die linke. münster - Draußen
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Interview | Text: Jörg Pöpping und Thorsten Enning | Foto: Jörg Pöpping<br />
Klagenflut bei Sozialgerichten<br />
Interview mit Sozialrichter Pauli<br />
In letzter Zeit werden <strong>die</strong> bundesdeutschen<br />
Sozialgerichte von einer Klagewelle<br />
überrollt, <strong>die</strong> kaum noch zu bewältigen<br />
ist, was nicht zuletzt an der<br />
fehlerhaften Gesetzgebung der Hartz-<br />
IV-Reform liegt. In Berlin zum Beispiel<br />
wird beabsichtigt zig neue Sozialrichter<br />
einzustellen, damit der Aktenberg<br />
der eingereichten Klagen, der mittlerweile<br />
bei einer Viertelmillion liegt,<br />
überhaupt abgebaut werden kann.<br />
Zudem wird deutlich, dass <strong>die</strong> Gerichte<br />
immer öfter zu Gunsten der Klagenden<br />
entscheiden. Jörg Pöpping und Thorsten<br />
Ennig befragten den Sozialrichter<br />
am Gericht in Münster Hans-Ulrich<br />
Pauli zu <strong>die</strong>ser brisanten Entwicklung.<br />
~: Wie lange sind Sie jetzt schon<br />
der Vizepräsident des Sozialgerichts<br />
Münster?<br />
Pauli: Ich bin beim Sozialgericht Münster<br />
seit dem 1.7.1999 als Vizepräsident<br />
tätig. Vizepräsident bedeutet, dass ich<br />
Stellvertreter des Gerichtsleiters bin, also<br />
ich bin nicht der oberste Richter, sondern<br />
nur der Stellvertreter von Herrn<br />
Straatmann, dem Gerichtspräsidenten.<br />
Als Vizepräsident habe ich sowohl richterliche<br />
Tätigkeiten als auch Verwaltungsaufgaben<br />
zu übernehmen. Das Gericht<br />
muss sich selbst verwalten, d. h.,<br />
es muss Personal zu Verfügung gestellt<br />
werden oder sachliche Mittel bereit stehen.<br />
Diese und andere gewichtige Aufgaben<br />
liegen im Verantwortungsbereich<br />
der Gerichtsverwaltung.<br />
~: Die Rechtssprechung ist das<br />
schwerste, was sich denken lässt. Wie<br />
kam es zu der Entscheidung nach dem<br />
Jurastudium den Weg des Richters einzuschlagen<br />
und was waren <strong>die</strong> genauen<br />
Beweggründe?<br />
Pauli: Ich war schon vor dem Jurastudium<br />
entschlossen Richter zu werden. Gereizt<br />
hat mich am Richterberuf immer<br />
<strong>die</strong> richterliche Unabhängigkeit, <strong>die</strong> es<br />
dem Vorsitzenden ermöglicht, bei den<br />
entsprechenden Ermittlungsmethoden<br />
oder der Entscheidungsfindung keinen<br />
Weisungen unterworfen zu sein. Das<br />
heißt, <strong>die</strong> Bearbeitung eines Streitfalls<br />
obliegt mir ganz allein und im Rahmen<br />
der rechtlich zulässigen Grenzen kann<br />
ich dann <strong>die</strong> erforderlichen Ermittlungen<br />
durchführen. Und bei meiner Entscheidung<br />
bin ich nur an Recht und Gesetz<br />
gebunden, sodass niemand - auch<br />
der Gerichtspräsident - mir keine Weisungen<br />
erteilt, wie ich einen bestimmten<br />
Fall zu entscheiden habe. Im Übrigen empfinde<br />
ich <strong>die</strong> Rechtssprechung nicht als<br />
das Schwierigste, was sich denken lässt.<br />
Natürlich gibt es einfache und schwierige<br />
Fälle; sogar Fälle, bei denen man sich<br />
auf einem schmalen Grat befindet und<br />
nicht mit Sicherheit sagen kann: Das ist<br />
<strong>die</strong> richtige Entscheidungsmöglichkeit.<br />
Aber das gehört halt auch zum richterlichen<br />
Beruf. Und ich persönlich vertrete<br />
den Standpunkt: Aufgabe des Richters<br />
ist es schwierige Fälle zu bearbeiten<br />
oder eine schwierige Entscheidung zu<br />
treffen. Aber das Schlimmste für einen<br />
Betroffenen ist es, wenn der Richter<br />
nicht entscheidet. Gegen eine falsche<br />
Entscheidung kann man sich wehren,<br />
wenn keine Entscheidung erfolgt, ist es<br />
für den Betroffenen ganz schlimm.<br />
~: Nach Angaben der ARGE Münster<br />
werden jährlich 2000 Widerspruchsverfahren<br />
anhänglich gemacht. Deckt<br />
sich <strong>die</strong> Zahl mit der in Ihrer Kammer zu<br />
verhandelten Klagen und wie hoch ist<br />
<strong>die</strong> derzeitige Quote der positiv beschiedenen<br />
Hartz-IV- Verfahren?<br />
Pauli: Die Zahl der Widerspruchsverfahren<br />
lässt sich nicht decken mit der Zahl<br />
der Klageverfahren, <strong>die</strong> wir haben. Das<br />
Sozialgericht Münster ist ja nicht nur für<br />
<strong>die</strong> Stadt Münster zuständig, sondern<br />
auch für <strong>die</strong> vier Münsterlandkreise Borken,<br />
Coesfeld, Steinfurt und Warendorf.<br />
Wir hatten im Jahre 2008 aus dem Bereich<br />
der ARGE Münster 247 Klagen und<br />
88 Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz.<br />
Genauer gesagt: etwas mehr als<br />
ein Zehntel der Widerspruchsverfahren<br />
kommt dann auch zum Klageverfahren.<br />
Das hängt ja auch damit zusammen,<br />
dass manche Widerspruchsverfahren erfolgreich<br />
sind. Oft lenkt <strong>die</strong> Behörde im<br />
Vorfeld noch rechtzeitig ein, sodass es<br />
viele Klagen erst gar nicht ins Ermittlungsverfahren<br />
schaffen. Zur Erfolgsquote<br />
in Münster ist es so, dass <strong>die</strong> Rechtsbehelfe<br />
eine Zahl von 38,8% aufzeigen.<br />
Teilweise oder auch voller Erfolg, das<br />
wird bei uns zusammengefasst. Die<br />
bundesweite Quote liegt bei etwa 47.2%.<br />
So liegt Münster unter den Zahlen des<br />
Bundesdurchschnitts.<br />
~: Die Ursachen für <strong>die</strong> enorme<br />
Zahl der Klagen zu Hartz-IV sind vielfältig.<br />
In erster Linie ergeben sie sich aus<br />
der gesellschaftlichen Realität, dass viele<br />
Menschen auf das Arbeitslosengeld II<br />
angewiesen sind. Allein <strong>die</strong> große Zahl<br />
der von den Behörden erlassenen Bescheide<br />
in <strong>die</strong>sem Bereich bringt einen<br />
erheblichen gerichtlichen Klärungsbedarf<br />
mit sich. Wie kann man dem entgegenwirken?<br />
Pauli: Ich will es mal so sagen: Mit<br />
rechtlichen Mitteln wird man dem kaum<br />
entgegenwirken können und deshalb<br />
denke ich, dass man den Ansatzpunkt<br />
woanders suchen muss. Das Beste wäre,<br />
wenn man den Leistungsbezieher in Arbeit<br />
vermittelt und <strong>die</strong>ser dann erst gar<br />
nicht auf <strong>die</strong> staatliche Grundversorgung<br />
angewiesen ist. So wie das SGB II<br />
ausgelegt ist, ist es ein sehr kompliziertes<br />
Gesetz. Ob man es hätte einfacher<br />
gestalten können, wage ich zu bezweifeln,<br />
da einige Fallgestaltungen zu berücksichtigen<br />
gibt, <strong>die</strong> zwangsläufig zu<br />
Streitverfahren führen können. Zum<br />
Schutze der Verwaltung muss ich hinzufügen,<br />
dass es sich hier um eine Massenverwaltung<br />
handelt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Bescheide<br />
nur so herauswirft. Da sehe ich<br />
im rechtlichen Bereich kaum Möglichkeiten<br />
gegen <strong>die</strong>sen Aktenberg anzukommen.<br />
Das ist vom Gesetzgeber so ausgelegt:<br />
Wenn Sie zum Beispiel <strong>die</strong> Konstruktion<br />
der Bedarfsgemeinschaft sehen,<br />
dann scheidet einer aus oder ein anderer<br />
bezieht wieder ein geregeltes Ein-