„Na, ein kaltes Bad wäre mir ehrlich gesagt lieber. Aber wenn wir schon an einer Quelle<br />

stehen, sollten wir die Gelegenheit nutzen, uns wenn schon nicht zu erfrischen, wenigstens ein<br />

Bad zu genießen, was?“<br />

Sie hatten in der Cabin ihre Badesachen unter die Kleidung gezogen und suchten sich ei-<br />

nen Platz am Ufer der Quelle, wo sie sich entkleideten. Es waren nur wenige andere Besucher<br />

anwesend und so konnten sie sich eine ruhige Stelle im warmen Wasser suchen, wo sie allein<br />

waren. Einige Stufen waren angelegt worden, um den Besuchern ein gefahrloses Betreten der<br />

Quelle zu ermöglichen. Als sie nebeneinander in dem warmen Wasser lagen, fragte Shawn:<br />

„Was hast du bei der Hypnose mit mir gemacht?“<br />

Kelly grinste. „Ich habe gar nichts mit dir gemacht. Ich habe dich nur an einen Ort geführt,<br />

wo du Ruhe und Frieden findest, wann immer du dorthin zurückkehrst.“<br />

Dankbar sah Shawn die junge Frau an. „Danke. Ich habe mich hinterher so viel wohler ge-<br />

fühlt. Ich war ziemlich durch den Wind, was?“<br />

„Ja, das warst du tatsächlich. Ich wollte keinen Absturz riskieren, der stand unmittelbar<br />

bevor. Ein Absturz hätte dich weit zurückgeworfen, verstehst du?“<br />

Shawn sah gedankenverloren in das undurchdringliche Grün um sie herum. „Das war alles<br />

... na ja, ein bisschen viel. Die Sache mit Brett, meine Eltern, die Gewissheit, dass Carrie alles<br />

daran setzen wird, mich zu finden ... Sie ist nur eine zierliche Frau, wie kommt es, dass ich so<br />

... so unglaubliche Angst vor ihr habe? Ich könnte sie am ausgestreckten Arm Verhungern<br />

lassen, Kelly. Ich habe nicht mal vor Alan so viel Angst. Und der könnte mit mir den Boden<br />

wischen. Und das, obwohl ich ja nicht gerade klein und zart gebaut bin.“<br />

Shawn war fast 1,90 Meter groß und sportlich durchtrainiert, muskulös.<br />

Kelly nickte. „Das ist normal, sie war es, die dich beherrschte. Sie hat die Fäden uneinge-<br />

schränkt in den Händen gehalten. Du konntest dich ihrer Macht nicht entziehen. Die anderen<br />

waren nur Mitläufer. Sie waren ebenfalls abhängig davon, was Carrie genehmigte. Du hast<br />

häufig unbewusst erwähnt, dass alle, abgesehen von Alan, vor Carrie gekuscht haben. Sie<br />

hatte nicht die körperliche Macht, sondern die geistige. Es gibt Horrorfilme, die einem durch<br />

psychologische Spielchen mehr unter die Haut gehen als alle Splattermovies zusammen. Fil-<br />

me, in denen alles gezeigt wird, ekeln uns im schlimmsten Falle an. Aber Filme, in denen<br />

wenig bis nichts gezeigt wird, regen die Fantasie an, man stellt sich vor, was geschehen sein<br />

könnte. In diese Fantasie projizieren wir unsere eigenen schlimmsten Ängste hinein. Wenn<br />

beispielsweise jemand durch den Dschungel flüchtet und plötzlich von Krämpfen geschüttelt<br />

tot zusammenbricht, würdest du dir einen Spinnenbiss vorstellen. Ein Ophiophobiker, also<br />

jemand, der eine Phobie vor Schlangen hat, würde sofort an Schlangen denken. Verstehst du,<br />

was ich meine? Carrie hat dich nicht nur physisch, sondern noch viel mehr psychisch unter<br />

401


Kontrolle gehabt. Sie hat dir Verhaltensmuster aufgezwungen, die du sofort wieder umsetzen<br />

würdest, wenn sie vor dir auftauchen würde. Sie hat dich darauf konditioniert, bei ihrem Er-<br />

scheinen unmittelbar bestimmte Dinge zu tun: Die Beine zu spreizen, den Kopf zu senken, die<br />

Hände auf den Rücken zu nehmen. Sie war diejenige, die deine Fäden gezogen hat. Sie war<br />

das Böse. Du würdest in zehn Jahren noch so auf sie reagieren, wie sie es dir eingebläut hat.“<br />

Shawn hatte nachdenklich zugehört. Alles, was Kelly erklärt hatte, leuchtete ihm ein.<br />

„Ja, du hast Recht. Wenn sie hier aus den Wolken fallen würde, ich wäre augenblicklich<br />

wieder ihr ... Spielzeug.“ Er schwieg kurz, dann meinte er: „Ich bin sicher, wenn sie mich<br />

erwischen würde, sie würde mich nicht nur killen, sie würde mich langsam in Streifen schnei-<br />

den. Sie weiß, dass meine Aussage ihr die Tour vermasselt hat. Sie wird irgendwann jeman-<br />

dem auffallen und geschnappt werden. Ihre einzige Genugtuung wäre es, mich vorher noch<br />

möglichst qualvoll zu Töten ...“<br />

Kelly seufzte leise. „Da magst du Recht haben. Lauren hat sie auf die internationale Fahn-<br />

dungsliste der most wanted gesetzt, wie Karen, Teresa und Alan. Ihre Straftaten ziehen sich<br />

durch alle Kontinente, sodass eine internationale Fahndung angebracht ist. Dank deiner detail-<br />

lierten Beschreibung kann die Lady nicht mehr aus Australien verschwinden. Dass sie es noch<br />

nicht getan hat, zeigt ja der Mord an Brett. Es ist so, wie du vermutest. Sie wird alles dran<br />

setzen, dich zu Töten, bevor sie geschnappt wird. Aber, Shawn, sie wird es nicht schaffen. Du<br />

darfst dich von deiner Angst nicht lähmen lassen. Je mehr du die Geschehnisse während der<br />

Gefangenschaft aufarbeitest desto sicherer wirst du werden, auch in Bezug auf Carrie. Wenn<br />

du es möchtest, werde ich so lange, über die Therapie hinaus, wenn es nötig ist, bei dir sein,<br />

bis Carrie geschnappt wurde.“<br />

Shawn sah die Therapeutin erstaunt an. „Das würdest du machen?“<br />

„Sicher. Du weißt, was ich für dich empfinde, Shawn. Glaubst du, ich würde dich im Stich<br />

lassen, wenn ich wüsste, dass du in Gefahr bist?“ Sie griff nach Shawns Händen und hielt<br />

diese fest.<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Nein, das denke ich nicht. Ich komme mir so unzulänglich<br />

vor ... Erstarre aus Angst vor einer Frau ...“ Er wollte Kelly seine Hände entziehen, aber das<br />

ließ sie nicht zu.<br />

„Hey, das ist okay, Shawn, nichts, wofür du dich schämen müsstest.“<br />

„Meinst du ...“, erwiderte der Schauspieler leise.<br />

Kelly wollte antworten, aber in diesem Moment kam eine größere Gruppe japanischer<br />

Touristen zur Quelle und so sagte sie nur:<br />

„Darüber reden wir später noch einmal, einverstanden?“<br />

Shawn nickte bedrückt. „Lass uns weiter gehen, ja, mir wird es hier zu voll.“<br />

402


Kelly war das nur Recht. Sie verließen das warme Wasser, stiegen nass, wie sie waren, in<br />

ihre Sachen und entfernten sich von der Thermalquelle. Sie folgten dem Weg, der sich weiter<br />

durch den Regenwaldstreifen zog. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her.<br />

Shawn schien tief in Gedanken zu sein. Da sie hier allein waren fragte Kelly:<br />

„Erzählst du mir, wo du mit deinen Gedanken bist?“<br />

Shawn prustete angespannt. „Ich war gedanklich bei Carrie ... Sie hat mich noch voll unter<br />

Kontrolle. Unglaublich. Wird das je aufhören?“<br />

„Ich weiß es nicht, Shawn, das wird die Zukunft zeigen. Es ist stark von deiner inneren<br />

Einstellung abhängig.“ Vor ihnen tauchten kleine Pfützen auf. „Oh, hier gibt es nasse Füße.“<br />

Tatsächlich blieb ihnen nichts anderes übrig, als durch das Brackwasser zu stapfen. Zum<br />

Glück waren die Pfützen nicht tief, sodass die festen Wanderstiefel das Meiste abhielten. Als<br />

sie die feuchte Passage hinter sich gelassen hatten griff Shawn das Thema noch einmal auf.<br />

„Ich werde ernsthaft daran arbeiten, mich von der Angst vor Carrie zu befreien. Ich möch-<br />

te nicht den Rest meines Lebens zusammenzucken, wenn ich an sie denke.“<br />

„Das ist die richtige Einstellung. So wirst du es schaffen. Ich werde dir helfen, dass weißt<br />

du. Heute Abend wirst du mir davon erzählen, wie es weiter ging. So werden wir Punkt für<br />

Punkt weiter aufarbeiten. Wenn Carrie im Gefängnis sitzt, vorzugsweise in der Todeszelle,<br />

wirst du vor ihr sicher sein. Und wenn die Lady sich dir zu nähern wagt, wird sie kennen ler-<br />

nen, wozu ich so fähig bin!“<br />

Shawn konnte tatsächlich lachen. „Meine Kampfmaus.“, meinte er liebevoll.<br />

„Du würdest dich wundern, mein Lieber.“, erklärte Kelly ernst. „In mir steckt mehr, als es<br />

der äußere Anschein verrät. Ich kann mit einem Revolver umgehen und ich beherrsche ver-<br />

schiedene Kampfsportarten. Ich habe mir geschworen, nie mehr ein Opfer zu sein. Das soll-<br />

test du ebenfalls tun.“ Sie blieb stehen und hielt Shawn an den Händen fest. „Schwöre es dir<br />

jetzt und hier, laut und deutlich: Ich werde nie wieder ein Opfer sein!“<br />

Shawn biss sich verlegen auf die Unterlippe. Kelly sah ihn so ruhig und vertrauensvoll an,<br />

dass er nickte.<br />

„Du hast Recht. Ich schwöre, dass ich nie wieder ein Opfer sein werde! Nie wieder!“ So<br />

leidenschaftlich stieß er die Worte hervor, dass es Kelly Tränen in die Augen trieb.<br />

„Ich bin unglaublich stolz auf dich, weißt du das? Du wirst es schaffen, davon bin ich<br />

überzeugt. Du hast viel mehr Mut und Kampfwillen in dir als du selbst ahnst.“ Sie umarmte<br />

Shawn spontan und drückte ihn einen Moment fest an sich.<br />

Nach einer Weile gingen sie weiter. Mehrfach mussten sie durch Wasser laufen, was ihnen<br />

aber nichts aus machte.<br />

„Wir stellen die Schuhe nachher in die Sonne, dann sind sie blitzschnell trocken.“, meinte<br />

Kelly schulterzuckend. Überraschend lichteten sich die Bäume vor ihnen und der Roper River<br />

403


schimmerte als blaugraues Band in der Sonne. „Da ist er, der Fluss.“ Kelly deutete nach vor-<br />

ne.<br />

„So viel Wasser habe ich lange nicht mehr gesehen.“, meinte Shawn grinsend.<br />

„Na, wie denn auch in der Wüste?“, lachte die Therapeutin. Sie traten ans Ufer und hatten<br />

Glück einen umgestürzten Baum zu finden, auf dem sie sich niederlassen konnten. Eine Weile<br />

saßen sie still da und genossen die Aussicht auf den träge dahin strömenden Fluss. Das Bild<br />

strahlte eine angenehme Ruhe aus. Nach einer Weile fragte Shawn:<br />

„Kann ich ... ich würde dir gerne vom Branding erzählen. Ist das okay?“<br />

Kelly war über die Frage erstaunt. „Ja, selbstverständlich. Warum gerade jetzt und hier?“<br />

Shawn sah auf den Fluss hinaus. Leise sagte er: „Weil danach ... das, was kommt ist ...<br />

puh, der schwierigste Teil. Wenn ich es schaffe, möchte ich das gerne heute Abend hinter<br />

mich bringen, verstehst du? Ich schiebe es vor mir her ... Ich will es endlich hinter mir ha-<br />

ben.“<br />

Kelly ahnte, was Shawn meinte. Sie sagte ruhig und liebevoll: „Das schaffen wir zusam-<br />

men, denke jetzt nicht daran. Erzähle, was als nächstes geschah.“<br />

„Ab da verwirrt sich das in meinem Kopf, da kriege ich die Reihenfolge nicht mehr hin.“<br />

Kelly sah den jungen Mann an. „Das macht nichts, Shawn, das ist in Ordnung. Du er-<br />

zählst, was dir durch den Kopf geht an Erinnerungen. Das ist das wichtigste.“<br />

Der Schauspieler atmete tief durch. Leise begann er ...<br />

*****<br />

Shawn wachte davon auf, dass jemand sich auf ihn setzte. Erschrocken wollte er hoch fah-<br />

ren, aber die Fesseln verhinderten dies nachhaltig. Ein Tuch wurde ihm über die Augen ge-<br />

legt, man drückte ihm einen Knebel zwischen die Zähne. Angst schlug über ihm zusammen<br />

und ließ sein Herz rasen. Er spürte Hände, die seine Pobacken auseinander drückten. Aller-<br />

dings nur kurz. Stattdessen spürte er, wie er an den Hüften gepackt und angehoben wurde.<br />

Ein dicker Schaumstoffkeil wurde unter seinen Unterleib geschoben und bewirkte, dass sein<br />

Hintern sich einladend in die Höhe reckte. Abermals fühlte er die Hände, die seine Pobacken<br />

auseinanderhielten. Erschrocken zuckte er zusammen. Etwas kaltes, hartes wurde in seinen<br />

Po eingeführt. Er keuchte durch den Knebel auf vor Schmerzen. Mit wachsendem Entsetzen<br />

spürte er, dass dieses Ding in seinem Anus auseinander ging. Weiter und weiter wurde sein<br />

Schließmuskel gespreizt. Keuchend und zuckend lag er da und versuchte verzweifelt, sich los-<br />

zureißen, was sinnlos war. Endlich fühlte er, dass keine weitere Dehnung mehr erfolgte, das<br />

Maximum schien erreicht. Ihm liefen Tränen des Schmerzes aus den Augen und versickerten<br />

in der Augenbinde. Einige Minuten ließ man ihn sich etwas fangen, dann wimmerte er auf vor<br />

Schreck. Er spürte, wie in seinen weit geöffneten Anus etwas eingeführt wurde. Er wusste so-<br />

fort, dass es ein Vibrator war. Der Keil unter seinem Körper ließ seinen Unterleib frei, sodass<br />

404


er ohne Probleme einen steifen Penis kriegen konnte. Dass wollte er nicht. Doch als der Vib-<br />

rator eingeführt wurde und zielstrebig sanft nach unten gegen seine Prostata gedrückt wurde,<br />

spielte sein Körper ihm ein weiteres Mal einen üblen Streich. Er reagierte augenblicklich auf<br />

die sexuelle Stimulation und sein Penis wurde in Rekordzeit steif.<br />

Entsetzt merkte Shawn, dass er versuchte, sich dem Vibrator entgegen zu drücken. Das<br />

Gefühl, das entstand, wenn die Drüse stimuliert wurde, war zu erregend. Wer immer auf ihm<br />

saß und ihn stimulierte legte keinen Wert darauf, das Ganze in die Länge zu ziehen. Im Ge-<br />

genteil, der Vibrator wurde geschickt und gezielt gegen seine Prostatadrüse gedrückt und<br />

schnell kam Shawn auf diese Weise zum Orgasmus. Kaum war er gekommen, wurde der Vib-<br />

rator entfernt. Schweißnass lag Shawn in den Fesseln, noch den Spreizer in sich, und ver-<br />

suchte, zu Atem zu kommen. Die Zeit ließ man ihm nicht. Mitten hinein in seine abklingende<br />

Erregung klatschte ein schmerzhafter Schlag, der seinen Po traf. Durch den Knebel unfähig,<br />

den Schmerz, der unmittelbar entstand hinaus zu schreien, keuchte der wehrlose junge Mann<br />

nur auf und wand sich in den Fesseln. In schneller Folge klatschten neun weitere Schläge auf<br />

seinen zuckenden Po. Dann war es geschafft. Er wurde nicht von den Fesseln noch von dem<br />

Spreizer befreit. Tränen des Schmerzes waren ihm in die Augen geschossen und versickerten<br />

in der Augenbinde. Krampfhaft bemühte er sich, durch die Nase Luft zu bekommen. Der Kne-<br />

bel, der seinen Mund fast vollständig ausfüllte, verhinderte nachhaltig, dort viel Luft zu be-<br />

kommen. Der Spreizer in seinem Po tat heftig weh und die Striemen, die ihn nun zierten,<br />

brannten wie Feuer. Endlich stand der oder diejenige, die auf ihm gesessen hatte, auf. Er<br />

wurde von dem grässlichen Spreizer befreit und der Knebel wurde ebenfalls entfernt. Unend-<br />

lich erleichtert atmete der Schauspieler auf. Die Fesseln wurden gelöst und Carries Stimme<br />

sagte:<br />

„Mach dich fertig, Sklave, in dreißig Minuten wirst du abgeholt. Dann bekommst du die<br />

Brandzeichen.“ Schritte entfernten sich und Shawn wusste, er war allein.<br />

Mit zitternden Händen griff er nach der Augenbinde und streifte diese ebenfalls ab. Vor-<br />

sichtig rollte er sich auf den Rücken. Sein Po brannte von den Schlägen. Einen Moment lag er<br />

still und war bemüht, sich zu fangen. Dreißig Minuten ... Das war nicht gerade eine lange<br />

Zeit. So stemmte er sich mühsam in die Höhe und wankte ins Bad. Er stieg unter die Dusche<br />

und dachte an das, was ihn gleich erwarten würde. Verzweifelt lehnte er den Kopf gegen die<br />

Wand. Er hatte nicht annähernd so viel Angst wie vor der Beschneidung, doch die Vorstel-<br />

lung, gebrandmarkt zu werden wie ein Stück Vieh, trieb ihm Schweiß aus allen Poren. Resig-<br />

niert wusch er sich zu Ende und war fertig, als nach einer halben Stunde die Tür geöffnet<br />

wurde und Alan ihn abholte.<br />

„Na, Sklave, freust du dich?“, fragte dieser gemein.<br />

405


Shawn reagierte gar nicht auf die Worte. Er biss die Zähne zusammen und folgte Alan<br />

kommentarlos hinunter in den Keller. Es ärgerte den junge Mann, dass seine Beine zitterten,<br />

doch er konnte nichts machen. Er wurde in einen Raum geführt, den er bisher noch nicht<br />

kannte. Er war recht groß, an den Wänden erkannte Shawn Stahlringe, in einer Ecke sah er<br />

einen kleinen Käfig, eine steinerne Säule stand in der Mitte des Raumes, und vor dieser ein<br />

gusseisernes Becken, in dem Kohle vor sich hin glühte. In der Kohle steckten zwei Stangen.<br />

Alan forderte Shawn auf, sich mit dem Rücken an die Säule zu stellen und zitternd gehorchte<br />

dieser. Alan schnürte ihn in dieser Haltung so fest, dass Shawn sich keinen Millimeter mehr<br />

bewegen konnte. Nur der Kopf wurde nicht fixiert. Zufrieden betrachtete Alan sein Werk.<br />

Grinsend verließ er den Keller.<br />

Sie ließen Shawn gute zehn Minuten dort stehen. Minuten, in denen sich die Angst in ihm<br />

ausbreitete. Den Blick auf das glühende Becken gerichtet stand er da und malte sich aus, wie<br />

weh das Branding tun würde. Als die Tür des Raumes schwungvoll geöffnet wurde, entfuhr<br />

ihm ein erschrockenes Keuchen. Alle fünf kamen in den Raum und sahen gierig zu Shawn<br />

hinüber. Dieser presste verzweifelt die Zähne zusammen, um nicht zu wimmern vor Angst.<br />

Carrie trat wortlos an das Glutbecken und griff mit einem dicken Topflappen den ersten der<br />

beiden Metallstäbe am oberen Ende. Sie trat an Shawn heran und kniete sich vor ihn. Die<br />

anderen beugten sich gespannt herab. Shawn kullerten Tränen über die Wangen. Panisch<br />

wartete er auf den Schmerz.<br />

„Hier, ja, das wird geil aussehen!“, meinte Teresa gerade. Sie deutete auf die Stelle un-<br />

mittelbar über dem Penis.<br />

Carrie nickte. „Ja, das habe ich mir vorgestellt.“ Sie drückte das rot glühende Brandeisen<br />

ohne zu zögern auf Shawns Haut. Wenn er sich den Schmerz auch noch schlimmer vorgestellt<br />

hätte, brüllte der junge Mann dennoch gequält auf. Er hörte, wie Brett bis drei zählte, dann<br />

nahm Carrie das Brandeisen zurück und griff im Knien nach dem zweiten Eisen. Wimmernd<br />

hing Shawn in den Fesseln und sah panisch, wie sich das zweite Eisen seinem Körper näher-<br />

te. Und fühlte erneut den Schmerz, brüllte gepeinigt auf. Wieder zählte Brett bis drei, erst<br />

dann nahm Carrie auch dieses Eisen zurück.<br />

Shawn hing zitternd in den Fesseln. Schweiß lief ihm in Strömen am Körper hinab. Er<br />

schluchzte krampfhaft vor sich hin. Erstaunlicherweise ließ das heftige Brennen schneller<br />

nach als er erwartet hatte. Nach einigen Minuten war es auf ein erträgliches Pochen zurück-<br />

gegangen. Carrie trat noch einmal zu ihm und strich ihm eine kühlende Salbe auf die zwei<br />

kleinen Brandmale. Anschließend befahl sie Alan, den Sklaven loszumachen und in den Gar-<br />

ten zu schaffen.<br />

„Du weißt, was er zu tun hat. Bring ihn rechtzeitig zum Abendbrot in sein Zimmer, damit<br />

er duschen kann, klar?“<br />

406


Alan nickte. „Ja, ich weiß Bescheid.“ Er wandte sich an Shawn, der noch am ganzen Leib<br />

zitterte. „Na los, du hast heute einiges auf dem Zettel.“<br />

*****<br />

33) Vergewaltigt<br />

Wer keine Demütigungen kennengelernt hat, weiß nicht, was es heißt, auf der<br />

untersten Stufe seiner selbst anzukommen.<br />

Emile Michel Cioran<br />

Shawn atmete schwer, hatte aber ohne Zögern erzählt. Jetzt schwieg er einen Moment.<br />

Kelly rutschte dicht an den Schauspieler heran und legte ihm einen Arm um die schlanke Tail-<br />

le.<br />

„Es hat ... ich hatte es mir schlimmer vorgestellt. Es tat nur einen Augenblick richtig ge-<br />

mein weh, dann war es zu ertragen. Als ich da an die Säule gefesselt stand, wurde ich nur<br />

noch von den Fesseln aufrecht gehalten. Das Warten war schlimmer als das Branding selbst.<br />

Wenn man hilflos darauf warten muss, dass jemand kommt und einem weh tun wird, das ist ...<br />

furchtbar.“ Einzelne Tränen kullerten an Shawns Wangen herunter. Er starrte apathisch auf<br />

das Wasser hinaus. „Ich bestand wieder mal nur noch aus Angst. Als sie in den Raum kamen<br />

... Ich hatte das Gefühl, mein Herz zerspringt jeden Moment, so hat es gerast. Sie haben sich<br />

darüber unterhalten, wo Carrie es am besten machen sollte, als ginge es darum, einen Blumen-<br />

topf an eine geeignete Stelle zu platzieren.“ Resigniert schüttelte er den Kopf. „Als es vorbei<br />

war und sie Salbe auf die Brandwunden strich, war ich der Bitch dankbar. Den Tag habe ich<br />

im Garten verbracht. Ich musste ein Beet anlegen, habe sogar Schuhe bekommen, stell dir<br />

vor. Weil ich umgraben musste. Das war barfuß nicht möglich. Da stand ich nackt mit einem<br />

Spaten im Garten, Stiefel an den Füßen, und habe das verdammte Beet umgegraben. Muss ein<br />

erhebender Anblick gewesen sein. Carrie und die anderen saßen gemütlich im Schatten auf<br />

der Terrasse und haben mir zugesehen. Komisch, ich habe die ganze Zeit gedacht, dass es<br />

schlimmeres gibt als nackt umzugraben. Es fing an, mir nicht mehr so viel auszumachen, ver-<br />

stehst du? Das Branding und davor der kleine Überfall im Schlafzimmer ... Diesen ... dieses<br />

Teil im ... Den Spreizer im ... Das war viel schlimmer. Dagegen wurde das nackt Umgraben<br />

direkt angenehm.“<br />

Er verstummte und lehnte sich müde an die junge Psychologin. Diese hielt ihn sanft an<br />

sich gedrückt. Sie musste sich zwingen, ihre Stimme ruhig und sicher klingen zu lassen, als<br />

sie sagte:<br />

407


„Du warst in einem Stadium, in dem du realisiertes, dass die Schmerzen, die man dir zu-<br />

fügte, schlimmer waren als die Demütigungen. Du hattest ab da wohl nicht mehr die Kraft,<br />

ständig beides zu verarbeiten. So hat dein Gehirn selbstständig entschieden, sich nicht mehr<br />

mit belanglosen Dingen wie Schamgefühl zu belasten. Es brauchte seine ganze Energie, wie<br />

dein Körper, um die dir zugefügten Schmerzen zu verarbeiten.“ Die Therapeutin konnte nicht<br />

verhindern, dass ihre Stimme zitterte. Sie hatte einen Kloß im Hals und musste erst einmal<br />

durchatmen. Shawn hatte ihren erklärenden Worten gelauscht. Er seufzte.<br />

„Wird wohl so gewesen sein. Ab da habe ich mich nur noch in extremen Situationen ge-<br />

schämt. Ansonsten habe ich es schulterzuckend hingenommen, wenn sie mich demütigten.<br />

Wahrscheinlich hast du Recht, ständig gegen Schmerzen und Schamgefühl anzukämpfen war<br />

wohl auf Dauer nicht möglich. Da sie es spielend geschafft haben, sich ständig neue Qualen<br />

auszudenken, hatte ich damit mehr als genug zu tun ...“ Er verstummte resigniert.<br />

Kelly hielt den jungen Schauspieler weiter im Arm und sie spürte einmal mehr, wie gut<br />

ihm dies tat. Als könne er ihre Gedanken lesen fragte Shawn:<br />

„Hast du eine Ahnung, wie schön es ist, wenn du mich ... so im Arm hältst? Zuhörst und<br />

für mich da bist? Das ist mit nichts zu vergleichen. So könnte ich Carrie komplett vergessen,<br />

für eine Weile. Oft ist es nur wichtig, dass jemand zuhört. Du bist darin perfekt, Kelly, du<br />

spürst es genau, wann ich nur einen Zuhörer brauche.“ Er verstummte verlegen.<br />

„Dafür bin ich da, Shawn. Ich konnte immer gut zuhören. Oft muss ich nichts anderes ma-<br />

chen. Du verinnerlichst es laufend besser, dass ich jederzeit da bin, um dir zuzuhören. Das ist<br />

unglaublich wichtig. Du hast Recht, ich muss nicht permanent etwas zu dem sagen, was du<br />

mir anvertraust. Du kannst mir alles sagen, egal wie verrückt es dir erscheinen mag, wie<br />

schmerzhaft oder peinlich.“ Sie sah zum Himmel hinauf und stellte fest, dass die Sonne be-<br />

gann, unter zu gehen. „Wir sollten uns auf den Rückweg machen, es ist nicht angenehm, im<br />

Dunkeln durch den Dschungel zu laufen.“<br />

„Da magst du Recht haben. Lass uns zurückgehen.“<br />

Sie erhoben sich von ihrem Baumstamm und machten sich auf den Rückweg zum Resort.<br />

Mit dem letzten Tageslicht erreichten sie ihre Unterkunft.<br />

Da die Schuhe nass und matschverschmiert waren, streiften sie diese auf der Terrasse ab.<br />

Als Shawn sich die Strümpfe auszog sah er eigenartige Würmer an seinen Knöcheln, zwei am<br />

linken und drei am rechten.<br />

„Oh, man, was sind denn das für Viecher?“, fragte er leicht angewidert.<br />

Kelly sah auf und machte: „Upps ...“ Sie zog ihre eigenen Strümpfe aus und stellte fest,<br />

dass an ihren Knöcheln je eins dieser merkwürdigen Tiere hing. Lachend erklärte sie: „Das,<br />

mein lieber Shawn, sind Blutegel.“<br />

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“<br />

408


Total angewidert starrte Shawn auf die schwarzbraunen Klumpen an seinen Füßen.<br />

Mitleidig kicherte Kelly: „Sieh es mal so: Andere bezahlen beim Arzt eine Menge Geld,<br />

um Blutegel gesetzt zu bekommen, du bekommst es hier gratis.“<br />

Shawn warf ihr einen vernichtenden Blick zu und Kelly kullerten Lachtränen über die<br />

Wangen.<br />

„Warum haben wir das nicht gemerkt?“, fragte er und starrte weiter auf die glitschigen,<br />

pulsierenden Tiere herunter.<br />

„Ganz einfach, sie haben in ihrem Speichel ein Schmerzmittel. Unter anderem. Es gibt et-<br />

was zwanzig verschiedene Substanzen in ihrem Speichel, von denen die meisten noch gar<br />

nicht in ihrer Wirkungsweise erforscht sind. Definitiv enthalten sind die Blutgerinnungshem-<br />

mer Hirudin und Calin.“<br />

Shawn verzog das Gesicht. „Ist ja toll. Und wie wird man die Viecher los?“<br />

Kelly erhob sich. „Ich werde mal ein paar Tissues besorgen und dich von den Tierchen be-<br />

freien.“<br />

Sie verschwand nach drinnen und kam kurze Zeit später mit einigen Kosmetiktüchern in<br />

der Hand zurück auf die Terrasse. „So, dann werde ich dich mal erlösen.“, grinste sie und zog<br />

sich einen Stuhl heran. „Gib mir deinen rechten Fuß.“<br />

Shawn legte ihr seinen Fuß auf den Schoß und Kelly entfernte vorsichtig die drei Egel, die<br />

sich hier festgebissen hatten. Die kleinen Wunden bluteten heftig nach.<br />

„Das liegt an den Blutgerinnungshemmern.“, erklärte Kelly und bat um den anderen Fuß.<br />

Sie löste vorsichtig die kleinen Blutsauger und entfernte anschließend schnell die Egel an ih-<br />

ren eigenen Knöcheln. Die winzigen Wunden bluteten fröhlich weiter. Shawn schüttelte den<br />

Kopf.<br />

„Blutegel ...“, grummelte er und erhob sich. „Ich gehe Duschen. Ist ja widerlich!“<br />

Kelly konnte sich nicht halten vor Lachen. „Ja, mach das. Blute nicht alles voll.“<br />

Shawn schnaufte. Kelly rief ihm nach:<br />

„Wollen wir ins Restaurant zum Essen oder soll ich etwas bestellen?“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Nein, lass uns rüber gehen. Ich beeil mich.“ Er verschwand<br />

ins Haus und eilte ins Bad. Als er sich auszog dachte er daran, was er am heutigen Abend<br />

berichten musste. Ihm wurde schlecht. Das würde heute der schlimmste Part werden. Der<br />

Schauspieler merkte, dass er bei der Vorstellung, berichten zu müssen, anfing zu zittern.<br />

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Er biss die Zähne zusammen und spürte Tränen in seine Augen<br />

schießen. Verzweifelt hielt er das Gesicht in den Wasserstrahl.<br />

Zwanzig Minuten später schlenderten sie zum Restaurant hinüber. Shawn war still und<br />

sagte beim Essen wenig. Kelly behielt ihn scharf im Auge. Sie ahnte, was er ihr nachher er-<br />

zählen würde und dieses Wissen trieb ihr Tränen in die Augen. Schnell senkte sie ihren Blick<br />

409


auf den Teller vor sich. Hoffentlich ging dieser Abend über die Bühne ohne in einem Desaster<br />

zu enden. Das Essen zog sich wie Gummi in die Länge. Keiner der Beiden mochte es been-<br />

den. Schließlich war alles aufgegessen und Kelly griff über den Tisch hinweg nach Shawns<br />

Händen.<br />

„Es hat keinen Sinn, es noch länger vor sich hinzuschieben, Shawn.“ Dass die junge Frau<br />

zu ahnen schien, was er ihr heute erzählen würde überraschte Shawn nicht. Sie kannte ihn so<br />

viel besser als jeder andere Mensch, selbst als Carrie. Denn die hatte sich nie die Mühe ge-<br />

macht, den ganzen Shawn kennen zu lernen, sie hatte nur die Bereiche ergründet, die ihr nütz-<br />

lich waren. Müde nickte er.<br />

„Du hast Recht. Lass uns gehen ...“ Seine Stimme brach fast und Kelly spürte ihn zittern.<br />

Sanft erklärte sie:<br />

„Shawn, wir schaffen das gemeinsam, wie wir alles schaffen werden. Es hilft nichts, es<br />

muss sein.“ Sie winkte die Bedienung an den Tisch, bezahlte und dann gingen sie zu ihrer<br />

Cabin zurück. Shawn blieb vor dem Bett stehen und starrte apathisch vor sich hin. Kelly ließ<br />

sich auf dem Bett nieder und forderte Shawn sanft auf, sich zu ihr zu legen. Unendlich ver-<br />

zweifelt machte er sich lang. Kelly konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen über die Wangen<br />

kullerten. Sie streichelte Shawn beruhigend und ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um den<br />

Mut aufzubringen, anzufangen.<br />

*****<br />

Nach dem Abendessen wurde Shawn nicht, wie die letzten Tage, in einer schmerzhaften<br />

Stellung gefesselt, sondern mit verbundenen Augen und diesmal gefesselten Händen in den<br />

Folterkeller geführt. Hier spürte er erstaunt, dass ihm Hand- und Halsmanschette abgenom-<br />

men wurden. An dem Gefühl konnte er sich jedoch nicht lange erfreuen. Schon spürte er, dass<br />

erneut etwas um seinen Hals gelegt wurde, breiter und starrer. Und strammer. Etwas, das an<br />

dem Teil um seinen Hals befestigt war, fiel seinen Rücken hinunter. Er fühlte, wie seine Arme<br />

auf den Rücken gedrückt und dort übereinandergelegt wurden. Jetzt wurde etwas breites<br />

stramm um seine Unterarme geschnürt. Dies Art der Fesselung war noch unangenehmer als<br />

die herkömmliche Methode, seine Hände mit den Haken hinter seinem Rücken zu befestigen.<br />

Er wartete angstvoll, was kommen würde. Plötzlich sagte Carrie etwas, was ihn unmittelbar<br />

in hysterische Panik versetzte!<br />

„Na, wie sieht es aus, Brett, willst du das gute Werk tun und ihn gründlich durchvögeln?“<br />

Shawn wurde steif vor Schreck! Schon hörte er Bretts Stimme:<br />

„Na, aber nichts lieber als das.“<br />

410


„Nein! NEIN!“ Shawn schrie los und versuchte, zurückzuweichen. Ohne etwas Sehen zu<br />

können und mit den gefesselten Händen hatte er natürlich nicht den Hauch einer Chance. Er<br />

spürte in wilder Panik Hände, die ihn packten und brüllte:<br />

„Lasst mich los, ihr Schweine!“<br />

Gnadenlos wurde er weiter geschleift und auf den Sklavenbock gedrückt. Tobend vor<br />

Angst und Entsetzen spürte er, wie seine Beine an die Kniekissen gefesselt wurden. Sein<br />

Oberkörper wurde hart nach vorne gepresst und etwas an dem Kragen um seinen Hals einge-<br />

hängt. Er bekam den Körper nicht mehr hoch. Hysterisch schrie er.<br />

„Ihr elenden Monster! Lasst mich in Frieden! Ich bring euch um!“<br />

Nur höhnisches Lachen antwortete ihm. Er spürte, wie Gleitmittel großzügig auf seinen<br />

Anus aufgetragen wurde und brach zusammen. Er schluchzte, dass es ihn schüttelte. Es war<br />

so weit. Nun würde er kennenlernen, was es hieß, gegen seinen Willen vergewaltigt zu wer-<br />

den. Noch einmal brüllte er fassungslos seine Verzweiflung hinaus, dann fühlte er einen stark<br />

erigierten Penis an seinem Po und Hände, die ihn an den Hüften packten.<br />

Als der Penis hart in ihn eindrang, verstummte Shawn. Kein Ton drang mehr über seine<br />

Lippen. Stumme Tränen flossen in Strömen über sein Gesicht. Unglaubliche Schmerzen zuck-<br />

ten durch seinen Po und seine Wirbelsäule empor, da er sich hoffnungslos verkrampfte, doch<br />

kein Laut kam mehr über seine Lippen. Er spürte Brett tief in sich, spürte dessen Hände sich<br />

an seine Hüften krallen, merkte, dass seine Haut am Schließmuskel einriss, doch er brachte<br />

keinen Ton hervor. Er lag still, wie erstarrt da und Brett fickte ihn minutenlang brutal, bis der<br />

Mann mit einem geilen Aufkeuchen tief in Shawn steckend zu einem heftigen Orgasmus kam.<br />

Er blieb noch einige Augenblicke zuckend in Shawn stecken, dann zog er sich schwer atmend<br />

und zufrieden zurück. Stumm und reglos blieb Shawn sitzen und noch immer stürzten ihm un-<br />

aufhörlich Tränen unter der Augenbinde hervor über das erstarrte, leichenblasse Gesicht. Er<br />

hörte Carrie wie durch Watte etwas sagen, bekam aber nicht mit, was es war. Dann spürte er<br />

unerwartet einen derart heftigen Schmerz über seine Pobacken klatschen, dass er gequält<br />

aufheulte. Carrie hatte der Vergewaltigung erregt zugesehen. Sie war wütend auf Shawn,<br />

dass er sich aufgelehnt hatte. Jetzt sollte er ein für alle Mal lernen, dass er sich nicht zu weh-<br />

ren hatte. Offensichtlich hatte er die Lektion schon wieder vergessen. Als Brett fertig war,<br />

griff sie nach einem fingerdicken, elastischen Glasfaserstock. Dieser verursachte unerträgli-<br />

che Schmerzen, hinterließ aber keine tiefen Striemen, sodass es keine Narben auf Shawns<br />

wundervoll ebenmäßiger Haut geben würde. Kaum war Brett aus dem Sklaven heraus, trat<br />

Carrie hinter ihn. Es folgte eine Abstrafung für den Wehrlosen, wie sie schlimmer nicht hätte<br />

sein können. Wieder und wieder traf das brutale Schlagwerkzeug seinen zuckenden Körper.<br />

Hatte er sonst bei Auspeitschungen nur bei jedem Treffer geschrien, heulte und brüllte er<br />

nach wenigen Schlägen ununterbrochen. Er verschluckte sich und hustete krampfhaft, nur, um<br />

411


sofort weiter zu brüllen. Und endlich, endlich wurde es schwarz vor Shawns Augen und er<br />

merkte nichts mehr. Eine gnädige Ohnmacht hatte ihn erfasst.<br />

*****<br />

Shawn konnte nicht weiter sprechen. Längst lag er in Kellys Armen. Längst schluchzte er<br />

aufgelöst vor sich hin. Und längst schluchzte Kelly nicht minder heftig mit ihm. Viele Minu-<br />

ten lagen die Beiden eng umschlungen auf dem Bett, Shawn presste sein Gesicht an die Brust<br />

der Therapeutin. Er war zurück in dem Horrorhaus, spürte den Schmerz der Vergewaltigung,<br />

fühlte die unerträgliche Erniedrigung, den grausamen Schmerz der Abstrafung. Er hörte Brett<br />

vor Geilheit keuchen, hörte die Kommentare der Zuschauer, wie sie den Homosexuellen an-<br />

feuerten. Wie Glockenhall dröhnten die Worte durch seinen Kopf.<br />

„Ja, gib‘s ihm so richtig.“<br />

„Zeig ihm, wer hier der Boss ist.“<br />

„Fick ihn bis er lacht.“<br />

Shawn wimmerte auf. „Nein ... nein!“ Noch fester klammerte er sich an Kelly und weinte<br />

dass es ihn schüttelte. Nach einiger Zeit stammelte er: „Es hat so weh getan ... Ich dachte, es<br />

zerreißt mich! Es hat so schrecklich weh getan ...“<br />

Von Schluchzern unterbrochen stieß er die Worte hervor. Kelly hielt ihn fest. Ihr war<br />

speiübel und sie zitterte selbst am ganzen Leib. Hilflos überlegte sie, was sie zum Trost sagen<br />

konnte, wusste aber, es gab nichts, was Shawn trösten konnte. Er hatte mit seinen Worten das<br />

Schlimmste erzählt, was ihm widerfahren war. Jetzt war es ausgesprochen und damit der<br />

schwierigste Part erledigt.<br />

Endlich wurden die Schluchzer des Schauspielers weniger und er stammelte: „Als ich end-<br />

lich ... die Besinnung verlor ... ich hab nur noch gedacht: Hoffentlich wachst du nie wieder<br />

auf ... Die Schmerzen ... Etwas ist zerbrochen in mir an dem Abend. Das wird nie mehr hei-<br />

len.“<br />

Kelly hatte sich soweit gefangen, dass sie sagen konnte: „Eine Vergewaltigung hinterlässt<br />

immer Narben, Shawn. Narben auf der Seele, die niemand je weg bekommen wird.“<br />

Shawn nickte unmerklich. „Sie haben ihn angefeuert. Für die Schläge hinterher war ich ...<br />

ich war fast dankbar. Die Schmerzen ... haben mich abgelenkt ... Ich hatte tagelang das Ge-<br />

fühl, Bretts Schwanz in mir zu spüren, zu spüren, wie er ... wie er ... in mir kam.“ Er ver-<br />

stummte kurz, bevor er apathisch weiter erzählte.<br />

*****<br />

412


Er wachte langsam auf. Unerträgliche Schmerzen an und in seinem Po ließen ihn augen-<br />

blicklich ganz zu sich kommen. Er lag auf dem Bauch und spürte, wie jemand sich an seinem<br />

Anus zu schaffen machte. Große Hände strichen ihm Salbe auf die aufgerissene Haut. Wäh-<br />

rend er besinnungslos gewesen war, hatte man ihm die Hals- und Handgelenkmanschetten<br />

wieder umgelegt. Seine Hände waren auf dem Rücken locker zusammen gefesselt und er trug<br />

noch die Augenbinde. Er wimmerte leise vor Schmerzen und spürte unter der Binde Tränen.<br />

Jetzt legte Alan, der Größe der Hände nach zu urteilen konnte es nur dieser sein, die Zudecke<br />

über Shawn und der junge Mann hörte, wie sich die Tür des Zimmers, in dem er lag, schloss.<br />

Weinend lag Shawn da und versuchte, sich zu entspannen, damit die Schmerzen in seinem<br />

Inneren nachließen. Er wusste nicht, wie lange er schluchzend dort lag. Er wartete darauf,<br />

dass Carrie kommen würde. Sie musste ungeheuer wütend gewesen sein, dass sie ihn derart<br />

bestraft hatte. Heftig schluchzte Shawn auf. Sie hatte ihn sonst immer getröstet. Warum nicht<br />

jetzt?<br />

Er lag Stunde um Stunde gefesselt da, schmerzgequält, wimmernd, fertig. Mühsam schaffte<br />

er es, die Liegeposition ein wenig zu verändern. Sein Po brannte, als bestünde er nur noch<br />

aus offenen, wundem Fleisch. Sein Schließmuskel fühlte sich an, als würde jemand mit einem<br />

glühenden Schürhaken in ihm herumbohren. Hoffnungslos verzweifelt lag der junge Mann in<br />

dem Bett und brach immer wieder in Tränen aus. Er konnte nicht fassen, was passiert war. Er<br />

spürte Bretts widerlichen Schwanz in sich, spürte dessen Sperma, als Brett in ihm zum Or-<br />

gasmus kam und schluchzte erneut auf, dass es ihn schüttelte. Nach langer Zeit hörte er je-<br />

manden herein kommen. Seine Hände wurden gelöst, die Augenbinde entfernt. Karen, sie war<br />

es, packte ihn am Oberarm und sagte kalt:<br />

„Los, hoch mit dir, du darfst auf die Toilette.“<br />

Kaum fähig, zu laufen, wurde er ins Bad geführt und musste seine Blase dort unter Karens<br />

Augen entleeren. Anschließend wurde er sofort zum Bett zurückgebracht. Seine Beine zitter-<br />

ten. Er spürte es aus seinem Darm tropfen, Blut, Spermareste, Wundflüssigkeit. Schnell lag er<br />

wieder gefesselt auf dem Bett und Karen schmierte ihm erneut etwas auf den Schließmuskel,<br />

so rücksichtslos, dass er aufwimmerte. Er hatte panische Angst davor, irgendwann Stuhlgang<br />

haben zu müssen. Der Finger Karens verursachte schon solche Schmerzen, dass er sich nicht<br />

vorstellen wollte, was ihn bei Stuhlgang erwarten würde.<br />

Lange war er allein. Irgendwann kam Karen noch einmal zu ihm, brachte ihm zu Essen<br />

und zu Trinken, redete jedoch kein Wort mit ihm, während sie ihn fütterte. Nachdem sie ihn<br />

versorgt hatte, verließ sie den Raum und er war wieder allein. Und das war er zwei Tage spä-<br />

ter noch. Sie ließen ihn in seinem Zimmer liegen, die Hände ständig gefesselt. Langsam klan-<br />

gen die Schmerzen etwas ab, die Striemen auf seinem Po schwollen ab, sein Schließmuskel<br />

beruhigte sich ein wenig. Da er sich weigerte, mehr zu tun als zu Pinkeln, wenn sie ihn unter<br />

413


Aufsicht von Alan, Brett, Teresa oder Karen zum Klo brachten, wurde am dritten Tag einge-<br />

griffen. Heftige Unterleibschmerzen quälten ihn, aber die panische Angst vor dem Toiletten-<br />

gang war größer als die Angst vor Unterleibkrämpfen. Er hatte allmählich das Gefühl, zu<br />

platzen, doch er hielt verzweifelt den Stuhlgang zurück. Die Vier kamen zusammen zu ihm und<br />

fesselten ihn auf dem Bauch ans Bett. Unsanft wurde ihm ein Schlauch eingeführt und ein<br />

Einlauf verpasst. Shawn weinte vor Scham und Angst, doch Minuten später musste er auf die<br />

Toilette. Unter den wachsamen Augen Teresas entleerte er endlich seinen übervollen Darm.<br />

Anschließend reinigte Teresa ihn in der Wanne mittels des Schlauches selbst gründlich.<br />

Schweißgebadet und krampfhaft keuchend vor Schmerzen lag er etwas später im Bett und<br />

musste sich gefallen lassen, dass Teresa ihn untersuchte. Wortlos nickte sie. Die feinen Riss-<br />

wunden verheilten gut, es gab keine Zeichen einer Infektion.<br />

Nach dieser Behandlung lag Shawn wieder gefesselt auf dem Bett. Seit nunmehr drei Ta-<br />

gen hatte keiner ein Wort mit ihm gesprochen, hatte er Carrie nicht mehr gesehen. Nachdem<br />

die Schmerzen endlich nachließen, wurde seine Sehnsucht nach ihr mit jeder Minute größer.<br />

Er schlief zu wenig, aß noch weniger und reagierte nicht mehr, wenn einer der anderen zu<br />

ihm kam, um ihn auf die Toilette zu bringen. Er hatte in all den Tagen nicht Duschen dürfen<br />

und fühlte sich entsetzlich. Am Morgen des vierten Tages wurde er zum Frühstück abgeholt.<br />

Ohne Dusche führte Karen ihn in den Salon. Er musste sich auf den Sklavenhocker setzen und<br />

durfte Frühstücken. Nach dem Frühstück holte Alan ihn ab und brachte ihn nach draußen in<br />

den Garten. Er bekam kurz erklärt, dass er das Gerätehaus zu streichen hätte. Ohne einen der<br />

anderen oder gar Carrie zu Gesicht zu bekommen, schuftete er den ganzen Tag. Abends sam-<br />

melte Alan ihn wortlos ein und brachte ihn in sein Zimmer, wo er zu Essen bekam. So sehr<br />

hoffte Shawn, endlich unter die Dusche zu dürfen, aber das wurde ihm nicht erlaubt. Er muss-<br />

te unter Aufsicht die Toilette benutzen, wurde ans Bett gefesselt und war erneut allein. Die<br />

Hände waren mit einer Kette nur locker befestigt und so konnte er sich bewegen. Er rollte<br />

sich so eng es ihm möglich war zusammen und weinte, bis er nicht mehr konnte. Der Schau-<br />

spieler schlief so gut wie nicht und als Brett ihn am kommenden Morgen zur Toilette und an-<br />

schließend zum Frühstück brachte, war dieser erschrocken, wie schlecht Shawn aussah.<br />

Er saß erneut am Tisch, trank nur eine Tasse Kaffee und aß keinen Bissen. Alan holte ihn<br />

eine halbe Stunde später ab und sah besorgt, dass Shawn nichts gegessen hatte. Der Riese<br />

brachte den jungen Mann, der starrte vor Dreck und getrocknetem Schweiß, in den Garten,<br />

wo er ein Stück Land umgraben musste. Während Shawn in der heißen Sonne still vor sich hin<br />

arbeitete ging Alan zu seiner Chefin.<br />

„Wie lange willst du das noch so durchziehen?“<br />

„Warum?“<br />

414


„Du hast ihn nicht gesehen, Carrie. Er isst nicht, er trinkt nicht, er schläft nicht, der<br />

bricht bald zusammen. Dann nützt er uns auch nichts mehr.“<br />

Carrie hatte Shawn die letzten Tage nicht aus den Augen gelassen. Sie saß stundenlang<br />

vor dem Monitor und beobachtete ihn. Sie wusste sehr wohl, in welch miserabler Verfassung<br />

er war. Die junge Frau wartete jedoch auf etwas bestimmtes. Sie schickte Alan hinaus mit<br />

dem Hinweis, dass er das getrost ihr überlassen sollte. Dann rief sie Brett zu sich.<br />

„Ich möchte, dass du Shawn beaufsichtigst.“<br />

Brett sah Carrie überrascht an und zuckte die Schultern. „Wenn du das willst ...“ Er ging<br />

hinaus zu dem Sklaven und beobachtete diesen besorgt. Shawn bekam mit, dass Brett es sich<br />

in einem Gartenstuhl im Schatten gemütlich gemacht hatte und ihn beobachtete. Er zitterte<br />

vor Schwäche. In ihm reifte ein verzweifelter Entschluss, von dem er hoffte, dass er Carrie<br />

gnädig stimmen würde. Er legte den Spaten zur Seite, trat mit gesenktem Kopf zu Brett und<br />

sagte mit einer Stimme, die diesem eine Gänsehaut über den Rücken jagte:<br />

„Es tut mir leid, dass ich mich gesträubt habe. Ich hatte kein Recht dazu. Würdest du mich<br />

bitte noch einmal ... ficken, damit ich dir beweisen kann, dass ich ein guter Sklave bin?“ Seine<br />

Stimme brach, Tränen liefen Shawn über das bleiche, eingefallene Gesicht, das von tiefen<br />

Augenringen beherrscht wurde, und Brett nickte.<br />

„Komm mit.“<br />

Shawn folgte dem Mann zum Holztisch auf der Terrasse. Brett deutete auf diesen und sag-<br />

te ruhig: „Lehn dich darüber.“<br />

Wortlos und apathisch tat Shawn, was Brett wollte. Er lehnte sich über den Tisch und<br />

spreizte die Beine.<br />

„Bleib so stehen, ich bin gleich zurück.“<br />

Shawn hörte, wie Brett ins Haus verschwand. Schnell kam er zurück. Er drückte Shawn<br />

die Pobacken auseinander und sprühte aus einer kleinen Flasche eine kühle Flüssigkeit auf<br />

Shawns Anus, anschließend wartete er drei Minuten, dann folgte Gleitmittel. Shawn rührte<br />

sich nicht, als Brett an ihn herantrat und ihn an den Hüften packte. Vorsichtiger diesmal<br />

drang Brett in den jungen Mann ein und Shawn war erstaunt, dass es viel weniger wehtat als<br />

beim ersten Mal. Stumm und tränenüberströmt hielt Shawn still und ließ die erneute Penetrie-<br />

rung regungslos über sich ergehen. Seine Hände krallten sich um die Tischkante. Endlich<br />

spürte er, dass Brett zum Orgasmus kam und sich keuchend erneut in Shawn ergoss. Dann<br />

zog sich der Mann vorsichtig zurück und erklärte:<br />

„Das hast du gut gemacht. Du kannst zurück an deine Arbeit gehen.“<br />

Shawn richtete sich auf, senkte ergeben den Kopf und drehte sich herum, um zum Beet zu-<br />

rückzugehen. Auf halber Strecke fingen seine Beine bedenklich an zu zittern und ihm wurde<br />

schlagartig schlecht. Erschrocken tastete er nach etwas, an dem er sich festhalten konnte,<br />

doch da war nichts. Er seufzte leise auf, sackte in sich zusammen und merkte nichts mehr.<br />

415


*****<br />

Wie ferngesteuert hatte Shawn von den Tagen nach der Vergewaltigung berichtet. Als er<br />

an dem Punkt angelangt war, an dem er Brett bat, ihn erneut zu vögeln, hatte der junge Mann<br />

leise vor sich hin geweint. Jetzt beruhigte er sich und lag ausgelaugt und am Ende seiner Kraft<br />

in Kellys Armen. Er schwieg eine Weile und Kelly ließ ihn in Ruhe. Er musste selbst die<br />

Kraft aufbringen, über seine Gefühle zu reden. Sie durfte ihn nicht drängen. Nebenbei brauch-<br />

te sie selbst Zeit, sich zu fangen. Ihre Liebe zu Shawn machte es der Psychologin zur Qual,<br />

seine Berichte zu hören. Ihn fest an sich drückend lag sie da und versuchte verzweifelt, die<br />

Bilder eines gefesselten, vor Schmerzen brüllenden Shawn aus dem Kopf zu bekommen. Ge-<br />

lingen wollte es ihr nicht. Leise fing der Schauspieler an zu sprechen.<br />

„Wenn sie mich die ersten Tage danach nicht an das verdammte Bett gefesselt hätten ...<br />

Ich hätte Schluss gemacht ... Ich hab mir nur noch gewünscht, zu Sterben ... Nichts mehr se-<br />

hen, fühlen, merken ... Wenn sie zu mir kamen und ... und mich schweigend versorgten ... Ich<br />

habe mir so sehr gewünscht ein freundliches Wort, irgendwas zu hören. Dieses kalte Schwei-<br />

gen war unerträglich. Ich hatte nichts, womit ich mich hätte ablenken können. Ich musste oft<br />

zusätzlich die Augenbinde tragen ... Ich lag da und ... und sah nichts, hörte nichts, spürte nur<br />

die Schmerzen und konnte an nichts anderes denken als an Bretts Schwanz, wie er mich ...<br />

fickte ... wie ich spüren konnte, dass er mich verletzte ... Wie da ... an meinem ... Wie da alles<br />

kaputt ging ... Und als ich dann im Garten ... schuftete, wusste ich, was Carrie von mir erwar-<br />

tete. Ich wusste es. Also hab ich es getan. Ich hab mich so bemüht, mich zu ... zu entspannen.<br />

Was er mir auf den Schließmuskel schmierte weiß ich nicht, aber tat es nicht ansatzweise so<br />

weh wie ... Als er mich vögelte hab ich die ganze Zeit gedacht, wenn es einen Gott gibt, wa-<br />

rum lässt er mich nicht sterben?“<br />

Monoton und abgehackt kamen die Worte aus Shawn heraus getröpfelt. Kelly ließ ihn re-<br />

den. Sie konnte nichts tun, um ihm das Ganze zu erleichtern. Nur das Aussprechen des Un-<br />

aussprechlichen würde ihm helfen. Alles aus sich heraus lassen. Und wenn es die ganze Nacht<br />

dauern würde. Sie konnten am nächsten Tag ausschlafen, niemand trieb sie an. Sanft strichen<br />

ihre Finger über Shawns Rücken und sie wartete geduldig, dass er weiter sprach. Und das tat<br />

er. Leise, stockend.<br />

„Ich wusste ja ... Es war klar gewesen, dass es ... passieren würde. Aber ich habe es ... ich<br />

hab es verdrängt. Ich wollte es nicht wahr haben. Es war eine Sache, wenn Carrie es mit dem<br />

Vibrator machte. Sie ... sie wollte mich befriedigen. Aber Brett ... Der wollte nur seine eige-<br />

nen Gelüste befriedigen. Ihm war es egal, ob ich Erregung verspürte oder Schmerzen ... Als er<br />

mich da im Garten ... erneut ... Dass ich ihn darum bitten musste ... Ich habe geahnt, dass Car-<br />

rie das wollte. Ich sollte ihr beweisen, dass ich ein guter Sklave sein konnte. Ich musste später<br />

416


noch oft ... freiwillig stillhalten. Das war am schlimmsten. Wenn sie mich fesselten, war es<br />

einfacher.“<br />

Leise, zusammenhanglos und bedrückt redete Shawn sich nach und nach alles von der<br />

Seele. Dass er sich wiederholte war nicht schlimm. Bis weit nach Mitternacht stammelte er<br />

sich diese Tage von der Seele und als er gehen 3 Uhr morgens übermüdet und fix und fertig<br />

mitten im Satz einschlief, hatte Kelly das Gefühl, an diesem Abend einen großen Schritt vor-<br />

wärtsgekommen zu sein. Ohne Zweifel war das der schlimmste Bericht gewesen und sie war<br />

sicher, Shawn war unendlich erleichtert, dass er das hinter sich hatte.<br />

Er schlief so fest, dass er nicht einmal merkte, dass Kelly sich von ihm löste und aus dem<br />

Bett stieg. Die junge Psychologin war noch nicht fähig zu schlafen. Zu sehr ging ihr das, was<br />

Shawn erzählt hatte, wieder und wieder durch den Kopf. Sie wusste aus eigener Erfahrung ja<br />

nur zu gut, wie entsetzlich es war, vergewaltigt zu werden. Für einen Mann wie Shawn muss-<br />

te es noch viel schlimmer gewesen sein. Dass Carrie ihn anal befriedigt hatte, war eine Sache.<br />

Von einem anderen Mann brutal vergewaltigt zu werden, war für Shawn mit Sicherheit uner-<br />

träglich gewesen. Dass die einzige Person, zu der er dort Vertrauen gefasst hatte, ihn tagelang<br />

ignoriert hatte, war für den jungen Mann eine noch schlimmere Strafe gewesen als die fürch-<br />

terlichen Prügel nach der Vergewaltigung. Kelly trat auf die kleine Terrasse hinaus und setzte<br />

sich in der Dunkelheit dort auf einen der Stühle. Hier konnte sie ihr Entsetzen und ihre Fas-<br />

sungslosigkeit herauslassen. Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht und weinte. Nicht einmal<br />

auf ihre eigenen Entführer hatte sie einen solchen Hass verspürt. Wenn sie einen Wunsch<br />

freigehabt hätte, sie würde sich gewünscht haben, Carrie und ihre Mitstreiter bestrafen zu dür-<br />

fen!<br />

Lange saß die junge Frau auf der Terrasse, bis sie sich so weit gefangen hatte, sich ins Bett<br />

zurückzulegen. Leise trat sie in das kleine Häuschen und tastete sich im Dunkeln ins Schlaf-<br />

zimmer. Hundemüde und ausgelaugt legte sie sich ins Bett. Shawn war unruhig und murmelte<br />

im Schlaf undeutlich vor sich hin. Kelly zögerte keine Sekunde. Vorsichtig rutschte sie an<br />

seinen warmen Körper, kuschelte sich an ihn und legte einen Arm über seinen flachen Bauch.<br />

Der Schauspieler seufzte leise und drehte sich zu Kelly herum. Sein Gesicht kam ihr auf diese<br />

Weise so nah, dass sie seinen Atem spürte. Wie von selbst beugte sie sich noch mehr zu ihm<br />

und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Lippen.<br />

„Alles wird gut werden, Baby, verlasse dich darauf.“, flüsterte sie leise. Sie schloss die<br />

Augen und schlief endlich ein.<br />

34) Der Tag danach<br />

417


Es ist so leicht, unwillkommene und unliebsame Gedanken zurückzuweisen und<br />

schon hat man seine Ruhe wieder.<br />

Marcus Aurelius<br />

Als die Therapeutin am Morgen aufwachte war es fast 11 Uhr. Müde streckte sie sich und<br />

stellte verschlafen fest, dass Shawn nicht mehr neben ihr lag. Erschrocken fuhr sie hoch. Nach<br />

dem vergangenen Abend war sie besorgt. Hastig schlüpfte sie in ihre Shorts und griff nach<br />

einem frischen T-Shirt aus dem Rucksack. Sie eilte auf die Terrasse hinaus und war noch er-<br />

schrockener, als sie sah, dass Shawn auch hier nicht zu sehen war. Sie bemerkte, dass seine<br />

Stiefel nicht mehr dort standen, wo er sie am Abend hingestellt hatte. Beunruhigt biss sie sich<br />

auf die Lippe. Wo war der Schauspieler? Nervös stieg sie in ihre eigenen Stiefel und trat auf<br />

den Fahrweg hinaus. Angespannt sah sie sich um, konnte Shawn jedoch nirgends entdecken.<br />

Sie musste aufsteigende Panik energisch zurückdrängen. Einerseits schrie alles in ihr danach,<br />

Shawn zu suchen. Andererseits wollte sie ihn nicht bevormunden. Wenn er allein losgezogen<br />

war, musste sie das akzeptieren. Seufzend kehrte sie auf die Terrasse zurück und streifte sich<br />

die Stiefel von den Füßen. Sie ging ins Haus, kleidete sich aus und stieg unter die Dusche. Ihr<br />

Blick glitt während des Duschens mehrfach zur Badezimmertür. Doch Shawn tauchte nicht<br />

auf. Etwas später saß die Psychologin angekleidet in der Sonne und trank eine Tasse Kaffee.<br />

Ihre Nervosität steigerte sich mit jeder Minute. Die Zeit verging und aus der Nervosität wurde<br />

nackte Angst. Verzweifelt stand sie auf und trat erneut auf den Fahrweg hinaus. Sie sah sich<br />

hektisch um, konnte Shawn jedoch nirgends entdecken.<br />

„Oh bitte, wo steckst du nur?“, flüsterte sie leise. Verzweifelt ging sie ins Haus zurück und<br />

nahm sich eine zweite Tasse Kaffee. Dabei fiel ihr Blick zufällig auf den kleinen Esstisch.<br />

Dort lag ein Zettel: - Guten Morgen. Musste meinen Kopf freikriegen, will noch mal runter zum Fluss.<br />

Mach dir keine Sorgen. Shawn. - Vor Erleichterung schossen der junge Frau Tränen in die Au-<br />

gen.<br />

„Gott sei Dank!“, stieß sie entnervt hervor.<br />

Kelly nahm ihre Notizen zu den Gesprächen aus dem Rucksack. Erheblich ruhiger kehrte<br />

sie auf die Terrasse zurück und setzte sich in die Sonne. Es war nach halb 1 Uhr und Kelly<br />

knurrte der Magen. Doch sie wollte auf Shawn warten, er hatte sicher ebenfalls noch nichts<br />

gegessen. Konzentriert las sie sich die letzten Berichte Shawns noch einmal durch und machte<br />

hier und da Randnotizen. Er hatte sich in Bezug auf das herauslassen seiner Gefühle unglaub-<br />

lich verbessert. Ihm war deutlich klar geworden, wie wichtig es war, die Geschehnisse nicht<br />

nur zu schildern, sondern gefühlsmäßig zu verarbeiten. Was Kelly befürchtete, war dass er nie<br />

imstande sein würde, jemand anderem davon zu erzählen, was er erlebt hatte. Wenn sie sich<br />

trennen würden, und das stand außer Frage, wäre niemand mehr bei ihm, dem er im Falle ei-<br />

ner depressiven Verstimmung mitteilen konnte, was ihn bedrückte. Bei keinem ihrer zahlrei-<br />

418


chen Patienten war sie auf so hartnäckigen Widerstand gestoßen. Über kurz oder lang hatte<br />

sich noch jeder von ihnen, Angehörigen, Freunden, Bekannten geöffnet. Selbstverständlich<br />

stand sie mit den meisten ehemaligen Patienten noch in Verbindung, das würde auch so blei-<br />

ben. Aber jeder von ihnen hatte in seiner unmittelbaren Umgebung den einen oder anderen<br />

Menschen, der um das wusste, was man ihnen angetan hatte. Das war wichtig, denn es gab<br />

Situationen, in denen es notwendig war, zu reden.<br />

Kelly hatte das sichere Gefühl, dass Shawn nie dazu imstande sein würde. Wenn er zu sei-<br />

nen Eltern, beziehungsweise in sein altes Leben zurückgekehrt war, würde er allein sein. Sie<br />

nahm sich vor, ihn mehr dahin gehend zu ermutigen, sich Paul oder Anna zu öffnen. Tief im<br />

Inneren wusste sie, dass sie auf Granit beißen würde. Seufzend sah die Therapeutin auf ihre<br />

Uhr. 14 Uhr. Sie wusste nicht, wann Shawn losmarschiert war, daher war es für sie schwer<br />

einzuschätzen, ob sie ihm folgen sollte. Letztlich entschied sie sich dagegen. Wenn der<br />

Schauspieler für sich sein wollte, um seine Gedanken zu ordnen, musste sie das akzeptieren.<br />

Sie würde ohnehin nicht ständig bei ihm sein. Ein Eiszapfen schien sich bei diesem Gedanken<br />

in Kellys Herz zu bohren. Sie hatte natürlich Beziehungen gehabt, auch längerfristige. Es war<br />

nie etwas festes daraus geworden. Ihre Arbeit stand für die junge Frau im Vordergrund und<br />

keiner ihrer Partner hatte in ihr jemals den Wunsch erweckt, ihre Berufung aufzugeben, um<br />

eine feste Partnerschaft einzugehen. Kelly spürte, dass sie für Shawn bereit gewesen wäre,<br />

sich auf reine Praxistätigkeit zu konzentrieren. Soweit würde es aber nicht kommen! Noch<br />

redete die Psychologin sich ein, Shawns Gefühle für sie würden in erster Linie der Dankbar-<br />

keit entspringen. Sie war keineswegs von Natur aus misstrauisch, es waren ihre Erfahrungen,<br />

die sie zu dieser Annahme kommen ließen. Was sie selbst für den Schauspieler empfand<br />

schob sie weit von sich. Sie würde ihm nicht im Weg stehen, wenn es für ihn daran ging, in<br />

sein Leben zurückzukehren.<br />

Erst einmal kehrte Shawn zu ihr zurück. Als Kelly ihren Blick gedankenverloren schwei-<br />

fen ließ, sah sie ihn auf dem Fahrweg auftauchen. Ohne es verhindern zu können fiel ihr ein<br />

tonnenschwerer Stein vom Herzen. Bemüht, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen,<br />

begrüßte sie den jungen Mann fröhlich.<br />

„Hey, da bist du ja. Mahlzeit. Und, ist der Fluss noch da?“<br />

Shawn wirkte bedrückt. Er war ziemlich verschwitzt. Ächzend ließ er sich in den zweiten<br />

Stuhl fallen und wischte sich mit dem rechten Arm über die schweißnasse Stirn. „Morgen.<br />

Entschuldige, dass ich mich verdrückt habe. Hast du meinen Zettel gefunden?“<br />

„Ja, nach einer Weile.“, erwiderte Kelly ehrlich. „Ich habe mir anfangs Sorgen gemacht.“<br />

„Das wollte ich nicht, tut mir leid.“, sagte Shawn erschrocken.<br />

Es steckte noch tief in ihm, dass er bei Verfehlungen jeder Art eine harte Strafe zu erwar-<br />

teten hatte. Kelly lächelte beruhigend.<br />

419


„Das braucht es nicht, ist nicht deine Schuld, wenn ich mit Blindheit geschlagen bin und<br />

den Zettel nicht gesehen habe.“<br />

Shawn atmete erleichtert auf. „Ich dachte, du wärest sauer ...“, sagte er leise.<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Daran müssen wir arbeiten, Shawn, ich bin nicht bei jeder Ge-<br />

legenheit böse auf dich. Du hast keine Konsequenzen mehr zu befürchten bei jeder sich bie-<br />

tenden Gelegenheit, okay. Wie geht es dir heute?“<br />

Shawn seufzte leise. „Ehrlich? Als wenn der Mist gerade gestern passiert wäre. Dass ich<br />

es erzählt habe hat alles so aufgewirbelt, als wäre es gerade geschehen. Als ich heute Morgen<br />

aufwachte hab ich tatsächlich getastet, ob ich die Striemen spüren kann ...“ Er verstummte<br />

verlegen. Das Thema wechselnd fragte er: „Ich habe am Store gelesen, dass man sich kleine<br />

Motorboote mieten kann, um damit auf dem Fluss zu fahren. Hättest du Lust dazu? Ich habe<br />

für 15 Uhr eins bestellt ...“<br />

vor ...“<br />

Kelly nickte erfreut. „Das ist eine hervorragende Idee. Klar habe ich Lust.“<br />

Shawn lächelte glücklich. „Schön. Dann sollten wir uns auf den Weg machen, es ist viertel<br />

„Ja, lass uns.“ Sie schloss die Hütte ab und stieg in ihre Stiefel. Am Store erhielten sie den<br />

Schlüssel für das Boot und kurze Zeit später erreichten sie den kleinen Bootsanleger. Vorsich-<br />

tig turnten sie an Bord und Shawn setzte sich an den Außenbordmotor. Der sprang ohne Prob-<br />

leme an und Kelly löste die Halteleine. Gemütlich tuckerten sie los. Kelly behielt Shawn un-<br />

auffällig im Auge. Er saß am Ruder und sah zum linken Ufer hinüber. Kelly hatte den Ein-<br />

druck, dass er gar nicht wahr nahm, was dort zu sehen war. Eine Weile fuhren sie schweigend<br />

dahin. Kelly hoffte, dass Shawn anfangen würde zu reden. Sie wollte ihn nicht drängen. Zu<br />

sehr hatte der Bericht vom vergangenen Abend ihn in Mitleidenschaft gezogen. Sie wusste,<br />

wenn er bereit war, weiter darüber zu sprechen, würde er selbst den Anfang machen.<br />

Als rechter Hand eine kleine Abzweigung von Roper River kam, erklärte die junge Frau:<br />

„Sieh mal, dort geht es in den Elsey Creek.“<br />

Shawn schreckte aus seinen tiefen Gedanken auf. „Was?“<br />

Geduldig wiederholte Kelly: „Dort zweigt der Elsey Creek ab.“<br />

Shawn folgte ihrem Blick und griff nach seinem Fotoapparat. „Das sieht flach aus, da<br />

werden wir nicht rein kommen, was?“<br />

„Nein, mit Sicherheit nicht. Hier ist es doch auch schön genug.“<br />

„Ja, es ist so friedlich ...“ Seine Stimme klang unglaublich traurig und Kelly beschloss<br />

spontan, ihn anzusprechen. „Willst du nicht darüber sprechen?“, fragte sie sanft.<br />

da.“<br />

Erstaunt fragte der Schauspieler: „Worüber?“<br />

Kelly lachte leise. „Über das, was dir durch den Kopf geht zum Beispiel. Dafür bin ich<br />

420


Ertappt meinte Shawn: „Vor dir kann ich echt nichts verbergen. Ich bekomme seit gestern<br />

Abend den Gedanken an ...“, er prustete angespannt, „... an das, was Brett mit mir gemacht<br />

hat, nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe es verdrängt, ich bin nicht einmal sicher, ob es nicht<br />

viel früher passiert ist. Ich weiß es nicht mehr. Ich kann mich an jedes Detail erinnern, aber<br />

nicht daran, wann es passierte.“<br />

Kelly sah Shawn aufmerksam an. „Das ist im Grunde unwichtig, weißt du. Ob es einen<br />

Tag früher oder später geschah ist nicht ausschlaggebend. Es ist passiert, du hast davon er-<br />

zählt und nun sind die Wunden, die dieser Gewaltakt verursacht hat, aufgerissen und frisch.<br />

Sicher wirst du ein paar Tage brauchen, um es zu verarbeiten. Du hast es im Laufe der Zeit<br />

tief in dir vergraben und nun haben wir es gemeinsam ausgebuddelt. Du hattest bei Carrie<br />

keine Zeit, dich damit auseinanderzusetzen, weil es dort fröhlich weiter ging und du jeden<br />

Tag neue Gräuel verarbeiten musstest. Jetzt erst fängst du an, es erneut zu realisieren und<br />

wirst mit Sicherheit ein paar Tage brauchen, um es zu verarbeiten. Unmittelbar nachdem Brett<br />

dich vergewaltigt hatte, warst du so mit den Schmerzen beschäftigt, und damit, dass Carrie<br />

sich nicht um dich kümmerte, dass du nicht über die Vergewaltigung selbst nachgedacht hast.<br />

Heute wirst du dazu gezwungen, dich damit auseinanderzusetzen. Zu dem Zeitpunkt, als du<br />

Brett auffordertest, dich erneut zu benutzen, hattest du die eigentliche Vergewaltigung in den<br />

Hintergrund gedrängt. Du hast dich damit beschäftigt, Carrie milde zu stimmen.“<br />

Shawn nickte. „Ja, du hast Recht ... Ich habe über die eigentliche ... über das, was Brett<br />

mir angetan hatte, nicht mehr nachgedacht. Das habe ich verdrängt.“ Er stellte den Motor ab<br />

und ließ das kleine Boot auf dem Fluss treiben. Kelly ließ sich auf dem Boden nieder und<br />

deutete Shawn an, sich neben sie zu setzen. Vorsichtig erhob er sich und glitt neben der jun-<br />

gen Frau zu Boden. Er sah müde aus.<br />

„Hast nicht gut geschlafen, was?“, fragte Kelly liebevoll.<br />

Der Schauspieler schüttelte den Kopf. „Nicht schlecht, nur zu wenig. Ich war um 7 Uhr<br />

wach. Ich konnte nicht mehr einschlafen, darum bin ich aufgestanden.“<br />

Kelly zog ihn an sich, ohne darüber nachzudenken. Müde lehnte der junge Mann sich an<br />

die Therapeutin.<br />

„Ich bin noch mal an den Fluss runter. Da habe ich die ganze Zeit gehockt und über ... die<br />

Sache nachgedacht. Ich kriege es jetzt erst so richtig in meinen Kopf, was da passiert ist. Das<br />

erste Mal war am schlimmsten ... Du hast Recht, ich war so mit den Schmerzen und der Tat-<br />

sache, dass Carrie nicht zu mir kam, beschäftigt, dass ich das, was Brett mir angetan hat, nur<br />

noch am Rande im Kopf hatte.“ Er atmete tief ein. „Nun muss ich mich dem stellen, da bleibt<br />

mir nichts anderes mehr übrig. Das ist so verdammt schwer. Es gab später noch heftige Situa-<br />

tionen, aber das war ... das war das Schlimmste ...“ Der Schauspieler merkte gar nicht, dass<br />

421


ihm Tränen über die Wangen kullerten. „Wenn ich so darüber nachdenke, hab ich das be-<br />

schissene Gefühl, nicht genug getan zu haben, um es zu verhindern.“<br />

Kelly streichelte ihm liebevoll über den Arm. Dass Shawn nicht aussprechen konnte, ver-<br />

gewaltigt worden zu sein, registrierte sie wohl, ging jedoch nicht sofort darauf ein.<br />

„Das konntest du nicht, Shawn, du warst wehrlos. Wenn es dir möglich gewesen wäre,<br />

deinen Po zu verschließen, hättest du es verhindern können. So funktioniert das aber leider<br />

nicht.“<br />

ich ...“<br />

Shawns Stimme zitterte. „Im Grunde weiß ich das ja ... Aber ... das Gefühl ist da ... Wenn<br />

Kelly unterbrach den jungen Mann. „Wenn du etwas nicht tun darfst dann das, dich daran<br />

festzubeißen. Du konntest nichts machen, Punkt! Du wirst genug damit zu tun haben, die<br />

Vergewaltigung und alle noch folgenden zu verarbeiten. Reibe deine Kraft nicht an Sachen<br />

auf, die nicht zu ändern waren.“<br />

Der Schauspieler stieß unter Tränen ein kleines, verzweifeltes Lachen aus. „Wenn ich das<br />

so abstellen könnte ...“<br />

Die Therapeutin hob sanft seinen Kopf an und zwang ihn so, sie anzuschauen. „Shawn, du<br />

beschäftigst dich nur mit deinen Schuldgefühlen, um die schmerzhafte Tatsache zu verdrän-<br />

gen, dass du vergewaltigt wurdest, von einem Mann. Gestern Abend warst du in der Lage,<br />

dich dem zu stellen, den Mut musst du erneut aufbringen, sonst wird es dich dein Leben lang<br />

unterbewusst verfolgen. Ich weiß, ich quäle dich damit, aber glaube mir bitte, wenn du es in<br />

dich hinein frisst, versuchst, es tief in dir zu vergraben, wird dich das auf Dauer mehr quälen<br />

als du dir vorstellen kannst.“<br />

Unendlich verzweifelt sah Shawn die Therapeutin an. Heftig stieß er hervor: „Warum<br />

machst du das? Warum? Macht es dir Spaß, mich zu quälen? Siehst du mich gerne leiden? Ist<br />

das der Grund? Kannst du mich nicht in Ruhe lassen?“<br />

Kelly blieb ruhig. Sie wusste aus Erfahrung, dass so gut wie jeder Patient an einen solchen<br />

Punkt kam. Einen Punkt, der ihn emotional so überforderte, dass er mit Ablehnung und Wut<br />

auf die Therapie reagierte. Am Abend zuvor war Shawn bereit gewesen, über die Vergewalti-<br />

gung zu sprechen und sich der Tatsache zu stellen, dass er gewaltsam von einem Mann pene-<br />

triert worden war. Nachdem er Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken, weigerte er sich, sich<br />

der Tatsache noch einmal zu stellen. Er redete sich lieber ein, das Schuldgefühl, es nicht ver-<br />

hindert zu haben, würde ihn viel stärker belasten. Das war für den jungen Mann einfacher zu<br />

ertragen. Kelly durfte nicht nachgeben. Die Vergewaltigung, dieser extrem brutale Akt der<br />

Gewalt, war für Shawn das traumatischste Erlebnis der ganzen Gefangenschaft, das wurde<br />

immer offensichtlicher.<br />

422


Abermals wurde der jungen Frau schmerzhaft bewusst, dass ihre Gefühle für Shawn sie<br />

stark beeinträchtigten. Es fiel ihr ungeheuer schwer, weiter in ihn zu drängen, sich der Ver-<br />

gewaltigung zu stellen. Es musste aber sein. Sie erklärte schweren Herzens:<br />

„Shawn, bitte, du weißt, dass ich dich weder quälen noch leiden sehen will. Mit jedem<br />

Wort, das du sagst, wird jedoch deutlicher, wie sehr dich die Vergewaltigung belastet und wie<br />

gerne du die Erinnerung daran verdrängen möchtest. Du weiß im Grunde, dass das nicht sein<br />

darf. Bitte, sprich mit mir. Erzähle mir, was du empfindest, sage mir, wie sehr du darunter<br />

leidest, von einem Mann gevögelt worden zu sein.“<br />

Shawn hatte seinen Kopf energisch aus Kellys Hand gezogen und starrte verbissen den<br />

Fluss hinunter. In seinem Gesicht arbeitete es heftig. Kelly war sicher, wäre er nicht auf dem<br />

Boot gewesen, er hätte das Weite gesucht. So war es ein Glücksfall, dass er das nicht konnte.<br />

Er hatte keine Möglichkeit, sich körperlich der Situation zu entziehen. Resigniert schüttelte er<br />

den Kopf.<br />

„Warum hilfst du mir nicht, die Schuldgefühle zu ertragen? Das ist dein Job. Dafür bist du<br />

bei mir. Du sollst mir helfen und nicht in Nebensächlichkeiten herum wühlen.“<br />

Er sah Kelly an und in seinem Gesicht spiegelte sich die verzweifelte, hilflose Wut, die er<br />

empfand. Eine Wut, die nicht seine Augen erreichte. In diesen las die Psychologin nur Ver-<br />

zweiflung und abgrundtiefe Traurigkeit.<br />

Kelly sah sich das Ufer an. Dort vorne, da war eine Stelle, an der sie das Boot landen<br />

konnten. Die Psychologin hatte eine spontane Idee. Sie erhob sich, warf den Motor an und<br />

steuerte auf die Stelle zu. Mit einem Ruck fuhr das Boot auf den Sandstreifen auf. Entschlos-<br />

sen stieg Kelly aus und sah Shawn auffordernd an.<br />

„Komm.“, sagte sie ruhig.<br />

Shawn schüttelte genervt den Kopf. „Was soll das?“, fuhr er sie an.<br />

Lauter und deutlich bestimmter wiederholte Kelly ihre Aufforderung. „Komm!“<br />

Shawn verdrehte die Augen, senkte den Kopf und schüttelte ihn ungläubig. Frustriert folg-<br />

te er Kelly an Land. Die Therapeutin zog das Boot ein Stück weiter auf den Sandstreifen und<br />

erklärte:<br />

„Wir werden jetzt joggen. Los! Du bist so wütend, du solltest keine Probleme haben, mich<br />

in Grund und Boden zu rennen. Zeig mir, wie wütend du auf mich bist. Na los, mach schon!“<br />

Sie wartete nicht mehr ab, ob Shawn ihr folgte, sondern trabte los. Sie war von jeher eine gute<br />

Läuferin gewesen und war sich sicher, mithalten zu können. Hinter sich hörte sie Schritte nä-<br />

herkommen. Energisch wurde sie schneller. Neben ihr tauchte Shawn auf und wurde ebenfalls<br />

schneller. Als er auf gleicher Höhe mit ihr war, lästerte sie gespielt kalt:<br />

„Ist das alles? Mehr hast du nicht drauf?“ Sie konnte spüren, wie Shawn sich spannte. Er<br />

wurde schneller, Kelly ebenfalls. Sie war sicher, er rannte nun aus voller Kraft. Das war ihr<br />

noch nicht genug.<br />

423


„Mach schon! Du bist stinkesauer auf mich, und dass ist alles, was du bringst?“ Sie keuch-<br />

te, doch sie wollte, dass er alles gab. Und Shawn war gewillt, alles zu geben. Er legte noch zu<br />

und rannte, als ginge es um sein Leben!<br />

Zufrieden kämpfte Kelly darum, nicht zu sehr abgehängt zu werden. Weiter rannten sie,<br />

der Abstand zwischen Shawn und Kelly wurde größer. Das machte nichts aus. Sie war sicher,<br />

ihn einzuholen. Schweiß lief ihr am Körper entlang, sie keuchte vor Anstrengung, dachte je-<br />

doch nicht im Traum daran, aufzugeben. Energisch trieb sie sich voran. Wie lange sie so aus<br />

voller Kraft über die hier, weit weg vom Fluss nur karg bewachsene Ebene rannten, hätte Kel-<br />

ly später nicht sagen können. Nach einer Weile merkte sie, dass Shawn vor ihr langsamer<br />

wurde. Sie pfiff selbst auf dem letzten Loch. Jeder Schritt war schwerer als der vorhergehen-<br />

de. Doch sie gab nicht auf. Schließlich war sie an Shawns Seite. Dieser war am Ende. Vor<br />

seinen Augen tanzten rote Kreise und er hatte das Gefühl, seine Lunge und sein Herz würden<br />

jeden Moment platzen. Es war vorbei. Er konnte nicht mehr weiter. Seine Beine zitterten und<br />

er schaffte es nicht mehr, sich auf denselben zu halten. Keuchend stürzte er zu Boden und<br />

rollte sich krampfhaft nach Luft jappsend auf den Rücken. Er presste die Hände auf seine<br />

schmerzenden Seiten. Kelly sank neben ihm auf den Boden, nicht minder erschöpft. Sie hielt<br />

sich ebenfalls die Seiten und versuchte, ihren keuchenden Atem unter Kontrolle zu bekom-<br />

men.<br />

Lange lagen sie so nebeneinander, bis beider Atem sich langsam beruhigte. Die junge Frau<br />

richtete sich auf und kniete vor Shawn. „Geht es wieder?“, fragte sie sanft.<br />

Shawn wandte müde den Kopf und sah sie an. Kurz schloss er die Augen, dann nickte er<br />

unmerklich.<br />

„Noch wütend auf mich?“, fragte Kelly liebevoll.<br />

Shawns Lippen zitterten bedenklich und er schüttelte den Kopf. „Nein ... Ich ... hasse die<br />

alle so sehr! Ich hasse sie!“ Unerwartet heftig schrie er die letzten Worte heraus. Mühsam<br />

setzte er sich auf und schrie erneut: „Ich hasse sie alle!“<br />

Kelly griff seine Hände und sagte: „Ja, Shawn, so ist es richtig. Lass es raus, lass alles aus<br />

dir raus, deine Angst, deine Wut, die Verzweiflung, den Hass.“<br />

Und Shawn ließ es raus. „Ich hasse sie, alle! Ich bin so froh, dass Brett tot ist. Ich hasse sie<br />

für das, was sie mir angetan haben. Ich hasse sie für die Schmerzen, für die Angst, für all die<br />

Demütigungen, dafür, dass ich nur noch ein Wrack bin. Ich hasse sie so sehr. Oh Gott, wie<br />

sehr ich mir wünsche, dass sie alle krepieren!“ Er schluchzte heftig auf und sank zitternd in<br />

Kellys Arme. „Wie sehr ich sie hasse.“, wimmerte er fassungslos.<br />

424


Es dauerte eine Weile, bis er sich fing. Doch letztlich konnte Kelly spüren, dass die An-<br />

spannung von ihm wich und er in ihren Armen weich und schwer wurde. Sie wartete noch ein<br />

paar Minuten, bis sie sanft fragte:<br />

„Geht es wieder? Wollen wir uns auf den Rückweg machen?“<br />

Shawn atmete tief durch. Erschöpft erwiderte er: „Ja, geht wieder.“<br />

Mühsam stemmte Kelly sich auf die Beine und reichte Shawn die Hände, um ihm eben-<br />

falls hoch zu helfen. Arm in Arm, eng umschlungen, machten sie sich auf den Rückweg zum<br />

Fluss. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, wie weit sie gerannt waren. Es dauerte, bis das grüne<br />

Flussufer vor ihnen auftauchte. Endlich sahen sie vor sich das kleine Boot verheißungsvoll am<br />

Ufer liegen. Am Ende ihrer Kräfte schoben sie es ins Wasser zurück und zogen sich schwer-<br />

fällig hinein. Eine halbe Stunde später machten sie es am Anleger des Resorts fest und krab-<br />

belten steif aus dem Boot heraus. Der Bootsvermieter riss erstaunt die Augen auf, als er sah,<br />

in welcher Verfassung die Beiden waren, sagte jedoch nichts. Sich gegenseitig stützend,<br />

schleppten sie sich zu ihrer Cabin zurück und standen Minuten später zusammen unter der<br />

Dusche. Draußen war es dunkel geworden. Nach dem Duschen wankten sie ohne es bewusst<br />

zu merken nackt ins Schlafzimmer, fielen ins Bett, kuschelten sich im Halbschlaf aneinander<br />

und waren Minuten später erledigt eingeschlafen.<br />

35) Keine Gnade<br />

Die Welt ist voll Leid und genauso voll Überwindung des Leids.<br />

Helen Keller<br />

Als Kelly aufwachte wurde es draußen gerade hell. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass<br />

es kurz nach 6 Uhr war. Shawn schlief noch und sie sah keine Veranlassung, ihn zu wecken.<br />

Leise erhob sie sich, griff sich frische Wäsche, Shorts und Bluse aus dem Rucksack und klei-<br />

dete sich an. Sie schloss die Schlafzimmertür hinter sich und setzte in der winzigen Küche<br />

Kaffee auf. Gedankenverloren sah sie zu, wie die braune Flüssigkeit in die Kanne tropfte. Sie<br />

war besorgt, was der Ausbruch gestern bei Shawn angerichtet hatte. Möglicherweise war es<br />

ein entscheidender Schritt gewesen, fragte sich nur, in welche Richtung. Als der Kaffee<br />

durchgelaufen war, schenkte die junge Frau sich einen Becher ein und ging hinaus auf die<br />

Terrasse. Die Luft war fantastisch und die morgendlichen Geräusche des erwachenden<br />

Dschungels wirkten beruhigend. Die Psychologin dachte darüber nach, wie es weiter gehen<br />

sollte. Bis Katherine, dem nächsten Ziel, waren es mehr als 100 Kilometer. Eigentlich wollte<br />

sie nicht in der Kleinstadt bleiben, sondern weiter fahren, am Katherine River entlang, und im<br />

Bereich des Nitmiluk Nationalparks im Zelt übernachten. Das würde Shawn gut tun, da war<br />

Kelly sicher. Sie dachte an den vergangenen Tag und seufzte. Der junge Mann war so unend-<br />

lich fertig gewesen. Sie war gespannt, wie er heute mit der Situation umgehen würde.<br />

425


Sie trank ihren Kaffee aus und erhob sich, um sich eine weitere Tasse zu holen und stol-<br />

perte direkt in Shawn hinein, der in diesem Moment aus der kleinen Hütte trat. Beide schra-<br />

ken heftig zusammen.<br />

„Gott, ich habe dich gar nicht gehört.“, stieß Kelly hervor.<br />

Shawn prustete: „Oh, man, ich habe fast einen Herzschlag gekriegt. Demnächst hänge ich<br />

dir eine Glocke um den Hals.“<br />

Verlegen standen sie sich einen Moment gegenüber. Schließlich fragte Kelly: „Magst du<br />

Kaffee?“<br />

„Ja, gerne.“<br />

Die Therapeutin eilte in die Küche, schenkte ihre eigene Tasse und eine weitere für Shawn<br />

ein und kehrte auf die Terrasse zurück. Der junge Mann hatte sich in einen Stuhl fallen lassen<br />

und beobachtete einen vorbei fliegenden Kakadu. Kelly drückte ihm den Kaffee in die Hand<br />

und fragte besorgt:<br />

„Wie geht es dir? Hast du gut geschlafen?“ Sie selbst hatte heftigen Muskelkater.<br />

Shawn nahm einen Schluck Kaffee und erklärte leise: „Mir tut alles weh. Aber, ja, ich ha-<br />

be gut geschlafen. Wie ein Stein.“<br />

„Muskelkater habe ich auch.“, erwiderte Kelly und lächelte. „Kein Wunder.“<br />

„Ja, kein Wunder ... Kelly, es tut mir ...“<br />

Die Therapeutin unterbrach Shawn. „Jetzt nicht, okay. Wir werden später in aller Ruhe<br />

über alles reden.“<br />

Der Schauspieler senkte den Blick und nickte. „Okay ...“ Bedrückt schwieg er.<br />

Kelly ließ ihn in Ruhe. Er hatte viel zu verarbeiten und dass er darüber nachdenken wollte,<br />

akzeptierte sie. Irgendwann fragte sie ihn: „Wie sieht es aus, Shawn, Hunger?“<br />

„Und wie. Nachdem wir gestern ohne irgendetwas zu Essen ins Bett sind ...“<br />

Kelly lachte fröhlich, um ihm die Verlegenheit zu nehmen. „Geht mir genauso. Schau,<br />

dass du in die Klamotten kommst und ich lade dich zu einem großen Frühstück im Restaurant<br />

ein.“<br />

Shawn sprang auf und eilte ins Haus. Minuten später stand er frisch gewaschen, angezo-<br />

gen und erwartungsvoll auf der Terrasse. „Fertig,“, verkündete er grinsend.<br />

Zusammen machten sie sich auf den Weg zum Restaurant hinüber. Beide bewegten sich<br />

steif und verspannt. Kelly beobachtete Shawn und dieser machte das Gleiche bei Kelly. Als<br />

sie es merkten kicherten beide los.<br />

„Du gehst heute so elegant und geschmeidig.“, meinte Shawn und Kelly erwiderte:<br />

„Mein lieber Mr. McLean, Sie würden heute auch keine Hauptrolle in einem Tanzfilm<br />

übernehmen können.“<br />

Shawn lachte. „Doch, als Zombie.“<br />

426


Damit war die bedrückte Stimmung des Morgens gebrochen. Kelly war froh, dass Shawn<br />

lachen konnte. Sie legte kichernd einen Arm um seine schlanke Taille und er erwiderte die<br />

Geste, in dem er einen Arm um ihre Schulter legte. So erreichten sie das Restaurant und hat-<br />

ten Glück, einen freien Tisch auf der überdachten Terrasse zu bekommen. Sie bestellten sich<br />

ein reichhaltiges Frühstück und waren die nächsten dreißig Minuten mit Essen beschäftigt.<br />

Satt schob Shawn schließlich den leeren Teller zurück und streckte die Beine aus. „Oh,<br />

man, aua. Das ist das zweite Mal, dass ich dir einen heftigen Muskelkater verdanke. Ich glau-<br />

be, ich werde ab heute jeden Tag ein Stündchen joggen. Das hat mir vor der ... früher nichts<br />

ausgemacht.“<br />

Kelly sah Shawn ruhig an. „Vor der Entführung, Shawn, du kannst es ruhig aussprechen.<br />

Da ist nichts schlimmes bei.“<br />

nis?“<br />

Der Schauspieler seufzte. „Okay, vor der Entführung. Du hast ja Recht. Spielst du Ten-<br />

Die Therapeutin nickte. „Jepp, gerne. Warum?“<br />

„Könnten wir bei Gelegenheit mal machen, oder? Ich würde gerne wieder in Form kom-<br />

men. Ich fühle mich schlaff.“<br />

Kelly grinste. „Gut, ab heute Fitnessprogramm für Mr. McLean, notiert. Fangen wir gleich<br />

an. Du räumst unser Zimmer, ich werde meine schmerzenden Beine pflegen.“<br />

Shawn sah Kelly an und zog die Augenbrauen in die Höhe. „Hm ... Ich glaube, über die<br />

Art des Trainings müssen wir uns mal ganz ausgiebig unterhalten.“<br />

Lachend winkte Kelly die Bedienung heran und bezahlte. Anschließend schlenderten sie<br />

zu ihrer Cabin zurück und packten gemeinsam zusammen. Gegen 9 Uhr waren sie auf dem<br />

Weg zum Highway. Kelly ließ sich Zeit, bis Katherine war es nicht weit, sie würden die Stre-<br />

cke schnell schaffen.<br />

Als sie auf den Highway abbog, fragte Shawn: „Wie weit ist es bis Katherine?“<br />

„Knapp 100 Kilometer.“<br />

„Da sind wir ja in einer Stunde. Übernachten wir in der Stadt? Wie groß ist die?“<br />

Die Psychologin lachte. „Oh, Großstadt. Die viertgrößte Stadt im Northern Territory, zirka<br />

6.000 Einwohner. Hat einiges zu bieten.“<br />

Der Schauspieler sah gedankenverloren aus dem Frontfenster. „Bleiben wir dort?“, fragte<br />

er leise.<br />

Die Therapeutin sah zu ihm und schüttelte langsam den Kopf. „Nein, nicht, wenn du es<br />

nicht möchtest. Wir können am Katherine River entlang fahren und uns im Nitmiluk Natio-<br />

nalpark einen Campingplatz suchen, wenn dir das lieber ist.“<br />

Verlegen senkte Shawn den Kopf. Leise meinte er: „Ich komme mir langsam vor wie ein<br />

Einsiedler. Ich würde lieber im Zelt bleiben, es ist ja nicht mehr so warm, ginge also. In den<br />

427


Trubel komme ich noch früh genug zurück. Es ist so fantastisch da draußen, so friedlich und<br />

still.“<br />

Kelly legte dem Schauspieler eine Hand auf den Arm. „Hey, ist gar kein Problem, wir<br />

können machen was uns gefällt. Wir werden uns in Katherine mit frischen Lebensmitteln und<br />

Wasser eindecken und uns im Nationalpark einen schönen Platz suchen.“<br />

Erleichtert seufzte Shawn auf. „Das wäre super. Ich ... ich fühle mich da draußen im Au-<br />

genblick einfach wohler.“<br />

„Kein Problem. Vermutlich hattest du genug Trubel, was?“<br />

Shawn nickte. „Ja. Ruhig war die Zeit vor der ... Entführung nicht. Seit ‘Frisco Bay‘ bei<br />

den Zuschauern einschlug wie eine Bombe waren wir ständig mitten drin, meine Kollegen<br />

und ich. Pressekonferenzen, Talkshows, Fotoshootings, wir sind von Termin zu Termin ge-<br />

hetzt. Ich hatte schon Anerkennung für die ersten beiden Filme, in denen ich die Hauptrollen<br />

hatte, ‘San Jacinto‘ und ‘Runaway‘ waren ziemlich erfolgreich. Dass der Seriencharakter<br />

‘Shane Godman‘ derart gut ankam war allerdings für mich eine riesen Überraschung. Du hast<br />

absolut Recht, Trubel um meine Person hatte ich mehr als genug. Versteh mich nicht falsch,<br />

es ist großartig, dass die Serie so unglaublich erfolgreich ist. Ich freue ... ich habe mich wahn-<br />

sinnig gefreut und bin gerne zu all den Terminen gehetzt, aber im Moment macht es mir<br />

Angst, unter Menschen zu sein. Ich bin noch nicht so weit, okay? Das allein sein mit dir hier<br />

draußen ist im Augenblick das, was ich unendlich genieße.“<br />

Er sah versonnen aus dem Fenster und fragte mit dünner Stimme: „Ob ich je wieder Spaß<br />

daran haben werde, von Presse, Fans und irgendwelchen Leuten umgeben zu sein?“<br />

Kelly dachte einen Moment über die Frage nach, bevor sie antwortete. „Weißt du, das ist<br />

zu diesem Zeitpunkt unmöglich zu sagen. Wir werden das auf uns zukommen lassen müssen.<br />

Wenn es dir später zu viel ist, werden wir eine Lösung finden. Eins ist klar. Als Einsiedler<br />

wirst du nicht enden.“<br />

„Was soll ich denn machen, wenn ich merke, ich ertrage es nicht mehr, ständig von einer<br />

Million Leute umgeben zu sein? Ich ... ich ... ich kann nichts anderes. Ich habe nichts anderes<br />

gelernt.“ Angespannt schnaufte der junge Mann und sah Kelly fragend an.<br />

„Hey, bleib mal ruhig. Du bist kein Fachidiot, der nur das kann, was er studiert hat. Du<br />

hast sehr viel Allgemeinbildung und bist fähig, etwas anderes zu tun als zu schauspielern.<br />

Wenn du merkst, es ist nicht mehr dein Ding, wirst du etwas anderes finden, davon bin ich<br />

überzeugt. Ich werde für dich da sein und dir helfen, das weißt du.“<br />

Vor ihnen glitzerte der Highway in der Sonne und erste Felder tauchten an den Seiten auf.<br />

„Wir haben es gleich geschafft. Wir werden uns mit allem, was wir für ein paar Tage be-<br />

nötigen eindecken und uns anschließend einen schönen Campground im Nitmiluk suchen. Im<br />

428


Katherine River gibt es Krokos, daher dürfen wir nicht zu nahe am Ufer campieren. Sonst<br />

bekommen wir wohlmöglich ungebetenen Besuch.“<br />

Shawn horchte auf. „Dort gibt es Krokodile? Ist ja genial.“<br />

Kelly lachte. „Ja, du wirst höchstwahrscheinlich die ersten Krokos zu Gesicht bekommen.<br />

Salties und Süßwasserkrokodile. Wenn sie dir in den Hintern beißen, komm bitte nicht zu mir<br />

gerannt.“<br />

Shawn lachte. „Wenn mir eins an der Pobacke hängt, erwarte ich, dass du ihm die Mahl-<br />

zeit ausredest. Du bist hier die Psychologin.“<br />

„Ja, genau, Psychologin, nicht Dompteurin!“<br />

Sie passierten die Randbezirke Katherines und Kelly fragte: „Wie sieht es aus, hast du<br />

noch genügend Speicherchips? Hier würden wir welche bekommen. Wenn wir da draußen<br />

sind und dir gehen die leeren Chips aus, wäre das ärgerlich, denn der Katherine River und die<br />

Katherine Gorge sind spektakulär.“<br />

Shawn beugte sich zum Rücksitz und zog seine Fototasche hervor. Schnell sah er in die<br />

kleine Schachtel, in der er die leeren Chipkarten verwahrte.<br />

beln.“<br />

„Hm, drei, vier, fünf ... Das reicht nicht. Ich werde sicherheitshalber noch welche kaufen.“<br />

Die Therapeutin fuhr in die Stadt und bog kurze Zeit später auf einen großen Parkplatz ab.<br />

„Das ist das Southgate Shoppingcenter. Dann lass uns mal tüchtig die Wirtschaft ankur-<br />

Sie fanden einen Parkplatz im Schatten und machten sich auf den Weg ins Shoppingcen-<br />

ter. Schnell entdeckten sie einen Shop für Elektroartikel und etwas später war Shawn stolzer<br />

Besitzer von zehn neuen, großen Speicherkarten. Zufrieden sagte er:<br />

„Nun kann wohl nichts mehr schief gehen, das sind noch einmal mehr als tausend Fotos,<br />

das dürfte selbst mir reichen.“<br />

Kelly lachte. „Ja, damit kannst du jeden unserer Schritte im Bild dokumentieren.“ Gut ge-<br />

launt suchten sie einen Supermarkt auf und deckten sich reichlich mit frischen Lebensmitteln<br />

ein, die ein paar Tage halten würden. Obst, Gemüse, Brot, Eier, Speck, Würste, Sachen, die<br />

im Esky einige Tage frisch bleiben würden.<br />

„Der Kaffee ist fast aufgebraucht, da brauchen wir Nachschub.“, erinnerte Shawn und so<br />

füllten sie nach und nach fehlende Dinge auf. Sie schafften die Einkäufe ins Auto und verteil-<br />

ten die empfindlicheren Lebensmittel auf die Kühlboxen. Shawn fragte: „Darf ich dich zu<br />

einem Eis einladen bevor wir aufbrechen?“<br />

Er hatte sich vor Wochen in Alice mit eigenem Geld eingedeckt, sodass er nicht mehr von<br />

Kelly abhängig war.<br />

„Gerne. Eis ist gut. Und einen Becher Kaffee könnte ich vertragen.“<br />

*****<br />

429


Eine gute Stunde später waren Kelly und Shawn in nordöstlicher Richtung auf der Gorge<br />

Road unterwegs. Die Straße war gut befahrbar und sie kamen zügig voran. Nach kurzer Zeit<br />

passierten sie den offiziellen Eingang zum Park. Etwas später standen sie im Visitor Center<br />

und Kelly besorgte eine Genehmigung für die Übernachtung im Nationalpark.<br />

„Wie lange wollen Sie bleiben?“<br />

Kelly überlegte. „Ich denke, fünf Tage, wenn wir früher fertig sind, melden wir uns ab.“<br />

„Sie kennen sich in der Wildnis aus?“<br />

Die Therapeutin nickte ernst. „Ja, machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe bei einem Abo-<br />

rigine gelernt, draußen zu überleben.“<br />

Der Parkangestellte zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. „Oh, dann dürften Sie ja<br />

keine Probleme haben. Wenn Sie am Fluss campieren wollen, müssen Sie wissen, dass wir im<br />

Moment recht viele Salties haben. Sie sollten weit genug weg vom Wasser bleiben. Nicht auf<br />

Sandbänken das Zelt aufschlagen.“<br />

Kelly sah Shawn an. „Siehst du, sagte ich ja. Danke für den Hinweis. Wir werden vorsich-<br />

tig sein, das Letzte, was wir wollen, ist, als Krokosnack zu enden.“<br />

Der Parkangestellte lachte. „Das wissen wir zu schätzen. Noch was. Es ist trocken, bitte<br />

keine offenen Feuer, die Waldbrandgefahr ist extrem hoch.“ Er deutete auf ein Warnschild,<br />

das eindeutig höchste Feuerwarnstufe anzeigte.<br />

„Selbstverständlich, wenn wir uns etwas warm machen wollen, werden wir das nur am<br />

Strand tun.“, erklärte Kelly ernst.<br />

Der Parkangestellte händigte ihnen die Besucherkarte aus, drückte Shawn eine Karte des<br />

Parks in die Hand und wünschte ihnen viel Spaß.<br />

Vor dem Visitor Center meinte die Therapeutin: „Wir sollten die erste Nacht hier auf dem<br />

Campingplatz verbringen, von hier können wir einiges unternehmen. Kanufahrten, mit dem<br />

Heli über die Gorge und mit dem Ausflugsboot eine Tour auf dem Fluss machen.“<br />

Shawn stimmte zu. „Hört sich nach einer guten Idee an. Wo ...?“<br />

Er sah sich suchend um. Schnell entdeckte er einen Wegweiser zum Campground und sie<br />

fuhren den Wagen hinüber. Sie suchten sich eine ruhige Stelle unter einigen Palmen und stell-<br />

ten dort das Zelt auf. Es war noch früh, gerade 11 Uhr, und so fragte Kelly:<br />

„Na, bereit für weiteren Muskelkater? Eine kleine Rudertour gefällig?“<br />

„Ja, mir tun nur die Beine weh, Muskelkater im Oberkörper könnte da zum Ausgleich<br />

nichts schaden ...“ Shawn verdrehte die Augen. Ihm war mehr als deutlich anzusehen, dass er<br />

viel Lust darauf hatte, eine Rudertour zu machen. Sein Gejammer war nur gespielt. Gut ge-<br />

launt machten sie sich also auf dem Weg zum Bootsanleger. Sie bezahlten 10 A$ und beka-<br />

men für den Rest des Tages ein Kanu zur Verfügung gestellt. Kelly grinste.<br />

430


„Wenn du beim Einsteigen das Ding zum Kentern bringst, sterbe ich vor Lachen, das ist<br />

dir hoffentlich klar?“<br />

„So tollpatschig werde ich mich hoffentlich nicht anstellen.“, konterte Shawn und stieg in<br />

das Kanu. Es schaukelte, doch schon saß der Schauspieler auf einer der zwei Bänke. Nun<br />

wagte Kelly sich hinein und es klappte ohne Unfälle.<br />

Grinsend griffen sie sich die Paddel und machten sich an die Arbeit. Sie folgten dem Fluss<br />

nach Osten und genossen die wunderschöne Umgebung, die Stille und die Sonne. An beiden<br />

Ufern breitete sich anfangs noch Regenwald aus. Bald jedoch begannen die Ufer anzusteigen.<br />

Erst seicht, dann steiler werdend. Der Baumbestand wurde kärglicher.<br />

„Es ist traumhaft schön hier.“, meinte Shawn nach einer Weile ergriffen.<br />

„Ja, das ist es. Der Fluss wird nachher noch spektakulärer. Wenn du mal an Land gehen<br />

möchtest, sag es bitte.“<br />

„Ja, werde ich machen.“<br />

Sie kamen gut voran und langsam blieben die Bäume ganz aus. Nur noch kleine Büsche<br />

klammerten sich an die zusehends steiler werdenden Hänge rechts und links am Ufer. Ab und<br />

zu gab es winzige Sandstrände, doch überwog felsiger Untergrund. Der Sandstein war hier<br />

nicht leuchtend rot, wie Shawn es aus dem Outback gewohnt war, sondern hell gelb bis beige.<br />

Wie hoch die schroffen Felswände sich inzwischen auftürmten, konnte der Schauspieler nicht<br />

wirklich schätzen.<br />

„Gott, ist das herrlich! Wie hoch mögen die Felswände sein?“ Shawn war begeistert.<br />

„An den höchsten Stellen bis zu 70 Meter.“, erklärte Kelly. Vor ihnen tauchte eine Sand-<br />

bank auf und Kelly zeigte dort hin. „Wie wäre es mit einer kleinen Pause?“<br />

Ein suchender Blick hatte ihr gezeigt, dass sich dort niemand anderes aufhielt. Shawn<br />

nickte. „Ja, gerne. Das sieht zauberhaft aus. Und krokodilfrei.“<br />

So wendeten sie das Kanu und paddelten zu der kleinen, baumbestandenen Sandbank hin-<br />

über. Sie zogen im Kanu die Schuhe aus, sprangen in das kühle Wasser des Flusses und zogen<br />

das kleine Boot so weit auf den Sand, dass es nicht abtreiben konnte. Shawn sah die Felswand<br />

empor und fragte:<br />

„Werden wir nach dort oben gehen? Es muss ein Wahnsinnsausblick von dort sein, den<br />

Fluss entlang.“<br />

„Ja, wir werden im Park wandern.“<br />

Zufrieden grinste Shawn. „Das klingt gut.“ Er ließ sich im Schatten der Felswand in den<br />

warmen, sauberen Sand sinken und rieb sich leise stöhnend die Oberschenkel.<br />

Harmlos fragte Kelly: „Ist was?“<br />

Giftig erwiderte der Schauspieler: „Nein, gar nicht, wie kommst du nur darauf?“<br />

431


Die Psychologin lachte. „Keine Ahnung, du erscheinst mir heute so steif ...“ Sie ließ sich<br />

ächzend in den Sand sinken und sah verträumt zum Himmel hinauf. Gedankenverloren erklär-<br />

te sie: „Ich könnte mir nicht mehr vorstellen, anderswo zu leben als in Australien. Ich liebe<br />

diesen Kontinent. Es gibt auch in den USA wunderschöne Ecken, aber nichts ist mit den<br />

Wundern vergleichbar, die man hier findet.“<br />

Shawn hatte sich neben Kelly lang gemacht und drehte sich zu ihr herum. Er stützte den<br />

Ellbogen in den Sand, legte den Kopf bequem in die Hand und sah Kelly an.<br />

„Man merkt, dass du das Land liebst. Es ist unglaublich, dass ich in der kurzen Zeit von<br />

Australien mehr kennen gelernt habe als in all den Jahren von Amerika. Ich habe keine Ah-<br />

nung, wie ich je wieder in Frisco leben soll, ohne vor Heimweh nach down under zu verge-<br />

hen.“<br />

Kelly lächelte. „Ja, es hat was, dieses Land. Wer weiß, vielleicht entscheidest du dich ja,<br />

nach Australien über zu siedeln. Es gibt hier genügend Filmstudios und Serien, die einen gu-<br />

ten Darsteller brauchen könnten.“<br />

Shawn riss sich mühsam von dem Anblick seiner Therapeutin los und legte sich entspannt<br />

auf den Rücken, die Arme unter dem Kopf verschränkt. „Es ist seltsam, dass Australien zu-<br />

gleich das Schönste ist, was ich je erlebt und gesehen habe, und das Schlimmste ...“<br />

„Oft liegen Gut und Böse so eng beieinander, dass es nicht zu fassen ist.“<br />

Shawn schwieg eine Weile. Unvermittelt sagte er: „Darf ich dich um ... um etwas bitten?“<br />

Erstaunt drehte die Therapeutin sich herum und sah den jungen Mann an. „Na klar, was ist<br />

denn?“<br />

Verlegen erklärte der Schauspieler: „Ich habe mir überlegt, dass ich ... naja, ich würde ...<br />

ich würde schrecklich gerne einen Abstecher zum Great Barrier Reef machen ... Meinst du,<br />

wir könnten ...?“<br />

Kelly lachte vergnügt. „Du bist ganz schön genusssüchtig, mein Lieber. Was du in der<br />

kurzen Zeit hier alles gesehen hast, dafür brauchen andere ihr halbes Leben zu. Klar, warum<br />

nicht. Von Darwin nach Cairns ist es nicht weit, keine 1.700 Kilometer, wenn wir uns in den<br />

Flieger setzen, sind wir in drei Stunden dort. Ob wir von Darwin nach Perth fliegen, oder von<br />

Cairns, das macht keinen Unterschied. Aber wir machen es nur, wenn du mit zu einer Haifüt-<br />

terung kommst!“<br />

Shawn verzog das Gesicht. Er überlegte kurz, schien abzuwägen, ob es sich lohnen würde,<br />

für das Riff gefressen zu werden. Ergeben seufzte er. „Gut, wenn du aufpasst, dass ich nicht<br />

zum Appetithäppchen werde ... Gehen wir zu den Haien.“<br />

Die Psychologin lachte vergnügt. „Eher fresse ich dich selbst mit Haut und Haaren, als<br />

dass ich zulassen würde, dass so ein Fischlein dich verputzt, versprochen.“<br />

432


„Fischlein ... 4 Meter ... und mehr ...“, grummelte Shawn leise vor sich hin und sorgte da-<br />

mit bei Kelly für einen heftigen Lachkrampf.<br />

„Ich werde alles, was über 2 Meter geht, fortschicken.“, schnaufte sie lachend.<br />

„Das will ich hoffen!“ Shawn selbst musste lachen. „Wie sieht es aus, Ma'am, wollen wir<br />

weiter?“<br />

„Gerne.“<br />

Minuten später paddelten sie wieder auf dem Fluss und Shawn war fasziniert, wie wunder-<br />

schön es hier war. Nur wenige andere Besucher befanden sich zurzeit auf dem Wasser. Still<br />

paddelten sie weiter und genossen die fantastische Umgebung. Das Paddeln war nicht an-<br />

strengend und sie kamen gut voran. Der Fluss machte zwei, drei scharfe Knicks, und wurde<br />

schmaler. War er anfangs noch mindestens 60 Meter breit gewesen, reduzierte sich dies nun<br />

auf vielleicht 35 bis 40 Meter. Rechts und links erhoben sich steile Felswände.<br />

„Wenn man unter Platzangst leidet, ist das nicht gerade der richtige Aufenthaltsort, was?<br />

Die Felswände wirken bestimmt erdrückend auf Klaustrophobiker.“, meinte Shawn und sah in<br />

die Höhe.<br />

Kelly folgte seinem Blick mit den Augen und erwiderte: „Ja, das denke ich auch. Macht es<br />

dir etwas aus?“<br />

Sie erinnerte sich, das Shawn ihr am Anfang einmal gesagt hatte, dass er dunkle, enge<br />

Räume nicht übermäßig mochte.<br />

„Nein, absolut nicht. Es ist wundervoll.“ Shawn wirkte entspannt und zufrieden.<br />

Erleichtert lächelte die Therapeutin. „Schön, das freut mich. Die Katherine Gorge ist ins-<br />

gesamt gute 12 Kilometer lang, auf dreizehn Schluchten verteilt. Den Jawoyn, einem Abori-<br />

gine Stamm aus dieser Gegend, ist der Nitmiluk und die Gorge heilig. Nitmiluk heißt in ihrer<br />

Sprache so was wie Ort der Zikadentraumpfade.“<br />

Shawn hörte aufmerksam zu. „Zikadentraumpfade ... Hört sich geheimnisvoll an.“<br />

Kelly warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und erklärte: „Wir sollten uns langsam auf<br />

den Rückweg machen, es ist 16 Uhr durch und wir haben gute 7 Kilometer zu Paddeln. Ich<br />

möchte nicht erst im Dunkeln am Anleger sein.“<br />

So drehten sie um und machten sich an den Rückweg. Gegen 18 Uhr erreichten sie er-<br />

schöpft, aber zufrieden, den Anleger und kletterten steif aus dem Kanu. Als sie etwas später<br />

ihr Zelt erreichten, atmete Shawn auf. Zum Campground gehörte eine große, sanitäre Einrich-<br />

tung und so schnappten sie sich ihre Duschsachen, Shampoo und Handtücher und trennten<br />

sich, um Duschen zu gehen. Shawn war nervös, er wusste nicht, wie es in den Duschen ausse-<br />

hen würde. Er hoffte auf einzelne Duschkabinen. Als er die Herrenabteilung betrat, sah er zu<br />

seinem Entsetzen, dass es einen großen, gemeinsamen Duschraum mit zwanzig Duschen<br />

rechts und links an den Wänden gab.<br />

433


„Oh man ...“<br />

Im Umkleideraum saßen noch vier andere Männer, die dabei waren, sich zu entkleiden.<br />

Sie begrüßten Shawn freundlich und beachteten ihn nicht weiter. Der Schauspieler begann<br />

ebenfalls, sich auszuziehen. Früher hatte es ihm nichts ausgemacht, Gemeinschaftsduschen zu<br />

benutzen. An Schulen und Colleges in den Staaten war das üblich. Hier zitterte er bei der<br />

Vorstellung, sich vor den anderen Männern zu entblößen. Er war sicher, sie würden sofort<br />

sehen, was mit ihm los war. Bebend hockte er auf der Holzbank des Umkleideraumes und<br />

schaffte es nicht, sich zu entkleiden.<br />

Verzweifelt verließ er den Umkleideraum und stand unglücklich draußen in der Dunkel-<br />

heit. Tränen schossen ihm in die Augen und er sank an der Außenwand des Gebäudes in sich<br />

zusammen. Dort fand Kelly ihn Minuten später. Sie hatten vorher abgemacht, aufeinander zu<br />

warten. Als sie aus der Damendusche kam, war Shawn noch nicht zu sehen gewesen und so<br />

war sie zur Herrenanlage hinüber geschlendert. Als sie den jungen Mann in so desolater Ver-<br />

fassung vorfand, eilte sie erschrocken zu ihm. Sie kniete sich vor ihn hin.<br />

„Shawn, was ist passiert?“, fragte sie besorgt und nahm ihn in die Arme. Sie spürte ihn am<br />

ganzen Leib zittern und flüsterte beruhigend: „Ist ja gut, alles ist gut. Ganz ruhig. Erzähl mir,<br />

was passiert ist.“<br />

Es dauerte eine Weile, bevor Shawn in der Lage war, hervor zu stoßen: „Ich konnte nicht<br />

... Ich konnte mich nicht ... ausziehen ...“<br />

Kelly hatte sich so etwas gedacht. Um Shawn zu beruhigen sagte sie: „Das ist doch kein<br />

Problem. Das ist nicht schlimm, Shawn. Wir warten, bis alle raus sind aus der Dusche, und<br />

ich werde vor der Tür Wache schieben und jeden aufhalten, der hinein will, bis du fertig ge-<br />

duscht hast, in Ordnung?“ Lieber wäre es der Therapeutin jedoch gewesen, wenn Shawn den<br />

Mut aufbringen würde, es noch einmal zu versuchen.<br />

Shawn kämpfte darum, seine Fassung zurückzuerlangen. Müde flüsterte er: „Damit ist es<br />

nicht getan ... Ich ... ich kann nicht jedes Mal, wenn ich vor einer solchen Situation stehe, zu-<br />

sammenbrechen.“ Resigniert fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht, um die Tränen fort-<br />

zuwischen. Kelly nickte zufrieden.<br />

„Du hast Recht, Baby, also, komm, raff dich auf, geh da rein, zieh dich aus und dusche!<br />

Vergiss, dass dort drinnen andere Männer sind. Weder sehen sie, was mit dir passiert ist noch<br />

fallen sie über dich her. Du schaffst das, Shawn, das weiß ich. Du musst nur den ersten Schritt<br />

machen.“ Sie stand auf, reichte Shawn die Hände und zog ihn ebenfalls in die Höhe. „Du<br />

kriegst das hin. Ich warte hier auf dich.“<br />

Shawn sah die junge Frau an, atmete tief durch und nickte entschlossen. Wortlos drehte er<br />

sich herum und ging zur Tür der Duschanlage zurück. Kelly sah ihm nach. Er würde es schaf-<br />

fen!<br />

434


Zehn Minuten später, Minuten, in denen die Therapeutin nervös auf und ab gelaufen war,<br />

kam der Schauspieler fertig geduscht aus der Tür. Er sah Kelly, lächelte erleichtert und prus-<br />

tete: „Ich habe es geschafft!“<br />

Die Psychologin strahlte. „Ich wusste, dass du es hin bekommst. Du bist großartig.“ Zu-<br />

frieden kehrten sie endlich zu ihrem Zelt zurück.<br />

„Ich habe Hunger!“, erklärte Shawn, nachdem sie ihre Handtücher über die Bullbar 20 des<br />

Geländewagens zum Trocknen gehängt hatten.<br />

„Ich mache uns sofort etwas zu Essen.“ Kelly machte einen Teller voll Sandwiches und<br />

etwas später saßen sie gemütlich auf den Sitzmatten vor ihrem Zelt und ließen sich das<br />

Abendbrot schmecken. Als sie anschließend satt und zufrieden den Abend genossen, fragte<br />

die Therapeutin ruhig: „Hast du noch einmal darüber nachgedacht, was gestern vorgefallen<br />

ist?“<br />

Shawn verkrampfte sich augenblicklich. Einen Moment schwieg er. Dann erwiderte er lei-<br />

se: „Ja.“<br />

Wie ferngesteuert machte er sich lang und legte den Kopf in der für beide selbstverständli-<br />

chen Haltung auf Kellys Oberschenkel. Die junge Frau wartete, doch er schwieg.<br />

„Und, was ist bei deinen Überlegungen herausgekommen?“ Kelly konnte spüren, wie der<br />

Schauspieler tief durchatmete.<br />

„Das du Recht hattest ... Mal wieder.“<br />

Die Psychologin hakte nach. „Inwiefern hatte ich Recht?“<br />

Shawn stieß ein kleines, frustriertes Lachen aus. „Du kennst keine Gnade, was?“<br />

Bedrückt erwiderte die Therapeutin: „Wenn ich nicht gnadenlos wäre, würdest du höchst-<br />

wahrscheinlich in einer psychiatrischen Facheinrichtung sitzen und ich mit Sicherheit gemüt-<br />

lich in meiner Praxis.“<br />

Der junge Mann seufzte. „Wahrscheinlich, ja. Ich denke, ich habe die Schuldgefühle als<br />

Grund vorgeschoben, um mich nicht der ... der Sache zu ...“<br />

Kelly unterbrach ihn. „Nein, Shawn, sag nicht ‘die Sache‘, das verharmlost nicht, was dir<br />

geschehen ist und es hilft dir nicht bei der Verarbeitung. Sprich aus, was Brett dir angetan hat.<br />

Rede nicht drum herum. Er hat dich brutal vergewaltigt.“<br />

Sie ließ ihre Finger sanft durch Shawns Haar gleiten und wartete. Einige tiefe Atemzüge<br />

später schaffte der Schauspieler es endlich, weiter zu sprechen.<br />

„Ich habe die Schuldgefühle vor geschoben, um mich nicht damit auseinandersetzen zu<br />

müssen, dass mich ein Mann ... vergewaltigt hat. Du hattest gestern Recht. Ich ... Es ist ... Ich<br />

hatte bei Carrie keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, dass Brett mich ... mich brutal ver-<br />

gewaltigt hat. Die Tage hinterher war ich viel zu sehr mit den Schmerzen beschäftigt und mit<br />

der Tatsache, dass Carrie nicht zu mir kam. Das half mir, die Vergewaltigung von mir zu<br />

20 Bullbar: Frontschutzbügel am Fahrzeug, auch Hirschfänger genannt.<br />

435


schieben. Als ich nach ... nachdem Brett mich erneut gevögelt hatte, zusammengebrochen bin,<br />

war ich nach dem Aufwachen viel zu froh, Carrie bei mir zu sehen. Da habe ich aus dem<br />

Grunde nicht darüber nachgedacht. Und ... naja, dann war ständig und jeden Tag etwas ande-<br />

res, schmerzhaftes, qualvolles, demütigendes, ich ... hatte ... Sie ... Brett und Alan, haben<br />

mich ab da fast jeden Tag gevögelt. Es wurde normal. Und das erste Mal habe ich mehr und<br />

mehr verdrängt.“<br />

Er verstummte kurz. Kelly konnte sein heftiges Zittern spüren.<br />

„Als ich dir vorgestern davon erzählte war es, als wäre es gerade erst passiert, verstehst<br />

du? Ich weiß nicht, warum die Erinnerung so schlimm war. Es ist später immer wieder dazu<br />

gekommen, fast täglich hat einer der beiden, Brett oder Alan, mich ... mich gevögelt ... Ich<br />

habe mich nicht mehr gewehrt ... Das hätte ja ohnehin nichts genützt.“<br />

Die Therapeutin hörte ruhig zu. Leise erklärte sie:<br />

„Die erste Vergewaltigung durch Brett war das traumatischste, das schlimmste Ereignis,<br />

was dir dort passiert ist. Dass sie dich danach fast täglich gevögelt haben, zählte in deinem<br />

Verstand nicht mehr als Vergewaltigung. Du hast es ab da als eine Art notweniges Übel gese-<br />

hen. Etwas wie tägliches Waschen oder Zähneputzen. Wenn du dich zu intensiv damit be-<br />

schäftigt hättest, wärest du daran zerbrochen. Also hat dein Hirn sich eine andere Erklärung<br />

für das einfallen lassen, was passiert ist. Daher kommt es dir vor, als wäre es gerade gesche-<br />

hen. Weil wir dein Hirn jetzt zwingen, sich damit zu beschäftigen. Du setzt dich erstmals mit<br />

der Tatsache auseinander, dass ein Mann dir Gewalt angetan hat.“ Sie strich Shawn weiter<br />

liebevoll durch die Haare. „Du musst dich damit auseinandersetzen.“<br />

Shawn hatte still zugehört und fragte apathisch: „Was ist an diesem ersten Mal so anders<br />

als an all den folgenden Malen? Ich verstehe das nicht. Es ... War es nicht jedes Mal eine<br />

Vergewaltigung? Warum ist die Erste so extrem schlimm?“<br />

Kelly seufzte. „Weil es einer Entjungferung glich. Eine junge Frau, die beim ersten Sex<br />

gewaltsam genommen wird, gewaltsam entjungfert, wird mit der Vergewaltigung sehr viel<br />

mehr Probleme haben als eine Frau, die schon Geschlechtsverkehr hatte. Für beide ist es<br />

schrecklich, keine Frage, aber psychologisch ist die gewaltsame Entjungferung ein extrem<br />

schlimmes Erlebnis. Das ist nicht verstandesgemäß zu steuern, verstehst du?“<br />

Shawn schluchzte leise in Kellys Armen. „Als Carrie es aussprach ... Als sie Brett fragte,<br />

ob er mich nicht ... so richtig ... durchficken wolle ... Ich bin vollkommen hysterisch gewor-<br />

den. Ich ... ich weiß nicht, wie ... Es war so grässlich. Als sie mich auf den Strafbock fesselten<br />

... Ich ...“ Ihm fehlten die Worte, seine Empfindungen auszudrücken. Stattdessen stotterte er:<br />

„Als er dann in mir ... steckte, war es, als ob ich gar nicht in meinem Körper anwesend wäre.<br />

Es war, als sehe ich zu, verstehst du? Es hat so schrecklich wehgetan, aber ich habe keinen<br />

Ton mehr raus bekommen. Ich war wie paralysiert. Ich konnte keinen Ton hervorbringen.<br />

436


Erst, als Carrie anfing, mit dem Stock auf mich ein zu prügeln war ich fähig, zu schreien. Die<br />

Hiebe waren wie Feuer, dass sich in mein Fleisch brannte, aber ich war dankbar, dass sie mir<br />

das antat. Es hat nachhaltig das Gefühl von Bretts Schwanz aus mir vertrieben. Das kam lei-<br />

der später zurück ...“<br />

Kelly weinte mit Shawn. Dass es ihm nicht möglich war in Worte zu fassen, was er unmit-<br />

telbar vor und während der brutalen Vergewaltigung empfunden hatte, machte der Therapeu-<br />

tin klar, wie sehr er gelitten hatte. Darüber zu sprechen würde ihm helfen, dieses Trauma zu<br />

verarbeiten. Sie redete ihm beruhigend und aufmunternd zu und nach und nach tröpfelte es<br />

stockend und von Schluchzern unterbrochen mehr aus ihm heraus. Nach langer Zeit schwieg<br />

er völlig ausgelaugt. Kelly war es, die vorschlug:<br />

„Wollen wir Schluss machen für heute?“<br />

Unendlich müde, weniger körperlicher als vielmehr seelischer Natur, nickte Shawn. „Ich<br />

... Ja, ich bin fertig.“<br />

Minuten später lagen sie eng aneinander gekuschelt auf den Schlafsäcken. Kelly dachte,<br />

Shawn wäre bereits eingeschlafen, als er leise sagte:<br />

„Danke, dass du so hartnäckig bist.“<br />

Erstaunt erwiderte sie: „So leid es mir selbst tut, es bleibt mir nichts anderes übrig. Es ist<br />

so wichtig, dass du darüber sprichst. Egal, wie weh es dir tut. Du hast es selbst gemerkt, dir<br />

geht es besser, wenn du es ausgesprochen hast. Das ist das Ziel der Therapie.“<br />

„Es tut so unendlich weh, das alles zu erzählen. Aber du hast Recht, es erleichtert. Gestern<br />

... Was ich da gesagt habe ... Du ... Es tut mir so leid ... Ich weiß, dass du mich nicht quälen<br />

willst. Das war idiotisch von mir. Wie schaffst du es nur, ruhig zu bleiben, wenn ich einen<br />

solchen Schwachsinn von mir gebe?“<br />

Kelly seufzte leise. „Das sollte dir klar sein. Erstens ist es mein Job. Und zweitens ... Du<br />

weißt, was ich für dich empfinde. Wie könnte ich dir böse sein? Ich weiß ja nur zu gut aus<br />

eigener Erfahrung, wie entsetzlich es ist, noch über die schlimmsten und erniedrigendsten<br />

Momente seines Lebens zu sprechen, sprechen zu müssen. Du arbeitest so großartig mit,<br />

Shawn, da sind kleine Ausraster kein Problem.“<br />

Shawn merkte gar nicht, dass die Finger seiner rechten Hand, die locker auf Kellys Seite<br />

lagen, dort sanfte Streichelbewegungen ausführten. Nach einer Weile meinte er leise:<br />

„Ich bin überzeugt, dass ich bei niemand anderem so darüber reden könnte.“<br />

„Mit der Zeit würdest du es ...“<br />

„Nein! Die Vorstellung, jemand anderem davon zu erzählen ...“ Er schüttelte entschieden<br />

den Kopf. „Nein, niemals! Davon wird nie jemand anderes erfahren.“<br />

Kelly beschloss, vorerst auf diesem Thema nicht mehr herumzureiten. Sanft sagte sie:<br />

437


„Wenn du es nicht willst, Shawn, ist das in Ordnung. Lass uns schlafen, du musst hunde-<br />

müde sein.“<br />

waren.<br />

„Ja, das bin ich. Ich bin total fertig. Gute Nacht ...“<br />

„Gute Nacht.“<br />

Schnell waren gleichmäßige Atemzüge zu hören, die zeigten, dass beide tief eingeschlafen<br />

36) Reptilien der Urzeit<br />

Nicht besiegt zu werden ist das einzige, was zählt im Leben.<br />

André Malraux<br />

Am kommenden Morgen war Kelly vor Shawn wach. Sie verließ leise das Zelt und streck-<br />

te sich ausgiebig. Als sie Kaffeewasser aufsetzte, dachte sie an das Gespräch vom vergange-<br />

nen Abend. In ihrem Kopf hatte sich das Bild festgefressen, als Shawn auf dem Strafbock<br />

gefesselt hatte ertragen müssen, von Brett anal penetriert zu werden. Ihr schossen Tränen in<br />

die Augen und sie versuchte energisch, dieses Bild fortzuwischen. Ärgerlich fuhr sie sich mit<br />

der Hand über die Augen. Verflucht! Es hatte so viele Gelegenheiten gegeben, sich zu verlie-<br />

ben, warum musste es nun ausgerechnet ein Patient sein? Hatte sie von Anfang an etwas<br />

falsch gemacht? Nein, das hatte sie nicht. Shawn war nicht der erste Patient, der bei ihr<br />

schlief. Einige andere sowohl weibliche als männliche Patienten hatten schon bei ihr geschla-<br />

fen. Sie hatte ein Gespür dafür, wem sie diese Freizügigkeit anbieten konnte und wem nicht.<br />

Vielen ihrer Patienten hatte das geholfen, gerade in der Anfangsphase der Therapie. Wenn die<br />

ersten Fortschritte verzeichnet wurden, waren die Patienten bereit gewesen, in ihr Gästezim-<br />

mer zurückzukehren. Kelly musste zugeben, dass der Gedanke, ohne Shawn zu schlafen, in<br />

einem leeren Bett, ihr Schauer über den Rücken jagte. Ihr war klar, dass sie sich längst nicht<br />

mehr professionell benahm. Das war nicht mehr zu ändern. Da musste sie durch, für Shawn.<br />

Dass sie die Kraft aufbringen würde, ihn fortzuschicken, wusste die Psychologin. Ihr lag<br />

Shawns Wohl viel zu sehr am Herzen. Egal, was er dazu sagen würde, er musste ohne sie in<br />

sein Leben zurückkehren. Kelly würde ihm kein Bremsklotz sein. Zwar zerriss die Vorstel-<br />

lung, ihn ins Flugzeug zu setzen schon jetzt ihr Herz, aber sie war in dem Falle nebensächlich.<br />

Gedankenverloren schenkte Kelly sich kochendes Wasser in eine Tasse und gab zwei Löf-<br />

fel löslichen Kaffee hinzu. Eine zweite Tasse bereitete sie für Shawn vor. Um sich abzulenken<br />

dachte sie darüber nach, was sie heute unternehmen konnten. Eine weitere Bootstour auf dem<br />

Katherine River mit dem Ausflugsboot war eine nette Sache. Sie würden weiter kommen als<br />

438


im Kanu. Zusätzlich wollte Kelly wenn möglich einen Hubschrauberflug über dem Park ma-<br />

chen. Hinter ihr raschelte es und eine verschlafene Stimme nuschelte:<br />

„Morgen ...“<br />

Grinsend drehte sie sich herum. „Guten Morgen. Na, wir klingen ja gut gelaunt.“<br />

Gähnend sank Shawn im Schneidersitz neben ihr auf die Matte. „Gib mir die Chance,<br />

wach zu werden, okay.“<br />

Die Therapeutin sah den jungen Mann an. Seine Haare waren total verwuschelt, die Augen<br />

noch etwas glasig und er wirkte noch ziemlich neben der Spur. Sie schenkte ihm Wasser in<br />

seine Tasse, rührte den Kaffee kurz um und reichte ihm den Becher. Erneut herzhaft gähnend<br />

nahm er diesen entgegen und starrte apathisch in die Tasse.<br />

„Du bist ja extrem fit heute.“, lachte die Psychologin und tat so, als wolle sie ihm helfen,<br />

die Tasse an die Lippen zu führen. Ein giftiger Blick Shawns ließ sie schallend auflachen.<br />

„Man, wie kann man nur morgens so gut gelaunt sein?“, knurrte er entnervt.<br />

„Falsche Frage. Wie kann man nur morgens so derart schlecht gelaunt sein?“ Dass der<br />

Schauspieler manchmal ein Morgenmuffel war, war ihr schon häufiger aufgefallen.<br />

Shawn warf ihr erneut einen gespielt giftigen Blick zu und fragte: „Hast du nicht was zu<br />

tun? Fenster putzen, Staubsaugen ...?“ Seine Augen funkelten schon deutlich wacher und<br />

frech.<br />

Kelly schüttelte ernsthaft den Kopf. „Nein, habe ich gestern erst gemacht. Heute habe ich<br />

nur Patienten aufmischen auf dem Zettel.“<br />

„Na toll ...“, Vorsichtig trank der junge Mann seine Tasse leer und hielt Kelly diese auf-<br />

fordernd entgegen. „Bekomme ich noch eine Tasse, oder muss ich erst handgreiflich wer-<br />

den?“<br />

Grinsend bereitete Kelly ihm eine zweite Tasse zu und reichte sie ihm. „Hier. Ich will ja<br />

nicht, dass du dich blamierst.“<br />

Dankbar nippte Shawn an dem heißen Kaffee.<br />

„Wie hast du denn geschlafen?“, fragte die Therapeutin liebevoll.<br />

„Gut. Ich habe ... von Brett geträumt. Er kam ins Zelt und wollte ... er wollte Sex. Du hast<br />

ihn raus geworfen.“<br />

Beruhigend legte Kelly dem jungen Mann die Hand auf den Arm. „Das war nur ein<br />

Traum, aber, ja, ich würde jeden rauswerfen, der dir etwas antun will.“ Sie spürte, wie ihr das<br />

Blut in die Wangen schoss. Shawn sah zu Boden und zog unbewusst mit dem Finger Striche<br />

in den Sand. Leise sagte er:<br />

„Normalerweise sollte es anders herum sein. Der Mann sollte die Frau beschützen und<br />

verteidigen. Komischerweise fühlt es sich gut an, dass du ... mich ...“ Er verstummte höchst<br />

verlegen. Ruhig erklärte die Therapeutin:<br />

439


„Ich weiß, dass du mich ebenfalls mit deinem Leben verteidigen würdest, Shawn, ich weiß<br />

auch, dass du unter normalen Umständen in der Lage wärest, dich selbst zu verteidigen. Es<br />

sind im Moment nur keine normalen Umstände. Das, was Carrie und ihre Freude dir angetan<br />

haben, sitzt noch viel zu tief in dir. Du würdest vor Angst erstarren, wenn einer von ihnen<br />

auftauchen würde. Das ist nichts, für das du dich schämen müsstest. Du wurdest darauf ge-<br />

drillt, mit brutalsten Mitteln. Wenn hier fünf Schläger auftauchen würden, um uns etwas an-<br />

zutun, du würdest dich mit allem, was dir zur Verfügung steht, wehren und dich und mich<br />

verteidigen. Oder wenn aus dem Gebüsch ein Saltie auftauchen würde. Stände aber Carrie vor<br />

dir, du wärest in Sekundenschnelle erneut ihr Sklave. Das liegt in der Natur der Sache. Darum<br />

lasse mich dich bis aufs Blut verteidigen, wenn es um die Entführer geht und bei allen ande-<br />

ren Gefahren verteidigst du mich genauso intensiv, okay?“<br />

Shawn hörte verlegen zu. Jetzt konnte er nicht anders: Er musste lachen. „Gott, ich liebe<br />

dich! Bei dir hören sich die peinlichsten Sachen so simpel und normal an. Jedes Mal, wenn<br />

ich mich winde vor Verlegenheit, schaffst du es, diese mit wenigen Worten zu zerstreuen.“ Er<br />

griff nach Kellys Hand und hielt diese fest. „Warum konnte ...“ Was immer er hatte sagen<br />

wollen, er sprach es nicht aus. Stattdessen fragte er hastig: „Was liegt denn heute an?“<br />

„Wir könnten die Bootstour machen, die geht gute 16 Kilometer weit, so weit könnten wir<br />

nicht rudern.“<br />

Shawn nickte. „Gerne, fahren lassen hört sich gut an.“<br />

Zufrieden grinste die Therapeutin. „Gut, soweit ich gestern gelesen habe, fahren die Boote<br />

für die große Tour um 10 Uhr los. Wir haben also noch Zeit, etwas zu Essen.“ Sie stand auf<br />

und kam Minuten später mit einer der Kühlboxen zurück. Schnell bereiteten sie sich ein paar<br />

Sandwiches und räumten hinterher alles säuberlich auf. Sie griffen sich die Sonnenhüte, Foto-<br />

apparat und sicherheitshalber Sonnencreme und machten sich gemütlich auf den Weg zum<br />

Bootsanleger. Hier bezahlte Kelly zwei Tickets und sie konnten an Bord des Ausflugsbootes<br />

gehen. Sie hatten Glück und es wurden nur wenige weitere Mitfahrer. Der einheimische<br />

Bootsführer erklärte:<br />

„Okay, Freunde, mehr werden wir heute Morgen nicht. Also, gehen wir mal gucken, ob<br />

wir ein paar Salties glücklich machen können.“<br />

Er grinste seine Fahrgäste an und abgesehen von einem älteren Paar, die nichts verstanden,<br />

lachten alle.<br />

Langsam tuckerte das Flachbodenboot vom Anleger weg und der Bootsführer erklärte ei-<br />

niges über den Nationalpark.<br />

„Der Nitmiluk Nationalpark wurde 1989 gegründet. Er misst 2.921 Quadratkilometer. Ein<br />

wichtiger Teil des Parks ist die Katherine Gorge, ein vom Katherine River über einen Zeit-<br />

raum von einer Milliarde Jahren in das Arnhem-Plateau gegrabenes, 12 Kilometer langes Sys-<br />

440


tem von dreizehn Schluchten mit bis zu 70 Meter hohen Sandstein-Felswänden. Die Schluch-<br />

ten und deren Umland haben große spirituelle Bedeutung für das Aborigine-Volk der Jawoyn.<br />

Nitmiluk bedeutet in der Sprache der Jawoyn so viel wie Ort der Zikaden-Traumpfade. Der<br />

Park wurde in den Besitz der Jawoyn zurückgegeben und wird in Übereinstimmung mit deren<br />

traditionellen Gesetzen von der Parks and Wildlife Commission of the Northern Territory mit<br />

verwaltet. Im Bereich des Parks sind noch viele historische Felsmalereien zu finden. Die be-<br />

kannten Edith Falls, ein großer, von einem Wasserfall gespeister gleichnamiger Pool, liegen<br />

an der Westgrenze des Parks.“<br />

Er deutete auf einen kleinen Felsbrocken im Wasser am Ufer.<br />

„Dort könnt ihr eine der einhundertsechzig Vogelarten des Parks bewundern.“<br />

Einige Rosa Kakadus sonnten sich auf dem Stein und amüsierten sich im flachen Ufer-<br />

wasser. Der Bootsführer wurde langsamer und gab seinen Fahrgästen Gelegenheit, die hüb-<br />

schen Vögel zu beobachten und Fotos zu machen. Als alle Bilder gemacht hatten gab er Gas.<br />

„Wir haben neben den meisten Kakadu- und Sitticharten Reiher, Adler, Schlangenhalsvö-<br />

gel, Regenbogenspinte, Azurfischer, um nur ein paar der Juwelen zu nennen. Besonders stolz<br />

sind wir auf einige seltene Känguruarten wie Flinkwallabies, Antilopenkängurus und die klei-<br />

nen Bergkängurus.“<br />

Shawn hörte aufmerksam zu, auch, wenn Kelly ihm schon einiges über den Park und die<br />

Gorge erklärt hatte. Er wirkte entspannt und zufrieden.<br />

Gerade erreichten sie die erste Kehre des Flusses. Das Boot glitt an einigen Kanus vorbei<br />

und sie genossen den Ausblick auf die Felswände um sie herum.<br />

„Da der Fluss ganzjährig Wasser führt, selbst nach langer Trockenheit, haben wir einen<br />

üppigen Grünstreifen, der vielen Tieren Schutz und Nahrung bietet. Da streng darauf geachtet<br />

wird, dass der Fluss nicht überfischt wird, haben wir ausreichend Fische, unter anderem den<br />

Barramundi, was zu einer deutlichen Erholung der Krokodilpopulation führte. Das Saltie hat<br />

in den letzten Jahren einen erfreulichen Zuwachs genommen, ebenso das australische Freshie.<br />

Durch gute Aufklärungsarbeit ist es bei uns in den letzten Jahren zu keinerlei Unfälle ge-<br />

kommen, ein Punkt, der dem Bestand der Echsen eindeutig gut tut.“<br />

men?“<br />

Einer der anderen Fahrgäste fragte gespannt: „Werden wir welche zu Gesicht bekom-<br />

„Mit etwas Glück denke ich ja.“<br />

Sie tuckerten weiter den Fluss entlang und genossen den leichten Fahrtwind, der die Wär-<br />

me etwas vertrieb. Zwischendurch gab der Bootsführer kurze Erklärungen zu Orten, die sie<br />

passierten. Interessiert fragte er:<br />

„Ist hier zufällig jemand unter euch, der den Film ‘Rogue‘ gesehen hat?“<br />

Kelly hob die Hand. „Ja, ich. Ich mag die Arbeiten Greg McLeans.“<br />

441


Der Bootsführer strahlte. „Eine Heimatverbundene. Tja, einige der Szenen sind auf dem<br />

Katherine River entstanden, wir kommen später noch zu der Stelle.“<br />

Shawn verzog fragend das Gesicht. „Greg McLean? Muss ich den kennen?“<br />

Kelly grinste. „Ein entfernter Verwandter? Möglicherweise hast du Verwandte, von denen<br />

du nichts weißt. Er ist Regisseur. Er hat den Film ‘Wolf Creek‘ gedreht, ich erwähnte ihn.“<br />

Shawn überlegte. „Ja, ich erinnere mich. In Anlehnung an den Backpacker Mörder ent-<br />

stand der Film, richtig?“<br />

Kelly nickte. „Genau. Rogue ist ein Horrorfilm, es geht um eine Gruppe von Touristen,<br />

die wie wir hier mit einem Ausflugsboot eine Tour auf einem Fluss im Kakadu machen. Sie<br />

geraten in einen Seitenarm des Flusses, der von einem großen Saltie bewohnt wird. Das Tier<br />

verteidigt sein Revier gegen die Eindringlinge. Der Film ist recht gut gemacht. Neben wun-<br />

derschönen Naturaufnahmen ist das Kroko sehenswert.“<br />

„Ja, er ist spannend und unterhaltsam.“, erklärte der Bootsführer, der Kellys Erklärungen<br />

zuhörte. Plötzlich stoppte er den Motor und ließ das Boot langsam auf das rechte Ufer zuglei-<br />

ten. „Seht mal dort, da oben auf den Ast.“<br />

Alle wandten ihren Blick in die angegebene Richtung und sahen einen großen Raubvogel<br />

im Geäst eines Baumes hocken.<br />

„Das ist ein Fischadler.“, erklärte der Tourleiter.<br />

Shawns Finger lag schon am Auslöser der Kamera. Das Tier ließ sich nicht weiter stören<br />

und so konnten alle einige schöne Aufnahmen machen. Schließlich ging die Fahrt weiter.<br />

Schnell war die nächste Flusskehre erreicht. Die Fahrgäste waren begeistert. Die Sonne fiel<br />

auf die linksseitigen Felswände und ließ die Farbspiele im Sandstein richtiggehend leuchten.<br />

Shawn saß in seinem Sitz und wirkte regelrecht andächtig.<br />

„Wie wunderschön!“, sagte er ergriffen.<br />

„Ja, nichts, was der Mensch erschafft, kann so schön sein wie das, was die Natur zustande<br />

bringt.“, meinte einer der anderen Fahrgäste.<br />

Keiner widersprach. Shawn legte unbewusst einen Arm um Kellys Schultern und diese<br />

ließ es kommentarlos zu. Im Gegenteil kuschelte sie sich glücklich und zufrieden an den<br />

Schauspieler. Der Tag war so schön, Shawn hatte sich gefangen und so gönnte die Therapeu-<br />

tin sich die kleine Schwäche. Es war ja ohnehin nicht mehr zu verheimlichen, was sie fürei-<br />

nander empfanden. Nach zwei weiteren scharfen Biegungen, die der Katherine River machte,<br />

kam ein längeres gerades Stück. Als sie an einer kleinen üppig bis zum Wasser bewachsenen<br />

Spalte in der aufragenden Felswand am rechten Ufer vorbei kamen, stutzte Kelly. Sofort sagte<br />

sie:<br />

„Halt!“<br />

Der Bootsführer reagierte schnell und Kelly bat: „Ein kleines Stück zurück, okay.“<br />

442


hatte.<br />

Langsam tuckerte das Boot rückwärts und die Psychologin sah, dass sie sich nicht geirrt<br />

„Seht mal dort, in den Ufergewächsen.“<br />

Alle wandten ihren Blick in die Richtung, die die junge Frau angab.<br />

„Ja! Da ist ein Krokodil!“ Einer der anderen Fahrgäste hatte das Reptil ebenfalls gesichtet.<br />

Jetzt sahen es alle.<br />

„Wahnsinn!“<br />

„Seht mal, wie groß der Kopf ist!“<br />

„Ist das ein Saltie?“<br />

Alle redeten durcheinander.<br />

„Ja, Leute, das ist ein Saltie, noch dazu ein großes. Ich kann seine Beine nicht ausmachen,<br />

wäre möglich, dass es Hugo ist. Ein Männchen, fast 5 Meter lang, dem eine Zehe am linken<br />

Vorderfuß fehlt. Er ist oft hier zu finden, obwohl sein eigentliches Revier weiter im Nordos-<br />

ten liegt.“<br />

Gespannt behielten alle das große Saltie im Auge. Träge löste es sich aus der Uferzone<br />

und kam langsam und bedrohlich auf das Boot zu geschwommen. Eine ältere Dame wurde<br />

sichtlich nervös, da das Krokodil größer war als das Ausflugsboot. Kelly grinste still vor sich<br />

hin. Zu einschlägig waren Berichte und spektakuläre Tierfilme, als dass sie spurlos an Men-<br />

schen vorbei gingen. Sie konnte spüren, dass auch Shawn sich ein klein wenig verspannte.<br />

Er hatte den Arm von ihrer Schulter genommen und machte Fotos, wie die anderen Fahr-<br />

gäste. Als das große Reptil direkt auf das Boot zusteuerte, legte der Schauspieler den Arm<br />

erneut um Kelly, diesmal in einer eindeutig schützenden Geste. Die Psychologin erschauderte<br />

angenehm. Es war lange her, dass ein Mann auf diese Weise einen Arm um sie gelegt hatte.<br />

Gerade erreichte das Krokodil das Boot und der Bootsführer erklärte:<br />

„Ja, Leute, das ist unser Hugo. Da könnt ihr sehen, wo ihm der Zeh fehlt. Lehnt euch nicht<br />

außenbords, die Viecher können springen.“<br />

Sofort zogen alle, die an der Außenwand saßen, übertrieben die Körper zurück.<br />

Kelly lachte. „Falls es einen von uns beißt, keine Sorge, ich bin Ärztin.“<br />

Einige lachten, doch die ältere Frau, die nervös war, warf Kelly einen strafenden Blick zu.<br />

Da Hugo aber genug von dem langweiligen Boot hatte und abtauchte, fuhren sie weiter.<br />

*****<br />

Als Kelly später am Abend Abendbrot in Form von auf dem öffentlichen Grillplatz ge-<br />

grillten Steaks, die sie im Store besorgt hatte, servierte, fragte Shawn:<br />

„Wie ist das, greifen die solche Boote an?“<br />

443


Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, das sind an den Haaren herbei gezogenen Storys, die in<br />

Filmen reißerisch dargeboten werden. Haie greifen auch keine Boote an. Einerseits sind die<br />

Tiere nicht so intelligent, dass sie auf diese Weise versuchen, an die Bootsinsassen heran zu<br />

kommen, andererseits sind sie nicht so dumm, dass sie Boote mit Beute verwechseln. Es kann<br />

gelegentlich zu Rempelattacken kommen, wenn die Tiere sich bedrängt fühlen oder ihr Revier<br />

verteidigen wollen, aber zu belegten Angriffen auf Boote, um an die Insassen heran zu kom-<br />

men ist es noch nie gekommen.“<br />

Shawn hatte aufmerksam zugehört. Er grinste. „Das Vieh war ganz schön groß, was? Es<br />

war länger als das Boot.“<br />

Kelly schmunzelte. „Ja, das ist kein Problem für so ein Saltie. Diese Boote sind um die 4<br />

Meter lang, da kann ein Leistenkrokodil leicht drüber hinauswachsen.“<br />

Shawn hatte sich auf der Matte lang gelegt und sah zum Sternenhimmel über ihnen hinauf.<br />

Kelly räumte das dreckige Geschirr in die kleine Abwaschschüssel und setzte sich zu dem<br />

Schauspieler und Shawn sah zu ihr auf.<br />

„Was für eine Ärztin bist du eigentlich? Ich meine, du bist Psychologin, aber du sagtest,<br />

du wärest Ärztin, könntest Bisswunden versorgen.“<br />

Die Therapeutin schmunzelte. „Doktor der Medizin war Voraussetzung als Grundstudium<br />

und darauf habe ich meinen Facharzt in Psychiatrie gemacht.“<br />

„Verstehe. Darum könntest du Wunden also versorgen.“<br />

Kelly lachte. „Genau. Sonst hätte das Mitnehmen von Antivenoms wenig Sinn, wenn ich<br />

nicht Spritzen könnte. Das Fachgebiet der Psychiatrie machte ein Medizinstudium erforder-<br />

lich. Zusätzlich musste ich meine Approbation als Therapeutin beantragen.“<br />

Shawn seufzte. „Hört sich kompliziert an.“ Er schwieg eine Weile. „Weißt du, woran ich<br />

die ganze Zeit denken muss?“<br />

Die Therapeutin zuckte die Schultern. „Wenn ich Gedanken lesen könnte, hätte ich mir<br />

das Studium sparen können.“<br />

Der Schauspieler lachte kurz. „Hast Recht. Heute geht mir die ganze Zeit das Andreas-<br />

kreuz und ... naja, die erste Auspeitschung an dem Scheißding durch den Kopf.“<br />

Kelly nickte verstehend. „Das ist nicht ungewöhnlich. Nur, weil wir über manche Situati-<br />

onen gesprochen haben sind sie nicht abgearbeitet. Es wird immer Punkte geben, die dir wie-<br />

der in den Sinn kommen und die dich erneut belasten werden.“<br />

Shawn bewegte sich unbehaglich hin und her. „Ich habe das Gefühl, einige Dinge noch<br />

spüren zu können. Von einer Sekunde zur anderen ist der Gedanke in meinem Kopf und ich<br />

bekomme ihn nicht raus.“<br />

Die Psychologin rutschte dichter an Shawn heran und dieser hob wie ferngesteuert seinen<br />

Kopf, um ihn bei der jungen Frau auf die Oberschenkel zu legen. Ruhig erklärte sie:<br />

444


„Weißt du, Shawn, wenn du solche Gedanken hast, sage es. Rede darüber. Friss es nicht in<br />

dich hinein. Du merkst selbst, dass du die Gedanken nicht los wirst. Ich bin dafür da, dass du<br />

mit mir darüber sprichst. Jederzeit, verstehst du? Darum machen wir das alles hier. Darum bin<br />

ich 24/7 bei dir.“<br />

Shawn nickte, dass konnte Kelly auf ihrem Bein spüren. „Du hast Recht. Es fällt mir noch<br />

etwas schwer ... über die Gefangenschaft zu reden. Abends ist es ein Ritual, aber von selbst ...<br />

Ich werde versuchen, etwas zu sagen, wenn mir was auf der Seele liegt, okay?“<br />

„Dann fange gleich an.“<br />

Shawn seufzte. „Ich denke weniger an die Schmerzen als ... als an das Gefühl, als Carrie ...<br />

als sie meine Hände an das Kreuz fesselte ... Das war ... Es war, als ob sie mich damit zum<br />

Tode verurteilt hätte. Keine Rettung mehr ... Das war ein furchtbarer Augenblick. Und die<br />

Bitch hat ihn genossen. So sehr.“<br />

Kelly konnte Shawns Zittern spüren. Sie unterbrach ihn nicht, sondern ließ ihn weiter re-<br />

den. Der Zusammenhang fehlte, doch das war egal. Wichtig war nur, dass er über seine Ge-<br />

danken und Gefühle sprach.<br />

„Als ... ich das Klicken hörte, mit dem der Karabiner sich schloss ... Ich hätte alles getan,<br />

alles, um dem zu entgehen was ... was sie mir antun wollten. Das Gefühl, dass man bereit ist,<br />

alles zu tun, ist schrecklich. Hinterher hasst man sich dafür. Wie kann man so lange Zeit in<br />

Angst leben? Warum ... warum, verdammt noch mal, schaltet das Gehirn nicht ab? Warum ist<br />

der Mensch so konzipiert, dass er imstande ist, so lange durchzuhalten? Es wäre so viel einfa-<br />

cher, wenn ... wenn wir nicht so lange durchhalten würden.“ Verzweiflung und Wut hielten<br />

sich in Shawns Stimme die Waage. „Es gab so viele Situationen, in denen ich ... Scheiße, ich<br />

wollte mich zusammen reißen, wollte ihnen nicht den Triumph gönnen, mich wieder und wie-<br />

der und wieder zum Schreien zu bringen. Es war so demütigend, da gefesselt herum zu liegen<br />

oder zu stehen oder zu hängen und jedes Mal waren sie am Ende die Sieger. Wie sehr ich<br />

auch versuchte, mich zu beherrschen, wenn sie mich traktierten, oder wenn sie mich befriedi-<br />

gen wollten, immer waren sie die Sieger.“<br />

Kelly hatte still zugehört. Jetzt erklärte sie leise:<br />

„Nein, Shawn, das waren sie nicht. Du sagtest, das mit der Befriedigung klappte später<br />

lange nicht mehr jedes Mal. Also haben sie nicht gesiegt. Ich bin sicher, wenn sie es vergeb-<br />

lich versuchten, dich zum Orgasmus zu kriegen, war das für sie, speziell für Carrie, eine viel<br />

schlimmere Niederlage als für dich, wenn sie dich dazu brachten, vor Schmerzen zu schreien.<br />

Shawn seufzte. „Das war aber nicht ... dazu habe ich nichts beigetragen. Verstehst du?<br />

Nicht ich habe willentlich gesteuert, keinen Orgasmus mehr zu haben ... Mein Körper hat ein-<br />

fach nicht mehr mitgespielt.“<br />

445


Die Therapeutin widersprach. „Das siehst du verkehrt. Es ist ja nicht so, dass unser Körper<br />

vollkommen selbstständig entscheidet, was er gerade macht. Wenn du nach links gehen willst,<br />

kann der Körper nicht entscheiden, nach rechts zu gehen! Du hattest Einfluss auf das, was<br />

geschah.“<br />

Unglücklich schnaufte der Schauspieler: „Warum hatte ich dann nicht von Anfang an die<br />

Kraft, das zu beeinflussen? Warum hat mein verfluchter Schwanz mir nicht gehorcht, wenn<br />

ich ... wenn er nicht ... Er hat gemacht was er wollte. Er hat mich verraten, wieder und wieder.<br />

Sind wir denn wirklich so Testosteron gesteuert?“<br />

Kelly entwich ein kurzes Lachen. „Gott, ja, Shawn, manchmal seid ihr das. Dafür könnt<br />

ihr nicht das Geringste. Ich habe dir erklärt, dass Männer viel empfänglicher sind für sexuelle<br />

Stimulationen als Frauen. Es liegt in eurer Natur. Alles, was Carrie, speziell sie war es ja, die<br />

es geschafft hat, dich zum Orgasmus zu bringen, mit dir gemacht hat, war neu für dich. Neu<br />

ist für deinen Körper gut gewesen, aufregend, erregend, forciert durch die ständige Angst, die<br />

ein starker Reizfaktor war. Also hat dein Penis dich nicht verraten, er hat nur getan, wozu er<br />

von der Natur vorgesehen ist. Du hasst auch nicht deine Barthaare, weil sie die Frechheit be-<br />

sitzen, weiter zu wachsen, egal, wie oft du sie auch abrasiert. Im Übrigen, was denkst du, wä-<br />

re passiert, wenn du imstande gewesen wärest, dich von Anfang an gegen die sexuellen Sti-<br />

muli zu wehren?“<br />

Leise seufzte der junge Mann. „Sie hätten mich viel früher umgebracht ...“<br />

„Du sagst es. Sie hätten schnell die Lust an dir verloren und dich möglicherweise aktiv<br />

umgebracht, statt dich nur zum Sterben zurückzulassen. Einfach, um dich schnell loszuwer-<br />

den. Um das herrliche Versteck weiter nutzen zu können. Somit war es gut, dass du so lange<br />

durchgehalten hast. So war es möglich, dass Brett sich in dich verliebte und aufgrund dessen<br />

deinen Aufenthaltsort an die Polizei weiter gab. Wenn du es so willst, hast du es dem Durch-<br />

haltewillen deines Körpers zu verdanken, dass du heute bei mir bist. Schon weil du noch lebst<br />

solltest du dankbar sein, dass der menschliche Körper bei aller Zerbrechlichkeit unglaublich<br />

lange einiges ertragen kann.“<br />

Shawns rechte Hand spielte unbewusst auf dem Oberschenkel der Therapeutin. Er über-<br />

legte. „Du hast Recht ... Ich wäre mit Sicherheit seit Monaten tot, wenn es nicht geklappt hätte<br />

... Darüber sprachen wir ja bereits ausgiebig. Geht es dir nicht auf die Nerven, wenn ich mich<br />

im Kreis drehe?“<br />

Energisch erklärte Kelly: „Rede keinen Quatsch. Und wenn du mir hundert Mal am Tag<br />

das Gleiche erzählen würdest, es würde mir nicht auf die Nerven gehen. Ich bin für diesen<br />

Zweck da, mir anzuhören, was du zu sagen hast, und nichts, was du je sagen kannst, würde<br />

mich nerven oder langweilen, kapiert?“ Die Psychologin konnte spüren, wie Shawn regelrecht<br />

schrumpfte und die Luft anhielt. Er war nach wie vor empfindlich, was Maßregelungen betraf.<br />

Bei Carrie hätte er sich eine harte Strafe eingefangen.<br />

446


Verängstigt entschuldigte er sich bei Kelly. „Es tut mir leid, okay? Ich wollte nicht ...“<br />

Angesichts der Verunsicherung in seiner Stimme taten der Therapeutin die klaren Worte<br />

leid. Doch sie durfte ihn nicht in Watte packen. So erklärte sie ruhig:<br />

„Hör zu, Shawn, du kannst mich nicht nerven. Du wirst, bevor ich dich entlasse, noch oft<br />

von gleichen Themen sprechen. Das ist ein wichtiger Teil der Therapie. Es geht nicht darum,<br />

einmal von allem zu berichten und damit ist das Thema erledigt. Bestimmte Dinge werden<br />

dich immer und immer wieder beschäftigen und je mehr du drüber sprichst, desto besser wirst<br />

du es verarbeiten können. Das ist der Punkt, warum mir viel daran liegen würde, wenn du<br />

dich in deiner unmittelbaren Umgebung jemandem Anvertrauen würdest. Du wirst Gespräche<br />

über das brauchen, was dir angetan wurde.“<br />

Shawn schüttelte entsetzt den Kopf. „Nein! Niemals! Wie stellst du dir das vor? Soll ich<br />

mit Dad darüber sprechen, wie Alan mir seinem Schwanz in den Hintern gesteckt hat? Oder<br />

mit meiner Mutter, wie Carrie mich mit einem Harnröhrenvibrator zum Orgasmus brachte?<br />

Vergiss es. Wenn du meinst, ich bräuchte jemanden zum Reden, dann bleib bei mir ...“<br />

Die letzten Worte flüsterte er nur noch. Kelly schossen Tränen in die Augen. Mit zittern-<br />

der Stimme sagte sie:<br />

„Du weißt, dass das nicht geht. Egal, wie wir es uns wünschen.“<br />

Abrupt richtete der junge Mann sich auf und stieß hervor: „Ich hau mich hin, mir reicht es<br />

für heute, bin müde.“ Schon war er weg und ins Zelt gekrabbelt.<br />

Kelly saß einen Moment betroffen in der Dunkelheit, bevor sie sich ebenfalls erhob. Lang-<br />

sam schlenderte sie über den dunklen Campingplatz zum Fluss hinunter. Sie setzte sich auf<br />

den Holzsteg und hörte das leise Rauschen des Wassers, die nächtlichen Dschungelgeräusche<br />

und empfand diese als tröstlich und beruhigend. Ohne es zu merken saß sie bis lange nach<br />

Mitternacht dort. Sie ließ ihre Gedanken treiben wie der Fluss vor ihr dahin trieb. Shawns<br />

Worte hatten ihr erneut klar gemacht, in welch verfahrener Situation sie steckten. Sie liebten<br />

sich, wussten aber beide, dass es kein Happy End geben würde. Kelly war nach wie vor fest<br />

entschlossen, Shawn erst einmal fortzuschicken. Zwar war sie sicher, dass er sie liebte, den-<br />

noch musste er in sein Leben zurückkehren. Er musste die Möglichkeit haben, fern von ihr,<br />

freie Entscheidungen zu treffen. Er durfte nicht mehr unter ihrem Einfluss stehen, wenn er<br />

entscheiden musste, wie er sein zukünftiges Leben gestalten wollte. Das konnte er nur ohne<br />

sie planen. Kelly wollte, dass er sich weit weg von ihr entschied. Nach einiger Zeit stemmte<br />

die Psychologin sich mühsam und etwas steif vom langen sitzen auf die Füße. Sie war zum<br />

Umfallen müde. Minuten später hatte sie ihr Lager erreicht, stellte fest, dass es im Zelt ziem-<br />

lich warm war, zog ihren Schlafsack leise heraus und legte diesen auf die Matte vor dem Zelt.<br />

Es war ungewohnt, draußen zu liegen, aber trotzdem gelang es der jungen Frau schnell, einzu-<br />

schlafen.<br />

447


37) Bekenntnisse<br />

Wenn die Liebe zu stark wird, bringt sie dem Mann keine Ehre ein, sondern<br />

nur Schmerzen.<br />

Euripides<br />

Shawn wachte auf, weil es warm im Zelt war. Dösig rollte er sich zu Kelly herum und war<br />

schlagartig hellwach. Da war kein Schlafsack und keine Kelly neben ihm! Erschrocken fuhr<br />

er in die Höhe und turnte eilig aus dem Zelt hinaus. Er sah sofort den Schlafsack draußen am<br />

Boden liegen. Doch auch hier war nichts von Kelly zu sehen. Kaffee war nicht vorbereitet,<br />

nichts deutete darauf hin, dass die Therapeutin wach war. Wo also steckte sie? Warum hatte<br />

sie nicht im Zelt geschlafen? Hektisch sah der Schauspieler sich um. Keine Spur von Kelly.<br />

Überzeugt, sie mit seinem unbedachten Satz am vergangenen Abend in die Flucht geschlagen<br />

zu haben, sank der junge Mann verzweifelt auf die Matte vor dem Zelt nieder. Er fuhr sich mit<br />

beiden Händen durchs Haar und schnaufte resigniert. Hatte er alles zerstört? Er konnte nicht<br />

glauben, dass Kelly sich wegen dieser paar Worte zurückgezogen hatte. Ohne es bewusst zu<br />

merken, steigerte er sich in eine ausgewachsene Panik hinein. Unglücklich sah er sich noch<br />

einmal um. Leise flüsterte er:<br />

„Bitte!“ In seinen grünen Augen war nur noch nackte Angst zu erkennen. Verzweifelt zog<br />

er die Beine an den Körper, legte die Arme auf seine Knie und vergrub das Gesicht in ihnen.<br />

*****<br />

Kelly hatte schlecht geschlafen und war früh aufgewacht. Sie hatte einen kleinen Spazier-<br />

gang gemacht und war auf dem Rückweg in den Store marschiert. Dort besorgte sie eine<br />

Thermoskanne voll Kaffee sowie frische Sandwiches mit Käse, Eiern, Schinken, Salat und<br />

Tomaten. Die nette Verkäuferin gab ihr einen der Einkaufskörbe mit, damit Kelly die Sachen<br />

bequem zum Zeltplatz tragen konnte. Vergnügt und guter Dinge machte die Therapeutin sich<br />

auf den Rückweg. Shawn würde sich über richtigen Kaffee freuen und sie wollte ihn damit<br />

und mit den frischen Sandwiches überraschen. Als sie zwischen zwei Büschen hindurch ihr<br />

Zelt ausmachen konnte, erschrak sie. Shawn saß vor dem Zelt, hatte den Kopf in seinen Ar-<br />

men vergraben und selbst von weitem konnte Kelly sehen, dass seine Schultern zuckten.<br />

Schnell eilte sie die letzten Schritte zu ihrem Lager hinüber, stellte hastig den Korb ab und<br />

kniete sich neben Shawn.<br />

„Shawn? Was ist ...“<br />

Weiter kam sie nicht. Shawn riss den Kopf hoch und zog sie so heftig an sich, dass Kelly<br />

erschrocken aufkeuchte.<br />

448


„Was ist denn los?“, fragte sie besorgt und verwirrt. Sie strich Shawn sanft über den Rü-<br />

cken und fragte noch einmal: „Shawn, was ist?“<br />

Es dauerte noch eine Weile, bevor der Schauspieler sich so weit gefangen hatte, dass er<br />

hervor stottern konnte: „Ich dachte ... ich hatte Angst, dass du ... weg bist ... Ich ... ich dachte,<br />

du bist weg!“<br />

Betroffen zog die Psychologin den jungen Mann fest an sich und sagte sanft: „Aber<br />

Shawn, wie kommst du denn auf solche Ideen? Ich gehe doch nicht weg!“<br />

„Dein Schlafsack war weg und ... und du warst nicht ... Ich wollte dich nicht verärgern.<br />

Sei mir bitte nicht mehr böse. Ich ...“ Verzweifelt brach Shawn ab.<br />

„Ich bin dir nicht böse. Ich habe uns Frühstück besorgt. Bitte, beruhige dich. Ich bin doch<br />

bei dir.“<br />

Shawn hob das tränenüberströmte Gesicht und stieß hervor: „Du hast nicht im Zelt ge-<br />

schlafen. Du musst sauer sein. Du hast hier draußen ...“<br />

Sanft unterbrach Kelly den Schauspieler. „Shawn, beruhige dich bitte. Ja, ich habe hier<br />

draußen geschlafen, weil es mir im Zelt zu warm war. Ich war dann früh wach, weil es hier<br />

draußen zu hell war. Ich habe einen Spaziergang gemacht und auf dem Rückweg frischen<br />

Kaffee und Sandwiches aus dem Store besorgt. Ich bin dir nicht böse und erst Recht nicht<br />

sauer. Wie kommst du nur darauf?“<br />

Shawn hörte angespannt zu und beruhigte sich langsam. „Weil ich gestern Abend diese<br />

blöden Worte von mir gegeben habe ...“<br />

Kelly schüttelte mitleidig den Kopf. „Oh, Baby, bitte. Du musst unbedingt realisieren,<br />

dass ich nicht Carrie bin. Ich bin nicht bei jeder Gelegenheit sauer auf dich. Ich war es noch<br />

nie und werde es nie sein, verstehst du? Du kannst alles zu mir sagen, was dir durch den Kopf<br />

geht. Egal, was es ist. Sicher kann es passieren, dass ich betroffen oder schockiert bin, ich bin<br />

ja keine Maschine, aber ich bin dir nie böse. Verstehst du das?“<br />

Shawn atmete tief durch und nickte langsam. „Okay ... Ich werde versuchen, das nicht nur<br />

zu verstehen, sondern zu ... glauben. Carrie hat mich ... Sie hat mich bestraft, wenn ich nur<br />

falsch geguckt habe ... Das steckt noch viel zu tief in mir, Kelly. Ich denke jedes Mal, ich hät-<br />

te dich genervt und verärgert ... Das kann ich nicht einfach abschalten.“<br />

Kelly strich dem jungen Mann sanft mit den Fingern über die Wangen, um die Tränen<br />

fortzuwischen. Verlegen ließ er es zu.<br />

„Das ist mir klar, aber du musst da dran arbeiten, verstehst du? Deine Angst, etwas falsch<br />

zu machen bremst dich aus. Du bist viel zu sehr darauf bedacht, das Richtige zu sagen, als<br />

dass du alles, was dich bewegt, aus dir heraus lassen könntest. Das ist jedoch unendlich wich-<br />

tig. Du wirst damit Leben müssen, dass ich mal betroffen oder schockiert reagieren werde,<br />

449


aber du musst mir bitte, bitte glauben, dass ich nie wütend oder verärgert sein werde, egal,<br />

was du sagst!“<br />

Shawn seufzte. „Okay.“ Er atmete noch einmal tief durch, bevor er fragte: „Du sagtest was<br />

von Frühstück?“<br />

Kelly lächelte. Sie drückte Shawn noch einmal an sich und spürte, dass er noch verspannt<br />

war. Ruhig erklärte sie: „Ja, wir werden frühstücken und anschließend eine schöne Wande-<br />

rung machen, einverstanden?“ Shawn nickte.<br />

Eine Stunde später war das Zelt abgebaut und der Platz aufgeräumt. Alles, was sie benö-<br />

tigten war in die großen Rucksäcke verstaut worden, die Kelly mitgenommen hatte. Sie hatte<br />

darauf geachtet, dass das Gewicht gleichmäßig verteilt war. Ihr eigener Rucksack war perfekt<br />

eingestellt, nirgends drücke oder scheuerte etwas. Bei Shawn kontrollierte sie den Sitz und<br />

zog hier und da die Gurte etwas nach.<br />

„Wenn du ein drücken oder scheuern spürst, sag bescheid, verstanden. Es wäre schade,<br />

wenn du wunde Stellen kriegen würdest.“<br />

Shawn war während des Frühstücks und des Zusammenpackens still gewesen. Auch jetzt<br />

nickte er nur. Kelly beschloss, vorerst nichts zu sagen.<br />

„Na, dann wollen wir mal Starten. Es wird dir gefallen. Erst einmal müssen wir da rauf.“<br />

Sie deutete nach rechts. Shawn blickte die Felswand hoch. Er nickte abermals nur und Kelly<br />

biss sich auf die Lippe, um nichts zu sagen.<br />

„Gut, auf geht’s.“ Sie stapfte los, von Shawn gefolgt. Ein baumgesäumter Wanderweg<br />

führte zeitweise steil bergan. Sie gingen gemütlich, teilten sich ihre Kräfte vernünftig ein.<br />

Shawn hatte keine Probleme, er war deutlich fitter als er selbst dachte. Gute zwei Stunden<br />

marschierten sie, in denen der Schauspieler kein Wort sagte. Einmal machte Kelly ihn auf<br />

einen wunderschönen Pennantsittich aufmerksam, der fotogen auf einem Ast knapp über Au-<br />

genhöhe saß. Shawn nahm sofort seine Kamera in die Hand und machte einige Fotos, bevor<br />

der hübsche blaurote Sittich genug hatte und davon flog.<br />

Bald wurde der Weg ebener und sie hatten es geschafft. Hier oben auf dem Plateau waren<br />

nur noch wenige Bäume, die Schatten spenden konnten und so wurde es deutlich wärmer.<br />

Shawn schwieg weiter und Kelly hätte gerne gefragt, was los war. Sie beherrschte sich aller-<br />

dings und wartete ab. Sie wollte ihn zum einen nicht drängen, zum anderen hatte sie das Ge-<br />

fühl, sein Schweigen hätte einen tieferen Grund. Und das wollte sie auf keinem Fall beim<br />

Laufen besprechen. So marschierte sie weiter voran und sah sich suchend um, ob sie etwas<br />

entdeckte, dass ein Foto wert gewesen wäre. Derzeit hielten sich scheinbar alle Tiere des Na-<br />

tionalparks versteckt. Nach einer weiteren Stunde erreichten sie die steile Kante zum Katheri-<br />

ne River.<br />

450


„Lass uns hier einen Moment rasten, was meinst du?“, fragte die Therapeutin und erntete<br />

wieder nur ein Nicken. Shawn war froh, den schweren Rucksack für eine Weile ablegen zu<br />

können. Er griff nach seiner Wasserflasche und nahm einige tiefe Schlucke. Dann trat er vor-<br />

sichtig an die steile Klippe und schaute fasziniert in die Tiefe.<br />

„Eine unglaubliche Aussicht!“, meinte er begeistert. Er setzte sich auf den Boden und be-<br />

obachtete still den Katherine River, der gute 70 Meter unter ihm träge sein Wasser durch die<br />

Gorge schob. Kelly setzte sich neben ihn, ließ den Schauspieler aber in Frieden. Etwas be-<br />

drückte diesen, trotzdem wollte die Psychologin, dass er von selbst anfing zu Sprechen.<br />

Nach einer Stunde erklärte sie: „Wir sollten weiter gehen, es gibt noch mehr wundervolle<br />

Aussichtspunkte.“<br />

Shawn erhob sich und schnappte sich seinen Rucksack. Er schloss den Bauchgurt und Kel-<br />

ly fragte ruhig:<br />

„Sitzt er gut?“<br />

„Ja, kein Problem.“<br />

„Gut, dann lass uns mal weiter marschieren.“<br />

Sie hielten sich an den Rand der Klippen und liefen in der recht warmen Sonne gute 2,5<br />

Kilometer, von kurzen Fotostopps unterbrochen, voran. Je nach Lichteinfall schimmerte das<br />

Wasser unter ihnen mal blau, mal graubraun. Am Himmel zogen vereinzelt Wolkenfelder<br />

vorbei, die das Wandern ohne den Schatten von Bäumen zeitweise etwas angenehmer mach-<br />

ten. Da es sich auf den Felsen hier oben recht gut gehen ließ, kamen sie schnell voran. Später<br />

mussten sie den Flusslauf erst einmal verlassen, weil sie zu einer Spalte kamen, die sie nicht<br />

überqueren konnten.<br />

„Es gibt nur die Möglichkeit, der Spalte zu folgen, bis sie sich tot läuft, anders kommen<br />

wir nicht hinüber. Gute 1,5 Kilometer, nicht zu ändern.“, erläuterte Kelly und Shawn zuckte<br />

die Schultern.<br />

„Kein Problem.“<br />

Sie erreichten die Stelle, an der der Spalt sich so verjüngt hatte, dass sie mit etwas Krabbe-<br />

lei auf die andere Seite gelangen konnten. Schwitzend und außer Atem schafften sie es. Sie<br />

mussten sich noch ein Stück von der Spalte weg bewegen, denn diese hatte im Laufe der Jahr-<br />

tausende kleine seitliche Rissen entwickelt, die sie ebenfalls umgehen mussten. Shawn mar-<br />

schierte unverdrossen dahin, er zeigte keine Müdigkeit oder Erschöpfung.<br />

„Du bist viel besser in Form als du dachtest.“, meine Kelly anerkennend.<br />

Shawn nickte. „Sieht so aus.“ Er blieb stehen und deutete auf einen kleinen Igel, den er<br />

zwischen niedrigem Buschwerk und Steinen gesichtete hatte.<br />

Kelly erklärte: „Das ist ein Schnabeligel oder Echidna. Die kleinen Gesellen gehören zu<br />

den Beuteltieren. Das Weibchen legt drei bis vier Wochen nach der Paarung ein bis zwei Eier,<br />

451


die es unmittelbar nach der Ablage in seinen Beutel befördert. Dort werden diese zehn Tage<br />

lang ausgebrütet. Nach dem Schlüpfen sind sie zirka 15 Millimeter groß, nackt und blind. Sie<br />

hängen sich an die Zitzen der Mutter und bleiben dort ungefähr acht Wochen. Dann werden<br />

sie der Mama zu pieksig und müssen den Beutel verlassen. Die Mama legt sie sicher in einem<br />

Bau ab und besucht sie alle fünf bis zehn Tage, um sie zu Säugen. Mit zehn Wochen öffnen<br />

sie die Augen. Sie sind dann ungefähr 25 Zentimeter groß. Sie werden weiter betreut, bis zu<br />

sieben Monate lang. Dann sind sie ausgewachsen und verlassen die Mutter.“<br />

Sie beobachteten das possierliche Tierchen eine Weile. Schließlich marschierten sie wei-<br />

ter. Nach weiteren zwei anstrengenden Stunden, in denen sie immer wieder durch kleinere<br />

Spalten steigen mussten, erreichten sie den Fluss.<br />

„Ich denke, für heute reicht es.“, erklärte Kelly erschöpft und Shawn nickte zustimmend.<br />

Langsam wurde sein Schweigen drückend. Kelly musste sich zwingen, nichts zu sagen.<br />

„Wir sollten uns eine Stelle suchen, an der wir übernachten können. Hier ist es schwierig,<br />

das Zelt aufzustellen, da wir die Haken nicht in den Fels schlagen können.“ Sie hatten Glück,<br />

ein kleines Stück weiter hatte sich eine Senke gebildet, die sich im Laufe der Zeit mit Erde<br />

gefüllt hatte. Es gab hier Bäume und Büsche, sowie verdorrtes Gras. „Hier wird es gehen.“,<br />

meinte Kelly zufrieden.<br />

Kurze Zeit später stand das Zelt und die Psychologin entzündete den kleinen Gaskocher.<br />

Schnell machte sie Wasser heiß und bereitete zwei Becher Kaffee. Shawn hatte es sich auf<br />

seiner Sitzmatte bequem gemacht. Er trank den heißen Kaffee und sah gedankenverloren auf<br />

den Boden vor sich. Kelly schüttelte frustriert den Kopf. Warum brachte der junge Mann<br />

nicht den Mut auf, auszusprechen, was ihn so bedrückte? Lange wollte sie sich sein Schwei-<br />

gen nicht mehr anschauen. Dann würde sie etwas sagen. Die Psychologin hoffte jedoch, dass<br />

Shawn von sich aus anfangen würde zu Reden.<br />

Sie zuckte zusammen, als genau das passierte. „Danke.“<br />

Verwirrt sah Kelly den Schauspieler an. „Wofür?“<br />

„Dass du mich ... heute in Ruhe gelassen hast. Ich ... ich ... ich komme mir so blöde vor.“<br />

Verzweifelt ließ er den Kopf hängen. Kelly rutschte neben Shawn und fragte sanft:<br />

„Warum?“<br />

Shawn brauchte ein paar Anläufe, um weiter sprechen zu können. Endlich raffte er seinen<br />

Mut zusammen und stieß hervor: „Du musst mich für das letzte Weichei halten. Für den größ-<br />

ten Jammerlappen in ganz Australien.“<br />

Schockiert fragte Kelly: „Warum sollte ich das tun?“<br />

Der Schauspieler stöhnte unglücklich auf. „Seit ich bei dir bin heule ich dir die Ohren voll.<br />

Ich habe in meinem ganzen vorherigen Leben nicht mal ansatzweise so viel geflennt wie hier<br />

in den letzten Wochen.“<br />

452


Kelly musste erst einmal verarbeiten, was sie da gerade zu hören bekam. Endlich fragte sie<br />

fassungslos:<br />

„Was denkst du, auf welche Art Männer ich stehe?“<br />

Shawn sah kurz zu ihr auf, bevor er den Blick gen Boden senkte. „Na, offensichtlich nicht<br />

auf diese Art. Das ist doch der Grund, der eigentliche Grund, warum du mich ... mich fort-<br />

schicken willst!“<br />

Kelly war einen Moment sprachlos. Mühsam beherrscht sagte sie endlich: „Zuerst einmal,<br />

Shawn, ich will dich nicht fortschicken, damit das ein für alle Mal klar ist. Von Willen kann<br />

schon lange keine Rede mehr sein. Wenn es nach meinem Willen gehen würde, hätte ich dich<br />

bereits in mich aufgesaugt, um dich nie wieder weg zu lassen, nie wieder zuzulassen, dass<br />

jemand dir wehtut. Es geht hier nicht um das, was wir wollen. Ich bin deine Therapeutin und<br />

als solche muss ich dich gehen lassen. Ich werde dir nie im Wege stehen, wieder ein normales<br />

Leben aufzunehmen. Wenn wir uns auf etwas einlassen würden, käme der Tag, an dem du<br />

merken würdest, dass du dich nur in eine Vorstellung verrannt hast. Wenn du die Therapie<br />

hinter dich gebracht hast, wirst du stärker sein als vorher und dir werden alle Möglichkeiten<br />

offen stehen, Shawn. Die werde ich dir bestimmt nicht verbauen. Zu deiner Befürchtung ...<br />

Ich habe nie auf Machos gestanden und das werde ich nie. Ich bin nicht in der Vorstellung<br />

groß geworden, dass ein Mann keine Gefühle zeigen darf. Was du erlebt hast, reicht locker,<br />

um den stärksten Mann zu brechen. Und zwar für immer. Du wurdest nicht gebrochen, weil<br />

du unglaublich stark bist. Du bist alles andere, nur kein Weichei und erst recht kein Jammer-<br />

lappen. Was denkst du bloß, wie andere solche Erfahrungen wegstecken würden? Mit einem<br />

fröhlichen Pfeifen auf den Lippen? Du hast jedes Recht zu weinen, verzweifelt zu sein, voll<br />

Hass, jedes Recht!“ Erschöpft schwieg die junge Frau.<br />

Shawn hockte zusammengesunken neben ihr und schwieg einen Moment. Traurig fragte<br />

er: „Du hältst mich nicht für eine Waschlappen?“<br />

Kelly legte dem Schauspieler einen Arm um die Taille und schüttelte den Kopf. Ihre<br />

Stimme zitterte, als sie erwiderte: „Shawn, ich halte dich für einen der stärksten Menschen,<br />

die mir je begegnet sind. Jede intelligente Frau wäre stolz, dich an ihrer Seite zu haben. Du<br />

darfst nicht denken, dass wir nur auf knallharte Kerle ohne Gefühlsregungen stehen. Gefühle<br />

auszudrücken, egal, in welcher Form, ist nicht unmännlich. Im Gegenteil, jeder Mann, der<br />

dazu in der Lage ist, beweist mehr Mut als alle Machos zusammen.“<br />

Frau?“<br />

Bedrückt wollte der Schauspieler wissen: „Ist das deine Meinung als Therapeutin oder als<br />

„Da mache ich keine Unterschiede, ich trenne mich nicht in Psychologin/Frau.“<br />

„Wenn du mich unter anderen Umständen kennen gelernt hättest ...“<br />

„Hätte ich mich ebenfalls in dich verliebt.“<br />

453


Shawn seufzte. „Aber dann wäre nichts zwischen uns.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs<br />

Haar. „Ich hatte dir versprochen, nicht mehr davon anzufangen ...“<br />

Die Therapeutin schüttelte sachte den Kopf. „Das macht nichts, ich weiß, dass es dich ext-<br />

rem belastet. Ich habe dir versprochen, dass es nicht zwangsläufig das Ende bedeuten muss,<br />

wenn du erst einmal nach Florida zurückkehrst. Wir machen nur eine Pause von einander.<br />

Dann wird sich zeigen, wie stark die Gefühle sind, die wir füreinander haben oder ... von<br />

denen wir im Moment denken, sie füreinander zu haben. Eine Beziehung aus einer solchen<br />

Situation heraus anzufangen kann nur in einem Desaster enden, Shawn. Wir müssen beide<br />

weit entfernt von einander den Kopf frei kriegen, müssen uns über unsere Gefühle unabhän-<br />

gig voneinander klar werden. Du bist im Augenblick hoffnungslos verwirrt, verängstigt, an-<br />

greifbar. Du hast gar keine andere Wahl, als zu denken, du würdest mich lieben, verstehst du?<br />

Ich bin gerade dein einziger Halt, dein Rettungsanker, ich bin da, wenn du Hilfe und Trost<br />

brauchst. Du bist in einer Weise abhängig von mir, die ich nicht ausnutzen darf. Ich weiß, du<br />

wirst es abstreiten, aber ich bin sicher, wenn du die Therapie geschafft hast und zuhause bist,<br />

wirst du schnell merken, dass die vermeintliche Liebe, die du empfindest nicht hält, was sie<br />

verspricht. Wenn du uns eine Chance geben willst, wirst du zuhause überdenken und ergrün-<br />

den, was du für mich empfindest. Wenn genügend Zeit vergangen ist, du Abstand gewonnen<br />

hast und dir dein normales Leben mit deiner Familie und deinen Freunden, die dich vermis-<br />

sen, wieder aufgebaut hast, wirst du merken, was unterm Strich übrig bleibt. Dann werden wir<br />

sehen, wie es weiter gehen könnte, okay?“<br />

Shawn lauschte still der langen Erklärung Kellys. Müde nickte er. Resigniert erklärte er:<br />

„Was anderes bleibt mir ja nicht übrig. Ich muss akzeptieren was du beschließt. Ich habe das<br />

Gefühl, mein Leben ist nur noch von den Entscheidungen anderer abhängig. Ich habe seit dem<br />

16. Januar keinerlei Kontrolle mehr über mein Leben ... Ich bin ständig gezwungen, die Ent-<br />

scheidungen anderer zu akzeptieren. Ich habe nichts mehr selbst in der Hand, verdammt noch<br />

mal! Ich kann und mag nicht mehr, verstehst du? Fünf lange Monate war ich den Launen und<br />

der Gnade von Psychopathen ausgesetzt, ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und jetzt<br />

bestimmst du über mein Leben ... Ich komme mir teilweise wie ein unmündiges Kind vor,<br />

dem man vorbeten muss, wann es was zu tun oder zu lassen hat. Was Carrie auf ihre unnach-<br />

ahmliche Art so präzise geschafft hat, setzt sich jetzt fort. Ich habe keine Handlungsfreiheit,<br />

keinen Spielraum, kann nichts für mich entscheiden. Du billigst mir nicht einmal zu, meine<br />

Gefühle für dich richtig einschätzen zu können. Obwohl du behauptest, mich für stark zu hal-<br />

ten. Nicht für stark genug offensichtlich!“ Shawns Stimme war lauter geworden. Die letzten<br />

Worte schrie er fast hinaus. Er sprang auf die Füße und stapfte im Laufschritt davon, Richtung<br />

Fluss.<br />

454


Kelly war einen Augenblick sprachlos. Diesen Verlauf des Gespräches hatte sie nicht er-<br />

wartet. Shawn fühlte sich regelrecht entmündigt. Er hatte scheinbar das Gefühl, bei ihr vom<br />

Regen in die Traufe geraten zu sein. Andererseits hatte die Psychologin schon mehrfach ge-<br />

merkt, dass der junge Mann ein Meister darin war, Gründe vorzuschieben. Sie durfte ihn nicht<br />

so davon kommen lassen. Also sprang sie ebenfalls auf die Füße und rannte dem Schauspieler<br />

hinterher. Als sie ihn einholte griff sie nach seinem linken Arm und hielt ihn fest.<br />

„Shawn! Bleib bitte stehen. Renn nicht davon.“<br />

Sie versuchte, ihn herumzuziehen. Doch der Schauspieler riss sich so heftig los, dass Kelly<br />

aus dem Gleichgewicht geriet. Erschrocken taumelte sie und verlor den Halt. Bevor sie richtig<br />

begriff, was geschah, stürzte sie hart auf den felsigen Boden. Sie schaffte es nicht mehr, sich<br />

abzufangen und prallte mit dem Hinterkopf auf eine Erhebung im Fels. Augenblicklich wurde<br />

es schwarz um sie ...<br />

*****<br />

Shawn wusste im Grunde, dass er Kelly Unrecht tat. Aber in seiner Verzweiflung war er<br />

nicht mehr fähig, rational zu denken. Er wusste, dass seine Gefühle echt waren und er wollte<br />

im Augenblick nichts anderes als Kelly. Er hatte nie zuvor etwas derartiges bei seinen Partne-<br />

rinnen gespürt. Und sie glaubte ihm nicht. Als er Schritte hinter sich hörte, wollte er schneller<br />

werden, doch schon fühlte er eine Hand an seinem Arm. Energisch riss er sich los und er-<br />

schrak zutiefst, als er aus dem Augenwinkel sah, dass Kelly durch seine heftige Bewegung<br />

aus dem Gleichgewicht kam und stürzte. Er sah ihre erschrocken aufgerissenen Augen, sah,<br />

wie sie mit dem Hinterkopf unglücklich auf den Boden prallte und schrie panisch auf.<br />

„Kelly!“ Er warf sich neben der jungen Frau auf die Knie und hob sie vorsichtig an. „Kel-<br />

ly, bitte! Es tut mir so leid!“ Hilflos saß er da und wusste nicht, was er machen sollte. Er war<br />

vor Schreck wie paralysiert. Endlich dämmerte ihm, dass er die Psychologin ins Lager brin-<br />

gen musste. Er hob die junge Frau vorsichtig auf und trug sie eilig zum Zelt zurück. Sanft<br />

legte er sie auf die Sitzmatte und riss eine Wasserflasche aus dem Rucksack. Er tränkte ein<br />

kleines Handtuch mit Wasser und presste dies sanft auf Kellys Hinterkopf.<br />

„Bitte, Süße, tu mir das nicht an. Wach bitte auf. Bitte. Es tut mir so leid, das war meine<br />

schuld! Lieber Gott, mach dass sie aufwacht.“ Tränen stürzten ihm über die Wangen und er<br />

zog die junge Frau heftig an sich. Er war kurz vor einer ausgewachsenen Panik. Was sollte er<br />

nur tun? War sie schwer verletzt? Woher sollte er hier Hilfe bekommen?<br />

*****<br />

Kelly kam zu sich. Ihr Schädel brummte und sie hatte das Gefühl, sich nicht bewegen zu<br />

können. Schnell merkte sie, woher dieses Gefühl rührte. Sie lag in Shawns Armen und er hielt<br />

455


sie so fest, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie hörte den Schauspieler heftig schluchzen<br />

und stöhnte:<br />

„Schatz, alles ...“ Weiter kam sie nicht. Shawn war bei ihren Worten heftig zusammenge-<br />

zuckt und riss den Kopf, den er an Kellys Schulter vergraben hatte, in die Höhe.<br />

„Kelly ... Oh Gott. Wie ... wie fühlst du ... Gott, es tut mir so leid ...“ Shawn presste Kelly<br />

noch immer an sich als wolle er sie nie mehr loslassen. Seine Lippen küssten ihr Gesicht, ihre<br />

Augen, Stirn, Wangen, alles, was er erreichen konnte. Die junge Frau war bemüht, klar zu<br />

werden. Ihr Kopf pochte. Das würde eine hübsche Beule geben. Sie spürte, dass weiter nichts<br />

passiert war. Allmählich wurde sie klarer.<br />

„Shawn, bitte, es geht mir gut. Das wird eine Beule, das ist alles. Beruhige dich. Es geht<br />

mir gut. Das war nicht deine Schuld, du kannst nichts dafür, wenn ich zu blöde bin, gerade<br />

aus zu laufen.“<br />

Verzweifelt keuchte der Schauspieler: „Natürlich war das meine Schuld. Du bist nur ge-<br />

stürzt, weil ...“<br />

„Weil ich zu blöde zum Laufen bin. Hör auf, dir Vorwürfe zu machen!“ Energisch fuhr<br />

Kelly ihm in den Satz. Shawn hob das tränenfeuchte Gesicht und sah sie hoffnungslos an.<br />

Und dann passierte es wie von selbst. Ohne noch Einfluss darauf nehmen zu können, zog Kel-<br />

ly seinen Kopf zu sich herunter und schon lagen ihre Lippen auf seinen. Und das taten sie<br />

lange.<br />

Erst Minuten später lösten sie sich atemlos voneinander und sahen sich an. Grüne Augen<br />

versanken in braunen Augen. Kelly schüttelte den Kopf. Leise sagte sie:<br />

„Das ist nicht gut ...“<br />

Doch schon zog sie Shawn abermals an sich. Und dieser hatte das Gefühl, vor Glückselig-<br />

keit meterhoch über dem Boden zu schweben. Er drückte Kelly an sich und diese seufzte<br />

wohlig. Schweren Herzens lösten sie sich erneut voneinander. Die Psychologin setzte sich<br />

vorsichtig etwas auf und tastete nach ihrem Hinterkopf. Shawn bemerkte die Bewegung und<br />

stöhnte verzweifelt auf.<br />

„Wie fühlst du dich? Wie geht es deinem Kopf?“ Er fühlte sich schrecklich. Schuldgefühle<br />

an dem kleinen Unfall schüttelten ihn innerlich durch. Kelly seufzte.<br />

„Shawn, es geht mir gut. Ich habe eine Beule und werde vielleicht ein, zwei Tage Kopf-<br />

schmerzen haben, das ist alles. Höre bitte auf, dir Vorwürfe zu machen, okay.“ Sie setzte sich<br />

entschlossen auf und griff nach der Wasserflasche, die in Reichweite stand. Nach einem tiefen<br />

Schluck sah sie Shawn beruhigend an. Sie bewegte den Kopf hin und her. „Siehst du? Mir ist<br />

nicht schwindelig, nicht übel, ich sehe keine Sterne und nicht doppelt, obwohl zwei von dir<br />

nicht schlecht wären. Es geht mir gut. Ich habe einen harten Schädel, dem passiert so schnell<br />

nichts.“<br />

„Bist du sicher?“<br />

456


Kelly nickte überzeugt. „Absolut! Bitte, Schatz, ich ... ich muss wissen, ob du das, was du<br />

sagtest, ernst gemeint hast. Fühlst du dich ... bevormundet?“<br />

Einen Moment schwieg Shawn betreten, bevor er zaghaft nickte. „Ja, es ist ...“ Er wand<br />

sich verlegen, doch Kelly forderte ihn energisch auf:<br />

„Bitte, ich muss das wissen, Shawn.“<br />

Ergeben seufzte der junge Mann und nickte. „Ja. Es liegt nicht ... weniger an dir als an der<br />

beschissenen Situation. Verstehst du? Bei Carrie konnte ich fünf Monate lang nicht einmal<br />

selbst entscheiden, auf die Toilette zu gehen. Ich musste sie fragen, ob ich kommen durfte ...<br />

Ich musste darum bitten, aufs Klos gehen zu dürfen ... Ich durfte nichts entscheiden, konnte<br />

nichts entscheiden. Alles wurde von anderen bestimmt. Und nun ... Du billigst mir nicht ein-<br />

mal zu, meine Gefühle richtig einzuschätzen. Es ist nicht nur das. Du meinst es nicht wie Car-<br />

rie, das ist mir klar, aber auch du bestimmst in gewisser Weise gerade mein Leben. Das war<br />

heute ... Es ist nicht deine Schuld, aber ich fühle mich noch immer wie gefangen. Gefangen in<br />

meinen Emotionen, ausgeliefert und hilflos. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Das<br />

heute war ... Ich bin verängstigt, verwirrt und angreifbar, da hast du Recht. Aber ich bin in der<br />

Lage, Entscheidungen zu treffen und ich bin in der Lage, meine Gefühle eigenständig einzu-<br />

ordnen. Verstehe mich bitte nicht falsch, doch ich brauche niemanden, der mir sagt, was ich<br />

wie fühle. Ich weiß das selbst. Ich weiß, dass ich dich liebe und dass meine Gefühle für dich<br />

echt sind. Mir ist absolut klar, dass ich unendliche Dankbarkeit empfinde. Und dass ich im<br />

Augenblick stark abhängig von dir bin. Du bist im Moment der wichtigste Halt in meinem<br />

Leben. Aber ich bin in der Lage, zu differenzieren, verstehst du? Was Dankbarkeit ist und<br />

was darüber hinaus geht. Ich habe Angst, dass du mir keine klare Entscheidung zutraust. Ich<br />

bin kein hirnloser Trottel, dem man erklären muss, was er fühlt. Du nimmst mich nicht als<br />

Mann wahr, ich bin nur ein Patient für dich, der dumm genug ist, Dankbarkeit für Liebe zu<br />

halten.“<br />

Kelly lauschte mehr und mehr geschockt Shawns Worten. Als der Schauspieler unglück-<br />

lich verstummte erklärte sie erschüttert:<br />

„Shawn, es tut mir unsagbar leid, wenn ich dir dieses Gefühl vermittelt habe. Das war<br />

nicht meine Absicht. Ich ... ich weiß nicht, wie ich ... Ich habe seit der Sache mit dem Taipan<br />

gemerkt, dass ich für dich viel mehr empfinde als gut ist. Als die Schlange da hinter dir auf<br />

dem Stein drohte, dich anzugreifen, habe ich vor Angst fast den Verstand verloren! Ich durfte<br />

das nicht zulassen, verstehst du? Du bist im gesetzlichen Sinne mein Schutzbefohlener. Wenn<br />

ich meine Gefühle für dich zugelassen hätte, wäre ich gezwungen gewesen, dich an einen<br />

Kollegen zu überweisen. Zu dem Zeitpunkt wäre das das Ende der Therapie gewesen, du hät-<br />

test einen Wechsel nicht verkraftet. So war ich gezwungen, die Gefühle, die sich entwickel-<br />

ten, abzuwürgen. Ich war sicher, meine in den Griff zu bekommen. Deine Gefühle für mich ...<br />

457


Es gibt da dieses Krankenschwester-Syndrom, Männer sind deutlich anfälliger dafür als Frau-<br />

en. Wenn ihr schwer krank oder verletzt seid, ist ein Part eures Gehirns darauf programmiert,<br />

zu denken, ihr würdet für die Frauen, die euch pflegen, helfen, Liebe empfinden. Das war für<br />

mich der einfachste Weg, deine Gefühle zu erklären, dir klar zu machen, dass sie nicht echt<br />

sind. Ich wollte dir mit der Erklärung nicht absprechen, zwischen Liebe und Dankbarkeit un-<br />

terscheiden zu können. Ich weiß besser als du selbst, dass du in der Lage bist, Gefühle klar<br />

einzuordnen. Und denke bitte nicht, ich würde dich nicht als Mann sehen, Shawn. Ich sehe<br />

dich schon viel zu lange viel zu intensiv als Mann. Es wäre besser, ich würde dich mehr als<br />

Patienten sehen. Wir müssen einen Weg finden, wie es weiter gehen soll, gemeinsam. Denn<br />

es ist nach wie vor so, dass ich mich während die Therapie andauert, auf nichts einlassen wer-<br />

de. Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine ist, wir geben unseren Gefühlen nach, dann werde<br />

ich dich an einen Kollegen abgeben. Oder wir beherrschen uns weiter, ich beende deine The-<br />

rapie und wir halten an meinem ursprünglichen Plan fest. Du kehrst erst einmal nach Hause<br />

zurück und wir gewinnen Abstand. Dann werden wir beide unabhängig voneinander merken,<br />

was nach einer vernünftig langen Zeit noch übrig ist von unseren Gefühlen. Eine dritte Mög-<br />

lichkeit gibt es nicht.“<br />

Shawn hatte ruhig zugehört. „Okay. Meine größte Angst war in der letzten Zeit, dass du<br />

mich für unfähig hältst, selbstständig zu denken, zu erkennen, was ich für dich empfinde, ein<br />

Mann zu sein, der in der Lage ist, eine Frau glücklich zu machen.“<br />

Kelly unterbrach den Schauspieler: „Nein. Das tue ich auf keinem Fall, Shawn.“<br />

„Solange ich das nur weiß, komme ich klar. Ich hatte schreckliche Angst, dass du mich<br />

nicht als fühlenden, vollwertigen Mann wahr nimmst. Das war eine unglückliche Verknüp-<br />

fung, verstehst du? Ich kam mir mehr und mehr ... entmündigt vor. Meine überzogenen Ge-<br />

fühlsausbrüche, die überschäumenden Emotionen ... Ich dachte, du musst mich für den ulti-<br />

mativen Jammerlappen halten. Kein Wunder, dass du mir nicht zutraust, meine Gefühle für<br />

dich klar einzuordnen. Nein, lass mich bitte ausreden. Ich habe mir eingeredet, dass du mich<br />

gar nicht als Mann sehen kannst. Jetzt weiß ich, dass ich mich da in etwas hinein gesteigert<br />

habe. Ich war für Carrie und ihre Freunde kein Mann, nicht einmal ein Mensch, sondern nur<br />

ein Objekt, welches man nach gut dünken benutzen konnte. Ich hatte das Gefühl, auch für<br />

dich kein Mann zu sein, sondern nur ein weiterer jammernder Patient. Jetzt weiß ich, dass das<br />

nicht der Fall ist. Ich werde viel besser klar kommen, da bin ich sicher. Ich verstehe, dass wir<br />

nichts anfangen können, wenn es mir auch noch so schwer fällt. Solang ich nur sicher sein<br />

kann, dass ich für dich ... ein Mann bin ...“<br />

Verlegen verstummte Shawn und wusste nicht, wohin mit seinem Blick. Kelly sah ihn an<br />

und erklärte:<br />

458


„Du bist für mich ein Mann, Shawn, viel zu sehr. Ich wäre dankbar, wenn ich dich deut-<br />

lich mehr als Patient sehen könnte. Denn dann hätte ich nicht diese starken Gefühle für dich<br />

entwickelt.“ Sie schwieg einen Moment. Schließlich fragte sie ruhig: „Wie soll es jetzt weiter<br />

gehen?“ Sie wollte Shawn diese Entscheidung überlassen. Der Schauspieler brauchte nicht zu<br />

überlegen.<br />

„Wir werden uns an deinen Plan halten, ich möchte dich nicht bedrängen. Ich werde nach<br />

Hause gehen und erst einmal versuchen, mir ein Leben aufzubauen. Ich weiß, es wird mir<br />

extrem schwer fallen, aber da muss ich durch. Du hast mir heute eine riesige Angst genom-<br />

men. Das ist für mich ungeheuer wichtig gewesen, verstehst du? Es ist nicht nur das Gefühl ...<br />

oh man, ich komme mir so blöde vor ... Es ist nicht nur das Gefühl, als Mann anerkannt zu<br />

werden, es ist ... Es ist extrem wichtig für mich, langsam wieder Kontrolle über mein Leben<br />

zu bekommen. Ich habe schon so lange nichts mehr im Griff ... Seit Januar diktieren mir ande-<br />

re, was ich zu tun oder zu lassen habe. Ich muss allmählich das Gefühl haben, wieder einmal<br />

selbst etwas entscheiden zu können. Sonst werde ich mein Leben nie in den Griff kriegen. Ich<br />

muss in die Gänge kommen. Sonst habe ich bald den Eindruck, völlig unfähig zu sein.“<br />

Kelly nickte verstehend. „Darum ist es unter anderem so extrem wichtig, dass du nach<br />

Hause gehst, dass du ohne mich klarkommst. Es bleibt nicht aus, dass sich bei dieser Art der<br />

Intensivtherapie ein festes Band zwischen Patient und Therapeut entwickelt. Wir sind erst<br />

einmal dazu da, dem Patienten über sein Trauma hinweg zu helfen. Wenn das geschafft ist,<br />

muss der Patient lernen, ohne unsere Rückendeckung klar zu kommen. Das ist ein wichtiger<br />

Schritt zurück ins Leben. Du hast gerade den ersten Schritt dorthin gemacht. Und alle weite-<br />

ren wirst du ebenfalls schaffen.“<br />

*****<br />

38) Auf Dundees Spuren<br />

Liebe ist eine Hörigkeit, die den anderen zum Fetisch macht.<br />

Ernest Bornemann<br />

Am kommenden Morgen war Shawn früh wach. Er rollte sich auf die Seite und beobach-<br />

tete Kelly einen Moment im Schlaf. Seit dem vergangenen Nachmittag fühlte er neue Kräfte<br />

in sich. Er war seit seiner Ankunft bei Kelly noch nie so sicher gewesen, dass alles gut werden<br />

würde. Zwar bedrücke ihn die Tatsache, sich früher oder später von der jungen Frau trennen<br />

zu müssen, noch extrem stark, aber er war überzeugt, das auch zu schaffen. Er wusste, dass<br />

seine Liebe zu ihr die Trennung überdauern würde und sie eine Chance auf ein gemeinsames<br />

Leben bekommen würden. An dieser Hoffnung würde er sich festhalten müssen. Andere Ge-<br />

danken wollte Shawn erst einmal nicht zulassen. Die Tatsache, dass Kelly ihn sehr wohl als<br />

459


Mann sah, hatte ihn unendlich erleichtert. Ohne es zu bemerken hatte er diese Angst, sie wür-<br />

de ihn nur für einen heulenden weiteren Patienten halten, mit sich herum geschleppt und da-<br />

rüber vergessen, warum er bei ihr war. Endlich stand wieder an erster Stelle, das Trauma zu<br />

überwinden. Erstmals spürte er intensiv den Wunsch, nach Hause zurückzukehren, sein Leben<br />

aufzunehmen. Er hatte Sehnsucht nach seinen Freunden, nach den Kollegen, nach seinen El-<br />

tern. Bisher hatte er nur mit Schrecken daran gedacht, zu all denen zurückzukehren, die ihn<br />

mit Fragen löchern würden. Nun war er von einer neuen Zuversicht erfüllt. Er würde es schaf-<br />

fen. Leise erhob er sich und verließ das Zelt. Draußen war es herrlich. Die Sonne war aufge-<br />

gangen, aber hier oben auf dem Hochplateau wehte ein angenehmer Wind. Ein paar Wolken-<br />

tupfer zeigten sich am Himmel und die Luft war klar und frisch.<br />

Shawn goss Wasser in den kleinen Kessel und entzündete den Gaskocher. Schnell war das<br />

Wasser heiß und der Schauspieler bereitete zwei Tassen Kaffee zu. Er überlegte kurz und<br />

krabbelte mit den Bechern zurück ins Zelt. Er stellte die Tassen sicher ab und beugte sich über<br />

Kelly. Sanft gab er ihr einen Kuss auf die Stirn. Die Psychologin seufzte leise und schlug er-<br />

staunt die Augen auf. Sofort stieg ihr der Duft von Kaffee in die Nase und sie seufzte erneut.<br />

„Kaffee ...“, nuschelte sie etwas verschlafen.<br />

„Ja, Überlebenselixier ist fertig.“, schmunzelte Shawn. „Ich dachte mir, nachdem ich dich<br />

gestern fast umgebracht habe, verwöhne ich dich heute Morgen mal.“ Er wurde ernst. „Wie<br />

geht es deinem Kopf denn?“<br />

„Gut geht es dem. Ich sagte, ich habe einen harten Schädel, dem geschieht so schnell<br />

nichts. Ich habe noch nicht einmal Kopfschmerzen und die Beule tut kaum weh. Also kann<br />

von Umbringen keine Rede sein.“ Sie setzte sich auf und Shawn drückte ihr erleichtert die<br />

Tasse in die Hand. In vertrautem Schweigen nebeneinandersitzend, tranken sie die Becher<br />

leer. Dann allerdings verließen sie das Zelt, in dem es langsam warm wurde.<br />

„Wo sind die Duschen?“, fragte Shawn grinsend.<br />

„Unten auf dem Campingplatz. Wenn du dich beeilst, kannst du am späten Abend wieder<br />

hier sein ...“ Kelly zeigte Shawn die Zunge. „Duschen ... Was bist du denn für ein Busch-<br />

mann? Wenn du Duschen willst, musst du in der großen Stadt bleiben. Hier draußen hält<br />

Dreck zusammen.“<br />

Shawn lachte. „Okay, wenn das so ist, beschwere dich nicht, wenn es heute Abend im Zelt<br />

muffelt.“<br />

Kelly lachte. „Dann werfe ich dich raus, ganz einfach. Du schläfst dann draußen, bei den<br />

Spinnen und Schlangen ...“<br />

Shawn machte: „Hm ...“ Er zeigte der Psychologin unschuldig grinsend einen Vogel. „Wie<br />

geht es weiter?“, wollte er wissen.<br />

460


Kelly bestrich Brote mit Butter und erklärte: „Es gibt ein Stück weiter eine enge Passage,<br />

an der wir den Fluss überqueren können. Wir werden auf der anderen Seite zurückgehen. Ich<br />

hoffe, du bist fit.“<br />

„Auf jedem Fall. Ich freue mich auf die Wanderung.“<br />

Kelly fiel auf, dass er heute Morgen erheblich besser drauf war als in der Zeit zuvor. Das<br />

dramatische Gespräch vom Vortag hatte einen Wandel hervor gerufen, der die Psychologin<br />

freute. Erstmals strahlte ihr Patient Zuversicht und Lebensfreude aus. Zwar war dies das eine<br />

oder andere Mal kurz aufgeflackert, aber so intensiv wie an diesem Morgen hatte sie es noch<br />

nie empfunden. Zufrieden reichte sie ihm ein Sandwich.<br />

Eine Stunde später waren sie unterwegs. Das Laufen auf dem felsigen Untergrund war<br />

zeitweise anstrengend und man musste aufpassen, wohin man trat, sonst lief man Gefahr, sich<br />

die Knochen zu Brechen. Trotzdem kamen sie gut voran und gegen 15 Uhr hatten sie die<br />

schmale, mit Steinen durchsetzte Stelle erreicht, an der sie den Fluss überqueren konnten.<br />

„Nasse Füße werden wir uns wohl holen.“, erklärte Kelly und machte sich vorsichtig da-<br />

ran, über die glitschigen, wasserumspülten Steine zu kommen. „Sieh dich bitte vor, Shawn,<br />

einen verstauchten Knöchel oder schlimmeres können wir hier nicht gebrauchen!“, mahnte sie<br />

eindringlich.<br />

Shawn, der direkt hinter ihr ging, erwiderte: „Ich bin vorsichtig, verlass dich drauf.“<br />

Langsam und darauf achtend, wohin sie traten, arbeiteten sie sich auf die andere Seite vor.<br />

Erleichtert meinte Shawn:<br />

„Geschafft. Und die Schuhe trocknen schnell in der Sonne. Jetzt lass mich raten: Wir müs-<br />

sen da hoch?“ Er schaute sich die Felswand an, die sich an die 60 Meter hoch vor ihnen auf-<br />

baute. Kelly lachte.<br />

„Klar, was denkst du denn. Komm, du hast den Rock bestiegen, du wirst wohl diese paar<br />

Meterchen schaffen. Runter bist du auch gekommen. Und, Schatz, keinen Kilometer weiter ist<br />

ein Wasserloch. Da können wir Baden.“<br />

Shawn strahlte. „Das klingt motivierend. Auf geht’s!“<br />

So begannen sie, bergan zu klettern. Shawn ging voraus und half Kelly an einigen kniffli-<br />

gen Stellen. Schwer atmend und nass geschwitzt hatten sie es endlich geschafft und atmeten<br />

erleichtert auf. Sie setzten sich erst einmal in den Schatten einiger Bäume, bevor sie sich auf<br />

den weiteren Weg machten.<br />

„Wir werden wohl am besten am Wasserloch übernachten, dort werden wir Boden finden,<br />

in den wir die Haken schlagen können.“<br />

„Gibt es da Krokos?“, wollte Shawn grinsend wissen.<br />

461


„Ich werde dich zuerst ins Wasser jagen, dann werden wir es herausfinden.“, meinte Kelly<br />

lachend. Sie stand auf und trieb Shawn auf die Füße. „Es ist noch ein Stück zu gehen, wenn<br />

wir nicht erst im Dunkeln ankommen wollen, sollten wir uns aufraffen.“<br />

Der junge Mann stemmte sich ebenfalls auf die Füße und so machten sie sich an das letzte<br />

Stück Marsch für diesen Tag. Beide waren deutlich langsamer als am Vormittag. Shawn stieß<br />

kleine Ächzer aus, bis Kelly Lachtränen über die Wangen kullerten.<br />

„Hast du mal daran gedacht, in einer Comedy mitzuwirken? Du hast ein wundervolles,<br />

komisches Talent.“<br />

Shawn zuckte überrascht die Schultern. „Nein ... Eigentlich war alles, was ich bisher ge-<br />

macht habe, irgendwie Action.“ Er blieb stehen und riss die Augen auf. Überraschend tat sich<br />

vor ihnen eine kleine Senke auf und sie konnten das Wasserloch sehen.<br />

Von einem kleinen Grünstreifen umwuchert tat es sich in der felsigen Umgebung vor ih-<br />

nen auf.<br />

„Das ist wunderhübsch.“, stieß der junge Mann andächtig hervor.<br />

Das Wasser schimmerte in der Abendsonne tiefblau. Zu dem umgebenden Grün bildete es<br />

einen herrlichen Kontrast. Einen Moment standen sie oberhalb des Loches, genossen die Aus-<br />

sicht. Dann stiegen sie langsam und vorsichtig hinab in die Senke. Rasch fanden sie einen<br />

schönen Platz für ihr Nachtlager. Das Zelt stand innerhalb kürzester Zeit und Shawn bat drin-<br />

gend um Abendbrot. Kelly erbarmte sich und kramte den kleinen Gaskocher aus dem Ruck-<br />

sack. Sie machte in dem Alutopf Wasser heiß und öffnete eine Dose Würstchen. Während<br />

diese zogen, bestrichen sie Brot mit Butter und machten sich hungrig über das lukullische<br />

Abendessen her.<br />

„Du solltest den Beruf wechseln und Sterneköchin werden.“, lästerte Shawn, während er<br />

sich die Reste eines Würstchens in den Mund stopfte.<br />

Kelly stieß ein empörtes Lachen aus. „Als wir noch in Eildon waren, wusstest du meine<br />

sehr wohl vorhandenen Kochkünste ja nicht zu schätzen. Freundchen, ich kann dir gerne nach<br />

Mick Dundees Vorbild Maden, Ameisen und Schlange servieren.“<br />

richt!“<br />

Entsetzt winke Shawn ab. „Nein. Ich liebe deine Würstchen. Würstchen sind mein Leibge-<br />

Zufrieden grinste die Psychologin. „Hab ich mir gleich gedacht.“<br />

Nach dem Essen erhob Shawn sich und fragte: „Wie sieht es aus, wollen wir endlich mal<br />

Wasser an unsere Körper lassen?“<br />

„Unbedingt. Ich bin völlig verschwitzt.“<br />

Sie zogen sich bis auf die Unterwäsche aus und rannten ans Ufer des Sees. Hier entledig-<br />

ten sie sich der letzten Kleidungsstücke und stürzten sich in das warme Wasser. Es tat un-<br />

glaublich gut, Schweiß und Staub auf diese Weise loszuwerden und sie konnten sich gar nicht<br />

462


vom Wasser trennen. Erst, als Kelly das Gefühl hatte, Schwimmhäute zu bekommen, verließ<br />

sie den See, gefolgt von Shawn.<br />

„Ich bin ganz schrumpelig.“, erklärte die Therapeutin grinsend.<br />

Sie stellten sich nebeneinander in den milden Abendwind und ließen sich etwas trocknen.<br />

Anschließend schlüpften sie in die Unterwäsche und gingen zum Lagerplatz zurück. Um sie<br />

herum waren nur die Laute der Natur zu hören. Sie breiteten ihre Sitzmatte am Boden aus und<br />

machten es sich gemütlich. Kelly brachte die Sprache auf Carrie.<br />

„Shawn, wir haben einige Tage nicht mehr über das gesprochen, was dich zu mir gebracht<br />

hat. Wir müssen den Faden wieder aufnehmen, es tut mir leid.“<br />

Shawn biss sich auf die Lippe. Er seufzte leise und erwiderte: „Nein, ist in Ordnung. Es<br />

muss weiter gehen. Puh ... Das war dann wohl nach der beglückenden Erfahrung, von Brett ...<br />

gefickt zu werden. Mir wurde komisch und dann weiß ich erst mal nichts mehr.“<br />

*****<br />

Carrie hatte am Monitor zugesehen, wie Brett sich erneut an Shawn befriedigte. Die Ka-<br />

mera auf der Terrasse war so angebracht, dass sie Shawns Gesicht sehen konnte. Sie sah die<br />

abgrundtiefe Verzweiflung in seinen Augen, die in den paar Tagen jeglichen Glanz, jegliches<br />

freches Funkeln verloren hatten und nickte zufrieden. Sie hatte kein Mitleid. Shawns Qual ließ<br />

sie kalt. Sie sah, dass Brett kam und sich zurückzog. Sie beobachtete, wie Shawn sich langsam<br />

und wie weggetreten aufrichtete und an seine Arbeit zurückkehren wollte. Und dann sah sie<br />

ihn stehen bleiben, haltlos um sich tasten und wie vom Blitz getroffen zusammenbrechen. Er-<br />

schrocken keuchte sie:<br />

„Shawn! Scheiße!“<br />

Carrie sprang auf und rannte so schnell es ging auf die Terrasse hinaus, wo Brett bei dem<br />

Besinnungslosen kniete. Er sah auf, als er Carrie kommen hörte und stotterte:<br />

„Ich hab ihn nicht hart ran genommen. Ich weiß nicht, was los ist.“<br />

Carrie rief nach Alan, der Augenblicke später auf die Terrasse gehetzt kam. Er sah sofort,<br />

was los war, bückte sich kommentarlos, hob den Besinnungslosen vom Boden auf und trug ihn<br />

ins Haus. Carrie eilte ihm nach und sagte:<br />

„Zu mir ins Schlafzimmer, schnell.“ Sie hetzte vor und erklärte: „Du musst mir helfen, er<br />

muss gewaschen werden.“<br />

Alan trug Shawn wortlos ins Bad und ließ ihn dort in die Badewanne gleiten. Er half Car-<br />

rie, den jungen Mann gründlich zu reinigen. Als sie ihn hinterher abgetrocknet hatten, trug<br />

Alan ihn zum Bett hinüber, das Carrie abgedeckt hatte, und legte ihn vorsichtig hinein. Ruhig<br />

sagte er:<br />

„Ich werd ihm mal eine kräftige Brühe machen, das wird ihm gut tun.“ Er verließ das<br />

Zimmer und ließ seine Geldgeberin besorgt zurück.<br />

463


Etwas später kam Teresa mit Karen in den Raum geeilt. „Was ist passiert?“, fragte die<br />

Chirurgin besorgt.<br />

„Er ist zusammengebrochen. Kannst du ihn untersuchen?“<br />

Teresa schüttelte den Kopf. „Das brauche ich nicht, Carrie. Er ist dehydriert, er hat seit<br />

Tagen fast nichts getrunken. Und noch weniger gegessen. Er hat nicht geschlafen. Er ist am<br />

Ende. Er braucht Ruhe. Carrie hatte zugehört und sagte besorgt:<br />

„Er hat Fieber, er glüht.“<br />

Teresa nickte gleichgültig. „Das hat er, das ist aber weniger körperlicher als vielmehr<br />

seelischer Natur.“ Sie wollte noch etwas hinzufügen, verkniff sich dies lieber. Die Anführerin<br />

war unberechenbar und brutal. Stattdessen sagte sie ruhig: „Wenn du dich um ihn kümmerst,<br />

wird er sich erholen.“ Sie verließ mit Karen das Zimmer und Carrie sah Shawn an. Sie blieb<br />

bei ihm sitzen, hielt seine Hand und wechselte alle paar Minuten einen feuchten Lappen, den<br />

sie ihm auf die Stirn gelegt hatte. Sie war in Sorge um ihre Investition, wollte sie ihn doch<br />

noch eine Weile benutzen. Gleichwertigen Ersatz würde sie nicht auf die Schnelle finden. Und<br />

sie hatte in die Beschaffung McLeans viel investiert.<br />

Alan brachte zwei Flaschen Wasser vorbei und Carrie gab Shawn in der folgenden Stun-<br />

den immer wieder zu trinken. Als es dunkel wurde, legte sie sich zu ihm ins Bett und kuschelte<br />

sich an ihn. Sie schlief unruhig, wachte häufig auf, gab Shawn zu Trinken und kühlte seine<br />

Stirn. Als es draußen hell wurde, regte er sich endlich. Sein Kopf bewegte sich auf dem Kissen<br />

unruhig hin und her und dann schlug er mühsam die Augen auf. Er sah Carrie und flüsterte<br />

müde:<br />

„Ich hab ihn gebeten, mich noch mal zu ... vögeln ...“<br />

Ruhig sagte sie: „Ich weiß, ich habe es gesehen.“<br />

„Bist du mir noch böse?“ Seine Augen bettelten sie an. Carrie schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, das bin ich nicht.“<br />

Vor Erleichterung schluchzte Shawn auf. „Es tut mir leid ... ich konnte ... konnte nicht ...“,<br />

wimmerte er. „Du bist nicht mehr sauer?“<br />

okay.“<br />

Carrie schüttelte abermals den Kopf. „Nein, bin ich nicht mehr. Denk nicht mehr daran,<br />

Shawn fielen die Augen zu. Seine Hand tastete zitternd nach ihr und sie zog ihn an sich.<br />

„Alles wird gut, dass verspreche ich dir.“, sagte sie leise.<br />

- Für uns! - fügte die Frau in Gedanken hinzu. Schon spürte sie, dass er tief und fest ein-<br />

geschlafen war. Carrie rührte sich nicht von der Stelle. Sie saß Stunde um Stunde bei Shawn,<br />

der zwischendurch nur kurz aufwachte, um sofort in einen tiefen Fieberschlaf zurückzugleiten.<br />

Wenn er wach war, bemühte Carrie sich, ihm etwas zu Essen zu geben. Alan hielt ständig<br />

kräftige Brühe bereit. Und Shawn schluckte diese mechanisch, so, wie er sich von Carrie<br />

464


Wasser einflößen ließ. Am vierten Tag nach dem Zusammenbruch sank das Fieber endlich<br />

und Shawn wurde kräftiger. Er war länger wach und unendlich erleichtert, dass jedes Mal,<br />

wenn er die Augen aufschlug, Carrie bei ihm war. Sie kümmerte sich aufopferungsvoll um ihn<br />

und ließ ihn keine Minute allein.<br />

Am sechsten Tag saß er beim Frühstück und Carrie saß bei ihm, sah ihm zu, wie er mit<br />

gutem Appetit Rührei, Speck und Toast genoss. Als er fertig war mit Essen und Carrie den<br />

Tisch zur Seite gestellt hatte, fragte er verlegen:<br />

„Darf ich dich um etwas bitten?“<br />

„Ja, was hast du denn auf dem Herzen?“<br />

Er atmete tief ein und fragte: „Kannst du mir bitte den Plug wieder einführen? Ich ... bin<br />

noch zu eng, es tut so weh, wenn Brett ... mich ... vögelt.“<br />

Carrie hatte mit allem gerechnet, damit nicht. Verwirrt sah sie Shawn an. „Bist du si-<br />

cher?“, fragte sie ihn erstaunt.<br />

„Ja, absolut.“<br />

Er drehte sich herum und kniete sich auf das Bett. Carrie zögerte kurz, dann aber stand<br />

sie auf und ging an den Schrank. Sie kam mit einem dicken Plug, einem Vibrator und einer<br />

Tube Gleitmittel zurück und begann sanft, Shawns Schließmuskel zu massieren. Dieser war<br />

verheilt und tat bei den vorsichtigen Berührungen nicht mehr weh. Carrie führte ihm einen<br />

Finger ein und ertastete seine Prostata. Behutsam begann sie, diese durch Druck und Rei-<br />

bung zu Stimulieren. Erst wurde Shawn starr, doch schnell setzte die Wirkung der Stimulation<br />

ein. Er stöhnte leise auf und drückte seinen Po zurück, soweit er konnte, damit Carrie fester in<br />

ihm steckte. Sein Penis hatte sich aufgerichtet und pulsierte sanft vor sich hin. Er war hoch-<br />

gradig erregt. Carrie zog den Finger zurück und ersetzte ihn vorsichtig gegen den Vibrator,<br />

den sie mitgebracht hatte. Sie führte diesen Zentimeter für Zentimeter in Shawn ein und der<br />

keuchte vor Lust. Als der Vibrator tief in ihm steckte legte Carrie sich neben Shawn und sag-<br />

te:<br />

„Komm zu mir, okay?“ Sie streifte schnell dass Kleid ab, das sie trug und er sah, dass sie<br />

darunter nackt war.<br />

Sie legte sich auf das Bett und Shawn kniete zwischen ihren weit gespreizten Beinen. Er<br />

keuchte vor Lust und zögerte nicht, in sie einzudringen. Der Vibrator trieb ihn fast in den<br />

Wahnsinn und er wünschte, das Teil hätte sich hin und her bewegt. Umso mehr bewegte er<br />

sich jetzt, in Carrie. Schneller und schneller wurde Shawn, bis er mit einem heiseren Keuchen<br />

zum Orgasmus kam, unmittelbar gefolgt von Carries. Sie schlang in höchster Ekstase die Bei-<br />

ne um ihn und presste ihn so fest sie konnte an sich. Shawn spürte noch das Vibrieren tief in<br />

sich und war gänzlich entspannt. Carrie empfand eine ebenso tiefe Entspannung, spürte<br />

465


Shawn noch tief in sich, und seufzte leise. Sie wollte um ihn herum greifen, um den Vibrator<br />

zu entfernen, aber Shawn bat:<br />

„Einen Moment noch, okay?“<br />

„Wenn du möchtest.“, sagte sie leise.<br />

„Es fühlt sich so gut an.“, sagte er verlegen.<br />

Sie blieben noch eine Weile ineinander versunken liegen, dann aber wurde Shawn Carrie<br />

zu schwer und er merkte das. Vorsichtig ließ er sich von ihr herunter gleiten und jetzt befreite<br />

Carrie ihn von dem Vibrator. Stattdessen führte sie ihm den Plug ein.<br />

*****<br />

Shawn hatte gefasst erzählt. Leise sagte er: „Ich begreife heute nicht mehr, was diese<br />

Bitch aus mir gemacht hat. Warum war ich ... Ich war ihr eine Zeit lang hörig, was?“ Er seufz-<br />

te leise. „Das war ein Zeitpunkt, da hätte ich alles für sie getan. Ich schäme mich so unglaub-<br />

lich.“<br />

Kelly war abermals heftig erschüttert, wie eiskalt Carrie vorgegangen war, um Shawn an<br />

sich zu binden. Ihm jede Möglichkeit zu nehmen, selbstständig zu denken und Entscheidun-<br />

gen zu treffen. Er war überzeugt gewesen, dass es seine Bestimmung war, bei ihr zu sein. Die<br />

junge Frau hatte zielsicher Shawns Nerv getroffen und er war ihr wirklich einige Zeit hörig<br />

gewesen. Kelly hatte mit einigen Fällen von häuslicher Gewalt zu tun gehabt und es war fast<br />

unvorstellbar, was Menschen sich gefallen ließen, weil sie einem Partner hörig waren. Diese<br />

krankhafte Liebe, die über das Maß der Selbsterhaltung hinaus ging, konnte bei einigen Men-<br />

schen so tief verwurzelt sein, dass sie ständig auf den gleichen Typ Mann oder Frau hereinfie-<br />

len, sich immer wieder in die gleiche Abhängigkeit begaben. Sie wurden seelisch und körper-<br />

lich aufs übelste misshandelt und landeten letztlich doch erneut bei gleichen Menschen, die<br />

ihnen all das abermals antaten. Es reichte eine simple Entschuldigung, ein hohles Verspre-<br />

chen, sich zu bessern, und sofort waren labile Menschen bereit, sich wieder in ihre private<br />

Hölle zurückzubegeben.<br />

Shawn war nicht dieser Typ. Er war nicht von Natur aus labil, kein Mensch, der sich<br />

grundsätzlich unterwarf. Er hätte in einer normalen Situation nie auf eine Frau wie Carrie rea-<br />

giert. Bestenfalls mit Abscheu. Dort auf der Insel, ohne Aussicht auf Rettung, war er gezwun-<br />

gen gewesen, Carries Einflüsterungen zu erliegen. Wobei diese weniger verbal als durch Ta-<br />

ten dargelegt wurden. Carrie fing ihn auf, wenn es hart wurde. Sie spielte ihm Besorgnis vor,<br />

war seine große Beschützerin gewesen. Solange er mitspielte, war sie lieb und freundlich zu<br />

ihm, wagte er, aufzumucken, egal, in welcher Form, strafte sie ihn nicht nur mit körperlichen<br />

Schmerzen, sondern, was viel schlimmer war, mit Liebesentzug. Die Schmerzen waren<br />

schlimm, viel schwerer jedoch wog lange Zeit der Verlust ihrer Zuneigung. Auf unglaublich<br />

466


geschickte Weise manipulierte sie den Schauspieler so sehr, dass er bereitwillig mitspielte. Er<br />

ergab sich dieser Frau und alles nur für ein liebes Wort, für die wenigen Momente zweifelhaf-<br />

ten Glücks, die er bei ihr anfangs gefunden hatte. Er wurde ihre perfekt funktionierende Mari-<br />

onette.<br />

„Shawn, ich habe es dir erklärt, du hattest keine Wahl. Sie war die einzige Person, die die<br />

Fäden alle in der Hand hatte. Sie hat dich kontrolliert, aber genauso die anderen. Keiner dort<br />

hat nur geatmet, ohne das Carrie es abgesegnet hatte. Diese Frau wäre der perfekte Diktator.<br />

Sie ist fähig, Menschen so zu manipulieren, dass diese bereit sind, alles für sie zu tun. Du bil-<br />

dest da keine unrühmliche Ausnahme. Brett, Teresa und Karen hingen ebenso an ihren Fäden<br />

wie du, nur auf eine andere Art und Weise. Sie durften an dir ihre kranken Fantasien ausleben,<br />

solange sie so funktionierten wie Carrie es wollte. Funktionierten sie so, wie Carrie es erwar-<br />

tete, durften sie dich benutzen. Klappte etwas nicht, wurden sie damit bestraft, zusehen zu<br />

können, wo sie mit ihren perversen Gelüsten blieben. Ich kann es nur vermuten, aber ich<br />

nehme stark an, dass Carrie einen hohen IQ hat. Nur durch das, was du über sie berichtet hast,<br />

würde ich ihn in den oberen 140 ansiedeln. Es ist erwiesen, dass viele Massenmörder, Serien-<br />

killer, einen hohen IQ haben. Carrie hätte das alles nicht planen und durchführen können, und<br />

das über Jahre, wenn sie nicht einen hohen IQ hätte. Die anderen sind von ihr in einer Weise<br />

abhängig, wie man es in einer solchen Konstellation nur selten findet. Sie wären allein nie<br />

fähig gewesen, ihre kranken Gelüste so in irgendeiner Form ausleben zu können. Erst Carrie<br />

hat es möglich gemacht. Sie ist die geborene Anführerin. Du hast nichts anderes getan, als<br />

diese Anführerin milde zu stimmen. Du warst auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Um zu<br />

überleben hast du das einzig richtige getan. Dass du es eine Zeit lang für echte Gefühle Carrie<br />

gegenüber gehalten hast, Shawn, ist normal. Jeder hätte das empfunden. Und das hat nicht das<br />

Geringste damit zu tun, dass du schwach gewesen wärest.“<br />

Shawn hatte Kelly aufmerksam zugehört. Leise und bedrückt meinte er: „Aber danach<br />

fühlt es sich noch an. Ein Teil von mir tritt mir ständig in den Hintern und schreit mich an: Du<br />

elender Feigling. Du Schlappschwanz.“<br />

Kelly ließ ihre Finger sanft durch Shawns Haare gleiten. Der junge Mann hatte seinen<br />

Kopf auf ihre Beine gelegt, in dieser so vertrauten Stellung, die er von Anfang an eingenom-<br />

men hatte, wenn er über die Gefangenschaft berichtete. Er starrte blicklos in die Dunkelheit.<br />

tun.“<br />

„Die Schuldgefühle sind so schlimm, dass sie ... dass sie wie körperliche Schmerzen weh-<br />

„Das wird noch eine Weile so bleiben, Shawn. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Es<br />

dauert lange, bis wir uns selbst verzeihen können, oft viel länger als wir brauchen, anderen zu<br />

verzeihen. Wir alle haben gewisse Erwartungen in uns selbst und wenn wir diese Erwartungen<br />

nicht zu erfüllen imstande sind, hassen wir uns. Deine Erwartungen waren, aktiv zu widerste-<br />

467


hen. Dazu warst du nicht imstande. Also hasst du dich für deine vermeintliche Schwäche. Ich<br />

erklärte dir bereits, dass du dazu keinen Grund hast. Denn das, was dein Verstand dir derzeit<br />

als freiwillige Handlungen darstellt, war alles andere als freiwillig. Von dem Moment an, als<br />

du auf dem Parkplatz überwältigt wurdest war nichts, aber auch gar nichts mehr freiwillig.<br />

Wenn du das verinnerlicht hast, wirst du anfangen, dir zu verzeihen.“<br />

Shawn stieß ein kleines, verzweifeltes Lachen aus. „Wie lange soll das dauern?“<br />

„Da gibt es keine Regeln, das wäre einfach. Dann könnte ich dir sagen, in zwei Wochen<br />

hören die Schuldgefühle auf. Aber so leicht ist das nicht. Es ist stark von dir abhängig, wie<br />

lange du sie mit dir herumtragen willst. Irgendwann wirst du es verinnerlicht haben, dann<br />

werden sie aufhören.“<br />

Shawn schnaufte leise. „Dann kann ich nur hoffen, dass ich es schnell auf die Reihe krie-<br />

ge. Es ist so ein Scheiß Gefühl. Damals kam es mir normal vor, Carrie um den Plug zu bitten.<br />

Ich ... verflucht, ich wollte ... Ich wollte ...“ Er kämpfte um Worte und schaffte es, würgte<br />

hervor: „Ich wollte mich ... weiten. Die Schmerzen, als Brett ... Ich dachte, wenn ... wenn ich<br />

den Plug weiter trage, würde mein ... Schließmuskel etwas nachgeben und ... Naja, ich dachte<br />

, ich ... ich wäre dann ein besserer Sklave.“ Das war der Punkt, an dem der junge Mann in<br />

Tränen ausbrach. „Soweit hatte sie mich ...“, schluchzte er. „Ich wollte ein besserer Sklave<br />

sein ... Wie konnte ich nur so weit kommen.“<br />

Kelly biss sich auf die Lippen um nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen. Shawns Ver-<br />

zweiflung hatte sie bereits angerührt, lange bevor sie sich ihre tiefen Gefühle für ihn hatte<br />

eingestehen müssen.<br />

„Es konnte so weit kommen, weil sie es so wollte. Sie hat dich nur liebevoll behandelt,<br />

wenn du genau das warst: Ein guter Sklave. Um zu erreichen, dass sie dich so behandelte, hast<br />

du eine Weile alles getan, um das zu werden. Shawn, denke nicht daran, wie lange du ihr zu<br />

Willen warst, sondern daran, ab wann du angefangen hast, nicht mehr so auf das zu reagieren,<br />

was sie mit dir taten. Wir haben gerade erst die ersten Wochen abgearbeitet, ich bin sicher, du<br />

wirst bald zu Punkten kommen, wo ihre Manipulationsfähigkeit nicht mehr erreicht hat, was<br />

sie erreichen sollte. Ich freue mich auf den Tag, wo du erstmals erzählen wirst, dass Carrie<br />

sich sprichwörtlich einen Wolf geblasen hat, und nichts bei dir erreichte. Verstehst du, was<br />

ich meine?“<br />

Der Schauspieler konnte ein kurzes Lachen nicht verhindern. „Du bist unglaublich, weißt<br />

du das? Ich weiß gar nicht mehr, wie es weiter ging, von nun an wird es wohl planlos durch-<br />

einander gehen. Also könnte ich dir gleich von einer solchen Situation erzählen, wenn du es<br />

gerne hören würdest.“<br />

Kelly strich ihm sanft durch die Haare. „Das macht gar nichts, wichtig ist nur, dass du so<br />

viel wie möglich erzählst. In welcher Reihenfolge ist unerheblich.“<br />

468


„Das wird ein Durcheinander. Ich habe schnell jedes Zeitgefühl verloren, weil ... nirgends<br />

hing ein Kalender, ein Tag war wie der andere ... Dass ich es bisher hin bekommen habe<br />

wundert mich ohnehin. Ich habe keine Ahnung, was da schon durcheinander war.“ Der junge<br />

Mann richtete sich auf und gähnte. Er überlegte eine Weile, bevor er leise fragte: „Ich habe<br />

noch immer Angst davor, dass ich es in einer ... Beziehung, falls ... Dass ich eines Tages den-<br />

ken werde ... Darauf warte, dass ...“ Er wusste nicht, wie er ausdrücken sollte, was ihn be-<br />

drückte. Kelly hatte eine Ahnung, worauf Shawn hinaus wollte.<br />

„Du denkst, weil du einiges von dem, was mit dir geschah, erregend fandest, dass du eine<br />

mögliche Partnerin bitten wirst, dich zu dominieren, richtig?“<br />

Erleichtert nickte Shawn. „Ja. Mir fehlen die richtigen Worte. Ich habe Angst, dass ich<br />

fragen werde, ob sie mich nicht mal fesseln könnte, mich auspeitschen ...“<br />

Kelly rückte dichter an Shawn heran und legte ihm einen Arm um die Taille. Er kuschelte<br />

sich an sie und stotterte:<br />

„Ich fand ... manches so geil ... Ob ... ob mir das fehlen wird? Ich habe schreckliche Angst<br />

davor, dass mir normaler Sex nicht mehr reichen wird ... Dass ich die besondere Stimulation<br />

brauchen werde ... Ich will das nicht, aber ...“<br />

Kelly spürte ihn zittern. Sie überlegte, wie sie dem jungen Mann am besten erklären konn-<br />

te, wie es zu der Erregung gekommen war und warum er keine Angst haben brauchte, etwas<br />

ähnliches erneut herbei zu sehnen. Ruhig erklärte sie:<br />

„Shawn, dein Körper hat auf die ungewohnten Stimuli reagiert wie 1938 die ersten Viren<br />

und Bakterien auf Penicillin. Das war etwas neues, Ungewohntes für dich. Neues ist gerade in<br />

Sachen Sex oft etwas Gutes, aufregendes. Du hast darauf nur am Anfang so stark reagiert,<br />

später hat dein Körper sich schnell erinnert, dass das alles nicht das ist, was du magst. So, wie<br />

dein Körper sich bei mir am Anfang schnell daran erinnert hat, dass du gerne berührt wirst.<br />

Du hast gedacht, du hasst es und es ängstigt dich zu Tode, angefasst, berührt, in den Arm ge-<br />

nommen zu werden. Überleg mal, wie schnell hast du gemerkt, dass es etwas Angenehmes ist.<br />

Genauso schnell hat dein Körper sich bei Carrie gedacht: Scharf und erregend, aber schöner<br />

Sex ist etwas anderes!“<br />

Verlegen wand sich der junge Schauspieler und stotterte: „Ja, du hast nicht lange ge-<br />

braucht, um mir klar zu machen, wie wunderschön es sein kann, sanft und liebevoll berührt zu<br />

werden. Ab und zu flackern Erinnerungen an die Zeit im Krankenhaus auf. Ich kann mich an<br />

wenig erinnern, aber daran, dass ich jedes Mal höllische Angst hatte, wenn mich jemand an-<br />

fasste, erinnere ich mich gut. Verbandwechsel waren die Hölle, Untersuchungen ebenfalls.“<br />

Er ließ den Kopf hängen.<br />

„Nach allen, was du erlebt hast, war es normal, dass du Angst vor jeder Art von Berüh-<br />

rungen hattest. Sicher hat gerade in der ersten Zeit vieles Schmerzen verursacht. Ich habe die<br />

469


Fotos deiner Verletzungen gesehen, Shawn, da waren Verbandwechsel nicht angenehm. Das<br />

letzte, was du wolltest, waren weitere Schmerzen, egal, aus welchen Gründen.“<br />

Der Schauspieler japste leise. „Darauf kannst du Wetten. Als ich im Krankenhaus aufge-<br />

wacht bin ... Mein erster klarer Gedanke war, warum zum Teufel es nicht geklappt hatte. Man<br />

sollte meinen, ich hätte Grund gehabt, mich zu freuen, raus aus der Hölle dort, sicher im<br />

Krankenhaus, überlebt. Aber alles, was ich denken konnte war, dass ich ... tot sein wollte. Bei<br />

mir hatte sich der Gedanke fest gesetzt, ich hätte es nicht verdient, noch am Leben zu sein. Ich<br />

wollte nicht mehr am Leben sein. Ich wollte nicht mehr an das Denken, was ... mir angetan<br />

worden war. Ich wollte nichts mehr spüren, nicht mehr denken, aber es war ständig jemand<br />

bei mir. Ich konnte kein Ende machen. Ich konnte nur total abschalten. Das habe ich dann ja<br />

erfolgreich getan.“<br />

Kelly konnte ihm da nur zustimmen. „Ja, du hast dicht gemacht. Als ich dich das erste Mal<br />

sah ... Mein Gott, eine solch vollständige Starre habe ich nie zuvor bei einem Patienten erlebt.<br />

Ich hatte allerdings auch noch nie einen Patienten, der so lange so erfolgreich misshandelt<br />

wurde.“<br />

Shawn lachte ironisch. „Ja, erfolgreich. Die ersten Tage bei dir sind verschwommen.“<br />

„Ich habe dich in Ruhe gelassen, dich nur beobachtet. Aus deinem Verhalten konnte ich<br />

mir schnell ein Bild dessen machen, wie deine Tage in der Gefangenschaft ausgesehen haben.<br />

Ab welchem Zeitpunkt werden deine Erinnerungen klarer?“<br />

Shawn überlegte. „Ich denke, als wir losmarschiert sind auf diesen Berg. Das erinnere ich<br />

gut. Ich war so unendlich fertig. Ich hätte mich am liebsten auf den Boden gelegt und wäre nie<br />

mehr aufgestanden. Doch die Angst hat mich weiter getrieben, an die Grenzen meiner dama-<br />

ligen Leistungsfähigkeit und darüber hinaus. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt realisierte, dass<br />

ich nicht mehr bei Carrie war.“<br />

Bedrückt erklärte die Psychologin: „Ich wusste mir keinen anderen Rat, dich wach zu rüt-<br />

teln. Es hat oft geholfen, Traumapatienten körperlich so auszupowern, dass sie vorübergehend<br />

ihr seelisches Leid vergessen und nur an die körperlichen Schmerzen denken. Bei dir ist es<br />

gelungen. Du warst körperlich so am Ende, dass du für die Zeit, die ich brauchte, um zu dir<br />

vorzudringen, deine Seelenqualen in den Hintergrund stellen konntest. Das war der Durch-<br />

bruch zu dir.“<br />

Kelly konnte ein Gähnen nicht mehr unterdrücken.<br />

„Wir haben morgen eine anstrengende Wanderung vor uns. Wir sollten uns lieber langsam<br />

hinlegen.“<br />

Shawn atmete tief durch. „Ja, du hast Recht. Ich bin müde.“ Er stand auf und zog Kelly<br />

ebenfalls auf die Füße. „Mitunter habe ich das Gefühl, müde zu sein ist Normalzustand. Die<br />

Dreharbeiten und das Drumherum, von einem Termin zum anderen Hetzen, frequent flyer<br />

Punkte sammeln, weil man mehr in einem Flugzeug sitzt als in seiner Wohnung ... Bald ist<br />

man dauermüde. Aber hier bei dir nach einem wundervollen Tag in dieser paradiesischen<br />

470


Umgebung müde zu sein ist etwas anderes.“ Er sah noch einmal zum sternenübersäten Him-<br />

mel hoch und hielt Kelly den Zelteingang offen. „Wenn es hier nicht so viel Krabbeltiere ge-<br />

ben würde, mit zu vielen oder zu wenigen Beinen, würde ich glatt draußen Schlafen.“ Der<br />

junge Mann verschloss das Zelt sorgfältig und sank auf seinen Schlafsack. Kelly lachte leise.<br />

„Naja, nachts von irgendwelchen Viechern bekrabbelt zu werden gehört eindeutig auch<br />

nicht zu meinen Lieblingserfahrungen. Da ist es in einem Zelt angenehmer.“ Sie hatte sich<br />

beim Sprechen aus der kurzen Jeans gekämpft, was in dem niedrigen, engen Zelt einer kleinen<br />

Turnübung glich, und legte sich hin. In der tiefen Dunkelheit konnte sie Shawn neben sich<br />

atmen hören. „Wie geht es dir?“, fragte sie leise.<br />

„Gut. Aufgewühlt, aber gut.“<br />

Zufrieden lächelte Kelly, was Shawn selbstverständlich nicht sehen konnte. „Das ist<br />

schön. Ich hoffe, du kannst gut schlafen.“<br />

Der Schauspieler ächzte. „Davon gehe ich aus. Gute Nacht.“<br />

„Gute Nacht.“<br />

Es dauerte nicht lange und gleichmäßige Atemzüge verrieten, dass beide schnell einge-<br />

schlafen waren.<br />

*****<br />

39) Die Strafe<br />

Strafe heißt die Unglückseligkeit, die einem freien Wesen um seiner bösen Hand-<br />

lungen willen zuteil wird.<br />

Bernhard Bolzano<br />

„Sieh mal dort!“ Kelly deutete auf einen Baum ein paar Schritte entfernt. Shawn schaute<br />

suchend in die angegebene Richtung, musste zwei Mal hinschauen, bevor er entdeckte, was<br />

Kelly meinte. An der graubraunen Baumrinde nur schwer auszumachen turnte eine große Ei-<br />

dechse den Stamm empor. Sie war dunkelgrau, mit einem auffälligen, regelmäßigen Muster<br />

aus fast weißen Punkten und Stricken um Beine, Schwanz und Leib. Ihr Kopf war klein für<br />

den verhältnismäßig großen, kräftigen Körper. Die Beine endeten in beweglichen Zehen mit<br />

langen Krallen.<br />

„Was ist das?“, fragte Shawn und griff nach seinem Fotoapparat, den er um den Hals hän-<br />

gen hatte. Vorsichtig und langsam ging er näher an das große Tier heran.<br />

„Ein Buntwaran. Die zweitgrößte Waranart hier in Australien. Die werden von Nasenspit-<br />

ze bis Schwanzspitze bis 2,30 Meter lang. Normalerweise leben sie mehr in den Küstenregio-<br />

nen, das hält sie allerdings nicht davon ab, sich hier herumzutreiben. Sie mögen Niederschlag<br />

und sind bis in Höhen von 800 Metern zu finden. Wenn es dort in den Wintermonaten zu kalt<br />

471


für sie ist, fallen sie in eine Winterstarre. Andererseits mögen sie Temperaturen bis über 40<br />

Grad gerne. Sie fressen alles, was sie erbeuten können, Vögel, andere kleinere Reptilien,<br />

Mäuse, Kleinsäuger, Eier. Reine Fleischfresser. Bei Gefahr flüchten sie auf Bäume, was ihre<br />

Population bei Waldbränden leider immer stark dezimiert. Sie sind streng geschützt, stehen<br />

unter dem Washingtoner Artenschutzabkommen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass War-<br />

ane Giftapparate besitzen. Ihre Toxine sind schwach, Vergiftungen bei Menschen sind noch<br />

nie gemeldet worden. Dafür kommt es bei Bissen durch Warane zu schweren Infektionen, da<br />

ihr Maul vor Bakterien wimmelt.“<br />

oder?“<br />

Shawn hörte aufmerksam zu. „Aber sonderlich aggressiv scheinen die nicht zu sein,<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, nur wenn sie sich angegriffen oder in die Ecke gedrängt<br />

fühlen. Sonst würden sie die Flucht vorziehen. Wer würde sich nicht zur Wehr setzen, wenn<br />

keine Fluchtmöglichkeit bestände?“<br />

Shawn lachte. „Ich.“, erklärte er frustriert.<br />

Kelly lächelte liebevoll. „Das war etwas anderes. Dass wir uns in ausweglosen Situationen<br />

nicht mehr wehren, dient der reinen Selbsterhaltung und unterscheidet uns von den meisten<br />

Tieren.“<br />

Shawn riss sich von dem hübschen Waran los und sie marschierten weiter. Seit einer guten<br />

Stunde waren sie unterwegs. Der Boden erlaubte kein schnelles Vorankommen. Man musste<br />

aufpassen, wohin man trat, um sich nicht zu verletzen. Die Sonne brannte heiß vom Himmel<br />

und es war fast windstill. Mehr als 2 bis 3 Kilometer die Stunde würden sie nicht schaffen. Sie<br />

hatten jedoch Zeit und so war das kein Problem. Wasser hatten sie noch genug bei sich, und<br />

bis zum Abend würden sie den Campground erreichen.<br />

„Wie weit ist es von Katherine noch bis zum Kakadu?“, fragte Shawn, als sie gegen Mit-<br />

tag eine Pause im Schatten einiger Bäume einlegten. Kelly, die damit beschäftigt war, einen<br />

tiefen Kratzer an seiner linken Wade zu reinigen, den der junge Mann sich an einem dornigen<br />

Busch zugezogen hatte, sah auf.<br />

„Etwas mehr als 200 Kilometer. Ich rede hier vom offiziellen Resort. Der Park selbst be-<br />

ginnt früher. Es dürften etwas mehr als 100 Kilometer sein, bis wir die südliche Grenze pas-<br />

sieren.“ Sie griff nach einer Flasche antiseptischer Lösung und einem Wattestäbchen. „Das<br />

wird Brennen, okay.“, erklärte sie und tränkte die Watte. Gründlich reinigte sie den tiefen<br />

Kratzer und Shawn zuckte einige Male heftig zusammen.<br />

„Au! Und so was schimpft sich Ärztin.“, schnaufte er.<br />

Kelly lachte. „Wenn du aufpassen würdest, wohin du latscht, wäre das hier nicht nötig.“<br />

Sie suchte in ihrer Erste-Hilfekiste nach Pflaster und bedeckte den Kratzer sorgfältig. An-<br />

472


schließend räumte sie alles weg. „So, das macht 50 Dollar.“, erklärte sie grinsend und hielt die<br />

Hand auf.<br />

„Wow, das ist aber teuer.“ Shawn tat, als würde er in seinen Hosentaschen nach Geld su-<br />

chen. „Sorry, meine Therapeutin ist auch so teuer, ich habe kein Geld mehr.“<br />

Kelly lachte. „Wenn du mal welches hast, solltest du über eine Brille nachdenken.“<br />

Shawn seufzte. „Wozu ist man mit einer Buschfrau unterwegs, wenn die einen nicht<br />

warnt, dass diese blöden Büsche meterlange Dornen haben?“<br />

Er nahm einen Schluck Wasser und sah sich um. Sie hatten sich für die Rast eine Senke<br />

mit Baumbestand ausgesucht, um Schatten zu bekommen. Überrascht riss der Schauspieler<br />

die Augen auf.<br />

„Was ist das für ein Vogel dort?“, fragte er, während er nach seiner Kamera griff. Kelly<br />

entdeckte den hellgrauen Vogel mit der gelben Haube und dem gelben Kopf jetzt ebenfalls.<br />

Das Tierchen saß auf einem Ast in einem der Bäume und schaute interessiert auf die Men-<br />

schen hinunter.<br />

„Das ist ein Nymphensittich.“, erklärte Kelly und beobachtete den hübschen Vogel.<br />

Schließlich warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Wir haben noch gute 6 Kilometer<br />

nach, lass uns weiter gehen. Das Gelände wir nicht besser, also dürften wir noch drei Stunden<br />

bis zum Flussübergang brauchen.“<br />

sen.“<br />

Shawn grinste unschuldig. „Eher fünf, ich bin schwer verletzt. Du wirst mich stützen müs-<br />

Die Psychologin zeigte ihm frech einen Vogel. „Sonst noch Wünsche?“<br />

„Ja, einige, unter anderen den: Hilf mir bitte auf die Füße, ich weiß nicht, ob mein verletz-<br />

tes Bein mich tragen wird.“ Kläglich stieß der Schauspieler diese Worte hervor und Kelly<br />

musste lachen.<br />

fen!“<br />

„Du Scheusal. Wenn ich nicht wüsste, dass es nur ein Kratzer ist, würde ich dir glatt hel-<br />

Shawn musste lachen. „Ich bin Schauspieler, schon vergessen?“<br />

„Oh, ja. Und ein verflixt guter.“ Sie griff nach ihrem Rucksack und schwang sich diesen<br />

auf den Rücken. Grinsend ignorierte sie Shawns Hand, die dieser ihr entgegen streckte. Er sah<br />

sie weiter an und sie musste dem Dackelblick schließlich nachgeben. Kichernd reichte sie ihm<br />

die Hände und half ihm auf die Beine.<br />

„Ich wusste, dass du ein Herz hast.“, keuchte der junge Mann scheinbar schmerzerfüllt.<br />

„Trägst du bitte meinen Rucksack?“<br />

*****<br />

473


Kelly behielt Recht. Für die knapp 6 Kilometer bis zur Flusspassage beim Besucherzent-<br />

rum brauchten sie etwas über drei Stunden. Endlich erreichten sie den Abstieg in die Ebene<br />

und standen dreißig Minuten später am Fuß des Felshanges. Durchgeschwitzt, atemlos, aber<br />

zufrieden. Sie mussten einen kleinen Seitenarm des Katherine River überqueren und anschlie-<br />

ßend noch einen knappen Kilometer marschieren, dann hatten sie die Stelle erreicht, an der sie<br />

auf Sand und Steinen das andere Flussufer erreichen konnten. Gegen 17 Uhr standen sie er-<br />

schöpft, aber zufrieden bei ihrem Wagen, den sie auf dem Campingplatz stehen gelassen hat-<br />

ten. Schnell stellten sie gemeinsam das Zelt auf. Während Shawn die Schlafsäcke hinein-<br />

schaffte, entzündete Kelly den Gaskocher und Minuten später kochte Wasser für Kaffee.<br />

Nachdem beide einen großen Becher geleert hatten erklärte Kelly:<br />

„Ich würde gerne Duschen und mich umziehen. Nachher Essen wir im Restaurant, oder?<br />

Mal keine Würstchen mit Brot.“<br />

Zwar huschte Shawn ein Schauer über den Rücken, als er daran dachte, abermals in die<br />

Gemeinschaftsdusche zu müssen, doch er nickte zustimmend. „Okay ...“<br />

Kelly merkte sein Zögern und drückte dem jungen Mann die Hand. „Das schaffst du, da<br />

bin ich sicher. Du hast es einmal geschafft, du bekommst es ein zweites Mal hin.“<br />

Sie suchten sich ihre Duschsachen heraus, griffen sich frische Kleidung aus dem Wagen<br />

und marschierten zusammen zu den sanitären Anlagen hinüber. Vor der Herrenanlage trenn-<br />

ten sie sich.<br />

„Alles klar?“, fragte Kelly besorgt.<br />

„Muss ja.“ Shawn nickte angespannt. Er spürte sein Herz rasen, atmete noch einmal tief<br />

durch und öffnete entschlossen die Tür. Während Kelly zur Damenanlage hinüber eilte, betrat<br />

der Schauspieler den Umkleideraum. Heute war hier deutlich mehr los. Einige Japaner unter-<br />

hielten sich lautstark, einige Englisch sprechende Männer begrüßten Shawn freundlich und in<br />

einer Ecke standen zwei Männer mit großen Tätowierungen, kurz geschorenen Haaren und<br />

Muskeln wie Preisboxer und unterhielten sich leise. Der Schauspieler suchte sich einen freien<br />

Platz und begann, sich zu entkleiden. Er schwitzte Blut und Wasser, als er nackt nach seinem<br />

Handtuch griff und sich dieses um die Hüfte schlang. Er hatte sich so gestellt, dass keiner der<br />

anwesenden Männer seinen enthaarten Unterleib sehen konnten. Hastig eilte er in den großen<br />

Duschraum und stellte sich unter eine Dusche am Ende des Raumes. Hier musste er das<br />

Handtuch gezwungenermaßen ablegen. Es gab Haken an der Wand, an die man die Handtü-<br />

cher hängen konnte. Shawn stellte sich unter die Dusche und wusch sich eilig die Haare. An-<br />

schließend griff er nach der Seife und begann, sich einzuseifen. Er bekam nicht mit, dass die<br />

beiden muskelbepackten Männer sich unmittelbar neben ihm unter die nächsten zwei Duschen<br />

stellten. Erst, als er sich abspülte, bemerkte er die Typen. Der ihm am Nächsten stehende<br />

musterte Shawn ungeniert. Der junge Mann spürte eine Gänsehaut auf dem Körper. Hastig<br />

spülte er sich zu Ende ab und drehte das Wasser aus.<br />

474


Scheinbar waren alle anderen mit dem Duschen fertig gewesen, denn außer ihm und den<br />

beiden Kerlen war niemand sonst mehr im Duschraum. Als Shawn nach seinem Handtuch<br />

griff, konnte er nicht vermeiden, dass die beiden Typen einen Blick auf seinen Vorderkörper<br />

werfen konnten. Er meinte, in ihren Augen ein Aufblitzen zu erkennen und raffte sein Hand-<br />

tuch mit zitternden Fingern an sich. Hektisch schlang der Schauspieler sich das Handtuch um<br />

die Hüften und hätte fast Seife und Shampoo vergessen. Verlegen riss er beides aus der klei-<br />

nen Schale, die hierfür vorgesehen war und eilte viel zu schnell aus dem Duschraum. Er hoff-<br />

te, im Umkleideraum nicht allein zu sein, doch die Hoffnung wurde Sekunden später ent-<br />

täuscht. Er war allein. Zitternd rubbelte er sich oberflächlich trocken und zuckte heftig zu-<br />

sammen, als die beiden tätowierten Männer den Duschraum verließen. Noch halb nass stieg<br />

Shawn in Jeans und Hemd und verließ fast fluchtartig den Umkleideraum. Draußen wäre er<br />

fast mit Kelly zusammengeprallt. Diese zuckte erschrocken zusammen, als Shawn so uner-<br />

wartet aus dem Gebäude gestürmt kam und beinahe in sie hinein rannte. Erschrocken fragte<br />

sie:<br />

...“<br />

„Hey, Shawn, was ist passiert?“<br />

Am ganzen Körper bebend stieß Shawn hervor: „Gar nichts. Aber da waren zwei Typen<br />

Alarmiert fragte Kelly: „Haben sie dich belästigt?“<br />

Ihre Augen funkelten so wütend, dass Shawn unwillkürlich glücklich lächelte, wenn auch<br />

nur kurz. Er war sicher, hätte er mit ‘Ja‘ geantwortet, Kelly wäre in die Herrendusche ge-<br />

stürmt und hätte sich wie eine Wildkatze auf die zwei Typen gestürzt. Wahrheitsgemäß schüt-<br />

telte er den Kopf.<br />

„Nein, nein, haben sie nicht. Aber ... Ich weiß nicht, vielleicht werde ich paranoid. Ich bil-<br />

dete mir ein, sie würden mich abschätzend mustern ...“<br />

Erleichtert atmete Kelly auf. „Gott sei Dank! Komm, lass uns zum Zelt gehen.“ Sie legte<br />

einen Arm um Shawns Taille und zog ihn mit sich.<br />

*****<br />

Etwas später saßen sie bei einer Tasse Kaffee über die Speisekarte im Restaurant gebeugt<br />

und suchten sich Abendessen aus.<br />

„Ich werde ... Nein, kein Steak ...“ Shawn zeigte Kelly grinsend die Zunge. „... Barramun-<br />

di nehmen.“ Er versuchte zu demonstrieren, dass er sich gefangen hatte. Kelly ging darauf<br />

ein.<br />

„Na, jetzt bin ich aber platt. Ich glaube, ich gönne mir mal Pasta. Frutti di mare, hört sich<br />

gut an.“ Sie winkte die Bedienung heran und bestellte. „Ich denke, wir trinken Rotwein,<br />

Shawn, oder?“<br />

475


Der Schauspieler nickte. „Gerne.“<br />

Kelly meinte: „Passt zwar nicht zu Fisch, aber du kannst ihn hinterher trinken.“ Sie warf<br />

einen Blick auf die Weinkarte und bat: „Bringen Sie uns eine Flasche 1997 Penfolds Shiraz.“<br />

Als die Bedienung alles aufgeschrieben hatte, sagte Shawn:<br />

„Bist du verrückt? Das ist ein 100 Dollar Wein!“<br />

Kelly lachte. „Na und? Das ist ein exzellenter Barossa Valley. Du wirst ihn mögen und<br />

wir haben uns etwas Gutes verdient, oder?“<br />

Shawn verdrehte die Augen. „Kapitalistin.“, lachte er. Als der Wein etwas später gebracht<br />

wurde und Shawn den Probierschluck eingeschenkt bekam, erklärte er begeistert: „Der ist<br />

großartig.“<br />

Das Essen, das kurze Zeit später gebracht wurde, verdiente den Ausdruck großartig eben-<br />

falls. Zufrieden und satt schlenderten sie eine gute Stunde später zu ihrem Zelt zurück.<br />

Als sie gemütlich auf den Sitzmatten hockten, fragte Kelly noch einmal nach, was sich in<br />

der Dusche abgespielt hatte. Shawn seufzte.<br />

„Ach, ich weiß nicht. Wie gesagt, ich hatte das komische Gefühl, die beiden Typen, das<br />

waren so ... Kurz geschorene Haare, überall Tattoos, Muskeln wie Preisboxer, ich habe die<br />

Panik gekriegt. Ich habe mir eingebildet, sie würden mich mustern und ... Da war niemand<br />

sonst mehr im Duschraum und in der Umkleide. Ich ... ich denke, ich habe mir das eingebildet<br />

und überreagiert.“<br />

„Möglich. Du bist übersensibel, das ist klar. Nicht jeder Mann, der einen anderen Mann<br />

anschaut, denkt gleich an Sex. Genauso kann es sein, dass sie dich tatsächlich aus dem Grun-<br />

de angeschaut haben. Doch selbst wenn, Shawn, wären sie noch lange nicht über dich herge-<br />

fallen. Du darfst dich nicht verrückt machen.“<br />

Shawn nickte bedrückt. „Ja, ist mir klar. Hoffentlich kann ich auf solche Blicke später<br />

wieder gelassen reagieren. Im Moment ... Ich habe Probleme, mich ungezwungen unter ande-<br />

ren Männern zu bewegen. Ich hatte das Gefühl, sie würden alle auf meinen Intimbereich star-<br />

ren und sich ihren Teil zu meiner ... Haarlosigkeit denken.“<br />

„Es kommt immer mehr in Mode, dass sich Männer enthaaren lassen, Shawn. Du bist voll<br />

im Trend.“ Sie wurde rot, das konnte die Psychologin deutlich spüren. „Ich finde es extrem<br />

sexy, das erwähnte ich glaube ich schon das eine oder andere Mal. Beim Liebesspiel gibt es<br />

nichts abturnenderes als das Gefühl, auf Haaren herum zu kauen. Das ist jedenfalls mein<br />

Empfinden.“ Sie klopfte auf ihren Oberschenkel und fügte hinzu: „Wir sollten zu deiner Ge-<br />

fangenschaft kommen, was meinst du? Hast du dir Gedanken gemacht, über welche Situation<br />

du sprechen möchtest?“<br />

„Ja, es gab da eine Sache, die ... Nicht nur eine Sache, das ist Quatsch, aber diese war ...<br />

schlimm. Carrie war ein paar Tage aufs Festland geflogen. Sie hat ... Ich weiß nicht, wer ihr<br />

geholfen hat, es kam ein Hubschrauber und hat sie abgeholt. Ich war allein mit den anderen ...<br />

476


Brett kam und er wollte, dass ich ... Ich sollte ihn oral ... Er ... Gott, ich sollte ihm einen Bla-<br />

sen ...“<br />

*****<br />

Brett fragte Shawn noch einmal: „Wirst du den Befehl ausführen oder nicht?“<br />

Heftig schüttelte Shawn den Kopf. „NEIN! Bitte!“<br />

Brett nickte ruhig. „Gut, deine Entscheidung.“<br />

Er zog Shawn auf die Beine und stieß ihn Richtung Flur. Es ging in den Keller herunter.<br />

Shawns Herz raste vor Angst, aber er wäre nie imstande gewesen, Brett freiwillig mit dem<br />

Mund zu befriedigen. Niemals! Er hatte es schon zwangsweise tun müssen, gefesselt und mit<br />

einem Mundspreizer versehen, der ihn hinderte, die Lippen zusammen zu pressen, aber frei-<br />

willig würde er sich nie dazu durchringen können. Brett drängte ihn zu einer Tür und öffnete<br />

diese. Ein kleiner Raum, ohne weitere Einrichtungsgegenstände, abgesehen von einem Bett.<br />

Brett löste Shawns Fesseln und befahl ihm, sich auf das Bett zu legen. Mit zitternden Beinen<br />

gehorchte der junge Mann. Er legte sich auf das Bett und bekam den Befehl, die Beine zu<br />

spreizen und die Arme nach oben über den Kopf zu strecken. Brett befestigte die Ketten, die<br />

an den Bettpfosten montiert waren, nacheinander an Shawns Manschetten und zwar so<br />

stramm, dass dessen Arme und Beine gestreckt wurden. Er legte Shawn die Augenbinde an.<br />

Der junge Mann hörte weitere Schritte näher kommen und bekam mit wie Brett sagte:<br />

„Kannst anfangen.“<br />

Er verkrampfte sich noch mehr vor Angst. Was würde kommen? Er zuckte zusammen, als<br />

er Hände an seinem Penis fühlte. Zitternd spürte er, wie etwas in seine Harnröhre eingeführt<br />

wurde. Schmerzhaft und unangenehm. Er wand sich in den strammen Fesseln und ab und zu<br />

entwich ihm ein leises Keuchen. Endlich war die Behandlung ausgeführt. Brett erklärte kalt:<br />

„Dir wurde gerade ein Blasenkatheter eingeführt. Du wirst achtundvierzig Stunden keine<br />

Gelegenheit haben, zur Toilette zu gehen. So lange wirst du hier liegen, ohne Essen und Trin-<br />

ken. Wenn die achtundvierzig Stunden herum sind, werde ich dich erneut bitten, mir einen zu<br />

Blasen. Weigerst du dich, wirst du hier weiter liegen bis du verrottest, das schwöre ich dir.“<br />

Shawn hatte fassungslos den kalten Worten gelauscht. Er hörte, wie sich Schritte entfern-<br />

ten und die Tür geschlossen wurde. Als die Stille über ihm zusammenschlug, wurde ihm erst<br />

die Tragweite dessen, in was er sich hinein manövriert hatte, klar. Er würde achtundvierzig<br />

Stunden hier liegen, schmerzhaft stramm gefesselt, ohne jeden Kontakt, ohne etwas zu sehen,<br />

ohne sich bewegen zu können. Sollte etwas mit ihm sein, würde ihn kein Mensch hören kön-<br />

nen, wenn er um Hilfe schrie. Als hätte jemand einen Schalter in ihm umgelegt, brach heftige<br />

Panik über ihn herein!<br />

477


Hysterisch zerrte er an den Fesseln, aber genauso gut hätte er versuchen können, sich<br />

Kraft seiner Gedanken von der Insel fort zu beamen. Er wollte es gar nicht, doch verhindern<br />

konnte er es nicht: Er fing an zu schreien.<br />

„Hey! Lasst mich hier raus! Macht mich los! Bitte! Holt mich hier raus!“<br />

Höhnische Totenstille antwortete ihm. Kein noch so kleines Geräusch drang an seine Oh-<br />

ren. Erneut zerrte er an den Fesseln, tat sich damit aber nur selbst weh. Seine Schultergelen-<br />

ke fühlten sich an, als würden sie jeden Moment aus den Gelenkpfannen springen. Keuchend<br />

versuchte er, seine Haltung soweit zu verändern, dass der Zug auf die Arme geringer wurde.<br />

Erschöpft lag er still. Abgesehen von seinen eigenen Geräuschen, die er verursachte, hörte er<br />

rein gar nichts. Leise wimmerte er:<br />

„Bitte, holt mich hier raus, bitte ...“<br />

Niemand kam, um ihm zu helfen. Tödlich langsam tropften die Minuten dahin. Wie, um al-<br />

les in der Welt, sollte er diese Tortur achtundvierzig Stunden lang ertragen, ohne den Ver-<br />

stand zu verlieren? Eine neue Welle der Panik wogte über den Hilflosen hinweg. Sein Herz<br />

raste und er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Eine ausgewachsene Panikatta-<br />

cke hielt ihn endlose Minuten fest im Griff. Shawn war schwindelig, er keuchte verzweifelt<br />

nach Luft und seine Lippen fühlten sich eigenartig taub an. Er hyperventilierte. Und dann<br />

schaltete sein Hirn zu seiner eigenen Sicherheit erst einmal ab. Er verlor die Besinnung.<br />

*****<br />

Als er zu sich kam, hatte sein Körper während seiner Abwesenheit alle Gänge auf ein<br />

Normalmaß herunter gefahren. Sein rasender Herzschlag hatte sich beruhigt, er bekam Luft<br />

und der Schwindel hatte nachgelassen. Er wusste, dass er sich zwingen musste, ruhig zu blei-<br />

ben. Noch ein paar solcher Anfälle und er würde nicht mehr aufwachen. Hätte er nur etwas<br />

sehen können. Die totale Dunkelheit, die durch die Augenbinde verursacht wurde, zwang ihn<br />

regelrecht, sich auf sich selber, seine Situation und seinen Körper zu konzentrieren. Schon<br />

jetzt hatte er das Gefühl, es keine Sekunde länger auszuhalten. Wie viel Zeit mochte vergan-<br />

gen sein? Shawn hatte nicht die geringste Chance, das nur ansatzweise zu Schätzen. Ihm kam<br />

es wie eine Ewigkeit vor. Qualvoll langsam verging die Zeit. Er bekam Durst und Hunger.<br />

Aber er würde nichts zu essen bekommen. Und nichts zu Trinken. Sein Mund war trocken,<br />

denn er atmete die meiste Zeit trotz aller Bemühungen, sich zu beherrschen, vor Angst und<br />

Verzweiflung viel zu schnell und mit offenem Mund. Er war sich sicher, hier zu Sterben. Seine<br />

Schultern waren taub, die Muskeln in seinen Oberschenkeln verkrampften sich von der<br />

strammen, erzwungenen Haltung schmerzhaft. Er merkte gar nicht, dass er immer häufiger<br />

vor Schmerzen und Verzweiflung stöhnte. Er hätte alles getan, um hier heraus zu kommen,<br />

hätte sich sogar überwunden und Brett seinen Wunsch erfüllt. Unter der Augenbinde traten<br />

Shawn Tränen in die Augen. Er hätte sich mit Freude auspeitschen, mit den verhassten Elekt-<br />

478


oschocks malträtieren und von Brett vergewaltigen lassen. Selbst Teresas Vorliebe, ihn bis<br />

zur Besinnungslosigkeit zu Würgen, hätte er gerne in Kauf genommen, wenn er losgemacht<br />

worden wäre. Verzweifelt schluchzte er vor sich hin. Er bekam nicht bewusst mit, dass er,<br />

heiser vom Schreien und Betteln um Gnade wimmerte, darum, dass sie ihn befreien mögen. Er<br />

blieb allein. Verängstigt, verzweifelt, durstig und hungrig und von immer stärkeren Schmer-<br />

zen gequält.<br />

Die Stunden vergingen. Das Alleinsein drückte mit jeder Minute schwerer auf Shawns<br />

Gemüt. Niemand, der mit ihm sprach, der ihm Mut gemacht hätte. Nur drückende Stille.<br />

Shawn wimmerte nach Carrie. Sie war die Einzige, die ihn retten konnte, da war er sich si-<br />

cher. Sie tat ihm weh, quälte ihn öfter als die anderen, aber sie kümmerte sich auch liebevoll<br />

um ihn. Sie behandelte Wunden, die er davon trug, sie hielt ihn im Arm, wenn er am Ende<br />

war, sie machte ihm Mut und gab ihm Kraft, wenn die anderen sich mit ihm beschäftigten. Sie<br />

war es, die ihm die Gelegenheit gab, seine ausweglose Situation für Stunden zu vergessen. Sie<br />

brachte ihn zu Orgasmen, von denen er früher nicht einmal geträumt hätte. Sie ließ ihn zwi-<br />

schendurch Mensch sein. Er liebte es, mit ihr am Strand zu liegen und sich mit ihr zu unter-<br />

halten, mit ihr Schwimmen zu gehen oder abends bei Kerzenschein im Salon zu sitzen und<br />

Schach zu spielen. Sie hörten zusammen klassische Musik, oder lasen gemeinsam Bücher.<br />

Häufig aßen sie zusammen und unterhielten sich normal. Er schlief mehr bei ihr im Bett als<br />

in seinem eigenen Zimmer und genoss es. Sie zu lieben war eine Offenbarung. Ihr Körper war<br />

so wundervoll. Sie hatte Haut wie Samt und wenn sie in höchster Ektase die Beine um ihn<br />

schlang, war er freiwillig bereit, Schmerzen für sie zu ertragen, weil er wusste, dass sie es<br />

unendlich liebte, ihn schreien zu hören, zu beobachten, wie er sich in Qualen wand. Für sie<br />

ertrug er das. Aber sie war nicht da! Sie war auf das Festland geflogen und würde erst in ein<br />

paar Tagen zurückkommen. Als sie ihm das gesagt hatte, war er fast zusammengebrochen.<br />

Und jetzt brauchte er sie, wie er noch nie einen Menschen gebraucht hatte. Sie würde ihn<br />

Erlösen aus seiner unerträglichen Qual. Aber sie kam nicht.<br />

Nach einer schieren Ewigkeit dachte er, die achtundvierzig Stunden müssten bald herum<br />

sein. Es konnte unmöglich noch lange dauern. Eine verzweifelte, irrationale Hoffnung machte<br />

sich in ihm breit. Ja, es müsste bald vorbei sein. Er würde Brett bedienen, so oft dieser es nur<br />

wollte. Er würde alles, alles tun, um nie wieder in diese Lage zu geraten. Shawn zuckte heftig<br />

zusammen, als es hinter ihm statisch knackte. Er hörte eine Stimme aus einem Lautsprecher.<br />

Eine Stimme, die ihn aus der Hoffnung in ein Tal der Tränen zurückstieß.<br />

„Du hast vierundzwanzig Stunden geschafft.“<br />

„NEIN! Nein, das kann nicht sein. NEIN!“ Shawn brüllte vor Verzweiflung. Nie war erst<br />

gerade mal die Hälfte der Zeit vorbei. Nein, das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. „Bit-<br />

te, sag, dass das nicht stimmt. Ich kann nicht mehr. Bitte, ich ertrage das nicht mehr!“<br />

479


Er musste es weiter ertragen. Shawn schluchzte hysterisch auf. Irgendwann hatte er keine<br />

Kraft mehr, weiter zu schluchzen. Am Ende seiner Kräfte lag er paralysiert still und wimmerte<br />

nur noch leise vor sich hin. Er war sicher, das hier nicht zu überleben. Er würde hier sterben.<br />

Und Carrie war nicht da, um ihn zu retten.<br />

*****<br />

Der Hubschrauber landete sanft auf dem Landeplatz und Carrie stieg beschwingt aus der<br />

Kanzel. Alan erwartete sie.<br />

„Na. Wie war der Ausflug?“, fragte er, und begann, die Einkäufe, die Carrie im Hub-<br />

schrauber liegen hatte, heraus zu sammeln.<br />

„Großartig. Es waren wundervolle Tage. Wie geht es Shawn?“<br />

Alan zuckte die Schultern. „Ich habe mich an deine Anweisung gehalten und mich nicht<br />

darum gekümmert, was deine Freunde treiben. Ich habe keine Ahnung, was sie gemacht ha-<br />

ben.“, sagte er ruhig.<br />

Carrie nickte zufrieden. „Gut, ich werde mal gucken gehen, was los war. Schaff die Sa-<br />

chen doch bitte ins Haus und räume alles weg. Ich habe dir deine Bestellungen mitgebracht.<br />

Die Kleidung kannst du in mein Ankleidezimmer bringen, ich werde sie später selbst einräu-<br />

men.“<br />

Carrie verschwand Richtung Haus. Schnell schlüpfte sie aus den Pumps und eilte barfuß<br />

auf die Terrasse, wo sie Karen, Teresa und Brett antraf. Freudig wurde sie begrüßt. Neugie-<br />

rig fragte sie:<br />

„Wo ist Shawn?“<br />

Brett grinste. „Der liegt sicher verwahrt im Schweigeraum.“<br />

Carrie stutzte. „Warum?“<br />

„Er hat einen eindeutigen Befehl verweigert.“<br />

Die junge Frau sah Brett scharf an. „Das tut er normalerweise nicht. Was hast du von<br />

ihm verlangt?“<br />

Brett verzog genussvoll das Gesicht. „Er sollte mir einen Blasen. Aber er hat es verwei-<br />

gert. Ich habe ihm drei Mal die Chance, gegeben, dann habe ich ihn in den Schweigeraum<br />

geschafft.“<br />

Carrie nickte. „Okay. Wie lange? Zwei, drei Stunden?“ Sie wusste, wie qualvoll der Auf-<br />

enthalt dort war, es war eine Bestrafung, die nur wenige Stunden durchgeführt werden durfte.<br />

Brett grinste.<br />

„Einunddreißig ...“<br />

Carrie wurde starr. „Was?“<br />

Brett nickte. „Ja, einunddreißig, achtundvierzig sollen es werden.“<br />

480


Vor Wut hochrot im Gesicht sagte Carrie kalt: „Du hast ihn seit einunddreißig Stunden<br />

dort? Bist du wahnsinnig? Das könnte ihn unbrauchbar gemacht haben.“ Sie fuhr herum und<br />

rannte los. Plötzlich hatte sie Angst vor dem, was sie im Keller vorfinden würde.<br />

Sie erreichte den Schweigeraum und riss die Tür auf. Da lag er, ein wimmerndes, schluch-<br />

zendes Häufchen Elend.<br />

„Shawn!“<br />

Der junge Mann zuckte heftig zusammen. „Carrie? Carrie! Hilf mir ...“ Verzweifelt<br />

schluchzte er auf. Mit zwei großen Schritten stand Carrie neben dem Bett.<br />

„Psst, ich bin da, mein Liebling, ich helfe dir. Bleib ruhig, ich bin da.“ Sie löste mit flie-<br />

genden Fingern die Fesseln und die Augenbinde. Shawn weinte haltlos. Er war am Ende. Er<br />

bekam die Sorge in der Stimme Carries nicht mit.<br />

„Bewege dich nicht, Shawn, ich helfe dir, warte.“ Sanft nahm sie seine Arme und langsam<br />

und vorsichtig bewegte sie diese aus der erzwungenen Position nach unten. Shawn konnte<br />

einen gequälten Aufschrei nicht unterdrücken. Seine Schultern fühlten sich an, als stünden sie<br />

in Flammen. Carrie nahm seine Beine und hob diese sanft an, drückte sie zusammen, bis er<br />

normal lag. Shawn wollte sich aufsetzen, aber sie drückte ihn schnell zurück.<br />

„Bleib liegen, Schatz, dein Kreislauf bricht sonst komplett zusammen.“ Sie wollte aufste-<br />

hen und aus dem Raum rennen, aber Shawns Stimme hielt sie zurück.<br />

„Nicht weggehen ...“ So verzweifelt klang er, dass Carrie augenblicklich stehen blieb und<br />

zu ihm zurück eilte. Sie drückte auf einen Knopf an der Wand und fast sofort tönte Alans<br />

Stimme aus dem Lautsprecher an der Wand.<br />

„Ja, Ma'am?“<br />

„Komm sofort in den Schweigeraum, beeil dich!“<br />

Minuten später hetzte der Riese in den Raum. Als er Shawn sah, erschrak er.<br />

„Was ist passiert?“<br />

„Brett hat ihn hier seit einunddreißig Stunden ans Bett gefesselt. Bringe ihn bitte in mein<br />

Schlafzimmer, aber vorsichtig.“ Sie zog den halb vollen Beutel Urin vom Katheter ab und trat<br />

zur Seite.<br />

Sanft nahm Alan den fast besinnungslosen Shawn auf seine Arme und trug ihn wie ein<br />

kleines Kind nach oben in Carries Schlafzimmer. Dort legte er ihn auf das Bett seiner Chefin.<br />

Carrie beugte sich über Shawns Unterleib und fing vorsichtig an, ihm den Schlauch aus der<br />

Harnröhre zu ziehen. Das verursachte ihm heftiges Brennen und er keuchte auf. Endlich war<br />

der Schlauch draußen.<br />

„Dreh ihn bitte auf den Bauch. Dann kannst du gehen, ich rufe, wenn ich dich brauche.“,<br />

wies sie Alan an. Sie eilte ins Bad und kam mit Massageöl zurück. Sie tröpfelte Shawn davon<br />

auf die Schultern und massierte ihn, bis sie spürte, dass sich die schlimmsten Verspannungen<br />

481


an seinen Schultergelenken lösten. Er lag still da, wimmerte nur ab und zu leise auf vor<br />

Schmerzen. Als sie fertig war drehte sie ihn langsam auf den Rücken. Jetzt erst wachte Shawn<br />

allmählich aus der Erstarrung auf. Er sah Carrie mit tränenfeuchten, roten, verschwollenen<br />

Augen an und flüsterte schwach:<br />

„Carrie ...“<br />

Sie nickte und ließ sie es zu, dass er sich aufrichtete. Er sackte in ihre Arme und wurde<br />

von einem heftigen Weinkrampf regelrecht durchgeschüttelt. Sie ließ ihn weinen. Erst nach<br />

einer ganzen Zeit begann sie, ihn zu beruhigen.<br />

„Psst, ruhig, ich bin bei dir, dir wird nichts mehr passieren. Du bist in Sicherheit, okay.“<br />

Als er sich gefangen hatte, gab sie ihm erst einmal etwas zu trinken. Als er den Durst ge-<br />

löscht hatte, entkleidete sie sich und legte sich zu ihm. Er kuschelte sich in ihre Arme und<br />

schloss die Augen.<br />

„Ich wusste ... dass du mich befreien würdest ...“, flüsterte er erschöpft und schon fielen<br />

ihm die Augen zu. Er schlief tief und fest ein.<br />

Carrie tobte innerlich vor Wut. Was Brett da eigenmächtig getan hatte, verstieß gegen je-<br />

de von ihr aufgestellte Regel und würde für Brett selbst eine harte Strafe nach sich ziehen.<br />

Karen und Teresa würden sich ebenfalls verantworten müssen. Sie wussten von den Regeln,<br />

die Carrie klar aufgestellt hatte, und eine solche Bestrafung gehörte eindeutig nicht dazu.<br />

Shawn, der sich im Schlaf fest an Carrie klammerte, hätte dort unten Sterben können. Sie wa-<br />

ren sich einig geworden, ihn noch leben zu lassen. Das, was Brett getan hatte, war lebensbe-<br />

drohlich für ihren Sklaven gewesen und hatte ihn möglicherweise unbrauchbar gemacht. Car-<br />

rie entfuhr ein Schnaufen. Brett würde das bitter bereuen, ebenso Teresa und Karen. Sie<br />

wandte ihre Aufmerksamkeit dem jungen Mann in ihren Armen zu. Hoffentlich erholte er sich<br />

von der Tortur. Sie sah ihm in das blasse Gesicht und ihre Augen funkelten vor Wut. Was<br />

Brett da getan hatte, konnte den Sklaven möglicherweise gebrochen haben. Dann nützte er<br />

nichts mehr.<br />

Shawn schlief fast vierundzwanzig Stunden. Als er aufwachte, ging es ihm besser. Carrie<br />

war nicht von seiner Seite gewichen und war auch bei ihm im Bett, als er die Augen auf-<br />

schlug. Er sah sich etwas orientierungslos um. Dann sagte er leise:<br />

„Danke.“<br />

Sie lächelte. „Wie fühlst du dich?“<br />

Er lauschte in sich hinein, bewegte probehalber Arme und Beine und erklärte:<br />

„Gut. Ich habe Hunger und Durst.“<br />

„Du wirst gleich ein schönes Frühstück bekommen und hinterher werde ich dich Baden.“<br />

Sie drückte auf den Knopf neben dem Bett und als Alans Stimme erklang, befahl sie ihm, ein<br />

Frühstück für Shawn zu bereiten. Kurze Zeit später brachte Alan dies und Carrie half Shawn,<br />

482


sich im Bett aufzusetzen. Sie stellte ihm das Frühstück auf einem Betttisch über die Beine und<br />

als er satt war, fühlte er sich wohler. Carrie stand zwischendurch auf und ließ die große Ba-<br />

dewanne im Bad voll laufen. Als Shawn fertig gegessen hatte, war die Badewanne ebenfalls<br />

fertig.<br />

„Komm, ich werde dich Verwöhnen.“, sagte sie und reichte ihm die Hand. Er erhob sich<br />

vorsichtig. Kurz wurde ihm schwindelig, dann hatte sein Kreislauf sich beruhigt. Er folgte<br />

Carrie ins Bad und stieg dort aufseufzend in die übergroße Wanne. Carrie fixierte seine Arme<br />

an den Halterungen am Badwannenrand und seine Beine gespreizt an den am Boden der<br />

Wanne dafür vorgesehenen Halterungen. Sie stieg zu ihm in das herrlich warme Wasser.<br />

Lächelnd griff sie nach einem weichen Schwamm und schäumte diesen gründlich ein. Nun<br />

begann sie, sanft und sinnlich, Shawns Körper zu waschen. Er lehnte sich entspannt und mit<br />

geschlossenen Augen zurück und genoss die Behandlung.<br />

Als der Schwamm sich langsam seinen Genitalien näherte, hielt Shawn unwillkürlich die<br />

Luft an. Schon kreiste der weiche Schwamm um seine Hoden und seinen Penis und dieser<br />

wurde augenblicklich steif. Carrie kniete sich zwischen seine weit gespreizten Beine und fuhr<br />

sanft mit dem Schwamm an seinem Penis auf und ab. Shawns gefesselte Hände zuckten. Er<br />

legte den Kopf in den Nacken und stöhnte vor Erregung. Sein Unterleib drückte sich Carrie<br />

entgegen. Diese holte tief Luft und tauchte den Kopf ins Wasser. Ihre Lippen schlossen sich<br />

um Shawns Glied und bewegten sich sanft auf und ab. Ihre Zunge spielte mit seiner Eichel<br />

und trieb ihn fast in den Wahnsinn. Als sie auftauchen musste, um zu Atmen, keuchte er vor<br />

Erregung. Sie schloss sanft eine Hand um sein Glied und nach kurzer Zeit war er nur noch<br />

ein zuckendes Stück Lust unter ihren sinnlichen Berührungen. Stöhnend und sich windend<br />

kam er zum Orgasmus und wurde vor Erleichterung schlaff. Zufrieden wusch sie ihn zu Ende<br />

und machte ihn los. Sie half ihm aus der Wanne und rubbelte ihn trocken. Zusammen kehrten<br />

sie ins Schlafzimmer zurück und Carrie wies Shawn an, sich auf das Bett zu setzen. Noch ein-<br />

mal fragte sie ihn:<br />

„Wie fühlst du dich?“<br />

Er vermied, sie direkt anzusehen, denn er hatte Angst davor, was sie in seinen Augen le-<br />

sen könnte. Leise sagte er:<br />

„Gut. Die Schultern tun noch etwas weh, und es brennt in ... der Harnröhre, aber ich füh-<br />

le mich gut.“<br />

Zufrieden und erleichtert nickte Carrie. „Es tut mir leid, dass das passiert ist. Brett und<br />

die Mädels werden eine schwere Strafe bekommen, das, was sie dir angetan haben, hätte ich<br />

nie erlaubt und das wussten sie. Wir haben feste Regeln, gegen die sie verstoßen haben. Du<br />

wirst Bretts Befehl allerdings noch ausführen. Hast du das verstanden?“<br />

Verzweifelt schloss Shawn die Augen. Dann nickte er. „Ja.“<br />

483


„Gut. Anschließend werde ich die drei abstrafen.“<br />

Shawns Herz machte einen Satz. Erstaunt sah er auf und Carrie direkt an.<br />

„Komm, du hast noch etwas zu erledigen.“ Sie deutete Shawn an, sich zu erheben und fes-<br />

selte seine Hände auf den Rücken. So führte sie ihn in den Salon. Hier stießen sie auf Brett<br />

und Karen, Teresa war nicht anwesend. Carrie befahl Shawn, stehen zu bleiben und sich<br />

nicht zu rühren. Sie wandte sich an die Freunde.<br />

„Ihr habt gegen unsere Regel verstoßen. Ich werdet eine angemessene Strafe erhalten.“<br />

Brett und Karen sahen Carrie an, nickten aber kommentarlos und wirkten plötzlich verängs-<br />

tigt. Carrie sah Brett direkt an.<br />

„Brett, Shawn möchte dir etwas sagen.“ Sie sah Shawn an und dieser stammelte: „Es tut<br />

mir leid, dass ich deinen Befehl nicht ausgeführt habe. Wenn du es möchtest, werde ich es<br />

nachholen.“ Immer leiser war seine Stimme geworden und in seinen Augen schwammen Trä-<br />

nen. Er würgte bei dem Gedanken, was er gleich würde machen müssen. Brett nickte zufrie-<br />

den.<br />

„Gut, dann wollen wir mal.“<br />

Er marschierte in das dem Salon angeschlossene große Schlafzimmer und ließ sich auf<br />

das extrem breite Bett sinken. Er rutschte in die Mitte und streifte sich die Badehose herunter.<br />

Vor Ekel und Abscheu zitternd trat Shawn an das Bett heran und Carrie gab ihm einen sanf-<br />

ten Stoß in den Rücken.<br />

Ergeben turnte er auf das Bett und kniete neben Brett nieder. Carrie sah ihm aufmerksam<br />

zu. Kalt sagte sie: „Wenn ich das Gefühl habe, du strengst dich nicht genug an, werde ich<br />

dich so auspeitschen, dass du drei Tage nicht liegen kannst, hast du das verstanden?“<br />

Obwohl ihm Tränen über die Wangen kullerten, nickte Shawn. „Ja, hab ich verstanden.“<br />

„Fang an.“ Carrie deutete auf Brett, der deutlich erregt war. Shawn beugte sich über des-<br />

sen Unterleib und zögerte angeekelt. Carrie seufzte. Sie trat an den Schrank mit den Instru-<br />

menten und nahm die Reitgerte heraus. Shawn zuckte zusammen und schloss die Augen. Ver-<br />

zweifelt überwand er sich und beugte sich tiefer. Er tastete mit dem Lippen, bis er Bretts Pe-<br />

nis spürte und schluchzte vor Ekel auf. Aber er tat, was man von ihm verlangte. Zum Glück<br />

für ihn war Brett schnell so weit, sodass Shawn ihn nicht lange befriedigen brauchte. Als der<br />

Mann zum Orgasmus kam und sich in Shawns Mund entleerte, rutschte dieser keuchend vom<br />

Bett. Ohne zu fragen, ob er durfte, taumelte er aus dem Raum zum kleinen Bad im Flur, sank<br />

vor der Toilette in sich zusammen und übergab sich keuchend und würgend. Anschließend<br />

hockte er weinend auf den Knien vor dem Klo und versuchte, sich zu fangen. Carrie war ihm<br />

nachgegangen und hockte sich neben ihn. Sie hatte ein großes Glas Wasser in der Hand und<br />

half Shawn, sich den Mund gründlich zu Spülen. Dann zog sie ihn an sich, bis sie spürte, dass<br />

er sich beruhigte. Zufrieden sagte sie:<br />

484


„Das hast du großartig gemacht, ich bin stolz auf dich.“ Sie richtete sich auf und half<br />

Shawn auf die Beine. Der junge Mann war noch blass, aber er folgte Carrie zurück in den<br />

Salon.<br />

Carrie führte ihn zum Sofa. „Du machst es dir hier gemütlich.“ Sie löste seine Handfes-<br />

seln und er legte sich lang. Noch immer hatte er das Gefühl, Bretts Penis in seinem Mund zu<br />

spüren. Er schüttelte sich heftig. Carrie war zu den anwesenden drei Freunden getreten und<br />

erklärte kalt:<br />

„Ihr habt gewusst, dass der Schweigeraum für maximal vier Stunden vorgesehen war. Ihr<br />

habt Shawn nicht überwacht, er hätte sterben können. Ihr werdet bestraft werden, wie wir es<br />

abgesprochen haben. Zieht euch aus.“<br />

Als wäre er ein Hellseher, war Alan leise in den Raum getreten und stand bedrohlich ab-<br />

wartend neben dem Sofa bei Shawn. Dieser konnte nicht fassen, was er da gerade gehört hat-<br />

te. Brett, Teresa und Karen warfen Alan einen verängstigten Blick zu und entkleideten sich<br />

hastig. Carrie sah Brett kalt an.<br />

„Du zuerst.“<br />

Am ganzen Leib zitternd trat Brett zwischen die Säulen und Carrie fixierte ihn, wie sie so<br />

oft Shawn dort fixiert hatten. Ruhig trat sie an den Schrank mit den Peitschen und zog den<br />

Rohrstock hervor. Sie ging zu Brett zurück, der zitternd in den Fesseln hing und ohne ein<br />

Wort zu sagen oder zu zögern schlug Carrie zu. Schon der erste Schlag entlockte dem Mann<br />

einen gellenden Schmerzensschrei. Eine Stunde später hatte sie alle drei Freunde mit je fünf-<br />

zig Stockhieben abgefertigt.<br />

*****<br />

40) Kakadu Nationalpark<br />

Ungelogene Begeisterung ist die tiefste Lebenspoesie, die unmittelbarste, reellste<br />

Glückseligkeit, die es gibt.<br />

Bogumil Goltz<br />

Als Shawn die furchtbaren Stunden, gefesselt an den Tisch, noch einmal durchlebte, zitter-<br />

te er wie Espenlaub in Kellys Armen. Er schluchzte vor sich hin und stotterte:<br />

„Ich habe gedacht, ich ... ich werde da sterben. Mir tat alles so weh ... Meine Arme ... Die<br />

Schultern ... Ich konnte nichts sehen und nichts hören ... Hast du mal Krämpfe in den Ober-<br />

schenkeln gehabt? Ich hatte ... Gott, ich hätte für einen Schluck Wasser nach einiger Zeit ge-<br />

mordet. Ich dachte, die Zeit wäre bald um ... und dann ... Mein Gott, es kam mir vor, als wür-<br />

de ich tagelang dort liegen ... Als Carrie ... Ich hätte alles getan, alles, um daraus zu kommen.<br />

485


Ich konnte es nicht mehr ertragen, verstehst du? Ich konnte nicht mehr ...“ Der Schauspieler<br />

schluchzte heftig. „Wenn Brett gekommen wäre, ich hätte ihm freiwillig hundertmal hinterei-<br />

nander einen geblasen. Und Alan und jedem Mann, wenn ich nur da raus gekommen wäre.<br />

Als Carrie endlich kam, war das, als ... als würde ein Engel kommen und mich retten. Es ...<br />

Sie hat mich gerettet. Als ich bei ihr im Bett lag, das war wie das Paradies. Ich wusste teilwei-<br />

se nicht, ob ich nicht gestorben war. Alles verwirrte sich ... Ich glaube, ich habe halluziniert,<br />

als ich da lag ...“ Shawn redete wirr durcheinander, aber das war egal. Alles, was ihn so un-<br />

endlich bedrückte, sprudelte wild durcheinander aus ihm heraus. Kelly ließ ihn reden.<br />

Irgendwann beruhigte sich der Schauspieler langsam und flüsterte erschöpft:<br />

„Das ... war mit ... puh ... Das war mit das Schlimmste in der Zeit dort. Als sie mich später<br />

zum Sterben dort zurückließen, hatte ich nicht halb so viel Angst. Da war mir wohl alles egal.<br />

Aber dort, in dem Kellerraum, da bestand ich nur noch aus Angst. Diese Hilflosigkeit ... Man<br />

bildet sich schnell die verrücktesten Dinge ein. Oder denkt an die ... Ich dachte, wenn jetzt<br />

eine Spinne an mir herumkrabbelt, könnte ich die nicht einmal wegmachen. Oder ... wenn ...<br />

Da war ein Waschbecken in dem Raum, und ich dachte, wenn das Wasserrohr bricht, und der<br />

Raum voll läuft ... Ich wäre jämmerlich ertrunken, niemand hätte mich schreien gehört. Ich<br />

war es ja gewohnt, gefesselt zu sein, aber es ist etwas anderes, wenn jemand bei dir ist, selbst,<br />

wenn dieser jemand dir wehtut. Aber du weißt, wenn etwas ist, wirst du ... Es wird dir gehol-<br />

fen, beziehungsweise jemand ist da, um zu merken, wenn du Hilfe brauchst. Da unten ... Da<br />

hätte eine Bombe hoch gehen können, das hätten sie oben im Haus nicht mit bekommen.“<br />

Müde verstummte der junge Mann. Kelly hatte noch kein Wort gesagt. Das war nicht nö-<br />

tig. Shawn wartete nicht darauf, dass sie etwas sagte. Sie sollte nur zuhören. Als er weiter<br />

schwieg, erklärte sie sanft:<br />

„Shawn, niemand macht dir Vorwürfe, dass du bereit warst, alles zu tun, um der Qual end-<br />

lich zu entkommen. Du brauchst dir keine Vorwürfe machen, dass du schnell bereit warst,<br />

alles zu tun, um dem ein Ende zu machen, jeder andere hätte genauso gehandelt.“ Sie konnte<br />

spüren, wie Shawn auf ihrem Schoss den Kopf schüttelte.<br />

„Bestimmt nicht. Es gibt genügend ...“<br />

Kelly unterbrach Shawn energisch. „Ja, es gibt sicher Menschen, die das weggesteckt hät-<br />

ten, klar. Militärangehörige, Polizeikräfte, Menschen, die darauf gedrillt wurden, in Gefahren-<br />

situationen cool zu bleiben. Die gehen durch eine knüppelharte Ausbildung, Honey. Warst du<br />

beim Militär?“<br />

„Nein, ich ...“<br />

„Hast du eine Spezialausbildung bei der Polizei, beim FBI, CIA, Homeland Security?“<br />

„Nein, natürlich nicht, ich ...“<br />

486


„Eben! Du bist Schauspieler, kein Kämpfer. Du bist kein Marine, kein Navy Seal, kein<br />

FBI Agent, nichts dergleichen. Du bist nur ein normaler Mensch mit normalen Ängsten und<br />

Schwächen. Und, Shawn, ich hatte auch aus diesen Berufszweigen Patienten. All diese spezi-<br />

ell ausgebildeten Kampfkräfte werden ständig psychologisch betreut. Sie müssen zum Psy-<br />

chologen, oder zum Seelsorger. Auch das sind keine Übermenschen. Wenn in Filmen darge-<br />

stellt wird, wie locker die alles wegstecken, bitte, Shawn, vergiss nie, das ist Hollywood. Im<br />

realen Leben sieht das anders aus.“ Kelly überlegte kurz. „Weißt du, was die camera silens<br />

ist?“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Nein, nie gehört.“<br />

Während die Psychologin ihre Finger sanft durch Shawns Haare gleiten ließ erklärte sie:<br />

„Der Begriff Weiße Folter ist dir aber geläufig, oder?“<br />

Kopfnicken auf ihrem Schoß.<br />

„In der Weißen Folter wurde und wird die camera silens gerne eingesetzt. Es handelt sich<br />

um einen vollkommen schalldichten, dunklen, kleinen Raum. Durch viele experimentalpsy-<br />

chologischen Untersuchungen weiß man heute, dass Bedingungen wie die in der camera si-<br />

lens, auch Black Box genannt, Menschen in kürzester Zeit physisch und psychisch zermürben<br />

können. Physisch tritt eine allmähliche Zerstörung der sogenannten vegetativen Funktionen<br />

ein, was sich unter anderem in krankhaften Veränderungen bezüglich des Schlaf-, Nahrungs-<br />

aufnahme- und Urinierbedürfnisses, sowie in Kopfschmerzen oder Gewichtsverlust äußert.<br />

Psychisch kommt es schnell zu emotionaler Instabilität. Es wurde festgestellt, dass es in kur-<br />

zer Zeit unter anderem zu zeitlicher und räumlicher Desorientierung, Halluzinationen, diese<br />

werden zum Teil schon nach fünfzehn bis dreißig Minuten festgestellt, Konzentrationsschwie-<br />

rigkeiten, Gedankenflucht und schlechtem Erinnerungsvermögen sowie Sprach- und Ver-<br />

ständnisdefiziten kommt. Zusätzlich zu dem absoluten Schall- und Lichtmangel wird verstär-<br />

kend Bewegungsmangel herbeiführt, was die Gefolterten noch schneller zum Wahnsinn treibt.<br />

Nichts anderes hat man dir zugemutet! Du konntest nichts Hören, nichts Sehen und warst be-<br />

wegungsunfähig. In dieser Lage brechen selbst die bestausgebildetsten Spezialisten schnell<br />

vollkommen zusammen. Du hast also wirklich nicht den geringsten Grund, dich zu Schämen.“<br />

Shawn seufzte leise. „Wieder einmal muss ich dir danken. Was du sagst, hat wohl Hand<br />

und Fuß. Ich verstehe es, aber noch fühlt es sich anders an. Doch ich denke, dass ich es ir-<br />

gendwann nicht nur verstehen, sondern begreifen werde.“<br />

Kelly strich dem jungen Mann durch die Haare. „Das wirst du, Shawn, davon bin ich<br />

überzeugt. Wie geht es dir? Bereit, ins Bett zu krabbeln?“<br />

„Es geht. Die Erinnerung daran war schlimm, aber es hat extrem gut getan, es auszuspre-<br />

chen. Ich dachte, ich würde nie fertig bringen, von all dem ... Horror zu erzählen. Dein Ver-<br />

ständnis und deine Bereitwilligkeit, nur zuzuhören, hilft mir so extrem ...“ Er stemmte sich<br />

auf die Füße und half Kelly ebenfalls hoch. Schnell verschwand der junge Mann noch einmal<br />

487


im Busch hinter dem Zelt, um seine Blase zu erleichtern, dann krabbelte er zu Kelly, die sich<br />

auf ihren Schlafsack gelegt hatte. Im Zelt war es warm und stickig.<br />

müde.<br />

„Wird Zeit, mal wieder in einem richtigen Zimmer zu schlafen.“, seufzte die Psychologin<br />

„Ja, die letzten Nächte waren heftig. Ein richtiges Bett und eine eigene Dusche wären zur<br />

Abwechslung nicht schlecht.“ Shawn stieg aus seiner Jeans und dem Hemd und machte es<br />

sich so gemütlich es ging. Er tastete im Dunkeln nach Kellys Hand und flüsterte: „Gute Nacht<br />

und vielen Dank für die wundervollen Tage.“<br />

„Haben wir alles?“<br />

*****<br />

Kelly sah sich noch einmal gründlich auf ihrem Übernachtungsplatz um.<br />

„Sieht so aus. Mensch, ich freue mich auf den Kakadu, das glaubst du gar nicht.“ Shawn<br />

war richtig aufgeregt an diesem Morgen. Er hatte in der Nacht erstaunlich gut geschlafen und<br />

war hervorragend gelaunt aufgestanden. Sie hatten alles zusammengepackt und waren start-<br />

klar. Kelly klemmte sich ans Steuer und um 9 Uhr waren sie unterwegs. Sie meldeten sich am<br />

Headquarter ab und eine halbe Stunde später bog die Psychologin auf den Stuart Highway ab.<br />

Sie gab Gas und die 90 Kilometer bis Pine Creek, wo sie den Highway 1 verließen, um auf<br />

den Kakadu Highway abzubiegen, hatten sie rasch geschafft. Der Highway 21 schlängelte<br />

sich im Gegensatz zum Stuart Highway durch die raue Landschaft. Kelly konnte nicht mehr<br />

so schnell fahren. Zirka 50 Kilometer später passierten sie die offizielle Grenze zum Kakadu<br />

Nationalpark. Sie lächelte.<br />

„So, hier sind wir an der südlichen Grenze. Ab hier bewegen wir uns im Park.“<br />

Shawn konnte auf den nächsten Kilometern noch keine gravierenden Veränderungen an<br />

der Landschaft um sie herum feststellen. Noch eher karg bewachsen, abwechselnd felsiger<br />

oder sandiger Boden, unterbrochen von meterhohen Termitenbauten. Einmal stoppte Kelly<br />

den Wagen, damit Shawn Fotos machen konnte.<br />

ben.“<br />

„Meine Herren, die stehen hier ja dicht an dicht. Unglaublich. Und wie groß einige sind!“<br />

Kelly lachte. „Ja, gelegentlich gibt es mehr Termitenhügel als Bäume, es ist nicht zu glau-<br />

Allmählich wurde es etwas grüner und Shawn dachte, sie hätten ihr Ziel erreicht. Doch es<br />

ging nur über eine Brücke, die einen Fluss überquerte. Danach zeigte sich das übliche Land-<br />

schaftsbild. Kelly versicherte:<br />

„Je weiter wir nach Norden kommen, desto grüner wird es werden. Es gibt viel Wasser<br />

und das führt zwangsläufig dazu, dass die Natur grüner wird. Hab etwas Geduld, noch haben<br />

wir 50 Kilometer Fahrt vor uns.“ Sie fuhr zügig weiter und bald war deutlich zu sehen, dass<br />

488


sich die Flora veränderte. Zeitweise fuhren sie durch dichten Wald. Shawn war begeistert.<br />

Vor ihnen tauchte ein Grünstreifen auf und sie passierten eine weitere Brücke über einen klei-<br />

nen See.<br />

„Gott, ist das schön.“<br />

Nach wenigen hundert Metern überquerten sie eine weitere kleine Brücke und etwas mehr<br />

als 2 Kilometer später bog Kelly vom Highway ab nach links. Nach kurzer Zeit sahen sie eine<br />

Landebahn und die ersten Gebäude. Kelly parkte vor der Rezeption und sie stiegen aus.<br />

Shawn sah sich aufmerksam um.<br />

„Das ist fantastisch! Wie lange ...?“<br />

Kelly lächelte. Sie war froh, dass es dem jungen Mann so gut gefiel. Kurz überlegte sie.<br />

„Wir können von hier aus alle wichtigen Orte problemlos erreichen. Ich werde mal zusehen,<br />

dass ich uns für eine Woche eine Lodge miete.“ Sie ließ Shawn draußen in der Sonne stehen<br />

und betrat die klimatisierte Rezeption. „Morgen. Wir bräuchten eine Lodge für eine Woche,<br />

ist das möglich?“<br />

Die junge Frau hinter der Anmeldung sah in ihr Buch. „Klar, gar kein Problem. Wir sind<br />

nicht voll. Ist noch keine akute Urlaubszeit. Zwei Personen?“<br />

„Ja, mein Freund und ich.“ Kelly füllte die Anmeldezettel aus und bekam einen Schlüssel<br />

in die Hand gedrückt.<br />

„Sie fahren zwei Mal links und dann ist es die letzte Lodge auf der rechten Seite. Viel<br />

Spaß im Park.“<br />

Minuten später standen sie vor ihrem Domizil für die nächsten sieben Tage.<br />

Nette kleine Häuschen mit separaten Terrassen inmitten eines üppigen Regenwaldes.<br />

„Zivilisation! Es ist nicht zu fassen, wie groß sind die denn?“, staunte Shawn begeistert.<br />

Nach den Nächten im Zelt kamen ihnen die Häuschen sehr groß vor. Neben den Lodges wa-<br />

ren einzelne Parkplätze für die Wagen der Mieter geschaffen worden. Als Kelly dort einge-<br />

parkt hatte, trugen sie alle Sachen ins Häuschen. Schnell sortierten sie die dreckigen Klei-<br />

dungsstücke, von denen sie einige hatten, aus und räumten den Rest in den kleinen Kleider-<br />

schrank. Sie griffen sich ihre Sonnenhüte, Shawn steckte noch eine Speicherkarte ein und nun<br />

machten sie sich zu Fuß auf den Weg. Im Waschraum warfen sie ihre schmutzigen Klei-<br />

dungsstücke in eine Waschmaschine, anschließend machten sie sich auf den Weg zum Yellow<br />

Water Billabong. Durch den dichten Wald marschierten sie Richtung Fluss. Überraschend<br />

blieb Kelly stehen und deutete auf eine kleine Echse, die wenige Schritte vor ihnen an einem<br />

kleinen Tümpel saß.<br />

„Sieh mal dort, das ist eine Wasseragame.“<br />

Shawn betrachtete das Tier neugierig. Unerwartet richtete sich dieses auf und rannte auf<br />

den langen Hinterbeinen schnell wie der Blitz ins Wasser des Tümpels hinein und war ver-<br />

schwunden.<br />

489


Lachend meinte Shawn: „Junge, die sind aber schnell.“<br />

„Allerdings.“ stimmte Kelly zu. „Die können bis zu 90 Zentimeter groß werden, inklusive<br />

Schwanz. Im Winter, wenn es zu kalt wird, fallen sie in eine Winterstarre. Sie sammeln Kraft<br />

für die Paarungszeit unmittelbar nach dem Winter.“<br />

Sie gingen weiter und erreichten schließlich den Billabong. Shawn stand schweigend da<br />

und konnte sich von dem Anblick vor ihm nicht losreißen. Ohne sich dessen bewusst zu wer-<br />

den, hatte er einen Arm um Kelly gelegt und zog die junge Frau an sich. Inmitten einer üppig<br />

grünen Landschaft, soweit das Auge reichte, breitete sich das erstaunlich blaue Wasser des<br />

Yellow Water Billabongs vor ihnen aus. Während sie bis eben durch dichten, grünen Wald<br />

gelaufen waren, zeigte sich am gegenüberliegenden Ufer nur hier und dort eine kleine Baum-<br />

gruppe, ansonsten zog sich saftig grünes Gras über viele Quadratkilometer dahin. Nach Minu-<br />

ten des andächtigen Schweigens fragte Shawn:<br />

„Und das ist welcher Fluss?“<br />

Kelly musste erst einmal in die Realität zurückkehren. Lächelnd erklärte sie dem jungen<br />

Amerikaner: „Das ist gar kein Fluss. Das ist der Yellow Water Billabong.“<br />

„Was unterscheidet einen Fluss von einem Billabong, ich meine, was ist ein Billabong?“<br />

„Billabong ist ein Begriff aus der Sprache der Aborigines für einen Wasserkörper, wie ei-<br />

nen versickernden Flussarm oder ein Wasserloch in einem Flusslauf, der sich in der Regenzeit<br />

mit Wasser füllt und während der Trockenzeit im Gegensatz zum Fluss selbst nicht ganz aus-<br />

trocknet. Ein Billabong ist meistens eine von wenigen übrig gebliebenen Wasserquellen in der<br />

näheren Region ist und wird daher von Mensch und Tier gleichermaßen stark genutzt. Der<br />

Yellow Water ist einer der berühmtesten Billabongs in Australien. Die Sonnenauf- und Un-<br />

tergänge hier sind legendär. Yellow Water ist eine der Hauptattraktionen im Kakadu. In der<br />

Regenzeit verbindet Yellow Water den South Alligator River im Norden des Parks mit dem<br />

Jim Jim Creek im Süden. Er wird Teil des Ganzen. Er ist über 10 Kilometer lang. Wir werden<br />

morgen eine große Bootstour auf dem Billabong machen. Wenn du imstande bist, früh aufzu-<br />

stehen.“<br />

Shawn grinste. „Werden wir Krokos sehen?“<br />

Ohne zu zögern erklärte die Psychologin: „Absolut. Gerade in den frühen Morgenstunden,<br />

wenn es noch nicht so heiß ist, sind die Damen und Herren der gepanzerten Liga außerordent-<br />

lich aktiv. Wenn es später zu warm wird, lassen sie sich auf den Grund hinunter sinken und<br />

warten die schlimmste Hitze dort ab.“<br />

Shawn zog die Augenbrauen in die Höhe. „Und da fragst du, ob ich früh aufstehen kann?“<br />

Kelly lachte. „Was fasziniert dich an den Reptilien so sehr?“<br />

Shawn wurde rot. „Naja, die Evolution hat sie perfekt konzipiert, oder? Sie haben sich im<br />

Laufe von Hunderten Millionen Jahren nicht oder wenig verändert. Sie haben einen Hauch<br />

490


von Dinosaurier an sich. Sie sind perfekte Jäger und haben sich durchgesetzt, auch, wenn der<br />

Mensch sie an den Rand der Ausrottung gebracht hat.“<br />

Kelly nickte langsam. „Da hast du Recht. Und du wirst mit Sicherheit genügend von ihnen<br />

zu sehen bekommen, das kann ich dir versprechen.“<br />

Gemütlich schlenderten sie weiter, weit genug vom Ufer entfernt. Vor ihnen tauchten<br />

Bootsanleger auf. Einige Ausflugsboote, wie Shawn sie von der Katherine Gorge kannte,<br />

dümpelten in der Mittagssonne vor sich hin. Sie setzten sich eine Weile auf eine von mehre-<br />

ren Bänken, die im Schatten einiger Bäume standen. Nach einiger Zeit machten sie sich an<br />

den Rückweg. Kelly bemerkte, dass Shawn humpelte.<br />

er.<br />

„Was ist los?“, fragte sie besorgt.<br />

Der Schauspieler verzog genervt das Gesicht. „Der Scheiß Kratzer tut weh ...“, grummelte<br />

„Ich werde ihn mir gleich in der Unterkunft mal anschauen. Kann sein, dass er sich ent-<br />

zündet hat.“ Sie legte Shawn einen Arm um die Taille und erklärte todernst: „Ich werde dich<br />

stützen ...“<br />

Zwar hatte der junge Mann nichts gegen den Arm an sich einzuwenden, doch er warf der<br />

Therapeutin einen giftigen Blick zu und knurrte:<br />

„Und ich werde dich an ein Saltie verfüttern.“<br />

Lachend gingen sie weiter und erreichten verschwitzt ihre Unterkunft.<br />

„Es ist ganz schön feuchtwarm hier, oder?“, fragte Shawn und ließ sich auf einen der Gar-<br />

tenstühle auf der kleinen Terrasse sinken.<br />

„Ja, die Luftfeuchtigkeit ist hier höher als in der Wüste, ist klar. Daran wirst du dich ge-<br />

wöhnen. Solange es nicht schlimmer wird, werde ich auch erträglich bleiben.“<br />

Sie ging in das kleine Häuschen und setzte Kaffee auf. Dies nicht über einem offenen Feu-<br />

er, sondern fortschrittlich mit einer Kaffeemaschine machen zu können, war nach den Tagen<br />

im Zelt ungewohnt. Während der Kaffee durchlief, suchte die Psychologin im Bad ihre Erste<br />

Hilfe Tasche heraus und brachte diese zu Shawn hinaus. Der hatte es sich in dem klappbaren<br />

Stuhl richtig gemütlich gemacht. Seine Stiefel standen an der Hauswand und er lag entspannt<br />

im Schatten des Vorbaus. Als er Kelly kommen hörte, öffnete er träge die Augen.<br />

„So kann man es aushalten. Magst du mir Invaliden etwas Kaltes zu trinken bringen?“<br />

Kelly schüttelte lachend den Kopf. „Deinem Dackelblick kann doch keine Frau widerste-<br />

hen.“ Sie legte die Erste Hilfe Tasche auf den Tisch und kehrte ins Haus zurück. Minuten<br />

später balancierte sie ein Tablett in den Händen, voll beladen mit Kaffeekanne, Tassen, Glä-<br />

sern und zwei Dosen Cola. Shawn schnurrte regelrecht.<br />

491


„Was für ein Service!“ Er stellte Tassen, Gläser, Cola und Kaffee auf den kleinen Tisch,<br />

während Kelly das Tablett hielt. Als es leer gepackt war, lehnte sie es an die Hauswand und<br />

setzte sich auf den zweiten Stuhl. Sie tranken ihren Kaffee und Shawn fragte:<br />

„Was gibt es hier denn noch so alles zu sehen?“<br />

Kelly überlegte kurz, bevor sie erklärte: „Da wäre im Norden, im Arnhemland, der Nour-<br />

langie Rock. Das ist ein Felsmassiv, das durch seine Felsmalereien, die man bei einer zirka<br />

1,5 Kilometer langen Wanderung anschauen kann, berühmt geworden ist. Der ursprüngliche<br />

Name dieses Gebietes war Burrunguy. Nourlangie leitet sich vom Begriff Nawurlandja ab,<br />

einem Namen, der sich nicht auf den Nourlangie Rock selbst bezieht, sondern auf den kleine-<br />

ren Felsen, der über Anbangbang Billabong aufragt. Die Felsmalereien dort sind schätzungs-<br />

weise zwanzig Tausend Jahre alt. So lange gilt dieses Gebiet als von den Aborigines bewohnt.<br />

Da bis vor wenigen Jahrzehnten hier noch Menschen lebten, gehören diese Felsen zu den äl-<br />

testen durchgehend benutzten menschlichen Behausungen. So soll der Anbangbang Shelter<br />

etwa eine Familiengruppe von fünfzehn bis zwanzig Leuten beherbergt haben. Der umliegen-<br />

de Wald stellt das frühere zuhause des Warramal Clanes dar.“ Die junge Frau nahm einen<br />

Schluck Kaffee und fuhr fort: „Dann gibt es weiter im Süden die Jim Jim Falls. Sie liegen an<br />

der östlichen Grenze des Parks. Mit seiner Sturzhöhe von etwa 200 Metern ist dieser Wasser-<br />

fall der beeindruckendste im Nationalpark. Es wird angenommen, dass das Gebiet vor hun-<br />

dertvierzig Millionen Jahren ein flaches Meer war und sich diese Erhebung aus den Kliffs<br />

entwickelt hat. Diese gesamte Erhebung misst heute insgesamt 330 Meter und zieht sich über<br />

500 Kilometer entlang der östlichen Grenze des Parks ins Arnhemland. Nicht weit entfernt<br />

können wir uns die Twin Falls anschauen. Etwa 12 Kilometer sind es von Jim Jim aus. Man<br />

kann den hinteren Teil der Schlucht nicht zu Fuß erreichen, es gibt kleine Motorboote, die den<br />

Besucher zu den Wasserfällen bringen. Die Schlucht und die Wasserfälle gehören zu den<br />

schönsten Stellen des Kakadu-Nationalparks. Du wirst begeistert sein.“<br />

Shawn sah träumend vor sich hin. „Davon gehe ich aus. Alles, was du mir bisher gezeigt<br />

hast, hat mich fasziniert. Eines Tages werde ich nach Australien übersiedeln, da bin ich si-<br />

cher. Ich ... ich habe mich rettungslos in dieses Land verliebt. Ich kann mir gar nicht vorstel-<br />

len, nach Tampa beziehungsweise nach Sausalito zurückzumüssen. Und das hat nichts mit dir<br />

zu tun, okay. Australien ist so unglaublich schön ...“ Er schwieg einen Moment, bevor er fort-<br />

fuhr. „Ich habe mich nie zuvor so wohl, so zuhause gefühlt wie hier. Schon das, was ich in<br />

den wenigen Tagen vor der Entführung gesehen habe, Mackay ... Wir haben von dort einen<br />

Trip mit einem Motorboot durch die Whitsunday Islands gemacht. Wow, Whitehaven Beach<br />

... Ich wäre am liebsten dort geblieben.“<br />

Kelly lächelte. „Ja, Whitehaven Beach ist einmalig. Der weißeste Strand der Welt, sein<br />

Quarzanteil liegt bei 99,7 Prozent. Wenn man sich das Paradies vorstellt, dann sicher so.“<br />

492


Shawn nickte. „Ja. Du schaffst es, alles noch zu Toppen. Dabei habe ich erst höchstens<br />

dreißig Prozent von Australien gesehen, wenn überhaupt.“<br />

Shawn verlagerte seine Beine und zuckte zusammen, als er gegen seine linke Wade stieß.<br />

Kelly grinste. „Das ist das Stichwort.“ Sie rückte mit ihrem Stuhl zu Shawn hinüber und<br />

erklärte: „Na, lass mal sehen, was da los ist.“<br />

Shawn ächzte genervt, drehte sich aber brav auf den Bauch, sodass Kelly bequem an seine<br />

Wade herankommen konnte. Sie entfernte vorsichtig das Pflaster, was Shawn mit einem<br />

scharfen Einatmen quittierte. Der Kratzer war rot und leicht geschwollen. Kelly griff nach<br />

ihrer Tasche und öffnete diese. Sie nahm antiseptische Lösung heraus, sowie Watte, und sagte<br />

zu Shawn:<br />

„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Welche willst du zuerst hören?“<br />

Der Schauspieler seufzte. „Die Schlechte.“<br />

„Gut. Der Kratzer ist entzündet.“<br />

„Aha.“ machte der junge Mann. „Und was ist die gute Nachricht?“<br />

Kelly lachte. „Ich werde dir das Bein abschneiden, dann tut der Kratzer nicht mehr weh.“<br />

Shawn kicherte. „Prima, fang an.“<br />

Kelly tränkte Watte mit der Reinigungslösung und erklärte: „Es tut mir leid, aber das wird<br />

weh tun.“ Sie beugte sich über Shawns Bein und fing an, die Schramme gründlich zu reini-<br />

gen. Shawn zuckte immer wieder leise keuchend zusammen. Endlich war Kelly fertig.<br />

„Hast Recht, das hat wehgetan.“, schnaufte er.<br />

„Ich werde dir sicherheitshalber antibiotische Salbe auf den Kratzer tun, damit die Ent-<br />

zündung zurückgeht. Ein, zwei Tage zur Sicherheit einen kleinen Verband, dann bist du wie<br />

neu.“ Sie suchte nach der Salbe und begann diese sanft und vorsichtig auf die Schramme zu<br />

verteilen. „Das machen wir später, wenn du geduscht hast, noch einmal.“<br />

Kelly legte dem Schauspieler einen leichten, doch schützenden Verband an und erklärte<br />

anschließend: „So, ich denke, ich werde mal ein Lebenszeichen von uns an Lauren und an<br />

deine Eltern geben. Die werden sicher denken, wir seien verschollen.“<br />

Shawn sah gespannt auf. „Könnte ich eventuell ...?“<br />

Die Therapeutin überlegte kurz. „Nächstes Mal, okay.“<br />

Enttäuscht senkte der junge Mann den Kopf. „Okay ...“<br />

Kelly ging ins Haus und griff nach dem Telefon. Sie wählte erst Laurens Nummer.<br />

„Hallo, Süße.“<br />

Begeistert klang die Stimme der Freundin an Kellys Ohr. „Hey, du. Mensch, ich fing an,<br />

mir Sorgen zu machen. Wo steckt ihr denn?“<br />

Die Psychologin lachte. „Kein Grund zur Sorge, wir waren einige Tage im Nitmiluk, nun<br />

sind wir beim Yellow Water.“<br />

493


Erstaunt meinte Lauren: „Dann habt ihr es fast geschafft.“<br />

„Nein, ganz im Gegenteil, haben wir nicht. Shawn hat den Wunsch geäußert, einen Abste-<br />

cher zum Riff sowie nach Monkey Mia zu machen. Ich freue mich, wenn ich ihm einen<br />

Wunsch erfüllen kann.“<br />

Scheinbar hörte man Kellys Stimme etwas an. Lauren hatte ein gutes Feingefühl für man-<br />

che Dinge. Sie schnaufte.<br />

„Scheiße, Kelly, sag mir bitte nicht, dass du dich in Shawn verliebt hast.“<br />

Verwirrt und ertappt konnte die Therapeutin spüren, dass ihr das Blut in die Wangen<br />

schoss. „Ähm ... Wie kommst du denn darauf?“, fragte sie verlegen.<br />

„Ach komm, Love, du konntest dich noch nie gut verstellen. Deine Stimme verrät dich.<br />

Himmel, bist du denn bescheuert? Willst du deinen Job aufs Spiel setzen? Habt ihr etwa was<br />

angefangen? Du verlierst schneller deine Approbation als du seinen Namen buchstabieren<br />

kannst!“<br />

Kelly seufzte. „Hältst du mich für so dämlich? Wenn du es wissen willst, ja, ich ... ich lie-<br />

be Shawn, und nein, selbstverständlich haben wir nichts angefangen. Ich bin nicht blöde,<br />

weißt du. Er wird die Therapie bei mir beenden, und er wird nach Hause zurückkehren, ohne<br />

mich. Das ist alles geklärt. Wenn nach einer vernünftigen Zeit noch Gefühle vorhanden sind,<br />

werden wir uns überlegen, wie es weiter gehen soll. Obwohl ich davon ausgehe, dass Shawns<br />

Gefühle schnell verpuffen werden, wenn er erst in sein normales Leben zurückgekehrt ist. Zu<br />

seiner Familie, seinen Freunden, seinem Job. Er wird mich hoffentlich nur noch als das in<br />

Erinnerung haben was ich bin: Seine Therapeutin.“<br />

Lauren hörte der Stimme der Freundin überdeutlich an, wie diese unter der offensichtli-<br />

chen Situation litt. Kelly war, solange Lauren sie kannte, sechs Jahre immerhin, solo. Oft hat-<br />

te die AFP Agentin sich gefragt, wie eine so hübsche, intelligente, erfolgreiche Frau solo blei-<br />

ben konnte. Sie kannte Kelly nicht verliebt. Dabei rissen sich die Männer um die hübsche<br />

Frau. Kelly ließ alle kalt lächelnd abblitzen. Nun wusste Lauren, warum. Es war nie der Rich-<br />

tige dabei gewesen. Dass ausgerechnet ein Patient der Richtige sein sollte, machte Lauren<br />

große Sorgen. Wenn die Ärztekammer herausfinden sollte, dass Kelly etwas mit Shawn ange-<br />

fangen hatte, würde sie sofort ihre Approbation verlieren und Berufsverbot erhalten.<br />

Lauren wusste nicht, wie die Sachlage genau war. Eins war sicher: Wenn eine Verbindung<br />

zwischen einem Psychologen und einem Patienten zähneknirschend hingenommen wurde,<br />

dann nur nach einer angemessenen Zeit, in der der Patient keinerlei Kontakt zu dem betref-<br />

fenden Psychologen haben durfte. Wie lange dieser Zeitraum andauern musste, wusste Lauren<br />

nicht aus dem Kopf. Sie seufzte.<br />

494


„Kelly, ich hab dich lieb, aber ... Ich muss es dir sagen. Sei kein Schaf. Du hast so unend-<br />

lich schwer gearbeitet, um dort hin zu gelangen, wo du heute stehst. Versau dir das nicht aus<br />

einer Laune heraus.“<br />

Kelly stieß ein frustriertes Lachen aus. „Oh, man, Laurie, du ahnst nicht, wie weit das von<br />

einer Laune entfernt ist! Ich bin mir in jeder einzelnen Sekunde klar darüber, dass es nicht<br />

sein darf. Aber ich habe noch nie zuvor, nicht einmal zu meinen Eltern, so starke Gefühle<br />

gehabt. Du kennst mich. Besser als sonst wer. Du weißt, dass ich mich nicht Hals über Kopf<br />

verliebe. Shawn und ich haben ausführlich über unsere Gefühle gesprochen und darüber, wie<br />

es weiter gehen wird. Er weiß, dass der Tag kommt, an dem ich ihn fortschicken werde. Er<br />

wird nach Hause zurückgehen und dort, weit weg von mir, darüber nachdenken, was er für<br />

mich empfindet. Wenn sich die Gefühle als echt und dauerhaft erweisen, und nur dann, wer-<br />

den wir uns überlegen, wie es weiter gehen könnte. Bis es so weit ist, werden Monate verge-<br />

hen.“<br />

Lauren hatte still zugehört. Jetzt schnaufte sie: „Schwörst du mir das?“<br />

Kelly lachte. „Ja, Laurie, das schwöre ich dir.“<br />

Zufrieden meinte die Freundin: „Gut, dann bin ich sicher, du benutzt noch deinen Ver-<br />

stand. Wie geht es Shawn denn?“<br />

Kelly brauchte nicht zu überlegen. „Es geht ihm besser. Er hatte eine Krise nach dem Be-<br />

such seiner Eltern, doch das hat er in den Griff bekommen. Er wird es schaffen. Du würdest<br />

ihn nicht mehr erkennen. Er ist noch lange nicht über den Berg, aber er hat den festen Willen,<br />

es zu schaffen.“<br />

Lauren freute sich. „Du, das ist super. Ich wusste, wenn er eine Chance hat, dann dich.<br />

Hör zu, Süße, ich habe in fünf Minuten ein Meeting. Ganz schnell noch: Von Carrie und ihre<br />

noch lebenden Freunden haben wir bisher noch keine Spur. Sicher ist, sie haben das Land<br />

nicht auf einem offiziellen Weg verlassen. Ich glaube auch nicht, dass sie das wollen. Die<br />

wollen Shawn. Also, halte die Augen weiter offen, okay.“<br />

Kelly biss sich auf die Lippe. „Worauf du dich verlassen kannst. Na, sieh zu, dass du zu<br />

deinem Meeting kommst. Ich melde mich, okay.“<br />

„Okay, passt auf euch auf. Bye.“<br />

Kelly legte auf und sah auf ihre Armbanduhr. Es war noch zu früh, um in den Staaten an-<br />

zurufen. Das sollte sie lieber nach dem Abendessen machen. Entschlossen erhob sie sich und<br />

ging zurück auf die Terrasse. Shawn hatte sich das T-Shirt ausgezogen und lag auf dem<br />

Bauch im Liegestuhl. Er war eingedöst. Kelly stand einen Moment neben dem Schauspieler<br />

und sah ihn an. Die vor Wochen noch deutlich sichtbaren Spuren der Misshandlungen waren<br />

dank der regelmäßigen Anwendung der Aborigine Salbe nicht mehr zu sehen. Kelly schleppte<br />

den Rest noch mit, sie würde sie, solang noch etwas da war, weiterhin zweimal am Tag auf<br />

Shawns Haut auftragen. Sie war unendlich froh, dass es ihr mit der Salbe gelungen war, die<br />

495


Spuren zu beseitigen. Shawn hatte so wundervoll ebenmäßige Haut, es wäre eine Schande<br />

gewesen, hätten Carries Behandlungen äußerlich lebenslange Spuren hinterlassen. Es reichte,<br />

dass sie es innerlich getan hatten. Der Therapeutin knurrte der Magen und so hockte sie sich<br />

neben Shawn und strich ihm sanft mit dem Zeigefinger über die Wange. Leise sagte sie:<br />

„Hey, du Schlafmütze, ich habe Hunger. Wenn du nicht willst, dass ich verhungere, soll-<br />

test du langsam aufwachen.“<br />

Shawn seufzte wohlig. Er war bei der sanften Berührung nicht einmal zusammengezuckt.<br />

Etwas tranig nuschelte er: „Bin ich eingeschlafen?“<br />

Kelly lachte. „Ja, kann man wohl so nennen.“<br />

„Das tut mir leid ...“ Er drehte sich schwungvoll auf den Rücken und richtete sich auf. „Ist<br />

es schon so spät?“ Er griff nach seinem Hemd und schlüpfte hinein.<br />

„Ja, das ist es, es geht auf 18 Uhr zu.“<br />

Erstaunt erwiderte der junge Mann „Die Zeit vergeht so schnell.“ Er lauschte nach innen<br />

und grinste: „Mein Magen hat mir gerade erzählt, dass er nichts gegen ein schönes Steak ein-<br />

zuwenden hätte.“<br />

Kelly schloss das Häuschen ab und sie machten sich auf den Weg zum Restaurant. Es<br />

wurde schummerig und die Beleuchtung des Restaurants sorgte für Licht. Sie suchten sich<br />

einen Tisch und bekamen eine Speisekarte gebracht.<br />

„Wir haben fangfrischen Barramundi.“, erklärte die Bedienung.<br />

Shawn blieb bei Steak, Kelly entschied sich für den Fisch. Während sie auf das Essen war-<br />

teten, fragte Shawn bedrückt:<br />

„Was sagen meine Eltern denn?“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Noch gar nichts. Es war noch zu früh. Wenn wir lange genug<br />

wach bleiben, werde ich es später versuchen.“<br />

„Oh, verstehe. Und Agent Demsey? Gibt es was Neues zu Carrie und Co.?“<br />

Kelly schüttelte abermals den Kopf. „Nein, Shawn, tut mir leid. Fest steht wohl nur, dass<br />

sie das Land noch nicht verlassen haben.“<br />

Shawn seufzte. „Wie beruhigend ...“<br />

Die Vorstellung, dass Carrie und ihre Freunde mit Sicherheit keine noch so kleine Mög-<br />

lichkeit ausließen ihn aufzuspüren, ängstigte ihn. Dass die Psychopathin eines Tages vor ihm<br />

stehen könnte, trieb ihm den Angstschweiß aus den Poren. Kelly sah, was in Shawn vorging<br />

und meinte beruhigend:<br />

„Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Schatz. Sie werden dich nicht kriegen.“<br />

Shawn war erstaunt, wie zielsicher Kelly seine Gedanken ahnte. Verlegen senkte er den<br />

Blick. „Es ist ein Scheißgefühl, vor etwas so viel Angst zu haben. Ich fürchte, ich würde dir<br />

keine Hilfe sein, wenn ... Ich würde erstarren vor Angst.“<br />

496


Kelly griff über den Tisch hinweg nach den Händen des Schauspielers. „Hey, dafür werde<br />

ich mich umso mehr bewegen. Denke nicht mehr daran. Sie wissen nicht, wo wir sind, sie<br />

werden uns nicht finden!“<br />

Zum Glück kam in diesem Moment das Essen und lenkte Shawn ab. Als sie satt und zu-<br />

frieden zur Cabin zurückliefen, war der Gedanke an Carrie erst einmal erfolgreich verdrängt.<br />

Als sie bei ihrer Cabin ankamen, war seine gute Laune zurück.<br />

„Wer geht zuerst Duschen, die Ärztin oder der Patient?“, fragte er grinsend.<br />

Kelly schmunzelte. „Geh du. Ich kann warten.“<br />

Sofort war Shawn auf dem Weg ins Bad. „Danke.“<br />

Kelly streifte sich die Stiefel von den Füßen und seufzte erleichtert auf. Bei den herr-<br />

schenden Temperaturen waren die Stiefel zeitweise recht unangenehm. Da sie viel im Busch<br />

unterwegs waren, bedeuteten die festen Schuhe allerdings einen guten Schutz. Die junge Frau<br />

ließ sich aufs Bett fallen und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Dann richtete sie sich<br />

noch einmal auf, um den Wecker auf dem Nachtschrank auf 5 Uhr zu stellen. Sie machte sie<br />

lang und hing ihren Gedanken nach. Laurie hatte Recht, sie würde ihre Approbation verlieren,<br />

wenn sie sich hinreißen ließ, etwas mit Shawn anzufangen. Er war von Gesetzes wegen ihr<br />

Schutzbefohlener, der unantastbar war. Sie hatte zu hart gearbeitet, um so weit zu kommen,<br />

wie sie heute war, um das aus einer Gefühlsduselei heraus aufs Spiel zu setzen. Gleich jedoch<br />

zuckte ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie sprichwörtlich darauf pfeifen würde, was aus<br />

ihrem Job wurde, wenn sie die Absicht gehabt hätte, sich auf etwas einzulassen. Shawn wäre<br />

es wert gewesen, alles zu opfern. Da sie dies jedoch nicht plante, war es egal, was passieren<br />

konnte, weil nichts passieren würde.<br />

Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als der Grund ihrer Gedanken aus dem Bad kam.<br />

„So, ich bin fertig, wenn du willst?“<br />

Kelly erhob sich. „Ja, und wie ich will.“ Sie eilte unter die Dusche und wusch mit dem<br />

Schweiß die unguten Gedanken fort. Als sie ins Zimmer zurückkam war es der Schauspieler,<br />

der aus Gedanken hochschreckte. Kelly lachte.<br />

„Na, wo warst du gerade?“<br />

Shawn zuckte die Schultern. „Ich habe darüber nachgedacht, nach meiner Rückkehr eine<br />

Auszeit von ‘Frisco Bay‘ zu nehmen, beziehungsweise die Auszeit noch etwas zu verlän-<br />

gern.“<br />

Kelly setzte sich zu ihm auf das Bett und fragte: „Warum das? Shane Godman ist ein so<br />

beliebter Seriencharakter, wenn ABC die Serie weiter drehen will, solltest du die Chance er-<br />

greifen. Sie haben zwei Monate Pause eingelegt, nachdem du verschwunden warst. Da be-<br />

kannt ist, dass der Hauptdarsteller entführt wurde, hatten die Fans Verständnis. ABC hat ver-<br />

497


sprochen, dass es mit dir weiter gehen wird, sobald du wieder einsatzfähig bist. Du hast einen<br />

Vertrag zu erfüllen, Shawn. Setze das nicht leichtfertig aus Spiel.“<br />

Shawn prustete. „Na, leichtfertig bestimmt nicht. Ich weiß nur nicht, ob ich ... ob ich so<br />

weit bin ...“<br />

Ruhig meinte die Therapeutin: „Warte erst einmal ab, bevor du Entscheidungen triffst,<br />

okay? Noch bist du nicht so weit, dir vorzustellen, wie es ist, wieder ein normales Leben zu<br />

führen. Lass es in aller Ruhe auf dich zu kommen. Und jetzt, Mister McLean, Sir, rollen Sie<br />

sich bitte auf den Bauch.“<br />

Sekundenlang erinnerte diese Aufforderung Shawn an den von Carrie so oft ausgespro-<br />

chenen Befehl, sich auf den Bauch zu drehen. Er spürte eine Gänsehaut über seinen Körper<br />

huschen. Kelly bemerkte diese und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.<br />

„Alles in Ordnung?“<br />

„Ja, sicher. Carrie hat das auch immer gesagt, weißt du. Roll dich auf den Bauch ... Dann<br />

kam so gut wie nie etwas Gutes.“<br />

Er rollte sich schwungvoll herum und Kelly holte ihre Erste Hilfe Tasche. Sie reinigte den<br />

Kratzer an Shawns Bein erneut gründlich mit der antiseptischen Lösung. Anschließend ver-<br />

teilte sie sanft und vorsichtig Salbe auf die Wunde. Nun legte sie einen neuen Verband an.<br />

„So, das war es. Wie gesagt, ein, zwei Tage, dann ist das vergessen.“ Sie räumte schnell<br />

auf und gähnte herzhaft. „Da der böse Wecker um 5 Uhr klingeln wird, sollten wir uns schla-<br />

fen legen. Ich bin müde. Die Schwüle macht mich fertig.“<br />

Der junge Mann drehte sich auf seine Bettseite hinüber und erklärte: „Ich habe kein Prob-<br />

lem damit, mal etwas früher zum Schlafen zu kommen.“ Er zog die Zudecke über sich und<br />

seufzte leise. „So richtig gut schlafe ich noch nicht.“<br />

Kelly deckte sich ebenfalls zu. „Das ist kein Wunder, du hast viel zu viel zu verarbeiten.<br />

Schlafstörungen sind nach derart traumatischen Ereignissen normal. Du meisterst das gut. Ich<br />

hatte Patienten, die haben monatelang halbe Nächte wach gelegen.“<br />

Der junge Schauspieler stieß ein ironisches Lachen aus. „Na, da habe ich richtig Glück,<br />

dass ich nur halbe Nächte lang von Carrie verfolgt werde.“<br />

Kelly sah ihn mitleidig an. „Wenn sie dich nervt, schicke sie zu mir, ich werde sie dann<br />

tüchtig verprügeln.“<br />

Shawn musste lachen. „Okay, mache ich, wenn sie mich nervt. Gute Nacht.“<br />

„Gute Nacht.“<br />

Müde schloss Kelly die Augen. Noch einige Minuten kreisten ihre Gedanken um Shawn<br />

und um das, was sie im Kakadu sehen würden, dann schlief die junge Frau ein.<br />

498


41) Yellow Water<br />

Unsere größten Erlebnisse sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten<br />

Stunden.<br />

Jean Paul<br />

Es war noch stockdunkel, als Kelly und Shawn sich am kommenden Morgen auf den Weg<br />

zum Bootsanleger machten. Aus Sicherheitsgründen benutzten sie den Weg, gingen nicht quer<br />

durch den Dschungel. Trotzdem war es unheimlich. Die unbekannten Geräusche im nächtli-<br />

chen Regenwald, sowie die mehr als tiefe Dunkelheit veranlassten Shawn, Kelly schützend an<br />

sich zu ziehen. Die junge Psychologin freute sich über seine Fürsorge. Es war für den Schau-<br />

spieler eine selbstverständliche Geste, über die er gar nicht nachdachte. Als ihm bewusst wur-<br />

de, was er da tat, war er eigenartig erleichtert. Dass er ohne zu überlegen die Rolle des Be-<br />

schützers einnahm, bewies ihm, dass er bei Carrie nicht zum Feigling mutiert war. Wenn der<br />

Gedanke an die Psychopathin ihm auch Schweiß auf die Stirn trieb, bewies sein Wunsch, Kel-<br />

ly zu schützen ihm nachhaltig, dass er nur in Bezug auf Carrie so verängstigt war. Diese Er-<br />

kenntnis erleichterte ihn so, dass er unwillkürlich auflachte. Irritiert fragte Kelly:<br />

„Was ist so lustig?“<br />

Ertappt erklärte der Schauspieler: „Ich habe nur gerade darüber nachgedacht ...“ Verlegen<br />

verstummte er.<br />

„Worüber hast du nachgedacht?“, hakte die Psychologin nach.<br />

„Darüber, dass ... Ich habe gerade gemerkt, dass ich nur in Bezug auf Carrie ... so ... so ein<br />

Angsthase bin.“<br />

Kelly wusste sofort, was Shawn meinte. Dass er sie in diesem Moment noch fester an sich<br />

drückte, bestätigte ihre Vermutung. „Das habe ich dir gesagt, Shawn. Du bist kein Feigling.“<br />

„Ich ... wollte es nicht wahr haben. Aber ... okay, wenn hier auch nicht gerade tödliche Ge-<br />

fahren lauern, aber ... Gott, warum sind unsere Gespräche nur oft so entsetzlich peinlich? Ich<br />

habe ganz selbstverständlich meinen Arm um dich gelegt. Wenn hier eine Horde wilder Abo-<br />

rigines aus dem Gebüsch angreifen würden, ich würde dich mit meinem Leben verteidigen,<br />

verstehst du? Ich dachte, ich ... Ich war so sicher, dass ich in Zukunft bei jeder Gefahr die<br />

Flucht ergreifen würde. Doch das würde ich nicht! Diese simple Geste ... Da ist es mir über-<br />

deutlich klar geworden, verstehst du?“<br />

Kelly nickte, was Shawn in der noch herrschenden Dunkelheit nur spüren, nicht sehen<br />

konnte. „Ja, ich verstehe das. Ab und an haben kleine Ursachen riesige Wirkung. So, wie du<br />

das gerade gemerkt hast, wirst du nach und nach alles, was dich an dir Zweifeln lässt, als<br />

Fehlinterpretation erkennen, glaube mir.“<br />

499


Vor ihnen waren leise Stimmen zu hören, die lauter wurden, je weiter die Beiden gingen.<br />

Daher war dieses Gespräch erst einmal erledigt. Sie konnten ein Licht vor sich ausmachen<br />

und kurze Zeit später traten sie aus dem Regenwald heraus auf die freie Fläche beim Bootsan-<br />

leger. Einige andere Besucher standen hier und die Ersten saßen bereits in den Booten. Kelly<br />

und Shawn hatten am Tage zuvor Karten für eines der Boote, die Nummer 5, gekauft. Sie<br />

suchten das betreffende kleine Boot und machten es sich auf der rechten Seite weit vorne ge-<br />

mütlich. Schnell waren alle dreißig Plätze besetzt. Schließlich erschien der Bootsführer. Er<br />

kontrollierte die Karten und startete den erstaunlich leisen Motor. Langsam tuckerte er in die<br />

Mitte des Billabongs und stellte den Motor aus. Der junge Mann griff nach einem am Armatu-<br />

renbrett befestigten Mikro.<br />

„Morgen, Leute. Wir haben noch einige Minuten Zeit, bevor die Sonne anfängt über dem<br />

Yellow Water aufzugehen. Mein Name ist Andy, ich werde euch heute hier durch den Billa-<br />

bong schaukeln. Wenn alles gut geht, werdet ihr überleben. Unsere Salties sind manchmal<br />

sehr hungrig, dann muss der eine oder andere Tourist sich für die Allgemeinheit opfern ...“<br />

Allgemeines Gelächter antwortete dem jungen Mann. „Wenn wir welche finden, wovon ich<br />

ausgehe, Leute, seid schlau und haltet nicht gerade eure Köpfe, Arme oder Beine über die<br />

Reling. Männer, wenn ihr eure Frauen loswerden wollt, nicht auf meiner Tour, bitte! Der<br />

Schreibkram ...“<br />

Erneut wurde gelacht.<br />

„Gut, Spaß beiseite. Salties können meterhoch aus dem Wasser springen. Ich werde euch<br />

das hoffentlich heute zeigen können. Ich hab diese Stange hier und Fleisch bei mir.“ Er zeigte<br />

in der spärlichen Beleuchtung des Bootes eine gut 3 Meter lange Alustange. „Wir werden<br />

heute erst Richtung Nordosten fahren, später nach Südwesten. Alles in allem werden wir gute<br />

drei Stunden unterwegs sein. Ich hoffe, ihr habt alle gut gefrühstückt. So, mates, jetzt dürft ihr<br />

erst einmal den Sonnenaufgang genießen.“ Er schaltete die Bordbeleuchtung und das Mikro<br />

aus. „Lehnt euch zurück und schwelgt in der Schönheit dessen, was kommt.“<br />

Kelly kuschelte sich in Shawns Arm und sagte leise: „Die Sonnenauf- und Untergänge<br />

hier sind einmalig schön.“<br />

Im Boot herrschte andächtiges Schweigen. Langsam schob sich die Sonne als orange glü-<br />

hender Ball über dem Wasser in die Höhe. Selbst die Laute der Tiere, die leise zu ihnen dran-<br />

gen, schienen für einen Moment zu verstummen. Die ersten Konturen von Bäumen und Bü-<br />

schen am Ufer des Billabongs waren zu erkennen. Kelly konnte spüren, dass Shawn unwill-<br />

kürlich die Luft anhielt. Er hielt den Fotoapparat in der freien Hand und drückte zwei, drei<br />

Mal ab. Dann widmete er seine Aufmerksamkeit dem Naturschauspiel. Langsam stieg die<br />

Sonne höher und allmählich spendete sie Licht.<br />

500


Mit dem Sonnenaufgang stieg auf dem warmen Wasser ein leichter Nebel auf, der das<br />

Land in einen silbernen Hauch tauchte. Der Himmel war zartrosa gefärbt und bildete zu den<br />

Silberstreifen, die der Nebel über das Land ausbreitete einen einmaligen Kontrast. Im Boot<br />

herrschte andächtige Stille. Nur hier und da war das Klicken eines Fotoapparates zu verneh-<br />

men. Kelly deutete auf zwei abgestorbene Bäume ein kleines Stück entfernt im Wasser. Es<br />

war genug Licht vorhanden, um das Grün der Ufer zu erkennen. Die toten Bäume hoben sich<br />

davon als graubraune Gebilde ab.<br />

„Tja, Leute, ich hoffe, es hat euch gefallen. Jetzt werden wir uns mal auf den Weg ma-<br />

chen, sonst sind alle Salties weg bis wir kommen. Wenn es etwas zu sehen gibt, was ich nicht<br />

mitbekomme, scheut euch nicht, was zu sagen. Ich bin zwar gut, aber überall kann ich meine<br />

Augen nicht haben. Da Yellow Water im Umkreis von vielen Kilometern das einzige Wasser<br />

ist, haben wir hier viele Tiere, Säuger, Vögel, Reptilien. Am frühen Morgen kommen viele<br />

von ihnen zum Saufen an das Wasser. Mal sehen, was ich euch heute so bieten kann. Ich habe<br />

ein Abkommen mit den Tieren. Sie zeigen sich nur, wenn in meiner Kasse das Trinkgeld<br />

stimmt ...“<br />

Kelly kicherte. „Hast du Geld bei dir?“<br />

Fragend sah sie Shawn an und dieser grinste frech. „Nein, ich dachte, du hältst mich aus.“<br />

Die junge Frau lachte. „Tja, mein Lieber, Pech für dich. Ich kann meine Tiere bezahlen.<br />

Dann sieh mal zu, wie du so klar kommst.“<br />

Gemächlich tuckerte das Boot Richtung Nordwesten auf dem Wasser dahin. Andy erzählte<br />

seinen Fahrgästen einiges wissenswerte über Yellow Water, den Kakadu Nationalpark und die<br />

Tierwelt. Shawn hörte nur halbherzig zu, da Kelly ihm all das ausführlich erklärt hatte. Er<br />

genoss lieber die wundervolle Umgebung. Um sie herum erwachte die Natur zum Leben. Vö-<br />

gel flogen vorbei, um nach Futter zu suchen, die einen am Ufer, die anderen über dem Was-<br />

ser. Die Luft war erfüllt von den unterschiedlichen Geräuschen der Vögel. Und dann deutete<br />

Kelly grinsend direkt neben Shawn ins Wasser. Der junge Mann folgte ihrem Blick und zuck-<br />

te unwillkürlich zusammen. Direkt neben ihm im Wasser schwamm ein gut 5 Meter langes<br />

Krokodil!<br />

„Ach du Scheiße.“<br />

Der junge Mann hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um das riesige Reptil zu be-<br />

rühren. Es schien ihn von unten herauf mit seinen gelben Augen abschätzend zu fixieren. Nun<br />

wurden die anderen Fahrgäste aufmerksam und da das Tier keine Anstalten machte, davon zu<br />

schwimmen, klickten hektisch Kameras. Andy war aufmerksam geworden und drosselte den<br />

Motor so weit, dass sie fast trieben. Er ließ seinen Gästen Zeit, das große Saltie zu beobachten<br />

und ausgiebig zu fotografieren, bevor er wieder Fahrt aufnahm.<br />

Shawn war noch gefangen von dem Anblick des großen Krokodilkopfes direkt neben ihm.<br />

501


Kelly lächelte ihn an. „Alles klar?“<br />

Der Schauspieler strahlte. „Und wie! Du wirst mich nur mit Gewalt aus Australien raus<br />

kriegen.“<br />

„Na, das kann ein Spaß werden. Soweit ist es zum Glück noch nicht. Sieh mal, dort drü-<br />

ben, dass sind Kingfisher.“<br />

Kelly deutete auf einen abgestorbenen Baum am Ufer. In den oberen Zweigen hockten<br />

zwei große, metallisch blau schimmernde Vögel mit weißer Brust und schwarzen Köpfen.<br />

„Königsfischer gehören zur Familie der Eisvögel. Wie der Kookaburra. Die meisten Arten<br />

leben in den tropischen Gebieten der Erde, aber einige kleinere Arten sind bis in die kaltge-<br />

mäßigteren Zonen von Nord- und Südamerika vorgedrungen. Sie sind Raubvögel und ernäh-<br />

ren sich von Fisch, kleinen Reptilien, Amphibien, Insekten oder Küken. Da sie keinen Raub-<br />

tierschnabel haben, müssen sie größere Beute anderweitig zermalmen. Sie schlagen diese so<br />

lange auf Steine oder Äste, bis die Beute innerlich zertrümmert ist. Dann können die Vögel<br />

sie herunter würgen.“<br />

Der Bootsführer hatte bei seiner Schilderung kurz mit der Hand vorgemacht, wie die Vö-<br />

gel mit Beute verfuhren. Sarkastisch meinte Shawn:<br />

„Lecker ...“<br />

„Was denn? Du zerteilst dein Steak auch, bevor du es herunter schluckst.“<br />

„Zerteilen, ja, aber ich schlage es ja nun nicht so lange auf den Tisch, bis es so zermanscht<br />

ist, dass ich es im Ganzen herunter schlucken kann.“<br />

Kelly lachte, ebenso einige Fahrgäste, die ihr Gespräch mit bekamen.<br />

„Aber nur, weil du Messer und Gabel gerade ebenso halten kannst.“<br />

Bevor es zu einer Schlägerei kam, machte Andy seine kichernden Gäste auf eine weitere<br />

Perle des Nationalparks aufmerksam.<br />

„Hört auf euch zu Streiten. Seht lieber mal nach rechts. Das ist ein Jabiru, ein Schwarz-<br />

storch.“ Er deutete auf einen fast komplett schwarzen Vogel mit roten Beinen, einem schwar-<br />

zen, langen, spitzen Schnabel und einen zwei Handflächen großen weißen Fleck auf dem Rü-<br />

cken unmittelbar am Halsansatz. „Jabirus gehören zu den Groß- oder Riesenstörchen. Sie<br />

werden zwischen 130 und 150 Zentimeter groß, haben eine Flügelspannweite von guten 230<br />

Zentimetern. Zu unterscheiden sind sie nur an Hand der gelben Iris des Weibchens und der<br />

Braunen des Männchens. Der Jabiru lebt als einzige Storchenart im Indo-Australischen Raum.<br />

Man findet ihn von Südindien bis Vietnam. Hier in Australien ist sein Verbreitungsgebiet der<br />

Norden. Sie brüten in Sümpfen und Feuchtgebieten, bauen Horste von gut 2 Metern im<br />

Durchmesser und die Weibchen legen zwei bis fünf Eier, die von beiden Eltern bebrütet wer-<br />

den. Ihre Nahrung besteht aus Fischen, Fröschen, großen Insekten, kleinen Vögeln, Eidech-<br />

sen und Nagetieren.“<br />

502


Alle machten Fotos, dann ging es weiter. Die Sonne stand hoch am Himmel und auf dem<br />

ruhigen Wasser spiegelte sich der Uferbewuchs. Sie sahen noch zwei weitere Krokodile, die<br />

an den Böschungen des Billabong in der Sonne lagen und sich aufwärmten. Riesige, urzeitlich<br />

anmutende Reptilien, die mit ihren eigenartig geformten Mäulern wirkten, als würden sie<br />

freundlich grinsen. Eine Frau mit einem vielleicht zwölfjährigen Jungen an ihrer Seite machte<br />

diesen auf das Grinsen aufmerksam.<br />

„Siehst du, wie der Bursche grinst?“<br />

Andy, der diese Worte gehört hatte, meinte ironisch: „Lady, Sie sollten mal sehen, wie die<br />

erst Grinsen, wenn sie ihre Zähne in etwas Lebendiges schlagen.“ Er drehte sich zu seinen<br />

Fahrgästen herum und erklärte: „Statistisch kommt es zwar nur zu einem tödlichen Angriff im<br />

Jahr, doch Statistiken drücken nicht immer die echte Gefahr aus. Laut Statistik ist zum Bei-<br />

spiel Fliegen die sicherste Reisemethode. Stellt man die Menschen, die mit Bus, Bahn und<br />

PKW unterwegs sind, denen gegenüber, die mit dem Flugzeug reisen, sieht diese Statistik<br />

anders aus. Fakt ist, dass es jedes Jahr gerade im Northern Territory zu zahlreichen Angriffen<br />

kommt, in die Salties verwickelt sind. Also macht nie den Fehler, diese grinsenden Burschen<br />

zu unterschätzen. Wegschwimmen kann man ihnen nicht und selbst das Weglaufen ist<br />

schwer, da die Echsen eine erstaunliche Geschwindigkeit und Wendigkeit an Land entwickeln<br />

können.“<br />

Sie erreichten das nördliche Ende des Yellow Water.<br />

„Hier ist in der Regenzeit so viel Wasser, dass eine direkte Verbindung mit dem weiter<br />

nördlich gelegenen South Alligator River besteht. Da wir ne Weile keinen Regen mehr hatten,<br />

ist diese Verbindung im Moment nicht vorhanden. Weite Gebiete nordöstlich und nordwest-<br />

lich von unserem jetzigen Standpunkt sind in der Regenzeit überflutet und bilden eine Quad-<br />

ratkilometer große Sumpflandschaft. Wir werden hier umkehren und ich bring euch in den<br />

südlichen Arm des Yellow Water.“<br />

Er gab etwas Gas, da es heiß geworden war. Die Passagiere wussten den entstehenden<br />

Fahrwind zu schätzen. Shawn hatte sich bereits wiederholt mit dem Handrücken Schweiß von<br />

der Stirn gewischt und auch Kelly war verschwitzt und fühlte sich klebrig. Der Fahrtwind<br />

sorgte für eine angenehme Kühlung. Nachdem sie die kleine Abzweigung zum Bootsanleger<br />

passiert hatten, wurde die Geschwindigkeit gedrosselt. Der Captain gab zwischendurch inte-<br />

ressante Informationen an seine Fahrgäste weiter, über Büffel, Brumbies, Razorbacks, austra-<br />

lische Wildschweine, die als potenziell gefährlich galten, sowie die unzähligen verschiedenen<br />

Vogelarten, die am Yellow Water lebten. Als sie weiter tuckerten, tauchten in einer flachen<br />

Senke am rechten Ufer einige Pferde auf, die durch das knietiefe Wasser stapften.<br />

„Dort drüben, dass sind Brumbies. Sie werden von den Wildlife Rangers regelmäßig de-<br />

zimiert, um eine Bestandsexplosion zu verhindern. Genauso wird es mit den Büffeln und den<br />

Razorbacks gemacht. Sie gehören ins Bild des Kakadu, aber da sie abgesehen von den Salties<br />

503


keine natürlichen Feinde haben, muss ihr Bestand streng überwacht werden. Welchen extre-<br />

men Schaden beispielweise die Büffel angerichtet haben, hab ich erklärt.“<br />

Gemütlich ging es weiter und die Passagiere genossen die Fahrt. Shawn war von der zau-<br />

berhaften Landschaft hingerissen. Er machte Fotos, bis Kelly lachend erklärte:<br />

„Wenn du dir die alle ausdruckst und aneinanderlegst, hast du eine Komplettansicht des<br />

gesamten Yellow Water.“<br />

Shawn zuckte grinsend die Schultern. „Na und? Ich werde eine größere Wohnung brau-<br />

chen, um die Bilder alle an die Wände zu hängen.“ Er deutete auf das linke Ufer und meinte<br />

fasziniert: „Sieh dir nur mal die Wasserlilien an. Das müssen Millionen sein!“<br />

Tatsächlich breitete sich ein riesiger Teppich von zartrosa Lilien vor ihnen aus.<br />

„Lasst euch von der Idylle nicht täuschen. Zwischen den Lilien lauern die Salties gerne, da<br />

sie dort mehr als genug Deckung finden. Das Nahrungsangebot ist zwischen den Wasser-<br />

pflanzen groß. Fische, die Wasservögel anlocken, Säugetiere, die die zarten Triebe abäsen,<br />

unsere Salties finden dort einen gedeckten Tisch.“<br />

Sie passierten einen Seitenarm und Andy erklärte:<br />

„Dieser Seitenarm windet sich ungefähr 4 Kilometer südwestlich durch das Weidegebiet.<br />

Wenn es geregnet hat, bildet das so entstehende Dreieck eine wasserbedeckte Sumpfland-<br />

schaft.“<br />

Am Ufer waren hier mehr Bäume als am nördlichen Ende des Billabong.<br />

„Zwischen den Bäumen am Ufer brüten die Krokodile gerne. Weibchen werden mit zirka<br />

zehn Jahren geschlechtsreif, Männchen erst mit sechzehn Jahren. In der Paarungszeit, No-<br />

vember bis April, zeigen die Männchen starkes Territorialverhalten. Im November und De-<br />

zember locken die Männchen die Damen durch lautes Brüllen an. Nach der Paarung wird ein<br />

Hügelnest aus Pflanzenmaterialien gebaut, dass eine Höhe von 30 bis 80 Zentimeter und ei-<br />

nen Durchmesser von 120 bis 250 Zentimetern haben kann. In einem solchen Nest werden<br />

sechzig bis achtzig Eier ausgebrütet und das Weibchen bewacht das Gelege bis zum Schlupf<br />

der Jungen aggressiv gegen jeden, der sich dem Nest nähert. Durch die verrottenden Pflanzen<br />

entsteht Fäulniswärme, die das Ausbrüten der Eier beschleunigt. Es wurde schon Brutfürsorge<br />

von bis zu drei Monaten beobachtet. Wenn die Jungen geschlüpft sind, wachen die Krokodile<br />

acht Wochen über ihre Jungen. Maximal fünfzig bis sechzig Prozent davon erreichen das Er-<br />

wachsenenalter.“ Passend zu den interessanten Informationen entdeckten sie eines der großen<br />

Leistenkrokodile im Uferschlamm. Andy stoppte den Motor und meinte:<br />

„Mal sehen, ob wir Glück haben.“ Er griff nach einem großen, verschlossenen Eimer und<br />

öffnete diesen. Er warf ein Stück Fleisch in Richtung des Reptils und das Tier schien einem<br />

kleinen Snack nicht abgeneigt. Träge schob es sich ins Wasser und schnappte fast spielerisch<br />

504


nach dem Fleischbrocken. Eine Bewegung mit dem Kopf und das Fleisch verschwand im Ra-<br />

chen des Tieres.<br />

Gespannt beobachteten die Passagiere das Tier, das langsam näher an das Boot heran<br />

schwamm.<br />

„So, dann haltet mal alle schön eure Kameras bereit.“, meinte der Captain grinsend. Er<br />

nahm ein weiteres Fleischstück und befestigte dieses mit einem Stück Band so am Ende sei-<br />

ner Aluminiumstange, dass es ungefähr 20 Zentimeter herunter baumelte. „Die Tiere sind es<br />

gewohnt, dass wir sie auf diese Weise füttern. Es kann also klappen. Passt auf!“ Er schwenkte<br />

die Stangen seitlich über Bord und dippte einige Male das Fleischstück in das Wasser. Dann<br />

nickte er zufrieden. „Passt auf!“, sagte er noch einmal und hob die Stange mit dem Fleisch<br />

langsam in die Höhe. Es passierte so unerwartet, dass einige der Fahrgäste erschrocken auf-<br />

schrien. Gute 120 Zentimeter hoch schnellte das große Krokodil senkrecht aus dem Wasser.<br />

Seine Kiefer schlossen sich mit einem Gänsehaut erzeugenden Klacken um das Fleischstück.<br />

Mit seiner Beute zwischen den Zähnen verschwand das Reptil im aufgewühlten Wasser. Kelly<br />

hatte den Fotoapparat von Shawn übernommen, denn der Schauspieler gehörte eindeutig zu<br />

den Passagieren, die sich furchtbar erschrocken hatten. Jetzt lachte er Tränen und schimpfte:<br />

„Verfluchter Mist, hab ich mich gerade erschrocken!“<br />

Zustimmendes Nicken antwortete ihm von mehr als der Hälfte der anderen Fahrgäste. Kel-<br />

ly kullerten ebenfalls Lachtränen über die Wangen. Sie hatte im richtigen Moment abge-<br />

drückt, was der Hälfte der anderen Gäste nicht geglückt war.<br />

„Okay, Freunde, einen Versuch können wir noch starten. Mal sehen, ob unser Freund Lust<br />

hat, sein Kunststück zu wiederholen.“<br />

Ein weiteres Fleischstück wurde an die Stange gebunden und tatsächlich gelang es, das<br />

große Saltie noch zu zwei weiteren Sprüngen zu locken. Anschließend hatte es von der Akro-<br />

batik für diesen Tag genug und tauchte kein viertes Mal aus den Fluten. Unglaublich beein-<br />

druckt und zufrieden klatschten die Passagiere Beifall.<br />

„Das war Wahnsinn!“, rief der zwölfjährige Junge begeistert.<br />

„Jetzt hab ihr ne Vorstellung davon, was so ein Saltie mit Leuten macht, die Arme oder<br />

Beine über Bord baumeln lassen, oder?“, fragte der Captain grinsend.<br />

Da keiner der Fahrgäste auch nur einen Ellbogen über die Reling hielt, konnten es sich of-<br />

fensichtlich alle vorstellen.<br />

„Na gut, nun können wir uns auf den Rückweg machen. Da hinten ist ohnehin Schluss.“<br />

Alle konnten erkennen, dass sich das Wasserloch ein kleines Stück weiter mehr und mehr<br />

verjüngte und es dort nicht mehr weiter ging. So wendete Andy und erklärte:<br />

505


„Und weil ich so viel getan habe, dürft ihr mal was für mich tun.“ Er verteilte schnell ein<br />

paar Zettel, auf denen Texte von australischen Folk Songs ausgedruckt waren. „Wir wollen<br />

heute das fröhlichste Boot werden, dass zurück kommt, mates. Auf geht’s.“<br />

Aus einem Lautsprecher ertönte der Song ‘I still call Australia home‘ und Kelly sang ver-<br />

gnügt mit, ohne auf den Text gucken zu müssen. Schnell stimmten die anderen Fahrgäste ein<br />

und die Therapeutin bekam auf diese Weise mit, dass Shawn eine schöne Singstimme hatte.<br />

Nach diesem wunderschönen Titel folgte ‘Botany Bay‘, den Kelly ebenfalls ohne nachzu-<br />

lesen mitsingen konnte. Als die letzten Worte verklangen, klatschten die Fahrgäste sich selbst<br />

Beifall. Der Bootsführer freute sich sichtlich.<br />

„Na, nun wird es schwierig. Lady, du kennst die Songs auswendig. Komm mal her, zeig<br />

unseren nicht-Aussies, wie wir ‚‘Home among the gum trees‘ singen.“<br />

Lachend erhob Kelly sich also und trat neben den Bootsführer. Als der Song ertönte, ge-<br />

sungen von John Williams, einem in Australien populären Sänger, gaben sich alle viel Mühe,<br />

mit zu singen. Doch dann kam der Refrain und damit Kellys Aufgabe. Es war bei diesen Titel<br />

üblich, während des Refrains einen festen Bewegungsablauf mit den Händen durchzuspielen.<br />

Es begann mit einem in die Höhe strecken der Arme, wobei die Finger zappelnde Bewegun-<br />

gen in der Luft ausführten. Das sollte die gum trees, die Gummibäume, darstellen. Nun wur-<br />

den die Arme seitlich geschwenkt, was die plum trees, Pflaumenbäume, zeigen sollte. Die<br />

sheeps, Schafe, wurden mit einer Hand durch Heben des Ring- und Mittelfingers angezeigt,<br />

dies waren die Ohren der Schafe. Dann kam das Kanguruh, welches selbstverständlich durch<br />

ein eindeutiges Hüpfen dargestellt wurde. Die clothes-line, Wäscheleine, war ein waagerech-<br />

tes durch die Luft ziehen der Hand, die Veranda wurde in der Gegenbewegung durch deuten<br />

auf den Boden nachgezeichnet. Zum Abschluss kam ein eindeutiges Wippen mit beiden Ar-<br />

men, an dem jeder erkennen konnte, dass dies ein rocking chair, ein Schaukelstuhl, sein sollte.<br />

Give me a home among the gum trees<br />

with lots of plum trees<br />

A sheep or two, and a kangaroo<br />

A clothes-line out the back,<br />

verandah out the front<br />

And an old rocking chair<br />

Die Schwierigkeit war, dass der Refrain schnell gesungen wurde, was zwangsläufig bei<br />

Leuten, die den Titel nicht kannten, zu einem hoffnungslosen Kuddelmuddel der Arme führte.<br />

So war es bei den verwirrten Fahrgästen ebenfalls. Kelly krümmte sich vor Lachen. Andy<br />

stellte kopfschüttelnd die Musik ab und erklärte abfällig:<br />

506


„Also, Leute, so wird das gar nichts. Wir werden euch das mal ganz langsam zeigen und<br />

erwarten, dass ihr aufpasst.“ Er grinste Kelly an und fragte: „Bist du ... Wie heißt du über-<br />

haupt?“<br />

„Kelly.“<br />

„Okay, Kelly, bist du bereit?“ Die junge Frau nickte lachend. Zusammen machten sie den<br />

Fahrgästen die Bewegungen vor. Drei Mal zeigten sie diese. Grinsend fragte Andy:<br />

„Hat das nun auch der letzte von euch kapiert? Ja? Okay, dann werden wir die Probe ma-<br />

chen.“ Er stellte den Song wieder an und obwohl es noch bei einigen durcheinandergeriet,<br />

klappte es deutlich besser als beim ersten Versuch. Andy war zufrieden und Kelly durfte sich<br />

setzen.<br />

„So, das war gut, ich kann euch bedenkenlos die Bescheinigung, dass ihr es kapiert habt,<br />

ausstellen. Da wir gleich in den Hafen einlaufen und das singend machen wollen, kommt das<br />

Beste zum Schluss. Was könnte besser passen, wenn man sich auf einem Billabong bewegt?<br />

Klar. ‘Walzing Matilda‘. Das hat sicher jeder von euch mal gehört.“ Er fragte dies in einer<br />

Weise, die keinen Widerspruch duldete. Alle nickten denn auch eifrig. Schon ertönte der be-<br />

kannte Folk Song aus dem Bordlautsprecher und dank des Textes, den alle in der Hand hiel-<br />

ten, konnte jeder mitsingen.<br />

Once a jolly swagman camped by a billabong,<br />

Under the shade of a coolibah tree,<br />

And he sang as he watched and waited till his billy boiled,<br />

You'll come a-Waltzing Matilda with me.<br />

Waltzing Matilda, Waltzing Matilda,<br />

You'll come a-Waltzing Matilda with me,<br />

And he sang as he watched and waited till his billy boiled,<br />

You'll come a-Waltzing Matilda with me.<br />

Down came a jumbuck to drink at the billabong,<br />

Up jumped the swagman and grabbed him with glee,<br />

And he sang as he stowed that jumbuck in his tucker bag,<br />

You'll come a-Waltzing Matilda with me.<br />

Waltzing Matilda, Waltzing Matilda<br />

You'll come a-Waltzing Matilda with me<br />

And he sang as he stowed that jumbuck in his tucker bag,<br />

You'll come a-Waltzing Matilda with me.<br />

507


Up rode the squatter mounted on his thoroughbred,<br />

Up rode the troopers, one, two, three,<br />

Where's that jolly jumbuck you've got in your tucker bag?<br />

You'll come a-Waltzing Matilda with me.<br />

Waltzing Matilda, Waltzing Matilda,<br />

You'll come a-Waltzing Matilda with me<br />

Where's that jolly jumbuck you've got in your tucker bag?<br />

You'll come a-Waltzing Matilda with me.<br />

Up jumped the swagman and sprang into the billabong,<br />

You'll never take me alive, said he,<br />

And his ghost may be heard as you pass by that billabong,<br />

You'll come a-Waltzing Matilda with me.<br />

Waltzing Matilda, Waltzing Matilda,<br />

You'll come a-Waltzing Matilda with me,<br />

And his ghost may be heard as you pass by that billabong,<br />

You'll come a-Waltzing Matilda with me.<br />

Laut singend erreichten sie so den Bootsanleger und wurden von anderen einlaufenden<br />

Booten aus verwirrt gemustert. Andy bedankte sich bei seinen Fahrgästen, erhielt von allen<br />

ein mehr als angemessenes Trinkgeld und verabschiedete seine Passagiere freundlich. Zufrie-<br />

den und gut gelaunt marschierten Kelly und Shawn zusammen mit anderen Gästen zu den<br />

Lodges zurück. Shawn hielt noch den Zettel mit den Texten in der Hand und fragte:<br />

„Kannst du mir mal einiges übersetzen?“<br />

„Klar, was verstehst du denn nicht?“<br />

„Was ist ein swagman gleich noch gewesen?“<br />

„Ein Wanderarbeiter oder Landstreicher.“<br />

„Okay, und was ist ein billy?“<br />

Kelly schmunzelte. „Der billy ist ein Teekessel, den die swagman mit sich führen, um<br />

Wasser heißt zu machen.“<br />

Shawn nickte verstehend. „Aha. Und ein jumbuck?“<br />

„Das ist eine typische Bezeichnung für ein Schaf.“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Die spinnen ... Und ein tucker bag?“<br />

„Das ist die Tasche, in der sie ihre Vorräte mit sich tragen.“<br />

„Na prima, da hab ich mich mal wieder heftig blamiert.“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Ach was, das ist keine Blamage. Ich wette, die anderen Fahr-<br />

gäste haben genauso keine Ahnung, was all das ist. Hat es dir denn gefallen?“<br />

508


Shawn strahlte derart, dass Kelly um Haaresbreite geblendet die Augen geschlossen hätte.<br />

„Da fragst du noch?“<br />

*****<br />

42) Bondage<br />

Das, was uns bekannt ist, nennen wir das Gesetz der Notwendigkeit, und das,<br />

was wir nicht kennen, nennen wir Freiheit.<br />

Lew N. Graf Tolstoi<br />

Verschwitzt erreichten sie ihre Hütte und machten sich erst einmal etwas zu Essen und<br />

Kaffee. Während sie auf diesen warteten, versorgte Kelly noch einmal Shawns kleine Verlet-<br />

zung.<br />

„Na, sieht viel besser aus. Heute werden wir sicherheitshalber noch den Verband drum<br />

lassen. Morgen werden wir sehen, wie es aussieht.“ Vorsichtig, um Shawn nicht wehzutun,<br />

verteilte die Psychologin von der antibiotischen Salbe auf der Wunde und erneuerte anschlie-<br />

ßend den Verband. In der Zwischenzeit war der Kaffee durchgelaufen und sie machten es sich<br />

auf der Terrasse im Schatten gemütlich. Als beide satt waren, fragte Shawn tatendurstig:<br />

„So, was wollen wir denn mit dem angebrochenen Tag anfangen?“<br />

Kelly schüttelte erstaunt den Kopf. „Du bist ja gar nicht zu bremsen. Ich dachte, wir setzen<br />

uns mal ins Auto und fahren durch den Park.“<br />

„Gute Idee. Um das alles abzulaufen ist er ja zu groß.“<br />

Mit Wasser und Fotoapparat versehen, machen sie sich also auf den Weg. Kelly fuhr, da-<br />

mit Shawn in aller Ruhe die Schönheit der Natur um sie herum genießen konnte. In östlicher<br />

Richtung verließ die Psychologin das Resort und folgte später dem Highway 21 10 Kilometer<br />

in nördliche Richtung. Rechter Hand zweigte hier eine unbefestigte Straße vom Highway ab,<br />

in Richtung Osten. Dieser folgte Kelly.<br />

Shawn saß schweigend neben ihr. Jedoch merkte die Therapeutin, dass es ein zufriedenes<br />

Schweigen war. Er hatte gemütlich einen Fuß aufs Armaturenbrett gelegt, sah aus dem Fens-<br />

ter und war vollkommen entspannt. Auf einmal zuckte er wie elektrisiert hoch.<br />

„Sieh mal, dort.“ Er deutete nach vorne, die Straße entlang und Kelly entdeckte, was ihren<br />

Patienten so in Aufregung versetzte. Am Straßenrand, an Blättern kauend, stand ein riesiger<br />

Wasserbüffel! Das Tier drehte träge den Kopf mit den schweren, langen, ausladenden und vor<br />

allem spitzen Hörnern in ihre Richtung und Shawn öffnete vorsichtig die Tür, um ein vernünf-<br />

tiges Bild hinzubekommen.<br />

509


„Schätzchen, du bewegst deinen hübschen Hintern keinen Schritt vom Wagen weg, ver-<br />

standen?“, sagte Kelly ruhig.<br />

Shawn nickte. Er trat gerade so weit zur Seite dass er freie Sicht auf den Büffel hatte.<br />

Schnell machte er einige Fotos, beobachtete das Tier, das ruhig weiter äste, noch einen Mo-<br />

ment, und stieg ein.<br />

„Meine Herren. Was für ein Brocken! Der sieht so aus wie der Büffel, den Dundee mit<br />

seinem kleinen Trick Schlafen legt. Machst du das jetzt auch?“ Shawn hielt grinsend die<br />

Rechte in die Höhe, hatte Mittel- und Ringfinger eingeklappt und zuckte mit dem Zeige- und<br />

kleinen Finger herum. Kelly zeigte ihm lachend einen Vogel.<br />

„Aber du darfst das gerne ausprobieren. Das, was er von dir übrig lässt, wenn er dich in<br />

den Boden gestampft hat, bekomme ich problemlos in einer Zigarettenschachtel unterge-<br />

bracht. Da wird die Überführung nach Florida nicht so teuer.“<br />

Shawn lachte vergnügt. „Pah, würdest du gar nicht zulassen, dass er mich in Grund und<br />

Boden stampft. Da würdest du von meinen alten Herrschaften aber einen Einlauf kriegen.“<br />

Kelly lachte ebenfalls. „Lass es lieber nicht darauf ankommen.“ Sie fuhr langsam und vor-<br />

sichtig, soweit rechts wie nur möglich, an dem Büffel vorbei. Misstrauisch folgte das Tier<br />

ihnen mit den Augen. Es schnaufte unwillig, drehte sich herum und machte zwei, drei Schritte<br />

dem Wagen hinterher. Kelly gab sicherheitshalber Gas und schnell verschwand der Büffel<br />

hinter ihnen in einer großen Staubwolke.<br />

„Der hatte wohl was gegen uns, was?“, fragte Shawn grinsend.<br />

„Wenn dir beim Essen einer mit einem Geländewagen über den Tellerrand fahren würde,<br />

wärest du auch ungehalten.“, meinte Kelly schmunzelnd. Sie fuhr weiter und bald tauchte vor<br />

ihnen eine kleine Felsformation auf. Kelly verließ hier die Straße und lenkte den Wagen an<br />

den Berg heran.<br />

„Kleine Kletterpartie?“, fragte sie und Shawn nickte.<br />

„Gerne, von dort oben muss man eine tolle Aussicht haben.“<br />

Sie stiegen aus und machten sich daran, das 5 Kilometer lange Felsmassiv zu besteigen.<br />

Da kein Weg hinauf führte, wurde es eine heftige Kletterei. Shawn ging voran, achtete darauf,<br />

wo er hintrat und hin griff, wenn er sich mit den Händen festhalten musste und half Kelly an<br />

einigen Stellen, in dem er ihr die Hand reichte. Nach einer guten halben Stunde hatten sie es<br />

geschafft. Etwas atemlos und verschwitzt standen sie auf dem Berg. Shawn behielt Recht.<br />

Von hier oben hatte man tatsächlich eine wunderschöne Aussicht. In einiger Entfernung war<br />

ein weiterer Hügel zu erkennen. Dazwischen war Grasland und Baumbewuchs.<br />

Sie machten es sich auf einem großen Stein bequem und genossen den Wind, der über das<br />

Land strich. Shawn saß entspannt da und schaute traumverloren in die Ferne. Eine Weile<br />

schwiegen beide, genossen es, vertraute Stille zwischen sich zu halten, die nicht peinlich wur-<br />

510


de. Nach einiger Zeit bemerkte Kelly, dass Shawn weniger entspannt wirkte. Sie legte ihm<br />

eine Hand auf den Arm und fragte sanft:<br />

„Na, worüber denkst du nach?“<br />

Shawn zuckte ertappt zusammen. „Ach, ich dachte gerade daran, dass Carrie mich ab und<br />

zu nachts ungefesselt hat schlafen lassen. Wenn sie gut drauf war, was meistens hieß, dass sie<br />

mich den Tag über ... extrem ... extrem ran genommen hatten, war sie zufrieden und gut ge-<br />

launt. Dann konnte sie großzügig sein und ließ mich über Nacht ungefesselt.“ Er stieß ein<br />

frustriertes Lachen aus. „Das war großartig. Ich habe mich bewusst auf die Seite gerollt zum<br />

Einschlafen, weißt du. Etwas, was ich sonst so gut wie nie konnte. Ich lag entweder auf dem<br />

Rücken oder auf dem Bauch, Arme über dem Kopf an das Bettgestell gefesselt, Beine ge-<br />

spreizt unten ans Bett. Wenn ich mich mal bewegen konnte, versuchte ich, das auszunutzen<br />

und auf der Seite zu liegen. Meist lag ich, noch bevor ich richtig eingeschlafen war, so, wie<br />

ich es gewohnt war. Wenn ich nachts auf die Toilette musste, habe ich gewartet, bis es gar<br />

nicht mehr ging. Erst dann ... Statt gleich zu gehen. Bescheuert, was? Es gab Tage, hauptsäch-<br />

lich gegen Ende, da hätte ich Carrie am liebsten gebeten, ob sie mich nicht fesseln könnte. Ob<br />

du es glaubst oder nicht, aber das frei sein war fast bedrückender als gefesselt da zu liegen.“<br />

Shawn seufzte. „Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, aber es war, als würde man<br />

einem Verdurstenden mit einer zugeschweißten Wasserflasche vor der Nase herum wedeln.<br />

Ich hatte das Gefühl alles einfacher zu ertragen, wenn ich gefesselt war. Das war vor allem so,<br />

wenn Brett oder Alan mich gevögelt haben. Ich war nicht immer gefesselt. Später musste ich<br />

oft freiwillig stillhalten ... Das war viel, viel schlimmer, als wenn ich mich nicht bewegen<br />

konnte. Es vermittelte das Gefühl, es zu wollen, verstehst du? Mein Hirn sagte mir ständig:<br />

Du hältst den Arsch doch freiwillig hin, was jammerst du also herum?“<br />

Shawns Blick war in die Ferne gerichtet, während er leise redete. Kelly unterbrach ihn<br />

nicht. Es war gut, das er von sich aus sprach. Sie hoffte, er würde weiter machen. Und das tat<br />

Shawn.<br />

„Als Alan das erste Mal durfte ... Das war einige Tage nach der Sache mit Brett ...“<br />

*****<br />

Carrie kam schwungvoll ins Schlafzimmer gestürmt. Shawn, der noch geschlafen hatte,<br />

schreckte hoch.<br />

„Hey, wach auf.“ Carrie riss dem Gefesselten die Bettdecke weg und ging an ihren<br />

Schrank mit den diversen Schlagwerkzeugen. Sie überlegte kurz und schnappte sich eine Peit-<br />

sche mit einem breiten Lederstreifen am Ende. Shawn prustete leise. Dieses Teil verwendete<br />

die Frau nur auf Bauch und Brust. Er versuchte krampfhaft, ruhig weiter zu atmen. Aus Er-<br />

fahrung wusste er, dass das weg atmen der Schmerzen teilweise gut funktionierte, wenn sie<br />

nicht zu schlimm wurden. Carrie trat neben ihn und grinste.<br />

511


„Na, gut geschlafen?“ Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern ließ die Peitsche hart<br />

über Shawns Bauch klatschen. Scheinbar hatte sie es an diesem Morgen eilig, denn die zehn<br />

Schläge folgten schnell und ohne Pause, fast dilettantisch ausgeführt, aufeinander und Shawn<br />

gelang es, still liegen zu bleiben. Da hatte er schon andere Hiebe bekommen. Als der zehnte<br />

Schlag erfolgt war, machte Carrie ihn los und jagte ihn ins Bad, mit dem Hinweis, sich über-<br />

all gründlich zu reinigen. Shawn beeilte sich, duschte hastig, reinigte sich zähneknirschend<br />

den Darm und stand keine zehn Minuten später im Schlafzimmer, wo Carrie auf ihn wartete.<br />

„Sauber?“, fragte sie grinsend und Shawn nickte mit gesenktem Kopf.<br />

„Ja.“<br />

„Na, dann, auf geht’s.“<br />

Sie führte ihn ins Esszimmer und lachte, als Shawn unwillkürlich ins Stocken kam.<br />

Dort am Tisch, wo er seinen Platz hatte, stand ein vielleicht 50 Zentimeter langer, 40 Zen-<br />

timeter breiter, auf der Sitzfläche abgerundeter, Leder gepolsterter Hocker. In die Sitzfläche<br />

war ein Dildo eingearbeitet.<br />

„Mach es dir gemütlich.“, erklärte Carrie gemein grinsend.<br />

Auf dem Tisch stand eine Flasche Gleitmittel und Shawn griff mit zitternden Händen da-<br />

nach. Unter den wachsamen Augen Carries rieb er zähneknirschend den Dildo gründlich mit<br />

Gleitmittel ein. Kurz schloss er verzweifelt die Augen, dann schmierte er sich schwer atmend<br />

von dem Gleitmittel auf den Anus. Vor Scham am ganzen Körper bebend, ließ er sich langsam<br />

und vorsichtig auf den Dildo gleiten. Mit gesenktem Kopf und Tränen in den Augen saß er auf<br />

dem seltsamen Hocker. Carrie war zufrieden.<br />

„Geht doch. Das wird ein erregendes Frühstück für dich werden.“ Sie trat hinter Shawn<br />

und betätigte dort einen am Hocker angebrachten Schalter. Sofort spürte der Schauspieler<br />

den Dildo in sich vibrieren. Carrie grinste.<br />

„Ich weiß, dass du einen echten Schwanz bevorzugst, aber das kommt später. Erst einmal<br />

kannst du in Ruhe essen.“<br />

Shawn starrte verbissen auf den Tisch. Sie sollte die Tränen in seinen Augen nicht sehen.<br />

Gerade kam Alan herein und stellte ein Tablett mit Brot, Rührei, Speck und Kaffee vor Shawn<br />

auf den Tisch. Er ließ den Gefangenen nicht aus den Augen.<br />

„Na, wie gefällt dir das Sitzmöbel?“, fragte er hinterhältig.<br />

Shawn schwieg und begann stattdessen, sich Brot mit Ei fertig zu machen. Glücklicher-<br />

weise reagierte sein Körper an diesem Morgen nicht auf die Stimulation. Alan zuckte die<br />

Schultern.<br />

„Na, dann nicht. Dafür werden wir beiden Hübschen später viel Spaß haben. Lass es dir<br />

schmecken.“ Lachend drehte er sich herum und verschwand.<br />

512


Shawn musste noch eine Weile nach dem Frühstück auf dem Hocker sitzen bleiben. End-<br />

lich erklärte Carrie:<br />

„So, heute werden wir dir etwas Neues zeigen. Du darfst aufstehen.“<br />

Erleichtert erhob Shawn sich von dem Dildo und Carrie schaltete das Gerät ab.<br />

„Hat es dir gefallen?“, fragte die junge Frau lachend und Shawn wusste nicht, wie er da-<br />

rauf reagieren sollte. Sicherheitshalber nickte er zaghaft.<br />

„Ja ... Ein wenig.“ Er folgte Carrie hinunter in den Keller. Wie jedes Mal hatte er ein<br />

mulmiges Gefühl im Bauch, wenn er hier hinuntergebracht wurde. Etwas Gutes war ihm hier<br />

unten bislang noch nie zuteil geworden. Heute ging es in den Raum mit dem Bett.<br />

„Wir werden heute mal anfangen, dir ein paar nette Möglichkeiten der BDSM Fesselung,<br />

Bondage, zu zeigen.“<br />

Gerade betraten hinter ihnen Brett und die beiden Frauen den Raum.<br />

„Brett, sei so gut, gib mir die Stricke aus dem Schrank.“<br />

Carries Wunsch wurde sofort erfüllt. Karen und Teresa machten es sich im Schneidersitz<br />

auf dem Bett bequem und beobachteten von dort erregt, wie Carrie und Brett Shawn kunstvoll<br />

verschnürten. Mittels zweier Stricke wurden seine Arme seitwärts an den Körper gepresst.<br />

Die Unterarme wurden hinter seinem Rücken übereinander gelegt und in Höhe der Ellbogen-<br />

beuge und an den Handgelenken fest zusammen gebunden. Jetzt bekam er den Befehl, sich auf<br />

das Bett zu legen.<br />

cken.<br />

„Leg dich auf den Rücken, mach schon.“<br />

Scheinbar ging es Carrie nicht schnell genug, denn sie gab Shawn einen Stoß in den Rü-<br />

Als er lag, befahl Carrie ihm, das rechte Bein anzuziehen. Es wurde ein weiterer Strick so<br />

um seinen Oberschenkel und den Knöchel gewickelt, dass er unfähig war, das Bein auszustre-<br />

cken. Zwei Minuten später war das linke Bein auf die gleiche Weise verschnürt. Dass seine<br />

Schenkel auf diese Weise gefesselt unwillkürlich auseinanderfielen, weil sie so entspannter zu<br />

halten waren, machte den Anblick auf seinen Unterleib perfekt. Brett griff dem Wehrlosen an<br />

den Penis.<br />

„Sieht das geil aus.“ Er strahlte. „Schade, dass Alan heute an der Reihe ist. Aber wer<br />

weiß, eventuell kann ich deine Herrin überzeugen, mich später noch ran zu lassen.“<br />

Shawn hatte die Fesselung mit zusammen gebissenen Zähnen über sich ergehen lassen.<br />

Was er aus Bretts Worten schließen konnte, trieb ihm Schweiß auf die Haut. Alan würde ihn<br />

also heute vergewaltigen. In diesem Moment kam der zur Tür herein.<br />

„Oh, wie geil, da kann ich gleich loslegen.“ Er trat an das Bett heran, packte Shawn und<br />

drehte den jungen Mann spielerisch leicht herum, sodass dieser nun auf dem Bett kniete. Über<br />

ihnen war ein breiter Balken angebracht. Über diesen Balken warf Alan einen weiteren<br />

Strick. Er verknotete das eine Ende sicher, zog das andere Ende des Stricks unter Shawn hin-<br />

513


durch und verknotete es so, dass Shawn der Möglichkeit beraubt war, sich auf den Bauch<br />

sinken zu lassen. Sein Po war auf diese Weise einladend in die Höhe gestreckt. Alan entklei-<br />

dete sich und kniete sich hinter Shawn auf das Bett. Kurz flackerte in dem zu einem Paket<br />

verschnürten Schauspieler der verzweifelte Wunsch auf, sich dem zu entziehen, was nun un-<br />

weigerlich folgen würde. Doch schnell sagte ihm die Vernunft, dass er nicht das Geringste<br />

machen konnte. Resigniert sank er in sich zusammen.<br />

Seine Gesicht fest in das Bettlaken gedrückt wartete er ergeben auf die erneute Penetrati-<br />

on durch einen Mann. Er bekam unterbewusst mit, dass Carrie Alan Gleitmittel in die Hand<br />

drückte und spürte gleich darauf Hände an seinem Po, die hier großzügig von dem Gleitmittel<br />

auftrugen. Tränen schossen ihm in die Augen und er schloss dieselben verzweifelt. Er spürte<br />

Alans Hände rechts und links an seinen Lenden, fühlte Alans Penis langsam und genussvoll in<br />

sich eindringen und verkrampfte sich vor Schmerzen. Er hatte jedoch zumindest den verzwei-<br />

felten Wunsch, nicht zu schreien. So vergrub er das Gesicht noch tiefer im Bett und wenn der<br />

Schmerz in seinem Po zu schlimm wurde, biss er keuchend in das Laken. Seine Augen waren<br />

trocken, er hatte keine Tränen mehr, die er angesichts seiner Pein vergießen konnte. Stumm<br />

ertrug er die Vergewaltigung, nur seine Hände hatte er nicht unter Kontrolle. Hilflos zuckten<br />

sie auf seinem Rücken, in dem unwillkürlichen Versuch, an den Ort der Schmerzen zu gelan-<br />

gen und irgendetwas zu tun. Endlich klammerte er sich verzweifelt an dem Strick fest, der ihn<br />

aufrecht hielt. Alan hatte Stehvermögen. Es dauerte unerträglich lange, bis seine Bewegungen<br />

schneller und fester wurden vor steigender Erregung. Er krallte sich an dem Strick um<br />

Shawns Taille fest, zog den Wehrlosen auf diese Weise fester an sich heran. Und dann keuchte<br />

er auf!<br />

„Ich komme ... Oh, Gott ...“<br />

Shawn spürte ihn tief in sich zucken und zum Orgasmus kommen.<br />

*****<br />

Leise hatte Shawn erzählt. Jetzt verstummte er und schwieg einen Moment. Kelly wusste,<br />

um welche Fesselung es sich gehandelt hatte. Sie war, während Shawn redete, dicht an ihn<br />

heran gerutscht und der Schauspieler registrierte gar nicht, dass er sich an die Therapeutin<br />

gelehnt hatte. Abermals gab ihre Nähe ihm Halt und Geborgenheit.<br />

„Es war das erste von vielen, vielen Malen, dass sie mich so verschnürt haben. Carrie hat<br />

es oft gemacht, wenn wir allein waren. Aber Brett und Alan haben diese Fesselung auch ger-<br />

ne benutzt. Ich konnte im Knien und im Liegen gevögelt werden. Wenn ich knien musste ...<br />

Ich habe es nie geschafft, mich in der Haltung soweit zu entspannen, dass es nicht weh tat.<br />

Bis zum Schluss hat es höllisch geschmerzt. Lag ich auf dem Rücken, konnte ich den<br />

Schließmuskel so weit ... lockern, dass es gar nicht mehr weh tat, nur noch unangenehm war.<br />

Sie haben mich aber nicht nur zum Vögeln in der Haltung verschnürt. Oft hat Carrie mich<br />

514


stundenlang so liegen lassen. Die Füße wurden nach einer Weile taub, die Muskeln ver-<br />

krampften sich immer mehr und ich war nach einer gewissen Zeit so weit, sie anzubetteln,<br />

mich endlich loszubinden. Wenn sie es darauf anlegte, dass ich bettelte, hatte ich Glück. Dann<br />

machte sie mich los, sobald ich genug gewimmert hatte. Wenn sie mies drauf war, bekam ich<br />

einen Knebel und wurde liegen gelassen.“<br />

Er schniefte leise. „Ich wurde in den Behandlungsraum mit der Liege gebracht. Sie drück-<br />

ten ... Weißt du, sie sind schnell dahinter gekommen, dass ich ... Ich bin ziemlich gelenkig,<br />

habe ich wohl von Mum geerbt. Sie hat lange Gymnastik gemacht und als ich jung war, hat<br />

sie mich mitgenommen. Die Beweglichkeit ist hängen geblieben. Das hatte Carrie blitzschnell<br />

raus. Eine weitere Lieblingshaltung war ... Sie drückten meine Beine nach oben, dann die<br />

Arme über die Beine hinweg ... Die Handgelenke wurden ... Sie zogen einen Strick unter der<br />

Liege hindurch und daran fesselten sie meine Handgelenke. Das Rechte nach links gezogen,<br />

das Linke nach rechts. Die Fußgelenke wurden mit Stricken am oberen Ende der Liege befes-<br />

tigt. Schon ohne die zusätzlichen Fesseln konnte ich so die Beine nicht mehr herunternehmen,<br />

sie wurden ja von den Armen gehalten. In der Haltung ... So haben sie gerne mit Gerte oder<br />

Glasfaserstock auf meinen Oberschenkeln und auf dem Po herum geprügelt. Auf der extrem<br />

gespannten Haut ... Puh, das war lustig ...“<br />

Er musste tief durchatmen, bevor er weiter sprechen konnte. „Ihre netten Fesselspiele rich-<br />

teten sich stark danach, was sie erreichen wollten. Wenn sie es darauf anlegten, mir lange<br />

wehzutun, brauchten sie nur qualvolle Haltungen wählen, davon hatten sie genug in ihrem<br />

Repertoire. Das war aber nicht immer das Hauptziel. Brett ... Später, als er wohl schon einiges<br />

für mich empfand, da hat er gerne experimentiert, in welchen Haltungen er mir gut einen Bla-<br />

sen konnte. Er war irrsinnig einfallsreich, was die Möglichkeiten anging, schmerzhafte, aber<br />

nicht qualvolle Stellungen zu finden, in denen gleichzeitig ein hoher erotischer Effekt lag.<br />

Alles, was unseren Unterleib in den Mittelpunkt des Geschehens rückt, ist natürlich extrem<br />

erotisch. Das ist bei einer Frau sicher nicht anders.“<br />

Kelly nickte. „Natürlich, das ist das Ziel von Fesselspielen. Eigentlich steht die Erotik im<br />

Vordergrund. Alles, was den Unterleib bewegungsunfähig macht und in irgendeiner Form in<br />

den Mittelpunkt rückt, ist hochgradig erregend. Wenn man zusätzlich den Faktor der Bewe-<br />

gungsunfähigkeit, also der Hilflosigkeit als stimulierend hinzuzieht, kommen zwei entschei-<br />

dende Triebfedern auf dem Weg zu einem unvergleichlichen Orgasmus zusammen. Da Hilf-<br />

losigkeit mit einem Hauch von Angst verbunden ist, egal, ob man den Sexpartner kennt und<br />

ihm vertraut, kommt somit eine weitere Variante ins Spiel, die wichtig für ein erfolgreiches<br />

Fesselspiel ist. Naja, und Schmerz, in mäßiger Potenz, treibt, wie ich dir erklärte, in der Erotik<br />

vieles voran.“<br />

515


„Ja, da hast du wohl Recht. Ich konnte mich in den ersten Monaten nicht gerade erfolg-<br />

reich wehren, weißt du. Eine bei Brett, aber auch bei Carrie beliebte Variante war, mich über<br />

einen gut gepolsterten Bock zu fesseln. Wie bei der Brücke, nur wesentlich unbequemer. Auf<br />

dem Bock hingen Kopf und Füße gefesselt an Querstreben stramm nach unten. Nur mein Hin-<br />

tern hatte Auflagefläche. Wenn man sich einmal an die Haltung gewöhnt hatte, konnte man es<br />

eine Weile aushalten. Und eine Wahl hatte ich ohnehin nicht. Wenn sie dann anfingen, mich<br />

zu ... berühren, zu streicheln ... Oh, Gott, das war so unglaublich erregend ...“ Shawn ver-<br />

stummte. Nach einer Weile fuhr er fort: „Ich weiß noch, dass es auf dem Bock bei Carrie das<br />

erste Mal nicht mehr geklappt hat. Da ging nichts mehr. Ich habe mich nicht einmal bewusst<br />

gewehrt, weil ich es vorher ohnehin nie verhindern konnte. Aber als sie anfing, erst mit den<br />

Händen, dann, als nicht die gewünschte Reaktion kam, mit dem Mund ... Ich wollte wirklich<br />

... Aber es ging nicht mehr. Sie hat ... alles versucht und wurde immer wütender. Nach einiger<br />

Zeit musste sie einsehen, dass sie an dem Tag keine Chance hatte. Sie rastete aus ... Ich ... ich<br />

hab versucht, ihr zu erklären, dass ich alles versucht habe, um eine Erektion zu bekommen.<br />

Ich habe mich auf ihre Berührungen konzentriert und ... Aber es ging nicht mehr. Und dann ...<br />

Sie hat den ... den Bambusstock genommen ...“<br />

Shawn schluchzte auf. Kelly hielt den jungen Mann fest in den Armen und streichelte ihm<br />

beruhigend über den Rücken. Nach einigen Minuten war er so weit, weiter sprechen zu kön-<br />

nen.<br />

„Sie hat angefangen, auf meine Oberschenkel einzuschlagen ... Und dann auf die Bauch-<br />

decke ... Ich habe zum Glück schnell die Besinnung verloren ... Als ich zu mir kam ... Ich lag<br />

im Behandlungszimmer auf der Liege ... Teresa ... Sie hat sich um mich gekümmert. Carrie<br />

hatte mich blutig geschlagen.“ Er schluchzte verzweifelt auf. „Ich wollte kommen! Ich hatte<br />

keine Schuld daran, dass es nicht geklappt hat. Brett hat mir später erzählt, dass sie eingreifen<br />

mussten ... Sonst hätte sie mich tot geschlagen. Sie ist total ausgeflippt. Ich ... Später kam sie<br />

und hat sich für ihren Ausraster entschuldigt. Von da an ging es häufiger nicht mehr. So ext-<br />

rem ist sie nicht mehr ausgeflippt, aber ... Wenn es bei ihr nicht klappte, habe ich mir von da<br />

an regelmäßig Schläge, Strafen irgendwelcher Art, eingefangen. Bald ging vor Angst nichts<br />

mehr. Naja, und dann hatte sie ja schnell die Nase voll von mir.“<br />

Ausgelaugt hing Shawn in Kellys Armen und brauchte nach diesem Bericht eine Weile,<br />

um sich halbwegs zu fangen. Kelly ließ ihn in Frieden. Sie hielt ihn nur fest in den Armen und<br />

gab ihm Halt und Trost. Nach einer Weile meinte der Schauspieler:<br />

„Das war die Zeit, wo Brett anfing, mich an den Strand mitzuschleppen. Ich hatte ständig<br />

irgendwelche Striemen, weil Carrie es nicht schaffte, sich zu beherrschen, wenn sie vergeb-<br />

lich versucht hatte, mich zu befriedigen. Zu meinem Glück kam der Zeitpunkt, da versuchte<br />

sie es gar nicht mehr. Ihr war klar geworden, dass ich ... im wahrsten Sinne des Wortes ausge-<br />

516


lutscht war. Sie wollte mich von da an gar nicht mehr befriedigen, sondern nur noch ihre sa-<br />

distischen Gelüste so lange wie möglich an mir austoben. Das war die schlimmste Zeit. Die<br />

anderen hatten ebenfalls die Schnauze voll davon, es zu versuchen. Nur noch Brett ... Er<br />

schaffte es selten noch einmal, mich zum Orgasmus zu bringen. Die anderen vier waren nur<br />

noch darauf aus, mich zu Foltern. Sie tobten sich die letzten Wochen gründlich aus. Bis dann<br />

... Naja, bis Carrie beschloss, mich zu entsorgen.“<br />

Von allem, was Shawn noch so erzählen würde war das ‘Entsorgen‘ der Part, vor dem<br />

Kelly am meisten graute. Sie wusste, wie er aufgefunden worden war. Der Psychologin lief es<br />

kalt den Rücken herunter, wenn sie daran dachte, dass Carrie Shawn zum Sterben an den<br />

Tisch gefesselt zurückgelassen hatte. Ihr Entführer vor vielen Jahren hatte sie wenigstens<br />

schnell töten wollen. Er hatte eine Handfeuerwaffe gehabt, damit hatte er Kelly erschießen<br />

wollen. Aber jemanden einfach gefesselt zum Sterben zurückzulassen, war derart grausam<br />

und unmenschlich, dass Kelly bei der bloßen Vorstellung anfing zu zittern. Was musste in<br />

Shawn vorgegangen sein? Zu wissen, dass er sterben sollte, war eine Sache. Aber ebenfalls zu<br />

wissen, dass sein Tod tagelang dauern würde, war etwas anderes. Kelly biss sich heftig auf<br />

die Lippe. Am liebsten hätte sie das übersprungen. Doch ihr war klar, dass Shawn über kurz<br />

oder lang davon sprechen musste. Der junge Mann spürte Kelly heftig zittern. Erschrocken<br />

fragte er:<br />

„Was ist los?“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nichts schlimmes, mach dir keine Sorgen, okay. Ich ... Ich ha-<br />

be selten, wenn überhaupt je, auf einen Menschen einen solchen Hass empfunden wie auf<br />

Carrie. Ich hoffe so sehr, sie läuft mir eines schönen Tages über den Weg!“ Kelly schüttelte es<br />

regelrecht. Shawn konnte nicht anders. Er freute sich über Kellys leidenschaftlichen Hass auf<br />

seine Entführerin.<br />

oder?“<br />

„Wenn ich jetzt sagen würde: Das würde ich selbst gerne erleben ... klingt das seltsam,<br />

Ohne es zu wollen musste Kelly lachen. „Gott, ja, das klingt seltsam. Und es ist nicht<br />

wünschenswert.“<br />

Sie atmete einige Male tief durch und fragte Shawn: „Wie sieht es aus, wollen wir uns auf<br />

den Rückweg machen? Es wird bald dunkel und wir haben noch eine Ecke zu fahren.“<br />

„Ja, obwohl ich bis ans Ende meines Lebens hier mit dir sitzen könnte. Aber das würde<br />

schnell eintreten, ich habe Hunger.“<br />

Kelly drehte sich zu Shawn herum und biss sich lächelnd und den Kopf schüttelnd auf die<br />

Lippe. „Ich fürchte, wenn du so weiter machst, kann ich dich bald nach Hause schicken.“,<br />

sagte sie leise. Spontan nahm sie den jungen Mann in die Arme. Shawn drückte die Therapeu-<br />

tin ebenfalls fest an sich. Als die Sonne begann, langsam unter zu gehen, rissen sie sich von-<br />

517


einander los und machten sich schweren Herzens an den Abstieg. Als sie ihren Wagen er-<br />

reichten, war es nahezu dunkel. Kelly beeilte sich, auf die unbefestigte Straße zurückzukom-<br />

men. Kurz bevor sie den Highway erreichten versank die Sonne endgültig in einem glutroten<br />

Ball am Horizont.<br />

„Wunderschön ...“, meinte Shawn leise.<br />

*****<br />

43) Sandmücken<br />

Eine traurige Seele kann einen viel schneller töten als ein Krankheitskeim.<br />

„Bist du so weit?“<br />

John Steinbeck<br />

Etwas genervt kam Shawn aus dem Bad und knurrte: „Ja, Sekunde noch, dann kann es<br />

losgehen. Ich bin völlig zerstochen. Wir hätten uns noch gründlicher mit deinem Mücken-<br />

spray einsprühen sollen.“<br />

Kelly sah einige kleine, rote Pusteln auf Shawns Armen und Beinen und nickte. „Oh, ich<br />

habe Salbe für Insektenstiche bei mir.“ Sie ging an ihre Tasche und wühlte kurz herum, bis sie<br />

gefunden hatte, wonach sie suchte. „Hier, die hilft gut. Die Stiche hast du noch vom Katheri-<br />

ne. Gestern waren keine Mücken in der Luft, sonst hätte ich selbst Bisse abbekommen.“<br />

Shawn war damit beschäftigt, sich die Stiche mit der Salbe zu behandeln. „Ist mir egal, wo<br />

sie mich erwischt haben. Das juckt wie Hölle.“ Er war genervt. „Ich habe die halbe Nacht<br />

gekratzt.“<br />

„Das tut mir leid. Warum hast du mich nicht geweckt? Ich hätte dir die Salbe ...“<br />

„Woher sollte ich denn wissen, dass du Salbe mit hast? So, fertig, lass uns los. Wie weit<br />

ist es zu den Wasserfällen?“<br />

Kelly trat auf die Terrasse hinaus und erklärte: „Von hier nicht ganz 60 Kilometer, wir<br />

werden ungefähr eine Stunde fahren. Dort werden wir laufen. Da kommt man mit dem Wagen<br />

nicht mehr weiter.“<br />

Nachdem der widerliche Juckreiz endlich nachgelassen hatte besserte sich Shawns Laune<br />

rapide. Als sie im Auto saßen fragte er deutlich vergnügter:<br />

„Und von Jim Jim zu den Twin Falls? Wie weit ist das?“<br />

Kelly setzte sich ans Steuer und startete den Motor. „Oh, das sind um die 8 Kilometer,<br />

wenn ich es richtig entsinne. Wenn es zu heiß ist, werden wir versuchen, zu fahren.“<br />

518


Sie fuhr an und Minuten später waren sie auf dem Highway. Kelly bog nach links ab, wie<br />

am Tag zuvor. Erstaunt fragte Shawn:<br />

„Ich denke, die Fälle liegen im Süden?“<br />

„Stimmt, aber die Straße, die wir gestern gefahren sind, ist die einzige, die zu den Wasser-<br />

fällen führt.“<br />

„Ach so. Kann man da Schwimmen?“<br />

„Wenn du dir mit den Salties einig wirst ...“<br />

„Harhar ... Du hast manchmal eine infame Art an dir, weißt du das?“ Shawn grinste ver-<br />

gnügt, was seine Worte Lügen strafte.<br />

Kelly erwiderte bedrückt: „Ich weiß. Tut mir so leid.“ Dass sie extrem frech grinste strafte<br />

ihre Worte ebenfalls Lügen. Lachend erreichten sie den Abbieger und Kelly fuhr auf der un-<br />

befestigten Straße zügig in Richtung Süden. Einmal kam ihnen eine Staubwolke entgegen und<br />

Kelly schnaufte: „Schnell, Lüftung aus!“<br />

Shawn reagierte sofort und schaltete die Lüftung hastig ab. Dann kam der entgegenkom-<br />

mende Wagen an ihnen vorbei und minutenlang fuhren sie fast blind. Endlich legte sich der<br />

Staub und Shawn lachte.<br />

„Ich hatte vergessen, wie es ist, wenn einem auf diesen Wegen Autos entgegenkommen.“<br />

„Staubig ...“, erwiderte Kelly lakonisch.<br />

Sie fuhren zügig weiter und bald tauchten vor ihnen Felsen auf. Die Straße zog sich am<br />

Fuße dieses Felsplateaus entlang und etwas später erreichten sie einen großen Parkplatz, auf<br />

dem einige Fahrzeuge standen.<br />

„Ab hier wird gelaufen.“, meinte die Therapeutin munter und stieg, gefolgt von Shawn,<br />

aus. Sie griffen nach ihren Hüten, den kleinen Rucksäcken mit Wasserflaschen und Shawn<br />

zusätzlich nach seiner Fototasche und marschierten los.<br />

„Viel Wasser wird der Fall nicht haben. Aber das Wasserloch selbst trocknet nicht aus.“<br />

Sie folgten einem Wanderweg, der sich am Jim Jim Creek entlang durch die wunderschö-<br />

ne Natur schlängelte und nach zirka 1,5 Kilometer am Fallbecken endete. Wie Kelly voraus<br />

gesagt hatte führte der Wasserfall kein Wasser.<br />

„Schade.“, meinte Shawn enttäuscht.<br />

„Es hat lange nicht geregnet. Das war zu erwarten. Aber es hat auch etwas Gutes. In der<br />

Trockenzeit kontrollieren die Parkranger das Fallbecken auf eingeschlossene Krokodile.<br />

Wenn sich welche darin befinden, werden sie gefangen und fort gebracht. Wir können also<br />

bedenkenlos Baden, wenn du magst.“<br />

„Klar mag ich.“<br />

„Gut, ich sag dir was: Wir werden da hoch turnen und wenn wir später runter kommen,<br />

werden wir ausgiebig schwimmen, was hältst du davon?“<br />

519


Shawn warf einen Blick die gut 200 Meter hohen Felswände empor. Skeptische Falten<br />

bildeten sich auf seiner Stirn. Kelly lachte.<br />

de ...“<br />

„Was denn? Wolltest du nicht mehr sportliche Aktivitäten zeigen? Alles nur hohles Gere-<br />

Blitzschnell trat Shawn an die Psychologin heran und nahm sie knurrend in den Schwitz-<br />

kasten. „Hexe. Das nimmst du jetzt sofort zurück!“, schimpfte er und eine seiner Hände ver-<br />

irrte sich an Kellys linke Seite. Er fing an, sie zu kitzeln und die junge Frau bat kichernd um<br />

Gnade.<br />

„Okay, ich entschuldige mich.“<br />

Lachend gab der Schauspieler die Therapeutin frei und trieb sie an: „Na los, Lady, wenn<br />

du nicht so viel reden würdest, könnten wir schon halb oben sein.“<br />

Gut gelaunt machten sie sich an den steilen und anstrengenden Aufstieg. Eine Art Tram-<br />

pelpfad führte nach oben und sie kamen erstaunlich gut voran. An einigen Stellen wurde es<br />

eine richtige Kletterpartie und einmal kam Kelly gefährlich ins Rutschen. Erschrocken krallte<br />

sie die Hände in einige kleine Baumwurzeln und schon war Shawns Hand da, um sie sicher<br />

über die knifflige Stelle hinweg zu ziehen. Knappe zwei Stunden später hatten sie es ge-<br />

schafft. Unterwegs hatten sie sich nicht unterhalten, sie brauchten ihre Luft zum bergan stei-<br />

gen. Als sie das Hochplateau endlich erreichten, atmeten sie auf und sanken keuchend auf<br />

einen Absatz im Fels.<br />

„Puh ... So schlimm hätte ich es mir nicht vorgestellt. Ich habe vielleicht einen Schreck<br />

bekommen, als du ins Rutschen kamst.“ Shawn sah Kelly besorgt an.<br />

„Na, und ich erst. Wenn ich da abgeschmiert wäre ... Danke.“ Sie umarmte den jungen<br />

Mann innig und er konnte spüren, dass sie leicht zitterte. Er hielt sie fest und meinte leise:<br />

„Zum Abstieg sollten wir uns einen etwas weniger steilen Weg suchen, was meinst du?“<br />

„Auf jedem Fall. Man kann hinter dem Becken bequemer nach unten gelangen. Aber sieh<br />

dich erst mal um. Gelohnt hat es sich auf jedem Fall.“<br />

Shawn erhob sich und sah sich begeistert um. Tief unter ihnen war der Jim Jim Creek zu<br />

sehen. Er verschwand in der Ferne, in der Weite des Landes. Wenn sie dicht an die Felskante<br />

traten, konnten sie unter sich das Wasserbecken des Falles sehen.<br />

„Ganz schön tief.“, meinte Shawn beeindruckt. Er machte Fotos und als er genug geknipst<br />

hatte, setzten sie sich noch eine Weile nebeneinander an die Kante des Abhangs. Der Aus-<br />

blick war hinreißend und es fiel ihnen schwer, sich auf den Rückweg zu machen. Doch es half<br />

nichts, sie mussten sich los reißen. Nach einigem Suchen fanden sie einen weniger gefährli-<br />

chen Abstieg. Er war länger, jedoch deutlich sicherer. Gegen 16 Uhr standen sie im Tal, fielen<br />

verschwitzt und erschöpft aus ihren Sachen und ließen sich ins Wasser fallen. Shawn war still<br />

und tauchte ein paar Mal seinen Kopf unter.<br />

520


Kelly schwamm zu ihm und fragte: „Hey, ist alles in Ordnung?“ Ihr war aufgefallen, dass<br />

der junge Mann blass war. Shawn strich sich mit der Hand Haare aus dem Gesicht und erklär-<br />

te:<br />

„Ja, ich hab nur seit einer guten Stunde Kopfschmerzen, sonst ist nichts.“<br />

„Dann lass uns aufbrechen. Für die Twin Falls ist es heute ohnehin zu spät. Da können wir<br />

morgen hinfahren.“<br />

Sie verließen das herrlich klare und kühle Wasser und ließen sich in der Sonne trocknen.<br />

Schließlich zogen sie sich an und machten sich auf den Weg zum Wagen. Shawn atmete auf,<br />

als sie diesen erreicht hatten. Er sank in den Sitz und schloss die Augen.<br />

„Man, mir fliegt die Birne auseinander. Schaff uns bloß schnell nach Hause.“<br />

Kelly warf ihm einen besorgten Blick zu und gab Gas. Obwohl sie so schnell fuhr wie es<br />

die Straße zuließ, brauchten sie mehr als eine Stunde, bis sie den Highway erreicht hatten. Die<br />

letzten paar Kilometer waren rasch geschafft. Kelly war aufgefallen, dass Shawn ab und zu<br />

den Kopf schüttelte. Als sie vor ihrer Cabin stoppte, fragte sie:<br />

„Was macht dein Kopf?“<br />

Gepresst erwiderte Shawn: „Der brummt. Ich hoffe, du hast in deiner Wundertasche Kopf-<br />

schmerztabletten.“ Er stieg aus und kam kurz ins Wanken. „Verflucht!“<br />

Erschrocken griff er nach der Wagentür und hielt sich fest. Kelly war schon bei ihm und<br />

legte ihm einen Arm um die Taille.<br />

„Schwindelig?“, fragte sie besorgt.<br />

Genervt knurrte Shawn: „Ja ...“<br />

Die Therapeutin führte ihn vorsichtig ins Haus. „Leg dich hin. Ich helfe dir, warte.“ Sie<br />

half ihm aus den Kleidungsstücken und zog ihm, als er sich auf das Bett gesetzt hatte, die<br />

Schuhe aus. „Jetzt leg dich hin, Schatz. Ich hole dir eine Schmerztablette.“<br />

Ächzend ließ Shawn sich in die Waagerechte sinken und zog zitternd die Zudecke über<br />

seinen Körper.<br />

Kelly nahm eine Flasche Wasser, Ibuprofen sowie ein Fieberthermometer aus ihrer Erste<br />

Hilfe Tasche und eilte mit diesen Sachen zu Shawn zurück. Sie drückte zwei Tabletten aus<br />

der Verpackung und gab sie Shawn. „Hier, die werden dir helfen.“ Die Psychologin half<br />

Shawn, sich aufzusetzen. Dankbar schluckte er die Tabletten und ließ sich ins Kissen zurück-<br />

sinken.<br />

„Ich muss mir irgendwas aufgesackt haben. Ich fühle mich fürchterlich ...“, schnaufte der<br />

junge Mann genervt.<br />

Kelly war besorgt. Sie nahm das Thermometer aus der kleinen Schachtel und setzte es<br />

sanft an Shawns Schläfe. Nach kurzer Zeit konnte sie den Wert ablesen. Sie schüttelte den<br />

Kopf.<br />

521


„Du hast Fieber, fast 40 Grad. Shawn, du musst mir sagen, ob dir noch etwas anderes als<br />

der Kopf wehtut.“<br />

Nervös sah Shawn sie an. Mit vor Kälte und Schwäche klappernden Zähnen meinte er:<br />

„Okay ... Mir ist schwindelig, speiübel, ich habe das Gefühl, jedes Gelenk und jeder Muskel<br />

schmerzt, der Rücken tut weh und meine Beine fühlen sich steif an ... Kelly, was ist ...?“ In<br />

seiner Stimme schwang eindeutig Angst mit. Doch Kelly war erleichtert. Sie fragte:<br />

„Die Kopfschmerzen, wo sitzen die?“<br />

Verwirrt sah Shawn die Psychologin an. „Stirn ... Und hinter den Augen ... Hab das Ge-<br />

fühl, die fallen gleich raus.“<br />

Wirklich erleichtert nahm Kelly Shawns Hand. „Oh, Baby, das tut mir unglaublich leid.<br />

Ich fürchte, du hast Phlebotomusfieber.“<br />

Shawn sah verängstigt in Kellys Gesicht. „Was für‘n Ding? Pflebo ... Was? Ist das ... Ist<br />

das was Gefährliches?“<br />

„Phlebotomusfieber.“, wiederholte Kelly sanft. „Das ist eine Virusinfektion, die von<br />

Sandmücken übertragen wird.“<br />

Mitleidig deutete sie auf die kleinen Bisse an Shawns Armen. Shawn schloss unglücklich<br />

die Augen. „Scheiße.“, stöhnte er. „Ist das ... gefährlich?“ Seiner Stimme war deutlich Angst<br />

anzuhören. Beruhigend erklärte Kelly:<br />

„Nein, mach dir keine Sorgen. Das ist nichts Gefährliches. Nur unangenehm. Du wirst<br />

dich drei, vier Tage wirklich miserabel fühlen. Aber es hat etwas Gutes: Du bist den Rest dei-<br />

nes Lebens immun gegen diesen Serotyp.“<br />

„Nicht gefährlich?“, fragte Shawn nervös nach. „Fühlt sich verdammt so an.“<br />

Mitleidig schüttelte Kelly den Kopf und strich Shawn beruhigend über die Haare. „Nein,<br />

vertraue mir. Es ist ganz ungefährlich. Die Symptome klingen nach drei bis maximal vier Ta-<br />

gen ab. Wir müssen nur etwas gegen das Fieber besorgen und ich brauche mehr Ibu. Du wirst<br />

schön im Bett bleiben und dich von mir verwöhnen lassen. Ich werde die Zimmerreservierung<br />

verlängern und aus Jabiru Medikamente anfordern. Die können geliefert werden, sonst müsste<br />

ich dorthin fahren.“<br />

Erschrocken klammerte Shawn sich an Kellys Hand. „Bitte ...“, flüsterte er verlegen.<br />

Kelly lächelte beruhigend. „Baby, ich werde dich ganz bestimmt nicht allein lassen, da<br />

kannst du sicher sein. Ich muss nur schnell zur Rezeption hinüber, das ist alles.“ Sie stand auf<br />

und eilte im Laufschritt los.<br />

In der Rezeption saß die junge Frau, die Dienst gehabt hatte, als sie angekommen waren.<br />

„Hallo. Kann ich was für Sie tun?“, fragte sie Kelly freundlich.<br />

„Mein Begleiter hat sich eine Infektion eingefangen. Sandmückenfieber.“<br />

Die junge Frau verzog das Gesicht. „Autsch ... Wie kann ich Ihnen denn helfen?“<br />

522


„Wir brauchen die Cabin länger, wenn es möglich ist.“<br />

Die junge Frau, Mandy laut Namensschild, sah in ihren PC. „Keine Vorbestellungen, also<br />

gar kein Problem. Sie haben bis Samstag gebucht, wie weit soll ich verlängern?“<br />

Kelly überlegte. „Ich denke, bis ... heute ist Dienstag ..., verlängern Sie bitte bis Donners-<br />

tag. Dann hat er Zeit genug, sich zu erholen.“<br />

Mandy tippte etwas in den Computer und erklärte: „So, das hätten wir. Sonst noch etwas?<br />

Muss ein Arzt kommen?“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, ist nicht nötig, ich bin selbst Ärztin. Es wäre nur schön,<br />

wenn ich ein paar Medikamente bekommen könnte. Auf so was war ich nicht vorbereitet. Ich<br />

habe nur noch ein paar wenige Schmerztabletten und nichts gegen Fieber bei mir. Ich würde<br />

ihm gerne zusätzlich zu den Ibuprofen Metamizol geben, wenn das Fieber steigen sollte.<br />

Könnte Sie mir die Medikamente in Jabiru besorgen und liefern lassen?“<br />

Mandy hatte sich Notizen gemacht und nickte. „Klar, wir bekommen heute ohnehin noch<br />

eine Lieferung aus Jabiru, da wird es kein Problem sein, das gleich mit zu bringen. Ich werde<br />

mich sofort darum kümmern, machen Sie sich keine Sorgen. Noch heute Abend werden Sie<br />

alles haben was Sie brauchen.“<br />

Kelly bedankte sich erfreut und beeilte sich, zu Shawn in die Cabin zurückzukommen.<br />

Der Schauspieler lag zähneklappernd im Bett und zuckte zusammen, als Kelly in den<br />

Raum kam. „Da bist du ja. Klappt das mit dem hier bleiben?“, fragte er müde.<br />

Die Therapeutin setzte sich zu ihm auf das Bett und legte dem jungen Mann eine Hand auf<br />

die Stirn. „Natürlich klappt das. Wir haben bis nächsten Donnerstag Zeit, bis dahin geht es dir<br />

wieder gut. Und die Medis bekommen wir noch heute.“<br />

Shawn seufzte leise. „Was für eine Scheiße ...“<br />

Kelly sah ihn an. „Hey, mach dir mal keinen Kopf.“<br />

Shawns Augen schwammen in Tränen. „Nun kannst du noch Krankenpflegerin spielen.<br />

Als ob es nicht reicht, dass ich dir die Ohren voll heule mit ...“<br />

Energisch unterbrach die Therapeutin den jungen Mann. „Shawn, rede keinen Quatsch.<br />

Wenn es etwas gibt, was ich gerne mache, dann dich zu verwöhnen und zu umsorgen, ist das<br />

klar? Dafür, dass du dir diese blöde Infektion eingefangen hast, kannst du gar nichts. Genauso<br />

gut hätte es mich erwischen können. Dann müsstest du mich pflegen. Also, halt den Rand, leg<br />

dich zurück und genieße, dass ich dich ein paar Tage nach Strich und Faden verwöhnen wer-<br />

de.“<br />

Unglücklich fragte Shawn: „Warum bin ich bloß so anfällig im Moment? Das kenn ich bei<br />

mir gar nicht, ich war das letzte Mal vor fünf Jahren krank. Damals hab ich mir den Knöchel<br />

verstaucht ...“<br />

523


Kelly strich ihm liebevoll eine Haarsträhne von der schweißnassen Stirn. „Das liegt daran,<br />

dass du psychisch und physisch stark angeschlagen bist. Gerade psychische Belastungen tra-<br />

gen dazu bei, dass unser Immunsystem nicht vernünftig funktioniert. Wenn man seelisch nicht<br />

auf der Höhe ist, ist man es auch körperlich nicht. Körper, Geist und Seele sind eine Einheit,<br />

verstehst du? Ist ein Teil davon angeschlagen, wirkt sich das auf die anderen Teile aus. Bei dir<br />

ist im Grunde jeder einzelne Teil gerade schwer angeschlagen. Deshalb bist du anfälliger als<br />

üblich.“<br />

Shawn hörte mit geschlossenen Augen zu. Frustriert schnaufte er: „Toll ...“ Er fühlte sich<br />

furchtbar und zu wissen, warum er sich so fühlte, half ihm wenig. Kelly sah den Schauspieler<br />

besorgt an. Sie machte sich deutlich mehr Gedanken darüber, dass diese dumme Infektion ihn<br />

wieder sehr depressiv machen könnte, als über die Infektion selbst, die zwar unangenehm,<br />

aber harmlos war.<br />

„Baby, bitte, lass dich nicht so runter ziehen. Ich werde uns mal etwas zu Essen besorgen,<br />

was hältst du davon?“<br />

Der Schauspieler schüttelte den Kopf. „Keinen Hunger ...“, murmelte er.<br />

Das ließ Kelly nicht zu. „Das ist mir egal, du musst etwas essen. Schon wegen der Tablet-<br />

ten. Ich werde dir ein schönes Steak mit Pommes und Bohnen bestellen.“ Sie ging an das<br />

Haustelefon und rief im Restaurant an.<br />

„Hallo, Cabin 8, ich würde gerne Abendessen bestellen. Würden Sie uns bitte zwei Ribeye<br />

Steaks mit Pommes und Bohnen bringen?“<br />

„Klar, kein Problem. Viertel Stunde bis zwanzig Minuten, okay?“<br />

Kelly bedankte sich und legte auf. Dann setzte sie sich zu Shawn auf das Bett und fragte:<br />

„Was macht der Kopf?“<br />

Einsilbig antwortete der Schauspieler: „Geht.“<br />

Die junge Frau stand noch einmal auf, eilte ins Bad und machte einen Waschlappen nass.<br />

Damit kehrte sie zu Shawn zurück und legte ihm den Waschlappen sanft auf die Stirn.<br />

Er öffnete die Augen und sagte unglücklich: „Danke ...“<br />

Kelly zögerte kurz, beugte sich über ihn und gab ihm zärtlich einen Kuss auf die Lippen.<br />

„Gerne.“, sagte sie liebevoll.<br />

Shawn freute sich über den Kuss und sah nicht mehr so deprimiert aus. Erstaunlich schnell<br />

klopfte es an der Tür und das Essen kam. Kelly suchte nach einem Betttisch und wurde fün-<br />

dig. Sie half Shawn, sich aufzusetzen und stopfte ihm Kissen in den Rücken, bis er bequem<br />

saß. Vorsichtig stellte sie ihm den Betttisch über die Beine und servierte ihm darauf sein<br />

Abendbrot. Er stocherte erst appetitlos darin herum, doch als Kelly ihm Mut machte, zu essen,<br />

nickte er erschöpft.<br />

524


„Komm, Shawn, es nützt nichts, wenn du obendrein noch schwächelst, weil du nichts zu<br />

dir nimmst. Das Steak ist hervorragend. Es wird dir gut tun, etwas in den Magen zu bekom-<br />

men.“<br />

Tatsächlich bekam der junge Mann beim Essen etwas Appetit und aß fast alles auf. Zu-<br />

frieden räumte Kelly den Tisch weg und Shawn machte sich lang. Die Therapeutin setzte sich<br />

zu ihm und fragte:<br />

„Wie fühlst du dich?“<br />

„Beschissen ... Aber wenigstens bin ich satt.“<br />

„Wie geht es dem Kopf?“<br />

Shawn seufzte. „Der ist noch da ...“ Er bewegte sich unbehaglich hin und her. „Ich weiß<br />

nicht, wie ich liegen soll. Mir tut ... das Kreuz so weh.“<br />

Kelly hätte ihm so gerne geholfen, es machte ihr unglaublich zu schaffen, dass der junge<br />

Mann Schmerzen hatte.<br />

„Dreh dich auf die Seite, wenn es geht.“, bat sie ihn und schlüpfte aus Jeans und T-Shirt.<br />

Shawn rollte sich schwerfällig auf die Seite, Kelly rutschte unter der Zudecke an ihn heran<br />

und ließ ihre Hand sanft streichelnd über seinen Rücken gleiten. Sie konnte spüren, wie er<br />

nach und nach entspannte und am Ende verrieten ihr, ruhige, gleichmäßige Atemzüge, dass er<br />

eingeschlafen war.<br />

Erleichtert stand die junge Frau auf, streifte Jeans und Shirt wieder über und setzte sich<br />

nach draußen auf die Terrasse. Sie wollte den Boten mit den Medikamenten abfangen, damit<br />

der nicht erst Klopfen musste. Sie wollte auf keinem Fall, das Shawn gestört wurde. Kelly saß<br />

keine viertel Stunde auf der Terrasse, als der besagte Bote kam.<br />

„Nabend. Ich hab hier n paar Medis, bin ich da richtig?“<br />

„Guten Abend. Ja. Wie viel bekommen Sie?“, fragte Kelly erfreut.<br />

Sie hatte ihr Geld mit hinaus genommen und konnte die 16 Dollar bezahlen. Sie drückte<br />

dem jungen Mann zusätzlich 10 Dollar Trinkgeld in die Hand, was diesen strahlen ließ. Er<br />

verabschiedete sich und Kelly kehrte zu Shawn zurück, der unruhig herumwühlte. Sie maß,<br />

ohne dass er aufwachte, noch einmal Fieber und stellte besorgt fest, dass es noch angestiegen<br />

war. Schweiß glänzte auf Shawns Stirn und Oberkörper. Kelly biss sich auf die Lippe. Sie litt<br />

mehr darunter als Shawn selbst. Ihr Herz krampfte sich zusammen. „Es tut mir so leid, Baby.<br />

Ich würde dir so gerne mehr helfen. Aber viel machen kann ich nicht. Wir müssen abwarten,<br />

bis die Infektion nachlässt.“, flüsterte sie leise.<br />

Gerade wachte Shawn auf. „Bin ich eingeschlafen?“, fragte er müde.<br />

„Ja, Schatz, das ist auch gut so. Aber wenn du schon wach bist, kannst du noch einmal<br />

Tabletten schlucken.“ Sie drückte erneut zwei Ibuprofen und eine Metamizol aus den Verpa-<br />

ckungen und reichte sie Shawn, der sie brav schluckte.<br />

525


legen.<br />

„Kannst du ... Das hat vorhin so gut getan, kannst du das wieder machen?“, fragte er ver-<br />

„Gerne, leg dich auf die Seite. Ich bin nur aufgestanden, weil ich nicht wollte, dass der<br />

Bote der Apotheke dich wach klopft. Er war da und wir können Schlafen. Ich bleibe bei dir.<br />

Wenn etwas ist, bitte, wecke mich sofort auf, okay?“<br />

„Okay.“<br />

Kelly legte sich zu ihm und begann erneut, ihre Hand sanft über seinen verschwitzten Rü-<br />

cken gleiten zu lassen. Der Erfolg stellte sich schnell ein. Nach einigen Minuten verrieten ihr<br />

ruhige Atemzüge, dass Shawn wieder eingeschlafen war. Sie selbst konnte nicht schlafen.<br />

Mehrfach drehte sie vorsichtig die Zudecke herum, damit Shawn nicht so verschwitzte. Wenn<br />

er unruhig wurde, ließ sie die Hand massierend seinen Rücken hinauf und hinunter gleiten.<br />

Sie merkte, dass das Fieber zurückging, das Metamizol schlug an. Trotzdem fühlte sich der<br />

Schauspieler in ihren Armen heiß an.<br />

Shawn schlief bis nach Mitternacht durch, dann wachte er auf, weil er zur Toilette musste.<br />

Kelly war eingedöst, wachte aber sofort auf, als Shawn sich regte.<br />

„Was ist?“, fragte sie erschrocken.<br />

„Nichts. Ich muss nur auf ...“ Er schwang die Beine vom Bett. „Ich muss nur mal aufs<br />

Klo.“ Als er aufstehen wollte, wurde ihm schlagartig schwindelig und er keuchte erschrocken<br />

auf. Blitzschnell war Kelly aus dem Bett heraus und stand neben Shawn.<br />

„Hey, langsam, komm, ich helfe dir.“ Sie legte ihm einen Arm um den Körper und führte<br />

ihn so bis ins Bad. Minuten später lag er wieder im Bett. Und schlief gleich ein. Fieber<br />

schlauchte, das war Kelly klar. Sie ließ ihn nicht los, sondern behielt ihn im Arm. So schlief<br />

sie selbst ein. Sie würde merken, wenn etwas war. Immer wieder schreckte die junge Frau<br />

hoch, wenn Shawn sich unruhig im Fieberschlaf bewegte. Gegen Morgen wurde er etwas ru-<br />

higer und so kam Kelly ebenfalls noch zu etwas Schlaf.<br />

Sie wachte davon auf, dass Shawn sich aufsetzte.<br />

„Was ist los?“, fragte sie besorgt und verschlafen.<br />

„Morgen. Nichts, ich wollte nur ins Bad. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.“<br />

Kelly setzte sich auf und schwang die Beine vom Bett. „Wie fühlst du dich?“, fragte sie<br />

und ging zur anderen Bettseite hinüber, um Shawn auf die Füße zu helfen. Der Schauspieler<br />

verzog das Gesicht und erklärte:<br />

„Als ob ich eine schwere Grippe hätte. Mir tut alles weh, besonders der Kopf und mir ist<br />

hundeübel.“<br />

Mitleidig meinte Kelly: „Ja, das sind die normalen Symptome. Ich helfe dir ins Bad, dann<br />

besorge ich Frühstück und anschließend bekommst du deine Tabletten. Damit wirst du dich<br />

wohler fühlen.“<br />

526


Langsam und vorsichtig half sie Shawn auf die Füße und ins Bad hinüber.<br />

„Ich hab keinen Hunger, wirklich nicht ...“, sagte er leise.<br />

Kelly nickte verständnisvoll. „Kann ich mir vorstellen, Schatz, aber die Medikamente<br />

schlagen schnell auf den Magen. Und das letzte, was du willst, ist, noch zusätzlich Magen-<br />

schmerzen zu bekommen, darf ich annehmen.“<br />

Resigniert nickte der junge Mann. „Nein ... Gut, dann besorge halt Frühstück.“ Er wollte<br />

sich von Kelly lösen, doch kaum hatte er sie losgelassen, merkte er erschrocken, dass seine<br />

Beine ihn nicht trugen. Fast wäre er zusammen gesackt. Kelly bemerkte dies sofort und griff<br />

zu. Ohne zu zögern half sie ihm zur Toilette hinüber und erklärte ruhig:<br />

„Ich warte vor der Tür.“<br />

Shawn starrte zu Boden und nickte. Er hatte bei Carrie so oft nicht ungestört die Toilette<br />

benutzen dürfen, dass es ihn am Ende nicht mehr gestört hatte. Dass er jetzt nicht fähig war,<br />

allein ins Bad zu gehen, machte ihm schwer zu schaffen.<br />

Als er fertig war versuchte er verzweifelt, auf die Beine zu kommen. Diese fühlten sich<br />

steif und verkrampft an. Er schaffte es, sich hoch zu stemmen. Als er einen Schritt zum<br />

Waschbecken machen wollte, zitterten seine Knie so stark, dass er fast in sich zusammen ge-<br />

sackt wäre. Erschrocken rief er:<br />

„Kelly ...“<br />

Sekunden später stand die junge Frau neben ihm und half ihm ganz selbstverständlich ans<br />

Waschbecken hinüber. Sie war ihm behilflich, sich zu Waschen und schaffte ihn anschließend<br />

zurück ins Bett. Erschöpft lag er still. Kelly nahm das Telefon und bestellte zwei Mal Rührei<br />

mit Toast und Kaffee für sich, sowie Tee für Shawn. Man versprach, das Gewünschte schnell<br />

zu bringen. Kelly ging zum Bett hinüber und setzte sich zu Shawn. Dieser wollte sich weg-<br />

drehen, aber das verhinderte Kelly mit sanfter Gewalt.<br />

„Hey, was ist?“, fragte sie liebevoll.<br />

Todunglücklich sah der Schauspieler Kelly an. „Was wohl. Bei Carrie durfte ich oft nicht<br />

allein ins Bad und bei dir kann ich nicht ...“ Er konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen in<br />

die Augen schossen. Die Therapeutin griff nach seinen Händen und sagte sanft:<br />

„Shawn, bitte, rede keinen Quatsch. Es macht mir so was von gar nichts aus, dir ins Bad<br />

zu helfen. Du würdest mir anders herum genauso selbstverständlich helfen. Machen wir uns<br />

nichts vor, so, wie wir hier zusammen wohnen ist es fast wie in einer Ehe. Da hilft man dem<br />

Partner, wenn er in Not ist.“<br />

Shawn fuhr sich mit zitternden Händen über das Gesicht. „Weißt du, wie simpel und<br />

selbstverständlich sich bei dir alles anhört?“, fragte er leise. „Schon darum könnte ich dich<br />

lieben. Du schaffst es jedes Mal, mich aufzumuntern. Du bist besser als jede Antidepressiva.“<br />

527


Kelly lachte kurz auf. „Na, prima. So ist jeder zu etwas nütze und sei es auch nur als Anti-<br />

depressiva.“<br />

Shawn gelang ein kleines Lachen. Angesichts seiner Kopfschmerzen verging ihm dieses<br />

schnell. Voll Mitleid fragte Kelly:<br />

ten.“<br />

„Der Kopf platzt, was?“<br />

Müde nickte der Schauspieler. „Sobald du gefrühstückt hast bekommst du Schmerztablet-<br />

In diesem Moment klopfte es an der Tür und Kelly eilte hin, um zu öffnen. Eine Minute<br />

später hatte Shawn Frühstück vor sich auf dem Betttisch stehen. Kelly musste ihn mehrfach<br />

ermuntern, weiter zu Essen, bis alles aufgegessen war. Zufrieden lächelte sie.<br />

„Siehst du, du hast es geschafft. Nun kannst du die Medikamente bekommen.“ Kelly<br />

reichte ihm ein Glas Wasser und zwei Ibuprofen. Unendlich dankbar schluckte Shawn die<br />

Tabletten und rollte sich anschließend verkrampft und müde auf die Seite. Kelly zögerte nicht,<br />

sich zu ihm zu legen und sanft seinen Rücken zu massieren. Schnell spürte sie, dass er sich<br />

deutlich entspannte.<br />

„Das tut so unglaublich gut ...“, nuschelte er tranig.<br />

Kelly hoffe, dass er einschlafen würde. Und es klappte. Nach einer Weile verrieten ruhige,<br />

gleichmäßige Atemzüge, dass er tatsächlich eingeschlafen war. Erleichtert atmete die Psycho-<br />

login auf. Schlaf war die beste Medizin. Sie wartete noch einen Moment, bevor sie sich vor-<br />

sichtig von Shawn löste und aufstand. Sie wollte ihn auf keinem Fall stören.<br />

Der junge Mann verschlief mehr oder weniger den Tag und die kommende Nacht. Kelly<br />

weckte ihn nicht, sie ließ ihn schlafen. Das recht hohe Fieber schlauchte ihn stark und der<br />

Schlaf würde ihm mehr als gut tun. Wenn er aufwachte, hatte sie etwas zu Essen für ihn, ach-<br />

tete darauf, dass er viel trank, versorgte ihn mit Medikamenten und massierte ihm wieder und<br />

wieder den schmerzenden Rücken. Schlief er, hielt sie seine Hände, wenn er in Fieberträumen<br />

zu unruhig wurde. Sie legte ihm feuchte Waschlappen auf die Stirn, half ihm zwischendurch<br />

mehrmals auf die Toilette, was er jedes Mal leicht verzweifelt zuließ. Allmählich ließen die<br />

Gelenkschmerzen etwas nach und Shawn fühlte sich besser. Am Nachmittag des folgenden<br />

Tages ging sein Fieber erstmals unter 39 Grad zurück. Er schlief noch viel, was Kelly begrüß-<br />

te. Abends bestellte sie etwas zu Essen und Shawn aß mit mehr Appetit als bisher alles auf.<br />

Zufrieden sagte die Therapeutin:<br />

„Dir scheint es wieder zu schmecken.“<br />

Der Schauspieler nickte. „Ja, es schmeckt wieder.“<br />

„Dann hast du das schlimmste hinter dir. Morgen wirst du dich deutlich besser fühlen, das<br />

verspreche ich dir.“<br />

„Hoffentlich!“, meinte der junge Mann in brünstig. „Die Kopfschmerzen lassen zum<br />

Glück nach. Man, das hätte nicht Not getan.“<br />

528


Die Therapeutin räumte den Betttisch weg und setzte sich zu Shawn auf das Bett. Sie zog<br />

ihn an sich und er machte es sich in ihren Armen bequem. Nach einer Weile merkte er, dass<br />

ihm die Augen zu fielen. „Unglaublich, ich könnte schon wieder schlafen ...“, meinte er er-<br />

staunt und tranig.<br />

„Das kommt vom Fieber. Und das ist gut, Schlaf ist die beste Medizin. Leg dich hin und<br />

schlafe dich gesund.“<br />

Zögernd machte der Schauspieler sich lang. Er wäre gerne in Kellys Armen liegen geblie-<br />

ben. Kaum lag er gemütlich, war er eingeschlafen. Er schlief ruhig durch bis zum nächsten<br />

Morgen.<br />

44) Am Echosee<br />

Wünschen ist ein Anzeichen von Genesung oder Besserung.<br />

Friedrich Nietzsche<br />

Kelly wachte davon auf, dass die Zimmertür klappte. Verschlafen sah sie auf. „Morgen.<br />

Frühstück ist fertig.“<br />

Shawn stand lächelnd neben dem Bett und hielt ein großes Tablett in der Hand. Erleichtert<br />

registrierte die junge Frau, dass er viel besser aussah. „Guten Morgen. Na, dir scheint es deut-<br />

lich besser zu gehen.“<br />

Shawn nickte und stellte das Tablett vorsichtig auf den Nachtschrank. „Ja, ich fühle mich<br />

viel besser.“ Er ging in die kleine Küche und kam mit den zwei Betttischen zurück. Einen<br />

stellte er Kelly, die sich aufgesetzt hatte, über die Beine. Schnell platzierte er eine Tasse und<br />

einen Teller mit Toast, Spiegeleiern, Speck und Pilzen auf das Tischchen. Dann griff er sich<br />

den zweiten Tisch und setzte sich auf seine Bettseite. Kelly reichte ihm sein eigenes Früh-<br />

stück und sagte vergnügt:<br />

„Das ist eine tolle Überraschung. Aber viel schöner ist es, dass du dich besser fühlst.“<br />

Sie war unglaublich erleichtert darüber. Die letzten drei Tage waren für sie die Schlimms-<br />

ten der bisherigen Therapie gewesen. Es hatte ihr das Herz zerrissen, Shawn so Leiden zu<br />

sehen und nichts weiter machen zu können, um es ihm zu erleichtern. Ohne es verhindern zu<br />

können, schossen der jungen Frau Tränen in die Augen. Shawn sah dies und fragte erschro-<br />

cken:<br />

„Was ist denn?“<br />

Kelly lächelte unter Tränen. „Nichts, ich bin nur froh, dass es dir besser geht. Es war so<br />

schwer für mich, dir nicht helfen zu können.“ Sie fuhr sich ärgerlich mit der Rechten über die<br />

Augen.<br />

529


Gerührt griff Shawn nach ihrer Hand. „Du hast gar keine Vorstellung, wie sehr du mir ge-<br />

holfen hast! Wie sehr du mir die ganze Zeit hilfst. Nie zuvor ist irgendwer so konsequent und<br />

selbstverständlich für mich da gewesen, abgesehen von Mum und Dad.“<br />

Kelly spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. „Aber ich habe nichts weiter machen<br />

können, als dich mit Tabletten zu versorgen.“<br />

Shawn hielt nach wie vor ihre Hand. „Das stimmt nicht. Du hast so unendlich viel mehr<br />

getan. Nur jemanden zu haben, der da ist, ist so viel mehr.“ Er brach verlegen ab und stieß<br />

hastig hervor: „Bevor das hier zu emotional wird, lass uns Frühstücken. Sonst sind die Eier<br />

gleich kalt.“<br />

Kelly stieß ein kleines Lachen aus. „Hast Recht. Guten Appetit.“<br />

Sie ließen sich ihr Frühstück schmecken und als sie satt und zufrieden noch eine Tasse<br />

Kaffee tranken, fragte die Therapeutin:<br />

„Wie fühlst du dich heute Morgen? So gut, wie es den Anschein hat?“ Sie legte prüfend<br />

eine Hand auf Shawns Stirn. Diese fühlte sich nicht mehr heiß an.<br />

„Viel besser. Die Kopfschmerzen sind so gut wie weg, und der Rest tut auch nicht mehr<br />

weh.“ Zum Beweis bewegte er die Beine. „Siehst du? Nicht mehr steif.“<br />

„Ja, sehe ich. Heute bleibst du noch in der Waagerechten, wir können es uns im Schatten<br />

auf der Terrasse gemütlich machen, okay?“<br />

Shawn grinste. „Was immer du sagst. Darf ich Duschen?“<br />

„Ja, darfst du. Ich kann mir vorstellen, dass du dich unbehaglich fühlst.“ Sie stellte ihren<br />

Betttisch zur Seite und stand auf. Rasch räumte sie das Frühstücksgeschirr zurück auf das<br />

Tablett und befreite Shawn von seinem Betttisch. „So, dann mal ab unter die Dusche. Ich<br />

werde uns draußen die Liegen fertig machen.“<br />

Zwanzig Minuten später lagen sie gemütlich in den Liegestühlen auf ihrer kleinen Terras-<br />

se. Shawn war nach dem Duschen etwas zitterig gewesen, erholte sich aber schnell. Erst als er<br />

entspannt war eilte Kelly unter die Dusche. Als sie nach draußen trat, hatte sie Wasser und<br />

zwei Gläser in der Hand. Sie schenkte Shawn und sich ein und erklärte:<br />

„So kann man es auch mal aushalten, was?“<br />

Zufrieden nickte der junge Schauspieler. „Ja, allerdings. Es ist so schön still und friedlich<br />

hier. Das Grün hat etwas Beruhigendes an sich.“<br />

„Solange aus dem Grün nicht etwas langes, olivbraunes mit großen, spitzen Zähnen ge-<br />

watschelt kommt ...“<br />

„Du kannst einem ganz schön den Tag vermiesen, weißt du das?“, sagte Shawn grinsend.<br />

„Was, ich?“ Harmlos sah Kelly zu ihm hinüber.<br />

„Ja, du.“ Shawn lachte. Dann aber wurde er ernst. „Ich hatte wirklich Angst, ich glaube<br />

nicht, dass ich mich schon mal so miserabel, so krank gefühlt habe.“<br />

530


Kelly legte ihm eine Hand auf den Arm. „Das glaube ich dir. Ich hatte die Infektion im<br />

dritten Jahr hier in Australien. Darum weiß ich, wie du dich gefühlt hast. Man ist schwer<br />

krank. Aber es ist harmlos. Man muss nur auf das Fieber aufpassen. Und du siehst, es geht<br />

schnell vorbei.“<br />

„Ja, erstaunlich schnell. Angefühlt hat es sich anders, ehrlich.“<br />

Die Therapeutin nickte. „Ja, es fühlt sich an, als hätte man die nächsten Wochen etwas da-<br />

von. Es ist möglich, dass du dich noch eine Weile etwas schlapp fühlen wirst, muss aber nicht<br />

zwangsläufig sein. Wir lassen es ruhig angehen, dann habe ich keine Bedenken.“<br />

Shawn streckte sich wohlig grunzend aus und meinte: „Ich habe darüber nachgedacht, was<br />

ich nach der Rückkehr machen werde. Ich denke, ich werde nicht gleich zur Produktion zu-<br />

rückgehen. Es gibt in Tampa einen Fernsehsender, einen Ableger von ESPN, die haben sich<br />

vor einer Weile mit der Anfrage an mich gewandt, ob ich nicht Lust hätte, eine Sportsendung<br />

zu moderieren. Wenn die mich noch wollen, werde ich das Angebot annehmen.“<br />

Kelly hatte sich auf den Bauch gerollt und sah zu Shawn hinüber. „Bist du sicher? Du hast<br />

es mit ‘Frisco Bay‘ auf die Top Ten Liste der Serienhits gebracht. ABC ist bereit, die Serie<br />

weiter mit dir zu Produzieren.“<br />

„Ja, ich brauche Zeit, die nicht mit Terminen vollgestopft ist. Die Sportsendung läuft nur<br />

ein Mal die Woche, da habe ich viel Freizeit, die ich glaube ich benötige. Ich werde mit Mi-<br />

chael Sounders, dem Produzenten von ‘Frisco Bay‘ sprechen.“ Er stutzte. „Weißt du zufällig,<br />

wie die meine Abwesenheit erklären?“<br />

„Sie haben dich entführen lassen. In den zwei Monaten Zwangspause, im März und April,<br />

unmittelbar nach deiner Entführung, wurde schnell ein Drogenfall um ein Drogencartell in<br />

Bolivien erfunden und du befindest dich in den Händen des Drogenbarons Miguel Fernández.<br />

Er will das SFPD zum Stillhalten zwingen für einige große Transaktionen in Frisco.“<br />

Shawn grinste. „Sehr realitätsnah. Obwohl ich mich bei einem Drogenbaron lieber aufge-<br />

halten hätte als bei Carrie.“ Er lachte kurz auf.<br />

„So können sie aber gewährleisten, dass du zurück in die Produktion kannst, wenn du<br />

willst.“, meinte Kelly und setzte sich auf.<br />

„Magst du eine Mango?“, fragte sie den Schauspieler und erhob sich. Sie hatte am Abend<br />

zuvor neben dem Abendessen frisches Obst bestellt und das Restaurant hatte ihnen einen<br />

wunderschönen großen Obstkorb zurecht gemacht.<br />

„Gerne. Die waren hervorragend.“<br />

So ging die junge Frau in die Cabin und war gleich darauf mit einem Teller, Küchenpa-<br />

pier, zwei Mangos und einem kleinen Messer zurück. Sie schälte die Mangos und zerteilte sie<br />

in kleine, mundgerechte Stücke und verteilte diese auf dem Teller. „Hier, Vitamine sind gut<br />

für dich.“, erklärte sie und schob den Teller zu Shawn hinüber.<br />

531


Sie ließen sich die frischen, reifen Mangos schmecken und als der Teller leer war meinte<br />

der Schauspieler:<br />

„Ich mochte Mangos nie, aber die hier schmecken wunderbar.“<br />

„Das liegt sicher daran, dass sie exportiert nur künstlich nachgereift sind, während sie aus<br />

dem Ursprungsland unmittelbar frisch und reif vom Baum kommen.“<br />

„Das ist gut möglich.“ Er gähnte leise. „Ich bin tatsächlich müde, obwohl ich die letzten<br />

Tage fast ausschließlich mit Schlafen zugebracht habe.“<br />

Kelly lächelte liebevoll. „Das macht nichts, Shawn, wenn du müde bist, schlaf. Du hattest<br />

drei Tage hohes Fieber, das schlaucht den Körper. Nutz die Chance, dass du dich in aller Ru-<br />

he erholen kannst.“<br />

Eine Minute später schlief der junge Mann tief und fest.<br />

Und das tat er fast zwei Stunden lang. Stunden, die Kelly nutzte, um Ordnung in ihre No-<br />

tizen zu bringen. Das alles ins Reine zu tippen würde Tage in Anspruch nehmen. Sie seufzte<br />

bei der Vorstellung. Sie hasste die schriftlichen Arbeiten, die ihr Beruf mit sich brachte. Am<br />

Schreibtisch zu hocken lag ihr nicht. Aber da die Berichte ihrer Patienten vertraulich waren,<br />

war sie gezwungen, alle schriftlichen Arbeiten selbst zu erledigen. Nur, wenn Patienten aus-<br />

drücklich und vor allem schriftlich zustimmten, dass es ihnen nichts ausmachte, wenn ein<br />

Dritter die Notizen las, ließ Kelly die lästigen Aktenarbeiten von ihrer vertrauenswürdigen<br />

Sekretärin erledigen. Ansonsten war diese nur für Abrechnungen und andere, rein bürokrati-<br />

sche Arbeiten zuständig. Kelly seufzte. Sie wurde darauf aufmerksam, dass Shawn langsam<br />

wach wurde. „Hey, ausgeschlafener?“, fragte sie grinsend.<br />

„Ja, ... hoffe ich. Wie lange ...?“<br />

„Fast zwei Stunden.“<br />

„Oh man. Tut mir leid, so lange wollte ich gar nicht schlafen.“ Er setzte sich auf und<br />

streckte sich. Noch etwas tranig ging er ins Haus und als er auf die Terrasse zurücktrat, war er<br />

deutlich fitter.<br />

„Wie sieht es aus, darf ich schwimmen? Dann würde ich gerne mal in den Pool hüpfen.“<br />

Kelly überlegte kurz. Lächelnd meinte sie: „Ja, gegen ein kurzes Bad ist nichts einzuwen-<br />

den.“ Sie stand ebenfalls auf und gemeinsam machten sie sich auf den kurzen Weg am großen<br />

Hauptgebäude vorbei zum Poolbereich. Da es mitten am Tag war, hielt sich hier kein weiterer<br />

Besucher auf. So konnten sie eine Weile allein in dem herrlich großen Pool herumalbern. Am<br />

meisten Spaß machte es in einem extra Bereich, in dem künstliche Wellen erzeugt wurden.<br />

Sie hielten sich eine gute dreiviertel Stunde im Wasser auf. Es war nicht kalt, sodass Kelly<br />

kein Bedenken hatte. Schließlich stieg die Therapeutin aus dem Pool heraus und rief Shawn<br />

zu:<br />

532


„Ich bekomme langsam Schwimmhäute zwischen den Fingern. Du solltest auch allmäh-<br />

lich Schluss machen.“ Shawn grinste ihr aus dem Wasser frech zu und Kelly nutzte die Chan-<br />

ce, ein Foto von ihm zu machen.<br />

„Das werde ich deinem Boss schicken, dann sieht er mal, was sein Star in Australien so<br />

treibt.“, lachte sie gehässig.<br />

Shawn verließ zögernd das herrliche Wasser. Er baute sich vor Kelly auf und sagte ernst:<br />

„Das wirst du doch wohl nicht machen, oder? Das wäre das Ende meiner Laufbahn als Shane<br />

Godman.“ Er sah die junge Frau drohend an. „Du hast keine Ahnung, wozu ein SFPD Detec-<br />

tive fähig ist, wenn es um seine Karriere geht ...“<br />

Kelly kicherte. „So? Hab ich nicht?“ Sie wedelte mit dem Fotoapparat herum und sagte:<br />

„Detective Godman, wie es aussieht, habe ich Sie in der Hand. Lassen Sie die Anklage gegen<br />

mich fallen, in allen Punkten, oder dieses kompromittierende Foto wird an alle wichtigen Zei-<br />

tungen San Franciscos geleitet ...“<br />

Shawn verzog angewidert das Gesicht. „Sie sind der Abschaum. Okay, ich werde Sie nicht<br />

unter Anklage stellen ... Für dieses Mal sind Sie die Siegerin!“<br />

Kelly war bemüht, ernst zu bleiben. „Ich wusste, dass man mit Ihnen vernünftig reden<br />

kann, Detective Godman. Ich habe in der nächsten Zeit einige wichtige Geschäfte abzuwi-<br />

ckeln. Ich würde es zu schätzen wissen, wenn ich Ihre blöde Visage nicht zu Gesicht bekom-<br />

men würde.“<br />

Shawn verzog erstaunt das Gesicht. „Blöde Visage?“<br />

Jetzt war es mit Kellys Beherrschung endgültig vorbei. Lachend sank sie dem jungen<br />

Schauspieler in die Arme.<br />

„Ich werde Michael Sounders bitten, dir eine Rolle anzubieten .... Du wärest eine wunder-<br />

bare Gegenspielerin.“ Shawn lachte ebenfalls vergnügt und hielt Kelly sanft an sich gedrückt.<br />

Schweren Herzens lösten sie sich von einander und marschierten zu ihrer Cabin zurück.<br />

Kelly erklärte:<br />

„So, Freundchen, jetzt wird aber ausgeruht, klar. Das war ein langer Ausflug zum Pool.<br />

Wie fühlst du dich?“<br />

Shawn ließ sich wohlig seufzend auf seine bequeme Liege gleiten. „Gut, wirklich.“<br />

Die Therapeutin sah ihn aufmerksam an. Doch er wirkte absolut entspannt und zufrieden.<br />

Sie legte ihm testend eine Hand auf die Stirn. Diese fühlte sich kühl und nicht mehr glühend<br />

heiß wie noch am Morgen des vergangenen Tages an. Zufrieden nickte sie. „Scheint alles in<br />

Ordnung zu sein. Ich denke mal, wir könnten morgen mit dem Wagen durch den Park fahren,<br />

keine großen Anstrengungen, nur die Natur bewundern. Weiter unten im Süden des Parkes ist<br />

der Wasserfall mit dem See, an dem sich Paul Hogan und Linda Kozlowski als Mick Dundee<br />

und Sue Charlton das erste Mal näher kamen. Hast du Lust, dir das anzuschauen?“<br />

533


Shawn strahlte. „Aber klar. Das würde ich mir gerne anschauen. Wie meinte Mick so tref-<br />

fend: Süßwasser, das bedeutet, keine Krokodile ... Baden!“<br />

„Du bist dermaßen wasserversessen, das ist unglaublich.“<br />

„Sagt Mum auch, seit ich laufen kann. Ja, ich liebe Schwimmen, ach, alles, was man im<br />

Wasser machen kann.“<br />

„Na, das sind die besten Voraussetzungen für einen Tauchgang mit Haien ...“, meinte Kel-<br />

ly harmlos.<br />

Shawn verdrehte die Augen.<br />

*****<br />

Am späten Nachmittag fragte Kelly den Schauspieler: „Fühlst du dich fit genug, ins Res-<br />

taurant zu gehen? Ich könnte sonst Abendessen bestellen.“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Nein, das ist kein Problem. Wir können gerne ins Restaurant<br />

gehen. Du wirst dich wundern, ich würde gerne mal ein schönes Tooheys trinken. Eiskalt.“<br />

Darüber wunderte Kelly sich tatsächlich. Shawn trank selten ein Bier. Sonst trank er eher<br />

einmal ein gutes Glas Rotwein. Aber sein Wunsch zeigte ihr gleichzeitig, dass er sich wohl<br />

fühlte. So sagte sie: „Das ist kein Problem, dagegen ist nichts einzuwenden. Ich würde zwar<br />

ein VB bevorzugen, aber Tooheys geht auch.“ Sie stand auf und erklärte: „Ich werde mal un-<br />

ter die Dusche verschwinden und mich etwas aufstylen.“<br />

Sie verschwand nach drinnen und stand Augenblicke später unter der Dusche. Ausgiebig<br />

wusch sie sich, behandelte ihre langen Haare ausnahmsweise einmal mit einer Haarkur und<br />

als sie abgetrocknet war, rief sie Shawn zu: „Wenn du willst, kannst du unter die Dusche.“<br />

Augenblicke später erschien Shawn im Bad. Kelly schnappte sich einen Föhn und meinte<br />

im Hinausgehen:<br />

„Lass dir Zeit.“<br />

Sie stellte sich im Schlafzimmer vor den Spiegel und föhnte sich die Haare trocken. Sie<br />

beeilte sich, weil sie Shawn überraschen wollte. Kelly hatte ein einziges Kleid eingesteckt.<br />

Dies wollte sie heute Abend anziehen, denn sie hatte von der jungen Frau an der Rezeption<br />

die Info bekommen, dass an diesem Abend eine Tanzveranstaltung im Restaurant war. Sofort<br />

hatte Kelly beschlossen, Shawn damit zu überraschen. Sie war gespannt, ob der junge Mann<br />

in der Lage war mit anderen Frauen zu Tanzen. Sie schlüpfte in das kurze, enge, schwarze<br />

Stretchkleid und stellte fest, dass sie das richtige Kleidungsstück eingepackt hatte. Es war<br />

nicht sehr kraus geworden und würde sich am Körper glatt ziehen. Kelly steckte mit ein paar<br />

Handgriffen ihre Haare hoch und betrachtete sich im Spiegel. Sie hatte einen Lippenstift ein-<br />

gesteckt, den sie auftrug. Außerdem steckten in einem Seitenfach ihres Portmonees Ohrhä-<br />

nger, die sie noch anlegte. Als sie gerade fertig war, kam Shawn aus dem Bad.<br />

534


„Sag mal, was ...“<br />

Der Schauspieler sah Kelly und seine Frage blieb ihm im Halse stecken. Fassungslos stieß<br />

er: „Wow!“, hervor. Er starrte die junge Frau an und schluckte. „Du siehst ... hinreißend aus.“<br />

Endlich merkte er, dass er starrte und wurde dunkelrot. „Entschuldige ... Ich wollte dich nicht<br />

anstarren. Warum ...?“<br />

Kelly lachte verlegen. „Ich wollte einmal vernünftig aussehen, wenn wir zum Essen ge-<br />

hen, und nicht wie die Frau von Mick Dundee.“<br />

„Man, da kann ich gar nicht mithalten. Ich habe nur Jeans und Jeanshemd mit.“<br />

Kelly trat zu Shawn hinüber und sah ihn an. Sie musste aufgucken, immerhin war der jun-<br />

ge Mann fast 20 Zentimeter größer. „Du siehst in Jeans hervorragend aus, Shawn. Und das<br />

weiße Jeanshemd ...“ Sie wurde ebenfalls rot, das spürte sie. Um abzulenken meinte sie:<br />

„Komm, zieh dich an, mir knurrt der Magen.“<br />

Shawn beeilte sich, aus seinem Schrankteil die Jeans zu greifen. Er schlüpfte hinein, was<br />

Kelly befürwortete und zog das Hemd über. Schnell stieg er noch in seine Turnschuhe, außer<br />

den festen Wanderschuhen die einzigen anderen Schuhe die er bei sich hatte. Kelly hatte sich<br />

für das Kleid schwarze Pumps eingesteckt, die sie überstreifte.<br />

„Fertig?“, fragte sie Shawn und dieser nickte. „Okay, lass uns rüber gehen.“<br />

Shawn reichte ihr galant den Arm und Kelly hakte sich gut gelaunt ein. Sie war gespannt,<br />

was er sagen würde, wenn er merkte, dass sie über den Grund des Kleides geschwindelt hatte.<br />

Als sie sich dem Restaurant näherten, stellte Shawn erstaunt fest:<br />

„Da ist ja viel los heute Abend.“<br />

Kelly wiegelte ab. „Macht nichts, ich habe einen Tisch reserviert.“<br />

Sie betraten das Restaurant und wurden von einem Kellner gefragt:<br />

„Nabend, haben Sie reserviert?“<br />

Kelly nickte. „Haben wir. Auf den Namen McLean, für zwei Personen.“<br />

Der Kellner zog einen Block aus seiner Tasche und nickte zufrieden.<br />

„Alles klar. Tisch 14, dort hinten, rechts. Ich bringe gleich die Karte.“<br />

Kelly und Shawn fanden ihren Tisch und Shawn ließ es sich nicht nehmen, der Therapeu-<br />

tin den Stuhl zurecht zu rücken. Kaum saßen sie, wurde ihnen die Karte gebracht.<br />

„Kann ich schon etwas zu Trinken bringen?“<br />

„Ich hätte gerne ein Tooheys Old, Kelly, was möchtest du?“<br />

Die Psychologin überlegte kurz und fragte: „Was haben Sie an Shiraz im Angebot?“<br />

Der Kellner erklärte: „Wir haben einen hervorragenden Willow Bridge, Black Dog, von<br />

2004. Oder einen 2005er Bethany, Barossa, sehr zu empfehlen.“<br />

Kelly entschied sich für den Barossa. „Einen viertel Liter, bitte.“<br />

535


Der Kellner schwirrte ab und Kelly und Shawn studierten die Karte. Ihre Getränke kamen<br />

und in Rekordzeit das hervorragende Essen. Sie hatten gerade angefangen zu Essen als eine<br />

Lautsprecherdurchsage durch das Restaurant schallte.<br />

„Liebe Gäste. Wir freuen uns, dass Sie zu unserer heutigen Veranstaltung so zahlreich er-<br />

schienen sind. Der DJ heute Abend, Jack Connor, wird für Musik sorgen und Sie hoffentlich<br />

zufriedenstellen. Im Namen des Kakadu Nationalparks wünschen wir Ihnen viel Spaß.“<br />

Shawn zog die Stirn in Falten. „DJ? So, du hast dich also nur mal so zum Essen in Schale<br />

geschmissen, was?“<br />

Kelly nickte ernst. „Absolut. Ich hatte keine Ahnung ...“<br />

„Du bist eine schlechte Lügnerin, weißt du das?“<br />

„Okay, ich gebe es zu. Ich wollte dich überraschen. Heute Abend ist hier groß Tanz ange-<br />

sagt. Ich habe das Kleid nicht 3.000 Kilometer mit mir herumgeschleppt, um es dann nicht<br />

anzuziehen.“<br />

Shawn sah verlegen aus. „Ich würde gerne mal wieder Tanzen ... Ist eine schöne Überra-<br />

schung. Woher wusstest du es?“<br />

„Das habe ich von der jungen Frau an der Rezeption. Sie hat es mir vorgestern gesagt.“<br />

Kelly schob ihren Teller zurück. „Ich kann nicht mehr. Das war mehr als reichlich.“ Sie<br />

nahm einen Schluck Wein und grinste Shawn an. „Futter nicht so viel, sonst kannst du nicht<br />

mehr tanzen.“<br />

Shawn verzog sein Gesicht zu einem sarkastischen Grinsen. „Pah. So viel kann ich gar<br />

nicht essen, als dass ich nicht noch Tanzen könnte.“, meinte er großspurig.<br />

„Na, ich werde es sehen.“<br />

Shawn aß zu Ende und schob seinen Teller zurück. „Das war unglaublich gut. Steaks kön-<br />

nen die hier zubereiten.“ Er griff nach seinem Bierglas und nahm einen tiefen Schluck. „Und<br />

Bier können die auch Brauen.“, grinste er zufrieden. Er lehnte sich entspannt zurück. Kelly<br />

beobachtete ihn lächelnd. Dann wurde sie ernst.<br />

„Shawn, hör zu. Ich möchte, dass du heute Abend versuchst, mit anderen Frauen zu tan-<br />

zen, okay?“<br />

Schlagartig verging dem Schauspieler das Grinsen. Er prustete angespannt und biss sich<br />

nervös auf die Unterlippe. Leise fragte er:<br />

„Warum?“<br />

Kelly sah ihm an, dass die Vorstellung ihn beunruhigte. Ruhig erklärte sie: „Weil ich den-<br />

ke, dass du so weit bist. Versuche es. Du wirst merken, ob es geht oder nicht.“<br />

Nervös nickte der junge Mann. „Gut ... Ich werde es versuchen. Ich ... Wenn ich ... eine<br />

Panikattacke bekomme?“<br />

Die Therapeutin schüttelte den Kopf. „Das wirst du nicht. Ich bin in deiner Nähe, ich pas-<br />

se auf dich auf. Wenn etwas ist, bin ich da. Vertraue mir. Ich bin sicher, du schaffst das.“<br />

536


Abermals nickte der Schauspieler. „Okay ...“<br />

Die Kellner kamen und räumten die Tische ab. Shawn bestellte sich ein weiteres Bier. Im<br />

hinteren Teil des Restaurants wurden zwei große Türen geöffnet und die Gäste konnten in<br />

einen großen, hübsch dekorierten Raum schauen. Schon ertönte Musik und durch den Laut-<br />

sprecher kam die Durchsage:<br />

„So, Gäste, ihr seid alle satt und zufrieden? Dann könnt ihr jetzt etwas für den Erhalt eurer<br />

schlanken Körper tun. Und kommt mir nur nicht mit der Ausrede, es sei zu warm zum Tan-<br />

zen. Hier lief die ganze Zeit die Air Condition und ich habe mir den Arsch abgefroren! Also<br />

los. Greift euch eure Partner und zeigt mal, was ihr drauf habt.“<br />

Die ersten Gäste erhoben sich und eilten auf die Tanzfläche. Shawn stand auf und reichte<br />

Kelly die Hand. „Darf ich bitten?“<br />

Minuten später standen sie auf der Tanzfläche und blieben dort für drei Tänze. Trotz der<br />

Klimaanlage verschwitzt, kehrten sie an ihren Tisch zurück. Die Tanzfläche blieb weiter gut<br />

gefüllt und Shawn und Kelly tanzten immer wieder miteinander. Als sich gerade viele Paare<br />

auf der Tanzfläche aufhielten, meldete sich der DJ zu Wort.<br />

„Mates, so geht es nicht. Ich sehe, dass ihr euch ständig mit denselben Partnern amüsiert.<br />

Hier sind so viele gut aussehende Ladys und Gentlemen anwesend, es ist eine Schande, wenn<br />

nicht andere die Chance bekommen, auch mit diesen zu Tanzen. Die Herren mal bitte in die<br />

Mitte.“<br />

Shawn wurde nervös und sah Kelly Hilfe suchend an.<br />

„Du schaffst das.“, ermunterte sie ihn und Shawn schloss kurz angespannt die Augen. Er<br />

atmete tief durch und setzte sich zusammen mit den anderen Männern in Bewegung.<br />

„So, Ladys, krallt euch mal einen der Herren.“<br />

Kichernd setzten sich die Frauen ebenfalls in Bewegung und Kelly bildete da keine Aus-<br />

nahme. Allerdings behielt sie Shawn im Auge. Sie ging zu einem jungen Mann hinüber, der<br />

neben Shawn stand und fragte:<br />

„Darf ich bitten?“<br />

Der Angesprochene nickte. „Na, aber gerne.“<br />

Shawn sah sich vier jungen Frauen gegenüber, die alle auf ihn zugeeilt waren. Kelly lä-<br />

chelte ihm Mut machend zu und nervös nahm Shawn die Aufforderung einer der Frauen an.<br />

Die anderen drei zogen enttäuscht weiter. Zuletzt hatten alle einen neuen Partner und der DJ<br />

meinte vergnügt:<br />

„Ich bin begeistert. Zeigt mal, ob ihr Standardtänze beherrscht.“<br />

Er drückte auf seinen CD Player und spielte einen Wiener Walzer. Einige wenige Paare<br />

standen verlegen da, die große Mehrheit aber beherrschte den Walzer und so begannen die<br />

537


meisten zu Tanzen. Kelly beobachtete Shawn. Diesem zitterten leicht die Knie, doch er war<br />

wild entschlossen, es zu schaffen. Sich zu einem Lächeln zwingend fragte er:<br />

„Wird es gehen?“<br />

Die junge Frau strahlte ihn verträumt an. „Klar.“<br />

Und es ging! Verkrampft und unsicher griff Shawn nach der jungen Frau und plötzlich<br />

war es geschafft. Er hatte die Hemmschwelle überwunden.<br />

*****<br />

„Ich glaube, die ersten zwei, drei Tänze habe ich am ganzen Leib gezittert.“ Shawn rollte<br />

sich im Bett herum, sodass es Kelly anschauen konnte.<br />

„Das ist egal, du hast es geschafft, das ist das Wichtigste. Das war ein großer Schritt in<br />

Richtung Normalität, Shawn. Ich bin stolz auf dich.“<br />

Shawn seufzte leise. Jeder Schritt, der ihn der Normalität näher brachte, brachte ihn<br />

gleichzeitig zu dem Punkt, an dem er sich von Kelly würde trennen müssen. Daher waren<br />

seine Empfindungen dahin gehend ambivalent. Energisch schob er den Gedanken beiseite.<br />

Noch war es nicht so weit. Er gähnte.<br />

„Ich bin hundemüde.“<br />

Kelly war nicht weniger müde. „Ich auch. Wie fühlst du dich? Alles in Ordnung?“<br />

Der Schauspieler lächelte beruhigend. „Ja, keine Sorge. Abgesehen von der Müdigkeit<br />

fühle ich mich gut.“<br />

„Keine Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, irgendwas?“<br />

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich denke, ich habe es überwunden.“<br />

Erleichtert sagte die Psychologin: „Gott sei Dank. Dann steht einem Ausflug zum Echosee<br />

nichts mehr im Wege. Na, lass uns Schlafen, ich bin alle.“ Sie gähnte erneut und nuschelte<br />

„Gute Nacht, schlaf gut.“ Sekunden später war sie tief eingeschlafen.<br />

*****<br />

„Wir müssen gute 80 Kilometer Richtung Süden auf dem Highway bleiben. Dann kommt<br />

die Abzweigung zum Gunlom, wie der See richtig heißt.“<br />

Sie waren gleich nach dem Frühstück aufgebrochen und schon eine Weile unterwegs.<br />

Shawn ging es hervorragend, er hatte gut geschlafen und war voll Tatendrang.<br />

„Ich sehe die Szene direkt vor mir. Es sah im Film wunderschön aus.“<br />

„Das ist es. Besonders, als Mick Sue delikate Maden und so serviert. Möchtest du das<br />

auch versuchen?“ Sie schaute den jungen Mann mit einem hinterhältigen Grinsen an. Begeis-<br />

tert erklärte dieser:<br />

538


„Ja, aber sicher. Man muss doch wissen, womit man überleben könnte.“ Er blieb todernst<br />

und Kelly starrte ihn verblüfft an. Endlich konnte er die ernste Miene nicht mehr halten.<br />

Schallend lachte er los.<br />

„Zu schade, dass ich dein dummes Gesicht gerade nicht fotografiert habe!“<br />

Kelly versuchte, Würde zu bewahren. „Ich dachte schon, aus dir wird noch ein anständiger<br />

Buschmann ...“, versuchte sie sich aus der Situation zu retten.<br />

Shawn lachte noch mehr. „Reingefallen, gib es ruhig zu. Ich habe dich auf den Arm ge-<br />

nommen und du bist mir voll auf den Leim gegangen.“<br />

doch.“<br />

„Bin ich gar nicht!“, verteidigte die Therapeutin sich vehement.<br />

„Bist du doch.“ Shawn lachte vergnügt vor sich hin und zeigte Kelly die Zunge. „Bist du<br />

Kichernd musste die junge Frau sich ergeben. „Okay, bin ich, ich gebe es zu. Aber du bist<br />

Schauspieler, wäre traurig, wenn du es nicht schaffen würdest, so was glaubhaft rüber zu<br />

bringen.“<br />

Shawn grinste vergnügt. „Ach, rede dich nur nicht raus. Das hat gar nichts mit meiner Be-<br />

gabung als Schauspieler zu tun.“<br />

Sie alberten noch eine Weile herum, unterhielten sich über Kleinigkeiten, die Shawn bei<br />

Dreharbeiten erlebt hatte und bald erreichten sie die Abzweigung zum Gunlom Fall. Kelly<br />

bog auf die unbefestigte Straße ab und folgte dieser durch baumbestandenes Gelände, bis sie<br />

eine enge, hölzerne Brücke überqueren mussten.<br />

„Das ist der Gunlom Creek, von hier ist es nicht mehr weit.“, erklärte die Therapeutin.<br />

Die Straße folgte dem Creek und später tauchte nordwestlich ein Felsmassiv vor ihnen auf.<br />

„Von dort oben kommt das Wasser für den Gunlom Fall.“ Kelly deutete auf die Felswand,<br />

die sich links von ihnen erhob. Shawn verrenkte sich fast den Hals, um zu ergründen, wie<br />

hoch es war.<br />

okay.“<br />

„Sind gute 100 Meter, oder?“, fragte er nach einem abschätzenden Blick.<br />

„Ja, in etwa. Ist ein steiler Aufstieg. Meinst du, du schaffst das? Übernimm dich nicht,<br />

„Werde ich nicht. Mir geht es gut, mach dir bitte nicht so viele Sorgen um mich.“ Shawn<br />

lächelte Kelly beruhigend an. Diese seufzte leise.<br />

„Ich verlasse mich auf dein Wort.“ Sie steuerte auf die Parkplätze zu und beide waren er-<br />

staunt, wie viele Autos hier standen.<br />

„Outback ... Ruhig, menschenleer, friedlich ...“, meinte Shawn grinsend.<br />

„Ach komm, das hier ist einer der populärsten Plätze im Kakadu Nationalpark, wie kannst<br />

du da erwarten, dass hier nichts los ist.“<br />

539


Die Psychologin parkte den Wagen im Schatten einiger großer Eukalypten und sie stiegen<br />

aus. Nach den kleinen Rucksäcken greifen war eine selbstverständliche Handbewegung für<br />

beide geworden. Schnell waren diese auf den Rücken geschnallt und sie machten sich auf den<br />

Weg zum Wasserfall. Der Wanderpfad führte durch die wunderschöne Picknick Area des<br />

Gunlom Falls Parks. Im Schatten von großen Eukalypten standen Bänke und es gab mehrere<br />

sichere Gasgrills, die von den Besuchern benutzt werden konnten. In den Bäumen zwitscher-<br />

ten Vögel.<br />

„Es ist wunderschön hier.“, schwärmte Shawn und sah sich um. „Nicht zu glauben, dass<br />

nur 2 Kilometer entfernt trockne Halbwüste ist. Hier ist es paradiesisch.“ In einer selbstver-<br />

ständlichen Geste legte er den Arm um Kellys Schulter und nicht minder selbstverständlich<br />

erwiderte diese die Geste, indem sie Shawn ihrerseits den Arm um die Taille legte. So mar-<br />

schierten sie weiter und näherten sich dem Wasserbecken des Falls. Shawn erkannte die Sze-<br />

nerie sofort.<br />

„Das ist unglaublich! Da vorne haben Sue und Mick gesessen. Man erwartet jeden Mo-<br />

ment, Paul Hogan aus dem Busch treten zu sehen. Und dort, unter dem schrägen Baum, da hat<br />

Mick gestanden, um den Fisch zu fangen.“<br />

Kelly schmunzelte über Shawns Begeisterung. Dass sie ihm erneut eine große Freude ge-<br />

macht hatte, war mehr als deutlich zu sehen.<br />

Natürlich ließen sie es sich nicht nehmen, eine Weile am Ufer des Sees Platz zu nehmen.<br />

„Stimmt es, dass es hier keine Krokos gibt?“, fragte Shawn nach einem Blick auf die in<br />

der Sonne glitzernde Wasserfläche.<br />

„Ja, aber absolut sicher kann man sich nicht sein. Passiert ist noch nie etwas. Leistenkro-<br />

kodile mögen definitiv kein Süßwasser. Das muss nicht heißen, dass sich nicht einmal eines<br />

hier herein verirren könnte.“<br />

Skeptisch sah der Schauspieler das Wasser an. Es tummelten sich einige andere Gäste in<br />

dem See und so meinte er: „Na, die werden nicht gefressen, also können wir es wohl wagen.“<br />

„Das denke ich auch. Du gehst vor und ich warte fünf Minuten. Wenn du dann noch nicht<br />

schreist und zappelst ...“, sie grinste Shawn freundlich an, „... komme ich nach.“<br />

Der Schauspieler verzog das Gesicht. „So. Hm. Kroko take away ... Das bin ich also für<br />

dich. Sehr interessant. Das könnte sich negativ auf deine Bezahlung auswirken, weißt du<br />

das?“<br />

Die Therapeutin lachte. „Wenn du gefressen wirst, kriege ich sowieso nichts. Aber bevor<br />

ich dich verfüttere lass uns erst nach oben steigen, okay? Es wäre schade, wenn wir uns den<br />

Ausblick entgehen lassen würden. Aber, Shawn, schön langsam, es ist steil.“<br />

Shawn war von der echten Sorge in Kellys Stimme gerührt. Er stand auf und reichte ihr<br />

die Hände, um sie auf die Füße zu ziehen. „Da du bei mir bist und mich aufhalten wirst, wenn<br />

540


ich zu schnell werde, kann mir gar nichts passieren.“, sagte er sanft. Dann lachte er. „Als ob<br />

mir überhaupt irgendwas passieren könnte wenn du bei mir bist.“<br />

Dass er Kelly mit einer solchen Liebe in den Augen, wie Worte sie nie hätten ausdrücken<br />

können, anschaute machte der jungen Frau schwer zu schaffen. Leise erwiderte sie:<br />

„Mir ja auch nicht wenn du bei mir bist ...“<br />

Einen Moment herrschte verlegenes Schweigen zwischen ihnen. Am Ende war es Kelly,<br />

die die Stille brach.<br />

„Na, komm. Wenn wir es noch schaffen wollen, da hinauf zu kommen, uns umzusehen<br />

und hinterher noch zu Schwimmen, sollten wir uns auf den Weg machen.“<br />

Sie führte Shawn um den kleinen See herum und deutete auf einen schmalen, steilen Pfad,<br />

der durch Bäume und Felsen bergan führte.<br />

„Da müssen wir rauf.“<br />

Shawn schnaufte leise. „Okay ... Auf geht’s.“ Er ging voran und obwohl der Aufstieg nur<br />

knappe fünfzehn Minuten dauerte, waren beide außer Atem und nass geschwitzt, als sie end-<br />

lich oben auf dem Felsplateau standen. Shawn keuchte:<br />

„Man, wie können ... 100 Meter so ... anstrengend sein ...“<br />

Sie brauchten einige Minuten, um zu Atem zu kommen. Schließlich hatten sie sich gefan-<br />

gen und Kelly deutete auf ein kleines Wasserbecken.<br />

„Hier oben ist in der Regenzeit die Hölle los. Jetzt plätschert das nur vor sich hin. Siehst<br />

du dort, im Fels, die Ränder? So hoch steht hier das Wasser, wenn es geregnet hat.“<br />

ten.<br />

Heute lag ein höchstens knöcheltiefes Becken vor ihnen.<br />

Sie gingen ein Stück weiter, bis sie freie Sicht über die Ebene im Norden des Plateaus hat-<br />

„Man meint, man könnte bis zur Küste gucken.“, sagte Shawn beeindruckt. Die Sicht war<br />

gut und Kelly stimmte ihm zu.<br />

„Ja, den Eindruck könnte man bekommen.“<br />

Sie wanderten noch ein kleines Stück am Gunlom Creek entlang, doch schließlich kehrten<br />

sie um.<br />

„Du musst noch einen Blick über die Kante werfen, von oben sieht das Becken wunder-<br />

schön aus.“<br />

Sie traten zusammen an die Kante und warfen einen Blick nach unten. 100 Meter unter ih-<br />

nen glitzerte der See in der Sonne und schimmerte grün und klar. Shawn machte einige Fotos,<br />

bevor sie sich an den nicht ungefährlichen Abstieg machten. Shawn ging voran und bald stan-<br />

den sie wieder am Seeufer, an dem winzigen Strand, an dem Mick und Sue campiert hatten.<br />

Ihnen zitterten die Beine vor Anstrengung und Shawn meinte:<br />

„Noch mal muss ich da nicht hoch.“<br />

541


„Ich so schnell auch nicht. Jetzt haben wir uns die Abkühlung redlich verdient.“<br />

Sie stieg aus ihren Shorts und dem T-Shirt und sah Shawn auffordernd an.<br />

„Worauf wartest du?“<br />

„Auf gar nichts.“ Blitzschnell war der Schauspieler aus Hose und Hemd gefallen und<br />

schon rannten sie in das herrlich kühle Wasser. Sie waren nicht die einzigen Besucher, die<br />

sich abkühlten. Dass noch andere Badende anwesend waren beachteten sie gar nicht. Shawn<br />

kraulte hinüber bis zum Wasserfall und Kelly folgte ihm. Als sie unter dem nieder fallenden<br />

Wasser ankamen meinte der Schauspieler grinsend:<br />

„Ihr habt hier viele Badewannen mit integrierter Dusche, finde ich genial.“<br />

Einige Minuten hielten sie sich Wasser tretend unter dem Fall auf, dann schwammen sie<br />

zum Ufer zurück. Erleichtert und erfrischt standen sie nebeneinander in der warmen Sonne<br />

und ließen sich trocknen. Shawn genoss entspannt die Szenerie. Als er trocken war bückte er<br />

sich nach seiner Hose, um hineinzuschlüpfen. Kelly griff nach Hose und T-Shirt und kleidete<br />

sich ebenfalls an. Dass die Badesachen noch feucht waren, machte beiden nichts aus. Es war<br />

warm genug und störte nicht. Als sie angezogen waren meinte die Therapeutin:<br />

„Wir sollten uns auf den Rückweg machen. Vor Einbruch der Dunkelheit werden wir es<br />

ohnehin kaum noch schaffen.“<br />

Shawn warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war weit nach 16 Uhr und bis Yellow<br />

Water zurück waren es mehr als 120 Kilometer.<br />

„Es ist spät, ist mir gar nicht aufgefallen. Hast Recht, vor Einbruch der Dunkelheit werden<br />

wir nicht zurück sein.“ Er schnappte sich seinen Rucksack und Kelly griff sich ihren. Traurig,<br />

dass sie diesen herrlichen Ort verlassen mussten, schlenderten sie zum Wagen zurück.<br />

45) Ein bizarres Spiel<br />

Der Grund für das sich schämen ist nicht ein persönlicher Fehler, sondern dass<br />

diese Erniedrigung alle sehen.<br />

Milan Kundera<br />

Auf dem Rückweg war Shawn still. Kelly ließ ihn in Ruhe. Wenn er seinen Gedanken<br />

nachhängen wollte, würde sie ihn nicht stören. Erst auf halber Strecke zum Yellow Water<br />

zurück fragte die junge Frau:<br />

„Was bist du schweigsam. Magst du mir erzählen, was dir durch den Kopf geht?“<br />

Shawn schreckte aus seinen Gedanken auf.<br />

„Oh, gar nichts Dramatisches. Ich habe darüber nachgedacht, wie es so weiter gehen soll. Ich<br />

meine, längerfristig, verstehst du? Ich habe das Gefühl, ganz neu anfangen zu müssen. Wenn<br />

ich mich entscheiden würde, nach Australien auszuwandern, würdest du mir helfen?“<br />

542


Kelly brauchte nicht zu überlegen. „Selbstverständlich würde ich das. Aber Shawn, über-<br />

stürze nichts, versprich mir das. Du bist emotional noch stark angeschlagen, unsicher und<br />

nicht Herr deiner Gefühle. Du siehst nur die Schönheit des Landes, genießt unsere Reise und<br />

bist voreingenommen. Nachdem es dir allmählich besser geht, siehst du Australien durch eine<br />

rosarote Brille. Aber du darfst nicht vergessen, dass du ein Leben in den USA hast. Ein Le-<br />

ben, das einen guten Job beinhaltet, einen Job, von dem du geträumt hast! Es beinhaltet viele,<br />

viele Freunde, deine Kollegen, deine Familie, das dort drüben ist dein Zuhause. Sieh mir in<br />

die Augen und sage mir, dass du bei deinen Umzugsplänen nicht daran denkst, weiterhin in<br />

meiner Nähe zu sein zu können. Wenn du dir das ehrlich mit einem deutlichen nein beantwor-<br />

ten kannst, bin ich bereit, dir bei einem Neustart in Australien zu helfen.“<br />

Shawn ließ den Kopf hängen und seufzte leise. Nach einer Weile fragte er bedrückt: „Wa-<br />

rum bist du nur so verflucht hart?“<br />

Kelly stutzte sekundenlang, dann war ihr klar, woher ihr der Satz bekannt vorkam. Liebe-<br />

voll antwortete sie: „Ich lebe mit einem Boxer ...“<br />

Jetzt war es an Shawn, kurz zu Stutzen. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass er gera-<br />

de einen Satz aus dem dritten Teil der Rocky-Filme benutzt hatte. Schnell fiel ihm die betref-<br />

fende Szene ein und er schüttelte lachend den Kopf. „Du bist absolut unglaublich, weißt du<br />

das?“<br />

Kelly lächelte vergnügt. „Ach was. Ich kenne nur viele Filme. Shawn, ich weiß, was in dir<br />

vorgeht, weil in mir das gleiche vorgeht. Aber wir waren uns einig, oder?“<br />

Frustriert nickte Shawn. „Ja, sicher, das waren wir und bleiben wir. Ich möchte ja auch<br />

nicht sofort übersiedeln. Ich ziehe es nur ernsthaft in Erwägung, verstehst du? Es ist ... ich<br />

weiß nicht, möglicherweise nicht für immer, aber für eine Weile ... ein paar Jahre. Ich wäre<br />

für meine Freunde nicht aus der Welt. Wenn Mum und Dad nicht mitkommen ... Du weißt,<br />

ich habe ein super Verhältnis zu ihnen und das würde bedeuten, dass zu meinen üblichen fre-<br />

quent flyer Punkten noch ein paar tausend hinzu kommen würden. Ich würde regelmäßig rü-<br />

ber fliegen und meine Freunde treffen.“ Shawn schwieg nach dieser Erklärung kurz. Er sah<br />

aus der Seitenscheibe nach draußen und seufzte leise. „Dieses Land ist so einmalig schön! Ich<br />

möchte das nicht mehr missen, verstehst du?“ Er sah Kelly fragend an.<br />

Die junge Frau hatte ruhig zugehört. Sanft erklärte sie: „Du hast eine Menge Erklärungen<br />

geliefert, aber ich habe noch keine Antwort von dir bekommen. Du willst nicht meinetwegen<br />

nach Australien ziehen, darum ging es ursprünglich.“<br />

Shawn stöhnte gequält auf. „Kelly, bitte.“<br />

Bedrückt schüttelte die Therapeutin den Kopf. „Es tut mir wahnsinnig leid, aber du musst<br />

mir und vor allem dir selbst diese Frage ehrlich beantworten.“<br />

543


Der Schauspieler starrte aus der Windschutzscheibe nach draußen in die dunkler werdende<br />

Landschaft. Traurig ließ er den Kopf hängen und meinte leise: „Du weißt, dass ich das nicht<br />

mit nein beantworten kann. Ich ... Ich kann ... Ach, verflucht! Ich kann mir ein Leben ohne<br />

dich nicht mehr vorstellen. Ich habe in den Staaten niemanden, dem ich mich anvertrauen<br />

könnte. Du warst es, die sagte, ich müsse auf jedem Falle jemanden haben, dem ich mich je-<br />

derzeit anvertrauen könnte. Du bist der einzige Mensch, mit dem ich ... über die Entführung<br />

und die Zeit bei Carrie sprechen kann. Wie kann ich da ohne ... Wie soll das gehen?“<br />

Kelly biss sich unglücklich auf die Lippe. „Es muss gehen, Shawn. Abgesehen von den<br />

aufgeführten Gründen, die klar dagegen sprechen, uns auf etwas einzulassen, gibt es da noch<br />

einen rein rechtlichen Grund. Wenn ich mich als Therapeutin mit einem Patienten einlasse,<br />

verliere ich meine Approbation. Ich könnte meinen Beruf an den Nagel hängen und würde aus<br />

der Ärztekammer fliegen. Ich würde eine Anklage an den Hals kriegen, verstehst du? Ich habe<br />

viel zu hart gearbeitet, um so weit zu kommen, wie ich heute bin, um das alles aufs Spiel zu<br />

setzen.“ Glücklicherweise wusste nur Kelly, dass das eine windige Ausrede war!<br />

Shawn nickte langsam. „Verstehe ...“, sagte er leise und traurig.<br />

„Bitte, Schatz, sei nicht böse und enttäuscht. Wir haben darüber gesprochen und uns ent-<br />

schieden. Es gibt einige Gründe, die für eine längere Trennung sprechen, darüber waren wir<br />

uns einig. Ein Patient geht schon im Regelfall eine unglaublich starke Beziehung mit seinem<br />

Therapeuten ein. Bei unserer Art der Therapie ist die Bindung noch intensiver. Du bist vier-<br />

undzwanzig Stunden am Tag bei mir. Sieben Tage die Woche. Du wirst lernen müssen, wie-<br />

der ohne meine Unterstützung auszukommen. Und das geht nicht, wenn wir weiterhin zu-<br />

sammen bleiben. Wenn es dir deutlich besser geht, werden wir damit beginnen, dich darauf<br />

vorzubereiten, allein klar zu kommen. Und dann ... wirst du nach Hause gehen und dein Le-<br />

ben wieder aufnehmen. Erst, wenn du das geschafft hast, in allen Konsequenzen, und nicht<br />

nur für zwei Monate oder so, sondern über einen längeren Zeitraum, erst dann können wir uns<br />

wiedersehen und uns überlegen, was noch von unseren Gefühlen übrig ist. Ob es reichen wird,<br />

eine echte Beziehung einzugehen.“<br />

Shawn hatte bedrückt zugehört. Er fuhr sich mit der Rechten durchs Haar und seufzte mü-<br />

de. „Liebst du mich?“, fragte er leise.<br />

Ohne nur eine Sekunde zu zögern antwortete Kelly schlicht: „Ja.“<br />

„Woher ... Ich meine, wie bringst du die Kraft auf, so konsequent zu sein?“<br />

„Ich bin nicht extrem traumatisiert. Ich kann stark sein. Ich muss stark sein, verstehst du?<br />

Du schaffst es nicht. Noch nicht. Wenn ich meinen Gefühlen nachgeben würde, wäre ich dir<br />

keine Hilfe mehr. Dann würde ich ...“ Sie stieß ein kleines, freudloses Lachen aus. „Dann<br />

würde ich durch Australien sausen, um Carrie und ihre Freunde zu finden und sie langsam<br />

und qualvoll zu killen.“<br />

544


Shawn sah zu Kelly hinüber und sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Er biss sich<br />

auf die Lippe, schloss kurz resigniert die Augen und lachte ebenfalls auf. „Das meinst du<br />

ernst, was?“<br />

„Oh, du ahnst nicht, wie ernst ich das meine. Ich habe in meinem Leben noch nie zuvor<br />

einen solchen Hass auf jemanden verspürt. Nicht einmal auf meine Entführer. Hass und Liebe<br />

sind die stärksten Triebfedern, die wir Menschen haben. Nichts motiviert uns so nachhaltig<br />

wie die Liebe oder der Hass. Man ist zu unglaublichen Leistungen fähig, wenn man hasst oder<br />

liebt. Wenn sich beides in einem Menschen vereint, kann man Berge versetzen. Shawn, du<br />

musst fest daran glauben, dass es für uns beide eine gemeinsame Zukunft geben wird, nur<br />

nicht sofort. Wir haben noch unser ganzes Leben vor uns. Was sind da ein paar Monate, wenn<br />

hinterher der lange Rest unseres Lebens vor uns liegt, zusammen?“<br />

Shawn sah einen Moment gedankenverloren aus dem Fenster. Nachdenklich nickte er<br />

langsam. „Du hast Recht. Ich habe nur ... Ach, verflucht, ich habe eine höllische Angst davor,<br />

ohne dich ... Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll.“ Unglücklich schwieg er.<br />

„Zum jetzigen Zeitpunkt würdest du es nicht schaffen. Aber ich habe nicht die Absicht,<br />

dich morgen Früh rauszuschmeißen. Bis es so weit ist, wird noch viel Zeit vergehen und du<br />

wirst lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Deine oberste Priorität muss im Augenblick sein,<br />

dich auf deine Genesung zu konzentrieren. Du darfst dich nicht selbst schwächen, in dem du<br />

ständig darüber nachdenkst, dass du erst einmal in die Staaten zurückkehren wirst. Es darf für<br />

dich keine Gedanken geben, die dich von diesem Ziel ablenken. Jeder andere negative Ge-<br />

danke wird dich blockieren. Du darfst diese nicht zulassen. Im Grunde deines Herzens freust<br />

du dich darauf, zu deinen Eltern, Freunden und Verwandten zurückzugehen. Du musst nur<br />

begreifen, dass das für dich das Wichtigste überhaupt ist! Alles andere wird von allein kom-<br />

men.“<br />

Shawn nickte stumm. Er wusste nicht, wie er seine Gedanken von der Tatsache, in näherer<br />

Zukunft ohne Kelly zu sein, ablenken konnte. Die Vorstellung, in den Staaten zu sein, 15.000<br />

Kilometer entfernt von Kelly, machte ihm panische Angst. Wenn er sich vorstellte, wie er in<br />

Ruskin leben würde, ohne die junge Frau, bekam er Herzrasen. Gott, wie sollte sein Leben<br />

ohne sie nur aussehen? Er konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen schossen.<br />

Ärgerlich sah er aus dem Seitenfenster, damit Kelly diese Tränen nicht sah. Doch die Psycho-<br />

login brauchte sie gar nicht zu sehen. Sie wusste, was in Shawn vorging. Draußen wurde es<br />

dunkel. Der Himmel glühte leuchtend orange unter den letzten Strahlen der untergehenden<br />

Sonne. Im Moment hatte Kelly keinen Blick für das Naturschauspiel. Sie zermarterte sich das<br />

Hirn, wie sie Shawn helfen konnte. Sie hatte viele Patienten gehabt, aber vor einem solchen<br />

Problem hatte sie noch nie gestanden.<br />

545


Shawn war mit den Gedanken mehr bei ihrer Trennung als bei seiner so unendlich wichti-<br />

gen Therapie. Das bremste ihn so stark aus, dass der weitere Verlauf der Behandlung ernsthaft<br />

infrage gestellt war. Es gab eine Möglichkeit, ihm die Angst zu nehmen. Diese Möglichkeit<br />

wollte Kelly jedoch nur im allerletzten Notfall einsetzen. Sie musste eine andere Lösung fin-<br />

den, Shawns Aufmerksamkeit von der Tatsache abzulenken, dass sie sich erst einmal würden<br />

trennen müssen, bevor sie an eine gemeinsame Zukunft denken konnten. Je schneller er mit<br />

seinem Trauma fertig wurde, nach Hause gehen konnte, je schneller würden sie möglicher-<br />

weise ihr gemeinsames Leben beginnen können. Das war die Lösung! Vor ihnen tauchte der<br />

Abbieger zum Yellow Water auf und wenige Minuten später bremste Kelly vor ihrer Cabin.<br />

Da es spät war, bestellte Kelly für Shawn eine Pizza, für sich selbst einen großen Cesar Salat.<br />

Schnell duschten sie und als Shawn mit einem Handtuch um die schlanken Hüften aus dem<br />

Bad kam, wurde das Abendessen gebracht. Schweigend setzten sie sich, nachdem Shawn an-<br />

gekleidet war, auf ihre kleine Terrasse und kauten lustlos auf dem guten Essen herum.<br />

Kelly schob die Reste ihres Salates zurück und brach das Schweigen. „Hör mir bitte mal<br />

zu, Shawn. Es hilft keinem, wenn wir uns an der vorherrschenden Situation aufreiben. Weder<br />

war es geplant, dass wir uns ineinander verlieben, noch war es vorher zu sehen. Es ist passiert<br />

und wir müssen es irgendwie handeln. Nicht nur dir wird bei dem Gedanken, dass wir uns<br />

trennen müssen, schlecht vor Angst, das darfst du mir gerne glauben. Ich kann mir ein Leben<br />

ohne dich auch nicht mehr vorstellen. Aber ...“ Sie machte bewusst eine kurze Pause, um<br />

dann enthusiastisch fortzufahren „... je eher du nach Hause zurückkehren kannst, je schneller<br />

du in der Lage sein wirst, dein gewohntes Leben wieder aufzunehmen, umso schneller werden<br />

wir hinterher unser gemeinsames Leben beginnen können!“ Sie sah Shawn an und zwang<br />

sich, zuversichtlich zu strahlen. „Die Zeit, die wir getrennt sein werden, wird schnell verge-<br />

hen, weil wir beide genug um die Ohren haben werden. Und letztlich, eines gar nicht fernen<br />

Tages, wirst entweder du oder ich die Koffer packen und bevor wir uns versehen werden wir<br />

zusammen sein, um uns nie wieder zu trennen.“<br />

Ihre Stimme klang fast euphorisch und aufgeregt. Im Stillen dachte sie - Ich habe mindes-<br />

tens so viel schauspielerisches Talent wie Shawn. - Denn sie war nicht annähernd so über-<br />

zeugt, dass es so funktionieren würde, wie sie hier gerade tat. Doch ohne Shawn direkt anzu-<br />

schauen wusste sie, dass ihre begeisterten Worte auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Der<br />

Schauspieler wusste sicher, solange er als Patient bei Kelly war, würde absolut nichts zwi-<br />

schen ihnen geschehen. Sie konnten auf diese Weise die nächsten zwanzig Jahre nebeneinan-<br />

der Leben und sich nacheinander verzehren. Wenn er aber nach Hause ging, geheilt, und Kel-<br />

ly bewies, dass er in der Lage war, zurechtzukommen, würde ihre gemeinsame Zukunft als<br />

glückliches Paar beginnen können. So hatte er die Lage bisher noch nicht betrachtet. Er ließ<br />

sich Kellys Worte durch den Kopf gehen und spürte eine neue Zuversicht tief in sich. Je<br />

546


schneller er alles weitere hinter sich brachte und sich auf seine Genesung konzentrierte, desto<br />

schneller wäre das ‘danach‘ vorbei!<br />

Zaghaft, dann überzeugter nickte er. „So habe ich es noch nicht betrachtet. Du hast Recht.<br />

Je schneller und besser es mir gelingt, mein Trauma zu bewältigen, desto schneller können<br />

wir daran denken, uns ein gemeinsames Leben aufzubauen. Ich werde alles daran setzen, das<br />

hinzukriegen, das verspreche ich dir. Ich werde auf keinem Fall derjenige sein, der unserer<br />

gemeinsamen Zukunft im Wege stehen wird.“<br />

So entschlossen und zuversichtlich klang der Schauspieler, dass Kelly im Stillen unglaub-<br />

lich erleichtert aufatmete. Erneut war eine Krise gemeistert. Und so würden sie Schritt für<br />

Schritt alle weiteren Probleme lösen. Sie lächelte befreit zu Shawn hinüber.<br />

„Diese Entschlossenheit musst du dir bewahren, dann kann dich nichts mehr ausbremsen.<br />

Ich weiß, dass du es schaffen wirst. Dein Fokus muss auf die Tatsache gerichtet sein, dass wir<br />

beide aus einem wichtigen Grund zusammen gekommen sind. Alles, was nebenbei passiert,<br />

lenkt dich von deinem Ziel ab.“<br />

„Ja, du hast Recht. Ich habe mich ablenken lassen. Das wird mir nicht mehr passieren, das<br />

verspreche ich dir.“ Er schwieg kurz, bevor er fortfuhr „Weißt du, heute Abend kommt ... puh<br />

... Heute Abend kommt eine schöne Begebenheit aus der Carriezeit. Ist mir heute tagsüber<br />

durch den Sinn geschossen. Wollen wir uns ... Wollen wir rein gehen?“<br />

„Ja. Wir machen es wie immer.“ Sie erhob sich und Shawn stand ebenfalls auf. Schnell<br />

hatten sie den Terrassentisch leer geräumt und machten es sich anschließend auf dem Bett<br />

bequem. Shawns Kopf kam auf Kellys Oberschenkeln zu liegen. Es fiel dem jungen Schau-<br />

spieler schwer, zu beginnen. Leise sagte er:<br />

„Was ich dir jetzt ... erzählen muss, ist ... Es ist ... Du ahnst nicht, wie krank die waren ...<br />

Also ...“<br />

weg.<br />

*****<br />

Shawn wachte, von Carrie geweckt, aus einem wirren Traum auf.<br />

„Hey, du Schlafmütze, wach endlich auf.“, sagte sie lachend und zog Shawn die Zudecke<br />

Müde versuchte der, wach zu werden. Carrie löste seine Handfesseln und trieb ihn an.<br />

„Los, raus aus dem Bett und ab unter die Dusche.“<br />

Erstaunt gehorchte Shawn. Dass sie ihn nicht mit den üblichen zehn Hieben beglückte,<br />

machte ihn nervös. Schnell eilte er ins Bad und stand Sekunden später unter der Dusche. Er<br />

seifte sich in aller Eile ab und beeilte sich, zu Carrie, die auf seinem Bett hockte, zurückzu-<br />

kehren. Er sah, dass Frühstück für ihn angekommen war und setzte sich an den Tisch, um zu<br />

Essen. Carrie erklärte ihm aufgeregt:<br />

547


„Wir haben uns heute Nacht etwas ausgedacht. Wir werden den Tag mit einem Rollen-<br />

spiel verbringen!“<br />

Shawn verkrampfte sich innerlich. Wenn Carrie so freudig erregt war konnte das für ihn<br />

nichts Gutes bedeuten. Nervös aß er sein Frühstück und trank in aller Eile zwei Tassen Kaf-<br />

fee. Schon trieb Carrie ihn aus dem Raum ins Wohnzimmer hinüber. Das Bild, das sich<br />

Shawn hier bot, ließ ihn vollends nervös werden.<br />

Alan kniete, nackt und mit Ledermanschetten wie Shawn sie trug, vor Karen am Boden,<br />

die Hände auf den Rücken gefesselt, und sah Carrie und Shawn grinsend entgegen. Carrie<br />

fesselte Shawns Hände ebenfalls auf den Rücken und befahl ihm, sich neben Alan zu knien.<br />

Gehorsam ging er auf die Knie und wartete. Carrie hockte sich neben Karen auf das Sofa und<br />

erklärte:<br />

„Wir haben uns ein Rollenspiel ausgedacht, in dem wir alle mitspielen. Du wirst nur auf<br />

das eingehen, was wir tun und sagen, hast du das kapiert?“<br />

Shawn nickte verkrampft. „Ja, verstanden.“<br />

Carrie erhob sich, griff sich vom Wohnzimmertisch zwei Knebel in Penis-Form und stopfte<br />

diese nacheinander Alan und Shawn in den Mund. Dann nahm sie zwei dünne, einen Meter<br />

lange Ketten, die ebenfalls auf dem Tisch lagen und hakte diese an die Halsbänder der Män-<br />

ner. Sie drückte Karen die Kette Alans in die Hand und sagte:<br />

„Okay, es kann losgehen.“<br />

Sie selbst hielt Shawns Kette fest in den Händen. Karen nickte erregt. Sie sah Alan an und<br />

befahl streng:<br />

„Hoch mit dir, Sklave.“<br />

Willig erhob Alan sich und Carrie zog an der Kette und befahl Shawn:<br />

„Auf die Beine.“<br />

Der junge Mann stemmte sich ebenfalls hoch und Carrie funkelte Karen an. „Wenn das<br />

stimmt, werden die Beiden es bitter bereuen.“<br />

Karen nickte: „Worauf du dich verlassen kannst.“ Sie warf Alan einen wütenden Blick zu<br />

und fauchte: „Wir werden sofort zu Dr. Fuck gehen und sie untersuchen lassen.“<br />

Carrie nickte entschlossen. „Einverstanden.“<br />

Die beiden Frauen setzten sich in Bewegung und Shawn und Alan wurden hinterher gezo-<br />

gen. Alan folgte willig, nicht minder freudig erregt wie die Frauen. Shawn war keineswegs in<br />

freudiger Erwartung, im Gegenteil spürte er nichts als Angst. Gott, wie er es hasste, seit Mo-<br />

naten ständig in Angst und Schrecken zu leben. Was hätte er nicht alles getan, um einmal für<br />

einen einzigen Tag wirklich keine Angst haben zu müssen. Als er von Carrie in Richtung der<br />

Kellertreppe gezogen wurde, raste sein Herz wie so oft schmerzhaft in seiner Brust. Sein<br />

Mund war trocken, er atmete viel zu schnell und er spürte, dass ihm der Scheiß ausbrach. Es<br />

548


ging die Treppe hinunter und auf die Tür zu dem medizinischen Behandlungsraum zu. An der<br />

Tür, das sah Shawn jetzt, war ein Schild angebracht worden. Praxis Dr. M. Fuck stand auf<br />

dem Schild und Shawn spürte eine Gänsehaut über seinen Körper huschen. Karen war vor<br />

der Tür stehen geblieben und klopfte entschlossen. Von drinnen war ein energisches: „Her-<br />

ein!“, zu hören. Karen öffnete die Tür und sie traten ein.<br />

Der Raum war etwas verändert worden, das sah Shawn sofort. Neben der Liege, auf der<br />

er während der Beschneidung gelegen hatte war der gynäkologische Untersuchungsstuhl<br />

hereingeschafft worden. Ein Schreibtisch stand quer im Raum, unmittelbar hinter der Tür und<br />

hinter diesem saß Teresa, einen weißen Kittel tragend. Sie sah auf und fragte:<br />

„Was können wir für Sie tun?“<br />

Carrie antwortete: „Wir haben die Vermutung, dass es zwischen unseren Sklaven zu uner-<br />

laubten sexuellen Handlungen gekommen ist. Wir möchten, dass Dr. Fuck die Sklaven gründ-<br />

lich untersucht und unseren Verdacht entweder bestätigt oder zerstreut.“<br />

Teresa machte sich Notizen und nickte. „Das dürfte kein Problem sein. Der Doktor müsste<br />

jeden Moment hier sein, er wurde zu einem Notfall gerufen.“ Sie sah Shawn und Alan scharf<br />

an. „Wer hat wen gevögelt?“, fragte sie streng.<br />

Carrie erwiderte wütend: „Ich denke, meine Hure hat die Beine breitgemacht.“<br />

Teresa nickte verstehend. „Dann muss er auf den Stuhl. Und der dort ...“, sie deutete auf<br />

Alan, „... auf die Liege, los.“<br />

Carrie und Karen reagierten sofort. Sie zogen die Männer mit sich und Carrie löste<br />

Shawns Fesseln. „Los, rauf da.“, schnauzte sie ihn an und zitternd gehorchte Shawn. Ihm<br />

wurde bei diesem bizarren Spiel mit jeder Minute mulmiger. Alan schien diese Ängste nicht zu<br />

haben. Er ließ sich erwartungsvoll die Hände losmachen und wurde von Karen stramm an die<br />

Liege gefesselt. Carrie machte das Gleiche bei Shawn. Er musste seine Beine in die Halte-<br />

schalen legen und Carrie legte ihm die vertrauten Riemen über die Beine, zog diese stramm.<br />

Sie klinkte die Karabinerhaken der Fußfesseln an die Schienen. Einen weiteren Gurt zog sie<br />

stramm über Shawns Unterleib und fixierte seine Handgelenke an den Stuhl. Zuletzt hakte sie<br />

die beiden Karabiner des Halsbandes fest an Halterungen am Stuhl. Zufrieden nickte sie.<br />

Kaum war sie fertig, wurde die Tür stürmisch aufgerissen und Brett kam atemlos in den<br />

Raum gehetzt.<br />

„Oh, Patienten? Entschuldigen Sie die Verspätung, ein Notfall. Um was geht es denn hier?“<br />

Er schlüpfte aus der Anzugjacke, die er trug und streifte sich stattdessen einen weißen Kittel<br />

über. Teresa sprang diensteifrig auf.<br />

„Die Ladys hier vermuten, dass ihre Sklaven unerlaubten Sex hatten. Sie wünschen eine<br />

gründliche Untersuchung.“<br />

549


„Aha, verstehe. Das dürfte kein Problem sein.“ Brett sah zu Alan hinüber, der deutlich er-<br />

regt war. „War er der Ausführende?“, fragte er mit leicht zitternder Stimme.<br />

Karen nickte. „Ja, das nehmen wir an.“<br />

Brett trat näher an den gefesselten Alan heran und sah ihn aufmerksam an. „Dann werde<br />

ich meine Untersuchung hier beginnen. Ich benötige eine Spermaprobe, deswegen werden wir<br />

ihn melken müssen. Schwester, bereiten Sie alles vor.“<br />

Teresa nickte eifrig. Shawn konnte ungehindert beobachten, was sie tat. Er bemerkte, dass<br />

die Liege in der Mitte geteilt werden konnte. Teresa löste einen Haken am Fußende der Liege<br />

und konnte das Unterteil auseinanderklappen. Dadurch entstanden zwei Schienen, die rechts<br />

und links von der Liege abgespreizt wurden. Alans Beine wurden so einladend gespreizt. Sein<br />

Unterleib ragte 20 Zentimeter über den unteren Rand der Liege hinaus. Karen und Teresa<br />

griffen nach seinen Beinen, lösten die Fesseln und winkelten die Beine an, nachdem sie um<br />

beide Knie eine Schlinge mit einem weichen Hanfstrick gelegt hatten. Sie legten breite Leder-<br />

gurte um sie und zogen diese stramm. Auf diese Weise konnte Alan die Beine nicht mehr aus-<br />

strecken. Er keuchte vor Erregung leise auf. Nun zogen die Frauen die vorher angelegten<br />

Stricke stramm zu den Enden der aufgeklappten Schienen und befestigten sie dort an Metall-<br />

ösen. Mit den überhängenden Resten der Stricke fesselten sie zuletzt Alans Fußgelenke eben-<br />

falls fest an die Schienen. Jetzt lag er, wie Shawn bereits so unglaublich oft, extrem weit ge-<br />

spreizt und bewegungsunfähig auf der Liege. Nur, dass er es genoss.<br />

Brett, der vor Erregung leicht bebte, zog sich einen Rollhocker heran und setzte sich zwi-<br />

schen Alans weit gespreizten Beinen. Teresa und Karen waren ebenfalls unübersehbar erregt.<br />

Sie sahen zu, was Brett machte. Nur Carrie hielt sich zurück. Sie beobachtete von weitem zu-<br />

frieden, was geschah. Brett ließ sich von ‘Schwester‘ Teresa eine Tube Gleitmittel und einen<br />

Spreizer reichen. Er streifte sich Untersuchungshandschuhe über und strich Gleitmittel auf<br />

den Spreizer. Er reichte Teresa die Tube zurück und beugte sich, um besser sehen zu können,<br />

vor. Dann fing er an, Alan den Anusspreizer langsam einzuführen. Alan keuchte durch den<br />

Knebel erregt auf. Er genoss es und Shawn schüttelte es vor Ekel! Endlich war Brett zufrieden<br />

und der Spreizer steckte tief in Alans Enddarm. Brett begann, die Stellschraube, die den<br />

Spreizmechanismus in Gange setzte, zu betätigen. Alan keuchte immer wieder auf. Karen und<br />

Teresa sahen zappelig zu. Brett arbeitete langsam und vorsichtig. Das Keuchen Alans war<br />

sowohl lustvoll als schmerzerfüllt. Erneut war Brett zufrieden. Er steckte den Mittelfinger in<br />

Alan und strich diesen von Innen sanft über die Prostata. Der Gefesselte zuckte vor Geilheit.<br />

„Gut, Schwester, geben sie mir bitte den Vibrator.“, bat Brett mit erstickter Stimme.<br />

Teresa reichte ihm den Vibrator, den Carrie bei Shawn benutzte, wenn sie die Prostata<br />

gezielt stimulieren wollte. Brett schaltete diesen auf die erste Stufe und führte ihn in Alan ein.<br />

Kurz tastete er mit dem Vibrator, dann zeigte ihm Alans Reaktion, dass er die richtige Stelle<br />

550


getroffen hatte. Er ließ den Vibrator dort und Alan wand sich vor Geilheit in den Fesseln.<br />

Durch den Knebel stöhnte und keuchte er vor Erregung und abgesehen von Shawn, der ange-<br />

widert war, schauten alle hochgradig erregt zu. Schnell kam Alan zum Abspritzen und Brett<br />

arbeitete weiter. Nach dem dritten Mal wurden die Geräusche, die Alan von sich gab, lang-<br />

sam anderer Natur. Er ballte die Fäuste nicht mehr ausschließlich vor Erregung, sondern vor<br />

Schmerzen. Nachdem er ein viertes Mal gekommen war, ließ Brett von ihm ab. Alan hatte auf<br />

den Knebel gebissen und lag erschöpft und schweißgebadet still. Brett bat Teresa mit vor Er-<br />

regung angespannter Stimme:<br />

„Gut, wir haben genug Sperma für eine gründliche Untersuchung, Schwester. Würden Sie<br />

bitte eine genügend große Menge nehmen und für die Untersuchung vorbereiten?“<br />

Teresa griff mit zitternden Fingern nach einem kleinen Glasschälchen und kratzte mit ei-<br />

nem Holzspatel Samenflüssigkeit von Alans Bauch. Sie trug das Schälchen zu einem Mikro-<br />

skop hinüber und stellte es unter die Optik.<br />

Brett wandte sich Shawn zu. Er ließ Alan liegen, noch mit dem Spreizer im Anus. Auf dem<br />

Hocker rollte er zu Shawn hinüber, der sich augenblicklich verkrampfte. Brett grinste, als er<br />

zwischen Shawns weit gespreizten Beinen ankam.<br />

„Schwester, einen weiteren Spreizer bitte.“<br />

Teresa eilte sofort mit einem Anusspreizer zu Brett und reichte ihm diesen zusammen mit<br />

dem Gleitmittel. Brett schlüpfte in frische Handschuhe und nahm Gleitmittel auf den Zeigefin-<br />

ger und Mittelfinger der rechten Hand. Er bohrte Shawn diese nicht sonderlich rücksichtsvoll<br />

in den Po und der junge Mann keuchte auf. Gleichmäßig schmierte Brett das Gleitmittel in<br />

Shawns Anus und stimulierte kurz dessen Prostata. Dann zog er die Finger zurück und griff<br />

nach dem Spreizer. Das Gerät wurde nun in Shawn eingeführt und Brett begann, es ausei-<br />

nander zu drehen. Shawn versuchte verzweifelt, sich zu entspannen, um die Schmerzen zu<br />

reduzieren. Weiter und weiter wurde die Stellschraube gedreht, bis Shawn letztlich vor<br />

Schmerzen doch aufwimmerte. Schweiß lief ihm am Körper herunter und er keuchte. Brett<br />

stoppte und nickte zufrieden. Jetzt meinte er:<br />

„Bitte drei sterile Wattestäbchen für Proben.“<br />

Teresa griff von einem Laborwagen drei noch verschlossene Abstrichröhrchen und öffnete<br />

eines. Brett nahm es entgegen und Shawn zuckte zusammen, als er spürte, wie Brett nun tief in<br />

ihn eindrang und mit den Wattestäbchen Proben entnahm. Er reichte diese an Teresa weiter.<br />

Zittrig sagte er: „Schwester, übernehmen Sie bitte die weitere Untersuchung, ich werde<br />

kontrollieren, ob Sie alles richtig machen.“<br />

Teresa tauschte mit Brett den Platz und griff nach einem Endoskop. Sie führte es Shawn<br />

ein und schob es langsam vor. Heftig zuckte Shawn zusammen, wenn Teresa die Darmwände<br />

berührte. Längst liefen ihm Tränen über die Wangen. Wie konnte er nur immer wieder den-<br />

551


ken, schlimmer könnte es nicht werden? Die fünf fanden jeden Tag neue Möglichkeiten der<br />

Erniedrigung. Das bewies dieses groteske Spiel gerade hinlänglich. Endlich hatte Teresa ge-<br />

nug und zog das Endoskop heraus. Sie erklärte ernst:<br />

„Er wurde eindeutig in den letzten vierundzwanzig Stunden gevögelt.“<br />

Carrie und Karen taten, als wären sie unglaublich verärgert. Karen tobte!<br />

„Das werden sie bitter bereuen, alle beide.“<br />

Carrie schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke, meine Hure war der Schuldige. Er wird da-<br />

rum gebettelt haben, er liebt es, in den Arsch gefickt zu werden. Mach deinen Sklaven los und<br />

dann soll er uns zeigen, wie er es meinem Sklaven besorgt hat.“<br />

Carrie ließ die Rückenlehne des Untersuchungsstuhles in die Waagerechte sinken und<br />

nahm Shawn den Knebel aus dem Mund.<br />

auf.“<br />

„Du liebst es, du sollst es bekommen.“, erklärte sie und befahl: „Mach den Mund weit<br />

Bebend gehorchte Shawn und bekam statt des Knebels nun einen Mundspreizer zwischen<br />

die Zähne geschoben, den Carrie weit aufdrehte. Grinsend legte sie Shawn ein Tuch über die<br />

Augen. Er konnte nichts mehr sehen. Er spürte, wie ihm endlich der Anusspreizer entfernt<br />

wurde. Nervös hörte er, wie die Karabiner Alans klirrten und spürte Hände an den Pobacken,<br />

die diese auseinander drückten. Dann erschrak er heftig. Jemand kniete sich über seinen Kopf<br />

und im nächsten Moment spürte er einen steifen Schwanz in seinen Mund eindringen. Brett!<br />

Der Mann lachte erregt und keuchte:<br />

„Du wirst mir so was von geil einen Blasen, ich zeige dir, wie ich es will.“<br />

Shawn wimmerte und würgte. Er spürte nun Alan in sich eindringen und gleichzeitig<br />

Bretts Lippen und Zunge an seinem Penis. Unter der Augenbinde schossen ihm Tränen in die<br />

Augen. Er kämpfte verzweifelt gegen den Brechreiz, den Bretts Penis in seinem Hals verur-<br />

sachte und versuchte unwillkürlich, den Mund zu schließen, was dazu führte, dass seine Lip-<br />

pen ungewollt saugende Bewegungen an Bretts Schwanz ausführten. Shawn hatte das Gefühl,<br />

jeden Moment den Verstand zu verlieren. Er würgte heftig und merkte zu seinem Entsetzen<br />

nach einigen Minuten, dass sein Penis zögernd auf die Liebkosungen Bretts zu reagieren be-<br />

gann.<br />

Dass er von Alan oder Brett gevögelt wurde, war er gewohnt. Bisher hatte er nie etwas<br />

anderes als Ekel empfunden. Durch die gleichzeitige Stimulation an seinem Penis konnte er<br />

jetzt ein gewisses Maß an Erregung nicht mehr unterdrücken. Alan bewegte sich langsam und<br />

stieß nicht tief zu und bald schoss Shawn zu seinem eigenen Entsetzen der Gedanke durch den<br />

Kopf, dass er gerne etwas schneller und fester hätte werden können. Zugleich mit diesem Ge-<br />

danken wühlte ein heftiger Selbsthass in ihm. Als hätte Alan seine Gedanken gelesen wurde er<br />

schneller in seinen Bewegungen und stieß tiefer zu. Und Shawn entwich ein erregtes Wim-<br />

552


mern. Seine Erregung steigerte sich schnell und dann war er so weit, dass er sich sehnlichst<br />

wünschte, endlich zu kommen. Brett schien dies zu spüren, denn seine Lippen pressten sich<br />

fester um Shawns Penis und als gleichzeitig Alans Bewegungen noch fester und schneller<br />

wurden, spürte Shawn den Orgasmus in sich aufsteigen.<br />

46) Erinnerungsfetzen<br />

Erinnerungen sind widerborstig; hört man auf, ihnen nachzujagen, und kehrt<br />

ihnen den Rücken zu, kommen sie oft von allein wieder zurück.<br />

Stephen King<br />

Kelly würgte es. Sie hielt Shawn, der heftig weinte, in den Armen und zitterte vor Hass.<br />

Die Therapeutin wusste nicht mehr, was schlimmer war: Verbal Zeuge werden zu müssen,<br />

wie Shawn schrecklich wehgetan wurde, oder zu hören, wie er maßlos erniedrigt wurde. Bei-<br />

des war fast unerträglich für die junge Frau. Shawn schwieg lange, das gab ihr die Gelegen-<br />

heit, sich zu fangen. Erschöpft stieß der Schauspieler endlich hervor:<br />

„Ich habe mich so sehr gehasst, dass ich mich danach sehnte, endlich ausgepeitscht zu<br />

werden.“ Er schluchzte heftig auf. „Wenn ich später nicht mehr ... keinen Orgasmus mehr<br />

hatte, die, die ich erlebte, waren schlimm genug. In der Situation ... Ich habe nur noch gehofft,<br />

dass Carrie mich noch anders bestrafen würde. Damit ich ... eine Strafe für meine unange-<br />

brachte Geilheit erhalte, verstehst du? Ich wollte eine Strafe!“<br />

Er klammerte sich an Kelly und diese strich ihm sanft über den zuckenden Rücken. Ge-<br />

duldig und liebevoll erklärte sie ihm erneut, warum er sich gegen die sexuellen Stimulationen<br />

nicht hatte wehren können. Und er hörte erneut zu, saugte ihre Worte einmal mehr auf wie ein<br />

Schwamm. Er wollte so gerne eine Erklärung für sein Verhalten haben, wollte begreifen, wa-<br />

rum sein Körper so extrem reagiert hatte, dass er Kellys Erklärungen gar nicht oft genug hö-<br />

ren konnte. Jedes Mal blieb mehr Verständnis für sein eigenes Verhalten in ihm zurück. Und<br />

mit dem Verständnis schrumpfte sein Selbsthass.<br />

Nach einer Weile, die Shawn brauchte, um sich etwas zu fangen, fragte Kelly sanft: „Ging<br />

es an dem Tag noch weiter?“<br />

Shawn atmete tief durch und fuhr sich mit der Rechten über das Gesicht. Leise erklärte er:<br />

„Ja ... Nachdem Alan ‘gezeigt‘ hatte, wie er ... wie er es mir ... besorgt hatte ... Wir wurden<br />

beide von unseren ‘Herrinnen‘ in den Kerker gebracht. So nannte Carrie den Raum, wo sie<br />

mich gebrandmarkt hatte. Dort wurden wir an die Wand gekettet ... Mit dem Rücken zum<br />

Raum. Sie haben uns die Augen verbunden und dann ... sicher zwei Stunden so stehen lassen.<br />

Alan ... Der Dreckskerl hat rumgelästert, dass ich einen geilen Arsch hätte, wie er es genossen<br />

553


hat, mich ... mich zu vögeln ... Dann hat er mir genüsslich erzählt, dass Karen ihn mit dem<br />

Flogger bearbeiten würde und ich die Gerte zu spüren kriegen würde. Prima ... Kurz vorher<br />

hatte ich mir noch gewünscht ausgepeitscht zu werde und jetzt hing ich da und bestand nur<br />

noch aus Angst. Alan hat die ganze Zeit ... Er hat mir geschildert, dass Carrie mir die Haut<br />

vom Arsch prügeln würde ... Und ich ... ich wurde nur noch von den Fesseln auf den Beinen<br />

und von Spucke zusammen gehalten.“ Leise und stockend erzählte der Schauspieler weiter.<br />

„Als die Tür aufging und Carrie zusammen mit Karen in den Kerker trat, hätte ich schon wie-<br />

der alles getan, um ... Sie standen hinter uns und ... Carrie sagte Karen, dass sie anfangen sol-<br />

le. Ihre Hure sollte zuhören, wie ihr Hengst gestraft würde. Karen hat wohl keine Rücksicht<br />

genommen, aber der Flogger ist ... naja, vergleichsweise harmlos. Das Ding tut mit der Zeit<br />

auch weh, aber ... aber das ist kein Vergleich zu all den anderen schönen Geräten, die Carrie<br />

so auf Lager hatte. Alan hat gekeucht vor Schmerzen, aber ... Ich hing da und musste es mit<br />

anhören. Am Ende war Karen zufrieden und ... ich wusste, nun bin ich fällig.“<br />

Kelly spürte Shawn am ganzen Körper zittern bei der Erinnerung, die er gerade durchleb-<br />

te. Er atmete schwer und stieß hervor:<br />

„Sie hat mit aller Kraft zugeschlagen ... Jeder einzelne Treffer war wie Feuer auf meinem<br />

Rücken und auf dem Po ... Ich habe versucht, durchzuhalten, aber ... Ich weiß nicht, ab wann<br />

ich aufgeschrien habe ... Nach dem fünften oder erst nach dem zehnten Treffer ... Keine Ah-<br />

nung. Was ich weiß ... Ich habe ... ich habe nicht um Gnade gebettelt. Irgendwann hat sie auf-<br />

gehört. Ich habe alles nur noch wie durch Watte mitbekommen. Sie haben uns hoch gebracht<br />

auf die Terrasse. Dort mussten Alan und ich uns ...“ Shawn schüttelte es. „... wir mussten uns<br />

... eng zusammenstellen, Brust an Brust ... Sie haben uns zusammengeschnürt wie ein Paket.<br />

Es war so grässlich ... Die Arme haben sie an einen Stahlhaken gefesselt, der im überdachten<br />

Teil der Terrasse in der Decke befestigt war. So standen wir da und ... Karen und Carrie tran-<br />

ken in aller Ruhe zusammen mit Brett und Teresa Kaffee. Alan ... Dieser perverse Mistkerl<br />

hat das Spiel genossen ... Er hatte die ganze Zeit ... Ich konnte spüren, dass er ... Er war die<br />

ganze Zeit erregt.“<br />

Der Schauspieler konnte nicht mehr. Die Erinnerungen an diesen schrecklichen Tag hatten<br />

ihn restlos geschafft.<br />

„Sie haben uns losgemacht und ich durfte mich zurückziehen. Als ich in meinem Zimmer<br />

war ... Ich hab auf den Knien gelegen und geflennt ...“ Er kuschelte sich an Kelly und starrte<br />

apathisch an die Wand gegenüber. Kelly hielt ihn fest im Arm und fragte:<br />

„Wurde so was später denn noch oft gemacht? Solche Rollenspiele?“<br />

Shawn seufzte und kehrte in die Gegenwart zurück. „Ähm ... Ab und zu ... Mal mit Alan,<br />

öfter mit Brett. Brett war masochistisch veranlagt. Der war echt heftig drauf. Er ... Er hat ei-<br />

nen hoch gekriegt, wenn er ausgepeitscht wurde ...“ Der Schauspieler schwieg und schloss<br />

554


müde die Augen. Diese Welt, in die er bei Carrie unfreiwillig gezwungen worden war, war<br />

ihm so unverständlich und zuwider gewesen, dass ihm jegliches Verständnis für die Denkwei-<br />

se seiner Entführer fehlte. Er hatte nicht wie Kelly die Psyche solcher sozialen Randerschei-<br />

nungen der Gesellschaft studiert. Ihm war die Handlungsweise und das Fehlen jeglicher<br />

Menschlichkeit, jeglichem Mitleids, die Brutalität, die Kaltherzigkeit dieser Menschen so un-<br />

verständlich wie am ersten Tage. Wie ein Mensch auf die Idee kam, einen anderen Menschen<br />

zu seinem eigenen Vergnügen zu quälen, zu foltern, zu erniedrigen und zu töten, konnte er<br />

nicht begreifen. Er war von seinen Eltern zu einem mitfühlenden, hilfsbereiten, rücksichts-<br />

und verständnisvollen, warmherzigen Menschen erzogen worden. Seine Kollegen und Freun-<br />

de schätzten gerade diese Eigenschaften an ihm so besonders. Er erinnerte sich plötzlich an<br />

eine kleine Begebenheit aus seiner frühen Kindheit. Er war auf dem Spielplatz von einer Bie-<br />

ne gestochen worden. Daraufhin hatte er beschlossen, dass das keinem anderen Menschen<br />

passieren sollte. Im Garten seiner Eltern hatte er Bienen gefangen und sie im Sand seiner<br />

Sandkiste so lange vergraben, bis die Tierchen halb erstickt waren. Dann hatte er ihnen vor-<br />

sichtig mit einer Pinzette, die er sich bei seiner Mutter geliehen hatte, die Stacheln ausgeris-<br />

sen. Anschließend hatte er die Tierchen, ohne zu wissen, dass sie an dem ausgerissenen Sta-<br />

chel verenden würden, wieder in die Blumen des Gartens gesetzt.<br />

Sein Vater hatte ihn erwischt. Er hatte Shawn auf den Arm genommen und ihn gefragt,<br />

warum er das machte. Shawn hatte es seinem Dad erklärt. Daraufhin hatte Paul dem Jungen<br />

klar gemacht, dass die Bienen furchtbare Schmerzen bei der Entfernung des Stachels erleiden<br />

mussten, viel schlimmere, als er, Shawn, bei dem Stich. Und dass sie qualvoll an dieser Ver-<br />

letzung starben. Der kleine, vierjährige Junge war entsetzt gewesen. Er hatte bitterlich ge-<br />

weint und von Paul wissen wollen, ob er für das, was er getan hatte, in die Hölle kommen<br />

würde. Paul hatte seinen Sohn gerührt an sich gedrückt und ihm liebevoll erklärt, dass er nicht<br />

in die Hölle kommen würde. Aber er hatte Shawn deutlich klar gemacht, dass jedes Tier, egal,<br />

ob groß oder klein, hübsch oder hässlich, gefährlich oder ungefährlich, so wie jeder Mensch<br />

Schmerzen und Angst empfand, eine Seele hatte. Er hatte dem Jungen einen Satz beigebracht,<br />

den Shawn bis ans Ende seines Lebens nicht vergessen würde: Quäle nie ein Tier zum Scherz,<br />

denn es spürt wie du den Schmerz. Shawn hatte nie mehr einem Tier bewusst wehgetan, hatte<br />

nie des Amis liebster Freizeitbeschäftigung, dem Jagen, gefrönt und nie geangelt. Er war von<br />

Freunden, Kollegen, Bekannten gefragt worden, warum er nicht angelte und hatte erwidert,<br />

dass, wenn Fische vor Schmerzen schreien könnten, neunzig Prozent aller Angler ihr Hobby<br />

aufgeben würden. Und so, wie er nie wieder Tiere verletzt hatte, hatte er nie einem anderen<br />

Menschen bewusst wehgetan.<br />

555


Umso fassungsloser machte es ihn, dass er gleich fünf Menschen in die Hände gefallen<br />

war, für die das Quälen und Töten anderer Menschen so normal war wie Essen und Trinken.<br />

Leise sagte er:<br />

„Weißt du, ich glaube, ich werde nie verstehen, wie Carrie und ihre Freunde mir und den<br />

anderen jungen Männern, die sie vorher, vor mir, entführt haben, all das antun konnten. Ich<br />

kapiere es nicht.“<br />

Kelly seufzte. „Einem gesunden Menschen fällt es schwer, zu begreifen, wie jemand zu so<br />

was in der Lage ist. Ein Psychologe kann es medizinisch erklären, das heißt aber nicht, dass<br />

wir es rechtfertigen können. Wir können nur rein funktionell begreifen und erklären, wie die<br />

Gehirne solcher Menschen funktionieren. Gefühlsmäßig sind wir nicht in der Lage, etwas<br />

Derartiges zu verstehen. Es gibt seit einiger Zeit neue Erkenntnisse im Bereich der Pathologie<br />

des menschlichen Hirnes. Es gab eine groß angelegte Untersuchung der biologischen Fakto-<br />

ren an siebzig Gehirnen, von denen vor der Untersuchung nicht bekannt gegeben wurde, zu<br />

wem sie gehörten. Bei dieser Untersuchung wurde sowohl Genetik als auch Gehirnpathologie<br />

berücksichtigt. An fünf Hirnen wurden Schäden am orbital-frontalen Cortex, dieser Hirnbe-<br />

reich liegt direkt über den Augen und ist für Emotionen und Gefühle zuständig, festgestellt.<br />

Hier wurde die Risikoallel Monoaminooxidase-A, ein Enzym, kurz MAO-A Gen, in großer<br />

Konzentration nachgewiesen. Dieses sogenannte Risiko Gen sorgte dafür, dass das Gehirn der<br />

Betroffenen während der Entwicklung in zu viel Serotonin gebadet wurde. Im Erwachsenen-<br />

alter ist so ein Gehirn unempfänglich für die beruhigende Wirkung des Serotonins. Damit ist<br />

ein gravierender Schaden angerichtet und irreparabel. Diese fünf Hirne wurden nach der Un-<br />

tersuchung als die von Charles Manson, Ted Bundy, John Wayne Gacy, Dennis Rader und<br />

Richard Ramirez bekannt gegeben. Diese Namen sagen dir etwas?“<br />

Shawn hatte aufmerksam zugehört. Jetzt erklärte er: „Manson und Bundy ja, Gacy sagt<br />

mir auch etwas, aber Rader und Ramirez ... nein.“<br />

„Rader ist besser bekannt unter seinem Namen BTK Killer. Er hat zwischen 1974 und<br />

1977 mindestens sieben Menschen entführt und zu Tode gequält. Und Ramirez ist unter dem<br />

Namen Night Stalker bekannt geworden. Er hat im Jahre 1985 in Kalifornien vierzehn Men-<br />

schen gekillt und wartet zur Zeit in der Todeszelle auf seine Hinrichtung.“<br />

Shawn schüttelte es. „Was Amerika doch für nette Zeitgenossen hervor bringt.“<br />

„Das Auftreten von psychopathischen Serienkillern ist kein rein amerikanisches Phäno-<br />

men, auch, wenn das gerne mal behauptet wird. Es gibt sie überall. Deutschland steht in der<br />

zweifelhaften Rangliste der Serientäter an zweiter Stelle, gefolgt von England, Frankreich und<br />

Australien. Es gibt allerdings begünstigende Faktoren, die so nur in den Staaten in Erschei-<br />

nung treten, unter anderem die Waffenverliebtheit der US Bürger. Um zu ergründen, warum<br />

Amerika mit einem großen Prozentanteil diese Liste anführt, werden unter anderem so um-<br />

fangreiche wissenschaftliche Untersuchungen angestellt. Je mehr man über das frühkindliche<br />

556


Verhalten dieser Menschen weiß, desto eher kann man Präventionen ergreifen, um zu verhin-<br />

dern, dass diese Kinder später zu Serientätern werden. Eigenartig ist, dass dreiundachtzig Pro-<br />

zent der Täter Weiße sind. In siebzig Prozent der Fälle sind sie unter dreißig.“<br />

„So wie Carrie.“<br />

Kelly stimmte dem jungen Schauspieler zu. „So wie Carrie. Ich würde um alles Wetten<br />

was ich besitze, dass bei ihr früh Verhaltensauffälligkeiten bemerkt wurden.“ Kelly fiel auf,<br />

dass Shawn wiederholt gähnte. Liebevoll sagte sie: „Lass uns die Einführung in die Erfor-<br />

schung von Psychopathen morgen fortsetzen. Du bist müde.“<br />

„Das bin ich. Ich möchte schlafen und nie mehr etwas über Psychopathen hören.“ Er lach-<br />

te freudlos. „Ich weiß viel zu viel über ihr Verhalten.“<br />

„Das stimmt. Versuch zu Schlafen. Gute Nacht.“<br />

„Gute Nacht. Ich ... Schlaf gut.“<br />

Kelly gelang es nicht sofort, einzuschlafen. Doch ruhige Atemzüge verrieten ihr, dass we-<br />

nigstens Shawn schnell eingeschlafen war.<br />

„Wie lange fahren wir noch?“<br />

„Sind wir heute Morgen ungeduldig?“<br />

*****<br />

Shawn musste grinsen. „Nein, wie kommst du darauf?“ Er sah aus dem Fenster und ge-<br />

noss die wunderschöne Landschaft. Dichter Baumbewuchs machte deutlich, dass das Gebiet,<br />

durch das sie fuhren, dank einer Reihe von wunderschönen Billabongs genügend Feuchtigkeit<br />

erhielt. Es war zwar nicht gerade mit Regenwald, aber mit großen Eukalypten, Akazien, Mul-<br />

ga und vielen anderen Büschen und Bäumen bewachsen. Da sie früh aufgebrochen waren, ließ<br />

Kelly sich Zeit. Sie hatten es nicht eilig, selbst wenn Shawn etwas ungeduldig war. Kelly hat-<br />

te ihm am Morgen von den wundervollen Felsmalereien am Nourlangie Rock erzählt, die von<br />

Fachleuten auf ein Alter von zwanzig Tausend Jahren geschätzt wurden. Daraufhin war der<br />

junge Mann Feuer und Flamme gewesen, sich den Nourlangie Rock, nordöstlich von Yellow<br />

Water gelegen, anzuschauen. Gerade kamen sie an einem wunderschönen Billabong vorbei.<br />

Kelly stoppte den Wagen und sie stiegen aus. Sie standen einen Weile am Ufer des Billabong<br />

und Shawn sog den Frieden und die Ruhe um sie herum regelrecht in sich auf.<br />

„Es ist so unglaublich friedlich hier draußen. Ich schätze, wenn wir in größere Städte<br />

kommen, werde ich Ohrschützer brauchen.“ Er schmunzelte.<br />

„Ja, das geht mir jedes Mal so. Wenn ich längere Zeit im Outback oder raus aus Sydney<br />

war, laufe ich die ersten Tage zurück, zuhause mit einem dicken Kopf herum. Sydney ist eine<br />

Millionenstadt. Wenn auch viele Stadtteile am Wasser liegen und dadurch sauberere Luft auf-<br />

zuweisen haben als die Stadtgebiete, die im Landesinneren liegen, kommt es mir jedes Mal so<br />

557


vor, als würde ich im Smog und Lärm eingehen. Dabei ist Sydney nachweislich von der Luft-<br />

verschmutzung her eine der saubersten Metropolen der Welt.“<br />

Shawn sah gedankenverloren auf das klare Wasser hinaus. „Ich kenne Sydney nicht gut.“<br />

Er lachte. „Was heißt nicht gut, eigentlich kenne ich Sydney gar nicht.“<br />

Kelly kam augenblicklich ins Schwärmen. „Ich habe so viele Großstädte gesehen, London,<br />

Paris, Rom, New York, Los Angeles, Bangkok, Hongkong, Rio, Madrid, Dubai, Delhi, ich<br />

weiß gar nicht, wie viele. Aber keine Stadt reicht nur annähernd an die Schönheit Sydneys<br />

heran. Durch Port Jackson hat Sydney zu seiner normalen Küstenlinie von über 60 Kilome-<br />

tern weitere fast 320 Kilometer Küste ins Landesinnere hinein zu bieten. Zusätzlich gibt es<br />

noch die Botany Bay, weitere 60 Kilometer Küste, und von der Botany Bay ausgehend den<br />

Georges River mit seinen vielen Seitenarmen. Du solltest dir ein paar Tage Zeit nehmen,<br />

Sydney in aller Ruhe zu besuchen. Unsere Strände sind legendär. Bondi Beach ...“ Kelly<br />

schnalzte mit der Zunge. „Surfen wie im Paradies, Shawn.“ Sie lachte. „Oder Manly. Da hast<br />

du gleich zwei Strände in einem Stadtteil. Den großen, fast 2 Kilometer langen Strand auf der<br />

Meeresseite und den kleinen, geschützter liegenden Strand auf der der Stadt zugewandten<br />

Seite.“<br />

Shawn lachte vergnügt. „Wenn du mal die Nase voll hast von deinen Patienten solltest du<br />

Reiseführerin werden. So, wie du deine Wahlheimat anpreist, bist du mehr als gut geeignet.“<br />

Die Psychologin grinste und deutete nach vorne. „Und als gute Reiseführerin zeige ich dir<br />

jetzt die berühmteste Kunstgalerie Australiens.“, meinte sie vergnügt.<br />

Shawn folgte ihrem Blick und sah vor ihnen in einiger Entfernung ein kleines Felsmassiv<br />

in die Höhe ragen. „Das ist es?“, fragte er gespannt.<br />

was?“<br />

„Ja, das ist Nourlangie Rock.“<br />

Shawn schaute aufmerksam aus den Wagenfenstern. „Der wirkt von hier größer als er ist,<br />

„Ja, wir sehen direkt auf die Längsseite. Alles in allem ist der Fels nur etwas mehr als 1,5<br />

Kilometer lang. Wenn man ihn umwandern will muss man drei bis dreieinhalb Stunden ein-<br />

planen. Ich hoffe du bist fit genug.“<br />

„Absolut. Ich freue mich auf die Bilder.“<br />

Sie hatte den Parkplatz erreicht und stiegen aus dem Wagen.<br />

„Fotoapparat? Wasser? Hut wirst du nicht brauchen, das meiste ist im Schatten.“<br />

„Ja, alles mit. Komm.“<br />

Lachend marschierte Kelly los und sie folgten dem Pfad, der durch dichten Wald direkt<br />

auf den Felsen zu führte. Endlich standen sie vor der hoch aufragenden Felswand. Sie hielten<br />

sich an den Wanderweg, der zum Teil über gut ausgebaute Holzplanken am Fels entlang führ-<br />

te. Kleine Hinweistafeln zu den Felsmalereien waren überall aufgestellt, die die Bedeutung<br />

der Zeichnungen erläuterten. Shawn war begeistert.<br />

558


„Wenn man sich überlegt, wie alt das alles ist!“, staunte er. Die Zeichnungen waren un-<br />

glaublich gut erhalten.<br />

„Naja, die wurden zuletzt von einem Aboriginekünstler in den Sechzigern nachgezeich-<br />

net. Sie werden ab und zu restauriert. Die Farbe würde sonst verblassen. Besonders bei den<br />

Zeichnungen an der Wetterseite.“, erklärte Kelly dem jungen Mann.<br />

Shawn machte viele Fotos der zum Teil erstaunlich detailgetreuen Malereien. Er war von<br />

der Kunstfertigkeit der Zeichnungen überrascht. Besonders die sogenannte Röntgentechnik<br />

hatte es ihm angetan.<br />

„Die haben vor zwanzig Tausend Jahren garantiert noch nichts über die Anatomie von<br />

Tieren gewusst und trotzdem haben sie so präzise gewusst, wo was hingehört. Unglaublich.“<br />

Kelly konnte ihm nur zustimmen. „Ja, die Detailtreue ist faszinierend. Das waren echte<br />

Künstler, die diese Bilder erschaffen haben.“<br />

Einige Zeichnungen zeigten Tiere, andere zeigten Szenen aus der Mythologie der Abori-<br />

gines. Auf den kleinen Hinweistafeln war beschrieben, was die einzelnen Zeichnungen bedeu-<br />

teten. Zusammen mit vielen anderen Besuchern, arbeiteten sie sich langsam vor. Shawn hatte<br />

einen guten Blick und entdeckte Kleinigkeiten in den Bildern, auf die er Kelly aufmerksam<br />

machte. So kamen sie nur langsam voran, aber das machte beiden nichts aus. Sie hatten alle<br />

Zeit der Welt und diese Stätte hier war etwas Besonderes.<br />

Gegen Mittag hatten sie die nördliche Spitze des Felsmassivs erreicht und Kelly fragte:<br />

„Wollen wir von hier erst einmal nach oben steigen?“ Sie deutete auf einen gut begehbaren<br />

Weg, der sich an der flach abfallenden Hangseite hinauf schlängelte.<br />

„Ja, gerne, von dort oben muss man einen wundervollen Blick auf das Umland haben.“<br />

Sie machten sich also auf den Weg und erreichten eine halbe Stunde später die Kuppe des<br />

Felsmassivs. Hier legten sie eine Pause ein, tranken nach der Anstrengung des Aufstiegs Was-<br />

ser und setzten sich einen Moment in die Sonne.<br />

„Die Aussicht ist hinreißend.“, meinte Shawn verträumt. Er empfand die Weite, Einsam-<br />

keit und Ruhe, die das unendliche Land unter ihnen ausstrahlte abermals als so friedlich und<br />

entspannend, dass er merkte, wie in diesem Augenblick aller Schmerz von ihm abfiel und<br />

seine Seele sich frei machte von allem Druck, aller Trauer und Angst, die auf ihr lastete. Kelly<br />

beobachtete den jungen Mann aufmerksam und merkte, wie er regelrecht weich wurde. Sie<br />

lächelte zufrieden.<br />

„Das ist es, was gemeint ist, wenn man von Seele baumeln lassen spricht ...“<br />

Shawn sah die junge Frau an und meinte ruhig: „Es ist fast unheimlich, wie präzise du<br />

weißt, was gerade in mir vor geht.“<br />

559


Kelly schoss das Blut in die Wangen. „Oh ... Das gehört zu meinem Beruf, Shawn. Ich<br />

muss spüren, wissen, was in meinen Patienten vor geht. Mein Auge ist darauf geschult, meine<br />

Sinne darauf trainiert, die Stimmung meiner Patienten einzufangen. So, wie dein Auge darauf<br />

trainiert ist, gefärbte Haare und künstliche Brüste zu erkennen. Wenn ich das nicht mitbe-<br />

kommen würde, wäre ich eine schlechte Therapeutin.“ Sie lächelte. „Ich gebe zu, dass es mir<br />

bei dir besonders gut gelingt. Du bist für einen geschulten Beobachter wie ein offenes Buch.<br />

Du bist ein großartiger Schauspieler, aber in der Realität leicht zu durchschauen. Besonders,<br />

wenn man dich ... liebt.“<br />

Shawn zog die Augenbrauen in die Höhe und lachte freudlos. „Ja, vermutlich hast du<br />

Recht. Ich konnte mich im wahren Leben nie gut verstellen. Vermutlich bin ich deswegen<br />

Schauspieler geworden. Da kann ich problemlos jemand anderes sein. Etwas, was mir in der<br />

Realität nie gelungen ist.“ Er ließ den Blick gedankenverloren über das Land schweifen. Kelly<br />

rückte etwas dichter an Shawn heran und legte ihm einen Arm um die Taille.<br />

„Warum solltest du dich verstellen, Schatz? Du bist ein wundervoller Mensch. Du hast es<br />

wahrhaftig nicht nötig, jemand oder etwas anderes zu sein als du bist. Du bist perfekt so, wie<br />

du bist.“<br />

Shawn lachte leise. „Du bist voreingenommen, deine Meinung zählt nicht.“, erklärte er<br />

schmunzelnd. Er deutete ein Stück nach Westen. „Das da hinten, ist das Wasser?“<br />

„Ja, das ist Anbangbang Billabong. Da werden wir auf dem Rückweg stoppen.“<br />

Sie blieben noch eine Weile eng nebeneinandersitzen, dann stiegen sie wieder hinunter.<br />

Der Besucheransturm war merklich weniger geworden. Diejenigen, die am Morgen zusam-<br />

men mit Shawn und Kelly den Rundweg begonnen hatten, waren weiter gezogen und neue<br />

Besucher hielten sich in Grenzen. So wurde der Rückweg angenehmer und leerer. An einer<br />

Stelle, an der abermals einige Hinweistafeln erklärten, was die Zeichnungen an der Felswand<br />

bedeuteten, machte Kelly ein Foto von Shawn.<br />

„Damit du beweisen kannst, dass du hier warst.“, meinte sie lachend.<br />

Shawn verzog das Gesicht. „Das sollte ich nicht so breit treten ... Vergiss nicht, ich bin<br />

krankgeschrieben.“<br />

„Nein, nicht krank, sondern arbeitsunfähig. Das ist etwas anderes.“<br />

Sie gingen weiter und nach fast fünf Stunden erreichten sie den Startpunkt des Rundgangs.<br />

Zufrieden und glücklich machten sie sich auf den Rückweg zum Parkplatz. Plötzlich blieb<br />

Kelly stehen und deutete auf einen Eukalyptusbaum vor ihnen. „Sieh mal dort oben.“<br />

Shawn folgte ihrem Blick und riss die Kamera hoch. Dort oben im Baum saß ein Koala<br />

und sah interessiert zu ihnen hinunter. Shawn machte einige Fotos und erklärte: „Das sind<br />

zauberhafte kleine Kerlchen. Wie du so was alles mit bekommst wird mir immer schleierhaf-<br />

ter. Ich fange an mich zu fragen, ob du mehrere Augenpaare hast, versteckt im Haar, mit de-<br />

nen du deine Umgebung scannst.“<br />

560


Kelly lachte so laut auf, dass der kleine Beutelbär über ihnen erschrocken zusammenzuck-<br />

te. „Nein, ich schwöre, ich bin nur mit einem Paar Augen gesegnet. Aber ich behalte die Um-<br />

gebung im Auge, sonst würde mir zu viel entgehen. Du würdest ja nicht mal einen Elefanten<br />

zehn Schritte entfernt im Gebüsch stehen sehen.“<br />

Shawn verzog das Gesicht und lachte gefährlich leise auf. „Na warte, du kleine Hexe.“,<br />

schnaufte er und packte Kelly blitzschnell um die Taille. Ehe sie sich versah, hatte er sich die<br />

junge Psychologin über die Schulter geworfen und sah sich nach einer Möglichkeit um, sie<br />

über einen Ast zu hängen oder in einen Billabong zu werfen. „Wo ist ein krokodilverseuchter<br />

Teich, wenn man ihn braucht?“, fragte er gespielt wütend. Vor ihnen tauchte eine Gruppe<br />

Besucher auf und Shawn schnaufte: „Na, da hast du noch einmal Glück ...“<br />

Er brach mitten im Satz ab und Kelly konnte spüren, wie er schlagartig steif wurde und<br />

heftig zu zittern begann. Er ließ die Psychologin von seiner Schulter gleiten und starrte in die<br />

Gruppe von Menschen, die auf sie zu kamen. Kelly hörte, wie er hastig und viel zu flach ein<br />

und aus atmete.<br />

„Shawn, was ist?“, fragte sie besorgt. Doch als sie einen Blick zu der Gruppe hinüber<br />

warf, die lachend und sich unterhaltend auf sie zu kam, wusste sie, was los war. Eine der<br />

Frauen in der Gruppe war zierlich, hatte hüftlange, dunkle, leicht gelockte Haare. Shawn<br />

stand wie gelähmt da und realisierte nur langsam, dass es nicht Carrie war, die dort auf ihn zu<br />

kam. Er zitterte unkontrolliert am ganzen Leib.<br />

„Baby, entspanne dich. Sie ist es nicht. Komm, lass uns weiter gehen, okay.“ Kelly zog<br />

den jungen Mann an sich und dieser atmete zitternd tief ein.<br />

„Mir ist ... schlecht ...“, flüsterte er fix und fertig.<br />

Sie gingen an der freundlich grüßenden Gruppe vorbei und als diese außer Sichtweite wa-<br />

ren, zog Kelly den Schauspieler dicht an sich und hielt ihn im Arm, bis sie spürte, dass er sich<br />

langsam entspannte.<br />

Die junge Frau hörte Shawn trocken schlucken. Hastig macht er sich von ihr los und<br />

wankte ins Gebüsch seitwärts vom Weg. Ohne zu zögern folgte Kelly ihm und kam gerade<br />

rechtzeitig um zu sehen, dass Shawn auf die Knie sank und sich keuchend übergab. Sofort<br />

war sie bei ihm und hielt ihm sanft den Kopf. Schnell fing sich der Schauspieler und rappelte<br />

sich wieder auf die Füße. „Tut ... tut mir leid ... Du hättest nicht ...“<br />

Kelly unterbrach ihn ruhig. „Hey, sei still, okay. Hier hast du Wasser, spül dir den Mund.“<br />

Mit Tränen in den Augen griff Shawn nach dem Wasser, welches Kelly ihm reichte und<br />

spülte sich so gründlich es ging den Mund aus. Anschließend machten sie sich schweigend an<br />

die letzten paar Meter zu ihrem Fahrzeug. Als die Tür des Geländewagens hinter ihnen zu-<br />

schlug seufzte Shawn leise.<br />

561


„Gott, ich dachte, es sei Carrie ...“, flüsterte er erschüttert. „Ich war wie gelähmt.“ Er lehn-<br />

te den Kopf an und schloss müde die Augen.<br />

„Bei all dem, was diese Frau dir angetan hat, ist es kein Wunder, wenn du so heftig rea-<br />

gierst. Es wäre ungewöhnlich, wenn es anders wäre, Schatz.“, erklärte Kelly sanft und legte<br />

Shawn die Hand auf den Arm. Bedrückt schaute der junge Mann zu Kelly hinüber.<br />

„Du hast für alles, was ich mache, eine Entschuldigung, was?“, fragte er.<br />

„Für fast alles. So, vergiss diese unangenehme Begegnung. Wir werden zum Anbangbang<br />

fahren und dort kannst du mich den Krokodilen zum Fraße vorwerfen.“<br />

Sie startete den Motor und fuhr langsam vom Parkplatz. Schon kurze Zeit später stoppte<br />

sie den Wagen und erklärte: „So, noch einmal ein kleines Stück Fußmarsch. Geht es denn?“<br />

„Ja, auf jedem Fall. Ich werde nicht zulassen, dass diese Bitch mir den Tag versaut.<br />

Schlimm genug, dass sie mir jeden Abend vermiest.“ Entschlossen machte er sich gerade und<br />

stieg aus dem Wagen. Er sah Kelly auffordernd an und diese nickte.<br />

„So ist es richtig. Die Einstellung ist gesund. Sie wird dir helfen, nicht mehr in Panik zu<br />

geraten, wenn du eine Frau siehst, die Carrie ähnelt. Tritt der Bitch gedanklich in den Hin-<br />

tern.“<br />

Shawn konnte ein kleines Lachen von sich geben. „Was würde ich geben, wenn ich ihr<br />

nicht nur gedanklich in den Hintern treten könnte.“ Kelly musste ebenfalls lachen.<br />

„Das wirst du eines Tages können. Wenn ich etwas dazu beitragen kann, werde ich es tun.<br />

Ich halte sie für dich fest, einverstanden?“<br />

Shawn lachte. Er spürte, wie ihn dieses Lachen befreite. „Okay, ich nehme dich beim<br />

Wort.“ Dankbar legte er einen Arm um Kellys Schulter und diese revanchierte sich, in dem<br />

sie Shawn den Arm wie so oft um die Taille legte. So schlenderten sie zum Wasser hinunter.<br />

Ein Schild am Ufer wies darauf hin, dass sich hier Krokodile aufhalten konnten. Shawn ver-<br />

zog das Gesicht.<br />

„Kein Bad?“<br />

„Kein Bad!“<br />

„Zu schade. Naja, dann später im Hotelpool.“<br />

Es hatte lang nicht geregnet und dementsprechend zusammengeschrumpft war der Billa-<br />

bong. Kelly und Shawn umrundeten ihn einmal und waren vierzig Minuten später am Wagen<br />

zurück.<br />

„Klein aber fein.“, meinte Shawn und warf durch die Büsche noch einen letzten Blick auf<br />

den kleinen Tümpel. Dann sah er zur Uhr. „Oh, fast 17 Uhr, kein Wunder, dass mein Magen<br />

so laut knurrt.“<br />

„Echt? So spät? Oh, Shawn, das tut mir leid. Du musst halb verhungert sein. Ich habe<br />

nicht damit gerechnet, dass unser Rundgang so lange dauert, sonst hätte ich uns Sandwiches<br />

562


eingepackt. Ich beeile mich, damit wir schnell zurückkommen.“ Sie warf den Wagen an und<br />

gab Gas. Dadurch, dass es bis zum Highway über Gravel Roads ging, brauchten sie für den<br />

Rückweg fast eine Stunde. Shawn war still und hing irgendwelchen Gedanken nach. Die Psy-<br />

chologin ließ ihn in Ruhe. Schweigen musste nicht zwangsläufig mit negativen Gedanken<br />

zusammenhängen. Shawn hatte ein Recht auf eigene Gedanken.<br />

Erst, als sie das Resort endlich erreicht hatten, wurde der Schauspieler redseliger. „Das<br />

war ein so wunderschöner Ausflug, es ist nicht zu glauben. Jedes Mal wenn ich denke, du hast<br />

mir das Schönste gezeigt, kommst du mit solchen Wundern an. Ich könnte nicht einmal unter<br />

Folter sagen, was ich bisher am Schönsten gefunden habe, ehrlich.“ Er sah Kelly an und frag-<br />

te: „Wollen wir gleich zum Restaurant rüber? Oder willst du dich erst umziehen? Ehrlich, mir<br />

hängt der Magen in den Kniekehlen.“<br />

„Wenn du es noch fünf Minuten überlebst, würde ich mich gerne umziehen und etwas<br />

frisch machen.“<br />

Shawn seufzte theatralisch. „Fünf Minuten.“ Er folgte Kelly in die Cabin und sie zogen<br />

sich schnell um. Shawn schrubbte sich die Zähne, beide wuschen sich flüchtig und sechs Mi-<br />

nuten später waren sie auf dem Weg zum Restaurant. Sie waren erstaunt, wie leer es hier an<br />

diesem Abend war. Schnell hatten sie einen Tisch gefunden, der ihnen zusagte und gleich<br />

darauf kam der Kellner und sie konnten bestellen. Das Essen kam schnell, doch erst als die<br />

Teller deutlich geleert waren, kam ein Gespräch auf.<br />

*****<br />

Später stand Shawn unter der Dusche in ihrer Cabin und hielt sein Gesicht in den warmen<br />

Wasserstrahl. Er spülte sich die Haare aus und wollte nach der Seife greifen, als das Bild einer<br />

anderen Dusche durch seinen Verstand zuckte. Einer Dusche, in der er monatelang jeden Tag<br />

gestanden hatte. Seine Hand blieb in der Luft hängen und er sah sich plastisch vor sich selbst<br />

stehen, blutige Striemen auf Rücken und Po, am ganzen Körper zitternd, keuchend vor<br />

Schmerzen, als das warme Wasser über die aufgeplatzte Haut lief. Er sah, wie er schluchzend<br />

auf die Knie sank und sich gegen die Duschwand lehnte. Wie Brett kam, um ihn abzuholen.<br />

Nur Sekunden dauerte dieses Bild, doch es reichte aus, um ihm hier, unter der anderen Du-<br />

sche im Schutze Kellys, eine heftige Gänsehaut über den Rücken zu jagen. Energisch schüt-<br />

telte er den Kopf und war zurück in der Realität. Aus dem Nebenraum hörte er Kelly rufen:<br />

„Sag mal, was machst du da eigentlich? Bist du unter der Dusche eingeschlafen?“<br />

Erschrocken zuckte der Schauspieler zusammen. „Nein ... Bin gleich fertig, nur noch<br />

schnell einseifen.“ Minuten später kam er mit einem Handtuch um die Hüfte ins Schlafzim-<br />

mer. Kelly sah ihm fragend entgegen.<br />

„Was hast du da getrieben? Du warst fast zwanzig Minuten unter der Dusche.“<br />

563


Shawn riss die Augen auf. „Was, so lange? Ich habe ... gar nichts, muss wohl in Gedanken<br />

gewesen sein. Gar nichts ...“ Er war verwirrt. Ihm kam es vor, als wären es nur Sekunden ge-<br />

wesen, in denen er den Flash gehabt hatte. Jetzt erst wurde ihm klar, dass es länger als nur<br />

Sekunden gewesen sein mussten, in denen er wie paralysiert unter der Dusche gestanden hat-<br />

te. Der junge Mann überlegte kurz, ob er Kelly davon erzählen sollte, ließ es aber.<br />

Kelly warf dem Schauspieler noch einen leicht besorgten Blick zu, bevor sie endlich auch<br />

ins Bad verschwand. Als sie unter der Dusche stand, sah sie sich unwillkürlich kurz um. Als<br />

sie merkte, was sie da tat, schüttelte sie den Kopf. „Mach dich nicht verrückt, Kelly, er kann<br />

wohl mal in Gedanken sein ohne dass du Panik schiebst.“<br />

Als sie etwas später vor dem Spiegel stand und sich die langen Haare durch kämmte, über-<br />

legte die Therapeutin, wie es weiter gehen sollte. Heute war Dienstag, sie hatten die Cabin<br />

also noch für zwei Nächte. Während Kelly mit einigen verknoteten Strähnen kämpfte machte<br />

sie einen Plan. Morgen würden sie noch einmal in den Südosten hinunter fahren, denn Kelly<br />

wollte Shawn auf jedem Fall noch die Twin Falls zeigen. Am Donnerstag würden sie sich auf<br />

den Weg nach Darwin machen. Kelly hatte vor, quer durch den Park zu fahren, nicht auf dem<br />

Highway. So konnte sie Shawn noch einige schöne Impressionen des Parks bieten, bevor sie<br />

später im Norden auf den Arnhem Highway stoßen würden. Auf diesem war es dann nur noch<br />

ein Katzensprung von 150 Kilometern bis Darwin.<br />

In der Stadt mussten sie sich als erstes um die Flugtickets nach Cairns und um einen neuen<br />

Leihwagen kümmern. Kelly überlegte. Für die zirka 500 Kilometer von Cairns nach Shute<br />

Harbour, von wo aus sie zum Riff hinaus fahren wollten, sollten sie eine Woche einplanen,<br />

um sich an der Küste Sehenswürdigkeiten anschauen zu können. Die knappen 250 Kilometer<br />

zurück nach Townsville, von wo aus sie weiter nach Perth fliegen konnten, um Monkey Mia<br />

zu erreichen, waren kein Problem, die würden sie non Stopp zurücklegen. Perth - Monkey<br />

Mia waren noch einmal gute 700 Kilometer ohne Sehenswürdigkeiten auf der Strecke. Ein<br />

Tag hin, ein Tag zurück und in Monkey Mia drei Tage ... Alles in allem war der Ausflug bald<br />

zu Ende, sie würden in spätestens drei Wochen in Eildon sein. Kelly starrte in den Spiegel vor<br />

sich und atmete tief durch. In Eildon zu sein hieß nicht, dass die Therapie abgeschlossen war,<br />

soviel war sicher. Soweit war Shawn noch lange nicht. Doch tickte ihre gemeinsame Zeit<br />

langsam dem Ende entgegen, das war sicher. Die junge Frau schnaufte angespannt. Nein, da-<br />

ran wollte sie noch nicht denken. Entschlossen legte sie die Bürste aus der Hand und schlüpfte<br />

in einen frischen Slip und in ein sauberes T-Shirt für die Nacht.<br />

Als sie ins Schlafzimmer zurückkam lag Shawn entspannt auf dem Bett und schnarchte<br />

leise vor sich hin. Er hatte die Zudecke zur Seite geklappt und schlief tief und fest. Kelly lä-<br />

chelte verliebt. Er sah so friedlich aus, sie wünschte nichts mehr, als dafür sorgen zu können,<br />

564


dass er immer so entspannt und zufrieden sein konnte. Ein Blick auf den Wecker am Bett<br />

zeigte ihr, dass es nach halb 10 Uhr war. Shawn zu wecken und dazu zu bringen, von der Ent-<br />

führung zu erzählen, machte wenig Sinn. Kelly war selbst müde. Der Tag war anstrengend<br />

gewesen. So entschied sie sich, Shawn für diesen Abend in Frieden zu lassen. Vorsichtig und<br />

liebevoll deckte sie ihn zu und schlüpfte unter ihre Zudecke. Sie löschte das Licht und drehte<br />

sich auf die Seite, zu Shawn herum. Obwohl sie im Dunkeln nichts mehr sehen konnte, fiel es<br />

ihr leicht, sich sein Gesicht vor ihr geistiges Auge zu rufen. Die Gesichtszüge würde sie nie<br />

wieder vergessen. Die ebenmäßigen, schneeweißen Zähne, die wundervollen grünen Augen,<br />

seine Grübchen ... Kelly schüttelte genervt den Kopf.<br />

„Verdammt noch mal, reiß dich zusammen, Jackson.“, schnauzte sie sich gedanklich an.<br />

Energisch rollte sie sich auf die andere Seite und schloss die Augen.<br />

47) Bilder im Kopf<br />

Lasst die Erinnerung uns nicht belasten mit dem Verdruss, der vorüber ist.<br />

William Shakespeare<br />

Gegen 11 Uhr am kommenden Morgen quälten sich Kelly und Shawn hinter einem Ge-<br />

ländewagen her, der beinahe im Schritttempo vor ihnen auf dem Weg zum Twin Fall fuhr.<br />

Die Psychologin wurde allmählich ungeduldig.<br />

„Das kann doch wohl nicht wahr sein, verdammt noch mal. Rechts ist das Gaspedal, du<br />

Penner!“, schimpfte sie verärgert, als der unmittelbar vor ihnen fahrende Wagen noch lang-<br />

samer wurde. Sie hatte keine Chance, den unsicheren Fahrer auf der unbefestigten Straße zu<br />

überholen. So mussten sie sich weiter hinter dem Wagen her quälen, bis sie endlich den Park-<br />

platz erreicht hatten. „Meine Güte, er hätte den Wagen auch schieben können.“, fluchte die<br />

Therapeutin ungehalten.<br />

„Reg dich nicht auf, Baby, das bringt nichts.“, meinte Shawn ruhig.<br />

„Hast Recht. Aber wir haben viel Zeit vergeudet! Das ärgert mich.“ Sie griff nach Son-<br />

nenhut, Rucksack und Wasserflasche und sah Shawn an. „Fertig?“<br />

„Ja, auf geht’s.“<br />

Sie folgten dem Wanderweg, der vom Parkplatz aus in das bewaldete Gebiet hinein führte.<br />

Schnell kamen sie ins Schwitzen, denn Kelly hatte geraten, Jeans anzuziehen, nicht die kurzen<br />

Hosen. Als sie sich über den zum Teil schmalen Wanderweg vorwärts kämpften, wusste<br />

Shawn, wieso. Das Unterholz war hier dicht und in kurzen Hosen hätten sie schnell Kratzer an<br />

den Beinen gehabt. Tiefer hinein in die Schlucht führte der Wanderweg und nach ungefähr<br />

einem Kilometer hatten sie das Ende derselben erreicht. Sie sahen sich um und Shawn war<br />

begeistert.<br />

565


„Gefällt es dir?“, fragte Kelly überflüssigerweise.<br />

Shawn strahlte. „Und wie. Es ist wunderschön. Schau dir nur diese Lichtspiele in den<br />

Bäumen an. Aber ... Hier ist der Wanderweg zu Ende, wie kommen wir weiter? Müssen wir<br />

klettern?“ Angesichts der langen Hosen und der feuchten Hitze ließ ihn diese Aussicht nicht<br />

gerade in Freudentaumel ausbrechen. Kelly lachte.<br />

„Nein, keine Bange. Wir werden mit einem kleinen Boot das letzte Stück gefahren.<br />

Schwimmen sollte man hier nur, wenn man lebensmüde ist, im Wasser können Salties lau-<br />

ern.“<br />

Sie marschierten weiter zu einem Anleger, an dem einige andere Touristen warteten. Nach<br />

wenigen Minuten kam aus dem hinteren Teil der Schlucht ein kleines Motorboot angefahren<br />

und nachdem die ersten Rückkehrer ausgestiegen waren, konnten Kelly und Shawn zusam-<br />

men mit den anderen Besuchern Platz nehmen.<br />

Schnell waren die kaum 750 Meter geschafft und sie konnten aussteigen. Kelly führte<br />

Shawn weiter und als sie um eine Ecke traten, sahen sie die Twin Falls in der Sonne vor sich<br />

liegen. Shawn riss überwältigt die Augen auf. Ein unglaublich weißer kleiner Sandstrand brei-<br />

tete sich vor ihnen aus. Im Hintergrund waren die steilen Felswände zu sehen, über die die<br />

Twin Falls in die Tiefe fielen. Der See, der sich hier gebildet hatte, lag vor ihnen und die Son-<br />

ne glitzerte auf seiner ruhigen Wasseroberfläche. Durch das tiefe Rot der umgebenden Fels-<br />

wände schimmerte das Wasser rotbraun. Am nördlichen Ende des Sees verjüngte sich die<br />

Schlucht und bildete einen engen Spalt.<br />

„Es ist unglaublich schön hier.“, stieß Shawn hervor. Er konnte sich gar nicht sattsehen.<br />

Sein Fotoapparat klickte und er machte ein Bild nach dem anderen. Irgendwann zog Kelly den<br />

Schauspieler mit sich in den Schatten der Felswand und hier setzten sie sich in den warmen,<br />

weichen Sand.<br />

Schweigend hockten sie nebeneinander, beobachteten einige extrem dumme Besucher, die<br />

trotz der eindeutigen Warnungen schwimmen mussten und genossen ansonsten die Aussicht<br />

und die vertraute Nähe des jeweils anderen. Bestimmt eine Stunde hockten sie so nebeneinan-<br />

der. Überlegend fragte Shawn:<br />

„Da kommen wir wohl nicht hinauf, was?“<br />

Kelly schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, Honey, tut mir leid, aber da führt kein Weg<br />

hinauf.“<br />

Shawn nickte verstehend. Nach einiger Zeit fragte die junge Frau: „Wie ist es, wollen wir<br />

uns langsam auf den Rückweg machen? Wenn wir einen solchen Schnarchlappen vor uns<br />

haben wie auf dem Herweg kann sich das hinziehen.“<br />

Shawn seufzte. „Ja, du hast wohl Recht. Dann lass uns mal aufbrechen.“<br />

566


Kelly ließ sich von ihm auf die Füße ziehen und grinste. „Nicht, bevor wir nicht ein nettes<br />

Foto von dir gemacht haben.“<br />

Ergeben hockte Shawn sich also noch einmal in den Sand und Kelly machte ein Foto von<br />

dem jungen Mann, mit den Twin Falls im Hintergrund.<br />

„So, das war es, hat gar nicht wehgetan.“, erklärte sie lachend.<br />

Shawn rieb sich über die Schultern. „Ein bisschen schon ...“, meinte er ernst.<br />

Kichernd setzten sie sich in Bewegung, zurück zu dem kleinen Motorboot, das gerade mit<br />

einer neuen Ladung Besuchern ankam. Sie stiegen ein und standen einen Augenblick später<br />

am Ausgangspunkt des Wanderweges zurück zum Parkplatz. Als sie ihren Wagen erreicht<br />

hatten, stöhnte Shawn erleichtert auf. „Man, es ist unglaublich schwül heute. Mir läuft das<br />

Wasser in die Schuhe.“<br />

Kelly war ebenfalls erleichtert, als sie den Wagen anwerfen konnte. Schnell schaffte die<br />

Air Condition es, die Temperatur im Wagen herunter zu kühlen. Sie hatten Glück, diesmal<br />

war kein anderes Auto vor ihnen auf der Piste. Für die knapp 12 Kilometer hinüber nach Jim<br />

Jim brauchten sie so nur halb so lange wie am Morgen. Zwar war der Weg an einigen Stellen<br />

extrem schlecht zu befahren, tiefe Lunken hatten sich in den in der Trockenzeit weichen Sand<br />

gefahren, doch für Kelly war das Fahren kein Problem. Nachdem sie die Jim Jim Falls pas-<br />

siert hatten, bat Shawn darum, fahren zu dürfen. Kelly hatte keine Einwände. So tauschten sie<br />

die Plätze und Shawn schaffte sie sicher zum Highway zurück. Gegen 16 Uhr erreichten sie<br />

ihre Cabin und Kelly machte schnell etwas zu Essen.<br />

Nachdem sie gegessen hatten fragte Kelly: „Was hältst du davon, wenn wir uns an den Bi-<br />

llabong setzten an unserem letzten Abend hier? Noch einmal einen Sonnenuntergang am Yel-<br />

low Water beobachten?“<br />

Bedrückt erwiderte Shawn: „Gute Idee. Dann wissen wir wenigstens, was wir ab Morgen<br />

vermissen werden.“<br />

Kelly trat zu ihm und nahm ihn in die Arme. „Komm, du wirst noch so viel Schönes se-<br />

hen, da werden dir die Sonnenuntergänge hier nicht so fehlen.“<br />

Shawn seufzte. Er drückte die junge Frau fest an sich und meinte leise: „Du hast Recht,<br />

aber die Vorstellung, hier fort zu müssen, macht mich traurig. Wer weiß, ob ich ...“ Er<br />

schnaubte leise. „Ach, vergiss es. Du hast Recht, es kommt noch so vieles, da muss ich nicht<br />

Trübsal blasen, nur, weil wir uns vom Kakadu verabschieden müssen.“<br />

Zögernd ließ er Kelly los und versuchte ein Lächeln. Das fiel noch etwas halbherzig aus,<br />

aber auf dem Weg zum Yellow Water hinunter besserte sich seine Stimmung extrem, als sie<br />

ans Ufer des kleinen Seitenarmes kamen und wie bestellt auf der anderen Uferseite ein großes<br />

Saltie im Uferschlamm lag und die letzten Sonnenstrahlen genoss.<br />

567


„Wow! Hast du dem Bescheid gesagt, dass wir kommen?“, fragte der Schauspieler grin-<br />

send und macht Fotos.<br />

„Ja. Es hatte Zeit, so konnte es meiner Bitte Folge leisten.“<br />

Das große Krokodil schien sich gestört zu fühlen, denn es ließ sich ins Wasser gleiten. Es<br />

warf Shawn und Kelly einen Blick zu der besagte: „Ihr nervt mich!“ Das Tier tauchte ab, kam<br />

noch einmal an die Wasseroberfläche zurück, um den Störenfrieden einen letzten, bösen Blick<br />

zuzuwerfen, bevor es endgültig auf Tauchstation ging. Shawn beobachtete das Wasser und<br />

zog Kelly ein kleines Stück weiter vom Ufer weg, brachte sich zwischen die junge Frau und<br />

das Wasser.<br />

„Man weiß ja nie ...“, meinte er verlegen, als er Kellys Blick bemerkte.<br />

Liebevoll lachte die Therapeutin und erklärte: „Du bist so wundervoll. Wie bist du nur je<br />

auf die Idee gekommen, du wärest ein Feigling?“<br />

„Hm ... Ich würde lieber mit einem Krokodil ringen als mit Carrie ...“<br />

Grimmig erwiderte Kelly: „Die übernehme ich nur zu gerne für dich.“<br />

Sie marschierten weiter und erreichten den Hauptarm. Hier machten sie es sich auf einer<br />

Bank am Ufer gemütlich und waren dankbar, dass außer ihnen kein weiterer Besucher hier<br />

war. Vor ihnen breitete sich die zauberhafte Szenerie des Yellow Water aus und ließ Shawn<br />

jeden Gedanken an Carrie fürs erste vergessen. Die Sonne stand tief und warf einen zart rosa<br />

Hauch über Himmel und Wasser. Am gegenüberliegenden Ufer kreischten Kakadus bei ihrem<br />

allabendlichen Kampf um die besten Schlafplätze in den Bäumen. Die ersten Flying Foxes<br />

machten sich auf den Weg zu ihren Futterplätzen und glitten lautlos über Kelly und Shawn<br />

hinweg. Das unheimliche Lachen eines Kookaburra hallte aus dem Wald hinter ihnen herüber.<br />

Irgendwo platschte es laut im Wasser. Die Bäume am Ufer warfen ihr Spiegelbild auf die still<br />

daliegende Wasseroberfläche. Die Geräusche der Natur um sie herum schienen mit zuneh-<br />

mender Dämmerung leiser zu werden. Als hielte die Natur im Moment des sterbenden Tages<br />

den Atem an, verstummten nach und nach die Geräusche, bis nur noch das Rascheln des Gra-<br />

ses und des Laubes an den Bäumen im Wind zu hören war. Um sie herum wurde es dunkel<br />

und der Himmel glühte in einem tiefen orangerot. Und nicht nur der Himmel glühte. Auch das<br />

Wasser vor ihnen schien für einige Minuten zu Brennen. Shawn war unbewusst dicht an Kelly<br />

heran gerückt und hatte ihr einen Arm um die Schultern gelegt. Ergriffen und eng aneinander<br />

geschmiegt saßen sie auf der Bank und beobachteten die Sonne, die tiefer sank und mit einem<br />

letzten Glühen verschwand.<br />

„Gott, ist das einmalig schön.“<br />

Shawns Stimme klang leicht belegt. Kelly konnte ihm nur zustimmen. Ihr waren vor Er-<br />

griffenheit Tränen über die Wangen gekullert, die sie verlegen fort wischte. Zwar konnte<br />

Shawn dies im Dunkeln nicht mehr sehen, trotzdem schämte sie sich. So von dem jungen<br />

568


Mann im Arm gehalten zu werden war gerade das Schönste gewesen was sie sich im Moment<br />

vorstellen konnte. Wie gerne hätte sie ihn noch dichter an sich gedrückt und geküsst. Genau<br />

genommen wollte sie ihn nie wieder loslassen. Das war zu diesem Zeitpunkt jedoch Wunsch-<br />

denken. Trotzdem konnte sie sich nicht losreißen. Schweigend hockten sie noch fast eine hal-<br />

be Stunde eng aneinander geschmiegt auf der Bank. Letztlich wurden die Mücken so lästig,<br />

dass sie sich wie abgesprochen fast zeitgleich erhoben.<br />

„Bevor wir leer gesaugt werden sollten wir uns verziehen.“, meinte Shawn leise und seiner<br />

Stimme war mehr als deutlich anzuhören, dass dies in diesem Moment das allerletzte war,<br />

was er wollte. Kelly ließ den Kopf hängen.<br />

„Ja, ist wohl besser.“<br />

Arm in Arm marschierten sie durch den Dschungel langsam ihrer Cabin entgegen.<br />

*****<br />

Eine halbe Stunde später lagen sie beide frisch geduscht und mit einem Glas Cola in der<br />

Hand auf dem Bett.<br />

„Wie geht es denn weiter?“, brach Shawn das Schweigen. Kelly stellte ihr leeres Glas auf<br />

den Nachtschrank. „Morgen werden wir quer durch den Park Richtung Nordwesten zum Arn-<br />

hem Highway fahren. Wir lassen uns Zeit, niemand drängt uns. Im Laufe des nachmittags<br />

werden wir Darwin erreichen und uns dort ein schönes Hotelzimmer für drei bis vier Tage<br />

suchen. Da wirst du in die Zivilisation eingeführt, Baby. Wir werden die Flüge nach Cairns,<br />

von Townsville nach Perth, von Perth nach Monkey Mia und von Perth nach Melbourne bu-<br />

chen und uns um Leihwagen vor Ort kümmern müssen. Ich habe mir überlegt, dass wir uns<br />

für die Fahrt von Cairns hinunter nach Shute Harbour eine Woche Zeit nehmen. So lernst du<br />

von der Küste noch einiges kennen. Wir werden versuchen, am Riff zu übernachten, mit viel<br />

Glück bekommen wir einen Raum. Dann fahren wir nach Townsville zurück und fliegen rü-<br />

ber nach Perth. Von dort sind es gute 700 Kilometer nach Monkey Mia. Dort sollten wir drei<br />

Tage einplanen. Tja, und dann ...“ Sie ließ in der Luft hängen, was dann kam. Shawn wusste<br />

es ohne Erklärungen. Rückkehr nach Eildon.<br />

Schon der Gedanke, nach Darwin zu fahren, machte den jungen Mann nervös. „Wie groß<br />

ist Darwin?“, fragte er angespannt.<br />

rum?“<br />

Kelly bemerkte seine Nervosität. Ruhig antwortet sie: „Ungefähr 120.000 Einwohner, wa-<br />

„Ich habe Angst davor. Wir waren so lange allein, draußen im Busch, im Zelt, in kleinen<br />

Motels, und nun kommt eine richtige Großstadt ... Ich weiß nicht, wie ich damit klar kommen<br />

werde ...“ Bedrückt verstummte er. Kelly lächelte aufmunternd.<br />

569


„Ich bin sicher, dass du gut damit klar kommen wirst. Ich bin bei dir und du wirst dich<br />

langsam an mehr Menschen und größere Städte gewöhnen müssen.“<br />

Shawn war klar, dass Kelly absolut Recht hatte. Er konnte nicht verhindern, dass bei dem<br />

Gedanken an eine solche Großstadt und ein großes Hotel mit vielen Menschen seine Hände<br />

feucht wurden. Er trank seine Cola in einem Zug aus, da sein Mund sich trocken anfühlte.<br />

Abrupt erhob er sich und trat an das Schlafzimmerfenster. Er starrte geistesabwesend in die<br />

Dunkelheit hinaus und so überraschend wie am Abend zuvor unter der Dusche geschah es:<br />

Von einer Sekunde zur anderen war er nicht mehr in der Cabin, sondern bei Carrie. Genauso<br />

plastisch und lebhaft wie beim ersten Mal. Er sah sich in dem winzigen Stahlkäfig hocken, der<br />

im Kerkerraum montiert war. In dem 120 mal 120 Zentimeter kleinen Käfig hatte er sich we-<br />

der ausstrecken noch groß bewegen können. Er erinnerte sich deutlich daran, wie er das erste<br />

Mal dort hineingesteckt worden war. Panisch wimmerte er auf.<br />

Kelly hatte den Schauspieler im Auge behalten, als er ans Fenster getreten war. Sie war si-<br />

cher, dass er etwas hatte sagen wollen. Besorgt bemerkte sie, dass er steif wurde und am gan-<br />

zen Körper zu zittern begann. Er keuchte auf und starrte ins Nichts. Erschrocken sprang die<br />

Therapeutin vom Bett und war mit ein paar schnellen Schritten bei dem jungen Mann. Dieser<br />

wimmerte gerade panisch auf.<br />

„Shawn, was ist los?“<br />

Sie trat dicht an den Erstarrten heran und nahm ihn in die Arme. Der Schauspieler zuckte<br />

heftig zusammen und klammerte sich zitternd an der Psychologin fest.<br />

fest.<br />

„Baby, was ist mit dir? Wo warst du gerade?“, fragte Kelly erneut und hielt Shawn sanft<br />

Schwer atmend schüttelte dieser den Kopf. „Ich ... ich war ... Es geht wieder ... Oh man,<br />

ich war dort ... Da gab es diesen Käfig ...“ Er verstummte. Kelly hielt ihn weiter fest im Arm<br />

und ließ ihre Finger sanft über seinen Rücken gleiten. Als sie spürte, dass er sich allmählich<br />

entspannte fragte sie leise:<br />

„Wie wäre es, wenn wir uns aufs Bett legen und du mir von diesem Käfig erzählst?“<br />

Shawn prustete nervös und nickte. „Ja ... Ich ... ich versuche es.“<br />

Eng umschlungen gingen sie zum Bett zurück und machten es sich dort bequem. Shawn<br />

zitterte noch leicht und Kelly zog die Zudecke über ihn. Sein Kopf ruhte in der gewohnten<br />

Haltung auf ihren Beinen und er überlegte, wo er anfangen sollte. Dann kamen die Worte aus<br />

ihm heraus gesprudelt.<br />

*****<br />

„Kannst du nicht aufpassen, du blöder Idiot?“<br />

570


Shawn zuckte heftig zusammen. Gerade war ihm die Kaffeetasse aus den Fingern ge-<br />

rutscht und der heiße Inhalt derselben hatte sich über Teresas Oberschenkel verteilt. Panisch<br />

stieß der Schauspieler hervor:<br />

„Es tut mir leid! Es tut mir leid! Das war keine Absicht. Sie ist mir aus der Hand ge-<br />

rutscht.“<br />

Teresa schnauft wütend. „Oh ja, das wird dir noch leidtun. Wie kann man denn so däm-<br />

lich sein? Ich muss mich umziehen und hab mich verbrannt.“ Wutschnaubend verschwand sie<br />

ins Haus. Shawn hockte auf seinem Stuhl wie ein geprügelter Hund. Teresa war nicht gerade<br />

geduldig. Und sie verzieh nicht schnell. Der junge Mann wusste, dass ihm eine Strafe blühte.<br />

Nicht, dass hier jemand einen Grund gebraucht hätte, ihn zu strafen. Wenn es aber einmal<br />

passierte, dass er einen Fehler machte, nutzten sie es aus, ihn für seine Verfehlung umso här-<br />

ter zu bestrafen.<br />

Teresa kam schnell zurück und fuhr ihn an: „Los, sieh zu, dass du deinen Arsch vom Stuhl<br />

kriegst.“<br />

Hastig sprang Shawn auf und stand zitternd vor der brutalen Frau. Sie fesselte seine Hän-<br />

de auf den Rücken und griff nach dem Karabiner an seiner Halsmanschette. An diesem zerrte<br />

sie Shawn mit sich ins Haus zurück und zur Kellertreppe. Mit zitternden Beinen folgte Shawn<br />

notgedrungen. Im Keller ging es in den Raum, in dem Carrie ihn mit den Brandings versehen<br />

hatte. Teresa ließ den jungen Mann los und trat an den kleinen Käfig in der Raumecke. Sie<br />

öffnete diesen und löste Shawns Handfesseln.<br />

Mann.<br />

„Los, rein da.“, herrschte sie den Schauspieler an. Schwer atmend gehorchte der junge<br />

Der Käfig war klein, 120 mal 120 mal 80 Zentimeter und es fiel Shawn schwer, sich hin-<br />

einzuzwängen. Endlich hatte er es geschafft und hockte verkrampft auf dem kalten, rauen Be-<br />

tonboden. Teresa schloss die Tür und sicherte diese mit einem bereit liegenden Vorhänge-<br />

schloss. Sie trat an einen kleinen Schrank, der an der rechten Wand des Raumes stand und<br />

suchte darin herum, bis sie gefunden hatte, was sie brauchte. Shawn hatte angstvoll zugese-<br />

hen und bemerkte, dass die Frau etwas schwarzes in der Hand hielt. Sie kam damit zu ihm<br />

zurück und befahl:<br />

„Her mit deinem Kopf.“<br />

Ergeben drückte der Schauspieler seinen Kopf ans Gitter und Teresa zog ihm eine Latex-<br />

maske über diesen. Die Maske ließ Nase und Mund frei, sodass Shawn ungehindert atmen<br />

konnte, bedeckte aber den Rest des Kopfes komplett. Er konnte nichts mehr sehen.<br />

Dafür spürte er, dass Teresa seine Hände zwischen zwei Gitterstäben hindurchzog und<br />

hörte die Karabiner klicken. Er war gefesselt, konnte seine Hände nicht mehr in den Käfig<br />

zurückziehen. Voll Angst wartete er darauf, was passieren würde. Sicher, dass Teresa noch<br />

571


nicht mit ihm fertig war, hockte er verkrampft und verängstigt am Boden des Käfigs und<br />

lauschte verzweifelt auf die Geräusche. Teresas Schritte entfernten sich und Shawn war si-<br />

cher, dass sie erneut in dem Schrank herumwühlte. Schnell näherten sich ihre Schritte erneut.<br />

Ohne ein Wort zu sagen trat die Frau an den Käfig heran, in dem der Sklave zusammen ge-<br />

kauert und zitternd hockte. In der Hand hielt sie einen langen Stab mit einem Taser am Ende.<br />

Sie grinste böse und fädelte den Taser durch die Gitterstäbe. Shawn konnte nichts sehen und<br />

so zuckte er heftig zusammen, als er die Berührung an seiner rechten Seite spürte. Im nächs-<br />

ten Moment brüllte er auf vor Schmerzen, als ein kräftiger Stromstoß durch ihn hindurch<br />

zuckte. Unwillkürlich bäumte sein Körper sich auf und der junge Mann stieß heftig mit dem<br />

Kopf gegen die Gitterstäbe. Er sah Sterne. Ein ums andere Mal drückte Teresa den Taser an<br />

den unterschiedlichsten Stellen gegen den zuckenden Körper im Käfig. In dem verzweifelten<br />

Bemühen, den Stromstößen auszuweichen, wand sich der Gefangene hilflos in dem kleinen<br />

Gefängnis. Immer wieder stieß er schmerzhaft gegen die Gitterstäbe. Nach vielen Minuten<br />

wurden seine Abwehrbewegungen schwächer und seine gequälten Schmerzensschreie wurden<br />

leiser. Am Ende lag er fix und fertig wimmernd und keuchend still. Noch ein letztes Mal<br />

drückte die Sadistin den Taser auf Shawns Brust, dieser zuckte zusammen und lag still. Eine<br />

gnädige Ohnmacht hatte ihn umfasst.<br />

*****<br />

Langsam kam Shawn zu sich. Er hatte Angst, sich zu bewegen und lauschte erst einmal,<br />

ob er irgendetwas hören konnte. Zwar dämpfte die Latexmaske die Geräusche, doch nach<br />

einigen Minuten war er sicher, allein zu sein. Müde ließ er den schmerzenden Kopf sinken.<br />

Weitere Minuten lag er still. Vorsichtig versuchte er schließlich, sich in eine bequemere Hal-<br />

tung zu bringen. Angesichts der Größe des Käfigs war dieser Versuch zum Scheitern verur-<br />

teilt. Es gelang ihm wenigstens, sich am Boden zusammenzurollen. Shawn klapperte vor<br />

Schmerzen, Schwäche und Kälte mit den Zähnen. Er konnte nicht verhindern, dass ihm ein<br />

leises Wimmern entwich. Ihm tat alles weh. Sein Kopf brummte, er hatte sich denselben einige<br />

Male während Teresas netter Behandlung heftig gestoßen. Die Zeit verging langsam und zäh.<br />

Shawn fror erbärmlich und versuchte, sich noch weiter zusammenzurollen, dafür war der<br />

Käfig jedoch zu schmal. Ihm blieb kein Platz. Zitternd und zähneklappernd hing er mehr als<br />

dass er lag in seinem Gefängnis und konnte immer öfter ein schmerzerfülltes Keuchen nicht<br />

mehr unterdrücken. Er hatte das Gefühl, jeden Moment in der Mitte auseinanderzubrechen.<br />

Wie lange war er schon hier? Es kam ihm wie Tage vor. Tränen schossen ihm in die Augen<br />

und er wimmerte leise:<br />

„Bitte ... Ich will hier raus ...“<br />

572


Er zuckte heftig zusammen, als er hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Schritte näherten sich<br />

und Bretts Stimme ertönte.<br />

„Na, Sklave, wie ist es so, hier eingesperrt zu sein?“<br />

Shawns Kopf bewegte sich hektisch der Stimme entgegen und er wimmerte: „Bitte ...<br />

Lasst mich hier raus, ich kann nicht mehr ... Bitte! Ich tu alles ...“<br />

„Na, das trifft sich gut. Knie dich hin, na los.“<br />

Mühsam und vorsichtig versuchte Shawn, auf die Knie zu kommen. Endlich hatte er es ge-<br />

schafft. Durch die gefesselten Hände konnte er nur quer im Käfig knien, nicht der Länge<br />

nach. So stieß sein Kopf vorn ans Gitter und seine Füße und der Po hinten. Das hatte Brett<br />

gewollt. Er griff durch die Gitterstäbe nach Shawns Hüften und zog diesen noch besser in<br />

Position. Der Mann hatte sich ein dickes Kissen mit gebracht und legte dieses neben dem Kä-<br />

fig auf den Boden. Er kniete sich darauf und kam so bequem an Shawns Hintern heran. Die-<br />

ser spürte Bretts Penis in sich gleiten und biss verzweifelt die Zähne aufeinander. Brett ge-<br />

noss es, den ohnehin fertigen Sklaven noch fertiger zu machen. Er konnte spüren, wie der<br />

Hilflose sich mehr und mehr verkrampfte. Er hörte dessen leises, verzweifeltes Schluchzen<br />

und das alles brachte ihm den nötigen Kick. Unmittelbar vor dem Orgasmus zog Brett sich<br />

aus dem Sklaven zurück und kam über dessen Po und Rücken. Keuchend vor Geilheit hielt der<br />

Homosexuelle sich an den Gitterstäben fest und meinte:<br />

„Du hast so einen geilen Fickarsch, ich könnte dich den ganzen Tag vögeln.“<br />

Shawn war in sich zusammen gesackt und kämpfte gegen Wogen von Übelkeit. Über und<br />

über mit dem Sperma Bretts besudelt kniete er zusammen gekauert in dem Käfig und<br />

schluchzte, dass es ihn schüttelte. Brett trat um den Käfig herum und packte Shawn brutal an<br />

der Maske, riss dessen Kopf hart in die Höhe.<br />

„Hör auf hier rum zu flennen, Sklave. Dafür bist du da. Dein Körper gehört uns, das soll-<br />

test du langsam kapiert haben. Also jammer nicht jedes Mal herum, wenn wir unser Eigentum<br />

benutzen. Sei froh, dass du uns als Spielwiese dienen kannst. Du bleibst so hocken bis wir<br />

dich abholen, hast du das verstanden?“<br />

Shawn war erschrocken zusammengezuckt, als sein Kopf so überraschend gepackt wurde.<br />

Er versuchte panisch, das Schluchzen zu unterdrücken. Hektisch nickte er und keuchte: „Ja,<br />

ich habe es verstanden.“<br />

Brett ließ ihn los und nickte zufrieden. „Wenn du dich rührst, wirst du dir wünschen, nie<br />

geboren worden zu sein.“<br />

Er drehte sich herum und verließ gut gelaunt den Raum. Shawn blieb zurück, wagte nicht,<br />

die Haltung einen Millimeter zu verändern und biss sich fast die Lippen blutig in dem<br />

krampfhaften Bemühen, weiteres Schluchzen herunter zu schlucken. Seine Füße wurden taub,<br />

seine Knie schmerzen heftig, sein ganzer Körper tat weh, von den Stromschlägen und der lan-<br />

573


gen, unbequemen Haltung. Aber er wagte nicht, sich zu bewegen. Gegen die Tränen, die ihm<br />

kommen wollten, kämpfte er entschlossen an.<br />

Wie lange sie ihn noch so hocken ließen, hätte der Schauspieler nicht sagen können. Es<br />

kam ihm wie Tage vor. Bretts Sperma trocknete auf seinem Rücken und Shawn schüttelte es<br />

innerlich vor Ekel. Mit jeder Minute fiel es ihm schwerer, ein Wimmern zu unterdrücken. End-<br />

lich hörte er, wie die Kerkertür geöffnet wurde. Schritte näherten sich und dann quietschte die<br />

Käfigtür leise. Jemand machte sich an seinen Handfesseln zu schaffen und gleich darauf wur-<br />

de ihm die Maske abgenommen. Geblendet schloss der junge Mann erst einmal die Augen. Er<br />

wagte nicht, sich zu bewegen. Als seine Pupillen sich endlich an die veränderten Lichtver-<br />

hältnisse gewöhnt hatten, erkannte er, dass es Alan war, der am Käfig stand und mitleidlos<br />

auf Shawn herunter schaute.<br />

„Schwing deinen Hintern da raus.“, bekam er den knappen Befehl.<br />

Mühsam versuchte Shawn, sich zu bewegen, doch seine hoffnungslos verkrampften Mus-<br />

keln wollten nicht so wie er. Scheinbar dauerte es Alan zu lange, denn er beugte sich kopf-<br />

schüttelnd in den Käfig hinein und packte dem Schauspieler brutal in die verschwitzten Haa-<br />

re. „Man, das geht bei meiner Großmutter schneller.“, schnauft er und zerrte Shawn spiele-<br />

risch leicht aus dem Käfig und auf die Beine.<br />

Der Schauspieler stöhnte vor Schmerzen auf. Fast wäre er zusammen gesackt. Alan ließ<br />

ihm keine Zeit, sich zu fangen. Er fesselte Shawn die Hände auf den Rücken und stieß den<br />

jungen Mann erbarmungslos aus dem Raum und Richtung Treppe. Auf halber Treppe versag-<br />

ten diesem die Beine endgültig und er sank wimmernd zu Boden. Genervt knurrte Alan:<br />

„Wenn ich wegen dir Penner das Abendbrot verpasse, bist du so was von fällig.“ Er pack-<br />

te Shawn erneut grob an den Haaren und zerrte ihn so auf die Füße. Shawn kämpfte verzwei-<br />

felt darum, sich auf diesen zu halten und langsam kehrte das Gefühl in seine Gliedmaßen zu-<br />

rück. Mühsam schaffte er es die Treppe hinauf und oben im Flur ging es besser. Die Durch-<br />

blutung war in Gange gekommen und etwas sicherer auf den Beinen, schaffte Shawn es, sich<br />

von Alan bis ins Wohnzimmer schleifen zu lassen.<br />

Hier warteten die anderen auf ihn und Alan.<br />

„Das wird auch Zeit, wollte unsere Prinzessin auf der Erbse nicht so wie du?“, lästerte<br />

Teresa gehässig.<br />

„Nein, der Jammerlappen konnte sich nicht auf den Füßen halten.“ Er stieß Shawn an den<br />

Tisch und löste seine Handfesseln.<br />

„Setz dich hin und iss.“, erklärte Carrie kalt.<br />

Shawn setzte sich mit gesenktem Kopf auf den Stuhl, zu dem Alan ihn gestoßen hatte. Mit<br />

zitternden Fingern griff er nach dem Besteck und fing müde an zu Essen. Sein Rücken schrie<br />

vor Empörung. Er hatte das Gefühl, keinen funktionstüchtigen Knochen mehr im Leib zu ha-<br />

574


en, von den Muskeln ganz zu schweigen. Mühsam kämpfte er um Fassung, um das Abend-<br />

brot halbwegs würdevoll hinter sich zu bringen. Hunger hatte er nicht, aber eine Verweige-<br />

rung hätte unweigerlich zur nächsten Strafaktion geführt. So war er bemüht, den größten Teil<br />

des Essens hinunter zu würgen. Bald konnte er nicht mehr. Leise erklärte er:<br />

„Es hat gut geschmeckt, aber ich bin satt ...“<br />

Carrie warf ihm einen kalten Blick zu. „Dann verzieh dich. Wenn du Glück hast lassen wir<br />

dich den Rest des Tages in Frieden.“<br />

Shawn bedankte sich unterwürfig und stemmte sich vorsichtig hoch. Es gab keinen Muskel<br />

in seinem Körper, der nicht schmerzte. Er biss die Zähne zusammen, dass es knirschte und<br />

schaffte es aus dem Raum. Im Flur hielt er sich an der Wand fest und wankte zur Treppe in<br />

den ersten Stock. Als er schweißgebadet sein Zimmer erreicht hatte, war es mit seiner Beherr-<br />

schung endgültig vorbei. Er schaffte es nicht einmal bis zum Bett, sondern sank auf den Bo-<br />

den, rollte sich zusammen und schluchzte, dass es ihn schüttelte.<br />

*****<br />

Shawn berichtete tonlos, apathisch, stockend. Schließlich verstummte er. Blicklos starrte<br />

er vor sich hin. Er bemerkte nicht einmal, dass Kellys Tränen auf sein Gesicht fielen. Die<br />

Psychologin weinte seit einigen Minuten fassungslos vor sich hin. Sie zitterte am ganzen<br />

Körper vor Hass. Gleichzeitig verfluchte sie sich selbst für ihre heftigen Gefühle. Dennoch<br />

konnte sie an nichts anderes denken als an den Wunsch, Carrie und ihre Freunde ungestört in<br />

die Finger zu bekommen. Sie hatte Patienten gehabt, die körperlich noch schlimmer misshan-<br />

delt worden waren, und sie hatte mit diesen mitgelitten. Wenn dem nicht so gewesen wäre,<br />

hätte die junge Psychologin ihren Beruf nicht mehr ausüben können. Nachträglich Zeuge der<br />

Qualen zu werden, die der Mann in ihren Armen, den sie so sehr liebte, hatte durchstehen<br />

müssen, ging jedoch weit über das hinaus, was sie noch halbwegs gefasst ertragen konnte.<br />

Shawn kehrte langsam in die Gegenwart zurück. Wie um wach zu werden schüttelte er den<br />

Kopf. Nun spürte er die Tränen, die von Kellys Gesicht immer noch auf sein eigenes herab<br />

tropften. Betroffen biss er sich auf die Unterlippe. Er wusste nicht, wie er Kelly trösten sollte,<br />

wusste er doch nicht einmal, wie er sich selbst helfen konnte.<br />

Die Therapeutin kämpfte verzweifelt um Fassung. Sie atmete mehrmals tief ein und aus<br />

und spürte, wie sie sich allmählich fing. Mit noch zitternder Hand fuhr sie sich über das blasse<br />

Gesicht und wischte fahrig die Tränen ab. Shawn seufzte.<br />

„Wie kommt es nur, dass mich das Erzählen immer wieder so mitnimmt? Ich meine, ich<br />

habe schon so viel ... so viel Abartiges und Grausames berichtet, es müsste langsam einfacher<br />

werden.“ Kelly schüttelte den Kopf.<br />

575


„Nein, Babe, jedes Erlebnis ist auf seine Art für dich der blanke Horror. Es wird nicht<br />

leichter werden, nur, weil du schon von gleichen oder ähnlichen Grausamkeiten erzählt hast.<br />

Es wurde auch beim Durchleben nicht leichter für dich, nur, weil du ähnliches vorher bereits<br />

hattest aushalten müssen. Das zehnte Mal am Andreaskreuz war für dich nicht weniger<br />

schlimm als das erste Mal.“<br />

„Stimmt ... Da trat höchsten Gewöhnung in Sachen Erniedrigung ein. Bald störte mich<br />

nichts mehr. Nackt zu sein war schnell normal. In den demütigendsten Positionen gefesselt zu<br />

sein dauerte da länger, aber das war später ... Alltag. Zu verbergen war nichts mehr. Sie hatten<br />

mich in jeder nur erdenklichen Pose und Situation gesehen. Sie haben mich weinen gesehen,<br />

schreien, betteln, um Gnade winseln, vor Geilheit keuchen ... Was sollte ich mich also noch<br />

schämen?“ Er verstummte frustriert.<br />

Eine Weile schwieg der Schauspieler. Plötzlich meinte er leise:<br />

„Dieser Käfig ... stellte eine neue Art der Erniedrigung dar. Er war so klein und ... wenn ich in<br />

dem Scheißding hockte, kam ich mir vor wie ... wie ein gefangenes Tier. Sie haben angefan-<br />

gen, Hände und Füße an die Gitterstäbe zu fixieren, weißt du. Dann habe ich da gekniet und<br />

konnte mich nicht rühren. Ich konnte keine andere Haltung einnehmen. Die Knie taten schnell<br />

weh, der Rücken, die Arme. Sie haben mich gerne mit dem verdammten Taser bearbeitet,<br />

wenn ich so ... Nach diesem ersten Mal ... abends ließen sie mich in Ruhe. Brett kam und<br />

brachte mir frisches Wasser ... Da lag ich noch auf ... auf dem Boden ... Er befahl mir, mich<br />

ins Bett zu legen und ... Am nächsten Tag ... Das war das erste Mal, dass er mich an den<br />

Strand schleppte. Er holte mich direkt nach dem Frühstück ab. Wir gingen zum anderen Ende<br />

der Insel, da standen ein paar Palmen und man hatte dort Schatten, wenn es zu heiß wurde. Er<br />

hatte eine große Decke bei sich, zu Essen, zu Trinken, ein Kartenspiel ... Wir haben die Decke<br />

ausgebreitet und er fragte, ob ich Lust hätte zu Baden. Ich habe ja gesagt. Nach dem<br />

Schwimmen haben wir es uns gemütlich gemacht. Ich hatte ziemlich Angst, ich wusste ja<br />

nicht, was das werden sollte. Also war ich übervorsichtig ... Aber er fing an, sich mit mir zu<br />

unterhalten. Ganz normal. Er fragte nach meiner Arbeit und erzählte von sich.“<br />

Shawn dachte an den Tag zurück. Er prustete angespannt und erzählte weiter. „Er bat<br />

mich, mich entspannt hinzulegen und ... Und dann fing er an, mich zu streicheln ... Er war ...<br />

sanft und ... Nach einer Weile war er ... Er war ... erregt. Und befahl mir, mich hinzuknien.<br />

Dann hat er mich ... gevögelt ...“ Shawn blieben die Worte im Halse stecken. Er musste einige<br />

Male tief durch atmen, bevor er weiter sprechen konnte. „Er war vorsichtig und ... Hinterher<br />

wollte er mich befriedigen ... Es hat nicht gleich geklappt ... Er hat mir gut zu geredet, ver-<br />

stehst du? Dass es keine Schande wäre, wenn ich einen Orgasmus haben würde, nur, weil er<br />

ein Kerl sei und keine Frau. Er hatte Scotch und Eis mit ... Wir haben ein Glas getrunken und<br />

er wollte es noch mal versuchen. Ich habe es nicht ertragen, ungefesselt stillzuliegen und habe<br />

ihn gebeten, mir die Hände ... Er hat sie an die Halsmanschette gehakt. Dann hat er es ver-<br />

576


sucht und ich habe die Augen zugemacht und mich mit aller Kraft nur auf die Berührungen<br />

konzentriert. Ich habe versucht, auszublenden dass es ein Mann war, der mich da streichelte.<br />

Ich hatte panische Angst, wenn es nicht klappen würde, dass Brett dann ausrasten würde.<br />

Aber scheinbar hat der Scotch geholfen. Brett hat mich oral befriedigt und ich hatte tatsäch-<br />

lich einen Orgasmus.“ Shawn schluckte schwer. „Ich glaube, er hat sich richtig gefreut darü-<br />

ber. Er war unheimlich guter Dinge den Rest des Tages. Wir haben noch ein paar Mal geba-<br />

det, Brett hat ein paar weitere Gläser Scotch gehabt und ... naja, er hat mich an dem Tag noch<br />

drei Mal gevögelt. Fand er gut, das hat er mir abends gesagt. Und Carrie und die anderen ha-<br />

ben mich an dem Tag komplett in Ruhe gelassen.“<br />

Kelly hatte ruhig zugehört. Sanft erklärte sie: „Du hast es richtig gemacht, Baby. So hat-<br />

test du Brett auf deiner Seite und er war zufrieden.“<br />

„Ja, das war er wohl, aber ich habe mich mies gefühlt. Es war, als hätte ich freiwillig mit-<br />

gemacht. Auch wenn das Blödsinn war.“ Der junge Mann richtete sich müde auf und sah Kel-<br />

ly im Licht der kleinen Nachttischlampe an. „Ich kam mir an dem Tag so unglaublich schwul<br />

vor.“ Er zog die Beine an den Körper und starrte trübsinnig vor sich hin. „Ich hatte einen Or-<br />

gasmus bei einem Mann ... Es war zwar nicht der Erste, aber ... dieses Mal fühlte es sich ...<br />

Es fühlte sich freiwillig an, verstehst du?“<br />

Kelly rückte nah an Shawn heran und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Hör mir zu,<br />

okay. Nichts von dem, was dir bei Carrie passierte, war freiwillig. Absolut nichts. Das darfst<br />

du nie vergessen. Verstanden? Alles was dort geschah wurde dir aufgezwungen, egal, wie es<br />

sich angefühlt hat. Das darfst du zu keiner Zeit vergessen.“<br />

Eindringlich kamen diese Worte und Shawn nickte langsam.„Okay ... Ich hab es kapiert.<br />

Aber ...“<br />

Kelly unterbrach den jungen Mann energisch. „Nein, kein aber! Kein aber! Du hast bei<br />

nichts freiwillig mitgemacht, Baby, bei absolut gar nichts. Nur, weil du nicht bei allem gefes-<br />

selt warst, heißt das noch lange nicht, dass du freiwillig stillgehalten hättest. Ich habe dich<br />

schon einmal gefragt, ich frage dich noch mal: Was hättest du denn machen wollen? Nein<br />

sagen? Dich wehren? Fliehen? Hättest du nein gesagt, würden die Herrschaften sich heute<br />

noch in Lachkrämpfen wälzen. Hättest du dich gewehrt, wärst du seit Monaten tot. Und da du<br />

weder Ikarus noch Poseidon heißt, war Fliehen ebenfalls keine Option. Was sagt dir das?“<br />

Shawn hob den Blick und sah Kelly an. „Dass ich nichts freiwillig gemacht habe ...“<br />

*****<br />

48) Er bläst!<br />

Mit den Flügeln der Zeit fliegt die Traurigkeit davon.<br />

577


Jean de la Fontaine<br />

Am kommenden Morgen checkten Kelly und Shawn gegen 9.00 Uhr aus. Shawn war still<br />

und bedrückt. Kelly war klar, dass es ihm schwer fiel, sich vom Kakadu Nationalpark zu tren-<br />

nen. Und dass er Angst vor der Großstadt Darwin hatte. Das war nicht zu ändern. Sie würde<br />

ihn auffangen und nach Kräften unterstützen. Er würde diese Hürde schaffen, da war sich die<br />

Psychologin sicher. Jetzt war er traurig, besorgt und verängstigt, deswegen nahm er den Ab-<br />

schied vom Kakadu zu schwer. Das würde sich ändern. Sie verstaute noch einen Beutel Eis im<br />

Esky, dann fragte sie:<br />

„Können wir? Hast du alles?“<br />

Shawn nickte unglücklich. „Ja ... Lass uns losfahren, bevor ich es mir anders überlege.“<br />

Der Schauspieler stieg in den Wagen und schlug übertrieben laut die Tür hinter sich zu. Er<br />

starrte verkrampft aus dem Seitenfenster, als Kelly den Wagen anwarf und langsam in nördli-<br />

cher Richtung das Resort verließ. Es gab einige Kilometer nördlich eine Stelle, an der man<br />

den Yellow Water Billabong überqueren und sich von dort nach Westen wenden konnte. Die-<br />

sen Weg wollte die junge Frau einschlagen. Sie akzeptierte Shawns Schweigen und steuerte<br />

gedankenverloren die knapp 7 Kilometer nach Norden, bevor sie sich in westliche Richtung<br />

hielt. Da es trocken war, gab es keine Probleme, die Ausläufer und das sonst unpassierbare<br />

Marschland des Yellow Water zu durchqueren.<br />

In den folgenden zwei Stunden musste sie mit schöner Regelmäßigkeit ausgetrocknete<br />

Flussbette überqueren. Einmal wachte Shawn aus der Starre auf, als sie einige meterhohe<br />

Termitenhügel passierten.<br />

„Meine Güte, wie hoch sind die Dinger denn?“, fragte er fassungslos, als sie ausgestiegen<br />

waren und sich die riesigen Bauten anschauten. Sie überragten Shawn, der fast 1.90 Meter<br />

groß war, noch um einiges. Kelly schätzte:<br />

„Ich würde sagen, die sind 2.50 bis 3 Meter hoch.“ Sie machte ein Foto von Shawn, um<br />

einen Größenvergleich zu haben. Dann fuhren sie weiter.<br />

Shawn sah weiterhin trübsinnig aus dem Fenster und schwieg. Gegen 12.30 Uhr erreichten<br />

sie den Arnhem Highway. „Wie weit ist es von hieraus denn noch?“, fragte der Schauspieler<br />

bedrückt.<br />

Ruhig antwortete die Psychologin: „Ungefähr 170 Kilometer.“<br />

„Na klasse ...“ Shawn starrte aus dem Fenster geradeaus auf den Highway hinaus. „Sieht<br />

hier nicht viel anders aus als an all den anderen Stellen, an denen wir auf einem Outback<br />

Highway unterwegs waren, was?“<br />

„Nein. Allenfalls ein paar mehr Bäume.“ Sie gab Gas und kam gut voran. Bald passierten<br />

sie die ersten bewohnteren Gebiete. Als sie an einem Straßenschild vorbei kamen, auf dem<br />

‘Humpty Doo, Population 5.413‘ stand, konnte Shawn ein Grinsen nicht zurückhalten.<br />

578


„Ist nicht euer Ernst. Humpty Doo?“<br />

„Doch. Frag mich nicht, wer sich den Namen ausgedacht hat, das weiß ich nicht.“<br />

Von der Ortschaft Humpty Doo aus ging es übergangslos durch mehrere Vororte und et-<br />

was später passierten sie das Ortsschild Darwin. Schon vor einer Weile waren sie vom Arn-<br />

hem Highway auf den Stuart Highway abgebogen. Als sie sich nun der City von Darwin nä-<br />

herten, nahm der Verkehr rasch stark zu. Shawn sah aus dem Fenster und spürte seine Hand-<br />

flächen feucht werden. Nervös atmend wischte er sie an seiner Jeans ab. Kelly lächelte ihm<br />

beruhigend zu.<br />

„Du packst das, Schatz.“<br />

Angespannt nickte Shawn. „Bleibt mir nichts übrig, oder?“<br />

Kelly blieb auf dem Highway, bis dieser nahe dem Stadtzentrum endete. „So, hier fängt<br />

der Highway 1 an, oder hört auf, je nachdem wie man es sehen will.“, erklärte die junge Frau.<br />

Sie fuhr weiter geradeaus und nicht einmal einen Kilometer später erreichten sie in einem<br />

Kreisel das Ende der Straße. Vor ihnen lag ein kleiner Grünstreifen, überwiegend mit Palmen<br />

und Mangroven bewachsen und dahinter konnten sie einen schmalen, steinigen Strand und<br />

dann das Meer erkennen.<br />

„Das ist der indische Ozean.“, meinte Kelly und bog in dem Kreisel nach links ab. Sie fuhr<br />

an zwei großen Hotels vorbei und hielt vor dem dritten Hotel an. „Das Novotel ist eines der<br />

besten Hotels hier in Darwin. Es wird dir gefallen. Großer Pool, Fitnessraum, tolle Zimmer,<br />

super Restaurant.“ Sie stieg aus und auch Shawn öffnete seine Wagentür. Er zögerte, das Auto<br />

zu verlassen. Es kam ihm wie eine Zuflucht vor. Draußen auf der Straße herrschte rege Be-<br />

triebsamkeit und überall liefen Menschen herum. Dem jungen Mann wurde warm. Hier waren<br />

so viele Menschen, wie schnell konnte sich unter ihnen Carrie oder einer der anderen Entfüh-<br />

rer aufhalten, ohne dass Shawn es bemerken würde.<br />

Kelly spürte, dass Shawn dringend ihre Hilfe brauchte. Er stand kurz vor einer ausge-<br />

wachsenen Panik. Sie trat zu ihm und griff nach seinen Händen. „Sieh mich an.“, sagte sie<br />

ruhig. Schwer atmend gehorchte der Schauspieler. „Habe ich je ein Versprechen dir gegen-<br />

über nicht eingehalten?“, fragte Kelly sanft.<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Nein ...“<br />

„Warum denkst du dann, dass ich das Versprechen, dass dir nichts geschehen wird, nicht<br />

werde halten können?“<br />

Erstaunt und betroffen riss Shawn die Augen auf. „Das denke ich gar nicht.“<br />

„Doch, offensichtlich. Sonst hättest du keine Angst.“ Kelly lächelte liebevoll. „Und du<br />

hast Angst.“<br />

„Ja ... Aber ich zweifle nicht an dir.“<br />

579


Sanft zog die Therapeutin daraufhin an Shawns Händen und erklärte fest: „Gut, wenn du<br />

nicht zweifelst, komm. Ich bin bei dir, du wirst es schaffen. Wir werden weiter viel Spaß ha-<br />

ben, selbst, wenn ab jetzt mehr Menschen um uns herum sein werden, okay?“<br />

Der Schauspieler biss die Zähne zusammen, atmete tief ein und stieg aus. „Okay.“ Ange-<br />

spannt folgte er Kelly vom Parkplatz zum Hoteleingang hinüber. In der Lobby war nicht<br />

übermäßig viel Betrieb. Sie marschierten zur Rezeption hinüber und Minuten später hielt Kel-<br />

ly den Schlüssel für ein Appartement in der obersten Etage in der Hand. Sie hatten vier Über-<br />

nachtungen gebucht. So war Zeit genug, Darwin anzusehen und eine Wale Watching Tour zu<br />

machen.<br />

Kelly zog Shawn zum Fahrstuhl hinüber und sie fuhren in die sechste Etage hinauf. Ihr<br />

Zimmer lag nach Südwesten hinaus, mit einem herrlichen Blick über das Meer. Shawn sank<br />

auf einen der bequemen Stühle auf dem Balkon und sah gedankenverloren auf den Ozean<br />

hinaus. Er zuckte zusammen, als Kelly neben ihn trat und ihm eine Flasche Bier in die Hand<br />

drückte.<br />

„Hier. Ist zwar noch früh, aber ich habe richtig Lust auf ein kaltes Bier. In der Minibar<br />

stehen genügend Flaschen, da können wir uns eins leisten.“<br />

Shawn lächelte dankbar. „Gute Idee. Cheers.“<br />

Sie stießen an und genossen das kalte Crown Lager.<br />

„Wie geht es weiter?“, stellte Shawn nach einer Weile seine Standardfrage.<br />

Kelly nahm einen Schluck Bier und überlegte. „Am liebsten würde ich heute noch die<br />

Flüge buchen, damit wir die sicher haben. Dann sollten wir uns nach einer Wale Watching<br />

Tour erkundigen. Die sind in der Regel gut ausgebucht, ich möchte auf Nummer sicher ge-<br />

hen.“ Sie sah auf die Uhr. „Das schaffen wir alles noch. Es ist kurz vor halb vier ...“ Sie trank<br />

ihre Flasche leer und auch Shawn war fertig.<br />

„Gut, lass uns das hinter uns bringen. Wo ist denn der Flughafen?“<br />

Sie traten in das schöne Wohnzimmer zurück und schlossen die Balkontür.<br />

„Der liegt knappe 7 Kilometer von hier, zwischen den Vororten.“<br />

Zusammen verließen sie das Zimmer und standen kurze Zeit später auf dem Parkplatz.<br />

Durch den starken Verkehr brauchten sie fast vierzig Minuten zum Airport. Sie betraten<br />

die Departure Hall und wandten sich direkt an den Qantas Schalter. Kelly begrüßte die junge<br />

Frau am Schalter freundlich.<br />

„Hallo. Wir benötigen einige Flüge, ich habe hier eine Liste aufgestellt.“ Sie drückte der<br />

jungen Frau einen Zettel in die Hand.<br />

Darwin - Cairns, am 27.10.<br />

Townsville - Perth, am 04.11.<br />

Perth - Shark Bay am 04.11.<br />

Shark Bay - Perth am 08.11.<br />

Perth - Melbourne, am 09.11.<br />

580


Die Qantas Angestellte nahm den Zettel und nickte. „Das sollte kein Problem sein. Ich<br />

werde mal schauen, was ich Ihnen da anbieten kann.“ Sie begann zu Tippen und arbeitete<br />

einige Minuten konzentriert. Schließlich erklärte sie:<br />

„Okay, am 27.ten habe ich zwei Plätze Business Class nach Cairns, Abflug 10.20 Uhr,<br />

Ankunft 12.45 Uhr. Von Townsville nach Perth könnte ich Sie am 4.ten nur noch bei Virgin<br />

Blue in der First Class unterbringen, sonst erst am ... 7.ten.“ Sie sah Kelly und Shawn fragend<br />

an.<br />

„Das ist in Ordnung, fliegen wir mal First Class. Davon werden wir nicht gleich arm wer-<br />

den.“, lachte Kelly fröhlich.<br />

„Gut, das wäre um 9.15 Uhr ab Townsville, Ankunft in Perth 13.50 Uhr. Von Perth nach<br />

Monkey Mia geht um 14.10 Uhr eine Maschine, da sind noch Plätze frei. Zurück am 8.ten<br />

wäre um 17.25 Uhr noch etwas, dann wären sie um 18.10 Uhr zurück in Perth. Und den letz-<br />

ten Flug, Perth nach Melbourne, da wären noch zwei Möglichkeiten am 9.ten. Einmal Busi-<br />

ness Class um 17.30 Uhr oder Economy um 12.10 Uhr. Was ist Ihnen da lieber?“<br />

Kelly überlegte nicht lange. „12.10 Uhr ist angenehmer.“<br />

„Gut, dann buche ich Ihnen das fest. Ab 12.10 Uhr, Ankunft 15.50 Uhr.“ Die junge Frau<br />

tippte eifrig und druckte einiges an Formularen aus. „So, das wäre es. Kann ich sonst noch<br />

etwas für Sie tun?“<br />

„Wir brauchen in Cairns einen Leihwagen, 4 Wheel Drive, wobei wir den Wagen in<br />

Townsville zurückgeben würden.“<br />

Abermals wurde getippt und schon drückte die Angestellte ihnen Mietverträge für einen<br />

Jeep Commander in Cairns in die Hand. Kelly und Shawn bedankten sich herzlich, Kelly be-<br />

zahlte mit ihrer Visa Card und zuletzt fragte sie die nette Angestellte noch:<br />

„Wir würden gerne eine Waltour buchen, könnten Sie uns da einen Tipp geben?“<br />

Freundlich erklärte die Angestellte: „Klar, versucht es bei Timmys, Cullen Bay. Das ist<br />

auf der rechten Hafenseite, Marina Bvd. Am Ende der Straße, auf der linken Seite. Nicht zu<br />

verfehlen.“<br />

Noch einmal bedankten sie sich und verabschiedeten sich von der jungen Frau, die ihnen<br />

so nett geholfen hatte. Als sie beim Auto standen, sahen sie sich gemeinsam noch einmal die<br />

Buchungsunterlagen an, doch alles hatte seine Richtigkeit. Verlegen meinte Shawn:<br />

„Das hat einiges gekostet.“<br />

„Na komm, es trifft nicht gerade arme Leute. Für dich wäre mir ohnehin nichts zu teuer<br />

...“ Sie stieg in den Wagen und Shawn glitt auf seinen Sitz.<br />

„Meinst du das ernst?“, fragte er verlegen.<br />

581


„Selbstverständlich. Wenn du den Wunsch hättest, auf den Mond zu fliegen, würde ich das<br />

auch möglich machen.“, lachte Kelly gut gelaunt.<br />

Shawn schüttelte grinsend den Kopf. „Du bist verrückt.“, erklärte er und sah interessiert<br />

aus dem Fenster.<br />

das?“<br />

„Darwin scheint aus einer Reihe kleiner Vororte zusammengewürfelt zu sein, oder täuscht<br />

Kelly fädelte sich gerade auf den Highway ein und blieb Shawn einige Augenblicke eine<br />

Antwort schuldig. Als sie sich eingeordnet hatte, erklärte sie:<br />

„Weißt du, Darwin ist eine eigenwillige Stadt. Sie ist noch sehr jung, wie die meisten<br />

Städte Australiens. Am 9. September 1839 landeten John Wickham und John Stokes auf einer<br />

Vermessungsfahrt mit ihrem Schiff Beagle in der Bucht des heutigen Darwin. Sie benannten<br />

ihren Ankerplatz Port Darwin nach dem jungen Charles Darwin, der zwischen 1831 und 1836<br />

an Bord der Beagle die Galápagosinseln bereist hatte. Im Januar 1869 wurde in Port Darwin<br />

mit hundertfünfunddreißig Siedlern Palmerston gegründet, benannt nach dem britischen Pre-<br />

mierminister Lord Palmerston. Palmerston gewann durch den Anschluss an das australische<br />

Telegrafennetz und durch Goldfunde im Umland zunehmend an Bedeutung. 1911 wurde Pal-<br />

merston als Hauptstadt des bis 1978 noch zu South Australia gehörigen Northern Territory in<br />

Darwin umbenannt.<br />

Darwin gewann im Verlauf des Zweiten Weltkriegs zunehmend an Bedeutung, als es we-<br />

gen einer befürchteten japanischen Invasion bis auf 2.000 Einwohner evakuiert wurde. Eine<br />

Besatzung von 32.000 alliierten Soldaten wurde dafür in Darwin stationiert. Am 19. Februar<br />

1942 wurde die Stadt von fast zweihundertfünfzig japanischen Flugzeugen bombardiert, die<br />

neben den Treibstofflagern der Stadt die Gegend um den Hafen fast vollständig zerstörten.<br />

Der Angriff kostete zweihundertdreiundvierzig Zivilisten und Soldaten das Leben. Das Bom-<br />

bardement war seit Staatsgründung der erste Angriff auf australisches Gebiet. Von März bis<br />

April 1946 tagten in Darwin drei Militärtribunale, die gegen Australier begangene Kriegsver-<br />

brechen sühnten.<br />

Am 25. Dezember 1974 wurde Darwin direkt vom Zyklon Tracy getroffen. Einundsiebzig<br />

Einwohner wurden damals getötet. Mehr als siebzig Prozent der Häuser in der Stadt wurden<br />

zerstört. Nach der Naturkatastrophe wurden rund 30.000 der 43.000 Einwohner per Flugzeug<br />

aus der Stadt gebracht. Diese Luftbrücke war die größte derartige Operation in der Geschichte<br />

Australien. Die Stadt wurde erneut wiederaufgebaut, wobei allerdings stabilere Baumateria-<br />

lien und Bautechniken angewendet wurden. Darwin wurde insgesamt vier Mal fast komplett<br />

zerstört. Eben im Krieg durch die Japaner, dann durch Tracy Weihnachten und in den Jahren<br />

1937 und 1897 jeweils durch ebenfalls verheerende Zyklone. Heute besteht Darwin aus ei-<br />

582


nundvierzig Stadtteilen, zusammengezogen in vier Wahlbezirken. Darwin ist übrigens mit<br />

einer durchschnittlichen Höchsttemperatur von 32° wohl die wärmste Stadt Australiens.“<br />

Shawn war schwer beeindruckt, welches Wissen Kelly da wieder so aus dem Ärmel schüt-<br />

telte. Er hätte einiges gegeben, sich Dinge nur halb so gut merken zu können. Bevor er dazu<br />

kam, etwas zu sagen, stoppte die Therapeutin den Wagen am Ende einer Mole.<br />

„Wir sind da. Das ist Cullen Bay.“<br />

Sie stiegen aus und Shawn spürte angesichts der zahlreichen Besucher hier leichtes Unbe-<br />

hagen. Er riss sich zusammen und folgte Kelly, die an die Steinbarriere, die die Cullen Bay<br />

umschloss, heran trat. Nebeneinander stehend genossen sie einen Moment die langsam unter-<br />

gehende Sonne über dem Meer.<br />

„Siehst du, hier gibt es auch wunderschöne Sonnenuntergänge.“, meinte Kelly zufrieden.<br />

„Das stimmt.“ Shawn machte ein paar Fotos. Sie sahen sich um und entdeckten den klei-<br />

nen Shop Timmys hinter sich auf der anderen Straßenseite.<br />

„Na, dann lass uns mal zusehen, dass wir noch jemanden zufassen bekommen bevor die<br />

für heute dicht machen.“<br />

Sie beeilten sich, den kleinen Shop zu erreichen und hatten Glück. Ein junger Mann stand<br />

hinter einem kleinen Tresen und schien gerade mit der Kassenabrechnung anfangen zu wol-<br />

len. Er sah auf und begrüßte die späten Besucher erstaunt. „Hey, was kann ich für euch tun?“,<br />

fragte er freundlich.<br />

trug.<br />

Shawn sah sich interessiert in dem kleinen Shop um, während Kelly ihren Wunsch vor-<br />

„Wenn es möglich ist, würden wir gerne eine Wale Watching Tour buchen. Wir sind drei<br />

Tage in Darwin, haben wir da eine Chance?“<br />

Der junge Mann strahlte. „Cool. Ja, logisch, ich mache alles möglich. Morgen geht eine<br />

raus nach hinter Bathurst und Melville Island. Da haben wir in den letzten Tagen Wale gese-<br />

hen, um diese Zeit halten sich dort große Schwärme Buckelwale auf. Ich könnte euch da noch<br />

unterbringen, die Tour ist nicht ausgebucht.“<br />

„Das wäre großartig. Wann geht es denn los?“<br />

„Wir starten früh, um 5 Uhr. Es sind über 150 Kilometer bis zu den Stellen, wo die Wale<br />

sich aufhalten. Die Fahrt dauert über vier Stunden. Zurück sind wir je nachdem so ab 18 Uhr.<br />

Kosten wird euch das Ganze 80 A$.“<br />

Noch einmal wechselte Geld den Besitzer und Kelly bekam erklärt:<br />

„Es geht da draußen vom Anleger los. Nehmt euch sicherheitshalber eine warme Jacke<br />

mit, auf dem Wasser kann es schnell mal kalt werden. Na, dann bis morgen früh.“<br />

Sie verabschiedeten sich und als sie draußen auf der Straße standen fragte Kelly:<br />

„Hier sind einige Restaurants, wollen wir hier essen?“<br />

583


„Gerne. Was haben wir denn so an Auswahl?“<br />

Kelly versuchte sich zu erinnern, was sie gelesen hatte. „Also, zwei Seafood Restaurants,<br />

ein Grieche, Pizza und Pasta, zwei Thais ...“<br />

„Das reicht. Wie wäre es denn mit Griechisch?“<br />

„Gerne.“ Sie hakte sich bei Shawn ein und zog ihn zu einem der Gebäude auf der dem<br />

Land zugewandten Seite der Straße. Sie bekamen einen Tisch auf der schönen Terrasse. So<br />

konnten sie einen wundervollen Ausblick auf die dunkel daliegende Bucht und die beiden ins<br />

Wasser hinein gebauten Inseln mit ihren teuren Bungalows genießen. Das Essen war ausge-<br />

zeichnet und mehr als satt schoben sie schließlich ihre Teller zurück.<br />

„Ich glaube, ich platze gleich.“, meinte Kelly stöhnend. „Ich laufe zum Hotel.“<br />

Shawn grinste. „Und wer fährt uns den Wagen zurück?“<br />

„Ach, der soll sich mal nicht so anstellen, der kann allein fahren.“<br />

Ein Kellner kam und räumte den Tisch ab. „Kann ich noch was für Sie tun?“, fragte er<br />

freundlich.<br />

Kelly sah Shawn fragend an, doch der winkte ab.<br />

„Nein, alles bestens, machen Sie uns bitte die Rechnung fertig.“, bat die Psychologin. Mi-<br />

nuten später schlenderten sie und Shawn zum Parkplatz hinüber.<br />

Kelly setzte sich ans Steuer und kurze Zeit später erreichten sie den Parkplatz des Hotels.<br />

„Was hältst du davon, wenn wir noch Spazieren gehen?“, fragte sie Shawn, als sie aus<br />

dem Wagen gestiegen waren. Der stimmte sofort zu.<br />

„Oh ja, Bewegung wäre nicht schlecht.“<br />

So marschierten sie statt zum Hotel über die Straße und wanderten noch eine gute Stunde<br />

durch den Bicentennial Park.<br />

sen?“<br />

nach.“<br />

*****<br />

Der Wecker klingelte um 4.15 Uhr am kommenden Morgen. Shawn stöhnte auf.<br />

„Man, es ist mitten in der Nacht, was soll das?“<br />

Kelly gähnte herzhaft. „Komm, du Schlafmütze, wir müssen ein Boot erwischen, verges-<br />

Shawn rollte sich auf die Seite und nuschelte: „Geh du mal vor, ich komme in drei Tagen<br />

Kelly erhob sich entschlossen und grinste gehässig. Sie griff nach Shawns Decke und riss<br />

sie ihm mit einem Ruck weg. „Los jetzt, raus aus dem Bett, sonst fahre ich allein zu den Wa-<br />

len.“<br />

Shawn rollte sich grunzend auf den Rücken und maulte: „Ja, mach das, dann kann ich we-<br />

nigstens in Ruhe weiter schlafen.“ Er raffte sich knurrend auf und saß verschlafen auf der<br />

Bettkante. „Das ist eine gemeine Zeit um aufzustehen ...“ Träge stemmte er sich hoch und<br />

584


wankte ins Bad hinüber. Kelly kochte schnell Kaffee und als der Schauspieler aus dem Bade-<br />

zimmer zurückkam, deutlich frischer, drückte sie ihm eine Tasse in die Hand.<br />

„Hier. Kipp die heiße Brühe aber nicht versehentlich in die falsche Öffnung ...“ Lachend<br />

brachte sie sich ins Bad in Sicherheit. Um viertel vor fünf machten sie sich auf den Weg zum<br />

Anleger. Um diese Zeit war auf den Straßen nichts los und so standen sie fünf Minuten später<br />

auf der Mole von Cullen Bay. Sie griffen sich ihre Hüte, Rucksäcke mit Wasser sowie die<br />

Jacken, die sie eingepackt hatten und marschierten zum Anleger hinüber. Die meisten anderen<br />

Gäste waren schon an Bord und kurze Zeit später konnten sie ablegen.<br />

Der Kapitän erklärte: „Wir werden ungefähr vier Stunden fahren. Macht es euch bequem<br />

und genießt die Fahrt. Das Wetter ist ideal, nicht viel Wind. Falls es jemandem schlecht wer-<br />

den sollte, wir haben gute Reisekrankheitstabletten in unserer Bordapotheke. Scheut euch<br />

nicht, uns anzusprechen, okay. So, und nun geht es los.“<br />

Insgesamt waren außer Shawn und Kelly noch acht andere Gäste an Bord, die nach und<br />

nach in die Kabine verschwanden.<br />

„Wollen wir runter gehen?“, fragte die Therapeutin und sah Shawn fragend an.<br />

„Nein, lass uns ruhig hier an Deck bleiben, wenn dir nicht kalt ist.“<br />

Sie setzten sich auf die Bank im Heck des Bootes und beobachteten, wie die Lichter Dar-<br />

wins langsam verschwanden. Als es um sie herum komplett dunkel war, merkte Kelly, dass<br />

Shawn fast im Sitzen einschlief.<br />

„Mein Güte, du bist aber noch müde heute Morgen, was? Na komm, leg dich lang und<br />

versuch noch zu schlafen.“<br />

Der junge Mann ließ sich dies nicht zweimal sagen. Er streckte sich auf der Bank aus, leg-<br />

te den Kopf auf Kellys Beine und war Augenblicke später eingeschlafen. Kelly lachte iro-<br />

nisch.<br />

„Na super ...“<br />

Sie angelte Shawns Jacke und breitete diese liebevoll über ihm aus. Sanft hielt sie ihn fest<br />

und sorgte so dafür, dass er nicht im Schlaf von der Bank rutschte.<br />

Gegen halb 7 Uhr ging die Sonne auf, aber Shawn hielt dies nicht für einen zwingenden<br />

Grund, aufzuwachen. Erst als gegen 8 Uhr die ersten Gäste zurück an Deck kamen wachte er<br />

seufzend auf.<br />

„Oh man, bin ich eingeschlafen?“, fragte er und sah verlegen zu Kelly hoch. Sein Kopf<br />

ruhte noch auf deren Oberschenkel und die junge Frau lachte.<br />

weg.“<br />

„Ja, selbstverständlich. Kaum, dass ich gesagt hatte, du sollst dich lang machen warst du<br />

Shawn richtete sich ein wenig steif auf und fragte verschlafen: „Wie spät ist es denn?“<br />

585


„Kurz nach 8 Uhr. Wir haben noch eine gute Stunde Fahrt vor uns. Das dort drüben ist Ba-<br />

thurst Island.“ Sie deutete auf eine Küstenlinie, die in zwei Meilen Entfernung zu erkennen<br />

war.<br />

„Bewohnt?“, fragte der Schauspieler und streckte sich.<br />

„Ja, ein wenig. Es gibt eine kleine Siedlung, Nguiu, hat vierzehnhundertfünfzig Einwoh-<br />

ner und noch zwei weitere, winzige Siedlungen. Es gibt einen kleinen Flughafen, damit im<br />

Notfall Rettungsflugzeuge landen können.“<br />

„Hört sich nicht nach etwas an, wo ich leben möchte.“, grinste der Schauspieler und erhob<br />

sich. Er trat an die Reling und sah auf das endlose Wasser hinaus. Angestrengt kniff er die<br />

Augen zusammen. Er sah etwas. „Sieh mal dort, ist das was oder ...?“ Er deutete auf einen<br />

Punkt im Wasser. Kelly war aufgesprungen und sah angestrengt in die Richtung, die Shawn<br />

andeutete. Dann sagte sie aufgeregt:<br />

Wal!“<br />

„Ja, eindeutig!“<br />

Sie rief über die Köpfe der Leute hinweg dem Kapitän zu: „Da drüben, links, dort bläst ein<br />

Der Kapitän hörte ihren Ruf und drehte sofort in die Richtung ab. Jetzt konnten es schnell<br />

alle erkennen. Dort schwamm tatsächlich einer der riesigen Meeressäuger und blies gerade<br />

eine feine Fontaine Wasser in die Luft. Schnell war das Boot hinüber zu dem großen Buckel-<br />

wal gefahren und man hörte nur das Klicken der verschiedenen Fotoapparate. Shawn machte<br />

Fotos und war gefangen von dem Anblick des riesigen Tieres. Doch das war erst der Anfang.<br />

Ein anderer Gast rief:<br />

„Seht mal, dort drüben.“<br />

Shawn und Kelly fuhren wie alle anderen Anwesenden herum und ein allgemeines Ah und<br />

Oh war zu hören. Ungefähr 25 Meter entfernt, schnellte sich einer der Wale gerade aus dem<br />

Wasser. Das Tier drehte sich und fiel mit einem lauten Platschen zurück. Shawn war begeis-<br />

tert. Kelly war genauso gefangen von dem Anblick, der sich ihnen hier bot.<br />

„Wie groß sind die?“, fragte der Schauspieler aufgeregt und beobachtete angespannt die<br />

Wasseroberfläche.<br />

„Sie werden zwischen 13 und 18 Meter lang. Ihr Gewicht liegt bei 25 bis 30 Tonnen. Da-<br />

mit gehören sie noch zu den kleinen Bartenwalen. Eigentlich leben sie eher allein, nur zum<br />

Jagen tun sie sich zu kleinen Gruppen zusammen. Hierfür treffen sich die Tiere über Jahre zu<br />

den gleichen Gruppen ein. Während der Paarungszeit werden die Männchen aggressiv gegen-<br />

einander. Sie kämpfen heftig um die Weibchen und fügen sich Verletzungen zu.“<br />

Shawn schüttelte ungläubig den Kopf. „Gibt es etwas, was du nicht weißt?“, fragte er, oh-<br />

ne den Blick von der Wasseroberfläche zu nehmen.<br />

„Ich liebe Tiere, ich habe zahllose Bücher über sie, sehe mir im TV jede Tiersendung an,<br />

und du weißt, dass bei mir das Meiste hängen bleibt.“<br />

586


„Ja, unglaublich.“<br />

Die nächste Stunde wurde für alle Gäste an Bord unvergesslich. Die Wale hielten sich<br />

lange in der Nähe auf und taten den Beobachtern den Gefallen, tüchtig anzugeben. Sie kamen<br />

teilweise so dicht an das Boot heran, dass man sie hätte berühren können. Zu guter Letzt ver-<br />

schwanden sie nach und nach in den Tiefen des Ozeans.<br />

„Sie werden stundenlang auf Jagd gehen, ich denke, das war es für heute.“, meinte der<br />

Kapitän. „Lasst uns zurück fahren. Hier wird sich kein Wal mehr zeigen.“<br />

Noch gefangen von dem, was sie zu sehen bekommen hatten, verteilten sich die Gäste auf<br />

dem Boot und der Kapitän steuerte zurück in Richtung des australischen Festlandes. Der<br />

Wind frischte auf und Kelly war froh, die Jacke eingepackt zu haben. Es wurde unruhiger auf<br />

dem Wasser und die ersten Passagiere stiller. Auch Shawn war schweigsam. Als Kelly ihn<br />

fragte, ob alles in Ordnung sei, nickte er verbissen.<br />

„Ja, kein Problem ...“ Dabei machte sein Gesichtsausdruck auf der weiteren Fahrt klar,<br />

dass es doch ein kleines Problem gab. Genervt ächzte er endlich: „Mir ist schlecht ...“<br />

Da war er nicht der einzige an Bord. Gerade kam eine junge Frau mit ihrem Begleiter aus<br />

der Kabine an Deck gehastet und wankte an die Reling. Sie musste sich heftig übergeben.<br />

Shawn starrte mit leicht glasigen Augen zu dem Pärchen hinüber und schluckte trocken. Has-<br />

tig sprang er ebenfalls auf und beugte sich über die Reling. Kelly erhob sich und trat zu dem<br />

jungen Mann. Während dieser sich übergab hielt sie ihn im Arm und strich ihm entspannend<br />

über den Rücken. Als er sich beruhigte reichte sie ihm eine Wasserflasche und meinte liebe-<br />

voll: <br />

rück.<br />

„Hier, Baby, spül dir den Mund aus, ich besorge dir Tabletten.“<br />

Leicht grünlich im Gesicht nickte Shawn apathisch und sank stöhnend auf die Bank zu-<br />

Kelly eilte in die Kabine hinunter und fand dort den Kapitän, der an einige andere Fahr-<br />

gäste Tabletten gegen Seekrankheit verteilte. Sie trat zu ihm und bat:<br />

„Ich benötige ebenfalls welche von Ihren Wundertabletten. Meinen Begleiter hat es auch<br />

erwischt.“<br />

Grinsend drückte ihr der Kapitän zwei Tabletten in die Hand und meinte: „Ich hab die Er-<br />

fahrung gemacht, dass die Dinger gut helfen. Viel Glück.“<br />

Kelly bedankte sich herzlich und eilte an Deck zurück, wo sie Shawn durchhängend auf<br />

der Bank vorfand. „Hier, Shawn, schluck die, dann wird es dir schnell besser gehen.“<br />

Mit leicht zitternden Händen nahm der Schauspieler die Tabletten entgegen und schluckte<br />

diese mit viel Wasser herunter. Kelly half ihm in seine Jacke, denn er fror heftig, und sagte<br />

besorgt:<br />

„Komm, leg dich hin, so wirst du dich wohler fühlen.“<br />

587


Shawn ließ sich seitlich auf die Bank sinken und sein Kopf kam auf Kellys Beinen zu lie-<br />

gen. Sie hielt ihn liebevoll fest und strich beruhigend mit der anderen Hand durch seine Haa-<br />

re. Nach zwanzig Minuten merkte sie, dass er entspannte. Kurze Zeit später verrieten ihr tiefe,<br />

gleichmäßige Atemzüge, dass er eingeschlafen war.<br />

„So ist es gut, verschlafe den Rest der Fahrt.“, flüsterte die Therapeutin liebevoll.<br />

Reisetabletten hatten beruhigende Wirkstoffe als Bestandteile und so war es kein Wunder,<br />

dass nicht nur Shawn einschlief. Alle anderen Gäste, die gezwungen gewesen waren, Tablet-<br />

ten zu schlucken, waren ebenfalls eingeschlafen.<br />

Die weitere Fahrt verging für Kelly ähnlich wie die Hinfahrt am Morgen. Sie saß still, um<br />

Shawn auf keinem Fall zu stören und langweilte sich. Endlich tauchte Darwin vor ihnen auf<br />

und an Bord wurde es lebendiger. Kelly beugte sich über Shawn und streichelte ihm sanft<br />

über die Wange.<br />

„Hey, Babe, du hast es geschafft, wir sind bald an Land.“<br />

Shawn seufzte leise und wachte allmählich auf. „Was? Sind wir da?“, fragte er tranig.<br />

Kelly half ihm, sich aufzusetzen und er streckte sich ächzend. Sie deutete nach vorne, wo<br />

die ersten Häuser Darwins zu erkennen waren. Der Schauspieler wurde lebendiger.<br />

„Sieht gut aus.“, meinte er und trat mit dem Fotoapparat in der Hand an die Reling. Er<br />

machte einige Fotos und setzte sich zurück zu Kelly. „Man, da hat es mich voll erwischt, was?<br />

Ab und zu kann ich es nicht ab ...“ Er verstummte verlegen. Kelly lächelte.<br />

„Das ist nicht schlimm. Normalerweise bin ich es, die seekrank wird.“<br />

Skeptisch schaute Shawn der jungen Frau ins Gesicht. Diese lachte.<br />

„Doch, im Ernst. Nicht jedes Mal, aber oft. Diesmal habe ich wohl nur aus Sorge um dich<br />

durchgehalten.“<br />

In Shawns Gesicht hielten sich Verlegenheit, Dankbarkeit und unendliche Liebe die Waa-<br />

ge. Er schüttelte fassungslos den Kopf und seufzte. „Gott, warum nur konnte ich dich nicht<br />

unter anderen Umständen kennenlernen?“<br />

*****<br />

Gegen 16.30 Uhr erreichten sie ihr Hotel. Sie machten sich frisch und setzten sich für eine<br />

Tasse Kaffee auf den großen Balkon. Shawn sah nach unten, wo der Hotelpool in der Spät-<br />

sonne glitzerte.<br />

„Kann man hier im Meer baden?“<br />

„Grundsätzlich ja, nur ist es in der Zeit zwischen Oktober und März gefährlich, weil in<br />

diesen Monaten die Würfelquallen in Küstennähe zu finden sind. Ihr Gift ist tödlich, sie gel-<br />

ten als die Nummer 3 der gefährlichsten Tiere der Welt. Wenn du schwimmen möchtest, müs-<br />

sen wir uns einen Strand suchen, der durch ein Netz geschützt ist.“<br />

588


Shawn verdrehte die Augen. „Gibt es hier etwas, was nicht beißt, sticht, oder anderweitig<br />

gefährlich ist?“<br />

Kelly tat, als müsse sie scharf nachdenken. Endlich schüttelte sie den Kopf. „Abgesehen<br />

von mir? Nein.“<br />

„Du? Du beißt ja nicht jeden, der sich dummerweise in deine Nähe begibt. Okay, ich glau-<br />

be, ich bade lieber im Pool.“ Er setzte sich und trank seinen Kaffee. Begeistert stieß er hervor:<br />

„Das war heute das großartigste Erlebnis, das ich je hatte!“ Er strahlte bei diesen Worten vor<br />

Begeisterung. Kelly nickte.<br />

„Ja, es war unbeschreiblich.“<br />

„Wie diese tonnenschweren Tiere sich so aus dem Wasser schnellen können ist Wahnsinn.<br />

Es sieht so spielend leicht aus, findest du nicht?“ Der Schauspieler sah sich die Fotos in seiner<br />

Kamera an und hielt sie Kelly hin. „Sind gut geworden, was ich hier so erkennen kann.“,<br />

meinte er zufrieden.<br />

„Ja, machen einen tollen Eindruck. Dein Vater hat Recht, du hast ein gutes Auge.“<br />

„Ja, wenn andere mir zeigen, was ich fotografieren soll.“<br />

„Komm, immerhin hast du den ersten Wal entdeckt!“<br />

49) Klammern und Wachs<br />

Grausamkeit ist Lustgewinn aus dem Leiden des Gefolterten.<br />

Prof. Dr. Alexander Mitscherlich<br />

„Was hältst du denn davon, wenn ich dir ein paar nette Motive in der Stadt zeige?“ fragte<br />

Kelly grinsend. „Es ist halb 6 Uhr, wir könnten Bummeln und uns später ein nettes Restaurant<br />

suchen.“<br />

Shawn zögerte kurz. Er dachte erneut an die vielen Menschen draußen. Mühsam raffte er<br />

seinen Mut zusammen. „Okay ... Aber wir passen auf, ja?“<br />

Kelly hörte die große Angst, die aus diesen Worten sprach. „Selbstverständlich tun wir<br />

das, Shawn.“ Sie nahm den Schauspieler bei den Händen und sagte ernst: „Baby, sie wissen<br />

nicht, dass du bei mir bist und sie haben keine Ahnung, wo sie nach dir suchen sollten. Dass<br />

sie uns zufällig über den Weg laufen ist fast unmöglich, denn dank des Fahndungsaufrufes<br />

können sie sich nirgendwo mehr blicken lassen ohne Gefahr zu laufen, erkannt zu werden. Du<br />

brauchst dir keine Sorgen zu machen. Und an die vielen Menschen wirst du dich schnell ge-<br />

wöhnt haben, vertraue mir.“<br />

„Ich vertraue dir ja. Ich habe nur ...“ Er schämte sich, auszusprechen, dass er höllische<br />

Angst hatte. Er brauchte es gar nicht auszusprechen, denn Kelly wusste es ohnehin.<br />

„Du brauchst keine Angst zu haben, Shawn, niemand wird dir etwas tun. Ich bin bei dir.<br />

Wenn du es nicht willst, lasse ich niemanden in deine Nähe. Das schwöre ich dir.“<br />

589


Shawn wurde vor Verlegenheit rot. „Was warst du in deinen vorherigen Leben? Body-<br />

guards?“<br />

„Nein, T-Rex.“<br />

Shawn stutzte kurz, dann lachte er los. „Gut, mit einem T-Rex an meiner Seite kann mir<br />

wohl nichts geschehen.“ Er zog Kelly an sich und sagte leise: „Ich danke dir!“<br />

Kelly ließ sich die Umarmung nur zu gerne gefallen und schüttelte den Kopf. „Kein Grund<br />

zu danken, ich würde jeden, der sich dir in böser Absicht nähert, in der Luft zerreißen.“<br />

Sie lösten sich voneinander und machten sich auf den Weg. In der Lobby war um diese<br />

Zeit viel los und Shawn sah sich unwillkürlich paranoid um. Dann merkte er, was er tat und<br />

trat sich selbst gedanklich in den Hintern. Er folgte Kelly nach draußen und sie wandten sich<br />

nach links. Gleich neben dem Hotel ging eine Straße ebenfalls nach links ab und dieser folgte<br />

Kelly. „Wir sind sofort down town Darwin, die eigentliche City ist nicht groß.“ Sie folgten<br />

der Peel Street einen Block weit, dann dirigierte Kelly den Schauspieler nach rechts in die<br />

Mitchell Street, eine der Hauptgeschäftsstraßen Darwins. Hier lagen viele Geschäfte, Banken,<br />

Restaurants, Hotels, Bars, und es waren viele Fußgänger unterwegs. Shawn ging unbewusst<br />

dich neben Kelly. Er versuchte seine Unsicherheit zu verbergen, doch die junge Frau merkte,<br />

dass ihr Patient vollkommen verkrampft war. Sie legte ihm einen Arm um die Taille und lä-<br />

chelte ihm Mut machend zu. Der junge Mann grinste unglücklich, war aber froh, dass er auf<br />

diese Weise Körperkontakt zu Kelly bekam. Er legte den Arm um die Schultern der Thera-<br />

peutin und so marschierten sie langsam die Mitchell Street entlang.<br />

Nach einiger Zeit bog Kelly erneut nach links ab. „An der nächsten Ecke beginnt ‘The<br />

Mall‘, die Fußgängerzone. Dort sind die schönsten Geschäfte. Falls du etwas brauchst, ist das<br />

die beste Gelegenheit.“<br />

„Da wir uns nicht mehr im Busch herum treiben, könnte ich ein paar Flip-Flops gebrau-<br />

chen. In den dicken Wanderschuhen ist es bös warm.“<br />

„Das ist eine gute Idee.“<br />

Sie hatten die nächste Straßenecke erreicht und vor ihnen lag die belebte Fußgängerzone.<br />

Sonnensegel und Bäume spendeten hier angenehmen Schatten. Schöne Geschäfte lockten zum<br />

shoppen. Shawn und Kelly fanden schnell ein Schuhgeschäft und kauften sich bequeme Flip-<br />

Flops. Dann schlenderten sie weiter. Einmal kam ihnen ein Typ entgegen, der Shawn sofort<br />

an Alan erinnerte. Kelly spürte, wie der junge Schauspieler in ihrem Arm steif wurde. Sie<br />

hatte den muskelbepackten Riesen ebenfalls gesehen und sagte beruhigend:<br />

„Hey, Schatz, alles in Ordnung, es ist nicht Alan.“<br />

Shawn schnaufte angespannt und meinte: „Du spürst alles, was? Ich brauche nicht einmal<br />

etwas zu sagen.“<br />

590


Kelly drückte ihn liebevoll an sich und meinte: „Das ist mein Job, Shawn. Ich spüre zum<br />

Beispiel auch, dass du Hunger hast.“ Selbstverständlich konnte sie das nicht spüren, sondern<br />

hatte Shawns Magen leise knurren hören. Verblüfft und deutlich abgelenkt starrte dieser sie<br />

an.<br />

„Wie hast du das gesp ...? Du kleine Hexe. Du hast meinen Magen knurren hören, gib es<br />

ruhig zu.“ Er lachte vergnügt los.<br />

Kelly war froh, dass sie ihn auf andere Gedanken gebracht hatte. Ebenfalls lachend gab sie<br />

zu: „Ja, habe ich.“<br />

„Ist ja kein Wunder, dass, was ich heute gegessen habe, habe ich an die Fische verfüttert.“<br />

„Was diese sicher dankbar angenommen haben.“, kicherte Kelly. „Wonach steht dir denn<br />

der Sinn?“<br />

rauf.<br />

„Egal, irgendwas.“<br />

Vor ihnen taucht ein diesem Moment ein indisches Restaurant auf und Kelly deutete da-<br />

„Wie wäre es mit einem schönen, scharfen indischen Curry?“<br />

„Gerne. Ich mag indisches Essen.“<br />

Sie marschierten gut gelaunt in das Restaurant und bekamen einen Tisch auf der Terrasse.<br />

Die Speisekarte war reichhaltig. Neben dem umfangreichen Menu gab es Cocktails. Da sie zu<br />

Fuß unterwegs waren fragte Kelly:<br />

„Wollen wir uns mal einen Cocktail gönnen?“<br />

Shawn brauchte nicht zu überlegen. Er spekulierte selbst mit einem Mai Thai. „Gerne.“,<br />

meinte er grinsend „Ich habe das gleiche gedacht. Ein schöner Mai Thai … Jammjamm.“ Er<br />

lachte vergnügt. Für den Augenblick hatte er vergessen, dass er Angst verspürte. Gerade kam<br />

die Bedienung und fragte, ob sie sich entschieden hatten.<br />

„Ja, wir sind so weit. Ich hätte gerne das Chicken Masala und einen Tequilla Sunrise.“<br />

Shawn bestellte sich ein scharfes Lammcurry und den Mai Thai.<br />

„Ich denke, wir nehmen noch Naan mit verschiedenen Dips als Entree, ist das in Ordnung<br />

für dich?“, fragte sie Shawn.<br />

„Gerne. Darf scharf sein.“, erklärte der Schauspieler.<br />

Während sie auf das Essen warteten, wollte Shawn wissen, was sie am kommenden Tag<br />

unternehmen wollten.<br />

„Naja, so viel hat Darwin nicht zu bieten, es sei denn, du möchtest gerne eine Kunstgalerie<br />

oder ein Museum besuchen. Der botanische Garten ist schön, der lohnt einen Besuch. Oder<br />

gibt es etwas, was du speziell unternehmen möchtest?“<br />

591


„Zurück zum Yellow Water … Aber sonst … Nein, ich wüsste nicht, dass es etwas gibt,<br />

von dem ich weiß, dass ich es sehen möchte.“ Er schwieg kurz, weil ihre Cocktails gebracht<br />

wurden. Als sie wieder allein waren fragte er: „Gibt es hier so was wie eine Krokodilfarm?“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht.“<br />

Sie prosteten sich zu und nahmen einen Schluck ihrer Cocktails.<br />

„Weißt du, Kakadu war großartig und du wirst die Erinnerungen immer im Herzen tragen.<br />

Aber es gibt noch vieles, was dich ebenso begeistern wird.“<br />

„Hast bestimmt Recht. Aber im Moment wird … ist mir das alles hier zu viel. Die vielen<br />

Menschen, der Lärm, da draußen war es so wundervoll friedlich. Das fehlt mir.“<br />

„Ja, wenn man längere Zeit im Outback war kommen einen größere Städte laut und unru-<br />

hig vor. Du wirst dich in kürzester Zeit daran gewöhnt haben, glaube mir. Wenn wir an der<br />

Ostküste sind, wirst du dich wieder an viele Menschen gewöhnt haben.“<br />

„Will ich das?“, erwiderte der junge Mann bedrückt.<br />

„Ja, das willst du auf jedem Fall, weil du ein normales Leben führen willst. Du bist kein<br />

Einsiedler.“, meinte Kelly überzeugt.<br />

Ihr Essen kam und es war eine Weile still am Tisch. Bald waren Kelly und Shawn satt.<br />

„Das war ausgezeichnet.“, meinte die junge Psychologin zufrieden.<br />

„Allerdings.“ Shawn lehnte sich gemütlich zurück und tunkte noch ein Stück Naan in ei-<br />

nen der Dips, die sie für das Brot bekommen hatten. „Der ist großartig. Und scharf.“ Er<br />

schaute einen Moment geistesabwesend auf seinen leeren Teller. „Weißt du, du hast Recht mit<br />

dem, was du vorhin gesagt hast.“<br />

Kelly sah erstaunt auf. „Was meinst du?“<br />

Shawn zuckte die Schultern. „Naja, dass ich in ein normales Leben zurück möchte. Ich<br />

will nicht den Rest meines Lebens Angst vor Menschen haben. Ich möchte nicht jedes Mal,<br />

wenn mir ein großer Mann mit Muskeln und kurzem Haar entgegen kommt, zusammenzucken<br />

und erstarren. Ich möchte mich unter Menschen bewegen können ohne ständig paranoid mei-<br />

ne Umgebung abzusuchen. Und ich bin kein Einsiedler. Ich werde hart daran arbeiten, mich<br />

normal unter Menschen bewegen zu können.“<br />

Kelly strahlte vor Freude. Dass Shawn von selbst den Kampf aufnehmen wollte, seine Un-<br />

sicherheit und Angst zu überwinden, freute sie.<br />

Sie gönnten sich noch einen zweiten Cocktail, unterhielten sich über alles Mögliche und<br />

nach einiger Zeit meinte Kelly:<br />

„Wollen wir langsam zurück ins Hotel? Ich möchte heute Abend zu Carrie gehen.“<br />

Shawn biss sich auf die Unterlippe und nickte. „Muss wohl weiter gehen.“ Er winkte einen<br />

Kellner heran und bezahlte. Auf der Straße herrschte noch Hochbetrieb. Touristen schlender-<br />

ten durch die Einkaufsstraße, Einheimische erledigten Einkäufe, in den Restaurants und Bars<br />

592


waren die Tische dicht besetzt. Kelly und Shawn schlenderten Arm in Arm gemütlich zum<br />

Hotel zurück. Das war für beide inzwischen vollkommen normal. Als sie an einem Geschäft<br />

mit Aborigine Kunst vorbei kamen bat Kelly Shawn spontan, einen Moment zu warten. Sie<br />

betrat den Laden und sah sich suchend um. An einer Wand entdeckte sie, was ihr unvermittelt<br />

durch den Kopf geschossen war. Hier hingen wunderschön bemalte Muscheln und Steine, an<br />

Bändern aus gedrehten Tierhaaren aufgezogen, an kleinen Haken. Eine Verkäuferin trat zu<br />

Kelly und fragte:<br />

„Hallo. Kann ich Ihnen helfen?“<br />

„Hallo. Ja, ich suche eine Kette für einen besonderen Menschen. Er hat eine schlimme<br />

Zeit hinter sich und könnte Schutz und Glück brauchen.“<br />

Die Verkäuferin nickte verstehend. „Dieser Perlmuttanhänger hier trägt das Symbol für<br />

Schutz und Glück.“ Sie nahm vorsichtig einen der Anhänger von der Wand und reichte diesen<br />

Kelly. Der Anhänger war flach und so groß wie ein australisches Zwanzigcent Stück, also um<br />

die 3 Zentimeter im Durchmesser. Die Muschelschale war in Form geschliffen, poliert und<br />

mit dem wunderschönen Symbol bemalt. Kelly nickte zufrieden.<br />

„Der ist wunderschön, ich nehme ihn.“ Sie folgte der Verkäuferin an die Kasse und suchte<br />

sich hier aus einem Korb noch einen schönen Bumerang aus. „Den nehme ich noch mit.“<br />

Als sie auf die Straße zu Shawn zurücktrat, drückte sie diesem den Bumerang in die Hand.<br />

„Hier. Ich dachte, wir könnten morgen damit üben.“<br />

„Gute Idee. Das wollte ich sowieso mal ausprobieren.“<br />

Zufrieden, den Schauspieler abgelenkt zu haben, erwiderte Kelly: „Ich hoffe, ich brauche<br />

kein Verbandsmaterial.“<br />

„Ich werde versuchen, mir nicht den Schädel damit einzuwerfen, und dir erst Recht nicht,<br />

versprochen.“<br />

Sie machten sich wieder auf den Weg und hatten zehn Minuten später das Hotel erreicht.<br />

Es war kurz nach halb neun Uhr und Kelly bat Shawn:<br />

„Beeile dich beim Duschen, okay, sonst wird es so spät.“<br />

„Ja, ich werde mich beeilen.“<br />

Fünfzehn Minuten später lagen beide geduscht und mit einem Glas Cola in der Hand auf<br />

dem Bett.<br />

„Alles klar bei dir? Bereit, zu berichten?“, fragte Kelly liebevoll und Shawn seufzte.<br />

„Ja, ich denke schon. Mir ist durch den Kopf gegangen, wie sie mich das erste Mal mit<br />

zwei weiteren Methoden, mir wehzutun, beglückten. Es gab zwar später viel schlimmere Din-<br />

ge, aber lustig war das auch nie ...“<br />

*****<br />

593


Carrie hatte Shawn den Befehl gegeben, sich um 11 Uhr im BDSM Raum einzufinden. Sie<br />

hatte ihm nicht gesagt, was sie vorhatte. Nervös war der Schauspieler ihrem Befehl nachge-<br />

kommen. Carrie erwartete ihn. Teresa, Karen und Brett lümmelten sich auf den Möbeln her-<br />

um und grinsten, als Shawn den Raum betrat.<br />

„Da ist ja unser Sklave. Wir wollen dir heute etwas Neues zeigen.“, grinste Karen und Te-<br />

resa dirigierte Shawn zum Andreaskreuz hinüber.<br />

Mit einem mehr als unguten Gefühl im Bauch ließ er sich an Hand- und Fußgelenken so-<br />

wie um die Taille an das Kreuz fixieren. Nervös wartete er, was passieren würde. Carrie trat<br />

mit einem kleinen Eimer in der Hand zu den beiden Frauen und Shawn sah, dass in dem Ei-<br />

mer einfache Holzwäscheklammern lagen. Erleichtert atmete er auf. Wäscheklammern. Die<br />

wirkten nicht sonderlich gefährlich. Er entspannte und wartete, was seine Folterknechte wohl<br />

mit diesen Klammern vor hatten. Sekunden später wusste er es. Gemeinsam begannen sie, ihn<br />

am ganzen Körper mit Klammern zu bestücken. An den Armen entlang, an Brust und Bauch,<br />

an den Brustwarzen, an den Seiten, an den Beinen hinab bis zu den Knien, und selbstver-<br />

ständlich an den Hoden und am Penis. Hier tat es, wie an den Brustwarzen, ziemlich weh,<br />

aber im Vergleich zu anderen Quälereien, die er über sich hatte ergehen lassen müssen, kam<br />

ihm dieses Spielchen direkt harmlos vor. Nach kurzer Zeit waren die betroffenen Stellen, an<br />

der die Klammern saßen, taub und er spürte nur noch den Druck.<br />

Als er auf dieses Weise mit an die fünfzig Klammern versehen worden war, traten die<br />

Freunde zurück und begutachteten ihr Werk. Brett schnippte mit den Fingern spielerisch ge-<br />

gen die Klammern am Penis und Shawn zuckte zusammen.<br />

„Wie lange wollen wir warten?“, fragte Teresa gierig. Carrie grinste.<br />

„Zehn Minuten, wir gehen eine Rauchen, dann befreien wir ihn.“<br />

Die anderen stimmten zu und so verließen alle vier den Keller. Shawn ließen sie unbeach-<br />

tet am Kreuz stehen. Der Schauspieler fühlte sich unwohl, hier so hilflos herumzustehen war<br />

unangenehm. Er versuchte, sich zu entspannen, aber die Haltung, die Arme so stramm nach<br />

oben gefesselt, die Beine weit gespreizt, war mehr als unbequem. Wie so oft kam es ihm so<br />

vor, als liefe die Zeit hier langsamer. Es kam ihm deutlich länger als zehn Minuten vor, bis<br />

die vier Freunde endlich wieder auftauchten.<br />

„Sieh an, er hat auf uns gewartet.“, lästerte Teresa gehässig. „Das ist praktisch. Da kön-<br />

nen wir ihn glatt mal von den Klammern befreien, was meint ihr?“<br />

Begierig kicherte Karen: „Gute Idee. Ich hole mal die Werkzeuge.“ Sie ging an den<br />

Schrank mit den Schlaginstrumenten und kam mit vier Gerten mit breiten Lederenden zurück.<br />

Shawn beobachtete nervös, wie die Frau allen eine dieser Peitschen reichte.<br />

„Wer will anfangen?“, fragte Karen grinsend.<br />

Sofort meldete sich Brett. „Ich. Lasst mich ihm zeigen, welch wundervolle Spielzeuge Wä-<br />

scheklammern sein können, okay?“<br />

594


Carrie nickte. „Klar, auf geht’s.“<br />

Shawn wappnete sich gegen eventuelle Schmerzen und biss die Zähne zusammen. Brett<br />

stellte sich vor ihn und begann, mit dem Lederpaddel am Ende der Gerte, hier und da an eini-<br />

gen der Klammern herum zu spielen. An den empfindlicheren Stellen, Brustwarzen, Penis,<br />

Hoden, war das ziemlich unangenehm. Shawn zuckte immer wieder zusammen. Trotzdem war<br />

dieses Spiel das bisher harmloseste. Dann holte Brett mit der Gerte aus und zielte auf eine<br />

der Klammern auf Shawns Oberschenkeln. Geschickt schlug Brett die Klammer ab und als<br />

schlagartig das Blut in die bisher abgeklemmte Hautpartie zurückschoss, keuchte der Schau-<br />

spieler überrascht und schmerzerfüllt auf. Carrie grinste gemein.<br />

„Tut weh, was? Was meinst du, wie schön es erst an sensiblen Stellen wird.“<br />

Shawn sah Carrie kurz an und schlagartig war sie da, die allgegenwärtige, heftige Angst.<br />

Er wusste plötzlich, dass auch diese Aktion für ihn in einem Desaster enden würde. Ohne et-<br />

was dagegen tun zu können fing er an zu zittern. Brett grinste zufrieden. Er schlug langsam<br />

und genüsslich nacheinander einige Klammern von Armen und Beinen ab und zielte dann auf<br />

eine der Klammern an Shawns Hoden. Bislang hatte der Gefesselte nur aufgekeucht, wenn<br />

eine Klammer davon flog. Als die Klammer von der zarten Haut des Hodens abgeschlagen<br />

wurde, konnte der junge Mann sich nicht mehr beherrschen. Der Schmerz, der entstand, war<br />

zu heftig. Er schrie auf und wand sich zuckend in den Fesseln. Es dauerte eine Weile, bis der<br />

Schmerz endlich nachließ. Shawn war schweißgebadet. Und es waren noch an die vierzig<br />

Klammern nach. Ihm wurde schlecht.<br />

Brett hatte genug und trat zufrieden zur Seite. Karen nahm seinen Platz ein und sie war<br />

es, die neben anderen die erste Klammer von seinen Brustwarzen abschlug. Shawn brüllte<br />

auf. Seine Brustwarzen waren sensibel und der Schmerz, der abrupt einsetzte war so qualvoll,<br />

dass der Schauspieler sich schreiend in den Fesseln wand. Es dauerte mehrere Minuten, bis<br />

der Schmerz endlich abklang. Noch war eine Brustwarze übrig. Tränen und Schweiß ver-<br />

mischten sich auf Shawns Gesicht und er zitterte am ganzen Leib. Sich abwechselnd schlugen<br />

die vier Freunde ihm nach und nach alle Klammern ab und als Carrie als letztes die zweite<br />

Brustwarze befreite, hing Shawn wimmernd in den Fesseln. Vor seinen Augen tanzten rote<br />

Kreise einen irren Reigen und er hatte einmal mehr den verzweifelten Wunsch, ohnmächtig zu<br />

werden. Doch das blieb ein frommer Wunsch. Nach und nach klangen die Schmerzen ab und<br />

der junge Mann fing sich wieder. Erledigt hing es in den Fesseln und sah an sich herunter.<br />

Die Klammern hatten überall an seinem Körper leuchtend rote Male hinterlassen. Müde ließ<br />

er den Kopf hängen. Er wollte nur noch auf sein Zimmer. Endlich tat Carrie ihm den Gefal-<br />

len. Sie machte ihn los und als er vor Erschöpfung zitternd vor ihr stand, die Hände ord-<br />

nungsgemäß auf dem Rücken verschränkt, die Beine gespreizt und den Kopf gesenkt, erklärte<br />

sie gönnerhaft:<br />

595


„Du kannst dich ausruhen. Heute Abend geht es weiter. Verschwinde jetzt.“<br />

*****<br />

Shawn stieß ein kleines, verzweifeltes Lachen aus. „Wie konnte ich auch nur eine Minute<br />

annehmen, einmal halbwegs glimpflich davon zu kommen?“ Er schwieg einen Moment und<br />

Kelly ließ ihn durchatmen. Langsam fuhr der Schauspieler fort. „Ich hätte es besser wissen<br />

müssen. Wenn sie mich nicht ausschließlich sexuell befriedigen wollten war alles, was sie mit<br />

mir anstellten, höllisch schmerzhaft.“ Er musste tief durchatmen bevor er weiter sprach.<br />

„Weißt du, diese Scheiß Klammern ... Solange sie am Körper sind, ist das alles kein Problem.<br />

Und an weniger sensiblen Körperpartien tut das Abschlagen nicht so extrem weh. Aber an<br />

Stellen wie den Hoden, Penis an den Seiten ... Oh, man, wenn das Blut rein schießt ...“ Er<br />

prustete gestresst. „Und dann an den Brustwarzen ... Ich bin da tierisch empfindlich. Dass<br />

hatten diese Bastarde schnell raus. Sie haben daraufhin gezielt die Brustwarzen bearbeitet.<br />

War ein gefundenes Fressen für sie, nachdem sie gemerkt hatten, wie empfindlich ich da war.<br />

Sie haben nichts ausgelassen. Schläge, Klammern, Nadeln, Feuer, Eis, Strom ... Ihr Einfalls-<br />

reichtum kannte keine Grenzen. Als sie das erste Mal mit Wachs zugange waren ... Das war<br />

kurz nach der erhebenden ersten Erfahrung mit den Wäscheklammern ...“<br />

*****<br />

Shawn schob seinen Teller zurück. Er hatte den ganzen Tag im Garten geschuftet und<br />

Hunger gehabt. Jetzt war er satt. Es hatte Steaks gegeben, mit Folienkartoffeln und Salat.<br />

Dass er mit den anderen zusammen hatte Essen müssen, noch dazu auf dem grässlichen Stuhl<br />

mit dem großen Buttplug sitzend, hatte dem Schauspieler das hervorragende Steak verleidet.<br />

Er saß stumm da, den Kopf gesenkt und hoffte, das Carrie ihn von dem elenden Stuhl erlösen<br />

würde. Doch die junge Frau ließ ihn noch eine Weile zappeln. Endlich erklärte sie:<br />

„Ich möchte, dass du in den Raum mit dem großen Tisch gehst und dich hinlegst, verstan-<br />

den? Wir kommen bald nach.“<br />

„Verstanden.“ Vorsichtig erhob er sich und konnte spüren, wie der Plug aus ihm heraus<br />

glitt. Er presste die Lippen zusammen, um nicht vor Ekel zu stöhnen. Schweigend und mit auf<br />

dem Rücken verschenkten Händen verließ er das Esszimmer und ging in den Keller hinunter.<br />

Er kam sich erneut wie ein Schaf auf dem Weg zur Schlachtbank vor. Er hatte keine Vorstel-<br />

lung, was ihn heute Abend erwarten würde.<br />

Als er den Raum mit dem Tisch erreicht hatte, beeilte er sich, sich auf diesen zu legen. Er<br />

wusste, dass jeder Raum von Carries Kameras überwacht wurde. Er wollte ihr keine Gele-<br />

genheit geben, ihn zusätzlich zu all den normalen Quälereien zu bestrafen. Wie sie ihn ange-<br />

596


wiesen hatte streckte er sich auf dem Tisch aus, spreizte die Beine und streckte die Arme über<br />

den Kopf. Dann lag er still da und harrte der Dinge, die unweigerlich kommen würden. Sein<br />

Herz pochte schmerzhaft in seiner Brust und er musste sich zwingen, nicht vor Anspannung<br />

und Nervosität zu Hecheln. Mit jeder verstreichenden Minute in der nichts geschah wurde er<br />

nervöser. Die Freunde ließen sich Zeit. Shawn wusste nicht, was besser war: Hier zu liegen<br />

und darauf zu warten, dass etwas geschah, oder das, was geschehen würde zu ertragen. Er<br />

zuckte heftig zusammen, als endlich die Tür auf ging und Carrie mit den anderen eintrat.<br />

Wohlwollend nickte die Frau.<br />

„Braver Sklave. Dann wollen wir dich mal von deiner Ungeduld erlösen, was? Karen,<br />

Teresa, fixiert ihn, stramm, wenn ich bitten darf.“<br />

Minuten später war Shawn an den Tisch gefesselt. Viel mehr als ein paar Zentimeter<br />

Spielraum ließen ihm die Fesseln nicht. Er presste die Zähne fest zusammen, um nicht mit<br />

diesen zu Klappern vor Angst. Brett und Carrie hatten, während die beiden Frauen Shawn<br />

fesselten, acht sogenannte Grabkerzen entzündet. Sie stellten diese auf den Tisch zwischen<br />

Shawns gespreizten Beine und unterhielten sich locker über ein Tennisturnier, welches sie vor<br />

einiger Zeit gemeinsam besucht hatten. Endlich fragte Brett begierig:<br />

„Sind die Kerzen soweit? Können wir mal anfangen, oder was?“<br />

Carrie nahm eine der Kerzen in die Hand und nickte zufrieden. „Ja, das sieht gut aus. Na,<br />

dann wollen wir dem Sklaven mal so richtig einheizen, was?“<br />

Die vier Freunde verteilten sich an die Längsseiten des Tisches und Shawn biss sich vor<br />

Angst auf die Lippen. Er ahnte, was kommen würde. Und richtig, schon hielten seine Folter-<br />

knechte die Kerzen in vielleicht 80 Zentimeter Höhe über seinen Körper. Langsam und ge-<br />

nussvoll kippten sie diese und dann fielen die ersten Wachstropfen auf Shawn herunter. Er<br />

zuckte erschrocken zusammen, als das Wachs auf seine nackte Haut tröpfelte. Noch war es<br />

nur warm, nicht einmal unangenehm, doch Shawn war sicher, so würde es nicht bleiben. Er<br />

verkrampfte sich vor Angst.<br />

Langsam senkten sich die Hände mit den Kerzen und die Tropfen fühlten sich wärmer an.<br />

Schnell bedeckten zahlreiche Wachsflecke seinen Körper, die Arme und Beine. Und die Ker-<br />

zen wurden weiter abgesenkt. Aus kaum noch mehr als 30 Zentimetern Abstand kleckerte das<br />

heiße Wachs auf ihn herab. Es war eindeutig schmerzhaft und Shawn zuckte heftig. Das war<br />

Carrie und ihren Freunden noch nicht genug. Der Abstand zwischen dem wehrlosen Körper<br />

und den Kerzen verringerte sich noch mehr und dann zielte Carrie auf Shawns linke Brust-<br />

warze. Shawn schrie gequält auf. Glühend heißt traf das Wachs seine Haut. Unwillkürlich riss<br />

er den Kopf in die Höhe und versuchte verzweifelt und selbstverständlich vergebens, den ent-<br />

stehenden Schmerz durch Pusten zu lindern. Brett ließ Wachs auf Shawns Hoden und Penis<br />

tropfen und der Gefesselte schrie abermals gepeinigt auf. Auf der zarten Haut an den Genita-<br />

597


lien tat das heiße Wachs extrem weh. Shawn hatte das Gefühl, seine Haut werfe Blasen. Keu-<br />

chend und zuckend lag er auf dem Tisch und bald bettelte er um Gnade. Carrie lachte.<br />

„Was, wo es gerade so viel Spaß macht?“ Teresa kicherte vergnügt<br />

„Da sind noch Stellen, die wir bisher nicht getroffen haben.“<br />

Wo das Wachs eine Schicht gebildet hatte, waren die Schmerzen nicht mehr schlimm, doch<br />

Teresa hatte Recht, es gab noch genügen freie Hautpartien, die gezielt ausgewählt wurden.<br />

Shawn war heiser und einmal mehr am Ende. Er zuckte nur noch wimmernd zusammen, wenn<br />

eine empfindliche Stelle getroffen wurde, ansonsten lag er still. Endlich hatten die vier Sadis-<br />

ten genug.<br />

Carrie grinste. „Das sieht hübsch aus, findet ihr nicht?“ Sie betrachtete Shawn, der zit-<br />

ternd und Schweiß überströmt still lag, aufmerksam.<br />

„Nehmen wir die Flogger?“, fragte Karen gierig und sah Carrie fragend an.<br />

„Ja, aber ich finde, wir sollten ihm einen Moment gönnen, sich einzukriegen. Sonst kann<br />

er es gar nicht richtig genießen, wenn wir ihm das Wachs vom Körper prügeln.“<br />

Zeit.“<br />

Gelächter klang auf.<br />

„Da hast du Recht.“, meinte Karen und sah mitleidlos auf Shawn herab. „Geben wir ihm<br />

Der junge Mann lag apathisch still. Der Schmerz, den das heiße Wachs verursacht hatte,<br />

klang ab. Stellen, an denen das Wachs kleine Brandwunden auf seiner Haut verursacht hatte,<br />

pochten und brannten unangenehm vor sich hin. Shawn war am Ende. Dass es für ihn noch<br />

nicht vorbei war, bekam er gar nicht mit. Sich darüber unterhaltend wie geil der Sklave aus-<br />

gesehen hatte, wenn das Wachs schmerzempfindliche Stellen getroffen hatte, ließen die<br />

Freunde gute zwanzig Minuten verstreichen.<br />

Shawn fing sich allmählich und wartete, dass man ihn losmachen würde. Doch das pas-<br />

sierte nicht. Nervös fragte er sich, wie lange sie ihn hier noch so liegen lassen wollten. Und<br />

dann meinte Carrie:<br />

„So, ich denke, wir können loslegen, er hat sich genug erholt.“<br />

Freudig eilte Teresa an den Schrank mit den Schlagwerkzeugen und Shawn erstarrte vor<br />

Schreck. Die Frau griff sich vier nicht zu starke Flogger, drückte jedem einen in die Hand<br />

und grinste.<br />

„Wir können dich doch nicht mit all dem Wachs bekleckert wegschicken.“<br />

Fassungslos wimmerte Shawn auf. „Nein ... bitte ...“<br />

Carrie lachte gehässig. „Stell dich nicht so an. Wir werden vorsichtig sein.“ Ihre Stimme<br />

triefte vor Sarkasmus. Brett lachte schallend.<br />

„Ja, sehr vorsichtig.“<br />

598


Shawn schloss verzweifelt die Augen. Schon trafen ihn die ersten Hiebe. Grundsätzlich<br />

waren die Flogger die harmlosesten Schlaggeräte, auf der von dem heißen Wachs extrem<br />

gereizten Haut verursachten sie heftige Schmerzen. So war der junge Mann schnell soweit,<br />

gellend zu schreien. Doch ebenso schnell verließ ihn die Kraft, seine Schmerzen noch weiter<br />

hinaus zu schreien. Er wand sich keuchend und zuckend in den Fesseln und schluchzte hilflos<br />

vor sich hin. Einmal mehr wünschte er sich, zu sterben, um endlich dieser Hölle zu entkom-<br />

men. Endlich hatten die vier Freunde genug. Lachend legten sie die Flogger beiseite und<br />

Brett keuchte:<br />

„Das war so geil.“<br />

Die anderen stimmten begeistert zu. „Ja, absolut. Man, das müssen wir schnell mal wie-<br />

derholen.“<br />

*****<br />

Haltlos schluchzend lag Shawn in Kellys Armen. Der Psychologin stürzten ebenfalls Trä-<br />

nen über die Wangen. Ihr war schlecht. Was Shawn da stockend erzählt hatte, traf sie bis ins<br />

Mark. Ihre Vorstellungskraft war extrem ausgeprägt, sodass sie das Gefühl hatte, dabei gewe-<br />

sen zu sein. Dabei gewesen und nicht in der Lage, Shawn zu helfen. Plastisch sah sie ihn vor<br />

sich, auf den Tisch gefesselt, die Haut feuerrot schimmernd von den Schlägen, zitternd und<br />

bebend ... Energisch schüttelte sie den Kopf. Nein! Sie durfte diese Bilder nicht zulassen,<br />

dann wäre sie keine Hilfe mehr für den Gefolterten. Die Therapeutin atmete tief durch und<br />

begann, sanft und liebevoll beruhigend auf Shawn einzureden.<br />

„So ist es gut, Baby, lass den Müll aus dir heraus. Lass es raus und nur noch positive<br />

Energie hinein. Das liegt hinter dir und wird dich nicht mehr behelligen können.“ Kellys Fin-<br />

ger strichen unendlich sanft durch Shawns Haare. Sie wusste, diese Geste half dem traumati-<br />

sierten jungen Mann, sich zu beruhigen. Allmählich fing Shawn sich und atmete tief durch.<br />

„Unglaublich, wie die es hinbekommen haben, aus vermeintlich harmlosen Dingen noch<br />

die Hölle zu kreieren.“ Er fuhr sich mit der rechten Hand über das Gesicht und wischte zittrig<br />

Tränen fort. „Nach dieser netten Einlage habe ich nie wieder den Fehler gemacht, zu denken,<br />

es könnte möglicherweise nicht so schlimm werden ...“ Shawn seufzte. „Als ... als sie die<br />

Flogger holten ... Ich dachte, oh Gott, das können die nicht ernst meinen! Mein Vorderkörper<br />

brannte. An vielen Stellen hatte das scheiß Wachs Brandblasen hinterlassen. Die sind am En-<br />

de so dicht runter gegangen mit den verdammten Kerzen ... Und wollten mit den Floggern<br />

drauf rum schlagen ... Als sie los legten ... Oh Gott, ich dachte, die Fetzen mir die Haut runter.<br />

So hat es sich angefühlt. Jeder einzelne Schlag traf auf Blasen und als die Wachsschicht durch<br />

die Treffer mehr und mehr zerbröselte ... Auf den Brandblasen taten die Hiebe so dermaßen<br />

weh ...“<br />

599


Kelly spürte Shawns Körper bei der Erinnerung an die Qual heftig zittern. Sie unterbrach<br />

ihn nicht, ließ ihn weiter sprechen.<br />

„Schnell hatte ich nicht mehr die Kraft, noch zu schreien. Ich hab nur noch zuckend da ge-<br />

legen und gewünscht, zu sterben. Doch das tat ich nicht.“<br />

Abermals musste er eine Pause einlegen, weil seine Stimme zu stark zitterte. Endlich fuhr<br />

er leise fort: „Sie haben mir das haften gebliebene Wachs mit den Fingern abgekratzt. Danach<br />

haben sie mich endlich losgebunden. Carrie hat mir geholfen, auf mein Zimmer zu kommen.<br />

Sie war zufrieden. Ich musste in die Wanne steigen und sie hat die letzten Wachsreste abge-<br />

spült. Mit heißem Wasser, versteht sich wohl von selber, oder? An der Wand ... Da war ein<br />

Stahlhaken, da hat sie mich dran gefesselt. Sonst wäre ich ... ich hätte nicht still halten können<br />

... Das heiße Wasser war wie Feuer auf der Haut. Nach dem Abspülen ... Sie hat mich auf<br />

mein Bett gefesselt und ... Ich habe sie angebettelt, mich nicht zuzudecken. Angefleht! Sie hat<br />

nur gegrinst und gemeint, es könnte kalt werden nachts ... Kannst du dir vorstellen, wie schön<br />

es war, als ... als es warm wurde auf den Brandblasen?“ Shawn verstummte erschöpft. Eine<br />

Weile schwieg er, war gedanklich zurückgekehrt zu Carrie, an jenem Abend, hilflos ans Bett<br />

gefesselt, die Vorderseite von kleinen Brandbläschen bedeckt. Er spürte das Brennen, als es<br />

unter dem Zudeck wärmer wurde. Er schluchzte auf und stieß hervor: „Das war eine der<br />

schlimmsten Nächte dort. Als Carrie am kommenden Morgen kam und endlich die Zudecke<br />

von mir herunter nahm, hab ich geheult vor Dankbarkeit. Sie hat mich verarztet und ich ... Ich<br />

war ihr so unendlich dankbar ... In dem Augenblick hätte ich alles für sie getan, weil sie mir<br />

geholfen hat ...“<br />

Kelly schüttelte es. Wie Carrie es geschickt hinbekommen hatte, dass Shawn Dankbarkeit<br />

empfand, war auf seine Art beeindruckend. Liebevoll sagte sie: „Das ist normal, sie hat dir in<br />

der Not geholfen und dein Unterbewusstsein hat sofort verdrängt, dass sie es war, die diese<br />

Not verursacht hat. Ich wünschte so sehr, ich könnte mehr für dich tun als nur zuzuhören. Ich<br />

würde den ganzen Horror so gerne von dir nehmen. Aber das kann ich nicht. Nur, wenn du<br />

dich damit auseinander setzt hast du eine Chance, es zu verarbeiten.“<br />

Shawn nickte langsam. „Das habe ich begriffen. Es hilft, es auszusprechen. So qualvoll es<br />

ist, sich an die Scheiße wieder und wieder erinnern zu müssen.“<br />

„Ja, qualvoll ist es, aber man muss es erneut durchleben, um es so zu verarbeiten.“<br />

Die Therapeutin streckte sich etwas und griff in ihre Nachtschrankschublade. Dort hatte<br />

sie das kleine Kästchen mit der Kette deponiert. Sie nahm es in die Hand und drehte sich zu<br />

Shawn herum. „Ich habe hier etwas für dich.“<br />

Erstaunt nahm der junge Mann das Schmuckkästchen entgegen. „Was ist das?“, fragte er<br />

verlegen.<br />

600


„Mach es auf, dann siehst du, was es ist.“<br />

Neugierig hob Shawn den Deckel ab. Seine Augen weiteten sich.<br />

„Das ist ein Aborigine Glücks- und Schutzsymbol.“ erklärte Kelly ruhig. „Ich dachte, du<br />

könntest beides vertragen.“<br />

Shawns Augen schimmerten feucht, als er den Perlmuttanhänger aus dem Kästchen nahm.<br />

Er streifte sich das Lederband, an dem der Anhänger befestigt war, über den Kopf. Auf seiner<br />

braun gebrannten Haut bildete das Weiß der Perlmuttschale einen kräftigen Kontrast. „Er ist<br />

wunderschön. Ich danke dir.“ Er umarmte Kelly heftig und drückte sie an sich. Die Psycholo-<br />

gin hielt den jungen Mann fest und erklärte:<br />

„Hab ich gerne gemacht. Die Aborigines glauben fest an ihre Symbole. Also trage ihn und<br />

nutze seine Kraft.“<br />

Shawn war von Kellys Geste gerührt. Er fragte sich, wie er der Therapeutin nur ansatzwei-<br />

se für das Danken konnte, was sie für ihn tat. „Ich werde meine ganzen kommenden Leben<br />

damit verbringen, dies alles an dir gut zu machen.“, meinte er schmunzelnd.<br />

„Ja, ich weiß, dein Dank wird mir ewig nachlaufen ... und mich nie einholen.“<br />

Shawn schüttelte lachend den Kopf. „Lernt man das im Psychologiestudium? Das richtige<br />

im richtigen Moment zu sagen? Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft du die peinlichsten<br />

Momente so überspielt hast.“<br />

„Nein, das gehört nicht zum Studium. Das bin ich. Ich stelle immer wieder fest, wie sehr<br />

mache Menschen dazu neigen, Sachen unnötig zu verkomplizieren. Das muss nicht sein. Ich<br />

habe dir so oft gesagt, dass du mir nicht danken musst. Shawn, ich liebe dich, ich ... Alles,<br />

was ich für dich tue ist selbstverständlich, okay. Es macht mich glücklich und es macht mir<br />

unglaublich Freude. Das ist Dank genug. Und jetzt sollten wir langsam Schlafen, es ist spät<br />

und du siehst müde aus.“<br />

Shawn hatte beschämt zugehört. Leise meinte er: „Du bist unglaublich.“ Er konnte ein<br />

Gähnen nicht mehr unterdrücken. „Ja, du hast Recht, ich bin müde. Lass uns Schlafen.“<br />

Er stand auf und verschwand noch einmal im Bad. Minuten später schaltete Kelly die<br />

Nachtschranklampe aus und wünschte Shawn eine gute Nacht.<br />

50) Auf nach Queensland<br />

Freude lässt sich nur voll auskosten, wenn sich ein anderer mitfreut.<br />

Mark Twain<br />

Am kommenden Morgen saßen Kelly und Shawn um kurz vor 8 Uhr zusammen mit weni-<br />

gen anderen Gästen im Hotelrestaurant und ließen sich ein Frühstück vom Buffet schmecken.<br />

601


„Himmel, ist das reichhaltig. Sieh dir das nur an. Gekochte Eier, Rührei, Spiegelei, hart<br />

gekochte Eier, Speck, Pilze, Würstchen, gegrillte Tomaten, Aufschnitt, Käse, Cereals, Pfann-<br />

kuchen, das Obst ... Zu schade, dass ich keine zwei Mägen habe.“<br />

„Freundchen, du bist verfressen.“<br />

Der junge Mann grinste unschuldig. „Was denn? Ich habe mich die letzten Wochen vor-<br />

zugsweise von lauwarmen Würstchen und Toast ernährt. Da werde ich doch wohl ein gutes<br />

Frühstück würdigen dürfen.“ Er nahm sich Rührei, Speck, eine Bratwurst, Pilze, Tomate und<br />

Brot und sah Kelly zu, die sich an den Cereals und der wundervollen Obstplatte bediente. Als<br />

sie an ihrem Tisch saßen, füllte sich das Restaurant allmählich. Shawn wurde zusehends ner-<br />

vöser. Unablässig ließ er seine Blicke unruhig über die anderen Gäste gleiten, bis Kelly ent-<br />

schlossen über den Tisch hinweg nach seinen Händen griff.<br />

„Shawn, hör auf damit! Dir droht hier keine Gefahr. Du machst dich verrückt, wenn du so<br />

paranoid reagierst.“<br />

Shawn wurde rot. Ertappt nickte er. „Du hast Recht. Ich benehme mich echt paranoid. Tut<br />

mir leid.“<br />

„Das braucht es nicht. Aber es ist unnötig, dass du deine Umgebung alle paar Sekunden<br />

scannst. Dir droht keine Gefahr.“<br />

Eine Stunde später am Strand, wo sie mit dem Bumerang üben wollten, griff Kelly das<br />

Thema noch einmal auf. Sie setzte sich in den steinigen Sand und bat Shawn: „Setzt dich bitte<br />

zu mir.“<br />

Vorsichtig ließ Shawn sich neben ihr nieder. „Der Strand ist aber nicht schön hier, was?“<br />

„Nein, ist er nicht, nichts für einen gemütlichen Strandtag.“, stimmte Kelly zu. Sie griff<br />

nach Shawns Händen und erklärte ruhig, „Hör zu, ich weiß, dass es unglaublich schwer ist,<br />

aber um die Therapie erfolgreich fortzusetzen ist es wichtig, dass du dich von der Angst, Car-<br />

rie könnte hinter jeder Ecke lauern, frei machst. Es engt dich ein und du konzentrierst dich<br />

wieder einmal nicht auf dein eigentliches Problem. Wenn du der Meinung bist, du schaffst es<br />

nicht, dich sicher zu fühlen, hier, unter Menschen, dann müssen wir den Trip abbrechen und<br />

nach Eildon zurückkehren. Es tut mir so leid, aber einen angstschlotternden Patienten, der mit<br />

seinen Gedanken ständig woanders ist, kann ich nicht weiter unterwegs Therapieren, verstehst<br />

du das?“<br />

Shawn war unter Kellys ruhigen Worten regelrecht zusammen geschrumpft. So leise, dass<br />

Kelly sich anstrengen musste alles zu verstehen, erwiderte er: „Es tut mir leid ... Ich wollte<br />

dich nicht verärgern ... Es ist nur ... Ich kann nicht ... nicht wegschalten, dass ich ... Angst<br />

habe.“ Er verstummte unglücklich.<br />

„Ich weiß. Aber, Shawn, du bist inzwischen gefestigt genug, dich zusammen zu reißen,<br />

dich zu Beherrschen. Du läufst, seit wir in Darwin angekommen sind, mit Scheuklappen her-<br />

602


um, bist nur noch damit beschäftigt, deine Umgebung zu Kontrollieren, statt dich auf die The-<br />

rapie zu Konzentrieren. Dagegen müssen wir etwas tun. Beherrschst du Selbstverteidigung?“<br />

Shawn sah erstaunt auf. „Nein ... Ich habe mich nie mit so was beschäftigt.“<br />

„Verstehe. Es könnte dir helfen, wenn ich dir ein paar Kniffe beibringe, wie du Angreifer<br />

abwehren kannst. Unter Umständen fühlst du dich dann sicherer. Eine andere Maßnahme wä-<br />

re es, dich zu hypnotisieren, aber das wäre ehrlich gesagt nicht gerade meine erste Wahl.“<br />

drückt.<br />

Shawn starrte vor sich auf den Boden. „Du könntest mir das beibringen?“, fragte er be-<br />

„Das könnte ich. Wenn es dir helfen würde, dich sicherer zu fühlen, könnten wir heute<br />

noch anfangen.“<br />

„Möglicherweise würde es mir helfen, theoretisch zu wissen, was ich im Falle eines Falles<br />

machen könnte. Dann würde ich mich nicht mehr so unglaublich hilflos und ausgeliefert füh-<br />

len.“ Der junge Mann ließ deprimiert den Kopf hängen. Kelly drückte sanft seine Hände.<br />

„Lass den Kopf nicht hängen, Shawn. Ich bin überzeugt, dass es dir helfen würde. Du<br />

würdest dich sicherer fühlen, wenn du dich wehren könntest. Pass auf, wir machen folgendes:<br />

Erst einmal werde ich dir beibringen, wie man einen Bumerang handhabt. Wenn du das be-<br />

herrscht, ohne dich und deinem Umgebung in Lebensgefahr zu bringen, werden wir uns ein<br />

Sportstudio suchen, und ich bringe dir ein paar Griffe bei, mit denen man sich Angreifer ef-<br />

fektiv vom Hals halten kann.“<br />

Shawn sah etwas hoffnungsvoller aus. „Und du meinst, das bekomme ich wirklich hin?“<br />

Kelly lachte liebevoll. „Selbstverständlich. Hey, ich habe es hinbekommen, und ich bin<br />

eine Niete in manchen sportlichen Aktivitäten.“ Sie erhob sich und zog den Schauspieler<br />

ebenfalls auf die Füße. „Komm, lass uns anfangen.“<br />

„Ich bin gespannt auf Queensland.“<br />

*****<br />

Seit einer guten halben Stunde befanden sie sich über dem Golf of Carpentaria. Allmäh-<br />

lich näherte sich die Qantas Maschine, die nur zur Hälfte besetzt war, der Cape York Peninsu-<br />

la.<br />

„Wenn wir wieder über dem Festland sind, über Cape York, dauert es nur noch knappe<br />

fünfundvierzig Minuten, bis wir Cairns erreichen.“, erklärte Kelly lächelnd.<br />

Sie hatten den vergangenen Tag genutzt, um Shawn den Umgang mit einem Bumerang<br />

beizubringen und viel Spaß dabei gehabt. Shawn hatte den Dreh schnell heraus und sie mach-<br />

ten einen kleinen Wettbewerb daraus. Kelly kam es in erster Linie darauf an, Shawn ein Er-<br />

folgserlebnis zu gönnen, welches Spaß machte. Den Nachmittag verbrachten sie dann in ei-<br />

nem Sportstudio, dessen Besitzerin ihnen freundlicherweise und für einen guten Preis einen<br />

603


Raum mit dicken Sportmatten zur Verfügung gestellt hatte. Hier hatte Kelly Shawn einen<br />

Crashkurs in Sachen Selbstverteidigung gegeben. Unterstützung erhielten sie sogar noch von<br />

einem der Trainer des Sportstudios. Erledigt, aber ausgestattet mit einigen effektiven Abwehr-<br />

und Verteidigungsgriffen war Shawn am Abend neben Kelly ins Bett gefallen. Ihm hatte alles<br />

weh getan, aber er fühlte sich weniger wehrlos. Zwar räumte er ein, beim eventuellen Auftau-<br />

chen Carries wohl nach wie vor wie gelähmt zu sein, aber er traute sich nun durchaus zu, Ka-<br />

ren, Teresa und selbst Alan effektiv abwehren zu können. Und das hatte ihm eine Sicherheit<br />

gegeben, die zu diesem Zeitpunkt von Nöten gewesen war.<br />

*****<br />

Der Schauspieler sah aus dem kleinen Fenster und konnte in einiger Entfernung voraus ei-<br />

ne dunkle Masse im Wasser erkennen. „Ist das Cape York?“, fragte er Kelly.<br />

„Ja, wir haben den Golf bald geschafft. Hör mal, ich würde gerne in Cairns mit dir in ein<br />

richtig großes Hotel gehen. Das Cairns Hilton ist ein fabelhaftes Hotel und es liegt zentral.“<br />

„Das ist okay, ich möchte mich nicht mehr verstecken, also können wir ein großes Hotel<br />

nehmen.“ Er wandte sich Kelly zu. „Was hat Cairns denn so zu bieten?“<br />

Kelly lehnte sich bequem zurück und erklärte: „Cairns selbst ist eine schöne Stadt. Und<br />

man kann von dort herrliche Ausflüge machen, zum Beispiel nach Daintree, ins Atherton Tab-<br />

leland, nach Green Island oder Fitzroy Island. Wir werden uns ...“ Sie überlegte kurz und fuhr<br />

fort: „ ... drei Tage nehmen, das sollte reichen. Aber wir werden ein volles Programm haben.“<br />

Shawn zuckte die Schultern. „Kein Problem.“<br />

Die Psychologin grinste. „Früh aufstehen ...“<br />

„Kein Problem.“, wiederholte der Schauspieler ebenfalls grinsend.<br />

Eine gute Stunde später standen sie in Cairns am Schalter der Avis Autovermietung und<br />

nahmen einen Pajero Geländewagen in Empfang. Schnell hatten sie ihre wenigen Gepäckstü-<br />

cke verladen. Das meiste Equipment war ja in Darwin zurückgeblieben. Die ganze Camping-<br />

ausrüstung ging per FedEx zurück nach Eildon. Sie hatten nur noch die großen Rucksäcke mit<br />

ihren Kleidungstücken bei sich. Die waren schnell verstaut. Kelly setzte sich ans Steuer und<br />

fuhr zusammen mit anderen Fahrzeugen in Richtung Captain Cook Highway vom Airportge-<br />

lände herunter. Bis in die City waren es nur etwas mehr als 4 Kilometer. Shawn sah sich auf-<br />

merksam um und was er sah gefiel ihm. Zwischen Gebäuden hindurch konnten sie aufs Meer<br />

hinaus blicken. Gepflegte Häuser mit hübschen Vorgärten wechselten sich mit Hotelanlagen<br />

ab. Der Verkehr nahm zu und sie kamen nur noch langsam voran. Doch endlich tauchte das<br />

Hilton vor ihnen auf. Kelly steuerte den großen Parkplatz an und kurze Zeit später betraten sie<br />

zusammen das 5 Sterne Hotel. Eine Suite zu bekommen war kein Problem. Kelly bat um<br />

604


Blick nach Norden über den Hafen und Minuten später standen sie in ihrer Unterkunft im<br />

siebten Stock den Hotels.<br />

Zuerst einmal traten sie auf den großen Balkon hinaus und genossen den herrlichen Aus-<br />

blick über den Jachthafen und aufs Meer. Eine Weile standen sie so nebeneinander und<br />

Shawns Augen funkelten.<br />

„Wie sieht es denn aus, kann man hier im Meer Baden?“<br />

Die Therapeutin verzog bedauernd das Gesicht. „Ich fürchte, ich muss dich da enttäu-<br />

schen. Es gibt hier, noch mehr als in Darwin, die Würfelquallen in den Wintermonaten. Drau-<br />

ßen am Riff ist es kein Problem, und ein Stück weiter nach Süden geht es auch, aber hier ...<br />

Nein, leider nicht.“<br />

okay.“<br />

Shawn sah enttäuscht aus. Seufzend meinte er: „Naja, dann erst etwas später. Der Pool ist<br />

„Du wirst noch zu deinem Bad im Meer kommen, mach dir da mal keine Gedanken.“<br />

Sie traten in ihre Suite zurück und sahen sich um. Der Wohnraum war groß, mit einer ele-<br />

ganten Sitzgruppe, einer gemütlichen Liegecouch mit Beistelltisch und großem Plasmabild-<br />

schirm ausgestattet. Das Bad war ebenfalls großzügig, beinhaltete eine Dusche und eine Eck-<br />

badewanne. Im Schlafzimmer stand ein King Size Bett, ein Frisiertisch und an der Wand ge-<br />

genüber dem Bett war ebenfalls ein Bildschirm angebracht.<br />

ge.<br />

„Wir leben nicht schlecht, was?“, meinte Shawn und schnalzte anerkennend mit der Zun-<br />

„Ach, komm, das haben wir uns nach all der Zeit im Zelt wohl verdient.“, meinte Kelly<br />

und ließ sich zufrieden auf das Bett sinken. „Herrlich bequem.“, erklärte sie und sah Shawn<br />

an. „Wie ist es, wollen wir noch etwas unternehmen? Es ist noch früh, gerade mal halb drei,<br />

wir haben bis zum Sonnenuntergang noch dreieinhalb Stunden Sonnenlicht.“<br />

„Gerne. Hast du ein spezielles Ziel?“<br />

Die Therapeutin schüttelte den Kopf. „Nein, lass uns einfach ein Stück nach Norden fah-<br />

ren, du wirst begeistert sein.“<br />

Sie machten sich auf den Weg. Kelly fuhr, damit Shawn sich in Ruhe draußen umsehen<br />

konnte. Sie hielt sich auf dem Captain Cook Highway und passierte etwas später den Airport.<br />

Kurz danach überquerten sie den Esplanade River und es wurde deutlich ländlicher. Westlich<br />

erhoben sich die aus Regenwald bestandenen Ausläufer der Great Dividing Range 21 mehrere<br />

hundert Meter hoch in den blauen Himmel. Weiter ging es auf dem Highway und Shawn war<br />

begeistert.<br />

21 Die Great Dividing Range ist Australiens größter Gebirgszug. Sie erstreckt sich von der Nordostspitze Queenslands die gesamte Ostküste<br />

durch New South Wales hinunter bis Victoria. Hier nimmt sie eine westliche Richtung und verliert sich schließlich im Westen des Bundesstaats<br />

an den letzten Ausläufern der Grampian Mountains. Sämtliche Hochgebirgsbereiche inklusive des höchsten Bergs Australiens,<br />

Mount Kosciuszko (2228 m), gehören zur Great Dividing Range. Ihre höchsten Abschnitte sind als Australische Alpen bekannt.<br />

605


„Das sieht wie eine grüne Wand aus. Geht es dort hinein?“<br />

„Morgen, heute wird das zu spät. Wir werden morgen Früh los fahren, durch den Regen-<br />

wald, nach Kuranda und später ins Atherton Tableland.“<br />

Begeistert meinte der Schauspieler: „Das ist großartig. Es muss fantastisch sein.“<br />

Sie passierten die kleine Ortschaft Smithfield und stießen auf einen großen Roundabout.<br />

Kelly hielt sich hier links und dann strahlte Shawn wie ein Lotteriegewinner.<br />

„So, du hast also kein spezielles Ziel?“, fragte er lachend.<br />

Kelly schüttelte unschuldig den Kopf. „Nein, wieso?“ Sie setzte gerade den Blinker und<br />

bog auf einen Weg ab, der mit einem großen Schild am Straßenrand auf sich aufmerksam<br />

machte. ‘AJ Hacketts Bungy Tower‘ stand auf besagtem Schild. Die Therapeutin kicherte<br />

vergnügt.<br />

„Na, so ein Zufall.“ Sie hielt auf dem Parkplatz und zusammen stiegen sie aus dem Wa-<br />

gen. „Oder willst du nicht?“, fragte sie Shawn.<br />

„Harhar. Und ob ich will!“, erklärte der junge Mann strahlend.<br />

Sie eilten auf das Hauptgebäude zu. Hier hatten sie Glück, es war gerade relativ wenig los.<br />

Zehn Minuten später wussten sie von einander, wie viel der andere wog. Sie hielten ihre Ti-<br />

ckets für den Sprung in die Tiefe in den Händen und machten sich auf den Weg zum Tower.<br />

Und dann sahen sie das 40 Meter hohe Gebilde. In mitten des paradiesisch anmutenden Re-<br />

genwaldes tauchte es aus dem Grün auf.<br />

reicht.<br />

„Bist du fit?“, fragte Kelly und deutete in die Höhe. Sie hatten den Fuß des Turmes er-<br />

„Wer zuerst oben ist?“<br />

„Auf geht’s.“<br />

Sie rannten los und Kelly musste sich am Ende keuchend Shawns langen Beinen geschla-<br />

gen geben.<br />

„Der Sieger zahlt das Abendessen.“, schnaufte sie und versuchte, zu Atem zu kommen.<br />

Als sie wieder ruhig atmeten, sahen sie erst einmal in die beeindruckende Tiefe.<br />

„Oh man, auf was habe ich mich denn da eingelassen?“, meine die Psychologin lachend<br />

und sah zu dem kleinen, künstlich angelegten See 40 Meter unter ihnen. Man konnte sich<br />

wahlweise für Eintauchen ins Wasser oder ohne dies entscheiden. Kelly hatte sich gegen das<br />

Eintauchen entschieden, Shawn dafür. Die Aussicht vom Tower über das Land war wunder-<br />

schön. Eine Weile genossen sie die Sicht, dann meinte der Schauspieler zappelig:<br />

„Wollen wir mal langsam? Mir juckt es in den Fingern.“<br />

Kelly stimmte zu. Sie freute sich auf den Sprung. „Na klar, komm. Ich will zuerst.“<br />

Gemeinsam traten sie zu den Mitarbeitern am Absprungbrett und drückten diesen ihre Ti-<br />

ckets in die Hand.<br />

606


„Wer will zuerst?“<br />

„Ich!“<br />

Kelly bekam Shawns Hemd in die Hand gedrückt und wickelte es sich um die Taille. Nun<br />

wurden ihre Knöchel dick gepolstert und verschnürt. Noch einmal wurde der Sitz des Gum-<br />

mibandes gründlich überprüft, dann erst durfte die junge Frau auf das Absprungbrett hinaus<br />

gehen. Shawn spürte eine gewisse Nervosität in sich aufsteigen. Doch er hatte keine Zeit, sich<br />

Sorgen um Kelly zu machen, denn diese zögerte nicht lange. Sie federte einige Male auf dem<br />

Sprungbrett und hob mit dem lauten Ruf:<br />

„Hooka hey!“, mit einem eleganten Kopfsprung ab. Rasend schnell kam die Wasserober-<br />

fläche auf sie zu und das Adrenalin schoss durch den Körper der jungen Frau und versetzte<br />

diesen in pure Euphorie! Und schon wurde sie vom Gummiband zurückgefedert. Einige Male<br />

wurde sie in die Höhe gerissen, was sie unwillkürlich mit begeisterten Schreien quittierte.<br />

Schließlich hatte sie ausgependelt und hing über dem Wasser. Lachend ließ sie sich in das<br />

kleine Ruderboot ziehen, dass zu ihr kam, kaum, dass sie ruhig hing.<br />

„Das war großartig!“<br />

Minuten später stand sie am Ufer und wartete auf Shawn, der oben fertig gemacht worden<br />

war. Sie sah zum Sprungbrett hoch und beobachtete, wie der junge Schauspieler an dessen<br />

Kante trat. Er drehte sich herum, sodass er mit dem Gesicht zum Tower stand. Dann federte er<br />

einige Male auf und ab, bis er viel Schwung drauf hatte. Elegant sprang er rückwärts ab und<br />

drehte sich in der Luft geschmeidig herum. Er raste, wie Minuten zuvor Kelly, auf die Was-<br />

seroberfläche zu und tauchte im nächsten Moment bis zur Taille ein. Lachend wurde er eben-<br />

falls von dem Gummiband wieder in die Höhe gerissen und da er schwerer war als Kelly dau-<br />

erte es bei ihm länger, bis die Schwingungen aufhörten. Doch endlich hing er still, wurde<br />

ebenfalls von dem Ruderboot eingefangen und sicher an Land gebracht. Lachend umarmte er<br />

Kelly und sagte begeistert:<br />

„Das war genial. Ich könnte den ganzen Tag springen!“<br />

Die junge Frau war nicht weniger begeistert. „Ich auch, das kannst du mir glauben.“<br />

Zufrieden setzten sie sich auf eine kalte Cola ins zum Tower gehörende kleine Restaurant.<br />

Kelly hatte Shawn sein Hemd gereicht und als dieser wieder so gut wie trocken war, streifte er<br />

es sich über.<br />

„Das war eine großartige Idee, Baby, damit hast du mir wieder eine riesige Freude ge-<br />

macht.“, erklärte der Schauspieler, als sie ihre Getränke vor sich stehen hatten.<br />

Kelly lächelte zufrieden. „Das freut mich. Aber das habe ich nicht nur für dich gemacht,<br />

sondern ebenso für mich. Ich liebe Bungy Jumping.“<br />

Sie sahen noch eine gute halbe Stunde anderen Springern zu, unterhielten sich und mach-<br />

ten sich dann auf den Rückweg. Es war kurz vor 18 Uhr und Kelly fragte:<br />

607


„Wie ist es, wollen wir was essen?“<br />

„Gerne, ich habe Hunger.“, gab Shawn zu.<br />

Kelly steuerte ans Wasser hinunter und zum Pier Shopping Center. Sie fanden einen Park-<br />

platz und machten sich auf den Weg. Die Therapeutin deutete auf ein Fischrestaurant.<br />

„Tha Fish, ist wohl das beste Seafood Restaurant im Norden.“, erklärte sie.<br />

Gemeinsam betraten sie das Restaurant, baten um einen Tisch auf der Terrasse und hatten<br />

etwas später ihr Essen vor sich stehen. Eine Weile war es still am Tisch. Beiden schmeckte es<br />

ausgezeichnet. Als sie langsam gesättigt waren, kam eine Unterhaltung auf.<br />

„Und, wie fühlst du dich heute?“, fragte Kelly den Schauspieler.<br />

„Großartig. Sag mal ... Diese Gefühlsschwankungen ... Einen Tag so, den anderen Tag so,<br />

ist das normal?“<br />

„Ja, das ist absolut normal. Deine Gefühlslage wird sich im Laufe der Zeit beständig stabi-<br />

lisieren. Je sicherer du wirst, je sicherer werden deine Gefühle werden. Die extremen Stim-<br />

mungsschwankungen werden nachlassen.“<br />

„Hoffentlich. Ich komme mir teilweise richtig schizophren vor. Himmelhoch jauchzend zu<br />

Tode betrübt.“<br />

„Das sind Auswirkungen, die traumatische Erlebnisse auf unsere Gefühlswelt haben. Da-<br />

gegen ist, abgesehen von starken Antidepressiva, kein Kraut gewachsen.“<br />

Sie trank einen Schluck von ihrem Weißwein, sah Shawn an und fragte: „Das war nicht<br />

dein erster Sprung, wie bei mir. Wo bist du schon überall gesprungen?“<br />

Der Schauspieler stieß ein Lachen aus. „Oh, man, das kann ich gar nicht alles aufzählen.<br />

Wenn es eine Möglichkeit gibt, nutze ich sie. Mein höchster Sprung war in Kärnten, in Öster-<br />

reich, von der Jauntal Brücke. 96 Meter.“<br />

Kelly nickte begeistert. „Ja, davon habe ich viel gehört. Mein größter Wunsch ist der<br />

Sprung von der Europabrücke in Tirol. 192 Meter! Irre. Das werde ich auf jedem Fall ma-<br />

chen, wenn ich mich mal wieder in Europa herum treibe. Das habe ich mir fest vorgenom-<br />

men.“<br />

„Ich komme mit!“ Shawns Augen funkelten. „Das muss der pure Wahnsinn sein.“<br />

„Absolut.“ Kellys Augen strahlten nicht weniger.<br />

Shawn wurde schmerzhaft bewusst, dass er mit keiner seiner bisherigen Partnerinnen so<br />

viel geteilt hatte wie mit Kelly. Frustriert schüttelte er den Kopf. Wenn Kelly und er eine ge-<br />

meinsame Zukunft hatten, was kam dann für ein wundervolles und ausgefülltes Leben auf sie<br />

zu. Kelly bemerkte, dass Shawns Gedanken abschweiften.<br />

„Was?“, fragte sie leise.<br />

„Ich habe gerade daran gedacht, was wir beide gemeinsam haben. Keine meiner bisheri-<br />

gen Beziehungen hat sich nur ansatzweise für das interessiert, was meine Hobbys sind. Zu-<br />

608


sammen zum Bungy Jumping ... Ha, undenkbar. Und mit dir zusammen ist vieles so selbst-<br />

verständlich ...“<br />

Kelly biss sich auf die Lippe. „Ja, dieser Gedanke ist mir auch einige Male gekommen.<br />

Shawn, wir werden eines gar nicht so fernen Tages alles gemeinsam unternehmen, das darfst<br />

du nie anzweifeln, okay. Und jetzt lass uns aufbrechen, ich möchte gerne unter die Dusche<br />

und du hast mir sicher wieder etwas zu erzählen.“<br />

Sie winkte einen vorbei eilenden Kellner heran und Shawn bezahlte.<br />

*****<br />

Shawn erwachte davon, dass sein Zudeck mit Schwung von ihm herunter gerissen wurde.<br />

Sekunden später fühlte er zusammenzuckend Lippen, die sich um seine linke Brustwarze leg-<br />

ten. Eine Zunge spielte sinnlich mit dieser und Shawn spürte, dass sich seine Brustwarze ver-<br />

härtete. Wer es war, der sich mit ihm beschäftigte, konnte er nicht sehen, da Carrie ihm am<br />

vergangenen Abend die Augen verbunden hatte. Sie hatte ihn zur Abwechslung wieder stramm<br />

an das Bett gefesselt, an Armen und Beinen. So lag er ausgestreckt und mit weit gespreizten<br />

Beinen hilflos da. Er spürte die Lippen und die Zunge an der anderen Brustwarze, die sich<br />

unter den sinnlichen Berührungen ebenfalls verhärtete. Entschlossen, die Chance zu nutzen,<br />

den Tag mit einem schönen Erlebnis zu beginnen, konzentrierte Shawn sich auf die Berührun-<br />

gen und atmete vor wachsender Erregung mit offenem Mund schnell ein und aus. Der zärtlich<br />

liebkosende Mund bewegte sich an seinem Körper hinunter und verharrte auf den Brandma-<br />

len. Sie wurden mit der Zunge nachgezogen und Shawn konnte spüren, wie sein Penis in Re-<br />

kordzeit steif wurde. Ein leises Stöhnen entwich ihm. Er wünschte, der Mund würde sich ein<br />

Stück tiefer bewegen. Und man tat ihm den Gefallen. Die Lippen schlossen sich um seine Ei-<br />

chel und die Zunge trat in Aktion. Sie bohrte sich in seinen Harnröhreneingang und Shawn<br />

keuchte zuckend vor Erregung auf.<br />

Jetzt wurden die Lippen an seinem harten Penis auf und ab bewegt und stimulierten ihn<br />

so, bis er spürte, dass er kurz vor dem Orgasmus war. Heftig keuchend bat er:<br />

„Darf ich bitte ... kommen ...“<br />

Carrie hatte ihm vor einiger Zeit eingebläut, dass er zu fragen hatte und Shawn hielt sich<br />

peinlich an diese Order. Kaum hatte er die Frage gestellt, verschwanden die Lippen von sei-<br />

nem Penis und er stöhnte erneut auf, diesmal vor Enttäuschung. Wer immer ihn hier verwöhn-<br />

te, wartete bis der Gefesselte sich gefangen hatte. Dann spürte dieser eine Hand, die sich um<br />

sein Glied schloss. Erneut wurde er stimuliert, bis er sich zuckend in den Fesseln wand.<br />

„Bitte, darf ich kommen? Bitte!“, keuchte er und augenblicklich verschwand die Hand von<br />

ihm. „Nein ...“ Heftig stöhnte der junge Mann auf. „Bitte!“<br />

609


Doch gnadenlos wurde er liegen gelassen, bis sich seine Erregung abermals etwas gege-<br />

ben hatte. Erst, als er wieder still und halbwegs entspannt da lag, ging es in die nächste Run-<br />

de. Diesmal waren es erneut die Lippen, die sich seiner annahmen und gleichzeitig spürte er<br />

einen Finger in sich gleiten und seine Prostata stimulieren. Noch schneller und noch erregter<br />

war er abermals unmittelbar vor dem Orgasmus und wand sich zuckend und stöhnend in den<br />

Fesseln.<br />

„Bitte! Ich möchte kommen! Bitte!“<br />

Und diesmal wurde ihm endlich Erlösung zuteil. Die Lippen bewegten sich schneller auf<br />

und ab, der Finger in ihm übte festeren Druck aus und mit einem lauten Keuchen kam Shawn<br />

zum Höhepunkt.<br />

Endlich wurde ihm die Augenbinde abgenommen und er sah, dass es ein zur Abwechslung<br />

einmal glatt rasierter Brett gewesen war, der ihn verwöhnt hatte. Noch schwer atmend stieß<br />

der Schauspieler ein:<br />

„Danke.“ hervor. Er war froh, dass er sich schon lange nicht mehr mit Schamgefühlen<br />

herum plagte. Was passierte, passierte. Als sein Atem sich etwas beruhigt hatte, machte Brett<br />

ihn los und erklärte:<br />

„Du darfst ins Bad. Gleich kommt dein Frühstück. Hinterher hast du dich im Kerker ein-<br />

zufinden, verstanden?“<br />

Shawn nickte hastig. „Verstanden.“<br />

Brett verließ wortlos den Raum und Shawn erhob sich. Etwas steif vom reglosen liegen in<br />

der Nacht streckte er sich. Er eilte ins Bad, stellte sich unter die Dusche und reinigte sich<br />

gründlich. Widerwillig und angeekelt spülte er sich den Darm. Als er ins Zimmer zurückkam,<br />

stand sein Frühstück auf dem Tisch. Er beeilte sich beim Essen und machte sich anschließend<br />

auf den Weg hinunter in den Keller. Vor der Kerkertür blieb er kurz stehen und atmete tief<br />

durch. Es kostete ihn jedes Mal Überwindung, sich seinen Quälgeistern auszuliefern. Es war<br />

extrem grausam, dass dies so oft von ihm verlangt wurde. Verzweifelt schloss er kurz die Au-<br />

gen. Doch es nützte ohnehin nichts und so raffte er sich auf und öffnete zögernd die Tür.<br />

Im Kerker erwarteten ihn diesmal alle fünf. Ohne einen Morgengruß wurde Shawn von<br />

Carrie aufgefordert, sich in der Mitte des Raumes auf den Boden zu setzen. Um sie nicht zu<br />

verärgern gehorchte er schnell. Er musste sich auf den Rücken legen und Brett und Alan<br />

packten seine Beine, Carrie und Teresa seine Arme. Die Karabiner wurden so ineinander<br />

gehakt, dass Hand- und Fußgelenke fest miteinander verbunden waren. In diesem Moment<br />

sah Shawn über sich an der Decke einen Seilzug, der dort befestigt war. Ein Seil war an die-<br />

sem befestigt und wurde herunter gelassen. Am Ende dieses Seiles baumelte ein großer, stabi-<br />

ler Stahlhaken, den Carrie in die Hand nahm. Sie hängte Shawn mit den zusammen gefessel-<br />

ten Gliedmaßen an diesen Haken und gab Alan den Auftrag:<br />

610


„Zieh ihn in die Höhe, aber langsam und vorsichtig. Wir wollen ihm nicht die Gelenke<br />

ausrenken.“<br />

Alan trat an die Wand, wo das andere Ende des Seiles hing und begann, Shawn langsam<br />

in die Höhe zu ziehen. Dieser konnte ein Aufstöhnen vor Schmerzen nicht verhindern. Höher<br />

wurde er gezogen, bis er gute 1,5 Meter hoch in der Luft baumelte. Alan sicherte das Seil an<br />

einer Halterung und trat zu den anderen. Shawns gute 80 Kilo zerrten an dessen Armen und<br />

Beinen. Schweiß brach ihm aus. Carrie trat dicht an ihn heran und ließ ihre Rechte sanft über<br />

seinen einladend vor ihr hängenden Po gleiten.<br />

„Wunderschön.“, meinte sie grinsend. „Und so eine praktische Höhe.“ Sie trat an die<br />

Wand, wo die Schlagwerkzeuge hingen und griff nach einem Lederpaddel. Fast erleichtert<br />

atmete Shawn auf. Es hätte viel schlimmer kommen können.<br />

„Jeder zwanzig Hiebe, wie abgemacht.“<br />

Carrie drückte Karen das Paddel in die Hand und diese strahlte.<br />

„Ist mir ein Vergnügen.“ Sie trat an Shawn heran und ließ diesen noch ein Weilchen<br />

schwitzen, bevor sie das Paddel hob und diesen über Shawns Po klatschen ließ. Shawn zuckte<br />

zusammen, allerdings war der Schmerz nicht annähernd so schlimm wie vieles, was er bisher<br />

hatte ertragen müssen. Doch schnell merkte er, dass die qualvolle Fesselung seine Wider-<br />

standskraft extrem schwächte. Karens Schläge steckte er noch so weg, bei Teresa, die als<br />

nächste an die Reihe kam, hatte er bereits größere Schwierigkeiten. Durch sein Zucken kam<br />

er stark ins Schwingen. Dann hielt Alan ihn fest. Als Teresa ebenfalls alle zwanzig Hiebe aus-<br />

geführt hatte, war Shawn klatschnass geschwitzt und dachte panisch daran, dass ihm noch<br />

weitere sechzig Schläge erwarteten. Er konnte ein Wimmern der Verzweiflung nicht mehr<br />

zurückhalten. Und es wurde hart für den hilflosen jungen Mann. Alan schlug als letzter gna-<br />

denlos zu und Shawn schrie wieder einmal seine Schmerzen hinaus. Endlich klatschte der<br />

letzte Hieb über seine hochrot schimmernde Haut an Hintern und Oberschenkeln.<br />

Sie gaben ihm eine Weile, sich zu beruhigen. Endlich atmete er wieder ruhiger und wim-<br />

merte nur noch leise vor Schmerzen wegen der Haltung, in der er so lange hing. Sein Nacken<br />

tat höllisch weh, er wusste nicht mehr, wie er den Kopf halten sollte. Verzweifelt wünschte er,<br />

endlich aus dieser qualvollen Fesselung erlöst zu werden. Doch noch war es nicht vorbei.<br />

Carrie erklärte grinsend:<br />

„Na, Alan, fick ihn mal so richtig durch, das hat er sich verdient.“<br />

Auf diese Aufforderung hatte der Riese nur gewartet. Er trat an die Wand und veränderte<br />

die Höhe, in der Shawn hing, so, dass er bequem an dessen Po reichte. Grinsend griff er nach<br />

einer Flasche Gleitmittel, die Carrie ihm reichte und schmierte davon großzügig auf Shawns<br />

Schließmuskel. Seinen steifen Schwanz rieb er ebenfalls großzügig ein. Er stellte die Flasche<br />

auf den Boden, trat an Shawn heran und packte diesen an den Beinen. Er zog ihn an sich und<br />

611


schon spürte Shawn Alans Schwanz in sich gleiten. Normalerweise hatte er keine Schmerzen<br />

mehr, wenn er penetriert wurde. Doch die verspannte Haltung machte die Vergewaltigung<br />

diesmal wieder schmerzhaft für den Schauspieler. Alan war nicht, wie Brett, homosexuell, er<br />

war nur ein Sadist, der sich an den Qualen des wehrlosen Opfers aufgeilte und daran extre-<br />

mes Vergnügen hatte. Er sah, dass sich das Gesicht Shawns vor Schmerzen verzog. Grinsend<br />

stieß der Riese wieder und wieder hart zu. Shawn liefen Tränen des Schmerzes über das ver-<br />

schwitzte Gesicht. Seine Gelenke fühlten sich an, als würden sie jeden Moment aus den Ge-<br />

lenkpfannen springen. Er wimmerte auf. Und Alan bewies einmal mehr, dass er ausdauernd<br />

war, Stehvermögen hatte. Er zögerte geschickt seinen Orgasmus hinaus, wurde langsamer,<br />

wenn er spürte, dass er unmittelbar davor war. So konnte er Shawns Qual unerträglich in die<br />

Länge ziehen. Doch endlich kam er, nach einem letzten, heftigen Stoß, tief in Shawn steckend,<br />

heftig keuchend doch zum Höhepunkt und Shawn schluchzte vor Erleichterung auf. Carrie<br />

befahl, ihn herunter zu lassen und endlich lag der Schauspieler von den Fesseln befreit wim-<br />

mernd am Boden.<br />

Er wagte nicht, sich auszustrecken, so weh tat sein ganzer Körper. Mitleidlos sahen seine<br />

Peiniger auf ihn herunter und gaben ihm Zeit, sich zu entspannen. Doch bald wurde Carrie<br />

ungeduldig und herrschte den jungen Man an:<br />

„Du hast dich lange genug ausgeruht, sieh zu, dass du deinen geilen Knackarsch in die<br />

Höhe hievst. Du hast noch einiges auf dem Zettel heute.“<br />

Erschrocken versuchte Shawn, auf die Beine zu kommen. Er hatte das unangenehme Ge-<br />

fühl, seine Gelenke wären für alle Zeiten unbrauchbar geworden. Doch wieder einmal zeigte<br />

ihm sein Körper, wie belastbar der Mensch doch war. Unter Schmerzen und heftig zitternd<br />

vor Anstrengung, kam er hoch und stand schweißgebadet und mit gesenktem Kopf vor Carrie.<br />

„Na siehst du, geht doch, mit etwas Motivation. Du wirst heute den Schuppen im Garten<br />

aufräumen, und zwar gründlich. Ich werde abends kontrollieren, ob du gute Arbeit geleistet<br />

hast. Alan, begleite ihn bitte und erkläre, wie ich es haben will.“<br />

*****<br />

Shawn hatte, während er stockend erzählte, unbewusst ein paar Mal seine Schultergelenke<br />

massiert, als wären die Schmerzen der qualvollen Fesselung dort noch zu spüren. Freudlos<br />

meinte er:<br />

„Carrie wusste zu dem Zeitpunkt bereits, dass ich eine ausgewachsene Arachnophobie ha-<br />

be. Sie hat mir mit Freude Arbeiten zugeteilt, bei denen sie sicher war, dass ich auf Spinnen<br />

stoßen würde. Diese Bitch.“<br />

612


Er schüttelte sich unwillkürlich. „Eines Tages ... Da hat mich eine Scheiß Red Back 22 ge-<br />

bissen.“ Er kuschelte sich unwillkürlich eng an Kelly und diese strich ihm beruhigend mit den<br />

Fingern durch die Haare und über den Rücken. Die Psychologin war erneut unglaublich be-<br />

troffen von dem, was sie zu hören bekam. Als Shawn beiläufig erklärte, gebissen worden zu<br />

sein, erschrak sie heftig.<br />

„Oh Gott, Shawn!“<br />

Dem tat die offensichtliche Sorge und Bestürzung unglaublich gut. „Im Garten. Ich musste<br />

Unkraut ziehen. Plötzlich hatte ich so ein Vieh auf der Hand sitzen und ehe ich es abschütteln<br />

konnte hatte das Mistvieh zu gebissen. Ich bin in Panik geraten. Carrie hatte es sich zusam-<br />

men mit Teresa auf einer Liege gemütlich gemacht und die beiden Frauen bekamen mit, dass<br />

etwas nicht stimmte. Sie kamen zu mir und brachten mich in das Krankenzimmer. Carrie war<br />

besorgt.“<br />

Er verstummte kurz. Bedrückt meinte er: „Es ging mir zwei Tage beschissen.“ Wieder<br />

machte er eine kurze Pause. „Die Haltung ... Als ich da hing, ich war selbst überrascht, dass es<br />

noch neue Haltungen gab, die mich fertig machten.“<br />

Kelly war über den Sprung von der Bissverletzung zurück zu der Fesselungshaltung über-<br />

rascht. Scheinbar wollte Shawn nicht von der Vergiftung sprechen. Kelly machte sich gedank-<br />

lich eine Notiz, ihn in einer ruhigen Minute noch einmal darauf anzusprechen. Vorerst ließ sie<br />

ihn weiter berichten.<br />

„Ich meine, es gab doch kaum eine Demütigung, die sie mir nicht haben zuteilwerden las-<br />

sen. Und doch waren ... puh ... Doch waren manche Haltungen einfach heftig. Nicht nur<br />

schmerzhaft heftig, sondern unglaublich beschämend. Sie haben meistens darauf gezielt, mei-<br />

nen Unterleib in den Fokus zu bringen, aber ... Naja, meinen Po da in bequemer Augenhöhe<br />

vor sich hängen zu haben ... Diese Schweine haben mehr von meinem Körper gesehen als ich<br />

je sehen werde, verstehst du? Wenn sie mir wieder mal den ... diesen ekelhaften Spreizer ...<br />

Dann konnten sie sprichwörtlich noch in mich hinein gucken. Ich meine, der ... der Darm ...<br />

das ist doch für uns, wenn man nicht gerade Arzt ist, ein Tabuthema. Und die haben ... die<br />

haben mein ... mein ...“ Shawn fehlten die Worte. Er kämpfte verzweifelt, um aussprechen zu<br />

können, was er sagen wollte. Gequält stieß er hervor:<br />

„Die haben mein Arschloch in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt. Das, wo man norma-<br />

lerweise keine Fremden heran lassen würde. Die haben das Tabu gebrochen und mich auf die<br />

Körperöffnung reduziert, auf die niemand reduziert werden will.“<br />

22 Die Rotrückenspinne ist eine Kugelspinne der Echten Witwen. Die Weibchen werden bis 12 mm, die Männchen bis 4 mm groß. Die<br />

Farbe der weiblichen Tiere ist schwarz mit einem auffälligen roten Streifen auf der Oberseite des runden Hinterleibes. Auf der Unterseite<br />

sind sie mit zwei verschmolzenen Dreiecken, ähnlich einer Sanduhr, gezeichnet. Für Menschen gefährlich sind nur die Weibchen. Der Biss<br />

ist kaum zu spüren. Der charakteristische Abdominalschmerz, der bald nach dem Biss einsetzt, wird als unerträglich beschrieben. Der<br />

Hauptbestandteil des Giftes, Alpha-Latrotoxin, führt zu Krämpfen und Schmerzen. Die Symptome dauern etwa zwölf Stunden an und klingen<br />

dann ab. Lebensgefahr besteht, wenn durch die auftretenden Lähmungserscheinungen das Atemzentrum betroffen ist.<br />

613


Shawn schluchzte heftig auf. „Diese perversen Schweine haben angefangen, alles Mögli-<br />

che in mich hinein zu stecken. Plugs und Dildos war ich gewohnt, aber ... Ich war im Garten<br />

auf den Tisch gefesselt, nur so zum Spaß, damit sie einen schönen Anblick hatten. Beine über<br />

den Körper gezogen. Brett kam aus dem Haus ... Es war heiß an dem Tag. Er hatte eine Kühl-<br />

box mit Eiswürfeln in der Hand. Eigentlich waren die für die Getränke gedacht. Doch dann ...<br />

Er kam zu mir und fing an, mir Eiswürfel in den Hintern zu schieben. - Damit du nicht<br />

schwitzt! - meinte er grinsend. Kannst du dir vorstellen, was das für ein Gefühl ist? Nach dem<br />

vierten oder fünften Eiswürfel hat es höllisch weh getan. Ich habe versucht, die Dinger raus zu<br />

pressen, aber das funktionierte nicht. Die haben sich schlapp gelacht. Sie haben da regelrechte<br />

Wettbewerbe draus gemacht, wer die besten Ideen hatte, was man dem Sklaven in den Arsch<br />

stecken könnte.“<br />

Verzweifelt verstummte Shawn und schluchzte, dass es ihn schüttelte. Kelly ging es kei-<br />

nen Deut besser. Sie weinte ebenfalls und hielt Shawn fest in den Armen. Eine Weile ließ sie<br />

ihn seine Verzweiflung aus sich heraus weinen, dann erst begann sie, beruhigend auf ihn ein-<br />

zureden. Nach einer Weile hatte er sich halbwegs gefangen. Liebevoll meinte Kelly:<br />

„Ich glaube, das reicht für heute, Baby. Du hast viel aus dir heraus gelassen. Das war gut.<br />

Doch jetzt ist es genug für den Moment. Lass uns schlafen, wir sprechen später weiter darü-<br />

ber, okay?“<br />

Unendlich müde und erschöpft nickte Shawn. „Gute Idee. Ich kann nicht mehr.“ Er<br />

stemmte sich mühsam aus dem Bett und wankte ins Bad. Minuten später lag er wieder in Kel-<br />

lys Armen und seufzte: „Gute Nacht.“<br />

„Gute Nacht, schlaf gut.“<br />

Von Shawn kam ein leises Schnaufen. „Ich werde mir Mühe geben ...“<br />

*****<br />

51) Der Biss der schwarzen Witwe<br />

Das Glück ist ein Zustand der Ruhe, der weder Vergnügen noch Schmerzen<br />

hervorbringt.<br />

François-Gaston duc de Lévis<br />

Langsam steuerte Kelly den Wagen die steile, mit Serpentinen gespickte Straße bergan.<br />

Sie waren um halb 8 Uhr losgefahren. Kurz vor Smithfield waren sie abgebogen hinein in die<br />

Berge. Der Kennedy Highway schlängelte sich durch den dichten Regenwald gemächlich<br />

bergan. Da die Kurven zum Teil sehr eng waren, fuhr Kelly langsam und vorsichtig. Shawn<br />

konnte seinen Blick nicht von der zauberhaften Landschaft wenden. Kelly tat ihm den Gefal-<br />

len und stoppte an den ausgeschilderten Lookouts, um dem jungen Mann Gelegenheit zu ge-<br />

614


en, den Ausblick zu genießen. Die Luft war dunstig, aber der Ausblick in die Ebene war<br />

wunderschön. Gegen 10 Uhr hatten sie die Ortschaft Kuranda erreicht. Von hier aus konnte<br />

man eine Bahntour nach Cairns zurückmachen, oder sich mit der Sky Rail, einer Seilbahn,<br />

hinunter in die Ebene bringen lassen. Die Zeit hatten Kelly und Shawn nicht. So sahen sie<br />

sich nur in der kleinen, hübschen Ortschaft um und tranken in einem Café einen Eiskaffee.<br />

Anschließend machten sie sich auf den Weg zurück zum Parkplatz. Shawn war von den riesi-<br />

gen Bäumen, die die Hauptstraße säumten, fasziniert.<br />

Von Kuranda aus hielt Kelly sich weiter an den Kennedy Highway, der sich durch den<br />

Regenwald schlängelte und 30 Kilometer später erreichten sie die Ortschaft Mareeba.<br />

„Hier beginnt das Atherton Tableland. Die Hochebene ist ein beliebtes Ausflugsziel.<br />

Schon das gemäßigtere Klima zieht Touristen an. Du wirst merken, hier oben ist es lange<br />

nicht so drückend wie unten in der Ebene.“, erklärte Kelly. „Wir fahren direkt hinein ins Zent-<br />

rum des Hochlandes. Sein Mittelpunkt ist der Ort Atherton. Der Ort wurde nach einem der<br />

Gründer, John Atherton, benannt und erhielt am 23.ten Februar 1886 das Stadtrecht. Atherton<br />

liegt am Hang eines erloschenen Vulkans und ist von mehreren kleinen Hügeln umgeben, die<br />

als die Seven Sisters bekannt sind. Die vulkanischen Berge und der tropische Regenwald, in<br />

dem viele Wasserfälle zu finden sind, ziehen zahlreiche Touristen an. Wir sind hier 700 Meter<br />

über dem Meeresspiegel. Das Hochland liegt so zwischen 700 und 1.000 Metern. Hast du<br />

Hunger? Dann könnten wir hier eine Kleinigkeit essen.“<br />

Shawn hatte aufmerksam zugehört und schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe noch keinen<br />

Hunger. Kommen denn noch mehr Orte, oder verläuft sich die Straße ins nichts?“<br />

„Nein, natürlich kommen noch Ortschaften. Ich schlage vor, wir fahren zum Big Curtain<br />

Tree, machen einen kleinen Bushwalk und anschließend in Yungaburra Mittagspause.“<br />

„Was für ein Baum?“, fragte Shawn verblüfft nach.<br />

„Der Curtain Tree. Ist sehr bekannt, du wirst staunen.“<br />

„Das tue ich schon. Vorhangbaum ... Na, da bin ich mal gespannt.“<br />

Kelly lachte und fuhr langsam durch die Ortschaft hindurch. In der Ortsmitte stießen sie<br />

auf die Gordonvale Atherton Road, auf die Kelly abbog. Knappe 10 Kilometer weiter durch<br />

reines Ackerbaugebiet, tauchte vor ihnen wieder Regenwald auf. Auf der rechten Straßenseite<br />

war ein Hinweisschild aufgestellt.<br />

„Hier müssen wir abbiegen.“, erklärte Kelly und blinkte.<br />

Auf einer unbefestigten Straße ging es ein Stück in den Regenwald hinein. Ein kleiner<br />

Parkplatz tauchte auf und sie stiegen aus dem Wagen.<br />

„Ab hier geht es zu Fuß weiter.“, erklärte Kelly und sie marschierten los.<br />

615


Auf einem Wanderweg ging es in den Dschungel und Shawn sah sich aufmerksam um.<br />

Einige Besucher kamen ihnen entgegen und grüßten freundlich. Und dann tauchte er auf, der<br />

Curtain Fig Tree. Shawn riss die Augen auf.<br />

„Wahnsinn. Jetzt verstehe ich.“<br />

Vor ihnen im Sonnenlicht, das durch das Blätterdach über ihnen drang, hing ... Es wirkte<br />

wahrhaftig wie ein gigantischer Vorhang aus Luftwurzeln. Ein Schild vor dem riesigen Baum<br />

erklärte, wie dieser Vorhang einst entstanden war. Vor langer Zeit hatte sich eine harmlose<br />

Würgefeige auf einem Ast eines Urwaldriesen eingenistet. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sie<br />

den Baum mehr und mehr umschlungen und irgendwann war er abgestorben und umgestürzt.<br />

Er war mit dem Geäst in einem anderen Baum, einige Meter entfernt, hängen geblieben. Wei-<br />

ter und weiter war die Würgefeige gewachsen, bis ihre Ausläufer den zweiten Baum erreicht<br />

hatten. Und ihre Luftwurzeln hatten im Laufe unzähliger Jahre den Boden erreicht und bilde-<br />

ten den Vorhang, der dem Baum, den Bäumen, musste man sagen, den Namen gegeben hatte.<br />

Eine hölzerne Plattform und ein Laufsteg machten es möglich, das riesige lebendige Ge-<br />

bilde einmal zu umrunden. Kelly und Shawn nutzten dies aus und marschierten um den<br />

Baumriesen herum.<br />

„Das ist ein riesiger, eigenständiger Bioorganismus.“, erklärte Kelly. „Er bietet unzähligen<br />

Tieren eine Heimat. Vom kleinsten Insekt bis zu Säugetieren und Vögeln. Hier kommt man<br />

sich wieder klein und unbedeutend vor, oder?“<br />

Sie waren zurück an der Plattform angelangt, wo andere, staunende Besucher standen.<br />

Shawn legte einen Arm um Kelly und nickte.<br />

„Ja, aber das ist eine angenehme Art von unbedeutend.“, meinte er ergriffen.<br />

„Das stimmt. Ich bin begeistert, was die Natur zustande bringen kann. Hier zeigt sich<br />

überdeutlich, dass das Leben des einen den Tod des anderen und umgekehrt bedeutet. Doch<br />

obwohl der umgestürzte Baum seit langer Zeit tot ist, lebt es auf und in ihm weiter.“<br />

Es raschelte unter ihnen auf dem Boden und Shawn sah nach unten. „Was ist denn das?“,<br />

fragte er und riss die Kamera hoch.<br />

Unter ihnen im Laub und Unterholz wuselte ein vielleicht 50 Zentimeter großer, schwar-<br />

zer Vogel mit leuchtend rotgelbem Kopf herum. Kelly schmunzelte.<br />

„Das ist ein Brush Turkey, ein Buschhuhn. Die größte Großfußhuhn Spezies in Australien.<br />

Die Männchen bauen Nester, in dem sie Laub und Geäst zu Haufen zusammen scharren, bis<br />

zu einem Meter hoch und zum Teil bis zu 4 Metern im Durchmesser, in die die Weibchen die<br />

Eier legen. Diese werden von den Tieren energisch gegen Fressfeinde verteidigt. Die Hähne<br />

kontrollieren jeden Tag das Gelege auf Wärme. Sie kratzen dazu ein Loch in den Haufen und<br />

stecken den Kopf hinein. Ist es zu warm, kratzen sie Laub und Geäst weg, ist es zu kalt, schar-<br />

ren sie mehr davon auf den Haufen. Der Brush Turkey steht seit 2008 auf der Roten Liste der<br />

gefährdeten Arten.“<br />

616


Sie beobachteten den Vogel noch eine Weile, doch schließlich erklärte Kelly:<br />

„Schatz, wenn wir noch mehr sehen wollen, müssen wir weiter.“<br />

Noch einen letzten Blick auf den Curtain Tree werfend machten sie sich also auf den<br />

Rückweg zum Wagen. Das kleine Stück bis in den Ort Yungaburra hatten sie zügig geschafft.<br />

In der Ortschaft steuerte Kelly ein kleines Restaurant an. Nick’s Swiss Italian Restaurant.<br />

„Sieht nett aus.“<br />

„Das Essen ist ausgezeichnet.“, meinte Kelly und zog Shawn auf die Terrasse an einen<br />

freien Tisch im Schatten. Sofort kam ein Kellner und brachte ihnen eine Speisekarte.<br />

„Schon mal was zu Trinken?“, fragte er freundlich.<br />

„Gerne. Fährst du weiter?“, fragte Shawn und Kelly nickte. „Gut, dann hätte ich gerne ...<br />

Was haben Sie an Bier?“<br />

„VB, 4 X und Fosters.“<br />

Shawn bestellte sich ein 4 X und Kelly bat um Wasser und ein Glas frisch gepressten<br />

Orangensaft. Die Getränke kamen schnell und Kelly und Shawn prosteten sich gut gelaunt<br />

zu. Neugierig warfen sie einen Blick auf die Speisekarte. Nach kurzem Überlegen hatten sie<br />

sich Entrees ausgesucht.<br />

„Ich würde gerne die Oysters Kilpatrick 23 versuchen.“, erklärte Shawn.<br />

Kelly beschloss, ebenfalls bei Meeresfrüchten zu bleiben. „Ich nehme die Queensland<br />

Scallops.“<br />

Der Kellner notierte und fragte: „Und was darf ich als Hauptgericht bringen?“<br />

Shawn wählte Spare Ribs, Kelly entschied sich für ein Pasta Gericht. „Die Spaghetti Flo-<br />

rentine hören sich gut an.“<br />

Es handelte sich um Spaghetti mit Spinat, Basilikum, Zwiebeln, Knoblauch und einer<br />

würzigen Tomatensoße. Während sie auf das Essen warteten fragte Shawn:<br />

„Was kommt denn noch ab hier?“<br />

„Erst einmal ein See, Lake Barrine. Ein Kratersee, wunderschön gelegen. Hinterher wer-<br />

den wir noch eine Kathedrale der besonderen Art besuchen.“<br />

Skeptisch zog Shawn die linke Augenbraue in die Höhe. „Kathedrale? Hier oben? Nimmst<br />

du mich auf den Arme, sag mal?“<br />

Kelly kicherte. „Dafür bist du mir zu schwer, Mister zweiundachtzig Kilo.“, lästerte sie<br />

vergnügt.<br />

„Na und? Ich bin groß ...“<br />

Ihr Essen kam und war wirklich ausgezeichnet. Gegen 13 Uhr machten sie sich wieder auf<br />

den Weg. Bis zum Lake Barrine waren es nur knappe 7 Kilometer und diese hatten sie bald<br />

geschafft. Kelly parkte den Wagen unter einigen Bäumen auf den großzügigen Parkplatz.<br />

23 Oysters Kilpatrick: Mit Speckwürfeln bestreute, überbackene Austern in Worcester Sauce.<br />

617


„Das ist nur einer von vielen Seen, die es hier oben gibt. Der größte See ist Lake Tinaroo,<br />

er liegt ein Stück weiter im Westen. Lake Barrine ist nicht groß, ungefähr 5 Kilometer lang.<br />

Er ist tief, bis zu 65 Meter. Das Gebiet rundherum ist zum Nationalpark erklärt worden. Eine<br />

Vulkanexplosion formte das Kraterloch vor ungefähr siebzehntausend Jahren.“<br />

Ohne es noch zu merken schlenderten sie Arm in Arm den gut ausgearbeiteten Wander-<br />

weg entlang zum Seeufer hinunter. Shawn war begeistert, wie wunderschön es am Ufer war.<br />

Sie setzten sich eine Weile auf eine Holzbank unter einem großen Baum und genossen die<br />

herrliche Ruhe.<br />

„Es ist so wundervoll friedlich hier. Man könnte sich an einem solchen Ort verlieren.“,<br />

meinte Shawn sinnierend.<br />

Kelly war glücklich, dass er nach dem vergangenen Abend so entspannt und zufrieden<br />

war. Sie fragte ihn: „Wie sieht es aus, wollen wir ein Stück am See entlang gehen? Mit Glück<br />

entdecken wir einen Python.“<br />

Shawn riss die Augen auf. „Gibt es die hier? Sind die nicht gefährlich?“<br />

Die Psychologin lächelte. „Wir sprechen hier nicht von den großen, den Tigerpythons oder<br />

den Netzpythons, Schatz. So einem Monster möchte ich nicht in freier Wildbahn begegnen.<br />

Hier gibt es zum Beispiel den gefleckten Python, eine wunderschöne, kleine, bis höchstens<br />

120 Zentimeter große Schlange.“<br />

Shawn grinste erleichtert. „Okay, das lasse ich mir gefallen. So, wie ich dich und deine<br />

Adleraugen kenne, dürfte ich spätestens in ... zwanzig Minuten ein Bild von einer solchen<br />

Würgeschlange haben.“<br />

Sie machten sich auf den Weg und schlenderten eine Weile am Seeufer entlang. Doch<br />

diesmal hatten sie kein Glück. So sehr Kelly ihre Umgebung im Auge behielt, der Anblick<br />

eines Python war ihnen nicht gegönnt. Shawn verzog das Gesicht, als sie wieder am Auto<br />

angekommen waren.<br />

„Hör mal, Tante, du hast ganz schön nachgelassen.“, meinte er gespielt empört. „In der<br />

Wüste hast du mir noch alle 100 Meter ein tolles Tier gezeigt, hier beschränkt es sich auf ei-<br />

nen Truthahn.“<br />

Kelly zuckte gleichgültig die Schultern. „Tja, du hast dein Limit erreicht. Von nun an zei-<br />

ge ich dir bestenfalls noch mal einen Regenwurm oder eine Spinne.“ Sie brachte sich lachend<br />

in Sicherheit, als Shawn schimpfend auf sie los ging. Im Auto ging der Streit noch weiter.<br />

„Komm, das kann doch nicht alles gewesen sein, oder? Ich meine, ich habe noch keinen<br />

Wombat gesehen, keinen Kasuar ...“ Er musste lachen. „... und was es hier noch so gibt.“,<br />

beendete der junge Mann seinen Satz.<br />

„Ach, du armes Kerlchen. Suche dir doch deine Viecher zur Abwechslung mal allein, was<br />

hältst du denn davon?“, meinte die Therapeutin gehässig.<br />

Shawn überlegte. „Hm. Wo ist der nächste Zoo?“<br />

618


„In Sydney.“<br />

„Okay, dann wird das wohl nichts mehr mit den Tieren.“ Shawn ließ den Kopf hängen.<br />

So herum albernd fuhren sie weiter und erreichten die kleine Ortschaft Danbulla. Hier bog<br />

Kelly nach Westen ab. Es ging auf einer kleinen, unbefestigten Straße wieder tief hinein in<br />

den Regenwald. Endlich erreichten sie einen Parkplatz und Kelly erklärte:<br />

„Hier wirst du noch einmal Bewegung bekommen. Wir müssen noch ein Stück laufen, ich<br />

hoffe, du kannst noch.“<br />

Shawn sah die Psychologin mit einem vernichtenden Blick an. „Ja, Mama, noch kann ich,<br />

du wirst mich noch nicht auf den Arm nehmen müssen.“<br />

„Na, dann mal los. Und pass auf, dass du keinen Regenwurm zertrittst.“<br />

Sie marschierten erneut hinein in den Dschungel und folgten einem schmalen Pfad, der<br />

sich durch den Wald schob. Auf einmal blieb Shawn stehen und starrte nach vorne.<br />

„Mein Gott, ist der wunderschön!“<br />

Vor ihnen war ein gigantischer Baum aufgetaucht, dessen riesenhafte Krone sich über den<br />

gesamten Dschungel zu erstrecken schien. Langsam gingen sie dichter an den Baum heran.<br />

Shawn verrenkte sich fast den Hals, als er fasziniert nach oben in die Krone des Riesen schau-<br />

te.<br />

„Wie hoch ist der? Und wie groß ist seine Krone?“<br />

„Er ist über 46 Meter hoch. Der Curtain Tree ist knappe 30 Meter hoch. Die Krone hat in-<br />

zwischen einen ungefähren Durchmesser von 44 Metern. Der Baum ist sagenhafte 500 Jahre<br />

alt.“<br />

Andächtig schaute der junge Mann nach oben in das sonnendurchflutete Blätterdach.<br />

„Jetzt ist mir klar, warum dieser Baum Cathedral Tree heißt. Man kommt sich wirklich<br />

wie in einer Kathedrale vor.“ Er sah Kelly an und sagte leise: „Danke.“<br />

Die Psychologin lächelte. „Komm, wir setzten uns einen Moment, was meinst du?“<br />

Zusammen setzten sie sich auf eine von vier Bänken, die auf der hölzernen Plattform unter<br />

dem Baum aufgestellt waren. Da im Moment keine weiteren Besucher anwesend waren, ent-<br />

schied Kelly sich spontan, die ruhige Stimmung auszunutzen. Sie nahm Shawns Rechte und<br />

fragte: „Magst du mir erzählen, wie es mit dem Spinnenbiss weiter ging? Ich denke, du musst<br />

darüber sprechen. Gestern Abend hast du das Thema abgewürgt.“<br />

Die Therapeutin konnte spüren, wie ihr Patient sich verkrampfte. Leise fragte er: „Muss<br />

das sein?“<br />

„Ich denke ja. Es fällt dir schwer, also ist es nötig, dass du dir das von der Seele redest. Du<br />

weißt selbst, dass es dir hilft, auszusprechen was dich bedrückt.“<br />

Shawn ließ den Kopf hängen. „Du hast Recht. Okay, also ... Carrie hatte mit bekommen,<br />

dass was nicht stimmte.“<br />

619


*****<br />

Carrie beobachtete ihren Sklaven, wie er mit dem Unkraut kämpfte. Sein nackter Po, der<br />

beim Bücken zwangsläufig in die Höhe gereckt war, versetzte sie in Erregung. Wie sie es lieb-<br />

te, diesen Po mit der Peitsche zu bearbeiten, mit einem Dildo in ihn einzudringen oder zuzu-<br />

sehen, wie Brett oder Alan sich mit ihm befassten. Sie sah zu Shawn hinüber und registrierte,<br />

dass dieser sich erschrocken aufrichtete und panisch nach seiner linken Hand schlug. Sie<br />

grinste. Scheinbar war er auf eine Spinne gestoßen. Doch im nächsten Augenblick verging ihr<br />

das Grinsen, denn Shawn wich panisch wimmernd vom Beet zurück und starrte auf seinen<br />

Handrücken.<br />

„Shawn, was ist los?“, fragte sie ihn laut.<br />

„Gebissen ... Das Mistvieh hat mich gebissen! Scheiße!“<br />

Erschrocken sprangen Teresa und Carrie auf. Während Teresa zu Shawn eilte und sich<br />

dessen Hand anschaute, hetzte Carrie zum Beet und fand die zermanschte Spinne tatsächlich<br />

im Sand liegen. Unverkennbar war das rote Muster auf dem schwarzen Leib zu erkennen.<br />

„Verdammte Scheiße. Terry, das war eine Red Back!“, fluchte Carrie und packte Shawn<br />

am Arm. „Komm, wir müssen dich in die Krankenstation schaffen.“<br />

Zusammen mit Teresa brachte sie Shawn in den Keller hinunter und in die kleine Kran-<br />

kenstation, in der man den Schauspieler bereits oft gequält hatte.<br />

„Leg dich auf die Liege.“, forderte Terry den verängstigten, heftig zitternden jungen<br />

Mann auf.<br />

Am ganzen Leib bebend ließ Shawn sich in die Waagerechte sinken. Carrie war an den<br />

großen Schrank geeilt und riss zwei Decken heraus, die sie über Shawn legte. Teresa sah sich<br />

die Hand noch einmal gründlich an. Zwei winzige Punkte auf dem Handrücken zeigten ihr,<br />

wo die Chelizeren der Spinne in die Haut gedrungen waren. Seit dem Biss waren ungefähr<br />

zehn Minuten vergangen. Teresa schüttelte genervt den Kopf. Die Bissstelle musste jetzt schon<br />

höllisch weh tun und demnächst würden Schmerzen am ganzen Körper einsetzen, das wusste<br />

sie aus ihren klinischen Erfahrungen. Die nächsten Stunden würden hart werden, dagegen<br />

würde das, was sie alle dem Sklaven bisher angetan hatten verblassen. Warum hatte der Trot-<br />

tel nicht besser aufgepasst. Mitleid hatte die soziopathische Ärztin nicht, sie machte sich nur<br />

Sorgen, weil sie Spaß an dem Sklaven hatte. Carrie sah die Ärztin an und fragte:<br />

„Wie geht es weiter?“<br />

Teresa erklärte: „Das Gift der Red Back ist ein Latrotoxin, ein Gift, das neurotoxisch, al-<br />

so auf das Nervensystem, wirkt. Er wird in absehbarer Zeit Schmerzen bekommen, die erst in<br />

die Lymphknoten der Achselhöhlen oder Leistengegend ausstrahlen werden, später in Abdo-<br />

men, Arme und Beine. Diese Schmerzen werden sich bis ins Unerträgliche steigern. Es wird<br />

zu Krämpfen, Schweißausbrüchen, Erbrechen kommen. Seine gesamte Körperoberfläche ein-<br />

620


schließlich der Haare wird extrem Berührungsempfindlich werden. Wir werden auf seine At-<br />

mung achten müssen, denn wenn die Muskelkrämpfe sich auf die Atmung ausdehnen, müssen<br />

wir ihn Intubieren. Die Todesfälle, die nach dem Biss einer Red Back ohne die Gabe von<br />

Antivenom auftreten, lassen sich auf Atemlähmung zurückführen. Wir müssen ihn rund um die<br />

Uhr im Auge behalten.“ Sie warf einen Blick auf Shawn, der mit panisch geweiteten Augen<br />

den ruhigen Erklärungen zugehört hatte. „Wenn die Schmerzen zu schlimm werden, sollten<br />

wir ihn an die Liege fixieren, er könnte sich sonst in Krämpfen selbst verletzen.“<br />

Die beiden Frauen beobachteten Shawn in den nächsten Minuten aufmerksam. Und dieser<br />

lag zitternd vor Angst auf der Liege. Tränen kullerten ihm über die Wangen. Er hatte entsetz-<br />

liche Angst. Er wollte hier nicht an dem Biss einer Spinne krepieren. Immer heftiger spürte er<br />

Schmerzen in der Bissstelle und seine Zähne klapperten aufeinander. Teresa beobachtete ihn<br />

und erklärte ruhig:<br />

„Es geht los.“<br />

In den nächsten Minuten wurden die Schmerzen rapide schlimmer. Wie Teresa gesagt hat-<br />

te, strahlten sie anfangs in die Lymphknoten aus. Dann fingen sie an, in die Extremitäten zu<br />

ziehen. Shawn konnte ein Keuchen nicht mehr unterdrücken. Schlimmer wurden die Schmer-<br />

zen in der kommenden Stunde und etwas später lag der junge Mann, sich keuchend windend,<br />

auf der Liege. Nun beschloss Carrie, ihn zu seiner eigenen Sicherheit zu fixieren. Schnell und<br />

mit geübten Handgriffen hatten die Frauen das erledigt. Shawn wimmerte vor Schmerzen und<br />

seine Atmung war flach und abgehackt, was aber momentan nicht mit einer Lähmung der<br />

Atmung zu tun hatte, sondern mit den starken Schmerzen. Er war am ganzen Körper von kal-<br />

tem Schweiß überzogen und seine Augen waren blutunterlaufen und tränten. Hätte er ge-<br />

konnt, er hätte sich gewunden vor Schmerzen. Sein Körper zuckte in heftigen Muskelkrämp-<br />

fen. Teresa hatte sicherheitshalber eine Spritze mit Adrenalin aufgezogen, nur für den Notfall.<br />

Sie hätte Shawn gerne Calciumglukonat verabreicht, doch dieses Medikament hatten sie nicht<br />

da.<br />

Teresa überprüfte in regelmäßigen Abständen Shawns Blutdruck, der zwischen zu hoch<br />

und zu niedrig schwankte. Sie horchte ihn regelmäßig ab, um rechtzeitig auf mögliche Herz-<br />

arrhythmien aufmerksam zu werden. Doch hier zeigten sich keine Unregelmäßigkeiten. Inzwi-<br />

schen wussten Karen, Brett und Alan Bescheid und hockten zusammen mit den beiden Frauen<br />

bei ihrem wertvollen Besitz. Teresa hatte ihnen erklärt, dass es Shawn mehr Schaden als Nut-<br />

zen brachte, wenn sie ihm den Schweiß abtupften. Er war in einem Zustand, in dem er die<br />

leichteste Berührung als heftigen Schmerz empfand. Mehr, als seine Atmung und seinen Blut-<br />

druck im Auge zu behalten, konnten sie nicht tun. Immer wieder schrie der junge Mann vor<br />

Pein auf. Er zerrte an den Fesseln, die ihn sicher hielten, wollte sich zusammen krümmen,<br />

wenn die Qualen in seinem Abdomen zu stark wurden. Er hatte sich drei Mal heftig überge-<br />

621


en, dann beruhigte sich dies. Siebzehn Stunden lang lag er in heftigsten Qualen auf der Lie-<br />

ge, siebzehn Stunden, in denen er nur noch den Tod herbei sehnte, um endlich von den<br />

Schmerzen erlöst zu werden. Dann endlich ließen die schrecklichen Muskelkrämpfe allmäh-<br />

lich nach. Die extreme Empfindlichkeit der Haut klang ab und Carrie konnte dem jungen<br />

Mann endlich den Schweiß vom Gesicht tupfen. Unendlich erleichtert registrierte Shawn, dass<br />

die schrecklichen Schmerzen rasch abklangen.<br />

„Wie geht es dir?“ Carrie hielt Shawns Linke in ihren Händen und sah den Schauspieler<br />

besorgt an.<br />

„Langsam besser ...“ Tränen kullerten Shawn über die Wangen, Tränen der Erleichte-<br />

rung. „Die Schmerzen ... lassen endlich nach. Gott, ich habe noch nie solche Schmerzen ge-<br />

habt ... Es hat so schrecklich weh getan ...“ Er schluchzte auf und Carrie zeigte, wenn auch<br />

nur vorgetäuscht, Menschlichkeit. Sie machte den Schauspieler los und nahm ihn in den Arm.<br />

„Es tut mir so leid.“, heuchelte sie gekonnt. „Alan wird dich in dein Zimmer bringen, ich<br />

denke, das können wir riskieren.“ Sie sah Teresa fragend an und diese nickte.<br />

„Klar, er hat das Schlimmste hinter sich. Einer von uns sollte noch bei ihm bleiben, aber<br />

er kann ins Bett.“<br />

*****<br />

Kelly war erstaunt, dass Shawn ruhig berichtete. Sie spürte ihn zwar heftig zittern, doch er<br />

hatte ohne zu Stocken geschildert. Leise sagte er:<br />

„Alan hat mich auf den Arm genommen und in mein Zimmer getragen. Karen war vor ge-<br />

gangen und hatte die Badewanne vorbereitet. Carrie hat mich gebadet, anschließend bin ich<br />

ins Bett. Ich glaube, ich habe noch nicht mal gelegen, da habe ich geschlafen. Ich war so was<br />

von fertig.“ In die Erinnerung vertieft, sah Shawn blicklos in den Dschungel um sie herum.<br />

„Ich glaube, solche Schmerzen ... Doch, Karen, Teresa, Alan und Carrie würde ich sie gön-<br />

nen. Aber sonst ... Wie sagt man so schön? So was gönne ich nicht einmal meinem ärgsten<br />

Feind.“ Er lehnte sich müde an Kelly und seufzte. „Wenn jemand mit einem Messer in dir<br />

herum wühlt, muss es sich ähnlich anfühlen. Ich hatte das Gefühl, es zerreißt mich innerlich.<br />

Ich konnte phasenweise nicht mehr atmen vor Schmerzen. Es ist kaum zu glauben, dass man<br />

so was überlebt. Und dass es so schnell wieder vorbei war wie es anfing. Ich habe geschlafen,<br />

Carrie sagte mir später, fast zwanzig Stunden am Stück. Und als ich aufwachte, fühlte ich<br />

mich, als wäre nie etwas gewesen.“ Er sah Kelly an und meinte verlegen: „Ich schwöre dir,<br />

sollte wieder eine Red Back Spider in meine Nähe kommen, und sei es nur im Umkreis von<br />

einem Meter, ich werde laut schreiend das Weite suchen!“<br />

622


Erschöpft von dem Bericht verstummte der Schauspieler. Einen Moment schwiegen beide,<br />

dann fragte Shawn leise:<br />

„Hätten die irgendwas machen können, ich meine, gegen die Schmerzen?“<br />

„Im Krankenhaus gibt man Calciumglukonat. Das lindert die Schmerzen etwas. Doch das<br />

ist ein spezielles Medikament, die hatten es sicher nicht in ihrem Schrank stehen. Und sonst ...<br />

Selbst starke Opiate helfen nicht. Nein, Baby, sie konnten nichts machen als abzuwarten, bis<br />

die Symptome abklangen. Dass sie dich fixiert haben war in dem Fall hilfreich. Die heftigen<br />

Muskelkontraktionen führen oft dazu, dass betroffene Patienten sich ungewollt verletzen.“<br />

Shawn hatte mit hängendem Kopf zugehört. Bedrückt meinte er: „Also haben sie alles ge-<br />

tan, was sie konnten.“<br />

Er atmete tief durch. Gerade kamen einige Besucher auf die Plattform und so fragte der<br />

Schauspieler leise: „Wollen wir verschwinden?“<br />

„Ja, lass uns los. Wir haben noch eine Ecke zu fahren. Und hier wird es sowieso zu voll.<br />

Wir reden heute Abend noch weiter, okay.“<br />

Sie machten sich auf den Rückweg zum Wagen und als Kelly Minuten später auf den<br />

Highway bog meinte Shawn:<br />

„Du hattest Recht. Es hat gut getan, das zu erzählen. Woran liegt es nur, dass das Ausspre-<br />

chen dieser ... schlimmen Dinge einen so erleichtert?“ Kelly überlegte kurz, wie sie Shawn<br />

dieses Phänomen erklären konnte.<br />

„Shawn, Menschen sind kommunikativ. Das heißt, sie haben das Bedürfnis, sich anderen<br />

mitzuteilen. Das liegt in unserer Natur. Besonders beinhaltet das schlimme oder schöne Er-<br />

lebnisse. Die wollen wir teilen, um sie nicht allein verarbeiten zu müssen. Da wir nicht mehr,<br />

wie unsere Vorfahren oder noch heute lebende echte Naturvölker, andere Möglichkeiten der<br />

Kommunikation haben, müssen wir Reden. Darum wäre es mir so ungeheuer wichtig, dass du<br />

in Florida später jemanden hättest, mit dem du jederzeit sprechen kannst. Du merkst selbst,<br />

wie gut es dir tut.“<br />

Kläglich stieß Shawn hervor: „Ich weiß das doch. Aber ich kann nicht. Warum verstehst<br />

du das nur nicht? Ich schäme mich zu Tode, weil ich keine Möglichkeit hatte, irgendwas zu<br />

verhindern. Nur bei dir brauche ich mich nicht zu schämen. Ich bin sicher ... nein, ich weiß,<br />

dass niemand verstehen wird, warum ich es zugelassen habe. Warum ich mich nicht gewehrt<br />

habe. Sie würden mich nur noch Verachten und angeekelt sein.“<br />

Verzweifelt schwieg Shawn und Tränen schossen ihm aus den Augen. Kelly war erschüt-<br />

tert. Sanft erklärte sie:<br />

„Bitte, Baby, beruhige dich, okay. Wir reden später in aller Ruhe darüber.“<br />

Shawn warf ihr einen müden Blick zu. „Okay.“ Er kämpfte darum, sich wieder zu fangen<br />

und nach einigen Minuten merkte Kelly, dass er entspannte. Der Highway lag leer vor ihnen<br />

und so gab die Therapeutin Gas. Es war fast 17 Uhr geworden und sie wollte nicht im Dun-<br />

623


keln die Abfahrt in die Ebene in Angriff nehmen. Das letzte Stück vor der weiten Ebene wur-<br />

de stressiger, denn der Gordonvale Atherton Highway war enger als der Kennedy Highway<br />

und so wurde das Fahren durch die engen Haarnadelkurven anstrengender. Als sie endlich den<br />

Ort Little Mulgrave erreicht hatten, atmete Kelly auf. Etwas später stießen sie bei der Klein-<br />

stadt Gordonvale auf den Captain Cook Highway und Kelly fuhr zügig nach Cairns zurück.<br />

Sie näherten sich der Stadt diesmal von Süden und Shawn bekam auf diese Weise einen Ein-<br />

druck davon, wie weit sich die Stadt nach Süden hin ausdehnte. Gegen halb 7 Uhr standen sie,<br />

etwas müde, aber zufrieden, in ihrem Hotel, einer in der Wanne, der andere in der Dusche.<br />

Anschließend schlenderten sie zu Fuß los, die Esplanade Street entlang, bis zu einem KFC<br />

Restaurant. Hier bestellten sie sich Chicken Wings und Cola zum Mitnehmen und setzten sich<br />

mit ihrem Abendbrot in den Strandpark auf der anderen Straßenseite.<br />

Shawn war seit seinem emotionalen Ausbruch recht still gewesen. Kelly hatte ihn in Frie-<br />

den gelassen. Jetzt fragte sie liebevoll:<br />

„Na, hat dir unsere Expedition denn gefallen?“<br />

Ohne zu zögern kam die Antwort. „Ja, sehr. Es ist kaum zu glauben, dass es nicht viel be-<br />

kannter ist, wie wunderschön Australien ist.“ Er sah zu Kelly hinüber und sie sah an seinen<br />

Augen, dass er meinte was er sagte. „Was steht denn morgen auf dem Programm?“<br />

Kelly spülte den letzten Chicken Wing mit einem Schluck Cola herunter. „Wir werden ei-<br />

ne Ecke weiter nach Norden fahren. An den Daintree River. Mit Glück können wir dort noch<br />

einmal deine Freunde beobachten.“<br />

Der Schauspieler strahlte. „Krokos! Gute Idee. Ist das weit?“<br />

„Ja, ein Stück zu Fahren ist es. Es geht an der Küste entlang, die Strecke wird dir gefallen.<br />

Endlose Strände. Bis Daintree sind es fast 90 Kilometer. Wir müssen also früh los, um etwas<br />

zu schaffen.“<br />

Shawn überlegte. Hoffnungsvoll fragte er: „Dann sollten wir wohl besser früh zu Bett ge-<br />

hen, oder?“ Er sah verlegen zu Boden. Kelly lachte liebevoll.<br />

„Nein, mein Schatz, so kommst du mir nicht davon. Wir werden gleich zum Hotel zurück<br />

gehen, es uns gemütlich machen und du wirst viel reden müssen heute Abend.“<br />

Bedrückt meinte der junge Mann: „Ich habe so was befürchtet.“<br />

„Dann ist es keine Überraschung für dich. Na, komm, bist du fertig?“<br />

*****<br />

Eine halbe Stunde später lagen sie in ihrer Suite auf dem Bett, Shawn kuschelte sich eng<br />

an die junge Psychologin und diese hielt ihn fest im Arm. Ruhig sagte sie:<br />

„Ich möchte, dass du noch einmal zu dem Spinnenbiss zurückkehrst, dass du mehr darüber<br />

berichtest.“<br />

624


Shawn seufzte frustriert. Er musste sich kurz sammeln, bevor er leise anfing zu sprechen.<br />

„Als ich merkte, dass das Vieh zubiss ... und ich sah, was es war ... Ich hatte mich vorher<br />

schlau gemacht, auf welche Spinnen ich aufpassen musste, verstehst du? Daher hab ich ... Ich<br />

habe gewusst, dass es eine Red Back war. Und ich habe gewusst, dass die hochgiftig sind. Ich<br />

brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass ich tatsächlich von einer Giftspinne ge-<br />

bissen worden war. Doch kaum hatte ich das begriffen, kam die Todesangst hoch. Ich habe<br />

nur so weit gelesen, dass ich dachte, ohne Gegengift wäre man verloren.“ Er kaute nervös auf<br />

seiner Unterlippe herum. Kelly warf ruhig ein:<br />

„Kleine Kinder und ältere Menschen, oder geschwächte Personen, durch Krankheit oder<br />

sonst was, haben ohne Antivenom kaum eine Überlebenschance. Aber ein gesunder, kräftiger<br />

Mensch übersteht den Biss meistens ohne Gegengift.“<br />

„Okay. Als sie mich in den Keller brachten und Teresa so kalt aufzählte, was in den nächs-<br />

ten Stunden passieren würde ... Ich habe bei Carrie viel über ... naja, viel über den Tod nach-<br />

gedacht. Wie ich wohl mal sterben würde und wann. Aber ehrlich, meine Überlegungen bein-<br />

halteten definitiv nicht, qualvoll an einem Spinnenbiss zu sterben.“<br />

Er machte eine kurze Pause und fuhr leise fort: „Aber als die Schmerzen schlimmer wur-<br />

den ... Da habe ich anders gedacht. Da habe ich gedacht, dass es gar nicht das schlechteste<br />

wäre, wenn mein verdammtes Herz stehen bleiben würde, weißt du. Ich hatte das Gefühl, es<br />

zerreißt mich von innen nach außen.“ Der Schauspieler wischte sich fahrig mit der Rechten<br />

über das Gesicht. „Die Krämpfe im Leib waren ... Oh Gott! Wenn mir jemand eine Waffe<br />

gereicht hätte, ich hätte mir eine Kugel in den Kopf gejagt, nur, damit das aufhört. Phasenwei-<br />

se war ich gar nicht mehr richtig bei Besinnung. Das waren die schönsten Momente, denn da<br />

habe ich kurze Zeit nichts mehr gemerkt. Doch letztlich waren es genau die Schmerzen, die<br />

mich wieder zu mir brachten. Als es endlich, endlich nachließ ... Ich habe geflennt wie ein<br />

Baby, vor lauter Dankbarkeit, dass es besser wurde. Carrie hat ...“ Er stieß ein kurzes, hartes<br />

Lachen aus. „Carrie tat so, als würde ich ihr schrecklich leidtun. Klar ... Das war zu einem<br />

Zeitpunkt, wo ich noch daran geglaubt habe, dass ihr etwas an mir liegt. Oder sagen wir es<br />

mal so: Ich wollte zu der Zeit noch daran glauben. Als sie mich in den Arm nahm ... Es war ...<br />

Es war so wundervoll, dass da jemand war, der scheinbar mit gelitten hatte. Ich blöder Idiot.“<br />

Der junge Mann musste tief durchatmen, bevor er ruhiger weiter sprach. „Sie brachten<br />

mich auf mein Zimmer, sagte ich ja. Als ich in der Wanne lag und Carrie mich sanft abseifte,<br />

hatten die Schmerzen deutlich nachgelassen. Nur die Füße ... Die Sohlen haben gebrannt und<br />

gekribbelt. Doch das ließ auch bald nach. Ins Bett bin ich nur noch auf Carrie gestützt gegan-<br />

gen, das ging. Sie sagte später, ich habe wohl geschlafen, da lag mein Kopf noch nicht einmal<br />

auf dem Kissen. Sie hat mich in Ruhe gelassen und ich habe fast zwanzig Stunden am Stück<br />

geschlafen. Als ich aufwachte, hatte ich Bärenhunger und fühlte mich fast normal. Sie haben<br />

625


mir tatsächlich zwei Tage Ruhe gegönnt. Ich durfte mich ausruhen, machen, was ich wollte.<br />

Das waren die schönsten zwei Tage dort.“<br />

Kelly hatte still zugehört. Sie war froh, dass Shawn vorbehaltlos alles aus sich heraus ge-<br />

lassen hatte. Das würde ihm auf lange Sicht helfen, diesen schrecklichen Zwischenfall gut zu<br />

verarbeiten. Sanft sagte sie:<br />

„Es ist gut, dass du dir das noch einmal von der Seele geredet hast, wenn die Erinnerungen<br />

auch schmerzlich sind. Ich habe in meiner klinischen Zeit während des Studiums Patienten<br />

erlebt, die von Red Backs gebissen worden waren und weiß, was du durch gemacht hast. Du<br />

hast es gut überstanden und das ist die Hauptsache. Du wirst nie mehr ungeschützt im Garten<br />

arbeiten müssen und somit nicht der Gefahr ausgesetzt sein, auf eine Red Back zu stoßen,<br />

okay. Ich möchte etwas anderes von dir wissen. Du denkst im Ernst, Freunde, Verwandte,<br />

Kollegen, würden dich verachten, wenn sie wüssten, was dir angetan wurde?“<br />

Erschrocken zuckte Shawn zusammen. „Ja. Sie dürfen das nie erfahren. Ich könnte ihnen<br />

nie wieder gegenüber treten, wenn ich wüsste, dass sie es wissen. Kelly, ich habe mich wie<br />

der größte Feigling benommen, habe mich von Männern ficken lassen, nur, um zu überleben.<br />

Dass hätte ich verhindern müssen. Ich hätte lieber Sterben sollen, als das alles zuzulassen. Ich<br />

schäme mich nicht mehr, es dir gegenüber zuzugeben, aber solange ich lebe wird nie jemand<br />

anderes davon erfahren, so wahr mir Gott helfe!“ Shawn hatte sich bei seinen leidenschaftli-<br />

chen Worten aufgesetzt und hockte schwer atmend neben der Psychologin. „Niemals.“, stieß<br />

er noch einmal erregt hervor.<br />

Kelly setzte sich ebenfalls auf und rutschte dich an den jungen Mann heran. „Ich weiß, du<br />

glaubst mir nicht, aber ich schwöre dir, sogar bei Gott, wenn du es willst, dass dich niemand<br />

verachten wird.“ Die Therapeutin hatte sich Gedanken gemacht, wie sie ihren Patienten dazu<br />

bewegen konnte, sich doch jemandem zu öffnen. Ihr war eine Idee durch den Kopf geschos-<br />

sen. Sie hatte Paul und Anna ohne Shawns Wissen eine e-Mail geschickt und gefragt, ob<br />

Shawn einen besten Freund oder Freundin hatte. Zwei Namen hatten Shawns Eltern ihr ge-<br />

nannt. Page Martin und Jerry Cuttler. Beides Freunde seit Kinder- beziehungsweise Jugendta-<br />

gen. Kelly atmete tief durch, bevor sie sagte „Hör mir bitte mal zu, Shawn. Ich möchte, dass<br />

du dich auf ein kleines Experiment einlässt. Es wird dir unglaublich schwer fallen, aber ich<br />

möchte, dass du es versuchst. Ich will von dir, dass du entweder Page oder Jerry anrufst und<br />

ihnen in groben Zügen erklärst, was dir widerfahren ist.“<br />

Shawn wollte auffahren, doch Kelly unterbrach ihn ruhig.<br />

„Nein, Shawn, jetzt rede ich, du hörst zu. Du kannst wählen, wen von den Beiden du an-<br />

rufst. Ich werde bei dir sein, ich werde dich halten und unterstützen. Und ich möchte mit dir<br />

eine Wette eingehen: Wenn es nicht zu der von dir befürchteten Reaktion kommt, habe ich bei<br />

dir eine Carte Blanche. Wenn es zu der Reaktion kommt, hast du das Gleiche bei mir und<br />

kannst fordern, was du willst.“<br />

626


Erstaunt sah Shawn die junge Frau an. „Das meinst du ernst, oder?“<br />

Kelly nickte entschlossen. „Ja, das meine ich ernst.“<br />

„Was ich will?“<br />

Erneut nickte Kelly. „Ja, was du willst.“<br />

Kellys Worte hallten in Shawns Kopf nach wie Donnerhall. Was er wollte ... Oh, er wusste<br />

so sehr, was er wollte. Sie hatte ihn vor eine schwere Entscheidung gestellt. Der junge Mann<br />

wand sich sprichwörtlich neben Kelly und stieß atemlos vor Anspannung hervor:<br />

„Weißt du, was du da von mir verlangst? Darf ich darüber nachdenken?“<br />

„Sicher darfst du das. Ich erwarte keine spontane Entscheidung. Lass es dir gründlich<br />

durch den Kopf gehen. Und lass dir Zeit.“<br />

Der Schauspieler schnaufte leise. „Wenn ich Recht behalte, verliere ich wahlweise meine<br />

beste Freundin oder meinen besten Freund.“, sagte er unglücklich.<br />

„Das wirst du nicht.“ Kelly sah den Schauspieler ruhig an und erklärte: „Denke in Ruhe<br />

über meinen Vorschlag nach. Und lass uns langsam Schlafen gehen, es ist spät geworden und<br />

wir wollen früh hoch.“<br />

Shawn warf einen Blick zur Uhr und nickte. „Oh, hast Recht.“<br />

Nacheinander verschwanden sie ins Bad und lagen anschließend nebeneinander im Bett.<br />

„Du wärest bei mir?“, fragte der junge Mann leise.<br />

„Auf jedem Fall.“<br />

Nervös kaute Shawn auf seiner Unterlippe herum. „Okay, ich denke darüber nach und sa-<br />

ge dir Bescheid, in Ordnung?“<br />

„In Ordnung. Versuche zu schlafen. Gute Nacht.“<br />

Sie gab dem Schauspieler einen liebevollen Kuss auf die Stirn und strich ihm mit einer<br />

sanften Geste eine verirrte Haarsträhne zur Seite.<br />

„Gute Nacht.“<br />

52) Crocodiles inhabit this!<br />

Nichts ist in dieser schlechten Welt von Dauer, nicht mal unsere Sorgen.<br />

Charles Chaplin<br />

„Ab hier führt der Highway unmittelbar am Wasser entlang.“<br />

Shawn war begeistert. Gerade hatten sie den winzigen Ort Buchan Point passiert. Bisher<br />

war der Captain Cook Highway einige Kilometer entfernt von der Küste verlaufen. Nun führ-<br />

te die Straße unmittelbar am Wasser entlang und sie konnten den herrlichen Ausblick auf den<br />

Pazifik genießen. Shawn konnte den Blick gar nicht von der schier endlosen Wasserfläche<br />

627


abwenden. Sie passierten einige kleine Orte. Schließlich hielt Kelly auf einem Lookout Park-<br />

platz an und sagte vergnügt:<br />

„Na los, einen schöneren Ausblick als hier vom Rex Lookout wirst du nicht mehr finden.“<br />

Sie traten zusammen an den Rand des Aussichtspunktes und lehnten sich an das Absperr-<br />

gitter. Shawn stand mit offenem Mund da und starrte nach Süden die Küste entlang. Rechter<br />

Hand erhoben sich die Hänge der Great Dividing Range, links breitete sich das türkisfarbene<br />

Wasser des pazifischen Ozeans vor ihnen aus. Dazwischen schimmerte weißer Strand.<br />

„Mein Gott, ist das schön.“, stieß Shawn atemlos hervor. „Wollen wir hier bleiben? Wir<br />

bauen uns ein Haus hier hin und haben diesen Anblick für den Rest unseres Lebens, was<br />

meinst du?“<br />

Kelly verzog das Gesicht. „Naja, klingt nett, aber die vielen Leute, die auf unserem<br />

Grundstück halten würden, um den Ausblick zu genießen ...“<br />

Shawn verdrehte die Augen. „Meine Herren, du kannst aber pingelig sein.“<br />

„Falls du dich losreißen kannst, kämen wir heute noch ein Stück weiter als bis hier. Da<br />

warten Krokodile auf dich, Babe!“<br />

Lachend machten sie sich auf den Weg.<br />

„Krokos kann ich mir nicht entgehen lassen.“, meinte Shawn und zog die Wagentür mit<br />

Schwung zu. „Auf geht’s. Gib Gas.“<br />

Vorsichtig fuhr Kelly auf den Highway zurück und hielt erst hinter der nächsten, kleinen<br />

Ortschaft an. Es gab hier einen weiteren, spektakulären Aussichtspunkt, den sie Shawn auf<br />

keinem Fall vorenthalten wollte. Sie suchte einen Parkplatz und forderte den Schauspieler auf,<br />

auszusteigen. Zusammen gingen sie ein kleines Stück auf einem gepflegten Wanderweg, bis<br />

sie oberhalb eines zauberhaft schönen Strandes standen. Palmen säumten diesen, gegen das<br />

Blau des Wassers und das leuchtende Grün der Palmen wirkte der Sand fast weiß.<br />

„Unglaublich. Warum stehen hier keine Hotelklötze herum?“, fragte der Schauspieler und<br />

legte andächtig einen Arm um Kelly.<br />

„Weil es in Queensland genug Strände gibt, die nicht die halbe Saison wegen der Würfel-<br />

quallen gesperrt sind.“<br />

„Gut, das ist wohl ein Argument.“<br />

Sie setzten sich einen Moment an den Strand unter eine Palme und genossen die Ruhe.<br />

Kein Mensch war hier am Strand und störte. Shawn sah gedankenverloren auf das Wasser<br />

hinaus. Plötzlich sagte er leise:<br />

„Okay.“<br />

Kelly wusste sofort, was er meinte. „Bist du dir sicher?“, fragte sie ruhig nach.<br />

Shawn nickte langsam. „Ja. Ich habe gründlich darüber nachgedacht. Oh Gott ... Was kann<br />

schon passieren? Ich verliere einen Freund. Mehr nicht ...“<br />

628


Kelly rutschte dich an den jungen Mann heran und umarmte ihn liebevoll. „Ich bin über-<br />

zeugt, das wirst du nicht.“, erklärte sie.<br />

Shawn schnaufte angespannt. „Lass es uns gleich heute machen, bevor ich es mir anders<br />

überlege, okay?“<br />

„Wie immer du willst. Wen?“<br />

„Jerry.“<br />

Darüber war Kelly verblüfft. Sie hatte eher mit Page gerechnet. Aber es war Shawns Ent-<br />

scheidung und sie war stolz auf ihn.<br />

Die nächsten Minuten zurück im Wagen war Shawn still. Doch als sie kurze Zeit später<br />

Port Douglas passierten und sich schnell dem Daintree River näherten, wurde er gesprächiger.<br />

„Kann man da Touren machen?“, fragte er gespannt.<br />

„Klar. Das sollten wir auch machen, denn der Daintree ist wunderschön. Wir brauchen ja<br />

keine stundenlange Tour mitzumachen, eine der kürzeren tut es auch.“<br />

Die Straße führte vom Wasser weg und kurze Zeit später bog Kelly nach rechts von der<br />

Hauptstraße ab. Gleich darauf standen sie am Fluss und Shawn war erstaunt, wie viel hier los<br />

war. Eine Fähre war die einzige Möglichkeit, um über den Daintree River zu gelangen und<br />

dementsprechend viele Autos standen hier herum. Kelly parkte den Pajero und sie stiegen<br />

aus. Sich interessiert umschauend schlenderten sie zur Fähre hinunter. Hier warnte ein großes<br />

Schild davor, dass es im Fluss Krokodile gab und man vorsichtig sein sollte. Eine Weile sahen<br />

sie dem Treiben an der Fähre zu, doch schließlich meinte Kelly:<br />

„Wenn wir eine Tour machen wollen, sollten wir uns Karten besorgen. Es ist voll, wir sind<br />

nicht die einzigen, die auf den Fluss wollen.“<br />

Sie schlossen sich anderen Touristen an, die ebenfalls die Anlegestellen der Ausflugsboote<br />

aufsuchten. Und hatten Glück. Eine der Touren würde in Kürze beginnen und sie bekamen<br />

noch zwei Karten. Schnell mussten sie an den betreffenden Anleger eilen.<br />

„Nein, die sind drollig!“ Shawn grinste, als er sah, womit sie fahren würden. Gerade ka-<br />

men die kleinen Boote von der vorherigen Tour zurück. Es handelte sich um eine richtige<br />

kleine Bootsbahn. Sieben kleine, jeweils acht Personen fassende Boote waren zu einer Bahn<br />

aneinander gereiht. Langsam näherte sich das Gefährt dem Anleger und Minuten später konn-<br />

ten Kelly und Shawn zusammen mit anderen Touristen eines der kleinen Boote besteigen. Sie<br />

suchten sich einen Platz und machten es sich bequem.<br />

Als alle Fahrgäste eingestiegen waren legte der Tross kleiner Boote langsam ab. Es war<br />

ein eigenartiges Gefühl, durchs Wasser gezogen zu werden. Kelly und Shawn hatten im vier-<br />

ten Boot von vorne Platz genommen und kamen sich wie in einer Wasserbahn vor. Der Tour-<br />

leiter gab interessante Informationen über den Daintree River und die Cape York Halbinsel<br />

weiter.<br />

629


„G’day. Willkommen am Daintree River und im Daintree Nationalpark. Ich werd euch<br />

heut in den Dschungel fahren und euch Salties zeigen, dass euch die Haare zu Berge stehen,<br />

das kann ich euch versprechen. Wie in anderen Gebieten, speziell im Kakadu, haben sich un-<br />

sere Bestände erfreulich erholt. Im Northern Territory wurden in den vergangenen Jahren die<br />

Schutzvorkehrungen für Salties und Freshies gleichermaßen strenger reglementiert. Heute<br />

darf kein Outback Farmer mehr wahllos Krokodile abballern, nur, weil sie die Wasserstellen<br />

für sein Vieh verunsichern. Die Echsen werden heutzutage von Rangern gefangen und an<br />

Flüssen wieder ausgesetzt, an denen sie keinen Schaden unter Viehbeständen anrichten kön-<br />

nen. Maßgeblich dazu beigetragen hat unter anderem der von vielen verlachte und 2006 viel<br />

zu früh verstorbene Steve Irwin. Er hat sich zusammen mit seiner Frau Terry vehement dafür<br />

eingesetzt, dass die frei lebenden Bestände unter das Artenschutzabkommen gestellt werden.<br />

Ein weiterer wichtiger Schützer der Krokodile ist der österreichstämmige Rob Bredl, besser<br />

bekannt als der Barefoot Bushman. Sein Vater Josef, der zusammen mit seiner Frau und den<br />

Kindern in den späten 50gern nach Australien auswanderte, machte in den 60zigern die Re-<br />

gierung auf die dramatisch schwindenden Zahlen der Salties aufmerksam. Es gelang ihm,<br />

wichtige Leute davon zu überzeugen, dass für den Erhalt eines gesunden Ökosystems die<br />

Krokodile lebenswichtiger Bestandteil waren. Er machte es sich zum Ziel, das australische<br />

Leistenkrokodil vor der Ausrottung zu bewahren. Anfang 1972 gründete er zusammen mit<br />

seiner Familie und Freunden die erste Krokofarm Australiens. Er steckte unglaubliche Ener-<br />

gie in den Versuch, die australische National University zu überzeugen, dieses Projekt zu fi-<br />

nanzieren. Und schaffte es. Bereits 1973, nur zwölf Monate nach der Gründung der Farm,<br />

konnten die ersten gezüchteten Salties im Flusssystem der Cape York Halbinsel ausgewildert<br />

werden. Heute gibt es über ganz Australien verteilte Krokodilfarmen, in denen die Tiere für<br />

die Gewinnung von Leder gezüchtet werden. Somit ist es nicht mehr notwendig, wild lebende<br />

Exemplare abzuschlachten. Unsere veränderte Einstellung gegenüber Krokodilen, die heute<br />

schon in den Kindergärten propagiert wird, wird in Zukunft zu einer weiteren Zunahme der<br />

Tiere führen.“<br />

Alle hatten aufmerksam zugehört, während der Tourleiter diese interessanten Informatio-<br />

nen weiter gab. Langsam war der Bootstross in westlicher Richtung den Daintree entlang ge-<br />

tuckert. Um sie herum breiteten sich an beiden Ufern Mangroven aus und gingen in dichten<br />

Regenwald über. Shawn kam sich vor wie am Amazonas. Er war erneut fasziniert von der<br />

Schönheit des Regenwaldes. Der Bootsführer erzählte weiter.<br />

„Der Daintree-Nationalpark umfasst zum Einen den ungefähr 170 Quadratkilometer gro-<br />

ßen Bereich zwischen dem Daintree- und Bloomfield River, zum Anderen einen rund 565<br />

Quadratkilometer großen Bereich nordwestlich Mossman. Thornton Peak ist mit 1.375 Me-<br />

tern unser höchster Berg im Park. Eine schöne Tageswanderung führt auf den 770 Meter ho-<br />

hen Mount Sorrow, an dessen Fuß sich die kleine Siedlung Cape Tribulation befindet. Ob-<br />

630


wohl der Daintree Nationalpark mal gerade 0,01 Prozent Australiens ausmacht, also wirklich<br />

winzig ist, haben wir hier über 30 Prozent aller Säugetiergattungen, 65 Prozent der australi-<br />

schen Fledermaus- und Schmetterlingsarten und 20 Prozent der vorhandenen Vogelgattungen.<br />

Wenn man an der Küste beginnt, mit den hohen, Lianen bewachsenen Bäumen, weiter mit<br />

Mangrovenwäldern bis hinauf zum meist kleinblättrigen Baum- und Strauchbewuchs der Ber-<br />

ge haben wir dreizehn verschiedene Regenwaldsorten. Mehr als siebzig Tier- und siebenhun-<br />

dert Pflanzenarten sind hier einheimisch. Als Bestandteil des gut 450 Kilometer langen Küs-<br />

tenabschnittes der Wet Tropics of Queensland zwischen Townsville und Cooktown zählt der<br />

Nationalpark seit 1988 zum Weltnaturerbe der UNESCO. Gut 75 Prozent des 1.200 Quadrat-<br />

kilometer großen Gebietes bestehen aus tropischem Regenwald.<br />

Der Daintree ist gut 140 Kilometer lang. Er wurde erstmals 1873 von der Mündung bis zur<br />

Quelle erforscht. Ein gewisser George E. Dalrymple, der für das Unternehmen Gilbert Gold<br />

Field als Bevollmächtigter arbeitete, leitete eine Expedition, um den Daintree zu erkunden. Er<br />

benannte den Fluss nach einem britischen Geologen, Richard Daintree. Tja, Leute, und nun<br />

werden wir mal ernsthaft Ausschau nach den Hauptattraktionen hier halten, was? Wer zuerst<br />

ein Saltie entdeckt wird nicht verfüttert.“<br />

Lachend begannen alle Passagiere sofort, mit den Augen intensiv die Ufer und die Was-<br />

seroberfläche abzusuchen. Shawn beteiligte sich gespannt an der Suche. Doch erst einmal<br />

hielten sich die großen Reptilien noch verborgen. Als sie einen kleinen Nebenarm des Flusses<br />

passierten, entdeckte noch keiner ein Saltie. Doch an diesem Vormittag meinte es die Natur<br />

gut mit den Touristen. Kelly war es, die am rechten Ufer, inmitten von Mangrovenwurzeln die<br />

erste Echse entdeckte. Und dann ging es Schlag auf Schlag. Shawn kam noch einmal voll auf<br />

seine Kosten und sein Fotoapparat klickte, wie bei den anderen Fahrgästen, jedes Mal wenn<br />

ein weiteres Krokodil erspäht wurde.<br />

Als sie anderthalb Stunden später zurück am Anleger waren und dem Bootsführer ein<br />

großzügiges Trinkgeld gegeben hatten, erklärte der Schauspieler begeistert:<br />

„Mensch, ich wünschte so sehr, Mum und Dad wären dabei gewesen. Was sind das nur für<br />

großartige Geschöpfe. Wenn ich zurückkomme nach Down Under, werde ich Mum und Dad<br />

mitschleppen. Sie müssen das alles sehen.“<br />

Kelly lächelte über seine Freude. Spontan entschied sie, ihm auf dem Rückweg noch mehr<br />

Krokos zu bieten. Als sie am Wagen ankamen schlug sie vor: „Wir werden bis Mossman zu-<br />

rückfahren und dort etwas Essen, mir knurrt der Magen. Und dann geht es weiter zurück nach<br />

Cairns, mit einem kleinen Zwischenstopp, der dir gefallen wird, das weiß ich genau.“<br />

Shawn war so gut gelaunt, dass er erklärte: „Was immer du vorschlägst. Besser geht es<br />

doch sowieso nicht.“<br />

631


Sie stiegen in den Wagen und Kelly fuhr zügig die knapp 30 Kilometer nach Mossman zu-<br />

rück. Dort suchten sie sich ein Restaurant und aßen zu Mittag. Shawn war noch gefangen von<br />

den großen Echsen und konnte sich gar nicht beruhigen. Kelly lachte vergnügt und meinte:<br />

„Du hättest dich mit Steve Irwin großartig verstanden. Ich sehe richtig vor mir, wie ihr<br />

euch gemeinsam mitten in der Nacht von einem winzigen Motorboot aus auf im Wasser lau-<br />

ernde Salties stürzt und diese mit bloßen Händen einfangt!“<br />

Shawn kicherte. „Nein, vielen Dank, soweit geht meine Begeisterung wohl doch nicht. Ich<br />

sitze lieber in einem sicheren Boot, statt mich im Wasser mit den Tierchen zu amüsieren.“<br />

Sie machten sich nach dem Essen wieder auf den Weg und erreichten gegen 14.45 Uhr<br />

Kellys nächstes Ziel. Shawn riss die Augen auf.<br />

„Eine Krokodil Farm. Wahnsinn!“ Er umarmte Kelly freudig und sie marschierten zum<br />

Eingang. Dort erklärte die freundliche Angestellte:<br />

ben.“<br />

„Wenn ihr euch beeilt könnte ihr noch am großen Becken die Croc Attack Show miterle-<br />

Selbstverständlich beeilten sie sich! Sie mussten durch den Park zum anderen Ende des in<br />

der Mitte angelegten großen Teichs hetzen, schafften es aber auf die Minute pünktlich und<br />

bekamen noch einen guten Platz, von dem aus sie alles hervorragend beobachten konnten. Ein<br />

Parkmitarbeiter stieg für die spektakuläre Show in das Gehege, nur bewaffnet mit einem län-<br />

geren, starken Stock. In den nächsten fünfzehn Minuten wurden den gespannten Zuschauern<br />

in verschiedenen Situationen gezeigt, wie unglaublich schnell und präzise Krokodile sowohl<br />

aus dem Wasser heraus als auch an Land angreifen konnten. Shawn war nicht der einzige Zu-<br />

schauer, der einige Male heftig zusammen zuckte. Die riesigen Reptilien waren unter Wasser<br />

nicht auszumachen und schossen mit der Wucht und Geschwindigkeit einer Dampflok aus<br />

dem Wasser heraus auf die vorgehaltene Beute. Die Kiefer schnappten zielsicher zu und das<br />

Geräusch, welches entstand, wenn die Zähne sich um die Beute schlossen, war Gänsehaut<br />

erzeugend. Während der gesamten Vorführung gab der Tierpfleger interessante Informationen<br />

über die großen Leistenkrokodile an die Zuschauer weiter.<br />

„Krokodile sind wechselwarme Tiere, ihre Temperatur liegt im Durschnitt bei 25,5 Grad,<br />

das heißt, bei kälteren Temperaturen sinkt ihre Aktivität stark ab. Sie sind darauf angewiesen,<br />

sich sonnige Plätze zu suchen um zu Ruhen. Unsere Leistenkrokodile sind die größte lebende<br />

Krokodilart überhaupt, gefolgt vom Nilkrokodil. Ihre durchschnittliche Größe liegt so zwi-<br />

schen 5 und 7 Metern, es werden aber auch größere Exemplare gefunden. Da ihr Stoffwechsel<br />

sehr langsam ist können sie lange Zeit ohne Nahrung überleben. Nach großer Beute schaffen<br />

sie es bis zu zwölf Monate ohne etwas zu Fressen. Durch den langsamen Stoffwechsel bedingt<br />

werden sie bis zu siebzig Jahre und älter. Ihre Augen sind ziemlich groß und sie können bei<br />

Dunkelheit gut sehen. Sie jagen sowohl am Tage als auch in der Nacht. Die Kraft in ihren<br />

632


Kiefern beschränkt sich auf den Zubiss, was sie einmal zwischen den Zähnen haben hat keine<br />

Chance, zu entkommen. Dafür reicht relativ wenig Kraft, um ihnen die Schnauze zuzuhalten.<br />

An Land erreichen sie über kurze Strecken eine Geschwindigkeit von bis zu 30 Stundenkilo-<br />

metern. Im Wasser bewegen sie sich dank ihrer Schwänze, die es ihnen ermöglichen, sich<br />

meterhoch aus dem Wasser zu schnellen, über kurze Strecken eine viel höhere Geschwindig-<br />

keit. Ich werde oft gefragt, was der Unterschied zwischen Leistenkrokodilen und Alligatoren<br />

ist. Von denen haben wir einige hier im Park. Ich erkläre den Unterschied gerne so: Komme<br />

ich mit dem Fressen zu den Alligatoren denken diese ‘Oh, da kommt der Pfleger und hat un-<br />

ser Futter bei sich.‘ Komme ich aber zu den Salties denken die ‘Oh, da kommt unser Futter<br />

und es hat noch ein Dessert für uns dabei!‘ So sieht es aus, mates.“<br />

Shawn und Kelly hörten den Erklärungen interessiert zu. Bei der Erklärung des Unter-<br />

schiedes zwischen den beiden Raubtierarten lachten sie so herzlich wie die anderen Besucher.<br />

Als die Vorführung vorbei war, blieben sie, wie viele andere Gäste, noch einen Moment am<br />

Gehege stehen und unterhielten sich über das, was sie gesehen und erfahren hatten.<br />

„Ich werde nie wieder näher als ein paar Meter an einen Fluss heran gehen!“, meinte<br />

Shawn grinsend. „Die siehst du ja absolut nicht unter Wasser. Die hängen dir schneller an der<br />

Nase als du begreifst, was da gerade passiert. Unglaublich.“<br />

Kelly stimmte ihm zu. „Ja, es ist unglaublich beeindruckend, wie schnell die Tiere sind.<br />

Man ist froh, wenn ein sicherer Zaun zwischen ihnen und einem selbst ist.“<br />

„Das magst du wohl laut sagen. Na, wollen wir uns den Park ansehen? Die haben hier si-<br />

cher noch mehr zu bieten, oder?“<br />

Sich unterhaltend marschierten sie los, um sich die anderen Gehege anzusehen. So kamen<br />

sie zu einem Teich, in dem es von Süßwasserkrokodilen regelrecht wimmelte. Erstaunlich<br />

friedlich gingen die viel kleineren Reptilien miteinander um. Zu Rivalitäten schien es nicht zu<br />

kommen.<br />

„Die scheinen gesellig zu sein, wie es aussieht.“, meinte Shawn, der sich entspannt auf den<br />

Zaun lehnte und die Freshies beobachtete.<br />

„Ja, sieht so aus. Die Tiere sind für die Ledergewinnung gedacht. Zum Glück geht die<br />

Nachfrage nach Reptilienleder in den letzten Jahren deutlich zurück, wie die nach echten Pel-<br />

zen für Kleidung.“<br />

Shawn schüttelte bedrückt den Kopf. „Wenn man überlegt, wie viele Tiere ausgerottet<br />

oder schon an den Rand der Ausrottung gebracht wurden, nur, weil der Mensch der Meinung<br />

ist, sie für irgendetwas verwenden zu können ...“<br />

Sie gingen weiter und kamen an Gehegen mit Dingos, Schildkröten, Koalas, verschiede-<br />

nen Eidechsenarten, Wombats und Emus vorbei, und gelangten später im so genannten Wild-<br />

life Discovery Trail zu einen weiteren Teich mit Salzwasserkrokodilen. Von links näherten<br />

633


sich ihnen einige junge Männer, die ordentlich getankt hatten. Gut gelaunt, lachend und her-<br />

um albernd traten sie an den Zaun des Geheges.<br />

„So gefäälich sehn die ganich aus.“, meinte einer der jungen Männer leicht lallend.<br />

„Na, dann gehdoch rein un schtreichel eins der Viecher.“, bekam er von einem seiner<br />

Freunde ähnlich lallig zu hören.<br />

„Ja, los, Kev, zeich, wassdu drauf hast.“<br />

Shawn und Kelly grinsten und wollten sich abwenden, um weiter zu gehen. Außer ihnen<br />

und den jungen Männern hielt sich hier derzeit kein weiterer Besucher auf.<br />

„Es wird allmählich Zeit, wir haben noch ein Stück zu fahren und sollten uns auf den Weg<br />

machen.“, meinte Kelly und wollte gerade los gehen, als es passierte.<br />

Der mit Kev angesprochene junge Mann erklärte:<br />

„Denkt ihr, ich hab Schiss?“<br />

Bevor jemand reagieren konnte turnte der Junge auf den Zaun und sprang ins Gehege!<br />

Seine drei Freunde fanden das scheinbar lustig, denn sie feuerten ihren Kumpel grölend und<br />

johlend an. Kelly und Shawn wirbelten entsetzt herum und brüllten wie aus einem Mund:<br />

„Bist du wahnsinnig? Raus da!“<br />

Kev war ans Wasser getreten und drehte sich zu seinen Kumpels herum. Er grinste. „Da<br />

seht ihr’s. Die sin nich ...“ Weiter kam er nicht. In diesem Moment schoss aus dem Wasser<br />

ein gut 3 Meter langes Saltie heraus und seine Kiefer schlossen sich Knochen zermalmend um<br />

den rechten Unterschenkel des überraschten Jungen! Aufbrüllend vor Angst und Schmerzen<br />

wurde er zu Boden und mit erschreckender Geschwindigkeit auf das Wasser zu gerissen. Kel-<br />

ly reagierte wie ferngesteuert. Sie war über den Zaun, bevor sie darüber nachgedacht hatte<br />

und bückte sich im Laufen nach einem langen Ast, der am Boden lag. Damit schlug sie laut<br />

rufend und wild gestikulierend auf das Saltie ein.<br />

Shawn hatte vor Entsetzen aufgeschrien, als er sah, dass Kelly über den Zaun kletterte.<br />

„KELLY! Komm zurück!“<br />

Die Freunde des Jungen standen geschockt am Zaun und brüllten um Hilfe. Kelly schlug<br />

weiter auf das Krokodil ein und schrie:<br />

„Hau ab! Verschwinde! Lass ihn los.“<br />

Kev versuchte hysterisch schreiend, sich an irgendetwas festzukrallen, um nicht noch wei-<br />

ter ins Wasser gezerrt zu werden. Bis zum Bauch lag er bereits in dem Teich. Mit dem freien<br />

Bein trat er panisch um sich. Und endlich ließ das überraschte Krokodil ihn los und zog sich<br />

ein Stück zurück. Doch Kelly konnte sehen, dass sich weitere Salties näherten. Sie packte Kev<br />

an den Armen und zerrte ihn rücksichtslos so schnell sie konnte rückwärts in Richtung Zaun.<br />

Shawn hatte keine Sekunde gezögert. Er sprang unmittelbar nach Kelly ebenfalls über den<br />

Zaun und rannte zu dieser und dem verletzten Jungen hinüber. Während er Kev aufrichtete<br />

634


ging Kelly erneut laut schreiend und mit dem Stock fuchtelnd auf eines der Salties los, dass<br />

sich ihnen interessiert näherte. Die junge Frau hatte jetzt deutlich mehr Angst, dass Shawn<br />

wohlmöglich noch attackiert werden könnte als um ihre eigene Sicherheit. Sie bekam nicht<br />

mit, dass Shawn mit Hilfe der schlagartig ernüchterten Jungs den schwer verletzten Kev über<br />

den Zaun zerrten. Erst, als Shawn brüllte:<br />

„Komm endlich da raus!“, bemerkte sie, dass Kev, aber vor allem Shawn in Sicherheit<br />

war. Sie warf den Stock in Richtung des Salties und war Augenblicke später ebenfalls aus<br />

dem Gehege heraus.<br />

Die junge Frau warf sich neben dem Verletzten Jungen auf die Knie und untersuchte das<br />

Bein. Er hatte kurze Hosen an, sodass sie sehen konnte, welche Schäden der Biss angerichtet<br />

hatte.<br />

„Ich brauche etwas zum Abbinden. Die Arteria tibialis ist aufgerissen.“, erklärte sie hastig.<br />

Einer der Freunde riss sich sein Hemd herunter und reichte es Kelly zitternd. „Geht das?“,<br />

fragte er verstört.<br />

Kelly nahm das Hemd, rollte es eilig zusammen und schlang es oberhalb des Knies fest<br />

um das verletzte Bein. Inzwischen waren andere Besucher und Parkpersonal aufmerksam ge-<br />

worden und herbei geeilt. Mehrere Stimmen riefen nach Notarzt und Rettungswagen. Einer<br />

der Parkangestellten fragte schockiert:<br />

„Was, um alles in der Welt, ist hier los gewesen?“<br />

„Habt ihr eine Trage im Park?“, fragte Kelly, ohne auf die Frage einzugehen.<br />

Der Angestellte nickte. Er riss sein Sprechfunkgerät aus der Tasche und gab hastig durch:<br />

„Wir brauchen am Becken vier eine Trage, schnell. Und alarmiert einen Notarzt, wir haben<br />

hier einen Schwerverletzten!“<br />

Kurze Zeit später schon trugen sie Kev im Laufschritt durch den Park zum Hauptgebäude.<br />

Kelly bemühte sich, die Blutung aus der großen Bisswunde zu stillen. Nachdem sie mit fri-<br />

schem Wasser den Dreck von dem verletzten Bein gespült hatte, wurde ihr Verbandsmaterial<br />

gereicht und sie legte einen festen Druckverband an. Shawn half ihr ruhig und reichte ihr, was<br />

sie anforderte, schnell und präzise zu. Kev lag wimmernd und zitternd still und stammelte:<br />

„Ich will nicht Sterben ... Bitte... lieber Gott ... Mein Bein! Werde ich es verlieren?“<br />

Kelly schüttelte fassungslos den Kopf. „So wie deinen Verstand? Nein. Du wirst nicht<br />

Sterben und das Bein wirst du auch nicht verlieren. Es wird alles wieder gut.“<br />

Endlich kam die Meldung: „Der Rettungswagen ist da. Hier kommt der Notarzt.“<br />

Sekunden später knieten zwei Männer, ein Arzt und ein Sanitäter, neben Kelly und dem<br />

Verletzten und fragten, was passiert war. Der Arzt kontrollierte den Verband und fragte er-<br />

staunt, wer den angelegt hatte.<br />

„Das war ich. Ich bin Ärztin.“, erklärte Kelly hastig.<br />

635


„Der sitzt gut, wir lassen ihn drum, bis wir im Rettungswagen sind. Auf geht’s.“<br />

Zwei Parkangestellte halfen, die Trage mit dem Verletzten zum Rettungswagen zu bringen<br />

und jetzt erst kam Kelly dazu, zu Realisieren, was da in den letzten Minuten passiert war. Sie<br />

wandte sich Shawn zu und fuhr diesen an:<br />

„Bist du denn vollkommen verrückt geworden? Da rein zu springen? Weißt du, welche<br />

Angst ich um dich hatte?“<br />

Shawn machte: „Äh ...“ Dann zog er die junge Frau an sich und hielt sie fest in den Ar-<br />

men. „Du um mich? Wer ist denn zuerst wie ein geölter Blitz über den Zaun und in das Gehe-<br />

ge hinein? Das warst doch wohl du.“<br />

Kelly lachte unter Tränen. „Das heißt doch aber nicht, dass du hinterher hüpfen musst.“<br />

Shawn grinste. „Einer musste euch doch da raus helfen.“<br />

Sie wurden von einem älteren Mann in Anzug unterbrochen.<br />

„Entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Lance Cooper, ich bin der Geschäftsführer des<br />

Parks. Können Sie mir mal erklären, was da los gewesen ist?“<br />

Kelly warf den drei Freunden Kevins einen genervten Blick zu und erzählte mit kurzen<br />

Worten, was vorgefallen war. Die drei jungen Männer standen sichtlich unter Schock. Sie<br />

waren fertig, das war ihnen deutlich anzusehen. Das alles würde für sie und ihren Freund noch<br />

ein Nachspiel haben, das war Kelly klar.<br />

Mittlerweile war Polizei eingetroffen und es wurde ein Protokoll aufgenommen. Die jun-<br />

gen Männer mussten den zwei Beamten folgen. Vorher bedankten sie sich bei Kelly und<br />

Shawn für deren Hilfe. Auch Lance Cooper bedankte sich für das schnelle und gezielte Ein-<br />

greifen. Endlich konnten Kelly und Shawn gehen. In einem Waschraum reinigen sie sich noch<br />

die Hände vom Blut des Verletzten und marschierten anschließend zu ihrem Wagen. Schwei-<br />

gend fuhr Kelly los und nach zehn Minuten war es Shawn, der das Schweigen brach.<br />

„Manman, hier wird dir was geboten.“, meinte er sarkastisch. „Mir ist fast das Herz stehen<br />

geblieben, als du über den Zaun bist.“<br />

„Na, einer musste doch was machen. Hätte ich zusehen sollen, wie dieser Verrückte zum<br />

Kroko take away wird?“<br />

„Natürlich nicht.“ Er sah Kelly an und meinte verliebt: „Du warst unglaublich. Mit einem<br />

Stöckchen wie ein Zahnstocher auf ein 3 Meter Krokodil loszugehen.“<br />

Nun musste auch die Therapeutin lachen. „Ich habe mir gedacht, dass ein Raubtier nicht<br />

gewohnt ist, wenn seine Beute auf es losgeht. Bei Raubkatzen und selbst bei Haien funktio-<br />

niert die Taktik. Warum also nicht bei einem Reptil?“<br />

sen.“<br />

Shawn schüttelte ungläubig den Kopf. „Du bist verrückt. Wenn es nicht geklappt hätte?“<br />

Die Psychologin grinste. „Dann hättest du dem Kollegen seine Mahlzeit ausreden müs-<br />

636


Sie erreichten die nördlichen Vororte Cairns‘ und eine halbe Stunde später stand Kelly un-<br />

ter der Dusche. Shawn war bereits fertig und wartete ungeduldig.<br />

„Machst du da die Titanic klar oder was? Beeile dich bitte, ich bin dreiviertel verhungert.“<br />

Kelly bekam es mit der Angst und beeilte sich. „Bin ja fertig. Du machst mir Angst. Ich wur-<br />

de heute schon fast gefressen.“, lachte sie. Hastig rubbelte die Therapeutin sich die Haare tro-<br />

cken und zog sich an. „Worauf hast du denn Appetit?“, fragte sie ihren Patienten, als sie ge-<br />

meinsam zum Fahrstuhl gingen.<br />

Ehe Shawn es noch verhindern konnte, rutschte ihm: „Auf dich.“, heraus. Hochgradig ver-<br />

legen und feuerrot im Gesicht stotterte er sofort: „Oh Gott, entschuldige bitte. Das ist mir so<br />

raus gerutscht. Es tut mir leid.“<br />

Kelly war eine Sekunde bestürzt. Doch dann musste sie so lachen, dass ihr Tränen über<br />

die Wangen kullerten. „Warum?“, fragte sie, als sie sich halbwegs beruhigt hatte. „Das war<br />

doch ein wunderschönes Kompliment. Im Übrigen ist mir der Gedanke selbst ein, zwei Mal<br />

durch den Kopf gegangen.“<br />

Shawn war rot bis über die Ohren. Doch er musste kichern. „Trotzdem peinlich. Wir wa-<br />

ren uns einig und ... Ich ... Möglicherweise fange ich langsam wieder an, den einen oder ande-<br />

ren Gedanken an ... Sex zu verschwenden.“ Er verzog peinlich berührt das Gesicht. Der Fahr-<br />

stuhl stoppte und sie traten ins Hotel Foyer.<br />

„Das wäre doch wunderbar. Du hast noch vor wenigen Wochen gedacht, du würdest nie<br />

wieder einen Gedanken daran verschwenden.“, meinte Kelly liebevoll. „So, was hältst du da-<br />

von, direkt gegenüber ist ein gutes Restaurant, das Dundees. Exzellentes Seafood, gute<br />

Steaks, wie wäre das?“<br />

Froh, dass das Thema gewechselt wurde, nickte Shawn. Als ihm das eben heraus gerutscht<br />

war, hatte er tatsächlich daran gedacht, wie es wohl wäre, mit Kelly zu Schlafen. Er konnte es<br />

nicht fassen, dass ihm tatsächlich ein solcher Gedanke gekommen war. Um es sich zu erklä-<br />

ren schob er es konsequent der Aufregung am Nachmittag zu. Der heftige Adrenalinschub.<br />

Das musste es gewesen sein!<br />

Minuten später saßen sie im Restaurant und studierten die Speisekarte.<br />

„Hast du Lust auf Fisch?“, fragte Kelly.<br />

„Ja, gerne, warum nicht.“<br />

„Wie wäre es denn mit der Seafood Platte? Krabbenfleisch, Lobster, Muscheln, Tiger<br />

Prawns, Austern, Kalamaris, Barramundi, Scallops, Red Snapper und frisches Obst. Was<br />

meinst du?“<br />

Shawn stimmte nur zu gerne zu. Sie gönnten sich ein Glas Weißwein zum Essen und wa-<br />

ren mehr als satt, als sie das Restaurant gute anderthalb Stunden später wieder verließen. Da<br />

sie ziemlich vollgestopft waren, gingen sie noch eine Weile an der Esplanade spazieren. Erst<br />

637


gegen 23 Uhr waren sie auf ihrem Zimmer. Sie setzten sich auf den Balkon und Kelly kam<br />

noch einmal auf den Unfall zu sprechen.<br />

„Du hast unglaublich gut reagiert. Nicht nur im Gehege, auch später im Büro, beim Ver-<br />

binden.“<br />

Shawn zuckte die Schultern. „Ich habe kein Problem damit, Blut zu sehen und gerate bei<br />

so was nicht in Panik.“<br />

Die Therapeutin kam nicht umhin, darüber nachzudenken, wie unglaublich gut sie und<br />

Shawn sich ergänzten. So wie dem jungen Schauspieler nach dem Bungy Jumping vor zwei<br />

Tagen schoss nun der Psychologin durch den Kopf, dass sie ein erfülltes und zufriedenstel-<br />

lendes Leben an Shawns Seite haben würde. Sie verstanden sich perfekt, hatten gleiche Inte-<br />

ressen und ergänzten sich hervorragend. Doch sogleich bremste sie sich selbst. Noch stand gar<br />

nichts fest. Und wenn es dazu kommen würde, lägen noch viele Monate dazwischen.<br />

Entschlossen lenkte Kelly ihre Gedanken in eine andere Richtung. Sie sah auf die Uhr und<br />

fragte ruhig: „Wo lebt dein Freund Jerry?“<br />

Shawn schrak zusammen. „Wieso?“<br />

„Weil ich gerne ausrechnen möchte, wie spät beziehungsweise wie früh es dort ist.“<br />

Nervös erklärte der Schauspieler: „In Frisco. Er lebt in Frisco ...“ Der junge Mann sah auf<br />

seine Armbanduhr und meinte leise: „Er sollte wach sein.“<br />

Die Psychologin schaute Shawn an. „Wie sieht es aus, wollen wir es in Angriff nehmen?“<br />

Shawn schüttelte verzweifelt den Kopf. „Nein, wollen wir nicht. Aber ...“ Mit heftig zit-<br />

ternden Händen fuhr er sich durch die Haare. Endlich griff er entschlossen nach dem Telefon.<br />

„Du gibst ohnehin keine Ruhe.“ Er wählte und drückte auf den Freisprechknopf. Nervös war-<br />

tete er auf eine Reaktion am anderen Ende der Leitung. Als diese erfolgte, wäre ihm fast der<br />

Hörer aus der Hand geglitten vor Schreck.<br />

„Hier Jerry.“<br />

Eine sympathische Stimme. Kelly nickte Shawn Mut machend zu und nahm seine Linke<br />

fest in ihre Hände. „Du schaffst das.“, flüsterte sie leise.<br />

Shawn holte tief Luft und stotterte: „Ich ... Hallo, Jerry, ich ... ich bin‘s, Shawn.“<br />

Einen Moment lang herrschte Schweigen am anderen Ende, doch dann kam ein begeister-<br />

tes: „Shawn, Alter! Man, ist das schön, deine Stimme zu hören.“ Ehrlich begeistert hörte sich<br />

der junge Mann in den Staaten an. „Sag, wie geht es dir? Wo steckst du denn bloß, um Him-<br />

mels Willen? Ich warte seit Monaten darauf, endlich mal ein Lebenszeichen von dir zu be-<br />

kommen. Was ist denn nur passiert? Wir sind hier alle echt im Dreieck gesprungen. Wir ha-<br />

ben die Aussie Polizei komplett verrückt gemacht. Wir haben da drei Mal am Tag angerufen,<br />

monatelang.“<br />

Shawn schluckte, brachte kein Wort heraus.<br />

638


„Vielleicht machst du mal den Mund auf?“, kam es ungeduldig durch den Äther. „Alter,<br />

wir sind fast abgecrasht, wir hatten doch keine Ahnung, wo du steckst und was mit dir ist, bis<br />

vor ein paar Wochen deine Mum bei mir anrief. Sie hat mir gesagt, dass du dich noch in Aust-<br />

ralien herumtreibst. Sag endlich was! Wie geht es dir? Was ist los mit dir?“<br />

Shawn schluckte schwer. „Na, wie denn, du redest ja ununterbrochen.“, würgte er mit zit-<br />

ternder Stimme hervor.<br />

„Das ist der Sinn eines Gespräches, man redet. Also, rede endlich und lass dir nicht jedes<br />

Wort aus der Nase ziehen. Anna meinte, du machst einen Trip durch Australien? Alter, du<br />

hast mir echt gefehlt.“<br />

Shawn stieß bebend hervor: „Glaub mir, es ist auch toll, deine Stimme zu hören. Es tut mir<br />

leid, dass ich mich nicht viel eher gemeldet habe, Jerry.“<br />

„Bist du noch in Australien?“, wollte Jerry wissen.<br />

„Ja. Im Moment sind wir in Queensland, in Cairns, weit oben im Norden.“<br />

Jerry lachte. „Ich weiß, wo Cairns ist, Alter. Wer ist wir?“<br />

„Ich und ... ach, verflucht, ich und meine Therapeutin.“<br />

Alarmiert fragte Jerry: „Therapeutin? Shawn, was um alles in der Welt war los bei dir?<br />

Wir haben nur vage Angaben bekommen, dass man dich entführt hatte? Ist das wahr? Sag,<br />

geht es dir gut?“<br />

Kelly drückte Shawn fest an sich und sagte leise: „Du schafft das.“<br />

Der Schauspieler atmete noch einmal tief durch bevor er erklärte: „Es geht mir soweit gut.<br />

Ich wurde ... Ja, ich wurde entführt und monatelang gefangen gehalten.“<br />

Geschockt kam die Stimme Jerrys: „Scheiße, Kumpel, was ...? Lösegeld, oder was sollte<br />

das? Man, Shawn, es tut mir so leid.“<br />

Shawn kullerten Tränen über die Wangen. „Nein, Jerry, die wollten kein Lösegeld. Oh<br />

Gott, du hast keine Vorstellung, was es mich gerade kostet, dir das zu erzählen. Ich ... Die<br />

Typen, die mich entführt haben ... Das war eine Gruppe ... Die haben, wie es aussieht, seit<br />

Jahren ... weltweit junge Männer entführt und ... Man fand von denen nur noch die Leichen.“<br />

Shawn musste erneut tief durchatmen. Von Jerry kam ein geschocktes:<br />

„Leichen? Großer Gott, Shawn!“<br />

Der Schauspieler sagte leise: „Ja, Leichen. Wie es aussieht, bin ich wohl der einzige Über-<br />

lebende. Die Polizei bringt bisher vierzehn Tote mit dieser Gruppe in Verbindung.“<br />

„Oh mein Gott! Was sind das denn für kranke Typen?“ Am anderen Ende der Leitung war<br />

ein entsetztes Schnaufen zu hören. Mühsam um Beherrschung ringend erklärte Shawn leise:<br />

„Sexualsadisten ...“<br />

Erneutes entsetztes Schnaufen.<br />

„Shawn ... Man, Alter.“<br />

639


Der junge Mann biss sich auf die Lippe und schloss kurz verzweifelt die Augen. Doch er<br />

raffte seinen Mut zusammen und erklärte: „Sie waren zu fünft. Drei Frauen und zwei Kerle.<br />

Einer von denen ... Jerry, der sah aus wie ein Wrestler. Über 2 Meter groß, Muskeln wie Hulk<br />

Hogan, der hat mich getragen wie wir ein kleines Kind tragen würden. Sie haben mich ... über<br />

fünf Monate lang auf einer kleinen Insel ... einer Privatinsel, mit einem riesigen Bungalow<br />

darauf, gefangen gehalten. Es gab dort nur die fünf Typen und mich. Kein Boot, nichts, womit<br />

man hätte fliehen können. Keinerlei Hilfe. Die Insel war ungefähr 2 Quadratmeilen groß. Sie<br />

haben mich dort ...“<br />

Shawn schluchzte auf. Er konnte einige Sekunden lang nicht weiter reden. Er biss die<br />

Zähne zusammen dass es knirschte und stieß hastig hervor:<br />

„Sie haben mich dort als Sklaven gehalten, Jerry, als Sexsklaven. Ich wurde misshandelt,<br />

gefoltert und immer wieder ... vergewaltigt ...“<br />

Jetzt war es heraus. Kelly, die den jungen Mann die ganze Zeit fest im Arm hielt, atmete<br />

auf. Das Schlimmste war damit geschafft. Jerry schwieg einen Moment. Als seine Stimme<br />

erneut zu hören war klang diese entsetzt und völlig verstört.<br />

„Großer Gott, Shawn. Das ist ... Oh man, du ahnst nicht, wie leid es mir tut. Das ist ... ent-<br />

setzlich. Kann ... Wie kann ich dir helfen?“<br />

Shawn schluchzte hilflos vor sich hin. Kelly mischte sich kurz ein.<br />

„Jerry? Hören Sie, es geht gleich wieder, okay? Shawn muss sich kurz etwas fangen. Es<br />

war extrem schwer für ihn, Sie anzurufen.“<br />

Der junge Mann am anderen Ende der Leitung fragte mit belegter Stimme:<br />

„Sie sind die Therapeutin, darf ich annehmen?“<br />

„Ja, die bin ich.“<br />

Shawn hatte sich etwas beruhigt und sagte leise: „Geht wieder. Helfen kann mir wohl im<br />

Moment nur Kelly. Es wird noch dauern, bis ich nach Hause komme. Es ging mir beschissen,<br />

nachdem sie mich befreit hatten. Ich wollte ... nur noch sterben, verstehst du?“<br />

Jerrys Stimme klang, als kämpfe er mit Tränen. „Oh, Scheiße, Alter ... Wie ... Befreit?<br />

Wie haben sie dich denn gefunden? Haben die wirklich so viele ... umgebracht?“<br />

„Ja, von denen man bisher weiß. Einer der Männer hat der Polizei einen Tipp gegeben. Sie<br />

hatten mich ... gefesselt zum Sterben zurückgelassen und ... Brett ... so hieß der Kerl bezie-<br />

hungsweise hat sich genannt, er ... er war schwul, verstehst du? Er hat sich ... in mich verliebt<br />

... Er hat der Polizei einen Tipp gegeben, wo sie mich finden könnten. Als die endlich da auf-<br />

tauchten, war ich ... Ich war so gut wie tot. Die sind sprichwörtlich im allerletzten Augenblick<br />

gekommen. Ich habe hinterher tagelang im Krankenhaus im künstlichen Koma gelegen. Es ist<br />

fast ein Wunder, dass ich es geschafft habe.“<br />

640


Es verlangte dem Schauspieler alles ab was er an Kraft hatte, dieses Gespräch zu führen,<br />

das merkte Kelly mehr als deutlich. Doch er hielt durch. Von Jerry kam ein fassungsloses:<br />

„Mein Gott! Shawn, was haben die Schweine dir angetan?“<br />

Resigniert ließ der junge Mann den Kopf hängen. „Ich war ihr Sexsklave. Ich bin ... Ich<br />

musste die gesamte Zeit dort nackt herum laufen und ... Sie haben mich misshandelt, später<br />

richtig gefoltert, ausgepeitscht, gewürgt bis zur Bewusstlosigkeit, mit Strom ... bearbeitet,<br />

grausam gefesselt ... Und sie haben mich immer und immer wieder brutal vergewaltigt ...“<br />

Erneut schluchzte Shawn heftig auf. Auf einmal brach es unerwartet und überwältigend aus<br />

ihm heraus:<br />

„Ja, du hast richtig gehört, vergewaltigt. Sie haben mich gefickt, verstehst du? Die Kerle,<br />

die Weiber ... Ich habe mich nicht gewehrt, ich wollte nur überleben. Ich wollte nicht umge-<br />

bracht werden. Ich weiß, dass du mich verachten wirst, aber so war es.“<br />

Einen Moment herrschte Schweigen, doch dann hatte Jerry seine Stimme wieder gefun-<br />

den. Und wie!<br />

„Sag mal, hast du einen Knall, McLean? Wie kommst du denn auf die hirnrissige Idee,<br />

dass ich dich verachte? Bist du nur bescheuert? So, wie du das schilderst, warst du mitten im<br />

Wasser auf einer Insel mit fünf echten Psychopathen gefangen. Alter, ich hätte mich auch<br />

ficken lassen, wenn das mein Leben gerettet hätte. Was redest du denn bloß für einen<br />

Schwachsinn? Denkst du wirklich nur eine Sekunde, ich könnte nicht verstehen, dass du dich<br />

nicht gewehrt hast? Alter, ich hau dir in die Fresse. Ehrlich. Ich hätte ebenfalls alles getan, um<br />

da lebend raus zu kommen. Das hätte jeder getan.“<br />

Shawn saß da und Tränen liefen ihm ununterbrochen über die Wangen. Er brauchte eine<br />

Weile, um wieder ein Wort heraus zu bringen. „Meinst du das ernst?“<br />

„Ja! Ich hätte denen meinen Arsch freiwillig hingehalten. Man, Alter, das wirst du über-<br />

winden, aber wenn du einmal tot bist, dann kann dir niemand mehr helfen. Shawn, ich kann<br />

dich absolut verstehen. Du hast doch keine andere Chance gehabt! Wenn du dich gewehrt<br />

hättest ... So, wie sich das anhört, was du erzählst, hätten sie dich halb tot geschlagen und<br />

dann doch gemacht, was sie wollten. Die waren zu fünft, wie anders hättest du dich denn bitte<br />

verhalten wollen?“<br />

Kelly liefen ebenfalls Tränen über das Gesicht. Sie war sich zwar sicher gewesen, dass ein<br />

echter Freund Shawn nie verachten würde für das, was geschehen war, aber dass es zu einer<br />

so positiven Reaktion kommen würde, hatte sie nicht vorher sehen können. Dieses Gespräch,<br />

vor dem Shawn so schreckliche Angst gehabt hatte, machte gerade Wochen der Therapie<br />

wett. Der junge Schauspieler war völlig von der Rolle, das war deutlich zu merken. Damit<br />

hatte er nicht gerechnet. Leise sagte er:<br />

„Man, Jerry, du ahnst nicht, was du gerade für mich getan hast. Ich war so überzeugt, dass<br />

du ... Tut mir so leid. Kelly ... Sie meint, ich brauche später zuhause jemanden, mit dem ich<br />

641


mal über das Reden kann, was passiert ist. Ich habe mich panisch gesträubt, verstehst du? Ich<br />

dachte, wenn ihr erfahrt, dass ich ... Ich dachte, ihr würdet mich verachten.“<br />

Ohne einen Moment des Zögerns kam Jerrys Antwort. „Junge, wenn du vor mir stehen<br />

würdest, würde ich dir echt eine rein haun. Hast du so wenig Vertrauen zu mir? Menschens-<br />

kind, Shawn, wer würde denn nicht versuchen, sein Leben zu retten? Ich kann und will mir<br />

gar nicht vorstellen, was es für ein Gefühl gewesen sein muss, fern ab von Menschen, die ei-<br />

nem helfen könnten, da von solchen Psychos gefangen gehalten zu werden. Wie hast du das<br />

nur ... Wie hast du das ausgehalten?“<br />

„In dem ich bis zuletzt gehofft habe, dass man mich doch noch findet. Ich wollte Leben,<br />

da schafft man so manches. Gerade gegen Ende habe ich oft überlegt, Schluss zu machen. Ich<br />

konnte nicht mehr. Du machst dir keine Vorstellung, was denen so alles eingefallen ist, um<br />

mich zu quälen ... Ich war ... Oft war ich blutig gepeitscht ... Jerry, sei mir bitte nicht böse,<br />

okay, ich bin total fertig. Ich verspreche, ich melde mich wieder. Aber das hier hat mir gerade<br />

alles abverlangt. Jerry?“<br />

„Ja, Kumpel?“<br />

„Versprich mir, dass du ... Bitte, behalte das für dich, okay? Bitte!“<br />

„Selbstverständlich. Junge, schwöre mir, dass du nicht noch einmal Monate vergehen<br />

lässt, bis du dich wieder meldest.“<br />

Shawn lachte unter Tränen. „Ich schwöre es.“<br />

Jerry ließ ebenfalls ein Lachen hören. „Gut. Es hat so gut getan, deine Stimme zu hören.<br />

Alter, du fehlst mir. Ich vermisse unsere Samstagabende in der Stadt.“<br />

Shawn biss sich auf die Lippe. Er seufzte leise und sagte: „Ich auch, wir holen das nach.<br />

Danke, man.“ „Halt die Ohren steif, hörst du? Schau, dass du bald nach Hause kommst. Bye.“<br />

„Mach ich. Bye!“<br />

Shawn drückte das Gespräch weg und sah Kelly an. Und dann brach er weinend zusam-<br />

men. Kelly hielt ihn in den Armen und ließ ihn schluchzen. Endlich beruhigte der Schauspie-<br />

ler sich und stammelte: „Du hattest Recht. Ich ... Ich habe mich so was von gründlich geirrt.<br />

Danke. Danke, dass du darauf bestanden hast. Gott, ich liebe dich so sehr. Das hat ... Du hast<br />

gar keine Vorstellung, wie mir das geholfen hat!“<br />

Kelly lächelte unter Tränen. „Ich liebe dich genauso, Shawn, mehr als ich sagen kann.<br />

Und, doch, ich weiß es, weil es mir mit meiner besten Freundin ebenso ging. Deswegen wuss-<br />

te ich, dass deine Freunde dich nie verachten würden. Ich war so davon überzeugt wie du, und<br />

ich wurde wie du eines Besseren belehrt. Du hast es heute geschafft, darauf kannst du stolz<br />

sein. Wenn du nach Hause zurückkehrst, weißt du nun, du bist nicht allein.“<br />

*****<br />

642


53) Kapitulation<br />

Welch himmlische Empfindung ist es, seinem Herzen zu folgen.<br />

Johann Wolfgang von Goethe<br />

In dieser Nacht schlief Shawn wie ein Baby. Eine ungeheure Last war von seinen Schul-<br />

tern genommen worden und er schlief das erste Mal seit seiner Befreiung wirklich vollkom-<br />

men entspannt. Als er am Morgen erwachte, war Kelly nicht bei ihm. Beschwingt erhob der<br />

junge Mann sich und ging ins Bad. Er stellte sich unter die Dusche und genoss das warme<br />

Wasser. Er hätte die ganze Welt umarmen können. Als er ins Schlafzimmer zurückging um<br />

sich anzuziehen machte ihm ein Blick auf den Wecker am Bett klar, dass er nicht viel geschla-<br />

fen hatte. Sie waren erst nach 24 Uhr ins Bett gekommen und es hatte eine Weile gedauert, bis<br />

er eingeschlafen war. Und jetzt war es gerade 7 Uhr. Aber Shawn fühlte sich ausgeschlafen<br />

und fit. Der gestrige Tag würde ihm lange im Gedächtnis bleiben, da war er sicher. Erst der<br />

Ausflug auf dem Daintree River, dann der Unfall auf der Hartley Krokodil Farm, immerhin<br />

hatten Kelly und er dort einem Menschen das Leben gerettet. Und am Ende der Anruf bei<br />

Jerry. Shawn lachte leise. Was hatte er für eine Angst gehabt. Kannte er seine Freunde denn<br />

wirklich so schlecht? Jerry hatte Recht gehabt, ihm verbal eine rein zu hauen. Er hatte seinem<br />

besten Freund erzählt, was geschehen war und der hatte ihm sein Verhalten nicht vorgewor-<br />

fen, sondern im Gegenteil, zugegeben, dass er nicht anders gehandelt hätte. Shawn wünschte,<br />

Kelly würde auftauchen, damit er jemanden umarmen konnte.<br />

Und in dem Moment kam besagte Kelly zur Tür herein. „Oh, du bist wach, damit ...“<br />

Weiter kam die junge Frau nicht, denn Shawn umarmte sie stürmisch und küsste sie lei-<br />

denschaftlich. Ihr blieb fast die Luft weg und sie zögerte nicht, den Kuss ebenso leidenschaft-<br />

lich zu erwidern. Als Shawn sie endlich frei gab fragte sie erstaunt:<br />

„Womit habe ich das denn verdient?“<br />

Shawn lachte glücklich. „Na, was denkst du wohl? Ich bin seit der Entführung nicht mehr<br />

so glücklich gewesen. Dafür, dass du mich gezwungen hast, bei Jerry anzurufen, müsste ich<br />

dich den Rest des Tages so küssen.“<br />

Kelly spürte, dass ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie hätte keinerlei Einwände gehabt.<br />

Stattdessen erklärte sie: „Aber du hast die Wette verloren. Ich habe einen Wunsch frei bei<br />

dir.“<br />

„Ach, Süße, du hast doch ohnehin jeden Wunsch bei mir frei. Es gibt nichts, was ich nicht<br />

ohnehin für dich machen würde. Und es gibt garantiert nichts, was mir heute die Laune ver-<br />

derben könnte. Nicht einmal Carrie könnte das, wenn sie hier zur Tür herein kommen würde.“<br />

Kelly lächelte vergnügt. „Dann kann ich das noch toppen. Ich habe uns Tickets für die<br />

Fähre nach Green Island besorgt. Wir müssen um 8 Uhr am Pier sein.“<br />

643


Erstaunt fragte Shawn: „Was ist Green Island? Und sag jetzt nicht, eine Insel, dann beiße<br />

ich dich.“<br />

„Pack den kleinen Rucksack, Badesachen, Handtücher, wichtig, ein T-Shirt und Sonnen-<br />

creme und dann gehen wir an den Hafen hinunter. Wir holen uns ein Sandwich und ich erklä-<br />

re dir, was Green Island ist, okay?“<br />

Shawn eilte los und war Minuten später fertig. „Hab alles. Wir können.“<br />

Kelly hatte sich ihren Rucksack gegriffen und Bikini, Handtücher und Sonnencreme ein-<br />

gepackt. Sie fragte: „Hast du deinen Fotoapparat?“<br />

„Klar, der springt mir doch von selbst in die Hand, wenn ich einen Raum verlasse.“<br />

Gut gelaunt gingen sie zum Fahrstuhl und standen Minuten später im Foyer. Schnell hol-<br />

ten sie sich aus dem Frühstücksraum Sandwiches und machten sich anschließend auf den Weg<br />

zum Pier. Sie setzten sich auf eine freie Bank in die Morgensonne und während sie aßen er-<br />

klärte Kelly, was es mit Green Island auf sich hatte.<br />

„Dass Green Island eine Insel ist, hast du ja erraten. Sie liegt zirka 15 Seemeilen vor der<br />

Küste, die Fahrt dauert kaum fünfundvierzig Minuten. Die Insel ist ein wahrer Edelstein, das<br />

kann ich dir versprechen. Neben einem kleinen Resort gibt es ein Unterwasser Observatorium<br />

am Anfang des Landungsstegs. Man kann von Green Island aus Ausflüge in einem Glasbo-<br />

denboot über das Riff machen, oder mit einem sogenanntes Halb-U-Boot, und man kann sich<br />

Schnorchelausrüstung leihen und über dem Riff schnorcheln. Außerdem wurde ein wunder-<br />

schöner Wanderweg über die Insel angelegt, mit Holzplanken bestückt, damit Rollstuhlfahrer<br />

ihn ebenfalls benutzen können. Der Strand ist legendär und, Baby, du darfst dort Baden. Kei-<br />

ne Jelly Box Fishes. Die Insel ist nur winzig, knappe 300 Meter breit und ungefähr 650 Meter<br />

lang, man kann sich also nicht verlaufen.“<br />

Shawn hatte gespannt zugehört. Freudig meinte er: „Das hört sich super an. Großartige<br />

Idee für unseren letzten Tag in Cairns.“ Er sah auf die Uhr. „Wir sollten los gehen, damit wir<br />

an Bord einen guten Platz bekommen.“<br />

Schnell schob er sich den letzten Happen Brot in den Mund und Kelly folgte seinem Bei-<br />

spiel. Jetzt konnten sie sich auf den Weg zur Anlegestelle der Fähre machen. Der große Ka-<br />

tamaran, der sie hinüber bringen würde, lag zur Beladung.<br />

„Das dort ist es. Die Reef Prince.“<br />

Sie gingen an Bord und bekamen einen schönen Platz an Deck, in der Sonne. Schnell tra-<br />

fen die restlichen Fahrgäste ein und um Punkt 8 Uhr legte der Katamaran ab. Kaum hatte es<br />

den Hafen verlassen, nahm das schnelle Schiff Fahrt auf und pflügte mit mehr als zwanzig<br />

Knoten aufs offene Meer hinaus.<br />

„Die Insel liegt im Riff, oder habe ich das falsch verstanden?“, wollte Shawn wissen.<br />

644


„Ja und nein. Es sind die inneren Ausläufer des Riffs. Du wirst Korallenbänke zu sehen<br />

bekommen, aber im zum Outer Reef ist das kein Vergleich. Trotzdem ist es schön und macht<br />

viel Spaß, dort zu Schnorcheln.“<br />

„Wie sieht es denn mit Haien aus?“ Nervös klang die Frage und Kelly musste Lachen.<br />

„Die warten alle mit Messer und Gabel in der Hand auf dich.“, lästerte sie.<br />

„Kann nicht sein, die haben keine Hände.“<br />

„Touché.“ Kelly liefen Lachtränen über die Wangen. „Schatz, mach dir keine Sorgen, ich<br />

lasse doch nicht zu, dass mein zukünftiger Ehemann von Haifischchen angeknabbert wird. Du<br />

hast gesehen, wie ich für einen Fremden mit einem Zahnstocher auf ein Saltie los bin. Was<br />

denkst du wohl was ich veranstalte, wenn dir ein Hai zu nahe kommen würde? Der wäre<br />

schneller zu Sushi verarbeitet als er zuschnappen könnte.“<br />

Die Fahrt verging mit herum albern und Unterhaltungen schnell und bald tauchte in eini-<br />

ger Entfernung eine kleine Insel auf, die zügig größer wurde. Ein recht langer Landungssteg<br />

war ins Wasser hinein gebaut worden, an dem bereits einige Boote fest gemacht hatten. Die<br />

Reef Prince steuerte vorsichtig ihre Anlegestelle an und kurze Zeit später konnten die Passa-<br />

giere von Bord gehen. Shawn und Kelly hatten sich, wie viele andere Gäste, Schnorchel,<br />

Maske und Flossen geliehen. Sie schlenderten den Steg entlang und Shawn war begeistert.<br />

Weißer, feiner Sand, türkisfarbenes Wasser, Palmen, die sich im Wind wiegten, Paradies pur.<br />

Sie suchten sich eine Stelle, wo nicht so viele Besucher ihre Handtücher ausgebreitet hatten<br />

und machten es sich hier gemütlich. Sich gegenseitig helfend stiegen sie im Schutz der großen<br />

Badelaken in ihre Badesachen. Shawn hielt das Handtuch für Kelly und als die junge Frau<br />

darin in den Bikini schlüpfte, kam Shawn erneut der Gedanke, wie es sein musste, Kelly zu<br />

streicheln ... Energisch schob er den Gedanken fort. Als sie fertig waren fragte er:<br />

„Erst mal Baden, oder wie siehst du das?“<br />

„Klar, warum nicht. Ich kann dich ohnehin nicht mehr halten, du sabberst.“<br />

Abgesehen von Shawns Kamera hatten sie keine Wertsachen bei sich. So hatten sie keine<br />

Probleme, ihre Sachen am Strand zurückzulassen. Vergnügt rannten sie in das herrlich klare,<br />

angenehm kühle Wasser und stürzten sich kopfüber hinein. Durch das Riff war es hier nir-<br />

gends sehr tief, aber das tat dem Spaß keinen Abbruch. Sie planschten eine Weile im Wasser<br />

herum, beobachteten ein paar Fische und hatten viel Spaß. Zufrieden kehrten sie zu ihren<br />

Handtüchern zurück und ließen sich auf diese fallen.<br />

Shawn sah sich um. „Wann wollen wir denn eine Tour mit dem U-Boot machen? Und in<br />

das Observatorium?“<br />

Kelly musste über seinen Eifer lächeln. „Babe, wir werden nicht in fünf Minuten wieder<br />

eingesammelt. Wir haben bis 17 Uhr Zeit, es ist gerade mal halb 10 Uhr durch.“<br />

645


Shawn wurde tatsächlich rot. „Ja, du hast Recht. Okay, kurze Pause.“ Er versuchte, still zu<br />

sitzen, aber ihm juckte es in den Fingern, das war mehr als deutlich zu sehen. Kelly beobach-<br />

tete ihn verliebt und gab lachend nach.<br />

„Okay, du Nervensäge, auf geht’s.“ Sie erhob sich und zog Shawn auf die Füße. „Was als<br />

erstes?“<br />

„U-Boot.“ Shawn griff sich seine Kamera und sie marschierten zurück zum Anlegesteg.<br />

Das gelbe Boot kam gerade zurück und es warteten nicht viele Gäste, um darauf mit zu fah-<br />

ren. Kelly hatte an Bord der Reef Prince sowohl für das U-Boot als für das Glasbodenboot<br />

bezahlt und gab nur Tickets ab. Gespannt stiegen sie hinunter in den Unterwasserraum. Man<br />

saß in einer lang gezogenen Glasglocke und hatte eine wunderbare Sicht durch das dicke Glas<br />

nach draußen. Die Fahrt dauerte eine gute dreiviertel Stunde und sie umrundeten einmal die<br />

Insel. Diverse Fische kreuzten ihren Weg und sie bekamen einen ersten Eindruck von den<br />

Korallenbänken. Shawn war begeistert.<br />

„Das ist großartig.“, schwärmte er und deutete auf einen riesigen Zackenbarsch, der ge-<br />

mächlich vorbei schwamm. „Sieh dir den Brocken an. Der ist mindestens 1,5 Meter lang.“<br />

„Ja, die werden sehr groß.“<br />

Nach fünfundvierzig Minuten erreichten sie wieder den Anlegesteg und turnten steif aus<br />

dem U-Boot heraus.<br />

„Das hat viel Spaß gemacht.“ Shawn strahlte. „Und jetzt ...“<br />

Kelly unterbrach ihn energisch. „Und jetzt, mein Schatz, möchte ich etwas Kaltes trinken<br />

und eine Weile gemütlich im Resort Restaurant sitzen.“<br />

Shawn verzog das Gesicht und grummelte irgendetwas von: „Spaßbremse ...“, vor sich<br />

hin. Kelly kicherte.<br />

„Ich helfe dir gleich, von wegen Spaßbremse. Schuft.“<br />

Lachend flüchtete Shawn und wurde von Kelly verfolgt. Er konnte sich gerade noch zu ih-<br />

ren Handtüchern zurückretten, dann hatte Kelly ihn eingeholt. Ein kurzer Ringkampf und die<br />

Psychologin hatte ihn besiegt.<br />

„Nimmst du das zurück?“, fragte sie gefährlich leise. Shawn, der still unter ihr lag, schüt-<br />

telte den Kopf. „Nein.“<br />

Kelly saß rittlings über seinem Bauch und presste seine Hände rechts und links in den<br />

Sand. Sie freute sich, dass er keinerlei Unbehagen zeigte. Im Gegenteil lag er entspannt still<br />

und strahlte zu ihr hinauf.<br />

zeugt.<br />

„Und wenn du bis Weihnachten da hockst, das nehme ich nicht zurück.“, erklärte er über-<br />

Kelly überlegte kurz, strahlte über das ganze Gesicht und erklärte: „Okay, du willst es so<br />

haben.“ Sie ließ den jungen Mann überraschend los und setzte sich manierlich neben ihn auf<br />

ihr eigenes Handtuch. Verblüfft starrte der Schauspieler sie an.<br />

646


„Wie jetzt?“, fragte er.<br />

„Das wirst du zum passenden Zeitpunkt sehen, Freundchen.“, erklärte die junge Frau<br />

harmlos grinsend.<br />

Shawn kniff die Augen zusammen. „Ohoh ... Jetzt werde ich nervös.“<br />

„Ha. Dazu hast du allen Grund.“ Kelly lächelte wie ein Engel. Sie erhob sich und erklärte:<br />

„Ich habe immer noch Durst. Lass uns mal zum Resort gehen, bitte.“<br />

Shawn erhob sich ebenfalls und tat so, als hätte er Angst, sich Kelly zu nähern. Diese frag-<br />

te erstaunt:<br />

„Was ist?“<br />

Shawn grinste. „Lieber einen gewissen Sicherheitsabstand wahren.“<br />

„Besser ist es.“<br />

Lachend gingen sie in den Regenwald hinein und das kleine Stück Fußweg bis zum Insel<br />

Resort. Hier war es voll, doch Shawn erkämpfte ihnen zwei Stühle an einem bereits besetzten<br />

Tisch. Schnell hatten sie kalte Getränke vor sich stehen und ließen sich diese schmecken.<br />

Doch als sie die Gläser leer hatten, machten sie sich auf den Rückweg zum Strand hinunter.<br />

Sie nutzten den Holzpfad, der gebaut worden war, um den Regenwald für körperlich beein-<br />

trächtigte Menschen begehbar zu machen. Gemütlich schlenderten sie einmal der Länge nach<br />

über die kleine Insel und kehrten am Strand entlang zu ihren Handtüchern zurück.<br />

„Es ist zauberhaft hier. So muss es im Paradies ausgesehen haben.“, meinte der Schauspie-<br />

ler, als sie sich nebeneinander auf den Handtüchern ausgestreckt hatten.<br />

„Könnte man denken. Es gibt viele kleine Inseln entlang der Küste, die ähnlich schön sind.<br />

Fitzroy Island, Dunk Island, Magnetic Island, ich könnte lange so weiter machen. Allein da-<br />

mit, all diese Schmuckstücke zu besuchen, könnte man sich monatelang aufhalten.“<br />

„Warst du schon auf Fraser Island?“, fragte Shawn interessiert.<br />

„Ja, mehrmals. Ich muss immer wieder einmal dorthin zurück. Du würdest die Insel lie-<br />

ben.“, erwiderte Kelly euphorisch. „Der Strand! Ein Gedicht!“<br />

Sie unterhielten sich noch eine Weile über Inseln, die Kelly besucht hatte. Doch schließ-<br />

lich wurde Shawn zappelig.<br />

„Also, ich gehe Schnorcheln, kommst du mit?“, fragte er und erhob sich. Er stecke seine<br />

Kamera in einen wasserdichten Beutel und verschloss diesen sorgfältig. Kelly nickte.<br />

„Klar, lass uns. Zieh dir dein T-Shirt über, okay.“<br />

Erstaunt sah Shawn auf. „Was? Wozu? Wir wollen ins Wasser.“<br />

„Ja, Babe. Und wenn du eine Stunde geschnorchelt hast, bist du auf dem Rücken schön<br />

kross und ich kann dich anschneiden. Du wirst eine leckere, knusprige Kruste haben.“<br />

Shawn verdrehte die Augen. „Daran habe ich nicht gedacht. Du hast Recht, eine bessere<br />

Art, sich den Sonnenbrand seines Lebens zu holen gibt es wohl kaum, was?“<br />

647


Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, kaum.“, meinte sie lakonisch. Sie schlüpfte in ihr eige-<br />

nes T-Shirt und steckte es sorgfältig in ihre Bikinihose. Shawn verfuhr genauso mit seinem.<br />

Sie cremten sich gründlich Arme und Beine sowie den Nacken ein. Kelly achtete darauf, dass<br />

besonders der Bereich wo die Badehosen aufhörten, dick eingecremt war. Erst jetzt war sie<br />

zufrieden.<br />

nen.“<br />

„So, mehr können wir nicht machen. Das sollte eine Weile verhindern, dass wir verbren-<br />

Sie bückten sich nach ihren Flossen, Schnorchel und Masken und suchten sich ein Strand-<br />

stück, wo die Korallenbänke gut zu sehen waren. Schnell stiegen sie ins Wasser, streiften die<br />

Flossen über die Füße und schwammen ein Stück vom Strand fort. Über den Korallen war<br />

maximal ein Meter Wasser. So konnte man herrlich alles sehen. Einmal wurde es etwas tiefer<br />

und ein kalter Wasserstrom kam von unten herauf. Shawn tauchte ab, um zu sehen, wie tief es<br />

hier hinunter ging. Kelly folgte ihm neugierig. Es handelte sich um eine kleine Riffkante, an<br />

der es gute 6 Meter hinab ging. Zahllose kleine Fische schwammen um sie herum und zeigten<br />

keinerlei Scheu.<br />

Sie mussten auftauchen, da ihnen die Luft knapp wurde. Kurz nahmen sie die Schnorchel<br />

aus dem Mund, um sich unterhalten zu können.<br />

„Das war großartig. Draußen am Riff möchte ich gerne richtig Tauchen, geht das?“, fragte<br />

der Schauspieler.<br />

„Selbstverständlich. Hast du einen Tauchschein?“<br />

„Ja, PADI Divemaster, aber nicht bei mir, wie sich denken lässt. Ich hab sogar meine ID<br />

im Kopf.“, erklärte der Schauspieler grinsend.<br />

„Das macht nichts, dann bist du aber registriert. Zur Not können die das Kontrollieren.<br />

Dann steht einem Tauchausflug nichts im Wege. Außer ...“ Sie verstummte geheimnisvoll.<br />

„Was denn?“, fragte Shawn neugierig.<br />

„Naja, an den Riffkanten trifft man auf kleinere Haie.“<br />

„Hat dir mal jemand gesagt, dass du sehr perfide werden kannst?“<br />

Kelly schluckte vor Lachen Wasser. „Ich?“, fragte sie erstaunt.<br />

„Ja, du. Du willst mir den Tag versauen, was? Schaffst du aber nicht.“ Shawn streckte der<br />

Therapeutin die Zunge aus und erklärte: „So, und jetzt tauche ich noch mal. Komm mir bloß<br />

nicht nach.“ Er atmete tief ein und tauchte erneut unter. Kelly folgte ihm und schwamm an<br />

seiner Seite so tief hinab wie es ging. Sie hielten so lange wie irgend möglich die Luft an und<br />

kamen keuchend und prustend wieder an die Oberfläche. Erneut nahmen sie die Schnorchel<br />

aus dem Mund.<br />

„Keine Haie.“, meinte Kelly bedauernd.<br />

Nun hatte Shawn die Nase voll. Er packte die junge Frau und zog sie mit sich unter Was-<br />

ser. Kelly versuchte, sich aus seinen Händen zu winden, doch er hielt sie eisern fest. Grinsend<br />

648


griff sie zu einem Trick. Blitzschnell beugte sie sich vor und gab dem jungen Mann einen<br />

Kuss.<br />

Verblüfft ließ er sie tatsächlich los und Kelly strampelte sich zurück an die Wasserober-<br />

fläche. Fast wäre sie vor Lachen sofort wieder unter gegangen. Shawn tauchte keuchend und<br />

Wasser spuckend ebenfalls auf und schimpfte:<br />

„Das war ja wohl ein ganz gemeiner Trick.“<br />

Lachend und Wasser tretend legte Kelly die Arme um Shawns Hals und vergaß endgültig<br />

all ihre guten Vorsätze. „Entschuldige, ich konnte nicht anders.“, sagte sie sanft und schon<br />

trafen sich ihre Lippen erneut. Tief in Kellys Gehirn schrie ihre Vernunft noch ein letztes Mal<br />

laut auf: - Du hast einen Knall, Puppe! - doch die Psychologin wusste, sie war geschlagen. Sie<br />

hatte in ihrem ganzen Leben noch nie einen anderen Menschen so geliebt und sie konnte und<br />

wollte nicht mehr neben ihm sein und doch so weit entfernt. Sie liebten sich, das war nicht<br />

mehr zu ändern. Shawn hatte keinerlei Einwände gegen den erneuten Lippenkontakt. Er hatte<br />

das Gefühl, jeden Moment zu platzen vor Glück. Nie hätte er gedacht, dass er noch einmal so<br />

glücklich sein könnte. Es kam ihm vor, als wäre er neu geboren worden. Die Welt schien ein<br />

schöner Ort zu sein. Sein bester Freund wusste, was ihm passiert war und verachtete ihn nicht.<br />

Gestern hatte Shawn sich selbst bewiesen, dass er kein Feigling war, wie er seit der Entfüh-<br />

rung gedacht hatte. Heute hielt er die Frau, die er mehr liebte als sein eigenes Leben, fest in<br />

den Armen und spürte nicht nur ihre zarten Lippen auf seinen, sondern ihren Körper an sich<br />

gedrückt. Er merkte gar nicht, dass ihm Freudentränen über die Wangen kullerten.<br />

Als sie sich atemlos von einander lösten und Kelly ihn mit einem glücklichen Lächeln auf<br />

den Lippen anschaute, war es mit Shawns Beherrschung endgültig vorbei. Er zog die junge<br />

Frau an sich und schluchzte überwältigt auf.<br />

„Ich liebe dich ... Ich bin so ... glücklich ...“<br />

Kelly spürte ihn zittern, wohl das erste Mal aus einem positiven Grund. Sie selbst war zer-<br />

rissen in ihren Empfindungen. Einerseits hatte sie ebenfalls das Gefühl, jeden Moment platzen<br />

zu müssen vor Glück. So lange in engstem Kontakt zu dem Menschen zu stehen, den man so<br />

sehr liebte, und doch einen Abstand zu fühlen als lägen Galaxien dazwischen, hatte ihre uner-<br />

schütterliche Kraft überfordert. Als dieser so außerordentlich schwer traumatisierte junge<br />

Mann gestern ohne nur eine einzige Sekunde zu zögern zu ihr in das Gehege mit extrem ge-<br />

fährlichen Raubtieren gesprungen war, war der Psychologin klar geworden, dass sie nicht<br />

mehr imstande war, den Abstand zwischen Shawn und ihr aufrecht zu erhalten. Tief in ihrem<br />

Inneren wusste Kelly, dass sie einen schweren ethischen Vaux pas beging. Das war ihr jedoch<br />

egal. Sie liebten sich und sie hatten wie alle anderen Menschen das Recht, zusammen zu sein,<br />

miteinander glücklich zu sein. Niemand würde es erfahren, denn dass Shawn in die Staaten<br />

zurückkehren würde, stand trotzdem unumstößlich fest. Das hier und jetzt war nach wie vor<br />

nicht der Alltag, die Normalität. Und für sein gesundes Selbstwertgefühl musste Shawn diese<br />

649


Normalität, diesen Alltag in den Staaten zurückerobern. Würde Kelly bei ihm bleiben, wäre er<br />

weiterhin in ihrer Abhängigkeit. Im Moment würde er nicht einmal zugeben und einsehen,<br />

dass er in ihrer Abhängigkeit war. Er konnte es nur merken und realisieren, wenn er weit fort<br />

von Kellys Hilfe war.<br />

Die Therapeutin schüttelte diese Gedanken erst einmal ab. Jetzt und hier wollte sie nur<br />

endlich das unglaubliche Glück genießen das sie im Augenblick empfand. Noch hielt sie den<br />

jungen Mann im Arm. Obwohl ihr selbst Tränen des Glücks über die Wangen kullerten sagte<br />

sie sanft: „Baby, beruhige dich. Wir machen einen Riesenfehler, aber das ist mir egal. Mir<br />

werden langsam die Beine lahm. Entweder, wir schnorcheln noch, oder wir schwimmen an<br />

Land. Und höre endlich auf zu heulen.“ Lachend und weinend gleichzeitig stieß sie diese<br />

Worte hervor. Shawn grinste unter Tränen.<br />

„Beides?“<br />

„Beides geht nicht. Du wirst dich entscheiden müssen.“ lachte Kelly.<br />

„Okay, dann bitte noch einen Moment schnorcheln.“<br />

Ein letzter Kuss, dann lösten sie sich von einander, streiften sich die Tauchermasken über<br />

und schwammen Hand in Hand nebeneinander über das Riff. Sich gegenseitig auf schöne<br />

Stellen aufmerksam machend, schnorchelten sie noch eine Weile, bevor Kelly kalt wurde und<br />

sie Shawn Bescheid gab, dass sie an den Strand zurückkehren wollte.<br />

„Ich friere mir den Allerwertesten ab, kommst du mit?“<br />

Der junge Schauspieler nickte. „Ja, mir wird auch kalt, lass uns Schluss machen. Wir kön-<br />

nen später noch einmal ins Wasser gehen.“<br />

Minuten später lagen sie auf ihren Handtüchern. Einander zugewandt lagen sie da und<br />

keiner wusste, was er sagen sollte. Kelly brach die etwas verlegene Stille schließlich.<br />

„Gott weiß, ich wollte nicht, dass es so weit kommt, Shawn, aber es ist geschehen und wir<br />

müssen es handeln. Ich liebe dich viel zu sehr, als dass ich noch in der Lage bin, den Abstand<br />

zu wahren. Aber, bitte, dir muss klar sein, dass die veränderte Situation nichts an der Tatsache<br />

ändert, dass ich dich fortschicken werde.“<br />

Shawn seufzte leise. „Ich weiß, das ist mir absolut klar. Aber ich möchte im Moment nur<br />

den Augenblick genießen. Seit gestern ist ... Plötzlich ist alles wundervoll, verstehst du? Ich<br />

habe meinem besten Freund gesagt, was mir geschehen ist. Ich halte die Frau in den Armen,<br />

die ich mehr liebe als ich je werde ausdrücken können. Ich habe gestern gemerkt, dass ich<br />

kein Feigling bin. Ich möchte dieses Gefühl nur festhalten und genießen. Ich glaube, das ha-<br />

ben wir uns beide verdient. Mir ist klar, dass niemand je erfahren darf, dass das passiert ist,<br />

bevor wir uns getrennt haben. Ich werde nicht riskieren, dass du deine Approbation verlierst.<br />

Ich werde nach Hause fliegen und dir beweisen, dass ich mir ein Leben aufbauen kann. An-<br />

650


schließend wird nichts und niemand mehr verhindern können, dass ich dich zu mir hole und<br />

du meine Frau wirst.“<br />

Kelly kullerten Tränen über die Wangen. „Und nichts und niemand wird mich davon ab-<br />

halten können, deine Frau zu werden! Das schwöre ich dir!“<br />

*****<br />

Brett grinste zufrieden. Carrie hatte ihm erlaubt, ihren Sklaven erneut mit an den Strand<br />

zu nehmen für den Tag. Der Homosexuelle hatte am Tag zuvor bemerkt, dass der Sklave am<br />

Rande des totalen Zusammenbruchs stand. Morgens hatten sie ihn einer Wachsbehandlung<br />

unterzogen. Sie hatten darauf geachtet, dass sie diesmal keine Brandwunden hinterließen,<br />

trotzdem war die Folter schmerzhaft genug gewesen. Nachmittags war er von Alan in den viel<br />

zu kleinen Käfig gesteckt worden und Karen hatte ihn mit dem Viehtreiber bearbeitet, bis der<br />

Sklave in dem hoffnungslosen Bemühen, den schmerzhaften Stromschlägen auszuweichen so<br />

heftig mit dem Kopf gegen einen der Gitterstäbe geprallt war, dass er die Besinnung verloren<br />

hatte. Daraufhin hatte Carrie befohlen, ihn in den Folterraum zu schaffen. Noch während er<br />

besinnungslos war, hatten sie ihn in eine schmerzhafte Haltung verschnürt. Alan schaffte ihn<br />

dafür auf die Streckbank. Hier wurde er aus kniender Position langsam in Rückenlage ge-<br />

bracht. Hand- und Fußgelenke wurden in dieser Haltung stramm miteinander verschnürt. Die<br />

Strickenden wurden rechts und links an Halterungen an der Streckbank fixiert. Er konnte sich<br />

so keinen Millimeter mehr rühren. Zuletzt legten sie ihm noch einen Ledergurt über die Stirn<br />

und sicherten diesen an der Bank. Auf diese Weise war der Sklave nicht mehr in der Lage<br />

gewesen, den Oberkörper zu bewegen.<br />

Kurze Zeit später war er zu sich gekommen. Er hatte einige Augenblicke gebraucht, um zu<br />

realisieren, dass er nicht mehr im Käfig steckte und in welch schmerzhafter Fesselung er sich<br />

befand. Carrie hatte ihm Zeit gegeben, zu sich zu kommen. Dann aber hatte sie angefangen,<br />

Shawn zusammen mit Brett und Karen sexuell zu stimulieren. Sie hatte alle Register gezogen,<br />

doch vergeblich. Viel zu angeschlagen und kaputt war der Sklave gewesen, als dass er noch<br />

etwas anderes als Schmerzen und Verzweiflung empfunden hätte. Wütend hatte Carrie ihre<br />

Bemühungen eingestellt und stattdessen nach einem Lederpaddel gegriffen. Damit hatte sie so<br />

lange auf den Sklaven eingeschlagen, auf die straff gespannte Haut an Bauch und Oberschen-<br />

keln, direkt zwischen die Beine und auf die Brust, bis dieser nicht einmal mehr die Kraft ge-<br />

habt hatte, zu schreien vor Schmerzen. Sie hatten ihn aus seiner prekären Lage befreit, ihm<br />

eine halbe Stunde Pause gegönnt und dann war er auf die Terrasse geschafft worden. Hier<br />

hatten sie zum krönenden Abschluss auf Teresas Bitte hin Waterboarding an Shawn ausgeübt.<br />

Der Sklave hatte angefangen zu wimmern, als er nur die Liege sah, die sie dazu verwendeten.<br />

Er hatte verzweifelt versucht, sich zu wehren, auf diese gefesselt zu werden, doch gegen Alans<br />

rohe Kraft und gegen fünf Gegner war dieser Versuch lächerlich gewesen.<br />

651


Schnell hatte er wehrlos vor ihnen gelegen und vor Angst hysterisch geschluchzt. Genüss-<br />

lich hatte Terry ihm das Tuch über das Gesicht gelegt und den Wasserschlauch geholt. Um<br />

die Qualen des Sklaven noch zu verlängern, hatte sie sich Zeit gelassen und ihn erst einmal so<br />

mit dem Wasser abgespritzt. Sie hatte an den Füßen begonnen und sich langsam an seinem<br />

herrlichen Körper hoch gearbeitet. Ständig panischer war der Gefesselte geworden. Brett<br />

fasste sich bei dem Gedanken daran unwillkürlich an den Schwanz. Der Schwule hatte Wa-<br />

terboarding vor einiger Zeit an sich ausprobieren lassen. Er war eindeutig masochistisch<br />

veranlagt, aber die Qualen, die das simulierte Ertrinken verursachte, waren für ihn innerhalb<br />

kürzester Zeit absolut unerträglich gewesen. Brett konnte diesen Berichten nur zustimmen. Er<br />

war innerhalb kürzester Zeit nur noch ein keuchendes Bündel Angst gewesen. Ihn hatte das<br />

Codewort sofort vor weiteren Qualen gerettet. Shawn hatte keine Chance, sich vorzeitig zu<br />

Retten. Er war auf Gedeih und Verderb der Gnade Terrys ausgesetzt. Und diese war nicht in<br />

Stimmung gewesen, Gnade walten zu lassen. Gute zwanzig Minuten hatte sie Shawn bearbei-<br />

tet, bis Carrie der Sache endlich ein Ende gemacht hatte.<br />

Nach diesem grässlichen Tag wollte Brett ihrem Sklaven Ruhe und Erholung gönnen.<br />

Nachdem er die Erlaubnis erhalten hatte ihn mitzunehmen, eilte er ins Zimmer des Sklaven.<br />

Dieser hatte Frühstück erhalten und lag, als Brett ins Zimmer stürzte, zusammengerollt und<br />

zitternd auf seinem Bett und harrte der Dinge, die heute auf ihn zukommen würden. Erschro-<br />

cken zuckte er hoch, als die Tür so heftig aufgerissen wurde und beeilte sich, sich in der ge-<br />

forderten Haltung neben das Bett zu stellen.<br />

„Lass das jetzt. Komm mit, es geht heute an den Strand. Ich habe einen Picknickkorb ge-<br />

packt.“<br />

Shawn glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Keine Foltern heute? Vor Erleichterung<br />

schossen ihm Tränen in die Augen und er beeilte sich, Brett zu folgen.<br />

„Greif dir den Korb und mir nach.“, forderte Brett zufrieden.<br />

Schon kurze Zeit später lagen die beiden Männer auf einer großen Decke auf der Ostseite<br />

der Insel, weit weg vom Haus, in der warmen Sonne. Brett hatte Shawn die Hände am Hals-<br />

band befestigt und genoss es, den nackten Körper neben sich in aller Ruhe zu betrachten.<br />

„War hammerhart gestern, was?“, fragte er ruhig.<br />

Shawn bemühte sich, Brett nicht anzuschauen und nickte. „Ja ... Ich ... Ja, es war<br />

schlimm.“<br />

Brett stützte sich auf seinen linken Arm und ließ die Rechte sanft streichelnd über Shawns<br />

Haut gleiten. Er ließ die Finger spielerisch über Shawns Brustwarzen gleiten und stimulierte<br />

diese zärtlich. Tiefer glitt die Hand, über Shawns flachen Bauch bis zu den kleinen Brandnar-<br />

ben.<br />

652


Shawn lag still. Er hatte es fast perfektioniert, die Tatsache zu verdrängen, dass es Män-<br />

nerhände waren, die ihn liebkosten. Er wollte nicht daran denken. Es waren Hände, die ihm<br />

zur Abwechslung einmal nicht weh taten, nur das zählte. Und wenn diese liebevollen Hände<br />

seinem Körper sexuelle Reaktionen entlockten, war es eben so. Als die Hand seinen Penis<br />

erreichte und diesen sanft umfasste und massierte, schloss Shawn die Augen. Er versuchte,<br />

sich auf die sinnlichen Berührungen zu konzentrieren und flehte gedanklich alle Götter an,<br />

dafür zu sorgen, dass Brett Erfolg hatte. Diesem wurde es schnell langweilig, Shawn aus-<br />

schließlich mit der Hand zu verwöhnen. Er beugte sich über den Gefesselten und begann, ihn<br />

mit Zunge und Lippen zu stimulieren. Als er noch einen Finger in Shawn schob spürte dieser,<br />

dass ihn tatsächlich Erregung packte. Seine gefesselten Hände zuckten und sein Unterleib hob<br />

sich den Lippen entgegen. Fester wurden Brettes Berührungen und nach einigen unglaublich<br />

erregenden Minuten spürte Shawn, dass er jeden Moment kommen würde.<br />

„Darf ich bitte kommen?“, keuchte er und Brett nickte.<br />

„Ja ... Komm ... Komm!“<br />

*****<br />

„Möchtest du eine Flasche Bier?“ Brett war zufrieden gewesen, dass er es geschafft hatte,<br />

Shawn zum Orgasmus zu bringen. Gut gelaunt hatte er dessen Hände los gemacht und sie<br />

waren kurz zusammen ins Wasser gestiegen. Shawn hatte sich das Sperma vom Bauch gespült<br />

und er hatte sich, einer Eingebung folgend, bei Brett bedankt.<br />

„Das war ein schöner Orgasmus, danke. Du warst super ...“<br />

Ihm blieben die Worte fast im Halse stecken, aber Brett strahlte. Als sie nebeneinander auf<br />

der Decke lagen, jeder eine Flasche gut gekühltes Bier in der Hand, meinte Brett, den Faden<br />

wieder aufnehmend:<br />

„Weißt du, es macht Spaß, dich zu verwöhnen. Du hast einen so affengeilen Körper, alle<br />

Schwulen würden dir zu Füßen liegen. Und alle Sados und Doms würden einiges geben, dich<br />

zu dominieren. Ich selbst bin ein Switcher und ...“<br />

Sub.“<br />

Shawn starrte Brett verblüfft an. „Ein was?“<br />

Der Schwule lachte. „Ich bin ein echter Switcher. Ich bin beides, verstehst du, Dom und<br />

Shawn verstand nicht.<br />

„Pass auf, ein Dom oder Top, Carrie, Teresa, Karen sind echte Doms, dominiert ihre<br />

Sklaven, die Subs oder Bottoms, diejenigen, die sich gerne unterwerfen.“<br />

Shawn sah Brett kurz an, senkte den Blick und meinte: „Darf ich dich etwas fragen?“<br />

Brett nickte gönnerhaft. „Klar, raus damit.“<br />

„Diese Subs, richtig, haben die Spaß an ... an den Schmerzen?“<br />

653


Brett nahm einen Schluck Bier und schüttelte den Kopf. „Nein, nicht zwangsläufig. Echte<br />

Masochisten gibt es unter den Bottoms auch nicht gerade wie Sand am Meer. Es gibt nur we-<br />

nige, die auf Schmerzen stehen. Mit denen macht es nicht viel Spaß, es ist viel erregender,<br />

wenn der Bottom wirklich leidet. Ich bin so ein Mittelding. Manche Schmerzreize finde ich<br />

außerordentlich geil. Andere Sachen fürchte ich genau wie du. Ich kriege einen Ständer wenn<br />

man mich floggt. Beim Bambusstock oder der Glasfaserpeitsche heule ich ebenfalls wie ein<br />

kleines Kind. Ich unterwerfe mich einem guten Dom so gerne wie ich einen guten Sklaven<br />

dominiere.“<br />

Shawn war fassungslos. „Ich kapiere nicht, wie jemand sich freiwillig ...“ Erschrocken<br />

unterbrach er sich und stotterte: „Bitte, sei nicht sauer, ich möchte nur verstehen ...“ Er<br />

brach zitternd ab, befürchtete, zu weit gegangen zu sein und erst einmal eine schwere Strafe<br />

zu bekommen. Doch Brett lachte gönnerhaft.<br />

„Du willst wissen, was jemanden dazu bringen könnte, sich freiwillig dem zu unterwerfen,<br />

was wir dir hier aufzwingen, richtig?“<br />

Erstaunt starrte Shawn den Mann an und senkte erschrocken sofort den Blick, als er merk-<br />

te, was er getan hatte. Brett überlegte einen Moment.<br />

„Das kann man nicht erklären. Jemand, der keine unterwürfige Ader hat, ist nicht in der<br />

Lage, das zu verstehen. Subs wollen ihrem Dom gefallen. Sie wollen, dass ihr Dom sich wohl<br />

fühlt, zufrieden ist. Darum lassen sie es zu, dass ein Dom seine sadistischen Gelüste an ihnen<br />

auslebt. Und ein guter Dom dankt es seinem Sub mit tiefer Zuneigung und Respekt. In der SM<br />

Szene wird ein Dom extrem darauf achten, dass seinem Sub nichts passiert. Es ist nur ein Rol-<br />

lenspiel, verstehst du? Im Grunde ist der Sub derjenige, der die Regeln vorgibt, denn ein Dom<br />

kann nur so weit gehen, wie sein Sub es zulässt. Die Einschränkungen haben wir bei dir zum<br />

Glück nicht. Das ist für viele Doms der Traum. Einen Sklaven zu besitzen, den sie unbegrenzt<br />

benutzen können, der nicht nein sagen kann, wenn es gerade am schönsten wird.“<br />

Shawn huschte eine Gänsehaut über den Rücken. Am liebsten hätte er den Schwulen ange-<br />

schrien, ob sie eine Ahnung davon hatten, was sie ihm, Shawn, antaten. Doch im Grunde<br />

wusste der Schauspieler, dass die Frage sinnlos war. Wenn seine Peiniger es wussten, war es<br />

ihnen komplett egal.<br />

Eine Weile unterhielten sie sich über alles Mögliche. Musik, Filme, Brett war mit einem<br />

breit gefächerten Allgemeinwissen ausgestattet und Shawn ertappte sich, dass er Spaß hatte<br />

an der Unterhaltung. Sie badeten mehrfach, denn in der Sonne war es heiß. Als sie wieder<br />

einmal aus dem Wasser kamen und nebeneinander zur Decke zurückkehrten, meinte Brett:<br />

„Ich möchte, dass du mich bittest, dich zu ficken.“<br />

Shawn erstarrte. „Was?“<br />

Brett nickte eifrig. „Ja! Ich will, dass du mich darum bittest. Wenn du das tust, verspreche<br />

ich dir, dich einmal die Woche, wenn es geht öfter, zu einem Strandtag zu holen.“<br />

654


Shawn war starr vor Schreck. Das war ihm bisher noch nicht abverlangt worden. Alles in<br />

ihm schrie auf. Nein, nie würde er darum bitten können. Das war zu viel verlangt! Gleichzei-<br />

tig tauchte vor seinem geistigen Auge der kleine Käfig auf ... Das schreckliche Andreaskreuz<br />

... Die Streckbank ... Die Liege fürs Waterboarding ... Shawn stöhnte verzweifelt auf. Im Ge-<br />

genzug der bisher wunderschöne Tag hier am Strand. Brett weidete sich an den Qualen<br />

Shawns. Es war dem Schwulen klar, was er dem Sklaven hier abverlangte. Er genoss es in<br />

tiefen Zügen.<br />

„Na komm, so schlimm ist das nicht. Knie dich hin, zeig mir deinen geilen Arsch und bitte<br />

mich, dich gründlich durchzuficken. Denk daran, was ich dir im Haus alles antun könnte.<br />

Hier am Strand, zusammen mit mir, hast du frei. Niemand tut dir hier was, keiner wird dich<br />

hier quälen. Und so einen kleinen Fick wirst du wohl überleben, du hast schon vor Geilheit<br />

gekeucht, wenn ich es dir besorgt habe.“<br />

Shawn schossen Tränen in die Augen. Ja, Brett konnte im Haus unglaublich brutal und<br />

gnadenlos werden. Was war dabei, wenn er den Schwulen bat, ihn zu vögeln? Das war weni-<br />

ger schlimm als gefoltert zu werden. Aber darum bitten ... Aber die Schmerzen, die Brett ihm<br />

zufügen könnte ... Bebend kniete Shawn sich auf die Decke. Brett ließ ihm Zeit und sprach den<br />

Sklaven nicht mehr an. Er beobachtete erregt, wie der Sklave mit heftig zitternden Händen<br />

nach hinten zu seinen Pobacken tastete. Zwei Mal sanken seine Hände zurück auf die Decke,<br />

beim dritten Anlauf schaffte er es endlich, seine Pobacken wie gefordert auseinander zu hal-<br />

ten. Für den zweiten Teil der Forderung brauchte er mehrere Anläufe, doch endlich stieß er<br />

unter Tränen hervor:<br />

„Würdest du ... mich bitte... ficken ...“ Schluchzend presste Shawn das Gesicht in die De-<br />

cke. Er hatte es ausgesprochen. Wimmernd vor Verzweiflung und Scham hörte er Bretts be-<br />

geisterte Antwort.<br />

„Na, nichts lieber als das.“ Der Schwule war hochgradig erregt und als er schwungvoll in<br />

Shawn eindrang, keuchte er auf vor Geilheit. Schnell war er soweit und kam tief in dem Skla-<br />

ven steckend zu einem heftigen Orgasmus. Shawn hatte wie versteinert still gehalten. Er sack-<br />

te weinend in sich zusammen und Brett blieb auf ihm liegen, schwer atmend und zufrieden.<br />

Fast liebevoll flüsterte er Shawn ins Ohr:<br />

„Hey, heul hier nicht so rum. Was ist so schlimm daran? Du findest es doch oft genug<br />

geil, nun hast du mal darum gebeten. Das wirst du in Zukunft immer machen, wenn wir hier<br />

am Strand zusammen sind, okay. Dass ist meine Belohnung, dass ich dich mit mir nehme.“<br />

Shawn lag weinend da. Schließlich beruhigte er sich etwas.<br />

Brett ließ sich seitlich auf die Decke gleiten und gab Shawn den Befehl: „Dreh dich zu<br />

mir, Shawn, ich möchte Kuscheln.“<br />

655


Shawn rollte sich zu ihm herum und ließ es zwangsläufig zu, dass Brett ihn an sich drück-<br />

te. Eine Weile lagen sie so still nebeneinander. Endlich hatte Shawn sich gefangen.<br />

„Tut mir leid, dass sich gezögert habe ...“, sagte er leise.<br />

„Ach, das macht nichts, ist für einen Hetero sicher nicht leicht, darum zu bitten. Ich fand<br />

es unglaublich erregend. Wenn du das mal so sagst, als meintest du es, wäre dir eine große<br />

Belohnung sicher.“ Er drückte Shawn in Rückenlage und legte seinen Kopf auf dessen Brust.<br />

Sanft streichelte seine Rechte über Shawns Haut. Es kostete diesen alle Kraft, still liegen zu<br />

bleiben, doch er schaffte es.<br />

„Ich könnte dich für immer behalten ...“, sinnierte Brett. „Was würdest du davon hal-<br />

ten?“ Er trieb Shawn mit dieser Frage in die Ecke. Vorsichtig erwiderte der junge Schauspie-<br />

ler:<br />

„Ich habe Eltern, weißt du, ich würde sie gerne wieder sehen. Und Freunde ... Könnte ich<br />

das, wenn ich bei dir bliebe?“<br />

Brett ging nicht auf diese Frage ein. Er lachte leise und meinte: „Dauerhaft einen eigenen<br />

Sklaven zu besitzen hätte was. Ich würde dich gut behandeln, weißt du? Ich liebe es so sehr,<br />

wenn du dich in Schmerzen windest. Da geht mir sofort einer ab. Hast du nicht Lust, mich mal<br />

auszupeitschen?“<br />

Shawn entfuhr ein verwirrtes „Was?“<br />

Brett kuschelte sich noch enger an ihn. „Ja, ich möchte, dass du mich mal auspeitscht. So<br />

richtig durch prügelst mit dem Flogger. Ich werde Carrie darum bitten.“<br />

*****<br />

Shawn schwieg erschöpft. Nach dem traumhaften Tag war dieser Bericht besonders<br />

schwer gewesen. Sie waren gegen 18 Uhr ins Hotel zurückgekehrt und hatten sich zusammen<br />

unter die Dusche gestellt. Anschließend waren sie ins Hotelrestaurant zum Essen gegangen.<br />

Als sie gegen 20.30 Uhr im Appartement zurück waren hatte Kelly darauf bestanden, dass<br />

Shawn einen Bericht abgab. Er hatte einen Moment überlegt und leise angefangen zu spre-<br />

chen. Auf dem Bett in Kellys Armen liegend hatte er von diesem ersten Mal erzählt, dem ers-<br />

ten Mal, dass er Brett am Strand hatte bitten müssen, gevögelt zu werden.<br />

„Ich dachte, ich höre nicht richtig. Freiwillig still zu halten war schlimm genug, aber aktiv<br />

darum zu bitten ... Später musste ich das regelmäßig machen und je überzeugender ich es hin<br />

bekam, je länger behielt Brett mich bei sich. Er forderte es meistens gegen Mittag ein. Wenn<br />

ich es richtig ... richtig erregt und lüstern hervor brachte, blieben wir bis spät in die Nacht<br />

oder bis zum Morgen zusammen. Das waren ... Kelly, das waren die schönsten Stunden für<br />

mich dort. Ist es ... schlimm, dass ich mitgespielt habe? Dass ich ihm während der Vergewal-<br />

tigung vorgemacht habe, dass es mir gefiel? Erträgst du es, dass ich ...? Ich wollte doch nur<br />

ein wenig Frieden und ... mal ein paar Stunden keine Schmerzen.“<br />

656


Kelly wischte sich Tränen von den Wangen, bevor sie antwortete. „Hey. Darüber haben<br />

wir mehr als einmal ausgiebig gesprochen, Baby. Du hast dir nicht das Geringste vorzuwer-<br />

fen. Jeder hätte so gehandelt. Die Vermeidung von Schmerzen, das sagte ich dir bereits mehr-<br />

fach, ist das älteste Bestreben der Menschheit. Du hast nicht mehr und nicht weniger getan:<br />

Vermeidung von Schmerzen. Das war das einzige, was du hättest tun können und du hast die<br />

Chance ergriffen. Da gibt es für mich nichts zu ertragen. Wenn du es nicht getan hättest,<br />

könnte ich dich jetzt nicht in meinen Armen halten.“<br />

Shawn nickte langsam. „Ja, andere Möglichkeiten hatte ich doch nicht. Er hat mich an sol-<br />

chen Tagen gut behandelt. Wenn es mir gelang, es ehrlich klingen zu lassen, hat er mich spä-<br />

ter die ganze Nacht bei sich behalten. Es war so schwer. In seinen Armen im Bett zu liegen ...<br />

Ich musste mich zwingen, nicht vor Ekel zu kotzen. Bald aber wurde das Routine. Ich habe<br />

ihm gesagt, dass ich es erregender finde, wenn er mich fesselte. Das hat er gerne getan. So<br />

war es leichter, ich hatte nicht das Gefühl, freiwillig mitzumachen. Aber er wollte öfter nur ...<br />

Er sagte mir, seine Lover würde er nicht fesseln, verstehst du? Er wollte nur mit mir im Bett<br />

liegen.“ Erschöpft schwieg Shawn. Er hatte das Gefühl, die widerlichen Berührungen und<br />

Zärtlichkeiten des Schwulen noch immer zu spüren. Und trotz all des Abscheus war er dank-<br />

bar für die Stunden der Ruhe, die er Brett auf diese Weise zu verdanken hatte. Shawn fragte<br />

sich, wie Kelly es schaffen sollte, nicht daran zu denken, dass Männerhände ihn berührt, lieb-<br />

kost und oft genug zum Orgasmus gebracht hatten. Als könnte die Therapeutin seine Gedan-<br />

ken lesen, zog sie ihn in diesem Moment eng an sich heran und ließ ihre Linke sanft und ent-<br />

spannend über seinen nackten Rücken gleiten.<br />

„Lass uns Schluss machen für heute. Das war ein langer Tag. Morgen machen wir uns auf<br />

die Socken. Denk nicht mehr an Brett, okay. Er wird dich nie wieder anfassen. Niemand außer<br />

mir wird das.“ Sie gab Shawn einen zärtlichen Kuss und flüsterte: „Ich bereue nichts von<br />

dem, was heute passiert ist. Ich liebe dich!“<br />

Shawn seufzte glücklich. „Ich habe nicht damit gerechnet, ehrlich. Ich bin der glücklichste<br />

Mensch auf der Welt. Ich liebe dich auch. So sehr! Schlaf gut.“<br />

„Du auch.“<br />

54) Traumzeit<br />

Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.<br />

Friedrich Nietzsche<br />

„Das ist ja nicht weit. Wollen wir noch übernachten oder fahren wir durch?“<br />

Gerade hatte Kelly Shawn erklärt, dass es von Cairns bis Shute Harbour nur knapp 500<br />

Kilometer waren.<br />

657


„Ich hatte heute Nacht eine Idee, von der ich hoffe, dass sie dir gefallen wird. Zwischen<br />

Cairns und Shute Harbour gibt es nicht viel Spektakuläres zu sehen. Mission Beach ist schön,<br />

den Strand werde ich dir zeigen. Doch dann kommt nichts weiter bis Shute. Es gibt zirka 80<br />

Kilometer südlich von Airlie einen zauberhaft schönen Nationalpark. Cape Hillsborough. Ich<br />

habe mir überlegt, dass wir diesen kleinen Abstecher machen sollten. Man kann dort Cabins<br />

mieten und ... Ach, lass dich überraschen, okay.“<br />

Shawn grinste. „Damit bin ich bisher immer gut gefahren. Okay, dann mal los.“<br />

Kelly steuerte den Pajero durch den morgendlichen Berufsverkehr zum Bruce Highway<br />

und reihte sich hier in die Autokarawane Richtung Süden ein. Der Himmel hing voll schwerer<br />

Regenwolken an diesem Tag und es war schwülwarm. Kelly und Shawn waren nicht undank-<br />

bar, heute überwiegend im Auto sitzen zu können. Durch kleine Ortschaften ging es in star-<br />

kem Verkehr weiter, bis sie Gordonvale passiert hatten. Hier endete der direkte Einzugsbe-<br />

reich Cairns‘ und es wurde deutlich ruhiger auf dem Highway. Sie fuhren durch riesige,<br />

scheinbar endlose Zuckerrohrfelder und Shawn meinte erstaunt:<br />

„Ich wusste gar nicht, dass in Australien so viel Zuckerrohr angebaut wird.“<br />

„Australien ist neben den USA und Kuba der größte Exporteur. Die Queenslander haben<br />

bereits um 1920 nach Möglichkeiten gesucht, Zuckerrohr maschinell zu ernten. 1925 wurde in<br />

Bundaberg der Falkiner Cane Harvester vorgestellt, ein Gerät, dass die Halme dicht am Boden<br />

abschnitt, das unbrauchbare Blattwerk entfernte und die Rohre gebündelt zu Boden legte.<br />

Bundaberg ist heute das Zentrum des Zuckerrohrexports. Und dort findest du die größte<br />

Rumdestillerie Australiens. Der Bundaberg Rum ist weit über Australien hinaus bekannt.“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Klar, dass du das alles weißt ... Aber ich schwöre dir, ich<br />

finde noch ein Thema, auf das du nicht so aus dem Stegreif antworten kannst.“ Er kicherte.<br />

„Manchmal komme ich mir so unzulänglich vor neben dir.“<br />

Kelly lachte schallend los. „Ach, das geht nicht nur dir so. Ich kann doch aber nichts da-<br />

für, dass ich mir Dinge gut einprägen kann.“<br />

Sie unterhielten sich auf der weiteren Fahrt über alles Mögliche und gegen 10 Uhr erreich-<br />

ten sie die winzige Ortschaft El Arish. Hier verließ Kelly den Bruce Highway und steuerte auf<br />

der El Arish Mission Beach Road östlich auf die Küste zu. Erst schlängelte sich die Straße<br />

weiter durch Zuckerrohrfelder, später erhob sich vor ihnen ein kleines Bergmassiv, dicht mit<br />

Regenwald bewachsen. Plötzlich trat Kelly hart auf die Bremse.<br />

„Sieh mal, dort.“<br />

Am Straßenrand, passend unter einem Warnschild, auf dem genau dieses Tier abgebildet<br />

war, zottelte ein großer, schwerer Vogel gemächlich auf den Waldrand zu.<br />

„Was ist denn das?“, fragte Shawn, während er seine Kamera hoch riss.<br />

„Das ist ein Kasuar, ein Helmkasuar. Neben dem Emu der zweite große Laufvogel Austra-<br />

liens. Ursprünglich lebten die in New Guinea, dort sind sie die größten Landtiere. Doch ir-<br />

658


gendwie gelangte eine der drei Kasuararten hier nach Australien und verbreitete sich über<br />

Nordqueensland nach Cape York. Die Tiere können, wenn sie sich in die Enge gedrängt füh-<br />

len oder Junge haben, aggressiv und gefährlich werden. An der Innenzehe haben sie eine bis<br />

zu 10 Zentimeter lange Kralle, damit haben sie schon Menschen getötet. Sie treten so präzise<br />

zu wie ein Kickboxer und die messerscharfe Kralle reißt Fleisch locker tief auf. Und sie kön-<br />

nen erstaunlich schnell werden, was man ihrem eher plumpen Körper gar nicht zutrauen wür-<br />

de. Bis zu 50 Stundenkilometer können sie erreichen. Sie werden bis 60 Kilo schwer und<br />

können eine beachtliche Größe von 170 Zentimetern erreichen.“<br />

Shawn beobachtete den Vogel, bis dieser im Gebüsch verschwand. Der plump wirkende,<br />

schwarz befiederte Körper, der leuchtend türkisblaue, kahle Hals mit einem ebenso leuchtend<br />

roten Kehlsack und das kräftige, halbrunde, stumpfe Horn auf dem Kopf, das an einen Helm<br />

erinnerte, machten das Tier nicht gerade zu einer Schönheit.<br />

„Sieht eigenartig aus.“, meinte der Schauspieler kopfschüttelnd.<br />

„Ja, die meisten Laufvögel unserer Erde sind nicht eben Schönheiten.“ Kelly gab Gas und<br />

sie schafften die letzten Kilometer bis zum Küstenort Mission Beach schnell. Gerade passend<br />

zum Strand hatten sich die dicken Wolken im Moment verzogen und da keine Hinweisschil-<br />

der aufgestellt waren, die vor Würfelquallen warnten, nutzten Kelly und Shawn die Gelegen-<br />

heit, sich an dem herrlichen Strand in die Fluten zu stürzen.<br />

Viel war hier nicht los, das würde sich aber schnell ändern, wenn das Wetter sich hielt.<br />

Eine Weile amüsierten sie sich in dem klaren, warmen Wasser. Hin und wieder nahmen sie<br />

sich in die Arme und küssten sich. Die neu gewonnene Nähe wollten beide auskosten. Shawn<br />

kam es vor, als erlebe er gerade seine eigene Dreamtime. Er hatte schreckliche Angst davor,<br />

aufzuwachen und festzustellen, dass er noch bei Carrie in Gefangenschaft war. Doch der<br />

warme, weiche Körper, der sich im Wasser an ihn kuschelte, machte ihm klar, dass er nicht<br />

träumte.<br />

Letztlich war es Zeit, weiter zu fahren. Es lagen noch einige Kilometer vor ihnen. So kehr-<br />

ten sie zum Wagen zurück, trockneten sich ab und schlüpften in die kurzen Hosen und T-<br />

Shirts. Kelly startete den Wagen und fuhr los. Sie blieb ein kurzes Stück auf der Küstenstraße<br />

bis diese von der Küste weg führte. Es ging erneut durch den dichten Regenwald, bis dieser<br />

hinter ihnen zurückblieb, und die endlose Zuckerrohrfelder sie bis zum Bruce Highway zu-<br />

rückbegleiteten. Kurz vor der Ortschaft Tully bog Kelly auf den Highway ab und meinte:<br />

„Die nächsten Kilometer wird es langweilig. Die meiste Zeit bleibt der Highway ein paar<br />

Kilometer von der Küste entfernt. Es wird noch eine Weile durch Felder gehen.“<br />

Shawn machte es sich bequem und erwiderte: „Das macht doch nichts. Kann doch nicht<br />

nur spektakulär sein. Wenn ich mal fahren soll ...“<br />

„Nein, genieße du nur die Aussicht.“<br />

659


Shawn sah Kelly an und meinte verträumt: „Das tue ich.“<br />

Die Psychologin fuhr der Geschwindigkeitsbegrenzung folgend zügig voran. Bei dem Ort<br />

Cardwell, ungefähr 40 Kilometer später, führte der Highway ein kleines Stück fast direkt am<br />

Wasser entlang. Man konnte in kurzer Entfernung eine große Insel erkennen, die sich vor der<br />

Küste entlang zog.<br />

„Was ist denn das für eine Insel?“, fragte Shawn interessiert.<br />

„Das ist Hinchinbrook Island. Die Insel ist ein Nationalpark, mit 393 Quadratkilometern<br />

der größte Inselnationalpark Australiens. Landschaftlich zählt er zu den schönsten und unbe-<br />

rührtesten Nationalparks der Ostküste. Obwohl Hinchinbrook Island so groß ist, gibt es nur<br />

eine Möglichkeit der Unterkunft und die tägliche Besucherzahl ist streng limitiert. Deswegen<br />

ist die Insel so wundervoll unberührt. Es gibt fantastische Wanderwege, man sollte Zeit mit-<br />

bringen, wenn man die Insel besuchen will.“<br />

„Hört sich zauberhaft an.“, meinte Shawn. „Wenn wir später ... Es gibt noch so unendlich<br />

vieles, was ich mir hier gerne ansehen würde.“<br />

„Das werden wir alles nachholen.“, erklärte Kelly überzeugt.<br />

„Und wir werden Mum und Dad mit schleppen, wenn es dir nichts ausmacht!“ Shawn<br />

strahlte in Vorfreude. Die Therapeutin lachte verliebt.<br />

„Nein, es macht mir gar nichts aus. Ich mag deine Eltern sehr. Und nicht nur, weil sie dich<br />

zusammen gerührt haben.“<br />

Shawn kicherte. „Haben sie ganz ordentlich hin bekommen, oder?“, fragte er frech.<br />

„Viel zu gut!“<br />

Der Highway bog abermals von der Küste weg und blieb es. Gegen Mittag passierten sie<br />

Townsville und gönnten sich hier bei einem McDonalds einen kleinen Snack und einen gro-<br />

ßen Becher Kaffee. Nach dem Mittag fuhren sie zügig weiter. Noch ging es durch Zucker-<br />

rohrfelder, zum Teil abgeerntet, zum Teil noch in Blühte. Ärgerlicher Weise zogen Wolken<br />

auf, doch es blieb trocken. Zwei kleinere Orte, Ayr und Home Hill, ließen sie hinter sich zu-<br />

rück und nun kam ein knapp 100 Kilometer langer, menschenleerer Highwayabschnitt. Ein-<br />

mal bog Kelly vom Highway ab und folgte einem Hinweisschild zu einem Lookout auf dem<br />

Inkerman Hill. Es ging eine schmale, unbefestigte Straße bergan und nach einer Weile stan-<br />

den sie auf dem zum Overlook gehörenden Parkplatz. Sie stiegen aus und schlenderten Arm<br />

in Arm zum eigentlichen Lookout hinüber. Man hatte einen schönen Blick über die Ebene mit<br />

ihren weiten Feldern.<br />

„Hören die mal auf? Wir fahren seit Stunden durch nichts anderes als Zuckerrohr.“, wollte<br />

Shawn grinsend wissen.<br />

„Nein, eine Weile wird es uns noch begleiten. Ich sagte ja, die Strecke ist langweilig. Aber<br />

du hast wahrlich genug Spannendes und Schönes gesehen, oder?“<br />

Shawn grinste frech. „Ach, mehr darf ich nicht, oder wie soll ich das verstehen?“<br />

660


Kelly streckte ihm die Zunge aus. „Genau das.“ Sie genossen noch einen Moment die<br />

schöne Aussicht, dann gingen sie zum Wagen zurück und machten sich auf den Weg.<br />

Bei Bowen kam der Highway der Küste näher und ab und zu konnte man in der Ferne den<br />

Ozean erkennen. Bald versperrten jedoch Regenwald bewachsene Berge die Sicht und Kelly<br />

erklärte:<br />

„Das ist der Dryander State Forrest und Nationalpark. Und dort, weiter rechts, ist der<br />

Conway Nationalpark. Zwischen den Bergen, an der Küste, liegt Airlie Beach und damit das<br />

Tor zu den Whitsunday Islands. Mit Airlie werden wir uns übermorgen befassen. Jetzt geht es<br />

noch ein Stück weiter.“<br />

Sie passierten die Ortschaft Proserpine und nach dem Ort verlor sich der Highway in men-<br />

schenleerer Landschaft. Weiterhin prägten die Zuckerrohrfelder das Landschaftsbild. Ort-<br />

schaften tauchten nicht mehr auf. Nach einiger Zeit schälten sich eine Handvoll einzeln ste-<br />

hender Häuser aus den Feldern heraus.<br />

„Das müsste Mount Ossa sein, wenn ich nicht irre.“<br />

Tatsächlich tauchte ein Straßenschild auf: Mount Ossa, Pop. 56. Shawn lachte.<br />

„Doch so viele?“<br />

„Die vermehren sich ziemlich. Als ich das letzte Mal hier vorbei gekommen bin waren es<br />

gerade mal 37.“ Kelly hatte den Blinker gesetzt und bog auf die Mount Ossa Seaforth Road<br />

ab. Sie folgte der Straße, bis diese in einer T-Kreuzung endete. Es ging nach rechts weiter und<br />

endlich tauchte ein Wegweiser nach Cape Hillsborough auf. „Wir haben es fast geschafft. Ich<br />

hoffe, du hast Lust auf Wildnis und Ruhe.“<br />

Shawn lächelte. „Das weißt du doch, die habe ich immer.“<br />

Vereinzelnd stehende Häuser und Farmen waren zu sehen und Shawn fragte sich ernsthaft,<br />

wie man so abgelegen wohnen konnte. Der Weg zum Einkaufen war ein halber Tagesausflug.<br />

Die Häuser blieben hinter ihnen zurück und sie fuhren durch teils dichten Regenwald eine gut<br />

ausgebaute Straße entlang. Nach einigen Kilometern endete diese an einem Campingplatz.<br />

Ein Empfangsgebäude, das ein Restaurant beinhaltete, lag am Eingang des Campingplatzes<br />

und Kelly stoppte den Wagen direkt davor. Shawn stieg mit aus und streckte sich.<br />

„Ich werde mal sehen, ob wir eine Cabin bekommen können.“, erklärte Kelly und ver-<br />

schwand im Rezeptionsbüro.<br />

Shawn sah sich erstaunt um. Im dichten Regenwald angelegt machte der Campground ei-<br />

nen urtümlichen und gemütlichen Eindruck. Nur wenige Wohnmobile standen unter Palmen<br />

und anderen Bäumen verteilt auf den Stellplätzen.<br />

Kelly trat aus dem Büro und schlenkerte einen Schlüssel.<br />

„Wir haben Glück, ist nicht viel los.“<br />

„Das habe ich gerade gedacht.“, erwiderte Shawn grinsend und sah sich weiter um.<br />

661


„Das ist hier ein echter Geheimtipp. Hier ist selten viel los und die Besitzer wissen das zu<br />

schätzen.“, meinte Kelly und stieg in den Pajero. „Komm, die Cabins liegen am anderen Ende<br />

des Platzes.“<br />

Sie fuhren die letzten paar Meter und Kelly hielt erneut an. Vier große Blechgebäude,<br />

ebenfalls unter Palmen und anderen Bäumen, die Shawn nicht identifizieren konnte, lagen<br />

verborgen vor ihnen.<br />

„Die enthalten je zwei Wohneinheiten. Ist einfach, aber sauber und ordentlich.“, erklärte<br />

Kelly, während sie ausstiegen.<br />

Shawn verzog das Gesicht. „Luxus pur, was?“<br />

Kelly lachte gehässig. „Lass hier mal nicht den Snob raushängen, mein Schatz. Du hattest<br />

keine Probleme, im Zelt zu Schlafen, da wirst du wohl mit einer solchen Behausung für zwei<br />

Nächte klar kommen.“, meinte sie vergnügt.<br />

Sie nahm Shawn an der Hand und zog ihn zum Haus zwei hinüber. Sie schloss die Haustür<br />

der äußeren Wohnung auf und zusammen betraten sie das kleine Appartement. Es war in der<br />

Tat einfach gehalten. Ein kleiner Tisch in einer Ecke, mit zwei Stühlen davor, eine winzige<br />

Küche mit einem Wasserkocher, Kaffeemaschine und zwei Kochplatten und ein Schlafzim-<br />

mer mit angeschlossenem Bad. Alles ziemlich neuwertig und perfekt gepflegt.<br />

sind.“<br />

„Spartanisch ... Aber du hast Recht, sauber und ordentlich.“<br />

„Na, das will ich doch meinen. So, und nun zeige ich dir, warum wir hierher gefahren<br />

Sie warfen ihre Rucksäcke achtlos auf das Bett und die Therapeutin zog Shawn mit sich<br />

aus der Cabin hinaus. Sie schloss ab und wandte sich nach links. Durch den Regenwald stapf-<br />

ten sie kaum 20 Meter voran und standen an einem wunderschönen, breiten und mehr als ei-<br />

nen Kilometer langen Strand. Shawn schüttelte fassungslos den Kopf.<br />

„Mein Gott, wie findest du nur solche Schätze?“, fragte er gerührt. „Das ist ja zauberhaft<br />

schön hier!“<br />

Die Psychologin spürte, dass ihr das Blut in die Wangen schoss. „Ach, das ist nicht so er-<br />

staunlich. Ich liebe meine Heimat und habe jede freie Minute damit verbracht, in Australien<br />

herum zu Reisen. Es gibt an der Nord- und Ostküste und im Outback nur wenige Stellen, die<br />

ich nicht kenne. Ich habe unglaublich viele Tipps von Freunden bekommen. So, wie diesen<br />

hier. Cape Hillsborough ist etwas Besonderes. Das werde ich dir später noch zeigen. Jetzt<br />

können wir Schwimmen ...“ Sie wusste, dass es Shawn in den Fingern kribbelte. Und sie hatte<br />

Recht.<br />

„Ja? Keine Quallen?“, fragte er grinsend.<br />

Die Therapeutin konnte nicht anders, sie nahm den Schauspieler in die Arme und küsste<br />

ihn innig. Wenn er so grinste wie jetzt gerade, dass seine Grübchen zuckten und seine Augen<br />

so strahlten, dass man geblendet wurde, hätte sie ihn am liebsten nie mehr los gelassen. Sie<br />

662


war so unglaublich froh, dass er wieder auf diese Art, wie ein kleiner Junge, der ein Stück<br />

Zucker geklaut hatte, grinsen konnte. Noch vor ein paar Wochen hatte er nicht daran geglaubt,<br />

je wieder Glück und Freude empfinden zu können. Shawn hatte gegen den leidenschaftlichen<br />

Kuss keinerlei Einwände. Als sie sich voneinander lösten fragte er glücklich:<br />

„Womit habe ich den denn gerade verdient?“<br />

Kelly lächelte. „Einfach mit dir, dass es dich gibt.“<br />

Sie schlüpften aus ihren T-Shirts und Shorts und liefen Hand in Hand ins Wasser. Es<br />

herrschte gerade Ebbe und so war das Wasser nicht tief. Sie mussten weit hinaus gehen, um<br />

überhaupt schwimmen zu können, aber das machte beiden nichts aus. Eine Weile genossen sie<br />

das herrlich warme Wasser. Dann kehrten sie an den Strand zurück und sammelten ihre Sa-<br />

chen auf.<br />

„Es wird bald dunkel, lass uns Duschen und Umziehen, ich habe Hunger.“, meinte Kelly<br />

und Shawn konnte nur beistimmen.<br />

„Den habe ich auch.“<br />

Sie schlenderten zu ihrer Behausung zurück und gingen nacheinander unter die Dusche.<br />

Kelly wollte Shawn auf keinem Fall bedrängen, in dem sie mit ihm zusammen unter die Du-<br />

sche ging. Sie hatte in Cairns bei der einen gemeinsamen Dusche wohl bemerkt, dass Shawn<br />

verkrampft gewesen war, als sie auf so engem Raum unbekleidet zusammen gestanden hatten.<br />

So weit war er noch lange nicht. Sie wollte warten, bis er den ersten Schritt machen würde.<br />

Als sie in Jeans und Bluse schlüpfte, lächelte sie still vor sich hin. Hoffentlich klappte es am<br />

heutigen Abend mit der kleinen Zusatzüberraschung, die sie für Shawn hatte. Der Schauspie-<br />

ler kam gerade aus dem Bad, ein Handtuch um die Hüfte, und sah Kelly lächeln.<br />

„Einen Dollar für deine Gedanken.“<br />

Ertappt meinte die Therapeutin: „Ach, die waren nicht so spannend, ich habe mich gefragt,<br />

ob es mit einer kleinen Überraschung klappen wird.“ Sie steckte ihre Haare hoch, draußen<br />

war es zu warm, um sie offen zu tragen. Shawn zog sich an und Kelly fragte:<br />

„Fertig?“<br />

„Jepp, Ma’am, Sie können mich zum Essen ausführen.“<br />

Kelly griff im Hinausgehen unauffällig nach seinem Fotoapparat und schloss die Tür.<br />

„Lass uns am Strand entlang gehen, okay, da ist es angenehmer als hier unter den Bäu-<br />

men.“ Damit hatte die Psychologin Recht. Unter dem dichten Laubdach staute sich die Hitze<br />

noch extremer als unten am Wasser.<br />

Noch hatten sie Licht und so konnten sie am Strand wunderbar sehen. Und was sie zu se-<br />

hen bekamen, ließ Shawn die Augen aufreißen.<br />

„Da sind Kängurus! Am Strand! Verflucht! Ich habe meine Kamera ...“<br />

663


„... bei dir.“, beendete Kelly den Satz zuckersüß und reichte dem Schauspieler den Foto-<br />

apparat. <br />

chen.<br />

„Du bist einmalig.“<br />

Der junge Mann nahm die Kamera dankend entgegen und fing sofort an, Fotos zu ma-<br />

„Du wusstest es, oder?“, fragte er Kelly.<br />

Diese lachte leise. „Ja, Cape Hillsborough ist bekannt dafür, dass es genusssüchtigen Kän-<br />

gurus eine Heimat bietet. Sie kommen nicht jeden Abend an den Strand, aber doch häufig<br />

genug. Sieh doch mal, die Beiden da drüben!“ Sie deutete auf ein ausgewachsenes Känguru<br />

mit einem Halbwüchsigen bei sich. Die Mutter behielt die Umgebung im Auge, während ihr<br />

Nachwuchs im Sand scharrte und Fressbares suchte. Shawn machte Fotos und beobachtete die<br />

ungewöhnlichen Tierchen fasziniert.<br />

„Die sehen so eigenwillig aus.“ Er versuchte, etwas näher an die Tiere heran zu kommen,<br />

was diese ruhig tolerierten. Sie waren es gewohnt, dass die Besucher des Nationalparks sich<br />

um sie bemühten. Tagsüber hoppelten sie auf dem Campingplatz herum und ließen sich ver-<br />

wöhnen. So konnte Shawn dicht an das Muttertier mit ihrem Jungen heran gehen und es strei-<br />

cheln.<br />

Immer mehr Kängurus kamen aus dem dunklen Regenwald an den Strand und ihre Sil-<br />

houetten hoben sich gegen den blutroten Sonnenuntergang ab. Shawn konnte sich gar nicht<br />

los reißen, aber es wurde allmählich zu dunkel, um noch etwas sehen zu können. Er legte ei-<br />

nen Arm um Kelly und zog die junge Frau dicht zu sich.<br />

soll.“<br />

„Das war zauberhaft. Du bist zauberhaft. Ich weiß einmal mehr nicht, wie ich dir danken<br />

„Das brauchst du doch gar nicht, Honey, deine Freude ist mir Dank genug. Das habe ich<br />

dir schon so oft gesagt.“, erwiderte die Therapeutin glücklich.<br />

Sie wandten sich dem dunklen Wald zu und kämpften sich durchs Dickicht, bis sie zwi-<br />

schen zwei Wohnmobilen auf den beleuchteten Fahrweg des Campingplatzes stießen. Erleich-<br />

tert atmete Shawn auf. Die Vorstellung, wie vielen Spinnen er dort zwischen den Bäumen<br />

gerade ungewollt viel zu nahe gekommen war, hatte ihn nervös gemacht. Hier auf dem Weg<br />

fühlte er sich wohler. Zufrieden schlenderten sie weiter bis das Restaurant sich vor ihnen aus<br />

der Dunkelheit schälte. Auf der von Lichterketten und indirekter Beleuchtung erhellten Ter-<br />

rasse waren noch einige Tische frei und sie setzten sich an einen davon. Die Karte wurde ge-<br />

bracht und sie suchten sich etwas aus. Minuten später stand eisgekühltes Wasser sowie zwei<br />

Victoria Bitter vor ihnen. Shawn prostete Kelly zu.<br />

„Auf die Strandkängurus.“<br />

664


Während sie auf ihr Abendessen warteten fragte Shawn: „Wie weit ist es von Shute Har-<br />

bour zum Riff?“<br />

Kelly nahm einen Schluck Bier. „Um die 80 Kilometer. Mit den schnellen Katamaranen<br />

etwas mehr als zwei Stunden Fahrt. Es geht früh los, damit man am Outer Reef so lange wie<br />

möglich Zeit hat.“<br />

„Ich freue mich unglaublich auf das Riff. Das ist das dritte Weltnaturerbe das du mir<br />

zeigst.“<br />

„Im Grunde das Vierte, weil die Wet Tropics of Queensland ebenfalls zum Weltnaturerbe<br />

erklärt wurden. Du wurdest also mit reichlich Naturwundern beehrt. Was weißt du so über das<br />

Riff?“<br />

Shawn wurde rot. „Naja, dass es groß und ein Korallenriff ist?“<br />

Kelly biss sich auf die Lippe, um nicht loszulachen. „Gut. Das ist eine Menge. Die paar<br />

nebensächlichen Details werde ich dir kurz erklären. Wo das Riff liegt, weißt du. Es erstreckt<br />

sich von der Torres-Street vor Papua New Guinea bis Lady-Elliot-Island, das liegt ungefähr<br />

75 Kilometer nordöstlich von Bundaberg. Inzwischen ist es auf eine Länge von 2.300 Kilome-<br />

tern angewachsen. Aufgrund seiner Dimensionen ist das Riff in fünf Sektionen aufgeteilt.<br />

Von Nord nach Süd verlaufend fängt es mit der Far Northern Section an. Es folgt die Nor-<br />

thern Section, die Cairns oder Tropical Northern Section, die Central oder Whitsunday Secti-<br />

on, zu der wir fahren werden und die Southern oder Mackay Capricorn Section. Das Riff ver-<br />

läuft ziemlich genau entlang des australischen Kontinentalsockels. Es liegt zwischen 30 und<br />

bis zu 250 Kilometer vor der Küste. Das Riff besteht im Grunde aus einer Kette von zweitau-<br />

sendneunhundert Einzelriffen, fast tausend Inseln und unzähligen Sandbänken. Die Gesamt-<br />

fläche beläuft sich auf sagenhafte 347.800 Quadratkilometer. Du kannst es vom Weltraum aus<br />

mit bloßem Auge sehen.“<br />

„Dass es dermaßen groß ist habe ich nicht gewusst!“ Shawn war beeindruckt.<br />

„Es gibt noch ein paar rekordverdächtige Informationen. Zum Beispiel bildet das Reef mit<br />

dreihundertneunundfünfzig Hartkorallenarten die größte von Lebewesen geschaffene Form<br />

auf der Erde. In unserem Riff leben sechs von insgesamt sieben vorkommenden Arten von<br />

Meeresschildkröten. Fünftausend Weichtierarten und je über fünfzehnhundert Fisch- und<br />

Schwammarten leben in ihm.“<br />

„Das sind unglaubliche Zahlen. Am liebsten würde ich sofort losfahren. Ich kann es gar<br />

nicht erwarten. Ob es mit der Übernachtung draußen klappen wird, was meinst du?“<br />

Kelly hatte dem Schauspieler vor einiger Zeit erzählt, dass man mit etwas Glück am Riff<br />

übernachten konnte. Und sie hatte dies heimlich klar gemacht. Da war sie auf Nummer sicher<br />

gegangen. Es gab nur vier winzige Räume bei der Landeplattform der Fantasea Cruises und<br />

Kelly hatte von Yellow Water aus einen der Räume gebucht. Darum hatte sie mit der An-<br />

665


kunftszeit am Riff keinen Spielraum mehr gehabt. Jetzt zuckte die Therapeutin die Schultern<br />

und tat unwissend.<br />

„Das werden wir erfahren. Groß ist die Chance nicht, Baby, darum solltest du dich nicht<br />

zu sehr darauf freuen.“ Es gelang ihr, ihre Stimme bedauernd klingen zu lassen. Shawn nickte<br />

bedrückt.<br />

„Okay, wenn nicht, dann nicht. Wäre das größte Highlight, aber immerhin sind wir nicht<br />

die einzigen, die den Plan haben.“<br />

Kelly musste sich beherrschen, um dem jungen Mann nicht zu verraten, dass er am Riff<br />

schlafen würde, doch zum Glück kam in diesem Moment das Essen und so war für Ablen-<br />

kung gesorgt.<br />

Das Essen war gut und reichlich und Kelly und Shawn ließen es sich schmecken. Als sie<br />

gesättigt waren kam das Gespräch wieder auf. Zwischendurch griffen sie immer wieder nach<br />

Stücken Obst von dem großen Obstteller, den sie zum Nachtisch kostenlos bekommen hatten.<br />

Shawn war noch ganz gefangen von den Kängurus vorhin am Strand.<br />

„Das war das schönste Tiererlebnis auf dem Trip. Solch wundervolle Tiere so beobachten<br />

zu können war ...“<br />

Kelly hatte gedankenverloren einen Baum angeschaut, der in der Mitte der Terrasse stehen<br />

gelassen worden war. Sie hörte Shawns begeisterte Worte, wurde aber abgelenkt. Aus dem<br />

Blätterdach war etwas aufgetaucht und schickte sich an, weiter am Baum herab zu turnen. Die<br />

Therapeutin unterbrach Shawn hastig.<br />

„Schatz, sieh mal dort.“ Sie deutete auf den Baum und Shawn folgte erstaunt ihrem Blick.<br />

Und riss die Augen auf.<br />

lag.<br />

„Was ist das denn?“, fragte er und griff nach seiner Kamera, die neben ihm auf dem Tisch<br />

„Das ist ein Kusus, ein Beutelsäuger aus der Familie der Possums. Und es hat sein Baby<br />

bei sich!“<br />

Kellys Stimme klang vor Rührung gepresst. Ein ungefähr 60 Zentimeter großes, hell grau-<br />

braunes Tierchen mit riesigen, dunklen Augen, recht großen Ohren, einer fast rosafarbenen<br />

runden Nase und puscheligem Fell krallte sich in zirka 2 Metern Höhe an den Baumstamm<br />

und sah sich aufmerksam um. Auf seinem Rücken hing eine Kleinausgabe mit tief dunkel-<br />

braunem Fell. Ohne große Scheu kam das Muttertier mit ihrem Jungen noch tiefer und Kelly<br />

erklärte Shawn hastig:<br />

„Nimm von dem Obst, das wird es mögen.“<br />

Shawn griff eilig etwas Obst, Mango, Ananas und Papaya von dem Obstteller und ging<br />

langsam und vorsichtig zum Baum hinüber. Bedächtig hob er seine Hand und hielt dem pos-<br />

sierlichen Tierchen ein Stück Mango hin. Ohne zu zögern griffen kleine Pfoten mit bewegli-<br />

666


chen, zierlichen Fingerchen nach dem angebotenen Futter. Genüsslich biss das Muttertier in<br />

das Fruchtstück.<br />

Vorsichtig hob Shawn die Hand und dann berührte sein Zeigefinger sanft das samtweiche<br />

Fell des Possumbabys. Das kleine Tier griff mit den Vorderpfoten nach Shawns Finger und<br />

hielt diesen fest. Während der Schauspieler dem Muttertier mit der anderen Hand ein weiteres<br />

Stück Obst anbot spielte er mit dem Baby. Kelly beobachtete still die Szene und ihr kullerten<br />

Tränen der Rührung über die Wangen. Als Shawn der Mutter das letzte Stück Frucht gereicht<br />

hatte, strichen seine Finger zärtlich über ihre Wange und das Possum hielt zutraulich still. Es<br />

futterte das Obst auf und beschloss, an den anderen besetzten Tischen zu gucken, ob es dort<br />

noch mehr Futter gab. Entschlossen verließ es den Baum und marschierte zu einem der Tische<br />

hinüber. Ein Ehepaar, das hier saß, war ebenso begeistert von den entzückenden Beuteltier-<br />

chen, dass sie sofort ebenfalls von der Obstplatte, die es für alle Gäste kostenlos gegeben hat-<br />

te, Stücke an das Muttertier reichte. Noch eine Weile hielten sich Mutter und Kind auf der<br />

Terrasse auf und wurden überall freudig empfangen. Endlich hatten sie sich an jedem Tisch<br />

durch gefuttert und verschwanden wie selbstverständlich im Dschungel. Shawn hatte sich<br />

gesetzt und behielt die Tierchen im Auge. Auf seinen Wangen glitzerten Tränen. Verlegen<br />

wischte er sie fort und meinte:<br />

hen?“<br />

„Gott, waren die niedlich! Absolut entzückend. Hast du die riesigen, dunklen Augen gese-<br />

Kelly nickte. „Ja, Possums sind meine erklärten Lieblingstiere. Normalerweise würde man<br />

sie kaum je zu Gesicht bekommen, weil sie nachtaktiv sind. Diese Mama hier ist es eindeutig<br />

gewohnt, gefüttert zu werden. Sie sind sonst scheue Tiere.“<br />

Shawn nahm seine Kamera und sah sich die Bilder an, die Kelly von ihm und den Tier-<br />

chen gemacht hatte. „Sind super geworden. Vielen Dank.“<br />

Sie aßen zu Ende und ließen die Rechnung auf die Cabin schreiben. Arm in Arm schlen-<br />

derten sie anschließend über den dunklen Campingplatz zu ihrer Hütte zurück. Einige Male<br />

raschelte es im Gebüsch und sie meinten, Kängurus herum hüpfen zu sehen.<br />

„Das ist hier unglaublich.“, lachte Shawn und zog Kelly enger an sich. „Als ob man in ei-<br />

nem Tierpark spazieren gehen würde.“<br />

Vor ihrer Hütte setzten sie sich noch einen Moment auf die kleine Terrasse.<br />

„Ich habe schon oft gesagt, das war das bisher Schönste und nun muss ich es erneut sagen.<br />

Der Abend war zauberhaft. Erst die Hoppelmaxe am Strand, dann diese entzückenden kleinen<br />

Tierchen beim Abendbrot. Unglaublich.“<br />

Die Therapeutin war glücklich, dass es Shawn so gefallen hatte. Sie kuschelte sich an ihn<br />

und seufzte wohlig. „Ich freue mich, dass dir das alles so gefällt. Dass du Tiere so liebst wie<br />

667


ich. Und die Natur. Ich konnte diese Liebe bisher noch nie so intensiv mit einem Mann tei-<br />

len.“<br />

Shawn sah die junge Frau an und zog ihren Kopf zu sich. Zärtlich küsste er sie. „Frag<br />

mich doch mal, ob ich je mit einer Partnerin teilen konnte, was wir teilen. Ich fange an, Carrie<br />

extrem dankbar zu sein. Hätte sie mich nicht entführt, wären wir uns nie begegnet. Wir müs-<br />

sen ihr dankbar sein.“<br />

Kelly machte: „Hm.“ Sie sah Shawn fragend an. „Willst du so weit gehen?“<br />

Ernst nickte Shawn. „Wenn es das war, was ich auf mich nehmen musste um dich zu tref-<br />

fen, ja! Vielleicht war es uns vorher bestimmt, uns auf diesem Wege zu begegnen. Halte mich<br />

für verrückt, aber ich glaube an Schicksal, weißt du. Möglicherweise musste ich all das<br />

durchmachen, um mit dir belohnt zu werden. Für dich würde ich es wieder ertragen.“ Er zog<br />

Kelly erneut an sich und diesmal wurde es ein leidenschaftlicher Kuss. Als sie sich von ei-<br />

nander lösten meinte Kelly:<br />

um.“<br />

„Lass uns diese Unterhaltung drinnen fortsetzen, hier schwirren mir zu viele Mücken her-<br />

Dagegen hatte Shawn gar nichts einzuwenden, denn die Mücken waren wirklich aufdring-<br />

lich geworden, seit sie hier saßen. Eilig flüchteten sie in die Hütte.<br />

Kelly verschwand sofort im Bad, um sich fertig zu machen. Als sie zurückkam hatte<br />

Shawn das Bett aufgeschlagen und sich bis auf die Boxershorts entkleidet. Er verschwand<br />

ebenfalls im Bad. Kelly legte sich auf das Bett und dachte über den Abend nach. Plötzlich<br />

hörte sie aus dem Badezimmer einen leisen Schrei und unmittelbar danach mehrfaches, lautes<br />

Klatschen. Erstaunt setzte sie sich auf und sah zur Badezimmertür hinüber. Gerade hallte ein:<br />

„Ha!“, zu ihr hinüber und dann erschien der Schauspieler in der Tür, einen seinen Latschen in<br />

der Rechten und grinste über das ganze Gesicht. „Eins muss man ihr lassen: Schnell war sie.“<br />

Einige eklige Reste an Shawns Schuhsohle ließen Kelly lachend vermuten:<br />

„Kakerlake?“<br />

„Kakerlake. Und noch dazu eine besonders große. Ich kann die Viecher nicht leiden.“ Er<br />

ging noch einmal zur Zimmertür und reinigte draußen seinen Schuh. Als er ins Zimmer zu-<br />

rückkam, ließ er sich seufzend auf das Bett fallen. So schwungvoll, dass Kelly fast auf der<br />

anderen Seite heraus katapultiert worden wäre.<br />

„Bist du übergeschnappt im Jagdrausch?“, fauchte sie ihn gespielt wütend an. „Na warte!“<br />

Blitzschnell rollte sie sich zu Shawn herum und saß im nächsten Moment rittlings über sei-<br />

nem Körper, presste seine Hände fest auf die Matratze. „Du Ekel.“, schnaufte sie kämpfe-<br />

risch.<br />

Shawn lag still und lauschte in sich hinein. Nirgendwo tauchte der Hauch von Unbehagen<br />

auf, als er so bewegungsunfähig unter der Therapeutin lag. Selbstverständlich hätte die junge<br />

668


Frau einem ernsthaften Befreiungsversuch nichts entgegen zu setzen gehabt, das war beiden<br />

klar. Sie genossen dieses Spielchen in vollen Zügen. Shawn ertappte sich bei dem Gedanken,<br />

dass es unglaublich schön war, von Kelly so gehalten zu werden. Seine Finger verschlangen<br />

sich in ihre und aus dem festen Griff wurde ein sanftes sich gegenseitig festhalten. Langsam<br />

ließ Kelly sich auf den Körper des Schauspielers sinken. Sie beobachtete Shawns Reaktion<br />

auf die körperliche Nähe aufmerksam, doch er zeigte keinerlei Unbehagen. Allerdings hatte<br />

die junge Frau auch ihr Schlafshirt an.<br />

„Ich bin kein Ekel.“, erklärte der Schauspieler überzeugt.<br />

„Das bist du doch. Du hättest mich fast aus dem Bett katapultiert, wie nennst du ein sol-<br />

chen Verhalten denn?“, knurrte Kelly streng.<br />

Shawn tat, als müsse er überlegen. Ein erleuchtetes Grinsen breitete sich auf seinem Ge-<br />

sicht aus. „Adrenalinschub, ausgelöst von einer lebensgefährlichen Jagd?“, meinte er nach-<br />

denklich.<br />

Kelly schnaufte. „Klar, lebensgefährliche Jagd ...“<br />

Er nickte ernst. „Allerdings. Als ich sie hinters Klo verfolgt habe, hätte ich mir fast den<br />

Hals gebrochen.“ Er legte den Kopf auf die Seite und lächelte zu Kelly hoch. Heiße Wellen<br />

schossen bei diesem Lächeln durch den Körper der jungen Frau, Wellen der Liebe. Sie beugte<br />

sich weiter herab und schob unwillkürlich Shawns Hände höher über dessen Kopf. Und dann<br />

trafen sich ihre Lippen und beiden entfuhr ein wohliger Seufzer. Als sie sich eine Weile später<br />

schwer atmend von einander lösten fragte Kelly:<br />

„Und was hat das in dir ausgelöst?“<br />

Shawn schlang seine Beine um sie und flüsterte: „Was denkst du denn? Den Wunsch nach<br />

mehr ...“<br />

Er rollte sich langsam mit Kelly herum bis er halb auf der Therapeutin lag. Wieder und<br />

wieder trafen sich ihre Lippen zu leidenschaftlichen Küssen. Kelly hatte Shawns Hände los<br />

gelassen und so konnte er die Arme um die junge Frau schlingen. Sie selbst wickelte ihre<br />

Arme um Shawns Hals und Taille und hielt ihn so fest an sich gedrückt. Deutlich spürte sie,<br />

dass er sexuell nicht erregt war. Das war für die Psychologin weder eine Überraschung noch<br />

enttäuschend. Soweit war der Schauspieler noch lange nicht wieder. Er hatte noch kein Ver-<br />

langen nach Sex und Kelly störte dies nicht. Er sollte bestimmen, wann er soweit war. Lange<br />

lagen sie so und genossen es, den anderen zu spüren und zu liebkosen. Nach einer Weile<br />

seufzte Shawn leise und sagte:<br />

„Gott, ich bin so glücklich, ich habe Angst zu Platzen. Es ist wie ein Traum. Ein wunder-<br />

schöner Traum. Meine höchstpersönliche Dreamtime. Ich will nie mehr aufwachen!“<br />

Kelly strich ihm sanft eine Haarsträhne aus der Stirn und schnurrte: „Glaubst du, mir geht<br />

es anders? Ich war noch nie so glücklich wie gerade jetzt. Ich bin dafür, wir bleiben hier lie-<br />

gen, bis die Welt untergeht.“<br />

Shawn tat, als müsse er überlegen. „Wer bringt uns Essen?“<br />

669


Kelly stutzte kurz und fing an zu Lachen. „Himmel, du bist so verfressen.“<br />

55) Entführt<br />

Der Tod lächelt uns alle an, das einzige was man machen kann ist zurücklä-<br />

„Da wollen wir rauf.“<br />

cheln!<br />

Marcus Aurelius<br />

Nach einer ruhigen Nacht und einem reichhaltigen Frühstück, welches durch den Besuch<br />

einiger Kängurus eine drollige Unterbrechung erfahren hatte, waren Shawn und Kelly zu ihrer<br />

Cabin zurückgeschlendert und hatten sich ihre festen Wanderschuhe angezogen, die Rucksä-<br />

cke mit Wasserflaschen bestückt und die Sonnenhüte gegriffen. Shawn hatte sich auf Anraten<br />

Kellys noch eine zusätzliche Speicherkarte eingesteckt und sie hatten sich auf den Weg ge-<br />

macht. Die Psychologin marschierte in östlicher Richtung vom Campground und deutete auf<br />

einen dicht mit Regenwald bewachsenen Berg.<br />

„Dort oben ist Andrews Point. Man hat einen zauberhaften Ausblick. Der Wanderweg ist<br />

etwa 5 Kilometer lang und es gibt insgesamt sechs Lookouts, die sich alle lohnen. Teilweise<br />

geht es steil bergan, also hoffe ich, du bist fit.“<br />

„Absolut, Ma’am.“<br />

Sie machten sich auf den Weg. Kelly hatte nicht übertrieben, an einigen Stellen war es<br />

steil. An manchen Passagen waren kleine Stufen in den felsigen Untergrund geschlagen, Pfäh-<br />

le eingebohrt und mit Ketten zum Festhalten versehen worden, um ein Weiterkommen zu<br />

vereinfachen.<br />

„Man, ist das anstrengend.“, keuchte Shawn, als sie zum Durchatmen kurz anhielten.<br />

„Die Hitze macht es so schlimm.“ schnaufte Kelly und wischte sich den Schweiß von der<br />

Stirn. „Wir haben fünfunddreißig Grad und neunzig Prozent Luftfeuchtigkeit.“ Die Therapeu-<br />

tin fühlte sich klebrig und unwohl. Als sie Minuten später den ersten Blick nach unten er-<br />

haschten, wusste sie aber, dass sich der anstrengende Weg gelohnt hatte.<br />

„Ist das ein Ausblick. Es ist wunderschön!“ Shawn sah fasziniert auf das endlose blaue<br />

Wasser tief unter ihnen hinaus. „Und so eine klare Sicht. Was für ein Glück, dass sich die<br />

Regenwolken von gestern total verzogen haben.“<br />

Sie genossen den herrlichen Ausblick eine Weile, doch schließlich machten sie sich auf<br />

den Weg.<br />

670


„Es ist noch eine Strecke zu laufen und heute Nachmittag möchte ich dir noch eine andere,<br />

wunderschöne Ecke des Parks zeigen. Darum sollten wir weiter gehen.“ Kelly deutete auf ihre<br />

Armbanduhr. Schwitzend stiegen sie weiter bergan, bis sie den nächsten Aussichtspunkt er-<br />

reichten. Von hier konnte man einen weiten Blick nach Norden werfen. Der lange Sandstrand<br />

breitete sich vor ihnen aus. Shawn knipste eifrig und meinte:<br />

„Von hier oben sieht das Meer so friedlich aus, da denkt man nicht an Haie oder Würfel-<br />

quallen, die einem den Aufenthalt im Wasser versauen könnten.“<br />

„Da hast du Recht. Aber ich lasse mir das Baden so oder so nicht von den Tieren versau-<br />

en. Wenn man weiß, auf was man achten muss, und sich an Spielregeln hält, passiert einem<br />

auch nichts. Nur, wenn man sich leichtsinnig verhält, läuft man Gefahr, in selbige zu geraten.“<br />

Shawn verzog etwas skeptisch das Gesicht. „Na, ich weiß nicht, ob das so einfach ist.“,<br />

meinte er nachdenklich.<br />

„Doch, Babe, ist es. Wenn an einem Strand Warnschilder darauf hinweisen, dass man bei-<br />

spielsweise nicht zu ankernden Schiffen schwimmen soll, hat das einen Grund. Oder in Ge-<br />

bieten mit Robbenpopulationen. Dort sollte man Schwimmen vermeiden, weil angreifende<br />

Haie einen Schwimmer an der Wasseroberfläche von ihrem Sichtpunkt unter Wasser schlecht<br />

von einer Robbe unterscheiden können. Robben sind extrem schnelle Tiere und Haie sind<br />

gezwungen, blitzschnell zuzupacken. Wenn sie merken, igitt, das ist gar keine Robbe, ist es<br />

für einen Menschen meist zu spät. Weiße Haie sind imstande, mit einem einzigen Biss tödli-<br />

che Verletzungen zu verursachen, ebenso große Tiger- oder Bullenhaie. Tja, und wenn du erst<br />

einmal verblutend am Strand liegst, nützt dir die Einsicht, besser auf die Warnungen geachtet<br />

zu haben, nichts mehr.“<br />

Shawn stieß ein freudloses Lachen aus. „Du machst es mir so richtig schmackhaft, mit dir<br />

auf einen Haiausflug unter Wasser zu gehen, mein Engel.“<br />

„Ach, Honey, ich habe dir versprochen, dass ich jeden Hai, der dir in verfressener Absicht<br />

zu nahe kommt, zu Sushi verarbeiten würde.“<br />

Der Schauspieler lächelte verliebt. „Ja, weiß ich doch. Ich hege nur berechtigte Zweifel,<br />

ob du mit einem Tauchermesser einem Großen Weißen ausreden könntest, mich als Appetit-<br />

häppchen zu verspeisen.“<br />

Die Psychologin zog den jungen Mann an sich und schnurrte: „Ich werde nicht zulassen,<br />

dass ein Hai oder ein anderes lebendes Tier dich anknabbert, das schwöre ich dir. Das erledige<br />

ich und ich benötige keinerlei Hilfe.“<br />

Sie küssten sich leidenschaftlich und Shawn meinte atemlos: „Puh, nach diesem Kuss<br />

glaube ich dir alles!“<br />

Lachend machten sie, dass sie weiter kamen und standen endlich gegen 10.30 Uhr auf dem<br />

Gipfel, am Andrews Point Lookout. Noch einmal hatten sie einen spektakulären Blick über<br />

die Nordostküste des Capes.<br />

671


„Es hat sich gelohnt, hier hinaus zu turnen, es ist einmalig schön hier. Für den Ausblick<br />

nimmt man etwas Schwitzen gerne in Kauf.“<br />

Shawn lehnte am Absperrgitter und sah verträumt auf die unter ihnen liegende Bucht.<br />

„Haben wir nachher noch Zeit zu baden?“, fragte er und sah Kelly an.<br />

„Wenn du mal nicht mehr ans Baden denkst, muss ich anfangen, mir ernsthafte Sorgen zu<br />

machen, was?“, fragte die junge Frau kopfschüttelnd.<br />

„Was denn? Ich war eine Wassergeburt, bin also vorbelastet.“, erklärte Shawn todernst.<br />

Kelly sah misstrauisch auf. „Hm ... Notiz: Anna fragen, ob Shawn Wassergeburt war.“,<br />

sagte sie nachdenklich und Shawn lachte schallend los.<br />

Gut gelaunt machten sie sich auf dem Rundweg an den Abstieg. Hier war es nicht so steil,<br />

allerdings auch nicht annähernd so spektakulär. Die meiste Zeit ging es durch den Wald, freie<br />

Blicke über das Wasser kamen nicht mehr. Im Schatten unter den Bäumen stand die Luft und<br />

so schwitzten Kelly und Shawn nicht weniger als beim Aufstieg. Beide atmeten auf, als sie<br />

gegen Mittag wieder den Campingplatz erreichten. Ihre Wasserflaschen waren leer und sie<br />

selbst nass geschwitzt, als wären sie mit Kleidung baden gewesen. Schnell fielen sie aus ihren<br />

Sachen und verschwanden nacheinander unter der Dusche. Anschließend lagen sie, nur in<br />

Handtücher gewickelt, auf dem Bett, um sich zu akklimatisieren. Nach einer Weile fragte die<br />

Therapeutin:<br />

„Und, besser?“<br />

„Ja, meinetwegen können wir den Nachmittag einläuten.“<br />

Sie zogen sich frische Sachen an, nahmen neues Wasser aus dem Kühlschrank und verlie-<br />

ßen die Cabin erneut. Diesmal ging es zum Wagen. Kelly steuerte zum Ausgang und stoppte<br />

am Restaurant.<br />

„Oder hast du keinen Hunger?“, fragte sie grinsend.<br />

„Oh doch, und wie. Du hast mich immerhin zig Kilometer durch die Wildnis geschleift.“<br />

Gut gelaunt marschierten sie auf die Terrasse und setzten sich an einen freien Tisch.<br />

Schnell hatten sie sich etwas von der Speisekarte ausgesucht und kurze Zeit später lagen le-<br />

ckere Sandwiches vor ihnen. Sie ließen es sich schmecken und machten sich hinterher auf den<br />

Weg.<br />

„Wir müssen ein Stück fahren.“, erklärte Kelly dem Schauspieler.<br />

„Wohin wollen wir denn?“, fragte dieser neugierig.<br />

„Wirst du sehen.“<br />

Sie fuhr auf dem Zufahrtsweg zirka 2 Kilometer zurück und stellte den Geländewagen am<br />

Wegrand zwischen ein paar Büsche. „So, ab hier wird marschiert. Der Weg ist schmal, also<br />

672


achte darauf, wohin du trittst, okay. Wie überall im Busch gibt es auch hier Schlangen und<br />

Spinnen.“<br />

Shawn blies angespannt die Wangen auf und nickte. „Ich werde aufpassen, verlass dich<br />

drauf!“<br />

Die Sonnenhüte ließen sie im Wagen, sie brauchten sie unter den Bäumen nicht. Vorsich-<br />

tig drangen sie tiefer in den Regenwald ein. Einmal blieb Kelly stehen und deutete auf einen<br />

Ast kurz vor ihnen. Ein wunderschöner, leuchtend grüner Sittich mit gelbem Schnabel und<br />

roten Flügeln beobachtete sie misstrauisch.<br />

„Der ist wunderschön.“ Shawn riss den Fotoapparat in die Höhe und machte schnell Bilder<br />

von dem hübschen Vogel. „Was ist das?“, wollte er wissen. Kelly beobachtete den Sittich und<br />

erklärte:<br />

„Das ist ein Rotflügelsittich. Sie kommen in New Guinea und im nördlichen Australien<br />

vor. Sie leben in kleinen Familienverbänden oder als Paare. Brüten tun sie in Höhlen und er-<br />

nähren sich von Samen und Früchten.“<br />

„Alle Sittiche, die wir bisher gesehen haben, waren wunderschön. Worin unterscheiden<br />

sich eigentlich Sittiche und Papageien?“<br />

„Ach du meine Güte. Es ist so, dass man die Bezeichnung Papagei als Oberordnung an-<br />

sieht. Also, man unterscheidet nur die sogenannten Eigentlichen Papageien und die Kakadus.<br />

Kakadus unterscheiden sich von den Papageienvögeln durch die aufstellbare Haube. Zu den<br />

Eigentlichen Papageien zählen die Sittiche und die Loris. Alle Papageienarten haben eins ge-<br />

meinsam: Sie verfügen über die sogenannte Dyck-Struktur, das ist ein Element der Federäste<br />

und bewirkt, dass sich Sonnenlicht an den Federn bricht. Bei allen Papageien sind die Dau-<br />

nenfedern nur rudimentär vorhanden oder fehlen ganz. Loris sind eine Unterfamilie aus sich<br />

ausschließlich von Nektar ernährenden Eigentlichen Papageien. Und Sittiche sind in der Re-<br />

gel nur etwas kleiner als Papageien. Mehr unterscheidet diese Vögel nicht.“<br />

Shawn machte: „Hm.“ Er überlegte. „Gibt es in Australien denn Papageien?“<br />

„Du meinst sicher Aras oder Graupapageien, das sind die bekanntesten Papageienarten.<br />

Nein, Aras, egal welcher Art, leben in Süd- beziehungsweise Mittelamerika. Sie bilden noch<br />

eine eigene Unterfamilie mit zwölf Arten. Und der Graupapagei kommt aus Zentral- und<br />

Westafrika. Bei uns gibt es zahlreiche Kakadus, wie den Gelbhaubenkakadu, den wir gesehen<br />

haben, Inkakakadus, sie sind weiß mit rosa Kopf und Brust, haben eine orang-rot-gelbe Hau-<br />

be, oder den rosa Kakadu. Es gibt noch einige weitere, wie zum Beispiel den Helmkakadu,<br />

den ich besonders liebe. Er ist dunkelgrau und sieht dank einiger Farbschattierungen an den<br />

Federenden immer irgendwie zerrupft und zerzaust aus. Die Männchen haben eine entzü-<br />

ckende kleine rote Haube.“<br />

Shawn hatte aufmerksam zugehört. Wissensdurstig fragte er: „Und Loris? Haben wir da<br />

welche gesehen?“<br />

673


Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, aber wir werden sie noch sehen, sie kommen hier an den<br />

Küsten viel vor.“<br />

Sie gingen weiter und Kelly führte Shawn tiefer in das kleine Tal hinein. Um sie herum<br />

wucherte üppige Vegetation. Shawn erkannte Palmen, Farne, Eukalypten, irgendwelche<br />

Schlinggewächse, aber viele Pflanzen und Bäume, die er nicht unterbringen konnte. Unter<br />

dem Blätterdach war es warm und stickig.<br />

Nach einigen Minuten erreichten sie eine kleine, freie Lichtung und Kelly erklärte:<br />

„So, das ist Hidden Valley. Das wollte ich dir zeigen.“<br />

Shawn sah sich um. Die kleine Lichtung war kaum groß genug dass man über sich den<br />

Himmel hätte sehen können. Das Blätterdach der hohen Regenwaldbäume ließ so gut wie<br />

keine Lücke. Nur kleine Flecken Sonne auf dem sandigen Boden ließ das üppige Grün über<br />

ihnen zu. Um sie herum waren das leise Rascheln des Windes in den Pflanzen und leise Tier-<br />

laute zu hören. Von irgendwo her schallte das Lachen eines Kookaburra zu ihnen herüber. In<br />

einiger Entfernung hörte man das Geschrei einiger Kakadus. Im vermodernden Laub am Bo-<br />

den zwischen den Bäumen raschelte es hier und da leise. Shawn stand still da und zog Kelly<br />

an sich. Ruhig meinte er:<br />

„Wozu braucht man Kirchen wenn es doch Orte wie diesen gibt? An solchen Orten fühlt<br />

man sich auch ohne übermäßige Gläubigkeit Gott so nahe, wie es keine Kirche bewirken<br />

könnte.“<br />

Kelly konnte dem nur zustimmen. Sie hatte dieses Gefühl an vielen wunderschönen Stel-<br />

len gehabt. Nichts, was der Mensch erschuf konnte ersetzten, was die Natur hervor brachte.<br />

„Ja, du hast Recht. Ich hatte dieses Gefühl das erste Mal intensiv auf Fraser Island. Die Insel<br />

war damals, nach meiner Ankunft in Australien, mein erstes Ziel. Als ich dort in mitten des<br />

Regenwaldes stand, um mich herum Bäume von unglaublicher Höhe und Alter, kam ich mir<br />

vor wie in einer natürlichen Kathedrale. Es war so wunderschön. Und hier ist es ähnlich.“<br />

Shawn hatte still zugehört. Tief atmete er ein. „Wenn wir später zusammen sind möchte<br />

ich mit dir eine lange Reise durch den Rest Australiens machen. Ich möchte all die wunder-<br />

vollen Orte kennen lernen. Ich möchte sie meinen Eltern zeigen und ...“<br />

Kelly unterbrach Shawn. „Das werden wir machen, Baby. Doch bis es soweit ist, haben<br />

wir noch einen langen Weg vor uns. Und jetzt sollten wir zurück zum Wagen gehen. Es wird<br />

bald dunkel und ich würde gerne noch schnell ins Wasser hüpfen, bevor wir zum Essen ge-<br />

hen.“<br />

Sie machten sich auf den Rückweg zum Wagen. Kelly führte Shawn diesmal einen ande-<br />

ren Weg, der etwas weiter war und ein Stück am Wasser entlang führte. Es herrschte Ebbe<br />

und so war ein breiter Sandstreifen zu sehen, der sonst vom Wasser überspült war.<br />

„Hier ist ein ziemlich großer Tidenhub, was?“<br />

674


„Ja, an einigen Stellen sind es mehr als 10 Meter.“<br />

Sie gingen weiter und erreichten verschwitzt den Leihwagen. Erleichtert stiegen sie ein<br />

und Kelly startete den Motor, um die Klimaanlage in Gang zu bringen.<br />

„Im Outback war die Hitze leichter zu ertragen.“, schnaufte Shawn und wischte sich<br />

Schweiß von der Stirn. „Hier herrschen nicht annähernd die Temperaturen wie im Outback,<br />

aber die achtundzwanzig Grad hier fühlen sich deutlich wärmer an als die vierzig Grad dort.“<br />

Die Psychologin grinste. „Tja, die Luftfeuchtigkeit macht‘s. Dabei geht es heute. Es gibt<br />

Tage, da ist alles, was du anfasst, feucht. Im Januar und Februar ist es am Schlimmsten. Da<br />

wird es selbst in Sydney, wo eher trockne Wärme herrscht, unerträglich schwül.“ Sie lenkte<br />

den Wagen langsam auf die Zufahrtstraße zurück und keine zwanzig Minuten später hatten sie<br />

ihre Unterkunft erreicht. Schnell eilten sie an den Strand hinunter und entledigten sich ihrer<br />

Shorts und T-Shirts. Sie rannten über den freiliegenden Sand bis zum Wassersaum und weiter,<br />

bis das Wasser endlich tief genug war. Eine Weile alberten sie herum, bis es begann, dunkel<br />

zu werden.<br />

Kurze Zeit später verschwanden Shawn und Kelly nacheinander unter der Dusche. Als sie<br />

sich anschließend auf den Weg zum Restaurant machten, natürlich am Strand entlang, fragte<br />

Shawn:<br />

„Wann geht es denn los zum Riff?“<br />

„Oh, früh, um 8 Uhr. Wir fahren morgen in aller Ruhe nach Shute Harbour, suchen uns ein<br />

Motel und sehen uns den Ort an. Er ist winzig, es sollte kein Problem sein, ihn anzuschauen.<br />

Anschließend können wir einen ruhigen Nachmittag am Strand einlegen, wenn du magst.<br />

Übermorgen geht es los.“<br />

Arm in Arm schlenderten die Beiden am Strand entlang, an dem an diesem Abend leider<br />

keine Kängurus zu sehen waren.<br />

„Strand hört sich gut an, wenn man dort Baden kann.“, grinste der Schauspieler.<br />

„Ja, du Wasserratte, das kannst du. Und am Riff kannst du im Wasser spielen bist du<br />

Schwimmhäute zwischen den Fingern hast.“<br />

Sie wandten sich dem dunkel daliegenden Wald zu und kämpften sich abermals durch das<br />

dichte Gestrüpp zum Weg zurück. Beim Abendessen bekamen sie Besuch, diesmal war es ein<br />

männliches Possum, das sich sein Abendbrot an den Tischen der Gäste abholte. So zutraulich<br />

wie am Abend zuvor das Muttertier, marschierte der kleine Geselle von Tisch zu Tisch, ließ<br />

sich streicheln und mit Obst füttern.<br />

„Ich glaube, später halte ich mir davon ein Pärchen. Die sind zu niedlich. Werden die<br />

schnell so zutraulich?“<br />

Kelly hatte Shawn erneut verliebt beobachtet, wie er sich mit dem kleinen Tierchen be-<br />

schäftigte.<br />

675


„Ja, die werden schnell handzahm. Und hier werden sie schon länger gefüttert, so haben<br />

sie ihre Scheu vor den Menschen verloren. Die Kängurus sind ja auch zutraulich. Sie sind es<br />

ebenfalls gewöhnt, gefüttert zu werden. Hier leben sie in einem Paradies für Tiere. Niemand<br />

tut ihnen was, sie bekommen Futter und können sich frei bewegen.“<br />

Als sie später bezahlt hatten und sich auf den Rückweg zu ihrer Unterkunft machten fragte<br />

Shawn: „Du sagtest gestern, die Mama und ihr Baby wären ...“ Er stockte. Kelly half ihm auf<br />

die Sprünge.<br />

„Kusus. Genauer, Fuchskusus.“<br />

„Ja. Eine Possumart. Gibt es davon denn noch mehr Arten?“<br />

„Es gibt, soweit bekannt, neun verschiedene Possumgattungen. Die Kusus sind die am<br />

häufigsten in Erscheinung tretenden Beutelsäuger. Daneben gibt es noch die Bilchbeutler,<br />

Ringbeutler, Felsen-Ringbeutler, Riesengleitbeutler, Gleithörnchenbeutler, Streifenbeutler,<br />

Honigbeutler und Fledermausschwanzbeutler. Sie alle werden im englischsprachigen Raum<br />

zu den Possums gezählt.“<br />

„Die haben aber nichts mit den Opossums zu tun, oder?“ Kelly schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, Opossums sind eine Gattung von Beutelratten. Im englischen Sprachgebrauch wer-<br />

den alle Beutelratten, egal, welcher Art, und noch einige andere Tierarten als Opossum be-<br />

zeichnet. Der Name Opossum stammt ursprünglich aus der Sprache der Algonkin-Indianer.<br />

Die Beutelratten haben mit unseren einheimischen Beutelsäugern absolut nichts gemein.“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Es kommt der Tag, da werde ich mir eine Grube schaufeln<br />

und hinein verschwinden. Gibt es etwas, was du nicht weißt?“<br />

Kelly lachte verschämt. „Ach, Honey, mach dir doch darum keinen Kopf. Tiere sind mein<br />

absolutes Steckenpferd. Ich liebe sie und interessiere mich brennend für alles, was Tiere be-<br />

trifft. In meinem Haus in Sydney habe ich eine riesige Sammlung von Tiervideos, DVDs und<br />

Büchern, du wirst es irgendwann sehen. Alles, was es von Steven Irwin, Rob Bredl, Hans<br />

Hass, Heinz Sielmann, Jacques Cousteau, David Attenborough, Ivo Nörenberg 24 und wie sie<br />

alle heißen gibt, wirst du bei mir in den Regalen finden. Und du weißt, was ich einmal gelesen<br />

oder gehört habe, kann ich mir merken. Und meine Tierdokus, Filme und Bücher habe ich alle<br />

mehr als nur einmal gesehen und gelesen.“<br />

Shawn seufzte. „Ich wünschte nur, ich hätte dein Gedächtnis. Ich hätte keinerlei Probleme<br />

mehr mit Drehbüchern.“<br />

Sie erreichten ihre Unterkunft und Kelly verschwand ins Bad, um sich nachtfertig zu ma-<br />

chen. Als sie zurück in das Schlafzimmer kam, hatte Shawn sich bis auf die Boxershorts aus-<br />

gezogen. Er nahm grinsend seinen Latschen in die Hand und schlich vorsichtig Richtung Ba-<br />

dezimmertür. Kelly lachte.<br />

24 Bekannte Tierfilmer<br />

676


„Willst du nicht lieber eine geladene 45ger mitnehmen?“<br />

Shawn warf ihr einen strafenden Blick zu. „Läster du nur, du Schandmaul. Ich bin gegen<br />

Monsterkakerlaken gewappnet.“ Er verschwand im Bad und Kelly lauschte, doch es blieb<br />

alles ruhig. Nach einigen Minuten kam der junge Mann zurück in den Schlafraum und strahl-<br />

te. „Keine Angriffe heute Abend.“ Er schielte zu Kelly hinüber, die es sich auf dem Bett ge-<br />

mütlich gemacht hatte. Langsam kam er näher. Die Therapeutin warf ihm einen strengen<br />

Blick zu.<br />

„Wehe!“<br />

Shawn lachte. „Nein, keine Bange, ich werde friedlich ins Bett steigen. Heute wurde mein<br />

Adrenalin nicht von wilden Tieren durch meinen Körper gejagt.“ Er setzte sich tatsächlich<br />

friedlich auf das Bett und machte sich neben Kelly lang. Diese seufzte.<br />

„Es tut mir leid, aber dann werde ich dafür sorgen müssen, dass dein Körper Adrenalin<br />

ausstößt. Komm zu mir, okay?“<br />

Shawn pochte das Herz von einer Sekunde auf die nächste im Halse. „Was?“, fragte er<br />

nervös und kuschelte sich an die junge Frau.<br />

„Du hast gesagt, es wurden öfter bizarre Rollenspiele gemacht. Ich möchte, dass du mir<br />

von einem dieser Spiele erzählst.“<br />

...“<br />

Der junge Schauspieler seufzte. „Oh ... Ich weiß nicht Recht ... Da war diese Entführung<br />

*****<br />

Carrie brachte ihn in sein Schlafzimmer. „Du warst gut heute. Es hat viel Spaß gemacht.<br />

Zur Belohnung darfst du ohne Fesseln schlafen, was hältst du davon?“<br />

Erstaunt über Carries Großzügigkeit beeilte Shawn sich, zu erwidern: „Das wäre schön,<br />

danke.“<br />

Carrie nickte gönnerhaft und befreite ihn sowohl von den Handgelenk- als auch den Fuß-<br />

gelenkmanschetten. „Na, dann schlaf gut.“ Carrie drehte sich herum und grinste gemein, was<br />

Shawn nicht sehen konnte. „Gute Nacht.“ Sie verließ das Zimmer und ließ einen verblüfften<br />

Shawn zurück. Das war absolut neu für den jungen Mann. Doch er war viel zu erschöpft, um<br />

sich groß Gedanken darüber zu machen. Er verschwand noch einmal ins Bad, putzte sich<br />

gründlich die Zähne und kehrte übermüdet zum Bett zurück. Er legte sich hinein, deckte sich<br />

zu und rollte sich auf die Seite. Fast unmittelbar schlief er ein.<br />

Shawn wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Er erwachte davon, wie ihm etwas zwi-<br />

schen die Zähne gedrückt wurde. Gleichzeitig spürte er, wie jemand ihm ein Tuch über die<br />

Augen legte. Eine Stimme zischte:<br />

„Einen Ton und du wirst es bitter bereuen!“<br />

677


Brutal wurde er auf den Bauch gerollt und seine Arme wurden auf den Rücken gedrückt.<br />

Er spürte kaltes Metall an den Handgelenken und wusste aus seinen Filmrollen, dass es sich<br />

um Handschellen handelte. Als diese seine Hände auf den Rücken fesselten zischte die Stim-<br />

me:<br />

„Los, hoch mit dir.“<br />

Gleichzeitig wurde er in die Höhe gezerrt. Shawns Herz raste. Was sollte das? Er hatte<br />

Angst. Bei diesen Irren konnte man nie wissen, was sie sich hatten einfallen lassen. Shawn<br />

wurde erbarmungslos fort geschleift. Er spürte, dass es nach draußen ging, durch seine Ter-<br />

rassentür hindurch in den Garten und weiter, bis er weichen Sand unter seinen Füßen spürte.<br />

Er war sich sicher, dass Alan und Teresa seine Entführer waren. Zwar hatte er die Stimme,<br />

die ihn angezischt hatte, nicht klar erkennen können, doch die festen Griffe um seine Oberar-<br />

me ließen keinen anderen Schluss zu. Terry und Alan waren kräftig, kräftiger als die anderen.<br />

Shawns Herz schlug schmerzhaft gegen seine Rippen. Er hatte keine Ahnung, auf was das<br />

hinauslaufen würde. Wo brachten sie ihn hin? Es ging eine Weile am Strand entlang, das<br />

konnte er unter den nackten Sohlen spüren. Die Klippen, in denen Carries Höhle lag, waren<br />

am äußersten Ende der kleinen Insel, daher war Shawn fast sicher, dass er dort hin ge-<br />

schleppt wurde.<br />

Nach einer Weile hielten sie an. Kurz wurde verschnauft, dann stießen sie Shawn vorwärts<br />

und er merkte, dass es ins Wasser hinein ging. Verkrampft tastete er sich vorwärts. Das Was-<br />

ser reichte ihm bis zu den Knien. Er wurde angehalten und rückwärts gestoßen. Er prallte mit<br />

dem Rücken gegen etwas Hartes und spürte, dass es sich um Stein handelte. Zitternd vor<br />

Angst fühlte er als nächstes, wie sich Hände an seinen Fußgelenken zu schaffen machten. Et-<br />

was wurde um diese herum gelegt. Er versuchte, einen Fuß zu heben, doch das ging nicht.<br />

Man hatte ihn am Boden im Wasser befestigt. Er wurde gedreht und jemand machte sich an<br />

den Handschellen zu schaffen. Seine Hände wurden von den Fesseln befreit, nur, um sofort<br />

über seinen Kopf gedrückt und dort an der Felswand in seinem Rücken fixiert zu werden. Er<br />

stand hilflos bis zu den Knien im Wasser an die Klippe gefesselt da. Hände kontrollierten<br />

noch einmal den Sitz der Augenbinde und des Knebels in seinem Mund. Dann entfernten sich<br />

Schritte und Shawn wusste, er war allein.<br />

*****<br />

Carrie war aufgeregt. Jeden Moment mussten die Mitspieler eintreffen. Sie hatte dieses<br />

Spiel lange vorbereitet. Die Psychopathin wusste, dass sie sich auf die Mitspieler hundertpro-<br />

zentig verlassen konnte. Brett war unterwegs sie abzuholen und brachte sie mit einem Motor-<br />

boot mit verbundenen Augen hier zur Insel. Sie konnte es nicht erwarten, bis das Spiel begin-<br />

nen würde. Endlich hörte sie Stimmen und Schritte vom Anleger kommen. Freudig eilte Car-<br />

rie den Gästen und Brett entgegen.<br />

678


„Da seid ihr endlich. Kommt rein, macht es euch gemütlich.“<br />

Vier Männer und zwei Frauen waren es, die zusammen mit Brett auf die große Terrasse<br />

traten. Sie begrüßten Carrie erfreut. Karen kam aus dem Haus und Minuten später stießen<br />

Teresa und Alan dazu. Man setzte sich im Licht von Kerzen und Lichterketten an den großen<br />

Terrassentisch. Schnell stand Champagner bereit und es gab einen kleinen Snack. Nach eini-<br />

gen Gläsern guten Champagners kam Carrie geschäftsmäßig zum Thema.<br />

„Also hört zu. Terry und Alan haben das Zielobjekt fort geschafft und gut versteckt. Eure<br />

Aufgabe ist es, es aufzuspüren. Ihr wisst, um was es geht. Sollte es euch nicht innerhalb einer<br />

Stunde gelingen, wird das Zielobjekt sterben und einer von euch wird seinen Platz einneh-<br />

men.“ <br />

bei?“<br />

Die Gäste nickten. „Ja, uns sind die Regeln bekannt. Wenn wir es schaffen, bleibt es da-<br />

„Selbstverständlich. Wenn ihr es rechtzeitig schafft, wird der Sklave jedem von euch zur<br />

Verfügung stehen. Als besonderer Leckerbissen wird es am Abend ein großes Dinner geben,<br />

bei dem der Sklave bedienen und eure Wünsche erfüllen wird.“<br />

Allgemeines Klatschen brach nach diesen Worten los. Carrie grinste.<br />

„So, damit ist alles geklärt. Ihr werdet euch in ...“ Sie warf einen Blick auf ihre teure<br />

Armbanduhr. „... dreißig Minuten auf den Weg machen. Ab da habt ihr eine Stunde Zeit. Wir<br />

werden hier auf euch warten. Und vergesst nicht, eure Taschenlampen mitzunehmen und die<br />

Masken aufzusetzen. Ihr solltet ... sagen wir mal, verschiedenes Equipment bei euch haben,<br />

man weiß nie, was man so brauchen kann.“<br />

*****<br />

Shawn hing schlotternd vor Angst und Kälte in seinen Fesseln. Er konnte schätzen, wie<br />

lange er hier stand, denn das Wasser, das langsam an ihm in die Höhe stieg, verriet ihm, wie<br />

viel Zeit verging. Es reichte ihm nun bis zur Brust und dem Gefangenen war überdeutlich<br />

klar, dass er weniger als eine Stunde hatte, bevor das Wasser seinen Kopf überspülen würde.<br />

Er war an die Felswand gefesselt der steigenden Flut hilflos ausgeliefert. Um Hilfe konnte er<br />

nicht schreien wegen des Knebels. Befreien konnte er sich ebenfalls nicht allein. Er war ein-<br />

mal mehr auf Gedeih und Verderb der Gnade seiner Entführer ausgeliefert. Er vermutete,<br />

wahrscheinlich nicht zu Unrecht, dass es sich wieder einmal um ein perfides Spiel Carries<br />

handelte. Da er nie sicher sein konnte, für seine Folterknechte noch wertvoll zu sein, konnte<br />

er nicht darauf vertrauen, befreit zu werden. So baute sich mit steigendem Wasserstand mehr<br />

und mehr Angst in ihm auf. Als die ersten kleinen Wellen gegen sein Kinn zu stoßen began-<br />

nen, geriet er endgültig in Panik. Hysterisch zerrte er an den Fesseln, die ihn hielten. Doch<br />

ebenso gut hätte er versuchen können, die Felswand zu verschieben. Todesangst überflutete<br />

ihn schneller als das steigende Wasser. Tränen stürzten unter der Augenbinde hervor über<br />

sein blasses Gesicht und leises Wimmern drang durch den Knebel. Das Wasser erreichte sei-<br />

679


ne Lippen. Shawn war überzeugt, hier und jetzt qualvoll zu sterben. Verzweifelt versuchte er,<br />

den Kopf so weit wie möglich zu strecken, aber er wusste, das war nur noch ein kurzes Hin-<br />

auszögern des Unvermeidlichen.<br />

*****<br />

„Wir sollten ernst nehmen was Carrie gesagt hat.“ Einer der Männer führte die anderen<br />

in den großen Gartenschuppen.<br />

„Lasst uns mal überlegen, welche Möglichkeiten es hier gibt. Soweit ich weiß gibt es einen<br />

kleinen Wald und am östlichen Ende einige Klippen. Ich denke, wir sollten ... etwas zum Gra-<br />

ben, Messer, so was wie einen Seitenschneider ... Fällt noch jemandem was ein oder bin ich<br />

hier der einzige, der nachdenkt?“ Er sah seine Mitstreiter ärgerlich an.<br />

„Ja, mir fällt noch etwas ein. Das ist eine Insel, wir sollten die Möglichkeit in Erwägung<br />

ziehen, dass das Versteck im Wasser liegt. Also Flossen und Schnorchel?“<br />

Zustimmend nickten die anderen.<br />

„Das ist eine ausgezeichnete Idee. Gut, lasst uns sehen, was wir finden und dann können<br />

wir los.“<br />

Sie suchten sich im Geräteschuppen zusammen, was sie vermeintlich benötigen könnten<br />

und sahen anschließend auf ihre Uhren.<br />

„Okay, es ist so weit. Auf geht’s. Und haltet die Augen auf, achtet auf alles.“ Sie machten<br />

sich auf den Weg.<br />

Zuerst durchsuchten sie gründlich den kleinen Wald, leuchteten mit ihren Taschenlampen<br />

sogar die Bäume hinauf.<br />

„Ich traue Carrie so ziemlich alles zu.“, grinste einer der Männer.<br />

Sie streiften in kurzem Abstand zu einander durch den Wald und achteten auf alles Auffäl-<br />

lige. Stellen am Boden, die möglicherweise darauf hindeuteten dass dort kürzlich gegraben<br />

worden war, Spuren, alles, was nicht so aussah wie es sein sollte. Doch nach einer halben<br />

Stunde mussten die Suchenden einsehen, dass hier im Wald nichts zu holen war.<br />

„Uns wird die Zeit knapp. Ich schlage vor, wir teilen uns auf und untersuchen den Strand.<br />

Wir beginnen am Steg und arbeiten uns bis zu den Felsen vor. Ihr drei nehmt die nördliche<br />

Seite, wir die südliche. Und beeilt euch gefälligst.“<br />

Im Laufschritt eilten sie zum Bootsanleger und begannen von dort ihre Suche entlang des<br />

Strandes. Schnell brannte ihnen die Zeit unter den Nägeln und die vier Männer bekamen<br />

langsam ein mulmiges Gefühl. Ihnen war klar, dass keine der Frauen als Sklave behalten<br />

werden würde. Carries sadistischen Gelüste würden einen der Männer treffen.<br />

„Verdammt noch mal, uns läuft die Zeit weg. Ich habe keine Lust, hier als Sklave zu En-<br />

den, also strengt euch gefälligst an.“, schnauzte einer der Männer entnervt.<br />

680


Minuten später hatten die beiden Gruppen die Felsen erreicht. So schnell wie möglich<br />

suchten sie die Höhle, von der sie gehört hatten und als sie sie gefunden hatten, war diese in<br />

kürzester Zeit gründlich durchsucht. Eine Möglichkeit auf die Klippe hinauf zu kommen gab<br />

es nicht, das war schnell klar. Ratlos standen die sechs Sucher am Strand und sahen gedan-<br />

kenverloren auf das Wasser hinaus. Blitzartig ging einer der Frauen ein Licht auf!<br />

„Dort vorne, da kann man im Wasser an den Klippen entlang gehen. Was, wenn sie ihn<br />

dort an den Felsen gefesselt haben?“<br />

„Das ist eine hervorragende Idee. Das würde das enge Zeitfenster erklären. Das Wasser<br />

läuft auf. Wir müssten bald Hochwasser haben! Los, rein ins Wasser.“<br />

*****<br />

Die ersten Wellen schlugen Shawn über das Gesicht. In seiner Panik riss und zerrte er<br />

verzweifelt an den Fesseln, in der irren Hoffnung, sich doch befreien zu können. Sein Herz<br />

war zu einem kleinen Klumpen zusammen gepresst, der in seiner Brust schmerzhaft schnell<br />

vor sich hin polterte. Er wollte hier nicht auf diese Weise sterben. Wieder schlug ihm Wasser<br />

über das tränenüberströmte Gesicht. Hilflos versuchte er, den Kopf noch mehr zu heben, doch<br />

das Limit war erreicht. Hätte man seinen Herzschlag laut hörbar machen können, das Dröh-<br />

nen hätte die Klippen zum Einsturz gebracht. Ihm blieben nur noch wenige Augenblicke bevor<br />

er qualvoll Ertrinken würde. Seine Lungen schrien nach Luft. Plötzlich hörte er Stimmen, die<br />

sich ihm näherten. Hysterisch versuchte er, sich bemerkbar zu machen. Eine männliche Stim-<br />

me rief:<br />

„Hey! Da ist er. Schnell, der säuft gleicht ab.“<br />

Menschen waren um ihn und im nächsten Moment hatte das Wasser endgültig sein Ge-<br />

sicht überspült. Shawn spürte in wilder Panik, wie ihm der Knebel aus dem Mund gefummelt<br />

wurde. Vor seinen Augen tanzten rote Kreise. Der Sauerstoffmangel wurde immer quälender<br />

und der Schauspieler wusste, es würde nur noch Sekunden dauern, bis er atmen würde, atmen<br />

müsste. Ihm war klar, dass dies das Ende bedeutet hätte. Und dann drückte jemand ihm das<br />

Mundstück eines Schnorchels zwischen die Zähne. Krampfhaft saugte er Luft in seine malträ-<br />

tierten Lungen. Er konnte atmen. Er spürte unendlich dankbar, dass sich zugleich an seinen<br />

Hand- und Fußfesseln zu schaffen gemacht wurde. Halb besinnungslos bekam er wie durch<br />

Watte mit, dass er festgehalten und durchs Wasser gezogen wurde. Seine Zähne hatten sich so<br />

fest um das Mundstück des Schnorchels gepresst das es im Kiefer schmerzte. Das nächste,<br />

was er spürte war, dass er lag. Jemand versuchte, ihm das Mundstück zu entfernen. Panisch<br />

schlug er um sich. Daraufhin wurden seine Arme gepackt und fest gehalten. Jemand sagte:<br />

„Beruhige dich. Du bist in Sicherheit. Hör auf, so rum zu zappeln.“<br />

Doch es dauerte noch einige Minuten, bis der junge Mann realisierte, dass er nicht mehr<br />

im Wasser gefesselt zu ertrinken drohte.<br />

681


*****<br />

Erschöpft schwieg Shawn. Während er leise erzählt hatte meinte er, das Wasser spüren zu<br />

können, als es langsam, aber unaufhaltsam an seinem Körper empor gestiegen war. Eigenarti-<br />

gerweise war der junge Schauspieler erstaunlich gefasst, während er diese Episode seiner Ge-<br />

fangenschaft erzählte. Ein Indiz, dass Kelly, die nicht annähernd so gefasst war, klar machte,<br />

dass die unmittelbare Bedrohung seines Lebens nicht so verheerende Auswirkungen auf<br />

Shawn gehabt hatte wie die permanente Angst vor Schmerzen und Misshandlungen. Eine<br />

Weile herrschte Schweigen. Die Therapeutin brauchte diese Zeit dringend, um sich halbwegs<br />

zu Fangen. Leise schnaufte Shawn schließlich:<br />

„Ich hatte Todesangst, als das Wasser langsam, aber unaufhaltsam mein Kinn erreichte.<br />

Ich konnte nicht sicher sein, was Carrie vorhatte. Als ... als es mein Gesicht überspülte ... Tief<br />

in mir kam der Gedanke hoch: Hey, jetzt hast du es hinter dir. Gleichzeitig schrie alles in mir<br />

danach, weiter zu Leben. Wie ich an den Strand kam habe ich gar nicht richtig mit bekom-<br />

men. Ich habe erst richtig was gemerkt, als ich am Strand lag und diese sechs maskierten Ty-<br />

pen um mich herum standen. Mein erster Gedanke war, dass ich gerettet war, da waren Men-<br />

schen, die mir helfen würden. Doch schnell war mir klar, dass Retter wohl kaum maskiert<br />

auftreten würden. So konnte das Auftauchen dieser Typen nichts Gutes für mich bedeuten.“<br />

Kelly hatte still zugehört. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle und konnte Antworten, oh-<br />

ne dass ihre Stimme zitterte.<br />

„Mein Gott, was haben die sich nur alles einfallen lassen. Es muss schrecklich gewesen<br />

sein ... Gott, Baby, ich weiß manchmal nicht mehr, was ich sagen soll. Carrie ist der Inbegriff<br />

einer sadistischen Psychopathin! Sie hat keinerlei Empathie, kein Gewissen und ihr Verhalten<br />

ist absolut antisozial. Wenn sie endlich erwischt wird werden sich die Psychologen darum<br />

reißen, sie zu sehen und mit ihr zu sprechen. Ich selbst würde mich der Dame auch gerne vor-<br />

stellen. Wenn es dazu kommen würde ist allerdings nicht mehr gewährleistet, dass sie nach<br />

mir noch anderen Besuch empfangen kann. Ich hoffe für mich, dass sie mir nur im Gefängnis<br />

über den Weg laufen wird. Sonst kann ich für gar nichts mehr garantieren.“ Die junge Frau<br />

schüttelte es. Wie sehr sie Carrie hasste. Shawn taten die leidenschaftlichen Worte der Thera-<br />

peutin unendlich gut. Dass es jemanden gab, der bereit war, Carrie zu töten um ihn zu schüt-<br />

zen half dem Schauspieler ungemein. Er wusste, Kelly meinte was sie sagte. Obwohl ihn die<br />

Erinnerungen an diese grausame Nacht aufgewühlt hatten, empfand er Glück. Er kuschelte<br />

sich unter der Zudecke eng an den Körper der Psychologin und fragte müde:<br />

„Können wir morgen weiter machen? Ich bin total platt. Es ist erstaunlich, wie mich die<br />

Erinnerungen noch beeinträchtigen. Ich dachte, ich hätte das Schlimmste hinter mir. Aber jede<br />

neue Erinnerung an bestimmte Sachen reißt mich heftig runter.“ Frustriert schwieg er. Kelly<br />

beugte sich vor und gab dem jungen Mann einen liebevollen Kuss.<br />

682


„Das ist normal, Shawn. Das alles waren extreme traumatische Erlebnisse. Jeder wäre von<br />

den Erinnerungen daran stark betroffen. Vergiss das alles für den Moment, wir werden mor-<br />

gen weiter darüber sprechen. Lass uns erst einmal schlafen.“<br />

*****<br />

56) Die Besucher<br />

Hass ist eine zu große Last, als dass man sie tragen könnte.<br />

Martin Luther King<br />

Am kommenden Morgen brachen Shawn und Kelly nach dem Frühstück auf. Da es an der<br />

Küste entlang keine Verbindungsstraße gab, mussten sie zum Bruce Highway zurück und von<br />

dort nach Norden bis Proserpine. In der Ortschaft bog die Therapeutin auf die Proserpine Shu-<br />

te Harbour Road ab. Auf dieser gelangten sie zügig in den Küstenbadeort Airlie Beach. Kelly<br />

fuhr bis ans Wasser und suchte einen Parkplatz. Schnell hatten sie einen gefunden und mach-<br />

ten sich zu Fuß auf, den Ort anzusehen. Wie viele Küstenbadeorte in Nordqueensland hatte<br />

auch Airlie Beach dem in den Wintermonaten vermehrten Auftreten der Würfelquallen 25 Tri-<br />

but gezollt. Damit die Touristen ungefährdet baden konnten, war eine künstliche Lagune ge-<br />

baut worden. Sie war wunderschön angelegt und groß genug, den Besuchern ausreichend Ba-<br />

demöglichkeiten zu bieten. Shawn musste hier natürlich ebenfalls ins Wasser. Nachdem sie<br />

sich erfrischt hatten, machten sie einen kleinen Rundgang durch den Ort. Sie gönnten sich in<br />

einem Strandcafé einen Latte Macchiato und waren gegen 12 Uhr am Wagen zurück.<br />

„So, nehmen wir mal unser letztes Ziel hier in Queensland in Angriff. Nach Shute Harbour<br />

sind es etwa 13 Kilometer. Das haben wir bald geschafft. Viel zu sehen gibt es dort nicht. Wir<br />

könnten uns den Nachmittag gemütlich an den Pool setzen, oder wir suchen uns ein ruhiges<br />

Fleckchen am Strand. Die Strände von Shute Harbour sind nicht aus Sand, sondern aus zer-<br />

riebenen Korallen, nicht sonderlich gemütlich.“<br />

Shawn zuckte die Schultern. „Strand hört sich trotzdem besser an. Da wird nicht so viel<br />

los sein, wenn der Sand kein Sand ist, oder?“<br />

„Stimmt. Na, wir werden sehen. Lass uns erst einmal da sein und ein Zimmer für zwei<br />

Nächte bekommen.“<br />

25 Würfelquallen bilden eine Gattung der Nesseltiere mit etwa 50 Arten. Sie kommen weltweit meist in tropischen und subtropischen<br />

Meeren vor. Zu ihnen gehören die am meisten gefürchteten Quallenarten, darunter die Seewespen, deren Gift einen Menschen unter Umständen<br />

innerhalb von wenigen Minuten töten kann. Durch die Anordnung der Nesselzellen an den Tentakeln brennen sich charakteristische<br />

Strickleitermuster in die Haut von Opfern. Das Gift selbst wirkt hauptsächlich auf die Nerven und führt zu Lähmungen der Skelett- und<br />

Herzmuskulatur und der Atmung.<br />

683


Kelly fuhr in östlicher Richtung auf der Ortschaft hinaus und folgte der einzigen Straße.<br />

So gelangten sie zwanzig Minuten später in der winzigen Ortschaft Shute Harbour an. Einmal<br />

stoppte Kelly, damit Shawn einen Blick über die wunderschöne Shute Bay mit ihren vorgela-<br />

gerten Inseln werfen konnte. Hunderte von Sportbooten dümpelten in dem ruhigen Wasser der<br />

Bucht. Die Bucht war ungefähr 1,5 Kilometer breit. An der gegenüber liegenden Uferseite<br />

schimmerte das Wasser tiefblau, während es auf ihrer Seite in einem herrlichen Türkis<br />

schimmerte. Von ihrem Standpunkt ausgesehen wirkten die drei kleinen Inseln in der Bucht<br />

wie eine einzige.<br />

„Das ist paradiesisch!“ Shawn machte Fotos und schüttelte fasziniert den Kopf. „Wie soll<br />

ich nur wieder in Kalifornien oder Florida leben, ohne dies alles?“<br />

„Ich bin überzeugt, auch da gibt es wunderschöne Flecken Erde.“ Sie fuhr weiter und der<br />

Schauspieler sah begeistert aus dem Fenster.<br />

„Sieh dir das nur an. Das Wort Paradies muss in Australien erfunden worden sein. Was<br />

sind das dort drüben auf der anderen Seite der Bucht für Berge?“<br />

„Rechts, das ist The Hump. Daneben ist Mount MacLear und am Ende ist Mount Sunter.<br />

Sie gehören alle zum Gebiet des Cape Conway Nationalparks.“<br />

„Es gibt so viele Nationalparks hier, da könnte man sein Leben mit verbringen, von einem<br />

zum andern zu fahren und sich alles anzusehen.“<br />

Vor ihnen tauchten einige Gebäude und ein riesiger Parkplatz auf. Viele Autos parkten<br />

hier, aber Menschen waren kaum zu sehen. Im Hintergrund waren große Bootsanlegestege zu<br />

erkennen.<br />

„Das sind die Anleger für die Ausflugsboote zum Riff. Die sind fast alle los, darum sind<br />

hier keine Leute zu sehen.“<br />

Tatsächlich lag nur noch ein großer Motorkatamaran an einem der Anleger.<br />

„Von hier geht es morgen früh los?“, wollte der Schauspieler wissen. Kelly nickte.<br />

„Ja, hier werden wir den Ausflug zum Riff starten.“ Sie steuerte den Wagen weiter. Die<br />

Straße verlief oberhalb der Bucht und so hatte man weiterhin einen fantastischen Ausblick.<br />

Fast am Ende der Landzunge wurden vor ihnen einige kleine Wohnhäuser sichtbar. Inmitten<br />

einer wunderschönen Landschaft, umgeben von Gärten mit tropischen Pflanzen, lagen die<br />

Häuser auf einem lang gezogenen Hügel und man konnte von jedem einzelnen Haus in die<br />

eine oder andere Richtung über das Meer schauen. Am Ende der Landzunge vor einem Motel<br />

stand ein großes Schild: Coral Point Lodge. Kelly fuhr die Zufahrt hinauf und erklärte unver-<br />

fänglich:<br />

„Warte doch hier, genieße den Ausblick, okay. Ich besorge uns ein Zimmer für zwei<br />

Nächte.“ Sie hätte gar nichts sagen brauchen, Shawn wäre um nichts in der Welt mit in die<br />

684


Rezeption gekommen. Er stand in der Sonne und genoss den herrlichen Blick, der sich ihm<br />

bot.<br />

Kelly eilte in die Rezeption und fand dort eine gelangweilt wirkende junge Frau hinter<br />

dem Anmeldungstresen vor.<br />

„Tag. Was kann ich für dich tun?“, fragte diese. Sie sah dabei nicht Kelly an sondern beo-<br />

bachtete durch die große Fensterscheibe Shawn, der draußen in der Sonne stand und über die<br />

Bucht schaute. Kelly lächelte.<br />

„Wir brauchen ein Zimmer für drei Nächte. Wir werden allerdings von morgen auf über-<br />

morgen draußen am Riff übernachten.“<br />

„Wir haben noch drei Zimmer frei. Wollt ihr nach Norden oder nach Süden gucken?“<br />

Kelly zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe und erwiderte lächelnd: „Nach Nor-<br />

den, denke ich.“<br />

te:<br />

Noch immer leicht gelangweilt drehte die junge Frau das Anmeldebuch herum und erklär-<br />

„Namen und Autokennzeichen, okay.“<br />

Kelly trug ihre Namen in die vorgesehene Spalte und schrieb das Autokennzeichen in die<br />

zweite Spalte. OCB 865. Sie bezahlte und bekam den Schlüssel für ihr Zimmer in die Hand<br />

gedrückt.<br />

„Treppe hoch und links am Ende. Frühstück gibt es zwischen 6.30 Uhr und 9 Uhr. Schö-<br />

nen Aufenthalt und viel Spaß am Riff.“ Der verträumte Blick der jungen Frau war wieder auf<br />

die Fensterscheibe und damit auf Shawn gerichtet, der draußen in der Sonne stand. Es wehte<br />

ein angenehmer Wind vom Meer und spielte in seinen blonden Haaren. Braun gebrannt, wie<br />

er war, sah er so gut aus, dass Kelly die Blicke nachvollziehen konnte. Sie schnappte sich<br />

grinsend den Schlüssel und eilte nach draußen.<br />

„Hey, wir haben Glück, eins von gerade mal noch drei freien Zimmern gehört uns.“, er-<br />

klärte sie zufrieden und fuhr den Wagen auf einen der freien Parkplätze.<br />

Sie griffen sich ihre Rucksäcke und stiegen die Außentreppe nach oben in den ersten<br />

Stock. Wie die junge Frau an der Anmeldung gesagt hatte, lag ihr Zimmer am Ende des Gan-<br />

ges. Das Zimmer war hell und geräumig, mit einer kleinen Küchenzeile, einem schönen Bad<br />

und einem Balkon zur offenen Meeresseite. Sie warfen die Rücksäcke achtlos in die Ecke und<br />

Shawn ging erst einmal an die Minibar.<br />

„Magst du etwas Trinken?“, fragte er.<br />

„Gerne. Haben die Cola Zero?“<br />

Shawn inspizierte den Inhalt der Minibar. „Ja, haben sie.“ Er nahm zwei Dosen Cola aus<br />

dem kleinen Kühlschrank und riss diese auf. Aus dem Küchenschrank griff er zwei Gläser<br />

685


und füllte die Cola in diese um. Er reichte ein Glas an Kelly weiter und diese nahm dankbar<br />

einen Schluck des eiskalten Getränks.<br />

„Kurze Pause?“, fragte sie.<br />

„Gerne. Einen Augenblick auf dem Balkon im Schatten sitzen und den Anblick genießen<br />

klingt gut.“ Er wollte schwungvoll die Balkontür öffnen, doch Kelly hielt ihn zurück.<br />

„Warte!“<br />

Erstaunt drehte der Schauspieler sich zu ihr herum.<br />

„Was denn?“, fragte er irritiert. Kelly lachte.<br />

„Na, guck doch mal.“ Sie deutete auf den Balkon hinaus und Shawn riss die Augen auf.<br />

Auf dem Balkontisch und der Brüstung saßen an die fünfundzwanzig Loris.<br />

„Die habe ich gar nicht gesehen. Was sind das für Sittiche?“<br />

„Keine Sittiche, das sind Loris. Sie werden schnell zutraulich und lassen sich gut heran<br />

füttern.“<br />

Shawn griff nach seiner Kamera und öffnete vorsichtig die Balkontür. Die herrlich grünen<br />

Vögel mit den leuchtend orangen Brustfedern, den metallisch blau schimmernden Köpfchen<br />

und den orangeroten Schnäbeln ließen sich nicht groß stören. Sie sahen sich nur nach den<br />

Menschen um, die da den Balkon betraten.<br />

„Die sind nicht gerade scheu.“, grinste Shawn, der am Fotografieren war.<br />

Zwei der niedlichen Vögel saßen eng nebeneinander auf der Balkonbrüstung. Sie hoben<br />

sich wundervoll gegen den hellgrünen Hintergrund einiger Bäume, die neben dem Motel<br />

standen, ab. Shawn machte weitere Fotos und war begeistert, als zwei, drei Loris zu ihm flat-<br />

terten und sich frech auf seine Arme und Schultern setzten. Vorsichtig reichte er Kelly den<br />

Fotoapparat und diese machte einige Bilder von dem Schauspieler zusammen mit den Loris.<br />

„Ist nicht zu glauben, wie zutraulich die sind.“, schwärmte Shawn, als sie sich auf die Bal-<br />

konstühle gesetzt hatten.<br />

ten.“<br />

„Ja, sie werden mit Sicherheit hier heran gefüttert. Ist zu niedlich, die Kleinen zu beobach-<br />

„Auf jedem Fall. Die sind entzückend.“<br />

Sie blieben eine gute halbe Stunde auf dem Balkon sitzen, doch schließlich meinte Shawn:<br />

„Wie ist es, wollen wir uns umsehen?“<br />

„Ja, wir schnappen uns Handtücher und suchen uns am Strand ein freies Plätzchen. Dürfte<br />

nicht schwer sein.“<br />

Sie kehrten ins Zimmer zurück, verriegelten die Balkontür und suchten sich aus ihren<br />

Rücksäcken Badehandtücher. Diese stopften sie in den kleineren Rucksack, taten Sonnen-<br />

creme dazu und stülpten sich ihre Hüte auf. So gewappnet verließen sie das Motel und mar-<br />

schierten in nördlicher Richtung durch den winzigen Ort, bis sie auf einen kleinen, schmalen<br />

Wanderweg stießen, der durch den Regenwald führte.<br />

686


Einen Kilometer später traten sie aus dem Wald hinaus an einen menschenleeren, schma-<br />

len, aus zerriebenen Korallen bestehenden Strand. Obwohl der Untergrund nicht gemütlich<br />

aussah, beschlossen sie zu bleiben.<br />

„Besser als am Pool zu sitzen, oder?“, meinte Shawn und sah Kelly bittend an. Er fühlte<br />

sich nach wie vor wohler, wenn er mit seiner Psychologin allein war. Ergeben nickte diese.<br />

„Wenn du mir später die Druckstellen vom Po massierst ...“<br />

Shawn wurde tatsächlich rot. „Aber gerne.“<br />

Sie breiteten die Handtücher aus und stiegen aus Shorts und T-Shirts. Gegenseitig cremten<br />

sie sich gründlich mit Sonnencreme ein und machten es sich auf den ausgebreiteten Handtü-<br />

chern bequem. Komischerweise drückten die feinen Korallenstücke nicht annähernd so wie<br />

sie befürchten hatten.<br />

„Das geht ja.“, meinte Kelly erstaunt.<br />

„Ja, schade ...“ Shawn grinste die Therapeutin frech an und seufzte. „Ich hätte dir sonst<br />

gerne alles massiert, was dir weh getan hätte.“ Er zog Kelly an sich und gab ihr einen leiden-<br />

schaftlichen Kuss. Die junge Frau ließ sich in Shawns Arme sinken und erwiderte diesen nicht<br />

minder leidenschaftlich. Atemlos lösten sich ihre Lippen nach einer Weile von einander. Eng<br />

aneinander geschmiegt lagen sie da und sahen sich in die Augen.<br />

„Ich kann es noch gar nicht fassen, dass du ... naja, dass du nachgegeben hast.“, flüsterte<br />

Shawn verliebt.<br />

Kelly stieß ein leicht verzweifeltes Lachen aus. „Ich auch nicht. Das kannst du mir gerne<br />

glauben. Ich wollte es nicht soweit kommen lassen. Aber ... Ach, verflucht, ich bin auch nur<br />

ein Mensch und keine Maschine. Ich liebe dich seit ... vor der Sache mit dem Taipan. Ich habe<br />

es mir nur nicht eingestanden und weiter meine Zeit damit verschwendet, mich selbst davon<br />

zu überzeugen, dass es keine Liebe ist. Aber das war sinnlose Kraftverschwendung, das wur-<br />

de mir klar. Ich habe noch nie zuvor jemanden so geliebt wie dich. Und wir haben, wie alle<br />

anderen Menschen, das Recht, glücklich zu sein. Wenn es mich meine Zulassung kosten wird,<br />

ist das in Ordnung. Du bist wichtiger als alle Zulassungen der Welt.“<br />

Shawn traten bei Kellys Worten unwillkürlich Tränen in die Augen.<br />

„Ich würde alles opfern was ich besitze, alles aufs Spiel setzen für dich. Was kann wohl<br />

wichtiger sein als du!“<br />

Sie küssten sich erneut und lagen anschließend still nebeneinander. Shawns Finger strei-<br />

chelten sanft über Kellys Rücken. Ihre eigenen Finger spielten mit den Haaren des Schauspie-<br />

lers. Plötzlich sagte der junge Mann leise:<br />

„An dem Tag, nach der Geschichte in den Klippen ... Das war wohl der schlimmste Tag<br />

überhaupt ...“<br />

687


Kelly war erstaunt, dass Shawn damit anfing. Wenn er den Wunsch hatte, in diesem Mo-<br />

ment darüber zu sprechen war es in Ordnung. So sagte sie ruhig: „Willst du darüber spre-<br />

chen?“<br />

„Ja. Ich habe die Erinnerungen an den Tag bisher erfolgreich verdrängt. Doch nachdem<br />

ich dir gestern davon erzählt habe, ist es alles aufgewühlt worden. Ich habe das Gefühl, ich<br />

muss es hinter mich bringen, verstehst du?“ Er atmete tief durch und begann zu reden. „Sie<br />

brachten mich in Haus zurück. Ich war fix und fertig, kann man sich wohl denken. Dass da<br />

sechs Fremde bei mir waren drang nur langsam in mein Hirn vor. Ich war mehr als sicher,<br />

dass es nichts Gutes für mich bedeuten konnte. Offensichtlich waren sie eingeweiht und wuss-<br />

ten, was ich war. Sie begafften mich auf dem Rückweg und ab und zu grapschte mir einer<br />

oder eine von ihnen an den Hintern, zwischen die Beine oder sonst wo hin. Am Haus warteten<br />

Carrie und die anderen auf uns. Sie schickten mich unter die Dusche und ich bekam eine<br />

Stunde Pause. Dann erschien Brett und holte mich ab. Er sagte kein Wort, als er mich in den<br />

großen Salon führte. Hier wurde ich zwischen die Säulen gefesselt. Die sechs Typen trugen<br />

noch oder wieder ihre Masken. Ich sollte ihre Gesichter nicht sehen.“<br />

Shawn setzte sich abrupt auf. Er zog die Knie an den Körper und schlang die Arme um<br />

diese herum. Einen Moment schwieg er. Doch nicht lange. „Sie hätten ja mir die Augen ver-<br />

binden können, aber in diesem Falle sollte ich sehen können. Einer der Männer trat zu mir<br />

und fing an mich zu befummeln. Von Carrie und Co war ich es gewohnt, aber ... Ich hätte nie<br />

für möglich gehalten, dass ... dass es mir nach all dem noch so viel mehr ausgemacht hätte,<br />

von anderen angefasst zu werden. Doch als der Kerl ... als er mir an den Sack ging ... Ich<br />

musste alles aufbieten was ich an Kraft noch hatte, um nicht loszutoben. Es fühlte sich so un-<br />

endlich erniedrigend an! Ich dachte, ich wäre alles gewöhnt. Doch es war wie am Anfang,<br />

verstehst du? Es war, als würde alles da erst beginnen. Sie haben zugesehen, die anderen alle,<br />

und haben gelästert und Sprüche gerissen. Eine Weile ließen sie mich zwischen den Säulen<br />

hängen. Sie haben mich begafft, Kommentare abgegeben, wie geil ich aussehen würde, haben<br />

darüber gesprochen, wer was mit mir machen wollte. Das war ... so unendlich erniedrigend<br />

und ... Sie haben sich darüber ausgelassen, was sie im Einzelnen mit mir machen wollten. All<br />

das, was ihre Subs zuhause nie zulassen würden.“<br />

Shawns Stimme zitterte. Und nicht nur die, er zitterte am ganzen Körper. Leise fuhr er<br />

fort: „Das war erhebend, weißt du. Hilflos darauf zu warten, gequält zu werden. Vögeln woll-<br />

te mich keiner von ihnen, das hatten sie zuhause bei ihren Sklaven genug. Sie wollten nur das<br />

machen, was diese nie zugelassen hätten. Carrie war begeistert. Sie war es, die darauf drängte,<br />

endlich anzufangen. Sie machten mich also los und es ging hinunter in den Raum mit den SM<br />

Möbeln. Ich weiß nicht mehr, was wann gemacht wurde, das ist auch unwichtig. Eine der<br />

Frauen benutzte Strom. Schlimmer als Karen. Ich weiß nicht, wie oft ich die Besinnung verlo-<br />

688


en habe. Mehrfach. Dann war da einer der Kerle. Er wollte ... mit Nadeln spielen. Er hat<br />

mich auf die Streckbank gefesselt und bohrte mir Nadeln durch die Brustwarzen, durch die<br />

Haut am Penis, stieß sie mir in die Eichel, in die Seiten, überall hin ... Ein anderer ... Oh Gott,<br />

das hat so weh getan. Sie haben mich auf dem Bauch liegend auf die Streckbank gefesselt, so<br />

dass meine Füße über die Kante hinweg ragten und mit einem Kabel auf meine Fußsohlen<br />

geschlagen ...“<br />

Shawn konnte einen Moment nicht weiter sprechen. Kelly grauste es. Bastonade. Das war<br />

eine durchaus gängige Foltermethode, deren Anwendung zwar vehement abgestritten, doch<br />

hinter verschlossenen Türen sogar in Guantánamo Anwendung gefunden hatte. In vielen vor-<br />

wiegend afrikanischen und arabischen Ländern wurde sie öffentlich als Strafe praktiziert. Die<br />

Fußsohlen waren empfindlich und Schläge auf sie waren qualvoll und konnten zu schweren,<br />

bleibenden Schäden führen.<br />

Die Therapeutin hatte sich aufgesetzt und den Schauspieler in den Arm genommen. Ihr<br />

kullerten ununterbrochen Tränen über die Wangen. Shawn selbst zitterte heftig, er sah starr<br />

auf das Meer hinaus.<br />

„Dabei hab ich am Ende auch das Bewusstsein verloren. Nach den ersten drei Behandlun-<br />

gen gönnten sie mir zwei Stunden Pause, dann wurde ich zurück in den Keller geschafft,<br />

diesmal in den Kerker. Sie haben mich an die Wand gekettet und die zweite Frau hat mich<br />

dort mit brennenden Zigaretten bearbeitet. Sie durfte alles machen, nur keine bleibenden Nar-<br />

ben hinterlassen. Die Glut am Penis und auf den Hoden ... An den Brustwarzen, eben überall<br />

... Gott, Kelly, das hat so grausam weh getan. Die letzten beiden Kerle ...“ Shawn schwieg<br />

kurz, zum einen wühlten die Erinnerungen in ihm, andererseits fiel es ihm schwer, sich noch<br />

klar zu erinnern, was weiter gemacht worden war. „Ich kann mich erinnern, dass sie mich an<br />

den Füßen aufgehängt haben, Hände auf den Rücken gefesselt. Sie schafften einen großen<br />

Plastikbottich in den Raum, den sie mit Wasser füllten. Dann haben sie mich mit dem Kopf<br />

dort hinein versenkt. Ich konnte nicht atmen. Schon das zweite Mal an diesem Tag drohe ich<br />

zu ertrinken. Wenn sie mich hochzogen, unmittelbar bevor ich ohnmächtig wurde, konnte ich<br />

sie lachen hören. Sie wollten sich ausschütten vor Lachen über meine Zuckungen.“<br />

Endlich schluchzte Shawn heftig auf. Er klammerte sich an Kelly und weinte dass es ihn<br />

schüttelte. Viele Minuten brauchte er, um sich zu fangen. Kelly ließ ihn weinen.<br />

Nach einiger Zeit begann sie leise auf ihn einzureden. Sanft, liebevoll, beruhigend.<br />

„Shawn, es ist alles gut. Hier lacht niemand über dich. Beruhige dich, Baby. Niemand tut dir<br />

etwas, niemand lacht über dich. Du bist bei mir, alles ist in Ordnung. Versuche dich zu beru-<br />

higen. Es reicht für heute, okay. Komm, wir machen es uns gemütlich.“<br />

689


Sanft zog sie den Schauspieler mit sich in die Waagerechte. Er vergrub sein Gesicht an<br />

Kellys Hals und seine Schultern zuckten noch eine Weile. Endlich hörte das Zucken auf und<br />

Kelly wusste, er hatte sich wieder gefangen.<br />

„So ist es gut, Schatz. Wir sind hier allein, hier ist niemand, der dir weh tut oder dich aus-<br />

lacht. Du warst großartig. Du hast so vieles aus dir heraus gelassen, das war ein weiterer gro-<br />

ßer Schritt auf dem Weg zur Genesung.“<br />

Müde erwiderte der junge Schauspieler: „Es hat mir alles abverlangt und das war noch<br />

lange nicht alles an dem Tag.“<br />

Kelly biss sich auf die Lippe. Hass wallte durch sie hindurch wie ein loderndes Feuer.<br />

Zwei, drei Mal musste sie tief durch atmen, bevor sie antworten konnte. „Das macht nichts,<br />

Shawn, wir reden später weiter darüber. Für heute hast du mehr als genug berichtet. Ich<br />

möchte, dass du für den Rest des Tages nicht mehr daran denkst. Vergiss Carrie und sei bei<br />

mir. Denke an die schönen Dinge, die du in den nächsten Tagen zu sehen bekommen wirst<br />

und vergiss diese Bitch. Ich bin hier bei dir, ich möchte, dass du dich nur noch darauf kon-<br />

zentrierst.“<br />

Shawn hob langsam seinen Kopf und sah Kelly aus roten Augen an. „Das ist nicht schwer<br />

wenn ich dich so im Arm halte. Es wird nur einen Moment dauern, bis ich wieder hier bin.“<br />

Müde ließ er seinen Kopf sinken und kam so auf Kellys Schulter zu liegen. Es war ein wun-<br />

derschönes Gefühl, so zu liegen, dass er schneller als gedacht im Hier und Jetzt zurück war.<br />

„Geht es wieder?“, fragte die junge Frau nach einigen Minuten.<br />

„Ja, alles klar.“ Shawns Stimme klang munterer, er schien sich gefangen zu haben.<br />

„Was meinst du, sollen wir mal aktiv werden und bis zum Ende des Strandes marschie-<br />

ren?“, fragte Kelly vergnügt. Shawn ging darauf ein.<br />

„Ja, etwas Bewegung ist nicht verkehrt.“ Er erhob sich geschmeidig und zog Kelly eben-<br />

falls auf die Füße. Sie setzten ihre Sonnenhüte auf, Shawn griff noch nach seinem Fotoapparat<br />

und sie machten sich auf den Weg. Der Strand war nicht lang, vielleicht 500 Meter. Gemüt-<br />

lich schlenderten sie bis zu seinem Ende. Hier ging er in Felsen über.<br />

„Barfuß sollten wir da nicht hinein steigen. Man kann sich übel die Füße aufschneiden.“,<br />

meinte Kelly und deutete auf die zum Teil scharfen Kanten im Gestein.<br />

„Muss ich nicht haben, danke.“, erklärte Shawn überzeugt. Er sah den Strand zurück und<br />

hob seine Kamera. „Wenn es auch kein feiner, weißer Sand ist, hat dieser Strand doch was.<br />

Und er ist menschenleer. Herrlich.“<br />

Tatsächlich hatte sich die ganze Zeit kein Mensch gezeigt. Kelly und Shawn blieben eine<br />

Weile auf den Felsen sitzen, bevor sie sich auf den kurzen Rückweg machten. Bei den Hand-<br />

tüchern angekommen sah Kelly auf die Uhr.<br />

„Oh, es ist nach 17 Uhr, wir sollten uns richtig auf den Rückweg machen. Ich habe keine<br />

Lust, im Dunkeln durch den Wald zu stapfen.“<br />

690


„Na, frag mich mal. Lass uns.“<br />

Gegen 17.45 Uhr standen sie in ihrem Zimmer. Während sie duschten fragte Shawn:<br />

„Wo bekommen wir denn etwas zu Beißen her? So was wie ein Restaurant habe ich hier<br />

nicht gesehen.“<br />

„Nein, gibt es hier nicht. Wir müssen ein Stück zurückfahren. Bis Jubilee Pocket.“<br />

Shawn grinste über den seltsamen Ortsnamen. „Die lassen sich was einfallen, die Aussies,<br />

was? Jubileumstasche ...“ Er schüttelte schmunzelnd den Kopf. Kelly lachte.<br />

„Ja, und ich könnte dir nicht sagen, woher oder wovon der Name rührt. Das wäre die erste<br />

Frage, die ich dir nicht beantworten könnte.“<br />

Zufrieden erklärte der Schauspieler: „Ich wusste, dass es irgendetwas gibt, was du nicht<br />

beantworten kannst. War nur eine Frage der Zeit.“<br />

Zufrieden rubbelte der junge Mann sich trocken. Sie setzten sich ein paar Minuten auf den<br />

Balkon und genossen den wunderschönen Ausblick über die Bucht. Etwas später saßen sie im<br />

Wagen und Kelly fuhr zügig die gut 7 Kilometer bis Jubilee Pocket zurück. Im einzigen Res-<br />

taurant vor Ort, dem Casa Mia, bekamen sie einen Tisch auf der Terrasse und ließen sich die<br />

Speisekarte bringen. Das kleine italienische Restaurant hatte eine erstaunlich große Auswahl.<br />

Sie entschieden sich für eine gemischte Vorspeisenplatte und wählten als Main Menu Pizza.<br />

Das Essen war gut und reichlich. Gut gelaunt erreichten sie gegen 21 Uhr ihr Motel. Sie setz-<br />

ten sich noch eine Weile auf den Balkon und gönnten sich eine Flasche Bier aus der Minibar.<br />

„Ich glaube, ich werde heute Nacht nicht gut schlafen.“, meinte Shawn nachdenklich.<br />

„Warum nicht?“, fragte Kelly besorgt.<br />

„Naja, ich bin hibbelig, endlich ans Riff zu kommen.“ Shawn grinste verlegen. Kelly<br />

musste lachen.<br />

„Du wirst auf deine Kosten kommen. Und die Nacht ist schnell vorüber. Ehe du dich ver-<br />

siehst ist Morgen.“<br />

„Ja, hast Recht. Gott, ich weiß, ich bin genusssüchtig, aber es wäre so wunderbar, wenn<br />

wir dort einen Raum für die Nacht bekommen könnten.“<br />

Kelly verzog das Gesicht. „Oh, ich fürchte, das wird nichts werden. Die junge Frau an der<br />

Rezeption hier sagte mir, dass die ausgebucht sind. Aber es wird ein schöner Tag werden,<br />

glaube mir.“ Es fiel der Therapeutin schwer, ernst zu bleiben. Aber sie wollte Shawn überra-<br />

schen, deshalb nahm sie die kleine Lüge diesmal in Kauf. Sie unterhielten sich noch eine Wei-<br />

le, bis sowohl Shawn als auch Kelly immer häufiger gähnten.<br />

„Lass uns ins Bett gehen, okay, ich bin müde. Morgen wird es anstrengend, das weiß ich<br />

aus Erfahrung.“ Die Psychologin trank den letzten Schluck Bier aus und erhob sich. Shawn<br />

folgte ihr und verschwand gleich ins Bad. Minuten später lagen sie eng aneinander gekuschelt<br />

im Bett. Der Schauspieler genoss von ganzem Herzen, dass Kelly keine Erwartungen in ihn<br />

691


setzte. Wenn er auch das eine oder andere Mal flüchtig darüber nachgedacht hatte, wie es sein<br />

würde mit Kelly zu Schlafen, war er noch lange nicht so weit, diese Gedanken in die Tat um-<br />

zusetzen. Viel zu frisch waren die Erinnerungen an den monatelangen aufgezwungenen Sex<br />

noch. Im Licht der Nachttischlampe sah er die Psychologin an.<br />

„Ich liebe dich, du ahnst gar nicht, wie sehr.“ flüsterte er.<br />

Gerührt erwiderte Kelly: „Ich glaube, ich ahne es nicht nur, ich weiß es. Weil ich dich ge-<br />

nauso liebe. Schlaf gut.“<br />

„Ich werde mir Mühe geben. Ich freue mich wahnsinnig auf morgen. Gute Nacht!“<br />

*****<br />

57) Reefworld<br />

Glück und Unglück sind Namen für Dinge, deren äußerste Grenzen wir nicht<br />

kennen.<br />

John Locke<br />

Der Wecker auf dem Nachtschrank klingelte um 6.30 Uhr. Noch etwas verschlafen wollte<br />

Kelly ihm einen Schlag auf den Ausschalter versetzen, doch Shawn war schneller.<br />

„Los, wach auf.“ Der junge Mann sprang aus dem Bett und zog Kelly gnadenlos die Zu-<br />

decke weg. Die Therapeutin seufzte theatralisch.<br />

„Oh man, du bist ärger als eine Feuersbrunst. Geh schon mal vor, ich komme in drei Ta-<br />

gen nach.“<br />

Shawn lachte. Er zog Kelly langsam an den Fußgelenken zum Bettende und warf sie sich<br />

schwungvoll über die Schulter. Halbherzig wehrte die junge Frau sich. Doch das half ihr<br />

nicht. Der Schauspieler trug sie ins Bad hinüber und stellte sich mir ihr unter die Dusche. Mit<br />

einer Hand drehte er den Wasserhahn auf und im nächsten Moment quiekte Kelly empört.<br />

„Du Scheusal! Dreh das Wasser gefälligst warm!“ Lachend strampelte sie sich los und<br />

schimpfte. „Du bist ein solches Ekel. Da gibt es Milliarden nette Männer auf der Welt und ich<br />

muss mich in so was wie dich verlieben.“<br />

Shawn lachte. „Du weißt eben Qualität zu schätzen.“ Er griff zum Wasserhahn und drehte<br />

das warme Wasser dazu. Grinsend streifte er Kelly das klatschnasse Schlaf-T-Shirt über den<br />

Kopf und warf es ins Waschbecken. Kelly revanchierte sich indem sie dem Schauspieler die<br />

Boxershorts herunter streifte.<br />

Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte es den jungen Mann nervös und unsicher gemacht, auf<br />

so engem Raum nackt bei Kelly zu stehen, das hatte die Therapeutin bei der ersten gemein-<br />

692


samen Dusche gemerkt. Doch an diesem Morgen war Shawn durch nichts zu verunsichern.<br />

Fröhlich seifte er Kelly ab und diese erwiderte die Geste. Sie seifte ihrerseits den Körper des<br />

Schauspielers gründlich ein, sparte allerdings bewusst den Intimbereich aus. Dankbar nahm<br />

der junge Mann das zur Kenntnis und reinigte sich dort selbst. Gemeinsam verließen sie die<br />

Dusche und rubbelten sich flüchtig trocken. Schnell waren sie angezogen und Kelly stopfte<br />

Sonnencreme, zwei T-Shirts, unauffällig ihre Zahnbürsten, Kamm und ihren Tauchpass in den<br />

kleinen Rucksack. Badesachen hatten sie unter die Kleidung gezogen. Um kurz vor 7 Uhr<br />

saßen sie im kleinen Motelfrühstücksraum. Es gab ein reichhaltiges Frühstücksbuffet und<br />

Kelly und Shawn bedienten sich. Eine halbe Stunde später drängte Shawn energisch:<br />

„So, bist du endlich satt? Lass uns losfahren.“<br />

Gehässig erklärte die Therapeutin: „Nicht so eilig, junger Mann, ich möchte noch eine<br />

Tasse Kaffee trinken und ...“<br />

Shawn sah Kelly böse an. „Das willst du nicht, du Hexe. Du willst sofort los fahren, damit<br />

wir das Schiff nicht verpassen.“<br />

...“<br />

Grinsend meinte Kelly: „Ach, und wenn wir es verpassen ist das doch nicht so schlimm<br />

Shawn verdrehte die Augen. „Oh, man, was muss ich machen, damit du endlich in die<br />

Gänge kommst?“, fragte er gespielt verzweifelt.<br />

gen?“<br />

Kelly tat, als müsse sie überlegen. „Ich weiß nicht Recht ... Einfach nur lieb bitte, bitte sa-<br />

„Bitte, bitte.“<br />

Jetzt konnte die Psychologin sich nicht mehr beherrschen. Lachend erklärte sie: „Na<br />

komm, bevor du anfängst zu Weinen.“<br />

Arm in Arm verließen sie den Frühstücksraum und eilten zum Wagen.<br />

„Du weißt schon, dass es zum Anleger keine fünf Minuten sind, oder?“, fragte Kelly grin-<br />

send, als sie im Wagen saßen.<br />

„Ja. Und? Wo ist das Problem?“ Shawn wirkte ausgesprochen harmlos.<br />

„Dass wir dort eine halbe Stunde herum sitzen werden, während ich noch gemütlich eine<br />

weitere Tasse Kaffee hätte trinken können.“<br />

„Kaffee ist sowieso ungesund.“<br />

Vor ihnen tauchte der große Parkplatz auf und Kelly stellte den Wagen auf einen freien<br />

Platz. Shawn war aus dem Auto gesprungen, griff nach dem Rucksack und sah Kelly auffor-<br />

dernd an. Ergeben beeilte sich die junge Frau und folgte dem Schauspieler hinunter zu den<br />

Anlegestegen. So früh am Morgen war hier viel Betrieb. Menschen wuselten herum, suchten<br />

die Bootslinien, bei denen sie ihre Rifftouren gebucht hatten. Lieferanten brachten letzte Wa-<br />

ren an Bord der im Wasser dümpelnden Boote. Überall herrschte emsiges Treiben. Der Park-<br />

platz war voll. Und noch kamen weitere Wagen mit Touristen an. Shawn zog Kelly energisch<br />

693


hinunter an die Anlegestege. Hier sah er sich interessiert die verschiedenen Boote an, die<br />

demnächst zum Riff starten würden. Katamarane, Trimarane und normale Motorboote düm-<br />

pelten in dem herrlich türkisfarbenen Wasser vor sich hin. Auf den meisten waren Fahrgäste<br />

an Bord.<br />

Shawn suchte mit den Augen die Veranstalter ab und hatte die Fantasea Cruises schnell<br />

entdeckt. „Komm, da hinten ist unser Boot.“ Energisch zog er Kelly an der Hand hinter sich<br />

her. Sie mussten sich an anderen, noch suchenden Passagieren vorbei drücken, doch schließ-<br />

lich hatten sie ihr Boot erreicht. Kelly und Shawn waren nicht eine Minute zu früh dort. Sie<br />

ergatterten gerade noch gute Plätze auf dem Oberdeck. In kürzester Zeit waren alle verbliebe-<br />

nen Plätze ebenfalls besetzt. Shawn strahlte so stark, dass Kelly um Haaresbreite geblendet<br />

die die Augen geschlossen hätte. Als der große Katamaran noch zehn Minuten eher ablegte,<br />

weil alle Passagiere an Bord waren, hätte wohl nicht mehr viel gefehlt und der Schauspieler<br />

hätte vor Begeisterung gejubelt. Kelly schüttelte lachend den Kopf.<br />

„Langsam wirst du peinlich.“, erklärte sie vergnügt.<br />

Der junge Mann ließ sich keineswegs beirren. Der Katamaran fuhr aus dem kleinen Hafen<br />

und gewann schnell an Fahrt. Gute fünfzehn Minuten später passierten sie drei kleine Inseln.<br />

Shawn wollte wissen, wie diese hießen.<br />

„Die kleine dort im Westen ist Daydream Island. Die größere Insel dort südlich ist South<br />

Molle Island und die dort ...“, sie deutete nach Nordwesten: „... ist North Molle Island. Später<br />

kommen wir an Hook Island und Whitsunday Island vorbei. Von da liegen noch ungefähr 60<br />

Kilometer vor uns.“<br />

Shawn machte Fotos, als sie später die von Kelly angesprochenen Inseln passierten. Als<br />

sie endlich das offene Meer erreichten, setzte er sich gemütlich zurück und genoss den Fahrt-<br />

wind. Passagiere liefen an Bord auf und ab, unterhielten sich und waren, wie Shawn, in freu-<br />

diger Erwartung dessen, was sie am heutigen Tage sehen und erleben würden. Zwei junge<br />

Mädchen standen unmittelbar neben Shawns und Kellys Platz an der Reling und unterhielten<br />

sich auf Deutsch. Unerwartet drehten sie sich zu Shawn herum und kicherten verlegen. In<br />

recht gutem Englisch fragte die eine:<br />

„Entschuldigen Sie, ist es möglich dass Sie ... Kann es sein, dass Sie Shawn McLean sind?<br />

Aus der Serie ‘Frisco Bay‘? ‘Shane Godman‘?“<br />

Shawn saß einen Moment fast geschockt still. Kelly drückte ihm unauffällig die Hand.<br />

Energisch biss der Schauspieler die Zähne zusammen und zwang sich zu einem Lächeln.<br />

„Dass ihr mich erkannt habt finde ich erstaunlich. In Deutschland läuft die Serie doch noch<br />

gar nicht, oder irre ich mich?“<br />

Die jungen Mädchen kicherten verlegen. „Nein, aber wozu hat man denn Internet und<br />

Tauschbörsen?“<br />

694


Shawn schüttelte den Kopf. „Auch noch kriminell.“, lachte er schon deutlich lockerer.<br />

„Für Sie immer.“, meinte das junge Mädchen, dass ihn angesprochen hatte. „Es hieß, dass<br />

Sie sich aus privaten Gründen für einige Zeit frei genommen haben. Wir hoffen aber, dass<br />

Shane zurückkehren wird.“, meinte die andere.<br />

fragt. <br />

len.<br />

Shawn nickte. „Das wird er, keine Sorge.“<br />

„Ob wir wohl Autogramme bekommen könnten?“, wurde der Schauspieler verlegen ge-<br />

„Klar, habt ihr denn etwas zu Schreiben bei euch?“<br />

Shawn sah die Mädchen fragend an. Hektisch fingen diese an, in ihren Taschen zu wüh-<br />

„Ich nicht ...“, seufzte die Eine todunglücklich.<br />

„Ich auch nicht. So ein Mist!“<br />

Kelly mischte sich freundlich ein. „Ihr könnt in der Kabine unten Ansichtskarten kaufen.<br />

Wäre das eine Möglichkeit?“<br />

Begeistert stimmten die jungen Mädchen zu und eilten los.<br />

Minuten später waren sie da, jede mit einer schönen Ansichtskarte mit Motiven vom Riff<br />

in der Hand und einem Kugelschreiber. Shawn bekam die Karten und den Stift in die Hand<br />

gedrückt und fragte freundlich:<br />

„Was soll ich denn schreiben?“<br />

Die jüngere der Mädchen bat: „Wenn Sie ‘Für Daniela‘ schreiben würden?“<br />

Shawn nickte lächelnd. Er schrieb: Für Daniela von Shawn McLean, aka Shane Godman, auf einem<br />

wundervollen Ausflug zum Great Barrier Reef.<br />

„Ich heiße Stefanie.“, erkläre die andere junge Dame aufgeregt und Shawn wiederholte<br />

den Satz mit ihrem Namen.<br />

Stolz steckten die jungen Mädchen die Karten an einen sicheren Platz in ihre Taschen. Sie<br />

unterhielten sich noch einen Moment, dann zogen sich die Mädchen dezent zurück. Shawn<br />

prustete leise auf.<br />

„Man, es ist lange her, dass ich so was machen musste. Ich bin wohl eingerostet was den<br />

Umgang mit Fans betrifft. Ich war anfangs wie gelähmt. Wenn du nicht ... Ich fürchte, ich<br />

hätte mich hoffnungslos blamiert.“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Nein, du hättest das auch allein hin bekommen. Du warst an-<br />

fangs nur überrascht.“<br />

Nun war es Shawn, der entschieden den Kopf schüttelte. „Rede keinen Quatsch. Ich war<br />

nicht überrascht, ich war kurz vor einer ausgewachsenen Panik. Aber es war schön, wieder<br />

einmal erkannt zu werden.“ Er lachte auf. „Da saugen die Ladys sich die Serie aus dem Inter-<br />

net. Nicht zu glauben.“ Shawn sah Kelly an. „Sag mal, hast du überhaupt nur eine Folge ge-<br />

sehen?“<br />

695


Die Psychologin wurde rot. „Ich ...“ Zu Kellys Glück tauchten in diesem Moment links<br />

neben dem Katamaran einige Delfine auf. „Oh, sieh mal dort.“ Sie deutete ins Wasser und<br />

Shawn war sofort abgelenkt. Er riss seine Kamera hoch, die er in der Hand gehalten hatte, und<br />

machte, wie so gut wie alle anderen Passagiere, schnell einige Fotos.<br />

„Wunderschön. Wie schnell die sind! Sie machen gar nicht den Eindruck zu Schwimmen,<br />

vielmehr sieht es aus, als fliegen sie durch das Wasser.“<br />

Kelly war froh, dass Shawn nachhaltig abgelenkt war. Sie hatte wenig Zeit und die wenige<br />

Freizeit die sie hatte, verbrachte sie nicht vor dem TV. So wäre sie gezwungen gewesen,<br />

Shawn zu gestehen, nicht eine einzige Folge der Serie gesehen zu haben.<br />

Gegen 12 Uhr tauchte vor ihnen eigenartig helles Wasser auf und man konnte kleine Wel-<br />

len erkennen, die sich brachen.<br />

„Da ist es, das Riff.“, erklärte Kelly und deutete nach vorne.<br />

Shawn sprang auf, trat zusammen mit den meisten anderen Fahrgästen an die Reling und<br />

war hingerissen von dem Anblick, der sich ihnen bot. Durch eine schmale Rinne tiefem Was-<br />

sers glitt der Katamaran langsam auf eine sehr große, im Wasser fest montierte Plattform zu.<br />

Große Sonnensegel waren zu erkennen, feste, auf der Plattform installierte Gebäude, mehrere<br />

Anlegemöglichkeiten, auf dem Dach der schuppenähnlichen Gebäude waren Tische und Stüh-<br />

le zu sehen, die dort im Schatten der Sonnensegel standen. Langsam tuckerte der Katamaran<br />

an seine Anlegestelle. Minuten später war er vertäut und die Passagiere konnten von Bord<br />

gehen. Sofort brach hektisches Treiben aus. Die meisten Fahrgäste konnten es gar nicht er-<br />

warten, ins Wasser zu kommen. Man suchte sich freie Plätze, deponierte Taschen, sah sich<br />

flüchtig um, dann wurde um Flossen und Schnorchel gekämpft, die man sich hier leihen<br />

konnte. Schnell waren die ersten Besucher im Wasser und überbrückten die paar Meter bis<br />

zum Riff.<br />

Shawn hätte sich am liebsten ebenfalls sofort in die Fluten gestürzt. Doch Kelly erklärte:<br />

„Ich werde erst einmal nachfragen, ob wir nicht doch einen Raum bekommen können. Aber<br />

wie gesagt, mach dir nicht zu viele Hoffnungen, okay? Du kannst Schnorchel und Flossen<br />

besorgen, damit wir ins Wasser können. Ich möchte einen Platz im Helikopter buchen, damit<br />

wir einen Flug über das Riff machen können, Karten für das Mini-U-Boot und das Glasbo-<br />

denboot besorgen und fragen, wann ein Tauchgang vorgesehen ist.“<br />

Shawn lächelte dankbar. „Das ist lieb von dir. Ein Flug? Wahnsinn! Das muss von oben<br />

gigantisch aussehen. Okay, beeile dich.“<br />

Kelly gab ihm einen Kuss und hastete in das kleine Büro. Hier saß ein junger Mann und<br />

unterhielt sich mit einem Pärchen, welches scheinbar ebenfalls eine der begehrten Unterkünf-<br />

te ergattert hatte. Als diese mit der Anmeldung fertig waren trat Kelly näher. „Hallo. Mein<br />

Name ist Jackson. Ich habe vor einigen Wochen einen Raum gebucht.“<br />

696


Der junge Mann begrüßte Kelly gut gelaunt.<br />

„Hallo, willkommen auf Fantasea Island. Jackson ... Ja, hier habe ich es. Oh, das ist unser<br />

bester Raum. Sie sind zu zweit?“<br />

„Richtig. Der Name meines Begleiters ist Shawn McLean.“<br />

Der junge Mann füllte das Meldeformular aus und Kelly unterschrieb. Dann fragte sie:<br />

„Kann ich gleich einen Rundflug buchen?“<br />

„Klar, kein Problem.“ Er schaute auf einen Terminplaner und fragte: „Ist es um 14 Uhr<br />

okay? Da habe ich zwei Plätze frei.“<br />

„Das hört sich gut an. Und wir möchten gerne tauchen, wir sind beide im Besitz von<br />

Tauchscheinen.“<br />

„Das ist kein Problem. Es gehen Gruppen zu jeder vollen Stunde runter. Wann wollen Sie<br />

denn?“<br />

Die Therapeutin überlegte.<br />

„Wenn wir um 14 Uhr den Flug machen, hinterher Glasboden und Tauchboot, wäre 15<br />

Uhr sicher gut. Sagen Sie, Haifütterungen werden hier wohl nicht gemacht, oder?“<br />

Der junge Mann grinste. „Nicht hier, aber ein Stück weiter draußen bieten wir das an. Sie<br />

gehen mit drei erfahrenen Tauchern runter und können, wenn Sie sich trauen, selbst Futter<br />

anbieten. Das wird einmal am Tag angeboten, es kommt ein größeres Motorboot her und<br />

nimmt die Passagiere auf, die mitmachen wollen. Soll ich euch dazu eintragen?“<br />

„Wann wäre das denn?“<br />

Der junge Mann erklärte: „Das Tauchboot ist gehen 10 Uhr hier. Es bringt seine eigenen<br />

Gäste aus Shute Harbour mit und von hier können natürlich nur die mit, die auf der Plattform<br />

übernachten. So halten wir den Andrang unter Kontrolle.“<br />

Kelly strahlte. „Das hört sich großartig an. Ja, da möchten wir auf jedem Fall mit von der<br />

Partie sein. Vielen Dank. Mein Begleiter hat seinen Tauchschein nicht bei sich, er hat aber<br />

seine ID-Nummer im Kopf, damit Sie überprüfen können, dass er tauchtauglich ist. Die<br />

Nummer lautet 02310GZ7691.“<br />

Der jungen Mann notierte sich die Nummer und erklärte freundlich: „Ich werde mich da-<br />

rum kümmern, dann steht Ihnen nicht mehr im Wege, die Haie der Region live und in Farbe<br />

zu erleben.“<br />

Kelly bedankte sich vergnügt. Sie war zufrieden und hätte Shawn am liebsten sofort ein-<br />

geweiht, doch sie wollte die Überraschung nicht verderben. So kehrte sie zu Shawn zurück<br />

und machte ein bedrücktes Gesicht.<br />

„Wie ich gedacht habe. Kein Raum mehr frei. Aber wir werden um 15 Uhr tauchen und<br />

der Rundflug geht klar.“<br />

697


Shawn sah so enttäuscht aus, dass Kelly fast geredet hätte. Doch im letzten Moment biss<br />

sie sich auf die Zunge. - Nein, du wirst ihn damit heute Abend überraschen! - rief sie sich zur<br />

Ordnung.<br />

Die junge Frau begann sich zu entkleiden und fragte: „Wie sieht es aus? Wollen wir<br />

Schnorcheln gehen?“<br />

Noch etwas traurig nickte der Schauspieler. „Ja, auf jedem Fall.“ Er schlüpfte aus Shorts<br />

und Hemd und zog sich das mitgebrachte T-Shirt über. Gegenseitig cremten sie sich die Ar-<br />

me, den Nacken und die Beine gründlich ein. Shawn hatte Flossen und Schnorchel besorgt<br />

und so konnten sie zur Leiter marschieren und sich in die kühlen, türkisblauen Fluten stürzen.<br />

Das freie Stück bis zum Riff hatten sie schnell überbrückt. Ein kühler Wasserstrom kam von<br />

tief dort unten hoch und ließ ahnen, wie weit es hinab ging. Der Schauspieler verspürte kurz<br />

Unbehagen. Doch schon hatten sie die Riffkante erreicht und befanden sich über den Koral-<br />

lenbänken. Keine 50 Zentimeter unter ihnen schimmerten die schönsten Korallen in der durch<br />

das Wasser dringenden Sonne. Unzählige Fische in allen Farben und Formen kreisten über<br />

den Korallen und ließen sich von den Menschen nicht weiter stören. Zwischen farbenprächti-<br />

gen Seeanemonen tummelten sich Clownfische, kleine Krebstierchen turnten über die Koral-<br />

len, überall wimmelte es von Leben. Shawn war begeistert. Er wusste gar nicht, wo er zuerst<br />

hin schauen und Fotografieren sollte. Der wasserdichte Beutel für seine Kamera leistete ihm<br />

hier mehr als gute Dienste. Ein ums andere Mal drückte er den Auslöser.<br />

Kelly war nicht weniger begeistert, obwohl es nicht ihr erster Ausflug zum Riff war. Doch<br />

es war jedes Mal etwas besonderes, hier her zu kommen. Die fantastische Unterwasserwelt<br />

zog sie auch diesmal in ihren Bann. Kreuz und quer schwammen sie über dem Riff hin und<br />

her. Irgendwann sah Kelly auf ihre Armbanduhr. Erstaunt stellte sie fest, dass es auf 13 Uhr<br />

zuging. Sie deutete Shawn an aufzutauchen, damit sie sich unterhalten konnten. Als sie an der<br />

Wasseroberfläche trieben fragte Shawn:<br />

„Was ist denn?“<br />

„Es ist gleich 13 Uhr, da geht die Fahrt im Tauchboot los. Willst du?“<br />

Shawn seufzte. Gerade kam das Tauchboot von der letzten Fahrt zurück und Shawn seufz-<br />

te abermals. Einerseits wollte er gerne damit fahren, andererseits konnte er sich gar nicht von<br />

dem herrlichen Schnorchelgrund trennen. „Ach, verflixt. Ich möchte beides machen, ginge<br />

das?“<br />

Kelly lachte. „Weißt du was? Im Tauchboot sind wir auf Green Island gefahren. Was<br />

hältst du davon, wenn wir es hier ausfallen lassen und nachher nur mit dem Glasbodenboot<br />

fahren?“, schlug sie vor.<br />

live?“<br />

„Das ist eine wundervolle Idee. Obwohl ... Kann man denn da so viel mehr sehen als hier<br />

698


Die Psychologin schluckte Wasser, so musste sie lachen. „Okay, wir streichen also<br />

Tauchboot und Glasbodenboot. Du hast gewonnen. Aber um 14 Uhr werden wir fliegen und<br />

um 15 Uhr gehen wir Tauchen und wenn ich dich persönlich an den Haaren hin schleifen<br />

müsste.“<br />

Shawn kicherte. „Das wird wohl nicht nötig sein. Tauchen möchte ich auf jedem Fall. Sag<br />

mal, ich würde gerne auf die andere Seite der Rinne rüber, magst du mitkommen?“<br />

„Klar, gerne.“<br />

Sie verließen also die Korallenbank und schwammen die 300 Meter auf die andere Seite<br />

der Fahrrinne hinüber.<br />

Hier hielten sich weniger Besucher auf. Scheinbar war den meisten der Weg von der An-<br />

legeplattform zu weit. Außer ihnen schnorchelten hier nur sieben andere Touristen. Kelly und<br />

Shawn blieben hier fast eine Stunde. Sie schwammen nebeneinander über den Korallen her-<br />

um, entdeckten gleichzeitig schöne Stellen und Shawn war fasziniert. Er machte zahlreiche<br />

Fotos und freute sich, wenn Kelly ihn auf Dinge aufmerksam machte, die er nicht entdeckte.<br />

Von den zahllosen Fischen, die sie sahen, wusste Kelly nicht mehr als eine Handvoll Namen.<br />

Sie zeigte Shawn in allen Regenbogenfarben schimmernde Papageienfische, Skalare mit ihren<br />

langen, spitzen Rücken- und Brustflossen, weiß-gelb gestreifte Falterfische, Lipp- und Putzer-<br />

fische, Demoisellen, etwas plump wirkende Kaiserfische. Shawn saugte alles wie ein<br />

Schwamm in sich auf. Endlich erklärte Kelly:<br />

„So, Baby, ich werde mich erst einmal aufwärmen, ich friere. Kommst du mit oder willst<br />

du noch weiter machen?“<br />

Shawn schnaufte unwillig. „Ich komme mit, mir wird leider ebenfalls langsam kalt. Kein<br />

Wunder, wir sind wohl bald zwei Stunden im Wasser, oder?“<br />

„Ja, fast. Und wenn wir nachher noch Tauchen wollen, sollten wir uns eine Weile vorher<br />

ausruhen. Nebenbei habe ich Hunger und ich möchte nicht erst fünf Minuten vor dem Tauch-<br />

gang etwas Essen.“<br />

Schweren Herzen folgte der Schauspieler Kelly also zur Plattform zurück. Sie streiften er-<br />

leichtert die nassen T-Shirts aus und rubbelten sich gründlich trocken. Sie cremten sich an-<br />

schließend neu mit Sonnenschutz ein und setzten sich an den Rand der Plattform. Hier in der<br />

Sonne waren sie schnell wieder durchgewärmt. Unter ihnen im Wasser tummelte sich ein<br />

Schwarm großer, leuchtend blauer Fische mit gelben Schwänzen. Shawn sah Kelly fragend<br />

an, doch die zuckte die Schultern.<br />

„Da muss ich passen, ich habe keine Ahnung, was das für Fische sind.“, gab die junge<br />

Frau ehrlich zu.<br />

Sie erhob sich und fragte: „Kommst du mit, etwas essen? Mir hängt der Magen in den<br />

Kniekehlen.“<br />

699


Shawn nickte und stemmte sich auf die Füße. „Ja, einen Happen essen kann nicht schaden.<br />

Das Schnorcheln hat hungrig gemacht. Was bekommen wir denn zu Beißen? Sandwiches?“<br />

„Lass dich überraschen. Du wirst staunen.“<br />

Shawn zog die junge Frau an sich und erklärte leise: „Aus dem Stauen komme ich ohnehin<br />

nicht mehr heraus. Es ist so wundervoll hier. Ich werde mich heute Abend verstecken und<br />

nicht an Land zurückkehren.“<br />

Kelly klatschte innerlich in die Hände. Sie freute sich darauf, dem Schauspieler endlich zu<br />

sagen, dass er an diesem Abend noch nicht aufs Festland zurückkehren musste.<br />

„Was soll ich denn ohne dich anfangen? Ich werde vor Einsamkeit in Shute Harbour ver-<br />

gehen.“, meinte sie lächelnd.<br />

„Würdest du?“, fragte Shawn mit einem frechen Grinsen auf den Lippen.<br />

„Oh ja, würde ich.“ Kelly nickte ernsthaft. „So, und wenn du nicht willst, dass ich vor<br />

Hunger vergehe komm endlich mit.“ Energisch zog sie den jungen Mann mit hinüber zum<br />

Katamaran und dort hinunter in den großen Fahrgastraum. Hier staunte Shawn wirklich. Ein<br />

herrliches Buffet war hier aufgebaut worden, mit Fisch, Meerestieren, Fleisch, Salaten, allem,<br />

was das Herz der hungrigen Gäste begehrte.<br />

„Ist nicht wahr. Damit hätte ich nicht gerechnet.“<br />

„Habe ich doch gesagt, oder?“<br />

Zusammen mit einigen anderen Fahrgästen machten sie sich über das Buffet her. Als sie<br />

sich Teller gefüllt hatten stiegen sie damit auf das Oberdeck und suchten sich einen Tisch.<br />

Gemütlich in der Sonne sitzend, ließen sie sich das großartige Essen schmecken. Shawn ver-<br />

schwand noch einmal nach unten, um sich nach zu nehmen.<br />

Es war kurz vor 14 Uhr und Kelly erklärte:<br />

„Wir müssen uns auf die Socken machen, gleich wird das Shuttle Boot zum Heli Lande-<br />

platz losfahren. Den Flug über das Riff wirst du sicher nicht verpassen wollen, oder?“<br />

Shawn sprang erschrocken auf. „Nein. Auf gar keinem Fall! Ich habe gar nicht mit be-<br />

kommen, dass es so spät ist.“ Er griff nach Kellys Hand und zog die junge Frau hinter sich<br />

her. Zusammen mit einem jungen japanischen Pärchen fanden sie sich pünktlich an dem klei-<br />

nen Shuttle Boot ein und standen kurze Zeit später auf der kleinen Plattform für den Helikop-<br />

ter. Sie durften sofort einsteigen und Shawn hatte das Glück, vorne neben den Piloten gesetzt<br />

zu werden. Kopfhörer wurden ihnen in die Hände gedrückt und schon hob der kleine Hub-<br />

schrauber ab. Schnell gewann er an Höhe. Unter ihnen schimmerte der weite Pazifik. Shawn<br />

sah wie gebannt aus dem Frontfenster. Fast hätte er vergessen zu fotografieren. Kelly stupste<br />

ihn sanft an der Schulter und der junge Mann drehte sich zu ihr herum. Sie machte mit der<br />

Hand eine Bewegung, als würde sie einen Auslöseknopf drücken und Shawn wurde rot. Has-<br />

tig riss er die Kamera hoch und fing an, durch das offene Seitenfenster zu Fotografieren.<br />

700


Als sie fünfzehn Minuten später zur Landeplattform zurückkehrten war Shawn schweig-<br />

sam. Zurück auf dem Anleger fragte Kelly besorgt:<br />

„Schatz, ist alles in Ordnung?“<br />

Der Schauspieler sah sie an. „Ja, besser geht es nicht mehr. Ich bin nur völlig erschlagen.<br />

Das ist wie ein Traum, ein wunderschöner Traum. Du wirst mich nur mit Gewalt zurück nach<br />

Florida kriegen. Freiwillig werde ich Australien nie mehr verlassen. Ich werde mich in dei-<br />

nem Haus fest ketten.“<br />

Kelly lächelte mitleidig. „Bitte, Baby, denke nicht daran. Soweit sind wir lange noch<br />

nicht. Es werden noch viele schöne Dinge kommen, die anzusehen sich lohnen wird. Und bis<br />

ich dich nachhause schicke wird noch viel Zeit vergehen. Lass dir nicht davon die Stimmung<br />

verderben.“<br />

Shawn trat an die Reling der Plattform und sah auf das tiefblaue Wasser hinaus. Leise sag-<br />

te er: „Weißt du, diese letzten Wochen waren die schönsten Wochen in meinem Leben. Ich<br />

liebe meinen Job, habe mein Leben geliebt und genossen, aber erst jetzt wird mir klar, dass es<br />

in ihm eine große Lücke gab, die nun geschlossen ist. Erfolg, Freunde, liebevolle Familie, all<br />

das nützt einem ohne eine Frau, oder besser ohne einen Partner, der dich von ganzem Herzen<br />

liebt, gar nichts. Ich hatte feste Beziehungen, sicher, aber ich habe keine der Frauen geliebt,<br />

noch wurde ich von einer von ihnen wirklich geliebt. Versteh mich bitte nicht verkehrt, ich<br />

mochte sie alle gerne, aber was ich für dich empfinde ... Für dich und diesen wundervollen<br />

Kontinent ... Ich kann es nicht in Worte fassen. Nie zuvor war ich so glücklich. Und wenn ich<br />

daran denke, dass ich dich und dieses Land verlassen muss, dreht sich mein Magen um. Ich<br />

kann mir nicht mehr vorstellen, anderswo zu sein als hier bei dir in Australien. Das hier ist<br />

mein Leben. Wie kann ich zurück in die Staaten gehen?“<br />

Kelly war erschüttert. Sie trat dicht an Shawn heran und umarmte ihn. Verzweifelt drück-<br />

te Shawn die junge Frau an sich. Mit erstickter Stimme flüsterte er:<br />

„Ich will hier nicht weg!“<br />

„Das ist doch nur für kurze Zeit. Wenn du so wild entschlossen bis hier zu leben, wirst du<br />

die Monate in den Staaten locker überstehen. Wenn deine Eltern mit dir kommen, hast du<br />

genug um die Ohren, um kein großes Heimweh zu empfinden. Und ehe du dich versiehst ist<br />

die Zeit um und du kannst zusammen mit Paul und Anna zurückkommen. Wir werden für die<br />

Beiden, so sie denn wollen, ein wunderschönes Haus in der Nähe meines eigenen Hauses kau-<br />

fen, ich werde mich aus der Langzeittherapie zurückziehen und nur noch Praxis machen und<br />

du wirst sicher bei ABC, SBS, Nine Network oder einem anderen Sender einen Job bekom-<br />

men. Wir werden uns gemeinsam Australien anschauen und die USA.“<br />

drückt.<br />

Shawn prustete angespannt. „Meinst du, das wird alles so easy ablaufen?“, fragte er be-<br />

„Davon bin ich überzeugt. Zeit vergeht viel schneller, wenn man sich auf etwas freut.“<br />

701


Shawn lachte. „Na, ich weiß nicht, meine Erfahrungen sind da eigentlich eher gegenteilig!<br />

Es dauert immer um so länger, je mehr man sich auf etwas freut.“<br />

Auch Kelly musste lachen. „Ach, wie auch immer. Manchmal klappt das aber.“ Sie sah<br />

auf ihre Uhr. „Darum ist es schon fast 15 Uhr und wir müssen uns für den Tauchgang fertig<br />

machen. Bist du bereit?“<br />

„Ja, klar. Okay, lass uns.“<br />

Sie eilten zur Tauchbasis, wo Neoprenanzüge ausgegeben wurden. Schnell hatten Kelly<br />

und Shawn ihre Anzüge erhalten und streiften diese über.<br />

„Dort drüben sind die Pressluftflaschen, überprüft sie bitte selbst noch einmal gründlich.“,<br />

erklärte der eine der beiden Tauchlehrer, die mit der kleinen Gruppe aus neun Touristen hin-<br />

unter gehen würden. Eifrig machten sich alle daran, ihre Ausrüstung gründlich zu überprüfen.<br />

„Wir werden bis zirka 20 Meter Tiefe gehen. Wie viel bar brauchen wir?“, stellte der an-<br />

dere Lehrer eine simple Frage an die Anwesenden.<br />

„3 bar!“, bekam er von mehreren die Antwort.<br />

„Entspricht?“, fragte er grinsend.<br />

„Entspricht einer Zusammensetzung von zirka 33% Sauerstoff und 67 % Stickstoff.“, er-<br />

klärte Shawn sofort.<br />

„Gut. Bei einer Tauchtiefe von 20 Metern, wie lang ist die Auftauchzeit?“<br />

Eine junge Frau antwortete. „Mindestens zwei Minuten.“<br />

Zufrieden nickte der Lehrer. „Okay, Leute, ich sehe, ihr wisst gut Bescheid. Wir bleiben<br />

unter Wasser auf jedem Fall zusammen. Ihr alle haltet euch an unsere Anweisungen. Auftau-<br />

chen werden wir zur Sicherheit mit einem drei Minuten Stopp bei 5 Metern. Wenn wir unten<br />

auf Haie stoßen bleibt ruhig. Es gibt hier Weißspitzen, Schwarzspitzen und Graue Riffhaie,<br />

alle ungefährlich für Taucher. Es mag sein, dass wir welche zu Gesicht bekommen. Denkt<br />

daran, sie sind es gewohnt, Menschen zu sehen. Sie werden hier nicht gefüttert, kommen aber<br />

aus reiner Neugierde nahe an die Taucher heran. Das dürfte für euch ein unvergessliches Er-<br />

lebnis werden, also haltet eure Kameras bereit. Für diejenigen von euch, die keine Möglich-<br />

keit haben, unter Wasser zu Fotografieren, ihr könnt euch hier Kameras leihen. Hat noch je-<br />

mand eine Frage?“ Allgemeines Kopfschütteln. „Gut, also macht euch fertig.“<br />

Kelly und Shawn halfen sich gegenseitig in die Ausrüstung und sie überprüften ein letztes<br />

Mal die Geräte. Finimeter 26 , Tiefenmesser und Tauchcomputer funktionierten einwandfrei.<br />

Tauchermesser und Kompass wurden angelegt und endlich hieß es:<br />

„So, alles klar? Los geht’s.“<br />

26 Finimeter wird ein Druckmessgerät genannt, das Gerätetauchern oder Atemschutzgeräteträgern den noch verbleibenden Druck in ihrer<br />

Druckluftflasche anzeigt. Es wird am Hochdruckausgang der ersten Stufe des Atemreglers angeschlossen.<br />

702


Nacheinander traten alle an die Kante der Plattform. Einer der Tauchlehrer sprang als ers-<br />

ter ins Wasser. Es folgten nacheinander die Touristen, bis zuletzt der zweite Tauchlehrer<br />

sprang. Shawn und Kelly blieben nebeneinander und glitten langsam in die Tiefe. Wie jedes<br />

Mal beim Tauchen erfüllte Kelly ein unglaubliches Glücksgefühl. Das schwerelose dahinglei-<br />

ten unter Wasser war ein berauschendes Erlebnis. Shawn neben ihr machte mit dem Daumen<br />

das okay Zeichen. Und schon zeigte sich das erste Meerestier. Eine große Meeresschildkröte<br />

schwamm gemächlich vorbei. Shawn hatte sie sofort entdeckt und machte die anderen Tau-<br />

cher aufmerksam. Alle hatten Gelegenheit, Bilder zu machen. Weiter ging es, tiefer hinab.<br />

Beständig boten sich neue, wunderschöne Anblicke. Shawn bekam den Finger gar nicht<br />

mehr vom Auslöser. Ein Riesenzackenbarsch kreuzte ihren Weg und sorgte für Aufregung.<br />

Die bis zu 2 Meter großen, harmlosen Fische versetzten Taucher überall in Begeisterung. Das<br />

große Tier schwamm durch die Gruppe hindurch und keiner der Taucher konnte die Finger<br />

bei sich behalten. Alle ließen sanft die Hände über den großen Fisch gleiten. Dieser ignorierte<br />

die seltsamen Wesen geflissentlich und schwamm seiner Wege. Einen Moment sahen sie ihm<br />

hinterher, wie er, umschwirrt von einigen Putzerfischen, gemächlich im Dunkel des tieferen<br />

Wassers verschwand. Und schon ging es weiter. Ein Blick auf den Tiefenmesser zeigte Kelly,<br />

dass sie bei 15 Metern angelangt waren. Das Wasser war spürbar kühler geworden. Sie durch-<br />

tauchten eine schmale Rinne zwischen den Korallen und es ging noch tiefer hinab. Unzählige<br />

Fische schwammen um die Gruppe herum, überall wimmelte es in allen Farben des Regenbo-<br />

gens. Dank mitgeführter Taschenlampen konnten sie die wundervollen Farben der Riffkoral-<br />

len in vollen Zügen genießen. Da Wasser schon in geringer Tiefe die Rot- und Gelbanteile des<br />

Lichts heraus filterte, wirkte unter Wasser schnell alles blau. Dank der starken Taschenlam-<br />

pen war es möglich, die Umgebung mit dem vollen Lichtspektrum zu beleuchten und so die<br />

unglaubliche Vielfalt der Farben in ihrer ganzen Fülle zu sehen.<br />

Minuten später hatten sie den Grund erreicht, der hier bei etwas mehr als 20 Metern lag.<br />

Langsam schwammen sie über wuchernde Korallen, harte und weiche, über Schwämme, See-<br />

anemonen, Riesenmuscheln, Seesterne in allen Farben, Garnelen, Krebse und Fische, soweit<br />

das Auge reichte hinweg. Shawn, der neben Kelly schwamm, hatte noch nie etwas Schöneres<br />

unter Wasser gesehen. Er wusste gar nicht, wohin er zuerst schauen sollte. Ständig entdeckte<br />

er etwas noch Spektakuläreres, dass er fotografieren musste. Kelly achtete sorgfältig darauf,<br />

dass der Schauspieler nicht alles um sich herum vergaß. Wegen des Mundstückes konnte sie<br />

zwar nicht lächeln, aber innerlich tat sie es. Sie freute sich unglaublich darauf, den jungen<br />

Mann später noch damit überraschen zu können, dass er nicht an diesem Abend aufs Festland<br />

zurückkehren musste. Die Therapeutin warf einen Blick auf ihren Tauchcomputer und stellte<br />

fest, dass sie fast dreißig Minuten unter Wasser waren. Sie hatten noch für fünfzehn Minuten<br />

Sauerstoff. Noch fehlte die Sensation des Tauchganges und Kelly hoffte, dass diese sich zei-<br />

703


gen würde. Und als wäre dieser Gedanke der Lockruf gewesen tauchte überraschend vor ih-<br />

nen diese erhoffte Sensation auf!<br />

Fast gleichzeitig entdeckten die Taucher den großen, grauen, eleganten Raubfisch mit den<br />

auffallenden, weißen Finnenspitzen. Und es blieb nicht bei dem einen Raubfisch. Schon er-<br />

schien hinter diesem ein weiterer gut 2 Meter langer Hai auf. Die weißen Spitzen an den Fin-<br />

nen leuchteten regelrecht im Wasser. Ruhig schwammen die herrlichen Räuber ihrer Wege.<br />

Shawn hielt vor Spannung unwillkürlich die Luft an. Die großen Raubfische kamen näher,<br />

begutachteten die Menschen ausgiebig und drehten schwungvoll um, um in der Weite des<br />

Korallenriffs zu verschwinden. Die Tauchlehrer, die sicherheitshalber näher an ihre Schütz-<br />

linge heran geschwommen waren, machten mit dem Daumen das okay Zeichen und erhielten<br />

von allen positive Antworten. Sie deuteten auf die Tauchcomputer und nach oben. Es war<br />

Zeit, sich an den Aufstieg zu machen. Langsam und ruhig ging das Auftauchen von statten.<br />

Alle hielten sich peinlich an die Anordnungen. Shawn nutzte noch einmal die Zeit, Bilder zu<br />

machen. Bei 5 Metern machten sie die vereinbarte Deko-Pause 27 . Über ihnen wurde es lang-<br />

sam heller und das durchdringende Sonnenlicht ließ zum Abschied noch einmal alle Korallen<br />

und Fische in den herrlichsten Farben schimmern. Nicht nur Shawn und Kelly nutzten noch<br />

einmal die Gelegenheit, sich gründlich und in aller Ruhe umzusehen. Doch nun wurde das<br />

Zeichen gegeben, weiter zu schwimmen und die Wasseroberfläche kam näher. Gleich darauf<br />

stießen sie mit den Köpfen nacheinander durch die Wasseroberfläche. Langsam schwamm die<br />

Gruppe hinüber zum Anleger und hier wurde ihnen aus dem Wasser geholfen. Die schweren<br />

Pressluftflaschen wurden ihnen abgenommen, ebenso Schnorchel und Flossen. Dieser Dinge<br />

entledigt war es einfach, aus dem Wasser zu turnen.<br />

Minuten später saßen Kelly und Shawn bei einem Glas Wasser an einem der Tische auf<br />

dem Oberdeck. Shawn suchte nach Worten, zu beschreiben, was er unter Wasser empfunden<br />

hatte. Doch viel mehr als: „Es war absolut sensationell!“, brachte er nicht hervor.<br />

Sie tranken ihr Wasser aus und Shawn bat:<br />

„Können wir uns bis zur Abfahrt noch unten hinsetzen?“<br />

Kelly biss sich auf die Lippe und nickte. Sie gingen hinunter auf die Plattform und suchten<br />

sich an deren Rand einen freien Platz. Sie setzten sich, ließen die Füße ins Wasser baumeln<br />

und beobachteten still die Fische, die ihre Kreise zogen. Shawn war es, der darauf aufmerk-<br />

sam wurde, dass nach und nach alle Gäste an Bord des Katamarans zurückkehrten. Traurig<br />

meinte er:<br />

27 Deko-Stopp: Die Dekompressionspause wird beim Auftauchen, je nach Tiefe des Tauchgangs, an vom Tauchcomputer errechneten oder<br />

von einer Tabelle abgelesenen Punkten eingelegt. Dabei wird dem Taucher Gelegenheit geben, das durch den erhöhten Druck im tiefen<br />

Wasser im Gewebe gebundene Gas durch den verminderten Druck in geringerer Wassertiefe langsam abzuatmen. Steigt ein Taucher zu<br />

schnell auf, können die gebundenen Gase im Gewebe und in den Körperflüssigkeiten zu Gasblasen führen, was die lebensgefährliche Taucherkrankheit<br />

auslöst.<br />

704


„Na, lass uns, bevor die ohne uns abfahren.“ Er wollte sich erheben. Endlich ließ die The-<br />

rapeutin die Katze aus dem Sack. Harmlos sah sie Shawn an.<br />

„Oh, ich habe ganz vergessen dir zu sagen, dass überraschend ein Raum hier frei gewor-<br />

den ist. Den hat doch vor Wochen tatsächlich jemand für uns gebucht und ...“<br />

Weiter kam sie nicht. Shawn hatte die Augen aufgerissen vor Überraschung und diese<br />

funkelten gefährlich. Er knurrte leise, beugte sich zu Kelly, packte die junge Frau fest um und<br />

ließ sich mit ihr ins Wasser fallen. Noch unter Wasser spürte die Psychologin seine Lippen<br />

auf ihren und so blieb es, als ihre Köpfe an die Wasseroberfläche zurückkamen. Von einigen<br />

Nachzüglern amüsiert und neidisch beobachtet, küsste der Schauspieler die Therapeutin so<br />

leidenschaftlich, dass sie fast unter gegangen wären. Erst nach vielen Minuten ließ er sie end-<br />

lich los. Tränen der Freude schimmerten in seinen Augen und er flüsterte mit belegter Stim-<br />

me:<br />

„Du bist so was von absolut unglaublich. Wie ich dich liebe. Warum nur hat Gott dich mir<br />

nicht viel früher in den Weg gelegt?“<br />

Erneut zog er Kelly an sich und es folgte ein weiterer, leidenschaftlicher Kuss. Erst danach<br />

schwammen die Beiden zur Badeleiter und turnten auf die Plattform hinauf.<br />

Sie setzten sich in die Sonne und Kelly fragte verlegen: „Bist du nicht böse? Weil ich dich<br />

so an der Nase herum geführt habe? Ich war mehrmals drauf und dran, es dir zu sagen, aber<br />

ich wollte dich so gerne überraschen.“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin dir doch nicht böse! Das ist ... eine so wunder-<br />

schöne Überraschung. Wann hast du denn bloß das Zimmer gebucht?“<br />

„Ach, vor dem Kakadu. Ich weiß, dass die wenigen Räume hart umkämpft sind. Dass wir<br />

einen bekommen haben, verdanken wir unter anderem meinen guten Verbindungen. Sonst<br />

wäre nichts zu machen gewesen.“<br />

Shawn schüttelte ungläubig den Kopf. „Langsam glaube ich, es gibt nichts, was du nicht<br />

hin bekommst.“, grinste er. „Ich habe keine Angst mehr, dass Carrie und Co. auftauchen<br />

könnten. Du würdest sie dem Erdboden gleich machen, davon bin ich überzeugt. Von ihnen<br />

würde nicht genug übrig bleiben, eine Streichholzschachtel damit zu füllen.“ Er lachte, unend-<br />

lich glücklich, zufrieden und vor allem verliebt. Von ihrem Sitzplatz aus konnten sie zusehen,<br />

wie der große Katamaran ablegte und langsam die Fahrrinne entlang glitt. Zügig verschwand<br />

er am Horizont. Shawn strahlte. Dann sprang er auf. „Lass uns doch mal den Raum ansehen,<br />

okay?“, meinte er und half Kelly auf die Füße.<br />

Sie gingen zu ihren Sachen, die sie an der Wand der Gebäude deponiert hatten, griffen<br />

sich diese und Kelly zog den Zimmerschlüssel für Raum Nummer 1 aus dem Rucksack. Arm<br />

in Arm schlenderten sie um die kleinen Gebäude herum und standen gleich darauf vor Raum<br />

1. Kelly schloss auf und sie betraten die kleine Bleibe. Sauber, freundlich eingerichtet, präsen-<br />

tierte sich ihnen das kleine Zimmer. Durch eine schmale Tür gelangten sie in das winzige<br />

705


Badezimmer. Dusche und Waschbecken, sowie Toilette, mehr gab es hier nicht. Shawn strahl-<br />

te.<br />

„Es ist zauberhaft. Die größte Suite könnte nicht schöner sein als dieser Raum.“<br />

Kelly konnte dem nur zustimmen. So klein das Zimmer war, so schön war es. Die Thera-<br />

peutin seufzte leise. „Ich würde gerne Duschen. Das Salz auf der Haut wird langsam unange-<br />

nehm. Hältst du es denn ein paar Minuten drinnen aus?“<br />

Shawn verdrehte die Augen. „Klar tue ich das. Ich möchte mich selbst gerne abspülen, das<br />

kannst du mir glauben. Es juckt und kribbelt überall auf der Haut.“<br />

So stieg Kelly aus dem nassen Bikini und griff sich eines der strahlend weißen Handtücher<br />

vom Bett. Schnell verschwand sie im Bad und Sekunden später hörte Shawn die Dusche rau-<br />

schen. Kelly beeilte sich, damit der Schauspieler sich ebenfalls waschen konnte. Als sie fertig<br />

waren fragte der junge Mann:<br />

„Wo bekommen wir denn Abendessen her?“<br />

Kelly kicherte. „Wir werden etwas finden, denke ich.“ Sie warf einen Blick aus dem Fens-<br />

ter. „Bald geht die Sonne unter, wollen wir raus gehen und den sun down anschauen?“<br />

„Auf jedem Fall. Das muss überwältigend sein.“<br />

Also verließen Kelly und Shawn das kleine, gemütliche Zimmer und traten hinaus auf die<br />

Plattform. Hier herrschte gespenstische Stille, verglichen mit der Hektik, die den ganzen Tag<br />

über angehalten hatte. Am anderen Ende der Plattform stand ein Pärchen und genoss, wie<br />

Kelly und Shawn, die Stille und den Anblick des Riffs ohne hunderte von schwimmenden<br />

Touristen. Zwei Angestellte waren mit den Tauchausrüstungen beschäftig, ein weiterer räum-<br />

te auf der Plattform auf. Alles wirkte ausgestorben.<br />

Auf dem Dach der Gebäude, wo die Tische und Stühle unter den Sonnensegeln standen,<br />

waren zwei weitere Angestellte damit beschäftigt, vier Tische zu decken. Kelly deutete hoch<br />

und meinte ironisch:<br />

„Na, da hast du aber Glück gehabt. Scheint so, als bekämen wir dort etwas zu Essen. Du<br />

wirst also nicht verhungern müssen.“<br />

Shawn streckte ihr die Zunge aus und reagierte ansonsten nicht auf die kleine Gehässig-<br />

keit. Viel zu sehr genoss er die Stille, die langsam versinkende Sonne, das Ambiente. Der<br />

Schauspieler legte den Arm um Kellys Schultern und zog die junge Frau eng an sich.<br />

„Ist es nicht einmalig schön? Sieh doch nur, wie die Korallenbänke in der Abendsonne<br />

schimmern.“<br />

Es herrschte tiefe Ebbe und an vielen Stellen lagen die Korallen frei. Kelly nickte. „Ja, es<br />

ist zauberhaft schön.“ Sie hatte die Arme um Shawns schlanke Taille geschlungen und hielt<br />

ihn so an sich gedrückt. Still und unendlich glücklich standen sie nebeneinander, bis die Son-<br />

ne als oranger Feuerball im Meer versank. Andächtig blieben sie noch einen Moment stehen.<br />

706


Sie wollten diesen Augenblick festhalten so lange es ging. Auf dem Oberdeck flackerten<br />

Lichterketten, die um die Umrandung des Decks gewickelt waren. Die winzigen Lichtpunkte<br />

strahlten in der sie umgebenden Dunkelheit wie Sterne. Die drei anderen Pärchen, die für die-<br />

se Nacht das Glück gehabt hatten, einen Raum zu bekommen, fanden sich an den gedeckten<br />

Tischen ein. Shawn und Kelly stiegen langsam die Treppe zum Oberdeck empor und setzten<br />

sich an den letzten Tisch. Fackeln erhellten die Tische, Kerzen sorgten für romantisches<br />

Licht. Auf jedem Tisch stand eine gekühlte Flasche Sauvignon Semillon. Shawn öffnete diese<br />

und schenkte erst Kelly, dann sich selbst ein. Sie griffen nach den Gläsern und prosteten sich<br />

zu.<br />

„Cheers. Ich liebe dich.“<br />

„Ich liebe dich auch. Cheers.“<br />

Das Essen, eine gemischte Fischplatte, war großartig. Kelly und Shawn ließen es sich in<br />

aller Ruhe schmecken. Sie waren hungrig gewesen und aßen dementsprechend ausgiebig.<br />

Schließlich seufzte Kelly:<br />

„Oh, glaube, ich platze gleich. Das war großartig, aber ich kann nicht mehr, sonst musst<br />

du mich ins Bett rollen.“<br />

Shawn naschte hier und da noch, Prawns, Langusten, Shrimps, Herzmuscheln, Austern,<br />

Calamares, es war von allem noch genug da. Doch am Ende war auch der junge Mann mehr<br />

als gesättigt. Er schob seinen Teller zurück, nahm einen Schluck Wein und erklärte:<br />

„So gut habe ich selten gegessen. Die müssen hier einen absoluten Sternekoch haben.<br />

Schade dass ich satt bin. Ich hätte gerne mehr gegessen.“ Wehmütig sah er auf die große Plat-<br />

te, auf der noch vieles lag.<br />

„Baby, wenn du weiter Seafood in dich hinein stopfst wirst du Platzen.“ Kelly grinste.<br />

„Und die Plattform ist zu klein, um es dir abzurennen.“<br />

Der Schauspieler lachte. „Wenn ich es mir abrennen will. Ich werde dick und fett bevor<br />

ich in die Staaten zurückfliege. Ach, was soll’s, bin ich eben ein fetter Cop.“ Er streckte den<br />

schlanken Bauch hervor und strich mit der Rechten darüber. Kelly lachte.<br />

„Ich werde dich weiterhin lieben, auch wenn du fett geworden bist. Wahrscheinlich nen-<br />

nen sie die Serie dann um. In ‘Frisco Ball‘ oder in ‚‘SFPD Fat man‘ ...“<br />

Shawn konnte angesichts so viel Gemeinheit nur die Augen verdrehen. „Ja, ja, lästere du<br />

ruhig über mich. Wirst sehen was du davon hast.“ Er streckte gemütlich die Beine von sich.<br />

Es war herrlich hier auf dem Wasser. Keine Mücken, die einen bei lebendigem Leib auf-<br />

fraßen, ein milder Wind sorgte dafür, dass es nicht schwül war, kein Autolärm, und sicher<br />

keine Carrie, die auftauchen konnte. Der Schauspieler war entspannt und zufrieden wie nie<br />

seit seiner Befreiung. Ab und zu plätscherte etwas im Wasser um sie herum. An den anderen<br />

Tischen unterhielten sich die Übernachtungsgäste leise.<br />

707


„Ich könnte die ganze Nacht hier sitzen. Es ist so einmalig friedlich. Wie im Outback.“<br />

„Ja, es ist vergleichbar. Wollen wir uns noch unten hinsetzen?“<br />

„Gute Idee.“<br />

Sie erhoben sich und stiegen die Treppe hinunter. Arm in Arm marschierten sie zum Ende<br />

der Plattform und setzten sich hier auf den Rand. Sie konnten im Wasser unter sich nichts<br />

mehr erkennen, aber die Vorstellung, was dort herum schwamm, war erhebend.<br />

„Der Tauchgang war umwerfen, oder?“, fragte Shawn euphorisch.<br />

„Ja, das war er. Ich bin jedes Mal aufs Neue begeistert und fasziniert. Dabei ist es hier bei<br />

weitem nicht das schönste Stück Riff. Unendlich viel schöner sind die Stellen, an denen nicht<br />

tagtäglich hunderte von Touristen herum planschen. Ich habe vor ... drei Jahre muss es her<br />

sein, mit Nat und zwei weiteren Freunden eine zweiwöchige Bootstour am Riff gemacht. Wir<br />

sind nur an der äußeren Riffkante entlang gefahren und haben dort getaucht. Das war einma-<br />

lig. Da ist das Riff noch unbeschadet und gesund. Wenn du meinst, hier sei es schön, müssen<br />

wir später einmal eine solche Tour machen. Kein Vergleich!“<br />

Shawn hatte interessiert zugehört. Er konnte sich gar nicht vorstellen, dass es irgendwo<br />

schöner sein sollte als hier unter Wasser. Allerdings leuchtete ihm ein, dass die zig tausenden<br />

Touristen, die Jahr für Jahr an dieselben Stellen gefahren wurden, bei aller Vorsicht Schäden<br />

verursachten. Er hatte es heute selbst beobachtet, dass viele zum Ausruhen die Füße auf die<br />

Korallen gestellt hatten, obwohl es nicht erlaubt war, Sachen angefasst oder abgebrochen<br />

hatten. Selbstverständlich hinterließ das Spuren. An Stellen, wo kein Massentourismus<br />

herrschte musste es zwangsläufig viel schöner sein.<br />

„Wir könnten später einmal eine solche Tour machen.“, sinnierte er leise.<br />

„Das werden wir auf jedem Fall machen. Wie sieht es mit deinen Eltern aus, können sie<br />

Tauchen?“<br />

„Ja, Mum und Dad tauchen gerne. Dad surft sogar noch. Er ... Ich glaube, ich habe meine<br />

Liebe für alles, was mit Wasser zusammen hängt, von ihm geerbt. Muss in den Genen liegen.“<br />

Shawn lachte fröhlich. Kelly musste ebenfalls Lächeln, was der Schauspieler in der herr-<br />

schenden Dunkelheit nicht sehen konnte.<br />

„Das ist doch super, wir können im Rahmen unserer Australienrundreise einen Bootstrip<br />

machen. Hat einer von euch einen Sportbootführerschein?“<br />

Man hörte von Shawn ein verdruckstes Ächzen. „Nein. Das hat keiner von uns. Braucht<br />

man den denn?“<br />

„Ohne bekommst du gar kein Boot zur Miete. Na, darüber können wir uns Gedanken ma-<br />

chen wenn es soweit ist.“ Sie rückte dicht an den Schauspieler heran und kuschelte sich in<br />

seine Arme. „Hör mal, ich möchte dich nicht unvorbereitet damit konfrontieren, Baby. Mor-<br />

gen früh machen wir einen Tauchgang, um Haie zu füttern. Ich hoffe, du bist damit einver-<br />

standen.“<br />

708


Wieder kam von dem jungen Mann ein Ächzen. „Ach du Scheiße. Oh man, du willst es<br />

wirklich wissen, was?“<br />

Die Therapeutin strich Shawn sanft mit der Hand über den Rücken. „Wenn du nicht magst<br />

ist das okay. Du sollst auf keinem Fall mit Angst an die Sache heran gehen. Darum sage ich<br />

es dir jetzt, verstehst du? Du kannst es dir in aller Ruhe überlegen und wenn du denkst, du<br />

schaffst es, fahren wir mit, sonst bleiben wir hier und genießen das Riff beim Schnorcheln.“<br />

Shawn seufzte leise. „Reizen würde es mich auf jedem Fall. Es ist nur ... Ich habe wirklich<br />

ein wenig Angst.“<br />

Kelly nickte verständnisvoll, was Shawn spürte, da sie dicht an ihn geschmiegt saß.<br />

„Ich weiß, dass es dir unheimlich ist. Aber es würde dir gut tun und dein Selbstbewusst-<br />

sein stärken. Ich möchte dich aber nicht überreden. Du triffst die Entscheidung, ob du es auf<br />

dich nehmen willst oder doch lieber nicht. Wir werden morgen früh entscheiden, okay?“<br />

Shawn dachte einen Moment nach und nickte entschlossen. „Okay. Wirst du böse sein,<br />

wenn ich mich dagegen entscheide?“<br />

„Aber nein. Wie kommst du denn darauf? War ich dir je böse?“<br />

„Nein, das warst du nicht. Ich zweifle langsam, ob du überhaupt böse werden kannst.“<br />

Die Psychologin kicherte gemein. „Na, schicke mir mal Carrie vorbei und du wirst sehen,<br />

dass ich nicht nur böse, sondern fuchsteufelswild werden kann.“<br />

Der junge Mann stutzte kurz bevor er erleichtert los lachte. „Das glaube ich dir unbesehen.<br />

Ich nehme an, du würdest sie in der Luft zerreißen, was?“<br />

„So was in der Art, ja.“<br />

58) Gefährliche Begegnung<br />

Mut besteht nicht darin, dass man die Gefahr blind übersieht, sondern darin,<br />

dass man sie sehend überwindet.<br />

Jean Paul<br />

Gegen Mitternacht erklärte die Therapeutin: „Schatz, ich schlafe im Sitzen ein. Lass uns<br />

ins Bett gehen, okay? Das mit die ganzen Nacht wach bleiben war doch wohl hoffentlich nur<br />

ein Scherz?“<br />

Shawn hatte in den letzten Minuten mehrfach gegähnt. Er seufzte. „Ja, du hast Recht, ich<br />

bin ebenso müde. Und morgen wird es anstrengend, denke ich. Tauchen ist anstrengend. Na,<br />

lass uns ins Bett verschwinden.“ Er erhob sich und half Kelly auf die Füße. „Das war ein<br />

traumhaft schöner Abend, Lady. Vielen Dank.“<br />

Kelly streckte sich und gab dem Schauspieler einen Kuss. „Ich muss mich bei dir bedan-<br />

ken. Es war wundervoll.“<br />

709


Arm in Arm gingen sie zu ihrem Zimmer und lagen Minuten später aneinander ge-<br />

schmiegt im Bett. Durch das offene Fenster war das leise Plätschern des Wassers zu hören.<br />

„Das sind so beruhigende Geräusche, findest du nicht?“, flüsterte Shawn.<br />

„Ja, obwohl das Meer anders kann. Wenn hier draußen Stürme toben, können die Veran-<br />

stalter anschließend alles Renovieren.“ Eine Weile lauschten sie auf die leisen Geräusche.<br />

Schließlich nuschelte Kelly: „Gute Nacht ...“<br />

Von Shawn kam keine Antwort mehr. Er war eingeschlafen.<br />

*****<br />

Als Kelly aufwachte lag sie allein im Bett. Ein Blick zur Uhr machte ihr klar, dass es ge-<br />

rade kurz nach 6 Uhr war. Noch müde musste die junge Frau lächeln. Shawn hatte es nicht<br />

lange im Bett gehalten. Hätte ihr klar sein müssen. Sie blieb noch einen Augenblick liegen,<br />

raffte sich jedoch bald auf. Kurz machte sie sich etwas frisch, putzte sich die Zähne und<br />

schlüpfte in ihren trockenen Bikini. Draußen war es herrlich. Die Luft war frisch, roch nach<br />

Salzwasser und Meer, die Sonne strahlte von einem tiefblauen Himmel. Kelly sah sich um<br />

und entdeckte Shawn am Ende der Plattform. Er stand an der Reling und blickte versunken<br />

zum Riff hinüber. Leise trat Kelly zu ihm. Der Schauspieler schien ihre Annäherung zu spü-<br />

ren, denn er drehte sich herum und sah der jungen Frau entgegen. Seine Augen strahlten.<br />

„Guten Morgen. Du hättest den Sonnenaufgang sehen sollen. Es war fantastisch.“<br />

„Guten Morgen. Seit wann bist du denn auf den Beinen?“<br />

Nach einem leidenschaftlichen Kuss erklärte Shawn: „Ich bin kurz nach 5 Uhr aufge-<br />

wacht. Erst wollte ich mich noch einmal umdrehen, aber die Sonne rief nach mir. Ich konnte<br />

nicht widerstehen. Und es hat sich gelohnt. Bist du wach genug für eine kleine Runde über<br />

dem Riff?“<br />

- Eigentlich nicht ... - dachte die junge Frau. Laut sagte sie: „Na klar. Mal sehen, was die<br />

Fische so frühstücken, was?“<br />

Sie hatten am Abend ihre Flossen und Schnorchel nicht abgegeben und so konnten sie sie<br />

aus ihrem Zimmer holen. Außer ihnen war noch kein Mensch zu sehen, die wenigen Ange-<br />

stellten schienen ebenfalls noch zu schlafen. Von der Badeplattform aus stiegen Kelly und<br />

Shawn ins Wasser und schwammen zum Riff hinüber.<br />

Über eine Stunde genossen sie es, allein zu sein. Irgendwann wurde es der jungen Frau je-<br />

doch zu kalt.<br />

„Du, sei nicht böse, aber mir reicht es erst einmal. Ich fange an zu frieren.“<br />

„Hast Recht, mir ist selbst nicht sehr warm. Und wir müssen später fit sein. Wenn ich mir<br />

das da drüben so anschaue gibt es bald Frühstück.“<br />

710


Tatsächlich tat sich auf der Plattform seit einiger Zeit etwas. Die anderen Übernachtungs-<br />

gäste waren nach und nach aufgetaucht und die Angestellten eilten schon eine Weile geschäf-<br />

tig herum. Auf dem Oberdeck war eine junge Frau damit beschäftigt, vier Tische zu decken.<br />

Da ihnen der Magen knurrte wurde die Entscheidung, zur Plattform zurückzukehren durch die<br />

Aussicht auf Frühstück positiv beeinflusst.<br />

„Frühstück hört sich gut an.“, erklärte Kelly überzeugt und schwamm los.<br />

Shawn folgte. Auf der Badeplattform wurden sie fröhlich von einem der anderen Pärchen<br />

begrüßt.<br />

„Morgen. Wir lösen euch ab. Hoffentlich habt ihr uns nicht alles weg geguckt.“<br />

Kelly schüttelte ernsthaft den Kopf. „Nein, keine Sorge, ein wenig haben wir da gelassen.“<br />

Sie wünschten viel Spaß und eilten in ihren Raum, um sich trockne Sachen anzuziehen.<br />

Zehn Minuten später saßen sie an ihrem Tisch und bekamen ein reichhaltiges Frühstück ser-<br />

viert.<br />

Satt und zufrieden hockten sie eine dreiviertel Stunde später am Rande der Plattform und<br />

fütterten Fische mit Toastbrot.<br />

„Meine Güte, sind die verfressen.“, lachte Shawn, als sich drei, vier Fische auf ein Stück<br />

Brot stürzten.<br />

„Wie Piranhas!“, kicherte Kelly.<br />

„Stimmt. Wenn das Fleischfresser wären, würde ich nicht ins Wasser gehen.“ Shawn ver-<br />

zog das Gesicht. „Apropos, ins Wasser gehen ... Wann geht der Tauchgang zu den Haien<br />

los?“<br />

„Gegen 10 Uhr werden wir hier abgeholt und zu dem Tauchplatz gebracht. Hast du es dir<br />

überlegt?“<br />

Einen Moment zögerte der junge Mann noch, dann nickte er entschlossen. „Ja, das habe<br />

ich. Ich möchte es gerne machen.“<br />

Die Therapeutin lächelte liebevoll. „Das freut mich. Du wirst es nicht bereuen. Es wird ei-<br />

ne unglaubliche Erfahrung werden. Du hast gestern gemerkt, dass die Tiere friedlich sind.“<br />

Der Schauspieler dachte an den vergangenen Tag und die Begegnung mit den Weißspitzen<br />

Riffhaien. Die Raubfische hatten sich tatsächlich friedfertig benommen. Wenn die Tiere ge-<br />

füttert wurden, mochte die Situation anders aussehen. Trotzdem nickte der junge Mann.<br />

„Ich will es versuchen. Aber ...“ Er wurde rot. „Du bleibst bei mir, ja?“<br />

Kelly zog den Schauspieler an. „Ich werde keine Sekunde von deiner Seite weichen, das<br />

schwöre ich dir.“<br />

Shawn atmete erleichtert auf. „Müssen wir selbst füttern?“, fragte er verlegen.<br />

„Nein, nur wer sich traut. Ich würde es gerne versuchen. Ich finde Haie absolut faszinie-<br />

rend und sie sind wunderschön. Ihre Körper sind perfekt an ihr Leben als Räuber angepasst.<br />

Sie sind schnell, elegant, geschmeidig, eben perfekt.“<br />

711


Shawn verzog das Gesicht. „Wunderschön? Na, ich weiß nicht, dein Geschmack lässt zu-<br />

weilen etwas zu wünschen übrig, finde ich. Welche Arten werden wir denn finden?“<br />

Kelly zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht, ehrlich. Riffhaie sicher. Weißspitzen und<br />

Schwarzspitzen. Möglicherweise den Grauen Riffhai. Keiner von ihnen ist eine Bedrohung<br />

für uns.“<br />

Shawn war zwar skeptisch, nichts desto weniger wild entschlossen. Bei Carrie hatte er<br />

keine Angst empfunden. Gestern, als drei, vier Haie aufgetaucht waren, war er schon nervös<br />

gewesen. Im ersten Moment. Rasch hatte er allerdings gesehen, dass die Tiere keineswegs mit<br />

Messer und Gabel klapperten und hatte sich gefangen. Wie es heute gehen würde musste er<br />

abwarten.<br />

Die Zeit bis 10 Uhr verging schnell. Das Motorboot, welches die Taucher abholte, war<br />

zehn Minuten vor 10 Uhr da. Außer Shawn und Kelly kamen an diesem Morgen keine weite-<br />

ren Gäste dazu. Vom Festland waren fünf andere Touristen an Bord. Ohne langen Aufenthalt<br />

ging es los. Eine gute Stunde ging es in nordöstlicher Richtung an der Riffkante entlang. Nur<br />

ein paar andere Sportboote waren in der Ferne auszumachen. Shawn und Kelly saßen auf dem<br />

Sonnendeck des Motorbootes und unterhielten sich mit den anderen Gästen. Ein junges Pär-<br />

chen war gerade vor drei Tagen erst in Cairns angekommen, das anderes Paar, bei dem ein<br />

guter Freund des jungen Mannes mit von der Partie war, war bereits vier Wochen unterwegs,<br />

von Sydney die Küste hoch. Sie unterhielten sich darüber, was man gesehen hatte, bezie-<br />

hungsweise noch sehen würde. Shawn beteiligte sich entspannt an dem Gespräch. Er hatte<br />

große Fortschritte gemacht. Die Unterhaltung war nett und anregend. Rasch war das Tauch-<br />

gebiet erreicht. Drei Begleiter würden mit ins Wasser gehen. Einer von ihnen, er stellte sich<br />

als Curt vor, erklärte:<br />

„Wir werden gleich runter gehen. Ihr werdet Haistöcke 28 bekommen, falls eines der Tiere<br />

zu aufdringlich wird könnt ihr sie damit auf Distanz halten. Wir bleiben auf jedem Fall zu-<br />

sammen, entfernt sich einer von der Gruppe war’s das, klar?“<br />

Alle nickten. „Klar!“<br />

„Gut. Füttern tun wir sie, wer von euch es sich zutraut kann es gerne versuchen. Es kön-<br />

nen im besten Fall viele Haie auftauchen, bewahrt in diesem Falle die Ruhe. Wir kommen<br />

hier seit Jahren her, es ist nie was passiert. Wir werden Riffhaie sehen, in der Hauptsache<br />

Weiß- und Schwarzspitzen und Graue. Ab und zu verirren sich andere Haie hier her. Wenn<br />

ein potenziell gefährlicher Raubfisch auftaucht, ab und zu sehen mal Bullenhaie vorbei, wir<br />

hatten auch schon Makos, werden wir uns zurückziehen. Ihr dürft da unten alles machen, nur<br />

28 Der Haistock ist ein Hilfsmittel, um Haie beim Tauchen auf Distanz zu halten. Er handelt sich um einen leichten, etwa 1 bis 1,5 m langen<br />

Holzstock mit einem an der Spitze befestigten Nagel. Eine umstrittene Variante besitzt eine kleine Patrone an der Spitze, die bei Berührung<br />

auslöst und das Tier verletzt. Für die Beobachtung von Haien ist der Haistock unentbehrlich, da Haie neugierige Tiere sind und schon nach<br />

einigen Minuten am Taucher zu „schnuppern“ beginnen.<br />

712


geratet nicht in Panik. Wie gesagt, es ist in acht Jahren noch keine Schramme vorgekommen.<br />

Gut, dann mal in die Anzüge.“<br />

Zehn Minuten später waren alle bereit. Kelly und Shawn hatten sich gegenseitig geholfen,<br />

die Ausrüstung gründlich überprüft, ihre Haistöcke in Empfang genommen und es konnte los<br />

gehen. Die Tauchbegleiter hatten engmaschige große Netzbeutel bei sich, in denen sich die<br />

Futterfische befanden. Sie sprangen zuerst ins Wasser, die Besucher folgten. Es ging ungefähr<br />

6 Meter hinunter. Am Grunde angelangt wurden die Netze am Boden befestigt. Sie wurden<br />

vorher hin und her geschwenkt, um die austretenden Duftstoffe im Wasser zu verteilen. Eine<br />

Weile hieß es warten. Alle behielten die Umgebung im Auge. Plötzlich hatte Shawn das Ge-<br />

fühl, in einiger Entfernung einen dunklen Schatten auszumachen, der sich recht schnell be-<br />

wegte. Er griff nach Kellys Arm und deutete in die Richtung. Kelly versuchte, das Wasser mit<br />

den Augen zu durchdringen und sah es. Ja, da näherte sich eindeutig ein Hai. Die anderen<br />

Teilnehmer hatten den Raubfisch ebenfalls gesichtet. Nun ging es Schlag auf Schlag! Inner-<br />

halb kürzester Zeit waren es acht, neun Haie, die die Taucher umkreisten. Die Begleiter grif-<br />

fen in die Säcke und nahmen Köderfische an den Schwanzflossen heraus. Sie schlenkerten<br />

diese vor den Haien herum und endlich traute sich der erste Raubfisch zuzugreifen.<br />

Es war ein faszinierender Anblick. Eher vorsichtig und zögernd nahmen die großen Fische<br />

die angebotene Nahrung aus den Händen der Menschen. Kelly schwamm zu einem der Säcke<br />

hinüber und griff sich einen Fisch heraus. Damit drehte sie sich zu den Raubtieren herum und<br />

reckte einem näher kommenden Weißspitzen Riffhai den Köder entgegen. Shawn hielt vor<br />

Anspannung die Luft an, als er dies sah. Doch es bestand keinerlei Grund zur Sorge. Ruhig,<br />

lässig, nahm der 2 Meter lange Räuber den Fisch aus Kellys Hand. Einer der Tauchbegleiter<br />

übernahm das Fotografieren. So wurde dieser Moment festgehalten. Bisher waren es nur<br />

Weißspitzen Riffhaie, die die Taucher umkreisten. Aus der Dunkelheit des Meeres erschienen<br />

einige Schwarzspitzen Riffhaie, etwas kleiner als ihre weiß bespitzten Kollegen. Zwei Graue<br />

Riffhaie traten auf den Plan, beide um die 240 Zentimeter lang. Sie alle nahmen die angebote-<br />

nen Fische ruhig aus den Händen, die sich ihnen entgegen streckten. Shawn blieb unmittelbar<br />

neben Kelly, die ihm einen Fisch in die Hand drückte. Angespannt sah der Schauspieler die<br />

junge Frau an. Diese nickte ihm Mut machend zu. Sie nahm Shawns Hand in ihre und streckte<br />

sie langsam aus. Die Psychologin spürte, wie angespannt Shawn war, machte aber mit sanften<br />

Druck weiter. Vorsichtig näherte sich einer der Weißspitzen Riffhaie und schnappte sich den<br />

Fisch aus Shawns Hand. Begeistert schaute der junge Mann Kelly an. Diese deutete mit dem<br />

Daumen das okay Zeichen an. Nach diesem ersten Versuch war Shawn nicht mehr zu brem-<br />

sen. Immer wieder griff er in den Köderbeutel und fütterte die Haie nun ebenfalls.<br />

713


Zwar wurden die Räuber mit zunehmender Gier hektischer, wie der Tauchbegleiter Curt<br />

aber gesagt hatte, nicht ein Zahn kam den Fingern so nahe, dass es zu einem Kratzer hätte<br />

kommen können. Begeistert fütterten die Touristen, die Tauchbegleiter hielten sich zurück<br />

und gönnten ihren Gästen das unvergleichliche Erlebnis. Shawn wagte es, einem der vorbei<br />

schwimmenden Haie die Hand auf den Rücken zu legen und sie langsam an dem schwim-<br />

menden Tier entlang gleiten zu lassen. Kelly beobachtete dies und hätte gejubelt, wäre nicht<br />

das Mundstück gewesen. Es war erstaunlich, wie friedlich die Fische untereinander blieben.<br />

Fast schienen sie zu wissen, dass genug für alle da war. Allmählich wurden die beiden großen<br />

Säcke leerer und es ging dem Ende entgegen. Bevor es soweit war, bemerkte die Therapeutin<br />

plötzlich, dass die Haie unruhig wurden. Sie sah sich erstaunt um und nahm einen großen<br />

Schatten im Wasser wahr, der sich rasch näherte. Sie kniff die Augen zusammen und erkann-<br />

te, was da auf sie zu kam. Der jungen Frau wurde kurz kalt und heiß zugleich. Fast zeitgleich<br />

bekamen die anderen Taucher mit, was sich ihnen da näherte. Shawn, der dicht neben Kelly<br />

stand, erstarrte vor Entsetzen. Er packte die Therapeutin am Arm und deutete zitternd in die<br />

Richtung, aus der der große Fisch auf sie zukam. Ein gut 4,5 Meter langer Tigerhai!<br />

Die Tauchbegleiter hatten den gefährlichen Raubfisch längst ausgemacht. Sie nahmen ru-<br />

hig ihre Stöcke in die Höhe und sehr nervös taten die Touristen das Gleiche. Kelly hielt sich<br />

dicht bei Shawn, um ihn mit ihrer Gegenwart zu beruhigen. Sie hatte einmal auf Hawaii mit<br />

einem Tigerhai unter Wasser Erfahrungen gemacht. Daher geriet sie nicht in übermäßige<br />

Angst. Sie behielt den großen Räuber nur im Auge. Der Fisch schwamm majestätisch um sie<br />

herum. Er kam langsam und aufmerksam die Menschen beobachtend, näher. Die Gruppe blieb<br />

eng zusammen und die Haistöcke ragten dem Tiger entgegen. Träge und ziemlich interessiert<br />

zog dieser seinen Kreis gemächlich enger. Tigerhaie waren neugierig, also war es nicht er-<br />

staunlich, dass dieser seine Kreise enger zog. Die Tauchbegleiter machten durch Handzeichen<br />

klar, sich langsam und ruhig von den Köderbeuteln zu entfernen. Alle verstanden die Hand-<br />

zeichen und so entfernte sich die Gruppe, den gefährlichen Räuber im Auge behaltend, lang-<br />

sam von den Beuteln. Der herrliche Raubfisch behielt die seltsamen Wesen nicht weniger<br />

genau im Auge, der verlockende Duft, der den Beuteln noch entstieg reizte ihn aber mehr.<br />

Gemächlich schwamm er hinüber und unterzog die Säcke einer gründlichen Untersuchung. Er<br />

biss hinein, schüttelte die Beutel und Sekunden später trieben nur noch Fetzen derselben<br />

durchs Wasser. Enttäuscht wandte sich der Räuber den Menschen zu.<br />

Der Tauchbegleiter, der die Kamera in der Hand hielt, machte Fotos. Für ihn und seine<br />

Kollegen war es nicht die erste Begegnung mit einem Tigerhai. Aufmerksam, aber entspannt<br />

beobachtete er den Fisch. Dieser schwamm nach wie vor neugierig und keineswegs bedroh-<br />

lich um die Gruppe herum. Obwohl es ein absolut faszinierender Anblick war, hoffte Kelly<br />

fast, dass der herrliche Raubfisch verschwinden möge. Sie spürte Shawn neben sich, steif vor<br />

714


Angst. Nach einigen Minuten jedoch wurde dem Schauspieler klar, dass von dem Fisch keine<br />

akute Gefahr ausging und er entspannte sich etwas. Kelly warf einen Blick auf den Tauch-<br />

computer, es bestand jedoch kein Grund zur Sorge, sie hatten noch genügend Luft in den Fla-<br />

schen. Einige Minuten hielt der Raubfisch sich noch in unmittelbarer Nähe auf. Man konnte<br />

die hellen Streifen, die dem Tier seinen Namen gaben, überdeutlich auf der ansonsten dunkel-<br />

grauen Haut erkennen. Sogar die dreieckigen, leicht gebogenen und scharf gezackten Zähne,<br />

in dem beim Schwimmen leicht geöffneten Maul, konnte man erkennen. Unwillkürlich fuhr<br />

Shawn durch den Kopf, wie es sein musste, zwischen diese mörderischen Waffen zu geraten.<br />

Ihm kroch eine Gänsehaut über den Rücken. In Dokumentationen hatte er gesehen, wie diese<br />

Zähne riesige Brocken Fleisch aus Opfern rissen.<br />

Endlich musste der Meeresräuber sich eingestehen, dass hier nichts mehr zu holen war.<br />

Noch einen letzten Kreis um die Gruppen ziehend machte er sich wieder auf den Weg. Er<br />

würde irgendwo Beute machen. Gemächlich schwamm er davon. Die Gruppe wartete noch<br />

einen Moment, doch der Fisch hatte sich wirklich zurückgezogen. Die Tauchbegleiter mach-<br />

ten das Zeichen, aufzutauchen. Langsam, weiterhin als Gruppe zusammen bleibend und die<br />

Umgebung im Auge behaltend, tauchten sie der Oberfläche entgegen. Zwei Minuten später<br />

durchstießen neun Köpfe die Wasseroberfläche. Ruhig schwammen sie zur Badeplattform des<br />

Motorbootes hinüber, wo ein weiterer Helfer ihnen die schweren Pressluftgeräte abnahm.<br />

Kaum waren alle an Bord und hatten sich ihrer Atemgeräte entledigt ging es los.<br />

„Ich wäre fast gestorben vor Angst, anfangs und ...“<br />

„Ich dachte, ich seh nicht richtig. Das war unglaublich!“<br />

„Wie lang war der? Um die 5 Meter, oder?“<br />

„Habt ihr die riesigen Zähne gesehen? Ich hab mir die ganze Zeit vorgestellt, wie es sein<br />

muss, von so was gebissen zu werden!“<br />

„Nein, 5 Meter hatte der nicht.“<br />

„Was für ein herrliches Raubtier.“<br />

„Habt ihr gesehen, wie spielend leicht er die Säcke in Konfetti verwandelt hat?“<br />

„Wenn so ein Hai angreift, kann man den mit dem Stock überhaupt auf Distanz halten?“<br />

„Habt ihr das öfter, dass so große Haie auftauchen?“<br />

„Nein, der nimmt den Stock bestimmt hinterher, nachdem er dich gefressen hat, als Zahn-<br />

stocher, um sich deine Reste zwischen den Zähnen vor zu holen.“<br />

„Was hätten wir nur machen sollen, wenn der aus einem von uns einen Happen hätte her-<br />

aus beißen wollen?“<br />

„Ich fand ihn wunderschön! So elegant und perfekt.“<br />

„Das werde ich mein Lebtag nicht mehr vergessen!“<br />

Und das war die Meinung aller.<br />

715


Als sich die erste Aufregung über die gefährliche Begegnung gelegt hatte kämpften sich<br />

die Taucher aus den Neoprenanzügen und bekamen anschließend eine Tasse Kaffee gereicht.<br />

Damit setzten sich die Touristen einschließlich Kelly und Shawn auf das Oberdeck und es<br />

ging sofort weiter. Shawn gab zu, anfangs wie gelähmt vor Angst gewesen zu sein. Zu<br />

schlimm war das, was man in den Medien über Tigerhaie hörte und las. Sie galten als Müll-<br />

schlucker der Meere. Man hatte schon Nummernschilder, Teerpappe, Dosen, Autoreifen,<br />

kurz, die ungewöhnlichsten Sachen in ihren Mägen gefunden. Tigerhaie neigten dazu, alles zu<br />

verschlucken und zu attackieren, was ihnen vor die zahngespickten Mäuler kam. Sie waren<br />

neben den Weißen Haien die gefährlichsten und zu Recht gefürchtetsten Raubfische. Dass sie<br />

alle gerade einem solchen Raubtier unter Wasser begegnet waren, war zugleich faszinierend<br />

und beängstigend.<br />

„Ich war kurz vor einer ausgewachsenen Panik.“, gab eine der Frauen zu.<br />

„Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte blubbernd das Weite gesucht. Erst, als das Tier<br />

gar keine Anstalten machte, sich groß mit uns zu beschäftigen wurde ich lockerer.“<br />

„Ging mir genau so.“, stimmte Shawn zu. Er sah Kelly an.<br />

„Du hättest ihm noch einen Fisch vor die Nase gehalten, oder?“<br />

Die Therapeutin lachte. „Ja, aber erst, nachdem ich den ersten Schrecken überwunden hat-<br />

te. Ich hatte euch gegenüber einen Vorteil: Es war nicht mein erster Tigerhai. Ich habe vor<br />

Kailua, Hawaii, vor ein paar Jahren einen Tiger unter Wasser gesehen. Der war eine Ecke<br />

kleiner, dafür aufdringlicher.“<br />

Einer der Tauchbegleiter hatte Kellys Worte gehört. Er kam näher und hockte sich zu ih-<br />

nen. „Hawaii ist bekannt für seine Tiger. In Australien treten sie in den letzten zwei, drei Jah-<br />

ren verstärkt auf. In Sydney hatten wir im Januar große Fischschwärme unmittelbar an der<br />

Küste, vor Bondi und Botany Bay, die unglaubliche Mengen an Haien angezogen haben. Im<br />

Hafen werden heute deutlich mehr Haie gezählt. Biologen meinen, das vermehrte Auftreten<br />

und die gestiegene Zahl der Angriffe ließe sich auf die Überfischung der Region zurückfüh-<br />

ren.“<br />

„Ich habe damals einen Rundflug über Bondi und Botany gemacht, es war unbeschreib-<br />

lich! Man konnte beobachten, wie die Haie die riesigen Schwärme Beutefische einkreisten<br />

und von allen Seiten in sie hinein stießen. Sie müssen gedacht haben, sie wären im Schlaraf-<br />

fenland gelandet.“<br />

„Ja, von dort sind die Fischschwärme weiter nach Norden gezogen. Vor den Küsten oben<br />

in Cairns haben sich ähnliche Szenen abgespielt. Es war faszinierend.“ Der Tauchbegleiter<br />

schwelgte in der Erinnerung an dieses Naturschauspiel, genau wie Kelly. „So was habe ich<br />

vorher noch nie gesehen.“ Er stemmte sich hoch und erklärte: „Wir werden Fantasea in gut<br />

dreißig Minuten erreichen. Hoffe, euch hat es gefallen.“<br />

Selbstverständlich hatte es das!<br />

716


*****<br />

„Ich komme mir langsam vor wie eine Schallplatte, die einen Sprung hat.“ Shawn lachte.<br />

Sie saßen bei einem verspäteten Mittagessen auf dem Oberdeck der Plattform. „Ich werde das<br />

nie vergessen. Und es war ... ja, genau, das absolute Highlight bisher! Ich habe Haie gefüt-<br />

tert!“<br />

Er hielt seinen Fotoapparat in der Hand und betrachtete sich die Bilder, die der Tauchbe-<br />

gleiter gemacht hatte. Sie hatten die Fotos via Laptop auf die Kameras der Gäste überspielt<br />

und so konnten Kelly und Shawn sie sich auf dem Display der Kamera anschauen. Von dem<br />

Tigerhai waren etliche Bilder gemacht worden und Shawn bekam noch im Nachhinein eine<br />

Gänsehaut.<br />

„Wenn der angegriffen hätte ... Da hätten wir alt ausgesehen, oder?“<br />

Weit ab von jedem Hai konnte Kelly nicken. „Ja, einen ernst gemeinten Angriff eines fast<br />

5 Meter langen Tigerhaies hätten wir mit den Stöcken nicht verhindern können, da ist klar.<br />

Das wäre, als versuche man, einen startenden Jet mit den Händen festzuhalten. Er hat nicht<br />

angegriffen, es ist nichts passiert und es ist ein absolut unvergessliches Erlebnis gewesen.<br />

Nicht viele Amateure können von sich behaupten, ohne Käfig mit einem Tiger getaucht zu<br />

sein.“<br />

Shawns Augen leuchteten. „Ich sehe bereits, wie Mum und Dad weiß werden wie eine<br />

Wand, wenn ich ihnen das erzähle. Wenn sie die Fotos sehen ...“ Er grinste still vor sich hin.<br />

Im Moment fühlte er sich, als könnten ihn zehn Carries nicht behelligen.<br />

Kelly schaute auf ihre Uhr. Es war kurz nach 15 Uhr. „Wenn du noch Schnorcheln willst,<br />

müssen wir ins Wasser. In einer Stunde geht’s heimwärts.“<br />

Shawn brauchte nicht zu überlegen. „Auf jedem Fall will ich noch einmal ins Wasser. Da-<br />

zu werde ich so schnell keine Gelegenheit mehr bekommen.“<br />

Rasch machten sie sich fertig und schwammen Minuten später über dem Riff. Noch ein-<br />

mal konnten sie in der unglaublichen Farbenvielfalt der Korallen und der Fische schwelgen.<br />

Shawn fotografierte erneut viel, um später eine größere Auswahl zu haben, sich die besten<br />

Fotos heraussuchen zu können. Beständig schien ihm eine Anblick schöner zu sein, ein Koral-<br />

lenstock besonders schön in der Sonne zu funkeln, ein Fischschwarm in einzigartiger Forma-<br />

tion an ihm vorbei zu schwimmen. Als sie eine dreiviertel Stunde später an Deck des Katama-<br />

rans in der Sonne saßen meinte er:<br />

„Bevor wir nach Monkey Mia kommen muss ich mir noch ein paar Speicherkarten besor-<br />

gen. Ich habe hier so viel fotografiert, dass es für die Delfine nicht mehr reichen wird. In<br />

Townsville werde ich sicher welche bekommen, oder?“<br />

717


„Klar. Wir haben einen Tag Zeit. Und so viel gibt es in Townsville nicht anzusehen. Da<br />

können wir in Ruhe Shoppen gehen.“<br />

Die Rückfahrt nach Shute Harbour schien dem jungen Mann viel schneller zu vergehen als<br />

der Weg raus zum Riff am vergangenen Vormittag. Gegen 19 Uhr legte der Katamaran in<br />

Shute Harbour an und damit war der wundervolle Ausflug endgültig vorbei. Wehmütig ver-<br />

ließen Kelly und Shawn das Boot und gingen zu ihrem Leihwagen hinüber. Dieser hatte den<br />

ganzen Tag in der prallen Sonne gestanden und war dementsprechend aufgeheizt. Sie öffneten<br />

erst einmal alle Türen und ließen die angenehm kühle Abendluft hinein. Als das Wageninnere<br />

herunter gekühlt war, stiegen sie ein und fuhren direkt zum Motel. Hier verschwanden sie<br />

nacheinander unter der Dusche. Anschließend setzten sie sich auf den Balkon und gönnten<br />

sich eine Flasche Bier. Hunger hatten sie keinen, sie hatten auf der Rückfahrt an Bord noch<br />

etwas gegessen.<br />

„Ob es dir gefallen hat brauche ich wohl nicht zu fragen, oder?“ Kelly sah zu Shawn hin-<br />

über, der schweigsam war. Der junge Schauspieler sah auf.<br />

„Nein, selbstverständlich bedarf das keiner Frage. Es war absolut überwältigend. Ich kann<br />

noch gar nicht fassen, dass es vorbei ist. Wie schnell Zeit vergehen kann. Schade, dass sie bei<br />

Carrie nicht so schnell vergangen ist. Da kam mir jeder einzelne Tag wie viele vor.“<br />

Er nahm einen Schluck Bier und fragte: „Morgen fahren wir also zurück nach Townsville,<br />

was? Bald ist die Zeit an der Küste Queenslands endgültig vorbei. Ich denke, ich sollte mal<br />

bei meinen Eltern anrufen, oder was meinst du? Sie werden sich freuen, von uns zu hören.“<br />

Shawn sah Kelly bittend an.<br />

„Sicher. Ich habe nichts dagegen. Sie würden sich bestimmt freuen. Machen wir morgen<br />

gleich, was meinst du?“<br />

Shawn strahlte. „Ja, gerne. Ich kann ihnen erzählen, dass ich mit Jerry gesprochen habe.<br />

Darüber wären sie mit Sicherheit erleichtert.“ Er freute sich, dass Kelly zugestimmt hatte. Er<br />

hätte gerne wieder einmal mit seinen Eltern gesprochen. Es gab so vieles, was er erzählen<br />

wollte. Kelly merkte, wie sehr Shawn die Aussicht, mit seinen Eltern zu telefonieren, freute.<br />

Sie schaute auf das Wasser hinaus und sagte ruhig:<br />

„Shawn, ich möchte aber nicht, dass du von uns erzählst, okay? Das ist erst einmal etwas,<br />

was nur uns beide angeht.“<br />

„Wenn du es möchtest.“ Der junge Mann gähnte verhalten. „Ich bin müde, das Tauchen<br />

ist anstrengend. Wie sieht es aus, wollen wir uns hinlegen?“<br />

Kelly war ebenfalls kaputt und hatte nichts einzuwenden, obwohl es erst kurz vor halb 10<br />

Uhr war. „Ja, geht mir genauso. Es waren zwei absolut wundervolle Tage, oder?“<br />

Der strahlende Ausdruck auf Shawns Gesicht sagte mehr als tausend Worte!<br />

718


59) Dinner in der Hölle<br />

Die Erinnerungen verschönern das Leben, aber das Vergessen allein macht es<br />

erträglich.<br />

Honoré de Balzac<br />

Für die knapp 250 Kilometer nach Townsville benötigten Kelly und Shawn am kommen-<br />

den Morgen keine drei Stunden. Kelly war in einem Rutsch durch gefahren und so erreichten<br />

sie die Küstenstadt gegen 11.30 Uhr. Mit fast 150.000 Einwohnern zählte Townsville zu den<br />

Großstädten in Queensland. Sie war nach Brisbane, Gold Cost und Caloundra die viertgrößte<br />

Stadt des Bundesstaates. Zusammen mit den Outer Suburbs verteilte sich die Stadt auf über<br />

140 Quadratkilometern. Viel zu bieten hatte Townsville nicht. Neben dem Castle Hill, einem<br />

286 Meter hohen Granit Monolithen, der im Zentrum der Stadt lag und einen wunderschönen<br />

Ausblick über Townsville und Umgebung bot, war nur noch der über 2 Kilometer lange wun-<br />

derschöne Strand mit seiner Promenade sehenswert. Architektonisch war Townsville eher<br />

langweilig. Einige kleinere Museen, wie das Museum of Tropical Queensland und ein recht<br />

schönes Aquarium, das Reef HQ, welches das wohl größte Riffaquarium der Welt beinhaltete,<br />

damit waren die Sehenswürdigkeiten ausgeschöpft. Kelly fuhr direkt an die Standpromenade<br />

und hielt vor dem ersten Motel, dass sie ansprach.<br />

„Wie ist es, wollen wir es hier versuchen?“, fragte sie den Schauspieler.<br />

„Sieht doch nett aus. Ja, meinetwegen. Die eine Nacht ...“<br />

Minuten später trugen sie all ihr Gepäck in den ersten Stock. Ihr Zimmer war freundlich<br />

eingerichtet, sauber und der Balkon lag zum Strand hinaus. Der Blick von hier ging direkt<br />

hinüber nach Magnetic Island, einer etwa 5 Kilometer der Küste vorgelagerten Insel, die offi-<br />

ziell zum Stadtgebiet Townsvilles gehörte und als Nationalpark eingetragen war.<br />

Sie hielten sich nicht lange im Zimmer auf, sondern griffen sich ihre Sonnenhüte, Shawns<br />

Kamera und waren erneut unterwegs. Natürlich mussten sie an den langen, herrlichen, pal-<br />

menbewachsenen, breiten Strand, das ließ Shawn sich nicht nehmen. Gemütlich schlenderten<br />

sie am Wasser entlang. An einer Stelle war ein Netz rechteckig im Wasser ausgespannt.<br />

„So ein Hainetz, bringt das was?“, fragte der Schauspieler.<br />

„Die sind in erster Linie für die Würfelquallen vorgesehen. Sie sind wesentlich feiner als<br />

die normalen Hainetze. Aber diese werden natürlich auch davon aufgehalten.“, erklärte Kelly.<br />

Sie sah, dass Shawn Schweiß auf der Stirn stand und fragte: „Wollen wir lieber unter den<br />

Palmen weiter gehen? Du siehst aus, als wäre dir heiß.“<br />

„Kann man sagen. Ich frage mich, wie du das aushältst. Es sind bestimmt 45 Grad.“<br />

„Ja, mindestens. Wenn nicht noch mehr.“<br />

719


Hand in Hand eilten sie zu den die Beach säumenden Palmen hoch und gingen in ihrem<br />

Schatten weiter. Plötzlich riss Shawn erstaunt die Augen auf.<br />

„Was ist denn das?“, fragte er lachend.<br />

Unter einigen Hinweisschildern lag in einer runden Halterung eine große Flasche Essig.<br />

„Hatte ich dir erklärt. Mit Essig bekommt man im Notfall die Nesselfäden der Würfelqual-<br />

len abgespült. Solche Flaschen und Hinweisschilder findest du an allen exponierten Stränden<br />

in Queensland.“<br />

„Stimmt, hattest du erwähnt. Sieht interessant aus.“ Er konnte sich nicht verkneifen, ein<br />

Foto davon zu machen. Dann gingen sie weiter. Unter den Bäumen war es deutlich angeneh-<br />

mer zu laufen. Sie liefen bis zum Ende des Strandes, der hier von einem künstlich angelegten<br />

Pool begrenzt wurde. Wie die Lagune in Cairns sollte dieser Rock Pool den Touristen und<br />

Einheimischen ein gefahrloses Baden ermöglichen. Durch einen breiten Steinwall vom Meer<br />

abgeschirmt konnte hier nichts eindringen, weder Haie noch Quallen. Ein wunderschöner,<br />

rund um den Pool angelegter parkähnlicher Liegebereich lud Besucher ein, es sich hier auf<br />

Decken gemütlich zu machen. Direkt hinter dem Pool begann ein felsiger Küstenabschnitt,<br />

der sich gute 3 Kilometer bis zum nächsten Strandabschnitt an der Küste entlang zog. Ein<br />

kleines Stück stiegen Shawn und Kelly in die Felsen hinein, bis man einen fantastischen Aus-<br />

blick auf den Pool hatte. Kurz pausierten sie hier, bevor sie sich auf den Rückweg machten.<br />

Gegen 13 Uhr hatten sie ihr Motel erreicht. Kurz hinter dem Motel war auf einem künstlich<br />

aufgeschütteten, bis zum Wasser reichenden Vorsprung ein Bistro gebaut worden. Hier setz-<br />

ten Shawn und Kelly sich zu einem leichten Mittagessen an einen freien Tisch unter einer<br />

Palme. Als sie satt waren kehrten sie zum Motel zurück und setzten sich ins Auto.<br />

„Wir fahren in die Einkaufsstraße, dort kannst du noch Speicherkarten besorgen. Von dort<br />

geht es auf den Castle Hill, den Ausblick sollten wir uns nicht entgehen lassen. Man hat einen<br />

fantastischen Blick.“<br />

Shawn bat: „Könnten wir noch einen Abstecher zum Hafen machen, bevor wir shoppen<br />

gehen?“<br />

fen ...“<br />

„Klar, kein Problem. Der Jachthafen ist aber nicht groß.“<br />

„Macht doch nichts. Ich würde ihn mir nur gerne anschauen. Vielleicht ist was zu verkau-<br />

Kelly fuhr lachend vom Parkplatz des Motels herunter und reihte sich in den Verkehr auf<br />

der Straße ein. Minuten später parkte sie am kleinen Jachthafen von Townsville den Leihwa-<br />

gen im Schatten einiger großer Bäume. Sie stiegen aus und schlenderten eine Weile am Hafen<br />

entlang. Von hier aus hatte man einen großartigen Blick auf Castle Hill.<br />

„Schon für den Blick hat es sich doch gelohnt, kurz hier anzuhalten.“, meinte der Schau-<br />

spieler und machte einige Aufnahmen des Hafens und des Monolithberges im Hintergrund.<br />

720


Kelly schmunzelte. „Ja, mein Superfotograf, klar hat es sich gelohnt. So, reiß dich los, ich<br />

wollte dir den Ausblick im Hellen zeigen.“<br />

Brav folgte Shawn ihr zum Wagen zurück und etwas später steuerte die Therapeutin ein<br />

Parkhaus an einem Einkaufszentrum an. Eilig suchten sie nach einem Fotoshop und hatten<br />

schnell einen gefunden. Shawn frischte noch ein letztes Mal seinen Vorrat an Speicherkarten<br />

auf und schon eilten sie zum Wagen zurück.<br />

Ein Stück ging es durch ruhige Wohngebiete mit den üblichen, netten Einfamilienhäusern.<br />

Zügig hatten sie die Zugangsstraße zum Castle Hill erreicht. Sie schlängelte sich den Berg<br />

hoch und man hatte von hier einen schönen Blick über die Gegend. Kelly stoppte ab und zu,<br />

damit Shawn Fotos machen konnte. Einige Autos kamen ihnen von oben entgegen. Nach<br />

fünfzehn Minuten hatten sie die große Parkarea erreicht. Hier standen noch einige Wagen in<br />

der Sonne. Kelly fand einen freien Parkplatz und sie machten sich zu Fuß auf den Weg zur<br />

Ausguckplattform. Dort waren ziemlich viele Touristen damit beschäftigt, in jede Himmels-<br />

richtung zu fotografieren, den Ausblick auf Townsville und Umgebung in allen möglichen<br />

Sprachen zu Kommentieren und ansonsten den Blick zu genießen. Shawn war begeistert.<br />

„Was ist das für eine Insel dort? Das wollte ich dich die ganze Zeit fragen.“<br />

Kelly hatte es sich auf einem Stein am Hang gemütlich gemacht und erklärte: „Das ist<br />

Magnetic Island. Die Insel wurde im Jahre 1770 von James Cook entdeckt, als er die Küste<br />

nach Norden hoch schipperte. Als er mit seiner Endeavour an der kleinen Insel vorbei fuhr<br />

spielte an Bord der Kompass aus nie wirklich geklärten Gründen verrückt. Natürlich wurde<br />

die Insel für das seltsame Phänomen verantwortlich gemacht und Cook taufte sie kurzerhand<br />

Magnetic Island. Sie ist ungefähr 52 Quadratkilometer groß und ein Nationalpark. Offiziell<br />

gehört sie zum Stadtgebiet Townsvilles.“<br />

Shawn sah gedankenverloren zu der grünen Insel kaum 8 Kilometer vor der Küste hin-<br />

über. „Ist sie bewohnt?“<br />

„Ja, es leben ungefähr zweitausend Menschen dort. Parkangestellte, Angestellte der Res-<br />

taurants und Motels, es gibt vier kleine Siedlungen. Horseshoe Bay, Arcadia Bay, Nelly Bay<br />

und Picnic Bay.“<br />

„Sieht von hier wunderschön aus.“<br />

„Nicht nur von hier. Es gibt fantastische Wanderwege. Sollten wir für spätere Trips auf je-<br />

dem Fall einkalkulieren.“<br />

Sie blieben noch eine Weile vor Ort und genossen die Aussicht. Schließlich machten die<br />

Beiden sich auf den Rückweg zum Wagen.<br />

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass wir morgen an der anderen Seite Australiens sind.<br />

Und bald zurück in Eildon. Kaum zu glauben. Werden wir es nicht vermissen, jeden Tag et-<br />

was Neues zu sehen?“<br />

721


„Wir können von Eildon aus Ausflüge machen, Baby. Dass wir zurückkehren heißt nicht,<br />

dass wir uns in meinem Haus einsperren müssen.“<br />

Shawn seufzte. „Da hast du Recht. Und es ist noch einiges offen, das kannst du mir glau-<br />

ben. Carrie hatte sich gerade erst warm gelaufen.“<br />

Ihm huschte ein Schauer über den Rücken. „Heute Abend möchte ich dir gerne von ... von<br />

dem netten Dinner nach dem netten Tag mit den netten Besuchern erzählen.“<br />

Seine Stimme klang gepresst. Langsam nickte Kelly.<br />

„Das ist eine gute Idee. Der Tag war für dich schlimm, es wäre gut, wenn wir ihn ab-<br />

schließen könnten.“<br />

Der Schauspieler schnaufte angespannt. „Es wurde noch richtig schön ...“, meinte er leise.<br />

Bedrückt sah er aus dem Wagenfenster.<br />

fon!“<br />

„Später, okay. Wenn wir gleich im Motel sind rufst du erst einmal deine Eltern an.“<br />

Sofort besserte sich Shawns Stimmung. „Das hätte ich fast vergessen. Gib Gas.“<br />

Kelly tat ihm lachend den Gefallen.<br />

„Hallo, Mum!“<br />

*****<br />

„Shawn! Wie wundervoll, dass du dich meldest. Paul! Komm, schnell, Shawn ist am Tele-<br />

Der junge Schauspieler hörte seine Mutter lautstark nach seinem Vater rufen und musste<br />

lachen.<br />

„Jetzt habe ich einen Hörsturz.“<br />

Shawns Mutter kicherte verlegen. „Oh, Liebling, das tut mir leid. Erzähle, wo seid ihr?<br />

Geht es dir gut, mein Schatz? Bei euch alles in Ordnung?“<br />

Es knackte kurz leise in der Leitung und Shawn wusste, dass seine Mutter auf Lautspre-<br />

cher umgeschaltet hatte. Und schon hörte er die freudige Stimme seines Vaters.<br />

„Shawn, mein lieber Junge! Endlich meldest du dich mal. Wie geht es dir? Wo treibt ihr<br />

euch denn herum?“<br />

„Wir sind ins Townsville, morgen fliegen wir nach Perth. Mum, Dad, wir waren am Great<br />

Barrier Reef. Etwas Schöneres könnt ihr euch nicht vorstellen! Kelly hatte mich damit über-<br />

rascht, dass wir eine Nacht direkt am Riff übernachtet haben. Es gibt auf der Plattform vier<br />

Räume, einen hatte sie vor einer Weile heimlich gemietet. Es war Wahnsinn. Ihr könnt euch<br />

nicht vorstellen, wie schön das Riff ist. Fische soweit das Auge reicht. Und die Korallen. Eine<br />

schöner als die andere. Wir haben Barsche gesehen, groß wie Bernhardiner. Und ...“<br />

Paul McLean unterbrach den Redefluss seines Sohnes. „Was denn um Himmels Willen für<br />

eine Plattform?“, fragte er dazwischen.<br />

Kelly konnte ein Lachen nicht mehr unterdrücken.<br />

722


„Man wird mit einem großen Katamaran raus zum Riff gebracht. Dort ist eine riesengroße<br />

Plattform fest im Wasser verankert, an der das Schiff festmacht. Auf dieser Plattform sind<br />

kleine, einfache Blechgebäude gebaut worden. Büro, Tauchbasis, und vier winzig kleine<br />

Räume zum Übernachten. Von dieser Plattform aus geht man zum Schnorcheln, zum Tau-<br />

chen, zum Glasbodenboot fahren, das kleine Motorboot, dass einen zur Landeplattform des<br />

Helikopters bringt macht dort fest, ebenso das U-Boot.“<br />

„Das klingt wunderschön. Und dort habt ihr übernachtet?“, fragte Anna nach.<br />

„Ja. Kelly hatte mir davon erzählt, dass es möglich ist, dort zu schlafen. Die ganze Zeit tat<br />

sie so, als wäre kein Raum mehr zu bekommen gewesen. Als abends der Katamaran ablegen<br />

wollte um zum Festland zurückzukehren hat sie erst die Katze aus dem Sack gelassen. Wir<br />

bekamen ein Sterne-Abendbrot und sind am nächsten Morgen zum Haifüttern getaucht.“<br />

Am anderen Ende der Leitung war ein zweifaches, erschrockenes Schnaufen zu hören.<br />

„Was seid ihr?“<br />

Annas Stimme klang erschrocken. Shawn lachte vergnügt.<br />

„Ja, Mum, du hast richtig gehört. Kelly hatte es gebucht, überließ aber die Entscheidung<br />

mir, es zu tun oder nicht. Ich habe lange überlegt, letztlich habe ich mich entschieden, es zu<br />

versuchen. Es war ... der absolute Hammer. Ich kann es gar nicht erwarten, euch die Fotos zu<br />

zeigen. Ich habe Haie gefüttert. Aus der Hand! Und dann ...“ Er machte unwillkürlich eine<br />

kleine Pause.<br />

„Was, und dann?“, fragte Paul ungeduldig und besorgt.<br />

„Dann tauchte doch tatsächlich aus dem Nichts ein großer Tigerhai auf.“<br />

Shawn und Kelly konnten regelrecht sehen, wie Paul und Anna tausende von Kilometern<br />

entfernt die Farbe aus dem Gesicht wich.<br />

„Was?“<br />

„Ja, ein großer Tiger. 4,5 Meter, mindestens. Euer Sohn hat vor Angst fast in den Tau-<br />

cheranzug gemacht.“ Shawn lachte. Anna und Paul konnten nicht lachen. Sie waren scho-<br />

ckiert.<br />

„Ist euch etwas passiert, Liebling?“, fragte Anna nervös.<br />

„Nein, Mum, dann könnte ich wohl kaum anrufen. Der Hai hat uns Guten Tag gesagt und<br />

ist seiner Wege geschwommen.“ Shawn unterhielt sich noch fast dreißig Minuten mit seinen<br />

Eltern. Er erzählte hauptsächlich vom Riff und wurde an einigen Stellen von Kelly unterstützt.<br />

Schließlich verabschiedete er sich von seinen Eltern mit dem Versprechen, sich zu melden,<br />

wenn er und Kelly Eildon erreicht hatten.<br />

*****<br />

Etwas später lag der Schauspieler neben Kelly auf dem Bett.<br />

723


„Du wolltest davon erzählen wie es an dem bewussten Abend beim Dinner weiter ging.“,<br />

brachte die Therapeutin das Gespräch auf die Entführung. Sie hatte Shawn bewusst in Ruhe<br />

gelassen in den letzten Tagen, aber es musste weiter gehen. Der junge Mann wurde steif. Lei-<br />

se erwiderte er:<br />

„Ja, richtig ... Ich ... Ich habe den Abend geschickt verdrängt, fürchte ich. Manches dort ...<br />

Ich wollte nie wieder daran denken müssen, so, wie ich das Riff nie vergessen will. Aber ich<br />

habe gesagt, ich will davon erzählen. Also muss ich mich erinnern. Kann sein, dass es etwas<br />

wirr rüber kommen wird, okay?“ Schlagartig war der junge Mann, der in den letzten Wochen<br />

große Fortschritte gemacht hatte, wieder ein verängstigtes Bündel Verzweiflung. Er suchte die<br />

Nähe Kellys, kuschelte sich an sie und schloss die Augen. Angestrengt bemühte der Schau-<br />

spieler sich, zu jenem Abend zurückzukehren.<br />

„Als ...“ Er prustete angespannt. „... als alle ihren Spaß an mir gehabt hatten durfte ich<br />

mich in mein Zimmer zurückziehen. Ich brauchte dringend eine Pause. Teresa kam zu mir<br />

und behandelte die kleinen Brandwunden, die ich am ganzen Körper dank der Zigaretten da-<br />

von getragen hatte. Als sie fertig war erklärte sie mir, dass ich um Punkt 19 Uhr im Esszim-<br />

mer zu sein hatte. Ich habe mich ausgeruht und bin um 19 Uhr zur Stelle gewesen.“<br />

Shawn musste durchatmen, bevor er weiter sprechen konnte. „Dort saßen alle am Tisch.<br />

Carrie befahl mir, in die Küche zu gehen und das Essen aufzutragen. Es war ein wundervolles<br />

Gefühl, weißt du? Nackt servieren zu müssen. Es gab einen Braten ... ich habe keine Ahnung<br />

mehr, was es war. Ich musste während des gesamten Essens alle bedienen, Wein nachschen-<br />

ken, Kartoffeln nachlegen, so was. Wenn es nicht schnell genug ging oder ... oder noch<br />

schlimmer, wenn ich kleckerte, bekam ich ... Sie schlugen mir mit einem Lederpaddel auf den<br />

Penis ... Nach dem dritten oder vierten Mal hatte ich solche Angst vor weiteren Schlägen, dass<br />

ich beständig nervöser wurde und immer öfter vergaß, Gemüse oder Kartoffeln rechtzeitig<br />

nachzulegen. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich ... Ich konnte nicht mehr richtig auffül-<br />

len ohne etwas zu verschütten, verstehst du? Ich habe ... keine Ahnung, fünfzig, sechzig<br />

Schläge bekommen, bevor endlich alle satt waren. Ich war nicht gefesselt und ... Jedes Mal,<br />

wenn ich weg zuckte vor Schmerzen, oder meine Hände unwillkürlich versuchten, meinen<br />

Penis zu schützen gab es drei Schläge extra.“ Shawn merkte gar nicht, dass seine Linke sich<br />

zwischen seine Beine verirrte, als müsse er seinen Intimbereich noch heute vor Schlägen<br />

schützen. „Als sie endlich alle satt waren, hatte ich das unangenehme Gefühl, mein Penis sei<br />

auf die dreifache Größe angeschwollen ... Ich musste abräumen und anschließend wahlweise<br />

Kaffee oder Espresso servieren. Und dann ...“<br />

Der Schauspieler schluchzte auf. Die Psychologin ahnte, dass der angenehme Teil des<br />

Abends damit ein Ende gefunden hatte. Und sie hatte Recht.<br />

724


„Als sie ihren Kaffee tranken ... Ich war fertig mit dem Servieren und sie fesselten meine<br />

Hände auf den Rücken. Einer ... einer der Typen befahl mir, mich unter dem Tisch zwischen<br />

seine Beine zu knien und ... und ... ihm einen zu Blasen ...“<br />

Fassungsloses Entsetzen schlug über Kelly zusammen. „Oh Gott, Baby ...“ Tränen stürz-<br />

ten der Therapeutin über die blassen Wangen. Shawn lag zitternd in ihren Armen.<br />

„Als ich da kniete ... Es ging ihm nicht schnell genug ... Er packte mich brutal in den Haa-<br />

ren und zwang meinen Kopf in seinen Schoß ... Er drohte mir, wenn ich es nicht richtig ma-<br />

chen würde ... Er drohte, mir ... mir ein paar Finger abzuschneiden ... Ich ... ich habe mir Mü-<br />

he gegeben und er kam ... Alle waren begeistert. Anschließend musste ich alle Männer bedie-<br />

nen, als letzten Brett ...“ Shawn schluchzte zum Steinerweichen. Er konnte minutenlang nicht<br />

weiter sprechen. Endlich hatte er sich soweit gefangen, dass er stockend fortfahren konnte.<br />

„Als ich alle durch hatte ... Ich habe Carrie auf Knien angebettelt, mich auf die Toilette zu<br />

lassen. Mir war so speiübel, ich hatte Angst, mich auf den Teppich zu übergeben ... Sie hat<br />

mich nicht gelassen ... Sie sagte, wenn ich ihr den Teppich voll kotze wäre sie es, die mir ein<br />

paar Finger abschneiden würde. Ich musste mich also zusammen reißen ... Sie machte meine<br />

Hände frei und befahl mir, mich auf den Esstisch zu legen. Quer, nicht längs ... Sie haben<br />

meine Hände an die Tischbeine gefesselt, mit Stricken ... Ich bekam einen weiteren Strick<br />

direkt über den Unterleib gelegt und den haben sie an Haken am Tisch so stramm gezogen,<br />

dass ich ... Ich konnte mich kaum noch rühren. Zuletzt haben sie mir die Beine ... Sie haben<br />

sie hoch gedrückt und auseinander und ... an die Tischbeine, an denen ja schon meine Hände<br />

gefesselt waren, befestigt.“<br />

Erneut konnte der junge Mann nicht weiter reden. Erneut brauchte er Minuten, um sich<br />

soweit zu fangen, dass er fortfahren konnte. „Carrie schlug ... einen Wettstreit vor. Sie und<br />

Alan wollten die Punktrichter spielen und die anderen sollten ... Sie sollte Gegenstände su-<br />

chen, die sie ... Bitte, Kelly, können wir das ausfallen lassen, bitte!“ Shawn flehte die Thera-<br />

peutin an, doch Kelly wusste, dass es ihm nicht helfen würde, dieses Kapitel unausgesprochen<br />

zu lassen. Unter Tränen schüttelte sie den Kopf und sagte sanft:<br />

„Babe, es hilft dir nichts, wenn du Sachen auslässt. Du hast selbst gemerkt, wie gut es dir<br />

tut, die schrecklichen Dinge auszusprechen, du schaffst auch diesen Abend und wirst dich<br />

hinterher erneut besser fühlen.“<br />

Shawn starrte Kelly aus tränenüberströmten Augen an. „Warum ...? Ich will das nicht er-<br />

zählen, bitte! Warum musst du mich ... so quälen? Ich denke, du liebst mich ...“<br />

So ruhig es ihr möglich war antwortete die Psychologin: „Du weißt, dass ich dich Liebe.<br />

Mehr, als ich es je sagen könnte. Gerade deshalb musst du weiter berichten. Es soll doch<br />

nichts von Carrie an dir hängen bleiben. Lass dir Zeit so viel du brauchst, bevor du weiter<br />

redest, du schaffst das.“<br />

725


Verzweifelt wimmerte Shawn: „Ich hasse dich ... Ich ... Oh Gott, bitte ... Okay ... Sie ha-<br />

ben ... Sie suchten sich ... Gegenstände, die sie ... mir ... einführen konnten ... in ... in den<br />

Anus. Die beste Idee sollte ... eine Flasche Champagner gewinnen ...“<br />

Von heftigen Schluchzern unterbrochen redete Shawn sich in den nächsten Minuten dieses<br />

grässliche Detail seiner Gefangenschaft von der Seele. „Es war ... alles dabei ... aber gewon-<br />

nen hat ... Brett ... Er hatte ... Den hatte er fertig, für eine andere ... Situation ... Einen großen<br />

Penis aus Eis ... Nicht so groß vom Umfang her ... Aber ... lang ... Als er ... als er ihn in mich<br />

schob ... Zuerst war es nur unangenehm ... Dann fing es an höllisch weh zu tun ... Er war so<br />

lang und so kalt ... Ich hatte das Gefühl, das Ding würde ... es würde bis zum Magen kommen<br />

... Ich habe geschrien und sie haben nur gelacht und geklatscht und Brett zu seinem genialen<br />

Einfall gratuliert. Teresa war es, die ... die Sache beendete. Sie sagte, es könne durch die Kälte<br />

zu dauerhaften Schäden durch Kälteverbrennung kommen ...“<br />

Der Schauspieler redete wie unter Zwang weiter. Es war, als wäre ein Damm gebrochen.<br />

Und Kelly unterbrach ihn nicht, sie war froh, dass es aus Shawn heraus sprudelte.<br />

„Ich habe mich so entsetzlich gefühlt ... Abgesehen von den Schmerzen. Ich meine, ich<br />

kannte Carrie und die anderen ... Da hatte ... Ich konnte mir bei ihnen ... Da war kein Scham-<br />

gefühl mehr, verstehst du? Sie hatten von mir ohnehin alles gesehen ... Aber die Gäste ... Das<br />

war was anderes. Das war wie am Anfang ... Und es tat so weh ... Ich hatte so schreckliche<br />

Angst, dass sie ... dass sie mich verletzten ... Als Brett mich zum ersten Mal vergewaltigt hat<br />

... Die Schmerzen ... Ich werde das nie vergessen können. Und jetzt ... penetrierten sie mich<br />

mit ... mit Flaschen, mit dem Griff eines Tennisschlägers ... Sie waren einfallsreich ... Und<br />

haben sich königlich amüsiert. Und ich habe gebettelt ... Um Gnade gewinselt ... Doch die<br />

konnte ich nicht erwarten ... Irgendwann war es vorbei und sie haben mich los gebunden. Car-<br />

rie hat mich ins Bett geschickt. Sie kam mir ein paar Minuten später nach. Sie erklärte mir,<br />

dass sie stolz auf mich sei. Ich wäre an diesem Abend ein guter Sklave gewesen. Wie es sie<br />

erregt hätte, als ich den Männern einen Blasen musste. Sie fragte mich, ob sie bei mir bleiben<br />

sollte. Ich ... ich wollte so sehr, dass jemand nach diesem Tag nett zu mir war, dass ich sie<br />

angefleht habe zu bleiben. Sie blieb. Sie hat ... sie hat mich ... verwöhnt, erst massiert, dann<br />

hat sie mich oral in Stimmung gebracht und wir schliefen miteinander. Frag mich nicht, wieso<br />

es gerade nach diesem Tag klappte. Ich konnte in der Nacht nicht schlafen, weil ich schreckli-<br />

che Angst davor hatte, wie lange die Fremden bleiben würden. Doch die verschwanden am<br />

nächsten Tag gleich nach dem Frühstück. Ich musste nur noch bedienen, dann hauten sie ab.“<br />

Erschöpft schwieg der Schauspieler nach diesem Ausbruch. Kelly hielt ihn fest in den<br />

Armen und schwieg ebenfalls. Zum einen war sie erst einmal nicht fähig, etwas zu sagen, zum<br />

anderen war es für Shawn wichtig, geistig mit diesem Erlebnis abzuschließen. Er hatte es ver-<br />

bal aus sich heraus gelassen, nun musste er die schrecklichen Erinnerungen psychisch los<br />

726


werden. Für die Verarbeitung musste sie ihm Zeit geben. Der junge Mann beruhigte sich nur<br />

langsam. Noch viele Minuten lag er schluchzend in den Armen der Therapeutin. Doch all-<br />

mählich wurde sein Zittern weniger und endlich atmete er tief durch. Er hob müde den Kopf,<br />

damit er Kelly anschauen konnte. Sanft fragte die junge Frau:<br />

„Geht es wieder?“<br />

Total erschöpft nickte Shawn. „Du weißt, dass ich dich nicht hasse, oder?“, fragte er ver-<br />

ängstigt und nervös.<br />

Statt einer Antwort zog Kelly dass tränenfeuchte Gesicht zu sich und ihre zärtlichen Lip-<br />

pen verschlossen seinen Mund. Erst sanft, rasch leidenschaftlicher und geradezu verzweifelt<br />

küssten sie sich. Es war, als könne dieser Kuss all den Horror verschwinden lassen. Würden<br />

sich ihre Lippen von einander lösen wäre er sofort zurück, der Horror. Für Shawn war Kelly<br />

in diesem Moment die unüberwindliche Barriere, die allein in der Lage war, ihn zu schützen,<br />

alles abzublocken, Carrie fern zu halten.<br />

60) Schwimmen mit Delfinen<br />

Tiere teilen mit uns das Privileg, eine Seele zu haben.<br />

Pythagoras von Samos<br />

Das erste Mal seit längerer Zeit wurde der junge Schauspieler in dieser Nacht wieder von<br />

heftigen Albträumen gequält. Mehrfach zuckte er keuchend in die Höhe und jedes Mal waren<br />

Kellys liebevollen Arme da, um ihn aufzufangen und zu halten. So war es kein Wunder, dass<br />

beide am kommenden Morgen, als um 6 Uhr der Wecker klingelte, müde und zerschlagen<br />

waren. Wortlos stopften sie ihre Sachen in die Rucksäcke und machten sich nach einer schnel-<br />

len Tasse Kaffee auf den Weg zum Flughafen. Um halb 8 Uhr standen sie am Avis Schalter<br />

und gaben den Leihwagen zurück. Anschließend checkten sie ein, wurden so die großen,<br />

schweren Wanderrucksäcke los und suchten sich ein Bistro, um ein anständiges Frühstück<br />

einzunehmen. Als sie gesättigt waren und die nötige Menge Kaffee intus hatten, um endlich<br />

vernünftig wach zu werden, schlenderten sie durch das moderne Flughafengebäude, bis ihre<br />

Maschine zum boarden aufgerufen wurde. Sie machten sich auf den Weg zum Gate 6 und<br />

sanken Minuten später erleichtert in ihre Sitze. In der First Class waren Kelly und Shawn die<br />

einzigen Passagiere. Wie es weiter hinten aussah, konnten sie nicht einsehen. Shawn hatte den<br />

Fensterplatz und starrte während des Starts trübsinnig hinaus. Als die Boeing 737-700 auf<br />

dem Runway schneller wurde und den Bodenkontakt verlor, konnte er nicht verhindern, dass<br />

ihm Tränen über die Wangen kullerten. Er war in Queensland so unendlich glücklich gewesen<br />

wie nie zuvor in seinem Leben. Es kam ihm vor, als wäre er aus dem Paradies geworfen wor-<br />

den. Der Schauspieler vergaß im Abschiedsschmerz, dass noch so vieles Schönes vor ihm lag.<br />

727


Kelly bekam mit, wie unglücklich Shawn war und legte ihm sanft eine Hand auf den Arm.<br />

Diese kleine Geste der Zuneigung half dem junge Mann über den Abschied hinweg. Die Ma-<br />

schine drehte eine lang gezogene Linkskurve über dem Meer, bevor sie sich nach Westen auf<br />

den Weg machte. So konnte man noch einmal einen letzten Blick auf Townsville und die<br />

Küste werfen.<br />

Eine Weile herrschte weiter Schweigen. Beide hingen ihren Gedanken nach, wobei diese<br />

bei Shawn überwiegend deprimierender Natur waren. Er konnte den Kopf im Moment nicht<br />

frei bekommen. Zu sehr bedrückte ihn der Abschied von Queensland und zu stark hatte ihn<br />

die Erinnerung an jenen grässlichen Tag bei Carrie aufgewühlt. Die Gedanken daran, was sie<br />

ihm an dem Abend angetan hatten waren wieder wach und frisch, als wäre es erst Stunden<br />

her. Die Demütigung, vor diesen Fremden so ausgestellt worden zu sein, war an sich schon<br />

furchtbar gewesen. Shawn hatte im Laufe der Gefangenschaft zwar gelernt, vor Carrie und<br />

den Freunden keine Schamgefühle mehr zu haben, da ihn dies viel zu stark zusätzlich belaste-<br />

te hätte, doch vor all diesen Leuten war es etwas anderes gewesen. Die Quälereien des Tages<br />

hatten sich bei dem Dinner und dem anschließenden Wettkampf abends potenziert. Das Ge-<br />

fühl, nackt bedienen zu müssen, war widerlich gewesen. Als er nach dem Dinner alle Männer<br />

mit dem Mund hatte befriedigen müssen, war er ein weiteres Mal da gewesen, der Wunsch zu<br />

sterben. Abgrundtiefer Ekel hatte den jungen Schauspieler erfüllt. Er musste Brett und Alan<br />

ebenfalls oft oral befriedigen, aber beide neigten nicht dazu, sich in Shawns Mund zu ergie-<br />

ßen. Diese Kerle hatten es getan. Alle vier. Den Schauspieler schüttelte es bei der Erinnerung<br />

daran.<br />

Als sie ihn anschließend auf den Tisch gefesselt hatten, war Shawn überzeugt gewesen,<br />

doch noch von ihnen vergewaltigt zu werden. Er hatte sich innerlich mit dem Gedanken abge-<br />

funden. Das, was wirklich kam war jedoch schlimmer gewesen. Abgesehen von Carrie und<br />

Alan, die als Preisrichter fungiert hatten, waren alle anderen los geeilt, um Gegenstände zu<br />

suchen, die sie Shawn einführen konnten. Der junge Mann biss die Zähne zusammen dass es<br />

knirschte. Kelly konnte das Geräusch über den Lärm des Flugzeugs hinweg hören. Sie konnte<br />

sich denken, woran Shawn dachte. Daraufhin brach sie das Schweigen.<br />

„Woran denkst du, Schatz?“, fragte sie ruhig, obwohl es ihr klar war.<br />

Shawn zuckte erschrocken zusammen und stotterte: „Ich habe nur ... Ich musste daran<br />

denken, dass wir bald ... Ach, verflucht. Was soll’s. Ich habe daran gedacht, was die alles an-<br />

geschleppt haben, um es mir ... in den Hintern zu stecken.“<br />

„Habe ich mir gedacht. Willst du darüber sprechen?“<br />

Sie konnten dieses Gespräch hier und jetzt führen, da sie in der Ersten Klasse allein waren.<br />

Shawn biss sich auf die Lippe.<br />

„Es ist unglaublich schwer, weißt du. Es war so grässlich demütigend und ... Ich weiß<br />

nicht mehr alles, es waren neun Gegenstände. Ich habe nicht alles sehen können. Mein Kopf<br />

728


und der halbe Oberkörper hingen über den Tisch hinweg und es war unglaublich anstrengend,<br />

beides hoch zu halten ... Ich weiß, dass Terry einen Tennisschläger geholt hatte. Der Griff ...<br />

Und eine Flasche Wein war dabei. Einer der Gäste ... Muss sie mitgebracht haben, bei Carries<br />

Sammlung war so was nicht ... Eine ... Wie nannte Carrie das noch? Eine ... Folterbirne.“<br />

Kelly schüttelte sich. Sie wusste, wovon Shawn sprach. Es handelte sich um ein birnen-<br />

förmiges, aus vier massiven, löffelförmigen Eisenschalen bestehendes Gerät, welches sich<br />

mittels einer simplen Drehschraube spreizen ließ. Man hatte es im Mittelalter im Mund, in der<br />

Vagina oder eben im Anus verwendet und den Gefolterten damit unerträgliche Schmerzen<br />

zugefügt. Im Mund ließ es sich obendrein zu Hinrichtungen verwenden, wenn es weit genug<br />

gespreizt wurde. Dann brachen die Kieferknochen und Oberkiefer und Nasenbein bohrten<br />

sich in das Gehirn des Opfers, was unweigerlich zum Tode führte.<br />

„Ich weiß, was das ist, Shawn.“, meinte die Psychologin bedrückt.<br />

Shawn nickte verstehend. Er stieß ein kurzes, hartes Lachen aus. „Das Teil hat Carrie so<br />

gut gefallen, sie hat es dem Typen abgekauft. Ich habe es später öfter zu Spüren bekommen.“<br />

Er sah einen Moment aus dem Fenster und fuhr fort: „Eine der Frauen hatte einem Softball<br />

Schläger angeschleppt. Und jemand hatte einen Lockenföhn im Badezimmer gefunden, dass<br />

verbot Carrie allerdings. Sie wollte mich ja nicht ernsthaft verletzen ... Was sonst noch dabei<br />

war, habe ich nicht gesehen. Ich wollte es nicht sehen. Weh getan hat alles.“ Der junge Mann<br />

legte den Kopf zurück und schloss müde die Augen. In seinem Gesicht arbeitete es heftig. In<br />

diesem Moment kam eine Stewardess zu ihnen und fragte:<br />

„Guten Morgen. Kann ich Ihnen etwas bringen? Einen Kaffee? Oder etwas zu essen?“<br />

Shawn fuhr zusammen und öffnete die Augen. „Oh ähm, ... bitte einen Kaffee, das wäre<br />

nicht schlecht.“, bat er verlegen.<br />

Kelly bat ebenfalls um Kaffee. Als sie Minuten später ihre Getränke erhalten hatten erklär-<br />

te die Therapeutin: „Hör zu, Baby, denk nicht mehr daran. Wir werden noch darüber spre-<br />

chen, nur nicht jetzt. Ich möchte, dass du dich auf unser neues Ziel konzentrierst. Monkey<br />

Mia. Wir werden mit Delfinen schwimmen, die Tiere streicheln, füttern und viel Spaß haben.<br />

Das ist dein vorrangiges Ziel, okay?“<br />

Shawn atmete tief durch. „Okay ... Ich werde es versuchen.“<br />

Als sie den Kaffee ausgetrunken hatten, machte Shawn es sich bequem. Er ließ seine Rü-<br />

ckenlehne herunter und schloss die Augen. Kurze Zeit später war er eingeschlafen. Und er<br />

verschlief den gesamten weiteren Flug. Kelly ließ ihn in Ruhe, er hatte eine harte Nacht hinter<br />

sich und war im Augenblick so deprimiert, dass er dringend Ruhe vertragen konnte. Dass ihn<br />

der Abschied von Queensland so bedrücken würde hatte Kelly nicht erwartet. Gegen 13.30<br />

Uhr weckte die Therapeutin den jungen Mann sanft.<br />

„Shawn, langsam müsstest du aufwachen. Wir werden in ungefähr zwanzig Minuten lan-<br />

den. Am Boden muss es schnell gehen. Also, werde wach.“<br />

729


Shawn rappelte sich mühsam in die Höhe. Er stellte die Rückenlehne aufrecht und wankte<br />

verschlafen in den Waschraum. Minuten später kam er erfrischt und deutlich wacher zu Kelly<br />

zurück. „Sind wir echt schon da?“, fragte er erstaunt. „Habe ich so lange geschlafen?“<br />

„Fast vier Stunden, mein schlafender Engel. Und ja, wir landen bald.“ Kaum hatte sie das<br />

ausgesprochen kam die Lautsprecherdurchsage.<br />

„Ladys und Gentlemen. Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit. Wir werden in Kürze auf<br />

dem Perth International landen. Stellen Sie bitte ihre Rückenlehnen in eine aufrechte Position<br />

und klappen Sie Ihre Tische hoch. Wenn wir gelandet sind, behalten Sie bitte Platz, bis die<br />

Maschine ihre endgültige Parkposition erreicht hat. Ihre Anschlussmaschinen gehen von den<br />

Gates 3 bis 9 ab. Die Maschine nach Shark Bay startet von Gate 1, wenn Sie in die Halle<br />

kommen gleich nach links den Gang hinunter. Wir bedanken uns, dass sie mit Virgin Blue<br />

geflogen sind und würden uns freuen, Sie wieder einmal an Bord begrüßen zu dürfen. Im<br />

Namen der gesamten Crew wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Perth oder<br />

einen guten Weiterflug.“<br />

Kelly und Shawn hatten nach der Landung den Vorteil, als Erster Klasse Passagiere die<br />

Maschine als erste verlassen zu können. Fast im Laufschritt eilten sie zur Abfertigung und da<br />

sie kein Gepäck mit sich führten, dieses wurde direkt weiter verladen, waren sie schnell mit<br />

der Passkontrolle fertig. Sie liefen, wie die Stewardess in der Ansage erklärt hatte, den Gang<br />

nach links hinunter und erreichten Gate 1 in Rekordzeit. Die Maschine, die nach Shark Bay<br />

weiter fliegen würde, war eine kleine Cessna Citation mit zwölf Sitzplätzen. Nur noch zwei<br />

Plätze waren frei und kaum saßen Shawn und Kelly, kam eine Durchsage.<br />

„Meine Damen und Herren, die Maschine aus Townsville, auf die wir gewartet haben, ist<br />

wie man sieht, gelandet und unsere letzten Passagiere konnten zu uns stoßen. Wir können<br />

abheben. Der Flug wird dank Gegenwindes heute etwa fünfzig Minuten dauern. Lehnen Sie<br />

sich zurück und genießen Sie ihn. Wir starten sofort, der Tower hat uns soeben Startfreigabe<br />

gegeben.“<br />

Langsam rollte die Maschine zum Runway hinüber und etwas später verschwand Perth un-<br />

ter ihnen. Dafür breitete sich eine trockene, verbrannte, karge Landschaft aus, soweit das Au-<br />

ge reichte.<br />

„Das hat wenig mit der Landschaft des Outbacks zu tun, oder?“, meinte Shawn nach ei-<br />

nem Blick hinaus.<br />

„Nein, die Küstenlandschaft hier ist langweilig und eher öde. So ist es auf der Landzunge,<br />

auf der Monkey Mia liegt, auch. Flach, karg bewachsen, öde eben.“<br />

Shawn hatte nicht gewusst, dass Monkey Mia auf einer Landzunge lag. Erstaunt fragte er:<br />

„Landzunge? Oh, das wusste ich gar nicht. Gibt es dort denn Ortschaften?“<br />

„Ja, eine, Denham. Nicht einmal fünfzehnhundert Einwohner. Denham ist die westlichste<br />

Stadt Australiens. Auf der anderen Seite der Landzunge liegt Monkey Mia. Dort gibt es nur<br />

730


ein Resort samt dazugehörendem Restaurant und Campingplatz. Wir werden dort übernach-<br />

ten, so sind wir direkt vor Ort und brauchen nicht hin und her zu fahren. Man bekommt um<br />

diese Jahreszeit leicht ein Zimmer, darum habe ich nicht vorher gebucht. Es ist teuer dort und<br />

daher fahren die allermeisten Touristen nach Denham zurück, wo es einige günstige Motels<br />

gibt.“<br />

Kelly merkte, dass Shawns Interesse langsam aufflackerte.<br />

„Die Delfine, wird man da irgendwie beobachtet? Ranger oder so?“, fragte er neugierig.<br />

„Ja, wird man, die Umgebung der Bucht ist ein Nationalpark und die Parkranger achten<br />

darauf, dass die Touristen keinen Unfug mit den Delfinen treiben. Das muss sein, es sind gro-<br />

ße Tiere, sie können einen Menschen schwer verletzen, wenn sie sich in die Enge gedrängt<br />

oder bedroht fühlen.“<br />

Das leuchtete dem Schauspieler ein. Kelly fügte noch an:<br />

„Und sie haben ein Auge darauf, dass den Delfinen selbst nichts geschieht. Manche Men-<br />

schen sind so unglaublich dämlich, dass man sie ständig im Auge behalten muss. Aber die<br />

Ranger greifen nur ein, wenn etwas aus der Reihe läuft. Sonst lassen sie die Touristen das<br />

Erlebnis Delfin hautnah ungestört genießen.“<br />

„Ja, wie die Idioten in der Hartley Creek Farm. Ich wüsste zu gerne, wie es den dummen<br />

Bengels ergangen ist. Hoffentlich hat sich der Verletzte erholt.“<br />

Die Therapeutin verdrehte die Augen. „Ja, solche Hohlköpfe meine ich. Der Junge wird<br />

lange an seine Idiotie zurückdenken, das kannst du mir glauben. Das Bein war heftig zerfetzt,<br />

da wird er lange etwas von haben und die Narben wird er nie los werden.“<br />

„Und alles nur aus einer blöden Bierlaune heraus. Was denkst du, die Jungs werden noch<br />

andere Strafen bekommen, oder?“<br />

„Sicher werden sie das. Hoffentlich nicht so knapp. Sie müssen deutlich begreifen, was sie<br />

da gemacht haben.“<br />

Kelly deutete aus dem Fenster.<br />

„Sieh mal, dort ist die Landzunge. Wir haben es bald geschafft.“<br />

Tatsächlich ging die Cessna langsam etwas herunter und man konnte das ausgedörrte, kah-<br />

le Land deutlicher erkennen. Zwei Landzungen, die eng nebeneinander lagen, hoben sich aus<br />

dem Meer unter ihnen ab.<br />

„Welche ist es?“, fragte Shawn neugierig.<br />

„Die Linke. Der Airport ist auf der rechten Seite der Landzunge, wir werden ihn bald er-<br />

kennen können. Bis Monkey Mia ist es noch ein kleines Stück zu fahren, ungefähr 18 Kilome-<br />

ter.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ich denke, wir werden gegen 15.30 Uhr dort<br />

sein. Wir können noch einen Blick auf den Strand werfen.“<br />

„Ist Monkey Mia eine richtige Ortschaft?“, wollte der Schauspieler wissen.<br />

731


„Nein, Monkey Mia besteht nur aus dem Dolphin Resort. Dazu gehört ein Caravan Park,<br />

ein Restaurant und die Gebäude des Motels.“<br />

Shawn sah aus dem Fenster. Man konnte den kleinen Airport erkennen. Minuten später<br />

landete die Cessna sanft auf dem Rollfeld. Als sie an das Flugplatzgebäude heran gefahren<br />

waren, wurde die Tür der kleinen Maschine von außen geöffnet. Ein Angestellter zog die Lei-<br />

ter aus und hieß die Gäste willkommen.<br />

„G’day. Willkommen in Denham. Wenn ihr in die Halle kommt ist links der Avis Schal-<br />

ter. Wir haben genug Leihwagen, also nur nicht drängeln. Viel Spaß in Monkey Mia und ei-<br />

nen angenehmen Aufenthalt in Denham.“<br />

Zusammen mit den anderen Gästen strebten Kelly und Shawn dem kleinen Flugplatzge-<br />

bäude zu. Schon wenige Minuten später hatten sie einen Toyota Landcruiser gemietet. Sie<br />

stopften ihre Rucksäcke auf die Rückbank und stiegen ein. Lächelnd meinte die Therapeutin:<br />

„Na, dann wollen wir mal die letzten Kilometer unter die Räder nehmen.“ Langsam, damit<br />

Shawn sich umsehen konnte, fuhr Kelly in nordöstlicher Richtung vom Flugplatzgelände.<br />

„Das ist die Monkey Mia Road. Die einzige befestigte Straße außerhalb Denhams. Alles ande-<br />

re hier sind off road Pisten, wie du sie aus dem Outback kennst. Meist lockerer Sand. Schwer<br />

zu befahren wenn man es nicht gewohnt ist. Morgen werden wir uns umsehen, wir können ja<br />

nicht den ganzen Tag im Wasser bei den Delfinen stehen. Und es ist zwar karg hier, aber<br />

landschaftlich schön. Wir werden mal raus fahren zum Cape François Péron, zur großen La-<br />

gune und Denham sollten wir uns auch anschauen, wenn wir einmal hier sind.“<br />

„Ich verlasse mich auf dich. Wer würde seiner Reiseführerin widersprechen?“ Er sah auf<br />

die scheinbar endlose, gerade verlaufende Straße hinaus und grinste. „Hast Recht, erinnert<br />

stark ans Outback.“<br />

Die Straße zog sich wie ein graues Band durch die mit kleinen Büschen übersäte Ebene.<br />

Bäume schien es nicht zu geben. Der Sand war hier deutlich blasser als im Outback, mehr<br />

gelblich als tiefrot schimmerte er in der Sonne.<br />

„Es ist unglaublich karg hier, was?“, meinte der junge Mann und deutete nach draußen.<br />

„Ja, hier regnet es nur selten. Übrigens, noch was, Baby. Du weißt, ich bin nicht hyste-<br />

risch, was Haie betrifft. Aber an der Westküste bade ich ehrlich gesagt nicht gerne im offenen<br />

Meer. Das Vorkommen des Weißen Haies ist in den letzten Jahren hier stark angestiegen und<br />

es gab vermehrt Angriffe. Deshalb ziehe ich es vor, meinen hübschen Po im Pool abzuküh-<br />

len.“<br />

Shawn hatte keinerlei Einwände. „Wenn du ein ungutes Gefühl hast, werde ich ganz be-<br />

stimmt nicht dagegen an stänkern! Stimmt, hysterisch habe ich dich bisher nicht erlebt. Okay,<br />

bleiben wir im Pool.“<br />

Sie kamen zügig voran und bald tauchte vor ihnen eine Kurve aus dem Nichts auf und sie<br />

sahen parkende Autos, Reisbusse und Gebäude.<br />

732


„Wir sind da. Monkey Mia. Lass uns zusehen, dass wir ein Zimmer bekommen, bevor wir<br />

uns in die Fluten stürzen.“ Kelly steuerte zu einem der Gebäude hinüber. Deutlich sichtbar<br />

leuchtete ein Schild über dem Eingang. Reception. Vacancy. „Siehst du, sagte ich ja, hier ist<br />

so gut wie immer etwas frei.“<br />

Zusammen betraten sie die Rezeption und wurden freundlich begrüßt.<br />

„Hallo. Was kann ich für euch tun?“<br />

„Hallo. Wir würden gerne drei Nächte bleiben, ginge das?“<br />

„Klar, gar kein Problem. Wir haben noch zwei Limestone Garden Villas, ... eine Garden<br />

Villa und eine Beachfront Villa frei.“ Die freundliche Angestellte legte ihnen eine Karte des<br />

Resorts vor und zeigte, wo die jeweiligen Unterkünfte lagen. Sofort erklärte Shawn:<br />

„Beachfront!“<br />

Kelly lachte. „Wollte ich auch gerade sagen. Wir nehme die Beachfront Villa.“<br />

„Klar, gerne. Es ist die Villa 21, nahe dem Pool.“<br />

Schnell war das Anmeldeformular ausgefüllt und Shawn bekam den Schlüssel in die Hand<br />

gedrückt. Verträumt strahlte die junge Frau ihn an. Shawn reagierte verlegen, Kelly musste<br />

sich ein Grinsen verkneifen.<br />

„Ich wünsche euch ein paar tolle Tage hier in Monkey Mia. Das Restaurant ist morgens ab<br />

6 Uhr geöffnet, Dinner gibt es ab 17.30 Uhr. Die Delfine werden morgens zwischen 8 Uhr<br />

und 11 Uhr gefüttert. Der Pool ist ab 22 Uhr geschlossen. Wir haben eine Barbecue Area ...“<br />

Sie zeigte auf die Karte. „... hier links neben dem Restaurant, falls euch der Sinn auf Barbie<br />

steht. Rechts neben dem Restaurant ist ein kleiner Supermarkt, dort könnt ihr euch versorgen.<br />

Hinter dem Pool haben wir einen Tennisplatz, wenn ihr Lust habt?“<br />

Shawn sah Kelly an. „Lust hätte ich schon, wie sieht es aus, kleines Match gefällig?“<br />

Kelly verzog überheblich das Gesicht. „Wenn du willst, dass ich dich auf dem Court platt<br />

mache ...“<br />

„Das werden wir sehen. Wann könnten wir denn den Platz haben?“<br />

Die junge Frau sah in einer Liste im PC nach. „Morgen, 18.30 Uhr, wie wäre das? Da ist<br />

es nicht mehr so heiß.“<br />

Bei dem Wort ‘heiß‘ sah sie Shawn an und in ihren Augen war ein eindeutiges Bedauern<br />

zu erkennen. Kelly musste sich erneut zusammenreißen, um nicht los zu kichern. Der Schau-<br />

spieler tat, als hätte er die Anspielung gar nicht bemerkt.<br />

„Okay, ich denke, wir buchen ihn für morgen, 18.30 Uhr hört sich gut an.“<br />

Schnell war das erledigt, sie bekamen noch einen Plan in die Hand gedrückt und verab-<br />

schiedeten sich von der jungen Frau.<br />

„Schönen Aufenthalt.“, wünschte diese und schaute ihren Gästen bedauernd hinterher. Ihr<br />

Blick verirrte sich hauptsächlich auf Shawn. Dieser atmete auf, als sie draußen in der Sonne<br />

neben ihrem Wagen standen.<br />

733


„Man, ich bin echt aus der Übung. Früher hätte ich geflirtet dass sich die Luft erwärmt.“<br />

Kelly zog den jungen Mann lächelnd an sich. „Weißt du, ob mir das gefallen hätte?“, frag-<br />

te sie sanft.<br />

„Nicht?“, wollte Shawn hoffnungsvoll wissen. „Bist du etwa eifersüchtig?“<br />

Jetzt konnte die junge Therapeutin nicht mehr an sich halten. „Nein, Baby, tut mir so leid.<br />

Da wirst du bei mir vergeblich drauf warten. Aber wenn du es möchtest, werde ich so tun als<br />

ob.“<br />

Shawn verzog beleidigt das Gesicht. „Spielverderberin. Ich hatte gehofft.“ Er gab Kelly<br />

einen zärtlichen Kuss.<br />

Sie stiegen ins Auto und Shawn lotste Kelly nach links. Am Ende des Weges bogen sie<br />

nach rechts ab und nach wenigen Metern sahen sie auf der linken Seite erst den Tennis Court,<br />

unmittelbar dahinter den großen Pool liegen. Noch ein paar Meter weiter und acht kleine Feri-<br />

enhäuser waren zu erkennen. Das dritte dieser Häuser war ihres. Kelly parkte den Wagen auf<br />

dem Parkplatz am Haus und sie stiegen aus.<br />

„Dann wollen wir mal sehen, wie wir die nächsten Nächte Schlafen werden.“<br />

Shawn wedelte mit dem Schlüssel, den er in die Hand gedrückt bekommen hatte. Zusam-<br />

men betraten die Beiden das kleine Haus. Es war wunderschön eingerichtet. Vom kleinen Flur<br />

kam man in den Wohnbereich. Ein großes Panoramafenster bot direkten Blick auf den Strand.<br />

Eine weiße Sitzgarnitur aus teurem Leder, Couchtisch aus hellem Kiefernholz, eine Kiefern-<br />

holzanrichte, in einer Ecke ein großer Flachbildschirm TV, ein kleiner Esstisch mit vier Stüh-<br />

len und einige Dekogegenstände machten den Wohnraum urgemütlich. Vom Wohnzimmer<br />

ging es in die Küche, die ganz in unterschiedlich hellen Terrakottatönen gehalten war. Zu-<br />

rück im Flur gelangte man in das Schlafzimmer mit angeschlossenem Bad.<br />

„Wunderschön.“, strahlte Shawn zufrieden. „War eine gute Wahl. Und sieh dir nur diesen<br />

Strand an.“<br />

Sie hatten ihre Rucksäcke im Flur abgestellt und traten durch die Terrassentür nach drau-<br />

ßen auf die kleine halb überdachte Terrasse. Hier stand ebenfalls ein kleiner Tisch, aus Teak-<br />

holz, sowie zwei dazu passende Stühle und zwei bequem aussehende Liegen mit dicken Pols-<br />

terauflagen. Drei Stufen führten direkt an den Strand hinunter. Kurz zog Shawn die Psycholo-<br />

gin an sich.<br />

„Wie ist es so, dauerhaft im Paradies zu wohnen?“, fragte er sanft.<br />

„Wunderbar. Aber erst, seitdem du bei mir bist.“, erklärte Kelly verliebt.<br />

Sie küssten sich leidenschaftlich und es dauerte eine Weile, bevor sie sich von einander<br />

lösten. Dann zog es den Schauspieler ans Wasser hinunter. Er hatte seine Kamera bei sich und<br />

machte ein Foto von der Unterkunft, in der sie drei Tage wohnen würden. Es standen je zwei<br />

Häuser zusammen. Unter den Strand säumenden Palmen sahen die Häuschen wunderschön<br />

aus.<br />

734


Ihre Nachbarn schienen nicht anwesend zu sein, denn im Nebenhaus rührte sich nichts.<br />

„Wir scheinen im Moment allein zu sein.“, meinte Shawn und sah den Strand hinauf. In<br />

einiger Entfernung waren eine Menge Leute zu erkennen. „Ob da hinten die Delfine sind?“,<br />

fragte er nachdenklich.<br />

„Ja, da muss der Lieblingsplatz sein. Wir sehen uns das nachher gleich an, okay? Ich wür-<br />

de nur gerne erst einmal ein paar Schritte laufen, ich bin ganz steif.“<br />

Shawn ging es nicht anders. „Ist eine gute Idee. Im Flieger zu sitzen ist doch etwas ande-<br />

res als im Auto. Ich würde mir auch gerne erst die Beine vertreten.“<br />

So kehrten sie in ihre Unterkunft zurück, schlüpften hier in kurze Hosen und leichte T-<br />

Shirts und steckten sich ihre Portmonees in die Gürteltaschen. Shawn griff nach seiner Kame-<br />

ra und sie machten sich auf den Weg. Sie wandten sich am Strand nach links, weg vom Ge-<br />

tümmel des Resorts. Kurze Zeit später stießen sie auf einen kleinen Schwarm Pelikane, die<br />

sich am Strand in der Sonne die Federn trockneten.<br />

„Ich mag Pelikane. Sie sehen so eigenwillig aus mit den riesigen Schnäbeln.“, meinte Kel-<br />

ly, während sie die Tiere beobachteten.<br />

„Ich finde ihre Kehlsäcke bizarr.“, erklärte Shawn grinsend. „Es tut mir richtig weh, wenn<br />

ich sehe, wie die Haut herunter gezogen ist, wenn die Tiere fressen.“<br />

„So geht es mir, wenn ich eine Kuh mit extrem vollem Euter sehe! Ich denke immer, das<br />

muss doch weh tun, wenn die Haut so gedehnt wird.“<br />

Sie marschierten weiter und unterhielten sich über die kommenden Tage. Nach einer guten<br />

dreiviertel Stunde drehten sie um und schlenderten zurück zum Resort. Der Strand war hier in<br />

Monkey Mia wunderschön. Weiß, breit, sauber und gepflegt. Er lud zu einem Sonnenbad ein.<br />

Als sie sich dem Resort näherten und die ersten Gebäude zu erkennen waren, sahen sie, dass<br />

sich noch viele Leute am Wasser aufhielten.<br />

„Wollen wir noch einen Blick auf die Delfine werfen?“, fragte Kelly gut gelaunt.<br />

„Auf jedem Fall. Ich kann mir das gar nicht vorstellen, dass die am Strand herum<br />

schwimmen und sich von den Menschen anfassen lassen.“<br />

„Sie fressen hin und wieder sogar ungläubige Touristen ...“ Lachend flüchtete sie vor<br />

Shawn, der sie schnaufend verfolgte. Nach wenigen Schritten hatte er sie eingeholt und riss<br />

sie im weichen Sand zu Boden. Kelly kämpfte wie eine Raubkatze und gewann die Oberhand.<br />

Schwer atmend lag Shawn am Ende unter ihr und die Therapeutin hielt seine Hände in den<br />

warmen Sand gepresst fest. Sie saß rittlings auf ihm und lachte.<br />

„Du denkst, du kannst mich so einfach besiegen, was? Doch ...“ Kelly verstummte und sah<br />

Shawn ins Gesicht. Und sie las in seinen Augen Angst. Augenblicklich stand sie auf und<br />

reichte dem jungen Mann die Hände, um ihm auf die Füße zu helfen.<br />

Verlegen stand er da und wusste nicht wohin mit seinem Blick. „Schatz, es tut mir ...“<br />

735


Kelly unterbrach den Schauspieler sanft. „Shawn, es braucht dir nicht leid zu tun, über-<br />

haupt nicht. Es wird immer mal Tage geben, an denen du es nicht wirst ertragen können, be-<br />

wegungsunfähig zu sein, oder an denen dich irgendetwas anderes verunsichert. Mach dir bitte<br />

nichts daraus. In einer Stunde kann es sein, dass es dich überhaupt nicht behelligt. Komm, wir<br />

sehen nach den Delfinen, das wird dich ablenken.“ Sie legte Shawn den Arm um die Taille<br />

und nach kurzem Zögern folgte er ihrem Beispiel. So marschierten sie hinüber zu den noch im<br />

Wasser stehenden Touristen. Fasziniert und tatsächlich unmittelbar abgelenkt sah Shawn vier,<br />

fünf, sechs Delfine im kaum knietiefem Wasser am Ufer schwimmen.<br />

„Das ist unglaublich. Sieh doch nur, wie zutraulich die sind!“<br />

Eines der sanften Säugetiere schwamm zielstrebig zu dem jungen Mann hinüber und er<br />

konnte das Tier am Kopf streicheln. Fassungslos und mit vor Rührung feuchten Augen hockte<br />

Shawn sich in das warme Wasser und strich dem Tier immer wieder über die lange Schnauze<br />

und den Kopf. „Sie sind so wunderschön ...“, stieß er mit belegter Stimme hervor. „So sanft<br />

...“<br />

Kelly stand hinter dem jungen Mann und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Ja, das<br />

sind sie. Sie werden außerordentlich erfolgreich als Therapeuten bei der Behandlung ver-<br />

schiedenster Erkrankungen eingesetzt. Zum Beispiel bei behinderten Kindern werden hier<br />

unglaubliche Erfolge erzielt. Und traumatisierte Patienten wie du erleben das Beisammen sein<br />

mit den Delfinen als tröstlich und ermutigend.“<br />

Shawn strich weiter dem Tier vor ihm im Wasser mit der Hand über den Kopf. Seine an-<br />

dere Hand verirrte sich auf seine rechte Schulter, wo er Kellys Hand zu fassen bekam. Er<br />

lehnte sich an die junge Frau und versuchte, sich in das wundervolle Gefühl, sie hinter sich<br />

und den Delfin vor sich zu spüren, fallen zu lassen. Er merkte, wie er entspannte und eine<br />

Last von seinen Schultern glitt. Die Erinnerung an den widerlichen Besuch verblasste und<br />

machte in seinem Inneren einem tiefen Frieden Platz. Kelly spürte, dass ihr Patient lockerer<br />

wurde und zusehends entspannte. Sie lächelte zufrieden. Die Ruhe und die Sanftheit, die die<br />

Delfine ausstrahlten, wirkten sich wie erwartet positiv auf Shawn aus.<br />

Obwohl er sich einen nassen Po holte, blieb der Schauspieler noch lange im Wasser ho-<br />

cken und andere Delfine statteten ihm im Laufe der Minuten ebenfalls einen Besuch ab. Eines<br />

hatten die Tiere alle gemein: Sie waren vorsichtig, sanft, fast zärtlich, und genossen die Auf-<br />

merksamkeit, die die zweibeinigen Wesen ihnen zukommen ließen so, wie diese die Auf-<br />

merksamkeit der Delfine genossen. Als später die Sonne begann unter zu gehen und nach und<br />

nach die Säugetiere im Meer verschwanden, um die Nacht zum Jagen zu nutzen, verliefen<br />

sich auch die Touristen. Shawn richtete sich als einer der Letzten steif auf und sah dem letzten<br />

Tier nach, als es im tieferen Wasser verschwand. Gefangen von dem Erlebten drehte er sich<br />

zu Kelly herum und zog die junge Frau heftig an sich. Erstickt flüsterte er:<br />

736


„Das hat unendlich gut getan. Es ist kaum zu fassen, wie du immer weißt, was mir gut tun<br />

wird. Ich liebe dich so sehr.“<br />

Kelly hatte einen Kloß im Hals, als sie antwortete. „Ich habe ein gutes Gespür dafür, was<br />

meinen Patienten fehlt. Bei dir ist meine Motivation natürlich noch eine ganz andere. Es ist<br />

für mich unglaublich schwer, dich bedrückt oder verängstigt zu sehen. Ich konnte es kaum<br />

noch ertragen, bevor ... Naja, und jetzt ... Ich ertrage es nicht. Daher hat sich mein Gespür für<br />

deine Stimmungen um ein hundertfaches verstärkt. Und ich weiß, dass die Begegnung mit den<br />

Delfinen beruhigend auf die Seele wirkt. Der Aufenthalt hier wird dich ein Stück nach vorne<br />

bringen.“<br />

Eng aneinander geschmiegt verließen sie das Wasser und schlenderten den Strand hinunter<br />

zu ihrer Behausung. Dort angekommen fragte Shawn leise:<br />

„Würdest du mit unter die Dusche kommen?“<br />

Erstaunt riss Kelly die Augen auf. Bisher hatte der junge Mann es vermieden, dass sie sich<br />

komplett unbekleidet zu nahe kamen. Abgesehen von dem Duschsack ganz am Anfang der<br />

Reise hatten sie nur ein Mal zusammen geduscht und das war Shawn denkbar unangenehm<br />

gewesen. Dass er nun von sich aus darum bat, dass Kelly ihn begleiten möge, war für ihn eine<br />

Art Selbstversuch. Die Therapeutin war froh, dass er von sich aus den Versuch unternahm,<br />

sein Unbehagen zu überwinden.<br />

„Gerne.“ Sie brauchte das nicht einzuschränken, denn wenn es Shawn unangenehm wer-<br />

den würde war sie die Erste, die dies spüren würde. Sie gingen zusammen in das großzügige<br />

Bad und stiegen aus den Kleidungsstücken. Shawn trat in die Dusche und drehte das Wasser<br />

auf. Kelly folgte ihm langsam und versuchte, Abstand zu halten. Sie wollte Shawn die Initia-<br />

tive überlassen. Der junge Mann griff nach der Seife, atmete tief durch und drückte diese Kel-<br />

ly in die Hand.<br />

„Magst du?“, fragte er verlegen.<br />

Wortlos trat die Psychologin näher und fing sanft und vorsichtig an, Shawn einzuseifen.<br />

Am Oberkörper hatte er keinerlei Probleme. Als sie sich seinem Unterleib näherte spürte er<br />

kurz einen Anflug von Angst. Kelly stoppte einen Moment und wartete, bis der Schauspieler<br />

wieder entspannt war. Sie schäumte sich die Hand ein und begann äußerst vorsichtig, Shawns<br />

Intimbereich zu reinigen. Es war das erste Mal, dass sie ihn hier berührte und sie war bemüht,<br />

zu ignorieren, dass ihr warm wurde. Es fiel ihr schwer, schwerer als sie erwartet hatte. Doch<br />

sie unterdrückte den Wunsch, ihn zu stimulieren und arbeitete sich stattdessen tiefer, bis sie<br />

vor ihm hockte und seine Füße einschäumte. Shawn hatte entspannt still gestanden, jedoch<br />

keine Erregung gezeigt. Kelly wusste, dies würde noch Zeit und Geduld erfordern. Und sie<br />

wusste, beides würde sie für ihn aufbringen.<br />

*****<br />

737


Am kommenden Morgen waren Shawn und Kelly vor 7 Uhr am Wasser. Außer ihnen wa-<br />

ren nur noch wenige andere Gäste so früh auf den Beinen. Die Delfine waren anwesend. Ein<br />

Ranger saß gelangweilt im warmen Sand und beobachtete die Frühaufsteher. Shawn wollte<br />

mit den Tieren schwimmen und fragte:<br />

„Darf man tiefer ins Wasser gehen, oder gibt das Ärger?“<br />

Die Therapeutin schüttelte den Kopf. „Nein, das darf man, keine Sorge. Ich komme mit.“<br />

Sie gingen langsam ins tiefere Wasser und ließen sich hinein gleiten. Sofort waren zwei,<br />

drei Delfine bei ihnen und schwammen neben ihnen herum. Shawn griff vorsichtig nach einer<br />

Rückenflosse und der Delfin spielte mit. Er zog den Schauspieler zügig durch das Wasser und<br />

Shawn war begeistert. Kelly versuchte es ebenfalls und genoss das Spiel mit den klugen Tie-<br />

ren wie Shawn. Mehr als eine Stunde spielten sie mit den Meeressäugern herum. Den Tieren<br />

brachte es offensichtlich so viel Spaß wie den Menschen. Als Kelly anfing zu frieren, kehrte<br />

sie in das flache Uferwasser zurück und setzte sich. Shawn hielt noch eine Weile aus, bevor<br />

ihm gleichfalls kalt wurde. Er stapfte zu Kelly hinüber und ließ sich neben ihr in das seichte,<br />

hier warme Wasser sinken. Die Delfine kamen näher und unterhielten die menschlichen Be-<br />

sucher durch ihr drolliges Verhalten weiter. Nach einiger Zeit knurrte Shawns Magen hörbar<br />

auf. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr:<br />

„So ungerne ich mich verabschiede, aber ich habe Hunger. Ich fürchte, ich muss erst ein-<br />

mal etwas Essen, bevor ich weiter Delfine streicheln kann.“<br />

Kelly hatte keinerlei Einwände.<br />

So schlenderten sie zu ihrem Bungalow hinüber, duschten schnell, zogen sich an und<br />

machten sich auf den Weg zum Restaurant. Um diese Zeit, es war fast 9 Uhr geworden, war<br />

es hier voll. Die ersten Gäste aus Denham trafen ein, viele holten ein Frühstück nach. Kelly<br />

und Shawn mussten einige Minuten auf einen freien Tisch warten. Sie bestellten und als sie<br />

eine Stunde später im Wagen saßen, fragte der Schauspieler:<br />

„Und was liegt heute an?“<br />

„Wir werden mal an die Nordspitze fahren, zum Cape François Péron. Dort ist es sehr<br />

schön. Auf dem Rückweg werden wir einen Stopp an der Lagune machen und über Denham<br />

zurückfahren.“<br />

Shawn lehnte sich gemütlich zurück. „Wie weit ist es denn bis zum Cape?“<br />

„Knappe 40 Kilometer, Sandpiste. Wird eine Weile dauern.“<br />

Sie fuhren erst ein paar Kilometer landeinwärts, bis sie auf die von Kelly erwähnte Sand-<br />

piste kamen. Shawn lachte.<br />

„Oh, man. So heftig war es selbst im Outback selten. Ich möchte nicht fahren.“<br />

„Du bist ganz schön faul geworden, mein Schatz. Zurück wirst du fahren, das verspreche<br />

ich dir. Ich beabsichtige, einen schweren Schwächeanfall zu erleiden.“ Lachend steuerte die<br />

Therapeutin den Geländewagen im Allrandantrieb durch den zum Teil sehr tiefen, losen Sand.<br />

738


Hinter ihnen breitete sich eine große Staubwolke in der fast kompletten Windstille dieses Ta-<br />

ges aus.<br />

„Wir sind meilenweit zu sehen.“, meinte der Schauspieler nach einem Blick aus dem<br />

Heckfenster lachend. Er genoss das leere Land um sie herum und bat Kelly, einen kurzen<br />

Stopp einzulegen. Die Psychologin tat ihm gerne den Gefallen.<br />

Gegen 12.30 Uhr hatten sie ihr erstes Ziel erreicht. Nur zwei andere Wagen standen auf<br />

dem Parkplatz am Cape François Péron, nur wenige andere Besucher hatten sich an diesem<br />

Tag hierher verirrt. Da es hier keine Bäume gab war es illusorisch, nach einem Schattenpark-<br />

platz Ausschau zu halten. Also stellte Kelly den Wagen am erstbesten Platz ab und meinte<br />

lakonisch:<br />

„Müssen wir nachher lüften.“<br />

Sie griffen sich ihre Sonnenhüte und machten sich auf den kurzen Fußmarsch zum Strand<br />

hinunter. Shawn fiel auf, dass die Erde hier wieder rot leuchtete. Und dann sahen sie das<br />

Meer. Es schien sich bis in die Unendlichkeit vor ihnen auszubreiten. Minutenlang standen<br />

Kelly und Shawn still da und ließen ihren Blick über die schimmernde, blaue Fläche vor ih-<br />

nen gleiten. Von den anderen Besuchern war nichts zu sehen und so meinte der Schauspieler:<br />

„Als ob wir die letzten Menschen auf Erden sind. Sieh dir nur diese unendliche Weite an.<br />

Wo würde man landen, wenn man geradeaus nach Westen schwimmen würde?“<br />

Er versuchte, sich vorzustellen, wie die Erde aussah. Kelly konzentrierte sich ebenfalls.<br />

„Irgendwo an der Ostküste Afrikas, Kenia, Somalia oder Tansania. Mindestens 8.000 Kilome-<br />

ter ...“, überlegte sie laut.<br />

„Ja, da bin ich auch gelandet.“, erklärte Shawn. „Zu weit zum Schwimmen.“<br />

„Eindeutig. Na, wollen wir ein Stück laufen?“<br />

„Auf jedem Fall. Es ist schön hier.“<br />

So wandten sie sich nach links und stapften durch den weichen Sand. Schnell hatten sie in<br />

dieser Richtung das Ende des Strandes erreicht und mussten sich über Büsche und Sandstein-<br />

felsen kämpfen. Nach kurzer Zeit waren sie nass geschwitzt. Nicht einmal einem Kilometer<br />

später wurde der Strand breiter und zur Linken erhoben sich Sandsteinklippen, kaum 2 Meter<br />

hoch. Auf ihnen ging es in einem sanften Hügel noch etwas höher. Kelly und Shawn setzten<br />

sich nebeneinander in den Sand und genossen eine Weile die Stille und den Frieden um sie<br />

herum. Das Meer plätscherte in kleinen Wellen an den Strand.<br />

„Ich würde gerne erleben wie es hier ist, wenn richtiger Sturm tobt.“, meinte der Schau-<br />

spieler nachdenklich. „Da muss es hier hoch her gehen.“<br />

„Ja, oft ist das Cape überflutet.“ Kelly ließ sich nach hinten sinken und sah zum strahlend<br />

blauen Himmel hinauf. Shawn streckte sich neben ihr aus und stützte den Kopf auf seine rech-<br />

te Hand. Einen Moment sah er Kelly an, bevor er verlegen den Blick senkte.<br />

739


„Gestern unter der Dusche ... Das war ... das war schön. Als du mich ...“ Er prustete verle-<br />

gen. „Als du mich eingeseift hast ... da unten. Ich habe ...“ Erneut musste der Schauspieler vor<br />

Verlegenheit eine Pause einlegen. Er schnaufte angespannt und stieß hastig hervor: „Ich habe<br />

nur Angst, dass du enttäuscht bist, weil sich bei mir nichts rührt. Ich habe Angst, dass sich nie<br />

wieder etwas rühren wird. Bist du deswegen böse?“<br />

Er verstummte und setzte sich abrupt auf, starrte in den Sand vor sich. Kelly war erstaunt<br />

und betroffen über seine Gedanken. Sie setzte sich ebenfalls auf und legte einen Arm um<br />

Shawns Taille.<br />

„Hör mir zu, Shawn. Weder bin ich böse noch enttäuscht, verstanden? Wenn man auch<br />

sagen kann, dass Sex zu unseren fundamentalen Triebfedern gehört, ist es doch nicht so, dass<br />

ohne ihn gleich alles zusammen bricht. Es ist großartig, dass du Berührungen im Intimbereich<br />

bedingt wieder ertragen kannst. Das ist ein gewaltiger Fortschritt. Du sollst es nur genießen<br />

und nicht darauf warten, dass es dich sexuell erregt. Bis es soweit ist, kann noch viel Zeit ver-<br />

gehen. Einmal wirst du den Wunsch verspüren, mit mir zu schlafen und dann bin ich da, be-<br />

reit für dich. Bis es soweit ist, werden wir beide nur in vollen Zügen genießen was wir haben.<br />

Das Zusammensein mit dir, dich zu küssen, dich zu berühren, ist so wunderschön, da brauche<br />

ich keinen Sex, verstehst du?“<br />

Shawn hatte nervös zugehört. Langsam hob er den Blick und sah Kelly ins Gesicht. „Si-<br />

cher?“, fragte er unglücklich.<br />

„Sicher. Findest du es denn nicht schön?“<br />

„Doch. Ich kann gar nicht sagen, wie schön es ist. Ich dachte doch lange Zeit, ich würde<br />

nie wieder Berührungen und Zärtlichkeiten ertragen können. Du hast mir gezeigt, wie sehr ich<br />

noch imstande bin, das zu genießen. Wenn ich dich im Arm halte und du mich, ist es, als<br />

wenn der Rest der Welt nicht mehr existiert. Ich empfinde keine Angst mehr, nur noch uner-<br />

messliche Sicherheit und Frieden. Ich habe nur schreckliche Angst davor, dass dir das nicht<br />

reichen wird.“<br />

„Mach dir deswegen bitte keine Sorgen, Schatz. Mein Denken basiert nicht ausschließlich<br />

auf Sex wie Carries. Sex ist eine Nebensächlichkeit. Zugegeben, eine schöne Nebensächlich-<br />

keit, aber es gibt erheblich Wichtigeres. Dein Wunsch nach Sex wird über kurz oder lang in<br />

dir erwachen, davon bin ich überzeugt.“<br />

„Bestimmt?“<br />

„Ganz bestimmt. Wenn du willst können wir üben. Und du wirst eines Tages Erregung<br />

empfinden.“<br />

Shawn war bei dem Wort ‘üben‘ verschämt rot angelaufen. „Üben. Das hört sich an, als<br />

wäre ich noch Jungfrau.“ Er musste lachen. Kelly kicherte leise.<br />

740


„So üben meine ich nicht. Wir können versuchen, wie weit du es erträgst, sexuell berührt<br />

zu werden. Was dir angenehm ist und was nicht. Dass ich dir den Intimbereich gewaschen<br />

habe hast du genossen. Wenn du es möchtest, können wir das wiederholen. Und ein wenig<br />

steigern. So, wie wir es am Anfang mit den normalen Berührungen geübt haben. Es hat nicht<br />

lange gedauert und du hattest deine Abneigung und Angst überwunden. Wenn dir so viel da-<br />

ran liegt, festzustellen, ob du noch imstande bist, Erregung zu empfinden, ob sich der Wunsch<br />

nach Sex in dir regt, können wir es gezielt versuchen.“<br />

„Ich weiß nicht, ob es mein Wunsch ist, oder ob ich nur denke, es müsse mein Wunsch<br />

sein, um dich nicht zu enttäuschen. Ich habe nach wie vor Probleme damit, unbekleidet zu<br />

sein. So wie gestern unter der Dusche. Doch da hatte ich den Wunsch. Und es war schön. Ich<br />

weiß nicht, wann ich das nächste Mal den Wunsch verspüre. Das könnte heute Abend sein<br />

oder erst in drei Wochen, ich habe keine Ahnung.“<br />

„Genauso sieht es aus. Wenn der Wunsch da ist, werden wir es wiederholen. Und wenn du<br />

abends im Bett den Wunsch verspürst, berührt zu werden, oder mich zu berühren, machen wir<br />

es. Und, Baby, auch wenn du unglaublich gut gebaut bist, wenn du es nicht magst, vor mir<br />

nackt zu sein, ist das in Ordnung. Ich bin auch in dich vernarrt, wenn du eine Hose über dem<br />

Hintern hast. Weniger ist oft mehr. Wenn dir danach ist, kommst du unbekleidet aus dem Bad,<br />

wenn nicht, ziehst du dir dort etwas über. Ich will nicht, dass du dich unter Druck setzt. Schon<br />

gar nicht mir zu Liebe. In dem Moment, als ich mich auf Green Island entschied, meinen Ge-<br />

fühlen nachzugeben habe ich das in dem Bewusstsein getan, dass es noch lange dauern wird,<br />

bis wir eine normale Beziehung in allen Konsequenzen haben werden. Ich habe es akzeptiert,<br />

nur zu gerne. Ich weiß, wie es in dir aussieht und wenn ich nicht in der Lage wäre, damit um-<br />

zugehen, hätte ich nie den Anfang gemacht. Ich setze keinerlei Erwartungen in dich, nur die<br />

eine, dass du nicht aufgibst und weiter kämpfst, wenn es auch nach wie vor unerträglich<br />

schwer werden kann, bis du, soweit es geht, ein normales Leben führen kannst. Alles andere<br />

wird mit der Zeit von allein kommen.“<br />

Der Schauspieler hatte aufmerksam zugehört und atmete tief durch. „Wenn das das ist was<br />

du denkst, und ich weiß, dass es das ist, kann ich damit leben, ohne mir den Kopf zu zerbre-<br />

chen. Wenn ich es versuchen möchte, berührt zu werden, oder dich zu berühren, machen wir<br />

es?“<br />

„Ja. Und nur dann, okay? Versprich mir, dass du dich nicht unter Druck setzten wirst!“<br />

„Ich verspreche es dir. Ich werde meinen Mund aufmachen, wenn ich es möchte, das ver-<br />

spreche ich.“ Er wirkte erleichtert und erhob sich schwungvoll. „Wollen wir noch ein Stück<br />

auf der anderen Seite laufen?“, fragte er unternehmungslustig.<br />

„Klar, dort ist mehr Strand.“ Die Therapeutin ließ sich in die Höhe ziehen und als sie vor<br />

Shawn stand zog dieser sie eng an sich.<br />

„Ich habe manchmal das Gefühl, ich kann dir gar nicht oft genug sagen, wie sehr ich dich<br />

liebe. Es klingt bei dir alles so unglaublich einfach und selbstverständlich.“<br />

741


„Weil es das ist. Das Meiste wird von uns nur kompliziert gemacht, in dem wir uns den<br />

Kopf darüber zerbrechen.“<br />

Shawn stieß ein kleines Schnaufen aus. „Vielleicht hast du Recht. Möglicherweise zer-<br />

denken wir zu vieles. Ich werde versuchen, dass in Zukunft nicht mehr zu machen. Wenn ich<br />

grüble tritt mir bitte in den Hintern, okay?“<br />

61) Terry<br />

Im Herzen eines Menschen ruht der Anfang und das Ende aller Dinge.<br />

Lew N. Graf Tolstoi<br />

„Das werde ich ganz bestimmt nicht machen. Aber ... ich könnte dir verbal in den Aller-<br />

wertesten treten, wenn das in Ordnung ist.“<br />

„Ja, damit wäre ich einverstanden. Ich habe früher, vor alle dem, nicht übermäßig zum<br />

Grübeln geneigt. Hoffentlich verschwindet das mit der Zeit. Mann kann sich nicht vorstellen,<br />

dass Frau nicht von ihm erwartet, jederzeit bereit zu sein, weißt du. Und ich habe besondere<br />

Schwierigkeiten damit, weil Carrie es erwartet hat und als ich nicht mehr ... naja, nicht mehr<br />

konnte, wurde ich anfangs schwer bestraft. Was nicht gerade dazu beitrug, dass es mir leichter<br />

fiel, in Erregung zu geraten.“<br />

Die Psychologin hatte einen Arm um Shawn geschlungen und dieser fasste sie um die<br />

Schultern. So marschierten sie langsam der Capespitze zu. Die Sandsteinklippen blieben hin-<br />

ter ihnen zurück und nur noch ein kleiner Wall führte vom Strand hoch. Kelly nahm das Ge-<br />

spräch noch einmal auf.<br />

„Hör zu, Shawn, du stehst bei mir nicht unter Erwartungsdruck. Ich muss nicht mit dir<br />

schlafen um bewiesen zu bekommen, welch wundervoller Mann du bist. Das weiß ich ebenso<br />

gut ohne Sex. Es wird passieren, wenn wir es am wenigsten erwarten, und das ist gut so. Wir<br />

haben doch noch unser ganzes Leben lang Zeit. Es ist angenehm, einmal eine Beziehung zu<br />

haben, die nicht auf Sex aufbaut. Eigentlich sollten wir beide deswegen entspannt sein.“<br />

Shawn machte: „Hm ...“ Er dachte kurz über Kellys Worte nach. „Eigentlich ... hast du<br />

Recht. Wir bauen eine Beziehung anders herum auf. So viele Beziehungen starten mit Sex<br />

und am Ende kann das Alltagsleben nicht mithalten. Wir starten mit dem Alltagsleben und der<br />

Sex steht hinten an.“<br />

„Und kann gar nicht enttäuschen, da bin ich mir sicher.“, unterbrach Kelly Shawns Ge-<br />

danken.<br />

Sie hatten die Spitze des Capes wieder erreicht und liefen nun an der östlichen Küste der<br />

Landzunge Richtung Süden. Hier war der Strand bedeutend breiter und es war anstrengend, in<br />

dem weichen Sand zu gehen. Schnell waren Kelly und Shawn abermals durchgeschwitzt. Et-<br />

742


wa 1,5 Kilometer weiter stießen sie auf einen kleinen Landzipfel, von dem aus man einen<br />

wundervollen Blick sowohl nach Süden als nach Nordwesten hatten.<br />

„Das ist Skipjack Point.“, erklärte Kelly.<br />

„Netter Name für einen Aussichtspunkt.“ Shawn grinste. Er machte ein Foto in die Rich-<br />

tung, aus der sie gerade gekommen waren. „Sieht großartig aus.“<br />

Sie machten hier erneut eine kleine Pause und unterhielten sich über die Delfine. Nach ei-<br />

ner Weile erklärte Kelly:<br />

„Wir sollten uns auf den Weg machen, es ist 14 Uhr durch. Wenn wir noch über die Lagu-<br />

ne fahren wollen, wird es Zeit. Sonst schaffen wir es nicht bis 18.30 Uhr auf den Tennis-<br />

platz.“<br />

„Was immer diese Lagune ist, ich würde es mir gerne anschauen. Okay, lass uns den<br />

Rückweg in Angriff nehmen.“ Shawn erhob sich und zog Kelly auf die Füße. Etwas eiliger als<br />

auf dem Hinweg machten sie sich auf, zurück zum Wagen. Auf halber Strecke verließen sie<br />

den Strand und gingen oberhalb desselben durch das karge Buschwerk. Als sie den Parkplatz<br />

vor sich sahen stoppten sie noch einmal und warfen einen letzten Blick auf Cape François<br />

Péron. „Es hat sich gelohnt, hier heraus zu fahren. Egal, ob der Weg anstrengend und staubig<br />

war.“ Shawn sah Kelly an. „Soll ich fahren?“<br />

Steuer.<br />

„Und ob. Du kommst aus der Übung.“<br />

Sie warf dem Schauspieler den Wagenschlüssel zu und dieser klemmte sich hinter das<br />

„Sklaventreiberin.“, nuschelte er leise vor sich hin.<br />

„Ha! Ich kann dich ja mal treiben, mein Lieber.“, schnaufte die Therapeutin aufsässig.<br />

„Nein danke, kein Bedarf. Wo soll ich lang fahren?“<br />

Kelly lotste den jungen Mann auf dem gleichen Weg zurück, bis sich die Piste teilte. „Von<br />

dort sind wir gekommen.“, erklärte die junge Frau und deutete nach links. „Wir halten uns<br />

rechts. Bis zur Lagune sind es etwas mehr als 20 Kilometer.“<br />

Shawn gab Gas, soweit es der lose Sand zuließ. „Was ist denn das nun für eine Lagune?“,<br />

fragte er neugierig.<br />

„Oh, ein großer Binnensee, flach, mit direktem Zulauf vom Meer. Etwa 15 Kilometer<br />

nördlich von Denham hat sich das Meer eine Schneise ins Land gegraben und eine große,<br />

flache Lagune gebildet. Tausende von Seevögeln brüten dort im Frühjahr. Du wirst es mö-<br />

gen.“<br />

Eine Weile fuhren sie in vertrautem Schweigen weiter. Sie konnten gut zusammen<br />

Schweigen, es war nie eine peinliche Stille, die zwischen ihnen herrschte.<br />

Als sie ungefähr die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatten fragte Shawn: „Ich will<br />

nicht nerven, oder unzufrieden klingen, aber wenn wir in Eildon sind, was können wir von<br />

dort noch so unternehmen?“<br />

743


Kelly grinste. „Oh, da mach dir mal keine Sorgen. Ich werde dich scheuchen. Du wirst<br />

vermutlich bald dankbar sein, wenn wir mal einen Tag zuhause bleiben. Wir können zum<br />

Mount Kosciusko fahren, oder zum Mount Beauty, es gibt wunderschöne Ortschaften in den<br />

Snowy Mountains, im Snowy Mountains Nationalpark kann man sich Pferde mieten und herr-<br />

liche Ausritte machen und ... du solltest anhalten, weil du sonst gleich einen Emu platt<br />

machst.“<br />

Lachend deutete die Therapeutin aus dem Frontfenster. Vor ihnen auf der Sandpiste lief<br />

ein großer Emu gemütlich in der Fahrspur dahin. Er schien es in keiner Weise eilig zu haben<br />

und ließ sich durch den sich langsam nähernden Wagen nicht stören. Shawn drückte Kelly<br />

den Fotoapparat in die Hand und die junge Frau lehnte sich weit aus dem Seitenfenster, um<br />

ein vernünftiges Foto von dem großen Vogel machen zu können. Als sie vorsichtig an ihm<br />

vorbei fuhren, warf das Tier Shawn einen Blick zu der zu besagen schien:<br />

„Werde mal nicht frech, das ist meine Straße!“<br />

Lachend passierte Shawn den Vogel und gab erst ein Stück weiter mehr Gas.<br />

Rechter Hand waren vereinzelt kleine Wassertümpel aufgetaucht, doch diese waren meist<br />

so gut wie ausgetrocknet und viele mit einer schimmernden Salzkruste überzogen. Kelly deu-<br />

tete nach vorne und erklärte:<br />

„Da, sieh mal, dort ist noch richtig viel Wasser zu sehen.“<br />

Tatsächlich wurde vor ihnen ein großer See sichtbar, inmitten der Einöde des sie umge-<br />

benden Outbacks.<br />

„Das ist der nördliche Zipfel der Lagune, sie trocknet nie aus.“<br />

Schnell wurde mehr von dem Binnensee sichtbar. Das Wasser funkelte türkisfarben in der<br />

Sonne. Man konnte sehen, wo der See tiefer war, denn dort war das Wasser dunkler als an den<br />

Ufern. Kelly ließ Shawn bis zu einer Stelle fahren, von der aus man einen schönen Blick hatte<br />

und hier stiegen sie aus dem Wagen. Sie gingen ein Stück am Ufer entlang, doch bald kehrten<br />

sie zum Wagen zurück. Es war heiß und Shawn hatte zu Kämpfen. Er atmete auf, als im Wa-<br />

gen die Air Condition lief.<br />

„Man, es ist sehr heiß heute.“, schnaufte er und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.<br />

„Hoffentlich kühlt es bis heute Abend etwas ab.“<br />

Kelly sah den jungen Mann besorgt an. „Wenn nicht, bestellen wir den Tennisplatz ab,<br />

okay? Du bist blass, lass uns zum Restort zurückfahren.“ Die Therapeutin übernahm sicher-<br />

heitshalber das Steuer und lenkte den Wagen auf die Zufahrtspiste zurück. Hier gab sie Gas so<br />

gut es ging und etwa vierzig Minuten später erreichten sie endlich die asphaltierte Straße nach<br />

Monkey Mia. Die letzten Kilometer schafften sie zügig und erreichten das Resort gegen 16.30<br />

Uhr.<br />

744


Kelly schickte den Schauspieler gleich unter die Dusche, mahnte ihn allerdings, nicht zu<br />

kalt zu Duschen. Augenblicke später rauschte das Wasser. Shawn ließ sich Zeit. Als er abge-<br />

kühlt genug war stieg er aus der Dusche und rief Kelly zu:<br />

„Wenn du magst, kannst du.“<br />

Das ließ sich die junge Frau nicht zweimal sagen. Schnell war sie entkleidet und schon<br />

prasselte das erfrischende Wasser auch auf sie herab. Shawn rubbelte sich trocken und fragte<br />

verschämt:<br />

„Wärest du sauer, wenn wir nicht mehr auf den Court gingen? Ich bin von der Hitze platt.“<br />

„Nein, kein Problem, ich habe auch nicht viel Lust, es ist zu heiß. Tennis spielen können<br />

wir ein anderes Mal, muss nicht bei 35 Grad sein.“<br />

Erleichtert atmete Shawn auf. „Oh, gut, ich bestelle den Platz ab.“ Er schlang sich ein<br />

Handtuch um die Hüften und ging nach nebenan in den Wohnraum. Schnell erledigte er den<br />

Anruf in der Rezeption und ließ sich anschließend stöhnend auf das Sofa fallen. Ihm war<br />

leicht schwindelig und er war froh, hier im Haus zu liegen und die kühle Luft genießen zu<br />

können. Ein wenig müde schloss er die Augen. Er dachte an das Gespräch, das Kelly und er<br />

vor ein paar Stunden geführt hatten. Ein glückliches Lächeln schlich sich auf seinen Lippen.<br />

Er war erleichtert, dass er dieses heikle Thema mit Kelly durch gesprochen hatte. Sie hatte<br />

Verständnis und erwartete nichts von ihm. Er hatte das eine oder andere Mal daran gedacht,<br />

mit Kelly zu schlafen, doch ihm war klar, dass es bis dahin noch ein weiter Weg sein würde.<br />

Ihrer Berührungen am Tage zuvor unter der Dusche waren wunderschön gewesen. Sie waren<br />

nicht sexuell motiviert gewesen, daher hatte er keine großen Probleme gehabt. Shawn hatte<br />

gewaltige Angst davor, wie er reagieren würde, wenn die Berührungen einmal sexueller Natur<br />

werden würden. Die Vorstellung trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Aber er wusste nun,<br />

dass Kelly nicht darauf wartete, endlich mit ihm zu Schlafen und das half ihm.<br />

Gerade kam die Psychologin aus dem Bad. Sie hatte sich ebenfalls in ein Handtuch ein-<br />

gewickelt und sah verliebt den jungen Mann an, der da mit geschlossenen Augen und einem<br />

seligen Lächeln auf den Lippen auf dem Sofa lag. Sie setzte sich zu ihm und beugte sich zu<br />

ihm herab. Sanft trafen ihre Lippen seine.<br />

„Woran hast du gedacht?“, fragte sie liebevoll.<br />

Ehrlich antwortete der Schauspieler: „An unser Gespräch. Ich bin unglaublich erleichtert,<br />

dass ich es angesprochen habe. Das lag mir quer.“<br />

„Das braucht es nicht. Du solltest allmählich wissen, dass du mir alles sagen kannst. Ich<br />

bin froh, dass du es auszusprechen gewagt hast.“<br />

Shawn schnaufte. „Wenn du wüstest wie Recht du hast. Ich sollte es wirklich langsam ka-<br />

piert haben. Manchmal verstehe ich nicht, woher du die Geduld mit mir nimmst. Wenn ich du<br />

wäre würde ich mich Schütteln.“<br />

745


„Den Wunsch hatte ich noch nie. Baby, ich brauche keine Geduld für dich. Ich bin über-<br />

zeugt, wenn du erst einmal wieder weitestgehend der Alte bist, werden deine unnützen Grübe-<br />

leien aufgehört haben. Du sagtest selber, vor der Entführung hättest du nicht zum Grübeln<br />

geneigt. Diese Einstellung wirst du wieder finden. Du darfst nie vergessen, dass du bei allen<br />

Fortschritten, die du schon gemacht hast, immer noch tief in dem Trauma steckst. Deine Un-<br />

sicherheit, Angst, Sorge, all das zeigt, dass du längst nicht über den Berg bist. Ich weiß, dass<br />

ich den echten Shawn McLean, den, der zuhause so schmerzlich vermisst wird, irgendwann<br />

kennenlernen werde. Ich freue mich schon darauf. Ich kann es gar nicht erwarten!“<br />

Der junge Schauspieler seufzte. „Meinst du, der ist noch da? Irgendwo in mir?“<br />

„Aber sicher. Er ist nur verschüttet. Er wird sich an die Oberfläche zurückkämpfen und<br />

den traumatisierten Shawn mehr und mehr verdrängen. So, und nun lass uns von etwas ande-<br />

rem Reden. Vom Essen zum Beispiel. Ich habe Hunger.“<br />

du?“<br />

*****<br />

„Kannst du dir vorstellen, dass ich mich noch nie geprügelt habe?“<br />

Ein wenig verwirrt über diese Frage sah Kelly Shawn an. „Ja, natürlich. Warum fragst<br />

Sie waren nach dem Essen noch lange am Strand spazieren gegangen. Nachdem die Sonne<br />

unter gegangen war, hatten die Temperaturen dies zugelassen. Nun lagen sie gemütlich auf<br />

dem Bett, jeder ein Glas Cola in der Hand.<br />

„Findest du es nicht ... hm, seltsam, wenn ein Mann sich noch nie geschlagen hat?“<br />

Kelly war immer verwirrter. „Nein. Warum sollte ich das denn seltsam finden? Ich verste-<br />

he nicht, worauf du hinaus willst, ganz ehrlich.“<br />

Shawn schlenkerte gedankenverloren seine Cola im Glas herum. „Worauf ich hinaus will<br />

ist folgendes: Wenn ich nun ... naja, ein Schlägertyp wäre, wäre mir das möglicherweise nicht<br />

passiert? Hätte ich mich dann so gewehrt, dass sie das alles nicht geschafft hätten?“<br />

Kelly war erschüttert, dass Shawn sich immer noch mit diesen Gedanken herum quälte.<br />

„Shawn, ich dachte, das Thema wäre durch. Zum einen, nein, dann wäre dir die Entführung<br />

ganz bestimmt nicht passiert, weil Carrie dich gar nicht erst ausgewählt hätte. Sie wollten<br />

keinen Sklaven, mit dem sie ständig hätten Kämpfen müssen. Ich sagte dir vor längerer Zeit<br />

bereits, dass Carrie sich garantiert sehr genau über dich informiert hat. Sie wusste genau, wen<br />

sie da entführt. Wenn wir uns die Profile der anderen jungen Männer ansehen würden, möchte<br />

ich jede Wette eingehen, dass sie sich gleichen. Du könntest dich vermutlich in jedem dieser<br />

jungen Männer wieder erkennen. Ihr Alter variierte zwischen fünfundzwanzig und dreißig<br />

Jahren. Sehr viel älter oder jünger war kaum einer von ihnen. Sie waren alle, soweit Lauren<br />

mich informiert hat, gebildet, gute Berufe oder noch im Studium. Ich spekuliere einfach mal<br />

wild drauf los, dass sie alle gut aussehend, sportlich, freundlich, liebeswürdig waren. Sie hat-<br />

746


ten Familie, Freunde und passten von ihrem Wesen her perfekt in Carries Beuteschema. Kei-<br />

ner von ihnen war ein Kämpfer. Das wäre Carrie und Co. schnell viel zu anstrengend gewor-<br />

den. Sie brauchten Opfer, die auf Carrie herein fallen würden. Sie brauchten Opfer, mit denen<br />

sie leicht fertig werden konnten. Ganz bestimmt niemanden, der sich verzweifelt gewehrt hät-<br />

te.“<br />

Kelly nahm einen Schluck Cola und fuhr fort: „So viel zum Einen. Zum zweiten ... Nicht,<br />

dass ich dir das nicht auch schon mehrfach gesagt habe: Hättest du dich vehement zur Wehr<br />

gesetzt, wärest du nach spätestens einer Woche tot gewesen. Menschen wie Carrie und ihre<br />

Freunde werden immer den Weg des geringsten Widerstandes gehen. Daher ist die Victimo-<br />

logie in diesem Falle so leicht. Ein Profiler wird innerhalb von fünf Minuten heraus bekom-<br />

men, was alle Opfer verbindet. Dafür braucht man kein Genie zu sein. Ich gehe jede Wette<br />

ein, keiner von ihnen war ein Kämpfer. Sie waren nur junge Männer, die Spaß am Leben hat-<br />

ten und die es ganz bestimmt nicht verdienten, so zu sterben. Wäre die AFP nur zwei Stunden<br />

später gekommen, wäre der Liste von Carries Opfern ein weiterer Name hinzu gefügt worden,<br />

ein weiteres Grab. Das Schicksal hat mit dir etwas anderes vor gehabt. Ich bin fest überzeugt,<br />

dass nichts auf dieser Welt umsonst geschieht. Du solltest Überleben. Du solltest bei mir Lan-<br />

den. Du bist es, der diesem unermesslichen Leiden ein Ende setzen wird! Sicher macht dir<br />

dieses Wissen die Sache nicht leichter, aber es sollte dir helfen, damit fertig zu werden, um<br />

am Ende als Sieger hervor zu gehen.“<br />

Shawn hatte ruhig zugehört. Er wusste im Grunde, dass Kelly mit jedem Wort Recht hatte.<br />

„Du hast kein Problem damit, dass ich kein ... Kämpfer bin?“, fragte er leise. „Kannst du mich<br />

wirklich auf Dauer respektieren?“<br />

Kelly hatte bislang noch nie die Beherrschung verloren, egal, was Shawn gesagt hatte.<br />

Jetzt jedoch wurde sie ärgerlich. Sie setzte sich auf und sah Shawn an. „Verdammt noch mal,<br />

was denkst du eigentlich, wie ein Mann für mich sein müsste? Ein ständig fluchender,<br />

Schimpfwörter benutzender, sich bei jeder Gelegenheit prügelnder Neandertaler? Zufällig<br />

liebe ich dich, einen liebenswerten, freundlichen, intelligenten Mann, der nicht jeden Konflikt<br />

mit der Faust löst. Du wärest nicht einmal mein Patient, wenn du ein Schlägertyp wärest.<br />

Meinst du, dass du das irgendwann kapieren wirst?“<br />

Shawn war bei Kellys harten Worten regelrecht geschrumpft. Es war das erste Mal, dass<br />

sie wirklich verärgert reagierte und unwillkürlich machte sich in dem jungen Mann die Angst<br />

vor einer drastischen Strafe breit. Er konnte dies einfach noch nicht kontrollieren. Dafür wa-<br />

ren die Entführung und die Misshandlungen, resultierend aus Fehlern, die er sich bei Carrie<br />

geleistet hatte, noch zu frisch. Zitternd hockte er auf dem Bett, ein Häufchen Elend. Kelly<br />

schüttelte frustriert den Kopf. Sie zog Shawn an sich und meinte deutlich ruhiger:<br />

747


„Ach Schatz, ich liebe dich, wie ich noch nie zuvor einen anderen Menschen geliebt habe.<br />

Ohne Respekt vor einander würde Liebe nicht funktionieren. Also, ja, ich habe größten Res-<br />

pekt für dich! Was du überstanden hast, ohne daran zu Zerbrechen, nötigt mir mehr Respekt<br />

ab als du dir vorstellen kannst. Jemanden, der sich sinnlos zur Wehr gesetzt hätte, sich damit<br />

umgebracht hätte, könnte ich nicht Respektieren. Ein solcher Mensch würde mir nur leidtun,<br />

verstehst du das?“<br />

Shawn atmete zitternd ein. „Es tut mir ...“<br />

Kelly unterbrach den jungen Mann bestimmt. „Nein, entschuldige dich nicht, das brauchst<br />

du nicht. Ein schlauer Mann hat einmal gesagt, Liebe heißt, nicht um Verzeihung bitten zu<br />

müssen. Ich kann ja verstehen, dass dir ab und zu Zweifel kommen. Die brauchst du wirklich<br />

nicht zu haben. Du bist ... rundherum der beste Mann, den ich mir vorstellen kann.“ Kelly sah<br />

Shawn in die Augen. „Es wäre schön, wenn du mir das endlich glauben könntest.“ Sie be-<br />

merkte, dass die Augen, in die sie schaute, in Tränen schwammen. Sie biss sich auf die Unter-<br />

lippe und seufzte. „Ich weiß doch, dass du deine Angst vor Strafe nicht so ohne weiteres weg<br />

schalten kannst, Baby. Es tut mir leid, dass ich kurz die Fassung verloren habe. Damit helfe<br />

ich dir nicht.“<br />

Shawn schüttelte müde den Kopf. „Ich reagiere immer noch viel zu empfindlich. Sollte ich<br />

je wieder Arbeiten und ein Regisseur schreit mich an, falle ich vermutlich vor Schreck in<br />

Ohnmacht, was?“<br />

Kelly stieß ein kleines, frustriertes Schnaufen aus. „Nein. Das wirst du bestimmt nicht.<br />

Traumata sitzen nun einmal tief, sie lassen sich nicht fort Zaubern. Wir arbeiten weiter und<br />

eines schönen Tages wirst du feststellen, dass es dir nichts mehr ausmacht, wenn man dir ge-<br />

genüber die Stimme hebt. Du wirst Kaffee verschütten, ohne in Deckung zu gehen. Du wirst<br />

auch Widersprechen, ohne vor Angst in dich zusammen zu sinken. Glaube mir.“<br />

Shawn seufzte leise. „Wenn ich es nur so überzeugt glauben könnte wie du.“ Er stellte<br />

sein leeres Glas auf den Nachtschrank und zog umständlich die Zudecke unter sich heraus.<br />

„Ich bin ziemlich alle, das war heute wirklich unerträglich heiß. Was dagegen wenn wir schla-<br />

fen?“, fragte er müde.<br />

Kelly hatte ihr Glas ebenfalls geleert und stellte es weg. „Nein, gar nicht. Es war anstren-<br />

gend.“ Sie stand noch einmal auf, um im Bad zu verschwinden. Als sie ins Schlafzimmer zu-<br />

rückkam hatte Shawn ihr Zudeck bereits zur Seite geschlagen. Wohlig seufzend ließ die junge<br />

Frau sich ins Bett gleiten und deckte sich zu.<br />

„Was hältst du davon, wenn wir noch zwei, drei Tage in Perth bleiben, bevor wir nach<br />

Eildon zurückkehren?“<br />

Shawn rollte sich auf die Seite und sah Kelly an. „Wie groß ist Perth eigentlich?“, fragte er<br />

nervös.<br />

Kelly überlegte kurz. „Knapp 1,7 Millionen Einwohner.“, meinte sie dann.<br />

748


„Wie viele hat Darwin?“<br />

„120.000 in etwa.“<br />

„Wenn ich daran denke, dass mich da schon fast der Schlag getroffen hat vor Angst ... In<br />

Perth werde ich nur noch ein zitterndes Bündel Panik sein.“<br />

Kelly griff nach seiner Rechten und fuhr streichelnd mit dem Daumen über Shawns Hand-<br />

rücken. „Das wirst du nicht. Wir werden uns zwei schöne Tage machen, Perth hat einiges zu<br />

bieten. Und ich werde dir so viel zeigen, dass du keine Zeit für Gedanken an Carrie hast, ver-<br />

sprochen.“ Liebevoll strich ihre freie Hand durch Shawns Haare. Der Schauspieler drehte sich<br />

kurz herum und erwischte mit der freien Hand den Lichtschalter der Nachttischlampe. Es<br />

wurde dunkel im Raum. Kurz zögerte Shawn, doch schließlich rutschte er dich an Kelly heran<br />

und schlang die Arme um den schlanken, weichen Körper der jungen Psychologin.<br />

„Du bist sicher der einzige Mensch der es schaffen würde, mich so abzulenken. Meinst du,<br />

ich werde die Angst, Carrie in die Arme zu laufen, je ganz verlieren?“<br />

Kelly kuschelte sich eng an den jungen Mann und erklärte: „Irgendwann wirst du keine<br />

Angst mehr haben müssen, weil die Lady in der Todeszelle sitzen und auf ihre Hinrichtung<br />

warten wird.“ Ihre Stimme klang hasserfüllt. „Wenn es soweit ist, hoffe ich, dass wir zu-<br />

schauen können.“<br />

Shawn spürte eine Woge von Liebe über sich hinweg spülen. „Du würdest sie selbst kil-<br />

len, wenn du nur die Gelegenheit bekommen würdest, oder?“<br />

Kelly stieß ein kurzes, hartes Lachen aus. „Oh ja. Es wäre mir ein Vergnügen, die Dame<br />

dahin zu schicken wo sie hingehört: In die Hölle. Hasta la vista, Baby!“<br />

Shawn stutzte kurz, dann fing er schallend an zu lachen. „Muss ich jetzt Mrs. Terminator<br />

zu dir sagen?“, keuchte er. Natürlich war ihm der berühmte Ausspruch Arnold Schwarzeneg-<br />

gers aus den Terminator-Filmen geläufig. Kelly kicherte.<br />

„Nein, keine Bange, du darfst ruhig weiter ‘meine Göttin‘ sagen.“<br />

Shawn liefen Lachtränen über die Wangen. Er brauchte ein paar Minuten, bevor er auf<br />

Kellys freche Worte antworten konnte. „Ich bin ja so froh, dass du nicht eingebildet bist.“<br />

*****<br />

„Ladys und Gentleman, wir werden in Kürze den Perth International erreichen. Wir be-<br />

danken uns bei Ihnen für das Vertrauen. Zum International Terminal steht ein Bustransfer zu<br />

Ihrer Verfügung. Gegenüber den Baggage Reclaims im Terminal 3 finden Sie die Schalter der<br />

Car Rentals. Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt in Perth und einen angenehmen<br />

Weiterflug.“<br />

Shawn und Kelly hatten bereits ihre Lehnen aufrecht gestellt und sahen nun aus dem Fens-<br />

ter. Die Millionenstadt lag unter ihnen in der milden Abendsonne. Kelly hatte am Morgen den<br />

749


Flug nach Melbourne um zwei Tage verlegt. Zwar kostete dies eine Umbuchungsgebühr,<br />

doch das war ihr egal gewesen. Die Abflugzeit war die gleiche geblieben, sodass sie nun an-<br />

derthalb Tage hatten, sich Perth anzusehen. Da Kelly die Stadt gut kannte, war es kein Prob-<br />

lem, in dieser relativ kurzen Zeit möglichst viel zu sehen. Der Psychologin kam es gar nicht<br />

so sehr darauf an, Shawn die Stadt zu zeigen als vielmehr darauf, ihn unter Menschen zu<br />

bringen. Die Erfahrungen von Cairns und Darwin hatten ihr klar gemacht, dass Shawn erheb-<br />

liche Schwierigkeiten hatte, sich zwanglos unter vielen Menschen zu bewegen. Perth bot die<br />

Möglichkeit, dies weiter auszubauen.<br />

Sie hatten die letzten Stunden in Monkey Mia fast ausschließlich bei den Delfinen im<br />

Wasser verbracht. Gleich nach dem Frühstück hatten sie sich am Strand unter einen Sonnen-<br />

schirm gesetzt und waren immer wieder für lange Zeit ins Wasser zu den wunderschönen<br />

Meeressäugern gegangen. Kelly hatte Shawn viel allein gelassen. Sie spürte, dass der Umgang<br />

mit den Tieren dem Schauspieler unglaublich gut tat. Die sanfte Ruhe, die die Delfine aus-<br />

strahlten, das ruhige Vertrauen, das sie den Menschen entgegen brachten, war Balsam für<br />

Shawns Seele. Erstmals seit er bei ihr war, konnte die Therapeutin in seinen Augen einen tie-<br />

fen Frieden erkennen. Zwar war dies vorher schon das eine oder andere Mal aufgeflackert, im<br />

Outback, am Yellow Water, doch es war nie von langer Dauer gewesen. Jetzt machte sich<br />

dieser Frieden in dem Schauspieler breit und Kelly hoffte so sehr, dass davon einiges auch<br />

über Monkey Mia hinaus hängen bleiben würde.<br />

Gegen 16.00 Uhr waren sie schließlich in ihr Zimmer gegangen und hatten ihre Sachen<br />

zusammen gepackt. Die Fahrt nach Denham zum kleinen Flugplatz hatten sie mehr oder we-<br />

niger schweigend hinter sich gebracht. Doch diesmal war es ein angenehmes Schweigen ge-<br />

wesen, kein bedrücktes. Kurz vor Denham hatte Shawn die Stille gebrochen.<br />

„Das war ein wunderschönes Erlebnis. Ich weiß schon jetzt absolut sicher, dass ich nach<br />

Monkey Mia zurückkehren werde wann immer ich die Gelegenheit bekomme. Du hattest<br />

Recht, es hat mir unendlich gut getan. Diese Tiere sind ... Sie sind wundervoll! Sie haben kei-<br />

nen Grund, uns Menschen zu vertrauen, und doch tun sie es. Sie sind so groß und doch so<br />

sanft. Der Besuch hier hat mir unglaublich viel gebracht.“ Er hatte Kelly angeschaut und die<br />

Therapeutin sah das Glück und die Zufriedenheit in seinen Augen.<br />

Der Flug von Denham nach Perth war ereignislos verlaufen, um Punkt 17.25 Uhr hatte die<br />

Cessna Richtung Perth abgehoben. Als sie nun gegen 18.15 Uhr zur Landung ansetzten, kam<br />

in Shawn wieder ein wenig Nervosität hoch. Perth war gewaltig groß im Vergleich zu allem,<br />

was er in den letzten Wochen gesehen hatte. Wäre er ein landesweit gesuchter Verbrecher<br />

gewesen, er hätte sich bestimmt in eine der Millionenstädte abgesetzt. Brisbane, Perth, Ade-<br />

laide, Sydney, Melbourne ... Diese Städte boten mit ihrer Größe Sicherheit und eine große<br />

Chance, in der Menge unauffällig zu bleiben. Innerlich schüttelte es den jungen Mann. Kelly<br />

750


emerkte seine Unsicherheit sehr wohl, ging jedoch nicht darauf ein. Sie griffen sich ihre<br />

Rucksäcke und stiegen auf dem Rollfeld in den kleinen Transferbus, der sie zu den Terminals<br />

fuhr. Schnell hatten sie im Terminal 3 die Schalter der Car Rentals entdeckt. Sie stellten sich<br />

am Avis Schalter an und hatten kurze Zeit später einen Leihwagen. Ein einfacher Toyota<br />

Avensis wartete auf dem Parkplatz vor dem Flughafen auf sie. Mit einem Shuttlebus wurden<br />

sie zu dem Großraumparkplatz gebracht und saßen Minuten später in dem fast neuen silber-<br />

nen Wagen. Kelly steuerte vom Flughafengelände herunter und folgte der Brearley Avenue,<br />

bis diese nach kurzer Zeit auf den Great Eastern Highway stieß. Dieser folgte dem Swan Ri-<br />

ver, dem Fluss, der sich durch ganz Perth schlängelte.<br />

„Perth wurde am 12. August 1829 gegründet. Damals entdeckte der schottische Marineof-<br />

fizier und spätere erste Gouverneur von Western Australia, Sir James Stirling, die Mündung<br />

des Swan River in den Indischen Ozean und beschloss, das wäre ein guter Platz, hier eine<br />

Stadt zu gründen, um mit ihrer Hilfe die französische Besiedlung des australischen Westens<br />

zu verhindern. Offiziell wurde sie allerdings erst 1856 gegründet und erhielt den Namen Perth<br />

auf Wunsch des britischen Kriegs- und Kolonialministers Sir George Murray in Anlehnung an<br />

das schottische Perth, wo dieser geboren worden war.“<br />

Kelly gab diese Informationen an Shawn weiter, während sie dem Great Eastern Highway<br />

in westlicher Richtung folgte. Nach knapp 6 Kilometern tauchte rechts von ihnen ein großes<br />

Gebäude auf.<br />

„Das ist der Burswood Dome. Gleich dahinter liegt das Hotel Intercontinental. Dort sollten<br />

wir problemlos ein Zimmer bekommen.“ Schon war das große Hotel zu sehen und Kelly bog<br />

vom Highway ab.<br />

„Wow. Ist das ein Klotz.“, meinte Shawn grinsend.<br />

Der riesige, zehnstöckige, in Stufenform gebaute Komplex wirkte in der Abendsonne be-<br />

eindruckend. Kelly steuerte den großen Parkplatz an und kurz darauf standen sie an der Re-<br />

zeption.<br />

„Guten Abend. Wir hätten gerne ein Zimmer für zwei Nächte, möglichst weit oben, wenn<br />

es geht.“<br />

Die Angestellte warf einen Blick in den PC und erklärte: „Wir haben im Stockwerk zehn<br />

die Suites frei, oh, ich sehe gerade, auch ein Club Room ist noch frei, der würde Sie für zwei<br />

Nächte 980 A$ kosten.“<br />

Shawn klappte der Mund auf doch Kelly nickte. „Das hört sich gut an, den werden wir<br />

nehmen. Bis wann müssen wir ausgecheckt haben?“<br />

„Bis 11 Uhr.“, erklärte die nette Angestellte, während sie die Buchung klar machte.<br />

„Oh, das trifft sich gut, unser Flug geht um 12.10 Uhr. Vielen Dank.“ Kelly nahm den<br />

Zimmerschlüssel entgegen und man zeigte ihnen den Weg zu den Aufzügen.<br />

751


Im zehnten Stock angekommen hatten sie ihren Raum schnell gefunden. Sie warfen ihre<br />

Rucksäcke in eine Ecke des Schlafzimmers und sahen sich um. Wunderschön eingerichtet,<br />

gemütliches, gedämpftes Licht, ein großes Bad, in fast weißem Marmor gehalten, im Wohn-<br />

raum eine großzügige Sitzecke, alles in allem Luxus pur. Shawn konnte sich nicht verkneifen<br />

zu fragen:<br />

„Sag mal, du Kapitalistin, für zwei Nächte fast 1.000 Bucks? Haben sie dich jetzt er-<br />

wischt?“<br />

Kelly kicherte vergnügt. „Dafür gibt es in Eildon nur noch Wasser und Brot.“, erklärte sie<br />

frech. Sie zog Shawn zum Balkon und zusammen traten sie hinaus. Über den Swan River<br />

hinweg konnten sie in der untergehenden Sonne nach Down Town Perth hinüber schauen.<br />

„Beeindruckend!“, meinte Shawn und trat an die Balkonbrüstung. „Man, allein dieser<br />

Ausblick lohnt fast den Preis.“ Hier oben, allein mit Kelly, fühlte er sich sicher und entspannt.<br />

Wenn sie Morgen in der Stadt unterwegs sein würden sah die Sache anders aus, dass wusste<br />

der junge Mann genau. Er zog Kelly an sich und fragte sanft: „Wollen wir nicht sehen, dass<br />

wir etwas zu Beißen bekommen? Mir knurrt der Magen ein wenig.“<br />

Es war inzwischen 19 Uhr und sie hatten zuletzt am Morgen im Monkey Mia Resort etwas<br />

zu sich genommen. So war es kein Wunder, dass Shawn Hunger hatte.<br />

„Natürlich. Im Hotel ist ein hervorragendes Steak & Seafood Restaurant, das Victoria Sta-<br />

tion. Wie wäre es damit? Dann bräuchten wir nicht erst Fahren.“<br />

Shawn stimmte sofort zu. Sie machten sich schnell ein wenig frisch und marschierten los<br />

zum Fahrstuhl. Minuten später saßen sie bereits an einem Gartentisch des Restaurants. Gegen<br />

21 Uhr wieder auf ihrem Zimmer ankamen ließ Shawn sich ächzend auf das breite Bett fallen.<br />

„Das war eines der besten Steaks, wirklich. Da war jeder Bissen sein Geld wert.“<br />

*****<br />

Kelly legte das Messer aus der Hand. Nach einer ruhigen Nacht saßen sie am Frühstücks-<br />

tisch in der Lounge und hatten sich am großartigen Frühstücksbuffet mehr als ausgiebig be-<br />

dient. Sich unterhaltend tranken sie noch eine Tasse Kaffee.<br />

„Worauf wollen wir denn nun heute los?“, fragte der Schauspieler neugierig und ein wenig<br />

nervös.<br />

„Ich denke, wir sollten die angebotene Swan River Tour mitmachen, da bekommt man ei-<br />

ne Menge von der Stadt zu sehen. Es geht bis an den Ozean heran. Anschließend setzten wir<br />

uns ins Auto und fahren nach Down Town. Was hältst du davon?“<br />

Shawn nickte. „Hört sich nach einem vernünftigen Vorschlag an.“ Er trank seine Tasse<br />

leer und sah Kelly auffordernd an. „Dann lass uns.“<br />

Sie erhoben sich und eilten an die Rezeption. Die River Tour war nicht ausgebucht, so be-<br />

kamen sie noch Plätze auf dem Boot. Um 10 Uhr saßen sie nebeneinander auf dem Flussboot<br />

752


und genossen die milde Sonne. Es ging an der winzigen Insel Heirisson Island vorbei den<br />

Fluss hinunter. Man hatte einen großartigen Blick auf die beeindruckende City Skyline. Se-<br />

gelboote kreuzten auf dem Fluss, andere Ausflugsboote begegneten ihnen, kleine Motorboote<br />

flitzten vorbei. Der Fahrtwind sorgte für sehr angenehme Kühlung. Bald standen Shawn und<br />

Kelly auf dem Oberdeck an der Reling und genossen die Aussicht auf die Ufer des Flusses.<br />

Immer wieder waren an beiden Ufern kleine Jachthäfen zu sehen, in denen Motorboote und<br />

Segler vor sich hin dümpelten. Vor ihnen tauchte eine Brücke auf. Kelly deutete nach rechts.<br />

„Der Stahlturm dort, das ist Bell Tower. Und da, siehst du das große Riesenrad? Das ist<br />

The Wheel of Perth. Es ist 50 Meter hoch und man hat eine fantastische Aussicht von oben.“<br />

Das große Rad war deutlich zu erkennen.<br />

„Es sieht von hier schon gewaltig aus, wie muss es sein, wenn man davor steht?“, meinte<br />

Shawn beeindruckt.<br />

Nachdem sie die Brücke passiert hatten, konnte man rechter Hand eine riesige Waldfläche<br />

erkennen.<br />

„Das ist Kings Park. Er bildet eigentlich das Herz der Stadt. Am nördlichen Ende liegt der<br />

botanische Garten. Der Park ist über vierhundert Hektar groß. Der Rundweg ist mehr als 7<br />

Kilometer lang. Es gibt eine 220 Meter lange Brücke, auf der man in den Baumwipfeln spa-<br />

zieren gehen kann. Das ist eine sehr interessante Erfahrung, etwas, was du sonst nie so zu<br />

Gesicht bekommen würdest.“<br />

Die Fahrt ging weiter und langsam verschwand die Skyline und machte kleinen, gepfleg-<br />

ten Häusern, die sich an die Uferböschung schmiegten, Platz. Kelly erklärte:<br />

„Der Swan River ist insgesamt 65 Kilometer lang. Er durchquert Perth ganz, von Südwes-<br />

ten nach Nordosten. Der Swan River wurde nach den berühmten schwarzen Schwänen, die es<br />

hier sehr viel gibt, benannt. Ein Holländer namens Willem de Vlamingh war der erste Euro-<br />

päer, der den Fluss befuhr. Das war 16 ... 1697. Er kam nur bis Heirisson Island. Erst 1801<br />

segelte eine französische Expedition weiter flussaufwärts.“<br />

Shawn hatte interessiert zugehört. Am Ufer waren weiter die kleinen Einfamilienbunga-<br />

lows mit ihren herrlichen Gärten zu erkennen.<br />

„So lässt es sich Leben, was? Kann man im Fluss schwimmen?“<br />

„Sauber genug ist er dank strenger Umweltauflagen wieder. In den Siebzigern war das<br />

Wasser stark verschmutzt. Aber wie in fast allen Flüssen hier, die einen direkten Zugang zum<br />

Meer haben, besteht immer die Gefahr, dass Bullenhaie die Flussläufe hinauf schwimmen.<br />

Bullenhaie sind die einzigen Haie, die in Süßwasser leben können. Sie kommen in allen war-<br />

men Flüssen vor, nicht nur hier in Australien. In Afrika findet man sie zum Beispiel im Sam-<br />

besi und im Limpopo. Sie wurden schon im Tigris, im Ganges, im Mississippi, im Indian Ri-<br />

ver System, im Amazonas gefangen. Im Nicaraguasee hat sich eine ganz eigenständige Spezi-<br />

es entwickelt. Dort haben es die Tiere geschafft, die Stromschnellen des Rio San Juan zu<br />

überwinden. Bullenhaie zählen neben den Weißen Haien und den Tigerhaien zu den für Men-<br />

753


schen am gefährlichsten Haien. Viele Unfälle, die dem Weißen Hai zugeschrieben werden<br />

könnten nach Aussage von Experten deutlich eher dem Bull Shark zugeschrieben werden.<br />

Hier im Swan River werden auch immer wieder welche gesichtet. Also ist Baden hier mit<br />

einem gewissen Risiko behaftet.“<br />

Shawn sah das Wasser unter ihnen mit anderen Augen. „Okay, ich bleibe im Pool. Sicher<br />

ist sicher.“<br />

Das Boot fuhr weiter und langsam wichen die kleinen, netten Villen am Ufer zurück.<br />

„Wir erreichen bald den Hafen von Perth.“, erklärte Kelly.<br />

Auf der rechten Seite wurden Industrieanlagen sichtbar, einige große Schiffe lagen an den<br />

Kaimauern, bereit, be- oder entladen zu werden.<br />

oder?“<br />

„Der Hafen lieg im Stadtteil Fremantle. Er ist der größte Hafen an der Westküste.“<br />

„Angesichts der Fülle an Großstädten hier an der Westküste ist das nicht gerade schwierig,<br />

Kelly musste Lachen. „Da hast du eigentlich auch wieder Recht. Gut, Fremantle ist der<br />

einzige große Hafen an der Westküste. Zufrieden?“<br />

„Ja. Anders hört es sich an, als hättet ihr hier eine Großstadt nach der anderen, die alle rie-<br />

sige Häfen haben.“<br />

Sie hatten die Flussmündung erreicht und das Riverboot wendete. Gegen 13 Uhr erreich-<br />

ten sie zufrieden wieder die Hotelanlage. Sie machten sich schnell ein wenig frisch. Auf dem<br />

Rückweg hatten sie den Wind von hinten gehabt und dieser hatte so keine Kühlung gebracht.<br />

Beide streiften frische T-Shirts über. Dann ging es hinunter auf den Parkplatz. Kelly fuhr in<br />

die Innenstadt und stellte den Wagen dort in einem zentral gelegenen Parkhaus ab.<br />

„So, bereit für Sight Seeing Perth?“, fragte sie gut gelaunt.<br />

Shawn nickte etwas zögerlich. „Ja ... Auf in den Kampf.“<br />

Minuten später standen sie auf der Straße. Sie schlenderten gemütlich durch die George<br />

Terrace und landeten schließlich am bekannten London Court, einer offenen Einkaufsarcade.<br />

„Hier könnten wir etwas Essen, wenn du magst. Und etwas Kaltes trinken.“<br />

„Oh ja!“ Shawn wirkte verkrampft, aber bemüht, sich dies nicht anmerken zu lassen. Er<br />

hatte sich immer wieder paranoid umgesehen. Kelly ging dicht bei ihm und hatte ihm einen<br />

Arm um die Taille gelegt. Er erwiderte die Geste, indem er einen Arm um Kellys Schultern<br />

legte. Sie konnte spüren, dass der junge Mann angespannt war.<br />

„Shawn, versuche, nicht ständig daran zu denken. Niemand hier wird dir etwas tun und<br />

Carrie wird ganz bestimmt nicht auftauchen.“<br />

Shawn schnaufte nervös. „Ich bemühe mich ja, aber die vielen Menschen ... Gut. Keine<br />

Carrie. Kein Alan. Ich bin ganz locker!“<br />

754


Liebevoll drückte Kelly den Schauspieler an sich. Sie zog ihn in ein Café und zu einem<br />

freien Tisch. Minuten später hatten sie Kaffee, kalte Cola und Schinken-Käse-Croissants vor<br />

sich stehen.<br />

„Lass es dir schmecken.“ Kelly lächelte Shawn beruhigend zu. Dieser wurde ganz allmäh-<br />

lich wirklich lockerer. Die Croissants schmeckten gut, der Kaffee war heiß und stark, sie wa-<br />

ren rund herum zufrieden.<br />

Nachdem sie gegessen hatten schlenderten sie weiter durch den London Court. Es gab un-<br />

zählige kleine Geschäfte, in denen man alle Arten von Reiseandenken kaufen konnte. Immer<br />

wieder luden Straßencafés zum Verweilen ein. In Juwelierläden lagen Schmuckstücke mit<br />

australischen Opalen in den Auslagen. Fast jedes Gebäude hätte man fotografieren können, so<br />

schön waren die Meisten. Shawn vergaß für den Moment wirklich, dass er eigentlich Angst<br />

hatte. Er schlenderte entspannt und gut gelaunt neben Kelly her und die junge Frau konnte<br />

spüren, dass ihr Patient in einer guten Stimmung war. Darüber freute sie sich mehr als alles<br />

andere. Sie machte ihn auf das eine oder andere Bauwerk aufmerksam, zog ihn zu Schaufens-<br />

tern und erklärte nebenbei, was sie über den London Court wusste. Viele Touristen hielten<br />

sich an diesem warmen Spätnachmittag hier auf. Man hörte die unterschiedlichsten Sprachen.<br />

Einige Male wurde Shawn erstaunt und fragend gemustert. Eine Gruppe junger Mädchen, die<br />

dem Slang nach aus Texas stammen mussten, deuteten auf den Schauspieler, tuschelten auf-<br />

geregt miteinander und marschierten kichernd und sich immer wieder umschauend weiter.<br />

Shawn grinste still vor sich hin. Er war glücklich. Im Moment fühlte er sich fast normal. Car-<br />

rie schien weit hinter ihm zu liegen. Er war bei Kelly, spürte die Psychologin in seinem Arm,<br />

das Ambiente um sie herum war perfekt, kurz, alles war fantastisch.<br />

Doch wie ein Blitz aus heiterem Himmel war er wieder da, der Horror! Von einer Sekunde<br />

auf die andere wurde Shawn steif. Fassungslos starrte er eine Frau an, die auf ihn und Kelly<br />

zu kam. Diese Frau sah ihn im selben Augenblick und stutzte. Kelly spürte, wie Shawn stock-<br />

steif wurde. Sie sah erstaunt auf und blickte ihm ins Gesicht. Er war leichenblass und seine<br />

Augen fixierten etwas vor ihnen. Kelly folgte dem Blick und obwohl sie sie nie gesehen hatte<br />

wusste die Therapeutin sofort, was Shawn in solche Panik versetzte. Die Frau. Groß, musku-<br />

lös, blonde, kurze Haare, kalte, blaue Augen, die Shawn nicht weniger bestürzt fixierten. Kel-<br />

ly brauchte nicht zu fragen. Terry! Diese sadistische, soziopathische Ärztin stand keine 2 Me-<br />

ter entfernt vor ihnen. Unterbewusst bekam Kelly mit, dass die Frau mit einer flüssigen Be-<br />

wegung der rechten Hand hinter sich griff. Und schon zeigte eine Waffe auf Shawn. Kelly<br />

brüllte:<br />

„Waffe! Vorsicht!“, und reagierte so schnell wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie gab<br />

Shawn einen kräftigen Stoß, der diesen aus dem Gleichgewicht brachte und ihn in den ge-<br />

schützten Eingang eines Geschäftes stolpern ließ. Er hatte Schwierigkeiten, nicht ganz das<br />

755


Gleichgewicht zu verlieren und kämpfte damit, auf den Beinen zu bleiben. Ein Schuss<br />

peitschte durch die enge Gasse, Menschen schrien auf, brachten sich panisch in Sicherheit.<br />

Terry wollte noch einmal feuern, sie hatte sich ein wenig gedreht, um wieder auf Shawn zie-<br />

len zu können. Doch zu einem weiteren Schuss kam sie nicht. Bevor die Frau noch reagieren<br />

konnte war Kelly bei ihr!<br />

62) Das erste Mal<br />

Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.<br />

Berthold Brecht<br />

Mit einer mit den Augen kaum zu verfolgenden Bewegung hatte sie der blonden Frau die<br />

Schusswaffe aus der Hand getreten, bevor diese überhaupt begriff, was geschah. Wutent-<br />

brannt wirbelte Terry zu der wesentlich kleineren und zierlicheren Angreiferin herum. Doch<br />

nun zeigte die Therapeutin gnadenlos, was in ihr steckte. Es dauerte keine zwei Minuten, dann<br />

lag Terry so gut wie besinnungslos auf dem Boden, die Hände vor das blutende Gesicht ge-<br />

schlagen, und keuchte nach Luft. Irgendwelche Stimmen brüllten nach der Polizei, jemand<br />

fragte Kelly, ob sie in Ordnung sei. Ein kräftiger Mann stand plötzlich neben ihr und erklärte:<br />

„Ich halte sie fest, kümmer dich um deinen Freund.“ Er beugte sich über Terry und drück-<br />

te diese hart auf den Boden. Kelly nickte dankbar und eilte zu Shawn, der kreideweiß im Ge-<br />

sicht, zitternd an der Wand des Geschäftes lehnte, in dessen Eingang Kelly ihn gestoßen hatte.<br />

Um sie herum hatte sich eine große Menschenmenge gesammelt. Ein junger Mann hatte die<br />

Waffe aufgehoben und hielt diese unsicher in der Hand. Kelly trat zu Shawn und fragte be-<br />

sorgt:<br />

„Baby, ist alles in Ordnung? Du hast nichts ab bekommen, oder?“ Sie zog den jungen<br />

Mann an sich und fühlte, dass er am ganzen Leib zitterte. Von irgendwo her näherten sich<br />

Polizeisirenen und schon hetzten einige Beamte auf sie zu. Shawn klammerte sich panisch an<br />

Kelly und stotterte:<br />

„Nichts ... nichts abbekommen ... Kelly ... Bitte, ich will ... hier weg ...“<br />

Die eintreffenden Beamten versuchten, sich einen Überblick zu verschaffen. Von allen<br />

Seiten wurde auf sie eingeredet.<br />

„... einfach eine Waffe gezogen und auf den jungen Mann dort geschossen ...“<br />

„Sie schoss sofort und ...“<br />

„Wenn die junge Frau nicht so schnell reagiert hätte ...“<br />

„... einfach drauf los geballert!“<br />

„Bevor sie noch mal schießen konnte ...“<br />

756


Einer der Beamten hatte offensichtlich genug gehört, um Terry Handschellen anzulegen<br />

und sie auf die Füße zu ziehen. Ein anderer Beamter kam zu Kelly und Shawn hinüber und<br />

fragte gleichwohl misstrauisch und besorgt:<br />

„Ist bei Ihnen alles in Ordnung? Ich müsste wissen, was hier los war. Sind Sie in der Lage,<br />

mir ein paar Fragen zu beantworten?“<br />

Kelly nickte. „Ja. Können wir das auf dem Revier erledigen? Mein Begleiter steht ein we-<br />

nig unter Schock, ich würde ihn gerne hier weg bringen.“<br />

„Sie müssten uns sowieso begleiten, Ma’am. Kommen Sie.“<br />

Drei der Polizisten blieben vor Ort, um die Aussagen der vielen Zeugen aufzunehmen, ein<br />

weiterer führte die schwer angeschlagene Terry zu einem der Streifenwagen. Kelly hielt<br />

Shawn sorgsam im Arm und folgte dem Officer, der sie angesprochen hatte. Ein weiterer Be-<br />

amter marschierte unauffällig hinter ihnen. Kelly war klar, dass die Polizisten erst einmal<br />

auch ihnen gegenüber Vorsicht walten ließen. Sie führte Shawn sanft aber bestimmt mit sich.<br />

Am Dienstwagen angekommen half Kelly dem Schauspieler, sich auf die Rückbank gleiten zu<br />

lassen und stieg zu ihm. Eng zog sie ihn an sich und die Fahrt zum Revier brachten sie<br />

schweigend hinter sich. Shawn starrte die ganze Zeit apathisch auf die Rückenlehne vor sich.<br />

Kurze Zeit später saßen sie in einem Dienstzimmer auf dem zuständigen Revier. Der Be-<br />

amte, der sie hierher begleitet hatte, erklärte dem diensthabenden Lieutenant mit kurzen Wor-<br />

ten, um was es ging. Dieser forderte Kelly und Shawn freundlich auf, sich zu setzen. Shawn<br />

zitterte immer noch am ganzen Körper und rückte seinen Stuhl eng neben den Kellys. Der<br />

Lieutenant stellte sich vor.<br />

„Ich bin Lieutenant Peters.“ Er warf Shawn einen fragenden Blick zu und erkundigte sich:<br />

„Kann ich was für Sie tun?“<br />

„Wenn mein Begleiter ein Glas Wasser bekommen könnte?“<br />

Peters bat den Beamten um ein Glas Wasser für Shawn. Augenblicke später hielt dieser<br />

das Glas in den zitternden Händen und trank langsam ein paar Schlucke. Ganz allmählich<br />

wurde er etwas ruhiger. Peters wandte sich an Kelly.<br />

„Officer Todd hier hat mir ja schon in groben Zügen geschildert, was da abgegangen zu<br />

sein scheint. Könnten Sie mir Näheres sagen? Vielleicht zuerst mal wer Sie sind? Wer die<br />

Frau ist, die scheinbar auf Sie geschossen hat? Und warum?“<br />

Kelly sah den Lieutenant an. Möglichst ruhig erwiderte sie: „Mein Name ist Dr. Kelly<br />

Jackson, mein Begleiter ist US Staatsbürger, mein Patient und heiß Shawn McLean.“<br />

Peters stutzte und sah Shawn plötzlich sehr misstrauisch an. „Shawn McLean ... Der Name<br />

kommt mir bekannt vor.“<br />

„Davon gehe ich aus. Mr. McLean wurde im Januar in Mackay entführt und erst fünf Mo-<br />

nate später auf einer Insel der Whitsunday Islands gefunden und befreit. Die landesweite Su-<br />

che dürfte auch an Ihnen nicht vorbei gegangen sein.“<br />

757


Wieder entspannt nickte der Lieutenant. „Richtig! Ich erinnere mich sehr wohl. Ja, daher<br />

ist mir der Name geläufig. Sie sagten, er sei Ihr Patient? Dann kann ich davon ausgehen, dass<br />

Sie die Kelly Jackson sind? Die Traumatherapeutin?“<br />

„Die bin ich. Mr. McLean und ich befinden uns am Ende einer Reise durchs Outback.<br />

Wir werden morgen Mittag zurück nach Hause fliegen. Heute wollten wir uns die City an-<br />

schauen. Die Entführer, es waren fünf, sind bis heute nicht geschnappt worden. Einer von<br />

ihnen wurde vor einiger Zeit tot in Sydney aufgefunden. Und die Frau, die Sie heute verhaften<br />

konnten, gehört zu den Entführern. Sie hat Mr. McLean sofort erkannt, wie er sie. Sie griff<br />

unmittelbar nach ihrer Waffe und versuchte, Mr. McLean zu töten. Wäre ich nicht so schnell<br />

gewesen und hätte ihn aus der Schussbahn gestoßen, wäre er vermutlich tot.“ Kelly konnte<br />

nicht verhindern, dass ihr Tränen über die Wangen stürzten. Erst jetzt wurde ihr richtig be-<br />

wusst, was sich da abgespielt hatte. Hasserfüllt stieß sie hervor: „Ich hoffe, ich habe dem<br />

Dreckstück richtig weh getan!“ Die Psychologin musste tief durchatmen. Shawn hatte ihre<br />

leidenschaftlichen Worte gehört und drückte Kellys Hand. „Wenn Sie nichts dagegen haben,<br />

Lieutenant Peters, würde ich gerne Inspector Lauren Demsey vom AFP in Sydney anrufen<br />

und informieren.“, bat Kelly.<br />

„Sie war die leitende Beamte in dem Entführungsfall, richtig? Ich würde selbst gerne mit<br />

ihr sprechen.“ Er griff nach seinem Telefon und drückte eine Taste.<br />

„Emily, verbinde mich bitte mit dem AFP Sydney. Inspector Lauren Demsey.“<br />

Sekunden später klingelte das Telefon und Peters nickte Kelly zu.<br />

Die Therapeutin nahm das Telefon, drückte auf Lautsprecher und meldete sich. „Laurie?<br />

Hey, ich bin es, Kelly.“<br />

Am anderen Ende der Leitung war die freudige Stimme der Freundin zu hören.<br />

„Kel! Schön, dass du dich meldest. Wie geht es euch? Wo seid ihr denn jetzt?“<br />

Kelly unterbrach die Freundin ruhig. „Laurie, hör zu. Ich sitze mit Shawn in Perth auf ei-<br />

nem Polizeirevier. Wir sind seit gestern in der Stadt. Heute Nachmittag waren wir im London<br />

Court unterwegs, als Shawn in der Menschenmenge plötzlich Terry, Teresa, die Ärztin ent-<br />

deckte. Sie hat Shawn ebenfalls sofort erkannt, zog eine Waffe und versuchte, Shawn zu er-<br />

schießen.“<br />

„Oh mein Gott! Ist ihm etwas passiert? Oder dir?“<br />

„Nein, keine Sorge, uns geht es den Umständen entsprechend gut. Es gelang mir, Shawn<br />

aus der Schussbahn zu stoßen. Die Lady wollte es tatsächlich noch einmal versuchen, doch<br />

ich war schneller. Ich trat ihr die Waffe mit einem Kick aus der Hand und dann ...“<br />

„Dann hast du sie so richtig vermöbelt?“, fragte Lauren hoffnungsvoll. Sie wusste, welch<br />

großartige Kämpferin Kelly war. Sie beherrschte Kung Fu wie ein Meister. Kelly musste un-<br />

willkürlich Lachen und selbst über Shawns noch immer sehr blasses Gesicht huschte ein<br />

schwaches Lächeln.<br />

758


„Ja, Lauren, ich habe sie vermöbelt. Schade, dass sie so schnell zu Boden ging!“<br />

Am anderen Ende der Leitung war ein befreites Lachen zu hören. „Das ist gut. Wir wissen<br />

inzwischen, wie die Dame wirklich heißt.“<br />

„Ich habe dich laut gestellt, der zuständige Lieutenant hört mit.“, erklärte Kelly.<br />

Lauren fragte nach: „Lieutenant?“<br />

Peters stellte sich schnell selbst vor. „Japp, Lieutenant Scott Peters, ich hab schon einiges<br />

über Sie gehört, Inspector Demsey.“<br />

Lauren lachte. „Hoffentlich nur Gutes. Also, hört zu: Die Lady heiß in Wirklichkeit Eva<br />

Moore und kommt ursprünglich aus Boise, Idaho. Sie hat dort an der State University studiert<br />

und später am MRI Center ihre Assistenzzeit absolviert. Von da ist sie nach Missoula, Mon-<br />

tana, ans Montana Cancer Center. Dort wurde sie wegen Insubordination gefeuert. Irgend-<br />

wann danach muss sie auf Carrie gestoßen sein.“<br />

Kelly hatte interessiert zu gehört. „Wie habt ihr ihren richtigen Namen raus bekommen?“,<br />

fragte sie gespannt.<br />

„Ich habe die Beschreibungen, die Shawn geliefert hat, einem unserer Zeichner gegeben<br />

und dieser hat eine vage Phantomzeichnung erstellt, die wir mit den von Shawn beschriebe-<br />

nen Details versehen haben. Ich habe dann diese Zeichnungen ans FBI geschickt und die ha-<br />

ben die Suchmeldung öffentlich im TV ausgestrahlt. Auf Grund der Narbe auf dem Schien-<br />

bein und der gepiercten Klitoris hat sich ein Tattoostudio gemeldet. Eine der Angestellten hat<br />

beim FBI angerufen und war sich ziemlich sicher, in der Gesuchten ihre Kundin Eva Moore<br />

erkannt zu haben.“<br />

Kelly hatte so aufmerksam zugehört wie Peters und Shawn. Nun meinte sie: „Na, du wirst<br />

die Dame ja bald bei dir haben, dann kannst du herausfinden, wie sie und Carrie sich getrof-<br />

fen haben. Damit sind schon zwei dieser Schweine aus dem Verkehr. Hoffentlich geht es in<br />

der Art weiter. Shawn und ich fliegen morgen nach Hause, wir würden uns freuen, wenn du<br />

mal vorbei kommst.“<br />

„Worauf du dich verlassen kannst, Süße. Pass weiter gut auf, okay?“<br />

„Worauf du dich verlassen kannst! Ich werde Shawn nicht aus den Augen lassen.“ Kelly<br />

wandte sich an Peters. „Sind wir hier fertig? Ich würde Mr. McLean gerne ins Hotel bringen,<br />

damit er sich erholen kann.“<br />

Peters nickte zustimmend. Ihm war nicht entgangen, in welch desolatem Zustand der jun-<br />

ge Mann war. „Ja, Officer Todd wird Sie fahren. Alles Gute weiterhin.“<br />

*****<br />

759


Shawn lag auf dem Bett, nur noch mit Boxershorts bekleidet, hielt ein Glas Whiskey in<br />

der Rechten und schwenkte geistesabwesend die drei Eiswürfel darin. Kelly kam gerade aus<br />

dem Bad. Sie lächelte Shawn sanft an und fragte:<br />

„Na, geht es langsam wieder?“<br />

Der Schauspieler sah auf. „Wenn du nicht gewesen wärest, bräuchte ich mir nur noch Ge-<br />

danken darüber zu machen, wie ich mich am besten auf meiner Wolke halte.“<br />

Kelly schüttelte erschrocken den Kopf. „Blödsinn. Die hätte vermutlich sowieso nicht ge-<br />

troffen.“, erklärte sie entgegen ihrer Überzeugung. Sie setzte sich zu Shawn und lehnte sich an<br />

ihn. „Ich bin so froh, dass nichts weiter passiert ist. Dass dir nichts passiert ist!“<br />

Shawn leerte sein Glas gut zur Hälfte und stellte es auf den Nachtschrank. Er kuschelte<br />

sich in Kellys Arme und fragte kläglich: „Wir hauen hier morgen wirklich ab, oder?“<br />

„Ja, wir werden hier verschwinden. Es tut mir so unendlich leid, dass es nun doch so weit<br />

gekommen ist. Die Chance stand eins zu einer Million, einen der Vier zu treffen. Doch viel-<br />

leicht hat das Ganze auch etwas Gutes. Möglich, dass Terry ... Eva ... Dass sie verrät, wo Ka-<br />

ren, Carrie und Alan sich aufhalten und wie sie wirklich heißen.“<br />

Shawn seufzte. Er griff nach seinem Glas, nahm noch einen Schluck von seinem Whiskey<br />

und spielte dann tief in Gedanken versunken mit dem Glas in seiner Hand.<br />

„Kann ich mir nicht vorstellen. Als sie da plötzlich vor mir stand ... Ich war wie gelähmt.<br />

Wenn du nicht ...“ Er verstummte. Sein Selbstwertgefühl hatte nach dieser Sache wieder einen<br />

erheblichen Schlag bekommen. Kelly wünschte, die Geschichte wäre anders verlaufen. Ruhig<br />

meinte sie:<br />

„Babe, das ist in Ordnung. Du warst vollkommen überrascht. Wenn sie nicht eine Waffe<br />

bei sich gehabt hätte, wärest du sicher nach einer Schrecksekunde selbst in der Lage gewesen,<br />

etwas zu unternehmen. Sie hatte in diesem Fall einfach die besseren Karten.“<br />

„Und ich hab wieder den Kürzeren gezogen. Ich werde mich nie von diesen Monstern be-<br />

freien können. Sie haben mein Leben ruiniert. Ich werde diese ganze Scheiße bis an mein Le-<br />

bensende mit mir herumschleppen und die Chancen, dass dieses Ende überraschend und ge-<br />

walttätig kommt, stehen sehr gut!“<br />

Verzweifelt sprang Shawn auf und trat auf den Balkon hinaus. Er konnte über den Swan<br />

River hinweg die Innenstadt im letzten Licht der untergehenden Sonne sehen. Für eine kurze,<br />

wundervolle Zeit hatte er wirklich vergessen, in welcher Gefahr er schwebte. Doch diese Ge-<br />

fahr hatte brutal und überraschend zurückgeschlagen. Als er Terry erkannt hatte, waren alle<br />

guten Vorsätze, ruhig und vernünftig zu bleiben wie weggewischt gewesen. Er hatte keinen<br />

Finger rühren können. Wäre Kelly nicht so geistesgegenwärtig gewesen ... Shawn lief trotz<br />

der Wärme ein Schauer über den nackten Rücken. Es hätte in Bruchteilen von Sekunden zu<br />

Ende sein können. Eigenartiger Weise spürte er nun, nachdem er wieder klar denken konnte,<br />

aus diesem Wissen Stärke in sich aufkeimen. Er hatte die letzten Monate damit verbracht, sich<br />

760


selbst zu bemitleiden, herum zu jammern und sich gedanklich im Kreis zu drehen. Shawn<br />

straffte unbewusst die Schultern. Vielleicht war es endlich an der Zeit zu Kämpfen! Er hatte<br />

so vieles, wofür es sich zu Kämpfen lohnen würde. Seine Eltern, seine Freunde zuhause in<br />

den Staaten, seinen Job, und das Wichtigste saß keine 3 Meter von ihm entfernt auf dem Bett<br />

und beobachtete ihn aufmerksam: Kelly! Nein, er würde sich nicht geschlagen geben. Carrie<br />

und ihre sadistischen Freunde würden nicht gewinnen. Er musste die Zeit, die er hatte, ver-<br />

nünftig nutzen und sie nicht mit Jammern, Selbstmitleid und Wehklagen vertun. Er hatte<br />

schon viel zu viel Zeit verloren. Entschlossen ballte der Schauspieler die Fäuste. Er würde<br />

endlich den Kampf aufnehmen!<br />

Kelly war von Shawns Ausbruch ein wenig überrascht worden. Reflexartig wollte sie auf-<br />

springen und ihm folgen. Doch sie blieb erst einmal sitzen und respektierte seinen Wunsch,<br />

allein zu sein. Allerdings behielt sie ihn scharf im Auge. Und so entging dem geschulten Auge<br />

der Therapeutin nicht, dass mit Shawn eine Veränderung vor ging. Plötzlich strafften sich<br />

seine Schultern und sein Rücken, der ihr zugewandt war, drückte Kraft und Entschlossenheit<br />

aus. Sollte die Begegnung mit Terry-Eva wohlmöglich eine Veränderung in Shawns Denk-<br />

weise ausgelöst haben? Kelly biss sich vor Anspannung auf die Unterlippe. Sie wartete nervös<br />

darauf, dass Shawn zurück ins Zimmer kommen würde. Doch ihre Geduld wurde noch ein<br />

wenig auf die Probe gestellt. Mehrere Minuten vergingen, in denen der junge Mann einfach<br />

still stand und gedankenverloren auf die immer dunkler werdende Stadt hinaus blickte.<br />

Schließlich jedoch drehte er sich herum und trat in den Raum zurück. Als er am Bett stand<br />

wusste Kelly, dass eine Veränderung in ihm vor gegangen war. Seine Augen drückten nicht<br />

mehr Traurigkeit sondern Entschlossenheit aus.<br />

Sinn?“<br />

„Wie sieht es aus, wollen wir etwas Essen gehen?“, fragte er ruhig.<br />

Kelly war von dieser Frage ein wenig überrascht. „Ja, gerne. Wonach steht dir denn der<br />

Shawn überlegte kurz, während er bereits in seine Jeans stieg. „Gibt es in der Nähe etwas<br />

Asiatisches?“<br />

„Ja, zum Burswood Komplex gehört ein Chinarestaurant.“<br />

„Das hört sich gut an. Und es ist hier auf dem Grundstück?“<br />

Kelly stand auf und begann ebenfalls, sich anzukleiden. „Ja, es liegt zwischen den Park-<br />

plätzen, wir kommen hin ohne das Hotel verlassen zu müssen.“<br />

Shawn knöpfte sein Hemd zu und grinste. „Gut, weit zu Laufen habe ich nämlich gar kei-<br />

ne Lust. Ich habe Hunger.“<br />

Sie verließen das Zimmer und schlenderten zum Fahrstuhl hinüber. Kelly sagte bewusst<br />

nichts, sie wollte warten, bis Shawn von sich aus zu Reden bereit war. Als sie kurze Zeit spä-<br />

ter an einen Tisch im Restaurant geführt wurden fiel ihr auf, dass der junge Schauspieler ganz<br />

761


locker und ruhig blieb. Er sah sich nicht hektisch um, sondern ließ sich auf seinen Stuhl sin-<br />

ken und griff nach der Speisekarte, die der Kellner sofort brachte.<br />

„Gutes Angebot.“, meinte er zufrieden. Er studierte die Karte und erklärte: „Ich habe rich-<br />

tigen Hunger. Ich werde mir eine Vorspeise gönnen. Was hältst du von einer kleinen, ge-<br />

mischten Platte?“ Kelly knurrte der Magen ebenfalls vernehmlich und so nickte sie zustim-<br />

mend. „Da sie kein halbes Schwein Chop Sui haben werde ich das Rinderfilet Szechuan neh-<br />

men.“<br />

Die Psychologin lachte. Der Umschwung in Shawns Laune verblüffte sie noch immer,<br />

doch sie war froh darüber. „Du scheinst ja wirklich Hunger zu haben.“<br />

„Und wie.“<br />

Zum Glück kam das Essen zügig und so bestand nicht die Gefahr, dass der junge Mann<br />

verhungernd vom Stuhl fallen würde. Die Vorspeisen waren sehr gut und sie ließen es sich<br />

schmecken. Auch die Hauptgänge waren großartig. Kelly schaffte nicht alles, doch Shawn<br />

hatte diese Probleme nicht.<br />

Beim Essen unterhielten sie sich nur über belanglose Dinge. Über die Bootsfahrt vom<br />

Vormittag, über den Rückflug am kommenden Tag, über das Hotel. Doch als sie gegen 21.30<br />

Uhr zurück auf ihrem Zimmer waren, änderte sich dies schlagartig. Nachdem sie es sich auf<br />

dem Bett gemütlich gemacht hatten, jeder noch ein Glas Rotwein aus der Mini Bar in der<br />

Hand, fing Shawn an zu reden.<br />

„Hör zu, Baby, ich habe nachgedacht. Was da heute passiert ist, hat mir überdeutlich klar<br />

gemacht, dass auf die eine oder andere Art und Weise jeder Tag unser letzter sein kann. Das<br />

Leben ist zu wertvoll, um auch nur einen Tag zu vergeuden. Ich hab schon viel zu viel Zeit<br />

damit verschwendet, jammernd das Geschehene zu beklagen. Vorhin auf dem Balkon wurde<br />

mir klar, dass das nicht ich war. Ich bin kein Jammerlappen. Ich habe immer gekämpft. Und<br />

das werde ich auch jetzt machen. Ich will keine Angst mehr haben, ich will mich nicht im<br />

Nachhinein noch von Carrie besiegen lassen. Und ich will dich! Ich habe mich in den letzten<br />

Wochen gehen lassen. Aus den verschiedensten Gründen. Aus Angst, Selbstmitleid, weil ich<br />

dich nicht verlieren wollte ... Damit ist endgültig Schluss. Ich werde endlich das tun, was ich<br />

schon vor Wochen und Wochen hätte tun sollen. Ich werde den Kampf aufnehmen und als<br />

Sieger hervor gehen. Du sollst endlich den wahren Shawn McLean kennenlernen!“<br />

So überzeugt klang Shawns Stimme, dass es Kelly Tränen in die Augen trieb. Sie musste<br />

kurz durch Atmen, bevor sie in der Lage war, etwas zu erwidern. „Ich freue mich darauf, die-<br />

sen Shawn kennen zu lernen. Aber, Schatz, du weißt, dass ich dich nie als Jammerlappen<br />

empfunden habe.“ Sie griff nach Shawns linker Hand und drückte diese sanft.<br />

„Ja, das weiß ich wohl. Doch ich habe mich selbst so empfunden. Bisher hatte ich einfach<br />

nicht die Kraft, mich daraus zu befreien. Doch nun weiß ich, dass ich es schaffen werde.<br />

762


Wenn wir wieder in Eildon sind, werde ich alles daran setzten, das hier schnell zu beenden.<br />

Du wirst dich wundern, wie schnell ich fertig sein werde. Und wenn es soweit ist, kehre ich<br />

nach Hause zurück und werde wieder Arbeiten. Shane Godman ist wieder da!“<br />

Der Therapeutin kullerten noch immer Tränen über die Wangen. Diese neue Zuversicht,<br />

die Shawn ausstrahlte, machte sie unendlich glücklich. Die junge Frau wollte nichts anderes,<br />

als den Schauspieler glücklich und zufrieden zu sehen. Das Erlebnis heute hatte ihn nicht her-<br />

unter gezogen, wie sie anfangs befürchtet hatte, sondern im Gegenteil, ihm unglaublichen<br />

Auftrieb gegeben. Zwar hatte er in den letzten Wochen immer wieder einmal kurze Ansätze<br />

davon gezeigt, doch der wirkliche Durchbruch war nicht erfolgt. Erst den Tod vor Augen zu<br />

haben, machte ihm deutlich, dass nicht unbegrenzt Zeit vorhanden war. Dass es einzig an ihm<br />

lag, wie schnell oder wie langsam er ein Leben mit Kelly würde aufnehmen können. Die The-<br />

rapeutin war sicher, ihn in erstaunlich kurzer Zeit zum Flughafen bringen zu können um ihn<br />

nach Hause zu schicken. Zwar graute ihr davor, denn sie konnte sich ein Leben ohne Shawn<br />

kaum noch vorstellen, doch sie wusste, wie unendlich wichtig dies für ihn war. So erklärte sie<br />

unter Tränen:<br />

„So zuversichtlich habe ich dich noch nie erlebt. Ich bin überzeugt, dass du die Therapie<br />

nun schnell hinter dich bringen wirst.“<br />

Sie hatten ihre Gläser geleert und Shawn fragte: „Ich möchte noch einen letzten Blick auf<br />

die Stadt werfen, es sieht in der Dunkelheit so wunderschön aus. Kommst du auch?“<br />

Kelly erhob sich. „Gerne. Die Skyline bei Nacht ist wirklich ein wunderschöner Anblick.“<br />

Sie traten zusammen auf den Balkon hinaus, in die herrlich milde Nachtluft. Eng aneinan-<br />

der geschmiegt standen sie Minuten lang still da und genossen den Ausblick.<br />

„Ich denke, jetzt beginnt ein ganz neuer Lebensabschnitt, oder was meinst du?“<br />

„Ja, das denke ich auch. Bist du immer noch sicher, nach Australien kommen zu wollen?“<br />

Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern erwiderte der Schauspieler „Ja! Selbst, wenn Mum<br />

und Dad nicht mit kommen, ich möchte hier leben. Ich habe noch nie etwas Schöneres gese-<br />

hen und das möchte ich nie wieder missen.“ Dass er dabei Kelly anschaute machte es ihr<br />

schwer, zu entscheiden, wovon Shawn gerade sprach. Sie schlang seufzend die Arme um sei-<br />

nen Nacken und zog seinen Kopf sanft zu sich. Ihre Lippen fanden sich zu einem innigen<br />

Kuss. Ohne dass sie es überhaupt realisierten wurde dieser schnell leidenschaftlicher. Shawns<br />

Hände drückten den schlanken Körper der Therapeutin enger an sich und seine Rechte verirrte<br />

sich wie ferngesteuert unter ihr T-Shirt. Es war eine ganz natürliche Reaktion. Unendlich<br />

sanft strichen seine Finger über ihre weiche, warme Haut. Kelly seufzte leise vor Glück.<br />

Sie dachte nicht mehr darüber nach, sie reagierte nur noch. Ihre Hände rutschten langsam<br />

Shawns Rücken hinunter. Sie bemerkte unbewusst, dass er ganz entspannt blieb. Viele Minu-<br />

ten standen sie in der Dunkelheit und küssten sich, streichelten sich sanft. Plötzlich hob<br />

763


Shawn die junge Frau an und diese schlang ihre Beine um seine Taille. Es war für beide ganz<br />

natürlich. Shawn trug Kelly ins dunkle Schlafzimmer und stieg vorsichtig auf das Bett. Ohne<br />

sich loszulassen ließen sie sich in die Waagerechte gleiten. Einen Moment blieben sie eng<br />

verschlungen liegen. Schließlich löste Shawn sich gerade soweit von Kelly, dass er im Stande<br />

war, ihr das T-Shirts über den Kopf zu streifen. Einen Slip trug die Therapeutin darunter<br />

nicht, sodass sie nun nackt in seinen Armen lag. Zwar schrie alles in ihr danach, ihre Hände<br />

nun in Shawns Boxershorts gleiten zu lassen, doch sie beherrschte sich. Shawn sollte den ers-<br />

ten Schritt machen. Was in den folgenden Minuten passieren würde musste er allein entschei-<br />

den. Sie würde ihn nicht drängen. Doch das brauchte sie auch nicht. Als ihre Finger zart über<br />

seine Brust glitten, bis hinunter zur Taille, konnte sie spüren, dass er reagierte. Glücklich<br />

schloss sie die Augen und spürte zitternd vor Erwartung, wie Shawns Hand tiefer glitt und<br />

sich auf ihren linken Oberschenkel verirrte. Sanft streichelte die Hand über ihre Haut.<br />

Wäre sie dazu fähig gewesen, sie hätte geschnurrt vor Wonne. So konnte sie nur seufzen.<br />

Shawn griff nach ihrer Hand und führte diese noch ein wenig tiefer, zum Bund seiner Boxer-<br />

shorts. Ganz vorsichtig ließ Kelly ihre Hand ein kleines Stück unter das Gummiband gleiten.<br />

Shawn atmete schwer. Doch Kelly spürte, dass es nicht vor Angst oder Anspannung war. Sei-<br />

ne Hand rutschte an ihrem Körper in die Höhe und erreichte ihre Brüste. Zärtlich stimulierte<br />

er ihre rechte Brustwarze. Er registrierte, dass diese hart wurde und biss sich auf die Lippe.<br />

Kellys Hand lag noch immer unter dem Bund seiner Shorts. Er wünschte, sie würde tiefer<br />

gleiten. Noch war er nicht ganz sicher, ob er es wirklich ertragen würde, im Intimbereich be-<br />

rührt zu werden. Das würde nur der Versuch zeigen. Leidenschaftlich küsste er die junge<br />

Frau. Er zuckte zusammen, als ihre Hand langsam in Richtung seines Pos glitt. Und dann lag<br />

sie wirklich auf seiner rechten Pobacke und streichelte diese. Er spürte keinerlei Unbehagen,<br />

nur unendliches Vertrauen. Dem Schauspieler schossen vor Freude Tränen in die Augen. Kel-<br />

ly merkte, dass er ganz ruhig blieb und wagte einen weiteren Vorstoß. Sie ließ die Hand wie-<br />

der nach vorne rutschen und ein kleines Stück tiefer hinein. Sie berührte nun den Körperteil,<br />

von dem Shawn bislang geglaubt hatte, dort nie wieder Berührungen ertragen zu können.<br />

Ganz vorsichtig strichen Kellys Finger über die glatte, weiche Haut und hinterließen bei<br />

Shawn angenehme Gänsehaut. Er wollte mehr wagen. So griff er selbst nach seinen Shorts<br />

und schob diese schwer atmend soweit herunter, dass sein Unterleib frei lag.<br />

Kelly richtete sich ein wenig auf und schob das störende Kleidungsstück tiefer, bis Shawn<br />

es mit einem Kick von sich stoßen konnte. Er war nun doch ein wenig nervös. Kelly gab ihm<br />

alle Zeit die er brauchte. Sie drängte ihn nicht. Selbst, wenn der Versuch abgebrochen werden<br />

musste, war Shawn an diesem Abend weiter gekommen als er es sich hätte vorstellen können.<br />

Doch der Schauspieler zeigte keine Anzeichen eines Rückzuges. Er wartete mit angehaltenem<br />

Atem darauf, dass Kelly ihn berührte. Dass sie es nicht tat trieb seine deutlich vorhandene<br />

Erregung voran. Seine Hand lag wieder abwechselnd auf ihren Brüsten und er wünschte sich<br />

764


wirklich, sie würde auch ein wenig Initiative zeigen. Kelly spürte sehr wohl, dass Shawn auf<br />

weitere Berührungen wartete. Sie wollte es nur nicht zu schnell angehen lassen. So lag sie erst<br />

einmal still da und ließ sich von Shawns zärtlicher Hand liebkosen. Viele Minuten lagen sie<br />

so eng beieinander, sich küssend, streichelnd. Endlich hielt Kelly die Zeit für gekommen, ein<br />

wenig mehr zu tun. Ihre Hand, die bisher weiter nur Shawns Brust und Rücken gestreichelt<br />

hatte, glitt fast quälend langsam tiefer und Shawn hielt erneut die Luft an. Oberhalb seines<br />

Penis, dort, wo die Branding Narben gewesen waren, verhielt ihre Hand und strich über die<br />

herrlich weiche, haarlose Haut. Sanft streichelten ihre Fingerspitzen ihn. Shawn biss sich leise<br />

keuchend auf die Unterlippe. Er hatte Angst. Angst davor, in Panik auszubrechen, sollte Kelly<br />

noch tiefer rutschen. Gleichzeitig wollte er es so sehr! Kelly tat ihm schließlich den Gefallen.<br />

Ihre Hand rutschte noch ein Stück tiefer und schloss sich dann vorsichtig um seinen Penis.<br />

Shawn atmete scharf ein. Er zuckte ein winziges Stück zurück, doch schnell verging das<br />

zwingende Gefühl, sich in Sicherheit bringen zu müssen. Er war in Sicherheit. Nirgendwo auf<br />

der Welt war er sicherer als in den Händen Kellys!<br />

Energisch drückte er ihr seinen Unterleib entgegen. Sie stimulierte ihn eine Weile und<br />

spürte schließlich, dass der Schauspieler soweit war. Ihre Beine spreizten sich und luden<br />

Shawn verheißungsvoll ein, sich zwischen sie zu legen. Vorsichtig rollte der junge Mann sich<br />

herum, bis er auf Kellys Körper lag. Behutsam glitt er zentimeterweise in sie und Kelly<br />

keuchte auf. Sie konnte sich nicht mehr beherrschen und schlang die Beine um ihn, presste<br />

ihn so fest an sich. Während Shawn vorsichtig begann, sich zu bewegen saugten sich ihre<br />

Lippen in einem leidenschaftlichen Kuss aneinander fest. Als Shawns Bewegungen schneller<br />

wurden lösten sich ihre Lippen von einander. Shawn versenkte sein Gesicht in Kellys verwu-<br />

selten Haaren und ließ sich ganz von seiner Erregung treiben. Er spürte, dass er kurz vor dem<br />

Orgasmus war. Doch er wollte es so lange wie möglich hinaus zögern. Dass schien allerdings<br />

nicht mit Kellys Wünschen zu harmonieren, denn die junge Frau drückte sich ihm schwer<br />

atmend entgegen. Noch zwei, drei Mal stieß Shawn zu und schließlich hatte er keine Kontrol-<br />

le mehr darüber, wann der Orgasmus kommen würde. Er spürte ihn kommen und auch Kelly<br />

war soweit. Fast zeitgleich kamen sie zum Höhepunkt und klammerten sich aneinander fest.<br />

Minuten später lagen sie immer noch in dieser Haltung still. Keiner brachte die Kraft auf, den<br />

Anderen loszulassen.<br />

Kelly fühlte Shawns Schultern zucken. Sie wusste, dass er weinte. Ihr selbst stürzten eben-<br />

falls unaufhörlich Tränen über die Wangen. Tränen unendlichen Glückes. Er hatte es ge-<br />

schafft! Shawn hatte seine Angst überwunden und sich bewiesen, dass er noch ein vollwerti-<br />

ger Mann war. Kelly war so glücklich, sie hätte die ganze Welt inklusive Carrie und Alan<br />

umarmen mögen. Stattdessen hielt sie nur weiter die Arme um Shawn verschränkt. Ihr Atem<br />

beruhigte sich allmählich und sie fragte leise: „Ist alles in Ordnung, Baby?“<br />

765


Shawn hob langsam den Kopf und sah sie an. Sein Gesicht war tränenfeucht, aber selbst<br />

im Halbdunkel des Raumes konnte Kelly erkennen, dass seine Augen vor Glückseligkeit<br />

strahlten. „Da fragst du noch?“, schniefte er. „Ich kann es nicht fassen. Ich hatte wirklich<br />

Zweifel, ob ich es je wieder bringen würde. Und nun hast du es mir so leicht gemacht! Ich ...“<br />

Er stutzte. Dann stammelte er verlegen: „War ... war es ... ich meine, hab ich ... war ich ...“<br />

Er brachte die Worte nicht heraus. Kelly konnte nicht anders. Sie musste lachen. „Baby.<br />

Was soll die Frage? Muss ich dich bewerten? Auf einer Skala von 1 - 10? Eine glatte 11! Ich<br />

habe nie daran gezweifelt. Shawn, es war wunderschön.“<br />

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Schauspielers und er seufzte. „Ich habe Angst,<br />

jeden Moment zu Platzen vor Glück.“, erklärte er. „Da muss erst Terry daher kommen und<br />

mich fast umbringen, damit ich wieder ein Mensch werde. Es ist nicht zu fassen!“<br />

*****<br />

63) Nach Nats Vorbild<br />

Stärke wächst nicht aus körperlicher Kraft - vielmehr aus unbeugsamen Willen.<br />

Mahatma Ghandi<br />

„Wie wäre es mit einer schönen, kalten Cola?“ Kelly trat auf die Terrasse hinaus, wo<br />

Shawn sich auf einem der Liegestühle lümmelte.<br />

„Gerne. Ich kann es noch gar nicht fassen, dass wir wirklich wieder hier sind. Wie lange<br />

waren wir unterwegs?“<br />

Kelly stellte zwei Gläser auf den Tisch, setzte sich und überlegte. „Fast zehn Wochen wa-<br />

ren es. Eine so lange Tour habe ich auch noch nicht gemacht. Ich habe mal grob im Kopf<br />

überschlagen, dass wir ungefähr 15.000 Kilometer zurückgelegt haben. Das ist Wahnsinn!“<br />

Nachdem Flug von Perth nach Melbourne hatten sie in Melbourne am Flughafen Kellys<br />

Pajero Geländewagen vom Langzeitparkplatz geholt. Sie waren am frühen Abend in Eildon<br />

eingetroffen. Kurz hatten sie noch an einem Supermarkt an der Mainstreet angehalten, sich<br />

mit frischen Lebensmitteln versorgt und waren schließlich ein wenig müde gegen 19 Uhr am<br />

Haus angekommen. Schnell hatten sie die großen Rucksäcke ausgepackt, dreckige Wäsche in<br />

die Waschmaschine gestopft und sich Pizza in den Backofen geschoben. Zum Essen hatten sie<br />

sich auf die schöne Terrasse gesetzt. Das Haus war sauber, man merkte, dass es in guten Hän-<br />

den gewesen war. Kelly hatte eine junge Frau in Eildon an der Hand, die sich um das Haus<br />

kümmerte, wenn die Therapeutin in Sydney oder anderweitig unterwegs war. Sie kam regel-<br />

mäßig, um sauber zu machen, sich um den Garten zu kümmern und das Haus zu lüften. So<br />

war alles immer in Schuss.<br />

766


Es war noch ziemlich warm und die kalte Cola tat gut. Shawn nahm einen Schluck und<br />

sagte gedankenverloren: „Inspector Demsey wird wohl inzwischen schon das Vergnügen ha-<br />

ben, sich mit Terry auseinander zu setzen, was?“<br />

Sie hatten am Morgen im Hotel in Perth einen Anruf von Lieutenant Peters bekommen.<br />

Der nette Beamte hatte ihnen erklärt, dass die AFP noch in der Nacht jemanden geschickt<br />

hatte, Terry abzuholen und nach Sydney zu bringen. Kelly nickte.<br />

„Ja, die Lady dürfte sich längst bei Laurie befinden. Hoffen wir, dass die ihr etwas aus der<br />

Nase ziehen kann über den Aufenthaltsort Carries.“<br />

„Ich wüsste gerne, ob sie bei anderen Entführungen mitgemacht hat oder ob Carrie sich<br />

jedes Mal neue Leute gesucht hat.“, meinte Shawn nachdenklich.<br />

Kelly erwiderte überzeugt: „Wenn es jemand schafft, Terry zum Reden zu bringen, dann<br />

Lauren. Sie hat ein großartiges Team zur Verfügung. Einer ihrer Officer war früher bei der<br />

B.A.U 29 . in Quantico. Er ist Spezialist für Verhörtechniken. Du hast Terry natürlich sehr viel<br />

gründlicher kennengelernt, aber ich denke, sie ist zu knacken.“<br />

Der Schauspieler spielte mit dem Glas. Er brauchte sich nicht anzustrengen, um sich Terry<br />

vor sein geistiges Auge zu projizieren. Die kalte, brutale Frau würde er bis an sein Lebensen-<br />

de nicht wieder vergessen.<br />

„Ich weiß nicht ... Sie ist auf ihre Art brutaler und gemeiner gewesen als Carrie. Ganz so<br />

einfach wird sie nicht umkippen. Aber es besteht immerhin die Hoffnung darauf. Lassen wir<br />

uns überraschen. Im Moment würde ich gerne von einer Sache erzählen, die mir zu schaffen<br />

macht, wenn das in Ordnung ist.“<br />

Kelly war überrascht, dass er selber davon anfing. Sie hatte ihn in den letzten paar Tagen<br />

nicht gedrängt. Dass Shawn nun von sich aus weiter berichten wollte machte ihr klar, dass er<br />

es ernst meinte. „Gerne. Wir waren die letzten Tage nachlässig. Wollen wir hier draußen blei-<br />

ben oder möchtest du lieber hinein gehen und dich wie immer aufs Bett legen?“<br />

Shawn grinste. „Na hör mal. Ich werde doch nicht hier auf dem Liegestuhl bleiben, wenn<br />

ich die Möglichkeit habe, dich ein weiteres Mal als Kissen zu verwenden.“ Er erhob sich ge-<br />

schmeidig und reichte Kelly die Hände, um sie in die Höhe zu ziehen. Schnell nutzte er die<br />

günstige Gelegenheit, sie an sich zu ziehen und ihr einen Kuss zu geben. „Habe ich dir kürz-<br />

lich mal gesagt dass ich dich liebe?“, fragte er leise.<br />

„Nein, nicht in den letzten dreißig Minuten.“<br />

Der Schauspieler grinste. „Da wird es ja Zeit, dass ich das nachhole. Ich liebe dich.“<br />

„Ich liebe dich auch.“<br />

Arm in Arm schlenderten sie ins Haus. Kelly schloss sorgfältig die Terrassentür. Sie gin-<br />

gen ins Schlafzimmer und machten es sich auf dem Bett gemütlich. Shawn dachte einen Mo-<br />

ment nach, bevor er zu Reden begann.<br />

29 BAU, Behavioral Analysis Unit (Verhaltensanalyseeinheit) ist eine zum FBI gehörende Abteilung, die sich dem Profiling gewidmet hat,<br />

dem erstellen von Täterprofilen.<br />

767


„Das war bald nach der ersten Vergewaltigung durch Brett ... Da habe ich es noch absolut<br />

gehasst und dachte jedes Mal, ich würde Sterben, wenn sie mich ... gefickt haben. Carrie hatte<br />

mich nach dem Abendessen in das Zimmer mit dem breiten Bett beordert.“<br />

*****<br />

„Da bist du ja. Hast du dich verlaufen? Wir warten schon eine Weile.“ Carrie war offen-<br />

sichtlich genervt. Shawn zuckte zusammen und erklärte hastig:<br />

„Ich musste noch auf die Toilette und mich dann reinigen. Es tut mir leid.“<br />

Carrie verdrehte die Augen. „Jaja, Farbe und Geschmack kannst du dir schenken. Hof-<br />

fentlich hast du dich vernünftig gereinigt, sonst gibt es Ärger.“<br />

Nach diesen gemeinen Worten brachen die Anderen in gehässiges Gelächter aus. Terry<br />

grinste.<br />

„Lass es uns lieber kontrollieren. Man weiß bei dem ja nie.“<br />

„Gute Idee. Besser ist besser. Los, knie dich auf das Bett und zeig uns deinen Arsch.“<br />

Hastig gehorchte Shawn. Er kannte die Prozedur. Mit weit gespreizten Beinen kniend<br />

musste er nach hinten greifen und seine Pobacken auseinander drücken. Dann führte irgend-<br />

jemand ihm einen Finger ein und überprüfte, ob er auch wirklich gründlich sauber war.<br />

Diesmal war es Carrie selbst, die es auf diese Weise prüfte. Er spürte ihren Mittelfinger in<br />

sich gleiten und biss sich auf die Lippe. Carrie bewegte den Finger und zog ihn dann zurück.<br />

„Alles klar, er war wirklich gründlich.“, erklärte sie und es klang ein wenig enttäuscht.<br />

Shawn rührte sich nicht. Er wusste, dass es ihm eine empfindliche Strafe eingebracht hät-<br />

te, die Haltung aufzugeben, bevor es ihm gesagt wurde.<br />

Endlich meinte Brett: „Los, steh auf.“<br />

Shawn beeilte sich, dem Befehl nachzukommen. Mit den üblichen gespreizten Beinen und<br />

den auf den Rücken verschränkten Händen stand er vor dem Bett. Nervös wartete er, wie der<br />

Abend für ihn weiter verlaufen würde. Carrie musterte ihn kalt.<br />

„Du willst sicher wissen, was heute Abend für dich anliegt. Nun, wir wollen dich nicht<br />

länger auf die Folter spannen. Du wirst Alan und Brett sehr freundlich und begierig bitten,<br />

dich gründlich durchzuficken.“<br />

Shawn erstarrte. Carries Worte trafen ihn wie ein Vorschlaghammer. Das konnte sie doch<br />

wohl nicht ernst meinen. Die nächsten Worte allerdings machten ihm klar, dass es sehr wohl<br />

ernst gemeint war. Carrie zog die schwere Bullenpeitsche aus einem Beutel, den sie am Gür-<br />

tel befestigt hatte.<br />

„Solltest du dich weigern oder es nicht gut machen, werde ich dir hiermit die Haut in Fet-<br />

zen schlagen, das schwöre ich dir. Dreh dich um.“<br />

768


Shawn drehte ihr zitternd den Rücken zu. Im nächsten Moment heulte er auf vor Schmer-<br />

zen. Gekonnt hatte Carrie ihm einen Hieb mit dem brutalen Schlagwerkzeug verpasst. Der<br />

Schauspieler spürte augenblicklich, dass aus dem heiß brennenden Striemen Blut quoll.<br />

Wimmernd versuchte er, Haltung zu wahren.<br />

Carrie gab ihm ein paar Augenblicke, sich zu fangen. Dann fragte sie: „Was bevorzugst<br />

du? Die Peitsche oder die Schwänze?“<br />

Shawn schloss kurz die Augen. Verzweifelt keuchte er: „Die ... die ... Schwänze ...“<br />

Zufrieden befahl Carrie: „Gut. Dann dreh dich herum und bitte Alan darum!“<br />

Shawn drehte sich langsam zurück zu den gierig wartenden Freunden. Mit gesenkten Au-<br />

gen, so, wie es sich für ihn gehörte, versuchte er, die Worte auszusprechen. Er brauchte meh-<br />

rere Anläufe, bis es endlich hervor gestoßen war.<br />

„Alan, würdest du ... Ich ... Bitte, fick mich ... fick mich bitte so richtig durch.“ Nur sein<br />

Lebenswille hielt den jungen Mann nach diesen Worten auf den Beinen. Liebend gerne wäre<br />

er auf die Knie gesunken und hätte seine Verzweiflung hinaus geschrien. Carrie war offen-<br />

sichtlich nicht zufrieden, denn sie schüttelte langsam den Kopf und hob die Peitsche.<br />

„Das war ja wohl nicht gerade einladend.“, meinte sie kalt.<br />

Shawns Augen saugten sich am Leder der Peitsche fest. Hastig keuchte er: „Warte! Bitte,<br />

ich kriege es besser hin! Bitte!“<br />

Gnädig nickte die junge Frau. „Eine Chance gebe ich dir noch, bevor ich dich in Streifen<br />

schlage.“<br />

Shawn stürzten Tränen über die Wangen. Er biss sich so fest auf die Unterlippe, dass er<br />

Blut schmeckte. Seine Zähne klapperten aufeinander und er musste mehrmals tief durch At-<br />

men. Er presste die Zähne zusammen, damit sie nicht weiter aufeinander schlugen. Mühsam<br />

rang er um Fassung. Schließlich bat er mit geschlossenen Augen und so sinnlich wie möglich:<br />

„Bitte, Alan, würdest du es mir mal so richtig besorgen?“<br />

*****<br />

Shawn konnte nicht verhindern, dass er am ganzen Leib zitterte. Krampfhaft bemühte er<br />

sich, wenigstens die Tränen zurückzuhalten. Kelly hatte diese Probleme nicht. Sie schluchzte<br />

zitternd vor Hass vor sich hin. Sie merkte, dass Shawn sich verzweifelt zu Beherrschen ver-<br />

suchte. Das sollte er jedoch nicht. Er musste weiter aus sich heraus lassen was er empfunden<br />

hatte. So erklärte sie unter Tränen:<br />

„Baby, du musst dich jetzt nicht mit Gewalt beherrschen. Das hilft dir nicht über das Ge-<br />

schehene hinweg. Es schadet deinem Selbstwertgefühl nicht, wenn du weiterhin deine Gefüh-<br />

le heraus lässt, ganz im Gegenteil. Du musst deine Emotionen weiter heraus lassen. Nur so<br />

wirst du den ganzen Müll auf deiner Seele los.“<br />

769


Unter den liebevollen Worten bröckelte Shawns Beherrschung in sich zusammen. Die ers-<br />

ten Tränen kullerten ihm nun doch über die Wangen. „Das war nicht lange nachdem Brett und<br />

Alan ... nachdem sie angefangen hatten, mich zu ... zu ... vögeln. Ich dachte erst, sie will mich<br />

verarschen. Das musste ich vorher noch nicht ... Doch wie immer konnte diese Bitch mich<br />

schnell vom Gegenteil überzeugen. Von dem Schlag rührt die Narbe auf meinem rechten<br />

Schulterblatt.“<br />

Kelly war die Narbe bereits ganz am Anfang aufgefallen. Sie unterschied sich von den an-<br />

deren kleinen, kaum mehr sichtbaren Malen, denn sie war deutlich ausgeprägt. Die Therapeu-<br />

tin hatte jedoch damit gerechnet, dass Shawn irgendwann darauf zu sprechen kommen würde,<br />

wenn die Narbe im Zusammenhang mit der Entführung stand. Sie hatte Recht gehabt.<br />

„Als ich es ausgesprochen hatte ... so wie sie es haben wollte ... Ich hatte das Gefühl, ich<br />

müsse mir den Mund mit Salzsäure ausspülen. Von den Demütigungen bis dahin war das die<br />

Schlimmste. Ich habe einen Moment überlegt, ob ich mich einfach auf sie stürzen sollte, um<br />

sie zu erwürgen! Auch, wenn sie mich dann umgebracht hätten. Nur dieses Miststück noch<br />

mitnehmen. Während Alan und Brett mich anschließend ... vögelten habe ich mir vorgestellt,<br />

wie Carrie vor mir an einem Seil von der Decke hängt und ich wieder und wieder und wieder<br />

auf sie einschlage. Ich habe wegen dieser Gedanken Angst vor mir selbst bekommen, kannst<br />

du das verstehen?“<br />

„Ja, das kann ich. Wenn man eigentlich nicht zur Gewalt neigt, können einen solche Ge-<br />

danken erschrecken. Aber sie sind durchaus heilsam. Ich habe mir das auch immer wieder<br />

vorgestellt. Wie ich die Kerle, die mich entführt hatten, langsam zu Tode foltere. Diese Ge-<br />

danken haben mir vielleicht über das Schlimmste hinweg geholfen.“ Sie sprang überraschend<br />

auf und sagte: „Komm mal mit, ich habe eine Idee.“<br />

Verwirrt stemmte Shawn sich hoch und ließ sich von Kelly in den Keller ziehen, in den<br />

Fitnessraum. In einer Ecke hing ein Boxsack. Kelly drückte Shawn genau da hin.<br />

„Los. Denke dir einfach, dass wären deine Entführer. Du kannst dich jetzt rächen. Du<br />

darfst sie tot schlagen. Niemand wird dich dafür bestrafen.“<br />

Shawn wurde rot. Zaghaft trat er näher an den schweren Sack heran.<br />

„Na los, Schatz. Ich zeige dir, wie es geht.“ Kelly trat dicht an den Boxsack heran und fing<br />

an, diesen zu bearbeiten. Sie schlug mit den Fäusten auf das Trainingsgerät ein, schließlich<br />

auch mit Kung Fu Tritten. Der Schauspieler sah ihr einen Moment zu. Schließlich nickte er<br />

langsam. Er ballte die Fäuste und schlug ein, zwei Mal zögerlich auf den Sack ein. Kelly<br />

schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, Shawn, so wirst du es nicht schaffen, sie los zu werden. Mach schon! Gib alles.<br />

Schlag ihr den Schädel ein.“<br />

770


Der junge Mann warf Kelly einen angespannten Blick zu. Dann fixierte er den Sack. Er<br />

hob die Fäuste und schlug nun wirklich hart zu. Als wäre mit den ersten Schlägen ein Damm<br />

gebrochen wurden seine Hiebe immer härter, immer wütender, immer verzweifelter. Kelly<br />

war zurückgetreten und beobachtete Shawn ruhig. Der prügelte inzwischen mit allem, was er<br />

hatte, auf den Sandsack ein. Und nicht nur das: Er schrie den Sack an!<br />

„Ich hasse dich. Ich hasse dich so sehr. Du hast mein Leben zerstört. Du hast mich zu ei-<br />

nem seelischen Krüppel gemacht. Du hast mich gequält, gedemütigt, missbraucht und fast<br />

getötet. Aber nur fast. Und das war dein Fehler, du elendes Miststück! Ich lebe noch. Und ich<br />

werde dir deinen hübschen Hals brechen. Mehr, als du mich gebrochen hast. Das hast du näm-<br />

lich nicht. Du hast es nicht. Du hast mich nicht gebrochen. Ich bin nicht gebrochen! Du hast<br />

es nicht geschafft. Ich hasse dich!“<br />

Wie lange Shawn so seine ganze Wut, seinen Hass und seine Verzweiflung aus sich her-<br />

aus prügelte hätte hinterher keiner der Beiden sagen können. Dass der Schauspieler sich die<br />

Knöchel an dem rauen Sack blutig schlug war unwichtig. Wichtig war in diesen Minuten nur,<br />

dass er erstmals seine ganze Wut aus sich heraus lassen konnte. Und das tat er. Er schlug auf<br />

den Sack ein bis ihn irgendwann schlicht die Kräfte verließen. Schwächer wurden die Hiebe,<br />

unpräziser. Schweiß und Tränen vermischten sich auf Shawns Gesicht. Er sackte auf die Knie<br />

und umklammerte den Sack, als wolle er jemanden erwürgen. „Ich hasse dich so sehr!“<br />

Kelly ließ ihm noch ein paar Minuten, dann trat sie zu ihm und zog den jungen Mann auf<br />

die Füße. „Das war großartig, Schatz. Jetzt komm, wir gehen Duschen.“<br />

Schluchzend und völlig außer Atem ließ der Schauspieler sich von Kelly nach oben zu-<br />

rückführen. Sie brachte ihn ins Bad und drehte die Dusche auf. Ruhig streifte sie ihm die Bo-<br />

xershorts herunter und stieg selbst aus Slip und T-Shirt. Sanft dirigierte sie ihn in die Dusch-<br />

kabine und unter den warmen Wasserstrahl. Shawn schloss die Augen und ließ das Wasser<br />

minutenlang auf sich nieder prasseln. Nach und nach entspannte er sich ein wenig. Irgend-<br />

wann öffnete er die Augen und warf einen Blick auf seine blutenden Knöchel. Trübsinnig<br />

meinte er:<br />

„War es das wert?“ Er gab sich selbst die Antwort. „Ja. Das war es wert!“<br />

Verlegen sah er Kelly an. „Magst du mich ... abseifen? Ich fürchte, ich kann nicht ...“ Sei-<br />

ne Hände bluteten nicht nur, nun, nachdem die Anspannung nach ließ und der Adrenalinspie-<br />

gel sank schmerzten sie auch ziemlich. Kelly griff wortlos nach Seife und Waschlappen und<br />

wusch Shawn gründlich den Schweiß vom Körper. Schnell wusch sie ihm auch die Haare und<br />

spülte sich selbst kurz ab. Zusammen verließen sie die Dusche und Kelly griff nach einem<br />

Handtuch. Sie rubbelte Shawn trocken und drückte ihm einen Verbandskasten in die Rechte.<br />

„Hier, den kannst du schon mal mit rüber nehmen.“<br />

771


Ohne darauf zu achten dass er nackt war schlurfte der Schauspieler ins Schlafzimmer hin-<br />

über. Abgekämpft und müde sank er auf das Bett. Kelly kam Augenblicke später zu ihm und<br />

setzte sich neben ihn.<br />

„Zeig mal her.“<br />

Er reichte ihr die Hände und Kelly betrachtete sich den Schaden.<br />

„Das war es wirklich wert. Das wird schnell verheilt sein. Ein paar Tage wird es etwas<br />

weh tun, aber dann ist das erledigt.“ Sanft und vorsichtig verteilte sie auf den Knöcheln<br />

Wundsalbe. Shawn hielt vertrauensvoll still. Er wusste, dass Kelly ihm nicht unnötig weh tun<br />

würde. Geschickt legte diese nun Mull auf die kleinen Wunden und verband die Hände.<br />

„So, fertig, Mister. Das macht 50 Dollar.“<br />

„Sie sind aber teuer.“<br />

Die Therapeutin lachte. „Dafür bekommen Sie aber auch etwas für Ihr Geld.“ Sie räumte<br />

den Verbandskasten weg und Shawn schlug die Bettdecken zur Seite. Als sie nebeneinander<br />

unter den Decken lagen meinte er leise<br />

„Man, ich bin total alle. Ich schlafe schon fast. Gute Nacht, Honey. Ich liebe dich.“<br />

*****<br />

„Warum hast du mich das nicht gleich zu Anfang machen lassen?“ Beim Frühstück kam<br />

der Schauspieler auf den Abend zuvor zu Sprechen. „Das hätte mir garantiert geholfen.“ Fast<br />

ein wenig vorwurfsvoll klang die Frage. Kelly schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, das hätte es nicht. Du hättest nicht Carrie in dem Sandsack gesehen, sondern dich<br />

selbst. Du warst so voller Hass auf dich, dass es dir geschadet hätte. Glaube mir.“<br />

Shawn verzog ein wenig das Gesicht. „Da könntest du Recht haben.“ Er nahm einen<br />

Schluck Kaffee und fragte: „Wie geht es eigentlich weiter?“<br />

„Das hängt stark von dir ab. Hast du noch viel loszuwerden, gehen wir das an. Möchtest<br />

du langsam wieder unabhängig werden, müssen wir daran arbeiten.“<br />

Der Schauspieler sah auf den See hinaus. „Es ist so ungewohnt, dass wir nicht den Ruck-<br />

sack packen und los müssen, um irgendwo hin zu kommen. Ich bin noch gar nicht richtig hier.<br />

Ich denke, ich habe nicht mehr sehr viel zu berichten. Du hast mir ja schon so gut wie alles<br />

entlockt. Ich könnte wohl allmählich beginnen, mich ein wenig abzunabeln. Es nützt ja nichts.<br />

Du bleibst ja nicht bei mir. Je schneller ich zurück nach Hause kann, je schneller sind wir<br />

wieder zusammen.“<br />

Kelly seufzte. Wenn es doch nur schon so weit wäre. Davor mussten sie erst die Trennung<br />

überstehen. Ruhig erklärte sie: „Gut. Wir werden tagsüber daran arbeiten, dass du selbststän-<br />

diger wirst. Abends wirst du mir weiter erzählen, was dir eben so einfällt. Oder du sprichst<br />

über Sachen, die wir schon besprochen haben, die dir aber noch auf der Seele liegen.“<br />

772


Shawn überlegte kurz. „Hört sich vernünftig an. Wie ... wie genau sieht das aus?“<br />

„Das ist ganz simpel. Du wirst einfach mal allein los ziehen, erst nach Eildon, später auch<br />

weiter weg, nach Alexandra und nach Melbourne. Du kannst gleich anfangen. Mach einfach<br />

mal einen schönen Spaziergang am See. Du gehst so weit, wie du es schaffst, ohne dass dir<br />

unbehaglich wird. Wenn du das merkst, drehst du sofort um, ja?“<br />

„Okay. Wo ist es schöner, nach links oder nach rechts am See entlang?“<br />

„Eindeutig nach rechts. Ich werde hier auf dich warten. Bitte, Babe, versuche nicht, weiter<br />

zu kommen als dir behaglich ist, nur weil du denkst, du musst mehr schaffen. Damit machst<br />

du mehr kaputt als dass es dir hilft. Auf Krampf wird das nichts.“<br />

Der Schauspieler erwiderte ernst: „Ich verspreche dir, nichts übers Knie zu brechen. Ich<br />

bin selbst gespannt, wie weit ich komme. Mach dir bitte keine Sorgen, versprochen.“ Er erhob<br />

sich, gab Kelly einen Kuss und atmete tief durch. Schließlich setzte er sich in Bewegung. Kel-<br />

ly sah ihm nervös hinterher. Natürlich machte sie sich Sorgen. Sie konnte nicht genau ein-<br />

schätzen, wie ernst es Shawn war. Doch letztlich hörte sie auf ihr Bauchgefühl und das sagte<br />

ihr: Vertraue ihm. Seufzend erhob sie sich, deckte den Frühstückstisch ab und stellte das Ge-<br />

schirr in den Spüler. Sie hatte morgens gleich die Waschmaschine angeschaltet und die Wä-<br />

sche war gerade fertig. Kelly hängte sie nach draußen in den Garten. Es war ein komisches<br />

Gefühl, plötzlich ohne Shawn zu sein.<br />

„Prima, Puppe, wenn er weg ist bist du dein eigener bester Patient, was? Ich habe dir<br />

gleich gesagt, lass die Finger davon.“ Kelly schnaufte. Energisch ging sie in ihr Büro, fuhr<br />

den PC hoch und begann, Shawns Berichte zu tippen.<br />

*****<br />

Shawn hatte sich, wie Kelly geraten hatte, nach rechts gewandt. Er schlenderte am Seeufer<br />

entlang und dachte über seine Zukunft nach. Seine und Kellys. Er war emotional ziemlich<br />

zerrissen. Einerseits wollte er so schnell es ging nach Hause zurückkehren. Er war schon so<br />

viele Monate fort von allem, was sein Leben vor der Entführung ausgemacht hatte. Er wollte<br />

zu seinen Eltern, seinen Freunden, seinen Kollegen zurück. Andererseits konnte er sich nach<br />

wie vor nicht vorstellen, wie er ohne Kelly Leben sollte. Schon jetzt musste er sich zwingen,<br />

nicht ununterbrochen an sie zu denken. Vor ihm tauchte der von Kelly erwähnte Damm auf.<br />

Der Schauspieler blieb einen Moment stehen und sah gedankenverloren auf den See hinaus,<br />

der in der Sonne tiefblau glitzerte. Er dachte an den Sandsack, den er am Abend zuvor bear-<br />

beitet hatte. Unwillkürlich bewegte er die Finger und spürte in beiden Händen den Schmerz,<br />

den die aufgeschlagenen Knöchel verursachten. Der junge Mann stieß ein kurzes, hartes La-<br />

chen aus. Sich vorzustellen dass es Carrie gewesen war, auf die er eingedroschen hatte, war<br />

eine Befreiung gewesen. Er war kein Schläger, aber die Vorstellung, sich auf diese Weise an<br />

773


der sadistischen Psychopathin zu rächen hatte etwas Erhebendes gehabt. Der Schauspieler<br />

schüttelte den Kopf. Was war nur aus ihm geworden?<br />

Langsam wanderte er weiter. Er überquerte den Staudamm und blieb am Ufer. Gemütlich<br />

ging er voran, bis er nach vielleicht 4 Kilometern eine Bucht erreichte, die sich ins Land hin-<br />

ein grub. Neugierig folgte er dem Einschnitt und stieß schließlich auf einen kleinen Jachtha-<br />

fen, der sich ans Ufer der Bucht schmiegte. Ein schmaler Strand, an dem sich jedoch im Mo-<br />

ment keine Menschen aufhielten, lud zum Sonnenbaden ein. Am Ende des Strandes entdeckte<br />

Shawn ein Restaurant. Er überlegte nicht lange, sondern setzte sich unter einen Sonnenschirm<br />

an einen freien Tisch. Ein Kellner kam und fragte:<br />

„G’day, mate. Was kann ich für dich tun?“<br />

„Morgen. Kann ich ein Bier bekommen?“<br />

Bedauernd schüttelte der Kellner den Kopf. „Sorry, mate, keine Lizenz. Nur alkoholfreie<br />

Getränke.“<br />

„Macht nichts. Ich komme auch mit einem großen 7up klar.“<br />

Minuten später hatte er sein Getränk in der Hand und nahm einen tiefen Schluck. Es war<br />

warm und etwas Kaltes zu trinken tat gut. Die Boote an den Anlegern des kleinen Jachthafens<br />

schaukelten in der Sonne und der Schauspieler genoss den Frieden um ihn herum. Er trank<br />

seinen 7up in aller Ruhe aus und fragte den Kellner beim Bezahlen, ob es einen Weg durch<br />

den Wald, der sich hinter ihm über die Hügel erstreckte, zurück nach Eildon gab. Der junge<br />

Mann nickte.<br />

„Japp. Du gehst einfach geradeaus hier hinten hoch ...“, er deutete in Richtung des Wal-<br />

des, „... und nach 200 Metern stößt du auf die Jerusalem Creek Road. Bleib auf ihr, bis sie<br />

einen Schlenker nach rechts macht. Wenn du dann wieder geradeaus gehst bist du nach weite-<br />

ren 30 Metern auf dem Wanderweg, der direkt nach Eildon führt. Sind kaum 3,5 Kilometer.“<br />

Shawn hatte aufmerksam zugehört und grinste. „Danke, mate. Werde ich schon finden.“<br />

Er bezahlte und machte sich auf den Weg.<br />

Direkt hinter dem Restaurant musste der Schauspieler eine Straße überqueren, dann ging<br />

es hinein in den Wald. Schnell stieß er abermals auf die Straße, die offensichtlich in Schlan-<br />

genlinien durch den Wald führte. In Gedanken versunken folgte er der Straße, bis diese, wie<br />

beschrieben, einen Schwenk nach rechts machte. Durch den nicht sehr dichten Wald mar-<br />

schierte Shawn geradeaus weiter und fand nach zirka 300 Metern den Wanderweg. Er folgte<br />

diesem nach rechts und versank erneut in seine Gedanken. Wie lange würde Kelly auf eine<br />

Trennung bestehen? Einen Monat? Zwei? Ein halbes Jahr? Er seufzte. Schon die zwei Stun-<br />

den, die er nun alleine unterwegs war, machten dem Schauspieler klar, dass er wohl ohne Kel-<br />

ly zurechtkam, sie ihm aber in jede einzelnen Minute fehlte. Er würde sich in den Staaten in<br />

774


die Arbeit stürzen, um sich abzulenken. Genervt kickte er einen Stein, der auf dem Weg lag,<br />

in die Büsche. Er hatte nie für möglich gehalten, dass es ihn je so erwischen würde.<br />

*****<br />

Kelly schaltete den PC aus. Sie hatte einiges geschafft. An verschiedenen Stellen beim<br />

Tippen von dem, was sie von Shawn erfahren hatte, waren ihr vor Zorn und Abscheu Tränen<br />

in die Augen geschossen. Auf diese Weise noch einmal zu erleben, was Shawn durchgemacht<br />

hatte, war für die Psychologin schlimm. Sie würde das alles nie ohne Gänsehaut lesen oder<br />

hören können, das war der jungen Frau klar. Sie warf einen Blick zur Uhr. Shawn war bereits<br />

seit fast drei Stunden unterwegs. Kelly zwang sich, sich keine Sorgen zu machen. Sie ging in<br />

die Küche und setzte Kaffee auf. Wenn der Schauspieler wieder auftauchen würde, konnten<br />

sie zusammen eine Tasse Kaffee trinken. Die Psychologin stellte Geschirr auf ein Tablett, trug<br />

es hinaus auf die Terrasse, die von einer Markise geschützt im Schatten lag und verteilte die<br />

Tassen, Milch und ein paar Kekse auf dem Tisch. Anschließend nahm sie die Wäsche vom<br />

Vortag von der Leine und sortierte diese im Schlafzimmer in den großen Kleiderschrank.<br />

Ganz selbstverständlich legte sie auch Shawns Kleidung hier hinein. Sie hatte die Sachen, die<br />

noch im Gästezimmer im Schrank gelegen hatten schon am Abend hier ins Schlafzimmer ge-<br />

bracht. Kelly hielt das weiße Jeanshemd Shawns in den Händen und starrte versunken darauf<br />

hinunter. Ohne sich dessen bewusst zu werden strichen ihre Finger liebevoll über den Stoff,<br />

als spürten sie statt seiner Shawns weiche, warme Haut. Als die Therapeutin merkte was sie<br />

da tat, konnte sie spüren, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Dass in diesem Moment von<br />

der Terrasse Shawns Stimme zu ihr klang trieb ihr das Blut noch heftiger in den Kopf. Hastig<br />

hängte sie das Hemd auf einen Kleiderbügel, atmete einige Male tief durch und antwortete<br />

erst dann auf die Frage.<br />

zog.<br />

„Ich bin im Schlafzimmer!“ Sie eilte hinaus auf die Terrasse, wo Shawn sie heftig an sich<br />

„Ich habe mich auf dem Heimweg ein wenig verlaufen.“, schnaufte er genervt.<br />

Kelly konnte spüren, dass der junge Mann leicht zitterte. Beruhigend fragte sie: „Mein<br />

Buschmann. Wie konnte denn das passieren? Wo warst du denn?“<br />

Shawn beruhigte sich schnell und ließ sich nach einem leidenschaftlichen Kuss in einen<br />

der bequemen Gartenstühle fallen. Als Kelly den Kaffee geholt und eingeschenkt hatte, fragte<br />

sie noch einmal:<br />

„Wo warst du denn nun ganz?“<br />

Der Schauspeiler nahm einen Schluck und erklärte: „Ich bin rechts entlang, wie du gesagt<br />

hattest. Über den Damm und bis zu einer Bucht ...“<br />

„Jerusalem Creek.“<br />

775


„Meinetwegen.“ Der Schauspieler lachte. „Würde zu Jerusalem Creek Road passen. Ich<br />

bin bis zu dem kleinen Jachthafen und hab dort etwas getrunken. Dabei hatte ich die schlaue<br />

Idee, durch den Wald zurückzugehen. Also fragte ich den Kellner, ob es eine Möglichkeit<br />

geben würde, durch den Wald nach Eildon zurückzulaufen. Er hat es mir genau beschrieben.<br />

Ich habe auch den Wanderweg gut gefunden, doch irgendwo muss ich falsch abgebogen sein.<br />

Ich hab es erst nach einer Weile gemerkt, dass ich wohl nicht mehr auf dem Hauptweg war<br />

und bin zurück. Das hat mich aber fast vierzig Minuten gekostet. Nächstes Mal nehme ich das<br />

Navi mit. Ich musste die ganze Zeit an Nat denken. Der wird was zu Lachen haben, wenn er<br />

erfährt, dass ich ganz nach seinem Vorbild gehandelt habe.“<br />

Kelly kicherte vergnügt. „Ja, der wird lästern. Mein Held! “<br />

*****<br />

Nach dem Abendbrot, das sie dank der warmen Temperaturen noch auf der Terrasse ein-<br />

nehmen konnten, kümmerte Kelly sich um Shawns Fingerknöchel. Sie löste vorsichtig die<br />

Verbände, stellte fest, dass der Mull an den Schürfwunden fest geklebt war und holte eine<br />

Schüssel mit warmem Wasser.<br />

„Halte deine Hände ein paar Minuten in das Wasser, dann löst es sich besser. Ich möchte<br />

dir nicht weh tun, wenn ich die Verbände abnehme.“, erklärte sie.<br />

Shawn lächelte. „Du bist süß.“ Er sah Kelly einen Moment verliebt an. „Weißt du, mir ist<br />

unterwegs etwas eingefallen. Das hat Carrie ab irgendeinem Zeitpunkt gerne gemacht.“ Er<br />

ließ den Kopf hängen, starrte abwesend in die Wasserschüssel und fuhr dann leise fort: „Sie ...<br />

hm, sie hat sich einen Spaß daraus gemacht, mich wählen zu lassen, verstehst du? Sie dachte<br />

sich drei, vier Sachen aus und ... Puh ... ich musste wählen, was ich wollte. Zum Beispiel<br />

dreißig Schläge mit dem Bambusstock oder fünf Mal bis zur Bewusstlosigkeit würgen oder<br />

eine halbe Stunde lang Stromschläge oder Wachs auf die Genitalien.“ Shawn schnaufte ge-<br />

stresst. „Später, als es ihnen gar nicht mehr um sexuelle Stimulationen sondern nur noch um<br />

die reine Folter ging ... Mal hatte ich die Wahl zwischen Waterboarding und Zahnstochern<br />

unter die Fingernägel oder zwischen Streckbank und einer besonders schmerzhaften Fesse-<br />

lung. Sie hatten alle keinerlei Probleme, auf schöne Ideen zu kommen.“<br />

Der Schauspieler atmete tief durch. „Kannst du dir vorstellen, wie es ist, dabei selbst ent-<br />

scheiden zu müssen? Sie haben mir Hände und Füße gefesselt und mich mit einem Strick um<br />

die Brust, unterhalb der Achseln, in den Pool geworfen. Man hat keine Chance, sich an der<br />

Oberfläche zu halten. Wenn ich nur noch zuckte haben sie mich mit Hilfe des Strickes wieder<br />

hoch gezogen. Die Alternative dazu war vierundzwanzig Stunden Käfig. Oder eine Kiste mit<br />

Spinnen, für zwei Stunden. Erhebend, oder?“ Hatte er sich bis hier noch zusammen reißen<br />

können war es nun mit seiner Beherrschung vorbei. Er schluchzte auf. „Ich ... Manchmal ha-<br />

776


en sie mir bereits abends Möglichkeiten genannt, zwischen denen ich mich entscheiden soll-<br />

te. Ich lag die ganze Nacht wach und ... Wenn ich zu lange brauchte, um eine Entscheidung zu<br />

treffen haben sie alles gemacht. Hintereinander weg. Das war kurz vor dem Ende. Ich war zu<br />

dem Zeitpunkt schon so fertig, ich war für sie nutzlos geworden. Manchmal war ich nicht<br />

einmal in der Lage noch zu schreien, wenn sie mir weh taten. Ich weiß nicht, wie das funktio-<br />

nierte, die Schmerzen waren ja da, aber ich hatte schlicht nicht mehr die Kraft, zu Brüllen. Ich<br />

... Wenn sie es nicht beendet hätte, ich hätte es irgendwann selbst getan. Und dann kam der<br />

Tag ...“<br />

Kelly hatte fassungslos gelauscht. Ihre Augen brannten. Sie zog Shawn eng an sich und<br />

stieß unter Tränen hervor: „Das lassen wir im Moment, Honey. Nicht hier und jetzt. Für heute<br />

reicht das.“ Sie gab ihm einen Kuss und strich sanft mit den Fingern über seine Wangen, um<br />

die Tränen fort zu wischen. Shawn ließ müde seinen Kopf an Kellys Schulter sinken. Lang-<br />

sam fing er sich wieder. Kelly wartete, bis sie spürte, dass er entspannte. Sie griff nach dem<br />

Handtuch, das sie vorher aus dem Bad mitgebracht hatte und nahm die Schüssel zur Seite. Die<br />

Therapeutin trocknete Shawns Hände ab und konnte nun die Verbände von der Haut lösen.<br />

Sie sah sich die Wunden an und erklärte:<br />

„Wir lassen das jetzt trocknen, dann bekommst du Wundsalbe und neue Verbände. Und<br />

hinterher machen wir es uns im Bett gemütlich.“<br />

„Hört sich nach einem vernünftigen Vorschlag an.“<br />

„Und dann erzählst du mir, wie dein Spaziergang war, in Ordnung? Nicht das Verlaufen.“<br />

Der Schauspieler wusste, worauf Kelly hinaus wollte. Sie wollte wissen, wie es für ihn<br />

gewesen war, alleine zu sein. Shawn freute sich, positive Meldung geben zu können.<br />

Als sie zwanzig Minuten später aneinander gekuschelt im Bett lagen fing er von selbst an<br />

zu reden.<br />

„Als ich den Damm erreichte dachte ich kurz, ich schaffe es nicht weiter. Aber so leicht<br />

wollte ich mich dann doch nicht geschlagen geben. Ich bin also weiter und es wurde mit je-<br />

dem Schritt besser. Ich werde jetzt nicht behaupten, dass es besonders schön gewesen wäre<br />

ohne dich, aber es war nicht so schwer wie ich gedacht hatte. Ich habe dich bei jedem Schritt<br />

vermisst, das ist wohl klar. Aber ich habe keine Panikattacke bekommen. Das ist unglaublich<br />

wichtig für mich gewesen. Dass ich dich vermisst habe ist keine Überraschung. Aber dass ich<br />

ohne Angst die ganze Strecke geschafft habe hat mich schon überrascht. Ich bin gespannt, wie<br />

es wird, wenn ich in eine Stadt fahre. Eildon ist zu klein, das werde ich wohl schaffen. Ale-<br />

xandra ist schon etwas anderes. Aber ich habe mir vor genommen, bis Ende der Woche nach<br />

Melbourne zu kommen.“ Er verstummte, als hätte er plötzlich Angst vor der eigenen Courage.<br />

Kelly konnte spüren, wie sein Körper sich verspannte.<br />

777


„Hey, Baby, du sollst dir keine Ziele setzten die dich unter Druck bringen. Das hilft dir<br />

nicht. Wenn du soweit bist, bist du soweit, und nicht eher.“ Sie strich ihm liebevoll über den<br />

Rücken. „Das macht ja den Eindruck, als könntest du gar nicht mehr erwarten, endlich hier<br />

weg zu kommen.“<br />

Shawn wurde bei diesen Worten steif vor Schreck. Kelly spürte dies und sofort taten ihr<br />

ihre ironisch gemeinten Worte leid.<br />

„Schatz, das habe ich doch nicht ernst gemeint!“, erklärte sie betroffen. Sie beugte sich<br />

über den Schauspieler und gab ihm einen Kuss. „Es tut mir leid. Ich vergesse manchmal, dass<br />

du immer noch über reagierst.“<br />

Shawn schüttelte müde den Kopf. „Ist nicht deine Schuld. Ich kann nicht erwarten, dass du<br />

ständig jedes Wort auf die Goldwaage legst. Besser, ich gewöhne mich schnell wieder an<br />

flapsige Sprüche. Meine lieben Kollegen werden damit auch nicht sparen, selbst, wenn sie<br />

nicht wissen, was mit mir geschehen ist.“<br />

Seine Hand strich über Kellys warme Haut und er seufzte leise. „Ich muss mich beizeiten<br />

an vieles wieder gewöhnen. Aber ich bin sicher, ich schaffe das auch. Als ich heute Nachmit-<br />

tag da alleine durch den Wald stapfte ... Ich habe jeden Moment damit gerechnet, in Panik zu<br />

verfallen. Ich war selbst überrascht, dass das nicht passierte. Ich denke, ich habe wirklich eine<br />

Chance.“ Er schob sich den linken Arm unter den Kopf und versuchte sich vorzustellen, wie<br />

es sein würde. Alleine in den Staaten. Keine Kelly, die ihn trösten, beruhigen, mit ihm lachen<br />

würde. „Scheiße!“<br />

Kelly ahnte, was Shawn durch den Kopf ging. „Wir müssen da beide durch, es hilft nichts.<br />

Denke nicht, dass es mir leichter fallen würde als dir. Als du weg warst vorhin ... Du hast mir<br />

schon gefehlt, da warst du vermutlich noch nicht einmal am Ufer. Je schneller wir das hinter<br />

uns bringen desto schneller haben wir uns wieder. Du wirst genug um die Ohren haben und<br />

ich vermutlich einen neuen Patienten. Die Zeit wird wie im Fluge vergehen.“<br />

„Hoffentlich!“<br />

64) Abnabeln<br />

Zu lieben ist Segen, geliebt zu werden Glück.<br />

Leo Tolstoi<br />

Am kommenden Morgen war Shawn schon früh wach. Leise stand er auf, zog sich an und<br />

ging in die Küche. Er setzte Kaffee auf und griff sich dann Kellys Autoschlüssel vom Schlüs-<br />

selbord. Er fuhr nach Eildon und besorgte in einer Bäckerei frische Brötchen. Dann beeilte er<br />

sich, zurück nach Hause zu kommen. Kelly schlief noch. Shawn deckte draußen in der wär-<br />

menden Morgensonne den Terrassentisch, kochte ein paar Eier und pflückte im Garten schnell<br />

778


ein paar Blumen, die er in einer im Schrank gefundenen Vase auf den Tisch stellte. Zufrieden<br />

sah er noch einmal über den Frühstückstisch und nickte. Leise huschte er nun ins Schlafzim-<br />

mer zurück und zögerte kurz. Dann jedoch zog er entschlossen sein Hemd wieder aus und<br />

legte sich vorsichtig zu Kelly ins Bett. Zärtlich küsste er sie auf die Augen und die junge Frau<br />

zuckte selig seufzend zusammen.<br />

„Du bist schon wach?“, nuschelte sie verschlafen.<br />

Shawn küsste sie noch einmal und erklärte: „Schon lange. Ich war schon sehr fleißig, du<br />

wirst staunen.“<br />

Neugierig geworden gab Kelly sich Mühe, richtig wach zu werden. „Da bin ich aber ge-<br />

spannt.“, erklärte sie lächelnd.<br />

„Wenn du wach genug bist um aufzustehen wirst du es auch zu sehen bekommen.“ Shawn<br />

lächelte geheimnisvoll. Er schlang die Arme um die junge Frau und rollte sich so auf den Rü-<br />

cken. Heute machte es ihm nicht das Geringste aus, dass er so in seiner Bewegungsfreiheit<br />

eingeschränkt war. Kellys Haare fielen wie ein Vorhang zu seinem Gesicht herunter und er<br />

prustete sie lachend fort. Die Psychologin griff mit einer Hand nach ihrem Hinterkopf und<br />

nahm die Haare zusammen.<br />

„So besser?“, fragte sie sanft.<br />

„Viel besser.“<br />

Glücklich kuschelte die junge Frau sich an Shawns Brust. Sie spürte, dass er vollkommen<br />

entspannt war, also gönnte sie sich das herrliche Gefühl, in seinen Armen zu liegen.<br />

„Was wollen wir denn heute unternehmen?“, fragte der Schauspieler verträumt.<br />

„Aufräumen?“, schlug Kelly lachend vor.<br />

„Du spinnst wohl! So viel haben wir nun wirklich nicht schon in Unordnung gebracht,<br />

dass ein so schöner Tag nötig wäre um wieder aufzuräumen. Ich hatte gehofft, man könne<br />

vielleicht ein Boot mieten und ein wenig auf dem See herum schippern?“<br />

„Das ist eine großartige Idee. Das werden wir machen.“ Kelly war begeistert, dass Shawn<br />

alleine Pläne machte. Sie gab ihm einen Kuss, der schnell leidenschaftlicher wurde. An die-<br />

sem Morgen reagierte Shawn gut darauf und ließ seufzend seine Hände unter Kellys T-Shirt,<br />

das sie im Bett trug, gleiten. Sanft strichen seine Hände über ihre warme, weiche Haut und<br />

liebkosten diese. Die Psychologin seufzte wohlig. Fast hoffte sie, Shawn würde weiter gehen,<br />

doch soweit war der Schauspieler noch nicht. Er spürte wohl, dass Kelly gerne mehr gehabt<br />

hätte, wusste aber, dass sie nicht enttäuscht war, als er seine Hände ließ wo sie waren.<br />

„Na, wie sieht es denn nun mit der Überraschung aus?“, fragte Kelly, um die Situation zu<br />

entspannen.<br />

„Jederzeit. Sie wartet draußen auf dich. Du wirst dich schon erheben müssen.“<br />

779


„Schade. Hier ist es gerade so schön.“, flüsterte die Psychologin Shawn ins Ohr. Schweren<br />

Herzens rollte sie sich von dem warmen, muskulösen Körper herunter und stand auf. Shawn<br />

glitt ebenfalls aus dem Bett und trat von hinten an Kelly heran. Er hielt ihr die Augen zu und<br />

dirigierte sie sanft auf die Terrasse hinaus. Erst als sie vor dem gedeckten Tisch standen, ließ<br />

er die junge Frau los. Erstaunt und begeistert weiteten sich ihre Augen.<br />

„Du warst schon Einkaufen? Das ist so süß von dir!“ Sie drehte sich zu Shawn herum und<br />

schlang ihm die Arme um den Hals. „Ich weiß schon, warum ich nachgegeben habe. Shawn<br />

McLean, ich liebe dich.“<br />

Der junge Mann wurde bei diesen Worten tatsächlich leicht rot. „Probier doch erst mal,<br />

vielleicht überlegst du es dir dann doch anders.“, meinte er verlegen. „Vielleicht sind die Eier<br />

steinhart oder so.“<br />

„Und wenn schon, ich mag auch hart gekochte Eier sehr gerne. Und es zählt ja der Gedan-<br />

ke und der ist extrem lieb gemeint.“ Kelly zog seinen Kopf zu sich herunter und verschloss<br />

ihm die Lippen mit einem leidenschaftlichen Kuss, der beide schwer atmend hinterließ.<br />

Nach dem ausgiebigen Frühstück, das nicht nur gut ausgesehen, sondern auch mehr als gut<br />

geschmeckt hatte, verschwand Kelly schnell unter der Dusche, während Shawn abdeckte.<br />

Kurze Zeit später saßen sie im Wagen auf dem Weg zum Bootsverleih. Sie hatten Glück und<br />

bekamen ein schönes Motorboot. Shawn hatte zwar keinen Bootsführerschein, aber der<br />

Bootsverleiher drückte ein Auge zu, da er Kelly kannte, und wusste, dass sie mit dem Boot<br />

umgehen konnte. Sie machten schnell die Leinen los und glitten auf den See hinaus.<br />

„Erst mal nach rechts, bis zum östlichen Ende sind es ungefähr 13 Kilometer.“, erklärte<br />

Kelly. Sie setzte sich im Bikini auf das kleine Deck und Shawn steuerte das Boot gemütlich<br />

den Lake Eildon entlang, an zwei Seitenarmen vorbei, bis sie gegen 12 Uhr die östliche Spitze<br />

erreicht hatten. Hier drehten sie um und fuhren etwas zügiger zurück nach Westen. Shawn<br />

bog in den Jerusalem Creek ein und fand am Anleger beim Restaurant einen freien Liegeplatz.<br />

Schnell vertäuten sie das Boot und gingen von Bord. Sie fanden im Restaurant einen freien<br />

Platz und bestellten sich etwas Kaltes zu trinken und jeder einen Salat zum Mittag. Zufrieden<br />

machten sie sich dann wieder auf den Weg. Shawn war von der zauberhaften Landschaft be-<br />

geistert. Immer wieder tauchten kleine Strände auf und hinter diesen erhoben sich grün be-<br />

wachsene Berge in den blauen Himmel.<br />

„Es ist wunderschön hier. Und so Hai-frei. Wollen wir nicht mal einen Sprung ins Wasser<br />

riskieren?“, fragte er, als sie einen kleinen Seitenarm erreichten, der nach rechts führte. „Wa-<br />

rum nicht? Es ist warm, ein kühles Bad könnte da nichts Schaden.“ Kelly zögerte nicht, sie<br />

stellte sich an die Reling und sprang elegant ins Wasser hinunter. Shawn stellte den Motor ab<br />

und folgte ihr in das recht kalte Wasser.<br />

„So ist es doch entspannter, wenn man weiß, man kann nicht angeknabbert werden.“, er-<br />

klärte er grinsend, als sie das Boot einmal umschwommen hatten.<br />

780


„Da hast du Recht.“, stimmte Kelly zu. Sie schauerte. „Ich glaube, mir reicht es, ich frie-<br />

re.“ Zügig schwamm sie zum Boot zurück und stieg die Badeleiter hoch. Shawn folgte ihr. An<br />

Bord rubbelten sie sich trocken und setzten sich anschließend nebeneinander auf das Deck,<br />

um sich von der Sonne wärmen zu lassen.<br />

Gegen 16 Uhr machten sie wieder am Anleger fest. Der Bootsverleiher fragte freundlich,<br />

ob alles in Ordnung gewesen sei.<br />

„Ja, das ist ein tolles Boot. Genau richtig für einen See. Vielen Dank.“ Shawn drückte dem<br />

Mann den Bootsschlüssel in die Hand.<br />

„Das freut mich. Wenn ihr mal wieder Lust auf eine Spritztour habt, ruft vorher an, dann<br />

reserviere ich euch den Kahn.“ Der Bootsverleiher drückte Shawn die Hand.<br />

„Machen wir. Bye.“<br />

„Bye.“<br />

Arm in Arm schlenderten Shawn und Kelly nun zum Wagen und fuhren nach Hause. Hier<br />

angekommen schlüpften sie aus den Sachen und verschwanden nacheinander kurz unter der<br />

Dusche, um sich abzuspülen. Als sie anschließend bei einer Tasse Kaffee auf der Terrasse<br />

saßen fragte Kelly:<br />

en?“<br />

„Und, was möchtest du heute Abend gerne Essen? Soll ich uns Steaks in die Pfanne hau-<br />

„Das hört sich gut an.“ Shawn streckte die Beine aus und sah traumverloren auf den See<br />

hinaus. „Dass es hier so schön ist habe ich gar nicht mehr in Erinnerung gehabt. Das zeigt<br />

mir, wie daneben ich am Anfang war. Es kommt mir ganz unglaublich vor, dass ich hier<br />

schon über eine längere Zeit gewesen sein soll.“<br />

„Ja, du hast anfangs wirklich andere Sachen im Kopf gehabt als die Schönheit der Natur<br />

um dich herum. Aufgewacht bist du einmal, als wir oben auf dem Berg waren. Doch auch das<br />

war nur ein kurzes Aufflackern. Danach bist du gleich wieder in der Versenkung verschwun-<br />

den.“<br />

Der Schauspieler prustete genervt. Er dachte an die Zeit zurück. Nur schemenhaft erinner-<br />

te er sich an die Anfänge.<br />

„Ja, so richtig zu mir gekommen bin ich erst in Alice. Vorher ist alles wie in Nebel ge-<br />

hüllt, bis auf ein paar wenige, lichte Momente. Wenn Lauren mich nicht an dich verwiesen<br />

hätte ... Was wohl aus mir geworden wäre? Vermutlich wäre ich nicht mehr am Leben. Ich<br />

hatte ja nur den einen Wunsch, endlich zu sterben. Und ich hätte es geschafft, da bin ich si-<br />

cher.“ Shawn tastete unwillkürlich nach Kellys Hand. Die junge Frau lächelte.<br />

„Dazu ist es nicht gekommen und du solltest keine Gedanken an diese Phase verschwen-<br />

den. Du hast es mit Bravour geschafft, das alles hinter dir zu lassen.“<br />

781


„Mit Bravour? Na, ich weiß nicht. War eher eine riesige Quälerei. Und noch ist es ja nicht<br />

ganz vorbei. Und das wird es auch nie ganz sein. Das wird mich für den Rest meines Lebens<br />

begleiten.“ Shawn sah Kelly an. „Wie oft habe ich gedacht, ich schaffe es nicht. Und du hast<br />

mich immer und immer wieder aufgebaut. Selbst aus den tiefsten Löchern hast du mich her-<br />

aus gezerrt. Du hast nie den Glauben daran verloren, dass ich es schaffe, bist nie ungeduldig<br />

geworden, hast mich aufgefangen, egal wie oft ich auch gefallen bin.“<br />

„Anfangs war es mein Job, den ich gerne gemacht habe. Später war es ... wie soll ich sa-<br />

gen, mein Wunsch, dir zu helfen. Und schließlich war es mir unerträglich, dich so schrecklich<br />

Leiden zu sehen. Das ist es ja, warum ich nicht nachgeben wollte. Es ist mir viel zu nahe ge-<br />

gangen, ich hatte ab einem bestimmten Zeitpunkt keinen Abstand mehr. Du bist mir unter die<br />

Haut gegangen. Man kann dann nicht mehr objektiv bleiben und ist eigentlich keine vernünf-<br />

tige Hilfe mehr. Doch wir haben es gemeinsam geschafft und werden auch den Rest noch<br />

gemeinsam schaffen.“<br />

*****<br />

Die nächsten Tage waren Shawn und Kelly bemüht, sich wieder daran zu gewöhnen, einen<br />

festen Wohnsitz zu haben. Sie versuchten, eine gewisse Routine in ihren Tagesablauf hinein<br />

zu bringen. Morgens nach dem aufstehen und einen gemeinsamen Frühstück brach Shawn<br />

auf, um alleine etwas zu unternehmen. Mal fuhr er mit dem Auto los, mal machte er sich zu<br />

Fuß auf, die Umgebung zu erkunden. Je nach Tagesform dauerten diese Ausflüge unter-<br />

schiedlich lange. Kelly tippte in der Zeit, in der Shawn unterwegs war, an dem Bericht über<br />

den bisherigen Verlauf der Therapie. Sie kam ganz gut voran, solange es ihr gelang, die Ge-<br />

danken von der Tatsache abzulenken, dass es Shawn war, dem all diese schrecklichen Dinge<br />

angetan worden waren. Das gelang der jungen Frau nicht immer. Oft musste sie eine Pause<br />

einlegen und sich erst einmal wieder fangen, weil sie zu mitgenommen war von dem, was sie<br />

da zu Papier bringen musste. Ihr Hass auf Carrie wuchs mit jeder getippten Seite mehr an.<br />

Energisch versuchte die junge Psychologin, diese Hassgefühle zu unterdrücken. Hass war ein<br />

schlechter Ratgeber. Doch ganz konnte die junge Frau nicht verhindern, dass sie sich wünsch-<br />

te, für eine gewisse Zeit mit Carrie alleine zu sein. Sie war jeden Tag dankbar, wenn Shawn<br />

zurückkehrte. Dann konnte sie sich von den Berichten lösen, konnte vergessen, wie sehr sie<br />

sich wünschte, Carrie in die Finger zu bekommen.<br />

Wenn Shawn früh wieder im Hause war, unternahmen sie am Nachmittag noch gemein-<br />

sam etwas. Zweimal noch liehen sie sich das Motorboot, machten damit schöne Touren auf<br />

dem See. Einen Nachmittag verbrachten sie zusammen beim Wasserski laufen.<br />

Oft wanderten sie auch nur ein wenig. Abends kochten sie gemeinsam, genossen es, auf<br />

der Terrasse zu Essen und das herrliche Wetter zu genießen. Es war warm, aber nicht so heiß<br />

782


wie oft bei ihrem Ausflug. Zweimal rief Shawn seine Eltern an und einmal auch seinen<br />

Freund Jerry. Mit ihm telefonierte der Schauspieler fast eine Stunde. Bei aller Entspannung<br />

sorgte Kelly aber auch dafür, dass Shawn weiter von der Zeit bei Carrie berichtete. Viel Neu-<br />

es kam dabei nicht mehr heraus, vielmehr arbeitete Shawn intensiv bestimmte Dinge auf, die<br />

er schon mit Kelly besprochen hatte. Einiges brachte er immer wieder zur Sprache. Er merkte<br />

selbst, dass das bloße Berichten über die Quälereien nicht reichte, um sie zu verarbeiten. Doch<br />

das wiederholte Reden über vieles half ihm sehr.<br />

Eine Woche nach ihrer Rückkehr schaffte er es alleine bis Melbourne. An diesem Abend<br />

kam er stolz und zufrieden nach Eildon zurück. „Stell dir vor, ich war auf dem Eureka Tower.<br />

Der Ausblick ist ja der helle Wahnsinn! Ich konnte mich gar nicht wieder los reißen. Es war<br />

so klar, man hatte das Gefühl, bis Eildon gucken zu können. Ich hoffe, die Fotos sind was<br />

geworden.“<br />

Kelly hörte dem begeisterten Bericht lächelnd zu. Sie freute sich sehr, dass Shawn es al-<br />

leine soweit geschafft hatte. Er bewies ihr, dass er es ohne sie schaffen konnte. Lange würde<br />

es nun nicht mehr dauern, bis sie ihn zurück in die Staaten zu seinen Eltern schicken konnte.<br />

Dieser Gedanke jagte ihr zwar Schauer über den Rücken, aber diese änderten nichts an ihrem<br />

Entschluss. Dass der Schauspieler hier bewies, dass er ohne sie auszukommen im Stande war,<br />

änderte nichts an der Tatsache, dass er beweisen musste, dass er sein Leben wieder aufneh-<br />

men konnte. Weit weg von Kelly und ohne dem sicheren Wissen, dass sie im Notfall sofort<br />

bei ihm wäre. Kelly schüttelte die bedrückenden Gedanken ab und meinte:<br />

„Wenn wir nach Sydney fahren werde ich dich dort mal auf den Centerpoint schleppen.<br />

Die Aussicht von dort ist genauso erhebend.“ Sie sah sich die Fotos an, die Shawn gemacht<br />

hatte. „Die Sicht ist tatsächlich erstaunlich klar. Hat man auch nicht jeden Tag.“<br />

te.<br />

Sie unterhielten sich noch lange über Melbourne und Sydney, bis Shawn schließlich gähn-<br />

„Ich bin müde, ich glaube, ich lege mich hin. Kommst du mit?“<br />

„Ja, ich bin auch kaputt. Ich habe den ganzen Tag am PC gesessen und getippt, das macht<br />

müde.“<br />

Zusammen stiegen sie nach oben in den ersten Stock. Ohne sich noch groß zu unterhalten<br />

waren sie kurze Zeit später eingeschlafen.<br />

65) Finstere Pläne<br />

Hass ist die Rache des Feiglings dafür, dass er eingeschüchtert ist.<br />

George Bernhard Shaw<br />

783


Die bildhübsche, dunkelhaarige junge Frau rekelte sich entspannt auf der mit einem wei-<br />

chen Badelaken bespannten Liege. Über ihr spielte der Wind raschelnd mit den Blättern der<br />

Palmen, aus denen hier am Strand Sonnenschirme gefertigt waren. Neben der jungen Frau,<br />

auf einem kleinen Tischchen, stand ein elegantes, großes Glas mit einem frischen Cocktail,<br />

den ein Kellner gerade gebracht hatte. Die junge Frau nahm einen tiefen Zug durch den di-<br />

cken Strohhalm, der in dem Cocktail steckte. Sie beobachtet interessiert und mit den Augen<br />

eines Jägers das Treiben am Strand. Dabei galt ihre Aufmerksamkeit jungen, gut aussehenden<br />

Männern, von denen es hier am Strand von Surfers Paradies natürlich jede Menge gab. Die<br />

dunkelhaarige Frau wurde ihrerseits von eben jenen jungen Männern nicht weniger aufmerk-<br />

sam beobachtet. Der eine oder andere von ihnen dachte darüber nach, sie anzusprechen. Die<br />

Nächte waren lang in Surfers Paradies, die Diskotheken großartig, und die vielen Touristen<br />

aus aller Welt nutzten jede Chance, den Aufenthalt hier noch angenehmer zu gestalten. Eine<br />

nette Begleitung für den Abend und die Nacht war ein verlockendes Ziel.<br />

Die Dunkelhaarige war sich der Aufmerksamkeit bewusst, die sie hier allein am Strand<br />

liegend auf sich zog. Ellen Campbell beherrschte es perfekt, Blicke auf sich zu ziehen. Sie<br />

nahm noch einen Schluck aus ihrem Glas. Der ‘Sex on the beach‘ war perfekt gemixt. Sie<br />

stellte den Rückenteil der Liege ein klein wenig höher. Dann beugte sie sich zu ihrer großen<br />

Strandtasche herunter. Sie zog eine Flasche Sonnencreme hervor und verteilte sich davon<br />

großzügig auf die langen, schlanken Beine. Nötig hatte sie dies eigentlich nicht, denn sie war<br />

braun gebrannt und ihre Haut war die Sonne gewohnt. Als sie mit dem Eincremen fertig war<br />

lehnte sie sich gemütlich zurück. Obwohl Ellen derzeit in Australien fest steckte, war ihre<br />

Laune ausgezeichnet. Ihr Blick schweifte den mehr als 20 Kilometer langen, herrlichen Strand<br />

entlang. Es gab wahrlich schlimmere Orte um festzustecken! Zufrieden und gut gelaunt zog<br />

die junge Frau die am Morgen gekaufte Zeitung aus ihrer Strandtasche. Sie las The Australian<br />

jeden Tag, um sich über Neuigkeiten in Australien und dem Rest der Welt zu informieren.<br />

Ellen Campbell klappte die Zeitung auf und hatte nun freien Blick auf die Titelseite. Und<br />

schlagartig verging ihr die gute Laune und machte einer wütenden Spannung Platz. Endlich!<br />

Endlich eine Spur! Eine Spur, auf die sie seit Wochen wartete.<br />

Aufsehenerregender Entführungsfall gelöst?<br />

Das Rätsel um das spurlose Verschwinden eines jungen Mannes,<br />

welches im März Australien weit für Schlagzeilen sorgte, scheint nun gelöst<br />

zu sein. Der 31 jährige US Schauspieler Shawn McLean, der am 16.<br />

Januar dieses Jahres spurlos aus der Nobel Diskothek ‘Blue Oyster‘ in<br />

Mackay, Queensland, verschwand, wurde bereits vor Wochen aus einer<br />

Villa auf einer im Privatbesitz befindlichen Insel der Whitsunday Islands<br />

befreit. Dies wurde jetzt erst bekannt. McLean, von dem niemand an-<br />

784


nahm, dass er noch lebt, befindet sich seither in der Obhut der Traumatherapeutin<br />

Kelly Jackson. Die weltweit als Koryphäe auf dem Gebiet<br />

der Traumatherapie anerkannte Ärztin gilt bei Verbrechensopfern weltweit<br />

als Geheimtipp. Dass der Schauspieler sich zu ihr in Betreuung begeben<br />

hat, deutet auf ein während der Entführung erlittenes schweres<br />

Trauma hin.<br />

Jackson hat bereits für einige spektakuläre Verurteilungen von Entführern<br />

gesorgt. Ihre Therapieerfolge machen immer wieder Schlagzeilen.<br />

Zusammen mit einer Gruppe anerkannter Psychologen arbeitet die<br />

ambitionierte Therapeutin immer wieder auch unentgeltlich für Opfer<br />

von Gewaltverbrechen. Die Gruppe, die gemeinsam eine spezielle Methode<br />

der Behandlung, die CLTT, Confidence and Long-term Trauma Therapy,<br />

entwickelt hat, wird öffentlich unterstützt und bekommt finanzielle<br />

Unterstützung unter anderem von den verschiedensten Ermittlungsbehörden<br />

weltweit. Wo Jackson sich mit ihrem Patienten aufhält, ist nicht<br />

bekannt.<br />

785<br />

Brisbane, 28.09.2007<br />

„Na, sieh mal einer an! Mein geliebter, blonder Engel. Endlich habe ich eine Spur. Ich<br />

vergehe ja schon seit Wochen vor Sehnsucht nach dir. Doch die hat wohl jetzt bald ein Ende.<br />

So wie du!“<br />

Sie wühlte in ihrer Tasche nach einem Handy und schaltete dies ein. Als es empfangsbe-<br />

reit war drücke sie aus dem Kurzwahlspeicher die 2. Es dauerte keine vier Klingeltöne, dann<br />

meldete sich eine männliche Stimme.<br />

„Ellen! Wo steckst du? Ich warte seit Tagen auf einen Anruf von dir. Kannst du dich nicht<br />

einmal an unsere Abmachungen halten?“<br />

„Ach Mark, sei mir nicht böse. Ich liege am Strand von Surfers Paradies und genieße das<br />

Leben. Ich habe nicht daran gedacht, mich zu melden.“<br />

„Dann lass verdammt noch mal wenigstens dein Handy an, damit ich dich erreichen<br />

kann!“ Der Mann klang wirklich sauer. Ellen grinste. Das fehlte ihr auch noch, dass er drei<br />

mal am Tag bei ihr anrief, um sie voll zu Texten. Er wusste nicht, dass sie zwei Handys hatte,<br />

eins für ihn und einige wenige andere ... Eingeweihte, und eins für all ihre Freunde und Be-<br />

wunderer. Das Handy für Mark war nur eingeschaltet, wenn sie etwas von ihm wollte. An-<br />

sonsten war es schön ausgeschaltet.<br />

„Nun sei doch nicht so sauer! Bitte, Mark. Ich habe es nicht böse gemeint. Wo steckst du?<br />

Ist Sue bei dir?“ Ellen schaffte es spielend, ihrer Stimme einen sehr zerknirschten Tonfall zu<br />

geben. Wenn sie so betroffen klang, war Mark immer bereit, ihr schnell zu verzeihen.<br />

So war es auch diesmal. Schon deutlich weniger genervt erklärte Mark:<br />

„Ist ja gut. Ich bin in Melbourne. Seit vier Tagen. Sue ist nach Perth geflogen. Sie wollte<br />

sich dort eigentlich mit Evie treffen, aber das hat sich ja nun erledigt. Sie hat mich gestern<br />

angerufen. Eigentlich wollte sie noch ein paar Tage dort bleiben.“


Ellen seufzte. Evie ... Die blöde Kuh war zu einem echten Risikofaktor geworden. Wie<br />

hatte sie nur so dumm sein können, sich von den Feds erwischen zu lassen? Ellen schüttelte<br />

genervt den Kopf. Sollte sie zusehen, wie sie klar kam. Was ihr blühte, wenn sie sich quer<br />

stellte, machte wohl Stuarts Beispiel deutlich. Die dunkelhaarige junge Frau grinste gemein.<br />

Der elende Gay war ihr am Ende gewaltig auf die Nerven gegangen. Immer wieder hatte er<br />

ihr dazwischen gefunkt. Und schließlich hatte der Idiot auch noch die Frechheit besessen, sie,<br />

Ellen, zu hintergehen! Er hatte gewusst, was das bedeutete. Ellen hatte ihn zur Rede gestellt.<br />

Rumgejammert hatte er. Dass er verliebt sei. Und das Ellen dafür Verständnis haben sollte.<br />

Klar, sie hatte Verständnis gehabt. Und wie! Sie hatte Stuart im Beisein Evies und Susans<br />

dem Objekt seiner Begierde voraus geschickt. Dass dieser folgen würde, daran hatte Ellen<br />

keinen Zweifel. Ihr Egozentrismus ließ gar keine anderen Gedanken zu. Sie, Ellen Campbell,<br />

würde ganz sicher nicht wegen so eines kleinen Wichsers in den Knast gehen! Ohne einen<br />

lebenden Zeugen würde kein Gericht der Welt sie verurteilen. Und einen lebenden Zeugen<br />

würde es in Kürze nicht mehr geben, nachdem sich endlich eine Spur aufgetan hatte.<br />

Ellen riss sich von dem Gedanken los.<br />

„In Perth ... Hm, na, soll sie dort bleiben. Was anderes, hast du heute schon einen Blick in<br />

die Zeitung geworfen? The Australian?“<br />

„Nein, wieso fragst du? Was Interessantes?“, wollte Mark neugierig wissen.<br />

Ellen stieß ein kurzes, gehässiges Lachen aus. „Kann man sagen, ja.“ Sie las Mark den<br />

kurzen, aber aufschlussreichen Artikel vor. „Was sagst du?“<br />

Ein paar Sekunden herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann meldete<br />

Mark sich wieder zu Wort.<br />

„Und nun willst du auf den Kriegspfad gehen, wie ich dich kenne. Hast du eine Ahnung,<br />

wo diese ... Jackson sich mit Knackarsch aufhalten könnte?“<br />

Ellen grinste, was Mark natürlich nicht sehen konnte. „Noch nicht. Aber wenn die Lady<br />

eine so große Koryphäe ist, dürfte es nicht schwer sein, heraus zu bekommen, wo sie sich im<br />

Allgemeinen aufhält. Ich werde mich darum kümmern und melde mich, sobald ich näheres<br />

weiß. Und dann werden wir dieses unleidliche Thema ein für alle Mal beenden.“<br />

Mark gab ein undefinierbares Geräusch von sich. Ellen war klar, es schmeckte ihm gar<br />

nicht, dass sie sich allein darum kümmern wollte. Angespannt meinte er:<br />

„Hör zu, Ell, zieh das nicht allein durch, hörst du? Sag wirklich bescheid, wenn du weißt,<br />

wo sie sich aufhalten. Wir erledigen das zusammen, kapiert?“<br />

„Erst muss ich sie mal finden, dann sehen wir weiter. Mach dir keine Sorgen um mich, du<br />

weißt, ich komme klar! Ich werde dir bescheid sagen, versprochen.“<br />

Ellen beendete das Gespräch, ohne noch eine Erwiderung Marks abzuwarten. Es war ihr<br />

völlig gleichgültig, was dieser wollte. Sie würde es so machen wie SIE es wollte, und nicht<br />

786


anders. Die junge Frau erhob sich geschmeidig und streifte sich ein leichtes Kleid über den<br />

Bikini. Sie winkte den Kellner heran und erklärte, dass sie in einer Stunde wieder zurück sei.<br />

Der Kellner versprach, den Platz frei zu halten. Ellen Campbell eilte über die zweispurige<br />

Main Beach Parade und stand sofort unmittelbar auf der Zufahrt des Waterfort Appartement<br />

Hotels. Sie betrat die große Eingangshalle und eilte an den Rezeptionstresen. Schnell hielt sie<br />

den Schlüssel für ihr Appartement im 16ten Stock des Hotels in der Hand und eilte zum Fahr-<br />

stuhl. Als sie kurze Zeit später ihr Zimmer erreicht hatte schnappte sie sich sofort ihren Lap-<br />

top. Sie setzte sich mit dem Gerät auf den Balkon und während dieser hochfuhr ließ die junge<br />

Frau ihren Blick auf das Meer hinaus schweifen.<br />

Schließlich war das Notebook einsatzbereit. Ellen hatte ziemlich weitreichende Compu-<br />

terkenntnisse und so fiel es ihr nicht schwer, schnell Informationen über Dr. Kelly Jackson<br />

zusammen zu stellen. Schwerer war es da schon, etwas über die Wohnadresse der Therapeutin<br />

heraus zu finden. Diese war auf keiner der zahlreichen web pages über die Psychologin ge-<br />

nannt. Doch Ellen gab so schnell nicht auf. Es kostete sie einiges an Sucherei, doch endlich<br />

wurde sie fündig. Sydney ... Ginahgulla Road ... Da würde sie selbst hinfahren. nach Sydney<br />

wollte sie sowieso. Mark würde sie nach Eildon schicken, er befand sich ja bereits in unmit-<br />

telbarer Nähe. Sollten sich die Gesuchten nicht dort aufhalten, nun, Ellen hatte Geduld. Ir-<br />

gendwann würden sie schon an einer der Adressen auftauchten. Zufrieden buchte Ellen einen<br />

Flug von Brisbane nach Sydney und bekam diesen am übernächsten Tag um 12.15 Uhr. So<br />

hatte sie noch einen weiteren herrlichen Tag am Strand vor sich. Es kam der jungen Frau nicht<br />

auf einen Tag mehr oder weniger an. Sie hatte jetzt schon so lange darauf gewartet, einen<br />

Spur von McLean zu finden, nun konnte er sich auch gerne noch einen Tag länger seines ab-<br />

laufenden Lebens erfreuen. Ellen grinste. Sie würde die Psychologin ausschalten und dann ...<br />

Oh, McLean würde sich wünschen, nie geboren worden zu sein! Wenn Ellen auch bisher nie<br />

selbst Hand angelegt hatte, um ihre Opfer zu Töten, wusste sie doch genau, dass es ihr nichts<br />

ausmachen würde, das gute Werk in ihre eigenen Hände zu nehmen. Bei Stuart hatte sie es<br />

auch genossen. Was von McLean übrig bleiben würde passte hinterher in einen Streichholz-<br />

schachtel. Jack the Ripper würde neidisch werden. Und Ellen würde dem Dreckskerl keinen<br />

schnellen Tod gönnen wie der Ripper es vor fast 110 Jahren in London mit seinen Opfern<br />

getan hatte. Nein, McLean würde leiden wie selten ein Mensch gelitten hatte!<br />

Erregt seufzte die Psychopathin auf. Die Vorstellung allein jagte ihr wohlige Schauer über<br />

den Rücken. Sie fuhr den Laptop herunter, trat an die Minibar und schenkte sich ein Glas<br />

Whiskey ein. Als sie es geleert hatte verließ sie ihr Zimmer und kehrte an den Strand zurück.<br />

Beschwingt von der grandiosen Vorstellung, sich in Kürze für das Ende ihres bisher so guten<br />

Lebens rächen zu können, ließ sich sie am Spätnachmittag auf die Annäherungsversuche eines<br />

jungen Mannes ein, der die folgende Nacht garantiert nie wieder würde vergessen können.<br />

787


*****<br />

Pünktlich um 12.15 Uhr hob das Flugzeug der Australian Airways ab und schon gegen<br />

13.30 Uhr setzte die Maschine zur Landung in Sydney an. Ellen hatte mit Mark am vergange-<br />

nen Tag abgemacht, dass sie nach Sydney fliegen wollte, um dort auszukundschaften, ob<br />

Jackson und McLean sich in der Metropole aufhielten. Sollte dies der Fall sein, würde sie<br />

Mark sofort informieren. Für den Fall, das dieser die Gesuchten in Eildon ausfindig machte,<br />

sah Ellens Plan eine sofortige Information an sie vor. Die bildhübsche junge Frau sah bei der<br />

Landung aus dem kleinen Fenster. Schon bald würde sie auf dem Weg zum Haus der Thera-<br />

peutin sein. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn sich die Gesuchten hier aufhielten. In Sydney<br />

wäre es weitaus einfacher, nach der Entsorgung der beiden Zielobjekte unterzutauchen. Doch<br />

auch in der Kleinstadt, zumal das Haus der Jackson ziemlich außerhalb lag, durfte es eigent-<br />

lich keine Probleme geben. Ellen verließ zusammen mit den anderen Passagieren die kleine<br />

Maschine und stand Minuten später an einem Schalter der Thrifty Car Rental. Sie mietete sich<br />

einen Hyundai Genesis und stand kurze Zeit später vor dem eleganten, silberfarbenen Wagen.<br />

Schnell hatte sie ihre Sachen verstaut und machte sich an die etwa 10 Kilometer lange Fahrt<br />

nach Double Bay. Sie kam gut durch und erreichte die Ginahgulla Road gegen 15 Uhr. Die<br />

junge Frau fuhr langsam am Haus der Psychologin vorbei, doch dort rührte sich nichts. So<br />

beschloss sie, sich in der Nähe ein Motel zu suchen und fand eines, kaum zwei Fahrminuten<br />

entfernt. Hier richtete sie sich erst einmal häuslich ein.<br />

Bevor Ellen sich auf die Suche nach einem Restaurant machte verschwand sie schnell ins<br />

Bad. Sie hatte in ihrem Koffer mehrere Perücken und suchte eine mit langen, dunkelblonden<br />

Echthaaren heraus. Gekonnt setzte sie diese auf und machte sich eine stramme Knotenfrisur.<br />

Mit einiger Schminke und einer großen, dunklen Hornbrille veränderte sie ihr Aussehen so<br />

geschickt, dass McLean sie garantiert nicht sofort erkennen würde, gesetzt den Fall, sie würde<br />

ihm hier wirklich überraschend in die Arme laufen. Sie grinste zufrieden und suchte sich dann<br />

aus ihren Kleidungsstücken einen schlichten Rock, eine strenge weiße Bluse und eine dazu<br />

passende, ebenfalls streng wirkende Jacke heraus. Als sie sich noch einmal im Spiegel begut-<br />

achtete musste die junge Frau lachen.<br />

„Honey, du siehst aus wie eine Kleinstadtlehrerin.“<br />

Sehr zufrieden griff sie nach einer passenden Handtasche, schlüpfte in flache Schnürschu-<br />

he, die ihr Erscheinungsbild perfektionierten und machte sich auf den Weg, die Ortschaft zu<br />

erkunden. Sie fand gleich in der nächsten Querstraße zwei Restaurants, wobei die Bezeich-<br />

nung eindeutig übertrieben war. Das erste war eine Pizzeria, das zweite ein sehr einfaches<br />

Sushi Restaurant. Ellen verdrehte gequält die Augen. Doch sie hatte hunger und so setzte sie<br />

sich genervt an einen freien Tisch in der Pizzeria und bestellte gedankenverloren irgendwas<br />

788


zu essen. Als sie satt war schlenderte sie noch ein wenig durch die Straßen, um sich mit der<br />

Umgebung vertraut zu machen.<br />

*****<br />

Mark hatte inzwischen die kleine Ortschaft Eildon erreicht. Er hatte sich ebenfalls ein Mo-<br />

tel gesucht. Aufgrund seiner eindrucksvollen Statur fiel es ihm nicht so leicht wie seiner<br />

Schwester, sich zu verkleiden. Er musste darauf vertrauen, dass er selbst im Zweifelsfall<br />

McLean schneller entdecken würde als dieser ihn. Gleich am nächsten Morgen setzte er sich<br />

in seinen Leihwagen und fuhr langsam, den Anweisungen seines Navis folgend, durch schma-<br />

le Straßen, Wald und über Hügel, bis er ein einsam stehendes Haus entdeckte. Das musste das<br />

Haus der Therapeutin sein! Zügig, doch aufmerksame Blicke auf das Grundstück werfend,<br />

fuhr er an dem Haus vorbei. Innerlich jubelte er auf, als er einen Geländewagen in der Ein-<br />

fahrt stehen sah. Mark fuhr bis ans Ende der Straße und stellte den Wagen dort ab. Nun mach-<br />

te er sich zu Fuß die Straße zurück, bis er hinter einigen Bäumen und Büschen getarnt einen<br />

guten Blick auf das Haus werfen konnte. Lange beobachtete er das Haus. Als er jedoch hörte,<br />

dass sich ein Auto näherte, verließ er rasch seinen Beobachtungsposten und eilte zu seinem<br />

Leihwagen zurück. Er hatte einen Plan gefasst. Von dem Beobachtungspunkt aus konnte er<br />

das Haus hervorragend im Auge behalten. Er würde sich umziehen, alles einstecken, was er<br />

benötigte, und dann hierher zurückkehren. Wenn er Glück hatte ergab sich eine Gelegenheit,<br />

McLean allein zu erwischen. Vielleicht musste diese Jackson ja mal weg, und sei es nur zum<br />

Einkaufen. Dann würde Mark die Chance nutzen. Und wenn nicht, nun, dann würde die Jack-<br />

son eben schnell sterben, Shawn dafür umso langsamer.<br />

Eine Stunde später stand Mark, jetzt mit seinem Militärtarnanzug bekleidet, wieder im<br />

Gebüsch nahe dem Haus. Er hatte sich einen kleinen Stoffklappstuhl vom Motel geliehen und<br />

machte es sich auf diesem so gemütlich wie möglich. Ihm war klar, dass es im schlimmsten<br />

Falle ein paar Tage dauern konnte, bis sich eine vernünftige Gelegenheit ergab. Doch das war<br />

dem brutalen Mann egal. Er hatte sich Wasser und Obst eingepackt, etwas zu Lesen, und übte<br />

sich in Geduld. Der erste Tag verstrich, ohne dass die Jackson Anstalten machte, dass Haus<br />

ohne Shawn zu verlassen. Am frühen Vormittag des nächsten Tages hatte Mark seinen Posten<br />

wieder bezogen. Vielleicht eine Stunde hockte er schon im Gebüsch. Und dann zuckte er wie<br />

elektrisiert zusammen! McLean und Jackson traten vor die Haustür und Mark konnte hören,<br />

wie die Frau zu Shawn sagte:<br />

„Bis nachher. Ich beeile mich, das verspreche ich dir. Länger als bis 14 Uhr wird das nicht<br />

dauern.“<br />

Das war sie, die Chance, auf die Mark gehofft hatte! So plötzlich, dass er erst einmal tief<br />

durch atmen musste. Die Jackson stieg ins Auto, hupte zum Abschied und schon verschwand<br />

789


der Geländewagen die Straße entlang. Mark beobachtete angespannt, wie Shawn ins Haus<br />

zurück verschwand und nickte.<br />

„Jetzt bist du aber so was von fällig, meine kleine, blonde Hure. Fang schon mal an, dich<br />

von deinem Arsch zu verabschieden!“<br />

Der Riese erhob sich von seinem Stuhl, griff nach dem Lederbeutel, den er neben sich ge-<br />

legt hatte, und hängte sich diesen um den Hals. Er enthielt neben einem scharfen Jagdmesser<br />

eine Spritze, voll mit dem wunderschönen Mittel Rocoronium, einem Muskelrelaxan. Die<br />

Menge in der Spritze reichte locker aus, Shawn so lange bewegungsunfähig zu machen, wie<br />

Mark brauchen würde, ihn in handliche Streifen zu schneiden. Andererseits war die Dosis<br />

aber zu gering, um eine Atemlähmung herbei zu führen, was Muskelrelaxanzien im Allge-<br />

meinen taten. McLean würde also sein Ende bei vollem Bewusstsein erleben. Mark wartete<br />

noch einige Minuten, bevor er sich zum Haus hinüber schlich. Er versuchte erst gar nicht, ob<br />

die Haustür abgeschlossen war. Er schlich stattdessen um das Haus herum, bis er gefunden<br />

hatten, was er suchte. Eine Kellertür. Und die war nicht abgeschlossen! Vorsichtig schlüpfte<br />

Mark ins Haus und stieg sehr vorsichtig die Kellertreppe hoch. Behutsam öffnete er die Kel-<br />

lertür einen Spalt. Im Flur war nichts zu sehen. So huschte er weiter und fand die Küche und<br />

das Wohnzimmer, jedoch keinen Shawn. Weiter arbeitete er sich durch das Haus und endlich<br />

sah er das Opfer seiner Rachegelüste auf dem Bett im Schlafzimmer liegen. Mark grinste.<br />

Schnell zog er die Spritze aus dem Lederbeutel und machte sich gerade. Energisch trat er ins<br />

Schlafzimmer und sah befriedigt, wie sich McLeans Augen vor Entsetzen weiteten.<br />

„Sieh an, sieh an. Da hat doch aber wohl jemand mehr Glück als Verstand gehabt, was?“<br />

*****<br />

66) Eine böse Überraschung<br />

Auf die bösen Menschen ist Verlass, sie ändern sich wenigstens nicht.<br />

William Faulkner<br />

Am nächsten Morgen war Kelly zuerst wach. Leise stand sie auf, setzte Kaffee auf. Sie<br />

deckte den Frühstückstisch und setzte sich bei einer ersten Tasse Kaffee auf die Terrassenstu-<br />

fen zum See hinunter. Sie hatte kaum die Hälfte der Tasse leer, als Shawn zu ihr trat.<br />

„Morgen.“ Der Schauspieler setzte sich neben Kelly und zog sie an sich. Nach einem lei-<br />

denschaftlichen Kuss fragte er: „Auch so gut geschlafen wie ich? Bist du schon lange wach?“<br />

„Morgen, Babe. Ja und nein. Magst du Kaffee?“<br />

„Welche Frage. Natürlich. Aber bleib sitzen, ich hole mir eine Tasse.“<br />

790


„Dann füll meine doch bitte noch mal auf.“, bat Kelly und drückte dem jungen Mann ihre<br />

jetzt leere Tasse in die Hand. Beim Frühstück fragte sie: „Ich muss nach Alexandra, ein paar<br />

Kleinigkeiten besorgen. Willst du mit?“<br />

Shawn überlegte. Dann schüttelte er den Kopf. „Wenn ich an deinen PC darf würde ich<br />

gerne hier bleiben. Ich möchte ein paar Fotos bei google earth einstellen.“<br />

chen?“<br />

„Klar darfst du meinen PC benutzen. Bau mir nur keine Waschmaschine daraus, verspro-<br />

Shawn hob die rechte Hand und sagte feierlich: „Ich schwöre.“<br />

Sie frühstückten in Ruhe und schließlich meinte Shawn:<br />

„Mach dich ruhig gleich auf den Weg, ich räume hier schon auf. Umso schneller bist du<br />

wieder da.“<br />

„Ach, ich soll mich beeilen und du verschwindest einen ganzen Tag lang. Das nenne ich<br />

mal Gerechtigkeit.“ Sie erhob sich, gab Shawn noch einen innigen Kuss. „Ich werde mich<br />

beeilen, versprochen.“ Sie ging ins Haus, griff sich ihre Autoschlüssel und eine Handtasche<br />

und machte sich auf den Weg. Ihre Einkäufe hatte sie schnell erledigt und war nach einer<br />

Stunde bereits wieder auf dem Rückweg. In Eildon hielt sie noch am Supermarkt und kaufte<br />

einige Kleinigkeiten für Tiefkühltruhe und Kühlschrank. Gegen 12 Uhr erreichte sie ihr Haus<br />

und trug die Einkäufe in die Küche. Im Vorbeigehen zog sie die Zeitung aus dem Briefkasten.<br />

Sie nahm sie mit in die Küche und legte sie erst einmal achtlos auf den Tisch. Schnell räumte<br />

sie die Einkäufe weg und griff dann nach der Zeitung, um sie durchzusehen. Als sie auf das<br />

Titelblatt sah wurde ihr schlagartig kalt:<br />

Aufsehenerregender Entführungsfall gelöst?<br />

Das Rätsel um das spurlose Verschwinden eines jungen Mannes,<br />

welches im März Australien weit für Schlagzeilen sorgte, scheint nun gelöst<br />

zu sein. Der 31 jährige US Schauspieler Shawn McLean, der am 16.<br />

Januar dieses Jahres spurlos aus der Nobel Diskothek ‘Blue Oyster‘ in<br />

Mackay, Queensland, verschwand, wurde bereits vor Wochen aus einer<br />

Villa auf einer im Privatbesitz befindlichen Insel der Whitsunday Islands<br />

befreit. Dies wurde jetzt erst bekannt. McLean, von dem niemand annahm,<br />

dass er noch lebt, befindet sich seither in der Obhut der Traumatherapeutin<br />

Kelly Jackson. Die weltweit als Koryphäe auf dem Gebiet<br />

der Traumatherapie anerkannte Ärztin gilt bei Verbrechensopfern weltweit<br />

als Geheimtipp. Dass der Schauspieler sich zu ihr in Betreuung begeben<br />

hat, deutet auf ein während der Entführung erlittenes schweres<br />

Trauma hin.<br />

Jackson hat bereits für einige spektakuläre Verurteilungen von Entführern<br />

gesorgt. Ihre Therapieerfolge machen immer wieder Schlagzeilen.<br />

Zusammen mit einer Gruppe anerkannter Psychologen arbeitet die<br />

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ambitionierte Therapeutin immer wieder auch unentgeltlich für Opfer<br />

von Gewaltverbrechen. Die Gruppe, die gemeinsam eine spezielle Methode<br />

der Behandlung, die CLTT, Confidence and Long-term Trauma Therapy,<br />

entwickelt hat, wird öffentlich unterstützt und bekommt finanzielle<br />

Unterstützung unter anderem von den verschiedensten Ermittlungsbehörden<br />

weltweit. Wo Jackson sich mit ihrem Patienten aufhält, ist nicht<br />

bekannt.<br />

792<br />

Brisbane, 28.09.2007<br />

Kelly glaubte, nicht richtig zu sehen. Wie um alles in der Welt war die Info an die Presse<br />

gelangt? Blitzschnell überdachte sie die Situation. Wie sollte sie es Shawn beibringen, dass in<br />

der Zeitung zu lesen stand, dass er sich bei ihr aufhielt? Wo sie ihr Haus hatte, war nicht so<br />

schwer heraus zu finden. Carrie würde es sehr schnell in Erfahrung bringen können. Wenn<br />

Kelly die eiskalte Frau richtig einschätzte, durften sie in absehbarer Zeit mit liebem Besuch<br />

rechnen. Die junge Frau griff zum Telefon.<br />

„Lauren? Ich bin’s. Hast du schon einen Blick in ‘The Australian‘ geworfen?“<br />

Lauren war von der Frage überrascht. Sie suchte auf ihrem Schreibtisch nach der Zeitung.<br />

„Nein, ich war bis eben im Einsatz, warte ...“<br />

ße!“<br />

„Du brauchst nur auf die Titelseite zu schauen.“<br />

Einen Moment herrschte Schweigen, dann fluchte Lauren ungehalten: „Verdammte Schei-<br />

Kelly stieß ein frustriertes Lachen aus. „Du sagst es. In spätestens achtundvierzig Stunden<br />

weiß diese Carrie alles, was sie wissen muss.“<br />

„Ich werde dafür sorgen, dass ihr rund um die Uhr ...“<br />

Kelly unterbrach die Freundin nachdenklich. „Nein, Laurie, vergiss es. Ich habe eine bes-<br />

sere Idee. Komm nach Eildon, aber halte dich zurück. Ich komme klar. Eine bessere Chance,<br />

sie zu schnappen, werden wir nicht wieder kriegen. Es bricht mir zwar das Herz, Shawn als<br />

Lockvogel einzusetzen, aber ich werde zu verhindern wissen, dass ihm etwas geschieht.“<br />

Lauren wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit Kelly zu diskutieren. „Gut. Ich bin in ein<br />

paar Stunden in Eildon. Pass auf euch auf, Kelly, bitte.“<br />

Kelly klang entschlossen. „Das werde ich. Verlass dich drauf!“<br />

Sie legte auf und suchte dann nach Shawn. Im Haus fand sie ihn nicht, darum ging sie hin-<br />

aus in den Garten. Shawn lag in der Sonne und war offensichtlich eingedöst. Die Therapeutin<br />

seufzte. Die ganze Zeit unterwegs hatte er Angst gehabt, dass Carrie herausgefunden haben<br />

könnte, wo er sich aufhielt. Immer wieder hatte sie ihn beruhigen müssen, hatte ihm klar ge-<br />

macht, dass abgesehen von Lauren niemand wusste, dass er sich bei ihr aufhielt. Im Laufe der<br />

Zeit hatte der junge Mann sich wenigstens etwas sicherer gefühlt, wenn er auch in den größe-<br />

ren Städten noch voller Angst gewesen war. Der Zwischenfall in Perth mit Terry hatte ihn<br />

glücklicherweise nicht zurückgeworfen, sondern im Gegenteil gestärkt. Doch nun dies! Wo-


her die Zeitung die Info hatte war Kelly schleierhaft. Das war im Grunde auch egal. Es war<br />

nun bekannt und ihre Aufgabe, es Shawn schonend beizubringen. Abermals seufzte die junge<br />

Frau und sah bedrückt zu ihrem schlafenden Patienten hinüber. Sie ließ ihn weiter schlafen<br />

und ging hinter das Haus. Dort wucherte der Wald fast bis an das Haus heran. Kelly eilte bis<br />

zur Straße hoch und sah sich um. Plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte. So schnell wie<br />

möglich kehrte sie zum Haus zurück. In den nächsten drei, vier Tagen würde sicher noch kei-<br />

ne Gefahr drohen. Ab dann aber würde es kritisch werden, da war sich die Psychologin sicher.<br />

Carrie würde keine Zeit vergeuden, sie würde den lästigen Zeugen so schnell wie möglich<br />

zum Schweigen bringen wollen. In Gedanken bat sie Shawn um Verzeihung. Sie ging in ihr<br />

Büro und öffnete den Safe, den sie hinter einem Bücherregal hatte anbringen lassen. Dort be-<br />

wahrte sie eine Smith & Wesson 9 mm auf, mit der sie sehr gut umgehen konnte. Sie reinigte<br />

die Waffe und deponierte sie in ihrer Handtasche. Jetzt musste sie eine schwere Entscheidung<br />

treffen. Für den weiteren Verlauf der Therapie war es wichtig, dass Shawn das Vertrauen zu<br />

Kelly nicht verlor. Wenn sie ihn nun ohne sein Wissen der Gefahr aussetzte, dass Carrie mit<br />

Hilfe oder auch alleine hier auftauchen könnte, würde er jegliches Vertrauen verlieren, das<br />

war Kelly klar. Er würde sich von ihr zu Recht verraten fühlen. So entschied sie sich, ihn zu<br />

Informieren.<br />

Sie ging in den Garten hinaus, wo Shawn inzwischen aufgewacht war. Er sah Kelly kom-<br />

men und ein Lächeln breitete sich über seinem Gesicht aus.<br />

„Hey. Ich bin wohl eingeschlafen.“, meinte er etwas tranig.<br />

Kelly setzte sich zu ihm auf die Liege und gab ihm einen Kuss. Sie atmete tief durch. „Ja,<br />

das bist du. Macht doch nichts. Ich bin auch gerade erst zurück. Shawn, es gibt da etwas, das<br />

du wissen musst. Es wird nicht leicht für dich sein, aber du musst es wissen. Wenn ich es dir<br />

nicht sagen würde, hättest du jeden Grund, mir nicht mehr zu vertrauen.“<br />

Shawn saß angespannt da und sah Kelly nervös an. „Was ist denn?“, fragte er mit leicht<br />

zitternder Stimme.<br />

Kelly seufzte unglücklich. „Hör zu, Babe, heute steht ein Bericht über deine Befreiung in<br />

der Zeitung. Und darüber, dass du dich bei mir aufhältst. Sie wissen nicht, wo wir sind, aber<br />

sie wissen, dass du lebend gefunden wurdest und bei mir bist.“<br />

Shawn wurde leichenblass. So gewaltig seine Fortschritte auch waren, die Vorstellung,<br />

dass Carrie schnell heraus finden würde, wo er sich aufhielt war doch zu viel für den Schau-<br />

spieler. Er fing an, unkontrolliert zu zittern.<br />

„Was?“<br />

Kelly griff nach seinen Händen und hielt diese fest. Beruhigend erklärte sie: „Shawn, ich<br />

habe dir versprochen, dass dir hier bei mir nichts geschieht. Ich halte meine Versprechen. Bit-<br />

te, du musst einfach all deinen Mut zusammen nehmen und ruhig bleiben. Ich lasse nicht zu,<br />

dass dir etwas passiert!“<br />

793


Shawn schüttelte panisch den Kopf. „Wenn sie erfährt, dass ich bei dir bin, wird sie<br />

schnell rausfinden, wo wir sind. Sie wird es rausfinden, Kelly, wenn sie es bisher noch nicht<br />

hat, und her kommen, um ihr Werk zu vollenden.“ Sein Herz raste. Nackte Angst hielt ihn<br />

umklammert. Carrie würde ihn finden, da war er ganz sicher. Er musste hier weg, sofort. „Wir<br />

müssen hier verschwinden, Kelly. Ich muss hier weg. Sofort!“<br />

„Shawn. Ich werde auf dich aufpassen! Das habe ich doch bisher immer getan. Niemand<br />

wird dir etwas antun. Bitte, du vertraust mir doch. Das musst du in dieser Situation erst Recht<br />

tun.“<br />

Vollkommen hoffnungslos sah Shawn Kelly an. „Sie wird mich umbringen ...“, flüsterte er<br />

verzweifelt.<br />

„Das wird sie nicht schaffen. Wenn sie wirklich hier auftaucht, was ich bezweifle, bin ich<br />

da und werde die Dame und ihren möglichen Anhang empfangen. Sie wird dir nichts tun. Ich<br />

schwöre es dir.“, erklärte Kelly eindringlich.<br />

es?“<br />

Minutenlang kämpfte Shawn mit sich, dann fragte er mit zitternder Stimme: „Du schwörst<br />

„Ich schwöre es!“ Kelly sah, dass Shawn dabei war, seine Todesangst zu überwinden. Sie<br />

ließ ihn in Frieden, drängte ihn nicht. Wenn er darauf bestehen würde, hier zu verschwinden,<br />

würde sie sich nach ihm richten. Aber Kelly hoffe so sehr, dass er sich fürs Bleiben entschei-<br />

den würde. Und nach Minuten des Schweigens, in denen es in Shawns Gesicht heftig arbeite-<br />

te, flüsterte er resigniert:<br />

„Okay. Okay, wir bleiben. Kelly, bitte, du musst mir helfen ...“<br />

Kelly atmete innerlich auf. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. „Natürlich, Honey.“<br />

*****<br />

Die nächsten Tage nutzte Kelly mit allen Mitteln, Shawn wieder ein wenig aufzubauen.<br />

Sie ließ ihn abends nicht von den Ereignissen bei Carrie erzählen, sondern führte lange Ge-<br />

spräche mit dem jungen Mann, um sein Selbstvertrauen, das durch die Zeitungsmeldung wie-<br />

der stark angeschlagen war, zu stärken. Am Morgen des fünften Tages sagte sie beim Früh-<br />

stück wie nebenbei:<br />

„Shawn, ich muss nachher kurz in die Stadt, ich wurde gebeten, eine Expertise zu erstellen<br />

in einem Fall der Polizei Melbourne. Meinst du, du kommst eine Weile alleine klar?“<br />

Shawn sah Kelly bestürzt an. „Was? Gerade jetzt? Oh Gott. Ich hoffe ... Beeil dich aber<br />

bitte, ja?“<br />

„Selbstverständlich. Ich mache mich gleich auf den Weg, dann bin ich am frühen Nach-<br />

mittag wieder hier.“<br />

794


Angespannt nickte Shawn. Kelly ging ins Haus, holte ihre Handtasche und verabschiedete<br />

sich mit einem leidenschaftlichen Kuss bei Shawn. „Bis nachher. Ich beeile mich, das ver-<br />

spreche ich dir. Später als 14 Uhr wird es nicht werden.“<br />

Sie stieg in ihren Wagen und hupte wie zum Abschied beim losfahren, um die Aufmerk-<br />

samkeit eventueller Beobachter auf sich zu lenken. Sie fuhr vom Grundstück und machte sich<br />

auf den Weg nach Eildon. Kelly behielt die Umgebung sehr genau im Auge, doch ihr fiel kein<br />

unbekannter Wagen oder etwas anderes Fremdes auf. Aber das wollte nichts heißen. Wenn<br />

Carrie heute nicht kam, würde Kelly in den nächsten Tagen öfter eine Ausrede finden, Shawn<br />

immer wieder für einige Zeit alleine lassen zu müssen. Doch sie hatte nicht wirklich das Ge-<br />

fühl, dass Carrie sich viel Zeit lassen würde, den unangenehmen Zeugen ein für alle Mal los-<br />

zuwerden. Kelly fuhr seelenruhig bis zu einer Kurve, die schlecht einsehbar war. Dort verließ<br />

sie die Straße, lenkte den Wagen ein kleines Stück in den Wald hinein und stieg aus. Sie griff<br />

sich ihre Waffe und machte sich zu Fuß auf den Weg zurück zu ihrem Haus. Schon zwanzig<br />

Minuten später hatte sie es erreicht und ging im Gebüsch in Deckung.<br />

*****<br />

Shawn hatte Kelly nervös hinterher geschaut, als sie davon brauste. Paranoid sah er sich<br />

um, rannte fast ins Haus und schloss die Haustür ab. Er tigerte eine Weile angespannt im<br />

Wohnzimmer hin und her, dann fluchte er ungehalten los.<br />

„Verdammter Scheiß! Reiß dich mal zusammen, McLean.“ Ärgerlich ging er ins Schlaf-<br />

zimmer, griff sich ein Buch, in dem er gelesen hatte, und legte sich gemütlich aufs Bett. Er<br />

versuchte, sich auf das Buch zu konzentrieren, doch richtig gelingen wollte ihm dies nicht.<br />

Irgendwann döste er ein. Und glaubte sich in einem Alptraum gefangen, als er plötzlich von<br />

einer kalten Stimme geweckt wurde.<br />

„Sieh an, sieh an. Da hat doch aber wohl jemand mehr Glück als Verstand gehabt, was?“<br />

Keuchend vor Entsetzen schoss Shawn in die Höhe. „Alan ...“<br />

Eine eisige Faust ballte sich sekundenschnell in seinem Magen und sein Herz raste, als<br />

wollte es jeden Moment zerspringen. Der Riese grinste.<br />

„Aber, aber, Sklave, hast du alles vergessen, was Carrie dir beigebracht hat?“<br />

Mark trat blitzschnell an das Bett heran und packte Shawn brutal mit einem geübten Griff<br />

zwischen die Beine. „Na los, kleine Hure, mach die Beine breit.“, herrschte Mark den zittern-<br />

den jungen Mann kalt an.<br />

Vor Schmerzen aufkeuchend und angsterfüllt spreizte Shawn die Beine. Tränen schossen<br />

ihm in die Augen.<br />

„Du hast uns verraten, Sklave. Ist dir eigentlich klar, was man mit Verrätern macht?“,<br />

fragte der muskelbepackte Mann kalt lächelnd.<br />

795


Mit dem Mut der Verzweiflung wollte Shawn hoch schießen, doch Mark war darauf vor-<br />

bereitet. Er hielt plötzlich eine Spritze in der Hand und bevor Shawn überhaupt wusste, was<br />

los war, hatte er ihm diese bereits in den Oberschenkel gestochen.<br />

Sekunden später schon spürte Shawn das vertraute Gefühl, dass er während der Gefangen-<br />

schaft mehrfach hatte erleben müssen: Seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr und gleich<br />

darauf konnte er keinen Finger mehr rühren. In panischem Entsetzen waren seine Augen auf-<br />

gerissen und Tränen stürzten ihm über die blassen Wangen. Mark griff ihm erneut in den<br />

Schritt und quetschte seine Hoden schmerzhaft zusammen. Shawn entwich ein gequälter Auf-<br />

schrei. Und der Riese grinste gemein. Er zog ein großes Jagdmesser aus der Scheide am Gür-<br />

tel. Shawns Herz hämmerte wie wild in seiner Brust, Todesangst überrollte ihn wie eine La-<br />

wine.<br />

„Ich werde dich ganz langsam in Streifen schneiden, du Penner. Carrie soll zufrieden sein.<br />

Und wenn deine kleine Psychologen-Bitch nach Hause kommt, mache ich mit ihr das Gleiche.<br />

Es wird aussehen, als hätte Jack the Ripper sich an euch ausgetobt. Und es wird lange dauern,<br />

das kann ich dir versprechen.“<br />

Shawn wimmerte vor Angst auf. Mark wollte gerade kalt grinsend das Messer an Shawns<br />

Hemd ansetzen, um ihm dies vom Körper zu schneiden, als er hinter sich eine ruhige, sachli-<br />

che Stimme vernahm.<br />

„Ihr seid doch letztlich alle gleich dumm.“<br />

Erschrocken wirbelte der Mann herum. Schnell fing er sich jedoch und meinte ironisch:<br />

„Du musst doch wohl seine große Beschützerin sein, was? Na, dann schau eben zu, wie ich<br />

deinem Patienten ein qualvolles Ende bereite.“ Mark wollte sich tatsächlich wieder zu Shawn<br />

herumdrehen, wohl davon ausgehend, dass die Psychologin mit ihren kaum 60 Kilo keine<br />

ernst zu nehmende Gefahr für ihn darstellte, als die kalte Stimme der jungen Frau ihn zurück-<br />

hielt.<br />

„Wenn du auch nur falsch in Shawns Richtung zuckst, werde ich dir eine Kugel in den<br />

Kopf jagen.“<br />

Mark war bei Kellys Worten unmerklich zusammen gezuckt. Doch erneut fing er sich. Er<br />

sah langsam zu Kelly hinüber und grinste, als er die Waffe in Kellys Hand sah. „Du fühlst<br />

dich gerade wie King Kong, nehme ich mal an. Das bist du aber nicht, Puppe. Klar, du Herz-<br />

chen würdest auch gerade auf mich schießen.“, meinte Mark gemein.<br />

Langsam stand er auf und kam mit dem Messer in der Hand lauernd auf Kelly zu. Mit der<br />

Psychologin würde er spielend leicht fertig werden, davon war der Mann überzeugt. Er war<br />

40 Zentimeter größer und wog das Doppelte, diese junge Frau konnte ihm nicht gefährlich<br />

werden. Shawn war ja keine Bedrohung, um den würde er sich gleich kümmern. Erst einmal<br />

796


würde er diese nervende kleine Schlampte dort aus dem Weg räumen. Vorsichtig, dass Messer<br />

angriffsbereit in der Hand, kam Mark auf Kelly zu. Die warnte:<br />

„Noch einen Schritt, und du wirst auf die harte Tour lernen, dass ich nicht bluffe.“<br />

Shawn lag, nicht nur durch die Spritze gelähmt, starr auf dem Bett. Er war sicher, Mark<br />

würde als Sieger aus der Sache hervor gehen. Er konnte sich in seiner Panik einfach nicht<br />

vorstellen, dass Kelly auf einen Menschen würde schießen können. Todesangst hielt sein Herz<br />

umklammert. Er konnte ja nicht einmal den Kopf heben, um zu sehen, was vor sich ging.<br />

Mark grinste siegessicher und hob das Messer. Blitzschnell für seine gewaltige Statur griff er<br />

Kelly an. Shawn schrie vor Angst auf. Und dann knallten zwei Schüsse schnell hintereinander<br />

und Marks Schmerzensschrei hallte durch den Raum. Schwer stürzte der Kerl zu Boden und<br />

hielt sich wimmernd sowohl die rechte als auch die linke Schulter. Die Psychologin war auf<br />

Nummer sicher gegangen! Kelly griff in die Schublade der kleinen Anrichte, die neben ihr an<br />

der Wand stand und holte dort die Handfesseln heraus, die sie und Shawn ganz am Anfang<br />

der Therapie für ihre Übungen benutzt hatten. Keuchend vor Anstrengung drehte sie den ver-<br />

letzten Mann auf den Bauch und Sekunden später bereits lag dieser mit auf den Rücken gefes-<br />

selten Händen, wimmernd vor Schmerzen auf dem Boden. Kelly griff sich ihr Handy und<br />

wählte Laurens Nummer.<br />

„Ich bin es. Ich hatte Recht, ihr könnt hier jemanden einsammeln. Leider nicht Carrie, aber<br />

der Fang ist auch nicht schlecht. Bringt einen Notarzt mit und beeilt euch nicht zu sehr.“<br />

Sie drückte das Gespräch weg und rannte in ihr Büro. Hier griff sie eine Einwegspitze aus<br />

dem Medikamentenschrank, wühlte kurz in ihren hier aufbewahrten Medikamenten herum<br />

und zog eine Flasche mit einem Mittel hervor, welches das Muskelrelaxan, das Mark/Alan<br />

Shawn gespritzt hatte, neutralisieren würde. Sie zog die Spritze damit auf und hetzte zu<br />

Shawn zurück, der krampfhaft schluchzend immer noch bewegungsunfähig auf dem Bett lag.<br />

Sie gab ihm die Spritze und so schnell, wie er sich hatte nicht mehr bewegen können, so<br />

schnell ließ die Wirkung des Mittels nun nach. Zwei Minuten später bereits klammerte Shawn<br />

sich zitternd und weinend an Kelly, und diese strich ihm beruhigend über den zuckenden Rü-<br />

cken.<br />

„Es ist alles gut, Schatz, beruhige dich. Ich habe dir geschworen, dass dir nichts geschehen<br />

wird, schon vergessen? Ich bin jetzt bei dir. Der Dreckskerl da kann dir nichts mehr tun, nie<br />

wieder.“<br />

Kelly redete weiter auf Shawn ein und irgendwann merkte sie, dass er sich etwas beruhig-<br />

te. Sie hörten draußen vor dem Haus Wagen vorfahren. Sekunden später schon kam Lauren in<br />

den Raum geeilt.<br />

„Nehmt dieses Stück Dreck und schafft es mir aus den Augen bevor ich ihn doch noch<br />

umbringe.“, stieß Kelly hasserfüllt hervor. Ohne Shawn loszulassen, ohne sich überhaupt her-<br />

um zu drehen. Lauren griff kommentarlos zusammen mit einem Kollegen nach Mark und zog<br />

797


diesen rücksichtslos auf die Füße. Aufkeuchend vor Schmerzen wurde der Riese aus dem<br />

Haus gezerrt und Lauren kam noch einmal zurück.<br />

okay.“<br />

„Ist alles klar bei euch?“<br />

Wieder ohne sich umzudrehen erklärte Kelly: „Ja, wir kommen klar. Ich melde mich,<br />

Lauren nickte nur und verließ hastig das Zimmer. Sie wollte Kelly nicht stören.<br />

Diese widmete bereits wieder ihre ganze Aufmerksamkeit Shawn. Sie hielt ihn fest, gab<br />

ihm Sicherheit mit ihrer Umarmung und schließlich stieß er leise hervor:<br />

„Woher wusstest du es?“<br />

Kelly drückte den jungen Mann sanft in die Waagerechte und legte sich zu ihm, ließ ihn<br />

sich an sie kuscheln und erklärte ruhig:<br />

„Weißt du, ich habe mit solchen Subjekten schon so oft zu tun gehabt, letztlich sind sie<br />

sich alle ähnlich. Ich wusste, dass Carrie herkommen würde oder einen ihrer Helfer schicken<br />

würde, um den einzigen Menschen, der sie identifizieren könnte, aus dem Weg zu räumen.<br />

Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, dass ich ein kleines Risiko eingehen musste. Ich war nur<br />

knapp zwanzig Minuten weg, so lange brauchte ich, um durch den Wald zum Haus zurückzu-<br />

kommen. Wäre heute niemand gekommen, hätte ich es wieder versucht. Ich konnte dich nicht<br />

darüber aufklären, verstehst du das? Wenn du es gewusst hättest, du hättest nicht die Kraft<br />

aufgebracht, alleine hier zu bleiben. Aber anders konnte ich sie nicht hervor locken.“<br />

Shawn hatte zugehört und nickte zögernd. „Ist klar. Du hast tatsächlich geschossen.“<br />

„Ich würde für dich töten, Shawn. Ich habe eine Sekunde darüber nachgedacht, auf den<br />

Kopf, nicht auf die Schultern zu zielen.“ Sie sah ihn an, sein Gesicht war ihrem so nahe, dass<br />

sie seinen Atem spürte. Und sie sah in seinen Augen nur ruhiges Vertrauen, keinen Vorwurf,<br />

keine Angst mehr. Wie ferngesteuert beugte sie sich zu ihm und dann berührten ihre Lippen<br />

seine. Er zog sie an sich und erwiderte den Kuss, leidenschaftlich, geradezu verzweifelt.<br />

Seine Hände glitten unter ihre Bluse und strichen über ihre weiche Haut. Schwer atmend<br />

streifte er ihr die Bluse über den Kopf. Kelly war überrascht, doch sie zögerte nicht, auf diese<br />

unerwartete Reaktion einzugehen. Sie ließ ihre eigenen Hände unter Shawns Hemd gleiten<br />

und liebkoste seine Brust, seinen flachen Bauch. Er seufzte wohlig und Kelly wagte mehr.<br />

Langsam begann sie, ihm das Hemd aufzuknöpfen. Er atmete heftig, doch die Psychologin<br />

wusste, es war vor Erregung, nicht vor Angst. Sie drückte das geöffnete Hemd zu den Seiten<br />

weg und ließ ihre Hände jetzt ungehindert über Shawns ebenmäßige, warme, braun gebrannte<br />

Haut gleiten. Kurz zuckte ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie ihm am liebsten die Klei-<br />

der vom Leib gerissen hätte, um schneller Zugang zu seinem Körper zu bekommen. Unwill-<br />

kürlich huschte ein Grinsen über ihr Gesicht.<br />

798


- Reiß dich mal zusammen, Tante! - schalt sie sich selbst. Sie beugte sich über den Schau-<br />

spieler und ließ ihre Lippen und ihre Zunge über seine Brust gleiten. Immer wieder küsste sie<br />

ihn, liebkoste aber auch seine Brust weiter. Endlich stöhnte der junge Mann vor Erregung auf<br />

und Kelly widmete ihre Aufmerksamkeit nun allmählich seinem Unterleib. Betont langsam<br />

öffneten ihre Finger seine Jeans. Dann streifte sie ihm diese ebenso langsam herunter. Shawn<br />

half, in dem er seinen Unterleib in die Höhe drückte. Dass Kelly seine Boxershorts nicht<br />

gleich mit abstreifte ließ ihn unwillkürlich abermals leise aufstöhnen. Er wollte, dass sie ihn<br />

stimulierte, wollte, dass sie ihn berührte! Doch Kelly ließ sich weiter Zeit. Sie wollte Shawn<br />

nicht durch überstürztes Handeln verunsichern.<br />

Als sie die Jeans endlich herunter gestreift hatte, widmete sie sich bewusst erst einmal er-<br />

neut seinem Oberkörper. Shawn wand sich inzwischen auf der Matratze, seine Hände krallten<br />

sich um zwei Bettstreben. Er drückte stöhnend den Kopf in den Nacken und wartete mit ge-<br />

schlossenen Augen auf mehr. Lächelnd setzte Kelly sich auf und entledigte sich ihrer letzten<br />

Kleidungsstücke. Shawn öffnete kurz die Augen. Seine Zunge huschte über seine Lippen und<br />

er warf Kelly einen flehenden Blick zu. Diese beugte sich über ihn und nahm ihre verhei-<br />

ßungsvolle Tätigkeit wieder auf. Noch immer ignorierte sie seinen Unterleib und schließlich<br />

konnte der Schauspieler nicht mehr an sich halten.<br />

„Bitte, Kelly! Wenn du nicht gleich ... Dann beiß ich dich.“<br />

Kelly lachte leise. Und tat ihm endlich den Gefallen. Ihre Hand glitt zärtlich an seinem<br />

Körper hinab und näherte sich quälend langsam dem Ziel seines derzeitigen Denkens. Erst<br />

einmal fuhr sie nur über die Boxershorts und streichelte ihn so. So zart, dass es Shawn vor<br />

Erregung fast zerriss. Der Gedanke an die Gefangenschaft, wenn Carrie sich einen Spaß da-<br />

raus gemacht hatte, ihn gefesselt immer wieder bis unmittelbar vor den Orgasmus zu reizen,<br />

um dann im letzten Moment abzubrechen, durchzuckte ihn kurz. Nach dem dritten, vierten<br />

Abbruch wurde diese Methode der Kontrolle qualvoll für den betroffenen Mann. Doch so<br />

schnell wie der Gedanke gekommen war verschwand er auch wieder und machte dem absolut<br />

bestimmten Bewusstsein Platz, nirgendwo besser und sicherer aufgehoben zu sein als in Kel-<br />

lys Händen.<br />

Kelly spürte ganz kurz, dass Shawn sich verkrampfte. Aber sofort wurde er wieder locker.<br />

Sie wusste, ihn hatte für ein paar Sekunden die Erinnerung an Carrie gepackt. Da er jedoch<br />

ohne weiteres wieder entspannte ging sie nicht darauf ein. Einen Moment lang ließ sie ihre<br />

Finger noch auf den Shorts. Shawn atmete abgehackt und drückte seinen Unterleib ihrer Hand<br />

entgegen. Endlich gab sie seinem Drängen nach. Ihre Hände glitten an das Bündchen der<br />

Shorts und sie schob diesen nach unten. Erleichtert gab Shawn dem Kleidungsstück mit dem<br />

Fuß Schwung und es fiel zu Boden. Einen Augenblick nahm Kelly sich die Zeit, Shawn ein-<br />

fach nur anzuschauen. Der Schauspieler schien das zu spüren, denn er öffnete die Augen und<br />

799


wurde leicht rot. Verlegen wusste er nicht wohin mit seinem Blick. Doch auch dieses Unbe-<br />

hagen verflog schnell. Kelly musterte ihn nicht wie ein Stück Fleisch, wie Carrie und ihre<br />

Helfer es getan hatten. Sie überlegte nicht, welche Körperregionen sich für schmerzhafte Fol-<br />

ter am besten eigneten. In den Augen der Psychologin lag ein solch starker Ausdruck von<br />

Liebe, dass Shawn ganz warm wurde. Als er sah, dass sie die Hand in Richtung seines Unter-<br />

leibs bewegte, schloss er die Augen wieder, um den Moment voll auszukosten. In diesem<br />

Punkt hatte Carrie absolut Recht gehabt, wenn die Augen geschlossen waren fühlte man viel<br />

intensiver.<br />

Der Schauspieler zuckte keuchend zusammen, als Kellys Hand sich um seinen erigierten<br />

Penis schloss und diesen sanft und doch fordernd massierte. Er war bereit! Doch Kelly stimu-<br />

lierte ihn noch eine Weile weiter, bis sie spürte, dass er nicht viel länger würde stillhalten<br />

können. Kurz setzte sie sich auf und ließ sich endlich quälend langsam auf ihn gleiten. Seuf-<br />

zend vor Erregung zuckte er ihr entgegen. Dass sie völlig still saß machte ihn verrückt. Er<br />

bewegte sich dafür umso mehr. Schließlich konnte er nicht mehr an sich halten, griff nach<br />

Kelly und rollte sich mit ihr im Arm schwungvoll herum. So lag er nun oben. Kellys Beine<br />

schlossen sich um ihn und pressten den Schauspieler fest an sich. Ihre Bewegungen wurden<br />

schneller und fordernder und obwohl Shawn noch versuchte, sich zurückzuhalten, keuchte er<br />

schließlich:<br />

„Oh Gott ... Ich liebe dich ...“<br />

Sein Gesicht presste sich in Kellys langen Haaren und mit einem leidenschaftlichen Stöh-<br />

nen kam er fast zeitgleich mit Kelly zum ersehnten Orgasmus. Das Gesicht noch tief in Kellys<br />

Mähne vergraben keuchte er: „Ich liebe dich ... so sehr. Du bist unglaublich. Ich war so si-<br />

cher, nie wieder ... Erregung zu empfinden und jetzt schaffst du es spielend, mich völlig wil-<br />

lenlos zu machen. Gott, ich bin dir so dankbar!“<br />

Kelly schossen Tränen der Rührung in die Augen. Noch schwer atmend erwiderte sie: „Du<br />

machst dir ja keine Vorstellung, wie sehr ich mich freue, dass ich dich eines Besseren beleh-<br />

ren konnte. Es fällt mir so unglaublich schwer, dich nicht ständig zu berühren, zu streicheln,<br />

zu liebkosen, dir meine Liebe auch körperlich zu zeigen. Du hast so einen wundervollen Kör-<br />

per und es ist so schön, dir durch liebevolle Berührungen positive Empfindungen zu bereiten.<br />

Ich liebe es, zu sehen wie du bei sanften, liebevollen Berührungen weich wirst, alles vergisst,<br />

was man dir angetan hat.“<br />

Shawn hob den Kopf und sah Kelly in die Augen. „So was Ähnliches hat Carrie auch ge-<br />

sagt. - Ich liebe es, zu sehen wie du dich in Qualen windest -“ Er ließ sich ein Stück zur Seite<br />

gleiten, sodass er nun neben Kelly lag.<br />

„Das ist vorbei. Die einzigen Qualen, die du noch empfinden wirst sind die, manchmal ein<br />

klein wenig warten zu müssen, bis ich dich von deiner Erregung erlöse.“<br />

800


„Darauf warte ich gerne mal. Es war wunderschön eben ... Wie kommt es nur, dass ich<br />

jeweils nach schrecklichen Situationen ... Erst bei Terry und jetzt ...“ Er verstummte be-<br />

schämt. Kelly lächelte.<br />

„Das ist normal. Nach gefährlichen, schrecklichen Situationen ist unser Bedürfnis nach<br />

Liebe und Harmonie so groß, dass wir Menschen dann dazu neigen, uns nach Sex zu sehnen.<br />

Wenn eine solche Situation bereinigt ist müssen wir nicht mehr Kämpfen oder Fliehen. Der<br />

Adrenalinpegel sinkt aber nicht so schnell, die Energie davon steckt noch in jeder unserer<br />

Nervenbahnen und sucht nach einem Ventil. Und da kommt Sex genau richtig. Ist also nichts<br />

Verwerfliches oder etwas, dessen wir uns schämen müssten.“<br />

„Hm ... Dann sollten wir Alan oder Carrie öfter mal einladen, was meinst du? Wenn es<br />

hinterher jedes Mal so wunderschön wird.“<br />

Er rollte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Leise meinte er:<br />

„Als Alan ... vorhin ... Ich war eingedöst, habe ihn nicht kommen hören. Er stand wie aus<br />

den Wolken gefallen plötzlich neben mir und ... Er packte mir in den Schritt und quetschte<br />

meine Eier und ich war gleich wieder ... Er befahl mir, die Beine zu spreizen und ich gehorch-<br />

te sofort. Doch dann spürte ich, wie sich in mir Wut und Widerstandswillen aufbaute. Er<br />

schien das auch zu spüren, denn bevor ich noch hoch schießen konnte hatte er mir schon die<br />

verfluchte Spritze mit diesem Scheißzeug in den Oberschenkel gerammt. Und wie schnell der<br />

Mist wirkt, habe ich bei denen mehrfach zu spüren bekommen. Man kann sich in Sekunden-<br />

schnelle nicht mehr rühren. Als er mir verkündete, dass er mich nun in Streifen schneiden<br />

würde ... Oh man, da war sie da, die Todesangst.“<br />

Kelly war froh, dass Shawn von sich aus anfing, darüber zu sprechen. Sie rollte sich auf<br />

die Seite und kuschelte sich eng an seinen warmen Körper. Liebevoll sagte sie:<br />

„Na hör mal, wer hätte die wohl nicht gehabt. Bewegungsunfähig vor einem zu allem fä-<br />

higen Psychopathen zu liegen ist ja wohl ein ausreichender Grund, Todesangst zu empfinden.<br />

Wenn Carrie auch die Anführerin war, so ist Alan doch auch extrem gefährlich, weil er bereit<br />

ist, alles für Carrie ... lass sie uns bei ihrem richtigen Namen nennen, Ellen, okay, alles für sie<br />

zu tun. Sie sprengt wirklich den Rahmen. Sie hat so dermaßen viel Macht über ihre Mitstrei-<br />

ter, dass Mark bereit war, für sie aktiv zu Morden.“ Kelly lachte. „Das ist bei manchen Psy-<br />

chopathen das Gute. Sie können sich nicht vorstellen, dass jemand imstande ist, ihnen zu wi-<br />

derstehen. Ellen hat sich wirklich eingebildet, wenn Mark ein wenig mit dem Messer vor<br />

meiner Nase herum wedelt, würde das reichen, um mich wehrlos vor Angst zu machen. Das<br />

ist es, was sie von ihren Opfern gewohnt waren: völlig hilflos vor Angst zu sein.“ Sie machte<br />

eine kleine Pause, dann fuhr sie fort: „Ich musste mich eben wirklich zwingen, Mark nur an-<br />

zuschießen, wirklich zwingen! Alles in mir hat danach geschrien, ihm eine Kugel in den<br />

Schädel zu jagen. Vermutlich hätte Lauren es sogar zu einem Fall von Notwehr gemacht.“<br />

801


Shawns Hand spielte mit Kellys Haaren. Zögernd fragte er: „Was hat dich letztlich abge-<br />

halten?“<br />

„Das kann ich dir sagen. Es wäre Mord gewesen. Und weder du noch ich hätten auf Dau-<br />

er damit leben können, auch, wenn es uns heute noch gerechtfertigt erscheint. Außerdem sol-<br />

len sie alle vor Gericht gestellt und dort zum Tode verurteilt werden! All ihre Opfer sollen zu<br />

ihrem Recht kommen, nicht nur wir.“<br />

Der Schauspieler prustete angespannt. „Aber zum Tode können sie hier doch nicht verur-<br />

teilt werden, oder?“<br />

„Nein, in Australien wurde die Todesstrafe 1985 endgültig abgeschafft. Aber die meisten<br />

Morde, nämlich drei, hat sie in den Vereinigten Staaten begangen und zwei davon in Staaten,<br />

die die Todesstrafe praktizieren. Texas und Kalifornien. Wenn wir also Glück haben, werden<br />

sie dorthin ausgeliefert und dort auch verurteilt.“<br />

Der Schauspieler stieß ein kurzes Lachen aus. „Weißt du, ich war eigentlich nie ein Be-<br />

fürworter der Todesstrafe. Aber in diesem Fall ... Ich wünsche mir so sehr, dass sie alle für<br />

das, was sie mir und all ihren anderen Opfern angetan haben, irgendwann hingerichtet wer-<br />

den. Ist das ... schlimm? Weil, irgendwie ist das ja nichts weiter als der Wunsch nach Rache.“<br />

Kelly gab dem jungen Mann einen Kuss. „Das ist nur zu menschlich, Honey. Man möchte<br />

das gute Werk am liebsten selbst tun.“ Sie ließ ihre Finger zart über Shawns Brust gleiten,<br />

spürte die Muskeln und die Wärme der Haut. Sie musste an sich halten, um die Hand nicht<br />

tiefer gleiten zu lassen. Liebevoll fragte sie: „Wie ist es, wollen wir nach der ganzen Aufre-<br />

gung ein wenig spazieren gehen? Frische Luft wird uns gut tun. Du musst das erst mal verar-<br />

beiten.“<br />

Shawn hielt ihre Hand fest und seufzte. „Ja, wäre vielleicht nicht schlecht, hier raus zu<br />

kommen. Es ist, als könne er jeden Moment wieder rein kommen. Ein Spaziergang wäre wohl<br />

wirklich gut, um den Kopf frei zu bekommen.“<br />

*****<br />

67) Auf nach Sydney<br />

Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern da wo man<br />

verstanden wird.<br />

Christian Morgenstern<br />

Es regnete schon den ganzen Vormittag. Zwei Tage waren nun vergangen seit Marks auf-<br />

tauchen. Kelly hatte sich ausführlich mit Lauren unterhalten und ansonsten die Zeit gebraucht,<br />

um Shawn wieder aufzurichten. Erstaunlicherweise hatte er den Vorfall jedoch ziemlich gut<br />

802


weggesteckt. Als sie am Morgen dieses dritten Tages aufgewacht waren, hatte draußen ein<br />

heftiges Gewitter getobt. Dieses hatte sich verzogen und dabei den Regen zurückgelassen.<br />

„Ist lange her, dass ich Regen gesehen habe.“, grinste der Schauspieler. „Schickst du mich<br />

auch bei diesem Mistwetter vor die Tür?“<br />

„Nein, Honey, keine Bange. Da würdest du mir ja glatt ertrinken.“ Sie sah gedankenverlo-<br />

ren in den Garten hinaus. „Was hältst du davon, wenn wir einfach zusammenpacken und nach<br />

Sydney fahren? Es sind zirka 600 Kilometer, dass schaffen wir locker. Dann könnte ich dir<br />

die Stadt zeigen und wir hätten mehr Möglichkeiten für die Entwöhnung.“<br />

„Ja, warum nicht. Es ist noch früh, 600 Kilometer schaffen wir bis zum frühen Abend.<br />

Und ich würde Sydney gerne näher kennenlernen. Gut, lass es uns machen!“<br />

Entschlossen packten sie also zusammen und waren gegen 10 Uhr startklar. Kelly ging<br />

noch einmal durchs ganze Haus, um sicher zu sein, nichts vergessen zu haben. Sie hatte ihrer<br />

Haushälterin Bescheid gegeben und so konnten sie los fahren. Kelly klemmte sich hinters<br />

Steuer. Sie fuhr bis Alexandra und von dort gelangten sie auf der B340 und etwas später auf<br />

der C516 bis kurz vor Yarck. Hier vereinte sich die C516 mit dem Maroondah Highway. Der<br />

Maroondah Highway führte erst durch hügeliges, bewaldetes Bergland und später an Weide-<br />

flächen und Äckern vorbei nach Benalla.<br />

Hier stießen sie gegen 12 Uhr auf die M31, den Hume Freeway. Auf diesem kamen sie<br />

sehr viel schneller voran. Als sie kurz nach 13 Uhr die Ortschaft Albury erreichten, schlug<br />

Kelly vor, eine Kaffeepause einzulegen.<br />

„Das ist eine gute Idee. Ich habe ziemlichen Hunger. Und Kaffee, hey, du weiß, dass ich<br />

den immer vertrage.“<br />

So steuerte Kelly die Ausfahrt an und Minuten später hatten sie ein Burger Restaurant ge-<br />

funden. Sie bestellten sich einen Cheeseburger und jeder einen großen Becher Kaffee dazu.<br />

Sie beeilten sich mit dem Essen und waren kaum zwanzig Minuten später schon wieder auf<br />

dem Freeway. Shawn sah eine Weile aus dem Fenster, doch nachdem es nur durch Weide-<br />

und Ackerland ging fielen ihm schließlich gelangweilt die Augen zu.<br />

„Na, du bist mir ein Herzchen.“, flüsterte Kelly vergnügt. Sie konnte allein sehen, wie sie<br />

wach blieb. Doch sie ließ den Schauspieler schlafen. Er hatte immer noch viel nachzuholen.<br />

Gerade die letzten zwei Nächte waren wieder von Albträumen durchsetzt gewesen. Erst kurz<br />

hinter Goulburn, einer zirka 20.000 Einwohner zählenden Stadt gute 300 Kilometer nordöst-<br />

lich von Albury, weckte Kelly den jungen Mann liebevoll.<br />

„Du wirst heute Nacht sonst nicht schlafen können, Hon.“<br />

Shawn streckte sich ächzend. „Ja, du hast Recht. Sorry, habe ich lange geschlafen?“, frag-<br />

te er verschämt.<br />

„Ja, das kann man so sagen. Es ist halb 5 Uhr durch.“<br />

„Upps. Naja, die Landschaft ist so unglaublich abwechslungsreich.“<br />

803


„Das wird sich in ungefähr 80 Kilometern ändern. Dann geht es ein wenig interessanter<br />

weiter. Und wenn wir die Berge passiert haben sind wir fast da.“<br />

Kelly gab etwas mehr Gas. Sie hatte nicht mehr viel Lust zu fahren. Doch noch lagen<br />

mehr als 120 Kilometer vor ihnen. Diese wollte die Therapeutin schnell hinter sich bringen.<br />

Zum Glück hatte es inzwischen aufgehört zu regnen und die Sonne lachte wieder freundlich<br />

von einem strahlend blauen Himmel.<br />

„Sydney empfängt uns mit gutem Wetter, was? Man, sind wir verwöhnt. Kaum regnet es<br />

mal einen Tag, nervt das schon.“ Shawn lachte.<br />

„Ja, man kann sich an die Sonne gewöhnen. Wirst du es denn bis morgen früh aushalten,<br />

oder müssen wir heute noch einen Abstecher an den Strand machen?“<br />

Der Schauspieler verzog das Gesicht und zeigte Kelly die Zunge. „Du bist ganz schön<br />

gemein. Nein, ich werde es überleben, wenn du mir erst morgen die Strände zeigst. Womit<br />

fangen wir an? Bondi? Botany Bay? Manly?“<br />

Die Psychologin kicherte. Klar, dass der Schauspieler gerade die Namen der Strände be-<br />

halten hatte. „Du hast sie dir gemerkt, was? Besser als alles andere.“<br />

„Na hör mal, Puppe, wir sprechen hier von Stränden.“ Er betonte das Wort Stränden be-<br />

sonders.<br />

„Ja, und die sind alle gesperrt. Zu viele Haie.“, erklärte Kelly todernst.<br />

Weiter herum albernd passierten sie schließlich Campbelltown und kurze Zeit später Pres-<br />

ton. Hier verließen sie den Hume Highway. Kelly fuhr auf den South Western Motorway.<br />

Schnell wurde es nun sowohl auf der Straße als auch in Bezug auf Bebauung voller.<br />

„Das sind die südwestlichen Stadtteile Sydneys. Liverpool, Bankstown, Marrickville, noch<br />

weiter südlich liegen Sutherland, Miranda, Caringbah, Cronulla.“<br />

Vor ihnen tauchten Hinweisschilder auf, die zum Flughafen wiesen.<br />

Kelly schlängelte sich mit dem Abendverkehr am Kingsford Smith Airport vorbei und sie<br />

passierten die Stadtteile Alexandria, Surry Hills und Paddington. Shawn sah fasziniert aus<br />

dem Fenster. Was er bisher von Sydney zu sehen bekam gefiel ihm gut. Immer wieder waren<br />

Parkanlagen oder Golfplätze zu sehen. Schließlich erklärte Kelly:<br />

„So, wir haben es gleich geschafft. Das hier ist Double Bay, wird auch gerne Double Pay<br />

genannt.“ Sie lachte verlegen. „Ich wohne im Kapitalistenstadtteil.“<br />

hier!“<br />

Shawn war von den Häusern, die nun zu sehen waren, begeistert. „Es ist wunderschön<br />

Durch kleine Straßen lenkte Kelly den Wagen, bis sie in der Ginahgulla Road vor einer<br />

der Villen stoppte. „So, Schatz, wir haben es geschafft.“<br />

Shawn starrte das Haus an, vor dem Kelly angehalten hatte.<br />

„Du willst mich verarschen!“<br />

804


Die Therapeutin lachte verlegen. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.<br />

„Nein. Komm, ich beweise es dir.“ Sie fuhr die Auffahrt zu dem großen, L-förmig gebauten<br />

Haus hinauf und vor ihnen öffnete sich die riesige Doppelgaragentür. In der einen Garagen-<br />

hälfte stand ein roter Hummer.<br />

„Mein Sydney-Auto.“, erklärte Kelly grinsend.<br />

Der Schauspieler starrte Kelly verblüfft an. „Du bist eine Kapitalistin!“ Er erinnerte sich<br />

daran, was Nat ihm erzählt hatte: Oh, ganz zurückhaltend und bescheiden. Als ihre Eltern ums<br />

Leben kamen haben sie ihr ein kleines Vermögen hinterlassen. Die haben irgendwas mit Öl<br />

gemacht und stanken vor Geld. Sie hat sich eine kleine, bescheidene Villa in Double Bay ge-<br />

kauft. Die Sydneyaner sagen zu dem Stadtteil Double Pay. Weil es dort so günstig ist.<br />

Sie stiegen aus und Kelly führte den jungen Mann zu einer Tür in der Ecke der Garage.<br />

„Komm, ich zeige dir das Haus, okay?“<br />

Shawn folgte mit offenem Mund. Hinter ihnen hatte sich die Garage selbstständig ge-<br />

schlossen. Kelly schloss die Tür auf und sie standen in einem geräumigen Flur. Die Therapeu-<br />

tin stellte den Koffer mit Kleidungsstücken ab und zog Shawn mit sich, links den Flur hinun-<br />

ter. Am Ende desselben lag auf der rechten Seite die Haustür, links stand eine Zimmertür of-<br />

fen. Kelly trat mit Shawn in den Raum.<br />

„Das ist mein Büro und Behandlungszimmer für Patienten, die ich hier empfange. Norma-<br />

lerweise mache ich das eigentlich nicht, doch ab und zu lässt es sich nicht vermeiden.“<br />

Shawn sah sich interessiert um. Links stand ein großer, schwerer Schreibtisch mit Compu-<br />

ter und einem Stapel Akten in einer Ablagekiste. Ein bequemer Bürostuhl hinter dem Schreib-<br />

tisch war Kellys Platz. Vor dem Schreibtisch standen zwei Besucherstühle. Aktenschränke an<br />

den Wänden waren gefüllt mit Ordnern. In der rechten Ecke war eine kleine Sitzgruppe plat-<br />

ziert, ein runder Tisch und vier kleine Sessel. Dahinter erkannte Shawn eine Tür.<br />

„Besucherklo.“, meinte Kelly grinsend. Sie zog Shawn mit sich aus dem Büro hinaus und<br />

den Flur entlang in die andere Richtung. Eine weitere Tür tauchte links auf und Kelly öffnete<br />

sie. „Waschküche, Besenkammer, Abstellraum, alles in einem.“<br />

Weiter geradeaus ging es nun in das riesige Wohnzimmer. Die gesamte Front war aus<br />

Glas, sodass man einen Blick auf den wunderschönen Garten, auf den rechter Hand liegenden<br />

Pool und auf einen Tennisplatz am Ende des Gartens hatte. Shawn schüttelte den Kopf.<br />

„Du hast einen Tennisplatz?“<br />

„Ich habe ihn nicht angelegt! Der war da, als ich das Haus kaufte. Aber ich nutze ihn rela-<br />

tiv oft. Nat kommt gerne zum Spielen vorbei, Laurie ebenfalls und ich spiele auch häufig mit<br />

meiner Nachbarin.“<br />

Shawn grinste. Er sah sich im Wohnzimmer um und nickte anerkennend. „Du hast einen<br />

guten Geschmack.“<br />

805


Links stand ein urgemütlich aussehendes, wuchtiges, hell beiges Leder-Ecksofa mit einem<br />

runden Couchtisch und einem Sessel. Eine Anrichte stand vor der Fensterfront, eine weitere<br />

quer stehende, teilte den großen Raum ziemlich in der Mitte auf. Rechts an der Wand, hinter<br />

der die Garage lag, war ein großer Kamin gemauert worden und mit ebenfalls hell beigen<br />

Fliesen verkleidet. Weiter nach rechts stand ein Esstisch mit zehn passenden Stühlen, Kie-<br />

fernholz. Dahinter war die offene, große Küche zu erkennen. Ein frei stehender Herd und jede<br />

Menge Arbeitsfläche an den Wänden luden geradezu zum Kochen ein. Eine Tür führte von<br />

der Küche auf die Terrasse hinaus, ebenso eine vom Wohnzimmer.<br />

Kelly ließ Shawn Zeit, sich umzusehen, dann führte sie ihn in den Flur zurück. Erst jetzt<br />

sah er eine Treppe, die nach oben führte. Dort ging es ebenfalls nach links einen weiteren Flur<br />

hinunter. Am Ende des Flures waren zwei nette Gästezimmer und ein Gästebad untergebracht.<br />

Ein weiteres gemütliches Wohnzimmer konnte von den eventuellen Gästen genutzt werden.<br />

Rechts lag Kellys Schlafzimmer. Ein großer Raum mit einem breiten Doppelbett, in der rech-<br />

ten Ecke ein begehbarer Kleiderschrank, an der linken Wand ein Schminktisch mit Stuhl.<br />

Links vom Bett stand ein runder Rattantisch mit zwei bequemen Sesseln. Hinter dem<br />

Schminktisch war die Tür zum Bad. Badewanne, Dusche, alles in Terrakotta gehalten. Shawn<br />

zog Kelly an sich.<br />

„Willst du mich heiraten?“, fragte er grinsend. „Ich möchte hier gerne einziehen.“<br />

„Ach. Du willst also zu einer Kapitalistin ziehen?“, fragte sie ironisch.<br />

Shawn nickte ernsthaft. Er zog die junge Frau an sich und gab ihr einen liebevollen Kuss.<br />

„Klar. Ich liebe Kapitalisten. Darf ich denn auch mal deinen Hummer fahren?“<br />

Die Therapeutin schmiegte sich an ihn und erklärte: „Ich will dich heiraten. Aber du darfst<br />

ruhig schon vorher hier einziehen. Und meinen Hummer kriegst du nicht! Du kannst den Paje-<br />

ro nehmen, wenn du mal alleine los willst.“ Sie gab Shawn lachend einen Kuss und fragte<br />

dann: „Wie sieht es aus, Mr. McLean, haben Sie auch solchen Hunger wie ihre zukünftige<br />

Frau?“<br />

cken.“<br />

Mr. McLean nickte. „Ja, Ma’am. Ich könnte schon wieder ein halbes Schwein verdrü-<br />

„Du bist verfressen, Mister. Gut, wir packen hinterher aus. Erst werde ich dich abfüttern.<br />

Und ein wenig Bewegung wird uns nach der langen Sitzerei auch nicht schaden. Schaffst du<br />

einen Kilometer zu Fuß ohne vor Schwäche zusammen zu brechen?“<br />

„So gerade eben.“<br />

Die Therapeutin wurde ernst. „Hör zu, Baby, wenn wir in Sydney unterwegs sind müssen<br />

wir uns zusammenreißen, verstehst du? Hier kennen mich viel zu viele. Wenn die falschen<br />

Leute mit bekommen was los ist ...“<br />

Sie vollendete den Satz nicht, doch der Schauspieler verstand auch so.<br />

806


„Dann fliegen wir auf und du bist deine Approbation los.“, führte er den Satz zu Ende.<br />

„Das wird nicht passieren, Kleines. Wir werden uns außerhalb dieser Mauern wie brave Ärz-<br />

tin und braver Patient verhalten.“ Der junge Mann seufzte. „Auch, wenn es schwer wird.“<br />

Sie verließen das Haus und machten sich zu Fuß auf den Weg. Es ging durch ruhige Stra-<br />

ßen mit ähnlich schönen Häusern wie Kellys, bis vor ihnen Wasser zu sehen war. Shawn war<br />

begeistert.<br />

„Das ist Rose Bay.“, erklärte die Psychologin und deutete auf die Bucht, die in der unter-<br />

gehenden Sonne vor ihnen lag.<br />

Anleger mit Segel- und Motorbooten, links ein kleiner Strand, Menschen, die am Wasser<br />

spazieren gingen.<br />

„Wunderschön.“, meinte Shawn zufrieden. Kelly deutete auf ein Gebäude, das auf einem<br />

Pier vor ihnen über dem Wasser gebaut war. „Das ist das Pier Restaurant. Exzellente Küche.<br />

Du wirst begeistert sein.“<br />

Sie betraten das Restaurant, in dem es zu dieser frühen Zeit noch angenehm leer war und<br />

suchten sich einen freien Tisch mit Blick nach rechts auf die Bucht. Kurze Zeit später hielten<br />

sie die Speisekarte in den Händen. Sie bestellten sich eine kleine gemischte Vorspeisenplatte<br />

und ließen sich vom Kellner zur Tagesempfehlung überreden: Lobster Mornay. Während sie<br />

auf das Essen warteten sah Shawn traumverloren aus dem Fenster. Kelly beobachtete ihn eine<br />

Weile verliebt. Schließlich meinte sie:<br />

„Piep! Erde an Shawn, Erde an Shawn, bitte melden. Piep!“<br />

Der Schauspieler sah verwirrt zu ihr hinüber. „Oh, sorry, ich hab wohl vor mich hin ge-<br />

träumt. Ich glaube, hier werde ich mich sehr wohl fühlen. Ich brauche später unbedingt ein<br />

Boot.“<br />

Zum Glück kam in diesem Moment die Vorspeise, sonst hätte der Schauspieler vermutlich<br />

weiter geträumt.<br />

*****<br />

Gegen 21 Uhr waren Kelly und Shawn zurück im Haus. Sie waren nach dem Essen noch<br />

eine Weile am Wasser spazieren gegangen. Beide waren unausgelastet und hatten den drin-<br />

genden Wunsch gehabt, sich noch ein wenig zu bewegen. Während sie am Wasser entlang<br />

marschierten, hatten sie beschlossen, den Pajero, der normalerweise zurück nach Eildon ge-<br />

fahren wurde, erst einmal in Sydney zu behalten. So hatten sie jeder einen Wagen zur Verfü-<br />

gung. Als sie zufrieden wieder am Haus angekommen waren, ging Kelly energisch daran, in<br />

ihrem Kleiderschrank Platz für Shawn zu machen. Gemeinsam räumten sie anschließend die<br />

Kleidung ein und machten es sich hinterher auf der Terrasse auf einer breiten Doppelliege<br />

gemütlich. In den Nachbarhäusern herrschte bereits Ruhe, daher konnte Kelly fragen:<br />

807


„Wie ist es, magst du ein wenig weiter berichten?“<br />

„Ja, sicher. Es gab da eine Situation, die war bizarr wie so viele andere auch, und doch so<br />

ganz anders. Sie hatten mich nach dem Abendbrot in den Salon gebracht und ich wartete mal<br />

wieder panisch darauf, wie der Abend für mich verlaufen würde. Der Tag war schon hart ge-<br />

wesen und ich war ziemlich fertig. Carrie erklärte mir, dass sie etwas Neues, Spannendes für<br />

mich hätte. Sie befahl Brett, sich auszuziehen. Er gehorchte offensichtlich hocherfreut und<br />

ließ sich von ihr zwischen die Säulen fesseln, wo ich sonst immer hing. Ich kapierte gar<br />

nichts, ehrlich. Als sie Brett stramm zwischen die Säulen gefesselt hatte, ging Carrie an den<br />

Schrank, in dem sie ihre Peitschen aufbewahrte. Sie kam mit einem Flogger zurück, einem<br />

von denen, die richtig weh taten. Sie hatte eine ganze Sammlung davon, weißt du. Dickere,<br />

mit vielen Riemen, welche mit weniger Riemen, mit breiten Lederstreifen und mit runden.<br />

Kurz, länger, alles, was das Sadistenherz begehrt. An dem Abend drückte sie mir nun eine<br />

von den längeren Floggern mit runden, dünnen Lederriemen in die Hand. Ich muss sie ange-<br />

schaut haben wie der berühmte Ochse vorm Tor wenn es donnert. Sie erklärte mir grinsend,<br />

dass Brett sie gebeten hatte, von mir durch gepeitscht zu werden. Ich erinnerte mich daran,<br />

dass er das mal zu mir gesagt hatte. Ich stand da und wusste nicht, was ich machen sollte.<br />

Doch Carrie trieb mich an und so ...“<br />

Der Schauspieler schüttelte den Kopf. „Das war so unwirklich. Normalerweise bearbeite-<br />

ten sie mich mit dem Scheißding und nun sollte ich plötzlich Brett damit schlagen. Carrie<br />

machte mir schnell klar, dass, wenn ich nicht anständig zuschlagen würde, ich derjenige sein<br />

würde, dem sie die Haut vom Arsch prügeln würden. Also habe ich mich ... Ich musste mich<br />

überwinden. Das ist nicht einfach, selbst wenn man den Betreffenden hasst und verabscheut.<br />

Ich habe noch nie zuvor einem anderen Menschen bewusst körperlich weh getan. Erst habe<br />

ich wohl ziemlich zaghaft zugeschlagen. Doch Carrie ...“ Der Schauspieler prustete ange-<br />

spannt. Die Erinnerung machte ihm zu schaffen. Er war kein gewalttätiger Mensch und auch<br />

wenn er Brett zu dem Zeitpunkt genauso abgrundtief gehasst hatte wie die anderen, war es<br />

ihm dennoch sehr schwer gefallen, auf diesen einzuschlagen. Bedrückt erzählte er weiter.<br />

„Carrie warf mir einen Blick zu, der mir klar machte, dass es deutlich besser für meine ei-<br />

gene Gesundheit war, wenn ich vergaß, dass es nicht meine Art war, Menschen zu verletzen.<br />

Also gab ich mir Mühe und schlug fester zu. Brett hielt eine ganze Weile durch, ohne zu<br />

schreien. Er genoss es wirklich. Als die ersten deutlichen Striemen zu sehen waren keuchte er<br />

allmählich bei jedem Schlag vor Schmerzen. Aber das reichte Carrie nicht. Sie ließ mich wei-<br />

ter machen. Auf den Hintern und auf den Rücken. Bretts Haut ... Mir wurde fast schlecht. Er<br />

schrie und bettelte inzwischen bei jedem Treffer um Gnade, wie ich so oft. Immer wieder<br />

brüllte er: Gnade. Ich vermute, das war das ausgemachte Safe Word. Doch Carrie ließ mich<br />

nicht aufhören. Die anderen sahen begeistert zu, ich glaube, es hätte nicht viel gefehlt und sie<br />

hätten gesabbert. Es war widerwärtig. Erst als Brett kaum noch die Kraft hatte zu schreien,<br />

808


erlaubte Carrie mir endlich, aufzuhören. Es ist komisch, ich hab den Dreckskerl zu dem Zeit-<br />

punkt so sehr gehasst, aber als er da hing ... Weinend, keuchend vor Schmerzen, um Gnade<br />

bettelnd ... Ich hab selbst so oft so gehangen und sie haben keinerlei Rücksicht genommen,<br />

aber als ... Mir war so schlecht, dass ich Angst hatte, mich jeden Moment übergeben zu müs-<br />

sen. Dabei hätte ich es doch genießen können, endlich mal am anderen Ende der Peitsche zu<br />

stehen. Ich kapiere das nicht. Da habe ich wirklich wieder gedacht, ich sei ein Schlapp-<br />

schwanz, verstehst du?“<br />

Kelly hatte ruhig zugehört, als Shawn erzählte. Sie lächelte liebevoll. „Honey, du bist kein<br />

Schlappschwanz, das weißt du ja inzwischen. Wenn man keine Veranlagungen zu Gewalt und<br />

Sadismus in sich trägt, ist es unglaublich schwer, einem anderen Menschen absichtlich ernst-<br />

hafte Schmerzen zuzufügen. Wenn es in Notwehr geschieht ist es etwas ganz anderes als in<br />

dieser Situation, einfach aus Spaß, Befriedigung, nur, weil man es eben tun kann. Du solltest<br />

froh und dankbar sein, dass es dir nichts außer Abscheu und Ekel verursacht hat. Wäre es an-<br />

ders hättest du Grund, dir den Kopf zu zerbrechen.“<br />

Shawn musste wider Willen grinsen. „Du hast Recht, wie immer. Als ich endlich Schluss<br />

machen durfte stellte Carrie sich vor Brett hin und fragte ihn, ob es so Recht gewesen wäre.<br />

Ob er zufrieden sei. Er bettelte darum, losgemacht zu werden, aber Carrie lachte ihn aus. Ka-<br />

ren und Terry waren inzwischen eigenartig still, ihnen dämmerte wohl, dass Carrie mit ihnen<br />

allen genauso wenig Gnade gezeigt hätte wie mit mir, wäre etwas schief gelaufen. Nur Alan<br />

wirkte äußerst zufrieden. Und mir wurde plötzlich klar, dass Carrie gerade vor ihren ‘Freun-<br />

den‘ ihre unumstößliche Macht demonstriert hatte. Sie hat ganz offensichtlich darauf gepfif-<br />

fen, dass sie mit Brett ein Safe Word abgemacht hatte. Sie hat ihn durch mich windelweich<br />

schlagen lassen. Ich weiß ja nicht, ob vorher etwas vorgefallen war, das sie ausgerechnet an<br />

dem Abend zu dieser kleinen Machtdemonstration verleitete, vermute es aber fast. Jedenfalls<br />

waren Terry, Brett und Karen von diesem Abend an ... ja, fast schon unterwürfig. Wie ich.<br />

Carrie hatte uns alle fest im Griff. Nur Alan ... er tat zwar immer so, als wäre Carrie der Boss,<br />

doch ab und zu schnappte ich Gespräche zwischen ihnen auf, ohne dass sie es mit bekamen<br />

und dabei war er keineswegs unterwürfig. Ich bin nicht dahinter gekommen, was zwischen<br />

den Beiden war, aber ich bin sicher, es war kein Verhältnis Arbeitgeber/Arbeitnehmer.“<br />

Die Therapeutin zuckte die Schultern. „Ich bin sicher, wir werden es früher oder später er-<br />

fahren, Shawn. Es ist für uns im Augenblick nicht relevant. Wie ging es an dem Abend wei-<br />

ter?“<br />

Der Schauspieler musste sich konzentrieren. „Nachdem Carrie Brett diese fiese Frage ge-<br />

stellt und ihn ausgelacht hatte war klar, dass er noch nicht los gemacht werden würde. Ganz<br />

im Gegenteil zog Carrie die Fesseln noch ein wenig strammer und erst, als Brett wimmerte<br />

vor Schmerzen hörte sie auf, diese zu spannen. Sie befahl mir, mich auf einen Stuhl zu setzen,<br />

809


damit ich nicht im Wege stand. Alan zog Brett die schwarze Latexmaske über den Kopf, die<br />

Terry bei mir verwendete, wenn sie ihre kleinen Luftreduktionsspielchen machen wollte. Brett<br />

geriet in Panik. Kann ich gar nicht nach vollziehen.“ Sehr sarkastisch kam dieser Satz. „Carrie<br />

fing dann selbst an, Brett die Luftzufuhr abzuschneiden. Der Bastard hing zuckend in den<br />

Fesseln und tat mir leid! Ich dachte, mein Verstand hätte sich endgültig verabschiedet, als ich<br />

merkte, dass ich Mitleid hatte. Sie trieb es mehrmals bis zur Besinnungslosigkeit. Als ihr das<br />

reichte, nahm sie einen Taser aus dem Schrank. Brett fing an, hysterisch zu wimmern als er<br />

das sah. Ich weiß auch genau, warum. Das Scheißding hab ich ja selbst oft genug zu spüren<br />

bekommen. Carrie bearbeitete ihn damit wohl gut eine halbe Stunde lang. Ich hab nicht mehr<br />

hin geschaut, hab nur noch das Knistern gehört und Bretts Schreie. Als sie endlich genug hat-<br />

te, befahl sie uns allen, ins Bett zu gehen. Brett ließ sie hängen. Mitten in der Nacht kam Alan<br />

zu mir und machte mich los. Er wies mich an, Brett zu befreien, der noch immer zwischen<br />

den Säulen hing und erklärte mir, dass ich bei ihm bleiben sollte. Als ich Brett los machte<br />

heulte der Kerl wie ein Baby. Wie ich schon so oft. Ich schaffte ihn in sein Zimmer und hievte<br />

ihn ins Bett. Er war fix und fertig. Ich wollte mich aufs Sofa hauen, doch er flehte mich an,<br />

mich zu ihm zu legen. Sicherheitshalber tat ich das auch. Am nächsten Tag bekam ich ihn<br />

nicht zu sehen. Dafür war ich wieder dran. Erst zwei Tage später tauchte er wieder auf und<br />

alle taten, als wäre nichts geschehen. Was das alles sollte habe ich natürlich nicht erfahren.<br />

Brett hat auch später, als wir schon unsere netten Tage am Strand hatten, nie ein Wort über<br />

den Abend verloren. Vielleicht war das der Preis, den er zahlen musste, um mich für sich al-<br />

leine zu beanspruchen, ich weiß es nicht. Aber von dem Tag an war er ... rücksichtsvoller,<br />

vorsichtiger, hat mich kaum noch ... Er hat mich kaum noch gequält, meist hat er nur noch<br />

Sex gewollt. Er hat, wenn es so aussah als warte Carrie darauf, dass er mich mal wieder in die<br />

Mangel nahm, nur noch den weichen Flogger benutzt, der von allen Schlagwerkzeugen wirk-<br />

lich das Harmloseste war. Er meinte dann fast schon entschuldigend, er fände es so erregend,<br />

wenn mein Hintern schön rot leuchtete, bevor er mich vögelte. Und kurz nach diesem Abend<br />

ging es auch los, dass er mich an den Strand mitnahm.“<br />

Shawn verstummte. Auch Kelly schwieg eine Weile. Sie hatte das eine oder andere Mal<br />

darüber nachgedacht, was es wohl für ein Deal gewesen war, den Brett mit Carrie getroffen<br />

hatte, um frei über Shawn verfügen zu können. Carries psychologischer Backround ließ defi-<br />

nitiv keine Form der Erpressung zu, das wusste Kelly nach genau. Die Psychopathin hätte<br />

Brett ohne Zögern gekillt, hätte er auf der Insel versucht, sie mit irgendetwas dazu zu Erpres-<br />

sen, ihm Shawn zu überlassen. Aber etwas wie diese Einlage wäre für die Frau ein gefundenes<br />

Fressen gewesen. Es war also denkbar, dass Brett es sich damit erkauft hatte, dieses uneinge-<br />

schränkte Recht auf Shawn. Wie es auch zustande gekommen sein mochte, für Shawn waren<br />

es offensichtlich in beschränktem Maße erholsame Stunden gewesen im Vergleich zu dem,<br />

was man ihm sonst so angetan hatte. Kelly bedauerte, dass es ausgerechnet Brett gewesen<br />

810


war, den man tot aufgefunden hatte. Natürlich war der Mann genauso an den Qualen beteiligt<br />

gewesen, die man Shawn bereitete hatte, trotzdem war er es gewesen, der in letzter Konse-<br />

quenz Shawns Leben gerettet hatte. Dass er dafür von Carrie und Co. hingerichtet worden<br />

war, hatte er nicht verdient. Shawn hatte scheinbar ähnliche Gedanken, denn er meinte:<br />

„Komisch, ich würde ihm gerne dafür danken, dass er die Polizei darüber informiert hat,<br />

wo sie mich finden können. Es ist schwer vorstellbar, dass Carrie ihn ... dass er tot ist. Er hat<br />

mir in den letzten Wochen dort mehr geholfen als mir bisher klar geworden ist. Er muss wirk-<br />

lich etwas für mich empfunden haben, denn er kannte Carrie ja gut genug um zu ahnen, dass<br />

er sich in Lebensgefahr begeben würde mit seinem Verrat.“<br />

Shawns Stimme zitterte leicht. „Mir ist eigentlich auch erst so richtig bewusst geworden<br />

dass er mir das Leben gerettet hat, als die Nachricht kam, dass er tot aufgefunden wurde.“ Er<br />

stieß ein kurzes Lachen aus. „Ich komme mir in Bezug auf Brett regelrecht schizophren vor,<br />

weißt du das? Einerseits hasse ich ihn abgrundtief für das, was er mir angetan hat, andererseits<br />

... Wenn er nicht gewesen wäre könnte ich jetzt mit John Wayne und James Dean im Himmel<br />

pokern.“ Shawn kuschelte sich enger an die Psychologin und seufzte leise.<br />

„Ich weiß, was du empfindest, Babe.“, entgegnete Kelly. „Ich kenne ihn zwar nur aus dei-<br />

nen Berichten, trotzdem geht es mir ähnlich. Ich würde ihm auch gerne dafür danken, dass er<br />

es ermöglichte, dass wir uns kennenlernten. Er war nicht weniger brutal, soziophatisch und<br />

gemein wie die anderen, doch am Ende hat er vieles gut gemacht. Ich glaube sogar, dass er<br />

seinen Tod billigend in Kauf genommen hat, denn er muss gewusst haben, was ihm blüht,<br />

sollte Carrie ihn erwischen. Er hat auf die ihm mögliche Art und Weise alles versucht, es dir<br />

zu erleichtern, und hat am Ende vielleicht das erste Mal in seinem Leben wirklich Größe und<br />

Mitgefühl gezeigt. Du wirst ihn immer als den Mann in Erinnerung behalten, der dir das<br />

Schlimmste und das Beste antat.“ Kelly spürte, dass Shawn nickte.<br />

„Ja, darauf wird es hinaus laufen. Er war es, der mir die schlimmste aller schlimmen De-<br />

mütigungen antat und dann verdanke ich ihm mein Leben. Es ist total verwirrend, einen Men-<br />

schen gleichzeitig abgrundtief zu hassen und doch eine ebenso tiefe Dankbarkeit für ihn zu<br />

empfinden.“<br />

Kelly ließ ihre Hand sanft über Shawns Rücken gleiten. „Irgendwann wird möglicherwei-<br />

se einmal das eine oder das andere überwiegen. Und bis es soweit ist werden deine Gefühle<br />

für Brett verwirrend bleiben. Lass uns jetzt schlafen, wenn du die Stadt kennenlernen willst,<br />

werden die nächsten Tage anstrengend.“ Sie beugte sich zu Shawn und gab ihm einen liebe-<br />

vollen Kuss. Der Schauspieler gähnte.<br />

„Ja, gute Idee, ich bin auch ziemlich müde. Lass uns rein gehen.“<br />

Minuten später lagen sie aneinander geschmiegt im Bett und schliefen.<br />

*****<br />

811


68) Bewährungsprobe<br />

Was der Feind uns nicht antun konnte, das tun wir uns selbst an.<br />

John Steinbeck<br />

Kelly stellte die Kaffeetasse aus der Hand. „Was möchtest du zuerst sehen?“, fragte sie<br />

grinsend.<br />

„Na, was schon? Bondi. Botany. Manly.“<br />

Kelly tat, als müsse sie überlegen. „Ich hatte für heute eigentlich einen Besuch im Austra-<br />

lian Museum und später in der Art Gallery of New South Wales eingeplant.“, erläuterte sie<br />

harmlos.<br />

„Aber gerne, Liebling. Es reicht ja, wenn du mir den Weg beschreibst ...“<br />

Die Psychologin lachte vergnügt. „Nein, Honey, ich werde dir die Strände zeigen und wir<br />

packen auch gleich Surfbretter ein. Ich möchte ja nicht, dass du Entzugserscheinungen<br />

kriegst. Ich rufe nur schnell Laurie und Nat an, informiere sie, dass wir hier sind, und dann<br />

geht es los.“ Sie griff nach dem Telefon auf dem Terrassentisch und wählte. Zwanzig Minuten<br />

später war klar, dass sie am Abend doppelten Besuch bekommen würden. Lauren und Nat<br />

waren begeistert gewesen, als Kelly ihnen erklärte, dass sie in der Stadt waren. Beide hatten<br />

es sich nicht nehmen lassen, sich sofort für den Abend zu einem Besuch anzumelden. Shawn<br />

hatte keine Probleme damit und so machte Kelly alles klar. Sie grinste.<br />

„Nat wird sofort spüren, was zwischen uns ist. Und Laurie weiß es ohnehin. Also brau-<br />

chen wir heute Abend nicht so zu tun als wäre nichts. So, und nun schnappen wir uns die<br />

Boards und machen uns auf den Weg.“<br />

Nach Bondi war es von Kellys Haus ein Katzensprung. Keine 3 Kilometer und sie hatten<br />

die berühmte Bucht erreicht.<br />

ndi.jpg<br />

http://i233.photobucket.com/albums/ee31/KellyHolloway/No%20easy%20way%20out/Bo<br />

So früh am Morgen war hier noch nicht sehr viel los. Vereinzelnd lagen sonnenhungrige<br />

Touristen auf ihren Badelaken im Sand und im Wasser tummelte sich eine Handvoll Surfer.<br />

Shawn strahlte.<br />

„So habe ich es mir vorgestellt!“, schwärmte er.<br />

Sie standen eine Weile am südlichen Ende der großen Bucht, wo Kelly den Wagen auf<br />

dem riesigen Parkplatz abgestellt hatte, und genossen den Blick. Schließlich wurde Shawn<br />

zappelig.<br />

„Wollen wir mal loslegen? Die Wellen sehen hervorragend aus.“<br />

812


Kelly hatte keine Einwände. Sie suchten sich einen schönen Platz am Strand und schlüpf-<br />

ten aus ihren kurzen Hosen und T-Shirts und tauschten diese gegen Wetsuits. Die Surfboards<br />

unter dem Arm gingen sie ins Wasser. Nebeneinander paddelten sie vielleicht 150 Meter hin-<br />

aus. Dann setzten sie sich rittlings auf die Bretter und warteten auf eine passende Welle. Und<br />

die kam schnell. Eine gute Stunde surften sie bester Laune mit den wenigen anderen Surfern,<br />

die es um diese frühe Zeit schon an den Strand getrieben hatte. Schließlich erklärte Kelly:<br />

„Wenn wir noch etwas anderes sehen wollen sollten wir langsam Schluss machen. Zum<br />

Surfen haben wir noch Zeit genug.“<br />

Wind, Wasser und Wellen waren perfekt, daher fiel es Shawn schwer, sich loszureißen.<br />

Unter gespieltem Schluchzen jammerte er: „Will noch nicht nach Hause, Mama. Shawnie will<br />

weiter Surfen!“<br />

Kelly lachte Tränen. „Nichts da. Wenn du ganz brav bist darfst du heute Nachmittag noch<br />

mal ins Wasser. Aber jetzt will Mami erst einmal weiter.“<br />

Der Schauspieler verzog angewidert das Gesicht und murmelte etwas, das sich wie Spaß-<br />

bremse anhörte. Kelly schnaufte kämpferisch.<br />

„Ich helf dir gleich von wegen Spaßbremse. Noch so eine freche Bemerkung und du be-<br />

kommst sieben Wochen Hausarrest.“<br />

Lachend packten sie zusammen und saßen gleich darauf im Wagen. Kelly steuerte in süd-<br />

licher Richtung an der Küste entlang. Über die Strände Tamarama Bay, Nelson Bay, Coogee<br />

Bay und Lurline Bay erreichten sie schließlich Maroubra Bay. Kelly stoppte immer wieder<br />

am Straßenrand oder auf Parkplätzen, um Shawn Gelegenheit zu geben, Fotos zu machen. Die<br />

Wechsel zwischen schroffer Steilküste und herrlichen Sandstränden faszinierte den Schau-<br />

spieler.<br />

te.jpg<br />

http://i233.photobucket.com/albums/ee31/KellyHolloway/No%20easy%20way%20out/Ks<br />

„Ich wusste gar nicht, dass es hier so viel Steilküste gibt. Irgendwie habe ich mir ganz<br />

Sydney von weißen Sandstränden umgeben vorgestellt.“, bemerkte er verlegen.<br />

Die Therapeutin lächelte. „Das denken viele. Nein, wir haben sehr viel Steilküste. Strand<br />

und Felsen halten sich in etwa die Waage.“<br />

„Das wusste ich wirklich nicht. Sieht aber wunderschön aus. Kommen wir heute noch<br />

nach Botany Bay? Oder ist das zu weit?“<br />

geben.<br />

Kelly konnte einfach nicht anders, sie musste Shawn an sich ziehen und ihm einen Kuss<br />

„Hey, Vorsicht, wenn das nun jemand sieht der dich kennt!“, meinte der Schauspieler er-<br />

schrocken.<br />

813


Kelly schüttelte den Kopf. Sie freute sich, dass Shawn daran dachte. „Hier wird mich<br />

schon keiner erkennen. Und wenn, das war ein Dankeschön-Kuss. So, und nun geht es wei-<br />

ter.“<br />

Sie mussten ein kleines Stück von der Küste abweichen, da es hier keine Straßen gab, die<br />

am Wasser entlang führten. Doch schon kurze Zeit später sah Shawn wieder das Meer in der<br />

Sonne flimmern.<br />

„Das ist La Perouse und Bare Island. Dort wurden unter anderem Aufnahmen für Mission<br />

Impossible 2 gedreht.“ Eine winzige Insel vor der Steilküste, zu erreichen über einen hölzer-<br />

nen Steg, keine 40 Meter vom Festland entfernt, lag vor ihnen. „1877 entschieden sich die<br />

Militärs, auf Bare Island ein Fort zu errichten. Sie wollten von dort die Einfahrt in die Botany<br />

Bay, quasi das Hintertürchen zu Sydney, gegen eventuelle Angriffe verteidigen. Die Anlage<br />

kann heute besichtigt werden, aber nur als geführte Tour. Ist auch nicht sehr spannend. Aber<br />

der Strand dort, Congwong Bay, wird dir gefallen.“<br />

Shawn hatte aufmerksam zugehört. Er fragte: „Dann ist das dort die Botany Bay?“ Er deu-<br />

tete nach Westen in die riesige Bucht, die vor ihnen lag. Kelly lachte.<br />

„Ja, mein süßer Ami, das ist die berühmte Botany Bay.“<br />

Der Schauspieler verdrehte die Augen. „Hexe!“<br />

Kelly kicherte. Sie deutete über die schmale Einfahrt hinweg und erklärte: „Dort drüben<br />

soll laut Logbuch der Endeavour Captain James Cook am 28. April 1770 als erster Europäer<br />

australischen Boden betreten haben. Da steht ein Denkmal ihm zu Ehren. Wenn du aufhörst<br />

mich Hexe zu nennen zeige ich dir das auch mal.“ Sie zog Shawn mit sich an den Strand von<br />

Congwong Bay.<br />

http://i233.photobucket.com/albums/ee31/KellyHolloway/No%20easy%20way%20out/Co<br />

ngwongBay.jpg<br />

An einem kleinen Kiosk holten sie sich zwei Flaschen Cola und setzten sich eine Weile in<br />

den herrlich warmen Sand. Schweigend genossen sie die Sonne, den kühlenden Wind und das<br />

Strandtreiben um sie herum. Shawn war entspannt und zufrieden. Als Kelly nach einer guten<br />

halben Stunde fragte:<br />

„Wie sieht es aus, wollen wir noch ein wenig weiter?“, nickte er.<br />

„Klar, ich möchte heute unbedingt noch mehr sehen.“ Er erhob sich geschmeidig und zog<br />

Kelly auf die Füße.<br />

Von La Perouse fuhr die Therapeutin auf der Bunnerong Road und später auf der Foresho-<br />

re Road auf den Flughafen zu. Die Foreshore Road stieß unmittelbar an den Runways auf den<br />

General Holmes Drive.<br />

814


„Ist ja irre, hier kann man die Räder der Flugzeuge ja fast berühren.“, sagte Shawn grin-<br />

send, als sie auf dem Holmes Drive in den Tunnel einfuhren, der die Runways unterführte.<br />

Gerade setzte eine Qantas Maschine zur Landung an und man hatte wirklich das Gefühl,<br />

man bräuchte sich nur ein wenig zu strecken, um die Reifen zu berühren.<br />

„Es gibt unten in der City auch noch einmal so eine Stelle, da sind die Maschinen genauso<br />

weit unten. Vielleicht haben wir da mal das Glück, genau in dem Moment dort lang zu fahren<br />

wenn eine Maschine landet. Ich habe mir bei meiner ersten Begegnung damals vor Schreck<br />

fast in die Hose gemacht und beinahe einen Unfall verursacht.“, erzählte Kelly, während sie<br />

im Tunnel unter den Runways hindurch fuhren.<br />

Unmittelbar hinter dem Tunnel teilte sich die Straße und Kelly hielt sich rechts. So kamen<br />

sie auf dem General Holmes Drive direkt über den Alexandra Canal auf die Straße The Grand<br />

Parade. An Einfamilienhäusern entlang erreichten sie den Stadtteil Brighton-Le-Sands. In der<br />

Nähe des Brighton Novotels fand Kelly einen Parkplatz und sie machten sich zu Fuß auf den<br />

Weg an den herrlichen Strand. Shawn war begeistert.<br />

http://i233.photobucket.com/albums/ee31/KellyHolloway/No%20easy%20way%20out/Bo<br />

tany.jpg<br />

Sechs herrliche Kilometer weißer, breiter, feiner Sandstrand, die Bucht, die in der Sonne<br />

funkelte, das türkisfarbene Wasser, Palmen, die sich im Wind wiegten, der wundervolle Blick<br />

über die Bucht, der Schauspieler war sicherer denn je, dass er hier für immer Leben wollte.<br />

Eine Promenade führte am Strand entlang, auf der gegenüberliegenden Seite der viel befahre-<br />

nen Straße lag ein kleines Restaurant neben dem anderen. Überall konnte man draußen sitzen.<br />

Und auch auf der Strandseite selbst gab es das eine oder andere Café.<br />

Da es inzwischen fast 13 Uhr war, beschlossen Shawn und Kelly, erst einmal eine Klei-<br />

nigkeit zu Essen. Sie suchten sich eines der kleinen Cafés und setzten sich an einen freien<br />

Tisch. Dass hier viele Menschen herum liefen schien Shawn nicht zu behelligen. Offensicht-<br />

lich hatten ihn die Begegnungen mit Mark und Eva wirklich gestärkt. Er saß entspannt da und<br />

sah sich interessiert die Umgebung an. Ihr Essen kam und sie ließen es sich schmecken.<br />

Nachdem sie später bezahlt hatten fragte Kelly:<br />

„Wollen wir ein Stück auf der Promenade spazieren gehen oder möchtest du lieber an den<br />

Strand und baden?“<br />

„Nein, lass uns ruhig ein wenig laufen. Baden kann ich wohl noch genug in der nächsten<br />

Zeit. Das Leben besteht ja nicht nur aus Wasser, oder?“<br />

Kelly zog die Stirn in Falten und tat besorgt. Sie legte eine Hand auf Shawns Stirn, mit der<br />

anderen angelte sie sein rechtes Handgelenk und tat, als würde sie seinen Puls fühlen.<br />

815


„Ganz ruhig, Baby, ich rufe sofort einen Notarzt! Mach dir keine Sorgen, das kriegen wir<br />

schon wieder hin.“<br />

Shawn zog die junge Frau lachend an sich. „Na hör mal, was ist daran so erstaunlich?“,<br />

fragte er. Kelly kicherte.<br />

„Das kann ich dir sagen: Im Outback bist du in jede Pfütze gesprungen und hier, den Pazi-<br />

fik vor Augen, willst du lieber spazieren gehen? Da soll ich mir keine Sorgen machen?“<br />

Lachend überquerten sie an einer Ampel die breite Grand Parade und wandten sich auf der<br />

Promenade nach rechts.<br />

http://i233.photobucket.com/albums/ee31/KellyHolloway/No%20easy%20way%20out/Bri<br />

ghton.jpg<br />

Sich unterhaltend schlenderten sie eine gute Stunde auf der Promenade entlang und später<br />

unten am Strand am Wasser zurück. Direkt am Le-Sands Pavillion war ein großes Hainetz<br />

gespannt und hier setzten sie sich schließlich für eine Weile in den warmen Sand. Endlich<br />

konnte Shawn auch sein wohlverdientes Bad nehmen.<br />

*****<br />

Gegen 16.30 Uhr waren sie wieder im Haus. Die Therapeutin setzte Kaffee auf während<br />

Shawn die Gelegenheit nutzte, schnell ein paar Runden im Pool zu drehen. Als Kelly mit dem<br />

Kaffee auf die Terrasse kam schüttelte sie ungläubig den Kopf.<br />

„Du bist ja schon wieder im Wasser. Eines schönen Tages werde ich dir operativ<br />

Schwimmhäute zwischen den Fingern entfernen müssen.“<br />

Shawn schwang sich aus dem Wasser und setzte sich auf ein Handtuch, das er über einen<br />

Stuhl gelegt hatte. Grinsend meinte er: „Na, man weiß doch nicht, ob morgen noch Wasser da<br />

ist.“<br />

„Sicher nicht, denn morgen will ich dich in den Royal National Park entführen. Da gibt es<br />

nicht so viele Gelegenheiten zu Baden.“<br />

„Da hast du’s! Kaum hier willst du mich schon wieder in die Wüste schleppen. Ich tue gut<br />

daran, jede Chance auf ein Bad zu nutzen.“ Er nahm einen Schluck Kaffee und ließ seinen<br />

Blick durch den herrlichen Garten gleiten. Der Pool lag unmittelbar vor der Terrasse und war<br />

ungefähr 12 Meter lang und an der breitesten Stelle 10 Meter. Palmen waren um ihn herum<br />

gepflanzt worden, so dass man Schatten hatte. Links neben dem Pool war ein wunderschöner,<br />

kleiner Garten angelegt, mit einheimischen Blumen.<br />

„Wer kümmert sich eigentlich um das Haus, wenn du unterwegs bist? Der Garten sieht<br />

nicht so aus als wäre hier elf Wochen niemand gewesen.“<br />

816


Kelly schmunzelte. „Nein, wie in Eildon habe ich auch hier jemanden, der sich um Haus<br />

und Garten kümmert. Ich bin viel zu oft unterwegs, als dass ich mich um die ganze Anlage<br />

kümmern könnte. Das liegt mir auch nicht so, muss ich ganz ehrlich zugeben. Ich liebe Blu-<br />

men, Pflanzen, Garten, aber nur, wenn ich mich damit nicht selbst befassen muss. Ein Unter-<br />

nehmen, das Gärtner, Poolreiniger, Hausmeister und eine ganze Reihe Handwerker beschäf-<br />

tigt, kümmert sich sehr zuverlässig seit Jahren um das Haus und das Grundstück. Die Arbei-<br />

ten hier auch für eine ganze Reihe Nachbargrundstücke und wir sind alle außerordentlich zu-<br />

frieden.“<br />

Die junge Psychologin sah auf ihre Armbanduhr. „Ich werde mich mal darum kümmern,<br />

dass wir heute Abend etwas zu Beißen haben. Zum Kochen habe ich überhaupt keine Lust.<br />

Ich denke, ich bestelle uns etwas im Pier.“ Sie verschwand ins Haus und ging in ihr Büro.<br />

Dort setzte sie sich an ihren Schreibtisch und rief im Pier Restaurant an. Schnell hatte sie ein<br />

Menü für den Abend bestellt. Als Kelly aufgelegt hatte sah sie, dass Shawn in der Tür stand.<br />

Grinsend fragte er:<br />

„Darf ich dich zu einer gemeinsamen Dusche einladen?“<br />

Dass er bei dieser Frage zart rot wurde ließ Kelly erschauern vor Liebe. Die Erfahrung, ei-<br />

ne Beziehung zu führen, bei der Sex weit hinten anstand hatte etwas Wunderschönes. Glück-<br />

lich erwiderte sie:<br />

„Gerne, wenn du magst.“<br />

Arm in Arm stiegen sie in den ersten Stock und fielen im Schlafzimmer aus ihren Sachen.<br />

Ein wenig verlegen stand der Schauspieler da und biss sich auf die Lippe. „Es fällt mir noch<br />

immer schwer, vor dir nackt zu sein.“<br />

Kelly trat an den jungen Mann heran und nahm seine Hände. „Dazu hast du keinen Grund.<br />

Nicht bei mir. Du hast einen so wundervollen Körper, den brauchst du wirklich nicht vor mir<br />

verstecken. Und ich werde ganz bestimmt nicht bei jeder Gelegenheit über dich her fallen,<br />

auch, wenn es mir schwer fällt.“<br />

„Das weiß ich. Nur darum kann ich mich vor dir ausziehen. Ich habe kapiert, dass du kei-<br />

ne Erwartungen in mich setzt, die mich unter Druck bringen würden.“ Er lächelte glücklich.<br />

Kelly zog ihn sanft ins Bad und unter die Dusche. Sie drehte das warme Wasser auf und<br />

als es über ihre Körper strömte, griff sie nach einem Schwamm und seifte diesen ein. Dann<br />

begann sie liebevoll, Shawn zu waschen. Er stand entspannt still und genoss die sanfte Be-<br />

handlung ganz offensichtlich. Als Kelly fertig war ließ der Schauspieler ihr dieselbe Behand-<br />

lung zukommen. Er wusch auch ihre langen Haare und bearbeitete diese hinterher mit einer<br />

Spülung. Schließlich traten sie aus der Dusche heraus und rubbelten sich trocken. Da es ziem-<br />

lich warm war, stiegen sie wieder in kurze Hosen und während Kelly ein trägerloses T-Shirt<br />

überstreifte griff Shawn nach einem leichten Hemd. Die Therapeutin bürstete sich die Haare<br />

817


durch und band sie noch nass hoch. Shawn sah ihr, aufs Bett gelümmelt, dabei zu. Kelly turn-<br />

te zu ihm auf die Matratze und kuschelte sich an ihn. Nach einem leidenschaftlichen Kuss<br />

fragte sie:<br />

„Wie fühlst du dich? Alles klar bei dir?“<br />

„Warum fragst du?“<br />

„Nun, wegen Lauren. Wenn sie auch keine Einzelheiten weiß, kennt sie doch deine Kran-<br />

kenakte und weiß daher im Groben, was man dir während der Gefangenschaft angetan hat.“<br />

Shawn atmete tief durch.<br />

„Ja, ist mir klar. Meinst du denn, sie wird davon anfangen?“<br />

„Gezielt sicher nicht, aber es kann passieren, dass das Thema irgendwie aufkommt. Ich<br />

möchte von dir wissen, wie ich dann reagieren soll.“<br />

Der Schauspieler seufzte. „Naja, ich denke, wenn es passiert, passiert es eben. Nicht zu<br />

ändern. Ich werde bestimmt keine Einzelheiten zum Besten geben, aber wenn sie dich etwas<br />

Konkretes fragt, kannst du auch antworten.“<br />

Kelly sah Shawn eindringlich an. „Bist du sicher?“, fragte sie nach.<br />

Nach einem tiefen Atemzug nickte Shawn langsam. „Ja.“<br />

Zusammen gingen sie auf die Terrasse zurück und setzten sich nebeneinander auf die gro-<br />

ße Hollywoodschaukel, die Kelly hier stehen hatte. Shawn machte sich lang und legte seinen<br />

Kopf in Kellys Schoß.<br />

„Ach, ist das schön ...“, seufzte er selig.<br />

„Jaja, und ich bin wieder mal das Kissen.“, grummelte die Psychologin gespielt genervt.<br />

„Das machst du doch gerne, gib es ruhig zu.“<br />

- Du hast ja gar keine Ahnung wie gerne! -<br />

dachte die junge Frau. Laut sagte sie: „Ha! Wer wird schon gerne als Kopfkissen miss-<br />

braucht?“<br />

Shawn lag still da, genoss das wunderschöne Gefühl, Kelly so dicht zu spüren. Plötzlich<br />

griff er das Gespräch von vorher noch einmal auf.<br />

„Die erste Zeit nach meiner Befreiung habe ich mich in Kleidungsstücken absolut unwohl<br />

gefühlt. Es kam mir so vor, als wäre alles eng, sperrig, unbequem. Als ich mich aber wieder<br />

daran gewöhnt hatte, eine Hose über dem Hintern zu haben, hatte ich lange das wilde Verlan-<br />

gen, diese nie wieder auszuziehen. Endlich war da etwas, dass verhinderte, dass jeder ... mich<br />

begrapschen konnte, verstehst du? Dass man mir an den ... Penis fassen konnte, an die Eier,<br />

an den Hintern. Die ersten Tage ... Da war ich ja noch ständig gefesselt. Carrie hatte das ja so<br />

treffend erklärt: Bis du verinnerlicht hast, dass dein Körper nicht mehr dir gehört. Da war es<br />

schrecklich, angefasst zu werden, aber leichter, weil ich nichts machen konnte. Später, als ich<br />

die Hände selbstständig auf dem Rücken halten musste, puh, das war viel schwerer. Da kam<br />

dann dieses grässliche Gefühl auf, dass ich freiwillig still halten würde. Ich hab inzwischen<br />

818


egriffen, dass dem nicht so war, aber damals und auch lange Zeit danach fühlte es sich so an.<br />

Als strecke ich ihnen freiwillig den Schwanz hin, damit sie ... ihn anfassen konnten.“<br />

Kelly strich Shawn zärtlich mit den Fingern durch die Haare. „Baby, ich schwöre dir, ich<br />

werde dich nur im Intimbereich berühren wenn du es willst!“<br />

Shawn sah zu ihr auf. In seinen grünen Augen funkelten Verlegenheit und Frechheit um<br />

die Wette. „Das weiß ich. Möglich, dass ich es heute Abend will.“ Er verstummte vor Verle-<br />

genheit. Kelly wurde warm. Zum Glück klingelte es in diesem Moment und sie wurde einer<br />

Antwort enthoben. Shawn setzte sich enttäuscht auf. Die Therapeutin ging an die Tür und<br />

öffnete.<br />

„Laurie!“<br />

Lachend fielen sich die Frauen um den Hals.<br />

„Mensch, du Rumtreiberin. Wir haben uns noch nie solange nicht gesehen seit wir uns<br />

kennen. Die drei Worte in Eildon zählen nicht. Du siehst fantastisch aus! So ungerne ich es<br />

zugebe, aber es bekommt dir sehr gut, verliebt zu sein. Wie geht es euch? Wie geht es Shawn?<br />

Ich bin derartig gespannt auf ihn, dass glaubst du nicht.“<br />

„Du wirst ihn nicht wieder erkennen. Er ist ein anderer Mensch.“ Leise fügte sie hinzu:<br />

„Möglich, dass er dir gegenüber ein wenig befangen sein mag. Er weiß, dass du weißt, was<br />

mit ihm gemacht wurde, dass belastet ihn natürlich.“<br />

Lauren nickte. Sie hatte mit so etwas gerechnet. „Kann ich verstehen. Ich werde mich be-<br />

mühen, mir nichts anmerken zu lassen. Wir sollten das Thema vielleicht ganz vermeiden, oder<br />

was meinst du?“<br />

Kelly schüttelte langsam den Kopf. „Grundsätzlich würde ich ja sagen, aber er wird sich<br />

daran gewöhnen müssen, dass über das gesprochen wird, was passiert ist. Wenn er nach Hau-<br />

se geht wird er das Thema auch nicht verhindern können.“<br />

„Du bist der Boss. Nun lass mich deinen zukünftigen Mann aber erst einmal sehen und<br />

endlich auch richtig kennenlernen.“<br />

Kelly hakte die Freundin unter und zog sie Richtung Terrasse. Shawn sprang auf, als die<br />

beiden Frauen zu ihm traten. Feuerrot anlaufend trat er zu Lauren und stotterte:<br />

„Sie müssen Inspector Demsey sein. Ich kann mich nicht ... Ich meine, ich weiß nicht, was<br />

im Krankenhaus ... Ich erinnere nichts aus diesen Tagen. Ich weiß nur, dass ich mich noch<br />

nicht bei Ihnen bedankt habe. Dass möchte ich unbedingt endlich nachholen. Ich danke Ihnen<br />

unendlich, dass Sie mich daraus geholt haben. Ich weiß nicht, wie ich das je gut machen<br />

kann.“ Er drückte Laurens Hand und seine Augen schwammen in Tränen. Laurie schluckte.<br />

„Erst einmal, ich bin für den künftigen Mann meiner besten Freundin selbstverständlich<br />

Lauren. Und dann, Shawn, es macht überhaupt nichts, dass du dich nicht bedankt hast. Du<br />

warst nach deiner Befreiung nun wirklich nicht in der Verfassung, irgendetwas zu bewerkstel-<br />

819


ligen. Ich wusste, dass du dich irgendwann bedanken würdest, obwohl es nicht nötig ist.<br />

Wenn jemandem zu danken ist dann Stuart Evans alias Brett. Ohne seinen Tipp hätten wird<br />

dich vermutlich erst gefunden, wenn von dir nur noch Knochen übrig gewesen wären. Also<br />

zerbrich dir nicht den Kopf. Ich freue mich unglaublich, dich jetzt hier so verwandelt wieder<br />

zu sehen.“<br />

„Ja, nur ihm kann ich nicht mehr danken, dir schon. Also, Lauren, noch einmal vielen<br />

Dank. Und dass du auf die Idee gekommen bist, mich zu Kelly zu schicken, oder vielmehr<br />

Kelly zu mir, ist noch etwas, was ich dir niemals vergelten kann. Ich weiß, dass du es nicht ...<br />

nicht sehr gut heißt, was da zwischen Kelly und mir passiert ist. Doch es ist nicht mehr zu<br />

ändern. Wir haben sehr lange dagegen an gekämpft, ohne Erfolg. Aber ich werde ganz be-<br />

stimmt nichts tun, was Kellys Karriere schaden könnte. Wir sind uns einig, wie es weiter ge-<br />

hen wird und an vorrangigster Stelle steht dabei Kelly und ihre Arbeit zu schützen.“<br />

Laurie war überrascht, dass Shawn darüber sprach. Auch Kelly hätte das nicht erwartet.<br />

Sie legte glücklich einen Arm um Shawns Taille und fragte: „Wollen wir uns nicht endlich<br />

setzen? Nat kommt erst gegen halb 8 Uhr, wir haben also noch Zeit.“<br />

Als Lauren sich gesetzt hatte fragte Kelly: „Was kann ich dir zu Trinken anbieten, Süße?“<br />

„Wie immer, Doc. Das weißt du doch.“<br />

„Wird das nicht langweilig auf Dauer?“ Kelly sah Shawn an. „Was möchtest du?“<br />

Der Schauspieler war noch ein wenig verkrampft. „Ich glaube, ich gönne mir einen Whis-<br />

ky, falls du sowas im Haus hast.“<br />

„Wird geliefert.“ Sie verschwand ins Haus und war bald mit einem kleinen Tablett mit<br />

drei Gläsern darauf zurück.<br />

„Hier hast du deinen ewigen Campari Soda.“ Sie drückte Laurie ein Glas in die Hand.<br />

Shawn bekam seinen Whisky und Kelly selbst hatte sich einen Manhattan gemixt. Als alle<br />

ihre Gläser in der Hand hatten, hob Laurie ihres an.<br />

„Auf euch beide.“<br />

Sie stießen an und Lauren kam nicht umhin, Kelly und Shawn zu beobachten. Sie hatte die<br />

Freundin noch nie so glücklich gesehen. Lauren hatte sich immer gefragt, warum die bildhüb-<br />

sche junge Frau fast durchgängig alleine gewesen war. Kelly hatte gelacht und gesagt, der<br />

Richtige wäre eben einfach noch nicht vorbei gekommen. Dass der Richtige nun ausgerechnet<br />

ein Patient war hatte Laurie nicht erwartet. Doch die AFP Beamte wusste nur zu gut, dass<br />

Kelly niemals leichtfertig handelte. Sie war sicher, dass die Freundin sehr gründlich nachge-<br />

dacht hatte, bevor sie sich auf diese Beziehung einließ. Wenn sie bereit war, für Shawn ihre<br />

Karriere, ihren Beruf zu riskieren, musste es wirklich Liebe sein. Dem jungen Amerikaner<br />

brauchte Lauren nur in die Augen zu schauen wenn er Kelly ansah um zu wissen, was dieser<br />

empfand. Demsey hatte sich eigentlich vorgenommen, ihrer besten Freundin in einer ruhigen<br />

820


Minute noch einmal ins Gewissen zu reden, doch diesen Plan verwarf sie nun. Hier brauchte<br />

nichts mehr gesagt zu werden, dass war Lauren schlagartig klar.<br />

„Erzählt, was habt ihr alles gesehen? Ich habe euch dermaßen beneidet! Ich lebe nun<br />

schon fast dreißig Jahre hier, aber die Zeit, mir unsere Heimat mal gründlich anzusehen, hatte<br />

ich in all den Jahren noch nicht.“ Lauren nippte an ihrem Drink und sah Kelly und Shawn<br />

auffordernd an. Begeistert fing Shawn zu erzählen an. Laurie hörte fasziniert zu. Dass das der<br />

gleiche junge Mann war, den sie vor fast einem halben Jahr so gut wie tot aus dem Horror-<br />

haus geborgen hatte war fast nicht zu glauben. Sie kam nicht umhin, immer wieder verblüfft<br />

den Kopf zu schütteln. Aus dem apathischen, stummen, Panik erfüllten, Suizid gefährdeten<br />

Häufchen Elend war ein lebensfroher, Energie geladener, selbstbewusster junger Mann ge-<br />

worden. Was immer in den vergangenen fast zweiundzwanzig Wochen zwischen Kelly und<br />

Shawn besprochen worden war, es hatte Wunder gewirkt. Gerade berichtete der Schauspieler<br />

von der Begegnung mit dem Taipan am Lake Amadeus.<br />

„Als ich das Vieh hinter mir auf dem Stein sah habe ich mir vor Angst fast in die Hose<br />

gemacht.“, meinte er grinsend.<br />

Laurie schnaufte angespannt. Sie wusste als gebürtige Australierin natürlich um die Ge-<br />

fährlichkeit der einheimischen Giftschlangen und war dementsprechend erschrocken. „Gott,<br />

wie seid ihr denn aus der Situation raus gekommen? Ausgerechnet ein Taipan!“<br />

Kelly erläuterte, wie sie die gefährliche Schlange abgelenkt hatte. „Damals wurde mir<br />

schlagartig klar, dass ich für Shawn erheblich mehr empfand als gut war. Als ich dazu kam<br />

und den Taipan hinter ihm sah, wurde mir schlecht vor Angst. Ich habe mich noch nie zuvor<br />

so zwingen müssen, nicht in Panik zu geraten. Und als ich Shawn hinterher unversehrt im<br />

Arm hielt, nachdem dieser blöde Giftwurm endlich beschlossen hatte, das Weite zu suchen,<br />

wollte ich ihn am liebsten nie wieder los lassen.“ Kelly lachte verlegen. „Immerhin hatte ich<br />

da noch den festen Willen, mich nicht von meinen Gefühlen überrollen zu lassen.“<br />

„Das hast du ja auch quälend lange durchgehalten.“<br />

Es klingelte und Kelly sah zur Uhr. „Das müsste Nat sein.“<br />

Shawn stand auf. „Ich werde ihn mal rein lassen.“ Er verschwand ins Haus und Laurie<br />

stieß hastig hervor:<br />

„Es ist nicht zu fassen! Ist das wirklich derselbe Mann, mit dem du aus dem Krankenhaus<br />

verschwunden bist? Er sieht so aus, aber ...“<br />

Kelly strahlte glücklich. Sie war ungeheuer erleichtert, dass Shawn offensichtlich keine<br />

größeren Probleme mit dem Besuch von Lauren hatte. „Ja, kaum zu glauben, was?“<br />

„Allerdings!“<br />

Sie konnten nicht weiter sprechen, denn gerade kam Shawn mit dem jungen Aborigine zu-<br />

rück. Nat und Kelly fielen sich freudig um den Hals.<br />

821


„Hey, meine Süße. Schön, dich wieder in Sydney zu haben. Wehe, du dampfst noch mal<br />

solange ab. Dann schicke ich dir den Stamm hinterher, damit er dich einfängt und zurück-<br />

bringt.“<br />

„Da hast du meine volle Unterstützung.“, erklärte Laurie überzeugt. Sie und Nat begrüßten<br />

sich fröhlich.<br />

„Wie sieht es aus, kriege ich ein VB?“, fragte der junge Aborigine, nachdem er sich in ei-<br />

nen der gemütlichen Terrassenstühle gelümmelt hatte.<br />

„Schon unterwegs.“ Shawn verschwand noch einmal ins Haus und kam mit einer Flasche<br />

Bier und einem Glas zurück. Kaum saß er wieder klingelte es erneut und Kelly grinste.<br />

„Das dürfte unser Futter sein. Laurie, hilfst du mir kurz mit den Tellern?“<br />

Die jungen Frauen liefen ins Haus, Kelly an die Tür, Laurie in die Küche. Minuten später<br />

war der Tisch gedeckt, dass Essen stand bereit und sie stießen noch einmal an. Dann sagte<br />

Kelly:<br />

„Lasst es euch schmecken.“<br />

Das Essen war mehr als gut und überreichlich und schließlich waren sogar die jungen<br />

Männer gesättigt. Schnell räumten sie gemeinsam den Tisch ab, Kelly brachte neue Getränke<br />

und sie machten es sich auf der Terrasse gemütlich. Nat erzählte von den Tagen, nachdem<br />

Kelly und Shawn aus Haasts Bluff verschwunden waren.<br />

„Deinem neuen Patenkind geht es hervorragend. Es wächst und gedeiht prächtig. Ich soll<br />

dich übrigens von allen ganz lieb grüßen. Und dir, Shawn, soll ich von Jack ein Küsschen<br />

geben. Ich hoffe, es reicht auch, wenn ich das nur symbolisch mache.“<br />

Er warf Shawn lachend eine Kusshand zu. Ernsthaft entgegnete der Schauspieler: „Du<br />

kannst Jack ausrichten, das Küsschen ist angekommen und wird mit Freude entgegen ge-<br />

nommen.“<br />

Nat kicherte. „Na, das will ich hoffen. Ich habe es immerhin den ganzen Weg von Haasts<br />

Bluff bis hier geschleppt.“ Er nahm einen Schluck Bier und erzählte: „Ich soll dir von Rose<br />

auch noch einmal ganz herzlich danken. Und Jack lässt dir sagen, dass er es gar nicht erwar-<br />

ten kann, endlich Gegengifte zu bauen.“<br />

Kelly und Shawn lachten. Laurie jedoch verstand nicht, um was es ging. So erläuterte Kel-<br />

ly mit kurzen Worten, was in Haasts Bluff los gewesen war. Als Lauren im Bilde war meinte<br />

sie:<br />

„Das ist unglaublich großzügig von dir, Shawn. Du bietest dem Jungen so eine Chance,<br />

die er anders nie bekommen hätte.“<br />

Shawn schüttelte den Kopf. „Ach, halb so wild.“, wiegelte er ab. „Ich habe durch meine<br />

Rollen in den verschiedenen Serien beziehungsweise Filmen viel Geld verdient. Warum sollte<br />

ich es nicht endlich mal sinnvoll einsetzen?“<br />

822


Nat zog die Augenbrauen hoch. „Trotzdem verdammt großzügig von dir, Ami. Immerhin<br />

sind das für dich wildfremde Menschen gewesen.“<br />

„Na, vielleicht werde ich ja mal irgendwann von einer Schlange gebissen und da ist es<br />

doch gut zu wissen, dass es jemanden gibt, der Gegengifte baut.“<br />

Sie unterhielten sich noch eine Weile über die Reise, dann fragte Nat plötzlich:<br />

„Wo werdet ihr später leben, hier oder in den Staaten?“<br />

Er sah Kelly und Shawn herausfordernd an. Shawn kannte seine direkte Art schon und war<br />

daher nicht sehr erstaunt über die Frage. Und dass Nat schnell merken würde was los war hat-<br />

te Kelly ja vorher gesagt. Daher konnte Shawn ruhig antworten:<br />

„Hier! Das stand für mich schon fest bevor ... Naja, bevor Kelly sich von meinem Gebettel<br />

erweichen ließ. Ich möchte nie wieder irgendwo anders als hier in Australien leben.“<br />

„Obwohl du hier die schrecklichste Zeit deines Lebens verbracht hast?“, entfuhr es Lauren<br />

verblüfft.<br />

„Ja, trotzdem. Ich habe gleichzeitig die bisher schönste Zeit meines Lebens hier verbracht.<br />

Euer Land ist so unglaublich schön, wie sollte ich da den Wunsch haben, in die Staaten zu-<br />

rückzukehren? Ich hoffe sehr, ich kann meine Eltern überzeugen, mit mir zu kommen. Ich<br />

habe ein sehr gutes Verhältnis zu ihnen und wäre glücklich, wenn ich sie weiter in der Nähe<br />

hätte. Doch selbst, wenn sie sich dagegen entscheiden würden, ich ziehe auf jedem Fall um.“<br />

Er lachte. „Seht euch doch nur dieses Haus an. Besser kann ich es nicht treffen. Und irgendei-<br />

nen TV Sender wird es hier doch wohl auch geben. Und wenn mich keiner haben will arbeite<br />

ich eben als Reiseführer. Ich habe bei Kelly so viel gelernt, das kriege ich ganz locker auf die<br />

Reihe.“<br />

„Klar, mein Schatz. Ich komme dir dann auch schnell zu Hilfe, wenn du dich das erste<br />

Mal im Busch verirrt hast.“<br />

Sie wandte sich an Laurie. „Hast du bei Terry/Eva oder Alan ... Mark etwas erreichen<br />

können? Nette Personen, was?“<br />

Lauren verzog angewidert das Gesicht. „Ja, ganz allerliebst. Die Dame, Eva, ist nicht<br />

leicht zu knacken. Die ist eiskalt. Ich habe Scotty auf sie angesetzt, er wird sie weiter bearbei-<br />

ten, in der Hoffnung, vielleicht etwas Brauchbares aus ihr heraus zu holen. Und Mark liegt<br />

noch im Krankenhaus, mit ihm hatte ich noch nicht das zweifelhafte Vergnügen.“<br />

Jetzt war es an Nat, verwirrt zu gucken. „Wer ist Terry? Oder Eva? Und Mark?“<br />

Kelly warf Shawn einen kurzen Blick zu, doch dieser nickte leicht. So erwiderte Kelly:<br />

„Terry, oder besser Eva Moore, ist eine der Entführerinnen. Als wir in Perth unterwegs waren<br />

stand die Frau plötzlich im London Court vor uns. Sie erkannte Shawn sofort und reagierte<br />

wie ferngesteuert. Sie griff nach einer Waffe, die sie bei sich hatte und versuchte, Shawn zu<br />

823


erschießen. Was sie sich dabei gedacht hat, in aller Öffentlichkeit und vor dutzenden von<br />

Zeugen, weiß sie vermutlich selbst nicht. Kurzschlussreaktion, denke ich.“<br />

ein.<br />

„Scheiße! Aber sie hat es offensichtlich ja nicht geschafft, was?“, warf Nat erschrocken<br />

„Nein, sie hat es nicht geschafft. Es gelang mir, Shawn blitzschnell aus der Schussbahn zu<br />

stoßen. Dann habe ich mir die Lady zur Brust genommen.“<br />

Lauren lachte fröhlich. „Und wie! Als ich sie sah habe ich mich gefreut. Du hast sie<br />

gründlich demoliert. Ich war begeistert.“<br />

Nat grinste zufrieden. Stolz wie ein Bruder sah er Kelly an. „Meine Kampfmaus. Shawn,<br />

wenn du wüsstest, was du für ein Glück hast.“<br />

Shawn meinte ruhig: „Das weiß ich, sei sicher.“<br />

„Gut, und wer ist Mark? Lasst euch doch um Himmels Willen nicht jedes Wort aus der<br />

Nase ziehen.“<br />

Bilde.<br />

Mit kurzen Worten erklärte Kelly, um wen es sich bei Mark handelte. Nun war Nat im<br />

Der junge Aborigine beobachtete den Schauspieler unauffällig. Selbst zu den Tagen in<br />

Haasts Bluff war der Unterschied in seinem Verhalten gewaltig. So wie Lauren den Schau-<br />

spieler kennengelernt hatte, kannte Nat ihn ja gar nicht.<br />

„Du hast dich sehr positiv verändert. In Haasts Bluff warst du noch ganz anders drauf. Es<br />

ist immer wieder erstaunlich, was Kelly zu schaffen imstande ist.“<br />

Peinlich berührt erwiderte Shawn: „Ja, ich kann es selbst kaum glauben. Ich dachte, ich<br />

würde nie wieder ... so was wie Glück und Zufriedenheit empfinden können. Doch da habe<br />

ich mich gründlich geirrt. Kelly hat mir mein Leben zurückgegeben.“<br />

„Ich habe dir lediglich gezeigt, dass nichts auf der Welt so schlimm ist, dass man es nicht<br />

irgendwann hinter sich lassen könnte.“<br />

Shawn schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, Babe, du hast so viel mehr getan. Das<br />

weißt du auch. Ich hatte mich komplett aufgegeben. Du weißt das besser als jeder andere. Als<br />

ich zu dir kam war ich nur noch ... nur noch eine leere Hülle. Du hast diese Hülle wieder mit<br />

Lebenswillen und Glück gefüllt. Ohne dich wäre ich gar nicht mehr am Leben. Ich hätte eine<br />

Möglichkeit und Gelegenheit gefunden, Schluss zu machen.“<br />

Er verstummte. Nat und Lauren sahen betreten zu Boden. Dass die Unterhaltung eine sol-<br />

che Wendung nahm war nicht vorgesehen gewesen. Kelly lächelte. Lauren versuchte, die gar<br />

zu gefühlsduselige Stimmung ein wenig zu verändern. Energisch meinte sie:<br />

„Wisst ihr, wie es aussieht war Terry/Eva zusammen mit Carrie an zwei anderen Entfüh-<br />

rungen beteiligt. Sie gab zu, im November 2005 dabei gewesen zu sein, als in Athen der 28<br />

jährige Alexandros Georgios entführt wurde. Auch die Entführung eines gewissen Tom Han-<br />

son im August 2008 in Anchorage gab sie zu. Georgios wurde im Juni 2006 mit Draht gefes-<br />

824


selt und so gut wie komplett verwest in Budapest gefunden. In einem Abwasserkanal. Und die<br />

Leiche des 32 jährigen Tom Hanson wurde im Januar 2009 in Saskatoon gefunden. In einem<br />

leer stehenden Haus etwas außerhalb der Stadt. Auch bei ihm war die Verwesung schon so<br />

weit fortgeschritten, dass die Todesursache nicht mehr fest gestellt werden konnte. Der Ge-<br />

richtsmediziner in Saskatoon konnte nur Erstechen und Erschießen ausschließen, da sich kei-<br />

nerlei Spuren an den Knochen fanden. Ähnlich sah es in Budapest aus.“<br />

Laurie nahm einen Schluck ihres Getränkes.<br />

„Dann redet sie ja!“, meinte Kelly angespannt.<br />

„Oh ja, sie redet eine ganze Menge. Sie weiß, dass wir sie auf jedem Fall für Shawn ran<br />

kriegen werden. Dafür bekommt sie lebenslänglich. Nachdem wir nun auch Mark geschnappt<br />

haben, boten wir ihr einen Deal an: Sie sagt uns, wo Karen und Carrie stecken und die Staats-<br />

anwaltschaft bietet ihr ein Strafmaß unterhalb lebenslänglich an. Doch scheinbar ist ihre<br />

Angst vor Carrie größer als die Angst, für den Rest ihres Lebens im Gefängnis zu sitzen. Sie<br />

redet über alles, nur nicht darüber, wo die Anderen sich aufhalten. Was ihr allerdings heraus<br />

gerutscht ist ... Das war nicht geplant, sie war entsetzt, als sie das in einem der Verhöre verse-<br />

hentlich zur Sprache brachte: Carrie und Alan sind Geschwister.“<br />

Shawn schnaubte. Also hatte er die ganze Zeit Recht gehabt mit seiner Vermutung! Carrie<br />

und Alan waren mehr als nur Arbeitgeber und Arbeitnehmer.<br />

„Ich hab es gewusst! Ich habe die ganze Zeit gespürt, dass da mehr war als nur das Ver-<br />

hältnis zwischen Boss und Untergebenem. Geschwister ... Sieh einer an.“<br />

„Ich habe dir ja gesagt, das wird sich von ganz allein irgendwann klären.“ Kelly griff nach<br />

Shawns Linker und hielt diese fest.<br />

„Du hast mal wieder Recht gehabt.“, stimmte der Schauspieler zu. „Was hat ... Terry denn<br />

noch so erzählt?“, wandte er sich wieder an Laurie.<br />

Die junge AFP Inspektorin schnaufte angespannt. „Nun, sie war sehr mitteilsam in Bezug<br />

auf ... auf das, was sie dir und den anderen jungen Männern antaten.“<br />

Shawn verkrampfte sich, das konnte Kelly sehr genau spüren. Er senkte den Blick gen<br />

Boden und schluckte schwer.<br />

„Das ist ... ähm ... ich ...“ Die Worte blieben ihm im Halse stecken und er verstummte be-<br />

troffen..<br />

„Honey, es war doch klar, dass das in Verhören zur Sprache kommen würde. Mach dir bit-<br />

te keine Gedanken darüber. Das sind Bundesbeamte, die die Verhöre führen und die haben<br />

schon ganz andere Sachen gehört.“<br />

„Ja, sicher ...“, meinte Shawn leise.<br />

Lauren sah den jungen Amerikaner an. „Shawn, du solltest dir da wirklich keinen Kopf<br />

drüber machen. Ich wusste aus deinen Krankenhausunterlagen ohnehin schon viel. Es fällt<br />

825


jedem Opfer eines solchen Verbrechens schwer, sich mit der Tatsache abzufinden, dass auf<br />

die eine oder andere Weise Details ihrer Torturen bekannt werden, die sie nicht bekannt wis-<br />

sen möchten. Aber das lässt sich nicht vermeiden. Bei mir und meinen Leuten sind diese De-<br />

tails sicher aufgehoben. Niemand wird auf die Idee kommen, dich für irgendetwas, was dort<br />

geschah, verantwortlich zu machen, das schwöre ich dir. Du musst uns da einfach etwas ver-<br />

trauen.“<br />

Shawn hob zögernd den Kopf. Er sah in den Augen der jungen Frau nur Aufrichtigkeit<br />

und Zuneigung. Er atmete tief durch.<br />

„Du hast natürlich Recht. Ich wusste, dass das eines Tages passieren würde. Es ist nur un-<br />

glaublich schwer für mich, mir vorzustellen dass das, was ich in mühevoller Kleinarbeit qual-<br />

voll bei Kelly aufgearbeitet habe, für das ich mich gewunden habe vor Scham, euch so mir<br />

nichts dir nichts erzählt wird.“<br />

Lauren nickte verständnisvoll. „Das kann ich mir nur zu gut vorstellen. Trotzdem, lass<br />

dich davon jetzt nicht runter ziehen. Es muss zur Sprache kommen, basta. Du hast es fast hin-<br />

ter dir. Du machst auf mich den Eindruck, als könntest du mit Kelly an deiner Seite alles<br />

schaffen. So, wie ich dich kennen gelernt habe, hatte ich Angst davor, dich wieder zu sehen.<br />

Aber was ich hier jetzt sehe ist ... wow! Wenn du es nicht schaffst, dann schafft es keiner.“<br />

Shawn konnte ein kleines, gequältes Lachen ausstoßen. „Danke dir.“ Er sah Nat an, der<br />

still zugehört hatte. Kurz zögerte er, dann aber stieß er hastig, als hätte er Angst, der Mut kön-<br />

ne ihn wieder verlassen, hervor: „Sie haben mich monatelang misshandelt, sexuell miss-<br />

braucht, gefoltert, in jeder Weise, die du dir nur vorstellen kannst gequält. Als ich in Kellys<br />

Obhut kam war ich innerlich wie abgestorben. Ich hatte nur noch den einen Wunsch, auch<br />

äußerlich zu sterben, wenn du verstehst, was ich meine. Nach dem, was ich dort ertragen<br />

musste, hatte ich nicht das Gefühl, je wieder auch nur ansatzweise ein halbwegs normales<br />

Leben zu führen. Ich habe im Laufe der Wochen sicher Fortschritte gemacht, doch komi-<br />

scherweise sah ich erst nach der Begegnung mit Terry in Perth klar. Ich merkte plötzlich, wie<br />

schnell das Leben wirklich zu Ende gehen kann. Und mir wurde deutlich bewusst, dass ich die<br />

letzten Wochen zwar mit der Aufarbeitung der Entführung, aber nicht mit ihrer Verarbeitung<br />

verbracht hatte. Ich habe Kelly erzählt, habe mich auch besser gefühlt, wenn ich etwas los<br />

geworden war, doch letztlich habe ich mich weiter in Jammern und Selbstmitleid gewälzt. An<br />

dem Abend nach der Begegnung mit Terry wurde mir das plötzlich überwältigend deutlich<br />

klar. Ich lebte in ständiger Angst, einem von denen zu begegnen, war paranoid und konnte<br />

nichts dagegen tun. Doch an dem Abend erst merkte ich das. Und plötzlich war die Angst<br />

weg. Ich merkte, dass ich nicht gekämpft, sondern zugelassen hatte, vollkommen abhängig<br />

von Kelly zu sein. Dank Terry und vor drei Tagen Mark, werde ich jetzt aber Kämpfen! Ich<br />

werde es schaffen, dass weiß ich nun auch sicher.“<br />

826


„Und, war es sehr schlimm?“<br />

*****<br />

Es war nach 24 Uhr und Kelly und Shawn lagen seit einigen Minuten eng aneinander ge-<br />

kuschelt im Bett. Der Schauspieler nickte, schüttelte aber fast gleichzeitig den Kopf.<br />

„Ja und nein. Als Lauren erzählte, dass Terry sehr redselig sei, dachte ich, ich versinke je-<br />

den Moment im Erdboden. Doch dann wurde mir klar, dass es natürlich zur Sprache kommen<br />

würde. Und mir wurde klar, dass es nicht morgen in jeder australischen Zeitung zu lesen ste-<br />

hen würde, nur, weil nun einige Leute mehr wissen, was man mir angetan hat. Natürlich wer-<br />

den es noch mehr Menschen erfahren. Je eher ich mich an den Gedanken gewöhne, desto bes-<br />

ser. Als das in meinem Schädel angekommen war ... Da wurde der Abend richtig schön. Lau-<br />

ren ist sehr nett. Kein Wunder, dass ihr beste Freundinnen seid. Ihr seid euch ähnlich. Und<br />

Nat mochte ich schon in Haasts Bluff. Ich denke, wir werden mit der Zeit auch gute Freunde.“<br />

Kelly nickte. Sie hatte sehr gehofft, dass Shawn und Nat sich verstehen würden. Shawn<br />

brauchte dringend auch männliche Bekannte hier in Sydney. Nat war da genau richtig. „Da-<br />

von gehe ich aus. Ich finde es großartig, dass ihr euch verabredet habt.“<br />

Nat hatte Shawn gefragt, ob sie am kommenden Tag nicht gemeinsam zum Surfen gehen<br />

sollten. Er hatte seinen freien Tag und wollte nach Manly raus, dort waren bei dem derzeit<br />

herrschenden Wind hervorragende Bedingungen zum Surfen. Shawn hatte nur ganz kurz ge-<br />

zögert und Kelly einen fragenden Blick zugeworfen. Unmerklich hatte die junge Frau genickt<br />

und Shawn hatte gut gelaunt zugestimmt. Um 10 Uhr würde Nat kommen und Shawn abho-<br />

len.<br />

„Ihr werdet viel Spaß haben, da bin ich sicher. Das wird ein toller Tag für dich. Und in<br />

den Royal Nationalpark können wir auch übermorgen fahren.“<br />

„Ja, ich denke auch. Du bist nicht sauer, wenn ich abhaue?“<br />

„Natürlich nicht, Baby. Ich freue mich darüber.“<br />

Shawn gähnte herzhaft. „Ich bin müde. Lass uns Schlafen, okay, es ist schon ziemlich<br />

spät. Gute Nacht. Ich liebe dich.“<br />

Er gab Kelly noch einen zärtlichen Kuss, dann fielen ihm die Augen zu. Kelly lauschte<br />

noch eine Weile seinen ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen. Doch schließlich schlief auch sie<br />

ein.<br />

69) Ein Schritt nach vorn<br />

Viele sind hartnäckig in Bezug auf den einmal eingeschlagenen Weg, wenige in<br />

Bezug auf das Ziel.<br />

Friedrich Nietzsche<br />

827


Punkt 10 Uhr am kommenden Morgen war Nat da. Shawn war im Garten und holte das<br />

Surfboard, welches er benutzen wollte. In der Küche nahm Kelly Nat bei den Händen.<br />

„Du musst mir versprechen, ein wenig auf Shawn zu achten, okay? Wenn etwas ist,<br />

kommt lieber früh zurück als dass sich bei ihm irgendwas aufbaut, was ich hinterher mühsam<br />

wieder einreißen muss. Er ist sehr viel besser drauf, aber in seiner Euphorie könnte er sich<br />

selbst überschätzen, verstehst du?“<br />

„Sweety, ich werde auf ihn aufpassen, dass verspreche ich dir. Wenn etwas sein sollte,<br />

bringe ich ihn sofort zurück. Aber es wird nichts sein, da bin ich sicher.“<br />

Sie wurden von Shawn unterbrochen, der in die Küche kam. „Hey, du bist schon da, super.<br />

Dann lass uns mal aufbrechen, ich kann es gar nicht abwarten.“ Er zog Kelly an sich und<br />

küsste die junge Therapeutin leidenschaftlich. „Wirst du mich vermissen?“, fragte er grinsend.<br />

„Und wie ...“, erwiderte die Psychologin ironisch. „Ich wünsche euch jedenfalls viel Spaß.<br />

Lasst euch nicht anknabbern. Und sauft nicht ab.“<br />

Shawn küsste sie noch einmal und versprach: „Ich lasse mich nicht anknabbern und ich<br />

saufe ganz bestimmt nicht ab, versprochen!“<br />

„Das will ich doch hoffen. Nun macht schon, dass ihr los kommt.“ Sie brachte die jungen<br />

Männer zur Tür und winkte ihnen nach, als Nats Pajero Geländewagen die Straße hinunter<br />

fuhr und dann abbog.<br />

Nat fuhr durch kleinere Straßen in die Innenstadt hinunter. Er wollte dem jungen Ameri-<br />

kaner auf diese Weise gleich etwas von der Stadt zeigen. Nach Manly raus war es eine Fahrt<br />

von sechzig bis neunzig Minuten, je nachdem, wie sie verkehrsmäßig durch kommen würden.<br />

Die ersten Minuten war Shawn still. Er sah aus dem Fenster und wirkte etwas unsicher. Nat<br />

ließ ihn in Ruhe. Er hatte das Gefühl, der junge Mann müsse selbst damit klar kommen, plötz-<br />

lich ohne Kelly zu sein. Nach vielleicht zehn Minuten taute Shawn ein wenig auf.<br />

„Diese kleinen Straßen sind wunderschön. Wenn man die Häuser so sieht könnte man das<br />

Gefühl haben, hier leben nur reiche Leute.“<br />

„Ja, die Stadtteile hier sind auch teures Pflaster. So dicht an der City und doch auch am<br />

Wasser, dafür darfst du einiges hin blättern. Allerdings ist das Bauen hier in Australien grund-<br />

sätzlich billig. Wir haben so viel Platz, dass es nur in den Zentren große Mietshäuser gibt. Die<br />

überaus große Mehrzahl der Menschen wohnt in eigenen oder gemieteten Einfamilienhäu-<br />

sern.“<br />

Shawn hörte aufmerksam zu. Er sah weiter interessiert aus dem Fenster. „Ist in vielen Ge-<br />

genden in den Staaten nicht anders. Dort bekommst du Häuser, aus Holz und Leichtmaterial,<br />

mit denen kannst du sogar umziehen. Und viele Amerikaner leben in Wohnmobilen, dauer-<br />

haft. Sie ziehen von Campingplatz zu Campingplatz, immer da hin, wo die Arbeit ist.“<br />

Nat musste sich kurz auf den Verkehr konzentrieren, der langsam zunahm. Sie fuhren ge-<br />

rade durch Kings Cross, dem Vergnügungsviertel Sydneys.<br />

828


„Hier ist unsere sündige Meile. Da werden wir beiden Hübschen mal einen gepflegten Zug<br />

machen, was meinst du?“<br />

Shawn grinste verlegen. „Oh man, das ist schon so lange her bei mir, ich weiß gar nicht<br />

mehr, wie das ist.“<br />

Er sah interessiert aus dem Fenster. Kleine Theater mit eindeutigem Angebot, Kneipen,<br />

Restaurants, Kinos, Pornoshops, reihten sich aneinander. Shawn schluckte, als er an einem der<br />

Läden ein Schild sah: Guy Sex.<br />

„Ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin, Nat.“<br />

Der Aborigine lachte. „Hey, ich hatte nicht vor, dich in Pornokinos oder so was zu schlep-<br />

pen. Es gibt hier einige geniale Discos, Spitzenrestaurants, gemütliche Kneipen, verlass dich<br />

einfach auf mein umfangreiches Fachwissen.“<br />

Shawn atmete erleichtert auf. „Okay, da bin ich dabei. Wenn ich nicht Tanzen kann über-<br />

nimmst du das für mich.“<br />

„Wie meinst du das?“, fragte Nat erstaunt.<br />

„Ganz einfach. Meistens ertrage ich es nicht, von jemand anderem als Kelly berührt zu<br />

werden. Es ist schon besser geworden und ich musste auch schon mit anderen Frauen Tanzen,<br />

darauf hat Kelly bestanden. Doch leider gibt es immer wieder Momente, an denen gar nichts<br />

mehr geht.“<br />

Nat nickte verstehend. „Alles klar. Na, wir werden es ja erleben. Und wenn du gerade<br />

dann keine Berührungen erträgst, besaufen wir uns eben nur. Außerdem habe ich dann eine<br />

größere Chance bei den Ladys und einen Konkurrenten weniger.“ Er deutete lachend nach<br />

vorne. „Sieh mal, da ist die Innenstadt. Links geht es nach Darling Harbour. Dort ist das Syd-<br />

ney Exhibition Center, das Maritime Museum und das große Sydney Aquarium. Das wird<br />

Kelly dir sicher alles noch zeigen. Wir müssen über die Harbour Bridge in den nördlichen<br />

Stadtbereich. Manly liegt ziemlich weit nördlich. Wir machen noch einen kleinen Abstecher<br />

nach North Head, dann kannst du einen Blick auf die Hafeneinfahrt werfen.“<br />

Sie fuhren seit einigen Minuten auf einer mehrspurigen Straße zwischen Hochhäusern<br />

hindurch und erreichten schließlich die Harbour Bridge. Shawn war begeistert von der alten<br />

Brücke.<br />

„Wie alt ist die, weißt du das?“<br />

Nat machte: „Öhm ...“<br />

Shawn lachte schallend los. „Was denn, kein wandelndes Internet wie Kelly? Jetzt bin ich<br />

aber enttäuscht.“<br />

Nat verzog das Gesicht. „Wer kann denn da schon mit halten? Die Tante hat doch ein ei-<br />

detisches Gedächtnis! Ich weiß, dass die Brücke 1.150 Meter lang ist. Und die Bügel sind am<br />

Scheitelpunkt etwas mehr als 134 Meter hoch. Kosten tut die Überquerung nur in die andere<br />

829


Richtung etwas, 2 Dollar für PKWs, 4,50 für Trucks. Auch nicht gerade ein Eingriff in die<br />

Kapitalanlage.“<br />

Shawn zählte acht Fahrspuren, zwei Eisenbahnspuren und einen Fußgängerweg mit Rad-<br />

weg. „Ganz schön was los, oder?“<br />

Nat nickte. Sie hatten das andere Ende der Brücke erreicht und fuhren wieder durch ruhige<br />

Stadtteile mit kleinen Häusern.<br />

„Da juckeln jeden Tag an die 200.000 Fahrzeuge rüber. Ist schon ne ganze Menge.“<br />

Sie kamen, sich über Sydney unterhaltend, gut voran. Nat nutzte einen der Highways. Ge-<br />

gen 11.15 Uhr erreichten sie den Stadtteil Manly. Doch erst einmal steuerte Nat noch ein<br />

Stück weiter, auf die Landspitze an deren Ende Manly lag, hinaus. Kurze Zeit später tauchte<br />

ein großer Parkplatz vor ihnen auf. Hier standen schon einige geparkte Wagen und Nat stellte<br />

sich dazu.<br />

„So, das letzte Stück müssen wir laufen. Hast du deinen Fotoapparat dabei?“<br />

Shawn schwenkte diesen hin und her und sie marschierten los.<br />

Mehrere Wanderwege führten bis an die steil abfallenden Klippen der natürlichen nördli-<br />

chen Barriere der Hafeneinfahrt heran. Shawn und Nat mischten sich unter die anwesenden<br />

Touristen und standen eine ganze Weile still am Rande der Klippen, gedankenverloren auf<br />

das unendliche Meer hinaus blickend. Wie schon am Cape François Péron meinte Shawn lei-<br />

se:<br />

„Wenn wir hier geradeaus los schwimmen würden, wo kämen wir dann heraus?“ Er ver-<br />

suchte, sich die Erdkugel vorzustellen und konzentrierte sich. Nat grinste.<br />

„Na, Alter, als erstes Mal würden wir an den Norfolk Inseln vorbei schrammen. Und dann<br />

...“ Auch der junge Aborigine versuchte, sich bildlich vorzustellen, was kommen würde.<br />

Shawn grinste.<br />

„Wenn mich nicht alles vollkommen täuscht, müssten wir so nach ... zirka 13.000 Kilome-<br />

tern auf Mexiko stoßen.“<br />

„Meinst du? Mexiko? Hm ... Ja, könnte stimmen. Wollen wir los?“<br />

„Nein, lass mal stecken. Ich bleibe lieber hier.“<br />

Shawn machte einige Fotos, dann marschierten die jungen Männer weiter, nach rechts, bis<br />

sie auf dem letzten Zipfel der Landzunge standen.<br />

oder?“<br />

„Ich hatte mir die Hafeneinfahrt breiter vorgestellt. Was sind das, nicht mal 2 Kilometer,<br />

„Genau 1.460 Meter an der schmalsten Stelle. Das war leicht zu verteidigen damals im<br />

Weltkrieg. Und die Einfahrt zur Botany Bay ist noch eine Ecke schmaler, das sind mal gerade<br />

1.100 Meter. Darum haben die damals da auch das Fort gebaut. Da konnten sie den Seeleuten<br />

quasi die Fliegen vom Kopf schießen.“<br />

830


„Du meinst Bare Island. Das hat Kelly mir gestern gezeigt. Ja, kann ich mir vorstellen.<br />

Wie der Texaner sagen würde: Da kann man einer Fliege das Auge ausschießen.“<br />

„Oder so, ja.“<br />

Er deutete ein Stück weiter nach vorne. „Da drüben ist die City und du kannst den Centre<br />

Point ganz genau sehen. Da wird Kelly dich sicher auch noch rauf schleppen. An klaren Ta-<br />

gen kannst du bis Auckland gucken.“<br />

Shawn grinste. „Bis Auckland?“<br />

Todernst erklärte Nat: „Okay, ich gebe zu, dass ist ein klein wenig übertrieben hab. Aber<br />

bis Wellington!“<br />

Gut gelaunt schlenderten die jungen Männer zurück zum Wagen.<br />

„So, nun wollen wir aber mal sehen, dass wir an den Beach kommen. Sonst wird es heute<br />

nichts mehr mit dem Wettkampf Australien gegen die USA. Da ich einer Minderheit angehöre<br />

erwarte ich, dass du mich auf jedem Fall siegen lässt.“ Nat warf Shawn einen strengen Blick<br />

zu. Dieser verzog geringschätzig das Gesicht.<br />

„Davon träumst du wohl, was? Minderheit? Wenn hier einer eine Minderheit ist, dann ja<br />

wohl ich. Armer Ami allein unter Aussies!“<br />

Herum albernd erreichten sie die North Steyne, die Straße, die am Außenstrand Manlys<br />

entlang führte. Nach kurzem Suchen hatten sie einen Parkplatz gefunden. Sie schnappten sich<br />

ihre Boards, eilten an den Strand hinunter und waren Minuten später schon im Wasser.<br />

Das Wetter spielte mit, der Wind blies anständig aus Osten und ließ hohe Wellen an den<br />

Strand klatschen. Shawn hatte seine Freude, das merkte Nat genau. Einmal paddelten sie ne-<br />

beneinander hinaus, um die nächste Welle abzufangen. Dabei fragte der junge Schauspieler:<br />

„Wie sieht es denn hier mit euren Lieblingsfischen aus?“<br />

Nat sah den jungen Mann erstaunt an. „Wie? Bist du etwa nicht bereit, einen Arm oder ein<br />

Stück vom Bein für diese großartigen Wellen zu opfern?“<br />

Shawn sah skeptisch seine Arme an. Dann meinte er todernst: „Bei genauerer Überlegung<br />

... Definitiv nein!“<br />

Nat lachte schallend. „Was für ein Weichei. Typisch Ami. Wir Aussies sind da ganze Ker-<br />

le. Für anständige Surfwellen spenden wir gerne mal einen Körperteil oder auch zwei.“ Er sah<br />

Shawn an. „Aber im Ernst: Gefahr besteht natürlich immer, es gibt hier nun mal Haie und sie<br />

verletzen und töten auch jedes Jahr Menschen. Doch es gibt sie auch in den Staaten und das<br />

hält dich dort sicher auch nicht ab zu Surfen, oder?“<br />

„Nein, da hast du Recht. Okay, vergiss die Frage. Da kommt eine schöne Welle, auf<br />

geht’s!“<br />

831


Sie surften weit über eine Stunde und hatten ihren Spaß dabei. Doch schließlich verließen<br />

sie das Wasser und setzten sich an den Strand, um zu trocknen. Shawn war ein wenig still und<br />

Nat fragte:<br />

„Hey, ist alles klar? Du bist so schweigsam.“<br />

„Ja, alles in Ordnung.“ Er lachte verlegen. „Ich habe nur gerade an Kelly gedacht. Man,<br />

ich habe keine Ahnung, wie ich die Trennung von ihr ... Ach, verdammte Scheiße.“ Frustriert<br />

spielten Shawns Finger mit dem warmen Sand. Nat sah aufs Wasser hinaus.<br />

„Ich hab keine Ahnung von Psychologie, oder jedenfalls nicht viel. Aber wenn Kelly es<br />

für wichtig hält, dass du erst einmal allein klar kommen musst, dann ist es auch wichtig. Sie<br />

liebt dich mehr als irgendetwas auf dieser Welt. Wenn es nicht wichtig für dich wäre, würde<br />

sie so was nie verlangen. Es wird sie auch zerreißen, dich fort zu schicken.“ Shawn starrte<br />

trübsinnig in den Sand.<br />

„Du kennst sie besser als ich.“ Er sah Nat an. „Du liebst sie, oder?“<br />

„Ja. Aber nicht so, wie du gerade denkst, mate. Ich liebe sie als absolut zuverlässige<br />

Freundin, als Kumpel, als einen Menschen, auf den ich mich immer vollkommen verlassen<br />

kann. Ich bin aber nicht in sie verliebt.“ Er griff nach seiner Hose und erklärte: „So, und jetzt<br />

vergiss die trüben Gedanken, wir werden uns mal auf die Socken machen zum inneren Strand<br />

rüber. Dort, dachte ich, futtern wir mal was, mir knurrt der Magen. Und außerdem hab ich<br />

Durst.“<br />

Shawn stand entschlossen auf. „Du hast Recht. Ich sollte mir nicht jetzt schon den Kopf<br />

darüber zerbrechen, noch ist es nicht so weit. Und Hunger und Durst hab ich auch ziemlich.<br />

Also, lass uns.“<br />

*****<br />

Kelly sah dem sich entfernenden Wagen nach und seufzte. Hoffentlich ging alles gut.<br />

Doch sie wollte sich nicht mit wahrscheinlich unnützen Sorgen den Tag verderben. So ging<br />

sie ins Haus zurück, räumte ein wenig auf und setzte sich anschließend in ihren Wagen. Sie<br />

fuhr das kurze Stück bis zum Cosmopolitan Shopping Center und suchte einen Parkplatz.<br />

Schnell erledigte sie ein paar Kleinigkeiten auf der Bank, in der Apotheke und bei der Post,<br />

dann strebte sie dem Cosmopolitan Orchard zu, einem großen Supermarkt. Sehr gründlich<br />

deckte sie sich hier mit Lebensmitteln und frischen Getränken ein und bat um Lieferung der<br />

Sachen. Zufrieden machte die junge Frau sich dann wieder auf den Rückweg. Zuhause ange-<br />

kommen setzte sie sich sofort an ihren PC und tippte weiter an dem Bericht über Shawn. Wie<br />

bereits vorher in Eildon kamen ihr immer wieder Tränen, wenn sie besonders schlimme Pas-<br />

sagen zu Tippen hatte. Es war für sie kaum zu ertragen, dass alles noch einmal zu hören und<br />

es in schriftliche Worte fassen zu müssen. Sie war sich sicher, dass sie nie zuvor Menschen so<br />

832


sehr gehasst hatte wie Carrie und Co. Dass wenigstens Terry/Eva und Alan nun in Haft saßen,<br />

half da nur wenig.<br />

Zwischendurch klingelte zwei Mal das Telefon und Kelly war dankbar für die Unterbre-<br />

chungen. Der erste Anruf kam aus ihrer kleinen Praxis in Darlinghurst. Die Psychologin hatte<br />

sich in der St.Vincent’s Clinic vier Räume gemietet. Ihre Sekretärin, Allison Murray hatte<br />

gehört, dass Kelly wieder in Sydney war und wollte wissen, ob sie schon wieder Patienten<br />

annehmen konnte. Kelly unterhielt sich kurz mit der Angestellten, klärte ab, dass sie noch<br />

intensiv mit Shawn beschäftigt war und keine anderen Patienten annehmen konnte. Allison<br />

fragte nach Shawn und Kelly gab Auskunft soweit sie konnte, ohne etwas zu verraten.<br />

„Schreibst du den Bericht selbst oder soll ich den ganzen Kram abholen?“, wollte Allison<br />

wissen.<br />

„Nein, Süße, das schreibe ich selbst. Ich habe bereits damit angefangen. Da werde ich eine<br />

Weile mit beschäftigt sein. Und die Therapie geht ja nebenher weiter. Ich werde in den nächs-<br />

ten Tagen mal vorbei kommen, das verspreche ich dir.“<br />

„Würde mich freuen. Wir haben uns lange nicht gesehen.“<br />

„Versprochen. Bis dann.“ Kelly arbeitete weiter. Gegen 14 Uhr kam die Lieferung vom<br />

Supermarkt und Kelly hatte erst einmal eine Weile damit zu tun, alles zu verstauen. Der zwei-<br />

te Anruf kam am frühen Nachmittag. Ein ehemaliger Patient brauchte einen Rat, den Kelly<br />

gerne gab. Als es auf 17.30 Uhr zuging wurde die junge Psychologin gegen ihren Vorsatz<br />

langsam unruhig. Zwei Mal hatte sie bereits das Handy in der Hand, um Nat anzurufen, doch<br />

beide Male widerstand sie dem Drang. Nat würde schon auf Shawn aufpassen. Bei ihm war<br />

dieser in besten Händen. Statt also hinter den jungen Männern her zu Telefonieren, machte<br />

Kelly sich lieber daran, Abendbrot zuzubereiten. Sie hatte einen schönen Braten gekauft. Die-<br />

sen würzte sie nun und schob ihn dann in den Backofen. Sie schälte schon einmal Kartoffeln<br />

und putzte Gemüse, welches sie zum Braten reichen wollte. Dann setzte sie sich auf die Ter-<br />

rasse in die Abendsonne.<br />

*****<br />

Minuten später schlenderten Shawn und Nat durch die Fußgängerzone The Corso die<br />

kaum 400 Meter zum inneren Strand hinüber.<br />

„Hier herrscht uneingeschränktes Alkoholverbot. Wenn du hier mit ner Pulle erwischt<br />

wirst, wird das richtig teuer.“, erklärte Nat.<br />

Erstaunt meinte Shawn: „Na, das kenn ich aus den Staaten nicht, dass die eine ganze Stra-<br />

ße alkoholfrei halten. Aber eigentlich eine gute Idee für so eine schöne Fußgängerzone. Wenn<br />

hier Besoffene rum grölen würden, wäre das sicher nicht gut für den Tourismus.“ Er sah sich<br />

um und war begeistert, wie sauber und ordentlich alles wirkte. Die kleinen Geschäfte und<br />

833


Restaurants entlang der Straße wirkten gepflegt und einladend. Kein Graffiti zierte die Wän-<br />

de, auf dem Gehweg lag kein Dreck herum, Touristen und Einheimische gleichermaßen konn-<br />

ten sich hier sicher und wohl fühlen. Als sie das Ende der Straße erreicht hatten fragte Nat:<br />

„Wonach steht dir der Sinn? Italienisch? Japanisch? Burger? Tapas?“<br />

Shawn überlegte kurz. „Hm ... Tapas hören sich ja nicht schlecht an, oder? Im Outback<br />

und nachher in Eildon war die Auswahl nicht so groß. Steaks, Steaks und zur Abwechselung<br />

mal Steaks.“<br />

Nat deutete lachend nach rechts. „Dann müssen wir hier lang. Ist gleich dort vorne, die<br />

Tapas Bar.“<br />

Nach wenigen Metern hatten sie die kleine Tapas Bar erreicht und suchten sich einen frei-<br />

en Tisch. Das Angebot war umfangreich und da die jungen Männer Hunger hatten suchten sie<br />

sich eine gute Anzahl der kleinen, spanischen Köstlichkeiten aus. Shawn gönnte sich ein Bier,<br />

Nat als Fahrer blieb alkoholfrei und bestellte sich Cola. Während des Essens herrschte<br />

Schweigen am Tisch. Doch als die Teller sich leerten kam wieder ein Gespräch auf.<br />

„Was hat dir denn nun am Besten gefallen unterwegs?“, wollte Nat wissen.<br />

„Ach du Scheiße. Da gab es so vieles, Australien ist ein so wunderschönes Land. Aber ich<br />

glaube, am Besten hat mir Yellow Water gefallen. Ich könnte allerdings nicht sagen, dass mir<br />

irgendetwas anderes sehr viel weniger gefallen hätte. Der Kings Canyon war umwerfend, der<br />

Ayers Rock, Glen Helen, Queensland war traumhaft, das Riff ... Mein Gott, Kelly hat mir so<br />

unendlich viele Wunder gezeigt, nicht umsonst steht mein Entschluss, für immer in Australien<br />

zu Leben, unumstößlich fest. Das stand er schon, bevor ... Ich wollte es schon, als ich noch<br />

nicht wusste, dass Kelly meinem Gebettel nachgibt, verstehst du?“<br />

Nat nickte. Auch, wenn er den Busch wirklich aus tiefstem Herzen hasste, liebte er doch<br />

seine Heimat sehr.<br />

„Ja, Australien hat schon was. Dabei habe ich von meiner Heimat noch nicht ansatzweise<br />

so viel gesehen wie du.“<br />

Shawn schwärmte: „Allein die Tiere, die Kelly immer so locker entdeckt hat. Ich hätte die<br />

meisten allein nie gesehen. Sie hat ein unglaubliches Auge für so was.“<br />

Nat wurde rot. Genervt schnaufte er: „Hör bloß auf! Als mein Vater uns beide unterrichtet<br />

hat, wollte er von meiner Mutter einen Gentest, weil er nicht glauben wollte, dass so was wie<br />

ich sein Sohn sein sollte.“ Der junge Aborigine lachte schallend. „Auch wenn ich ein Native<br />

bin, genetisch muss da bei mir was dermaßen schief gelaufen sein. Meine Mutter sagte immer<br />

zu meinem Dad: Das ist alles nur deine Schuld, das Beste ist bei der Anmischung ins Bettla-<br />

ken gegangen.“<br />

Shawn verschluckte sich fast an seinem Bier vor Lachen.<br />

„Ist wahr! Ich hasse Spinnen und Schlangen, nicht, dass ich sie im Busch sehen würde. Ich<br />

verirre mich regelmäßig, wenn ich unterwegs bin im Outback. Ich kann nicht angemessen mit<br />

834


dem Bumerang umgehen, ich kann kein Tier töten, bin nicht mal zum Angeln vernünftig zu<br />

gebrauchen. Ich muss eine Enttäuschung auf der ganzen Linie für meinen Dad gewesen sein.“<br />

Nat kullerten Lachtränen über die Wangen. Als Shawn, der ebenfalls Tränen lachte, wie-<br />

der zu Atem gekommen war keuchte er:<br />

„Aber du bist Arzt geworden, darauf muss dein Dad doch stolz gewesen sein, oder nicht?“<br />

„Ja, das war er. Er ist bei der Graduierungsfeier glatt 2 Meter gewachsen. Und als ich das<br />

ärztliche Gelöbnis ablegte habe ich meinen Vater das erste und einzige Mal weinen sehen. Ich<br />

kann es heute noch auswendig:<br />

Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich mein Leben in<br />

den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.<br />

ren.<br />

Ich werde meinen Lehrern die schuldige Achtung und Dankbarkeit erweisen.<br />

Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben.<br />

Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.<br />

Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wah-<br />

Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Be-<br />

rufes aufrechterhalten.<br />

Meine Kolleginnen und Kollegen sollen meine Schwestern und Brüder sein.<br />

Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beein-<br />

flussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfession, ethnische Herkunft, Ge-<br />

schlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder<br />

soziale Stellung.<br />

Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenbringen und<br />

selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der<br />

Menschlichkeit anwenden.<br />

Dies alles verspreche ich feierlich und frei auf meine Ehre.“<br />

Nat seufzte. „Er starb kurze Zeit später.“<br />

„Hat Kelly mir erzählt. Sie hat mir auch erzählt, welch wundervoller Mensch dein Vater<br />

war. Ich bin sicher, ich hätte ihn gemocht. Aber er ist mit Sicherheit immer noch stolz auf<br />

dich und wird es immer sein. Auch, wenn er nicht mehr bei dir sein kann.“<br />

„In geistiger Form ist er immer bei mir. Und ab und zu scheint er mir sogar in den Hintern<br />

treten zu können. Wenn ich mich im Busch wieder mal extrem dämlich anstelle habe ich<br />

manchmal das komische Gefühl, er stünde hinter mir und gäbe mir einen Schlag ins Genick.“<br />

835


„Wirst du dann wohl verdient haben.“ Gerade kam die Bedienung vorbei und Shawn nutz-<br />

te die Gelegenheit, zu bezahlen. Als das erledigt war fragte er tatendurstig: „Worauf gehen<br />

wir denn jetzt noch los? Oder wollen wir schon zurück?“<br />

„Nix da! Ich werde dich mal ins Ocean World schleppen. Ist zwar kein Vergleich zum<br />

Sydney Aquarium, aber auch ganz nett. Und irgendwas muss ich dir ja auch bieten, sonst lässt<br />

du dich nie wieder von mir abschleppen.“<br />

Gut gelaunt marschierten die jungen Männer los zum Strand hinunter. Hier, an der der<br />

Stadt zugewandten Strandseite, ging es erheblich ruhiger zu als an der zum freien Ozean ge-<br />

henden Seite.<br />

Wellen gab es hier, speziell bei dem herrschenden Ostwind, nicht. Ein paar Schwimmer<br />

tummelten sich in einem durch ein Hainetz geschützten Bereich des Strandes. Der äußere<br />

Strand war fast 2 Kilometer lang, dieser hier kaum 700 Meter. In der Mitte wurde er von einem<br />

Pier, der Manly Wharf, geteilt. Neben einem Anleger für Fähren vom Circular Quai 30<br />

beherbergte die Wharf Restaurants und kleine Geschäfte.<br />

Das Aquarium war schnell erreicht und Nat ließ es sich nicht nehmen den Eintritt zu be-<br />

zahlen. Die Hauptattraktion war natürlich das riesige Meerwasserbecken, das die Besucher<br />

des Aquariums von einem Unterwassertunnel aus betrachten konnten. Für Shawn war das<br />

etwas Neues. Fasziniert sah er über sich einen großen Hai schwimmen.<br />

„Was ist das für einer?“, fragte er Nat.<br />

Froh, endlich auch einmal glänzen zu können erklärte der junge Aborigine: „Das ist ein<br />

Sandtigerhai. Wegen ihrer beachtlichen Größe von bis zu 3,20 Meter bei den Weibchen und<br />

wegen ihres gefährlichen Aussehens, doch ihrer Friedfertigkeit Menschen gegenüber werden<br />

die gerne für solche Aquarien genommen. Im Sydney Aquarium haben sie auch welche. Se-<br />

hen gemein aus, oder? Möchtest du ihnen mal den Bart kraulen?“<br />

Shawn verzog geringschätzig das Gesicht. „Pah. Ich bin mit einem Tigerhai getaucht, da<br />

macht mir dieser Abklatsch hier doch keine Angst.“, behauptete er großspurig.<br />

Nat sah den werdenden Freund skeptisch an. „Was bist du? Mit einem Tigerhai getaucht?“<br />

„Jepp. War gar kein Problem ...“ Shawn grinste.<br />

Nat machte „Hm ...“<br />

Shawn lachte. „Im Ernst. Als wir draußen beim Riff den Tauchgang zum Haie füttern<br />

machten, tauchte plötzlich ein fast 5 Meter langer Tiger auf. Nat, Kumpel, ich schwöre dir,<br />

wäre Kelly nicht an meiner Seite gewesen, ich würde jetzt noch kraulen, um von dem Monster<br />

weg zu kommen.“ Er lachte. „Man, ich hab mir vor Angst fast in den Taucheranzug geschis-<br />

sen.“<br />

30 Circular Quai, im nördlichen Ende des Stadtzentrums gelegen, besteht aus einigen Straßenzügen und Gebäuden rund um die Sydney<br />

Cove, die Bucht, die unter anderem die Anleger der Hafenfähren beherbergt. Das östliche Ende Circular Quais bildet Bennelong Point mit<br />

der Oper, das westliche Ende bildet Campbells Cove mit dem Anleger für den Nachbau der Endeavour, der Dreimastbark Captain Cooks.<br />

836


„Ach du Scheiße. Das hätte ich wohl auch gemacht. Ich gehör wirklich nicht zu den Leu-<br />

ten, die schreiend aus dem Wasser fliehen, weil sie sich vor ihrem eigenen Schatten am Grund<br />

erschrecken, aber ein Tigerhai im offenen Wasser, ohne Haikäfig ... Nein, lass mal stecken.“<br />

Die jungen Männer schlenderten weiter, sahen sich in Ruhe das ganze Aquarium an und<br />

standen schließlich wieder draußen in der Sonne.<br />

„Ich denke, wir trinken noch eine kalte Cola in der Wharf, dann sollten wir uns langsam<br />

auf den Rückweg machen, oder? Kelly wird uns sonst eine Patrouille hinterher jagen.“<br />

Shawn sah auf seine Armbanduhr. Es war schon 16.30 Uhr. Er hatte gar nicht gemerkt,<br />

wie die Zeit verging.<br />

„Etwas Kaltes trinken wäre nicht schlecht. Es ist erstaunlich, was man sich hier so zu-<br />

sammen trinkt.“ Sich unterhaltend schlenderten die Männer den Strand entlang zurück zum<br />

Pier. Dort setzten sie sich in ein kleines Bistro und ließen sich zwei große Gläser Cola servie-<br />

ren. Als sie diese ausgetrunken hatten machten sie sich auf den Rückweg zum Wagen. Die<br />

Rückfahrt nach Double Bay gestaltete sich als Geduldsprobe, da sie in den Feierabendverkehr<br />

gerieten. Die Straßen waren voll, vor der Harbour Bridge hatte sich ein Stau gebildet und Nat<br />

fluchte genervt:<br />

um?“<br />

„Verdammt noch mal, habt ihr alle kein Zuhause oder wieso hängt ihr auf der Straße her-<br />

Doch auch Schimpfen half nicht. Erst gegen 18.45 Uhr erreichten sie die Ginahgulla Road.<br />

Kelly saß im Garten und begrüßte die jungen Männer vergnügt. „Lasst mich raten: rush<br />

hour?“<br />

Nat ließ sich knurrend auf einen Gartenstuhl sinken. „Und wie. Scheiß Verkehr!“<br />

Die Psychologin lachte mitleidig. „Ach, das tut mir ja so leid. Ich habe vorhin im Radio<br />

gehört, dass es auf dem Kleiderbügel mal wieder heftig gescheppert hat. Stadteinwärts hat es<br />

einen ziemlichen Stau gegeben.“<br />

„Was du nicht sagst. Können wir bestätigen, wir waren Bestandteil desselben.“<br />

Shawn beugte sich zu Kelly herunter und gab ihr einen Kuss. „Hey du. Hast du mich ver-<br />

misst?“<br />

Kelly schüttelte den Kopf. „Kein bisschen. Mein Lover war da, wir haben Tennis gespielt<br />

und ...“<br />

Shawn schüttelte angesichts so viel Dreistigkeit den Kopf. „Hast du ein Gästezimmer? Ich<br />

halte diese Gemeinheiten nicht mehr länger aus.“, klagte er, bittend Nat anschauend.<br />

„Nee. Bleib du mal lieber hier bei diesem fiesen Mopps. Ich hab Angst, dass sie mich<br />

sonst heimsucht.“<br />

837


Kelly erhob sich lachend. „Danke für den fiesen Mopps. Eigentlich hatte ich ja ein schö-<br />

nes Abendbrot fertig, aber da ihr so nett zu mir seid, werdet ihr euch wohl selbst was besorgen<br />

dürfen.“ Sie verschwand in die Küche, dicht gefolgt von zwei halb verhungerten Männern.<br />

„Das kannst du nicht machen! Ich durfte den ganzen Tag noch nichts essen oder trinken.“,<br />

jammerte Shawn überzeugend.<br />

„Der Ami lügt!“, verteidigte sich Nat lautstark.<br />

Die Psychologin ließ sich erweichen. Grinsend erklärte sie: „Na gut, ich werde noch ein-<br />

mal Gnade vor Recht ergehen lassen, aber nur, wenn ihr hinterher abwascht.“<br />

Murrend stimmten Shawn und Nat zu. Gemeinsam deckten sie den Terrassentisch und lie-<br />

ßen sich den Braten schmecken. Nach dem Essen und anschließenden Abwasch verabschiede-<br />

te Nat sich bald. Er hatte am kommenden Morgen Frühdienst und wollte zeitig ins Bett.<br />

Shawn brachte den jungen Aborigine zur Tür.<br />

„War ein schöner Tag. Du ahnst nicht, wie ... wichtig es für mich war. Ich hatte nicht ein-<br />

mal Angst, Karen oder Carrie könnten irgendwo auftauchen. Ich danke dir wirklich sehr.“<br />

Verlegen erwiderte Nat: „Hey, mate, hab ich mehr als gerne gemacht. Können wir jeder-<br />

zeit wiederholen, wenn du Lust hast.“<br />

Sie verabschiedeten sich von einander und Shawn kehrte auf die Terrasse zurück, wo Kel-<br />

ly inzwischen zwei Weingläser mit Rotwein gefüllt hatte.<br />

Shawn ließ sich neben ihr auf die Hollywoodschaukel sinken. Er griff nach seinem Glas<br />

und meinte beim Anstoßen: „Cheers. Das war ein toller Tag. Nat ist großartig. Ich denke, wir<br />

werden gute Freunde werden.“<br />

Kelly lächelte zufrieden. Ihre Hoffnung schien sich zu erfüllen.„Das freut mich zu hören.<br />

Wie ging es dir denn so?“<br />

Shawn nahm einen Schluck. „Gut, wirklich. Wenn ich auch weiß, dass Karen und Carrie<br />

immer noch auf freiem Fuß sind, hat es mir doch unglaubliche Sicherheit gegeben, dass we-<br />

nigstens Alan und Terry ... Eva, einsitzen. Karen war die vergleichsweise harmloseste von<br />

allen und Carrie ... Irgendwie bilde ich mir ein, dass sie sich nicht selbst die Hände schmutzig<br />

machen wir. Wahrscheinlich ist das ein frommer Wunsch, aber mit der Vorstellung komme<br />

ich jetzt und hier gut klar.“<br />

Kelly hatte Shawn ruhig zugehört. Sie war erleichtert, dass er es so empfand. „Das freut<br />

mich so sehr. Es war schwer für mich, zu beobachten, wie du vor Angst gelitten hast, wenn<br />

wir in Städten unterwegs waren. Und ich bin sicher, auch Carrie und Karen werden erwischt.<br />

Die haben keine Chance, außer Landes zu kommen. Wenn es dir Recht ist könnten wir mor-<br />

gen Lauren besuchen und Phantombilder erstellen lassen. Traust du dir das zu?“<br />

„Und ob. Das ist eine gute Idee.“ Er gähnte herzhaft. „Wie ist es, wollen wir mal langsam<br />

in die Falle verschwinden? Ich bin hundemüde.“<br />

838


Die Psychologin warf einen Blick auf die Uhr. Es war 22 Uhr durch und sie nickte. „Ich<br />

könnte auch eine Mütze voll Schlaf vertragen. Ich habe fast den ganzen Tag am PC gesessen<br />

und bin dementsprechend müde.“<br />

Gemeinsam erhoben sie sich, nahmen ihre Gläser mit in die Küche und verschlossen die<br />

Terrassentür. Als sie etwas später nebeneinander im Bett lagen meinte Shawn:<br />

„Ich bin schon jetzt verliebt in Sydney. Hoffentlich lassen Mum und Dad sich überreden,<br />

mit mir zu kommen. Ich würde sie nur ungern drüben alleine lassen.“<br />

„Ach, ich bin sicher, sie werden mit kommen. Sie lieben dich so sehr, sie werden nicht auf<br />

dich verzichten wollen. Und wir werden hier in der Nähe ein wunderschönes Haus für sie<br />

finden, da bin ich sicher.“<br />

wirst.“<br />

„Ich hoffe es. Na, lass uns schlafen. Ich bin schon gespannt, was du mir morgen zeigen<br />

70) Royal National Park<br />

Der Weg ist das Ziel.<br />

Konfuzius<br />

Am kommenden Morgen rief Kelly bei Lauren an und unterbreitete dieser ihre Idee. Lau-<br />

ren war mehr als einverstanden. So machten sich Shawn und Kelly gegen 8.30 Uhr auf den<br />

Weg.<br />

bog.<br />

„Wo ist denn das AFP Gebäude?“, fragte Shawn, als Kelly die New South Head Road ab-<br />

Um diese Zeit war hier viel Verkehr, da die Straße eine wichtige Verbindungsroute in die<br />

Innenstadt war. Dementsprechend schleppend kamen sie voran.<br />

„In der Goulburnstreet, in der Innenstadt. Ist nicht sehr weit weg. Nur bei diesem Verkehr<br />

...“ Kelly musste sich konzentrieren, daher schwieg sie eine Weile. Es ging über Kings Cross,<br />

wo auch Nat am Tage zuvor entlang gefahren war. Schließlich tauchte vor ihnen ein großer<br />

Park auf.<br />

„Was ist das denn?“, fragte Shawn neugierig.<br />

„Das ist der Hyde Park. 16 Hektar groß. Hier finden große Veranstaltungen statt, zum<br />

Beispiel Carols by Candlelight.“<br />

Shawn sah Kelly fragend an.<br />

„Das ist logischer Weise kurz vor Weihnachten. Bekannte Musiker und Gruppen aus<br />

Australien, aber auch von Übersee, treten auf und singen Weihnachtslieder. Der Eintritt ist<br />

frei und zieht jedes Jahr bis zu 250.000 Besucher an. Man trifft sich schon morgens, um die<br />

besten Plätze zu ergattern. Essen und Trinken, Decken, Stühle, Sonnenschirme, alles wird mit<br />

gebracht. Es ist eine wunderschöne Veranstaltung. Ich bin jedes Jahr dort. Zusammen mit<br />

839


Laurie und Nat. Wir wechseln uns ab, wer ab morgens dort sitzen darf und Plätze besetzen,<br />

wird ausgelost.“ Kelly lachte. „Die letzten drei Jahre habe ich immer die Arschkarte gezogen.<br />

Du ahnst ja nicht, wie lang so ein Tag werden kann.“<br />

Shawn grinste. „Na, ich werde dich mit Freude unterstützen. Klingt sehr nett.“<br />

„Ist es auch, wird dir bestimmt gefallen.“<br />

Sie waren am Park entlang gefahren und vor ihnen tauchte bereits die Goulburnstreet auf.<br />

Schnell erreichten sie nun das AFP Gebäude und Kelly zog eine Karte aus dem Handschuh-<br />

fach. Sie steuerte die Parkgarage an und benutzte die Karte, um die Schranke zu öffnen. Zügig<br />

fuhr sie ins zweite Untergeschoss und steuerte hier einen Parkplatz an. 376, Anderson.<br />

„Das ist mein Parkplatz, den hat Laurie für mich eingetragen. Ich habe relativ oft hier zu<br />

tun, da bietet es sich an, einen eigenen Stellplatz zu haben.“<br />

Sie stiegen aus dem Wagen und gingen zum Fahrstuhl. Kurze Zeit später standen sie in der<br />

fünften Etage vor einem Büro. An der Tür war, nicht zu übersehen, ein Schild angebracht:<br />

Inspector L. Demsey. Kelly klopfte und von innen ertönte ein energisches:<br />

„Herein. Hey, da seid ihr ja, ihr Beiden. Ich habe dem Zeichner bereits Bescheid gegeben,<br />

er wird gleich eintreffen. Setzt euch doch. Mögt ihr einen Kaffee?“<br />

Kelly und Shawn begrüßten Lauren und setzten sich ihr gegenüber auf die Besucherstühle.<br />

„Klar nehmen wir einen Kaffee, was?“, grinste Kelly.<br />

Auch Shawn nickte. Er sah sich neugierig um. „Nettes Büro. Hier sitzen sonst also die<br />

Verdächtigen?“, wollte er wissen.<br />

„Nein, die hocken im Allgemeinen in den Verhörräumen. Wie Eva im Moment wieder.<br />

Sie weiß, dass wir Mark geschnappt haben. Sie war mächtig geschockt, als sie das gehört hat.<br />

Doch wo Karen und Carrie sich aufhalten, will sie trotzdem nicht verraten. Aber wenn die<br />

Phantomzeichnungen gut werden, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis man die Herr-<br />

schaften erwischt.“<br />

Der Kaffee war durchgelaufen und Lauren schenkte drei Tassen ein. Sie drückte Shawn<br />

und Kelly je eine Tasse in die Hand. „Wie war es denn gestern mit Nat beim Surfen?“, fragte<br />

Laurie neugierig.<br />

„Klasse! Manly hat mir gut gefallen. Schade, dass es ja doch ziemlich lange zu fahren ist.<br />

Wir waren anschließend noch in dem kleinen Aquarium. Ich war noch nie unter Wasser in<br />

einem Tunnel. War schon genial, als die Haie über uns entlang schwammen.“, erzählte<br />

Shawn.<br />

Er wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Lauren bat:<br />

„Ja, herein.“<br />

Ein junger Mann mit einem Laptop unter dem Arm betrat das Büro. „Hey. Ich bin Dave<br />

Cutter, der Phantomzeichner. Wollen wir gleich los legen?“<br />

840


Lauren stellte Kelly und Shawn vor, dann machte Dave sich an die Arbeit. Kelly erhob<br />

sich, damit der junge Mann sich neben Shawn setzen konnte. Eine gute dreiviertel Stunde<br />

arbeiteten die Männer sehr konzentriert. Doch Shawn würde die Gesichter seiner Quälgeister<br />

nie wieder vergessen. Daher fielen die Zeichnungen am Ende sehr präzise aus.<br />

„Darf ich vorstellen? Carrie und Karen.“, erklärte er. Kelly trat näher und sah sich die er-<br />

stellten Bilder an.<br />

„Die sind sehr gut geworden!“, bemerkte Kelly zufrieden. „Wer die Typen damit nicht er-<br />

kennt ist selbst Schuld.“<br />

Lauren bedankte sich herzlich bei Dave für die gute Arbeit.<br />

„Ich werde die sofort raus schicken an alle Polizeistationen, Flughäfen, Bahnhöfe, Häfen.“<br />

„Mach das und setze ... 15.000 Dollar als Belohnung dazu.“, meinte Kelly ruhig.<br />

„Dreißig.“, verbesserte Shawn kalt. „Ich werde mich erst wirklich sicher fühlen, wenn die<br />

auch einsitzen. Und ein kleiner finanzieller Anreiz mag da sehr hilfreich sein.“<br />

Lauren zog die Augenbrauen hoch.<br />

„30.000 Dollar ist eine Menge Holz. Da sollte es eigentlich nicht mehr lange dauern, bis<br />

wir die haben. Wir setzen jetzt noch zusammen den Steckbrief auf, dann seid ihr entlassen.“<br />

Gemeinsam erarbeiteten sie den Steckbrief und Lauren druckte ein Muster aus.<br />

„So, sieh es dir noch mal genau an, Shawn, stimmt das so?“<br />

Shawn las sich noch einmal aufmerksam durch, was sie als Beschreibung der Gesuchten<br />

aufgeführt hatten. Er nickte zufrieden. „Ja, da fehlt nichts. Man, die müssen doch auffallen,<br />

wenn die Steckbriefe überall verteilt werden.“<br />

Laurie erwiderte ruhig: „Die sind in spätestens zwei Tagen verteilt, landesweit. Auf jedem<br />

Flugplatz, jedem Bahnhof, auf Polizeistationen, Häfen, überall werden sie ausgehängt werden.<br />

Ich werde mich dafür stark machen, dass eine landesweite Suche auch über die Nachrichten<br />

im Fernsehen ausgestrahlt wird. Ich gehe jede Wette ein, dass wir sie bald haben werden.“<br />

Wanted by AFP<br />

Suspect in abduction, rape and murder!<br />

841


Nick Name: “Carrie” Nick Name: “Karen”<br />

Age: End of 20 Age: middle 30<br />

Height: 1,70 - 1,75 m Height: 1,55 – 1,60 m<br />

Long dyed dark hair, every color possible Layered haircut, red hair<br />

Dark brown eyes Grey-green eyes<br />

Daintily Chubby physique<br />

Smal Rose Tattoo on left middle finger,<br />

cloverleaf birthmark on left shoulder<br />

Freckles, high cheekbones, small lips<br />

Wears black nail lacquer all the time<br />

For the arrest of the suspects is a reward of Dollar 30.000. - suspended.<br />

Shawn prustete angespannt. „Wenn es doch schon soweit wäre. Obwohl ich Kelly bereits<br />

erklärte habe, dass ich mich nach der Festnahme Mark und Evas erheblich besser fühle. Wie<br />

geht es Mark eigentlich?“<br />

„Hör bloß mit dem auf. Im Krankenhaus sind sie froh, dass sie den Kerl bald los werden.<br />

Er wird nach Long Bay überführt. In ein paar Tagen darf ich mich mit ihm amüsieren. Mal<br />

sehen, ob er ähnlich gesprächig ist wie Eva.“<br />

Shawn sah fragend Kelly an.<br />

„Long Bay ist ein Stadtteil etwas südlich gelegen. Wir sind neulich hindurch gefahren, als<br />

wir nach Congwong Bay raus sind. Dort ist die Strafvollzugsanstalt Sydney.“<br />

Shawn nickte verstehend. „Wenn es möglich wäre, würde ich gerne ... ich weiß ja nicht,<br />

ob das rechtlich gestattet ist. Ich wäre gerne auf dem Laufenden, was Mark betrifft.“<br />

„Kann ich verstehen. Da ich Kelly auf dem Laufenden halten muss, wird es sich nicht<br />

vermeiden lassen, dass du ebenfalls über seine Aussagen, so er denn welche macht, Bescheid<br />

bekommst. Ich habe ja keine Befugnis, deiner Therapeutin zu sagen, was sie an dich weiter<br />

geben darf und was nicht.“ Lauren sah äußerst unschuldig Kelly an und dieses lachte.<br />

„Und ich bin keinem Rechenschafft schuldig, worüber ich mich mit meinem Patienten un-<br />

terhalte. Es kann also passieren, dass ich dir das eine oder andere erzählen werden.“<br />

Shawn biss sich verlegen auf die Unterlippe, eine Geste, die er unbewusst immer dann<br />

machte, wenn ihm etwas wirklich peinlich war. Um abzulenken meinte er: „Ich würde Mark<br />

so gerne ins Gesicht sagen, was sie mir angetan haben.“<br />

842


Kelly legte ihm ihre rechte Hand auf den Arm. „Weißt du, Babe, bei einem normalen Ver-<br />

brecher würde das möglicherweise sogar noch etwas bewirken. Leider nicht bei Psychopat-<br />

hen. Die verstehen nicht, was normale Menschen empfinden. Sie können es nicht verstehen,<br />

weil ihnen die Grundvoraussetzungen im Gehirn dafür fehlen. Du würdest sie nicht erreichen.<br />

Nicht einmal, wenn man ihnen das Gleiche antun würde, könnten sie so empfinden wie ein<br />

normaler Mensch. Carrie würde nur Wut über die Ungerechtigkeit verspüren, keine Angst,<br />

keine Verzweiflung. Sie ist sich nicht mal einer Schuld bewusst, weil sie denkt, die ganze<br />

Welt hat sich gefälligst um sie und für sie zu drehen. Wenn man ganz ehrlich ist, sind echte<br />

Psychopathen im Grunde nicht schuldfähig. Sie haben kein Rechtsempfinden. Und nicht alle<br />

werden straffällig. Aber die, die es werden, müssen weggeschlossen werden, da sie ihr Ver-<br />

haltensmuster nie mehr ändern werden. So, es langt, schöneres Thema. Lass uns los, sonst<br />

schaffen wir es heute gar nicht mehr in den Royal National Park.“<br />

*****<br />

Minuten später saßen sie im Auto und Kelly steuerte den Wagen durch Darlinghurst in<br />

südöstlicher Richtung zum Eastern Distributor Motorway. Auf diesem erreichten sie schnell<br />

den Flughafen und umfuhren diesen. Der Motorway endete dort und Kelly folgte nun dem<br />

General Holmes Drive, den Shawn schon von dem Besuch an der Botany Bay kannte. Immer<br />

weiter in südlicher Richtung ging es entlang der Bay, bis sie den Stadtteil Dolls Point erreich-<br />

ten.<br />

Kelly blieb Shawn zuliebe am Wasser. Sie grinste über seine strahlenden Augen.<br />

„Wasser so viel du willst.“, meinte sie lachend.<br />

„Ja, es ist ... Das kann ich ja gar nicht alleine verbrauchen.“<br />

„Ach, ich bin gerne bereit, dir dabei zu helfen.“ Die Psychologin deutete nach vorne. „Da<br />

ist die Taren Point Road, auf ihr kommen wir über den Georges River, der hier mündet. Der<br />

Georges River zieht sich bis nach Liverpool, einem weiter westlich gelegenen Stadtteil, durch<br />

die Stadt. Man kann Bootstouren auf ihm machen, ist wunderschön. Leider kommt es im<br />

Fluss immer wieder zu Haiangriffen, Bullenhaie schwimmen gerne mal die Flüsse hinauf.“<br />

Sie ordnete sich auf der Captain Cook Bridge in den fließenden Verkehr ein und Shawn war<br />

vom Ausblick von der Brücke begeistert.<br />

Nun mussten sie das Wasser erst einmal verlassen. Über Miranda und Kirrawee erreichten<br />

sie den Vorort Loftus. Keinen Kilometer später bog Kelly von der Hauptstraße ab und erklär-<br />

te:<br />

„Das ist die Farnell Avenue. Später heißt sie Sir Bertram Stevens Drive und führt durch<br />

den ganzen Royal National Park bis Waterfall, einer winzigen Ortschaft, die technisch gese-<br />

hen noch zu Sydney gehört. Wir werden einmal ganz hindurch fahren. Das wird allerdings<br />

843


eine Weile dauern. Der Royal National Park ist ziemlich groß, weißt du. Und es gibt ganz<br />

fantastische Buchten und später Klippen, von denen man eine hervorragende Sicht aufs Meer<br />

hat.“<br />

Vor ihnen tauchten zwei kleine Gebäude mitten auf der Straße auf, vor denen sich einige<br />

Autos angesammelt hatten. Langsam näherten sie sich diesen Hütten. Kelly bezahlte hier für<br />

eine Tageskarte und sie konnten weiter fahren. Nach einigen Minuten wurden vor ihnen er-<br />

neut einige Gebäude sichtbar. Shawn erkannte Parkplätze, Picknick Areas und Wasser. Die<br />

Psychologin steuerte einen Parkplatz an und sie stiegen aus.<br />

„Das ist Audley. Von hier aus kann man mit Ruderbooten auf den Hacking River paddeln,<br />

es gibt ein nettes Visitor Center, einen Kiosk ... Und genau zu dem werden wir jetzt gehen,<br />

ich habe Kaffeedurst.“<br />

Arm in Arm marschierten sie zum Kiosk und bestellten sich jeder einen großen Becher<br />

Kaffee und ein Steak Sandwich. Sie suchten sich einen freien Tisch und genossen zufrieden<br />

ihr verspätetes Frühstück.<br />

Sie konnten von ihrem Platz aus direkt auf den Bootsanleger sehen. Dort war ziemlicher<br />

Betrieb.<br />

„Ganz schön was los da drüben.“, meinte Shawn und trank seinen Kaffee aus.<br />

„Ja, es ist auch sehr schön, auf dem Hacking River zu paddeln. Allerdings bevorzuge ich<br />

die frühen Morgenstunden, wenn die Reptilien hervor kommen und sich in der Sonne auf-<br />

wärmen. Dann kann man sehr viele Tiere beobachten. Seine Quelle liegt weiter südwestlich<br />

im Park und der Fluss zieht sich in Windungen durch den ganzen Park, bis er bei Port Ha-<br />

cking ins Meer mündet. Die Bucht von Cronulla, wo wir neulich waren, gehört zu seiner<br />

Mündung.“ Kelly sah Shawn fragend an. „Fertig? Dann sollten wir sehen, dass wir weiter<br />

kommen.“<br />

Sie brachten ihr Geschirr zur Sammelstelle und schlenderten zum Wagen zurück. Als sie<br />

wieder unterwegs waren, wollte Shawn mehr über den Park wissen. Kelly erklärte:<br />

„Der Royal National Park wurde 1879 von Sir John Robertson, dem damaligen Premier-<br />

minister von New South Wales, gegründet. Damit ist er nach Yellowstone der zweitälteste<br />

Nationalpark der Welt. Er umfasst ein Gebiet von 152 Quadratkilometern. An einigen Stellen<br />

an der Küste gibt es ausgedehnte Mangrovensümpfe, besonders in Bundeena. Im Landesinne-<br />

ren überwiegen Eukalypten, von denen es hier eine unglaubliche Vielzahl gibt. Weiter im<br />

Südosten gehen die Eukalyptuswälder in Regenwald über. Es kommt immer wieder zu Busch-<br />

feuern, aber eine Menge Pflanzen benötigen diese Feuer, um ihre Samen verteilen zu können.<br />

Diese sitzen in extrem festen Kapseln, die sich nur unter der Hitze von Feuer öffnen. Einen<br />

Tag nach Weihnachten 1993 bis in den Januar 94 hinein gab es um Sydney herum, aber be-<br />

sonders hier im Süden der Stadt, verheerende Waldbrände, die teilweise vollkommen außer<br />

Kontrolle gerieten. Dabei wurde ein Großteil des Parks zerstört. Unzählige Tiere kamen da-<br />

844


mals qualvoll um. Es war eine der schlimmsten Brandkatastrophen in der Geschichte der<br />

Stadt. Damals ging fast eine Million Hektar Wald in Flammen auf, 350.000 Hektar wurden<br />

für Gegenfeuer geopfert. In Sydney wurden fast zweihundertdreißig Häuser ein Raub der<br />

Flammen und vier Menschen kamen ums Leben. Um sich davon zu erholen brauchte der<br />

Royal National Park, genau wie die Blue Mountains im Westen, sehr lange.“<br />

Shawn schüttelte es. „Solche Naturkatastrophen sind entsetzlich. Wir kennen das in den<br />

Staaten ja auch. Und häufig trifft es auch die großen Parks, Yellowstone, Yosemite ... Wenn<br />

man überlegt, dass viele dieser verheerenden Waldbrände absichtlich oder aus bloßem Leicht-<br />

sinn im Umgang mit Feuer entzündet werden, könnte man ausflippen.“<br />

„Ja, das könnte man. Brandstifter werden bei uns ziemlich drastisch bestraft, wenn sie er-<br />

wischt werden.“<br />

Vor ihnen tauchte eine Abzweigung von der Hauptstraße durch den Park auf und kurz da-<br />

rauf eine weitere. Dieser folgte Kelly und etwa 3 Kilometer später endete die Straße auf ei-<br />

nem ziemlich großen Parkplatz. Schnell fand sich eine Lücke zwischen parkenden Autos und<br />

Kelly erklärte:<br />

„Das hier ist Wattamolla, meine unangefochtene Lieblingsstelle im Park. Du wirst begeis-<br />

tert sein, da bin ich sicher.“ Die Psychologin griff nach Shawns Hand und zog den jungen<br />

Mann mit sich. Schnell standen sie oberhalb einer traumhaft schönen Lagune auf vielleicht 10<br />

Meter hohen Klippen. Der Schauspieler stieß ganz ergriffen hervor:<br />

„Mein Gott, ist das wunderschön hier!“<br />

Kelly freute sich, dass es dem jungen Mann so gut gefiel. „Ja, das ist es wirklich. Und<br />

ganz frei von Haien, da die Lagune durch eine natürliche Barriere zum offenen Meer hin ge-<br />

schützt wird. Man kann hier jederzeit ungefährdet schwimmen. Leider kommt es dennoch<br />

immer wieder zu schweren Unfällen, weil die Leute einfach nicht begreifen, dass es bei nied-<br />

rigerem Wasserstand in der Lagune gefährlich ist, von den Klippen in die Tiefe zu springen.<br />

Es hat schon einige Querschnittsgelähmte gegeben.“<br />

„Schrecklich, aber auch bodenloser Leichtsinn. Einem Schulfreund von mir ist das auch<br />

passiert.“ Er setzte sich auf die warmen Steine und zog Kelly mit sich. „Können wir hier bau-<br />

en?“, fragte er grinsend.<br />

„Sicher, eine Sandburg ...“<br />

„Es ist wirklich einmalig schön. Dass du es immer wieder schaffst, mit solchen Plätzen<br />

aufzuwarten, ist erstaunlich.“<br />

Kelly lachte. „Ach was, so erstaunlich auch nicht. Es gibt immer wieder überall solche<br />

Juwelen. Man muss nur wissen, wo man nach ihnen suchen muss.“<br />

Der junge Mann seufzte. „Und wieder so ein Tag, an dem ich wünschte, Mum und Dad<br />

wären bei uns. Du ahnst ja nicht, wie sehr ich mich darauf freue, ihnen alles zu zeigen.“<br />

845


Eine Weile saßen sie schweigend eng aneinander geschmiegt da, dann meinte Kelly: „So<br />

leid es mir tut, aber wir müssen weiter, es ist schon recht spät. Sonst müssen wir am Ende<br />

hetzen.“<br />

Schweren Herzen rissen sie sich los und marschierten zum Wagen zurück. Langsam fuhr<br />

Kelly die schmale Straße zur Hauptroute zurück. Dieser folgte sie nach links, weiter in Rich-<br />

tung Süden. Sie ließ sich Zeit und gab Shawn so Gelegenheit, die Natur um sie herum zu be-<br />

trachten. Einmal sahen sie ein Wallaby am Straßenrand hocken. Es hatte ein Junges im Beutel<br />

und ließ sich von Shawn und Kelly in keiner Weise stören.<br />

Nach ungefähr 5 Kilometern bog Kelly vom Hauptweg ab und es ging erneut auf einer<br />

schmalen Straße zum Wasser hinunter. Der Weg war stark abfallend und endete an einem sehr<br />

schönen, kleinen Strand.<br />

„Das ist Garie Beach.“, erklärte Kelly.<br />

Hier war nicht so viel los wie zuvor in Wattamolla. Am Strand saßen nur wenige Leute<br />

und genossen das herrliche Wetter. Kelly drehte nur eine Runde über den Parkplatz, dann fuhr<br />

sie zurück. „Es kommen später noch spektakulärere Stellen, da lohnt es sich eher, eine Pause<br />

einzulegen.“, erklärte sie.<br />

Es ging nun eine Weile in westlicher Richtung fort von der Küste und Shawn bemerkte,<br />

dass der Wald sich veränderte. Die Eukalypten traten mehr und mehr in den Hintergrund und<br />

schließlich waren sie in mitten eines üppigen, subtropischen Regenwaldes. Irgendwann tauch-<br />

te ein Parkplatz auf und die Psychologin steuerte diesen an. Sie stiegen aus und Kelly führte<br />

den Schauspieler durch den Regenwald zu einem kleinen Fluss.<br />

„Das ist noch immer der Hacking River. Lass uns ein Stück gehen, okay?“<br />

Der junge Mann hatte keine Einwände. Bisher hatten sie die meiste Zeit gesessen. Ein<br />

wenig Bewegung war nicht schlecht. Am Fluss ging es auf einem gut ausgearbeiteten Wan-<br />

derweg entlang.<br />

Sie folgten diesem Weg eine gute halbe Stunde, dann drehten sie um. Verschwitzt und mit<br />

dem einen oder anderen frischen Mückenstich versehen erreichten sie Kellys Wagen.<br />

„Das war ein schöner Spaziergang, Lady.“, meinte Shawn zufrieden.<br />

„Ja, man kann hier wundervoll wandern. Aber es ist auch nicht ganz ungefährlich. Immer<br />

mal wieder schaffen es Touristen und sogar Einheimische, sich zu verirren und ab und zu ver-<br />

schwinden sogar welche. In den Blue Mountains ist es allerdings wesentlich schlimmer. Der<br />

Park ist 2.500 Quadratkilometer groß. Wenn man sich dort verläuft ... Das ist nicht gut.“<br />

Shawn grinste. „Nicht gut? Ich würde sagen, dass ist für die Betroffenen ein ziemliches<br />

Desaster!“ Er schauderte. „Ich stelle mir das schrecklich vor. Wenn es dann auch noch heiß ist<br />

und du merkst, wie dir das Wasser ausgeht und ... Nein Danke!“<br />

846


Sie waren eingestiegen und Kelly fuhr zügig weiter. Lange ging es nun durch Regenwald.<br />

Die Straße wand sich durch das Grün um sie herum. Manchmal war der Wald so dicht, dass<br />

die Sonne nicht bis auf die Straße durch drang. Gute 10 Kilometer fuhren sie so. Schließlich<br />

führte die Straße wieder in Richtung Osten der Küste zu. Und unvermittelt waren sie aus dem<br />

Wald heraus und vor ihnen lag in einiger Entfernung der Pazifik.<br />

„Was für ein Ausblick! “Shawn war begeistert. Kelly steuerte einen Parkplatz an der Stra-<br />

ße an und sie verließen das Auto. Auf einem Schild stand: Bald Hill Lookout. Sie machten<br />

sich zusammen mit anderen Touristen auf den kurzen Fußweg zur Aussichtsplattform. Von<br />

dort hatten sie einen fantastischen Blick die Küste entlang.<br />

„Siehst du dort hinten? Da führt die Straße unmittelbar an den Klippen entlang. Ist eine<br />

tolle Strecke. Für heute wird es zu spät, aber vielleicht fahren wir mal ein Stück weiter nach<br />

Süden, bis Kiama oder Ulladulla.“<br />

„Ulla ... was?“, fragte Shawn lachend.<br />

„Ulladulla. Ja, wir sind sehr erfinderisch, was die Namen unserer Orte angeht.“<br />

Shawn lachte. Und dann entdeckte er etwas, dass ihn sofort fesselte. „Ist das da ein Dra-<br />

chenflieger?“<br />

„Jepp. So eine Überraschung! Hab ich gar nicht gewusst, dass die von hier starten.“ Kelly<br />

lächelte unschuldig. Sie hatte es selbstverständlich genau gewusst. Die Klippen hier waren ein<br />

sehr beliebter Startplatz für Paraglider. Shawn warf ihr einen skeptischen Blick zu und zog die<br />

Stirn kraus.<br />

„Wie kommt es, dass ich dir nicht glaube?“, fragte er ernst. Er zog die junge Frau mit sich<br />

zu der Stelle, an der die Drachenflieger sich fertig machten. Vier, fünf Flieger waren dabei,<br />

ihre Gleitschirme klar zu machen. Als sie fertig waren, nahmen sie nacheinander kurz Anlauf<br />

und stürzten sich über die Klippen ins Nichts. Wie schwerelos glitten sie dann in den Aufwin-<br />

den über dem Meer dahin. Shawn sah sehnsüchtig zu, wie einer nach dem anderen abhob.<br />

Während er noch traumverloren den Gleitschirmfliegern zusah, tauchte hinter Kelly ein jun-<br />

ger Mann auf. Leise trat er an die Psychologin heran und hielt ihr blitzschnell die Augen zu.<br />

Kelly zuckte zusammen und kicherte erschrocken.<br />

„Jeff! Willst du mich umbringen?“<br />

Der junge Mann lachte. „Nee, hab ich eigentlich nicht vor. Da würd mir doch ne gute<br />

Kundin verloren gehen.“<br />

Die Beiden umarmten sich herzlich und Kelly erklärte:<br />

„Shawn, das ist Jeff Becker, Jeff, das ist ein guter Freund aus den Staaten, Shawn<br />

McLean.“<br />

Die jungen Männer reichten sich die Hände.<br />

„Freut mich. Fliegst du auch?“, wollte Shawn sofort wissen.<br />

847


Jeff grinste. Er deutete auf einen bereits fertig ausgebreiteten Gleitschirm, der ein Stück<br />

entfernt im Gras lag. „Das ist meiner. Und heute kannst du ihn benutzen, wenn du willst. Kel-<br />

ly sagte mir, dass du auch fliegst.“<br />

Shawn starrte Kelly fassungslos an. „Wann ...?“<br />

„Ach, als du mit Nat unterwegs warst. Darum hatten wir auch nicht so viel Zeit heute.<br />

Weil wir um 16 Uhr hier sein mussten.“<br />

Shawn hätte Kelly gerne an sich gezogen und sie geküsst. Doch er hielt sich an sein Ver-<br />

sprechen, draußen vorsichtig zu sein. So griff er nur nach ihren Händen und sagte gerührt:<br />

„Du bist wirklich unglaublich. Ich danke dir!“<br />

Jeff drückte dem Schauspieler einen Sturzhelm in die Hand, deutete mit dem Kopf in<br />

Richtung des Schirms und meinte: „Viel Spaß.“<br />

Shawn ließ sich nicht lange bitten. Er ging zu dem orange roten Gleitschirm und kontrol-<br />

lierte gewissenhaft die Stamm- und Fangleinen, das Gurtzeug, die Zugbänder und die Ober-<br />

und Untersegel. Jeff beobachtete ihn aufmerksam und nickte zufrieden. Kelly war nervös,<br />

doch sie zwang sich, dies nicht zu zeigen. Shawn griff nachdem Notfall-Fallschirm, der bereit<br />

lag, schnallte sich diesen auf den Rücken und stieg nun ins Gurtzeug. Mit geübten Griffen<br />

hatte er dies schnell übergestreift. Er hakte die Karabiner, die den Sitzgurt mit den Tragegur-<br />

ten des Schirms verbanden, in die vorgesehenen Schlaufen. Zuletzt schloss er das Gurtzeug<br />

auch vor der Brust. Noch ein letztes Mal überprüfte er den Sitz des ganzen, dann atmete er tief<br />

durch. Er packte die Steuerungsleinen und wartete eine Windböe ab. Schnell kam diese und<br />

Shawn gelang es, den Schirm in die Luft zu bekommen. Er wurde auf die Klippenkante zu<br />

getrieben, justierte noch einmal ein wenig die Richtung und schon hatte er die Kante erreicht.<br />

Er gab sich Schwung und ließ sich dann fallen.<br />

Schnell hatte er in der Luft den idealen Winkel gefunden. Er setzte sich zurecht und hing<br />

bequem und entspannt in dem Sitzgurt. Wie immer, wenn er an einem Gleitschirm oder unter<br />

einem Drachen hing und wie schwerelos durch die Luft schwebte, kam ein unbändiges Frei-<br />

heitsgefühl in Shawn hoch. Viel hätte nicht gefehlt und der Schauspieler hätte gejubelt vor<br />

Freude. Er konnte sich gerade noch zusammen reißen. Unter sich sah er die klare, blaue Was-<br />

seroberfläche schimmern.<br />

Er hatte großes Glück und eine passende Thermik trieb ihn höher hinauf. Es war herrlich<br />

warm und Shawn genoss den unerwarteten Flug wirklich sehr. Dass Kelly das organisiert hat-<br />

te war einmalig. Wieder einmal dachte er, welch eine unglaubliche Frau er bekommen würde.<br />

Er konnte sie und Jeff nur noch als kleine, weit entfernte Punkte an der Klippenkante erahnen.<br />

Der junge Mann hatte weiter viel Glück und die Thermik hielt ihn lange am Himmel. Doch<br />

848


schließlich wurde ihm ein wenig kalt und er beschloss schweren Herzens, zu landen. Er steu-<br />

erte geschickt auf die Klippen zu und legte Minuten später eine fast perfekte Landung hin.<br />

Kelly und Jeff eilten zu ihm und halfen ihm aus dem Gurt. Als Shawn sich von allem be-<br />

freit hatte riss er die Psychologin nun doch stürmisch an sich.<br />

„Du ahnst ja nicht, was du mir für eine Freude gemacht hast! Es war umwerfend. Ich dan-<br />

ke dir so sehr.“<br />

„Du musst nicht mir danken sondern Jeff. Er hat dir seinen Schirm geliehen, ich habe nur<br />

ein Telefonat geführt und ein wenig Überzeugungsarbeit geleistet.“<br />

„Das stimmt. Sie hat mir überdeutlich gesagt, dass sie mich erschießen würde, wenn ich<br />

dir den Schirm nicht leihe.“, erklärte Jeff kichernd.<br />

Shawn drückte dem jungen Mann die Hand. „Freut mich, dass sie dich überzeugt bekom-<br />

men hat. Es war wirklich super. Nochmals vielen, vielen Dank.“<br />

Jeff begann, den Schirm wieder zu recht zu legen und winkte ab. „Hab ich gerne gemacht.<br />

Du bist wirklich gut. Können wir gerne mal wiederholen. So, und nun entschuldigt mich, ihr<br />

Lieben, ich will auch noch raus.“<br />

Kelly umarmte ihren Bekannten herzlich und bedankte sich auch noch einmal. Dann traten<br />

sie und Shawn zurück, um Jeff nicht im Weg zu stehen. Minuten später war dieser soweit,<br />

dass er starten konnte. Mit einem letzten Winken verabschiedeten sie sich endgültig und Kelly<br />

meinte:<br />

„Wir haben eine ganze Strecke zu fahren. Es ist fast 6 Uhr. Wir sollten uns allmählich auf<br />

den Weg machen.“<br />

Sie schlenderten zum Wagen zurück und stiegen ein. Kelly folgte der Hauptstraße und<br />

kurze Zeit später passierten sie die kleine Ortschaft Stanwell Tops. Von dort waren es nur<br />

noch etwas mehr als 2 Kilometer zum Southern Freeway. Hier kamen sie gut voran und er-<br />

reichten gegen 19.30 Uhr Kellys Haus. Während des ganzen Rückwegs schwärmte Shawn<br />

von den Gleitschirmflug.<br />

„Wenn ich später hier wohne wird ein Gleitschirm und ein Drachen das Erste sein, was ich<br />

mir anschaffe.“<br />

71) Schlimme Qualen<br />

Mancher wird erst mutig, wenn er keinen anderen Ausweg mehr sieht.<br />

William Faulkner<br />

In den kommenden Tagen waren Shawn und Kelly oft von morgens bis abends in Sydney<br />

unterwegs. Es gab so vieles, was in der Metropole sehenswert war, dass es der Psychologin<br />

849


nicht schwer fiel, sich immer neue Ziele auszudenken. Sie spielten Golf, gingen Surfen, be-<br />

suchten das Sydney Aquarium, Darling Harbour, The Rocks, den Center Point, das Queen<br />

Victoria Building. Kelly schleppte Shawn zu Paddys Market, einem riesigen kombinierten<br />

Floh- und Wochenmarkt. Sie unternahmen Bootstouren vom Circular Quay zum Taronga<br />

Zoo, eine große Hafenrundfahrt, bestiegen die 90 Meter hohen Pfeiler der Harbour Bridge und<br />

genossen die Aussicht über den Hafen. Natürlich besuchten sie die Oper und den botanischen<br />

Garten, fuhren zu einigen besonders schönen Stadtteilen, so unter anderem nach Cronulla, wo<br />

sie ausgiebig surften. Kelly buchte eine River Cruise auf dem Georges River und bei dieser<br />

wurden sie von Lauren und Nat begleitet. Dass Shawn eigentlich alleine los ziehen sollte,<br />

hatten beide dezent vergessen. Der Abschied rückte langsam in greifbare Nähe und weder<br />

Kelly noch Shawn wollten auf einander verzichten.<br />

Am Abend nachdem sie die Innenstadt angeschaut hatten, klingelte gegen 19 Uhr das Te-<br />

lefon. Kelly meldete sich.<br />

„Jackson.“<br />

„Ich bin‘s, Lauren. Kelly, halt dich fest! Ob du es glaubst oder nicht, Karen wurde heute<br />

verhaftet!“<br />

Kelly spürte, wie ihre Knie weich wurden. „Was?“<br />

„Ein Typ aus Emerald, Queensland, hat sie erkannt. Sie war dort im Western Gateway<br />

Motel abgestiegen. Der Pächter hat sie erkannt und die Polizei benachrichtigt. Sie konnte<br />

problemlos festgenommen werden. Die war wohl so geschockt, dass sie nicht mal an Flucht<br />

gedacht hat. Nun fehlt nur noch Carrie.“<br />

Kelly war sehr zufrieden. „Na, nun sitzen schon drei von denen. Da kann es doch wohl nur<br />

noch eine Frage der Zeit sein, bis auch dieses Miststück Carrie endlich jemandem auffällt.“<br />

„Absolut. Sie hat jetzt niemanden mehr aus ihrer mörderischen Clique, der ihr helfen<br />

könnte. Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass wir die Bitch auch noch kriegen werden. Karen<br />

heißt in Wirklichkeit übrigens Susan Douglas. Sie ist Kanadierin, kommt aus Saskatoon, Sas-<br />

katchewan. Von ihr wissen wir schon, dass Carrie mit richtigem Namen Ellen heißt. Sie und<br />

ihr Mark kommen aus Missoula, Montana. Ellen ist 28, ihr Bruder 31. Ich denke, von Ka-<br />

ren/Susan werden wir erheblich mehr erfahren als von Eva. Kelly, geh schnell zu Shawn und<br />

erzähle ihm die guten Nachrichten. Sobald es etwas Neues gibt, melde ich mich. Ihr müsst das<br />

jetzt erst mal verarbeiten.“<br />

„Du hast Recht. Ich kann es noch gar nicht fassen. Shawn wird ... Oh, ich muss es ihm so-<br />

fort erzählen. Danke! Danke für die hervorragenden News!“<br />

Kelly beendete das Gespräch und eilte zu Shawn zurück, der entspannt auf einer Liege auf<br />

der Terrasse lag. Als die junge Frau tränenüberströmt zu ihm trat fuhr der Schauspieler ent-<br />

setzt hoch.<br />

850


„Kelly! Was ist passiert, Honey?“<br />

Lachend und weinend gleichzeitig schloss Kelly Shawn in die Arme. „Du wirst es kaum<br />

glauben können. Sie haben Karen! Sie wurde in Queensland verhaftet. Shawn, es ist fast vor-<br />

bei!“<br />

Der Schauspieler sah die junge Frau an als hätte sie zwei Köpfe. „Ist das wahr? Karen sitzt<br />

auch? Oh Gott, nun bin ich auch sicher, dass die Carrie ebenfalls noch kriegen werden!“<br />

„Ich habe dir ja gesagt, dass die alle über kurz oder lang erwischt werden. Sie sind bisher<br />

nur davon gekommen, weil es niemanden gab, der sie hätte anzeigen können. Du hast das<br />

möglich gemacht. Du und Brett. Ihr habt eine grausame Mordserie beendet.“<br />

Shawn schnaufte. „Ja, das habe ich wohl.<br />

Als sie später eng aneinander geschmiegt im Bett lagen meinte Kelly:<br />

„Hör mal, Babe, ich wollte morgen gerne sehr früh mit dir los fahren, ich hatte etwas Be-<br />

sonderes vor. Wir müssten Sachen zum Übernachten mitnehmen. Ein etwas längerer Ausflug,<br />

mit anderen Worten. Hast du Lust?“<br />

Der Schauspieler brauchte nicht lange zu überlegen. Die letzten Tage waren wundervoll<br />

gewesen. Er hatte so unendlich viel von seiner neuen Wahlheimatstadt gesehen und alles, was<br />

er gesehen hatte, gefiel ihm ausnehmend gut. Abends hatten er und Kelly zusammen im Bett<br />

gelegen und Shawn hatte weiter über die Geschehnisse bei Carrie berichtet. Oft waren es Din-<br />

ge, über die sie bereits gesprochen hatten. Letztlich wiederholten sich die Quälereien ja. Doch<br />

immer mehr merkte der junge Mann, wie sehr es ihn entlastete, offen darüber zu sprechen.<br />

Als Kelly ihn nun fragte, ob er Lust auf einen größeren Ausflug hatte, stimmte er erfreut zu.<br />

„Klar, was denkst du denn! Es hat sich doch immer gelohnt, auf dich zu hören. Und nach<br />

der Nachricht ... Wo wollen wir denn hin?“<br />

Kelly grinste. Sie war ja genauso glücklich wie der Schauspieler. „Verrate ich nicht. Lass<br />

dich überraschen, okay? Es wird dir gefallen.“<br />

Obwohl der junge Mann neugierig war, was Kelly sich hatte einfallen lassen, drängte er<br />

die junge Frau nicht. Ihre Überraschungen waren immer wunderschön gewesen und sie hatten<br />

beide Freude daran gehabt. So würde er auch dieses Mal abwarten. Er hatte an diesem Abend<br />

ohnehin noch etwas vor, was ihm schon seit langer Zeit schwer auf der Seele lastete. Die<br />

Nachricht der Verhaftung wollte er nicht vorschieben, um doch nicht zu erzählen, was er<br />

schon solange hatte berichten wollen. Er wusste, irgendwann musste er auch dieses Thema<br />

zur Sprache bringen. Er seufzte schwer. Kelly hörte dies wohl und fragte sanft:<br />

„Na, das Seufzen galt sicher nicht der Überraschung, oder? Was bedrückt dich denn? Ist<br />

da noch etwas, was du erzählen möchtest?“<br />

Shawn lachte frustriert. „Vor dir etwas zu verheimlichen ist wirklich ein Ding der Unmög-<br />

lichkeit. Ja, es gibt da noch eine Sache, da bin ich bisher nicht näher drauf eingegangen. Ich<br />

hab es zwar schon einige Male erwähnt, aber nie Details erzählt. Aber das möchte ich gerne<br />

851


noch. Es ist inzwischen der am häufigsten wiederkehrende Albtraum. Und ich hoffe, wenn ich<br />

jetzt davon erzähle, wird es mir leichter fallen, auch damit klar zu kommen.“<br />

Kelly nickte stumm. Sie zog den jungen Mann mit ins Schlafzimmer und sie machten es<br />

sich auf dem Bett gemütlich. „Gut, Schatz, dann fange an.“<br />

„Okay, das muss nach vielleicht drei bis vier Wochen gewesen sein ...“<br />

*****<br />

Am Morgen weckte Carrie Shawn, der noch tief und fest schlief. Als er wach war erklärte<br />

sie ihm: „Heute haben wir etwas Besonderes mit dir vor. Ich hoffe, du machst dabei nicht<br />

schlapp. Erst mal gibt es aber deine Schläge.“ Sie hatte an diesem Morgen Lust, ihn wieder<br />

dabei zu fesseln und befahl ihm, sich quer auf das Bett zu legen. Nervös gehorchte Shawn und<br />

musste mit dem Po ganz an die Bettkante rutschen. Sie befestigte seine Handgelenke an einer<br />

der Ketten, die längsseits am Bett befestigt waren. Dann griff sie aus der unerschöpflichen<br />

Schublade im Nachttisch zwei Ketten. Sie befestigte diese an den Fußmanschetten und zog<br />

Shawns linkes Bein in die Höhe und nach links an den Bettpfosten. Genau so verfuhr sie mit<br />

dem rechten Bein. Die wieder einmal weit gespreizte Haltung war schmerzhaft, aber durch-<br />

aus auch äußerst erotisch. Carrie hatte einmal mehr perfekten Zugang zu allem, was sie er-<br />

reichen wollte. Doch jetzt stand ihr Sinn nicht nach Erotik, sondern nach Schmerzen. Sie ging<br />

an den Schrank und nahm dort eine der mehrschwänzigen Peitschen heraus. Damit trat sie<br />

ans Bett zurück. Shawn brach der Schweiß aus. Er sah in ihren Augen, dass sie heute Morgen<br />

in einer sehr unerotischen Laune war und richtete sich zu Recht auf heftige Schmerzen ein.<br />

Dass sie eine der Peitschen mit dünnen Riemen gewählt hatte, überzeugte ihn endgültig. Er<br />

sah, dass sie ausholte und schon klatschen die Riemen brennend heiß über seine Genitalien.<br />

Heftig zuckte er zusammen. Keuchend entwich ihm die angehaltene Luft und er knirschte<br />

mit den Zähnen vor Schmerz. Was Carries Laune anging hatte er absolut richtig vermutet,<br />

das merkte er schon beim zweiten Schlag. Weil der erste Hieb ihm keinen Schmerzensschrei<br />

entlockt hatte, fielen die weiteren Schläge erheblich brutaler aus. Beim zweiten bereits konnte<br />

er einen Aufschrei nicht mehr unterdrücken. Und so blieb es bis zum letzten Schlag. Schweiß-<br />

überströmt und keuchend lag er in den Fesseln und versuchte, sich zu fangen. Seine Hoden,<br />

sein Penis und seine Oberschenkel brannten, als hätte jemand glühende Kohle darauf gelegt.<br />

Er wäre gerne ins Bad unter die Dusche verschwunden, um sich die brennende Haut mit kal-<br />

tem Wasser zu kühlen, doch Carrie genoss es, ihn noch in seinen Schmerzen liegen zu lassen.<br />

Erst, als sein Atem ruhiger wurde und er aufhörte, sich zu winden, als sie also genau wusste,<br />

die Schmerzen klangen ab, machte sie ihn los.<br />

852


„Ich erwarte dich in dreißig Minuten auf der Terrasse, verstanden? Frühstück bekommst<br />

du erst mal nicht. Das gibt es später.“, erklärte Carrie und verschwand ohne ein weiteres<br />

Wort aus Shawns Zimmer.<br />

Der Schauspieler blieb noch einen Moment liegen und rieb sich vorsichtig über die Geni-<br />

talien. „Scheiße.“, flüsterte er gestresst. Er wagte jedoch nicht lange liegen zu bleiben. Drei-<br />

ßig Minuten waren schnell vorbei. So raffte er sich auf und stolperte ins Bad. Als er das kalte<br />

Wasser an seiner brennenden Haut spürte atmete er auf.<br />

Genau eine halbe Stunde später kam er auf die Terrasse. Die Freunde hockten bei einer<br />

Tasse Kaffee im Schatten und schauten dem Schauspieler erwartungsvoll entgegen. Dieser<br />

stand, wie es von ihm erwartet wurde, mit auf den Rücken gelegten Armen und gespreizten<br />

Beinen still.<br />

„Da bist du ja, auf die Minute pünktlich. Sehr schön. Wir wollen heute etwas ausprobie-<br />

ren. Du legst dich dort auf die Liege, auf den Rücken.“<br />

Carrie deutete auf eine stabile Holzliege, die auf der Terrasse stand. Mit gesenktem Kopf<br />

trat Shawn an diese heran. Er wollte sich gerade hinlegen, als Carrie ihn zurück hielt.<br />

„Nein, anders herum, die Füße zum Kopfteil.“<br />

Erstaunt gehorchte der Schauspieler. Er merkte, als er lag, dass die ganze Liege zum Fuß-<br />

teil hin leicht abfiel. Nervös wartete er darauf, was weiter passieren würde. Brett und Alan<br />

traten nun zu ihm und zogen an der Liege befestigte, breite Ledergurte stramm über Shawns<br />

Körper. Über Stirn, Brust, Bauch, Hüfte, Oberschenkel, Knie und Fußgelenke zogen sich die<br />

Gurte fest über seinen Körper. Die Handgelenke wurden zusätzlich mit den Karabinerhaken<br />

der Ledermanschetten an die Liege gefesselt. Er konnte wieder einmal nur noch die Finger<br />

bewegen. Vollkommen verängstigt lag er da und harrte zitternd der Dinge, die jetzt kommen<br />

würden. Er brauchte nicht lange zu warten.<br />

Teresa war, während Brett und Alan den Schauspieler an die Liege fixierten, an die Wand<br />

getreten und hatte den dort befestigten Wasserschlauch aus der Halterung gelöst. Shawn be-<br />

nutzte diesen normalerweise, um die Blumen zu bewässern. Doch gießen wollten sie ihn si-<br />

cher nicht. Er fragte sich, worauf das hier hinaus laufen würde. In seinem Verstand bildete<br />

sich langsam eine Idee, die ihm Schweiß aus allen Poren trieb. Nein, dass konnten sie doch<br />

nicht ernsthaft in Erwägung ziehen! Doch als Carrie aus einem Eimer, der auf dem Tisch<br />

stand, ein triefend nasses, kleines Handtuch zog und dieses ohne Zögern über Shawns Gesicht<br />

legte, wusste der geschockte Gefesselte, dass seine Vermutung richtig gewesen war. Entsetzt<br />

keuchte er auf und versuchte, sich von den Fesseln zu befreien. Doch wie schon so oft war das<br />

vergebliche Mühe. Er konnte ja nicht einmal den Kopf bewegen, um das nasse Tuch, das seine<br />

Atmung sofort beeinträchtigte, abzustreifen. Er sah nun nichts mehr und schrak heftig zu-<br />

sammen, als er plötzlich spürte, wie Wasser auf das Tuch nieder klatschte. Hatte die Nässe<br />

853


des Tuches allein seine Atmung schon beeinträchtigt, wurde dies sofort um ein vielfaches<br />

schlimmer. Das Wasser, welches jetzt aus dem Schlauch direkt auf das Tuch lief, drang durch<br />

die Fasern hindurch in Shawns vor Panik weit aufgerissenen Mund. Die Atemnot steigerte<br />

sich durch das Gefühl, Wasser liefe ihm in die Kehle, auf ein unerträgliches Maß. Sein Ver-<br />

stand sagte ihm zwar, dass das Wasser nicht in seinen Hals eindringen konnte, weil sein Kopf<br />

abschüssig lag. Doch egal, wie sehr sein Verstand ihm dies auch sagte, das Gefühl zu ertrin-<br />

ken war stärker!<br />

Vollkommen hysterisch zerrte der junge Mann an den Fesseln und unter dem Tuch dran-<br />

gen verzweifelte Laute hervor. Carrie beobachtete erregt, wie ihr Sklave sich in Qualen zu-<br />

ckend auf der Liege hin und her wand. Sie atmete abgehackt vor Erregung. Fünf Minuten<br />

lang ließ sie Teresa Wasser über Shawns Kopf spülen. Dann befahl sie:<br />

„Das reicht erst mal. Gönn ihm eine Pause.“<br />

Sofort drehte Terry das Wasser ab und trat zurück. Unter dem Tuch, welches sie auf<br />

Shawns Gesicht liegen ließ, keuchte der Gefesselte krampfhaft nach Luft. Man konnte durch<br />

das Tuch, das sich eng an sein Gesicht schmiegte, deutlich erkennen, wie sein Mund zuckte.<br />

Gedämpftes Schluchzen war zu vernehmen. Erst nach mehreren Minuten ließ das heftige Zit-<br />

tern des Gefesselten etwas nach. Carrie grinste diabolisch.<br />

„Na, wer will jetzt?“, fragte sie in die Runde.<br />

Shawn hörte ihre Worte und schrie unter dem nassen Lappen verzweifelt auf. Doch ohne<br />

auf sein Zerren und Zucken Rücksicht zu nehmen trat Brett an die Liege heran.<br />

„Ich, bitte!“, keuchte er erregt.<br />

Terry drückte ihm den Schlauch in die Hand und Brett ließ jetzt langsam und genüsslich<br />

ebenfalls Wasser auf das Tuch laufen. In panischer Todesangst zerrte Shawn an den Fesseln,<br />

doch er hatte keine Chance. Er musste die Qual bis zum bitteren Ende durchstehen.<br />

*****<br />

„Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat. Ich kann es nicht mal Schätzen. Ich weiß nur<br />

noch, dass es sich anfühlte wie Tage.“ Shawn lag schluchzend in Kellys Armen. Er zitterte am<br />

ganzen Leib. So aufgelöst war er lange nicht gewesen. Die Erinnerungen an dieses erste Wa-<br />

terboarding hatten ihn vollkommen fertig gemacht. „Sie haben es immer wieder gemacht. Mal<br />

zur Strafe, mal einfach aus Lust. Kelly, du kannst dir nicht vorstellen, wie entsetzlich es ist.<br />

Das Wasser läuft dir in den Hals und du denkst, du ertrinkst. Auch, wenn du genau weißt,<br />

dass es nicht passieren kann. Gegen das Gefühl kommt der Verstand nicht an. Ich habe mich<br />

nie wieder freiwillig auf die Liege gelegt. Sie mussten mich jedes Mal mit Gewalt darauf<br />

zwingen. Und es gab jedes Mal hinterher eine tierische Tracht Prügel. Das wusste ich genau.<br />

Trotzdem habe ich es nicht geschafft, mich freiwillig auf die verdammte Liege zu legen. Ich<br />

854


hab es einfach nicht geschafft. Es war so entsetzlich!“ Er schluchzte heftig auf und konnte ein<br />

paar Minuten nichts sagen.<br />

Kelly ließ ihn in Ruhe, redete nur leise beruhigend auf ihn ein. Ihre Linke strich in einer<br />

sanften Bewegung über Shawns zuckenden Rücken. Ihr kullerten selbst Tränen über das Ge-<br />

sicht. Sie hatte einige Patienten gehabt, denen Waterboarding angetan worden war. Sie hatten<br />

alle eins gemeinsam: Panische Todesangst vor dieser Folter!<br />

Ganz allmählich beruhigte der Schauspieler sich ein wenig. Kelly hielt ihn weiter im Arm<br />

und fragte liebevoll:<br />

„Geht es langsam wieder?“<br />

„Ja ... Ich wollte schon lange davon erzählen. Aber die Erinnerungen daran sind so<br />

schlimm ... Selbst das Würgen bis zur Bewusstlosigkeit war nicht so schlimm wie das Gefühl,<br />

dort zu ertrinken.“<br />

„Du weißt, dass es gut ist, dass du darüber sprichst. Irgendwann musstest du das Thema<br />

abarbeiten. Ich habe dich nicht gedrängt, weil mir klar war, wie schwer es dir fallen würde. Es<br />

ist gut, dass du von dir aus den Mut aufgebracht hast, damit anzufangen.“, erklärte Kelly ru-<br />

hig. „Es ist schrecklich, das auf diese Weise noch einmal zu erleben, aber es hat dir bei allen<br />

anderen Sachen auch geholfen. Wir werden darüber immer wieder sprechen müssen. Das ist<br />

echte Folter und selbst hartgesottenen, ausgebildete Kämpfer werden mit dieser Erfahrung<br />

nicht ohne Hilfe fertig. So kannst du dir sicher vorstellen, was diese Art der Folter bei einem<br />

normalen Menschen auslöst.“<br />

drückt:<br />

Kelly konnte spüren wie Shawn nickte. Er schwieg eine Weile. Schließlich meinte er be-<br />

„Sie hat es mir später immer schon Tage vorher gesagt. Und ich ... ich bin dann die ganze<br />

Zeit durch die Gegend gelaufen wie ein Gespenst. Wenn Carrie nur in meine Richtung ge-<br />

guckt hat, bin ich schon zusammen gezuckt, weil ich dachte, nun geht es los. Sie hat meine<br />

Angst so sehr genossen. Wenn es dann tatsächlich los ging ...“ Der junge Mann zitterte stär-<br />

ker. „Sie hatten es schnell raus, dass ich nicht mehr in der Lage war, mich freiwillig auf die<br />

Liege zu legen. Das war wie bei jemandem mit einer Wespenphobie. Man will gar nicht um<br />

sich schlagen und doch tut man es, sobald sich eine Wespe nähert. Ich wollte mich nicht weh-<br />

ren. Ich wusste ja, es bringt mir nur zusätzliche Schmerzen. Doch sobald ich hörte dass sie<br />

kamen, um mich zu holen, hat mein Gehirn sich abgeschaltet. Alan hat mir irgendwann ein-<br />

fach einen Kinnhaken verpasst, der mich solange außer Gefecht gesetzt hat, bis ich auf der<br />

verdammten Liege fest geschnallt war. Wenn es endlich vorbei war ... Nachdem ich mich das<br />

erste Mal gewehrt hatte ... Sie haben mich einfach herum gedreht, auf dem Bauch liegend<br />

wieder fest geschnallt und ... Carrie hat den Bambusstock geholt. Sie hat mir den Hintern blu-<br />

tig geschlagen. Und trotzdem habe ich jedes Mal Wiederstand geleistet.“<br />

855


Der Schauspieler schwieg. Er dachte an die endlosen Stunden, die er auf der Liege ver-<br />

bracht hatte. Er konnte das Wasser, welches ihm in den Mund lief, fast spüren. Unwillkürlich<br />

öffnete er den Mund weit, um Luft zu holen. Dann merkte er jedoch, was er da tat und zwang<br />

sich, normal zu Atmen. Er zitterte. Kelly hielt ihn fest in den Armen. Sie brauchte ein paar<br />

Minuten, um sich zu fangen. Schließlich war sie in der Lage, Shawn zu Antworten.<br />

„Waterboarding ist eine der grausamsten Foltern überhaupt. Mit der Todesangst eines<br />

wehrlosen Menschen zu spielen ist schlimmer als körperliche Schmerzen. Und Waterboarding<br />

verursacht heftige Todesangst. Selbst Masochisten würden sich diesem Gefühl nicht freiwillig<br />

aussetzen. Du wusstest, dass es für dich hinterher noch Schmerzen geben würde. Trotzdem<br />

warst du nicht im Stande, dich dem freiwillig auszusetzen. Der Selbsterhaltungstrieb über-<br />

wiegt letztlich die Angst vor Schmerzen. Das muss so sein. Je stärker der Wille ist, umso stär-<br />

ker ist auch in einer scheinbar ausweglosen Situation der Selbsterhaltungstrieb. Bestes Bei-<br />

spiel dafür, was wir zu leisten im Stande sind, wenn es wirklich um unser Leben geht, ist Aa-<br />

ron Ralston. Erinnerst du dich? Das ist der junge Bergsteiger, der im April 2003 in die Fels-<br />

spalte stürzte und gezwungen war, sich den Arm zu Amputieren oder dort zu Sterben. Er hat<br />

sich für sein Leben entschieden und eine Leistung vollbracht, die Ihresgleichen sucht.“<br />

Shawn konnte sich an die Geschichte sehr gut erinnern. Er hatte damals mit Freunden und<br />

Kollegen darüber gesprochen. Sie hatten in der Gruppe diskutiert, wer von ihnen sich zutrau-<br />

te, etwas Derartiges zu tun, um das eigene Leben zu retten.<br />

„Denkst du nicht, jeder wäre in einer solchen Situation dazu fähig?“, fragte er Kelly.<br />

„Definitiv nicht. Eine Notamputation durch eine dritte Person vornehmen zu lassen, wenn<br />

man keine andere Wahl hat, ist eine Sache. Dies selbst zu machen ... Ich bin überzeugt, dazu<br />

wären die wenigsten fähig.“<br />

Shawn stieß ein kurzes, hartes Lachen aus. „Ja, da magst du Recht haben. Je fertiger ich<br />

gegen Ende war, je geringer wurde mein Wiederstand. Ich hatte einfach keine Kraft mehr.<br />

Meist beschränkte sich meine Abwehr nur noch darauf, mich zu sträuben. Anfangs habe ich<br />

mich aktiv gewehrt, am Ende nur noch passiv. Die Angst, dieses Gefühl, zu ertrinken ... Es ist<br />

so grausam ...“<br />

„Du hast aufgegeben. Das ist es, was die meisten Menschen tun würden. Es gibt wirklich<br />

nur wenige, die imstande wären, sich trotz extremer körperlicher Qualen weiter zur Wehr zu<br />

setzen.“ Kelly ließ ihre Hand streichelnd über Shawns Haut gleiten. Sie wollte ihn von diesem<br />

Thema für heute ablenken. Nach einigen Minuten spürte sie, dass er sich entspannte. Er seufz-<br />

te leise.<br />

„Das tut gut.“<br />

„Soll es auch. Für heute reicht es. Vergiss das jetzt. Denk an etwas Schönes. An die Tatsa-<br />

che, dass Karen, Alan und Terry hinter Gittern sitzen. Und unseren Ausflug zum Beispiel.<br />

Wir werden irgendwann wieder über das Thema sprechen, aber für heute ist es genug damit.“<br />

856


Der Schauspieler kuschelte sich eng an Kellys warmen Körper. Ihre Nähe gab ihm wieder<br />

einmal Halt und Kraft. Er merkte gar nicht, dass er einschlief.<br />

*****<br />

Am nächsten Morgen waren sie bereits gegen 7 Uhr unterwegs. Die Nacht war ruhig ver-<br />

laufen, trotz der Aufregung vom Vorabend. Kelly hatte Shawn um 6 Uhr geweckt. Sie hatten<br />

gefrühstückt, eine Reisetasche mit dem Nötigsten für eine Übernachtung gepackt und waren<br />

dann aufgebrochen. Gut gelaunt steuerte die Therapeutin nach Westen. Das Gespräch kam<br />

natürlich noch einmal auf die Verhaftung zurück und Shawn zeigte überdeutlich, wie erleich-<br />

tert er war. Sie passierten abermals Kings Cross und erreichten schnell den Highway 40, der<br />

sie durch die Innenstadt brachte. Übergangslos wurde der Highway zur 4, dem City West<br />

Link. Und nachdem sie fast 25 Kilometer hinter sich gebracht hatten meinte Kelly:<br />

„Sieh mal, dort rechts. Dass ist der Olympiapark. Du glaubst nicht, was hier los war, als<br />

Sydney damals den Zuschlag bekam!“<br />

Sie passierten das Olympiagelände und Kelly erklärte weiter: „Wir fahren jetzt auf dem<br />

Great Western Highway. Er ist die beste Verbindung in Richtung Westen. Er ist 210 Kilome-<br />

ter lang und endet in Bathurst. Verglichen mit den anderen bekannten Highways ist er natür-<br />

lich nur ein Zentimeter auf der Australienkarte, bietet jedoch die beste Ost-West-Querung<br />

Sydneys, da er direkt in der Innenstadt beginnt, wenn auch erst einmal unter verschiedenen<br />

anderen Namen.“<br />

Shawn sah interessiert aus dem Fenster. Ab und zu kamen sie durch Industriegebiete, doch<br />

die meiste Zeit blieben ihnen die kleinen Einfamilienhäuser treu.<br />

„Das gehört alles noch zu Sydney?“, fragte er nach.<br />

„Ja. Sydney erstreckt sich über 1.664 Quadratkilometer. Zum Vergleich: Los Angeles hat<br />

1.214 Quadratkilometer.“<br />

Shawn grinste. „Ist auch nicht gerade eine Kleinstadt. Aber fast 1.700 Quadratkilometer<br />

ist schon sehr groß. Da ist so ein Highway, der hindurch führt, schon eine feine Sache.“<br />

Es ging noch gute 30 Kilometer durch Wohngebiete. Dann überquerten sie einen Fluss.<br />

„Das ist der Nepean River. Wenn du so willst, ist er die westliche Grenze der Stadt. Ab<br />

jetzt wird sich das Straßenbild verändern.“<br />

Tatsächlich stieg das Gelände hinter dem Fluss plötzlich an. Der vertraute Eukalyptuswald<br />

verdrängte mehr und mehr die Häuser. In Schlangenlinien führte die Straße höher hinauf in<br />

die bewaldete Umgebung. Die Ortschaften am Straßenrand wurden kleiner und kleiner. Im-<br />

mer höher hinauf schlängelte sich der Highway und schließlich passierten sie ein Schild, auf<br />

dem zu lesen war, dass sich der geschätzte Besucher nun im Blue Mountains Nationalpark<br />

befand. Shawn war begeistert.<br />

857


„Hey, das ist super. Ich hätte dich noch gebeten, hier her zu fahren. Einer der Kameraleute<br />

damals in Mackay hat so viel von den Blue Mountains erzählt, ich wollte da unbedingt noch<br />

hin. Ich hätte ja einen Abstecher nach Sydney gemacht, wenn ...“ Er verstummte betroffen.<br />

Doch schnell schüttelte er die Erinnerung an Carrie und die Entführung, die ihn kurz überrollt<br />

hatte, ab. Es war so wunderschön hier, er wollte das genießen und nicht an Carrie denken.<br />

Kelly merkte, dass er kurz in Gedanken auf die Insel zurück gekehrt war. Um den Schauspie-<br />

ler abzulenken erklärte sie:<br />

„Das Gebiet der Blue Mountains erstreckt sich auf über 10.000 Quadratkilometer. Es ist in<br />

sieben Nationalparks aufgeteilt. Den Blue Mountains Nationalpark, Garden of stones Natio-<br />

nalpark, der mit knapp 150 Quadratkilometer der kleinste Teil nach dem Thirlmere Lakes<br />

Nationalpark mit nur 6 Quadratkilometer Fläche ist. Weiter im Süden liegen der Kanagra<br />

Boyd und der Nattai Nationalpark, im Norden liegt der größte Park, der Wollemi National-<br />

park, er ist umfasst über 5.000 Quadratkilometer. Östlich liegt der Yengo Nationalpark und<br />

letztlich ist das Gebiet um die Jenolan Caves Nationalpark. All diese Parks gehören zum Part<br />

des Weltnaturerbes Blue Mountains. Im Dezember 2000 erklärte die UNESCO große Teile<br />

der Blue Mountains zum Weltnaturerbe. Die extreme Artenvielfalt der Eukalyptusbäume war<br />

bei dieser Ernennung ausschlaggebend. Von den Eukalypten stammt auch der Name Blue<br />

Mountains. Die Ausdünstungen der Bäume lassen die Luft tatsächlich bläulich schimmern.“<br />

Shawn saß da, hörte Kelly interessiert zu und strahlte. Gehässig lästerte er:<br />

„Du solltest Nat Nachhilfeunterricht geben. Der weiß ja gar nichts!“ Er lachte. „Okay, zu-<br />

gegeben, verglichen mit dir wirken ohnehin alle, als wüssten sie gar nichts.“<br />

Die junge Frau musste ebenfalls Lachen. Sie hatte gerade den Blinker gesetzt und verließ<br />

den Great Western Highway. Die Ortschaft, durch die sie nun fuhren, hieß Leura. Die Thera-<br />

peutin steuerte einen kleinen Parkplatz zwischen einigen Häusern an und sie stiegen aus dem<br />

Wagen.<br />

„So, dann wirst du jetzt gleich deinen ersten Blick auf die Blue Mountains werfen kön-<br />

nen.“, erklärte sie lächelnd.<br />

Schon nach wenigen Schritten hatten sie die Häuser hinter sich gelassen. Vor ihnen tat<br />

sich der unvergleichliche Ausblick auf das Jamison Valley auf. Nahezu 500 Meter ging es<br />

steil bergab. Kurz vor der Kante hielt Kelly Shawn zurück.<br />

„Lass mal gut sein, noch dichter muss man da nicht ran treten. Es wird gerne mal unter-<br />

schätzt, wie gefährlich das sein kann. Die Klippen sind aus Sandstein, der durchaus mal porös<br />

und bröckelig sein kann. Wenn ein Stück abbricht, während du traumverloren in die Land-<br />

schaft guckst, hast du 500 Meter Zeit, über deine Dummheit nachzudenken, bevor du als klei-<br />

ner, roter, unappetitlicher Fleck dort unten endest.“<br />

Shawn war stehen geblieben und grinste vergnügt. „Ich wusste ja gar nicht, dass du es so<br />

gut drauf hast, einem den Tag zu vermiesen.“ Er ließ sich zu Boden gleiten und Kelly setzte<br />

858


sich zu ihm. Schweigend und geradezu andächtig genossen sie den Ausblick, der sich ihren<br />

Augen bot. Deutlich konnte man in der Sonne den bläulichen Schimmer über den Baumwip-<br />

feln erkennen.<br />

perte.<br />

„Es riecht hier nach Eukalyptus, oder bilde ich mir das ein?“, fragte Shawn und schnup-<br />

„Ja, die Luft ist voll von ätherischen Gasen. Hier bekommst du nie eine Erkältung.“, erwi-<br />

derte Kelly grinsend. „Hier oben wohnen nur gesunde Menschen.“ Sie lehnte sich glücklich<br />

an den Schauspieler und fragte: „Wie sieht es aus, wollen wir ein wenig weiter? Es kommen<br />

noch viele wunderschöne Lookouts.“<br />

Shawn erhob sich geschmeidig und zog Kelly ebenfalls auf die Füße.<br />

„Gerne. Ich kann gar nicht abwarten, mehr zu sehen.“<br />

Sie wanderten ein Stück den Weg an den Klippen entlang und Shawn blieb immer wieder<br />

stehen, um Fotos zu machen. Er hatte sich in Sydney gleich am zweiten Tag mit einem neuen<br />

Vorrat an Speicherkarten eingedeckt und brauchte so keine Rücksicht zu nehmen. Nach einer<br />

guten halben Stunde erreichten sie wieder den kleinen Parkplatz, auf dem inzwischen einige<br />

weitere Fahrzeuge angekommen waren. Kelly steuerte den Hummer die gepflegte Straße ent-<br />

lang, bis sie die letzten Häuser Leuras erreicht hatten. Nun ging es in den Wald hinein. Die<br />

Straße wand sich an den Klippen entlang und zwischen den Bäumen konnte man immer wie-<br />

der einen Blick auf das Valley erhaschen. Shawn war still, aber Kelly wusste, es war kein<br />

bedrücktes Schweigen, der Schauspieler genoss den Ausflug! Als sie das kleine Stück Straße<br />

durch den Wald hinter sich gebracht hatten, tauchte links vor ihnen ein großer Parkplatz auf.<br />

Einige Reisebusse und viele Autos standen hier so früh am Morgen bereits herum.<br />

„Hier ist ja schon eine Menge los!“, stellte Shawn erstaunt fest. „Der Parkplatz deutet auf<br />

etwas Besonderes hin, oder irre ich mich? Wenn es nur ein weiterer Lookout wäre, hätten die<br />

hier wohl nicht einen solch großen Parkplatz gebaut.“<br />

„Da hast du Recht. Komm, ich zeige dir, was hier zu sehen ist. Nimm die Kamera mit und<br />

richte dich auf einen kleinen Fußmarsch ein.“<br />

Gut gelaunt schlenderten sie zur Aussichtsplattform und gesellten sich hier zu vielen ande-<br />

ren Touristen, die den wundervollen Ausblick genossen.<br />

„Willkommen bei den weltbekannten Three Sisters.“, meinte Kelly fröhlich. Sie deutete<br />

auf drei riesige Felstürme, die sich auf der anderen Seite einer tiefen Schlucht vor ihnen erho-<br />

ben. Shawn ließ erst einmal den grandiosen Ausblick auf sich wirken. Doch nach einigen Mi-<br />

nuten zückte auch er seinen Fotoapparat und machte, wie die anderen Touristen, ein Foto<br />

nach dem anderen.<br />

„Warum heißen die Three Sisters?“<br />

859


„Eine Traumzeitlegende besagt, dass die drei Schwestern Meehni, Wimlah, und Gunnedoo<br />

hier mit ihrem Vater, Tyawan, einem Zauberdoktor, lebten. Ganz in der Nähe wohnte<br />

der Bunyip, vor dem sie Angst hatten. Eines Tages erschrak Meehni, als sie einen großen<br />

Tausendfüßler erblickte und warf mit einen Stein nach dem Insekt. Sie traf nicht und der Stein<br />

rollte über die Klippen. Bunyip wachte von dem Krach auf und war verärgert. Als er die<br />

Schwestern erblickte, ging er wütend auf sie los. Tyawan nahm seinen Zauberknochen und<br />

verwandelte die drei nahe beieinander stehenden Schwestern in Felstürme, um sie zu schüt-<br />

zen. Der Bunyip wandte sich nun gegen Tyawan, der sich in einen Leierschwanz verwandte<br />

und davonflog. Dabei verlor er seinen Zauberknochen, den er auch heute noch sucht. Die drei<br />

Schwestern warten noch heute und hoffen, dass er ihn eines Tages findet.“<br />

Shawn hörte gespannt zu. Immer wieder war er fasziniert von den Traumzeitgeschichten.<br />

Neugierig fragte er: „Was ist denn bitte ein Bunyip?“<br />

Die Therapeutin lachte. „Der Bunyip ist ein sagenumwobenes Tier, das in Flüssen, Was-<br />

serlöchern und Sümpfen hausen soll. Sein Aussehen variiert je nach Gegend stark. Mal wird<br />

es als Schlange mit Bart und Mähne beschrieben, mal als Wesen, halb Mensch, halb Tier,<br />

dichtem Fell, einem langen Hals und Vogelkopf. Die Legenden besagen, dass Bunyips überall<br />

an Wasserstellen lauern können, um dort unvorsichtige Tiere oder Menschen zu schnappen<br />

und sie mit sich in sein nasses Reich zu zerren. Einige Kryptozoologen sind der Ansicht, dass<br />

die Legende vom Bunyip auf dem Diprotodon 31 , einer ausgestorbenen Beuteltierart beruhen<br />

könnte. Die Australier halten den Bunyip jedoch für reine Mythologie. In den Traumzeitle-<br />

genden ist er jedenfalls sehr lebendig und wurde gefürchtet.“<br />

„So viel, wie du über die Traumzeit weißt, solltest du ein Buch darüber schreiben.“, mein-<br />

te Shawn lachend.<br />

„Das steht mir nicht zu. Ich bin keine Aborigine und würde mir nie erlauben, ohne die<br />

ausdrückliche Erlaubnis der Aborigines, über ihre Legenden und Mythen öffentlich zu berich-<br />

ten.“<br />

„Schade. Es gibt bestimmt viele Menschen, die darüber gerne mehr erfahren würden.“<br />

„Es gibt Bücher darüber. Nicht viele, aber ein paar. Ich habe keins, da ich die Geschichten<br />

im Kopf habe. Bei den Aborigines steht das mündliche im Vordergrund. Sie haben Symbole<br />

für bestimmte Dinge, aber keine eigene Schrift. Alles, was sie wissen müssen, wird mündlich<br />

überliefert. Darum schreiben sie keine Bücher.“, erklärte Kelly.<br />

Die junge Frau zog Shawn an der Hand mit sich, den Parkplatz entlang. Am Ende des<br />

Parkplatzes ging es zu einem größeren Gebäude.<br />

„Das ist das World Heritage Plaza. Da können wir etwas essen, bevor wir weiter fahren.“<br />

31 Diprotodon ist eine ausgestorbene Säugetiergattung und das größte bekannte Beuteltier, das jemals gelebt hat. Seine nächsten Verwandten sind die Wombats. Wie diese gehörte es zur<br />

Ordnung Diprotodontia. Die Gattung starb im Zuge einer Aussterbewelle am Ende des Pleistozän zusammen mit zahlreichen weiteren australischen Großsäugern aus.<br />

860


Shawn hatte keine Einwände. Ihm knurrte inzwischen der Magen und Durst hatte er eben-<br />

falls. So stimmte er erfreut zu. Sie suchten sich im Echo Point Café einen freien Tisch und<br />

bestellten sich Kaffee, Spiegeleier auf Toast und Speck und zum Nachtisch einen großen<br />

Obstsalt. Mehr als gesättigt marschierten sie schließlich zum Wagen zurück. Kelly folgte wei-<br />

ter dem Cliff Drive, der sich nach einem kurzen Stück zwischen Häusern wieder durch den<br />

Wald an der Klippenkante entlang schlängelte. Am Ende des Drives bog sie nach links ab und<br />

gleich darauf wieder.<br />

„Wo geht es denn jetzt hin?“, fragte Shawn interessiert.<br />

Kelly deutet nach vorne. Dort war der nächste, große Parkplatz zu sehen. „Dorthin. Das ist<br />

die Station der Skywalk und Scenic Railway. Du kommst heute noch hoch hinaus und ganz<br />

tief runter.“, erklärte sie gut gelaunt. „Womit möchtest du anfangen?“ Die junge Psychologin<br />

hatte einen Parkplatz gefunden und stieg aus dem Hummer, gefolgt von Shawn, der sich neu-<br />

gierig umschaute. Mit anderen Besuchern zusammen gingen sie auf das moderne Gebäude zu,<br />

in dem sich die Railway Station befand. Shawn grinste.<br />

„Na, wer hoch hinaus will sollte doch wohl ganz unten anfangen, oder? Also, lass uns mit<br />

unten beginnen, was auch immer das bedeutet. Ich lasse mich gerne überraschen.“<br />

Während Kelly sich in die Schlange vor der Kasse einreihte, schlenderte Shawn ein wenig<br />

herum und sah sich in dem Gebäude um. Trotz des Andrangs war Kelly erstaunlich schnell<br />

zurück. Sie hatte vier Karten in der Hand.<br />

„Meinetwegen können wir los.“, erklärte sie.<br />

Gemeinsam schlossen sie sich anderen Besuchern an, die ebenfalls zum Bahnhof der<br />

Railway wollten.<br />

„Ich hoffe, du magst Achterbahnfahrten.“, grinste Kelly vergnügt. „Es wird gleich ziem-<br />

lich heftig werden. Wenn dir schlecht wird, bitte nicht in den Wagon, okay?“<br />

Shawn lachte. „Keine Bange, ich werde zwar ab und zu mal Seekrank, aber das heißt ja<br />

nicht, dass mir in jedem Gefährt schlecht wird.“<br />

Sie näherten sich der Station und schließlich konnte Shawn einen ersten Blick auf den<br />

Wagon werfen, von dem Kelly gerade gesprochen hatte. Er lachte erfreut auf.<br />

„Damit geht es los? Sieht ja irre aus.“<br />

„Ja, oder? Ist die steilste Kabelbahn der Welt. Es geht 52° runter, 415 Meter tief.“<br />

Stufen führten zu dem offenen Wagon hinunter. Bald waren Shawn und Kelly an der Rei-<br />

he, sich auf eine der noch freien Bänke zu setzen. Ein fester Stahlbügel senkte sich auf ihre<br />

Oberschenkel und verhinderte nachhaltig, dass sie aus der Bahn fallen konnten. Schnell waren<br />

jetzt die letzten freien Plätze besetzt und der Fahrer, der am Ende des Wagens seinen Platz<br />

hatte, erklärte:<br />

„Leute, haltet euch fest, es geht los.“<br />

861


72) In die Tiefe<br />

Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden.<br />

Marc Twain<br />

Es gab einen kleinen Ruck und schon rumpelte die Bahn los. Durch Tunnel und dichten<br />

Wald ging es tiefer und tiefer hinunter in das Jamison Valley hinein. An der gesamten Strecke<br />

führten die Stufen neben den Schienen her. So war gewährleistet, dass im Fall einer techni-<br />

schen Panne die Besucher bequem wieder nach oben gelangen konnten. Nach sieben Minuten<br />

hatten sie das Tal erreicht. Die begeisterten Fahrgäste verließen die Wagons. Schnell verteil-<br />

ten sich die Neuankömmlinge. Zusammen mit einigen anderen Besuchern strebten Kelly und<br />

Shawn zum Startpunkt des hier im Tal angelegten Wanderweges. Wie Shawn einem Hinweis-<br />

schild entnehmen konnte, war der Rundweg 2,8 Kilometer lang und führte auf einem gut aus-<br />

gebauten Plankenweg durch ursprünglichen Regenwald. Es war feuchtwarm und drückend<br />

hier unten und Shawn hörte eigenwillige Geräusche aus der Tiefe des Regenwaldes. Begeis-<br />

tert schaute er sich um.<br />

„Sieh dir nur mal diese Farne an. Wenn hier gleich ein T-Rex aus dem Dickicht kommt<br />

nur nicht bewegen! Du weißt ja, die Viecher können nur Bewegungen wahrnehmen.“<br />

Kelly kicherte. „Ja, ich werde es mir merken. Und ansonsten vertraue ich darauf, dass du<br />

mich schon retten wirst.“<br />

Sie machten sich auf den Weg und marschierten den ganzen Bohlenweg entlang. Immer<br />

wieder blieb Shawn stehen, um einen besonders schönen Farn, eine Schlingpflanze oder etwas<br />

anderes Spektakuläres im Regenwald zu fotografieren.<br />

Am Eingang zu einer längst still gelegten Kohlemine blieben sie einen Moment stehen.<br />

„Das muss ja eine mörderische Arbeit gewesen sein. Stell dir mal vor, die Kohle da hoch<br />

schaffen.“ Er deutete nach oben, wo irgendwo über dem grünen Blätterdach die Restwelt lag.<br />

„Bin ich froh, dass ich sowas nicht machen muss.“<br />

„Ja, das war harte Knochenarbeit. Sie haben Pferde benutzt, um das gewonnene Material<br />

nach oben zu schaffen. Später bauten sie dann die Bahn. Der Abbau begann 1878 und wurde<br />

1930 eingestellt. Seit damals wird die Bahn nur noch für den Tourismus genutzt.“<br />

Langsam näherten sie sich wieder der Station und ergatterten einen Platz. Noch einmal<br />

konnten sie die extrem steile Strecke genießen. Als sie wieder an der Bergstation anlangten<br />

dirigierte Kelly den Schauspieler zur Station des Skyway. Sie hatten großes Glück, die Gon-<br />

del kam gerade zurück. Sofort konnten sie einsteigen. Ungefähr dreißig andere Fahrgäste stie-<br />

gen dazu. Und schon ging es los.<br />

862


„Die Kabine ist eigentlich für hundertvierzig Personen ausgelegt, wird aber maximal mit<br />

bis zu vierundachtzig Personen besetzt. Unter uns geht es 270 Meter tief runter. Und da unten<br />

waren wir eben.“<br />

Da der Gondelboden aus Glas war, konnte man wunderschön in die Tiefe schauen. Tief<br />

unter ihnen war das grüne Blätterdach des Regenwaldes zu erkennen.<br />

„Oh mein Gott! Da möchte ich nicht runter stürzen. Da hast du auf dem Weg nach unten<br />

viel Zeit, darüber nachzudenken, dass du einen miesen Tod sterben wirst.“, meinte Shawn<br />

grinsend. „Hält das Glas?“<br />

men.“<br />

Kelly lachte. „Bei Amis, die dumme Fragen stellen, kann es schon mal Sprünge bekom-<br />

Sofort wurde sie von einem älteren Pärchen zur Schnecke gemacht. „Unverschämtheit!“,<br />

meinte der Mann gespielt verärgert. „Wie können Sie nur sowas sagen?“<br />

Kelly lachte. Einige offensichtlich australische Touristen stimmten vergnügt in das Lachen<br />

ein. Die Psychologin erwiderte:<br />

„Sie brauchen doch keine Angst zu haben, Sie haben ja keine dummen Fragen gestellt.“<br />

Sie deutete nach unten. „Sehen Sie mal da, das ist Katoomba Falls. Den könnten Sie sich ganz<br />

aus der Nähe angucken, so im Vorbeifallen ...“<br />

Jetzt lachten alle Fahrgäste. Leider war die Fahrt viel zu schnell zu Ende, es dauerte nur<br />

drei Minuten, um über die Schlucht hinweg zu kommen und noch einmal drei Minuten für<br />

den Rückweg. Shawn und einige andere Fahrgäste hätten keine Einwände gehabt, wäre es zu<br />

einer kurzfristigen technischen Störung gekommen. Der Ausblick war erhebend. Doch so sehr<br />

sie es sich auch wünschten, schon waren sie wieder an der Station angekommen und mussten<br />

die Plätze für weitere Touristen räumen. Sie verließen das Gebäude und traten draußen in der<br />

Sonne noch einmal an die steil abfallende Kante zum Valley. Shawn ließ es sich nicht neh-<br />

men, die Gondel hoch in der Luft über dem Tal hängend zu Fotografieren.<br />

„Das waren zwei wunderschöne Touren. Ich danke dir mal wieder sehr. Ich weiß gar<br />

nicht, wie oft ich das schon gemacht habe. Und ich tue es immer wieder gerne. Danke.“<br />

Kelly strahlte. „Das freut mich, dass es dir gefallen hat. Ich mache das gerne, das weißt du<br />

doch. Aber jetzt sollten wir auch zusehen, dass wir weiter kommen. Es ist schon 14 Uhr durch<br />

und wir müssen noch ein Stück fahren, um dorthin zu kommen, wo ich mit dir übernachten<br />

möchte.“<br />

Skeptisch fragte der junge Mann: „Hm ... Muss ich mir Sorgen machen? Wohin willst du<br />

mich verschleppen?“<br />

„Nein, keine Bange, mein Schatz. Hätte ich dich verschleppen wollen, hätte ich das im<br />

Outback gemacht.“<br />

Sie hatten den Hummer erreicht und stiegen ein. Kelly steuerte den Wagen durch Ka-<br />

toomba hindurch zum Highway 32, dem Great Western Highway, zurück.<br />

863


„Leider müssen wir einen ziemlich Umweg machen, quasi um die ganzen Blue Mountains<br />

herum. Direkte Wege gibt es wegen der Berge nicht. Bis zu unserem nächsten Ziel sind es<br />

knappe 60 Kilometer. Hier auf dem Great Western geht es noch recht zügig voran, später wird<br />

die Straße klein und an einigen Stellen ziemlich schlängelig. Da kommen wir nicht mehr so<br />

schnell vorwärts.“<br />

Shawn schmunzelte vor sich hin. „Hört sich ja spannend an. Da bin ich ja neugierig, wo<br />

wir landen werden. Und ich brauche mir wirklich keine Gedanken zu machen?“ Er sah aus<br />

der Frontscheibe, als suche er sicherheitshalber einen Fluchtweg.<br />

„Nein, Schatz, du kannst ganz entspannt bleiben.“ Kurz zögerte die Psychologin, doch sie<br />

ließ es darauf ankommen. „Wenn ich auch nichts dagegen hätte, dich für immer in die Wild-<br />

nis zu entführen.“<br />

Gespannt wartete sie, wie die Worte bei Shawn wirken würden. Doch ihre Sorge war un-<br />

berechtigt. Ein breites Grinsen machte sich auf Shawns Gesicht breit.<br />

„Das würdest du tun? Mich in die Wildnis verschleppen? Für immer? Wo würden wir<br />

wohnen?“<br />

„Unter Bäumen. Und wir würden uns von Wurzeln, Maden, Ameisen ...“<br />

„Halt! Ich bleibe in der Zivilisation!“<br />

*****<br />

Über die Ortschaften Medlow Bath und Blackheath erreichten sie gegen 15 Uhr die histo-<br />

rische Siedlung Hartley. Kurz stoppte Kelly hier und sie sahen sich einige der alten, histori-<br />

schen Gebäude an. Leider waren einzelne Häuser im Zerfall begriffen. Andere wurden ganz<br />

offensichtlich instand gehalten. Shawn machte ein paar Fotos, dann ging es weiter. Wie Kelly<br />

bereits erwähnt hatte, schlängelte sich die Straße, die deutlich schmaler geworden war, ent-<br />

lang der Bergausläufer und ab und zu über einige Bergrücken hinweg. Die Landschaft um sie<br />

herum war wunderschön. Dichter Wald, grüne Hügel und saftige Täler, hier und da kleine<br />

Ortschaften. Kurz hinter Hampton ging es einen Bergrücken hinauf und auf diesem entlang.<br />

Kelly fuhr langsam, sie hatten die Fenster geöffnet und unterhielten sich gut gelaunt. Plötzlich<br />

schnupperte Shawn und verzog leicht angewidert das Gesicht.<br />

„Boh, was ist denn das für ein Gestank?“<br />

„Ich fürchte, das ist Verwesungsgeruch. Da wird irgendwo in der Nähe ein totes Tier vor<br />

sich hin stinken.“ Kelly behielt Recht. Keine 100 Meter weiter stießen sie auf den Kadaver<br />

eines Wildschweins, der am Straßenrand lag. In der Luft waberte der süßliche Verwesungsge-<br />

ruch und Shawn schnaufte angeekelt:<br />

„Oh man, schaff uns bloß schnell weiter! Das stinkt ja unerträglich. Man ...“<br />

864


Kelly gab Gas und sie ließen den Gestank schnell hinter sich. Sie amteten im wahrsten<br />

Sinne auf. Die junge Frau schaltete die Lüftung hoch, um den Geruch schnell aus dem Wagen<br />

zu blasen.<br />

„Mensch, das ist ja unerträglich. Wie lange mag das da schon liegen?“, fragte Shawn nach<br />

einer Weile. Er hatte erhebliche Schwierigkeiten gehabt, nicht zu Würgen.<br />

„Hm, die Verwesung setzt bei diesen Temperaturen schnell ein. Hast du gesehen, wie auf-<br />

gebläht der Kadaver war? Ich bin kein Fachmann, aber ich schätze, mehr als zwei Tage liegt<br />

das Tier dort noch nicht. Normalerweise ist die Straßenmeisterei schneller, sowas einzusam-<br />

meln.“<br />

Weiter und weiter ging es und schließlich blieben die Täler hinter ihnen zurück und es<br />

wurde richtig bergig. Einmal stoppte Kelly, als sie an einem wunderschönen Lookout vorbei<br />

kamen. Man hatte einen herrlichen Blick über die Blue Mountains. Die Straße wand sich wei-<br />

ter auf dem Bergkamm entlang. Solange waren sie noch nie durch so dichten Wald gefahren.<br />

Shawn war einmal mehr begeistert.<br />

„Das ist eine tolle Straße. Wo, um alles in der Welt, werden wir bloß landen? Was kann es<br />

denn hier geben?“, fragte er verblüfft.<br />

Kelly lachte vergnügt. „Neugierig bist du ja gar nicht, was? Du wirst es schon noch früh<br />

genug erfahren. Nun halte doch einfach mal die Füße still und lass dich überraschen. Habe ich<br />

dich schon je enttäuscht?“<br />

„Nein, hast du nicht. Na, ich werde es ja wohl bald sehen.“<br />

Noch ein paar Minuten ging es in Schlangenlinien durch den dichten Wald. Dann konnte<br />

man durch die Bäume hindurch linker Hand ein tiefes Tal erkennen. Sie passierten eine kleine<br />

Steinbrücke und plötzlich tat sich vor ihnen eine riesige Grotte auf, in die die Straße mitten<br />

hinein führte.<br />

Shawn riss überrascht die Augen auf. Langsam fuhr Kelly in die Grotte ein und gab<br />

Shawn Gelegenheit, sich umzusehen. Rechts und links der Straße, wo sich zwischen den Fel-<br />

sen Humusboden angesammelt hatte, wuchsen riesige Farne. In der Grotte konnte man einige<br />

Wege sehen, die hier starteten. An einigen Stellen waren Lampen in den Fels eingelassen<br />

worden und beleuchteten besonders schöne Ecken. Langsam fuhr Kelly weiter durch die herr-<br />

schende Dunkelheit. Und so plötzlich, wie die Grotte begonnen hatte, hörte sie auch wieder<br />

auf und sie standen im Freien. Rechts tauchten Parkplätze und ein kleines Holzgebäude auf.<br />

Und vor ihnen sah Shawn nun ein sehr großes mehrstöckiges Haus, welches ebenfalls aus<br />

Holz gebaut war.<br />

„So, wir sind da.“, erklärte Kelly lächelnd. „Willkommen bei den Jenolan Caves. Wenn<br />

ich Sie dann mal zu ihrem heutigen Übernachtungsdomizil bringen darf, junger Mann?“<br />

865


„Ich bitte darum.“ Shawn sah sich neugierig um, während Kelly zu dem großen Gebäude<br />

hinüber fuhr. Sie fand einen freien Parkplatz und Minuten später standen sie bereits an der<br />

Rezeption des Caves House.<br />

„Mein Name ist Jackson. Ich habe vor einigen Tagen ein Zimmer gemietet, für eine<br />

Nacht.“<br />

Der junge Mann an der Rezeption schaute in sein Anmeldebuch und nickte zufrieden.<br />

„Ja, hier habe ich Sie. Jackson, Kelly und McLean, Shawn. Sie baten um einen Grand<br />

Classic Room. Wir haben Ihnen im Südflügel einen Raum reserviert. Ich hoffe, Sie sind zu-<br />

frieden.“ Er drückte Shawn den Zimmerschlüssel und Kelly einen Plan vom Hotelgebäude in<br />

die Hand, erkläre ihnen, dass sie rechts bis zum großen Treppenhaus gehen mussten und<br />

wünschte ihnen einen angenehmen Aufenthalt.<br />

Mit dem Plan in der Hand fanden sie sich gut zurecht und standen Minuten später in ihrem<br />

großen Zimmer. Die Einrichtung war historisch, wunderschön und gemütlich. Shawn schnalz-<br />

te mit der Zunge und erklärte:<br />

„Da hatte ich ja wieder einmal Recht, mich auf dich zu verlassen, Lady. Es ist toll hier.“<br />

Er zog Kelly an sich und küsste sie leidenschaftlich. „Wenn wir jetzt auch noch etwas Ver-<br />

nünftiges zum Abendbrot bekommen ist alles perfekt. Wie sieht es denn mit der Höhle aus?<br />

Schaffen wir das heute noch?“<br />

Kelly schüttelte bedauernd den Kopf. „Erstens, es sind Höhlen, keine einzelne Höhle, und<br />

nein, dafür ist es eigentlich schon zu spät. Wir werden morgen früh würfeln, welche wir uns<br />

ansehen wollen. Ich würde jetzt gerne ein wenig laufen, ich bin ganz steif von der langen Fah-<br />

rerei.“<br />

Shawn hatte keine Einwände. So machten sie sich zu Fuß auf den Weg, die Umgebung ein<br />

bisschen unter die Lupe zu nehmen. Entspannt schlenderten sie an kleinen Souvenirshops und<br />

Kiosken vorbei zurück zur großen Grotte. Sie sahen sich hier gründlich um, stiegen auch ei-<br />

nen der Wege hinauf in den Wald und kehrten erst um, als es ihnen zu mückenverseucht wur-<br />

de.<br />

„Lass uns hier bloß verschwinden, bevor die uns bei lebendigem Leib auffressen. Das ist<br />

ja widerlich!“, schimpfte Kelly genervt.<br />

Um sich schlagend retteten sie sich zurück zur Grotte und hinauf zum Hotelkomplex.<br />

„So, was möchtest du denn so zum Abendbrot haben?“, fragte die Psychologin, als sie vor<br />

dem Hotel standen.<br />

„Hm, was gibt es denn für Möglichkeiten?“<br />

„Da wäre das Chisholms, sehr vornehm, sehr gutes Essen, sehr teuer. Oder wir gehen ins<br />

Bistro. Kann man auch sehr gut Essen, satt wirst du auf jedem Fall.“<br />

Shawn sah an sich herunter. Jeans, T-Shirt. Kelly sah nicht anders aus. „Ich denke, für<br />

sehr vornehm sind wir gar nicht richtig gekleidet, was? Okay, lass uns das Bistro nehmen.“<br />

866


Lachend hakte er sich bei Kelly ein und ließ sich von ihr zum Restaurant führen.<br />

*****<br />

„Das Essen war wirklich sehr gut.“ Shawn räkelte sich nur noch in Boxershorts auf dem<br />

breiten, urgemütlichen Bett. Sie hatten bereits geduscht und eine Flasche erstklassigen Wein<br />

aufs Zimmer bestellt. „Ich platze gleich.“ Er sah Kelly auffordernd an. „Erzählst du mir mal,<br />

wie es mit den Höhlen hier so aussieht?“<br />

Die Psychologin ließ sich zu ihm auf das Bett gleiten. Sie stopfte sich das Kopfkissen zu-<br />

recht und gähnte. „Okay, mal sehen, was ich noch so weiß.“<br />

Shawn lachte schallend. „Als ob du dich mal an irgendwas nicht erinnern könntest!“<br />

„Jaja, ich muss immer auf Knopfdruck funktionieren. Also, es gibt neun Höhlen von un-<br />

terschiedlicher Größe und Tiefe, die für Touristen frei gegeben sind. Wie viele nicht frei ge-<br />

geben sind weiß ich wirklich nicht genau. Es gibt jedenfalls annähernd 3.000 Höhlen hier in<br />

den Blue Mountains. Die freigegebenen Höhlen sind jedenfalls die Lucas, Imperial/Diamond,<br />

Chifley, Orient, Ribbon, Temple of Baal, River, Cerberus und Jubilee Höhlen. Wie groß die<br />

nun genau sind kann ich dir nicht sagen. Die Lucas Cave ist die größte und bekannteste. Ich<br />

mag die Temple of Baal Cave am liebsten. Sie wurde 1904 entdeckt. Sie hat zwei riesige<br />

Kammern, wunderschöne Stalaktiten und Stalagmiten und durchaus moderate Höhenunter-<br />

schiede. 288 Stufen, was lächerlich ist im Vergleich zum Beispiel zur River Cave mit 1.298<br />

Stufen.“<br />

Shawn hatte aufmerksam zugehört und zuckte jetzt die Schultern. „Na, dann sollten wir<br />

die doch nehmen, oder? Mir ist es egal, welche wir besichtigen. Ein paar mehr oder weniger<br />

Stufen machen keine Unterschied.“ Er gähnte herzhaft. Dann drückte er Kelly grinsend seine<br />

Zeigefinger auf die Nase. „So, Internet ausgeschaltet ...“<br />

Nach der folgenden Prügelei schliefen sie eng aneinander geschmiegt zufrieden ein.<br />

*****<br />

Um Punkt 10.30 Uhr am nächsten Morgen standen sie zusammen mit sechzehn anderen<br />

Besuchern in der Eingangshalle der Höhle. In warme Sweatshirts eingemummelt warteten sie<br />

auf den Führer, der sie durch die Höhle begleiten würde. Ihr Zimmer hatten sie bereits ge-<br />

räumt, da es bis 10 Uhr frei gemacht werden musste. Shawn hatte einen Arm um Kelly gelegt<br />

und sagte:<br />

„Hey, Becky Thatcher, wenn wir uns dort unten verlaufen werde ich dich retten.“<br />

„Ach, mein Tom, ich wusste doch, ich kann mich auf dich verlassen.“, flachste Kelly zu-<br />

rück. „Aber was machen wir, wenn wir dem Indianer Joe begegnen?“<br />

867


„Dem hau ich eins auf die Glocke! Und dann holen wir uns den Schatz, der bei Nummer 2<br />

unter dem Kreuz vergraben ist.“<br />

„Wir haben nur einen bei Nummer 7.956 unter dem Pilz versteckt.“, meinte eine Stimme<br />

hinter ihnen.<br />

Lachend drehten sich Kelly und Shawn herum. Vor ihnen stand der Höhlenführer und<br />

grinste.<br />

„Da können wir ja lange suchen.“, schnaufte Shawn. „Nummer 7.956 ...“<br />

„Na, wir machen es den Schatzräubern eben schwer.“, ging der junge Mann auf die Spin-<br />

nerei ein. „So, mates, ich bin Chris, ich werde euch heute Morgen durch die Höhle führen.<br />

Hier habe ich mal einen Plan der Höhle für euch. Die Temple of Baal ist insgesamt 20 Kilo-<br />

meter lang. Für den öffentlichen Verkehr freigegeben sind nur 365 Meter. Der Höhenunter-<br />

schied in der Höhle beläuft sich auf knapp 200 Meter. Hier im Eingang, wo wir jetzt stehen,<br />

sind wir 790 Meter über dem Meeresspiegel. Die Durchschnittstemperatur in der Höhle be-<br />

trägt 16° Celsius. Wir werden auf der Tour heute 288 Stufen überwinden müssen. Ich werde<br />

euch an den besonderen Stellen Zeit genug geben, euch gründlich umzusehen und alles zu<br />

fotografieren. Da die Stalaktiten und Stalagmiten sehr empfindlich gegen Hautfett sind, was<br />

jeder von uns an den Händen hat, ist es nicht gestattet, da unten alles zu begrabbeln. Ihr seid<br />

super Typen, das weiß ich, und werdet eure Finger im Zaum halten, oder?“<br />

Von allen Seiten zustimmendes Gemurmel.<br />

„Klasse. Okay, die Stufen sind teilweise steil und an einigen Stellen durch die herrschende<br />

Feuchtigkeit in der Höhle auch glitschig. Um Unfälle zu vermeiden bitte ich euch, benutzt die<br />

Geländer. Sie sind zu eurer Sicherheit angebracht worden. Bleibt zusammen, verschwindet<br />

nicht in Nebengänge und haltet euch von den Höhlenmonstern fern. Und nun, auf geht’s!“<br />

Nach dieser Einführung ging es los. Gleich am Anfang ging es ziemlich steil und tief hin-<br />

unter. Kelly und Shawn achteten darauf, wohin sie traten und hielten sich, wie alle Besucher,<br />

mit beiden Händen links und rechts an den Geländern fest. Als sie den Grund der Höhle er-<br />

reicht hatten blieb Chris das erste Mal stehen. Er wartete, bis alle angekommen waren und<br />

erklärte dann:<br />

„Wir sind hier im sogenannten Binoomea Cut. Hier könnt ihr schon die ersten Stalaktiten<br />

und Stalagmiten sehen. Na, wer weiß, was was ist?“<br />

Ein vielleicht 12 Jahre alter Junge meldete sich aufgeregt.<br />

„Ich weiß es! Stalaktiten kommen von oben, hängen an den Decken, Stalagmiten wachsen<br />

von unten nach oben.“<br />

„Richtig. Tropfsteinformationen wie der Stalaktit entstehen, wenn kohlensäurehalti-<br />

ges Wasser in das Gestein eindringt und bedingt durch die Oberflächenspannung an der De-<br />

cke eines Hohlraums Kalzit ablagert. Das dabei entstehende Material wird Sinter genannt.<br />

Tritt ein Tropfen aufgrund der Oberflächengestalt immer an exakt derselben Stelle aus, kann<br />

868


die Ablagerung die Form eines Ringes mit der Tropfengröße als Durchmesser bilden. Diese<br />

Formation kann zu einem Sinterröhrchen wachsen, auch Makkaroni genannt. Ein Stalaktit<br />

entsteht dadurch, dass Tropfen nicht mehr im Inneren des Röhrchens, sondern auf seiner Au-<br />

ßenseite ablaufen und Kalzit ablagern. So beginnt das Dickenwachstum. Bei der Untersu-<br />

chung eines Stalaktiten kann das Sinterröhrchen im Inneren oft noch nachgewiesen werden.<br />

Es gibt auch seltenere Formen, bei denen ein Stalaktit ohne vorheriges Sinterröhrchen wächst.<br />

Dabei spielt die Oberfläche der Höhlendecke die entscheidende Rolle, damit das Dicken-<br />

wachstum ohne Leitstruktur beginnt. Die Größe eines Stalaktits ist durch sein Eigengewicht<br />

begrenzt. Irgendwann ist er einfach so schwer, dass er von der Decke reißt. Ein Stalaktit ist<br />

immer deutlich schlanker als ein Stalagmit am Boden. Wächst ein Stalaktit mit einem Stalag-<br />

mit zusammen, entsteht eine<br />

Von der Decke hingen hier hunderte kleiner, kaum Bleistift langer Stalaktiten. Ausge-<br />

leuchtet wunderschönen Höhle. Gem of the south, Moloch’s Grotto, Angel’s Wing, Golden<br />

Fleece, alles hatte einen Namen. Shawn machte, wie alle Besucher, unzählige Fotos. Immer<br />

wieder schien eine Stalaktiten- oder Stalagmitenformation besonders schön zu sein.<br />

Die Beleuchtung variierte zwischen direkter und indirekter, je nachdem, wie etwas wirken<br />

sollte. In manche Tropfsteinformationen interpretierten die Besucher noch ganz eigene Ideen<br />

hinein. Einmal entwischte einer jungen Frau, die mit einer Freundin unterwegs war:<br />

„Der sieht aus wie ein Dildo ...“ Sie fing haltlos an zu Kichern. Kelly konnte nicht anders<br />

als ihr in Gedanken zuzustimmen. Chris schüttelte angesichts so viel Dreistigkeit den Kopf.<br />

„Diese Jugend ...“<br />

Doch schließlich erreichten sie wieder die Eingangshalle. Sie bedankten sich herzlich bei<br />

Chris, der einiges an Trinkgeld erhielt. Dann zerstreute sich die Gruppe.<br />

73) Allein sterben<br />

Sterben kann nicht so schwer sein – bisher hat es noch jeder geschafft.<br />

Norman Mailer<br />

Shawn und Kelly setzten sich in der Sonne draußen auf eine Bank und wärmten sich kurz<br />

auf. 16° war doch empfindlich kühl gewesen.<br />

„Magst du auch einen Kaffee?“, fragte der Schauspieler.<br />

„Gerne. Etwas Heißes trinken wäre nicht schlecht.“<br />

Shawn eilte zu einem Kiosk und besorgte zwei Becher Coffee to go. Er drückte Kelly ei-<br />

nen in die Hand und als sie die Becher leer hatten, war ihnen wieder warm geworden. Sie be-<br />

obachteten noch einen Moment einige Rosellas, die sich vor ihnen auf dem Gehweg nach<br />

Krümeln und Samen suchten.<br />

869


Die hübschen Sittiche ließen sich von den vorbei kommenden Menschen überhaupt nicht<br />

stören. Sie hatten sich hier mit den Touristen arrangiert und lebten nicht schlecht von dem,<br />

was so abfiel. Einer der Vögel hüpfte ganz dich zu ihnen und pickte frech an Shawns Schuhen<br />

herum. Als jedoch ein junger Mann mit einem Schäferhund an der Leine vorbei kam, flogen<br />

die Sittiche schließlich doch auf und verschwanden in den Bäumen hinter Kelly und Shawn.<br />

„Schade. Die sind entzückend.“, meinte der Schauspieler bedauernd. „Und so wunder-<br />

schön. Die Farben leuchten richtig.“<br />

Kelly seufzte. „Wir müssen uns jetzt sowieso langsam auf den Weg machen. Es ist schon<br />

fast 13 Uhr. Wir haben noch einen langen Heimweg vor uns.“<br />

„Hoffentlich haben die inzwischen das tote Wildschwein eingesammelt!“, meinte Shawn<br />

inbrünstig. „Noch mal an dem Gestank vorbei und ich werde Kotzen!“<br />

Kelly musste über die krasse Wortwahl lachen. „Also bitte, mäßige dich.“<br />

„Was denn? Wenn es nun mal so ist?“, erklärte der Schauspieler mit einem entwaffnenden<br />

Lächeln. „Ich bin extrem empfindlich was Gerüche betrifft. Ich hatte auf dem Herweg gestern<br />

echte Schwierigkeiten, ein Würgen zu unterdrücken.“<br />

Sie erhoben sich und versenkten die leeren Kaffeebecher in einem Müllbehälter neben der<br />

Bank. Dann schlenderten sie Arm in Arm zum Hummer. Bevor sie einstiegen zog Shawn Kel-<br />

ly noch einmal eng an sich.<br />

„Das waren wieder unglaublich schöne Stunden. Ich weiß wirklich nicht, wie ich es zu-<br />

hause ohne dich aushalten soll. Was soll ich denn dort nur machen?“<br />

Zwar grinste der junge Mann bei diesen Worten frech, aber Kelly hörte die Angst heraus,<br />

die hinter seinen Worten steckte. Die Psychologin schlang ihre Arme um Shawns Hals und<br />

sagte leise:<br />

„Baby, ich bin sicherer denn je, dass du es schaffen wirst. Mach dir bitte keine Sorgen da-<br />

rüber. Es ist doch nur für so kurze Zeit verglichen mit dem Rest unseres Lebens, den wir zu-<br />

sammen verbringen werden. Sechs lächerliche Monate. Du wirst deine Eltern überzeugen, mit<br />

dir zu kommen, ich werde nach schönen Häusern suchen, wir werden gar keine Zeit haben,<br />

uns zu vermissen.“<br />

Shawn seufzte. „Ich werde meinen Eltern erst einmal nichts davon erzählen, ich möchte,<br />

dass sie ... wie soll ich sagen? Dass sie erst einmal ohne störende Gedanken an Umzüge,<br />

Hochzeiten und sowas mit der Tatsache fertig werden, dass ich wieder da bin. Wenn ich mich<br />

wieder richtig eingelebt habe und alles seinen normalen Gang geht, werde ich wohl mal lang-<br />

sam davon anfangen, dass ich nach Australien gehen möchte. Wenn sie das geschluckt haben<br />

kann ich ihnen auch erzählen, dass sie eine wundervolle Schwiegertochter bekommen wer-<br />

den.“<br />

870


„Wie und wann du es ihnen erzählst, musst du alleine entscheiden. Du kennst sie besser<br />

als ich. Ich bin sicher, sie werden mit dir kommen. Wir werden uns lange frei nehmen und mit<br />

ihnen einen Trip durch ganz Australien machen. Ich wollte das schon immer einmal in An-<br />

griff nehmen. Es gibt riesige Wohnmobile, die sogar Allradantrieb haben und jede Wegstre-<br />

cke schaffen. Mit sowas wollte ich los.“<br />

Shawn seufzte abermals. Unsicher, unglücklich. „Wenn es doch nur schon soweit wäre!“<br />

Er wusste, dass die Tage bei Kelly inzwischen gezählt waren, daher hing seine Stimmung,<br />

wenn er daran dachte, etwas durch. Und im Augenblick waren seine Gedanken gerade sehr<br />

intensiv bei der bald bevor stehenden Trennung. Er hatte sich vorgenommen, heute Abend<br />

von der einzigen Sache zu berichten, über die sie bisher noch gar nicht gesprochen hatten.<br />

Dem jungen Mann war klar, dass es Zeit wurde. Hinauszögern brachte nichts mehr. Im Grun-<br />

de seines Herzens war ihm bewusst, dass alles gesagt worden war. Er konnte den Abschied<br />

hinaus zögern, in dem er immer wieder das Gleiche erzählte, aber helfen würde das alles<br />

nichts mehr. Jetzt konnte nur noch die Zeit die vernarbten Wunden an seiner Seele heilen.<br />

Dabei konnte Kelly ihm zwar auch helfen, das war sicher, doch den Anfang musste er alleine<br />

machen.<br />

Energisch schüttelte er die trüben Gedanken ab. Er wollte nicht daran denken, dass er bald<br />

abreisen müsste. Shawn zog Kelly noch einmal fest an sich und sagte: „Komm, lass uns los<br />

fahren. Es ist ein weiter Weg. Soll ich fahren?“<br />

Kelly spürte, dass einiges in dem Schauspieler vor ging. Auch ihr war mehr als klar, dass<br />

die Trennung unmittelbar bevor stand. Sie war nicht durch ein tiefes Trauma beeinträchtigt<br />

und doch wusste sie, dass sie ihre ganze Kraft brauchen würde, um die Zeit ohne Shawn zu<br />

überstehen. Wie schwer musste es da erst für ihn sein? Und trotzdem waren ihre Worte ernst<br />

gemeint gewesen. Sie war überzeugt, dass der junge Mann das bewerkstelligen würde. Er<br />

hatte bereits so unendlich viel geschafft, diesen letzten Schritt zurück ins Leben würde er auch<br />

noch hin bekommen. Lächelnd erklärte sie:<br />

„Nein, lass mal, genieße du die Landschaft. Ich fahre gerne, das weißt du doch.“<br />

Sie stiegen in den Wagen und setzten sich langsam in Bewegung. Als sie die große Grotte<br />

passiert hatten drehte sich Shawn noch einmal herum.<br />

„Sieht schon gewaltig aus.“<br />

Die Strecke bis Hartley, wo sie wieder den Great Western Highway erreichten, zog sich<br />

durch einigen Verkehr ziemlich in die Länge. Erst gegen 15 Uhr bog Kelly auf die Auffahrt<br />

ein.<br />

„Na großartig, da werden wir auch noch voll in den Feierabendverkehr geraten. Früh wer-<br />

den wir nicht zu Hause sein, so viel ist mal sicher.“<br />

871


Bis kurz hinter Medlow Bath kamen sie zügig voran, doch dann setzte der starke Verkehr<br />

ein, der nach Katoomba ging. Durch den im Grunde kleinen Ort ging es selbst auf dem High-<br />

way nur im Schritttempo. Kelly war ziemlich genervt und schimpfte ab und zu über besonders<br />

langsame Autofahrer. Als sie einen vor ihnen fahrenden Mercedes durch die Frontscheibe an<br />

maulte:<br />

„Hey, man, rechts ist das Gaspedal!“, musste Shawn laut lachen.<br />

Schließlich hatten sie aber auch diesen Engpass bewältigt und Leura und Wentworth Falls<br />

waren nicht annähernd so voll wie Katoomba. Bis sie die Brücke über den Nepean River er-<br />

reichten vergingen dennoch fast neunzig Minuten.<br />

Die außen gelegenen Stadtteile Sydneys waren um diese Zeit auch ziemlich voll. Und das<br />

nicht nur Stadt auswärts. Viele Pendler wohnten in weiter innen gelegenen Stadtteilen, doch<br />

arbeiteten in den Randbezirken. So waren beide Richtungen ziemlich voll. Es war warm, bei-<br />

de hatten die Fenster ganz geöffnet, und so drang der Lärm der Straße ins Auto. Shawn sah<br />

aus dem Fenster und plötzlich fragte er:<br />

„Sag mal, wie hieß das noch, wo sie Brett gefunden haben? Wo ist das genau?“<br />

„Penrith, da sind wir vorhin durch gekommen. Das ist der Stadtteil, wo es über den Ne-<br />

pean River geht.“<br />

Shawn nickte verstehend. Er sah gedankenverloren aus dem Fenster und dachte an den<br />

Homosexuellen, der ihm so unendlich weh getan und ihm am Ende doch das Leben gerettet<br />

hatte. Da war er also gestorben. Wäre es doch nur Carrie gewesen, die man dort tot aufgefun-<br />

den hätte! Doch die Psychopathin lebte. Damit musste Shawn sich abfinden.<br />

„Ob Lauren inzwischen etwas aus den anderen über Carrie ... Ellen heraus bekommen<br />

hat?“, fragte er nachdenklich.<br />

„Ich denke, nichts Relevantes, sonst hätte Laurie mich informiert. Ich glaube auch nicht<br />

ernsthaft, dass dabei etwas Vernünftiges, Sachdienliches heraus kommen wird. Alan hat ihr<br />

geholfen, weil sie seine Schwester ist. Carrie hat sicher nur andere hinzu gezogen, weil sie<br />

alleine nicht das viele Geld aufgebracht hätte, welches diese Entführungen zwangsläufig kos-<br />

teten. Nehme ich jedenfalls an. Sie brauchte für ihr Vorhaben sowohl Frauen als auch mindes-<br />

tens einen Mann, da sie nun einmal anatomisch nicht in der Lage ist, ihre Opfer ... nun, zu<br />

vergewaltigen. Mit Hilfsmitteln ist es zwar möglich, aber es ist doch nicht das Gleiche, als<br />

wenn ein Mann das übernimmt. Du hast es selbst gesagt, wenn Carrie dich mit einem Vibrator<br />

oder einem Dildo missbraucht hat war es nicht so schlimm wie die direkte Penetrierung durch<br />

Brett und Alan.“<br />

Shawn prustete angespannt. „Allerdings, das war viel schlimmer. Wenn die Beiden mich<br />

... gevögelt haben war es jedes Mal, bis zum Schluss, fürchterlich. Auch, wenn ich manchmal<br />

zum Orgasmus kam. Hinterher kam ich mir immer dreckig und benutzt vor. Aber am Anfang,<br />

wenn Carrie mich mit einem Vibrator befriedigt hat ... Naja, das weißt du ja. Ich fand es erst<br />

872


schmerzhaft, später erregend, noch später nur noch widerlich. Haben wir ja ausführlich drüber<br />

gesprochen. Da wollte sie mir ja auch Befriedigung verschaffen. Brett und Alan hatten immer<br />

nur ihre eigene Befriedigung im Kopf. Okay, Brett am Ende nicht mehr, als er Gefühle für<br />

mich entwickelte. Er hat sich danach wirklich Mühe gegeben. Trotzdem war es, egal, was ich<br />

ihm vor gespielt habe, nur abstoßend und demütigend.“<br />

Sie waren, während sie sich unterhielten, bereits fast ohne es bewusst zu merken bis an die<br />

City heran gekommen. Ein Blick aus dem Wagenfenster zeigte Kelly, dass sie sich dem Stadt-<br />

teil Ultimo näherten. Gleich würden sie den Hauptbahnhof passieren und dann war es kaum<br />

noch eine halbe Stunde bis zu Hause. Die Psychologin schnaufte erleichtert.<br />

„Wir haben es gleich geschafft. Ich habe aber auch sowas von keine Lust mehr. Ich bin<br />

froh, wenn ich in den Pool springen kann. Und dann möchte ich es mir richtig gemütlich ma-<br />

chen. Vielleicht bestellen wir uns eine Pizza oder etwas anders? Lust zu Kochen habe ich<br />

nicht mehr sehr.“<br />

„Kann ich verstehen. Das war aber auch eine harte Rückfahrt. Ist schon eine ganze Ecke<br />

zu fahren. Zumal es die meiste Zeit im Zuckeltempo geht.“<br />

„Um diese Zeit sind beide Richtungen dicht. Na, jetzt haben wir es bald geschafft. Das ist<br />

die Hauptsache. Gelohnt hat es sich jedenfalls.“<br />

Shawn stimmte begeistert zu. „Ja, das kann man nicht anders sagen. Es war großartig.<br />

Man wundert sich, wie abwechslungsreich Australien eigentlich ist. Ich muss gestehen, dass<br />

hätte ich nicht gedacht.“<br />

Er war froh, dass er von den Gedanken an Brett und Alan abgelenkt wurde. Es waren kei-<br />

ne schönen Gedanken gewesen. Und wenn er überlegte, was er heute noch würde loswerden<br />

müssen, ballte sich in seinem Magen bereits eine eisige Faust. Kelly merkte wohl, dass Shawn<br />

seit ihrer Abfahrt von den Jenolan Caves immer wieder ins Grübeln gekommen war, doch sie<br />

ging jetzt nicht erneut darauf ein. Fröhlicher, als sie sich fühlte, meinte sie:<br />

„Wenn wir mal nach Victoria runter kommen, zum Mount Buffalo, Mount Beauty und<br />

Mount Kosciusko, wirst du noch eine ganz andere Seite Australiens kennenlernen. Und auch<br />

die Küste ist anders. Wild, überwiegend Klippen, es wird dir auch dort gefallen, da bin ich<br />

sicher.“<br />

„Werden wir uns auch alles noch ansehen. Ich möchte noch so vieles sehen. Alles. Ist ja<br />

nicht so groß, Australien, dass schaffen wir schnell.“<br />

Lachend erreichten sie gegen 17.30 Uhr endlich die Ginahgulla Road und Kelly stellte in<br />

der Garage erleichtert aufseufzend den Motor ab.<br />

Zwanzig Minuten später standen sie zusammen am Pool und sprangen auch nebeneinander<br />

in das herrlich kühle Wasser. Sie genossen das Bad in vollen Zügen. Nach der anstrengenden<br />

Fahrerei war es genau das richtige, sich zu entspannen. Eine gute halbe Stunde planschten sie<br />

873


im Pool herum. Während Shawn sich anschließend unter die Dusche verzog, bestellte Kelly<br />

beim Jewel on the Bay, einem hervorragenden indischen Restaurant in der Nähe, zwei Currys,<br />

eins mit Hühnchen und eins mit Rind. Sie war gerade fertig, als Shawn mit einem Handtuch<br />

um die Hüften ins Zimmer kam. Kurz blitzte es in Kellys Augen sehr verliebt auf. Shawn be-<br />

merkte dies sehr wohl und freute sich darüber, obwohl es ihn auch verlegen machte. Er biss<br />

sich auf die Lippe und räusperte sich.<br />

„Hm ... Na, Essen bestellt? Wie lange dauert es?“<br />

„Ich kann auch noch Duschen, sie meinten, um die 10 bis 15 Minuten.“ Kelly sprang auf<br />

und verschwand eilig ins Bad. Hätte sie Shawns so gut wie nackten Körper noch länger ange-<br />

starrt, wäre sie vermutlich über ihn her gefallen. Grinsend stand sie kurze Zeit später unter der<br />

Dusche und dachte: - Man, was hat der Kerl nur aus dir gemacht? - Sie schüttelte über sich<br />

selbst den Kopf und seifte sich gründlich ab. Die Haare waren vom Schwimmen total verkno-<br />

tet und Kelly brauchte vor dem Spiegel einige Zeit, um sie zu entwirren. Doch schließlich<br />

hatte sie es geschafft. Sie schlang sich ein Badelaken um den Körper und ging ins Schlafzim-<br />

mer zurück. Shawn war nicht mehr dort, er hatte sich angezogen und war nach unten in den<br />

Garten gegangen. Dort lag er gemütlich in einem der Liegestühle und blätterte in einem Bild-<br />

band über Victoria herum. Er hatte das Buch in Kellys Bücherschrank entdeckt.<br />

Als Kelly zu ihm trat schaute er auf.<br />

„Hey, das ist ein tolles Buch. Was sind da für geniale Fotos drin!“<br />

„Ach, komm, deine Bilder sind auch großartig. Du hast ein unglaubliches Auge für Details<br />

beim Fotografieren. Mit einer besseren Kamera und der richtige Ausrüstung im Allgemeinen<br />

könntest du da durchaus dein Geld mit verdienen.“, meinte Kelly überzeugt.<br />

Shawn wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment klingelte es an der Haustür.<br />

„Das wird das Essen sein. Magst du Teller und Besteck holen? Ich würde gerne ein kaltes<br />

VB dazu trinken.“<br />

Kelly eilte an die Tür, griff im Flur noch nach ihrem Portmonee und öffnete dann die Tür.<br />

Der junge Mann, der das Essen brachte, grüßte freundlich. „Hey, Doc. Schön, dass Sie wieder<br />

in der Stadt sind. Lange nicht gesehen.“<br />

„Hallo, Jack. Ja, ich war wirklich lange außerhalb.“ Sie nahm das Essen entgegen, drückte<br />

Jack 5 Dollar Trinkgeld in die Hand und der Junge schwirrte gut gelaunt wieder ab.<br />

Auf der Terrasse hatte Shawn inzwischen den Tisch gedeckt. Kelly stellte die beiden Cur-<br />

rys in die Mitte und sie bedienten sich aus beiden Schüsseln. Nach dem Essen meinte Shawn:<br />

„Das war super. Lange nicht mehr so gute Currys gegessen. Die haben hier wohl viele gu-<br />

te Restaurants, was?“<br />

874


„Ja, es gibt sehr, sehr viele gerade kleine Restaurants, meist ohne Alkohollizenz, die ganz<br />

hervorragendes Essen anbieten. Laurie und ich lästern immer, dass man sich ein Jahr lang nur<br />

außerhäusig ernähren könnte, ohne ein Restaurant zwei Mal zu besuchen.“<br />

Die Psychologin trank ihr Bier aus und erhob sich. Schnell hatte sie das benutzte Geschirr<br />

in die Küche geschafft und kehrte auf die Terrasse zurück. Shawn hatte die Beine auf einen<br />

zweiten Stuhl hoch gelegt und starrte gedankenversunken in den Pool. Er zitterte leicht. Nun<br />

würde er gleich erzählen müssen, es half nichts mehr. Egal, wie schwer es ihm fallen würde,<br />

er musste über diese letzte Sache reden. Leise sagte er:<br />

„Könnten wir rein gehen? Ich ... puh, ich muss noch ... Du weißt schon, was ich noch be-<br />

richten muss.“<br />

Kelly hatte damit gerechnet, dass Shawn heute zu diesem Punkt kommen würde. Ihr grau-<br />

te davor wie dem jungen Mann selbst. Doch sie nickte entschlossen. „Ja, Babe, es nützt<br />

nichts, wir müssen es irgendwann angehen. Wir legen uns aufs Bett, wie immer und du lässt<br />

es einfach raus, wie immer.“<br />

Gemeinsam traten sie ins Haus und stiegen zum Schlafzimmer hoch. Als sie es sich dort<br />

auf dem Bett gemütlich gemacht hatten, seufzte der Schauspieler.<br />

„Okay, dann werde ich mal ...“<br />

Kelly, die das kleine Diktiergerät angeschaltet hatte, da sie in der Schublade des Nacht-<br />

schrankes verwahrte, nickte. „Ja, Shawn, es hilft ja nichts.“<br />

*****<br />

Carrie führte ihn in den Keller hinunter. „Ich habe eine Überraschung für dich, Sklave,<br />

du wirst dich wundern!“, erklärte sie grinsend.<br />

Shawn klopfte das Herz bis in den Hals. Carries Überraschungen brachten ihm meistens<br />

nichts Gutes. Sie führte ihn zu der Tür hinter dem Raum mit den Sado Möbeln. Shawn wusste,<br />

dass hier nur der große, schwere Holztisch stand. Er öffnete die Tür und sie traten ein. Brett,<br />

Karen und Teresa hockten auf dem Tisch und unterhielten sich. Als Carrie mit dem Sklaven<br />

eintrat, rutschten die Drei gelangweilt vom Tisch und Karen meinte:<br />

„Da seid ihr ja.“<br />

Carrie nickte. Sie befahl Shawn: „Leg dich auf den Tisch!“<br />

Shawn gehorchte. Die Vier traten zu ihm und fesselten seine Hand- und Fußgelenke an die<br />

am Tisch befestigten Ketten. Schwer atmend wartete Shawn, was nun kommen würde. Und<br />

dann fing Carrie an zu sprechen und Shawn glaubte sich von einer Sekunde auf die andere in<br />

einem Albtraum, wie er schlimmer nicht sein konnte, gefangen! Vollkommen fassungslos hörte<br />

er Carries kalte Stimme und glaubte doch, nicht richtig zu hören.<br />

875


„Sklave, du warst ein wundervolles Spielzeug. Ich, wir, haben jede einzelne Minute mit dir<br />

aus tiefstem Herzen genossen. Du bist schneller meine perfekte, kleine Hure gewesen als alle<br />

anderen vor dir. Ich weiß nicht, was ich mehr genossen habe: Deine Qualen oder das Wissen<br />

um deine Hingabe an mich. Ich habe nicht erwartet, dass du so schnell bereit warst, mir zu<br />

glauben. Ich gebe zu, dass es mich überrascht hat. Du Trottel hast schon nach wenigen Tagen<br />

an mir gehangen wie ein gut dressiertes Hündchen.“ Sie lachte gehässig. „Wie gesagt, so<br />

schnell war noch keiner. Leider trennen sich unsere Wege jetzt. Ich habe dich angelogen, als<br />

ich dir sagte, dass du das hier überleben wirst, mein Schatz. Wir sind nicht so dumm, einen<br />

Zeugen zu hinterlassen, der uns identifizieren könnte.“<br />

Shawn hörte fassungslos und entsetzt zu. Längst liefen ihm Tränen über die Wangen. Und<br />

Carrie war noch nicht fertig.<br />

„Dass du wirklich so unsagbar dämlich gewesen bist, auf mein Geschwafel herein zu fal-<br />

len, hat mich umgehauen. Du bist doch wirklich intelligent, aber saublöde! Ich frage mich<br />

ernsthaft, wer von uns beiden hier der Schauspieler ist. Ich habe mir für meine Rolle wohl den<br />

Oscar verdient. Wie auch immer, du bist langweilig geworden, nutzlos. Wir brauchen frisches<br />

Fleisch. Daher werden wir uns von einander verabschieden. Da wir keine Mörder sind, las-<br />

sen wir dich hier zurück. Vielleicht findet dich ja jemand.“ Sie lachte schallend. „Größer ist<br />

aber die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwann jemand deinen verrotteten Körper finden wird.<br />

Tröste dich mit dem Gedanken, dass du fünf Monate lang die beste Unterhaltung warst, die<br />

du nur sein konntest. In keinem noch so guten Film hättest du so perfekt sein können.“ Sie trat<br />

zu ihm, legte ihm eine Augenbinde um und sagte: „Ich wünsche dir sogar, dass es schnell<br />

geht.“<br />

Lachend drehten sich die Vier herum und verließen den Raum, ohne noch einen Blick zu-<br />

rück zu werfen. Shawn lag schluchzend in seinen Fesseln. Das konnte nicht wahr sein! Das<br />

musste ein weiteres, besonders perverses Spiel von Carrie sein. Das konnte sie einfach nicht<br />

ernst meinen. Sie würde bald wiederkommen und ihm liebevoll erklären, dass sie ihn auf den<br />

Arm genommen hatte. Doch tief in seinem Innern wusste Shawn, dass dem nicht so war. Car-<br />

rie hatte ihn zum Sterben zurückgelassen. Seine Tränen versiegten, zu überwältigend war<br />

alles, was er in den letzten Minuten erfahren hatte. In seinem Hirn war kein Platz mehr für<br />

Angst noch Entsetzen. Er schaltete ab. Er war jenseits aller Gefühle, wünschte sich nur noch,<br />

endlich wirklich tot zu sein. Er stellte auch das Denken ein. Wenn er dachte, würde er den<br />

Verstand verlieren, da war er sicher. Stundenlang lag er vollkommen regungslos da. Sein<br />

Körper war nach all der Zeit daran gewöhnt, bewegungsunfähig zu sein, sodass die Fesse-<br />

lung an den Tisch, die nicht einmal sonderlich stramm war, ihn nicht sehr beeinträchtigte.<br />

Irgendwann hatte sich schließlich seine Blase gefüllt. Dieses Gefühl weckte noch einmal ir-<br />

gendwo tief in Shawn den Überlebenswillen. Fast mechanisch, ohne darüber nachzudenken,<br />

fing er an, an den Fesseln zu zerren. Dabei wusste sein Verstand genau, dass es sinnlos war.<br />

876


Die Ledermanschetten waren nicht zu zerreißen. Und noch weniger die Stahlhaken und die<br />

Ketten. Und doch zerrte Shawn so lange an den Fesseln herum, bis er spürte, dass Blut an<br />

deinen Gelenken hinab lief und er schlicht keine Kraft mehr hatte, weiter zu zerren.<br />

Ohne noch Einfluss darauf nehmen zu können, musste er schließlich dem immer drängen-<br />

deren Druck in seiner Blase nachgeben. Wimmernd spürte er, wie der Urin an seinen Ober-<br />

schenkeln hinab lief und sich unter seinem Körper ausbreitete. Irgendwo in einem Winkel<br />

seines Hirns wurde ihm klar, dass auch sein Darm irgendwann so voll sein würde, dass er<br />

den Stuhlgang nicht mehr würde halten können. Panisch schluchzte er auf. Doch bald schon<br />

wich die Panik einer vollkommenen Apathie. Die Stunden tropften zäh dahin und Shawn lag<br />

still da, wartete auf den Tod. Hätte er es gekonnt, er hätte sein Herz zum stehen gebracht. Es<br />

sollte endlich vorbei sein! Doch so schnell war sein kräftiges, junges Herz nicht willens, ste-<br />

hen zu bleiben. Zum Glück für Shawn hatte sein Verstand fast vollkommen abgeschaltet. Es<br />

war fast, als läge er in einem Wachkoma. Sein Körper funktionierte, sein Geist war jenseits<br />

davon. Er bekam nicht mit, dass seine Blase sich irgendwann wieder gefüllt hatte, dass sein<br />

Darm tatsächlich schließlich so voll war, dass der Körper sich des Überdruckes entledigen<br />

musste. Er fühlte dumpf zunehmende Schmerzen, doch auch diese nur am Rande. Auch Hun-<br />

ger und Durst, die sich zwangsläufig einstellten, spürte er nur als Randerscheinung. Darm<br />

und Blase stellten schließlich den Betrieb aus Mangel an Arbeit ein und Shawn dämmerte auf<br />

dem schmalen Grad zwischen Wachen und Besinnungslosigkeit dahin.<br />

Noch einmal setzte sein Denken für kurze Zeit ein. Seine Eltern würden vielleicht nie er-<br />

fahren, was aus ihm geworden war. Unter der Augenbinde traten ihm noch ein letztes Mal<br />

Tränen in die Augen.<br />

„Ich liebe euch so sehr. Hoffentlich erfahrt ihr nie, was mit mir passiert ist. Dad würde<br />

das nicht überleben!“<br />

Seine trocknen Lippen hatten Schwierigkeiten, die Worte zu formulieren. Er spürte, dass<br />

er immer schwächer wurde. Ein letztes Mal befahl er seinem Gehirn, zu funktionieren. Un-<br />

endlich müde zwang er seine Lippen, sich zu bewegen.<br />

„Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue<br />

und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele und führet mich auf rechter<br />

Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finsterer Tal, ich fürchte kein<br />

Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab trösten mich ...“<br />

Shawns Gedanken verirrten sich, er verstummte. Ganz kurz flackerte noch einmal Todes-<br />

angst in ihm auf. Doch schnell wurde diese von dem Wunsch, dass es endlich vorbei sein mö-<br />

ge fort gespült. Und endlich spürte er, wie sein Bewusstsein schwand. - Danke ... -<br />

*****<br />

877


Eine ganze Weile war nur leises Schluchzen zu hören. Nicht nur von Shawn. Auch Kelly<br />

weinte fassungslos vor sich hin. Plötzlich sprang sie auf, hetzte ins Bad und Shawn konnte sie<br />

heftig würgen hören. Etwas später lag sie wieder neben ihm und zog den Schauspieler an sich.<br />

Es brauchte lange, bis beide sich so weit beruhigt hatten, dass Shawn etwas sagen konnte.<br />

„Ich hatte irgendwie komplett abgeschaltet. Nur ab und zu zuckten kurz Gedanken durch<br />

meinen Kopf, wie die an Mum und Dad. Oder eben an die Tatsache, dass meine ... dass ich<br />

irgendwann müssen würde. Das war überhaupt der schlimmste Moment. Der Rest ist wie in<br />

Watte gehüllt. Nur Erinnerungsfetzen. Dass die Schmerzen irgendwann schlimmer wurden.<br />

Dass mich vielleicht nie jemand finden würde. Dass ich allein sterben würde.“ Er schluchzte<br />

wieder heftig auf. „Jeder hat doch so seine Vorstellungen davon, wie er mal Sterben würde.<br />

Ich habe ... mir immer vorgestellt ... Irgendwann, wenn ich alt bin in den Armen meiner Frau<br />

... Und nun lag ich da und niemand ... Gefesselt ... Alleine ... Da war niemand, der ... Toten-<br />

stille ... Liegen gelassen wie ein Putzlappen.“<br />

Es verschlug dem jungen Mann wieder die Sprache, so heftig wurde er vom Schluchzen<br />

geschüttelt. Kelly kullerten ebenfalls immer noch Tränen über die Wangen. Sie ließ Shawn<br />

erst einmal in Ruhe, er musste all das ungestört aus sich heraus lassen. Sie hielt ihn fest in den<br />

Armen, ließ ihre Hand streichelnd seinen zuckenden Rücken auf und ab gleiten. Sie zeigte<br />

ihm deutlich, dass er jetzt nicht allein war. Nach einer Weile redete der junge Mann weiter.<br />

„Weißt du, selbst Carries Anwesenheit wäre besser gewesen als das Alleinsein. Angst hat-<br />

te ich irgendwann nicht mehr, ich wäre dankbar gewesen, wenn es schneller gegangen wäre.<br />

Alles hinter sich lassen ... Keine Angst, keine Schmerzen mehr, keine weiteren Demütigun-<br />

gen. Aber so allein da zu liegen und darauf zu warten, dass das verdammte Herz endlich auf-<br />

hört zu schlagen ... Der Gedanke, dass Mum und Dad nie erfahren würden, was mit mir pas-<br />

siert war, hat mich fix und fertig gemacht. Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn sie<br />

spurlos für immer verschwunden wären ... Wie es sein muss, wenn man nie erfahren würde,<br />

wo ein geliebter Mensch hin verschwunden ist ... Aber der Gedanke hat mich fast verrückt<br />

gemacht, verstehst du? Da habe ich aufgehört zu denken.“<br />

Wieder musste Shawn eine Pause einlegen. Er klammerte sich an Kelly, fand Halt, Trost<br />

und Schutz in ihren Armen. „Die Stille war anfangs auch entsetzlich. Kein noch so leises Ge-<br />

räusch drang nach dort unten. Wovon auch ... Da war ja keiner mehr ... Ich habe mich so<br />

schrecklich nach einer menschlichen Stimme, nach ein wenig Zuspruch gesehnt ... Das einzi-<br />

ge, was ich hörte, war mein Herz. Weiter und weiter und weiter hat es geschlagen. Ich habe<br />

versucht, es zum Anhalten zu zwingen ... Hab ganz fest daran gedacht: STOPP!“ Er lachte<br />

verzweifelt. „Hat nicht funktioniert. Das verdammte Ding hat weiter geschlagen. Ich habe es<br />

gehasst dafür ... Als ich dann endlich irgendwann merkte, dass meine Kraft aufgebraucht war,<br />

878


ich immer schwächer wurde, war ich dankbar, wirklich. Der letzte klare Gedanke war wirk-<br />

lich nur noch: Danke. Es ist vorbei.“ Erneut schwieg Shawn. Die Erinnerungen an diese letzte<br />

Qual hatten ihn vollkommen geschafft. Kelly spürte, dass nichts mehr kommen würde. Leise<br />

und so ruhig wie möglich sagte sie:<br />

„Du hast es geschafft, Shawn. Du hast das letzte Elend ausgesprochen. Das war die letzte<br />

Hürde, die du nehmen musstest. Du hast das großartig gemacht. Du bist all den Müll los ge-<br />

worden.“<br />

Sie konnte spüren, wie Shawn nickte.<br />

„Ja, das war das Schwerste überhaupt. Weniger deswegen, weil es meinen Tod bedeuten<br />

sollte ... Damit hatte ich mich ziemlich schnell abgefunden, es bedeutete ja, keine weiteren<br />

Qualen, Angst, Schmerzen. Auch Carries Verrat war nicht ... Es war mir schon lange klar,<br />

dass sie nichts für mich empfand. Vielleicht ahnte ich unbewusst sogar, dass sie gar nicht fä-<br />

hig war, etwas für irgendjemanden zu empfinden. Die Kaltschnäuzigkeit, mit der sie mich da<br />

liegen ließ, mir vorher noch meine Schwäche so drastisch um die Ohren schlug, erschreckte<br />

mich vielleicht noch. Aber sie entsetzte mich nicht mehr. Verstehst du, wie ich das meine?“<br />

Kelly nickte und Shawn fuhr leise fort:<br />

„Hätten sie mich erschossen ... Das wäre in Ordnung gewesen. Doch einfach allein liegen<br />

lassen ... Sie wussten, es würde Tage dauern. Tage! Gott, wie sehr habe ich mich nach einem<br />

Menschen gesehnt. Ich wollte gar nicht mehr befreit werden, ich wollte nur nicht allein Ster-<br />

ben. Jemand sollte bei mir sein. Doch da war niemand. Ich habe es schließlich geschafft, das<br />

Denken einzustellen. Nicht mehr darüber nachdenken, dass ich für die nur ein Stück Fleisch,<br />

ein Spielzeug gewesen war. Ein Spielzeug, das man weg wirft, wenn es ausgeleiert ist. Nicht<br />

einmal Brett ...“<br />

„Shawn, ich denke, Brett hat zu dem Zeitpunkt bereits darüber gegrübelt, wie er dir helfen<br />

konnte. Hätte er irgendeine Reaktion gezeigt, hätte Carrie ihn gleich vor Ort getötet. Ich ver-<br />

mute, er hat die erste sich bietende Gelegenheit genutzt, die Polizei zu informieren.“<br />

Der Schauspieler seufzte. „Wäre eine schöne Vorstellung. Kann sein. Ich weiß es nicht.“<br />

Er schwieg kurz, dann meinte er: „Es wurde Zeit, dass ich das mal ausgesprochen habe. Es<br />

fühlt sich jetzt besser an. Jetzt bin ich wirklich allen Dreck los geworden. Nun wird wohl das<br />

Unvermeidliche kommen müssen ...“<br />

*****<br />

74) Fieber<br />

Der Kummer, der nicht spricht, nagt leise an dem Herzen bis es bricht.<br />

William Shakespeare<br />

879


7 Monate später<br />

„Liebling, was ist mit dir? Du siehst krank aus!“ Anna McLean musterte ihren Sohn be-<br />

sorgt. Sie trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Stirn. „Du hast Fieber, Shawn, du soll-<br />

test dich wieder ins Bett legen. Ich werde Dr. Malcolm bitten, nach dir zu sehen.“<br />

„Ist vielleicht besser.“, erwiderte Shawn kurz und erhob sich. Er fühlte sich wirklich nicht<br />

wohl. Eigentlich schon seit Tagen. Vielleicht eine verschleppte Grippe. Schwerfällig ging er<br />

in sein Zimmer zurück, dass er seit der Rückkehr zu seinen Eltern bewohnte. Er öffnete mit<br />

zitternden Fingern sein Hemd, stieg aus der Jeans und legte sich vor Kälte und Schwäche<br />

schlotternd ins Bett. Eng rollte er sich zusammen. Unendlich müde schloss er die Augen und<br />

war Minuten später eingeschlafen. In der Küche griff Anna inzwischen zum Telefon und rief<br />

den Hausarzt der Familie, Dr. Rick Malcolm an.<br />

„Rick, ich bin es, Anna, wären Sie wohl so nett, im Laufe des Tages vorbei zu schauen?<br />

Shawn geht es nicht gut, er hat Fieber und ich mache mir ein wenig Sorgen um ihn.“<br />

„Hallo, Anna, selbstverständlich, ich werde gegen 12 Uhr bei Ihnen sein.“<br />

Anna bedankte sich und ging hinaus in die Garage, wo ihr Mann Paul den Rasenmäher re-<br />

parierte. Paul McLean sah erstaunt auf, als seine Frau zu ihm trat.<br />

„Honey, ich dachte, du wärest schon los.“, sagte er erstaunt.<br />

Anna schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe abgesagt. Paul, irgendetwas stimmt mit Shawn<br />

nicht, ich habe ihn ins Bett geschickt. Er hat ziemlich hohes Fieber. Ich mache mir wirklich<br />

Sorgen um ihn. Er ist in der letzten Zeit so still und wirkt so bedrückt und unglücklich.“<br />

Paul legte die Zange, die er in der Hand hielt, auf die Werkbank, wischte sich die Hände<br />

an einem Lappen ab und trat zu seiner Frau. „Du hast Recht, das ist mir auch aufgefallen. Er<br />

wird seit Wochen immer stiller und in sich gekehrter. Er scheint jeden Spaß verloren zu ha-<br />

ben. Ob das noch mit der Entführung zu tun hat?“<br />

Anna seufzte. „Ich weiß es nicht, Paul. Vielleicht sollten wir es nicht überbewerten? Mög-<br />

licherweise ist es eine verschleppte Infektion oder etwas Ähnliches. Rick kommt mittags und<br />

sieht nach ihm.“<br />

„Das ist gut. Vielleicht hast du ja Recht. Wir sollten nicht hysterisch reagieren.“<br />

Anna gab ihrem Mann einen Kuss, dann kehrte sie ins Haus zurück. Sie räumte den Früh-<br />

stückstisch leer und ging anschließend ins Zimmer ihres Sohnes.<br />

Der schlief tief und fest. Blass war er geworden und hatte abgenommen. Sie setzte sich auf<br />

einen kleinen Sessel, der am Tisch vor dem Fenster stand, und sah ihren Sohn gedankenverlo-<br />

ren an. Als er verschwunden gewesen war, hatte sie nur mit Beruhigungsmitteln durchgehal-<br />

ten. Sie hatte Gott angefleht, ihr ihren über alles geliebten Sohn gesund wieder zu bringen.<br />

Als von der australischen Polizei die Meldung gekommen war, man hätte Shawn gefunden,<br />

hatte sie ihr Glück nicht fassen können. Ihr Shawn lebte! Sie hatten sofort nach Australien<br />

880


fliegen wollen, aber Agent Demsey hatte ihnen erklärt, dass das keine gute Idee war. Sie hatte<br />

Anna und Paul erläutert, dass Shawn unter schweren, posttraumatischen Depressionen litt und<br />

sich in die Hände einer der weltweit besten Traumatherapeutinnen begeben hatte. Sie hatte<br />

sehr lange mit Agent Demsey gesprochen und schließlich schweren Herzens zugestimmt,<br />

nicht nach Australien zu kommen. Die besagte Therapeutin, Dr. Kelly Jackson, hatte sich mit<br />

ihnen in Verbindung gesetzt und sie ständig auf dem Laufenden über Shawns Zustand gehal-<br />

ten. Sie hatte lange e-mail Korrespondenzen und später auch Gespräche im Chat mit Dr. Jack-<br />

son geführt, nachdem sie sich in Australien für drei wundervolle Tage mit Kelly und Shawn<br />

getroffen hatten. Die Therapeutin hatte es auf unnachahmlich einfühlsame Weise geschafft,<br />

ihnen klar zu machen, warum es für Shawn so unglaublich wichtig war, das Trauma der Ent-<br />

führung erst zu überwinden, bevor er in sein Leben zurückkehren konnte. Anna hatte schnell<br />

Vertrauen zu der jungen Frau gefasst. Was sie sagte, hatte Hand und Fuß. So hatten Paul und<br />

sie sich in Geduld geübt und eines Tages, Monate nach der Mitteilung, dass Shawn gefunden<br />

worden war, hatte es an der Tür geklingelt und da stand Shawn, braun gebrannt, voller Taten-<br />

drang doch auch ein wenig traurig, aber er war wieder da! Anna war so unendlich glücklich<br />

gewesen. Shawn hatte eine Auszeit von ABC genommen und hatte sich schnell wieder im<br />

Haus seiner Eltern eingelebt. Er hatte einen Job in Tampa beim Fernsehsender übernommen,<br />

moderierte einmal die Woche eine Sportsendung, überaus erfolgreich, und wirkte fast wie der<br />

Alte. Aber eben nur fast. Anna hatte die Veränderung an ihrem Sohn sehr schnell gemerkt. Er<br />

gab sich Mühe, traf Freunde wieder, verbrachte die Wochenenden am Strand beim Surfen,<br />

ging seinen alten Hobbys nach, aber in seinen früher so frech funkelnden Augen war eine<br />

undefinierbare, aber nicht zu übersehende Traurigkeit gewesen.<br />

Erst hatten Paul und Anna gedacht, dies hinge noch mit der Entführung zusammen, über<br />

die Shawn noch immer kein Wort verloren hatte. Doch bald merkten sie, dass es einen ande-<br />

ren Grund für Shawns Traurigkeit geben musste. So oft Anna ihren Sohn vorsichtig darauf an<br />

sprach, so oft bekam sie zu hören, dass alles in Ordnung wäre und sie sich keine Sorgen ma-<br />

chen sollte. Abgesehen davon, dass er gefoltert worden war, was Anna und Paul Tränen in die<br />

Augen getrieben hatte, erzählte Shawn weder etwas von der Zeit in der Gefangenschaft, noch<br />

etwas über die Monate bei Dr. Jackson, abgesehen natürlich von dem, was er und die Psycho-<br />

login zusammen gesehen und erlebt hatten auf ihren Trip. Er konnte stundenlang von den Na-<br />

turwundern berichten, mit leuchtenden Augen und aufgeregt und begeistert wie ein Kind.<br />

Doch gleichzeitig war deutlich zu spüren, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Ir-<br />

gendwann gaben Paul und Anna es auf, ihn danach zu fragen. Ungefähr fünf Monate nach<br />

seinem Wiedererscheinen fingen die fast unmerklichen Veränderungen an. Shawn wurde stil-<br />

ler, ging seltener mit Freunden aus, blieb an den Wochenenden eher im Haus, saß mit einem<br />

Buch auf der Terrasse, zog sich immer mehr zurück. Es geschah schleichend, sodass Anna<br />

und Paul sich anfangs keine Sorgen machten. Als es immer auffälliger wurde, dass Shawn<br />

881


sich in sich zurück zog, war es eigentlich schon zu spät. Und nun dieses unerklärliche Erkran-<br />

ken! Anna seufzte. Sie wartete sehnsüchtig auf Dr. Malcolm.<br />

*****<br />

„Wir müssen abwarten, ob sich Symptome einer Infektion zeigen, Shawn, Husten,<br />

Schnupfen, Halsschmerzen, es könnte auch eine Blasenentzündung oder Niereninfektion sein,<br />

ich werde die Urinprobe sofort ins Labor schicken. Ebenso deine Blutprobe. Du solltest im<br />

Bett bleiben, dich pflegen lassen und dich schonen. Ich lasse dir etwas hier gegen das Fieber,<br />

ansonsten müssen wir die Laborergebnisse abwarten.“ Dr. Malcolm hatte Shawn gründlich<br />

untersucht, aber nichts feststellen können, abgesehen von fast 40° Fieber. „Du musst sehr viel<br />

Trinken, Anna, achten Sie bitte darauf. Ich melde mich, sobald ich die Ergebnisse habe, das<br />

kann zwei bis drei Tage dauern. Sollten vorher irgendwelche Symptome auftreten, melden Sie<br />

sich sofort bei mir.“ Er reichte Shawn die Hand und dieser sagte müde:<br />

„Danke, Doc, ich werde mich pflegen lassen.“<br />

Der Arzt ließ sich von Anna an die Tür bringen.<br />

„Machen Sie sich nicht zu viele Sorgen, ich vermute sehr stark einen verschleppten Infekt.<br />

Sobald die Ergebnisse vorliegen, wissen wir mehr. Ich werde das Labor ein wenig antreiben.<br />

Sorgen Sie nur wirklich dafür, dass er viel trinkt, sonst dehydriert er.“<br />

Der Arzt verabschiedete sich und Anna kehrte ins Zimmer ihres Sohnes zurück. Dieser<br />

war bereits wieder eingeschlafen.<br />

„Liebling, ich habe Angst.“, sagte Anna leise.<br />

*****<br />

Zwei Tage vergingen. Und am Morgen des dritten Tages rief Anna verzweifelt wieder bei<br />

Dr. Malcolm an. „Rick, das Fieber steigt. Heute Morgen liegt es bei 40,8° Er glüht! Haben Sie<br />

schon die Laborergebnisse?“<br />

„Anna. Ja, ich habe sie soeben auf meinen Schreibtisch bekommen. Es ist alles in Ord-<br />

nung, keine Anzeichen irgendeiner Infektion. Ich komme sofort vorbei.“<br />

Schon zwanzig Minuten später war der Arzt da. Er sah nach Shawn, der sich im Fieber-<br />

schlaf unruhig im Bett hin und her wälzte und sagte besorgt:<br />

„Anna, ich bin kein Psychologe, aber dieses Fieber ... Ohne jegliche weitere Symptome ...<br />

Mir scheint es psychosomatischer Natur zu sein. Irgendetwas frisst ihn auf. Wenn das Fieber<br />

noch höher steigt, werde ich ihn ins Krankenhaus einweisen lassen müssen. Behalten Sie ihn<br />

scharf im Auge und sagen Sie mir sofort Bescheid, wenn sich etwas verändert.“<br />

882


Anna hatte, genau wie Paul, dunkle Schatten unter den Augen. Sie saßen Tag und Nacht<br />

an Shawns Bett, gaben ihm zu Trinken, hielten seine heiße Hand, machten ihm Mut. Jetzt<br />

nickte Anna unter Tränen.<br />

„Das werde ich machen, vielen Dank, Rick.“<br />

Besorgt fuhr der Arzt davon. Und Anna eilte ins Zimmer zu Shawn zurück. Paul saß an<br />

seinem Bett und hatte Tränenspuren auf seinem Gesicht. Anna trat leise zu ihm und überlegte.<br />

Dann erklärte sie entschlossen:<br />

„Ich werde jetzt Dr. Jackson anrufen!“<br />

Sie hastete ins Wohnzimmer, suchte die Telefonnummer Agent Demseys heraus und rief<br />

die Agentin in Sydney an. „Agent Demsey, gut, dass ich Sie erreiche. Hier ist Anna McLean.<br />

Hören Sie, ich muss dringend mit Dr. Jackson sprechen. Shawn geht es nicht gut, er ... Haben<br />

Sie Dr. Jacksons neue Telefonnummer?“<br />

Kelly hatte ihnen ihre neue Telefonnummer noch nicht mitgeteilt. Lauren erschrak. „Mrs.<br />

McLean, das tut mir sehr leid. Haben Sie etwas zum Schreiben?“<br />

„Ja, es kann los gehen.“<br />

„0061-02-8975648“<br />

Anna schrieb mit und bedankte sich herzlich. Sie legte auf und wählte sofort neu. Es klin-<br />

gelte sechs Mal, dann meldete sich die freundliche, sanfte Stimme Kellys.<br />

„Dr. Jackson, was kann ich für Sie tun?“<br />

Erleichtert atmete Anna auf. „Kelly, ich bin es, Anna McLean.“<br />

Kellys Herz machte einen heftigen Sprung. Erschrocken fragte sie: „Oh Gott, ist etwas mit<br />

Shawn?“<br />

„Ja, es geht ihm seit ein paar Tagen nicht gut. Unser Hausarzt hat ihn untersucht, er hat<br />

keinerlei Infektionen im Körper, aber schon seit Tagen sehr hohes Fieber. Es liegt inzwischen<br />

bei fast 41°. Der Arzt sagte etwas von psychosomatischem Fieber. Ich dachte, Sie wüssten<br />

vielleicht ...“<br />

Kelly unterbrach Shawns Mutter: „Ich bin schon auf dem Weg!“ Sie legte auf, ohne eine<br />

Erwiderung abzuwarten, wählte sofort neu und rief am Flughafen an. „Ich brauche so schnell<br />

wie möglich einen Flug nach Tampa, Florida, Erster Klasse.“ Kelly wusste, in der Ersten<br />

Klasse hatte man wesentlich eher eine Chance auf einen kurzfristigen Flug als in der Econo-<br />

my.<br />

„Ganz kleinen Moment ... Ich könnte Ihnen schon einen für heute, 11.25 Uhr, mit Cathay<br />

Pacific, anbieten. Dann wären Sie um 17.50 Uhr Ortszeit in ...“<br />

„Den nehme ich! Buchen Sie bitte, Dr. Kelly Jackson.“ Kelly knallte den Hörer auf den<br />

Schreibtisch. Sie hetzte in ihren Ruheraum, zog den Notfallkoffer aus dem Schrank und eilte<br />

zur Anmeldung. „Jody, ich muss weg. Ein Notfall. Schicke alle Patienten zu Dr. Mallard, ich<br />

weiß nicht, wann ich wieder da bin.“ Und schon rannte sie im Laufschritt aus dem Haus.<br />

883


Sie warf den Koffer in ihren Wagen und quälte sich durch den Morgenverkehr zum Eas-<br />

tern Highway. Dort ging es schneller und sie erreichte den Kingsford Smith um 10.30 Uhr.<br />

Kelly hatte Glück, bekam einen guten Parkplatz auf der Langzeitparkarea und hastete in die<br />

Departure Hall. Schnell hatte sie den Cathay Pacific Schalter gesichtet und eilte an den Coun-<br />

ter für First Class Flüge.<br />

„Mein Name ist Jackson, ich habe für 11.25 Uhr einen Flug nach Tampa, Florida, ge-<br />

bucht.“<br />

Zehn Minuten später hatte Kelly ihr Ticket und war schon auf dem Weg zum Gate. Das<br />

Boarden hatte bereits begonnen und die junge Frau atmete erleichtert auf, als sie in ihren Sitz<br />

in der ersten Klasse sank. Die Maschine startete auf die Minute pünktlich und nun begannen<br />

die längsten dreiundzwanzig Stunden in Kellys Leben. Sie versuchte, zu Schlafen, aber dafür<br />

wühlte in ihr eine viel zu große Angst. Auch auf die angebotenen Filme konnte sie sich nicht<br />

konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu Shawn. Sie selbst hatte sich seit<br />

seiner Abreise vor fast sieben Monaten in die Arbeit gestürzt, um sich abzulenken. Doch sie<br />

musste zugeben, dass ihr dies keineswegs auch nur ansatzweise gelungen war. Es verging<br />

kein Tag, an dem sie nicht verzweifelt an Shawn dachte. An sein Lachen. An die unglaubliche<br />

Traurigkeit in seinen Augen, seine Tränen, als sie sich auf dem Flughafen verabschiedeten.<br />

An die gemeinsam durchstandene Zeit, die für ihn erst so entsetzlich gewesen war. Wie oft sie<br />

ihn hatte auffangen müssen, um ihn gestärkt wieder aus ihren Armen entlassen zu können.<br />

Oft hatte sie abends stundenlang wach gelegen und das leere Bett neben sich angestarrt.<br />

Sie hatte viel mit Lauren und Nat unternommen, doch in ihren Gedanken war sie immer nur<br />

bei Shawn gewesen. Sie hatte ihn jeden einzelnen Tag so verzweifelt vermisst. Und nun lag er<br />

schwer krank in Florida und sie war nicht bei ihm. Ohne es zu merken, stürzten ihr Tränen<br />

über die Wangen.<br />

„Ich bin bald bei dir, Baby, halte durch.“, flüsterte sie.<br />

Die Stewardess bekam mit, dass die junge Frau weinend in ihren Sitz hockte und beugte<br />

sich über Kelly. „Ma’am? Ist alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt.<br />

Kelly schrak zusammen. „Was?“<br />

„Ist alles in Ordnung bei Ihnen, Ma’am?“<br />

Kelly fuhr sich mit der Hand über die tränenfeuchten Wangen. „Entschuldigung. Ja, ich<br />

bin okay. Wie lange dauert es noch?“<br />

Die Stewardess sah auf ihre Armbanduhr. „Wir haben noch zwölf Stunden vor uns.“<br />

Kelly stöhnte entnervt. „Solange noch ... Danke.“<br />

Die Zeit schien rückwärts zu laufen. Kelly wurde immer nervöser und sah in Abständen<br />

von Minuten auf ihre eigene Uhr. Jede einzelne Minute schien wie eine Stunde zu vergehen.<br />

Vollkommen verzweifelt musste sie sich zwingen, nicht hysterisch loszuschreien.<br />

884


*****<br />

„Das Fieber steigt weiter, Paul, was sollen wir nur machen?“ Anna war der Verzweiflung<br />

nahe. Shawn lag im Bett, schweißnass, wand sich in wirren Fieberträumen und ab und zu nu-<br />

schelte er irgendwas, das nicht zu verstehen war. Paul und Anna saßen ununterbrochen an<br />

seinem Bett, wenn er aufwachte flößten sie ihm Wasser ein, machten kühle Wadenwickel,<br />

versuchten, ihm Mut zu machen und hielten seine fieberheißen Hände. Dass Kelly auf dem<br />

Weg war, hatten sie ihm nicht erzählt, es war schlicht in ihrer Sorge unter gegangen. Anna sah<br />

auf den Wecker an Shawns Bett. Fast 19 Uhr.<br />

„Ich werde uns eine Kleinigkeit zu Essen machen.“, sagte sie tonlos.<br />

Paul nickte nur. Anna ging in die Küche und sah aus dem Fenster in den wunderschönen<br />

Garten hinaus. Und nun war es mit ihrer Beherrschung endgültig vorbei. Verzweifelt und<br />

hoffnungslos aufschluchzend sank sie auf einen Küchenstuhl, legte den Kopf auf die Arme<br />

und weinte, dass es sie schüttelte. Sie würde gleich einen Krankenwagen rufen und Shawn ins<br />

Krankenhaus bringen lassen. Doch erst würde sie sich beruhigen müssen. Die Frau zuckte<br />

zusammen, als es plötzlich an der Haustür klingelte. Mühsam stemmte sich Anna auf die Fü-<br />

ße, griff nach einem Taschentuch und reinigte sich flüchtig das Gesicht. Dann ging sie zur<br />

Haustür.<br />

„Wie geht es Shawn?“ Eine bildhübsche junge Frau stand vor der Tür, blond, dunkle,<br />

verweinte Augen mit tiefen Schatten, die auf Schlaflosigkeit hindeuteten.<br />

„Kelly! Gott sei Dank.“<br />

Die junge Frau nickte. Schon wieder kullerten ihr Tränen über die blassen Wangen.<br />

„Kommen Sie rein, ich bringe Sie sofort zu ihm.“<br />

Kelly trat in den Flur, stellte ihren Koffer achtlos ab und folgte Shawns Mutter. Endlich<br />

stand sie an Shawns Bett. Und erschrak zu tiefst!<br />

„Oh Gott! Shawn ...“ Kelly starrte fassungslos auf den jungen Mann nieder. Er war dünn<br />

geworden, blass, sein Gesicht glänzte vor Schweiß, sein Körper bewegte sich unruhig hin und<br />

her und er murmelte unverständliches vor sich hin. Paul sah auf, als die beiden Frauen das<br />

Zimmer betraten.<br />

„Paul, Kelly ist endlich da.“<br />

Kelly reichte dem gut aussehenden Mann, der Shawn so erstaunlich ähnlich sah, die Hand.<br />

„Ich bin gekommen, so schnell es ging. Wie es ihm geht, brauche ich nicht zu fragen, ich sehe<br />

es.“ Sie setzte sich auf das Bett, nahm Shawns Linke in ihre Hände und strich ihm unendlich<br />

sanft über die Wange. Leise und liebevoll sagte sie: „Shawn, ich bin bei dir. Alles wird gut,<br />

hörst du? Ich bin jetzt da und ich werde nie wieder gehen, das schwöre ich dir!“<br />

885


Paul und Anna sahen sich verwirrt an. Paul deutete seiner Frau an, das Zimmer zu verlas-<br />

sen und sie folgte ihm leise. Kelly bekam das gar nicht mit. Sie saß auf dem Bett, streichelte<br />

Shawn wieder und wieder sanft über die Wange und beugte sich über ihn. Unendlich zärtlich<br />

und liebevoll gab sie ihm einen Kuss auf die von Fieberbläßchen aufgesprungenen Lippen.<br />

„Ich bin bei dir, Baby, du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Ich werde dich nie<br />

wieder gehen lassen. Ich liebe dich, Shawn, ich liebe dich so sehr!“<br />

*****<br />

Zwei Stunden später saß Kelly mit Anna McLean alleine an Shawns Bett. Paul hatte sich<br />

nach einigen überzeugenden Worten der Therapeutin zum ausruhen hingelegt. Kelly und An-<br />

na hielten Kaffeebecher in der Hand und Anna sah die junge Frau an.<br />

„Er hat nichts erzählt, wissen Sie. Paul und ich ... Es ist so unsagbar schwer. Wir wollten<br />

ihn nicht drängen, aber das Nicht-Wissen ist unendlich viel schwerer, als eine Ahnung davon<br />

zu haben, was ihm widerfahren ist. Es ist wie die Gewissheit, dass ein geliebter Mensch tot<br />

ist. Die Nachricht ist furchtbar, aber besser, als immer noch die verzweifelte Hoffnung zu<br />

haben, dass der Betreffende doch noch irgendwo lebt, verstehen Sie?“<br />

„Ja, ich weiß genau, was Sie meinen.“<br />

„Könnten Sie mir nicht ... Ich bin seine Mutter!“ Vollkommen verzweifelt schluchzte An-<br />

na auf. „Sie haben ja keine Vorstellung, was wir durch gemacht haben.“<br />

Kelly widersprach sanft. „Doch, Anna, die habe ich. Ich wurde als junges Mädchen selbst<br />

entführt und tagelang gefangen gehalten. Ich weiß aus erster Hand, was Shawn und auch Sie<br />

durchgemacht haben, glauben Sie mir. Sie wissen, dass ich Ihnen auch jetzt keine Details<br />

preis geben darf.“<br />

„Er will uns schonen, aber die schlimmste Wahrheit kann nicht so schlimm sein wie die<br />

eigene Vorstellungskraft.“ Anna leerte ihre Tasse und stellte sie auf den kleinen Tisch. Ver-<br />

zweifelt nahm sie Kellys Hand. „Ich flehe Sie an, Kelly, erlösen Sie uns wenigstens etwas von<br />

der Ungewissheit!“<br />

Kelly seufzte. Dann entschied sie sich spontan. „Ich werde es versuchen. Was möchten Sie<br />

wissen?“<br />

Anna atmete unendlich erleichtert auf. „Shawn sagte vage, er wäre gefoltert worden, das<br />

ist alles, was wir zu hören bekamen.“<br />

„Ja, er wurde gefoltert. Die Entführer waren zu fünft. Sie haben ihn ... Sind Sie wirklich<br />

sicher, Anna, dass Sie sich das antun wollen?“<br />

Anna kullerten Tränen über die Wangen, aber sie nickte entschlossen. „Ja, das bin ich. Er<br />

ist mein Sohn! Ich muss einfach mehr wissen, um ihm besser helfen zu können.“<br />

886


„Gut. Sie müssen aber wissen, dass es für Sie unerträglich sein wird, zu erfahren, was ihm<br />

passierte. Und es wird Shawn nicht Recht sein, dass ich mit Ihnen darüber spreche. Doch das<br />

Risiko muss ich eingehen.“<br />

Anna biss sich auf die Lippe und nickte entschlossen.<br />

„Er wurde von diesen kranken Menschen als eine Art Versuchskaninchen gehalten. Sie<br />

haben an Shawn ihre kranken Fantasien ausgelebt. Er wurde geschlagen, mit Schlagwerkzeu-<br />

gen der verschiedensten Arten, wurde mit Strom gequält, gewürgt bis zur Bewusstlosigkeit,<br />

den unterschiedlichsten körperlichen Misshandlungen ausgesetzt.“<br />

Anna hörte immer entsetzter zu. „Mein armer Schatz, oh Gott, mein Liebling ...“ Sie wein-<br />

te verzweifelt auf. „Das darf Paul nie erfahren.“ Sie schwieg eine Weile, dann fragte sie unter<br />

Tränen: „Das war die Hölle für ihn. Und das hier jetzt sind die Nachwirkungen, oder?“<br />

leise.<br />

Kelly seufzte schwer. „Ich fürchte, an seinem jetzigen Zustand bin ich schuld.“, sagte sie<br />

„Was?“<br />

„Hat er Ihnen nichts erzählt?“<br />

„Nein, weder von der Entführung noch etwas anderes außer der Reise.“<br />

„Als es Shawn langsam besser ging erklärte er mir, dass er sich in mich verliebt hätte. Ich<br />

... Oh Gott, ich kenne das, verstehen Sie? Patienten neigen dazu, zu denken, sie würden ihre<br />

Therapeuten, Ärztinnen, Krankenschwestern lieben. Ich erklärte Shawn sachlich, dass es nur<br />

eine Einbildung wäre, dabei liebte ich ihn zu dem Zeitpunkt auch schon aus tiefstem Herzen.<br />

Lange konnte ich jedoch meine Gefühle für Shawn nicht mehr kontrollieren. Entgegen jegli-<br />

chem besseren Wissens und aller moralischen und ethischen Grundsätze wurden wir in<br />

Queensland ein Paar. Doch nur unter der Voraussetzung, dass Shawn auf jedem Fall alleine<br />

zu Ihnen zurückkehren musste, um sein altes Leben, fern von mir, wieder aufzunehmen. Ich<br />

schickte ihn fort. Ich erklärte ihm, dass er erst in sein Leben zurückkehren müsse. Er sollte<br />

erst wieder ein ganz normales Leben führen, mit seiner Familie, seinen Freunden, seiner Ar-<br />

beit.“ Kelly liefen ununterbrochen Tränen über die Wangen. Sie fuhr leise fort: „Als ich ihn<br />

zum Flughafen fuhr, brach mir fast das Herz. Doch es ging nicht anders. Ich wollte, dass er<br />

die Möglichkeit hatte, fern von mir über seine Gefühle nachzudenken und sein Leben alleine<br />

wieder in den Griff zu bekommen. In unseren Telefonaten klang er gut. Leider musste ich vor<br />

zwei Monaten einen anderen schweren Fall übernehmen und war bis vor wenigen Tagen mit<br />

diesem unterwegs, nicht erreichbar für Shawn.“<br />

Anna horchte auf. „Da etwa begann Shawn, sich immer mehr zurück zu ziehen. Dass war<br />

vor ungefähr zwei Monaten!“<br />

Kelly schluchzte. „Ich hatte durch den neuen Patienten einfach nicht die Zeit, mit Shawn<br />

zu sprechen. Ich war auch mit diesem Patienten im Outback unterwegs und nicht erreichbar.<br />

887


Sie wissen am besten, dass ich meine Arbeit sehr ernst nehme. Wenn ich einen Patienten ha-<br />

be, dann bin ich ganz und gar für diesen da. Vor acht Tagen kamen wir zurück. Ich hatte in<br />

Sydney so vieles aufzuarbeiten, dass ich keine Gelegenheit fand, mich sofort bei Shawn zu<br />

melden. Und als nun Ihr Anruf kam ... Anna, ich liebe Ihren Sohn unendlich und wenn es sein<br />

Wunsch ist, immer noch, werde ich ihn nie wieder verlassen.“<br />

Anna hatte betroffen zugehört. Sie legte Kelly die Hand auf den Arm du sagte leise: „Ich<br />

bin davon überzeugt, dass Shawn Sie ebenfalls unendlich liebt. Er hat nie etwas gesagt, aber<br />

jetzt ergibt alles einen Sinn. Sie haben richtig gehandelt. Ich habe auch schon von diesem<br />

Syndrom gehört, dass männliche Patienten dazu neigen, sich in ihre Ärztinnen oder Kranken-<br />

schwestern zu verlieben. Dass Sie Shawn die Möglichkeit gegeben haben, seine Gefühle für<br />

Sie zu überdenken, dass Sie bereit waren, ihn gehen zu lassen, zeugt von Ihrer Aufrichtigkeit<br />

und Ihrer Liebe zu ihm. Sie waren bereit, auf ihn zu verzichten, um Shawn die Möglichkeit zu<br />

geben, eine wirkliche Liebe zu finden. Das ist unglaublich mutig und selbstlos, Kelly.“<br />

Kelly sah Shawn an. Leise sagte sie:<br />

„Sie sollten sich auch ausruhen, ich bleibe bei ihm.“<br />

„Ich bin unendlich müde und wenn Shawn bei jemandem in guten Händen ist, dann bei<br />

Ihnen. Ich werde versuchen, etwas zu schlafen.“ Sie erhob sich und gab Shawn einen Kuss<br />

auf die heiße Stirn. „Deine Kelly wird auf dich aufpassen, mein Liebling. Schlaf dich ge-<br />

sund.“ Leise verließ sie den Raum.<br />

Kelly saß eine Weile stumm neben dem Bett, hielt Shawns Hand und beobachtete ihn. Er<br />

wurde wieder sehr unruhig, warf sich hin und her und Kelly zögerte nicht lange. Sie legte sich<br />

zu ihm auf das Bett, kuschelte sich eng an ihn und flüsterte:<br />

„Du kannst ganz ruhig schlafen, Baby, ich bin jetzt bei dir, hörst du, ich bin da und werde<br />

nie wieder gehen. Ich liebe dich, Shawn, ich liebe dich so sehr! Du hast mir so unendlich ge-<br />

fehlt! Es verging kein Tag, an dem ich nicht an dich gedacht habe. Ich weiß nicht, ob es falsch<br />

oder richtig war, was ich tat, aber ich werde es nie wieder machen. Ich lasse dich nie wieder<br />

alleine, es sei denn, du schmeißt mich raus. Du musst gesund werden, damit wir die verstri-<br />

chene Zeit aufholen können. Wenn du die Augen aufmachst, werde ich da sein.“ Sie gab ihm<br />

einen zärtlichen Kuss und zog ihn noch fester an sich. Dann schloss sie die Augen. Sie würde<br />

merken, wenn etwas mit ihm war, sie hatte es immer gemerkt.<br />

Mitten in der Nacht wachte Kelly auf. Shawn war sehr unruhig. Kelly sah ihn an und sagte<br />

beruhigend:<br />

„Baby, es ist alles gut. Ich bin bei dir. Ich bin da.“ Sie strich ihm in der so vertrauten Geste<br />

zärtlich durch die Haare und Shawn wurde ruhiger. Diese Geste hatte ihn immer beruhig. Mi-<br />

nutenlang machte Kelly weiter, redete liebevoll auf ihn ein und streichelte ihn. Sie spürte,<br />

dass er sich entspannte. Sein Atem wurde tiefer und er wurde ruhiger. Sie schloss die Augen<br />

888


und schlief wieder ein. Als sie erneut aufwachte, war es hell im Zimmer. Ihr erster Blick galt<br />

Shawn. Der schlief noch, aber er sah besser aus und Kelly spürte sofort, dass er nicht mehr so<br />

glühte vor Fieber. Tränen der Erleichterung schossen ihr in die Augen.<br />

„Es geht dir besser. Dein Fieber sinkt. Wenn du dich entschließen könntest, aufzuwachen,<br />

würdest du dich noch besser fühlen, das kann ich dir versprechen.“ Sie stand vorsichtig auf,<br />

ging ins Bad, dass an das Zimmer anschloss, und machte sich ein wenig frisch. Dann eilte sie<br />

an Shawns Bett zurück. Sie setzte sich auf die Bettkante, streichelte Shawn wieder durch die<br />

Haare und gab ihm einen liebevollen Kuss. „Ich werde meine Praxis aufgeben und hier in den<br />

Staaten mit dir leben, wenn du das möchtest. Mir ist es vollkommen egal wo wir leben, solan-<br />

ge wir es nur zusammen tun. Ich weiß nicht mehr, wie ich die Kraft aufgebracht habe, dich<br />

gehen zu lassen. Ich liebe dich, Baby. Lass mich nicht so lange warten, hörst du. Du musst<br />

aufwachen, damit du etwas zu dir nehmen und gesund werden kannst.“<br />

Kelly ließ sich nach vorne sinken und kam so halb auf Shawn zu liegen. Irgendwann döste<br />

sie ein und fuhr hoch, als sie plötzlich leise ihren Namen hörte.<br />

„Kelly...“<br />

Sie riss den Kopf in die Höhe und schaute direkt in ein paar wundervolle grüne Augen, die<br />

sie verwirrt und vollkommen fassungslos anschauten.<br />

„Kelly!“ Entgeistert stieß Shawn ihren Namen erneut hervor. Und dann lag sie in seinen<br />

Armen. „Du bist hier ... Du bist bei mir ...“, stammelte Shawn überwältigt und überglücklich.<br />

„Lass mich nie wieder alleine ... bitte, bitte ... Ich liebe dich ... Verlass mich nie wieder, bit-<br />

te!“<br />

Kelly schluchzte auf. „Nein, werde ich nicht, ich lasse dich nie wieder alleine, Shawn. Ich<br />

liebe dich doch auch. Viel zu sehr!“<br />

Shawn schluchzte ebenfalls haltlos auf. Er zog Kelly auf das Bett und sie küssten sich,<br />

wieder und wieder. Shawn zitterte am ganzen Körper und hatte Angst, zu Träumen. Wenn er<br />

nun gleich richtig aufwachen würde und immer noch alleine war? Aber er spürte Kellys Lip-<br />

pen, ihren Körper, hörte sie in seinen Armen schluchzen und wusste, dass war kein Traum.<br />

Sie war bei ihm, wirklich und wahrhaftig. Er hatte sie endlich wieder. Dass seine Eltern ir-<br />

gendwann zur Tür herein gucken registrierte Shawn nicht. Er bekam nur mit, dass Kelly bei<br />

ihm war, alles andere war ihm egal. Wäre die Welt untergegangen, auch das hätte er nicht mit<br />

bekommen. Und Kelly ging es nicht anders.<br />

Irgendwann gelang es den beiden, sich von einander zu lösen. Shawn war schwach und<br />

hungrig. Kelly sah ihn besorgt an.<br />

„Du musst unbedingt etwas zu dir nehmen, Baby, damit du dich erholen kannst. Ich wäre<br />

vor Angst und Sorge fast verrückt geworden.“<br />

889


Müde lächelte Shawn, müde, aber unendlich glücklich. „Wenn du nur bei mir bist, wird es<br />

mir schnell besser gehen.“, sagte er leise und tastete mit zitternden Fingern nach Kellys Hand.<br />

„Du ... du bleibst wirklich, ja?“<br />

Die Psychologin lächelte liebevoll. „Natürlich. Nichts und niemand wird mich je wieder<br />

von dir fort bekommen!“<br />

In diesem Moment klopfte es und Anna betrat den Raum. Als sie sah, dass Shawn wach<br />

war und sie, wenn auch müde, anlächelte, fiel ihr ein Stein, so groß wie die Rocky Mountains,<br />

vom Herzen. „Liebling, du bist wach. Ich habe Frühstück für Kelly und dich gemacht. Hast du<br />

denn Appetit?“<br />

Shawn schüttelte vorsichtig den Kopf. Er hatte Kopfschmerzen und wollte diese nicht<br />

noch forcieren. „Nein, Mum, ich habe keine Appetit, ich habe Bärenhunger!“<br />

„Das ist gut, denn ich habe für dich drei Portionen gemacht!“ Sie stellte das Tablett auf<br />

dem kleinen Tisch ab und bat Kelly: „Dort im Schrank ist ein Sitzkissen, ich hole den Bett-<br />

tisch.“<br />

Sie verließ Raum und Kelly öffnete den Schrank. Sie fand das Kissen und kehrte zu<br />

Shawn zurück.<br />

„Komm, ich helfe dir, dich aufzusetzen.“, sagte sie und reichte Shawn die Hände. Er ließ<br />

sich in die Höhe ziehen und Kelly stellte ihm das Sitzkissen so in den Rücken, dass er bequem<br />

saß. Dann deckte sie ihn sorgfältig zu.<br />

Anna kam bereits mit dem Betttisch zurück und reichte ihn der Therapeutin. Diese klappte<br />

das Tischchen auf und stellte es über Shawns Beine. Anna reichte ihrem Sohn einen großen<br />

Teller mit Speck, Spiegeleiern, Toast, gegrillten Tomaten, zwei kleinen gebratenen Würsten<br />

und stellte auf einem zweiten Teller zwei frische Pfannkuchen mit Ahornsirup daneben.<br />

Shawn grinste.<br />

ein.<br />

„Wer soll denn das alles Essen, Mum?“, fragte er leise lachend.<br />

„Du, mein Schatz, du bist so dünn geworden.“, erklärte Anna und lächelte liebevoll.<br />

„Ich werde platzen.“, meinte Shawn stöhnend.<br />

„Deine Mutter hat Recht, Baby, du bist entsetzlich dünn geworden.“, warf Kelly besorgt<br />

„Ist ja gut. Ich esse ja schon!“ Und das tat er und zwar langsam, genussvoll und ausgiebig.<br />

Kelly setzte sich an den kleinen Tisch, zusammen mit Anna, und aß ihr eigenes Frühstück<br />

heißhungrig auf. Sie merkte erst jetzt, dass ihr Magen lautstark knurrte. Sie hatte in Sydney<br />

zuletzt etwas gegessen, auf dem Flug hatte sie keinen Bissen hinunter bekommen. Als beide<br />

Teller leer waren, nickte Anna zufrieden.<br />

„Ich werde euch wieder alleine lassen. Ihr habt sicher viel zu besprechen.“, erklärte sie<br />

und verließ das Zimmer.<br />

890


Kelly setzte sich wieder zu Shawn auf das Bett und fragte: „Wie fühlst du dich?“ Sie legte<br />

ihm die Hand auf die Stirn und stellte unglaublich erleichtert fest, dass das Fieber deutlich<br />

zurück gegangen war.<br />

„Erheblich besser. Woher wusstest du ...?“, fragte er leise und verlegen.<br />

„Deine Mutter rief mich an. Ich bin so schnell gekommen wie es nur ging.“, erklärte die<br />

junge Frau.<br />

„Ich kann es noch gar nicht fassen. Als du mir sagtest, du würdest für eine Weile ins Out-<br />

back gehen da ...“ Er konnte nicht weiter reden, ein Kloß saß ihm im Hals.<br />

„Das war leider notwendig. Ich habe die ganze Zeit an dich denken müssen. Aber das war<br />

nun einmal mein Job. Und nun bin ich wieder da und ich werde keine Dauerpatienten mehr<br />

annehmen.“<br />

Das unendlich glückliche Lächeln auf Shawns Gesicht zeigte Kelly, dass ihre Entschei-<br />

dung, keine Langzeitpatienten mehr zu betreuen die richtige Entscheidung gewesen war.<br />

Shawn seufzte und schloss müde die Augen.<br />

„Ich glaube, ich könnte ein wenig schlafen.“, sagte er erschöpft.<br />

„Das ist eine gute Idee. Du bist noch lange nicht über den Berg. Warte, ich nehme dir das<br />

Kissen weg.“<br />

Sie nahm das Kissen und Shawn machte sich lang. Er tastete nach Kellys Hand und hielt<br />

diese fest. Und war keine zwei Minuten später bereits tief und fest eingeschlafen. Kelly war<br />

sicher, er würde ruhig und tief schlafen, ohne Träume.<br />

Sie erhob sich vorsichtig, löste ihre Hand aus Shawns, sah ihren Koffer in einer Zimmer-<br />

ecke stehen und öffnete diesen leise. Sie nahm Duschsachen, frische Unterwäsche, einen kur-<br />

zen Rock und eine passende Bluse dazu aus dem Koffer und verschwand ins Bad. Lange<br />

stand sie unter der Dusche, dann zog sie sich an und schlich aus dem Zimmer. Suchend sah<br />

sie sich im Haus um und fand die McLeans auf der Terrasse bei einer Tasse Kaffee. Paul und<br />

Anna drehten sich herum, als sie Kelly kommen hörten und Paul sprang auf. Er nahm die jun-<br />

ge Frau spontan in die Arme und drückte sie an sich. Verlegen bat er:<br />

„Setzen Sie sich doch. Oder besser, setz du dich doch. So, wie es aussieht, wirst du ja<br />

wohl unsere Schwiegertochter.“<br />

Kelly lächelte überrascht und glücklich. Sie setzte sich und Anna schenkte ihr ebenfalls<br />

eine Tasse Kaffee ein.<br />

„Danke.“, sagte Kelly und nahm einen Schluck. Erleichtert erklärte sie: „Shawn geht es<br />

viel besser. Das Fieber ist deutlich zurück gegangen, ich schätze, spätestens morgen wird er<br />

wieder aufstehen können. Solche Fieberschübe, psychosomatisch bedingt, kommen schnell<br />

und gehen ebenso schnell wieder. Wenn die Ursache bekämpft wird. In diesem Falle war ich<br />

die Ursache.“ Sie verstummte betroffen.<br />

891


Paul sah die Therapeutin an und sagte entschieden: „Das ist Blödsinn. Du hast richtig ge-<br />

handelt, als du Shawn die Chance gabst, heraus zu finden, ob seine Gefühle dir gegenüber<br />

echt waren. Und wenn ich auch nichts von Psychologie verstehe, leuchtet es mir vollkommen<br />

ein, dass Shawn nach der langen Zeit in deiner Obhut erst einmal beweisen musste, auch sich<br />

selbst, dass er auch ohne dich klar kommt. Es war richtig, ihn sein Leben wieder aufnehmen<br />

zu lassen.“<br />

„Ich weiß nicht, es fühlt sich anders an. Es fühlt sich so an, als hätte ich ihm das angetan,<br />

als hätte ich ihn im Stich gelassen.“<br />

Auch Anna schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, mein Kind, das hast du nicht und das weißt du auch. Du hast uns das Leben unseres<br />

Sohnes nun schon zum dritten Mal geschenkt. Wir können das niemals wieder gut machen.<br />

Ich bin sicher, wenn du nicht gekommen wärest, Shawn hätte dies hier nicht überlebt.“<br />

„Ihr braucht mir nicht zu danken, es gibt nichts, was ich lieber getan hätte. Als er damals<br />

zu mir kam ... Ich war das erste Mal in meiner Karriere nicht sicher, ob ich es schaffen wür-<br />

de.“ Sie dachte an die Zeit zurück, als sie um jedes Wort von Shawn hatte kämpfen müssen.<br />

„Du hast es geschafft. Und vielleicht ist Shawn eines Tages bereit, auch mit uns darüber<br />

zu reden, was er erlebt hat.“ Anna seufzte. „Aber er hat unendlich viel und begeistert von eu-<br />

rem Trip ins Innenland erzählt.“, sagte sie. „Er hat so geschwärmt. Es muss wundervoll dort<br />

sein. Die Bilder, die er uns gezeigt hat, sind so wunderschön. Und das, was wir in der kurzen<br />

Zeit gesehen haben, hat uns auch absolut fasziniert. Kelly, wenn ihr zusammen nach Australi-<br />

en geht, Shawn hat klipp und klar gesagt, er würde drüben einen Neustart wagen, dann wür-<br />

den wir euch sehr gerne begleiten. Ohne Shawn wäre unser Leben nicht mehr, was es ist.“<br />

„Ich weiß nicht, was er möchte. Drüben war für ihn vollkommen klar, dass er nach Austra-<br />

lien kommen würde. Wir werden sicher in den nächsten Tagen darüber sprechen. Sollten wir<br />

uns für ein Leben in Australien entscheiden, wovon ich bei Shawn immer noch ausgehe,<br />

könnte ich mir vorstellen, dass er gar nicht ohne euch gehen würde.“<br />

„Du weißt doch, dass ich mich schon lange entschieden habe.“<br />

Die Drei zuckten heftig zusammen, als hinter ihnen plötzlich Shawns Stimme zu hören<br />

war. Erschrocken sprang Kelly auf.<br />

„Hey, bist du irre? Was machst du denn hier?“<br />

„Na was schon. Ich konnte nicht mehr liegen. Es geht mir gut, ich fühle mich fast wieder<br />

normal. Keine Sorge. Ich kann mich auch hier bei euch in der Sonne schonen.“<br />

Kelly dirigierte ihn kopfschüttelnd zu einer Liege und deutet streng darauf. „Hinlegen!“<br />

Lachend ließ Shawn sich auf die Liege sinken und Kelly setzte sich zu ihm. Der Schau-<br />

spieler sah seine Eltern an.<br />

Ich ...“<br />

„Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass ich auf jedem Fall nach Australien möchte.<br />

892


Paul unterbrach seinen Sohn. „Das ist im Augenblick nicht wichtig, Shawn. Viel wichtiger<br />

ist, warum du uns nichts von dir und Kelly erzählt hast! Wir hätten sie doch schon viel eher<br />

anrufen können, wenn wir es gewusst hätten. Du hattest doch keinen Grund, es uns zu ver-<br />

heimlichen. Oder hast du so wenig Vertrauen zu uns?“ Pauls Stimme klang traurig. Shawn<br />

schüttelte entsetzt den Kopf.<br />

„Nein, das hat nichts mit mangelndem Vertrauen zu tun, Dad! Ich hätte es euch gesagt, auf<br />

jedem Fall. Aber ich wollte abwarten, bis bei uns alles klar gewesen wäre. Ich hatte mich so<br />

in die Idee verrannt, dass Kelly ... Darum habe ich nichts gesagt. Das war dämlich, ich weiß.<br />

Jetzt ist alles geklärt. Kelly und ich werden heiraten. Und ich möchte nichts lieber, als dass ihr<br />

mit mir nach Australien kommt.“ Er sah seine Eltern flehend an. „Bitte, sagt ja!“<br />

Paul und Anna schauten ihren Sohn an. Da saß er, Kelly im Arm, genesen, kaum, dass die<br />

junge Frau zu ihm ans Bett getreten war. Die Monate, die sie hinter sich hatten, war entsetz-<br />

lich gewesen. Der Verlust des geliebten Sohnes, die Ungewissheit, die Verzweiflung und<br />

Hoffnungslosigkeit, ständig die bange Frage, ob sie ihn je wieder sehen würden. Dann der<br />

befreiende Anruf, dass er gefunden worden war und lebte, gleich aber auch die Meldung, dass<br />

sie nicht zu ihm durften. Endlich, endlich das Wiedersehen in Australien. Ein ständiges<br />

Wechselbad der Gefühle. Die unglaubliche Freude, als er vor fast sieben Monaten vor der Tür<br />

stand. Schnell die Ernüchterung, dass sie immer noch nicht erfuhren, was eigentlich los gewe-<br />

sen war. Die Feststellung, dass Shawn nicht mehr der Junge war, der voller Vorfreude nach<br />

Australien geflogen war, der Junge, der eigentlich nie ganz Erwachsen geworden war. Das<br />

war er jetzt. Shawn war ein anderer Mensch. Auch wenn ab und zu der alte Shawn für Sekun-<br />

den durch flackerte, war das überdeutlich zu spüren. Nun saß er hier, mit seiner zukünftigen<br />

Frau und wollte mit ihr nach Australien zurück. Anna und Paul hatten schon lange entschie-<br />

den, mit ihm zu gehen. Als Shawn die Sprache erstmals auf den Umzug nach Sydney brachte,<br />

hatten sie sich bereits entschieden. Nie wieder würden sie sich von ihm trennen.<br />

„Wir werden euch begleiten!“<br />

*****<br />

75) Abschiedsbesuch<br />

Nichts ist gewisser als der Tod, nichts ungewisser als seine Stunde.<br />

Anselm von Canterbury<br />

Zwei Tage musste Shawn sich auf Anweisung Kellys noch schonen, dann hatte er sich<br />

vollkommen erholt. Er und Kelly klebten wie Kletten aneinander. Paul und Anna beobachte-<br />

ten dies schmunzelnd. Es war nach der fast in einer Katastrophe geendeten Trennung kein<br />

893


Wunder, dass beide den Wunsch hatten, sich so nahe wie möglich zu sein. Schließlich ent-<br />

spannte sich die Lage jedoch und nun wurden ernsthafte Pläne geschmiedet. Bei einer Tasse<br />

Kaffee auf der Terrasse meinte der Schauspieler:<br />

„Ich denke, ihr solltet gleich mit uns kommen, eure Sachen werden wir in einen Container<br />

verladen lassen und hinterher schicken. Ihr könnt erst einmal mit bei uns wohnen und wir<br />

suchen euch in aller Ruhe ein Haus. Wie sieht das eigentlich mit der Einwanderung aus?“<br />

Kelly lächelte.<br />

„Das ist kein Problem. Du als mein zukünftiger Mann bekommst sofort eine permanent re-<br />

sidence. Man muss für die Einwanderung bei bestimmten Kriterien 120 Punkte erreichen.<br />

Wichtigste Voraussetzung ist das Alter. Da du deutlich unter 45 bist, bekommst du die volle<br />

Punktzahl. Punkt 2 ist der Beruf. Doch da fällst du im Grunde raus, weil du Eigenversorger<br />

bist. Punkt 3 und 4 erfüllst du ebenfalls voll, keine schwere Krankheit und keine Vorstrafen.<br />

Punkt 5 sind die Sprachkenntnisse, das ist ein Selbstgänger und Punkt 6 sind die Berufserfah-<br />

rungen, da wären wir wieder bei Punkt 2. Und wenn du permanent residence bist, ist es für die<br />

Eltern gar kein Problem. Da werden wir uns sofort drum kümmern, wenn wir in Sydney<br />

sind.“<br />

Zufrieden grinsten die McLeans. Paul und Anna hatten schon Freunde und Verwandte an-<br />

gerufen, dass sie nach Australien gehen würden. Außerdem hatten sie sich bereits mit einer<br />

Speditionsfirma in Verbindung gesetzt, einen Container geordert und ein Unternehmen beauf-<br />

tragt, alle gekennzeichneten Sachen in den Container zu verladen. Anna hatte ihren Job ge-<br />

kündigt, Paul hatte am nächsten Tag ein Gespräch mit seinem Chef. Shawn hatte so gut wie<br />

alle seine Sachen in Ruskin, da Anna und Paul seine Wohnung während seiner Abwesenheit,<br />

als sie nicht wussten, ob der Sohn überhaupt noch lebte, geräumt hatten. Einige wenige Dinge<br />

waren in Sausalito bei Jerry geblieben. Diese würden Shawn und Kelly in den nächsten Tagen<br />

dort abholen. Die Psychologin hatte sich drei Wochen in Sydney abgemeldet, um den<br />

McLeans bei den Vorbereitungen zu helfen. Jetzt fragte sie:<br />

„Wann möchtest du denn zu Jerry? Wir müssten uns ja um die Flüge kümmern.“<br />

„Ich dachte, wir fliegen am Freitag rüber und am Samstag zurück. Dann kann ich mich bei<br />

Page und Jerry verabschieden und sie persönlich zur Hochzeit einladen. Ist dir das Recht?“ Er<br />

sah Kelly fragend an.<br />

„Natürlich. Ich würde die beiden sehr gerne noch persönlich kennen lernen. Was genau<br />

lagerst du denn noch dort? Müssen wir einen Speditionsdienst anheuern?“<br />

„Nein, es sind nur noch ein paar wenige persönliche Dinge. Nichts, was nicht in einen<br />

Koffer passen würde. Weißt du, ich würde gerne noch ein letztes Mal durch den Golden Gate<br />

Park joggen.“<br />

Kelly lachte. „Na, die Zeit werden wir sicher finden. Gut, dann sollten wir uns um Tickets<br />

kümmern.“<br />

894


*****<br />

Am Freitag standen sie schon morgens um 7 Uhr auf dem Tampa International. Für die<br />

knapp 4.000 Kilometer nach San Francisco würden sie fast fünf Stunden brauchen. Sie hatten<br />

Jerry Bescheid gegeben, dass sie gegen 13 Uhr auf dem Alameda landen würden. Er hatte<br />

versprochen, sie abzuholen. Seit Shawns Rückkehr zu seinen Eltern hatten sich die jungen<br />

Männer einige Male gesehen. Trotzdem freute Jerry sich, den Freund nun noch einmal zu<br />

sehen, bevor dieser endgültig nach Australien verschwand. Als die Maschine aus Tampa um<br />

12.20 Uhr als gelandet angezeigt wurde, beeilte sich der junge Mann, zum Ausgang in der<br />

Arrival Hall zu kommen. Seine Geduld wurde zum Glück nicht auf die Probe gestellt. Kaum<br />

10 Minuten später bereits sah er seinen Freund in der Begleitung einer ziemlich hübschen,<br />

schlanken dunkelblonden Frau durch den Ausgang kommen.<br />

„Hey! Hier bin ich!“, rief er und eilte auf den Freund zu.<br />

Shawn grinste. „Als ob ich dich übersehen könnte.“<br />

Die jungen Männer nahmen sich herzlich in die Arme und klopften sich auf die Rücken.<br />

Man merkte sofort, dass die zwei sich mochten. Als sie sich von einander lösten legte Shawn<br />

einen Arm um Kelly.<br />

„Tja, Jerry, das ist Kelly, meine zukünftige Frau. Kelly, das ist Jerry Cuttler, Kollege und<br />

bester Freund.“<br />

Kelly und Jerry reichten sich die Hände.<br />

„Schön, dich endlich kennen zu lernen, Jerry. Shawn hat so dermaßen viel von dir erzählt,<br />

ich freue mich wirklich, dich endlich persönlich zu sehen.“<br />

Jerry grinste frech. „Na, das kann ich nur zurück geben. Wenn ich Shawns Worten glau-<br />

ben darf bist du so eine Art Wonder Woman.“<br />

Kelly wurde hochrot. „Das bin ich ganz bestimmt nicht! Shawn spinnt!“<br />

Dieser schnaufte. „Ich wäre euch dankbar, wenn ihr nicht reden würdet als säße ich noch<br />

in Ruskin. Wie ist es, wollen wir mal? So schön ist es auf einem Flughafen nun wirklich<br />

nicht.“<br />

Vom Alameda Airport raus nach Sausalito war es eine ganze Ecke zu fahren. Es waren gu-<br />

te 35 Kilometer, die sie zurück legen mussten. Vom Flughafen aus steuerte Jerry seinen Ge-<br />

ländewagen auf den Nimitz Freeway und dann über die San Francisco-Oakland Bay Bridge.<br />

Auf dem Lincoln Highway ging es nach Frisco hinein und dann über einige weitere Straßen<br />

zur Golden Gate. Hier war das Verkehrsaufkommen wie eigentlich immer sehr hoch und sie<br />

quälten sich im Schritttempo über die herrliche Brücke.<br />

„Man, ich hatte doch glatt vergessen, wie herrlich schnell es hier immer voran geht.“, nör-<br />

gelte Shawn vor sich hin.<br />

895


„Ach, McLean, hör auf zu jammern. Seid froh, dass ihr jetzt erst kommt. Vor zwei Mona-<br />

ten hatten wir eine Baustelle auf der Brücke, zwei Fahrstreifen dicht. Kannst du dir vorstellen,<br />

was da los war?“<br />

Selbst Kelly, die hier nicht zu Hause war, konnte sich sehr gut vorstellen, zu welchen<br />

Staus die Sperrung von zwei Fahrstreifen geführt haben musste.<br />

„Das wäre auf der Harbor Bridge genauso. Das Chaos schlechthin.“<br />

Shawn nickte. „Oh ja, allerdings. Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Jerry, die hat sechs<br />

Spuren und eine weitere für die Bahn. Da ist auch immer die Hölle los. Werde ich dir alles<br />

zeigen, wenn du das erste Mal zu uns kommst.“<br />

Endlich hatten sie das andere Ende der Brücke erreicht. Hier löste sich der Stau erstaun-<br />

lich schnell auf. Sie verließen den Redwood Highway sofort an der ersten Ausfahrt und er-<br />

reichten auf der Alexander Avenue, die sich durch die östlichen Ausläufer des Golden Gate<br />

Parks schlängelte, endlich Sausalito. Jerrys Haus lag gleich am Ortseingang. Erleichtert stie-<br />

gen sie aus dem Wagen und folgten Jerry ins Haus. Er brachte seine Gäste gleich ins Gäste-<br />

zimmer und meinte:<br />

„Macht euch frisch, ich habe was zu Essen besorgt. Ich werde uns mal den Tisch auf der<br />

Terrasse decken.“<br />

Kurze Zeit später saßen sie gemeinsam auf der schönen Terrasse, genossen den Blick über<br />

die Sausalito Bay und ließen sich einen ausgezeichneten Cäsar Salat schmecken.<br />

„Du hast es sehr schön hier, Jerry.“, meinte Kelly, während sie den Blick hinüber nach<br />

San Francisco genoss. „Wo hast du gewohnt?“ Sie sah Shawn fragend an.<br />

„300 Meter weiter die Straße runter. Allerdings hatte ich keinen Blick aufs Wasser. Und es<br />

war kein Haus, sondern nur eine Wohnung. Aber ich habe mich dort die ganze Zeit wirklich<br />

wohl gefühlt.“<br />

Jerry kicherte. „Man, kannst du dich noch an den Zoff mit deinem Vermieter erinnern, als<br />

damals während der Play offs dein Fernseher runter fiel? Weil du unbedingt den Wurf nach-<br />

stellen wolltest, mit dem Shaun Hill 2008 die 40 Yard Linie geschafft hatte?“ Jerry sah Kelly<br />

an. „Das Ding schepperte auf die Fliesen, verursachte einen Krach als wäre das halbe Dach<br />

zusammen gebrochen und zersprang in eine Million Stücke. Der Vermieter, der unter Shawn<br />

wohnte, kam hoch gerannt und dachte wohl wirklich, das Haus würde gerade zusammen bre-<br />

chen. Man, hat der getobt, als er sah, was wirklich los war! Shawn lag nach seinem tollen<br />

Versuch mitten in den Trümmern, konnte sich noch freuen, dass er kein Splitter im Hintern<br />

stecken hatte und versuchte, den Vermieter irgendwie zu beruhigen.“ Jerry kullerten Lachträ-<br />

nen über die Wangen.<br />

896


Shawn saß entspannt auf seinem Stuhl und grinste breit. „Alter, du warst ja nur neidisch,<br />

weil ich den Wurf perfekt nachgestellt hab. Okay, den blöden Fernseher hatte ich übersehen,<br />

aber so einen Aufstand zu machen wegen der paar Scherben ...“<br />

Kelly beobachtete Shawn genau. Er war völlig entspannt und genoss das Zusammensein<br />

mit seinem Freund ganz offensichtlich sehr. Die jungen Männer erzählten abwechselnd viel<br />

von den Dingen, die sie gemeinsam erlebt hatten. Im Gegenzug berichtete Kelly ein wenig<br />

aus ihrer Highschool Zeit, vom Studium und ihrer Arbeit im Aborigine Projekt. Jerry war sehr<br />

interessiert an Care for School and teaching aid. Er bat Kelly um die Kontonummer des Pro-<br />

jektes und versprach, vierteljährlich Summen als Spende zu überweisen. Als es auf 19 Uhr<br />

zuging setzten sie sich in Jerrys Auto und ließen sich von ihm zum Jachthafen fahren. Dort<br />

hatte der junge Mann einen Tisch im Paradise Bay, einem angesagten Restaurant unmittelbar<br />

am Wasser, gebucht. Von ihrem Platz aus hatten sie einen schönen Blick auf den großen<br />

Jachthafen. Dass Essen war hervorragend, es war ein milder Abend und so saßen sie bis nach<br />

23 Uhr auf der Terrasse des Restaurants. Die Unterhaltung kam nie ins Stocken und Shawn<br />

war glücklich. Er bedauerte nur, dass ihre gemeinsame Freundin Page nicht dabei sein konnte.<br />

Die junge Frau war, das hatten sie von Jerry erfahren, jedoch zurzeit in Frankreich, also hatte<br />

keine Chance bestanden, sie dabei zu haben. Als Shawn und Kelly nach Mitternacht im Bett<br />

lagen fragte der Schauspieler:<br />

„Und, waren wir nicht zu nervig?“<br />

Kelly lachte. „Nein, nicht mehr als andere kleine Jungs ...“<br />

Dass Shawn sie für diese Frechheit tüchtig durch kitzelte empfand die junge Psychologin<br />

nicht als Strafe.<br />

*****<br />

Dass der Wecker am Morgen um 6 Uhr klingelte war schon deutlich mehr Strafe. Doch sie<br />

hatten sich fest vorgenommen, im Golden Gate Park zu joggen, und so rafften sie sich<br />

schließlich ein wenig verschlafen auf. Da man Ellen Campbell immer noch nicht gefasst hatte,<br />

ging Shawn auf Nummer sicher und nahm die Glock 19mm, die er sich nach seiner Rückkehr<br />

nach Ruskin auf Raten Kellys angeschafft hatte, mit sich. Im Stillen rechnete er nicht mehr<br />

damit die Psychopathin je wieder zu sehen, er war überzeugt, dass sie sich längst nach Europa<br />

oder in den asiatischen Raum abgesetzt hatte. Doch fühlte er sich mit der Waffe einfach siche-<br />

rer und so führte er sie auch jetzt bei sich. Er hatte sich ein einfaches Schulterholster gekauft<br />

und konnte die Waffe so mit einer Jack darüber meist unbemerkt bei sich haben. Er hatte sich<br />

für inneramerikanische Flüge eine Ausnahmegenehmigung besorgt, die Glock im Koffer im<br />

Frachtraum zu transportieren. Kelly bemerkte, dass er das Schulterholster anlegte und nickte<br />

zufrieden.<br />

897


„Das ist gut, dass du daran denkst. Auch, wenn die Gefahr noch so gering sein mag, aber<br />

bei Psychopathen weiß man nie, wie sie reagieren. Da Ellen immer noch auf freiem Fuß ist,<br />

würde ich davon ausgehen, dass sie noch darauf erpicht ist, den einzigen Zeugen, der sie iden-<br />

tifizieren könnte, zu Eleminieren. Also, trage die Waffe weiter bei dir, wer weiß, ob du sie<br />

nicht doch noch brauchen wirst.“ Ihre eigene Walther hatte sie in Sydney gelassen.<br />

Als sie ihre Trainingsanzüge über gestreift hatten machten sie sich auf den Weg. Shawn<br />

griff sich im Flur Jerrys Autoschlüssel und schon kurze Zeit später steuerte er den Mitsubishi<br />

auf einen der vielen kleinen Parkplätze im Golden Gate Park. Es war noch nicht ganz hell, die<br />

Sonne begann gerade, aufzugehen.<br />

„Du wirst sehen, die Brücke sieht großartig aus im aufgehenden Licht!“, schwärmte der<br />

Schauspieler, als sie los trabten. Über gut begehbare Wege liefen sie durch den weitläufigen<br />

Park.<br />

Als die Sonne zwanzig Minuten später über der Bucht aufstieg hatten sie gerade einen<br />

Punkt erreicht, von dem aus man die Brücke in ihrer ganzen Pracht sehen konnte. Hier mach-<br />

ten die beiden einen Moment Pause und genossen einfach still das herrliche Panorama, dass<br />

sich vor ihnen darbot. Schließlich liefen sie weiter und der Weg führte in einem Bogen durch<br />

ein kleines Wäldchen von der Küste weg. Als sie den Wald halb passiert hatten kam ihnen<br />

von vorne eine junge Frau entgegen. Ohne diese zu beachten, trabten sie weiter, wobei Kelly<br />

sich zurück fallen ließ. Auf diesem schmalen Weg hätten sie sonst nicht aneinander vorbei<br />

gepasst. Die Joggerin hatte ein Basecap tief ins Gesicht gezogen und hielt einen Regenschirm<br />

in der rechten Hand. Kelly grinst. Doch das Grinsen verging ihr Sekunden später! Ohne die<br />

geringste Vorwarnung drehte sich die Joggerin plötzlich herum, als sie direkt an Kelly vorbei<br />

lief, riss den Schirm hoch und schlug Kelly diesen mit aller Kraft seitlich an den Kopf. Als<br />

der Schlag sie unglaublich hart traf merkte die Psychologin, dass es mit Sicherheit kein nor-<br />

maler Regenschirm war, den die Unbekannte da bei sich trug. Kelly stürzte zu Boden und<br />

verlor fast die Besinnung, so heftig war der Schlag ausgefallen und so hart war, was immer in<br />

der Hülle des Schirms stecken mochte. Die junge Frau kämpfte verzweifelt gegen ihre<br />

Schwäche an, um nicht vollständig die Besinnung zu verlieren. Sie wollte sich irgendwie auf-<br />

rappeln, doch ihr Körper gehorchte ihr einfach nicht. Aus glasigen Augen sah sie hilflos zu,<br />

wie die Frau einen Revolver aus dem Hosenbund zog. Ohne etwas unternehmen zu können<br />

musste die Psychologin zusehen, wie der Lauf der Waffe auf Shawn zielte, der jetzt erst mit<br />

bekam, dass hinter ihm irgendetwas nicht stimmte. Ihr wurde schlecht vor Angst.<br />

Shawn war an der entgegenkommenden Joggerin vorbei gelaufen ohne diese eines Blickes<br />

zu würdigen. Er konzentrierte sich auf den Weg vor sich, denn dieser war hier uneben und<br />

man konnte sich leicht vertreten. Er war schon ein Stück weiter weg, als ihm auffiel, dass er<br />

Kellys Schritte hinter sich nicht mehr hörte. Hatte sie sich etwa genau das, vertreten? Er<br />

898


stoppte und drehte sich herum. Und erstarrte, als er eine Stimme hörte, eine Stimme, die er<br />

unter tausenden erkannt hätte.<br />

„Hallo, Shawn, schön, dass wir uns endlich wiedersehen. Ich habe dich schon so ver-<br />

misst!“<br />

Der Schauspieler wurde leichenblass. Da stand sie, sein schlimmster Albtraum: Carrie. Ei-<br />

ne Waffe in der Hand, grinsend, auf Kelly zielend, die am Boden lag und offensichtlich<br />

schwer angeschlagen war.<br />

„Ich warte mir hier in dem blöden Kaff jetzt schon seit Monaten den Arsch wund. Ich<br />

wusste, dass du deinen dämlichen Kumpel über kurz oder lang wieder besuchen würdest. Du<br />

ahnst ja nicht, was es mich an Überwindung gekostet hat, neben diesen Schleimer zu ziehen,<br />

um ihn im Auge behalten zu können. Aber immerhin hat es sich am Ende gelohnt. Da sind wir<br />

beide nun. Nur du und ich. So, wie es angefangen hat. Und diesmal wirst du nicht überleben.<br />

So wenig, wie der kleine Verräter Brett. Er hat geflennt, als ich ihm die Waffe an den Kopf<br />

gehalten habe. Dass er dich liebt und keine andere Wahl hatte. Bis zum Schluss hat er ge-<br />

quickt, ich solle ihn doch gehen lassen. Und jetzt will ich dich genauso jammern hören.“<br />

Plötzlich änderte sich ihre Stimme. Kalt und befehlend schnarrte sie: „Komm her!“<br />

Haltlos zitternd wankte Shawn die paar Schritte zurück und stand dann neben Kelly, die<br />

sich immer noch verzweifelt bemühte, den Kopf klar zu bekommen. Doch der Schlag mit dem<br />

getarnten Schirm war einfach zu heftig gewesen. Sie sah immer noch Sterne und ihr Körper<br />

fühlte sich wie weiches Gummi an. Immer wieder fielen ihr für Sekunden die Augen zu.<br />

„So ist brav. Und jetzt geh auf die Knie, du kleine Hure. Los!“<br />

Langsam, wie in Zeitlupe, sank Shawn auf die Knie. Er war noch immer wie erstarrt vor<br />

Angst. Carrie lachte.<br />

„Du wirst jetzt schön zusehen, wie ich deiner kleinen Bitch eine Kugel in den Kopf jagen<br />

werde. Aber keine Bange, du wirst nicht lange darunter leiden müssen, denn du bist der<br />

Nächste!“<br />

Die Psychopathin zielte jetzt genau auf Kellys Gesicht und dieser schossen vor Angst und<br />

Verzweiflung Tränen in die Augen. Tonlos wimmerte sie:<br />

„Bitte ... Shawn ...“<br />

Der Schauspieler fühlte einen allumfassende Leere in sich. Doch plötzlich und überwälti-<br />

gend wurde diese von abgrundtiefem Hass und Wut fort gespült. Nein! Carrie würde nicht am<br />

Ende doch noch als Siegerin hervor gehen! NEIN!<br />

Er wusste später selbst nie zu sagen, woher seine Reaktion kam. Er wusste nur, dass er<br />

sich mit einem wütenden Aufschrei nach vorne warf und es schaffte, Carrie mit einem hefti-<br />

gen Stoß von den Beinen zu reißen. Er selbst geriet dabei auf dem abschüssigen Weg ins Rut-<br />

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schen, schaffte es jedoch blitzschnell, sich zu fangen. Er wollte aufspringen, doch Carrie war<br />

schneller. Wutentbrannt schrie die Frau auf.<br />

„Du Arsch ...“<br />

Sie zielte jetzt nicht mehr auf Kelly, sondern auf Shawn, der sich mit einem Schwung zur<br />

Seite aus der Schussbahn warf. Carrie riss den Arm herum und zielte wieder auf den Schau-<br />

spieler, doch der hatte mit einer flüssigen Bewegung, gelernt in zahlreichen Episoden der Se-<br />

rie, in der er Hauptdarsteller gewesen war, seine eigene Waffe aus dem Schulterholster geris-<br />

sen. Er war einen Sekundenbruchteil schneller als Carrie, zielte nur vage in deren Richtung<br />

und drückte schnell zwei, drei Mal hintereinander ab. Auch Carrie gelang es noch, abzudrü-<br />

cken, bevor sie von Shawns Schüssen herum gerissen und zu Boden geschleudert wurde.<br />

Shawn spürte es nur heftig an seinem rechten Oberarm zupfen. Er achtete überhaupt nicht<br />

darauf, sondern stürzte zu Kelly hinüber, die ganz langsam wieder etwas klarer sehen konnte.<br />

Es gelang ihr, sich wenigstens in eine sitzende Position zu bringen.<br />

„Shawn ...“, keuchte sie entsetzt.<br />

Der Schauspieler war schon bei ihr, riss sie an sich und stotterte fassungslos: „Baby, ist dir<br />

was passiert? Ist alles in Ordnung? Bitte ... Kelly!“<br />

„Es geht mir gut ... soweit ... Ich ... weiß nicht, was sie ... oh, au ... was sie in der Regen-<br />

schirmhülle hat ... Hilf mir bitte mal hoch ...“<br />

Zitternd half Shawn der Psychologin auf die Füße.<br />

Einen Moment hielten sie sich gegenseitig fest in den Armen. Sie klammerten sich regel-<br />

recht aneinander fest. Kelly war noch immer ziemlich angeschlagen und dort, wo der Schlag<br />

sie getroffen hatte, lief ihr ein feiner Blutfaden durch die Haare. Der Hieb hatte eine kleine<br />

Platzwunde hinterlassen. Doch sie erholte sich jetzt, sicher in Shawns Armen, immer mehr<br />

von der hinterhältigen Attacke. Minuten reihten sich aneinander. Schließlich fragte Shawn<br />

noch einmal mit etwas festerer Stimme:<br />

„Ist wirklich alles in Ordnung, Kleines?“<br />

Kelly nickte vorsichtig. „Ja, mir dröhnt nur der Schädel. Ich weiß nicht, was sie da in der<br />

Hülle hat, aber was immer es ist, es hat mich gründlich ausgeknockt.“<br />

Sie schüttelte vorsichtig noch einmal den Kopf, um letzten Schwindel zu vertreiben. Dann<br />

erst warf Kelly einen prüfenden Blick auf die besinnungslos am Boden liegende Serienmörde-<br />

rin. Gleichgültig beobachtete sie einige Sekunden das Blut, das aus Carries Wunden quoll.<br />

Shawns Schüssen, ungezielt und hektisch abgegeben, hatten die Frau in die rechte Schulter<br />

und die Körpermitte getroffen. Sie atmete noch und Kelly zuckte die Schultern.<br />

„Sie lebt noch. Wir müssen wohl die Cops und einen Rettungswagen rufen.“<br />

Ihr Handy hatte sie in der Jogginghose. Sie griff danach und wählte die 911. Als sie den<br />

Operator über alles informiert hatte, bat Shawn um das Handy.<br />

900


„Ich muss Jerry informieren, der schickt sonst einen Suchtrupp los.“, erklärte der Schau-<br />

spieler. Als er nach dem Handy griff, welches Kelly ihm reichte, verzog er vor Schmerzen das<br />

Gesicht. In seinem rechten Oberarm, das merkte er erst jetzt, pochte ein heftiger Schmerz.<br />

Kelly sah, wie sich Shawns Gesicht verzog und sie fragte erschrocken:<br />

„Schatz, was ist? Bist du etwa ...?“<br />

Sie brauchte gar keine Antwort, denn jetzt sah sie, dass rechter Shawns Jackenarm voll<br />

Blut gesogen war. Erschrocken stieß sie hervor:<br />

„Babe, du hast etwas ab bekommen! Lass mich sehen.“<br />

Shawn blicke erstaunt auf seinen rechten Arm und riss die Augen auf. Bis eben hatte er<br />

nichts gespürt. „Oh ...“, machte er erschrocken. Kelly ließ ihn sich hinsetzen und half ihm<br />

dann vorsichtig aus der Jacke. Nun war deutlich die Einschusswunde an seinem rechten Ober-<br />

arm zu sehen. Die Kugel hatte den Arm sauber durchschlagen und die Wunde blutete entspre-<br />

chend heftig.<br />

Schnell entledigte Kelly sich ihrer eigenen Joggingjacke und zog das T-Shirt, das sie da-<br />

runter trug, aus. Sie schlüpfte in die Jacke zurück und bemühte sich dann, das T-Shirt in Strei-<br />

fen zu reißen. Mit ein wenig Hilfe der Zähne gelang es ihr, einige geeignete Streifen herzu-<br />

stellen und sie wickelte diese fest um Shawns Arm. Der Schauspieler stöhnte leise auf.<br />

„Man, ich hätte nicht gedacht, dass Schusswunden so weh tun!“, fluchte er schweratmend.<br />

Kelly ließ ihn sich gegen sie lehnen und nahm das Handy wieder in die Hand. Auffordernd<br />

sah sie Shawn an und dieser nannte ihr Jerrys Nummer. Minuten später wusste der Freund<br />

bescheid und versprach, sich sofort auf den Weg in den Golden Gate Park zu machen. Er ließ<br />

sich von einem Nachbarn fahren und so erschien er unmittelbar nach den ersten Polizisten am<br />

Ort des Überfalls. Es erforderte einige Erklärungen, doch die Sachlage und vor allem Carries<br />

Identität waren schnell geklärt. Sie war schon vor längerer Zeit auf die Liste der America’s<br />

most wanted gesetzt worden. Shawn wurde vom Notarzt vernünftig versorgt, Kelly und er<br />

wurden gebeten, später noch auf dem San Francisco Police Department vorbei zu kommen,<br />

dann durften sie mit Jerry gehen. Carrie war bereits im Rettungswagen abtransportiert wor-<br />

den. Der Notarzt hatte versichert, dass sie überleben würde und bei allem Hass, den Kelly<br />

empfand, war sie doch froh über diese Nachricht. Sie war nicht sicher, ob Shawn auf Dauer<br />

damit hätte Leben können, jemanden, und sei es auch Carrie, getötet zu haben. So konnte die<br />

Psychopathin vor Gericht gestellt und ordentlich verurteilt werden. Kelly war überzeugt, dass<br />

Shawn sich nun endgültig von dem Trauma gelöst hatte. Und sie war überzeugt, dass er mit<br />

diesem Erlebnis auch seine doch sehr starke Abhängigkeit zu ihr überwunden hatte. Er würde<br />

ganz bestimmt nie wieder krank werden, nur weil sie getrennt waren. Er hatte sich von seinem<br />

Trauma befreit, aus eigener Kraft! Die junge Psychologin war glücklich wie noch nie in ihrem<br />

Leben und freute sich auf die Zukunft.<br />

901


Als sie etwas später bei Jerry unter der Dusche standen und Kelly Shawn liebevoll half,<br />

sich zu waschen, ohne den Verband um den Arm zu durchnässen, wurde ihnen erst richtig<br />

bewusst, was da passiert war. Shawn entdeckte jetzt auch die kleine, bereits verkrustete<br />

Platzwunde an Kellys Kopf. Doch die junge Frau versicherte ihm überzeugend, dass das nicht<br />

schlimm war. Ihr war nicht schlecht, sie hatte keine Kopfschmerzen, nichts deutete auf eine<br />

Gehirnerschütterung hin. Sie duschten zu Ende, zogen sich anschließend an und gingen dann<br />

in die Küche, wo Jerry sie bereits erwartete.<br />

„Na, alles soweit klar? Ich hab Kaffee gekocht, wie wäre es?“<br />

Bei einer gerne angenommenen Tasse Kaffee auf der Terrasse unterhielten sie sich selbst-<br />

verständlich über den Vorfall.<br />

„Ich kann es nicht glauben! Ich hab die Bitch oft gesehen, sie ist vor ungefähr drei Mona-<br />

ten drüben eingezogen. Hat immer nett gegrüßt und schien freundlich und hilfsbereit zu sein.<br />

Ich wäre nie auf die Idee gekommen ... Man, Alter, sie hätte euch fast umgebracht.“<br />

Jerry war schwer erschüttert. Auch Kelly und Shawn mussten erst einmal mit der Tatsache<br />

fertig werden, dass Carrie um Haaresbreite doch noch ans Ziel gekommen wäre. Doch allzu<br />

viel Zeit hatten sie nicht mehr, um das Erlebte gemeinsam zu begreifen. Bald schon mussten<br />

sie sich auf den Weg zum Airport machen. Da sie noch auf dem Police Department vorbei<br />

sehen mussten, brauchten sie entsprechend länger und fuhren so bereits um 15 Uhr los, ob-<br />

wohl ihr Flug erst um 17.30 Uhr startete.<br />

Auf dem Revier wurde noch einmal ein detailliertes Protokoll aufgenommen, welches<br />

Shawn und Kelly unterschrieben. Shawn würde keinerlei Konsequenzen wegen der Schüsse<br />

tragen müssen, denn diese waren eindeutig in Notwehr abgegeben worden. Der Leiter der<br />

Sonderkommision ‘Ellen Campbell‘ beglückwünschte Kelly und Shawn zu ihrem Fang.<br />

„Die Frau wird garantiert nie wieder auf freien Fuß kommen. Wenn sie hier in Kalifornien<br />

vor Gericht gestellt wird, droht ihr sogar die Todesstrafe. Damit ist auch der letzte Täter in<br />

dieser grausamen Verbrechensabfolge endlich in Haft. Mr. McLean, Miss Jackson, ich wün-<br />

sche Ihnen beiden die Kraft, diese Geschichte zu verarbeiten. Vielen Dank für Ihre Koopera-<br />

tionsbereitschaft.“<br />

Er reichte Kelly und Shawn die Hand, dann konnten die beiden gehen. Jerry wartete im<br />

Wagen auf sie und fuhr zügig weiter zum Flughafen. Überpünktlich kamen sie dort an und<br />

verabschiedeten sich nun auf dem Parkplatz von Jerry. Sie nahmen ihm das Versprechen ab,<br />

in spätestens zwei Monaten nach Sydney zu kommen, zusammen mit Page, die bis dahin aus<br />

Europa zurück sein würde. Hoch und heilig gab Jerry dieses Versprechen ab. Dann umarmten<br />

sich die jungen Männer herzlich, auch Kelly und Jerry nahmen sich in die Arme und er flüs-<br />

terte ihr hastig ins Ohr:<br />

„Pass bitte weiter sehr gut auf Shawn auf!“<br />

902


Das versprach Kelly nur zu gerne. Arm in Arm standen sie und Shawn schließlich an der<br />

Zufahrtstraße und winkten Jerry nach, als dieser im Verkehr verschwand. Einen Moment noch<br />

sahen sie ihm hinterher. Doch dann zog Shawn Kelly in seine Arme und küsste sie. Lange und<br />

ohne sich um die Blicke zu kümmern, die ihnen zugeworfen wurden. Als ihre Lippen sich<br />

schließlich von einander lösten sah Shawn Kelly ernst an.<br />

„Jetzt bin ich frei. Carrie kann mir nie wieder etwas tun. Ich bin endlich frei!“<br />

Epilog<br />

Ach, spricht er, die größte Freud' ist doch die Zufriedenheit.<br />

Wilhelm Busch<br />

Mit gemischten Gefühlen betrat Kelly McLean den Vernehmungsraum 3. So lange hatte<br />

sie sich darum bemüht, ein Gespräch zugestanden zu bekommen, doch als es jetzt wirklich<br />

soweit war, waren die Gefühle der Therapeutin sehr ambivalent. Ihr Hass auf die Frau, die sie<br />

hier gleich interviewen würde, war im Laufe der Zeit nicht weniger geworden. Sie sah selten,<br />

doch immer wieder einmal, wie sehr Shawn teilweise noch immer unter der Entführung und<br />

dem, was er dort hatte erdulden müssen, litt. Es ging ihm im großen und ganzen hervorragend,<br />

er arbeitete, unternahm sehr viel mit Nat, flog ab und zu in die Staaten, um seine alten Freun-<br />

de zu sehen, doch die Ereignisse während der Entführung hatten ihn natürlich geprägt. Als<br />

Carrie damals in Sausalito aufgetaucht war, um den einzigen lebenden Zeugen ihrer Taten<br />

endgültig umzubringen, hatte Shawn keine Gelegenheit mehr gehabt, zu zielen. Er hatte drei<br />

Mal abgedrückt und zwei Kugeln ins Ziel gebracht. Carrie war schwer verletzt und damit aus-<br />

geschaltet gewesen. Für Shawn hatten die Schüsse keine Konsequenzen gehabt, da es ein kla-<br />

rer Fall von Notwehr gewesen war.<br />

Jetzt hier auf die Frau zu treffen, die Shawn all das angetan hatte, erforderte Kellys ganze<br />

Professionalität. Sie atmete noch einmal tief durch und setzte sich auf den Stuhl an der der<br />

Tür zu gewandten Tischseite. Das war Vorschrift, die Gefangenen saßen immer mit dem Rü-<br />

cken zur Wand. Kelly legte ihre Aktentasche auf den Tisch und wartete. Und dann hörte sie<br />

hinter sich die Tür aufgehen. Zwei Beamte betraten den Interviewraum und führten zwischen<br />

sich eine bildhübsche, dunkelblonde Frau mit auffallend dunklen Augen. Damals hatte sie sie<br />

Haare dunkel gefärbt, das hatte Shawn sehr richtig erkannt. Kelly wartete, bis die junge Frau<br />

auf den Stuhl ihr gegenüber gesetzt worden war. Erst jetzt wurden die Handfesseln, die die<br />

Hände der Gefangenen an einen Gürtel um ihre sehr schlanke Taille gefesselte hatten, gelöst.<br />

903


Einer der Beamten wollte sie an einem dafür vorgesehenen Haken an dem Tisch, der fest am<br />

Boden installiert war, fixieren. Ruhig erklärte Kelly jedoch:<br />

„Das wird nicht nötig sein, haben Sie vielen Dank, Officer.“<br />

Der Beamte warf ihr einen fragenden Blick zu und zuckte die Schultern. „Okay, Ma’am,<br />

wie Sie wollen. Wenn was ist, eine Wache steht vor der Tür.“<br />

Kelly nickte. „Ja, ich weiß Bescheid. Es wird nichts sein, da bin ich sicher.“<br />

Die Beamten verließen den Raum und Kelly war das erste Mal überhaupt mit der Serien-<br />

killerin allein. Einen Moment musterten sich die beiden Frauen, kalt, unversöhnlich. Die Psy-<br />

chologin war es schließlich, die das Schweigen brach.<br />

hast.“<br />

„So sieht man sich wieder, was? Freut mich, dass du so eine nette Unterkunft gefunden<br />

Die hübsche Frau ihr gegenüber grinste. „Schön, dass ich dir eine Freude machen kann.<br />

Wie geht es meinem Sklaven? Er war ja so geil, du machst dir keine Vorstellungen, wie sehr<br />

ich es geliebt habe, ihn schreien und weinen und um Gnade betteln zu hören. Er war der Bes-<br />

te!“<br />

Die Psychopathin achtete genau auf Kellys Reaktionen, doch diese ließ sich in keiner<br />

Weise von den Worten provozieren. Ruhig erklärte sie:<br />

„Es geht ihm hervorragend. Ich soll dich Grüßen. Er lässt fragen ob deine Wunden noch<br />

schmerzen.“ Kurz huschte ein Schatten über das Gesicht der blonden Mörderin. Kelly klopfte<br />

sich gedanklich auf die Schulter. „Wie geht es dir denn hier drinnen? Langweilig, oder? Keine<br />

jungen Männer, die du monatelang quälen kannst.“<br />

Jetzt huschte eindeutig ein Ausdruck von mörderischem Hass über Carries Gesicht. „Wa-<br />

rum lassen wir diese Spielchen nicht? Du warst es, die unbedingt mit mir reden wollte. Also,<br />

was willst du von mir?“<br />

Kelly ärgerte sich ein wenig über sich selbst. Sie hatte sich hinreißen lassen, das war nicht<br />

ihr Plan gewesen. Jetzt nickte sie langsam. „Du hast Recht, Ellen ... Oder sollte ich dich lieber<br />

weiter Carrie nennen? Was ist dir lieber?“<br />

Die Frau lachte ironisch. „Nenn mich Ellen, das tun hier ohnehin alle. Carrie war ja nur<br />

einer von vielen, vielen Namen, die ich nutzte.“<br />

„Okay, das ist eine gute Basis. Ich war es, die ein Gespräch mit dir suchte, wie du gerade<br />

feststelltest. Du weißt, dass ich Psychologin bin und dieses Interview als Recherche für ein<br />

Buch, das ich schreiben will, Schwerpunkt Opfer von Gewaltverbrechen, brauche. Ich habe<br />

dir genau geschrieben, was ich von dir möchte und du hast einem Gespräch zugestimmt. Also<br />

darf ich davon ausgehen, dass du kooperationsbereit bist? Sonst kann ich gleich wieder ver-<br />

schwinden.“<br />

Ellen sah die Therapeutin an. Möglichst gleichgültig meinte sie: „Ja, ja, ich bin kooperati-<br />

onswillig. Du kannst fragen was immer du willst. Ich bin schon froh, mal mit einem halbwegs<br />

904


intelligenten Menschen zu sprechen. Meine ... Kolleginnen hier sind ... Nun, sagen wir mal,<br />

sie sind für intelligente Menschen nicht gerade anregende Gesprächspartner.“<br />

Kelly lächelte. „Das kann ich mir vorstellen. Hast du etwas dagegen, wenn ich unser Ge-<br />

spräch aufzeichne?“<br />

Ellen lehnte sich entspannt zurück. Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Leg los.“<br />

Kelly nahm ein Diktiergerät aus der Aktentasche und legte es eingeschaltet auf den Tisch.<br />

Dann zog sie einen Block und einen Bleistift hervor.<br />

„Gut. Fangen wir mal ganz simpel an. Dein Name ist Ellen Campbell. Du wurdest am<br />

05.06.1978 in Missoula, Montana, geboren, ist das richtig?“<br />

Ellen nickte gelangweilt.<br />

„Dein Bruder, Mark, nicht Alan, wurde am 27.01.1974 geboren, richtig?“<br />

Erneut nickte die Blonde.<br />

„Ihr habt mit euren Eltern Theodore und Gillian bis 1989 in Missoula gewohnt, dann seid<br />

ihr nach Mobile, Alabama umgezogen.“<br />

Ellen legte erneut möglichst viel Gleichgültigkeit in ihre Stimme. „Hast gut recherchiert.“<br />

Kelly erwiderte ruhig: „Das gehört dazu. Du warst eine hervorragende Schülerin, wie dein<br />

Bruder. Yale. Das schafft noch lange nicht jeder. Ihr wurdet in eurer Kindheit nicht misshan-<br />

delt, sehe ich das richtig?“<br />

Ellen grinste. „Da wirst du mein Verhalten nicht begründet finden. Mum und Dad sind an-<br />

ständige Menschen. Sie haben ihr Bestes getan, Mark und mich zu verantwortungsvollen<br />

Menschen heran zu erziehen. Was sie nicht wussten, nicht wissen konnten, war, dass ich an-<br />

ders war. Ich habe schon sehr früh gelernt, mich zu verstellen. Niemand hat bemerkt, dass ich<br />

nicht das blonde Engelchen war als das alle mich gerne sahen.“ Ellen lachte schallend. „Wenn<br />

sie gewusst hätten, was mir schon mit zehn durch den Kopf ging ... Oh je.“<br />

Kelly sah die Frau an. „Was war es denn? Magst du mir davon erzählen?“<br />

Ellen legte bequem die Füße auf den Tisch. Sie schien nachzudenken. „Ich war in der<br />

glücklichen Lage, keine Empfindungen wie Scham, Mitleid oder schlechtes Gewissen zu ha-<br />

ben. Oh, nein, ich war keine typische Psychopathin. Ich bin als Kind nicht herum gelaufen<br />

und habe Tiere aufgeschlitzt. Aber ich habe großen Einfluss auf meine Freunde gehabt. Was<br />

immer ich vorschlug, sie taten alles, um mit mir befreundet zu sein. Ich habe mir zu Weih-<br />

nachten 88 einen Arztkoffer mit ein paar speziellen Sachen darin gewünscht, weißt du? Meine<br />

Eltern hatten die Hoffnung, dass ich mich für Medizin interessiere und später vielleicht ein-<br />

mal Ärztin werden würde. Sie schenkten mir den Koffer inklusive meiner Sonderwünsche.<br />

Von da an spielte ich mit meinen Freunden Arzt. Ich war die Chefärztin. Mark war mein As-<br />

sistent. Und unsere Freunde waren die Patienten. Und nie hat einer von ihnen mich oder Mark<br />

verraten.“ Ellen seufzte wohlig bei den Erinnerungen. „Wir haben es immer bei uns im Haus<br />

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machen können, da Mum und Dad gearbeitet haben. Sie haben nie auch nur den geringsten<br />

Verdacht geschöpft. Besonders viel Spaß hat es mit den Jungs aus meiner Klasse gemacht. Sie<br />

waren so willig. Mit den Mädels hat Dr. Mark sich beschäftigt. Mit vierzehn konnte ich jeden<br />

Jungen zu allem überreden. Und mit achtzehn haben sie mich auf Knien angefleht, sie zu fes-<br />

seln und einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen. Dafür durften sie mich vögeln.“<br />

Kelly war erstaunt, dass Ellen wirklich so locker davon berichtete. Sie fragte nach: „Was<br />

hast du denn mit ihnen gemacht? Doch sicher nicht das gleiche, was du später mit deinen Op-<br />

fern angestellt hast, oder?“<br />

„Ich fand schon ziemlich früh Spiele geil, die mit Luftreduktion zu tun hatten. Wir haben<br />

ertrinken gespielt, oder ersticken. Wenn die Jungs verzweifelt herum zappelten um sich zu<br />

befreien und Luft zu bekommen habe ich Gefühle gehabt, die ich als Kind natürlich noch<br />

nicht erklären konnte. Später wusste ich, dass ich dabei zum Orgasmus kam. Irgendwann aber<br />

wollte ich mehr. Als ich den ersten Jungen in Yale bat, sich von mir auspeitschen zu lassen,<br />

hat er sich leider geweigert. Daraufhin habe ich Kontakte zur BDSM Szene geknüpft. Erst<br />

schien es mir die Erfüllung all meiner dunklen Träume zu sein. Doch schnell hatte ich die<br />

Nase voll von devoten Sklaven, die immer dann, wenn ich gerade in Schwung kam, mit dem<br />

Safe-Wort um sich warfen. Ich lernte bald gleichgesinnte kennen. Männer, Frauen ... Sie wa-<br />

ren ähnlich veranlagt wie ich. Mark blieb bei mir, er hatte irgendwie den Tick, mich beschüt-<br />

zen zu müssen. In einer durchsoffenen Nacht kamen wir schließlich auf die Idee, einen jungen<br />

Mann zu entführen und an ihm unsere Bedürfnisse auszuleben. Der Erste war ein Fiasko. Ped-<br />

ro ... Den Nachnamen weiß ich nicht mehr. Wir haben ihn uns in Madrid geschnappt. Voll-<br />

kommen unvorbereitet. Wir schafften ihn über die Grenze und haben ihn in Frankreich in der<br />

Nähe von Louviers in einer Hütte, die wir zufällig im Wald entdeckten, ein paar Tage gefan-<br />

gen gehalten. Wir hatten nichts, keine Ausrüstung, keinen Plan, und so haben wir ihn schnell<br />

wieder entsorgt. Wir haben ihn in einen Wald geschafft und dort an einem Baum gefesselt<br />

und geknebelt zurück gelassen.“<br />

Kelly schüttelte es. Doch sie ließ sich nichts anmerken. „Das war dann wohl eine sehr<br />

spontane Aktion, darf ich annehmen?“<br />

Ellen lachte. „Kann man sagen. Meine damaligen Helfer haben einige Zeit herum gejam-<br />

mert, dass wir nun jemanden gekillt hätten. Andere jedoch waren wie elektrisiert, so wie ich.<br />

Mark ... Ihm war es egal, er tat, was ich wollte. Wir suchten uns dann gezielt ein leeres Haus,<br />

überprüften genau, ob sich da wirklich niemand blicken ließ und fanden schließlich eines.<br />

Etwas außerhalb, abgelegen und seit Jahren nicht mehr besucht. Mark, und die Typen vom<br />

ersten Mal richteten es für unsere Bedürfnisse her. Wir besorgten Spielzeug, Geräte, alles,<br />

was wir damals dachten, gebrauchen zu können. Wir schafften es in das Haus, machten im<br />

Keller zwei Räume fertig, einer war unser Folterkeller, der andere diente als Zelle für den<br />

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Gefangenen. Dann, einen Tag vor Weihnachten, ergab sich die Gelegenheit, den zweiten Jun-<br />

gen zu schnappen. Er war fünfundzwanzig, sah super aus und war mir schnell hörig. Wir ha-<br />

ben ihn bis Ende März behalten. Wir kamen alle voll auf unsere Kosten, das kann ich dir sa-<br />

gen. Tja, und so ging es weiter. Mark und ich bekamen immer mehr Routine. Gleichgesinnte<br />

suchen, Haus einrichten, Opfer suchen, das alles nahm Vorbereitungszeit in Anspruch und wir<br />

ließen uns immer Zeit, gründlich vorzugehen. Jeder von uns hatte reichlich Geld. Irgendwann<br />

stieß Eva zu uns. Dauerhaft. Eva hatte als Chirurgin sehr gut verdient und das Geld gut ange-<br />

legt. Durch sie lernten wir Stuart kennen. Stu stammte aus einem sehr reichen Elternhaus. Als<br />

letzter Dauergast kam schließlich Susan dazu. Sie hatte geerbt, sie war verheiratet gewesen,<br />

mit einem alten Sack, der ihr sein ganzes Vermögen hinterlassen hatte. Und Mark und ich ...<br />

Nun, ich bin eine geschickte Betrügerin, ich habe immer Männer gefunden, die mir ihr Geld<br />

nur zu gerne gaben. Als dann unsere Eltern bei einem Verkehrsunfall starben, erbten wir ein<br />

überraschend großes Vermögen. Mein Vater hatte ohne unser Wissen wirklich sehr viel Geld<br />

gespart. So konnten wir uns nun ganz unbesorgt unserem Hobby widmen. Ich war natürlich<br />

der Boss, es ging nach meinen Regeln. Ich habe die Häuser ausgesucht, die Männer, habe<br />

bestimmt, wann sie entsorgt wurden. Einige wurden schnell langweilig, andere ... Nun, andere<br />

hatten das Glück, mich lange gut zu unterhalten.“<br />

Kelly wusste, dass Ellen sie mit ihrer kalten Schilderung provozieren wollte. Doch in vie-<br />

len Interviews mit Serienstraftätern hatte sie gelernt, ruhig zu bleiben und keine Emotionen zu<br />

zeigen. So schaffte sie es auch diesmal, gelassen zu bleiben.<br />

„Kannst du dich erinnern, wie viele Männer es waren?“<br />

Ellen prustete scheinbar nachdenklich. Doch Kelly war sich sicher, sie wusste jedes ein-<br />

zelne Opfer, wusste die Namen, hätte sagen können, wo sie die Männer gefangen gehalten,<br />

gequält und letztlich getötete hatte. Die Psychopathin schüttelte jedoch den Kopf.<br />

„Nein, es waren viele, ich kann mich nicht erinnern ob zwanzig oder dreißig oder noch<br />

mehr. Ich habe ja schließlich kein Tagebuch geführt.“<br />

Innerlich musste die Therapeutin fast grinsen. Ellen wartete hier mit einer sehr viel höhe-<br />

ren Zahl auf. Sie gefiel sich in ihrer Rolle als Serientäterin offensichtlich sehr.<br />

„Warum hast du dir nur Männer geholt? War nie der Wunsch da, auch einmal eine Frau zu<br />

entführen?“<br />

Ellen schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Ich bin ja nicht lesbisch. Frauen sind lang-<br />

weilig. Männer dagegen ... Sie versuchen, sich zu wehren, wenn schon nicht aktiv, dann aber<br />

passiv. Sie versuchen, sich zu beherrschen. Es ist unglaublich erregend, ihren Widerstand zu<br />

brechen. Und wenn sie mir erst hörig waren ... Leider hat das nicht bei allen geklappt. Einige<br />

waren darunter, die sind nicht auf mich und mein Geschwafel herein gefallen.“ Die junge<br />

Frau lachte gehässig. „Shawn war derjenige, der am schnellsten bereit war zu glauben, dass er<br />

mir etwas bedeutete. Er hat sich lange gesträubt, einzusehen dass ich nichts für ihn empfand.“<br />

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Auch jetzt schaffte Kelly es, ruhig und sachlich zu bleiben. Sie fragte: „Warum hast du es<br />

getan? Woher rührt dein Hass auf Männer?“<br />

Ellen schüttelte den Kopf. „Das siehst du verkehrt. Ich hasse Männer nicht. Ich verachte<br />

sie. Aus tiefstem Herzen. Sie sind derart hormongesteuert, dass man so ziemlich alles von<br />

ihnen verlangen kann, wenn sie dafür nur ordentlich ficken dürfen. Du machst dir keine Vor-<br />

stellung davon, was einige von ihnen bereit waren zu ertragen, nur, um dann mit mir zu vö-<br />

geln oder sich von mir einen Blasen zu lassen. Ich habe schon die kleinen Jungs aus meiner<br />

Klasse verachtet. Sie wussten noch nicht einmal, was Sex ist, trotzdem waren sie bereit, sich<br />

von mir mit dem Kopf unter Wasser drücken zu lassen bis zur Besinnungslosigkeit, oder sich<br />

mit einer Plastiktüte über dem Kopf von mir fast ersticken zu lassen. Ich habe sie hinterher ein<br />

wenig verwöhnt, sie durften sich mit meinen Videospielen amüsieren, später dann meinen<br />

nackten Körper angaffen. Und schon waren sie bereit, mitzuspielen. Keiner von ihnen hat<br />

mich je verraten. Männer sind schwach. Sie verdienen es nicht besser als dass wir mit ihnen<br />

machen was wir wollen. Ich kriege die Krise, wenn ich höre, dass wir Frauen das schwache<br />

Geschlecht sind. Jede Frau ist im kleinen Zeh mehr wert als jeder Mann im ganzen Körper.“<br />

Kelly war überrascht. Hass sprach wirklich nicht aus Ellens Worten. Nur abgrundtiefe<br />

Verachtung.<br />

„Wann hast du gemerkt, dass du nicht bist wie andere Menschen?“<br />

Ellen strahlte. „Früh. Ich habe schon im Kindergarten gespürt, dass mir etwas fehlte. Da-<br />

mals habe ich es noch als Fehlen empfunden. Ich hatte Spaß daran, andere Kinder zu ärgern.<br />

Ihnen Sachen weg zu nehmen, sie zu schlagen, und dann die Betreuer zu belügen. Ich habe<br />

ihnen Naschereien weg genommen, Lieblingsspielsachen zerschlagen, Freundschaften ausei-<br />

nander gebracht. Anfangs war ich erschrocken, weil es mir nicht das Geringste ausmachte.<br />

Später habe ich es als Geschenk betrachtet. Kein schlechtes Gewissen zu haben, kein Mitge-<br />

fühl, ist unglaublich befreiend. Wo andere sich mit ihrem Gewissen herum gequält haben<br />

konnte ich lachen.“ Sie grinste kalt. „Du leidest mit deinen Patienten. Du wärest sehr viel ef-<br />

fektiver, wenn du nicht so grässlich philanthropisch wärest. Dein Mitleid für andere bremst<br />

dich aus. Ich habe damit keine Probleme. Ich habe schon sehr früh festgestellt, dass ich das<br />

wichtigste überhaupt bin. Was ich zur Befriedigung meiner Bedürfnisse machen muss, mache<br />

ich ohne Gewissensbisse. Ich brauche nicht darüber nachzudenken, ob ich jemandem weh tue.<br />

Physisch oder psychisch, ist vollkommen egal. Ich nehme mir, was immer ich will.“<br />

Kelly sah die Psychopatin ruhig an. „Du hast also all diese jungen Männer getötet, weil es<br />

dir Spaß gemacht hat?“<br />

Ellen überlegte kurz. „Eigentlich nicht. Ich tat es, weil ich es tun konnte. Niemand konnte<br />

mich aufhalten, auch mein Bruder nicht. Ich wollte es, ich konnte es und ich tat es. Spaß hat<br />

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es mir keinen bereitet, weil ich ja nicht dabei war wenn sie krepiert sind. Spaß hatte ich an<br />

ihnen, solange ich sie in meiner Gewalt hatte.“<br />

Die Therapeutin nickte verstehend. Sie hatte genug gehört. „Du hat auch keine Achtung<br />

für deinen Bruder, nehme ich an?“<br />

Ellen schüttelte den Kopf und stieß ein verächtliches Lachen aus. „Er ist ein gutes Werk-<br />

zeug gewesen in seiner Ergebenheit an mich. Er hat mir geholfen, hat aber genauso wenig<br />

bemerkt, dass er mir vollkommen egal war wie alle anderen Kerle auch. Er ist mir, solange<br />

ich zurück denken kann, nachgelaufen wie ein Hund. Ich habe immer genau so viel so getan<br />

als höre ich auf das, was er sagte, um ihn bei der Stange zu halten. Es war so leicht. Gegen<br />

mich kam keiner an. Ich bin ihnen allen haushoch überlegen, weißt du? Mein IQ ist überir-<br />

disch. Männer dienten mir immer nur als Objekte meiner persönlichen Befriedigung.“<br />

Kelly hatte natürlich ihr Wissen über Ellen Campbell auf den aktuellen Stand gebracht be-<br />

vor sie nach Huntsville geflogen war. Natürlich wusste sie auch über Mark Campbell Be-<br />

scheid. Ellens IQ lag bei 143. Durch die Art und Weise der Ausführung ihrer Taten zählte sie<br />

zu den machtorientierten, planvoll vorgehenden Serientätern. Nach dem über Jahrzehnte ge-<br />

sammelten Wissen der Behavioral Analysis Unit des FBI trafen bei Ellen Campbell viele Fak-<br />

toren der planvoll vorgehenden Serientäter zu. Sie war sehr intelligent, gebildet, hatte eine<br />

normale Kindheit gehabt, sich mit ihren Eltern verstanden, war in der Lage, sich sozial anzu-<br />

passen, wirkte freundlich, extrovertiert und liebenswürdig, wenn es ihren Zielen diente. Sie<br />

war perfekt darin, ihre fehlende Empathie vollkommen zu verbergen. Der einzige Mensch, für<br />

den sie etwas zu empfinden in der Lage war, war sie selbst. Narzisstisch und egoistisch hatte<br />

sie ihr Leben lang andere Menschen nur benutzt. Dabei hatte sie nicht einmal vor ihrem eige-<br />

nen Bruder Halt gemacht.<br />

„Du weißt, dass Mark in der Todeszelle auf seine Hinrichtung wartet, oder?“, fragte Kelly<br />

die Mörderin ruhig.<br />

„Ja, sicher. Und? Wo ist das Problem?“<br />

Der Therapeutin war klar, dass Ellen nichts dafür konnte, dass sie nicht imstande war,<br />

Mitleid zu empfinden. Dennoch jagte die vollkommene Gleichgültigkeit ihr einen Schauer<br />

über den Rücken.<br />

„Ach nichts. Ich denke, das war es wohl. Ich habe genug Informationen bekommen.“ Sie<br />

schaltete das Diktiergerät aus und griff nach dem Block, in dem sie sich zusätzliche Notizen<br />

gemacht hatte. Doch Ellen war offensichtlich noch nicht fertig.<br />

„Warte. Eine Frage habe ich auch an dich. Woher wusstest du, dass ich weiter versuchen<br />

würde, Shawn umzubringen? Wie, zum Teufel, hast du das geahnt?“<br />

Kelly steckte gelassen ihren Block und den Stift in die Aktentasche. Übertrieben langsam<br />

verschloss sie diese. Erst dann sah sie Ellen wieder an und grinste.<br />

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„Weißt du, letztlich seid ihr alle gleich dämlich. Es bedarf keines hohen IQ’s, um euch zu<br />

kennen. Du konntest gar nicht ab lassen. Dein Verhalten war leicht zu durchschauen. Eine<br />

Niederlage durch einen Mann konntest du nicht ertragen. Daher war es für dich zwanghaft,<br />

nach Shawn zu suchen und ihn doch noch zu töten, oder töten zu lassen. In Sausalito habe ich<br />

nicht mit dir gerechnet, aber mir war immer klar, dass, solange du auf freiem Fuß bist, du je-<br />

derzeit überall würdest auftauchen können. Du magst vielleicht hochintelligent sein, aber ei-<br />

gentlich bist du dumm wie Brot.“<br />

Ellen wirkte plötzlich angespannt. Sie fixierte Kelly kalt und sagte leise: „Willst du wis-<br />

sen, was ich am liebsten machen würde?“<br />

Die Psychologin erwiderte gelangweilt: „Nein, aber ich werde es sicher trotzdem gleich<br />

erfahren.“<br />

Ellen grinste. „Ja, Lady, ich lasse dich an meinen geheimen Wünschen teilhaben. Ich wür-<br />

de dir am liebsten so richtig kräftig in den Arsch treten.“<br />

Kelly lächelte sanft. Sie wusste genau, dass es falsch war, doch sie konnte sich nicht be-<br />

herrschen; letztlich war sie auch nur ein Mensch.<br />

„Das kommt meinen Wünschen sehr entgegen.“ Sie erhob sich langsam und trat zur Seite.<br />

Dann machte sie mit dem rechten Zeigefinger eine lockende Bewegung. „Na komm, nur keine<br />

Hemmungen.“<br />

Ellen erhob sich langsam, lauernd, trat um den Tisch herum und knurrte: „Ich werde dir<br />

den Schädel einschlagen.“ Und schon griff sie an!<br />

Die Therapeutin ließ Ellen kommen und wich dann blitzschnell zur Seite. In der Bewe-<br />

gung holte sie aus und drosch der Angreiferin die Faust unter das Kinn. Ellen taumelte zurück<br />

und rammte dabei den Stuhl. Dieser rutschte scheppernd bis an die Wand, was die Wache vor<br />

der Tür alarmierte. Die Tür wurde aufgerissen und der Beamte stürzte in den Raum.<br />

„Was ist hier los?“<br />

Kelly erwiderte ruhig: „Nichts, was ich nicht geregelt bekomme.“<br />

Ellen hatte sich aufgerappelt und kam erneut auf Kelly zu, deutlich vorsichtiger diesmal.<br />

Der Officer stutzte, überlegte kurz und nickte schließlich ruhig.<br />

„Okay, da bin ich aber beruhigt.“ Er beobachtete von der Tür aus gelassen, wie die Thera-<br />

peutin in einem heftigen Kampf kurzen Prozess mit der Gefangenen machte. Einige andere<br />

Gefängniswärter waren inzwischen ebenfalls aufmerksam geworden, doch als sie in den<br />

Raum stürzten und hier sahen, dass die junge Psychologin keinerlei Probleme damit hatte,<br />

Ellen Campbell in ihre Schranken zu verweisen, warteten sie ruhig ab. Kelly fing sich zwar<br />

einige schmerzhafte Treffer, doch sie gewann gegen die größere Gegnerin schnell die Ober-<br />

hand. Sie hatte keine Hemmungen, Ellen nach Strich und Faden fertig zu machen.<br />

„Das ist für Shawn, du Miststück.“, keuchte sie, als ein letzter Haken die Mörderin am<br />

Kinn traf und diese endgültig zu Boden schickte.<br />

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Schwer atmend und sich mit einer wütenden Geste Blut von der aufgeplatzten Lippe wi-<br />

schend, stand sie über Ellen und musste sich beherrschen, um die besiegte Gegnerin nicht<br />

weiter zu schlagen. Stattdessen drehte sie sich zum Tisch herum, griff nach ihrer Aktentasche<br />

und erklärte:<br />

„Ich glaube, ich bin hier fertig. Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen. Es war mir ein<br />

Vergnügen.“ Ohne Ellen Campbell noch eines Blickes zu würdigen drehte Kelly sich herum<br />

und verließ in Begleitung eines Officers den Raum.<br />

„Es war uns ein Vergnügen, dabei zuzusehen, wie dieses Miststück von Ihnen fertig ge-<br />

macht wurde. Sie können jederzeit wieder kommen und das Gespräch fort setzen.“<br />

Kelly warf noch einen letzten Blick auf Ellen, die diesen hasserfüllt erwiderte. Ruhig sagte<br />

die Therapeutin:<br />

„Ich bleibe bis zur Urteilsverkündung in der Stadt. Es gab Zeiten, da habe ich mir ge-<br />

wünscht, auch du würdest in der Todeszelle enden. Doch im Grunde wäre das viel zu einfach.<br />

Wenn du den Rest deines jämmerlichen Lebens hier in einer Zelle vor dich hin vegetieren<br />

müsstest, wäre das eine viel angemessenere Strafe für dich. Du bist zu bedauern.“ Sie drehte<br />

sich herum und verließ endgültig den Interviewraum. Sie hatte alles gesagt und erfahren, was<br />

sie hatte sagen und erfahren wollen. Es war an der Zeit, einen Schlussstrich unter Carrie zu<br />

ziehen. Im Hotel wartete Shawn auf sie und Kelly hatte nur noch den Wunsch, zu ihm zurück<br />

zu kommen. Gemeinsam würden sie auch die letzten Überbleibsel der Entführung verwinden<br />

und ein glückliches, zufriedenes Leben führen.<br />

E N D E<br />

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