Der 11. September 2001 - Bundesamt für Bevölkerungsschutz und ...
Der 11. September 2001 - Bundesamt für Bevölkerungsschutz und ...
Der 11. September 2001 - Bundesamt für Bevölkerungsschutz und ...
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NV 4/2005<br />
Die Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Bevölkerungsschutz</strong><br />
<strong>und</strong> Katastrophenhilfe<br />
NOTFALLVORSORGE<br />
Aus dem Inhalt<br />
Biologische Gefahren<br />
<strong>für</strong> die Tierwelt<br />
<strong>Der</strong> <strong>11.</strong> <strong>September</strong> <strong>2001</strong>:<br />
Gibt es eine<br />
alteuropäische Sicht?<br />
Zivilschutzforschungsprojekt<br />
Gefahrenreduzierung<br />
Sicherheitsmanagement<br />
bei Hilfswerken<br />
Deutschland muss<br />
mehr Verantwortung<br />
übernehmen <strong>für</strong> den<br />
Frieden in der Welt
Bitte aus Heft 3/2005 übernehmen!<br />
Anzeigen:<br />
aqua alta <strong>und</strong><br />
Steuerratgeber öffentlicher Dienst 2006
4<br />
5<br />
10<br />
15<br />
20<br />
22<br />
24<br />
26<br />
34<br />
38<br />
40<br />
42<br />
Inhalt<br />
Benötigt der Katastrophenschutz wieder Veterinärzüge?<br />
<strong>Der</strong> <strong>11.</strong> <strong>September</strong> <strong>2001</strong> – Gibt es eine alteuropäische Sicht?<br />
Veränderte Rahmenbedingungen der Internationalen<br />
Zusammenarbeit – Einführung in die Sicherheitssituation<br />
heute<br />
Zivilschutzforschungsprojekt Gefahrenreduzierung<br />
Einige Gedanken zum Sicherheitsmanagement<br />
bei Hilfswerken<br />
Notfallvorsorge <strong>und</strong> Katastrophenschutz<br />
im Spiegel der Gesetzgebung<br />
Betrachtungen zum Katastrophenschutz<br />
Jenseits des Alltäglichen – Organisationstheoretische<br />
Untersuchung zur Katastrophenabwehr<br />
Humanitäre Hilfe in Afghanistan – Lebensrettende Hilfe<br />
deutscher Organisationen<br />
Die Schieflage der Friedenskonsolidierung in Afghanistan<br />
– eine Herausforderung <strong>für</strong> die „Große Koalition“<br />
Darfur – Bürgerkrieg <strong>und</strong>/oder „Schleichender Genozid?“<br />
Staatsminister Erler: Falls notwendig, EU-Sanktionen<br />
gegen Täter im Sudan<br />
www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Impressum<br />
Die Autoren dieser Ausgabe<br />
• Peter Buchner, Fregattenkapitän, Dozent am<br />
Zentrum Innere Führung<br />
Dr. Wolf R. Dombrowsky, Katastrophenforschungsstelle<br />
Universität Kiel<br />
Dr. Dirk Freudenberg M.A., Leiter des Akademiestabes<br />
<strong>B<strong>und</strong>esamt</strong> <strong>für</strong> <strong>Bevölkerungsschutz</strong> <strong>und</strong><br />
Katastrophenhilfe Akademie <strong>für</strong> Krisenmanagement,<br />
Notfallplanung <strong>und</strong> Zivilschutz<br />
Ulrich Keller, Deutsche Gesellschaft <strong>für</strong> die<br />
Vereinten Nationen e.V.<br />
Klaus Liebetanz, Fachberater <strong>für</strong> Katastrophenmanagement,<br />
Verden<br />
Philipp Reber M.A., Ethnologe <strong>und</strong> Historiker,<br />
Sicherheitsberater bei der Caritas Schweiz<br />
Martin Schmidt, Kreisbereitschaftsleiter des<br />
Bayerischen Roten Kreuz, Kreisverband Kronach,<br />
Örtlicher Einsatzleiter des Katastrophenschutzes<br />
des Landkreises Kronach<br />
Manfred Schubert, Angestellter im höheren<br />
feuerwehrtechnischen Dienst im Leitungsstab der<br />
Berufsfeuerwehr Hamburg<br />
Ralph Stühling, Kreisbrandinspektor am Brand<strong>und</strong><br />
Katastrophenschutzamt Landkreis Darmstadt<br />
Dieburg <strong>und</strong> Vorsitzender FA-Katastrophenschutz<br />
Landesfeuerwehrverband Hessen<br />
Dr. Rudolf Wandel, Ministerialrat a. D., Rechtsanwalt,<br />
ausgewiesener Experte auf dem Gebiet<br />
Zivilschutz <strong>und</strong> Notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge<br />
Die Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Bevölkerungsschutz</strong><br />
<strong>und</strong> Katastrophenhilfe<br />
ISSN 0948-7913, 36. Jahrgang<br />
Begründet von Rolf Osang<br />
Die in den Beiträgen dieser Zeitschrift vertretenen<br />
Auffassungen der Autoren stellen deren Meinungsäußerung<br />
dar. Sie müssen nicht identisch sein mit<br />
denen ihrer Institution, der Redaktion oder des Verlages.<br />
Copyright <strong>und</strong> Nachdruck<br />
© Walhalla u. Praetoria Verlag GmbH & Co. KG,<br />
Regensburg/Berlin; Alle Rechte, insbesondere das<br />
Recht zur Vervielfältigung <strong>und</strong> Verbreitung sowie der<br />
Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf<br />
in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Datenübertragung<br />
oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche<br />
Genehmigung des Verlages produziert oder<br />
unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert,<br />
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.<br />
Produktion: Walhalla Fachverlag, 93042 Regensburg<br />
Satz: setz it. Richert GmbH, Sankt Augustin<br />
Druck: Grafischer Betrieb Don Bosco, Ensdorf<br />
Printed in Germany<br />
Verlag/Redaktion/K<strong>und</strong>enbetreuung<br />
Walhalla Fachverlag, Haus an der Eisernen Brücke,<br />
93042 Regensburg, Tel.: 0941 / 56 84-0, Fax: 56 84 111<br />
E-Mail: steckenleiter.eva-maria@walhalla.de<br />
Internet: www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Manuskripte, ausschließlich Erstveröffentlichungen,<br />
nimmt die Redaktion gerne entgegen.<br />
Erscheinungsweise <strong>und</strong> Bezugsbedingungen<br />
Die „Notfallvorsorge“ erscheint 4-mal jährlich. Bestellungen<br />
direkt beim Verlag. Jahresbezugspreis<br />
30 Euro. Die Aufnahme des Abonnements ist jederzeit<br />
möglich <strong>und</strong> erfolgt zum anteiligen Preis <strong>für</strong> ein<br />
Jahresabonnement. Einzelhefte sind zum Preis von<br />
8 Euro (zzgl. Versandkosten) lieferbar. Kündigungen<br />
<strong>für</strong> das folgende Kalenderhalbjahr müssen mindestens<br />
drei Monate vor Jahresende schriftlich im Verlag<br />
vorliegen. Bei Nichterscheinen der Zeitschrift im<br />
Falle höherer Gewalt erlischt jeder Anspruch auf Nachlieferung<br />
<strong>und</strong> Rückerstattung einer bereits geleisteten<br />
Zahlung. Irrtum <strong>und</strong> Preisänderungen vorbehalten.<br />
Titelfoto: „Italienische Hühnchen sind sicher.“<br />
Werbung am Flughafen Fiumicino, Rom. REUTERS,<br />
Max Rossi<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 3
Benötigt der Katastrophenschutz<br />
wieder Veterinärzüge?<br />
Ralph Stühling, Kreisbrandinspektor am Brand- <strong>und</strong> Katastrophenschutzamt<br />
Landkreis Darmstadt Dieburg <strong>und</strong> Vorsitzender FA-Katastrophenschutz<br />
Landesfeuerwehrverband Hessen<br />
Die Aufgabenstellung des Katastrophenschutzes hat sich in den letzten<br />
Jahren erheblich verändert. <strong>Der</strong> politische Wandel Anfang der 90-er Jahre<br />
in Europa bedeutete einen gravierenden Abbau des erweiterten Katastrophenschutzes<br />
(Zivilschutz) <strong>für</strong> den Verteidigungsfall. Die neue Zielrichtung<br />
ergab sich aus den zahlreichen Naturkatastrophen <strong>und</strong> den bekannten<br />
industriellen Gefahrenschwerpunkten. Verb<strong>und</strong>en mit den Terroranschlägen<br />
wuchs auch die Bedeutung der Gefahrenabwehr <strong>für</strong> biologische Gefahren.<br />
Diese erstrecken sich aber nicht nur auf den Menschen, sondern<br />
auch auf die Tierwelt. Da die Aufgabe in diesem Bereich erheblich gestiegen<br />
ist, stellt sich die Frage, ob der Katastrophenschutz wieder Veterinärzüge<br />
(VZ) benötigt.<br />
Mit dem Aufbau des Katastrophenschutzes<br />
im Rahmen des Zivilschutzes<br />
wurde auch Ende der 50-er Jahre<br />
der Veterinärdienst eingeführt. Dieser<br />
Fachdienst stellte im damaligen<br />
Luftschutzhilfsdienst (LSHD) eine Besonderheit<br />
dar. Die Einheiten Veterinärzug<br />
waren nicht flächendeckend<br />
vorhanden <strong>und</strong> bauten auf so genannte<br />
Regieeinheiten auf. Dies bedeutete,<br />
sie hatten keine Bindung zu<br />
Feuerwehr, Technischem Hilfswerk<br />
oder Hilfsorganisationen. Wegen der<br />
Struktur der Viehhaltung auf dem<br />
Lande waren die Veterinärzüge in erster<br />
Linie als bewegliche, überörtliche<br />
Einheiten geplant. Die Aufgabenstellung<br />
der Veterinärzüge ergab sich aus<br />
den Regeln <strong>und</strong> Vorschriften des <strong>B<strong>und</strong>esamt</strong>es<br />
<strong>für</strong> Zivilschutz (BZS) <strong>und</strong><br />
war auf die Schadenswirkung aller<br />
Luftangriffmittel ausgerichtet. <strong>Der</strong><br />
überörtliche LS-Veterinärzug gliederte<br />
sich in eine Führungsgruppe, drei<br />
Tabelle<br />
B<strong>und</strong>esland VZ-Anzahl<br />
Niedersachsen 14<br />
Nordrhein-Westfalen 20<br />
Hessen 2<br />
Rheinland-Pfalz 2<br />
Saarland 2<br />
Baden-Württemberg 13<br />
Bayern 4<br />
Gesamt 57<br />
Fachgruppen <strong>und</strong> einer Stärke von<br />
1/3/22 = 26 Personen. Als Führungskräfte<br />
waren insgesamt 4 Tierärzte<br />
vorgesehen <strong>und</strong> Helfer nur mit Berufsausbildung<br />
aus dem Sachgebiet.<br />
<strong>Der</strong> erweiterte Katastrophenschutz<br />
(ZS) ab dem Jahr 1968 hat den Veterinärdienst<br />
vom LSHD übernommen.<br />
Die Einheit erhielt eine neue Zuggliederung<br />
mit der STAN Nr. 071 <strong>und</strong><br />
der Stärke 1/4/11 = 16 Personen. Für<br />
die Ausbildung der Einheit wurde<br />
1971 die Dienstvorschrift KatS-DV<br />
711 eingeführt. Nach der letzten Planung<br />
des B<strong>und</strong>es sollten insgesamt<br />
76 Veterinärzüge aufgestellt werden.<br />
Die Erhebung jedoch ergab einen Ist-<br />
Bestand von 57 Veterinärzügen (siehe<br />
Tabelle). Die Veterinärzüge waren<br />
ausschließlich Regieeinheiten <strong>und</strong><br />
nur geringfügig ausgestattet. Alle<br />
Fahrzeuge der Einheit waren zu beordern.<br />
Diese Entwicklung bedeutete<br />
somit, dass sich dieser Fachdienst<br />
von der Katastrophenschutzkarte verabschiedete.<br />
<strong>Der</strong> Aufbau eines neuen Fachdienstes<br />
Veterinärwesen ist aus heutiger<br />
Sicht nicht mehr sinnvoll <strong>und</strong><br />
möglich. Eine enge Verbindung <strong>und</strong><br />
Verzahnung mit landwirtschaftlichem<br />
Personal ist nicht möglich, da dieser<br />
Bereich einem fortlaufenden, gravierenden<br />
Veränderungsprozess unterliegt.<br />
<strong>Der</strong> Aufgabenbereich hat sich<br />
verändert, da eine Tierseuche heute<br />
mit einem Störfall in einer Industrieanlage<br />
vergleichbar ist. Hier müssen<br />
betriebliche Einrichtungen greifen,<br />
um den Schaden zu begrenzen <strong>und</strong><br />
einen schnellstmöglichen Weiterbetrieb<br />
zu gewährleisten. Letztendlich<br />
ist doch nicht auszuschließen, dass<br />
die Feuerwehr im Rahmen „Amtshilfe”<br />
die Veterinärverwaltung bei deren<br />
Maßnahmen zur Gefahrenabwehr<br />
unterstützt.<br />
Hierbei ist aber insbesondere die<br />
zuvor genannte personelle Belastung<br />
zu beachten. Weiterhin müssen die<br />
Behörden auf Fachbetrieb zurückgreifen<br />
<strong>und</strong> <strong>für</strong> einen ausreichenden<br />
Selbstschutz sorgen. Eine Erweiterung<br />
des Katastrophenschutzes um<br />
einen Veterinärzug ist deshalb nicht<br />
erforderlich.<br />
Die heutigen biologischen Gefahren<br />
von Milzbrand (Antrax), Maul- <strong>und</strong><br />
Klauenseuche (MKS), Eichenprozessionsspinner<br />
(EPS) oder Vogelgrippe<br />
stellen eine besondere Herausforderung<br />
<strong>für</strong> die Fachbehörden dar. Geeignete<br />
Einheiten <strong>und</strong> Einrichtungen<br />
<strong>für</strong> größere Maßnahmen bei einem<br />
Schadensereignis sind nicht vorhanden.<br />
Oft fehlen schon die geringsten<br />
technischen Voraussetzungen <strong>für</strong><br />
Erstmaßnahmen <strong>und</strong> Untersuchungen.<br />
Hilfe wird von den (G) ABC-Einheiten<br />
der Feuerwehr erwartet. Diese<br />
Einheiten waren <strong>und</strong> sind jedoch im<br />
Wesentlichen auf die Gefahrenabwehr<br />
im A- <strong>und</strong> C-Bereich ausgestattet<br />
<strong>und</strong> ausgebildet. Die Aufgabenstellung<br />
von B-Gefahren im landwirtschaftlichen<br />
Bereich kann weder<br />
personell, noch technisch bewältigt<br />
werden. In den letzten Jahren wurden<br />
deshalb zusätzliche Ausstattungen<br />
(provisorische Dekon-Schleusen)<br />
<strong>für</strong> Fahrzeuge beschafft. Die größte<br />
Schwierigkeit stellt aber eine ausreichende<br />
Personalstärke dar, die bei<br />
solchen Einsätzen im größerem Umfang<br />
<strong>und</strong> längerem Zeitraum erforderlich<br />
ist. Einzelne Schadensereignisse<br />
können in überregionaler Zusammenarbeit<br />
bewältigt werden. Ein<br />
Ausbruch einer b<strong>und</strong>esweiten Tierseuche<br />
kann aber weder personell, noch<br />
technisch mit den vorhandenen (G)<br />
ABC-Einheiten bewältigt werden.<br />
4 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
Foto: creativcollection<br />
<strong>Der</strong> <strong>11.</strong> <strong>September</strong> <strong>2001</strong> –<br />
Gibt es eine<br />
alteuropäische Sicht?<br />
Wolf R. Dombrowsky, Katastrophenforschungsstelle Universität Kiel<br />
„Das ist altes Europa. Wenn Sie sich heute Nato-Europa ansehen, dann<br />
verlagert sich der Schwerpunkt nach Osten“ (Rumsfeld 2003), – hin zu den<br />
neuen EU-Mitgliedern <strong>und</strong> hin zur Türkei, deren EU-Mitgliedschaft die USA<br />
forcieren, zugleich auch hin zu Mitgliedern, die der „Koalition der Willigen“<br />
angehören, also den Be<strong>für</strong>wortern eines Krieges, den die USA nach dem<br />
<strong>11.</strong> <strong>September</strong> <strong>2001</strong> gegen den internationalen Terrorismus <strong>und</strong> <strong>für</strong> eine<br />
neue Weltordnung organisieren.<br />
Die Unterscheidung in „alte“ <strong>und</strong><br />
„neue“ Europäer, die Donald Rumsfeld<br />
in einer Pressekonferenz (22. Januar<br />
2003) vornahm, löste vor allem<br />
bei den „alten“ Europäern, Deutschland<br />
<strong>und</strong> Frankreich, diplomatische<br />
Irritationen aus. Man sah darin eine<br />
gezielte Provokation, die Aussaat von<br />
Zwietracht, gar einen Spaltungsversuch.<br />
Den ungewollten positiven Nebeneffekt<br />
sah man anfangs nicht:<br />
Europa diskutierte mit Verve über<br />
sein Selbstverständnis, über seine<br />
Identität <strong>und</strong> damit auch über seine<br />
Wurzeln – sogar intensiver als während<br />
der Verfassungsgebung.<br />
Die Wurzeln Europas werden gern<br />
bis zur griechischen Antike zurückverfolgt,<br />
der so genannten „Wiege“<br />
der Demokratie. Dabei übersieht<br />
man, dass die politischen Kämpfe<br />
zwischen Demoi <strong>und</strong> Eupatriden<br />
nicht die Geburtsst<strong>und</strong>e von Demokratie<br />
war, sondern der blutige Kampf<br />
um Vorherrschaft. Auch damals<br />
schon ging es um den Zugang zu<br />
Positionen, um Verteilungsmacht <strong>und</strong><br />
um das zu Verteilende selbst.<br />
Noch lieber wird darüber hinweggesehen,<br />
dass die Herleitung von<br />
Demokratie <strong>und</strong> abendländischem<br />
Denken aus der griechischen Antike<br />
schiere Ideologie ist. Das mögen die<br />
Lordsiegelbewahrer solcher Ideologie,<br />
allen voran Silvio Berlusconi <strong>und</strong><br />
Oriana Fallaci, vehement bestreiten,<br />
indem sie Dante gegen Averroes oder<br />
gegen Omar Chajjam aufwiegen <strong>und</strong><br />
damit die eigene Kultur über die aller<br />
anderen stellen. Von solcher Überlegenheitssehnsucht<br />
sollten vor allem<br />
wir Deutschen geheilt sein – <strong>und</strong> vorbeugend<br />
immer wieder Alfred Adler<br />
beherzigen, wenn uns vermeintlich<br />
Superiore einreden wollen, es gäbe<br />
Inferiore, gegen die neuerliche Kreuzzüge<br />
zu führen seien, als Kampf richtiger<br />
gegen falsche Kulturen.<br />
Stattdessen sollten wir nach den<br />
wirklichen Stammbäumen unserer<br />
Erbschaften suchen <strong>und</strong> nicht die<br />
antike Wahlverwandtschaft <strong>für</strong> geburtliche<br />
Blutsverwandtschaft halten.<br />
Dazu hülfe es, auf globalem Niveau<br />
zu wiederholen, was Diderot <strong>und</strong><br />
d‘Alembert während der Aufklärung<br />
erstmals versuchten: eine Enzyklopädie<br />
des gesamten Menschheitswissens<br />
zusammenzutragen. Eine solche<br />
Enzyklopädie mit Supplementbänden<br />
über „not knows“ <strong>und</strong> „lost knows“<br />
wäre heute nötiger denn je, nicht nur,<br />
um alle Beiträge menschlicher Zivilisierungsversuche<br />
zu versammeln,<br />
sondern auch, um uns gegenseitig<br />
verständlich zu machen, wie viele dieser<br />
Beiträge im Namen wechselseitigen<br />
„Zivilisierens“ vernichtet worden<br />
sind.<br />
Betrachten wir Europäer die „mental<br />
map“ unserer geistigen Wahl-Erbschaft,<br />
so wird „alteuropäisch“<br />
beinahe ausschließlich griechisch<br />
<strong>und</strong> römisch interpretiert, während<br />
der Rest des Mittelmeerraumes in<br />
Dämmerung, Indien <strong>und</strong> China im<br />
Vorabend, Afrika <strong>und</strong> Amerika in<br />
dunkler Nacht verschwinden. Selbst<br />
wenn wir nur das antike Rom betrachten,<br />
bleiben wir in seiner christlichen<br />
Deutung befangen, nehmen wir<br />
Ägypten bestenfalls kleopatraisch<br />
erotisiert wahr, während die <strong>für</strong> das<br />
„abendländische“ Denken weit bedeutsameren<br />
Einflüsse des Mithraismus<br />
<strong>und</strong> der antiken Steppenvölker<br />
kaum Erwähnung, geschweige denn<br />
Würdigung finden.<br />
Dabei erweisen sich die größten<br />
Kulturleistungen als Amalgamierungen.<br />
Was wären wir ohne die Keil<strong>und</strong><br />
Bildschriften der hydraulischen<br />
Kulturen, ohne deren Vermessungs<strong>und</strong><br />
Buchführungstechnik? Und spä-<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 5
<strong>Der</strong> <strong>11.</strong> Sept<br />
ter? <strong>Der</strong> frühe Islam verband den spät-<br />
antiken-oströmischenZivilisationsraum mit dem persisch-mittelasiatischen,<br />
der wiederum völlig von China<br />
geprägt war. Die Muslime des 8.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts pflegten intensive Beziehungen<br />
zum China der Tang-Periode<br />
<strong>und</strong> beide kämpften gegen das<br />
damals stärkste Militärreich Eurasiens,<br />
gegen Tibet – doch hat das<br />
jemals in Schulbüchern gestanden?<br />
Die wenigsten von uns haben von<br />
diesen kulturhistorischen Wechselwirkungen<br />
gehört <strong>und</strong> genau dies ist<br />
das Problem angesichts der Schwafeleien<br />
über den clash of civilizations.<br />
In Wahrheit wuchsen Zivilisationen<br />
durch ihre wechselseitige Durchdringung,<br />
nicht durch ihre gegenseitige<br />
Auslöschung. Nur wer in den Verkürzungen<br />
von Kampf <strong>und</strong> Krieg denkt,<br />
betont die Zusammenstöße. Dann<br />
sieht man im spätmittelalterlichen<br />
Mongolensturm nichts anderes, als<br />
den wilden Auf- <strong>und</strong> Einbruch barbarischer<br />
Völker, die plötzlich den Westen<br />
bedrohen – <strong>und</strong> kein Großreich<br />
eurasischer Steppenzivilisation mit<br />
bis dahin unbekannter Organisations-,<br />
Kommunikations- <strong>und</strong> Mobilitätsqualität.<br />
Und selbst das Osmanische Reich<br />
erscheint bis heute der Mehrheit als<br />
Bedrohung der Christenheit <strong>und</strong> nicht<br />
als hoch zivilisierte europäische<br />
Großmacht, die mit den spanischen<br />
Habsburgern um die Mittelmeerwelt<br />
konkurrierte <strong>und</strong> weit mehr zustande<br />
brachte als verkohlte Kaffeebohnen<br />
vor den Toren Wiens liegen zu lassen.<br />
Was, so müsste man fragen, um<br />
geostrategische Dynamik zu begreifen,<br />
ist an der damaligen Schiene<br />
Madrid-Konstantinopel machtpolitisch<br />
anders gewesen, als an der<br />
Schiene Washington-Moskau während<br />
des Kalten Krieges? Dann erfasste<br />
man Zusammenhänge von Balancement,<br />
von Eindämmung, aber<br />
auch von Einfluss <strong>und</strong> Beeinflussung,<br />
von wechselseitiger Bedrohung <strong>und</strong><br />
Zähmung.<br />
Wir sind jedoch nicht nur ideologisch<br />
verblendet, sozusagen Schulbuch<br />
systematisch durch einen stieren<br />
Blick auf die hehre Antike, sondern<br />
auch zu größter Überheblichkeit<br />
freiwillig bereit. Man muss nämlich,<br />
als Kehrseite, zur Inferiorisierung willens<br />
sein, was nicht nur <strong>für</strong> Unkraut<br />
<strong>und</strong> Untier gilt. Töten, vernichten <strong>und</strong><br />
ausrotten kann man als letzte Konsequenz<br />
nur, wenn man sich dazu selbst<br />
legitimiert – <strong>und</strong> zusätzlich legitimiert<br />
wird. Auf kollektiver Ebene ist dies<br />
bislang immer über die Zerlegung in<br />
Über- <strong>und</strong> Unterlegenheit organisiert<br />
worden. Ob „Arier“ gegen „bolschewistische<br />
Untermenschen“, ob „Erleuchtete“<br />
gegen „räudige, ungläubige<br />
H<strong>und</strong>e“, ob „Schwarz“ gegen<br />
„Weiß“, oder ob heute ein neuer<br />
Kreuzzug gegen die „f<strong>und</strong>amentalistischen<br />
Feinde von Demokratie <strong>und</strong><br />
Freiheit“ ausgerufen wird, die dahinter<br />
liegende Psychodynamik war <strong>und</strong><br />
ist die gleiche.<br />
Wir sollten uns dieser Dynamik<br />
vergewissern <strong>und</strong> uns die Produktion<br />
von Inferiorität anschauen, mit der<br />
zum Beispiel der „Stürmer“ vor 70<br />
Jahren unseren Eltern <strong>und</strong> Großeltern<br />
glauben machen wollte, Juden führten<br />
rituelle Kindermorde <strong>und</strong> andere<br />
Monstrositäten aus oder seien wie<br />
Ratten, die die Pest einschleppten (wie<br />
der Vorspann zum Film „<strong>Der</strong> ewige<br />
Jude“ suggerierte). Die Wirkung <strong>und</strong><br />
die Auswirkung dieser Lügenpropaganda<br />
sind uns heute klar. Doch sind<br />
sie historisch überw<strong>und</strong>en? Was bewirkten<br />
die Berichte von „Augenzeuginnen“<br />
über bestialische Kindstötungen<br />
durch irakische Soldaten in Kuweitischen<br />
Krankenhäusern, die 1990<br />
vor den Vereinten Nationen vorgetragen<br />
wurden <strong>und</strong> die sich später als<br />
bezahlte Inszenierung entpuppten?<br />
Oder was bewirkten die (ebenfalls<br />
inszenierten) Bilder von tanzenden<br />
<strong>und</strong> lachenden Palästinenserinnen<br />
nach „9-11“? In beiden Fällen ging es<br />
nicht um Tatsachen oder um „Wahrheit“,<br />
sondern um die Erzeugung von<br />
Bereitschaften <strong>und</strong> um die Legitimation,<br />
sie ausleben zu dürfen, wenn es<br />
sein muss auch mit tödlicher Konsequenz<br />
(vgl. Hill & Knowlton 1990).<br />
Das „alte Europa“, maßgeblich<br />
Deutschland <strong>und</strong> Frankreich, war zu<br />
dieser Konsequenz nicht bereit,<br />
jedenfalls nicht ohne eine vom Völkerrecht<br />
legitimierte Gr<strong>und</strong>lage. Dieser<br />
Unterschied ist es wert, von jedem<br />
einzelnen Bürger der europäischen<br />
Union buchstabiert zu werden.<br />
Insbesondere wir Deutschen sind es<br />
unserer Geschichte schuldig, Menschen-<br />
<strong>und</strong> Völkerrecht über alles zu<br />
stellen <strong>und</strong> nicht unser Land oder<br />
unsere Kultur – <strong>und</strong> auch nicht „Demokratie“.<br />
Gerade wenn man „alteuropäisch“<br />
zu denken versucht, sollte man nicht<br />
vergessen, dass „Demokratie“<br />
keineswegs als das begann, zu dem<br />
sie uns in der Gegenwart heilig gesprochen<br />
wird. Sie war das Ergebnis<br />
erbitterter Kämpfe, buchstäblich herausgeschlagen<br />
aus den Ungerechtigkeiten<br />
des Verteilens <strong>und</strong> dennoch<br />
nur neuer Modus des Verteilens. Demokratie<br />
war, ist <strong>und</strong> bleibt ein Metaverfahren,<br />
das die Verteilung <strong>für</strong><br />
Verteilung regelt. <strong>Der</strong> neudeutsche<br />
Begriff „Partizipation“ drückt es aus:<br />
Wir haben teil an den Verfahren, mit<br />
denen wir bestimmen, wie verteilt<br />
wird. Bei den Eupatriden, letztlich<br />
eine feudale Stammesgesellschaft<br />
wie wir sie heute noch in Afghanistan<br />
finden, wählten die Oberhäupter<br />
ihren König. Das Königtum war ein<br />
temporäres Wahlamt, anfangs nur <strong>für</strong><br />
den Krieg. Auf Dauer gestellt werden<br />
konnte es nur durch Usurpation – <strong>und</strong><br />
nur auf ebenso drastische Weise,<br />
durch Königsmord (vgl. de St. Croix<br />
2004), in Stammesmacht zurückgeholt<br />
werden. Von beiden Missbildungen<br />
ist keine Herrschaftsform weit<br />
entfernt, auch nicht Demokratie. Und<br />
auch sie leidet an Usurpationen. Deshalb<br />
besteht, wie Karl Popper zuspitzte,<br />
das einzig relevante Problem darin,<br />
ob <strong>und</strong> wie man die Herrschenden<br />
wieder los wird.<br />
Vom Kampf der Demoi um mehr<br />
Teilhabe an den Modi der Verteilung<br />
des Reichtums <strong>und</strong> am Reichtum<br />
selbst bis in unsere Gegenwart <strong>und</strong><br />
unseren Kämpfen um die heutigen<br />
Modi der Verteilung <strong>und</strong> um den gegenwärtigen<br />
Reichtum war ein langer<br />
Weg. Auf diesem Weg ist viel<br />
vergessen, sehr vieles aber auch absichtlich<br />
dem Vergessen überantwortet<br />
worden, zumeist (<strong>und</strong> trivial dazu),<br />
weil Geschichte bevorzugt von Siegen<br />
<strong>und</strong> Siegern erzählt <strong>und</strong> letztere<br />
nicht gern erinnert werden, von wo<br />
sie kamen <strong>und</strong> noch weniger, mit<br />
welchen Mitteln sie verteilungsmächtig<br />
wurden <strong>und</strong> reich dazu.<br />
6 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
mber <strong>2001</strong><br />
Wenn heute im Namen von Demokratie<br />
<strong>und</strong> Freiheit Krieg gegen<br />
den Terror geführt wird, erinnert sich<br />
vermutlich niemand mehr, dass diese<br />
Programmatik selbst dem Aufstand<br />
entsprang <strong>und</strong> das régime de<br />
la terreur als heilsames Pädagogikum<br />
gegen die Konterrevolution gefeiert<br />
wurde. Wohl auch nicht, dass liberté,<br />
egalité <strong>und</strong> fraternité schon vor<br />
der Französischen Revolution <strong>und</strong><br />
Robespierre die unbotmäßige Vision<br />
einer sozialverantwortlichen Kirche<br />
formulierte (Francois Fénelon), die<br />
der Monarchie als ausreichender<br />
Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> die Bastille galt (s. Salignac<br />
de la Mothe 1699). Manchmal kann<br />
man sich im wirklichen Leben gar<br />
nicht so schnell drehen, wie aus<br />
Staatsfeinden Revolutionäre, daraus<br />
Terroristen <strong>und</strong> daraus wieder Staatsmänner<br />
<strong>und</strong> Verbündete werden.<br />
Als Deutscher muss man gleichwohl<br />
innehalten. <strong>Der</strong> Attentatsversuch<br />
vom 20. Juli 1944 <strong>und</strong> die Nürnberger<br />
Prozesse lehren, dass es nicht<br />
nur darum geht, wie man falsche<br />
Herrschaft los wird, sondern auch,<br />
dass mehr nötig ist als ein Sieg, um<br />
dauerhaft <strong>und</strong> tragfähig Frieden stiften<br />
<strong>und</strong> Feindschaft beenden zu können.<br />
Aus dieser Perspektive gewinnt<br />
der gegenwärtige Prozess gegen<br />
Saddam Hussein beinahe antipodische<br />
Qualität, mehr noch die Weigerung<br />
Amerikas, die Errichtung des<br />
Internationalen Strafgerichtshof (ICC)<br />
zu ratifizieren. Hier gewinnt der Unbelehrbaren<br />
Lieblingswort tragische<br />
Aktualität: „Siegerjustiz“ hilft nicht der<br />
Gerechtigkeit zum Sieg, sondern verspielt<br />
die Chance zur Befriedung.<br />
Über solche Probleme konnten die<br />
alten Europäer lange grübeln, zwischen<br />
Augsburger Religionsfrieden<br />
1555, Edikt von Nantes 1598 <strong>und</strong><br />
Westfälischem Frieden 1648. Seitdem<br />
aber weiß man schon vor jedem<br />
Schädelspalten, dass die Übrigbleibenden<br />
danach desto verträglicher<br />
miteinander auskommen müssen,<br />
desto brachialer ihre wechselseitigen<br />
Verheerungen vorher waren. Handelt<br />
man zuwider, keimt schon der nächste<br />
Verteilungskampf, Schädelspalten<br />
inklusive. Auch diese Lektion ist sehr<br />
europäisch, wenngleich unbegrenzt<br />
von Raum <strong>und</strong> Zeit. Mehrheitlich gilt<br />
Verzicht als inakzeptabel, galt „Verzichtfrieden“<br />
lange vor Versailles als<br />
so unerträglich, dass man lieber auf<br />
Frieden verzichtete. Ganze Völker <strong>und</strong><br />
Kontinente „schlidderten“ so in Kriege,<br />
die immer aufs Neue verteilen<br />
sollten, was schon zuvor nicht geteilt<br />
werden wollte. Unsere heutigen Konflikte<br />
sind das Ergebnis solcher Welt-<br />
Verteilungen <strong>und</strong> es ist nicht ohne<br />
Ironie, dass die größten Umverteilungsversuche<br />
zum größt- <strong>und</strong><br />
längstmöglichen Unfrieden führten.<br />
An den Erbschaften des britischen<br />
Empire leidet heute die ganze Welt,<br />
am explosivsten im Nahen <strong>und</strong> Mittleren<br />
Osten. Im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert wäre<br />
es an der Zeit, die Konflikte dadurch<br />
zu beenden, dass man endlich gerecht<br />
teilt, statt ungerechten Verteilungen<br />
nur weitere Umverteilungen<br />
<strong>und</strong> neue Ungerechtigkeiten folgen<br />
zu lassen.<br />
Aber auch das wissen wir längst.<br />
Andererseits, was bliebe übrig, wenn<br />
man gerecht teilte? Schon die Frage<br />
lässt schaudern – <strong>und</strong> beherzt zum<br />
Ausweg greifen. Seit Jahrzehnten<br />
wird über Verfahren <strong>und</strong> die Zulassung<br />
zu diesen Verfahren diskutiert;<br />
– die Vereinten Nationen sind das<br />
Archiv solcher Aus- <strong>und</strong> Umwege,<br />
zugleich aber auch Versuchslabor<br />
<strong>und</strong> Zukunftswerkstatt in einem. Am<br />
Ende werden wir alle nicht um die<br />
Einsicht in das Notwendige herum<br />
kommen – oder umkommen. Bislang<br />
wird beides nach Kräften vertagt.<br />
Allerdings werden uns die peaceenforcing-missions<br />
erst die Glaubwürdigkeit<br />
<strong>und</strong> dann den Kopf kosten,<br />
sofern sie nur helfen, ein gerechtes<br />
Teilen zu ersparen. (Tatsächlich<br />
wird unsere Freiheit am Hindukusch<br />
verteidigt.)<br />
Unser historischer terroristischer<br />
Arm, der uns durch Revolution an die<br />
Macht brachte, überzeugte durch andere<br />
Einsätze. Sie propagierten nicht,<br />
sondern demonstrierten, dass durch<br />
die Anwendung von Vernunft das<br />
zum Verteilen Nötige in Überfluss erzeugt<br />
werden kann. Das war die Überzeugungstat<br />
gegen Adel <strong>und</strong> Klerus:<br />
Produktivität durch Wissenschaft. Die<br />
neuen Stände erzeugten das zum Leben<br />
Notwendige selbst, während die<br />
alte Standesgesellschaft als Bande<br />
von Schmarotzern erschien, die<br />
nichts besaß als Boden, – doch blieb<br />
er nackte Krume ohne jene, die ihr<br />
Frucht abgewannen. Den langen Weg<br />
hin zu dieser Überzeugung haben<br />
Paul Hazard (1990) als Entstehung<br />
des „Europäischen Geistes“ <strong>und</strong><br />
Franz Borkenau (1934) als Entstehung<br />
des „bürgerlichen Weltbildes“ trefflich<br />
analysiert.<br />
Worauf die neue Produktivität<br />
gründet, war anfangs das einende<br />
Band: Auf Arbeit <strong>und</strong> Wissen. Wem<br />
der Reichtum gehört, war schnell<br />
umstritten. Denen, die ihn schaffen –<br />
lautete zumindest der Traum der frühen<br />
Sozialisten. <strong>Der</strong>weil ihn schon<br />
jene aneigneten, die Arbeit <strong>und</strong> Wissen<br />
finanzierten. Man lese nur die<br />
Protokolle der Royal Society, vor der<br />
James Watt um Wagniskapital bettelte<br />
<strong>und</strong> kühl beschieden wurde,<br />
dass ein return on investment nicht<br />
absehbar sei. Heute geht es, wie<br />
Meinhard Miegel (2005) aufzeigt, nur<br />
noch um die Spekulation auf schnelle,<br />
lukrative returns, steigert das ökonomische<br />
Wachstum nicht mehr den<br />
Wohlstand der Nationen. Sie verarmen<br />
in dem Maße, wie Produktivität<br />
allein dem Ausschluss der Produzenten<br />
erwächst. Für die Aufrechterhaltung<br />
der gesamten deutschen Volkswirtschaft<br />
genügen inzwischen weniger<br />
als 18 Millionen Arbeitende –<br />
bei einer derzeitigen Auslastung von<br />
weniger als 68 Prozent. Angesichts<br />
solcher Daten ist die Phrase vom<br />
Wachstum, das Arbeitsplätze schafft,<br />
längst eine alberne Absurdität.<br />
Ist der europäische Geist am Ende,<br />
das bürgerliche Weltbild entzaubert?<br />
Rückt Europa, wie es Rumsfeld prognostizierte,<br />
nach Osten, weil dort ein<br />
neues Weltbild entsteht? Schaut man<br />
nach Polen, ins Baltikum oder in die<br />
Ukraine, so lässt sich dort weder ein<br />
Gegenbild zu noch ein neues Bild von<br />
Europa entdecken. Historisch fühlen<br />
sich diese Länder „europäischer“ als<br />
ihre geographische Lage vermuten<br />
lässt. Geht man weiter, Richtung<br />
Russland, so ist weder Produktivität<br />
noch Verteilungsgerechtigkeit zu entdecken.<br />
Und was findet sich in Richtung<br />
Türkei, die die USA massiv einschließt,<br />
wenn von „Erweiterung“<br />
gesprochen wird? Für manchen Eu-<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 7
opäer eine eher bedrohliche Reproduktivität,<br />
Begehrlichkeiten nach<br />
Umverteilung (als Mischung aus Regionalfonds<br />
<strong>und</strong> Agrarsubventionen)<br />
<strong>und</strong> ein Geist, den zu integrieren sich<br />
die meisten nicht wagen, weil sie ihn<br />
so sehr <strong>für</strong>chten.<br />
Was also ist mit Europa los? Hat<br />
Donald Rumsfeld am Ende Recht? Ist<br />
Europa zur Erneuerung unfähig, nur<br />
noch ein ängstlich auf Bestandssicherung<br />
schielender Riese, dem Lenden<strong>und</strong><br />
Geisteskräfte schwinden?<br />
Selbst diese Fragen sind nicht neu.<br />
Sie beschäftigten alle Zivilisationen<br />
<strong>und</strong> sie führten zu vielerlei Antworten<br />
über Aufstieg <strong>und</strong> Fall großer<br />
Mächte <strong>und</strong> Reiche. Ob das alte<br />
Europa, das Abendland, untergeht,<br />
steht dennoch dahin. Das Modell war<br />
so erfolgreich, dass es die Welt erobert<br />
hat <strong>und</strong> alternativlos nach den<br />
letzten Ressourcen jagt, die in Akten<br />
„schöpferischer Zerstörung“ (Schumpeter)<br />
einverleibt werden können, bis<br />
auch sie verschw<strong>und</strong>en sind. Die großen<br />
europäischen Errungenschaften<br />
bleiben dabei auf der Strecke: Produktivität<br />
<strong>und</strong> ein gerechter Modus<br />
ihrer Verteilung. Inzwischen stehen<br />
beide zunehmend auch bei den breiten<br />
Schichten in Zweifel. Produktivität<br />
mehrt nicht mehr Wohlstand <strong>und</strong><br />
gibt nicht mehr Arbeit, Demokratie<br />
versinkt in Usurpation <strong>und</strong> löst ihr<br />
originäres Regulationsversprechen<br />
immer weniger ein.<br />
Das Regulationsversprechen bestand<br />
darin, dass jedes Mitglied sowohl<br />
an den Modi des Verteilens als<br />
auch an dem zu Verteilenden<br />
rechtens <strong>und</strong> gerecht partizipieren<br />
kann. Das erste sollte durch allgemei-<br />
<strong>Der</strong> <strong>11.</strong> Sept<br />
ne, gleiche <strong>und</strong> freie Wahlen, das<br />
zweite durch sozial- <strong>und</strong> wohlfahrtliche<br />
Umverteilungen erreicht werden.<br />
Die Umverteilungsmodi wurzelten<br />
allesamt in gemeinschaftlichen Werten:<br />
Geholfen werden sollte jenen,<br />
die durch Unglück, Krankheit oder<br />
unverschuldete Not der Unterstützung<br />
bedürfen. Dass längst Millionen<br />
Unterstützung brauchen, die sich<br />
selbst ernähren könnten, wenn es <strong>für</strong><br />
sie Arbeit gäbe, sah dieser Gedanke<br />
weder vor noch voraus. Heraus<br />
kommt wechselseitige Beschädigung.<br />
Bei den Menschen, die heraus-<br />
fallen aus Erwerb <strong>und</strong> Erwerbssystem,<br />
<strong>und</strong> beim System, das immer<br />
weniger kann, was zu können es vorgibt.<br />
Das hielten bislang kein System<br />
<strong>und</strong> kein Volk auf Dauer durch.<br />
Statt aber die Zeiger der Uhr auf<br />
Gespensterst<strong>und</strong>e zu stellen <strong>und</strong> mit<br />
Weimar <strong>und</strong> dem Marsch nach Rechts<br />
bis in den Faschismus zu drohen,<br />
könnte auch einmal anders reagiert<br />
<strong>und</strong> darüber nachgedacht werden, ob<br />
womöglich die Bestandskrise gegenwärtiger<br />
Demokratie nicht auch zum<br />
Positiven führen könnte, zur Demokratie<br />
nach der Demokratie, zur „Überdemokratie“.<br />
Man hört Nietzsches kynisches<br />
Gelächter, damals, als er seine<br />
Zeitgenossen fragte, ob sie allen<br />
Ernstes glauben, dass die Evolution<br />
bei ihnen aufhöre?<br />
Genau so wird uns Heutigen „Demokratie“<br />
entzeitigt: als höchste <strong>und</strong><br />
endgültige Stufe der politischen Evolution.<br />
Das aber ist ebenso lächerlich<br />
wie die Annahme, dass der Mensch<br />
die höchste <strong>und</strong> endgültige Stufe der<br />
biologischen Evolution sei. Nein, es<br />
geht weiter <strong>und</strong> wir täten gut daran,<br />
die politische Evolution mit Bedacht<br />
<strong>und</strong> Sorgfalt voranzutreiben. Was<br />
könnte „Überdemokratie“ werden?<br />
Was hätte die nach uns kommende<br />
Demokratie zu sein <strong>und</strong> vor allem:<br />
Was hätte sie zu regulieren?<br />
Man muss weit zurückgehen, um<br />
voran zu kommen. Und man muss<br />
Erbschaften antreten <strong>und</strong> Durchmischungen<br />
zulassen. Dass es gerecht<br />
zugehe auf der Welt, wünschen sich<br />
im Prinzip alle. Den gerechtesten Regulationsmechanismus<br />
findet man im<br />
Philosophischen Probabilismus des<br />
Bartholomé von Medina (1577); er<br />
wurde zentraler Bestandteil der katho-<br />
lischen Morallehre (bis hin zu Fenélon),<br />
hatte aber auch eine hohe Schnittmenge<br />
mit den Erwägungsregeln des<br />
Koran sowie mit dessen Zins- bzw.<br />
Wucherverbot. (Von dort aus sollte<br />
man wieder einmal über ethisches<br />
Investieren nachdenken <strong>und</strong> über die<br />
Verantwortung von Eigentum.)<br />
<strong>Der</strong> philosophische Probabilismus<br />
(vgl. Giegerenzer 2004; 1989) diente<br />
der Formulierung so genannter „probabler“,<br />
also wohl erwogener Begründungen<br />
<strong>für</strong> ein beabsichtigtes<br />
Handeln. Ein Entscheiden <strong>und</strong> Han-<br />
deln ohne probable Gründe war<br />
gleichbedeutend mit Sünde. „Hammartia“<br />
war die Abweichung vom<br />
Richtigen <strong>und</strong> Guten. Nicht probabel<br />
handelten Abenteurer, Hazardeure,<br />
Glücksritter <strong>und</strong> Spekulanten; sie tendierten<br />
zum Betrug <strong>und</strong> schlossen<br />
sogar Pakte mit dem Teufel.<br />
Im Prinzip diente dieser religiös<br />
konstituierte Regulationsmodus der<br />
Wagnismoderation. Bei Unsicherheit<br />
über den Ausgang einer Entscheidung<br />
oder Handlung dürfen deren<br />
Folgen nicht unüberstehbar sein.<br />
Wagnisse, denen die Schutzbefohlenen,<br />
also das „ganze Haus“ <strong>und</strong> sein<br />
Vermögen zum Opfer fallen könnten,<br />
waren zu Recht inakzeptabel <strong>und</strong> erschienen<br />
als Todsünde. Von daher<br />
zielte die Abwägung von Wagnissen<br />
darauf ab, das Maß gegenseitiger <strong>und</strong><br />
gemeinsamer Belastbarkeit vorab zu<br />
ermessen <strong>und</strong> zugleich den Eventualfall<br />
in Form eines „gegenseitigen<br />
Beistandspaktes“ zu verfriedlichen:<br />
Wir wagen, aber wir wagen wohlerwogen.<br />
Dabei erschöpfte sich das vor<br />
Gott verantwortliche Abwägen nicht<br />
in moralischem Beistand, sondern in<br />
materieller Absicherung, indem Vorkehrungen<br />
gegenüber schädlichen<br />
Handlungsfolgen vereinbart wurden.<br />
Das Verfahren selbst war streng konsensual;<br />
erst wenn alle potenziell<br />
Betroffenen in das Wagnis einwilligten,<br />
konnte es eingegangen werden.<br />
Das Konsensusprinzip zwang dazu,<br />
mit Entscheidungen so lange zu warten,<br />
bis auch der letzte überzeugt war.<br />
Dies erscheint bei Entscheidungen<br />
über Wohl <strong>und</strong> Wehe, Leben <strong>und</strong><br />
Tod, mehr als angemessen. Strukturell<br />
wohnt dem Konsensusprinzip die<br />
Entschleunigung inne. Vermutlich<br />
sind die meisten Heißsporne abgekühlt,<br />
bis endlich der Letzte einem<br />
Wagnis zustimmt, während umgekehrt<br />
eine Chance schon extrem<br />
überzeugend sein musste, damit<br />
auch der sprichwörtlich Letzte zu einer<br />
sofortigen Entscheidung drängte.<br />
Demgegenüber ist das Mehrheitsprinzip<br />
strukturell ein Beschleuniger.<br />
Zur Entscheidung reichen 51 Prozent,<br />
zudem werden sich die widerborstigsten<br />
Bedenkenträger immer am<br />
Ende der verbleibenden 49 finden.<br />
Man hat es also sehr viel leichter,<br />
8 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
Wagnisse eingehen zu können, vor<br />
allem dann, wenn man die dadurch<br />
winkenden Chancen mit dem Windh<strong>und</strong>prinzip<br />
koppelt: Wer schnell<br />
wagt, gewinnt am meisten. Letztlich<br />
wurzeln in genau dieser Koppelung<br />
von Mehrheits- <strong>und</strong> Windh<strong>und</strong>prinzip<br />
die größten Anreize <strong>für</strong> Shift Offs<br />
<strong>und</strong> somit <strong>für</strong> ein Riskieren, das sich<br />
um die verbleibende Hälfte immer<br />
weniger kümmert – sei es die nächste<br />
Generation, die Natur oder so genannten<br />
Minderheiten ohne Lobby.<br />
Für die potentiell von Schaden<br />
Betroffenen ist bedeutungslos, ob sie<br />
sich an der Ungewissheit eines Wagnisses<br />
oder an der Wahrscheinlichkeit<br />
eines Risikos beteiligen, <strong>für</strong> sie<br />
zählt allein, ob <strong>und</strong> wie sie die möglichen<br />
Konsequenzen zu überstehen<br />
vermögen. Ist dies geklärt <strong>und</strong> stimmen<br />
sie dem Wagnis zu, so steht zu<br />
erwarten, dass es im Scheiternsfall<br />
nicht zur Störung der sozialer Beziehungen<br />
der aufeinander Angewiesenen<br />
kommt, sondern sie sich vielmehr<br />
Schaden <strong>und</strong> Leid solidarisch<br />
teilen. Dies gilt <strong>für</strong> alle Ungewissheiten,<br />
also auch <strong>für</strong> Risiken, bei denen<br />
die Schadensdrohung nach Maßgabe<br />
der vorausgehenden Ereignisse<br />
berechenbar erscheint. Insofern lassen<br />
sich Risiken kalkulieren <strong>und</strong> Wagnisse<br />
nicht, doch ob man beide eingeht,<br />
hängt nicht von einer wie immer<br />
gearteten Kalkulierbarkeit ab, sondern<br />
von Art <strong>und</strong> Güte der sozialen<br />
Diskurse, in denen Wagnis wie Risiken<br />
bewertet werden, sowie der materiellen<br />
Vereinbarungen, mit denen<br />
man Verluste <strong>und</strong> Gewinne verteilt.<br />
Genau hier liegt der Irrtum heutiger<br />
Politik, weil sie so tut, als könne<br />
mber <strong>2001</strong><br />
eine rechnerische Minimalisierung<br />
eine Entscheidung begründen. Eher<br />
stimmt das Gegenteil. <strong>Der</strong> Mangel an<br />
beratschlagenden Diskursen über Für<br />
<strong>und</strong> Wider <strong>und</strong> – mehr noch – an absichernden<br />
Vereinbarungen über<br />
Schadensersatz <strong>und</strong> Gewinnverteilung<br />
weckt Misstrauen bis zur Risikoaversion.<br />
Viele Menschen fühlen sich<br />
außer Acht gelassen <strong>und</strong> glauben,<br />
selbst Riskierte zu sein, statt als wert<br />
erachtet zu werden, mit ihnen nach<br />
probablen Gründen zu suchen <strong>und</strong><br />
darüber selbst (menschlich) probabel<br />
zu werden.<br />
So besehen sind „probable Gründe“<br />
weit mehr als nur Argumente. Es<br />
sind Verfahren zur sozialen Friedensstiftung<br />
<strong>und</strong> zur Scheiternsregulierung.<br />
Nur wenn beim Eingehen von<br />
Wagnissen/Risiken eine Art sozialer<br />
Kontrakt zustande kommt, durch den<br />
die Folgen von Wagen/Riskieren gemeinsam<br />
getragen werden, bleibt der<br />
soziale Frieden zwischen denen, die<br />
Risiken eingehen, <strong>und</strong> denen, die<br />
dadurch zu Schaden kommen könnten,<br />
gewahrt. Ohne ein solches risiko-umhegendes<br />
Sozial-Kalkül bleiben<br />
Risiko-Kalküle nichts anderes als<br />
Wahrscheinlichkeitsangaben über die<br />
Bereitschaft, Dritte mitzuriskieren.<br />
Erst ein Risiko-Kalkül als kollektives<br />
Sozial-Kalkül über die probablen<br />
Gründe wahrt Moralität <strong>und</strong> sichert<br />
den sozialen Frieden zwischen den<br />
beteiligten Parteien. Das aber wäre<br />
Demokratie, die ihre Regulierungsversprechen<br />
einlöst – mithin erster<br />
Schritt hin zur Überdemokratie im<br />
21. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />
Von hier aus knüpft sich eine inhaltlich<br />
(nicht historisch) durchgehende<br />
Linie zurück zum Prinzip des bonum<br />
communum der griechischen<br />
Antike. Zusammen mit einer konsensuellen<br />
Regulation unter dem Leitprinzip<br />
aus „Wohlerwogen“ <strong>und</strong> „Sozialförderlich“<br />
könnte sich eine „alteuropäische<br />
Sicht“ formen, die der<br />
derzeitigen amerikanischen Sicht auf<br />
die Welt <strong>und</strong> deren Verteilungsvorstellungen<br />
(vgl. Pfaller 2003) eine<br />
hoffnungsvolle Alternative bietet:<br />
bonum m<strong>und</strong>um.<br />
Literatur<br />
Adler, Alfred: Menschenkenntnis.<br />
Reinbek bei Hamburg: Fischer TB<br />
1978 (1927)<br />
Adler, Alfred: Vom Sinn des Lebens.<br />
Leipzig 1933<br />
Bonß, Wolfgang: Vom Risiko.<br />
Unsicherheit <strong>und</strong> Ungewissheit in der<br />
Moderne. Hamburg: Hamburger Edition<br />
1995<br />
Borkenau, Franz: <strong>Der</strong> Übergang<br />
vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild<br />
, Paris 1934 (Neudruck Darmstadt<br />
1971)<br />
Gigerenzer, Gerd: Das Einmaleins<br />
der Skepsis. Über den richtigen Um-<br />
gang mit Zahlen <strong>und</strong> Risiken [Calculated<br />
Risks: How to Know When Numbers<br />
Deceive You]. Berlin, Btv, 2004.<br />
Gigerenzer, Gerd/Swijtink, Z./<br />
Porter, Th./Daston, L./Beatty, J./Krüger,<br />
L.: The Empire of Chance. Cambridge:<br />
Cambridge Univ. Press 1989<br />
Hazard, Paul: The European<br />
Mind, 1680-1715, Fordham University<br />
Press, 1990<br />
Hill & Knowlton, PR-Agentur,<br />
trainierte die Tochter des kuweitischen<br />
Botschafters in den USA <strong>für</strong><br />
einen Auftritt vor den Vereinten Nationen<br />
am 10.10. 1990, wo sie über<br />
Greueltaten irakischer Soldaten berichtet,<br />
die angeblich Babies aus Brutkästen<br />
gerissen <strong>und</strong> auf den Boden<br />
geworfen hätten. Ein Jahr später wird<br />
nachgewiesen, dass es sich um eine<br />
Inszenierung im Rahmen einer 10 Millionen<br />
Dollar teuren Kampagne Kuweits<br />
gehandelt hatte, die dazu dienen<br />
sollte, die USA zum Kriegseintritt<br />
zu bewegen. (http://www.arbei<br />
terfotografie.com/galerie/kein-krieg/<br />
hintergr<strong>und</strong>/index-manipulation-9-<br />
11-0001.html)<br />
Kelsen, Hans: Vergeltung <strong>und</strong><br />
Kausalität. Mit einer Einleitung von<br />
E. Topitsch. „Vergessene Denker –<br />
Vergessene Werke“, Klassische Studien<br />
zur sozialwissenschaftlichen<br />
Theorie, zur Weltanschauungslehre<br />
<strong>und</strong> zur Wissenschaftsforschung, Bd.<br />
1, hrsg.v. K. Acham. Wien/Köln/ Graz:<br />
Hermann Böhlaus Nachf. 1982<br />
Miegel, Meinhard: Epochenwende.<br />
Gewinnt der Westen die Zukunft?<br />
Propyläen Verlag Berlin 2005<br />
Pfaller, Alfred: Was kann Europa<br />
tun, wenn Amerika tut, was es will?<br />
Friedrich-Ebert-Stiftung, Electronic<br />
ed.: Bonn: FES Library, 2003 (http://<br />
library.fes.de/fulltext/id/01480.htm)<br />
Rumsfeld, Press Meeting. Wednesday,<br />
January 22, 2003 - 1:30 P.M.<br />
(http://www.defenselink.mil/tran<br />
scripts/2003/t01232003_t0122sdfpc.<br />
html)<br />
Salignac de la Mothe, François<br />
de: Die Abenteuer des Telemachus,<br />
Paris 1699<br />
St. Croix, Geoffrey de: Athenian<br />
Democratic Origins and Other Essays.<br />
Ed., by David Harvey and Robert<br />
Parker, Oxford: Oxford University<br />
Press 2004<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 9
Veränderte Rahmenbe<br />
Dr. Dirk Freudenberg M.A., Leiter des Akademiestabes <strong>B<strong>und</strong>esamt</strong> <strong>für</strong><br />
<strong>Bevölkerungsschutz</strong> <strong>und</strong> Katastrophenhilfe, Akademie <strong>für</strong> Krisenmanagement,<br />
Notfallplanung <strong>und</strong> Zivilschutz<br />
Humanitäre Organisationen <strong>und</strong> ihre Angehörigen, die als Helfer in Regionen<br />
gehen, die oftmals ein unfriedliches Umfeld bereiten, haben sich immer<br />
schon mit den Risiken eines Einsatzes auseinandersetzen müssen. Allerdings<br />
standen in der Vergangenheit – von Ausnahmen abgesehen – eher Risiken<br />
<strong>und</strong> Gefährdungen aus dem Bereich der Arbeitssicherheit, der Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge<br />
oder des Umgangs mit Kraftfahrzeugen in schwierigem Gelände<br />
im Vordergr<strong>und</strong> (Safety). Zunehmend sehen sie sich direkt bedroht<br />
oder gar als Opfer von (bewaffneten) Angriffen, Entführungen <strong>und</strong> Erpressungen.<br />
Verantwortungsbewusste Organisationen <strong>und</strong> vor allem Personen<br />
mit Personal- <strong>und</strong> Führungsverantwortung werden sich dieser Tatsache<br />
stellen müssen, um ihre erforderlichen personellen, materiellen <strong>und</strong> organisatorischen<br />
Voraussetzungen <strong>für</strong> ihren Verantwortungsbereich <strong>und</strong> ihr<br />
Krisenmanagement in der Vorbereitung, Durchführung <strong>und</strong> Nachbereitung<br />
zu treffen.<br />
Im Überblick werden die entscheidenden<br />
Veränderungen des sicherheitspolitischen<br />
Umfeldes gegeben,<br />
um <strong>für</strong> die Problematik zu sensibilisieren<br />
<strong>und</strong> die wesentlichen neuen Herausforderungen<br />
zu erkennen. Dies<br />
muss die Voraussetzung sein <strong>für</strong> die<br />
Implementierung eines organisationseigenen<br />
Krisen- <strong>und</strong> Sicherheitsmanagements<br />
<strong>und</strong> die organisationsübergreifende<br />
Zusammenarbeit mit<br />
anderen Akteuren.<br />
<strong>Der</strong> Begriff „Globalisierung“ charakterisiert<br />
seit Mitte der 1990er Jahre<br />
die zunehmende weltweite Verflechtung<br />
der Ökonomien sowie der<br />
Finanzmärkte <strong>und</strong> die davon ausgehenden<br />
Prozesse fortschreitender<br />
<strong>und</strong> beschleunigter Modernisierung<br />
von Kommunikation, Produktion von<br />
Wissen <strong>und</strong> Gütern, Transport, aber<br />
auch die Problemfelder von Internationaler<br />
Sicherheit, Organisierter Kriminalität,<br />
Drogen-, Waffen- <strong>und</strong> Menschenhandel,<br />
Krieg <strong>und</strong> Migration. 1<br />
Bei der Betrachtung möglicher Akteure<br />
ist zu beachten, dass nicht nur<br />
bei innerstaatlichen, sondern auch bei<br />
den globalen Konflikten Konflikt- <strong>und</strong><br />
Krisenursachen zunächst häufig nicht<br />
mehr auf klar identifizierbare Verursacher,<br />
sehr oft auch nicht mehr in<br />
Gestalt von Verursacherstaaten zurückzuführen<br />
sind. 2 Im Zuge dieser<br />
Entwicklung sind zunehmend Konflikte<br />
zu beobachten, die nicht als Krieg<br />
zwischen Staaten <strong>und</strong> ihren Armeen<br />
ausgetragen werden, sondern in denen<br />
sozial, ethisch, religiös definierte<br />
Bevölkerungsteile einander bekriegen<br />
<strong>und</strong> Partisanen, Banden, regionale<br />
Kriegsherren sowie internationale<br />
Söldnerfirmen die entscheidende<br />
Rolle spielen. 3 Feindselige Aktivitäten<br />
werden nun von Gruppen angeführt,<br />
die sich von Armeen sehr wesentlich<br />
unterscheiden 4 <strong>und</strong> nicht-staatliche<br />
Akteure beginnen mit militärischen<br />
Mitteln zu handeln. 5 Das gesamte<br />
Spektrum subversiver, verbrecherischer,<br />
nichtstaatlicher Kräfte, Banden,<br />
Partisanen <strong>und</strong> Terroristen gehört<br />
dazu. 6 Es sind unter den Akteuren<br />
solche, die in ihrer Symbiose der<br />
Kulturen das Mittelalter predigen <strong>und</strong><br />
dennoch die Kalaschnikow, wie auch<br />
den Computer benutzen. 7<br />
Insofern fehlt es weitgehend an<br />
klaren <strong>und</strong> konkreten Täter- <strong>und</strong> Fähigkeitsprofilen,<br />
deren Potentiale <strong>und</strong><br />
der Inter<br />
Einführung in die Sicherheitssituation<br />
Einsatzgr<strong>und</strong>sätze bekannt sind <strong>und</strong><br />
auf die sich die Stellen staatlicher<br />
Gefahrenabwehr personell, materiell<br />
<strong>und</strong> von den Abläufen des eigenen<br />
Krisenmanagements her verbindlich<br />
– checklistenartig – einstellen können.<br />
8 Somit ist heute längst erkannt,<br />
dass die neuen Bedrohungen nicht<br />
mehr (nur) von Staaten ausgehen,<br />
deren Bedrohungspotential bekannt<br />
ist <strong>und</strong> auf die man sich durch nationale<br />
Vorsorge – eingeb<strong>und</strong>en in supra-<br />
<strong>und</strong> internationale Strukturen –<br />
einstellen kann, sondern zunehmend<br />
von transnationalen nichtstaatlichen<br />
Akteuren, welche die Vorteile der<br />
Globalisierung nutzen <strong>und</strong> entsprechend<br />
an Staaten vorbei bzw. gegen<br />
Staaten aktiv sind. 9<br />
Dementsprechend ist auch eine<br />
Entwicklung zu beobachten, die es<br />
notwendig erscheinen lässt, die Tätigkeit<br />
von Hilfsorganisationen dahingehend<br />
zu hinterfragen, inwieweit sie<br />
durch ihr Tätigwerden diese Konflikte<br />
beeinflussen, hemmen oder gar<br />
fördern. Gleichzeitig stellt sich die<br />
Frage, ob <strong>und</strong> inwieweit die Hilfe<br />
nicht sogar ein Eingriff in das „humanitäre<br />
Biotop“ darstellt, welcher in der<br />
Lage ist, Gewalt zu katalysieren. Das<br />
umso mehr, wenn die Machthaber –<br />
örtliche oder regionale – die Arbeit<br />
der Hilfsorganisationen zu eigenen<br />
Zwecken nutzen, indem sie die Hilfe<br />
zulassen, steuern oder unterbinden.<br />
An die Stelle klassischer militärischer<br />
Konflikte treten in zunehmendem<br />
Maße kleine <strong>und</strong> asymmetrische<br />
Kriege, in denen das Handeln der<br />
nicht-staatlichen Akteure meist nicht<br />
gegen militärische Ziele gerichtet ist,<br />
sondern auf die Erzielung eines<br />
größtmöglichen – insbesondere psychologischen<br />
– Effektes in der Gesellschaft.<br />
10 Dabei werden alle Akteure<br />
zunehmend zum Ziel gewalttätiger<br />
Aktionen, die dazu beitragen, einen<br />
Raum zu stabilisieren, in dem sie der<br />
10 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
ingungen<br />
ationalen Zusammenarbeit<br />
heute<br />
Bevölkerung Hilfeleistung zugute<br />
kommen lassen. Je nach Standpunkt<br />
der jeweiligen Machthaber oder Opponenten<br />
wird diese Hilfeleistung<br />
geduldet, unterstützt oder behindert,<br />
ja sogar aktiv bekämpft, um den „Aufschwung“<br />
zu fördern oder die Stabilisierung<br />
zu verhindern. Damit treten<br />
humanitäre Akteure in das „Center<br />
of Strategie“ <strong>und</strong> werden ihrerseits<br />
zum Akteur im Einsatzgebiet. Dieses<br />
Einsatzgebiet ist somit nicht mehr allein<br />
als humanitärer Raum zu begreifen.<br />
Dementsprechend werden Helfer<br />
heute oftmals <strong>und</strong> zunehmend<br />
nicht mehr als unparteiliche <strong>und</strong> neutrale<br />
Institutionen angesehen <strong>und</strong> diese<br />
Prinzipien sind auch <strong>für</strong> kommerziell<br />
agierende Warlords mit ihren<br />
kurzfristig angelegten <strong>und</strong> häufig<br />
wechselnden Allianzen nicht mehr<br />
von Nutzen. Im Gegenteil: Kräfte, die<br />
zur Stabilisierung in einer Krisenregion<br />
beitragen, werden, wenn ihre<br />
Maßnahmen den eigenen Interessen<br />
entgegenlaufen bzw. den Einfluss der<br />
eigenen Position tangieren, als feindlich<br />
angesehen <strong>und</strong> entsprechend<br />
konsequent bekämpft. Insofern findet<br />
nicht nur eine Erosion des humanitären<br />
Völkerrechts statt, sondern es ist<br />
auch fraglich, ob die Gr<strong>und</strong>sätze des<br />
humanitären Völkerrechts heute noch<br />
adäquat <strong>und</strong> zeitgemäß sind bzw. ob<br />
das geltende internationale Recht den<br />
gegenwärtigen Gewalt- <strong>und</strong> Konflikttypen<br />
nicht mehr entspricht. Das<br />
Kernproblem besteht also darin, wie<br />
die verschiedenen Akteure das Spannungsverhältnis<br />
zwischen Macht<br />
(Verfolgung <strong>und</strong> Durchsetzung eigener<br />
Interessen), Recht (humanitäres<br />
Völkerrecht) <strong>und</strong> Moral <strong>für</strong> sich lösen.<br />
11 Dieses auch umso mehr, als<br />
die Akteure zur Anerkennung <strong>und</strong><br />
Durchsetzung der völkerrechtlichen<br />
Normen nicht vorhanden sind oder<br />
nicht angemessen durchsetzungsfähig<br />
<strong>und</strong> -willig nach Kräften <strong>und</strong> Man-<br />
datierung im Raum auftreten. Demzufolge<br />
haben sich die humanitären<br />
Akteure in einem kriegerischen<br />
Raum, ohne klare Fronten, Kampflinien<br />
<strong>und</strong> befriedeten Hinterland zu<br />
bewegen, zu handeln <strong>und</strong> zu interagieren.<br />
Humanitäre Akteure sind demnach<br />
heute aktive Elemente auf dem modernen<br />
Gefechtsfeld. Folglich muss<br />
sich bei der Frage, wie die Unversehrtheit<br />
der Mitarbeiter zu gewährleisten<br />
ist, der Schwerpunkt von der<br />
Akzeptanzstrategie hin zu einer<br />
Schutzstrategie verschieben. Die Aktzeptanzstrategie<br />
geht davon aus, dass<br />
die Sicherheit der Helfer durch ihre<br />
Anwesenheit gegeben ist <strong>und</strong> im<br />
Zweifel, durch den Cordon der durch<br />
die Hilfeleistung betroffenen Bevölkerung<br />
garantiert wird, da der Ausfall<br />
oder Abzug der Helfer gleichzeitig<br />
das Ende der Vergünstigungen<br />
bedeuten. Folglich war die wesentliche<br />
Plattform dieser Strategie der<br />
Rückhalt in der Bevölkerung. Auf<br />
Gr<strong>und</strong> der oben beschriebenen Prozesse<br />
<strong>und</strong> Differenzierungen ist dieser<br />
Rückhalt nicht mehr so ungeteilt<br />
gegeben. Humanitäre Helfer werden<br />
folgerichtig zunehmend als direktes<br />
Ziel von Gewalt definiert <strong>und</strong> angegriffen.<br />
<strong>Der</strong> Cordon der Bevölkerung<br />
ist mithin durchlässig geworden <strong>und</strong><br />
erfüllt seinen Schutzauftrag nicht<br />
mehr ausreichend. Dementsprechend<br />
müssen Schutzstrategien entwickelt<br />
werden, die berücksichtigen,<br />
dass die humanitäre Hilfe nicht isoliert<br />
betrachtet werden kann, sondern<br />
immer in vielschichtigen <strong>und</strong> mehrdimensionalen<br />
Wechselwirkung zu<br />
allen Akteuren <strong>und</strong> Aktivitäten im<br />
humanitären Raum steht.<br />
Die Ansatzpunkte <strong>und</strong> Strategien<br />
konstruktiver Konfliktbearbeitung in<br />
der Staaten- <strong>und</strong> Gesellschaftswelt<br />
können in Anlehnung an die Trias<br />
„Prävention – Eindämmung – Nach-<br />
sorge“ in drei Handlungsfelder eingeteilt<br />
werden: Gewaltprävention,<br />
Krisen- <strong>und</strong> Konfliktmanagement <strong>und</strong><br />
Friedenskonsolidierung. 12 Die Problemlösungsansätze<br />
sind entsprechend<br />
den Herausforderungen komplexer<br />
geworden. <strong>Der</strong> Einsatz militärischer<br />
Mittel erfolgt in der Regel<br />
nicht mehr zeitlich als „ultima ratio“,<br />
sondern komplementär zu einem Policy-Mix<br />
aus Außen-, Innen-, Entwicklungs-,<br />
Finanz-, Rechts- <strong>und</strong> Justizpolitik.<br />
13 Die Fähigkeitsorientierung ist<br />
somit nicht allein auf das Einsatzspektrum<br />
militärischer Streitkräfte beschränkt,<br />
sondern soll alle sicherheitspolitischen<br />
Aufgaben <strong>und</strong> Akteure<br />
umfassen. 14 Ausdruck hier<strong>für</strong> ist<br />
der „Inter-Agency-Prozess“, das heißt<br />
die Vernetzung aller staatlichen Akteure<br />
<strong>und</strong> die mögliche Einbindung<br />
nichtstaatlicher Institutionen. Dies<br />
können wissenschaftliche Institute,<br />
Think-Tanks, Wirtschaftsunternehmen,<br />
Finanzdienstleister, aber auch<br />
Hilfsorganisationen sein. 15 In den<br />
Überlegungen aller sicherheitspolitischen<br />
Akteure, Methoden, Strategien<br />
<strong>und</strong> Strukturen zu entwickeln, um<br />
Krisenbewältigung durchzuführen<br />
<strong>und</strong> ein hohes Maß an Stabilität zu<br />
erhalten bzw. wiederherzustellen,<br />
stellen die Streitkräfte, neben anderen,<br />
insofern nur eine Komponente<br />
dar. 16 Militärische Stärke kann sich<br />
gegen asymmetrische Bedrohungen<br />
nur mehr im Verb<strong>und</strong> mit anderen<br />
staatlichen <strong>und</strong> internationalen Akteuren<br />
<strong>und</strong> Institutionen wirksam entfalten<br />
17 <strong>und</strong> umfassende militärische<br />
Fähigkeiten sind Teil eines mehrdimensionalen<br />
Ansatzes aus politischen,<br />
wirtschaftlichen, entwicklungspolitischen<br />
<strong>und</strong> sicherheitspolitischen<br />
Instrumenten, um im multilateralen<br />
Zusammenwirken mit Verbündeten<br />
<strong>und</strong> Partnern die regionale<br />
<strong>und</strong> / oder globale Sicherheit zu stärken.<br />
18 Gleichzeitig sind auch inner-<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 11
staatliche Szenarien denkbar, welche<br />
eine enge Zusammenarbeit von<br />
Nachrichtendiensten, diplomatischen<br />
Diensten <strong>und</strong> die Koordination von<br />
Einsatzkräften der Polizeien, Rettungsdienste,<br />
Hilfsorganisationen<br />
<strong>und</strong> der Streitkräfte erfordern. 19 Fraglich<br />
könnte allerdings sein, ob es wirklich<br />
gelingen kann, die volle Komplexität<br />
<strong>und</strong> umfassende Form der Interoperabilität<br />
zwischen allen<br />
Sicherheitskräften sowie zwischen<br />
diesen <strong>und</strong> den zivilen Akteuren zu<br />
erreichen. 20 Die bejahende Ansicht<br />
sieht zwar, dass es bereits beim Zusammenwirken<br />
staatlicher Kräfte wie<br />
Polizei <strong>und</strong> Militär anspruchsvolle<br />
Schnittstellenprobleme gibt. Diese<br />
werden durch das Problem der Multinationalität<br />
<strong>und</strong> die hierdurch bedingten<br />
vielschichtigen <strong>und</strong> mehrdimensionalenInteroperabilitätsprobleme<br />
noch verstärkt.<br />
In diesem neu zu betrachtenden<br />
Feld zivil-militärischer Interaktion ist<br />
weitgehend unstrittig, dass Sicherheit<br />
nicht ohne Entwicklung <strong>und</strong> nachhaltige<br />
Entwicklung nicht ohne Sicherheit<br />
zu haben sind; in der Diskussion<br />
steht aber die Frage im Vordergr<strong>und</strong>,<br />
ob die zivil-militärische Interaktion an<br />
Rollendistanz, Wettbewerb, einer<br />
komplementären Kooperation oder<br />
am Modell einer zivil-militärischen<br />
Fusion im Namen „ganzheitlicher<br />
Politik“ ausgerichtet sein soll. 21<br />
Hilfsorganisationen <strong>und</strong> NGOs, die<br />
ihrerseits eine zutiefst inhomogene<br />
Gruppe mit zum Teil völlig unterschiedlicher<br />
Ausrichtung, Zielsetzung<br />
<strong>und</strong> Anspruch darstellen, umfassend<br />
in einen Einsatz bewaffneter Organisationen<br />
einzubinden, setzt allerdings<br />
voraus, dass diese auch willens <strong>und</strong><br />
in der Lage sind, Teil einer gemeinsamen<br />
Operation zu werden.<br />
Bisher muss man allerdings davon<br />
ausgehen, dass NGOs gerade das<br />
nicht wollen <strong>und</strong> bei objektiver Betrachtung<br />
eine volle Einbindung in<br />
Operationen bewaffneter Organisationen<br />
auch nicht wollen können. Die<br />
Gründe hier<strong>für</strong> sind mehrschichtig:<br />
Zum einen besteht bei einer Vielzahl<br />
der Hilfsorganisationen eine politisch-ideologische<br />
Ablehnung gegen<br />
alles Militärische; die Mitarbeiter<br />
dieser Organisationen sind oft-<br />
mals nicht zuletzt aus diesem Gr<strong>und</strong>e<br />
hier aktiv geworden. Hier besteht<br />
häufig auch ein Anspruch auf „Definitionshoheit“<br />
der Entwicklungspolitik<br />
bzw. humanitärer Organisationen<br />
mit moralischem Alleinvertretungsanspruch.<br />
22<br />
Gleichzeitig ist ein Trend zur „Kommerzialisierung“,<br />
zur Mutation der<br />
non-profit zur partiellen for-profit Organisationen<br />
in Gang gekommen, der<br />
auch durch die zunehmende Einbindung<br />
der humanitären Akteure in die<br />
Programme <strong>und</strong> Projekte nationaler<br />
<strong>und</strong> internationaler staatlicher Geldgeber<br />
verstärkt wird. 23 Mithin stehen<br />
hier auch handfeste finanzielle Interessen<br />
im Raum: Die Ressourcenverteilung<br />
zugunsten des Militärs wird<br />
als nicht problemadäquat in Frage<br />
gestellt <strong>und</strong> sollte zugunsten der humanitären<br />
Hilfe <strong>und</strong> der Entwicklungshilfe<br />
umverteilt werden. 24 Insofern<br />
sehen sich die Hilfsorganisationen<br />
in direkter Konkurrenz um<br />
Ressourcen <strong>und</strong> Einfluss insbesondere<br />
zum Militär, aber auch anderen<br />
bewaffneten Organisationen gegenüber.<br />
Des Weiteren verbieten die Gr<strong>und</strong>sätze<br />
der Überparteilichkeit <strong>und</strong> Unabhängigkeit<br />
(Code of Conduct) den<br />
meisten NGOs eine solche Art der<br />
Zusammenarbeit. Militär <strong>und</strong> Polizei,<br />
Grenzschutz <strong>und</strong> andere dagegen<br />
sind immer im staatlichen Auftrag tätig,<br />
auch wenn dieses hoheitliche<br />
Handeln auf einen kleinsten gemeinsamen<br />
Nenner multinationaler oder<br />
internationaler Interessendurchsetzung<br />
gerichtet ist. Für viele humanitäre<br />
Organisationen hingegen ist es<br />
gerade keine Aufgabe, sich <strong>für</strong> die<br />
Prävention bewaffneter Konflikte,<br />
Friedenssicherung, Demokratisierung<br />
oder den Schutz der Menschenrechte<br />
einzusetzen, da diese zwar<br />
wichtige, aber nicht-humanitäre Ziele<br />
seien, im Sinne der Sorge um Menschen<br />
in Not <strong>und</strong> das Bemühen um<br />
bedingungslose Menschlichkeit. 25<br />
Dieser Ansicht wird kritisch entgegengehalten,<br />
dass bei einer solchen<br />
Betrachtung der sozialen Beziehungen<br />
von Kriegsgesellschaften die<br />
Menschen auf ihren Status als Opfer<br />
reduziert <strong>und</strong> die besonderen Macht<strong>und</strong><br />
Herrschaftsverhältnisse, durch<br />
die Menschen ins Elend gestürzt werden,<br />
dabei fast immer außer Acht gelassen<br />
werden. 26 Gleichzeitig ist auch<br />
hier zu hinterfragen, inwieweit es mit<br />
der tatsächlichen Unabhängigkeit der<br />
Hilfsorganisationen auf der internationalen<br />
Bühne bestellt ist oder ob sie<br />
nicht zum privaten Arm der Entwicklungs-<br />
<strong>und</strong> Außenpolitik ihrer Heimatstaaten<br />
werden, zu bloßen Dienstleistern<br />
<strong>für</strong> Hilfsprogramme, die Hilfe<br />
als Geschäft betreiben. 27 In diesem<br />
Zusammenhang wird auch davon<br />
ausgegangen, dass die Annahme, die<br />
Nichtregierungsorganisationen stellten<br />
von vornherein ein Gegengewicht<br />
zur staatlichen Politik dar,<br />
falsch ist, da sich zunehmend die<br />
Strategie des out-sourcing einzubürgern<br />
scheint <strong>und</strong> damit die Regierungen<br />
die Nichtregierungsorganisationen<br />
mit der Abwicklung ihrer Projekte<br />
beauftragen, womit sich die Politik<br />
Instrumente zur Steuerung <strong>und</strong> Kontrolle<br />
der in diesen Sektoren tätigen<br />
Akteure verschafft hat. 28 Darüber hinaus<br />
müssen die „Helfer“ auch realisieren,<br />
dass sie durch ihre Hilfsmaßnahmen,<br />
z. B. die Bereitstellung materieller<br />
Hilfe, aber auch durch die<br />
daraus abgeleiteten Einkommen <strong>und</strong><br />
Transportentgelte, selbst wirtschaftliche<br />
Akteure im Konflikt sind. 29 Während<br />
jegliche Form humanitärer<br />
Hilfe mit dem Prinzip der Humanität<br />
vereinbar ist, ergibt sich <strong>für</strong> die nichtstaatlichen<br />
Akteure das Dilemma,<br />
welchen Prinzipien humanitären Handelns<br />
sie Priorität einräumen <strong>und</strong><br />
welchen nicht: Unparteilichkeit, Unabhängigkeit<br />
<strong>und</strong> Neutralität. 30<br />
Eine Unterscheidung zwischen den<br />
Zielsetzungen der Regierungen bzw.<br />
Militärs der intervenierenden Staaten<br />
<strong>und</strong> den NGOs wird erschwert, wenn<br />
diese direkt oder indirekt in die Vorbereitung,<br />
Durchführung oder Nachbereitung<br />
von bewaffneten Interventionen<br />
einbezogen sind. 31 Nicht<br />
zuletzt ist es <strong>für</strong> die NGOs aus berechtigten<br />
Gründen der eigenen Sicherheit<br />
nicht geboten, zu viel Nähe<br />
zu bewaffneten Organisationen zu<br />
zeigen, um nicht mit diesem identifiziert<br />
zu werden. Eine solche Gleichsetzung<br />
könnte die Grenzen zwischen<br />
humanitärer Hilfe <strong>und</strong> bewaffneter<br />
Aktion auch in den Augen Dritter ver-<br />
12 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
schwimmen oder gar aufheben lassen<br />
– mit der Folge, dass Hilfsorganisationen<br />
damit auch mögliches Ziel<br />
werden können. Insofern ist hier der<br />
„Faktor Mensch“ der limitierende Faktor<br />
in einem Prozess, in dem es bisher<br />
im Schwerpunkt um die Transformation<br />
militärischer Fähigkeiten ging. 32<br />
Eine enge Kooperation der Akteure<br />
birgt aus entwicklungspolitischer<br />
Sicht vor allem das erhebliche Risiko,<br />
kurzfristigen militärischen Strategien<br />
untergeordnet zu werden. 33 <strong>Der</strong><br />
Einsatz von bewaffneten Kräften (z.B.<br />
die Provincial Reconstruction Teams,<br />
PRT, in Afghanistan) mit der Begründung,<br />
Hilfsorganisationen müssten<br />
geschützt werden, wird von Vertretern<br />
von Hilfsorganisationen als „gefährlicheWahrnehmungsverschiebung“<br />
angesehen; vielmehr sei es so,<br />
dass humanitäre Organisationen als<br />
Teil der westlichen politischen Strategie<br />
dargestellt <strong>und</strong> als Teil der westlichen<br />
Intervention (so z. B. im Irak)<br />
wahrgenommen werden. 34 Dabei<br />
werden von einer Gegenmeinung die<br />
PRT als Präzedenzfall <strong>für</strong> die organisatorisch-politische<br />
Integration ziviler<br />
<strong>und</strong> militärischer Tätigkeiten im<br />
Rahmen einer gesamtstaatlichen Interventionsstrategie<br />
angesehen. 35<br />
Allerdings ist auch in dieser Frage<br />
zwischen den Hilfsorganisationen ein<br />
Streit entbrannt, bei dem sich die Vertreter<br />
der Linie des „Klassischen Humanitarismus“<br />
darauf beschränken<br />
wollen, dass die humanitären Schutz<strong>und</strong><br />
Hilfeleistungsmaßnahmen im<br />
politisch neutralen <strong>und</strong> unabhängigen<br />
Umfeld geleistet werden; bei den<br />
Vertretern des „Neuen Humanitarismus“<br />
wird humanitäre Akuthilfe<br />
ebenso geleistet wie Wiederaufbau<strong>und</strong><br />
Entwicklungshilfe, wobei – anders<br />
als beim klassischen Ansatz –<br />
keine Berührungsängste zwischen<br />
humanitären, politischen sowie militärischen<br />
Akteuren besteht. 36<br />
Zusammenfassend lässt sich feststellen,<br />
dass die Einbindung nichtmilitärischer<br />
Akteure aus verschiedenen<br />
Disziplinen die Bestrebungen zur Zielerreichung<br />
gewinnbringend katalysieren<br />
<strong>und</strong> unterstützen könnte, oftmals<br />
sogar eine bessere Alternative<br />
zur Anwendung militärischer Gewalt<br />
darstellen könnte. Allerdings ist die<br />
totale Einbindung von Hilfsorganisationen<br />
in den Interagency-Prozess im<br />
Sinne einer Unterstellung oder Einbindung<br />
mit der Absicht, diese zu „koordinieren“<br />
auf Gr<strong>und</strong> der vorgetragenen<br />
Argumente nicht möglich <strong>und</strong><br />
auch gar nicht gewollt. Im Gegenteil:<br />
Ein solcher Ansatz könnte sich kontraproduktiv<br />
auswirken. Es kommt<br />
also darauf an, durch eine Sinn- <strong>und</strong><br />
Zielvermittlung die Hilfsorganisationen<br />
in einer strategischen Abstimmung<br />
zu einem ergänzenden, kohärenten<br />
Handeln auf der operativen<br />
Ebene zu bewegen. Dies erscheint<br />
dann vorstellbar, wenn zweifelsfrei<br />
bleibt, dass unabhängige Organisationen<br />
eigenständige <strong>und</strong> selbstverantwortliche<br />
Entscheidungen <strong>und</strong> auf<br />
eigenem Urteil basierend darüber<br />
befinden, wie sie mit anderen Organisationen<br />
interagieren wollen: Unterstützend,<br />
neutral oder störend. 37<br />
Es wird also darauf ankommen<br />
herauszufinden, wie eine günstige<br />
Interaktionsstruktur geschaffen werden<br />
kann, aus welcher alle interagierenden<br />
Organisationen gegenseitigen<br />
Vorteil ziehen können. 38<br />
In ihrer auf die Zukunft gerichteten<br />
Aufstellung sind die humanitären<br />
Organisationen gefordert, den geänderten<br />
Rahmenbedingungen ihres<br />
Handelns nachhaltig Rechnung zu<br />
tragen: Zum einen ist die Frage zu<br />
beantworten, ob, wie <strong>und</strong> wie weit<br />
sie bereit sind, im humanitären Raum<br />
mit anderen zu interagieren; zum anderen<br />
müssen sie <strong>für</strong> sich die Frage<br />
beantworten, wie sie die Sicherheit<br />
der humanitären Organisation, ihrer<br />
Angehörigen <strong>und</strong> Schutzbefohlenen<br />
in der humanitären Mission gewährleisten<br />
wollen. Beide Fragen bzw.<br />
die sich hieraus ergebenen Antworten<br />
stehen miteinander in einer engen<br />
Wechselwirkungsbeziehung.<br />
Aus ihnen ergeben sich zwingend<br />
direkte Auswirkungen auf das Selbstverständnis<br />
der Organisation, aber<br />
auch insbesondere personelle, organisatorische<br />
<strong>und</strong> technisch-materielle<br />
Konsequenzen:<br />
Die humanitären Akteure müssen<br />
sich tiefgründig mit Risiko- <strong>und</strong> Bedrohungsanalysen<br />
befassen <strong>und</strong> beurteilen,<br />
welche Wirkungen ihre Anwesenheit<br />
<strong>und</strong> ihr Tätigwerden im<br />
Raum auslösen <strong>und</strong> bewirken. Die<br />
Gefahren von Anschlägen, Entführungen<br />
<strong>und</strong> Geiselnahmen sind in diese<br />
Überlegungen einzubeziehen <strong>und</strong><br />
bedürfen Strategien <strong>für</strong> deren Bewältigung.<br />
Ebenso sind Rückzugs- <strong>und</strong><br />
Evakuierungsstrategien zu entwerfen<br />
<strong>und</strong> zu implementieren <strong>und</strong> die hier<strong>für</strong><br />
notwendigen Ressourcen an Personal,<br />
Information <strong>und</strong> Material<br />
bereitzustellen, <strong>und</strong> ggf. kompetente<br />
Sicherheitspartnerschaften zu installieren<br />
<strong>und</strong> zu pflegen.<br />
Bei einer ernsthaften Umsetzung<br />
dieser Fragen müssen sich humanitäre<br />
Organisationen ein Krisen- <strong>und</strong><br />
Sicherheitsmanagement zulegen, das<br />
auf der Gr<strong>und</strong>lage einer entsprechenden<br />
„Policy-Guideline“ Richtlinien<br />
<strong>und</strong> Verhaltensweisen <strong>für</strong> alle sicherheitsrelevanten<br />
Situationen im Feld<br />
verbindlich vorgibt. Dabei ist zu berücksichtigen,<br />
dass derartige Vorgaben<br />
wiederum Auswirkungen <strong>und</strong><br />
Interdependenzen auf die Sicherheit<br />
haben. So ist z. B. das Bereitstellen<br />
einer persönlichen Splitterschutzausrüstung<br />
(Dresscode, Helm, Weste)<br />
eine Frage, die auf dieser Ebene zu<br />
beantworten ist <strong>und</strong> kann nicht auf<br />
der operativ-taktischen Ebene beantwortet<br />
werden, da ein derartiges Auftreten<br />
möglicherweise Einfluss auf<br />
das Ansehen der Organisation <strong>und</strong><br />
ggf. damit auch auf deren Akzeptanz<br />
hat. Dagegen ist die Entscheidung,<br />
ob bzw. wann eine entsprechende<br />
Ausrüstung angelegt werden soll<br />
oder gar muss, eine Entscheidung<br />
der operativen Ebene vor Ort, die sich<br />
aus der Lage ebendort ergibt. Somit<br />
wird deutlich, dass das Krisen- <strong>und</strong><br />
Sicherheitsmanagement mehrstufig<br />
<strong>und</strong> mit abgestuften Verantwortlichkeiten<br />
aufgebaut werden muss.<br />
Fußnoten<br />
1 Dieter Nohlen, Globalisierung, in:<br />
Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze<br />
(Hrsg.), Lexikon der Politikwissenschaft,<br />
Bd. 1, A-M, 2. Aufl. 2004,<br />
S. 301 ff.<br />
2 Norbert Gottschalk, Neue strategische<br />
Trends – Herausforderungen<br />
<strong>für</strong> Strategie <strong>und</strong> Militärstrategie,<br />
Lehrgangsarbeit an der Führungsa-<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 13
kademie der B<strong>und</strong>eswehr Hamburg<br />
1998, S. 22; vgl. John L. Clarke, <strong>Der</strong><br />
Konflikt im Wandel der Zeit. Herausforderungen<br />
der sich wandelnden<br />
Kriegführung, in: ÖMZ 1997, S. 115 ff.<br />
3 Dirk Freudenberg, Terrorismus,<br />
Gr<strong>und</strong>sätzliche Überlegungen zu einem<br />
komplexen Phänomen, Teil 1:<br />
Was ist Krieg heute?, in: Notfallvorsorge<br />
2003, Heft 3, S. 20-22<br />
4 John L. Clarke, <strong>Der</strong> Konflikt im<br />
Wandel der Zeit, Herausforderungen<br />
der sich wandelnden Kriegsführung,<br />
in: ÖMZ 1997, S. 115 ff.<br />
5 Klaus Naumann, Rolle <strong>und</strong> Aufgaben<br />
der NATO in der Zukunft, Manfred<br />
Wörner-Rede, veranstaltet vom<br />
Fre<strong>und</strong>eskreis der B<strong>und</strong>esakademie<br />
<strong>für</strong> Sicherheitspolitik am 20.03.1999<br />
in Bonn, in: Internet vom 18.05.1999,<br />
http://www.baks.com/60HotSpot.<br />
html, S. 3.; vgl. Lutz Krake, das<br />
Schutzkonzept – Antworten auf neue<br />
Bedrohungen bei Friedensmissionen,<br />
in: Wehrtechnischer Report 2000,<br />
Heft 11, S. 18 ff.<br />
6 Lutz Krake, das Schutzkonzept –<br />
Antworten auf neue Bedrohungen bei<br />
Friedensmissionen, in: Wehrtechnischer<br />
Report 2000, Heft 11, S. 18 ff.<br />
7 Frank Schirrmacher, Was gedacht<br />
werden kann, wird auch gemacht<br />
werden, in: FAZ vom 13.<strong>11.</strong><br />
<strong>2001</strong>, S. 51<br />
8 Dirk Freudenberg, Terrorismus,<br />
Gr<strong>und</strong>sätzliche Überlegungen zu einem<br />
komplexen Phänomen, Teil 1:<br />
Was ist Krieg heute?, in: Notfallvorsorge<br />
2003, Heft 3, S. 20 ff.; vgl. Dirk<br />
Freudenberg, Terrorismus <strong>und</strong> Zivilschutz,<br />
in: Informationsdienst Terrorismus<br />
2004, Heft 3, S. VII<br />
9 Dirk Freudenberg, Terrorismus<br />
<strong>und</strong> Zivilschutz, in: Informationsdienst<br />
Terrorismus 2004, Heft 3, S. VII<br />
10 Martin Neujahr, Vernetzte Operationsführung<br />
<strong>und</strong> das neue operative<br />
Umfeld: Gesteigerte Einsatzwirksamkeit<br />
durch verbesserte Führungsfähigkeit,<br />
in: Heiko Borchert (Hrsg.),<br />
Vernetzte Sicherheit. Leitidee der Sicherheit<br />
im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert, S. 38 ff.<br />
11 Wolf Dieter Eberwein, Humanitäre<br />
Hilfe – Krieg <strong>und</strong> Terror. Kontinuität<br />
des Politikfeldes der humanitären<br />
Hilfe, Berlin 2004, S. 1<br />
12 Tomas Debiel, Konfliktbearbeitung<br />
in Zeiten des Staatszerfalls, in:<br />
Ursula Blanke (Hrsg.), Krisen <strong>und</strong> Konflikte.<br />
Von der Prävention zur Friedenskonsolidierung,<br />
Berlin 2004, S. 21 ff<br />
13 Manfred Engelhardt, Militärische<br />
Instrumente der Konfliktbearbeitung,<br />
in: Ursula Blanke (Hrsg.), Krisen<br />
<strong>und</strong> Konflikte. Von der Prävention<br />
zur Friedenskonsolidierung, Berlin<br />
2004, S. 91 ff<br />
14 Heiko Borchert, Reinhardt Rummel,<br />
Von segmentierter zu vernetzter<br />
Sicherheit in der EU der 25, in:<br />
ÖMZ 2004, Heft 3, S. 259 ff.<br />
15 Hans Reimer, Dirk Freudenberg,<br />
Multinationale Interagency Groups –<br />
Unterstützung der Sicherheitsvorsorge<br />
im gesamtstaatlichen Ansatz.<br />
Zu Hintergr<strong>und</strong>, Sachstand <strong>und</strong> Perspektiven<br />
im Themenfeld „Interagency<br />
Interaction“, Internet vom 04.<strong>11.</strong><br />
2004, www.baks.com/transformation/mi.doc<br />
16 Peter Vorhofer, Civil-Military Cooperation.<br />
Zur Evolution einer neuen<br />
Aufgabe in der Krisenbewältigung, in:<br />
ÖMZ 2003, Heft 6, S. 753<br />
17 Bernhard Lauring, Network-Centric-Warfare.<br />
Die Supermacht Amerika<br />
hebt endgültig ab, in: ÖMZ 2003,<br />
Heft 6, S. 760 ff.; 761<br />
18 Manfred Engelhardt, Militärische<br />
Instrumente der Konfliktbearbeitung,<br />
in: Ursula Blanke (Hrsg.), Krisen<br />
<strong>und</strong> Konflikte. Von der Prävention<br />
zur Friedenskonsolidierung, Berlin<br />
2004, S. 91 ff<br />
19 vgl. Helmut Habermayer, Network-Centric<br />
Warfare – <strong>Der</strong> Ansatz<br />
eines Kleinstaates, in: ÖMZ 2004, Heft<br />
3, S. 269 ff.<br />
20 vgl. Heiko Borchert, Reinhardt<br />
Rummel, Von segmentierter zu vernetzter<br />
Sicherheit in der EU der 25,<br />
in: ÖMZ 2004, Heft 3, S. 259 ff.<br />
21 vgl. Andreas Heinemann-Grüder,<br />
Tobias Pietz, Zivil-militärische Intervention<br />
– Militärs als Entwicklungshelfer,<br />
in: Christoph Weller, Ulrich<br />
Ratsch, Rheinhard Mutz, Bruno<br />
Schoch, Corinna Hauswedell (Hrsg.),<br />
Friedensgutachten 2004, Münster<br />
2004, S. 200 ff.<br />
22 vgl. Andreas Heinemann-Grüder,<br />
Tobias Pietz, Zivil-militärische In-<br />
tervention – Militärs als Entwicklungshelfer,<br />
in: Christoph Weller, Ulrich<br />
Ratsch, Rheinhard Mutz, Bruno<br />
Schoch, Corinna Hauswedell (Hrsg.),<br />
Friedensgutachten 2004, Münster<br />
2004, S. 200 ff.<br />
23 Wolf Dieter Eberwein, Humanitäre<br />
Hilfe – Krieg <strong>und</strong> Terror. Kontinuität<br />
des Politikfeldes der humanitären<br />
Hilfe, Berlin 2004, S. 33 f.<br />
24 vgl. Michael Brzoska, Human<br />
Security – mehr als ein Schlagwort?,<br />
in: Christoph Weller, Ulrich Ratsch,<br />
Rheinhard Mutz, Bruno Schoch, Corinna<br />
Hauswedell (Hrsg.), Friedensgutachten<br />
2004, Münster 2004, S. 156 ff.<br />
25 vgl. Ulrike von Pilar, Konfliktprävention<br />
– (k)eine Aufgabe <strong>für</strong> humanitäre<br />
Organisationen?, in: Ursula<br />
Blanke (Hrsg.), Krisen <strong>und</strong> Konflikte.<br />
Von der Prävention zur Friedenskonsolidierung,<br />
Berlin 2004, S. 203 ff<br />
26 Thomas Gebauer, Zwischen Befriedung<br />
<strong>und</strong> Eskalation. Zur Rolle der<br />
Hilfsorganisationen in Bürgerkriegsökonomien,<br />
in: Werner Ruf (Hrsg.),<br />
Politische Ökonomie der Gewalt.<br />
Staatszerfall <strong>und</strong> die Privatisierung<br />
von Gewalt <strong>und</strong> Krieg, S. 281 ff.<br />
27 Bernd Ludermann, Privater Arm<br />
der Geberstaaten? Widersprüchliche<br />
Funktionen von NGOs in der Not- <strong>und</strong><br />
Entwicklungshilfe, in: Tanja Brühl,<br />
Thomas Debiel, Brigitte Hamm, Hartwig<br />
Hummel, Jens Martens (Hrsg.),<br />
Die Privatisierung der Weltpolitik.<br />
Entstaatlichung <strong>und</strong> Kommerzialisierung<br />
im Globalisierungsprozess,<br />
S. 174 ff<br />
28 Wolf Dieter Eberwein, Humanitäre<br />
Hilfe – Krieg <strong>und</strong> Terror. Kontinuität<br />
des Politikfeldes der humanitären<br />
Hilfe, Berlin 2004, S. 36<br />
29 Francois Jean, Jean-Christophe<br />
Rufin (Hrsg.), Ökonomie der Bürgerkriege,<br />
Vorwort, in: Francois Jean, Jean-<br />
Christophe Rufin, Ökonomie der Bürgerkriege,<br />
Hamburg 1999, S. 7 ff.<br />
30 Wolf Dieter Eberwein, Humanitäre<br />
Hilfe – Krieg <strong>und</strong> Terror. Kontinuität<br />
des Politikfeldes der humanitären<br />
Hilfe, Berlin 2004, S. 2<br />
31 Andreas Heinemann-Grüder,<br />
Tobias Pietz, Zivil-militärische Intervention<br />
– Militärs als Entwicklungshelfer,<br />
in: Christoph Weller, Ulrich<br />
14 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
Ratsch, Rheinhard Mutz, Bruno<br />
Schoch, Corinna Hauswedell (Hrsg.),<br />
Friedensgutachten 2004, Münster<br />
2004, S. 200 ff.<br />
32 Hans Reimer, Dirk Freudenberg,<br />
Multinationale Interagency Groups –<br />
Unterstützung der Sicherheitsvorsorge<br />
im gesamtstaatlichen Ansatz. Zu<br />
Hintergr<strong>und</strong>, Sachstand <strong>und</strong> Perspektiven<br />
im Themenfeld „Interagency<br />
Interaction“, Internet vom 04.<strong>11.</strong>2004,<br />
www.baks.com/transformation/mi.doc<br />
33 Stephan Klingebiel, Katja Roeder,<br />
Das entwicklungspolitisch-miltärische<br />
Verhältnis: <strong>Der</strong> Beginn einer<br />
neuen Allianz?, in: Deutsches Institut<br />
<strong>für</strong> Entwicklungspolitik (DIE), Analysen<br />
<strong>und</strong> Studien 2004, Heft 1, S. 2<br />
34 vgl. Ulrike von Pilar, Konfliktprävention<br />
– (k)eine Aufgabe <strong>für</strong> humanitäre<br />
Organisationen?, in: Ursula Blanke<br />
(Hrsg.), Krisen <strong>und</strong> Konflikte. Von der<br />
Prävention zur Friedenskonsolidierung,<br />
Berlin 2004, S. 203 ff.<br />
35 Andreas Heinemann-Grüder,<br />
Tobias Pietz, Zivil-militärische Intervention<br />
– Militärs als Entwicklungshelfer,<br />
in: Christoph Weller, Ulrich<br />
Ratsch, Rheinhard Mutz, Bruno<br />
Schoch, Corinna Hauswedell (Hrsg.),<br />
Friedensgutachten 2004, Münster<br />
2004, S. 200 ff.<br />
36 Michael Schorr, <strong>Der</strong> Wandel der<br />
humanitären Aktion internationaler<br />
Organisationen. Die institutionellen<br />
sowie materiell-rechtlichen Konsequenzen<br />
dargestellt am Beispiel des<br />
IKRK, UNHCR <strong>und</strong> UNHCHR, Hamburg<br />
2004, S. 154<br />
37 Hans Reimer, Dirk Freudenberg,<br />
Multinationale Interagency Groups –<br />
Unterstützung der Sicherheitsvorsorge<br />
im gesamtstaatlichen Ansatz. Zu<br />
Hintergr<strong>und</strong>, Sachstand <strong>und</strong> Perspektiven<br />
im Themenfeld „Interagency<br />
Interaction“, Internet vom 04.<strong>11.</strong>2004,<br />
www.baks.com/transformation/mi.doc<br />
38 Hans Reimer, Dirk Freudenberg,<br />
Multinationale Interagency Groups –<br />
Unterstützung der Sicherheitsvorsorge<br />
im gesamtstaatlichen Ansatz.<br />
Zu Hintergr<strong>und</strong>, Sachstand <strong>und</strong> Perspektiven<br />
im Themenfeld „Interagency<br />
Interaction“, Internet vom 04.<strong>11.</strong><br />
2004, www.baks.com/transformation/mi.doc<br />
Zivilschutzforschungs-<br />
projekt<br />
Reduzierung von Gefahrenbereichen<br />
bei Entschärfungen <strong>und</strong> Sprengungen<br />
von Kampfmitteln wie Bomben <strong>und</strong> Granaten<br />
Manfred Schubert, Angestellter im höheren feuerwehrtechnischen Dienst<br />
im Leitungsstab der Berufsfeuerwehr Hamburg; er hat die zivile Sprengberechtigung,<br />
ist ausgebildeter B<strong>und</strong>eswehrfeuerwerker <strong>und</strong> war als Fachlehrer<br />
<strong>für</strong> Munitionstechnik <strong>und</strong> Kampfmittelbeseitigung an der Technischen<br />
Fachschule der B<strong>und</strong>eswehr in Aachen tätig. Nach seiner Dienstzeit als Soldat<br />
war er 26 Jahre als Sprengmeister beim Kampfmittelräumdienst der<br />
Freien <strong>und</strong> Hansestadt Hamburg, davon 16 Jahre als Leiter des Kampfmittelräumdienstes<br />
<strong>und</strong> von 1999 <strong>für</strong> fünf Jahre als Leiter des Leistungszentrums<br />
„Kampfmittelräumung <strong>und</strong> Umweltschutz” bei der Feuerwehr Hamburg<br />
tätig.<br />
Kampfmittelf<strong>und</strong>e (konventionelle<br />
Munition <strong>und</strong> USBV) stören die Öffentliche<br />
Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung in<br />
dicht bebauten Wohngebieten <strong>und</strong><br />
hochempfindlichen Industrie- <strong>und</strong><br />
Verkehrsanlagen über viele St<strong>und</strong>en<br />
in erheblichem Maße. Wegen des<br />
akuten Gefahrenzustandes der Kampfmittel<br />
(Zeitzünder, Funkzünder, chemische<br />
Instabilität etc.) sowie bei<br />
Maßnahmen der aktiven Gefahrenabwehr<br />
(Entschärfungen, Sprengungen,<br />
Sicherungsarbeiten zum Abtransport)<br />
sind großräumige Evakuierungen<br />
<strong>und</strong> Absperrungen erforderlich, weil<br />
immer die Gefahr einer Detonation<br />
besteht; sie binden über einen langen<br />
Zeitraum eine große Anzahl an<br />
Einsatz- <strong>und</strong> Hilfskräften. Diese Lagen<br />
sind <strong>für</strong> die Kommunen kostenintensiv<br />
<strong>und</strong> bedeuten <strong>für</strong> die gewerbliche<br />
Wirtschaft Produktionsausfälle,<br />
teilweise in Millionenhöhe. Die<br />
in der Regel <strong>für</strong> die Gefahrenabwehr<br />
zuständigen örtlichen Ordnungsbehörden<br />
bedienen sich wegen der fehlenden<br />
speziellen fachlichen Kompetenz<br />
der Dienstleistung des Kampfmittelräumdienstes<br />
oder der Sprengtrupps<br />
der Polizeien des jeweiligen<br />
B<strong>und</strong>eslandes, um die Gefahr endgültig<br />
zu beseitigen.<br />
1. „Kampfmittelbeseitigung”<br />
Unter dem Begriff „Kampfmittel”<br />
versteht man nicht nur Munition militärischer<br />
Herkunft, sondern auch die<br />
so genannten USB „Unkonventionelle<br />
Spreng- <strong>und</strong> Brandvorrichtungen”,<br />
also Gegenstände mit Brand- oder<br />
Explosivstoffen, die in terroristischer<br />
oder in verbrecherischer Absicht außerhalb<br />
des Militärs hergestellt <strong>und</strong><br />
eingesetzt werden.<br />
Die Explosion (Detonation) eines<br />
Kampfmittels ist mit der Freisetzung<br />
gewaltiger Energiemengen, Hitze,<br />
Splitterflug bis zu einer Entfernung<br />
von 2.000 Metern sowie mit Luft- <strong>und</strong><br />
Bodendruckwellen verb<strong>und</strong>en. Bei<br />
der Entschärfung/Sprengung werden<br />
von der „verantwortlichen Person“<br />
(Sprengmeister der Kampfmittelräumdienste/Polizeien)<br />
Sperrzonen<br />
(totale Evakuierung, Abschaltung von<br />
Versorgungsleitungen, Schutz besonderer<br />
Objekte) <strong>und</strong> Warnzonen (teilweise<br />
Evakuierung, luftschutzmäßiges<br />
Verhalten) angeordnet. Diese variieren<br />
je nach Größe des Kampfmittels.<br />
B<strong>und</strong>eseinheitliche Regelungen<br />
bzw. Regelwerke hinsichtlich der Darstellung<br />
der Wirkung <strong>und</strong> die daraus<br />
abzuleitenden Gefahren inklusive der<br />
Notfallvorsorge 4/2005<br />
www.walhalla.de/notfallvorsorge 15
Foto: Schubert<br />
Zivilschutzforsch<br />
oberirdischen Gefahrenbereiche bei<br />
Entschärfungen/Sprengungen existieren<br />
praktisch nicht. Die <strong>für</strong> die Gefahrenabwehr<br />
zuständigen Ordnungsbehörden<br />
müssen auf das Eintreffen<br />
der Fachdienststellen warten <strong>und</strong> sich<br />
in der Regel auf die Empfehlungen<br />
der Sprengmeister verlassen; diese<br />
legen aufgr<strong>und</strong> der örtlichen Gegebenheiten<br />
<strong>und</strong> unter Berücksichtigung<br />
der Munitionsart die notwendigen<br />
Sicherheitsmaßnahmen fest.<br />
Die heutige Generation der „verantwortlichen<br />
Personen” (Sprengmeister)<br />
ist überwiegend bei der B<strong>und</strong>eswehr<br />
oder im Rahmen einer Spezialausbildung<br />
bei der Polizei ausgebildet<br />
worden. Es werden daher in<br />
der Regel die Sicherheitsbestimmungen<br />
der B<strong>und</strong>eswehr angewendet,<br />
die aber an den Aufgaben der Schießplätze<br />
ausgerichtet sind. Diese<br />
Schießplätze liegen fern von Wohngebieten<br />
im freien, <strong>für</strong> Personen abgesperrten<br />
Gelände <strong>und</strong> lassen daher<br />
große Evakuierungsradien zu. Die<br />
wichtigste Verpflichtung der Feuerwerker<br />
auf den Schießplätzen besteht<br />
darin, nie den Lageort des Blindgängers<br />
zu verändern <strong>und</strong> diesen dann<br />
an Ort <strong>und</strong> Stelle berührungsfrei zu<br />
sprengen.<br />
Diese Vorschriften können bei der<br />
Gefahrenabwehr nicht als bindend<br />
angesehen werden, da in der Mehrzahl<br />
der Fälle die Kampfmittel vor der<br />
Entsorgung (Sprengung) zu transpor-<br />
Wirkung von 125 kg TNT auf eine<br />
Hauswand, Hamburg, <strong>September</strong> 1957<br />
tieren sind <strong>und</strong> deshalb entzündert<br />
werden müssen. Ist aus technischen<br />
Gründen eine Entschärfung (Entzünderung)<br />
nicht möglich, so muss das<br />
Kampfmittel an Ort <strong>und</strong> Stelle gesprengt<br />
werden.<br />
Eine Länderumfrage ergab, dass<br />
die jeweils angewandten Gefahrenbereiche<br />
bei gleichem Kampfmittel in<br />
den B<strong>und</strong>esländern nicht einheitlich<br />
sind <strong>und</strong> stark variieren. Ein Vergleich<br />
zu einigen NATO-Ländern ergab zudem,<br />
dass diese weitaus geringere<br />
Gefahrenbereiche bei Entschärfungen/Sprengungen<br />
anwenden.<br />
Auch halten die in Deutschland<br />
angewandten Sicherheitsbestimmungen<br />
einem internationalen Vergleich<br />
nicht stand, da diese in der Regel zu<br />
groß bemessen sind.<br />
Ferner besteht rechtliche Unsicherheit<br />
in der Risikobewertung <strong>und</strong> in<br />
der Risikoakzeptanz, die in vielen Fällen<br />
zu einem „Sicherheitszuschlag”<br />
in der Bemessung der Gefahrenbereiche<br />
führt.<br />
2. Forschungsbedarf<br />
In der zivilen Sprengtechnik wurden<br />
in den vergangenen Jahren neue<br />
Verfahren entwickelt, um die bei einer<br />
Sprengung auftretende Splitter-,<br />
Schleuder- <strong>und</strong> Luftdruckwirkung<br />
sowie die entstehende Hitze zu minimieren.<br />
Als Synergieeffekt war eine<br />
Verringerung des Gefahrenbereichs<br />
zu verzeichnen. Aufgr<strong>und</strong> der Erkenntnisse<br />
eines Sprengversuches mit einer<br />
500 lb. Fliegerbombe (mit einer<br />
„Sandpyramide”) in Hamburg im Mai<br />
<strong>2001</strong> sowie Erfahrungsaustausch mit<br />
Experten aus England, Südafrika <strong>und</strong><br />
den USA ist erkennbar, dass Splitter<br />
vom Munitionskörper durch ein Medium<br />
in unmittelbarer Nähe des<br />
Spreng-/Entschärfungsortes (Sand,<br />
Wasser, Schaum) aufgefangen werden<br />
können <strong>und</strong> danach durch die<br />
Detonationswelle in einen nur nahen<br />
Bereich geschleudert werden. Ferner<br />
ist erfahrungsgemäß davon auszugehen,<br />
dass durch die Präsenz eines<br />
Mediums die Einwirkung von Luftdruckwellen<br />
<strong>und</strong> Hitze auf Menschen<br />
<strong>und</strong> Materialien in der näheren Umgebung<br />
des Spreng-/Entschärfungsortes<br />
erheblich gemindert wird.<br />
Empirische Gewinnung von Daten<br />
Hier<strong>für</strong> müssen gesicherte Daten<br />
durch experimentelles Sprengen im<br />
Nahbereich von verschiedenen Kampfmitteln<br />
(z. B. Granaten, Bomben) gewonnen<br />
werden:<br />
Splitterdichte, -größe <strong>und</strong> -gewicht<br />
ballistisches Verhalten der Splitter<br />
(Anfangsgeschwindigkeit, Querschnittsbelastung)<br />
Endballistik der Splitter bei bestimmten<br />
Rückhaltesystemen<br />
(-medien)<br />
Prüfung von vorhandenen <strong>und</strong> neuen<br />
Medien, die geeignet sind,<br />
Sprengstücke <strong>und</strong> Splitter am Entschärfungs-/Sprengortaufzufangen<br />
Bestimmung der Sek<strong>und</strong>ärwurfweite<br />
(der zurückgehaltenen Splitter<br />
<strong>und</strong> des Rückhaltemediums)<br />
durch den Detonationsdruck des<br />
Kampfmittels<br />
Daten über die zu erwartende Reduzierung<br />
der Luftdruckwellen <strong>und</strong><br />
Hitze bei bestimmten Medien<br />
(Schaum/Wasser/Sprengstoffmatten<br />
etc.)<br />
Implementierung<br />
Mathematische Aufbereitung der<br />
Daten (Splitterballistik, Durchdring<strong>und</strong><br />
Abbremsverhalten der beprobten<br />
Medien, zu erwartende<br />
Schäden an Bauten etc.); rechnerische<br />
Zuordnung der Daten zu bestimmten<br />
Kampfmittelarten oder<br />
anderen Kriterien<br />
mögliche Implementierung obiger<br />
Forschungsergebnisse in bereits<br />
vorhandene (militärische) PC-Anwendungen<br />
(z. B. Ausbreitungsmodelle<br />
von Explosionen, Schutzbereiche<br />
bei der Lagerung von Munition)<br />
oder Entwicklung eines neuen<br />
Computerprogramms, Bewertung<br />
der Sprengexperimente aus w<strong>und</strong>ballistischer<br />
Sicht<br />
Operationalisierung<br />
Entwicklung <strong>und</strong> Erprobung von<br />
praxisnahen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />
Verfahren zur Platzierung der Rückhaltesysteme<br />
am Einsatzort einschließlich<br />
geeigneter Behältnisse<br />
Überprüfung der Empfehlungen<br />
anhand von Sprengversuchen mit<br />
F<strong>und</strong>munition verschiedener Arten<br />
<strong>und</strong> Größen<br />
16 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
ngsprojekt<br />
Erarbeitung von Empfehlungen<br />
(Anweisungen) bei Kampfmittelf<strong>und</strong>en;<br />
Wahl des geeigneten<br />
Rückhaltesystems unter Einbeziehung<br />
des notwendigen Sicherheitsbereiches<br />
beim Einsatz o.g.<br />
Verfahren <strong>und</strong> Medien bzw. bei<br />
Verzicht auf deren Einsatz <strong>und</strong><br />
Diskussion der Sprengergebnisse<br />
hinsichtlich der Schutzziele (incl.<br />
Gefährdungsakzeptanz)<br />
3. Projektverlauf<br />
Das Forschungsprojekt wurde dem<br />
BBK am <strong>11.</strong>03.2002 durch den AK V<br />
vorgeschlagen. Die B<strong>und</strong>esländer<br />
haben dieses Projekt in einem Zustimmungsverfahren<br />
überwiegend<br />
be<strong>für</strong>wortet. Eine „Arbeitsgruppe der<br />
EU-Kommission des DFV/vfdb” hat<br />
sich Mitte 2004 intensiv mit der Umsetzbarkeit<br />
des Vorhabens befasst.<br />
Sie hat dabei auch festgestellt, dass<br />
dieses Projekt nur im Zusammenwirken<br />
von traditionellen, zivilen <strong>und</strong><br />
wehrtechnischen Forschungsfeldern<br />
verwirklicht werden kann.<br />
Als Ergebnis wurde dem BBK vorgeschlagen,<br />
die Wehrtechnische<br />
Dienststelle <strong>für</strong> Waffen <strong>und</strong> Munition<br />
(WTD 91) in Meppen als kompetente<br />
Institution in Deutschland mit der<br />
Durchführung des ersten Teilprojektes<br />
(empirische Gewinnung von ballistischen<br />
Daten) zu beauftragen. Einem<br />
Amtshilfeersuchen des BBK<br />
wurde inzwischen durch die WTD 91<br />
entsprochen. Im November 2005 traf<br />
sich die „Arbeitsgruppe der EU-Kommission<br />
des DFV/vfdb” mit Vertretern<br />
der WTD 91 <strong>und</strong> des BBK in Meppen<br />
<strong>und</strong> legte dabei die qualitativen <strong>und</strong><br />
monetären Inhalte der Sprengexperimente<br />
fest. Diese sind inzwischen<br />
dem BBK zur endgültigen Entscheidung<br />
vorgelegt.<br />
Für bestimmte Aufgaben (Bewertungen)<br />
der munitionstechnischen Sicherheit<br />
sowie <strong>für</strong> die Gefährdungsanalyse<br />
bei Explosionen/Detonationen<br />
stehen bei namhaften in- <strong>und</strong><br />
ausländischen Instituten sowie im<br />
militärischen Bereich bereits PC-<br />
Tools zur Verfügung. Diese haben<br />
sich als schnelles, mobiles <strong>und</strong> zuverlässiges<br />
Werkzeug <strong>für</strong> die Beurteilung<br />
der von Explosivstoffen/Mu-<br />
Foto: Schubert<br />
Pyramide 1: Einhausung einer 500 lb. Bombe durch mit feuchtem Sand gefüllten<br />
„Big Bags“, Abmaße ca. 1 x 1 Meter vor der Sprengung<br />
nition ausgehenden Gefahren bewährt.<br />
Es erscheint daher sinnvoll, die<br />
gewonnenen Daten <strong>für</strong> die Bewertung<br />
der Gefährdungen <strong>und</strong> <strong>für</strong> die<br />
Risikoanalyse in Form einer PC-Anwendung<br />
dem späteren Anwender<br />
zur Verfügung zu stellen. Die Möglichkeit<br />
der Integration bereits bestehender<br />
Prozesse <strong>und</strong> Anwendungen<br />
in die Module ist durchaus denkbar,<br />
muss aber noch geprüft werden. Für<br />
die Entwicklung eines entsprechenden<br />
PC-Tools stehen in Deutschland<br />
namhafte Institute zur Verfügung.<br />
Für die Operationalisierung muss<br />
eine Arbeitsgruppe aus Vertretern<br />
von Polizeien, Kampfmittelräumdiensten<br />
<strong>und</strong> B<strong>und</strong>eswehr gebildet<br />
werden. Die Teilnehmer sollten <strong>für</strong><br />
die operative Umsetzung dieses Teilprojektes<br />
die notwendigen Erfahrungen<br />
bei relevanten Gefahrenlagen<br />
sowie fachliche Fähigkeiten der handwerklichen<br />
Umsetzung besitzen.<br />
Das PC-Tool sollte verschiedene<br />
Grade der Schutzziele (zu erwartende<br />
Personen- <strong>und</strong> Sachschäden beim Einsatz<br />
von verschiedenen Rückhaltemedien)<br />
darstellen <strong>und</strong> diese Fälle mit<br />
Vergleichsrisiken beurteilen können.<br />
4. Architektur des PC-Tools<br />
Modul: Allgemeine Angaben<br />
Eingabe von:<br />
Koordinaten des F<strong>und</strong>ortes<br />
Höhe über N.N. des F<strong>und</strong>ortes<br />
Temperatur <strong>und</strong> aktueller Druck<br />
Wetterverhältnisse<br />
Modul Kampfmittelerkennung<br />
Durch dieses Modul sollen die am<br />
häufigsten vorkommenden Munitionsarten/-sorten<br />
anhand von äußeren<br />
Erkennungsmerkmalen identifiziert<br />
werden können, weil der erste,<br />
sich vor Ort befindende Einsatzleiter<br />
vor dem Eintreffen des Kampfmittelräumdienstes<br />
bzw. Entschärfers die<br />
ersten Sicherheitsmaßnahmen treffen<br />
muss. Dieses Modul gibt dem<br />
Benutzer erste Verhaltens- <strong>und</strong> Sicherheitsratschläge<br />
<strong>und</strong> kann individuell<br />
erweitert werden.<br />
Modul Gefahrenherd<br />
In diesem Modul sind die Parameter<br />
der am häufigsten vorkommenden<br />
Munitionsarten bzw. Munitionssorten<br />
(Landminen, Granaten,<br />
Panzerfäuste, Bomben) bzw. Parameter<br />
der USBV (Sprengstoffbrief, -paket,<br />
USB in Diplomatenkoffer, Autobombe<br />
etc.) aufgeführt, die über ein<br />
Pop-up Menü aufgerufen werden<br />
können.<br />
Diese Parameter sind u. a.:<br />
Kaliber<br />
Munitionsart<br />
Art der Wirkladung (TNT – Äquivalenz)<br />
Masse der Wirkladung<br />
Mittlere Splittergröße<br />
Mittlere Splittergeschwindigkeit<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 17
Zivilschutzforsch<br />
Die vorhandene Liste kann vom<br />
Nutzer jederzeit bedarfsgerecht erweitert<br />
werden.<br />
Modul Kampfmittel auf dem Boden<br />
In der Luft oder am Boden detonierende<br />
Kampfmittel erteilen der<br />
umgebenden Luft einen plötzlichen<br />
Stoß, wodurch Stoßwellen erzeugt<br />
werden. Diese Stoßwellen breiten<br />
sich vom Detonationskern her aus,<br />
ohne die umgebende Luftschicht zu<br />
stören. Daneben dehnen sich die gasförmigen<br />
Detonationsprodukte plötzlich<br />
aus <strong>und</strong> pressen die umgebende<br />
Luftschicht zusammen. Da-durch<br />
breiten sich diese unter starkem<br />
Druck mit hoher Geschwindigkeit hinter<br />
der Stoßwellenfront aus. Es entsteht<br />
so eine positive <strong>und</strong> eine negative<br />
Druckphase.<br />
Detoniert eine metallummantelte<br />
Sprengladung, so verursachen die<br />
sich ausdehnenden Gase eine beträchtliche<br />
Dehnung des Mantels vor<br />
dem Zerlegen bzw. Zersplittern. Bis<br />
zur Hälfte der von dem Sprengstoff<br />
beim Übergang vom festen zum gasförmigen<br />
Zustand erzeugten Energie<br />
kann dabei <strong>für</strong> die Dehnung des Mantels<br />
<strong>und</strong> <strong>für</strong> die Beschleunigung der<br />
Bruchstücke aufgebracht werden.<br />
Hierbei werden auch Teilchen der<br />
Umgebung, wie zum Beispiel Sand,<br />
Steinchen, Erde, mit aufgewirbelt <strong>und</strong><br />
beschleunigt. Die Splitter können in<br />
unmittelbarer Nähe des Detonationsherdes<br />
Wände durchlöchern. Die Temperatur<br />
der Splitter liegt zur Zeit der<br />
Detonation bei ca. 900 °C, nach dem<br />
Flug beim Auftreffen bei ca. 800 °C.<br />
Es erfolgt in diesem Modul die<br />
Berechnung <strong>und</strong> Darstellung unten<br />
aufgezählter Gefährdungen inklusive<br />
der Schadensanalyse (Wirkungen auf<br />
Menschen in Gebäuden <strong>und</strong> im Freien,<br />
Schadensmodelle <strong>für</strong> Gebäude<br />
<strong>und</strong> Versorgungsanlagen, Wirkung in<br />
besonders zu schützenden Objekten<br />
wie Gefahrgüter, BIO-Labors)<br />
Trichter (bei Oberflächendetonation)<br />
Druck (Blast)<br />
Splitter<br />
Feuerball<br />
Modul Kampfmittel im Erdreich<br />
Bei der Explosion von F<strong>und</strong>munition<br />
unterhalb der Oberfläche wird<br />
sich ein Krater bilden, dessen Abmessungen<br />
nicht nur von der Masse der<br />
Ladung, sondern von der Eingrabungstiefe<br />
abhängen. Bei Explosionen<br />
unter der Erdoberfläche entstehen<br />
Gase wie bei Explosionen über<br />
der Erdoberfläche. Diese Gase bewirken<br />
nicht nur eine Verschiebung der<br />
sie umgebenden Erdmasse, sondern<br />
erzeugen auch eine Reihe von Erdstoßwellenfronten.<br />
Die Stoßwellen<br />
breiten sich in ähnlicher Weise im<br />
Erdreich aus wie die von einem Erdbeben<br />
erzeugten Stoßwellenfronten.<br />
Sie durchdringen dabei auch alle<br />
Objekte, die mit dem Erdreich in direkter<br />
Berührung stehen.<br />
Die Art der Beschädigung von Bauwerken<br />
<strong>und</strong> unterirdisch verlegten<br />
Versorgungsleitungen durch Erdstöße<br />
kann berechnet <strong>und</strong> durch Schutzmaßnahmen<br />
(z.B. Schutzgrabenbau)<br />
in vielen Fällen entgegengetreten<br />
werden.<br />
Es erfolgt in diesem Modul die<br />
Berechnung <strong>und</strong> Darstellung unten<br />
aufgezählter Gefährdungen inklusive<br />
der Schadensanalyse (Wirkungen auf<br />
Menschen in Gebäuden <strong>und</strong> im Freien<br />
– W<strong>und</strong>ballistik, Schadensmodelle<br />
<strong>für</strong> Gebäude <strong>und</strong> Versorgungsanlagen,<br />
Wirkung in besonders zu<br />
schützenden Objekten wie Gefahrgüter,<br />
Fortpflanzung der Wellen im Erdreich<br />
<strong>und</strong> Wasser)<br />
Trichter / Kavernen<br />
Druck (Blast), Erdstoßwellen<br />
Splitter<br />
Feuerball<br />
Modul Rückhaltemedien<br />
Für Vernichtungen an einem bestimmten<br />
Ort müssen die Rückhaltemedien<br />
am Rand des künftigen Trichters<br />
angelegt werden, somit muss<br />
dessen Radius im Voraus bekannt<br />
sein.<br />
In diesem Modul werden die Parameter<br />
der verschiedenen Rückhaltemedien<br />
(Art, Dichte <strong>und</strong> Wichte,<br />
Abbremsfaktor Kühlfaktor u. Ä.), die<br />
Form <strong>und</strong> die Abmessungen der<br />
daraus gefertigten Schutzbauten<br />
(Schutzwälle), die Stückliste des zu<br />
verwendenden Materials, die Aufbauzeit<br />
sowie die durchschnittlichen<br />
Kosten (Material <strong>und</strong> Mannst<strong>und</strong>en)<br />
erfasst.<br />
Modul Lage des Gefahrenherdes<br />
Die Schadenswirkung des Detonationsdruckes<br />
kann durch eine Einschließung<br />
der Druckwelle auf Gr<strong>und</strong><br />
der Druckwellenreflexion durch die<br />
einschließenden Flächen verstärkt<br />
werden. So wird eine Druckwelle in<br />
einem Tunnel, Korridor, Graben oder<br />
Straßenzug langsamer an Stärke verlieren<br />
als im offenen Gelände. Bei<br />
Explosionen im Innern von Gebäuden<br />
kommt es zu beträchtlichen Reflexionen<br />
der Druckwellen durch die<br />
Wände.<br />
Reflexionswirkungen <strong>und</strong> die resultierende<br />
trichterförmige Konzentration<br />
der Druckwellen sind bei der<br />
Planung von Evakuierungsmaßnahmen<br />
stets zu berücksichtigen. Durch<br />
reflektierte Druckwellen werden oft<br />
weit außerhalb des normalen Druckbereiches<br />
befindliche Gebäude beschädigt,<br />
während andere Gebäude<br />
gleicher Konstruktion unbeschädigt<br />
bleiben, obwohl sie dem Detonationsherd<br />
bedeutend näher sind.<br />
Einzelne Gebäude oder bestimmte<br />
Geländeformen (Graben, Baugrube,<br />
etc.) dagegen können auch wie<br />
Schutzwälle wirken <strong>und</strong> daher die<br />
Wirkung des Kampfmittels in einem<br />
definierten Bereich in bestimmbaren<br />
Einflüssen minimieren.<br />
Modul GIS<br />
Die Kombination von Geo-Daten<br />
<strong>und</strong> Fachdaten dient der schnellen,<br />
aktuellen <strong>und</strong> präzisen Entscheidungsvorbereitung<br />
<strong>und</strong> bietet Lösungsmöglichkeiten<br />
<strong>für</strong> komplexe<br />
Problemstellungen mit Raumbezug.<br />
Damit eine Simulation auch <strong>für</strong> die<br />
Anwendung in der Kampfmittelräumung<br />
interessant ist, müssen zusätzlich<br />
noch ein interaktiver 3D-Stadt-<br />
Editor der betreffenden Stadt sowie<br />
ein dreidimensionales Strömungs<strong>und</strong><br />
Ausbreitungsmodell zur kleinräumigen<br />
Prognose von Druckwellenverteilung<br />
in Straßen bis hin zu ganzen<br />
Stadtteilen zur Verfügung gestellt<br />
werden:<br />
Hier<strong>für</strong> wird vorausgesetzt, dass<br />
Daten <strong>und</strong> Informationen jederzeit<br />
zugänglich sind, Daten entsprechend<br />
aufbereitet vorliegen, keine Inkompatibilitäten<br />
aufgr<strong>und</strong> verschiedener<br />
IT-Systeme <strong>und</strong> unterschiedli-<br />
18 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
Foto: Schubert<br />
ngsprojekt<br />
Pyramide 2: nach der Sprengung (Reduzierung des Splitterfluges von max 2.000 m<br />
auf ca. 220 m)<br />
cher Standards bestehen <strong>und</strong> dass<br />
Klarheit über die Inhalte von Daten<br />
herrscht.<br />
Modul Auswertung / Risikoanalyse<br />
Die Risikoanalyse sagt die mögliche<br />
Gefährdung der Umgebung im<br />
Falle einer Detonation vorher. Dies beinhaltet<br />
die Auswirkungen des Luftstoßes,<br />
der Splitter <strong>und</strong> des Trümmerwurfs<br />
auf Personen, Tiere, Bauwerke<br />
<strong>und</strong> Umwelt. Daraus werden notwendige<br />
Sicherheitsabstände, Verhaltensregeln<br />
<strong>und</strong> bauliche Schutzmaßnahmen<br />
abgeleitet. Durch eine interaktive<br />
„was wäre wenn“-Abfrage kann die<br />
Wirkung von Schutzbauten berechnet<br />
<strong>und</strong> grafisch dargestellt werden.<br />
Zusammenfassung<br />
Schadenslagen mit Explosivstoffen/Kampfmittel<br />
sind in Deutschland<br />
fast täglich durch die Hinterlassenschaften<br />
des letzten Krieges anzutreffen.<br />
Das Forschungsprojekt soll den<br />
zuständigen Sicherheitsbehörden<br />
durch die Bereitstellung eines PC-<br />
Tools die Vorgänge bei Schadenslagen<br />
mit Kampfmitteln transparent<br />
gestalten, eine zuverlässige <strong>und</strong><br />
schnelle Aussage über Gefährdungen<br />
auf Menschen, Tiere, Infrastruktur<br />
<strong>und</strong> Umwelt bieten, um eine kompetente<br />
Gefährdungs- <strong>und</strong> Risikoanalyse<br />
durchführen sowie zielgerichtet<br />
die notwendigen Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsmaßnahmen<br />
treffen zu können.<br />
Diese Maßnahmen können je nach<br />
Lage sein: Evakuierung, Absperrung<br />
<strong>und</strong> Schutzarbeiten. Die einsatztaktischen<br />
Belange des Entschärfungspersonals<br />
müssen ebenfalls berücksichtigt<br />
werden.<br />
Durch eine mögliche Kosten-/Zeit<strong>und</strong><br />
Gefährdungsanalyse können notwendige<br />
Absperrmaßnahmen zukünftig<br />
auch unter wirtschaftlichen Aspekten<br />
geplant <strong>und</strong> gesteuert werden.<br />
Durch das bedarfsorientierte Anbringen<br />
von verschiedenen Medien<br />
um ein Kampfmittel in Form von<br />
Sandsackumwallungen, Sandsackumhüllungen,<br />
Wasserauflast, Wasserbarriere,<br />
Spezialcontainer etc.<br />
kann zukünftig die Bemessung der<br />
Gefahrenbereiche (Sperr- <strong>und</strong> Warnzone)<br />
bis zu einer Minimalausdehnung<br />
gesteuert bzw. die Schutzziele<br />
genau definiert werden.<br />
Folgende Effekte sind zu erwarten:<br />
Reduzierung der Störung des öffentlichen<br />
Lebens auf das absolut<br />
notwendige Maß<br />
Reduzierung des Bedarfes an Einsatzkräften<br />
Reduzierung der zu evakuierenden<br />
Bevölkerung <strong>und</strong> deren Betreuung<br />
Reduzierung von Kräften des Einsatzhilfsdienstes<br />
Reduzierung von Betriebsstilllegungen<br />
<strong>und</strong> Produktionsausfall<br />
Erhöhung des Schutzes benachbarter<br />
Objekte; dadurch Reduzierung<br />
von Sprengschäden<br />
Durch den modularen Aufbau des<br />
PC-Tools können bereits bestehende<br />
Teile von Anwendungen anderer<br />
Bedarfsträger problemlos eingebaut<br />
werden. Ferner können die neu gewonnenen<br />
Daten in andere PC-Tools<br />
(z. B. Risikobewertung von Gebäuden<br />
bei Explosionsereignissen, Städtebauliche<br />
Risikoanalysen, Schutz<br />
gefährdeter Infrastruktur, militärische<br />
Projekte etc.) auf nationaler oder EU-<br />
Ebene eingebaut <strong>und</strong> verwendet<br />
werden.<br />
Es muss auch zukünftig mit Schadenslagen<br />
mit Explosivstoffen/militärischer<br />
Munition gerechnet werden.<br />
Zwar wird die Zahl der explosiven<br />
Relikte aus dem letzten Kriege zurückgehen,<br />
jedoch bleibt weiterhin die<br />
terroristische Bedrohung präsent.<br />
Auch hier<strong>für</strong> ist das PC-Tool uneingeschränkt<br />
einsetzbar <strong>und</strong> kann<br />
durch nukleare bzw. chemische Module<br />
erweitert werden.<br />
Literatur<br />
US-TM 60A-1-1-4, Explosive Ordnance<br />
Disposal Procedure,<br />
<strong>11.</strong>4.1998, US-Armee<br />
FM 9-16 Explosive Ordnance Reconnaisance,<br />
<strong>September</strong> 1968,<br />
US-Armee (deutsche Übersetzung)<br />
MESH – A Computer Program for<br />
Predicting and Mapping Blast Effects<br />
at Ordnance Remediation Sites,<br />
US-Army Engineering Center,<br />
Huntsville<br />
Crull, Michelle-M., Ordnance and<br />
Explosives Toolbox: Safety Technologies<br />
for OE Programs, US-<br />
Army Engineering Center, Huntsville<br />
Crull, Michelle-M. <strong>und</strong> Wallace A.<br />
Atanabe, Fragment Suppression<br />
by Water in Ordnance Disposal<br />
Operations, US-Army Engineering<br />
Center, Huntsville<br />
DoD 6055-Std, Ammunition and<br />
Explosives Safety Standards,<br />
<strong>11.</strong>08.1997, US-Verteidigungsministerium<br />
Michael M. Swisdak, Jr, The<br />
DDESB Blast Effects Computer-<br />
Version 4.0, Indian Head Division/<br />
Naval Surface Warfare Center<br />
Firmenprospekt Fraunhofer Institut,<br />
Kurzzeitdynamik, Ernst-Mach-<br />
Institut, Freiburg<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 19
Einige Gedanken<br />
Philipp Reber M.A., Ethnologe <strong>und</strong> Historiker, arbeitet seit 15 Jahren<br />
in der humanitären Hilfe <strong>und</strong> Entwicklungszusammenarbeit. Er arbeitet<br />
zurzeit u.a. als Sicherheitsberater bei Caritas Schweiz.<br />
Hilfsorganisationen sehen sich heute zunehmend mit vielfältigen <strong>und</strong> oft<br />
schwer wiegenden Sicherheitsrisiken konfrontiert. Die Gewalt gegen Helfer,<br />
nationale wie internationale, hat vielerorts erschreckende Ausmaße<br />
angenommen. Es lohnt sich deshalb, die Sicherheitsrisiken <strong>für</strong> die Helfer<br />
im Einsatz <strong>und</strong> deren Hintergründe zu verorten sowie den Begriff ‚Risiko’<br />
im Hinblick auf die Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen des Handelns zugunsten<br />
der Sicherheit der Mitarbeitenden zu untersuchen.<br />
Die zunehmenden Sicherheitsprobleme<br />
haben verschiedene Ursachen.<br />
Diese liegen oft in Phänomenen<br />
der so genannten Neuen Kriege<br />
<strong>und</strong> dem seit Ende <strong>2001</strong> laufenden<br />
‚Krieg gegen den Terror’ begründet.<br />
Zu verzeichnen ist eine deutliche Erosion<br />
des internationalen humanitären<br />
Völkerrechts, eine zunehmende Instrumentalisierung<br />
<strong>und</strong> missbräuchliche<br />
Verwendung von Hilfsgütern<br />
<strong>und</strong> Hilfsleistungen, sowie auch, besonders<br />
im Rahmen des ‚Kriegs gegen<br />
den Terror’, ein durch politischreligiösen<br />
Extremismus immer enger<br />
werdender Verhandlungsspielraum<br />
zwischen den Akteuren. Oft geht es<br />
nur noch um die Vertreibung oder<br />
physische Vernichtung der mit dem<br />
Feind assoziierten (fremden) Helfer.<br />
Dies setzt insgesamt ein Fragezeichen<br />
hinter die Nachhaltigkeit <strong>und</strong> insbesondere<br />
auch den Sinn der Hilfe.<br />
Die internationale Zusammenarbeit<br />
<strong>und</strong> die humanitäre Hilfe befinden<br />
sich in den letzten Jahren in einem<br />
Wandlungsprozess, dies vielerorts<br />
als Antwort auf die sich verändernden<br />
politischen, religiösen<br />
usw. Begebenheiten. Die Welt nimmt<br />
sehr selektiv großen Anteil an den<br />
Krisen <strong>und</strong> Katastrophen unserer Zeit.<br />
Eine enorme Mediatisierung findet<br />
statt, die im Rahmen eines internationalen<br />
Solidaritätsgefühls üppige<br />
Spenden generiert. Die Konkurrenz<br />
unter den Akteuren um die Hilfsgelder<br />
hat stark zugenommen, was eine<br />
Koordination der Hilfsaktivitäten vor<br />
Ort <strong>und</strong> eine Abstimmung der Poli-<br />
cy-Entscheide nicht erleichtert. Zudem<br />
erfolgt im Rahmen des so genannten<br />
‚New Humanitarism’ eine<br />
Konditionalisierung, d.h. eine Verknüpfung<br />
der Hilfeleistungen mit dem<br />
Einhalten von Menschenrechtsvorgaben<br />
– <strong>und</strong> somit auch eine Instrumentalisierung<br />
<strong>und</strong> „Verpolitisierung“ der<br />
Hilfe.<br />
All dies ist nicht ganz neu <strong>und</strong> Gegenstand<br />
zahlreicher Betrachtungen.<br />
Sicherheitsprobleme <strong>und</strong> vor allem<br />
der Umgang mit solchen haben jedoch<br />
nicht nur kontextuelle <strong>und</strong> interinstitutionelle<br />
Hintergründe, wie<br />
die oben skizzierten, sondern auch<br />
solche, die in der jeweiligen Organisation<br />
<strong>und</strong> deren Mitarbeitenden begründet<br />
liegen.<br />
Während sich der Artikel von Dirk<br />
Freudenberg vorwiegend mit kontextuellen<br />
Aspekten beschäftigt, versucht<br />
der vorliegende Artikel vor allem<br />
den Bereich ‚Organisation <strong>und</strong><br />
Individuum’ durch die verstärkende<br />
Optik des Begriffs Risiko näher zu<br />
betrachten.<br />
Zum Begriff „Risiko“<br />
zum Sicherheits<br />
<strong>Der</strong> Begriff „Risiko“ beinhaltet zwei<br />
verschiedene Teilaspekte:<br />
1) <strong>Der</strong>jenige der Bedrohungslage<br />
im humanitären Raum bzw. derjenige<br />
der im humanitären Raum auf die<br />
Hilfswerke lauernden Gefahren mit<br />
den Komponenten Wahrscheinlichkeit<br />
des Eintreffens eines Vorfalls <strong>und</strong><br />
dessen Auswirkungen auf die Organisation<br />
<strong>und</strong> deren Mitarbeitende<br />
2) derjenige der eigenen Verw<strong>und</strong>barkeit,<br />
d. h. der Anfälligkeit einer Organisation<br />
auf eine vorherrschende<br />
Gefahr nicht adäquat reagieren zu<br />
können. Dies aufgr<strong>und</strong> eines fehlenden<br />
oder unangepassten Sicherheitsmanagements.<br />
Um einen klareren Blick auf mögliche<br />
Handlungsfelder <strong>und</strong> ein besseres<br />
Verständnis der Wechselwirkungen<br />
zwischen den beiden Teilaspekten<br />
zu erhalten, lohnt sich bei der<br />
Risikoanalyse eine getrennte Betrachtung<br />
derselben. Beiden Ebenen sind<br />
bei der Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen<br />
unterschiedliche Grenzen<br />
<strong>und</strong> Möglichkeiten eigen <strong>und</strong> folgen<br />
einer zum Teil anderen Logik.<br />
Nicht immer können humanitäre<br />
Akteure – auch nicht im Verb<strong>und</strong> mit<br />
staatlichen oder militärischen Akteuren<br />
– auf die Bedrohungslage direkt<br />
Einfluss nehmen <strong>und</strong> Gefahrenmomente<br />
vermindern oder ganz ausschalten.<br />
Die Verbesserung der Sicherheit<br />
der Mitarbeitenden muss in<br />
der Regel über eine Reduktion der<br />
eigenen Verw<strong>und</strong>barkeit erfolgen.<br />
Dem sind jedoch Grenzen gesetzt, da<br />
wirkungsvolle <strong>und</strong> nachhaltige humanitäre<br />
Arbeit in der Regel auf die Akzeptanz<br />
der Organisation bei lokalen<br />
Akteuren sowie den Begünstigten<br />
selbst baut. Schutz- oder gar Abschreckungsmaßnahmen<br />
stellen oft<br />
eine heikle Gradwanderung dar, die<br />
den humanitären (<strong>und</strong> philanthropischen)<br />
Geist der Sache <strong>und</strong> das<br />
Selbstverständnis der Hilfsorganisation<br />
verletzen <strong>und</strong> die Effektivität <strong>und</strong><br />
die Nachhaltigkeit der Arbeit in Frage<br />
stellen. Es gibt Bedrohungslagen,<br />
in denen kein Verhandlungsspielraum<br />
(mehr) besteht zwischen humanitären<br />
Helfern <strong>und</strong> Akteuren, von<br />
denen die Bedrohung ausgeht, <strong>und</strong><br />
somit auch kaum mehr Handlungsspielraum<br />
<strong>für</strong> die Helfer selbst. In solchen<br />
Situationen ist eine weitere Reduktion<br />
der eigenen Verw<strong>und</strong>barkeit<br />
<strong>und</strong> somit ein sicheres Verbleiben vor<br />
Ort nicht mehr möglich <strong>und</strong> erscheint<br />
20 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
anagement bei Hilfswerken<br />
vom Standpunkt einer effektiven Hilfeleistung<br />
aus auch nicht mehr sinnvoll.<br />
Ein Auseinanderhalten von Bedrohung<br />
<strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit eröffnet<br />
nicht nur den Blick auf die eigenen<br />
Schwächen, sondern auch auf die<br />
Wechselwirkungen zwischen den<br />
beiden Bereichen, also darauf wie das<br />
Verhalten einer Organisation <strong>und</strong> ihrer<br />
Mitarbeitenden das Umfeld – <strong>und</strong><br />
auch umgekehrt – beeinflusst im Sinne<br />
einer Risikoerhöhung oder -minderung.<br />
Im Rahmen von human security,<br />
welche als umfassenderes<br />
Konzept von Sicherheit Begünstigte,<br />
Umfeld <strong>und</strong> auch Helfer miteinbezieht,<br />
ist eine do-no-harm-Analyse<br />
notwendig. Hier werden die vielfältigen<br />
Wechselwirkungen zwischen<br />
Projekt <strong>und</strong> Organisation einerseits<br />
sowie Umfeld <strong>und</strong> Akteuren andererseits<br />
untersucht mit dem Ziel, Projekte<br />
so zu gestalten <strong>und</strong> durchzuführen,<br />
dass sie Konflikt mindernd<br />
wirken. Hier trägt die Verminderung<br />
der eigenen Verw<strong>und</strong>barkeit, nämlich<br />
durch eine situationsgerechte Ausgestaltung<br />
der Projektarbeit, möglicherweise<br />
zur Reduktion der Bedrohung<br />
<strong>und</strong> somit zu mehr Sicherheit<br />
<strong>für</strong> die Organisation bei.<br />
Hintergründe der Verw<strong>und</strong>barkeit<br />
von Hilfswerken<br />
Die eigene Verw<strong>und</strong>barkeit manifestiert<br />
sich nicht nur in unangepassten<br />
Programmen <strong>und</strong> Projekten, sondern<br />
fast immer <strong>und</strong> überall im (teilweisen)<br />
Fehlen von Zeit <strong>und</strong> Ressourcen,<br />
Kontextkenntnissen, angepasstem<br />
Verhalten <strong>und</strong> individuellen<br />
Sicherheitskompetenzen, Führung,<br />
nachhaltigem HR-Management, geeigneten<br />
Standorten <strong>und</strong> Gebäuden,<br />
geeigneten Fahrzeugen sowie defensivem<br />
<strong>und</strong> vorausschauendem Fahrverhalten,<br />
Kommunikation (Mittel,<br />
Abläufe, Regeln), insgesamt also von<br />
effizientem <strong>und</strong> effektivem Sicherheitsmanagement.<br />
Diese eigenen Schwächen haben<br />
institutionelle wie auch persönliche<br />
bzw. individuelle Hintergründe. Auf<br />
institutioneller Ebene sind es vor allem<br />
weltanschauliche Standpunkte,<br />
Haltungen, Werte, Mentalitäten, jedoch<br />
auch innerbetriebliche <strong>und</strong> unternehmerische<br />
Gesichtspunkte. Aussagen<br />
wie: „Wir arbeiten ja nicht in<br />
der Nothilfe“, „Risiken gehören halt<br />
zu unserer Arbeit“, „Unsere Kompetenzen<br />
sind ausreichend, um ...“, „Es<br />
ist bisher nie etwas Schlimmes passiert“<br />
oder „Wir tun ja Gutes, also<br />
kann uns nichts passieren“ spiegeln<br />
wie im letzteren Fall nicht nur eine<br />
(beinahe absurd wirkende) Vorstellung<br />
der Immunität, sondern geradezu<br />
gefährliche Haltungen <strong>und</strong> Annahmen<br />
wider, wie: Risiken seien nur in<br />
Krisen- bzw. Konfliktgebieten virulent,<br />
das Arbeitsrisiko sei über all die Jahre<br />
gleich geblieben, eine Vergangenheit<br />
ohne Verluste sei eine Garantie<br />
<strong>für</strong> die Zukunft oder dass Risiken<br />
durch institutionelle Maßnahmen<br />
nicht zu begegnen sei. Spürbar ist<br />
die Tendenz, das gefährlicher gewordene<br />
Arbeitsumfeld der Hilfswerke<br />
als Tatsache hinzunehmen.<br />
Zudem kostet Sicherheitsmanagement<br />
Geld <strong>und</strong> generiert in der Regel<br />
keinen Umsatz. Einmal aufgestellte<br />
Sicherheitsregeln können aus vermeintlichen<br />
Ressourcengründen<br />
nicht umgesetzt werden (z. B. wegen<br />
fehlender Fahrzeuge, Kommunikationsmittel<br />
usw.). Fehlende Zuständigkeiten<br />
<strong>und</strong> mangelnde leadership<br />
schwächen das Sicherheits- <strong>und</strong> Krisenmanagement.<br />
Institutionelle Sicherheitsberater,<br />
falls überhaupt vorhanden,<br />
haben nicht immer ein leichtes<br />
Leben, da sie zum einen meist<br />
keine Weisungsbefugnis haben <strong>und</strong><br />
andererseits ihre Arbeit oft als Einmischung<br />
in die Projektarbeit betrachtet<br />
wird.<br />
Die Verw<strong>und</strong>barkeit einer Organisation<br />
hat auch Ursachen, die in der<br />
Persönlichkeit <strong>und</strong> im Verhalten der<br />
Mitarbeitenden begründet liegen.<br />
Rambos, Eiferer <strong>und</strong> Besserwisser<br />
gefährden nicht nur sich selbst, sondern<br />
auch andere <strong>und</strong> schaden damit<br />
der humanitären Sache selbst.<br />
<strong>Der</strong> Lebensstil vor Ort <strong>und</strong> die Beziehungen,<br />
die man dort pflegt, können<br />
<strong>für</strong> die Sicherheit von entscheidender<br />
Bedeutung sein. Humanitäre Arbeit<br />
in Krisengebieten ist ein hartes<br />
<strong>und</strong> anforderungsreiches Geschäft,<br />
bei dem es nicht in erster Linie um<br />
die Befriedigung der persönlichen<br />
Abenteuerlust gehen kann. Die Auswahl<br />
geeigneter Leute ist vordringlich.<br />
Karrieredenken, die Angst zu<br />
versagen <strong>und</strong> auch eine bestimmte<br />
Gruppendynamik führen dazu, dass<br />
Vorfälle oder Ängste verschwiegen<br />
werden. Nur ein offener Diskurs innerhalb<br />
der Organisation <strong>und</strong> zwischen<br />
den Mitarbeitenden kann jedoch<br />
zu mehr Sicherheit führen.<br />
Anforderungen an das<br />
Sicherheitsmanagement<br />
Sicherheitsmanagement muss auf<br />
einem der Organisation <strong>und</strong> ihren<br />
Bedürfnissen angepassten Sicherheitskonzept<br />
fußen. Sicherheitsmanagement<br />
sollte innerhalb der Organisation<br />
verschiedene Ebenen ansprechen,<br />
<strong>und</strong> es sollte so einfach<br />
<strong>und</strong> prägnant wie möglich sein.<br />
Eine Policy regelt nicht nur institutionelle<br />
Belange <strong>und</strong> Abläufe, sondern<br />
bringt auch die Wichtigkeit der Sicherheit<br />
der Mitarbeitenden <strong>und</strong> Verpflichtung<br />
der Organisation, Verantwortung<br />
zu übernehmen <strong>und</strong> entsprechende<br />
Ressourcen zur Verfügung zu stellen<br />
zum Ausdruck. Lokale Sicherheitspläne<br />
regeln alle relevanten Sicherheitsbelange<br />
in Einsatzgebieten <strong>und</strong> sind<br />
verbindlich. Dokumente sind nur so<br />
viel wert, wie sie gelesen <strong>und</strong> gelebt<br />
werden <strong>und</strong> als Führungsgr<strong>und</strong>lage<br />
verbindlich dienen. Wichtig ist auch,<br />
über ein Sicherheitshandbuch zu verfügen,<br />
welches Gr<strong>und</strong>lagen, Empfehlungen<br />
<strong>und</strong> Hinweise <strong>für</strong> situationsgerechtes<br />
Handeln enthält.<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 21
Besonders wichtiges Element des<br />
Sicherheitsmanagements ist die an<br />
die jeweilige Funktion angepasste<br />
Aus- <strong>und</strong> Weiterbildung der Mitarbeitenden<br />
in den Bereichen personal<br />
safety & security einerseits <strong>und</strong> safety<br />
& security management andererseits.<br />
Dokumente alleine reichen<br />
nicht aus, um sicherheitsrelevantes<br />
Verhalten zu verinnerlichen. Dazu ist<br />
eine Mischung aus theoretischen <strong>und</strong><br />
praktischen Unterrichtselementen<br />
(field simulation excercise) notwendig,<br />
werden die Leute doch hier durch<br />
die Ebene der persönlichen Erfahrung<br />
<strong>und</strong> Auseinandersetzung mit dem<br />
Thema sensibilisiert.<br />
Für den Erfolg entscheidend ist<br />
auch, dass eine oder mehrere geeignete<br />
Personen innerhalb der Organisation<br />
<strong>für</strong> Sicherheitsfragen zuständig<br />
sind. Diese stehen im Feld <strong>und</strong><br />
im Hauptquartier <strong>für</strong> die Organisationsentwicklung,<br />
die Erarbeitung von<br />
Dokumenten, Weiterbildung, Beratung,<br />
Führungs- <strong>und</strong> Krisenunterstützung,<br />
Arbeitsgruppen sowie <strong>für</strong> eine<br />
so genannte community of practitioners<br />
usw. zur Verfügung. Sicherheitsberater<br />
müssen mit einem klaren<br />
Pflichtenheft ausgestattet <strong>und</strong> institutionell<br />
so eingebettet sein, dass sie<br />
<strong>für</strong> alle Beteiligten vertrauenswürdig<br />
<strong>und</strong> zugänglich sind <strong>und</strong> bleiben. Ihre<br />
Rolle ist eine heikle, gewährt sie doch<br />
einen tieferen Einblick auch in die<br />
Schwächen der jeweiligen Hilfsprogramme,<br />
gerne werden zudem sicherheitstechnische<br />
Empfehlungen<br />
<strong>und</strong> Vorgaben als unerwünschte Einmischung<br />
in das Programm- <strong>und</strong> Projektmanagement<br />
empf<strong>und</strong>en.<br />
Sicherheit soll in der Organisation<br />
ein Thema werden, über welches ein<br />
offener Diskurs geführt wird. Die Institutionalisierung<br />
von Sicherheitsmanagement<br />
muss deshalb Chefsache<br />
sein, Führung von unten ist jedoch<br />
genau so wichtig, denn hier<br />
werden die Bedürfnisse des Felds in<br />
die Organisation hineingetragen.<br />
Setzen sich eine Organisation <strong>und</strong><br />
ihre Mitarbeiteden intensiv mit der<br />
Thematik Sicherheit auseinander, so<br />
ist nicht nur der Umgang mit Sicherheitsfragen<br />
eher integraler Teil des<br />
Programmmanagements, sondern<br />
werden auch eher Möglichkeiten <strong>und</strong><br />
Grenzen des eigenen Handelns erkannt<br />
<strong>und</strong> verortet.<br />
Notfallvorsorge <strong>und</strong><br />
im Spiegel<br />
Dr. Rudolf Wandel, Ministerialrat a.D., Rechtsanwalt, ausgewiesener<br />
Experte auf dem Gebiet Zivilschutz <strong>und</strong> Notfallvorsorge<br />
Betrachtet man die Gesetzgebung des Jahres 2005, dann verdient die B<strong>und</strong>esregierung<br />
<strong>für</strong> ihren Fleiß uneingeschränkt volles Lob, denn die Rechtsnormen,<br />
die im B<strong>und</strong>esgesetzblatt I veröffentlicht wurden, umfassen 3728<br />
Seiten. Dies entspricht einem Seitenumfang, der im Durchschnitt auch in<br />
den vergangenen Jahren erreicht wurde. Darüber hinaus wurde mit der<br />
Neufassung von Gesetzen im Jahr 2005 ein Rekord erzielt.<br />
Die Mehrzahl aller Rechtsnormen<br />
befasst sich mit der Gefahrenabwehr.<br />
<strong>Der</strong> B<strong>und</strong>esgesetzgeber regelt dabei<br />
vor allem Maßnahmen, die erforderlich<br />
sind, der Entstehung von Gefahren<br />
entgegenzuwirken. Dabei werden<br />
exakte Prognosen erarbeitet <strong>und</strong> Ursachen<br />
von Schadensereignissen<br />
genau analysiert <strong>und</strong> ausgewertet.<br />
Trotzdem konnte es nicht ausbleiben,<br />
dass auch im vergangenen Jahr<br />
eine Reihe großer Schadensereignisse<br />
eingetreten ist, hierzu ist auch die<br />
Katastrophe durch den Einsturz der<br />
Eissporthalle am 2. Januar 2006 in<br />
Bad Reichenhall zu zählen. Die Gesetzgebung,<br />
die auf Gr<strong>und</strong> von Schadensereignissen<br />
stets verfeinert wird,<br />
ist auf die Zukunft ausgerichtet <strong>und</strong><br />
hat den Charakter der vorbeugenden<br />
Gefahrenabwehr. In diesem Sinne<br />
wird die Gefahrenabwehr zur echten<br />
Notfallvorsorge.<br />
Betrachtet man die gesetzlichen<br />
Vorschriften der Notfallvorsorge, dann<br />
sind diese nicht nur zur Vermeidung<br />
großer Schäden in absehbarer Zukunft<br />
ausgerichtet, sondern sie sollen allumfassend<br />
auch der Schadensvorsorge in<br />
den kommenden Jahrzehnten <strong>und</strong><br />
Jahrh<strong>und</strong>erten dienen. Man denke beispielsweise<br />
an die notwendige Beschränkung<br />
der Emissionen <strong>und</strong> der<br />
Immissionen, die zu einer Klimaänderung<br />
führen können. Es wird immer<br />
so sein, dass geschützte Umwelt <strong>und</strong><br />
Natur Gr<strong>und</strong>lagen des Lebensraumes<br />
<strong>für</strong> Mensch <strong>und</strong> Tier sind.<br />
Außer an diesen langzeitlichen Zielen<br />
muss die Notfallvorsorge auch<br />
daran orientiert werden, inwieweit<br />
Gefahrenquellen mit neuartigen Industrieprodukten<br />
verb<strong>und</strong>en sein<br />
können. Dabei kann es keinen Unterschied<br />
machen, ob die Produkte von<br />
der Gewerbe- oder der Pharmaindustrie<br />
auf den Markt kommen <strong>und</strong> in<br />
den Verkehr gebracht werden. Das<br />
Arzneimittelgesetz ist ein beredtes<br />
Beispiel <strong>für</strong> die Vorsorge in Bezug auf<br />
Arzneimittel. Es wurde im abgelaufenen<br />
Jahr neu gefasst.<br />
Etwa dem Arzneimittelgesetz<br />
gleichbedeutend zur Gefahrenabwehr<br />
sind die Gesetze zur Verhinderung<br />
ges<strong>und</strong>heitsschädlicher Auswirkungen<br />
auf dem Lebensmittel-, Futtermittel-<br />
<strong>und</strong> Kosmetikmittelsektor.<br />
Besonders erwähnenswert ist dabei<br />
das Gesetz zur Neuordnung des Lebensmittel-<br />
<strong>und</strong> Futtermittelrechts.<br />
Dieses Gesetz aus der zweiten Hälfte<br />
des Jahres 2005 geht neue Wege in<br />
der alten Erkenntnis, dass schädliche<br />
Stoffe in Futtermitteln über die Tierernährung<br />
<strong>und</strong> Verarbeitung der Tierkörper<br />
zu Lebensmitteln letztlich doch<br />
auch im menschlichen Körper landen.<br />
Die Gesetze zur Vorsorge bezüglich<br />
der Produktionsverfahren <strong>und</strong><br />
des Gebrauchs gewerblicher Produkte<br />
weisen eine sehr große Vielfalt auf.<br />
Sie reichen vom Immissionsschutz<br />
bis zum Umweltschutz. Von besonderer<br />
Bedeutung sind das Geräte<strong>und</strong><br />
Produktsicherungsgesetz <strong>und</strong><br />
das Produkthaftungsgesetz.<br />
Vorsorge <strong>für</strong> den längerfristigen<br />
Schutz von Natur <strong>und</strong> Umwelt ist u.a.<br />
auch im Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung<br />
normiert, das im<br />
Jahr 2005 neu gefasst <strong>und</strong> bereits<br />
22 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
§<br />
der Gesetzgebung<br />
Katastrophenschutz<br />
wieder geändert wurde. Dieses Gesetz<br />
dient ebenfalls der Vorbeugung<br />
von Katastrophen im Hinblick auf<br />
Verkehrswege, Industrieanlagen,<br />
Wohnsiedlungen, Erhaltung von Natur<br />
<strong>und</strong> Wäldern. Es soll die Entwicklung<br />
der Strukturen in einem Gleichgewicht<br />
halten <strong>und</strong> darauf geachtet<br />
werden, dass bei Eintritt einer Katastrophe<br />
die Rettungskräfte schnell <strong>und</strong><br />
wirksam die Katastrophe bekämpfen<br />
<strong>und</strong> Menschen retten können. Diese<br />
Funktion kommt zwar nicht im Gesetzeswortlaut<br />
zum Ausdruck, aber<br />
sie ist u.a. aus dem Zweck des Gesetzes<br />
zu entnehmen. Interessant ist<br />
die Vorschrift im Gesetz über die<br />
Umweltverträglichkeitsprüfung, wonach<br />
eine Umweltverträglichkeitsprüfung<br />
nicht durchzuführen ist, wenn<br />
ein Vorhaben ausschließlich der Verteidigung<br />
oder dem Katastrophenschutz<br />
dient. Man könnte dies als<br />
gewisse Lücke hinsichtlich der Eingriffe<br />
in die Natur auffassen. Allerdings<br />
kann man sich kaum Vorhaben<br />
vorstellen, die ausschließlich<br />
dem Katastrophenschutz dienen.<br />
Beispielsweise sind Wasserrückhaltebecken,<br />
die aus Gründen des Katastrophenschutzes<br />
errichtet werden,<br />
gleichzeitig auch der Erhaltung der<br />
Natur <strong>und</strong> den fließenden Gewässern<br />
gewidmet. Wichtig ist, dass gegen ein<br />
Vorhaben, das der Umweltverträglichkeitsprüfung<br />
unterliegt, jedermann<br />
<strong>und</strong> auch Personenvereinigungen<br />
Einwendungen erheben können.<br />
Es sind hierzu je nach Umständen<br />
auch die Verbände des Katastrophenschutzes<br />
<strong>und</strong> der sonstigen Rettungs<strong>und</strong><br />
Hilfeleistungskräfte aufgerufen.<br />
Ein diesbezügliches Engagement dieser<br />
Kräfte wird auch zu einem besseren<br />
Katastrophenschutz führen.<br />
Definition<br />
Im Hinblick auf die künftige Notfallvorsorge<br />
sollte man sich auch<br />
einmal vergegenwärtigen, was unter<br />
Katastrophenschutz zu verstehen ist.<br />
Katastrophenschutz ist der Schutz vor<br />
Katastrophen <strong>und</strong> die Hilfeleistung<br />
bei eingetretenen Katastrophen. Eine<br />
gültige Definition der „Katastrophe“<br />
gibt es allerdings nicht. Meistens wird<br />
darunter ein plötzlich eingetretenes<br />
Ereignis verstanden, das größeren<br />
Schaden verursacht hat. Schaden<br />
bedeutet dabei großer Sachschaden<br />
<strong>und</strong> Menschenopfer. Niemandem<br />
wird es gelingen, eine gültige Definition<br />
der Katastrophe zu finden. Ab<br />
welcher Sachschadenhöhe <strong>und</strong> ab<br />
welcher Zahl von Todesopfern soll<br />
von einer Katastrophe gesprochen<br />
werden? Wenn durch ein unerwartetes<br />
Ereignis ein hoher Sachschaden<br />
eingetreten ist <strong>und</strong> mehrere Todesopfer<br />
zu beklagen sind, dann ist die<br />
Bezeichnung „Katastrophe“ sicher<br />
angebracht. Es darf jedoch in diesem<br />
Zusammenhang darauf hingewiesen<br />
werden, dass die Vorsorge <strong>und</strong> die<br />
Vermeidung von Katastrophen der<br />
beste Katastrophenschutz sind.<br />
Die B<strong>und</strong>esgesetze lassen die<br />
Strukturen des Katastrophenschutzes<br />
<strong>und</strong> der Katastrophenschutzeinheiten<br />
unberührt. Diese sind in den Ländergesetzen<br />
geregelt, die allerdings sehr<br />
stark voneinander abweichen.<br />
Im Hinblick auf die Verhinderung<br />
von Gefahren <strong>und</strong> Schadensereignissen<br />
bietet sich an, die Gesetze zur<br />
Gefahrenabwehr unter dem Begriff<br />
der „Notfallvorsorge“ zusammenzufassen.<br />
Schließlich können durch alle<br />
Vorsorgegesetze wie z.B. das Lebensmittel-<br />
<strong>und</strong> Futtermittelrecht, Wasserrecht,<br />
Arzneimittelrecht, Strahlenschutzrecht,<br />
Immissionsrecht, Gefahrstoffrecht<br />
usw. viele <strong>und</strong> große<br />
Schäden wirksam bei Mensch <strong>und</strong><br />
Sachgütern verhindert werden. Alle<br />
diese Gesetze dienen der Schadensverhütung<br />
<strong>und</strong> damit einheitlich der<br />
Notfallvorsorge.<br />
Besondere Bedeutung kommt in<br />
der Notfallvorsorge auch der Störfall-<br />
Verordnung zu, die 2005 wesentlich<br />
verändert <strong>und</strong> erweitert wurde. Wenn<br />
in einem Betriebsbereich gefährliche<br />
Stoffe in großen Mengen vorhanden<br />
sind, hat der Betreiber interne Notfallpläne<br />
zu erstellen, die Beschäftigten<br />
in die Notfallpläne einzuweisen<br />
<strong>und</strong> der zuständigen Behörde Sicherheitsberichte<br />
zu erstatten.<br />
Sofern sich Schadensereignisse<br />
über den Betriebsbereich hinaus erstrecken<br />
können, sind besondere<br />
hierzu korrespondierende externe<br />
Notfallpläne von den Verantwortlichen<br />
der Katastrophenabwehr zu erstellen.<br />
Die Katastrophenschutzkräfte<br />
müssen unabhängig davon in die<br />
Besonderheiten des Betriebsbereichs<br />
eingewiesen sein, falls sie zur Hilfeleistung<br />
bei Schadensfällen zum Einsatz<br />
aufgerufen werden.<br />
Bauvorschriften<br />
<strong>Der</strong> Notfallvorsorge dienen auch<br />
viele Bauvorschriften, die bisher sich<br />
bewährten Seilbahngesetze sowie<br />
die Aufzugsverordnung. Die Katastrophe<br />
von Bad Reichenhall zeigt jedoch,<br />
dass Notfallvorschriften in Bezug auf<br />
Versammlungsstätten nicht ausreichend<br />
waren. Die Stabilität der Versammlungsstätten<br />
ab einem bestimmten<br />
Fassungsvermögen müsste<br />
ständig der statischen Prüfung <strong>und</strong><br />
der Überprüfung der Standfestigkeit<br />
unterzogen werden, hierbei müssten<br />
auch große Schneemassen, Sturm<br />
<strong>und</strong> steigendes Hochwasser einkalkuliert<br />
werden.<br />
Ein besonderes Ereignis der letzten<br />
Wochen war das große Leck in<br />
einer Biogasanlage, durch die riesige<br />
Mengen Gülle ausgelaufen sind.<br />
Nur durch einen Großeinsatz der Einsatzkräfte<br />
konnte eine unverhältnismäßig<br />
große Umweltverschmutzung<br />
verhindert werden.<br />
Es ist nicht zu bestreiten, dass Vorsorgemaßnahmen<br />
bei der Errichtung<br />
<strong>und</strong> beim Betrieb von Anlagen, die<br />
besondere Gefahren in sich bergen,<br />
hohen finanziellen Aufwand erfordern.<br />
Es soll jedoch die deutsche Industrie<br />
konkurrenzfähig bleiben, so<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 23
dass der Gesetzgeber sorgfältig das<br />
Gefahrenpotenzial gegenüber kostenträchtigen<br />
Sicherheitsinvestitionen<br />
abzuwägen hat. Allerdings darf dabei<br />
nicht außer Acht gelassen werden,<br />
dass die Europäische Union immer<br />
mehr Richtlinien <strong>und</strong> Verordnungen<br />
zur Gefahrenabwehr <strong>und</strong> Notfallvorsorge<br />
mit bindenden Verpflichtungen<br />
verabschiedet. Dies gleicht im Hinblick<br />
auf Beschränkungen durch die<br />
Notfallvorsorge die Konkurrenzfähigkeit<br />
im Europäischen Raum aus.<br />
Auf die Interpretation des Sprengstoffrechts<br />
<strong>und</strong> dessen Novellierung<br />
im abgelaufenen Jahr kann hier verzichtet<br />
werden.<br />
Trotz aller Normen zur Gefahren<strong>und</strong><br />
Schadensverhütung ist <strong>für</strong> das<br />
abgelaufene Jahr festzustellen, dass<br />
die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland von<br />
einigen Katastrophen heimgesucht<br />
wurde. Bisherige Analysen zeigen,<br />
dass die Einsatz- <strong>und</strong> Rettungshilfekräfte<br />
im Großen <strong>und</strong> Ganzen ausreichend<br />
waren. Trotzdem bliebe zu<br />
überlegen, ob nicht gesetzliche Normen<br />
notwendig wären, damit Besitzer<br />
von Sonderfahrzeugen <strong>und</strong> Großarbeitsgeräten,<br />
wie z.B. Großkrane,<br />
Räumgeräte usw. durch Anforderung<br />
der Katastrophenschutzkräfte zur Hilfeleistung<br />
verpflichtet werden können.<br />
Sie müssten dann unverzüglich<br />
mit ihren Geräten einschließlich der<br />
Geräteführer am Einsatzort eintreffen.<br />
Einsatz der B<strong>und</strong>eswehr<br />
Ein besonderes Potenzial zur Katastrophenhilfe<br />
stellt die B<strong>und</strong>eswehr<br />
dar. Voraussetzung <strong>für</strong> eine wirksame<br />
Hilfe der B<strong>und</strong>eswehr ist allerdings<br />
deren günstige Stationierung<br />
im näheren Umgebungsbereich zu<br />
einer eingetretenen Katastrophe. Die<br />
Neufassung des Wehrpflichtgesetzes<br />
(WPflG) im Jahre 2005 ist dem Katastrophenschutz<br />
sehr aufgeschlossen.<br />
In § 13a WPflG ist normiert, dass<br />
Wehrpflichtige, die sich vor Vollendung<br />
des 23. Lebensjahres mit Zustimmung<br />
der zuständigen Behörde<br />
auf mindestens sechs Jahre zum ehrenamtlichen<br />
Dienst als Helfer im Zivil-<br />
oder Katastrophenschutz verpflichtet<br />
haben, nicht zum Wehr-<br />
dienst herangezogen werden, solange<br />
sie als Helfer im Zivilschutz oder<br />
Katastrophenschutz mitwirken. Die<br />
Mitwirkung im Zivilschutz ist unbedeutend,<br />
da das Zivilschutzgesetz in<br />
der Öffentlichkeit immer mehr in Vergessenheit<br />
gerät. In § 14 des Zivildienstgesetzes,<br />
das ebenfalls im Jahr<br />
2005 neu gefasst wurde, wurde eine<br />
analoge Regelung wie in § 13 WPflG<br />
getroffen. Danach wird ein anerkannter<br />
Kriegsdienstverweigerer nicht<br />
zum Zivildienst herangezogen, wenn<br />
er sich vor Vollendung des 23. Lebensjahres<br />
zur Mitwirkung im Zivilschutz<br />
oder Katastrophenschutz verpflichtet<br />
hat. Im Übrigen hat das<br />
Zivildienstgesetz mit dem Katastrophenschutz<br />
wenig zu tun, denn nach<br />
§ 1 des Zivildienstgesetzes erfüllen<br />
anerkannte Kriegsdienstverweigerer<br />
Aufgaben, die dem Allgemeinwohl<br />
dienen, vorrangig im sozialen Bereich.<br />
Zusammenfassend ist festzustellen,<br />
dass die Rechtsnormen zur Verhütung<br />
von Gefahren vorrangig gegenüber<br />
den Rechtsnormen sind, die<br />
zur Hilfe bei eingetretenen Großschäden<br />
<strong>und</strong> zur Rettung von Menschen<br />
in Not verpflichten. Auf Gr<strong>und</strong> der<br />
Notfallvorsorge sind bisher keine<br />
spektakulären Schadensereignisse<br />
eingetreten. Man kann jedoch andererseits<br />
auch nicht abschätzen, welche<br />
Schäden durch die Vorsorgenormen<br />
verhütet wurden. Dies ist auch<br />
nicht notwendig, denn es gilt auch<br />
hier der allgemeine Gr<strong>und</strong>satz: Vorsorge<br />
ist besser als Heilung.<br />
<strong>Der</strong> Gesetzgeber, die Behörden,<br />
die Katastrophenschutzkräfte <strong>und</strong> die<br />
Bürger werden dazu aufgerufen bleiben,<br />
die Entwicklung der Industrien,<br />
der Umwelt, der Natur <strong>und</strong> der Siedlungsstrukturen<br />
sorgfältig zu beobachten,<br />
um der Verpflichtung zur<br />
Notfallvorsorge stets entsprechen zu<br />
können. Dies gilt umso mehr bezüglich<br />
der Entwicklung neuer industrieller<br />
Produkte. Die Entwicklung neuer<br />
Produkte steht nämlich im ständigen<br />
Wettlauf mit der Normsetzung<br />
zur Verhütung von Gefahren, die sich<br />
aus neuen Industrieprodukten ergeben<br />
könnten.<br />
Betrac<br />
zum<br />
Martin Schmidt, Kreisbereitschaftsleiter<br />
des Bayerischen Roten<br />
Kreuz, Kreisverband Kronach,<br />
sowie Örtlicher Einsatzleiter des<br />
Katastrophenschutzes des Landkreises<br />
Kronach<br />
Den Ausführungen von RA Dr. Wandel<br />
in der Ausgabe 3/2005 der Zeitschrift<br />
Notfallvorsorge kann ich nur<br />
zustimmen: Die Gründung von Beiräten<br />
<strong>für</strong> den Katastrophenschutz<br />
auf Kreis-, Landes- <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esebene<br />
ist meines Erachtens ein schon<br />
seit langem fälliger Schritt. Und dies<br />
nicht nur wegen der Motivation der<br />
freiwilligen Helfer <strong>und</strong> der Akzeptanz<br />
des Katastrophenschutzes, sondern<br />
auch, um endlich ein zukunftsgerichtetes,<br />
modernes Notfallmanagement<br />
zu implementieren <strong>und</strong><br />
den verwaltungstechnischen Katastrophenschutz<br />
hinter uns zu lassen.<br />
Mit diesen Beiräten wäre es möglich,<br />
eine gemeinsame Sprache zu finden,<br />
denn momentan müssen wir uns<br />
fragen, ob wir immer das Gleiche<br />
meinen, wenn wir über den Katastrophenschutz<br />
sprechen.<br />
Oder werden von B<strong>und</strong>esland zu<br />
B<strong>und</strong>esland verschiedene Terminologien<br />
verwendet?<br />
Schlussendlich bleibt hier die Frage,<br />
wie lange wir uns noch sechzehn<br />
verschiedene Katastrophenschutzsysteme<br />
leisten können.<br />
In der Nachschau der jüngsten<br />
Großschadensereignisse habe ich<br />
noch viele offene Fragen: Haben wir<br />
wirklich aus den Fehlern, die bei den<br />
Hochwasser- <strong>und</strong> Schneekatastrophen<br />
aufgetreten sind, gelernt?<br />
24 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
tungen<br />
Katastrophenschutz<br />
Haben wir unser Notfallmanagement<br />
dementsprechend geändert?<br />
Sind Ausbildung, standardisierte Ausstattungen<br />
oder Einsatzpläne dementsprechend<br />
modifiziert worden? Wurden<br />
Konzepte konsequent <strong>für</strong> überregionale<br />
Einsätze entwickelt? Werden<br />
diese Konzepte auch veröffentlicht<br />
<strong>und</strong> ausgeführt? Wie sieht die b<strong>und</strong>esweite<br />
Umsetzung aus?<br />
Als Anhänger des Föderalismus<br />
sehe ich <strong>für</strong> den Katastrophenschutz<br />
bei der Beibehaltung der unterschiedlichen<br />
Strukturen in den B<strong>und</strong>esländern<br />
eine Sackgasse, denn Großschadensereignisse<br />
laufen identisch<br />
ab, egal ob im Norden, Süden, Osten<br />
oder Westen unserer Republik, ebenso<br />
ist das Ziel in der Einsatzbewältigung<br />
immer das Gleiche. Warum können<br />
wir dann nicht in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />
Deutschland ein einheitliches<br />
System des Notfallmanagements installieren?<br />
Gefordert wäre ein einfaches Führungssystem,<br />
in dem sich die Führungskräfte<br />
auch „heimisch“ fühlen.<br />
Ein Führungssystem, das im täglichen<br />
Einsatz schon gelebt wird, ein<br />
System, das bei der Bewältigung von<br />
Katastrophenfällen bei Bedarf nur<br />
noch erweitert wird. Es muss unbedingt<br />
vermieden werden, dass bei<br />
Katastrophen ein völlig neues bzw.<br />
nur <strong>für</strong> diesen Katastrophenfall vorhandenes<br />
Führungssystem aus dem<br />
Hut gezaubert wird. Voraussetzung<br />
<strong>für</strong> den Einsatz in extremen Situationen<br />
ist ein regelmäßiges Einüben, um<br />
erfolgreich reagieren zu können.<br />
Neben dem einheitlichen Führungssystem<br />
müssen die weiteren<br />
Rahmenbedingungen stimmen. So<br />
müssen die Ausbildungen identisch<br />
sein <strong>und</strong> das durchgängig, von der<br />
Gr<strong>und</strong>ausbildung hin zur Spezialausbildung.<br />
Ausbildung ist nicht nur<br />
wichtig, um einen Einsatz erfolgreich<br />
abzuschließen, sondern auch, wenn<br />
sie konsequent durchgeführt wird,<br />
ein wichtiges Element zum Schutz der<br />
Helfer. Kurz gesagt ist Ausbildung im<br />
Katastrophenschutz Drill, denn das<br />
Handwerk muss sitzen.<br />
Im Einsatzfall erst überlegen zu<br />
müssen, wie Standards umgesetzt<br />
werden sollen, ist kontraproduktiv<br />
<strong>und</strong> <strong>für</strong> eine erfolgreiche Einsatzbewältigung<br />
nicht akzeptabel.<br />
Wie bereits oben angeführt, gibt<br />
es im deutschen Katastrophenschutz<br />
noch sehr viel zu tun, deshalb kann<br />
ich mich der Meinung von Dr. Wandel<br />
nur anschließen <strong>und</strong> die Einrichtung<br />
eines Beirates <strong>für</strong> den Katastrophenschutz<br />
fordern. Dies muss auf<br />
der Ebene der Landkreise beginnen<br />
<strong>und</strong> auf B<strong>und</strong>esebene enden, denn<br />
nur so können wir die vielen noch<br />
unbewältigten Aufgaben lösen.<br />
Notfallkonzepte <strong>für</strong> die Landkreise<br />
können nur vor Ort entwickelt <strong>und</strong><br />
umgesetzt werden. Hier müssen alle<br />
Organisationen <strong>und</strong> Behörden, die an<br />
der Gefahrenabwehr beteiligt sind, an<br />
einem Strang ziehen. Dieses Engagement<br />
darf nicht durch Zufall entstehen,<br />
sondern müsste <strong>für</strong> alle Landkreise<br />
verpflichtend sein.<br />
Die Aufgabe der Landesbeiräte<br />
wäre, überregionale Einsatzpläne <strong>für</strong><br />
jedes B<strong>und</strong>esland zu entwickeln <strong>und</strong><br />
an die benachbarten B<strong>und</strong>esländer zu<br />
adaptieren, bzw. Schnittstellenproblematiken<br />
zu vermeiden <strong>und</strong> zu lösen.<br />
<strong>Der</strong> B<strong>und</strong>esverband sollte abschließend<br />
<strong>für</strong> die Überwachung der<br />
standardisierten Führungsstruktur<br />
sowie die Einhaltung der Ausbildungsordnung<br />
zuständig, genauso<br />
wie <strong>für</strong> die Umsetzung <strong>und</strong> Verbreitung<br />
von neuen wissenschaftlichen<br />
Erkenntnissen in dieser Thematik<br />
sein. Die Entwicklung von Einsatzplänen<br />
<strong>für</strong> Schadenslagen, die mehrere<br />
B<strong>und</strong>esländer betreffen, würde das<br />
Aufgabenprofil des B<strong>und</strong>esverbandes<br />
abr<strong>und</strong>en.<br />
Mit einem einheitlichen Gefahrenabwehrkonzept<br />
können wir aber auch<br />
die europäische Herausforderung<br />
meistern, denn Einsätze bei unseren<br />
europäischen Nachbarn werden in<br />
Zukunft zunehmen. Wenn man den<br />
Prognosen der Wissenschaftler glauben<br />
will, werden die Naturkatastrophen<br />
in den kommenden Jahren zunehmen,<br />
Epidemien <strong>und</strong> Pandemien<br />
auf uns zukommen. Diese Problematik<br />
können wir nur mit einer effizienten<br />
Struktur bewältigen.<br />
Ich bin mir sicher, dass diese Einrichtungen<br />
ein Gewinn <strong>für</strong> die B<strong>und</strong>esrepublik<br />
Deutschland wären.<br />
Hier<strong>für</strong> sind bereits viele Ressourcen<br />
vorhanden, sie müssen nur gebündelt<br />
<strong>und</strong> in die richtigen Kanäle geleitet<br />
werden. Dies bedeutet natürlich<br />
viel Arbeit, wird sich aber bei der<br />
Einsatzbewältigung positiv bemerkbar<br />
machen.<br />
Wichtig wäre meines Erachtens,<br />
dass endlich eine Diskussion zu diesem<br />
Thema entstehen würde, aus der<br />
Lösungen <strong>für</strong> unsere Probleme entstehen<br />
müssen. Wie groß muss die<br />
nächste Katastrophe erst sein, um<br />
solch eine Diskussion in Gang zu bringen?<br />
Wollen wir wirklich erst auf die<br />
nächste Flut warten, um danach<br />
wieder festzustellen, dass die Probleme,<br />
die wir bereits heute haben, noch<br />
nicht gelöst sind? Einfach wird dieser<br />
Weg nicht, aber zum Wohl unserer<br />
Bevölkerung ist er notwendig!<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 25
Jenseits des Alltäglichen –<br />
Als 13 Jahre später die Lüneburger<br />
Heide brannte, konnte sich das<br />
Feuer erst durch das unkoordinierte<br />
Vorgehen ausbreiten <strong>und</strong> zur Wald<strong>und</strong><br />
Heidekatastrophe steigern. Es<br />
fehlte ein einheitliches Funknetz der<br />
Feuerwehren, die eingesetzten Geräte<br />
waren nicht kompatibel, von einer<br />
zentralen Führung fehlte zeitweise<br />
jede Spur.<br />
Während der Hochwasserkatastrophe<br />
1997 an der Oder wurde der damalige<br />
Kommandeur der 14. Panzergrenadierdivision<br />
<strong>und</strong> Befehlshaber<br />
im Wehrbereich VIII, General von<br />
Kirchbach, der spätere Generalinspekteur<br />
der B<strong>und</strong>eswehr, zum Deichgrafen.<br />
Er kommandierte nicht nur<br />
r<strong>und</strong> 15.000 Soldaten, sondern koordinierte<br />
damit de facto die Verteidigung<br />
der Deiche. <strong>Der</strong> damalige brandenburgische<br />
Ministerpräsident Manfred<br />
Stolpe erk<strong>und</strong>igte sich bei<br />
Helmut Schmidt, wie er als verantwortlicher<br />
Landespolitiker den Einsatz<br />
der B<strong>und</strong>eswehr denn koordinieren<br />
könne. <strong>Der</strong> Altkanzler soll ihm den<br />
Rat gegeben haben: ,Lassen Sie die<br />
Herren einfach machen!’<br />
Auch bei der Hochwasserkatastrophe<br />
fünf Jahre später versagte weitgehend<br />
der Katastrophenschutz. Das<br />
Meldewesen funktionierte nicht. Die<br />
Katastrophenstäbe zeigten sich weit-<br />
Organisationstheoretische Untersuchung zur<br />
Fregattenkapitän Peter Buchner arbeitet als Dozent am Zentrum Innere<br />
Führung <strong>und</strong> ist als ehrenamtlicher Helfer S3 einer Fachgruppe Führung &<br />
Kommunikation des THW.<br />
„Katastrophenschutz wurde seit jeher in der B<strong>und</strong>esrepublik vernachlässigt.<br />
Die Geschichte der Katastrophen in der B<strong>und</strong>esrepublik ist eine Geschichte<br />
des Versagens des Katastrophenschutzes. Bei der Hochwasserkatastrophe<br />
1962 nahm der damalige Innensenator Helmut Schmidt entschlossen<br />
die Zügel in die Hand, koordinierte die zahlreichen freiwilligen Helfer<br />
<strong>und</strong> forderte die B<strong>und</strong>eswehr an. Sein Vorgehen galt einerseits anschließend<br />
als vorbildlich, schließlich wurden im Nachgang die rechtlichen Rahmenbedingungen<br />
<strong>für</strong> den Einsatz der B<strong>und</strong>eswehr geschaffen.<br />
„Lassen Sie die<br />
gehend überfordert, verfügten vor<br />
allen Dingen nicht über die Kommunikationsmittel,<br />
um den Einsatz zu<br />
führen. Die Telefone fielen aus, das<br />
Handy-Netz, auf das man teilweise<br />
auswich, brach zusammen. <strong>Der</strong> analoge<br />
Funkverkehr von Polizei, Feuerwehr<br />
<strong>und</strong> Katastrophenschutz reichte<br />
nicht aus.“ 1<br />
Ursachen oder ‚Logik des Misslingens’<br />
(Dietrich Dörner) liegen neben<br />
Fernmeldeproblemen in überforderten<br />
Stäben, die ad hoc zusammengestellt<br />
sind, dem Fehlen eines gemeinsamen<br />
Führungsverständnisses,<br />
das die Vorstellung von den Aufgaben<br />
der hierarchischen Ebenen<br />
vernebelt, <strong>und</strong> mangelnder Übung<br />
der Katastrophenabwehr. So beschreibt<br />
Paul Elmar Jöris vom WDR-<br />
Studio Düsseldorf die prekäre Lage<br />
des Katastrophenschutzes 1 <strong>und</strong> zitiert<br />
damit aus den Ergebnissen der Kirchbach-Kommission,<br />
bei der eigentlich<br />
nur die B<strong>und</strong>eswehr als Institution<br />
gut wegkommt. „Sie war in vielen<br />
Bereichen autark, verfügt über die<br />
Kräfte <strong>und</strong> Mittel, die notwendig sind,<br />
selbst. Und der geordnete Einsatz der<br />
Kräfte <strong>und</strong> Mittel ist geübte Praxis<br />
ihrer Führer <strong>und</strong> Führungsorganisation.”<br />
2<br />
Katastrophenschutzeinheiten haben<br />
dabei offensichtlich Defizite. Dies<br />
gibt im Folgenden Anlass, nach Gründen<br />
zu suchen, die <strong>für</strong> die von Jöris<br />
beschriebene unbefriedigende Lage<br />
angeführt werden können. Die Qualifizierung<br />
der Führungskräfte durch<br />
Ausbildung wird hier nicht betrachtet.<br />
Ansatzpunkte werden in den Eigenschaften<br />
des Führungssystems<br />
gesucht <strong>und</strong> der Analyse unterzogen.<br />
Untersuchungsdesign<br />
Die Eigenschaften des militärischen<br />
Führungssystems werden zu<br />
den Situationsparametern von Katastrophen<br />
in Beziehung gesetzt. Dann<br />
werden die faktischen Gegebenheiten<br />
an den funktionalen Erfordernissen<br />
gemessen. Daraus wird eine Kritik<br />
entwickelt, die Fehlentwicklungen<br />
beschreibt <strong>und</strong> zweckmäßige Weiterentwicklungen<br />
benennt. Dem steht<br />
der Gedanke Pate, die immanenten<br />
Eigenschaften zur Geltung, Stärken<br />
zum Tragen zu bringen <strong>und</strong> Schwächen<br />
auszugleichen. Anschließend<br />
können Verbesserungsmöglichkeiten<br />
<strong>für</strong> das Verständnis von der Gefahrenabwehr<br />
abgeleitet werden. Nicht<br />
betrachtet werden die alltäglichen<br />
Hilfen durch Feuerwehren, Rettungsdienst<br />
oder Polizei. Da<strong>für</strong> kommt kein<br />
umfangreiches Einsatzsystem zur<br />
Anwendung, sondern den Bürgern<br />
wird im Einzelfall individuelle Unterstützung<br />
zuteil. Die Überlegungen<br />
beschränken sich auf Schadensereignisse,<br />
in denen umfangreiche Ressourcen<br />
eingesetzt werden müssen,<br />
so wie man es landläufig mit den Begriffen<br />
Katastrophe oder Großschadensereignis<br />
verbindet. <strong>Der</strong> Begriff<br />
Katastrophe wird in diesem weiten<br />
Sinn <strong>für</strong> solche Situationen verwendet<br />
<strong>und</strong> geht damit über die rechtliche<br />
Bedeutung in den Katastrophenschutzgesetzen<br />
hinaus.<br />
26 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
oder:<br />
erren einfach machen“<br />
Katastrophenabwehr<br />
Weiterhin beschränkt sich die Analyse<br />
auf eine funktionale Sichtweise.<br />
Emotionale Aspekte <strong>und</strong> individuelle<br />
Interessenlagen werden nicht diskutiert.<br />
Strukturprinzipien der<br />
operativen Organisation<br />
des Militärs<br />
Wie früher bereits nach den Heidebränden<br />
kann <strong>für</strong> die Untersuchung<br />
eine Anleihe bei der Militärorganisation<br />
genommen werden, <strong>und</strong><br />
zwar in der Heeresdienstvorschrift<br />
(HDv) 100/100 – kurz ‚TF’ 3 . In Nr. 326<br />
liest man dort:<br />
„<strong>Der</strong> Erfolg <strong>und</strong> das Glück des<br />
Tüchtigen sind meistens auf der Seite<br />
dessen, der sich einfallsreich, aber<br />
unkompliziert, mutig, schnell <strong>und</strong><br />
trotzdem überlegt zum Handeln entschließt<br />
<strong>und</strong> seine Entscheidungen<br />
mit angemessener Härte auch gegen<br />
Widerstand beharrlich durchsetzt.<br />
Führer, die auf Befehle warten, können<br />
die Gunst des Augenblicks nicht<br />
nutzen. Unentschlossenheit <strong>und</strong> zögerliches<br />
Handeln sind meist verhängnisvoller<br />
als ein Fehlgriff in der<br />
Wahl der Mittel.” 4 Das dazu erforderliche<br />
Führungssystem, wie es in der<br />
auch im Zivilschutz häufig zitierten<br />
HDv 100/200 „Führungssystem des<br />
Heeres” bzw. in der Neuauflage „Führungsunterstützung”<br />
beschrieben ist,<br />
zielt auf unverzügliche Reaktion <strong>und</strong><br />
schnelle Entscheidungen.<br />
(Siehe Tabelle 1)<br />
Eigenschaften<br />
von Katastrophen<br />
In den Überlegungen zur Übertragung<br />
des amerikanischen Incident-<br />
Command-Systems auf die deutschen<br />
Verhältnisse beschreiben Mit-<br />
schke <strong>und</strong> Frank die Eigenschaften<br />
von Katastrophen 5 :<br />
sie geschehen ohne vorherige Ankündigung<br />
sie entwickeln sich schnell<br />
ohne Eingriffe nehmen Größe <strong>und</strong><br />
Komplexität zu<br />
hohes persönliches Risiko <strong>für</strong> das<br />
Einsatzpersonal<br />
vor Ort sind mehrere Gefahrenabwehrorgane<br />
es existieren vielfältige, teils überschneidende<br />
Zuständigkeiten<br />
Ereignisse stehen im Mittelpunkt<br />
des Medieninteresses<br />
es besteht Gefahr <strong>für</strong> Leib <strong>und</strong> Leben<br />
Kosten des Einsatzes sind ein Entscheidungsfaktor.<br />
Deutlich wird daraus, dass in der<br />
Katastrophenabwehr Handlungs-<br />
Tabelle 1<br />
druck besteht <strong>und</strong> Einfachheit der<br />
Struktur die Orientierung erleichtert.<br />
Funke <strong>und</strong> Kirk fassen als Eigenschaften<br />
von Katastrophen <strong>und</strong> damit<br />
Ursachen <strong>für</strong> die Schwierigkeiten<br />
bei der Katastrophenabwehr zusammen:<br />
6 (s. Tabelle 2)<br />
Um diesen Eigenschaften gerecht<br />
zu werden, ist eine Reduzierung der<br />
Komplexität erforderlich. Die Vernetzung<br />
zwingt zum Handeln ins Ungewisse.<br />
Dies erlaubt der kybernetische<br />
Regelkreis. Einfache Mittel erlauben,<br />
dem Zeitdruck zu begegnen.<br />
Paul t´Hart beschreibt das Krisenmanagement<br />
der öffentlichen Verwaltung<br />
mit den Eigenschaften Bedrohung,<br />
Ungewissheit, Zeitdruck <strong>und</strong><br />
Komplexität. Außerdem hat jede Krise<br />
einmalige, d.h. singuläre „Merkmale,<br />
was Ort, Zeit <strong>und</strong> Organisation<br />
Kriterium funktionale Implikationen<br />
einfallsreich Einfachheit der Mittel im Einsatz im Gegensatz<br />
zur Spezialisierung bei Behörden<br />
unkompliziert Universalität des Denkens wie der Mittel<br />
mutig Handeln ins Ungewisse <strong>und</strong> trotz unbekannter<br />
Lageentwicklung<br />
schnell Entscheidungsbedarf minimieren, Entscheidungen<br />
schnell initiieren <strong>und</strong> zügig in Handlung<br />
(= Hilfe) umsetzen; es besteht Handlungsdruck<br />
überlegt erfordert Gedankengänge offen zu legen, d.h.<br />
Kriterien kennen <strong>und</strong> anwenden als wichtigen<br />
Beitrag von Ausbildung<br />
beharrlich Vorrang des Handelns vor der Rezeption von<br />
Bedenken<br />
Entscheidungen Bündelung der Befugnisse wie z. B. in der<br />
durchsetzen Stab-Linien-Organisation<br />
nicht auf Befehle warten Prinzip des Führens mit Auftrag<br />
Gunst des Augenblicks Freiräume auf allen Ebenen gewähren <strong>und</strong><br />
nutzen ausfüllen<br />
Zögern ist schlimmer kybernetisches Regelkreismodell des<br />
als ein Fehlgriff in der Führungsvorganges mit immanenten<br />
Wahl der Mittel Korrekturmöglichkeiten<br />
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Tabelle 2<br />
Bezeichnung Beschreibung<br />
Komplexität Die Situation besteht aus vielen Variablen. Die<br />
Verarbeitungskapazität wird überschritten. Folgerung:<br />
Die Informationsmenge muss verringert werden.<br />
Vernetzung Die Variablen sind nicht voneinander unabhängig.<br />
Folgerung: Die Abhängigkeiten zwischen den Variablen<br />
müssen herausgearbeitet werden. Dazu strukturieren<br />
Modelle Informationen.<br />
Intransparenz Die Informationen sind nicht vollständig.<br />
Folgerung: Man muss aktiv Informationen beschaffen <strong>und</strong><br />
Annahmen treffen.<br />
Eigendynamik Die Situation verändert sich ohne Eingreifen eines Entscheidungsträgers.<br />
Es steht oft nur wenig Zeit <strong>für</strong> Überlegungen<br />
zur Verfügung. Folgerung: Es sind rasche Entscheidungen<br />
auf Gr<strong>und</strong> der vorhandenen Infos notwendig.<br />
Polytelie Es müssen sich gegenseitig ausschließende Ziele verfolgt<br />
werden. Folgerung: <strong>Der</strong> Entscheidende muss sich über<br />
die unterschiedlichen Ziele im klaren sein <strong>und</strong> bei Zielkonflikten<br />
begründet Position beziehen.<br />
Entschei- Entscheidungen sind notwendig; Entscheidungen hängen<br />
dungsbedarf voneinander ab, aber die Situation ändert sich nicht nur in<br />
Folge der Entscheidungen, sondern auch von allein.<br />
Folgerung: Verzögerte Entscheidungen bergen die Gefahr<br />
in eine Spirale der Zerstörung zu geraten.<br />
anbelangt.” Er stellt fest, dass bei der<br />
Bewältigung dieser Situationen eine<br />
Anpassung des Verwaltungshandelns<br />
erfolgt. „Gr<strong>und</strong>sätze der Amtsführung<br />
(...) werden Schritt <strong>für</strong> Schritt<br />
unter dem Druck der Umstände über<br />
Bord geworfen. <strong>Der</strong> Prozess der Entscheidungsfindung<br />
während Krisen<br />
weicht in einer Anzahl von Punkten<br />
stark von jenem unter normalen Umständen<br />
ab.” Er zitiert weiter die Meinung<br />
des Katastrophenforschers<br />
Quarantelli, wonach die Koordination<br />
der Verwaltungsorganisation nicht<br />
die Lösung (einer Krisensituation<br />
bringt; d. Verf.), sondern Teil des Problems<br />
sei. Er zeigt damit, wie problematisch<br />
zwischenorganisatorische<br />
Verhältnisse gerade in Krisen sind. 7<br />
Aus der Singularität ist zu folgern,<br />
dass man Gemeinsamkeiten <strong>für</strong> die<br />
Organisation erst auf abstrakteren<br />
Ebenen gewinnen kann. Wenn<br />
Gr<strong>und</strong>sätze der Amtsführung aufweichen,<br />
dann ist die Katastrophenabwehr<br />
keine Amtsaufgabe mehr <strong>und</strong><br />
folgt nicht der Logik von Behörden.<br />
Dies erfordert eine andere Organisation<br />
mit möglichst wenig zwischenorganisatorischenBerührungspunkten.<br />
Abgeleitet aus dem gesetzlich normierten<br />
Katastrophenbegriff kann<br />
man Katastrophen mit Phasenübergängen<br />
beschreiben. Wenn die individuelle<br />
Versorgung der Betroffenen<br />
im Schadensabwehrsystem nicht<br />
mehr nach Individualstandard möglich,<br />
sondern ein Übergang zur Minimierung<br />
der kollektiven Betroffenheit<br />
vollzogen ist, liegt eine Katastrophe<br />
vor. 8 Über die Steuerung der vorgehaltenen<br />
Einsatzmittel steuert die Verwaltung<br />
den Eintritt einer Katastrophe<br />
als politischen Prozess. Die Abwehr<br />
erfolgt nach anderen Prinzipien.<br />
Ausgangshypothesen<br />
Um die Rahmenbedingungen zu<br />
erfassen <strong>und</strong> den Schwierigkeiten der<br />
Katastrophenabwehr zu begegnen,<br />
dienen nachfolgende Hypothesen zur<br />
operativen Führung der Gefahrenabwehr<br />
als untersuchungsleitend:<br />
Führung in der Katastrophenabwehr:<br />
Kern von Führung heißt Entscheidungen<br />
treffen<br />
es herrscht eine Mangelsituation<br />
Minimierung des Entscheidungsbedarfs<br />
erhöht den Handlungserfolg<br />
Führungsvorgang:<br />
Schadensabwehr ist Handeln ins<br />
Ungewisse<br />
das kybernetische Regelkreismodell<br />
ist ein probates Mittel <strong>für</strong> die<br />
Bewältigung der Ungewissheit<br />
Auftragstaktik als Führungsprinzip<br />
eröffnet Flexibilität<br />
Erfolgschancen haben einfache,<br />
unspezifische Mittel statt „Spezialwerkzeuge”<br />
Führungsorganisation:<br />
Regelungsbedarf einer Führungsstelle<br />
„auf der Naht”, also der Angelegenheiten<br />
auf der Linie selbst,<br />
<strong>und</strong> von Dingen, die <strong>für</strong> mehrere<br />
Unterstellte gleichzeitig gelten oder<br />
gleich sein müssen<br />
neue Führungsebenen enthalten<br />
neue – emergente – operative Eigenschaften<br />
wie Aufmarsch, Ablösung<br />
oder Logistik, die auf taktischer<br />
Ebene nicht abgebildet sind<br />
Hierarchiestufen sind Abstraktionsstufen<br />
<strong>für</strong> Information<br />
aufbauorganisatorische Unabhängigkeit<br />
vom Einsatz mit vorgeplantem<br />
Aufbau verringert den Entscheidungsbedarf<br />
<strong>und</strong> erzeugt Bekanntheit<br />
bei den Beteiligten<br />
Geschlossenheitsverständnis im<br />
Begriff Einheit als Abgrenzung zwischen<br />
operativem <strong>und</strong> taktischem<br />
Prinzip<br />
Führungsmittel:<br />
stufenweise Abstraktion des Lagebildes<br />
vom Trupp zur Einsatzleitung<br />
verfügbare Führungsunterstützung<br />
entspricht dem Aufwand <strong>für</strong> Führung<br />
gemeinsames Lagebild <strong>für</strong> den<br />
Stab mit seinem Führer steigert die<br />
Schlagkraft, verringert die interne<br />
Kommunikation <strong>und</strong> ist Ausdruck<br />
des Teamgedankens<br />
Beschränkung der Kommunikation<br />
auf die Organisationslinien<br />
Definition Führung:<br />
Als Führung definiert man landläufig<br />
zielgerichtetes Einwirken auf das<br />
Handeln oder Entscheiden anderer.<br />
Das Führungssystem, mit dem Führung<br />
verwirklicht wird, besteht aus<br />
Führungsvorgang, Führungsorganisation<br />
<strong>und</strong> Führungsmitteln.<br />
28 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
Aspekte des<br />
Führungsvorgangs<br />
Traditionell definiert man als Führungsvorgang<br />
einen geschlossenen,<br />
immer wiederkehrenden Denk- <strong>und</strong><br />
Handlungsablauf. Im Nebeneinander<br />
von Denken <strong>und</strong> Handeln besteht ein<br />
erstes Defizit. <strong>Der</strong> Führungsvorgang<br />
aus Lagefeststellung, Planung, Befehlsgebung<br />
<strong>und</strong> Kontrolle enthält<br />
keinen Handlungsaspekt. <strong>Der</strong> Wesensgehalt<br />
von Führen als Entscheiden<br />
bleibt im Nebel.<br />
Im Gegensatz zur kollegialen Entscheidungsfindung<br />
in einer Behörde<br />
muss man im Einsatz ins Ungewisse<br />
handeln. Dies rechtfertigt die Anwendung<br />
eines kybernetischen Regelkreis-Modells<br />
als Art Prediktor-Korrektor-Funktion<br />
9 mit Vorhersage <strong>und</strong><br />
Korrektur, die die Aktion in eine bestimmte<br />
Richtung lenkt <strong>und</strong> dann beobachtet,<br />
ob die Richtung stimmt,<br />
ggf. ändert <strong>und</strong> nachsteuert. Dies ist<br />
notwendig, weil einerseits die Lage<br />
nicht vollständig bekannt, andererseits<br />
ihre Entwicklung nicht determiniert<br />
ist. Gerechtfertigt erscheint dies<br />
aber nur unter dem Druck des Handelns.<br />
Ist doch die Katastrophe eine<br />
Situation des Mangels. Es stehen<br />
nicht mehr genügend Kräfte <strong>und</strong> Mittel<br />
zur Verfügung, um die Standards<br />
zu erfüllen, wie sie z.B. in der notfallmedizinischen<br />
Individualversorgung<br />
eines Patienten im Rettungsdienst<br />
gelten. Die Triage als ethische Grenzsituation<br />
im Katastrophenschutz ist<br />
da<strong>für</strong> Beispiel.<br />
Mit dem Handlungsdruck geht die<br />
Notwendigkeit einher, die Hilfeleistung<br />
nicht durch zu langes Nachdenken<br />
hinauszuzögern. Dabei steht die<br />
Komplexität der Situation schnellem<br />
Entscheiden im Weg. Bleibt der Weg,<br />
die notwendige Anzahl der Entscheidungen<br />
zu minimieren. Dies ist eine<br />
wichtige Forderung, die das Führungssystem<br />
erfüllen muss. Damit<br />
kann zügige Hilfe initiiert werden.<br />
<strong>Der</strong> Begriff Vorbefehl drückt dieses<br />
„schon einmal in die Richtung loslaufen<br />
...” auf der Bühne Situation 10<br />
mit unvollständig bekannter Lage<br />
aus. Demgegenüber müssen Behördenentscheidungen<br />
auf einer vollständigen<br />
Problemanalyse beruhen 11 .<br />
Dazu gehört im Gegensatz zur Entscheidungsfindung<br />
der Gefahrenab-<br />
wehr im Regelkreismodell ein Kriterium,<br />
das das Ende der Problembeschreibung<br />
– also der Lagefeststellung<br />
– <strong>und</strong> i. S. der Dv 100 den Übergang<br />
zur Entscheidung festlegt.<br />
Bezogen auf den Führungsvorgang<br />
bestehen somit gr<strong>und</strong>legende Unterschiede<br />
zwischen der Entscheidungsfindung<br />
im Organisationsgefüge einer<br />
Behörde <strong>und</strong> dem Führungssystem<br />
der Katastrophenabwehr. 12 Die<br />
gedankliche Trennung der beiden<br />
Bereiche à la vorbeugender <strong>und</strong> abwehrender<br />
Brandschutz könnte dies<br />
zum Ausdruck bringen.<br />
Unvollständigkeit <strong>und</strong> Ungewissheit<br />
sind Einflussfaktoren, die in großem<br />
Umfang Selbststeuerungsprozesse<br />
erfordern. Diese systemtheoretische<br />
Erkenntnis wird mit dem<br />
Prinzip des Führens mit Auftrag zum<br />
organisationstheoretischen Element.<br />
Es bewirkt, dass das gemeinsame Ziel<br />
trotz denkbarer unzutreffender Lagebilder<br />
erreicht werden kann. Ziele<br />
werden zentral festgelegt <strong>und</strong> dezentral<br />
ausgeführt. Dazu erhalten die<br />
nachgeordneten Organisationselemente<br />
(OrgElemente) die Handlungsoder<br />
Entscheidungsfreiheit, ein Ziel<br />
zu verfolgen statt dezidierter Handlungsanweisungen<br />
13 . Schließlich besteht<br />
nur am Brandherd selbst der<br />
Blick ins Feuer.<br />
Wenn man nicht im Voraus weiß,<br />
welche Einzelaufgaben auf die Hilfskräfte<br />
exakt zukommen, dann kann<br />
man auch nicht alle denkbaren Spezialwerkzeuge<br />
mitbringen, um das<br />
beste „Werkzeug” vornehmen zu können.<br />
Erlaubt doch der Handlungsdruck<br />
nicht, auf die Nachforderung<br />
von Spezialgerät zu warten. Deshalb<br />
bedarf es universell einsetzbarer<br />
Werkzeuge, die <strong>für</strong> viele Situationen<br />
ein angemessenes Handeln ermöglichen.<br />
Gleichzeitig erhöhen einfache<br />
Mittel die Handlungssicherheit der<br />
Helfer unter Stressbelastung. Bildlich<br />
gesprochen ist dem Franzosen <strong>für</strong><br />
den Katastropheneinsatz der Vorzug<br />
zu geben vor einem Gabelschlüsselsatz.<br />
Diese Metapher ist auf die Entscheidungswerkzeuge<br />
zu übertragen.<br />
Universelle Methoden müssen die<br />
Denkprozesse leiten.<br />
Hermann Schröder 14 gibt den Feuerwehrangehörigen<br />
die Merkregel an<br />
die Hand, <strong>für</strong> den Einsatzerfolg viel zu<br />
tun, indem sie durch Einhalten von<br />
Ordnungsprinzipien mögliche, im Einsatz<br />
auftretende Fehler vermeiden. Er<br />
sagt, dass dies bereits beim Bereitlegen<br />
der benötigten Gegenstände <strong>und</strong><br />
Kleidungsstücke – also einem Alarmstuhl,<br />
wie man ihn aus der Gr<strong>und</strong>ausbildung<br />
beim Militär kennt – beginnt.<br />
Dabei unterlässt er allerdings, seine<br />
Merkregel bis zur Einheitlichkeit der<br />
Aufbauorganisation <strong>für</strong> die Führungskräfte<br />
weiter zu spinnen.<br />
Aspekte der<br />
Führungsorganisation<br />
Die Führungsorganisation beschreibt<br />
die Lage der Elemente der<br />
‚Gefahrenabwehr’ aus Über- <strong>und</strong> Unterordnung,<br />
Abhängigkeit <strong>und</strong> Nebeneinander.<br />
Als Folge der Arbeitsteilung<br />
sind Koordinierungsfunktionen<br />
in eigenständigen Stellen institutionalisiert<br />
– dies drückt der Begriff<br />
„Leitung” im Titel der 100er-Dienstvorschriften<br />
aus. Mit Stelle bezeichnet<br />
man die Zusammenfassung der<br />
Tätigkeiten, die von einer Person zu<br />
erledigen sind. Dies wird als Aufbauorganisation<br />
erfasst. Ablauforganisatorisch<br />
treten mit der Arbeitsteilung<br />
neben die wertschöpfenden Handlungen,<br />
die konkrete Hilfe als Feuerlöschen,Herz-Lungen-Wiederbelebung<br />
oder Trümmerbeseitigung, koordinierende<br />
Aufgaben wie Abschnittgrenzen<br />
oder Anfahrtswege<br />
festlegen <strong>und</strong> Verpflegung oder Ablösungen<br />
bestimmen. Mit diesen<br />
Steuerungsaufgaben verknüpft ist der<br />
Begriff Instanz, der aus der Stellung<br />
in der Organisation die Entscheidungsbefugnis<br />
beschreibt. Er korrespondiert<br />
mit dem Verständnis von<br />
Führung als Entscheiden.<br />
Augenscheinlich liefern diese koordinierenden<br />
Tätigkeiten keinen<br />
greifbaren Beitrag zum Helfen selbst.<br />
Das bedeutet unter Berücksichtigung<br />
des Handlungsdrucks, dass eine Aufbauorganisation<br />
zu wählen ist, die<br />
Aktivitäten – also Helfen – schnell initiiert<br />
<strong>und</strong> zügig zur Ausführung<br />
bringt. Schlagkraft steht dabei im<br />
Vordergr<strong>und</strong>, notfalls um den Preis<br />
der Gründlichkeit.<br />
Gr<strong>und</strong>elemente der Organisationslehre<br />
sind Objekte, beispielsweise<br />
Motoren oder Reifen beim Blick auf<br />
die Automobilindustrie (auch Divisionalorganisation<br />
genannt), <strong>und</strong> Ver-<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 29
Aufbauprinzip der<br />
Stablinien<br />
Organisation im<br />
Einsatzablauf<br />
Grafik 1<br />
Grafik 2<br />
Gefahrenbereich<br />
Bewegungsfreiheit<br />
der Rettungskräfte<br />
Entscheidungsbedarf<br />
Grafik 3<br />
Rettung<br />
Verletztenversorgung<br />
Transportmöglichkeiten<br />
Lagerungsfläche<br />
Erstversorgungsmöglichkeiten<br />
Rettung<br />
Aufwuchsrichtung<br />
Verletztenversorgung<br />
richtungen also Tätigkeiten wie Zusammenbau<br />
eines Handys aus sieben<br />
Teilen. Ein- <strong>und</strong> Mehrlinienorganisation<br />
wie z. B. die Matrixorganisation<br />
unterscheidet nach den Wegen,<br />
auf denen Anweisungen laufen. Daneben<br />
gibt es die Projektorganisation<br />
mit der Eigenschaft zeitlicher Befristung.<br />
<strong>Der</strong> Vollständigkeit halber ist<br />
noch die Teamorganisation 15 zu nennen,<br />
die jedoch unter der Fragestellung<br />
der Organisationsprinzipien im<br />
Blickwinkel Arbeitsteilung ausgegrenzt<br />
ist.<br />
Seit Einführung der KatSDv 100 im<br />
Jahre 1981 besteht Konsens, dass<br />
sich die Katastrophenabwehr als Einlinien-Stabs-Organisationstrukturiert<br />
16 . Ihre Eigenschaften sind Verrichtungszentralisation,Einfachunterstellung<br />
<strong>und</strong> Ausprägung von Vollkompetenz.<br />
Es bestehen ein einheitlicher<br />
Instanzenweg <strong>und</strong> klare Aufgabenabgrenzungen.Zwischenorganisatorische<br />
Berührungspunkte existieren<br />
dank klarer Über- <strong>und</strong> Unterordnungsverhältnisse<br />
nicht. Es besteht<br />
aber die Gefahr der Überlastung<br />
von Führungskräften. Ihr begegnet<br />
man gewöhnlich mit der Einrichtung<br />
von Stäben. Wissenschaftlich definiert<br />
ist Stab ein OrgElement, das<br />
weder Instanz 17 noch ausführende<br />
Stelle 18 ist. <strong>Der</strong> Stab erfüllt Aufgaben<br />
der Entscheidungsvorbereitung – d.h.<br />
in der Terminologie des Führungsvorganges<br />
Planung – Kontrolle sowie<br />
allgemeine <strong>und</strong> fachliche Beratung.<br />
Dies erfordert selbst keine Entscheidungs-<br />
<strong>und</strong> Anordnungskompetenzen.<br />
Sie verbleiben bei der Instanz,<br />
der ein Stab zugeordnet ist 19 . Typische<br />
Stabsstellen in Unternehmen<br />
sind Assistenten von Geschäfts- oder<br />
Vertriebsleitung. Man sagt der Einlinienorganisation<br />
aber auch Schwerfälligkeit<br />
nach.<br />
Aus der Einfachunterstellung müsste<br />
folgen, dass die Lines of Communication<br />
getreu der Namensgebung auf<br />
den organisationalen Linien verlaufen.<br />
Die Bezeichnung Einlinienorganisation<br />
wäre insofern Programm. Beachtet<br />
man dies, muss die übergeordnete<br />
Führungsstelle alle die Dinge regeln,<br />
die nicht der einen oder der<br />
anderen unterstellten Einheit zugeteilt<br />
oder <strong>für</strong> beide gleichzeitig relevant<br />
sind.<br />
Bauprinzip der Einlinien-Stabs-Organisation<br />
ist die „3...5-er-Regel” <strong>für</strong><br />
die Leitungsspanne 20 . Sie sagt aus,<br />
dass <strong>für</strong> 3 bis 5 Unterstellte eine Führungsstelle<br />
einzurichten ist. In tayloristischer<br />
21 Betrachtung wird damit<br />
ein Koordinierungsanteil von 15 bis<br />
30 % an den Tätigkeiten zum Ausdruck<br />
gebracht. Aufbauorganisatorisch<br />
bilden 3-er-Hierarchien – 3<br />
Trupps als Gruppe; 3 Züge in einer<br />
Bereitschaft – die Gr<strong>und</strong>lage, in der<br />
Reserven <strong>für</strong> die Führung zusätzlich<br />
unterstellter Organisationselemente<br />
vorgehalten werden, um die Zeit bis<br />
zur Funktionsfähigkeit der übergeordneten<br />
Führungsebene zu überbrücken,<br />
wenn immer mehr Einheiten an<br />
einer Einsatzstelle anrücken. Da<strong>für</strong><br />
wird Personal dem unmittelbaren<br />
Helfen entzogen. Insofern handelt es<br />
sich auch beim Aufbau der Führungsorganisation<br />
um ein Optimierungsproblem<br />
mit dem Ziel schlagkräftiger<br />
Hilfe.<br />
Im Einsatz wächst die Führungsorganisation<br />
mit den anrückenden<br />
Einheiten auf. Als alte Regel gilt, dass<br />
der zuerst anrückende Einheitsführer<br />
die Einsatzleitung übernimmt. Damit<br />
kommt Doppelarbeit auf ihn zu, sobald<br />
eine weitere Einheit anrückt. <strong>Der</strong><br />
Aufwuchs erfolgt jedoch nicht in vertikaler<br />
Richtung, sondern senkrecht<br />
zu einem Schenkel des symbolisch<br />
umgebenden Dreiecks; die Führungsorganisation<br />
wächst quasi trapezförmig<br />
mit den anrückenden Einheiten<br />
(Grafik 1).<br />
Mit der Einführung von strukturierten<br />
Stäben 22 <strong>und</strong> dem Aufwuchs der<br />
Aufbauorganisation im Einsatz steigt<br />
die Gefahr wuchernder Nebenhierarchien.<br />
Bezeichnungen der THWDv<br />
1-100 wie Fernmelde- oder Logistikführer<br />
neben den Führungsgr<strong>und</strong>gebieten<br />
drücken dies aus. Sie beschreiben,<br />
dass Angehörige des Stabes<br />
neben ihrer beratenden Funktion zusätzlich<br />
Einheiten führen oder selbständig<br />
Entscheidungen treffen. Setzt<br />
man voraus, dass die ungeteilte Verantwortung<br />
des Einsatzleiters als immanente<br />
Eigenschaft der Einlinien-<br />
Stabs-Organisation uneingeschränkt<br />
gilt, muss man hier<strong>für</strong> die strukturierende<br />
„3...5-er Regel” zitieren <strong>und</strong> die<br />
Berücksichtigung in der Leitungsspanne<br />
einfordern. Sie würde mit<br />
Nebenhierarchien überdehnt. Jeder<br />
Fachführer eröffnet eine neue Linie.<br />
Sie beeinträchtigt die Vorteile der Einlinien-Stabs-Organisation,<br />
nämlich<br />
Vollkompetenz, Einfachunterstellung<br />
<strong>und</strong> einheitlichen Instanzenweg.<br />
Über Grenzen hinaus denken<br />
Mit dem Aufwuchs der Aufbauorganisation<br />
kommen neue Aufgaben<br />
auf die Führungsstellen zu (Grafik 2,<br />
Methaper aus der Psychologie: Verbinden<br />
Sie neun Punkte mit vier Linien,<br />
ohne abzusetzen).<br />
Man denke nur an eine brennende<br />
Mülltonne, die von einer Löschgrup-<br />
30 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
pe bearbeitet wird. Das LF fährt vor<br />
<strong>und</strong> beginnt den Löschangriff. Kommen<br />
allerdings zwei oder drei Löschzüge<br />
zum Einsatz, muss man sich Gedanken<br />
machen, wie man den Anmarsch<br />
organisiert <strong>und</strong> wo man die<br />
Autos aufstellt, um die Bewegungsfreiheit<br />
zu erhalten <strong>und</strong> den Löschangriff<br />
wirkungsvoll vorzutragen oder<br />
später eine Drehleiter in Stellung zu<br />
bringen. Wenn man Verletzte rettet,<br />
muss man festlegen, wo sie an die<br />
Sanitäter übergeben werden, wo also<br />
die Verletztenablage einzurichten ist<br />
(Grafik 3). Die dabei stattfindende<br />
Abstraktion lässt sich als Filterfunktion<br />
begreifen, in der die Lines of Communication<br />
nach unten als Konkretisierung<br />
<strong>und</strong> nach oben aggregierend<br />
als Abstraktion wirken. Hierarchiestufen<br />
sind damit Abstraktionsstufen <strong>für</strong><br />
Information, die von oben nach unten<br />
differenzieren <strong>und</strong> von unten nach<br />
oben abstrahieren, d.h. zusammenfassen<br />
<strong>und</strong> bündeln. Damit ist das<br />
Prinzip <strong>für</strong> den Zusammenhang zwischen<br />
den verschiedenen Lagebildern<br />
auf den Lines of Communication<br />
offen gelegt (Grafik 4).<br />
Aufwuchs einer<br />
Verwaltungsorganisation<br />
Anders ist dies bei Verwaltungsbehörden.<br />
Sie haben einen gesetzlich<br />
normierten Zuständigkeitsbereich<br />
beispielsweise als Finanzamt<br />
von Flensburg oder Wasser- <strong>und</strong><br />
Schifffahrtsdirektion Süd. Damit sind<br />
auch die Aufgaben abgegrenzt, die<br />
die Behörde erfüllen muss. Je nach<br />
geografischen oder sachlichen Rahmenbedingungen<br />
werden Stellen<br />
ausgeplant. Die OrgElemente werden<br />
entsprechend der Zuständigkeit in<br />
ihrer Größe dimensioniert <strong>und</strong> können<br />
sich bei wandelnden Aufgaben<br />
in ihrem Umfang verändern. Fest ist<br />
jedoch die traditionell dreistufige Hierarchie<br />
aus Orts-, Mittel- <strong>und</strong> Obersowie<br />
Obersten Behörden (Ministerien).<br />
Bei der Einsatzorganisation des<br />
Abwehrenden Katastrophenschutzes<br />
wächst dagegen die Zahl der Hierarchieebenen.<br />
Das bedeutet, dass<br />
gleichzeitig mit Aufbau der benachbarten<br />
die gemeinsame übergeordnete<br />
Führungsstelle eingerichtet, personell<br />
besetzt <strong>und</strong> materiell ausge-<br />
stattet werden muss. Alle sind identisch<br />
in ihrem Aufbau aus Führungsgr<strong>und</strong>gebieten.<br />
Dies hat den Vorteil,<br />
dass die Gliederung unabhängig von<br />
der Lage ist, die vorgeplante Aufbauorganisation<br />
keinen Entscheidungsbedarf<br />
generiert <strong>und</strong> die Bekanntheit<br />
zu Verhaltenssicherheit führt <strong>und</strong> universell<br />
anwendbar ist, wenn heute<br />
noch niemand weiß, wer morgen<br />
beim Einsatz verfügbar ist <strong>und</strong> welche<br />
Aufgaben konkret zu erfüllen sein<br />
werden. Die Größe erlaubt die Arbeit<br />
mit einem gemeinsamen Lagebild im<br />
Stab <strong>und</strong> liefert einen Impuls zum<br />
Teambuilding. Darüber hinaus kommt<br />
man mit dem Blick auf die gemeinsame<br />
Lage schneller zur Entscheidung<br />
als beim Blättern in Akten. Insofern<br />
ist das gemeinsame Lagebild eine<br />
Stärke der Idee Stab. Die „3...5-er-<br />
Regel” legt die Obergrenze aus 5 Führungsgr<strong>und</strong>gebieten<br />
nahe, weil im<br />
Stab nichts mehr aufwächst. Die Weiterführung<br />
oder Abzweigung der Linie<br />
zu Fachberatern schwächt die<br />
Idee.<br />
Die Filterfunktion der Einlinien-<br />
Stabs-Organisation wirkt in systemtheoretischer<br />
Interpretation als Reduzierung<br />
der Komplexität 23 . Durch<br />
Festlegung eines Einheitsbegriffs, wie<br />
er bereits heute bei den Hilfsorganisationen<br />
allerdings unterschiedlich<br />
gebraucht wird, könnte diese Eigenschaft<br />
noch wirkungsvoller genutzt<br />
werden. Legt doch bereits der Begriff<br />
nahe, das zu bezeichnen, was zusammengehört<br />
– die Einheit, in der man<br />
sich kennt. Auf der untersten Ebene<br />
müssten dazu OrgElemente definiert<br />
werden, die unabhängig von der Anwesenheit<br />
weiterer Einheiten Aufträge<br />
selbständig erfüllen können. Historisch<br />
betrachtet waren dies die Bereitschaften<br />
des LSHD <strong>und</strong> später der<br />
Zug als Basisgröße im Erweiterten<br />
Katastrophenschutz 24 . Die Einheiten<br />
müssen nicht gleiche Größenordnungen<br />
über die unterschiedlichen fachlichen<br />
Schwerpunkte von Brandbekämpfung<br />
bis Betreuung <strong>und</strong> Sanität<br />
bis Technischer Hilfeleistung haben.<br />
Vielmehr legt gerade die Systemtheorie<br />
nahe, die Elemente anhand<br />
von Funktionalitäten zu definieren.<br />
Die Einführung dieses funktionalen<br />
Einheitsbegriffs ginge einher mit einem<br />
Verständnis von Geschlossenheit<br />
<strong>und</strong> würde sich mit der daraus<br />
Grafik 4<br />
Grafik 5<br />
Auflösung zu Grafik 2<br />
entstehenden zwischenmenschlichen<br />
Komponente im Sinne des Team-Gedankens<br />
als schlagkräftiges Ganzes<br />
präsentieren. Dieser Ansatz ist in der<br />
militärischen Organisation nicht unbekannt,<br />
in der zwischen taktischer<br />
<strong>und</strong> operativer Ebene unterschieden<br />
wird. Dort zwar unterschiedlich gebraucht,<br />
könnte hier die Unterscheidung<br />
zwischen dem Einsatz der Kräfte<br />
taktisch – die Zusammenstellung<br />
als Ansatz der Kräfte in der operativen<br />
Dimension gegenüberstehen.<br />
Von der Operation her gedacht, sind<br />
die Einheiten die Elemente, die dann<br />
über operative Relationen der Zusammenarbeit<br />
miteinander verknüpft<br />
werden. Sinnvollerweise ergäben die<br />
Eigenschaften der Einheiten die taktischen<br />
Regeln, nach denen sich der<br />
Einsatz richtet. Heute erkennbare Entwicklungen<br />
zu Standard-Einsatz-Regeln<br />
im Bereich Feuerwehr 25 liefern<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 31
hierzu systematische Ansätze. Mit<br />
Blick auf die Minimierung der Entscheidungen<br />
in der Einsatzorganisation<br />
wird mit den festgeschriebenen<br />
Elementen Entscheidungsbedarf verringert.<br />
Für den im Katastrophenschutz<br />
gebräuch-lichen Begriff des Technischen<br />
bleibt auf subtaktischer Ebene<br />
die Anwendung einzelner Geräte von<br />
Löschpumpe bis Rettungsschere.<br />
Führungsmittel<br />
Aus den Eigenschaften der Führungsorganisation<br />
folgen Erkenntnisse<br />
<strong>für</strong> die Führungsmittel.<br />
Wenn die Kommunikationsverbindungen<br />
als „Lines of Communication”<br />
auf den Organisationslinien verlaufen,<br />
ergibt sich eine Entlastung der<br />
Fernmeldeverbindungen, weil Verbindungen<br />
zwischen Elementen gleicher<br />
Hierarchieebene nicht durch die<br />
Eigenschaften der Organisationsform<br />
begründet sind <strong>und</strong> deshalb eingespart<br />
werden können. Wichtig dabei<br />
ist, dass die gemeinsame Führungsstelle<br />
nicht reaktiv Entscheidungen<br />
„absegnet”, sondern aktiv Festlegungen<br />
trifft, die die nachgeordneten Elemente<br />
<strong>für</strong> ihre Arbeit brauchen. Insofern<br />
führt die Führungsstelle sozusagen<br />
die Hände der Abschnitte <strong>und</strong><br />
Einheiten, wenn irgendetwas – gegenständlich<br />
oder virtuell – übergeben<br />
werden muss <strong>und</strong> damit die<br />
Abschnittsgrenzen berührt.<br />
Die Informationsflut verleitet zum<br />
klein-klein der Daten. Für die Katastrophe<br />
wird nur der Hergang beschrieben;<br />
der Verlauf wird archiviert.<br />
Organisieren <strong>und</strong> Koordinieren als<br />
Kernfunktion des Führungssystems<br />
geraten ins Hintertreffen. Die Abstraktions-/Konkretisierungsideeverringert<br />
die Zahl anfallender Einzelmeldungen.<br />
Einerseits baut sie eine Verzögerung<br />
durch Zusammenfassung<br />
ein. Andererseits bündelt die Abstraktion<br />
Daten, d.h. drei Meldungen von<br />
Unterstellten müssen zu einer Ebenenrelevanten<br />
zusammengeführt,<br />
aber nur einmal befördert werden.<br />
Damit wird dem Mangel entgegengewirkt,<br />
dass die bürokratische Organisation<br />
beim Fortgang der Krise<br />
überlastet wird <strong>und</strong> sich auf das Ordnen<br />
der Informationen beschränkt.<br />
Gleichzeitig werden Kommunikationsverbindungen<br />
entlastet.<br />
Die Mittel der Informationsverarbeitung<br />
– also die Lageführung – richten<br />
sich nach dem Aufwand, der mit<br />
den Entscheidungen, die auf einer<br />
Führungsebene zu treffen sind, verb<strong>und</strong>en<br />
ist. Die Entscheidung über<br />
Innen- oder Außenangriff trifft selbstverständlich<br />
der Gruppenführer. Dies<br />
wird einer TEL bei richtig verstandener<br />
Lageführung mit adäquater Informationsfilterung<br />
nicht möglich sein.<br />
Wo jedoch so detaillierte Lagedaten<br />
vorliegen, dass dies doch gelingt,<br />
wird gegen den Optimierungsgr<strong>und</strong>satz<br />
der Aufbauorganisation verstoßen<br />
<strong>und</strong> man findet wahrscheinlich<br />
stark überlastete Kommunikationswege.<br />
Genauso wenig wird sich der<br />
Führer einer Löschgruppe ein so<br />
umfassendes Lagebild leisten, um<br />
trotz umfangreicher Straßensperrungen<br />
im Großschadensfall über den<br />
Anmarsch von Ablösung mitzureden.<br />
Da er diese hoch aggregierten Infos<br />
nicht braucht, hat er auch nur die auf<br />
seine Bedürfnisse ausgerichtete Führungsunterstützung<br />
in Person des<br />
Melders, Maschinisten oder Fahrers<br />
zur Seite. In diesem Sinne muss der<br />
hierarchischen Führungsorganisation<br />
zukünftig wieder die Filterfunktion<br />
zukommen, die die Informationsflut<br />
als Ergebnis der Komplexität der Einsatzrealität<br />
auf das organisationsimmanent<br />
erforderliche Maß reduziert 26 .<br />
Führungsmittel der Informationsübertragung<br />
– in erster Linie Kommunikationsmittel<br />
– sind mit den Mittel der<br />
Lageführung (Informationsverarbeitung)<br />
verknüpft. Sie richten sich nach<br />
der gestellten Aufgabe, die abhängig<br />
von der Hierarchieebene in der<br />
Aufbauorganisation zu erfüllen ist.<br />
Dabei ist es unnötig, dass die Möglichkeiten<br />
der Informationsverarbeitung<br />
die der Übermittlung übertreffen,<br />
weil die Entscheidungen nicht<br />
verzugslos in Anweisungen auf die<br />
nächste Führungsebene übertragen<br />
werden könnten. Das Personal <strong>für</strong> die<br />
Informationsverarbeitung wäre dann<br />
an anderer Stelle im Gefüge der Katastrophenabwehr<br />
besser eingesetzt.<br />
Schlussbemerkung:<br />
Not kennt kein Gebot!<br />
Aus den Eigenschaften des Führungssystems<br />
ergeben sich funktional<br />
begründete Konsequenzen <strong>für</strong><br />
den Einsatz.<br />
In der modernen Katastrophenabwehr<br />
ersetzt das Lagebild den Feldherrnhügel<br />
des Militärs vergangener<br />
Zeiten. Von dort wurden die Truppen<br />
selbst beobachtet. Bunte Uniformen<br />
kennzeichneten die kämpfenden<br />
Parteien. Befehle wurden im „Tête a<br />
Tête” übermittelt. Mit dem Prinzip der<br />
vertikalen Filterung mit Abstraktion<br />
<strong>und</strong> Konkretisierung oder Differenzierung<br />
entsteht ein neuer Blickwinkel<br />
auf das Einsatzgeschehen. Sinnbild<br />
<strong>für</strong> Abstraktion <strong>und</strong> Aggregation sind<br />
taktische Zeichen.<br />
Anfangs beobachtet man das Geschehen<br />
noch selbst – Helfer, Autos<br />
<strong>und</strong> Werkzeuge. Mit dem Aufstieg in<br />
der Hierarchie wird das Bild unschärfer.<br />
Zum Schluss muss man sich<br />
selbst sein Bild machen – die Lagedarstellung.<br />
Dann sind keine Helfer<br />
mit Helm <strong>und</strong> Handschuh gefragt,<br />
sondern Stärkeformate mit Führer/<br />
Unterführer/Helfer/Gesamtstärke,<br />
nicht mehr LF, DLK oder GKW zählen.<br />
An die Stelle treten Organisationsbegriffe<br />
wie Gruppen oder Züge<br />
ausgedrückt in Taktischen Zeichen.<br />
Sie sind Abstraktionen <strong>für</strong> Menschen<br />
<strong>und</strong> Material, die Aufträge bearbeiten.<br />
Nicht mehr auf Sicherheitsbestimmungen<br />
beim Einsatz von Schere-Spreizer<br />
liegt das Augenmerk, sondern<br />
auf Anmarsch, Ablösung oder<br />
Verpflegung.<br />
Mit der funktionalen Begründung<br />
des Einheitsbegriffes als Ebene von<br />
Zusammengehörigkeit <strong>und</strong> zwischenmenschlichem<br />
Kennen erscheinen<br />
Überlegungen zur Bildung taktischer<br />
Verbände in neuem Licht. Die Erkenntnisse<br />
aus der Organisationslehre<br />
liefern eine funktionale Differenzierung<br />
mit dem Verband als taktische<br />
im Ggs. zum Einsatz- bzw.<br />
Unterabschnitt in operativer Dimension.<br />
Dies zu vermischen würde bedeuten<br />
die soziale Bindung als Systemstärke<br />
auf der Gr<strong>und</strong>lage des Verständisses<br />
der Einheit zu verspielen.<br />
Verbände kann man sich nur leisten,<br />
wo sie wirklich zusammen ausgebildet<br />
werden <strong>und</strong> Einsatzerfahrung gewinnen.<br />
Wo das nicht der Fall ist, sollte<br />
man sich mit Blick auf eine klare<br />
Terminologie auf den operativen Abschnittsbegriff<br />
beschränken.<br />
Mit der Führungsorganisation verb<strong>und</strong>en<br />
ist der auftragsadäquate Einsatz<br />
der Führungsmittel. <strong>Der</strong> Grup-<br />
32 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
penführer wird von seinem Melder<br />
unterstützt. <strong>Der</strong> Zugführer hat einen<br />
ZugTrupp. Dort gibt es dann erste<br />
Unterlagen zur Lageführung. Schließlich<br />
wächst mit Bildung einer Führungsstelle<br />
alles weiter auf, bis<br />
letztlich mit der Führungsstelle nur<br />
noch Lageführung <strong>und</strong> Kommunikation<br />
eingesetzt werden, um schnell<br />
Entscheidungen zu treffen <strong>und</strong> zügig<br />
zu helfen.<br />
Unter der Themenstellung Stress<br />
<strong>und</strong> Feuerwehr leitet Hermann Schröder<br />
die Forderung ab, „in der Einsatztaktik<br />
<strong>und</strong> Einsatztechnik klare Handlungsanweisungen<br />
festzulegen <strong>und</strong><br />
diese konsequent zu schulen. Es darf<br />
kein ‚wenn <strong>und</strong> aber’ oder ‚könnte<br />
auch so sein’ mehr geben. Wir müssen<br />
Standardsituationen mit den dazugehörigen<br />
Standardmaßnahmen<br />
<strong>und</strong> Handlungsanweisungen definieren.<br />
Dabei müssen wir auch akzeptieren,<br />
dass die Maßnahmen vielleicht<br />
nur in 80 % der Einsätze eine optimale<br />
Maßnahme darstellen <strong>und</strong> in<br />
den restlichen Einsätzen eine andere<br />
Maßnahme vielleicht noch besser gewesen<br />
wäre. Doch dies ist immer<br />
noch besser, als in 100 % der Einsätze<br />
hilflos zu sein.” 27 Verallgemeinert<br />
auf das Führungssystem ergibt dies<br />
eine einheitliche Auffassung über die<br />
Führungsebenen. Es werden einheitliche<br />
Verfahren festgelegt, nach denen<br />
die Gefahrenabwehr zu strukturieren<br />
ist. Aufbauorganisatorisch gilt<br />
streng die Einlinien-Stabs-Organisation,<br />
<strong>und</strong> Stäbe gliedern durchgängig<br />
in die Führungsgr<strong>und</strong>gebiete 1<br />
bis 4.<br />
Man wird gut beraten sein, mit<br />
Blick auf das Ziel eines effektiven abwehrenden<br />
Katastrophenschutzes<br />
emotionale Forderungen organisationsimmanenten<br />
funktionalen Kriterien<br />
nachzuordnen. Katastrophenabwehr<br />
ist vom Operativen her zu denken<br />
<strong>und</strong> nicht von einzelnen Bausteinen,<br />
die sich als Puzzle nicht<br />
immer zu einem Bild zusammensetzen<br />
lassen würden. Als ein Ausgangspunkt<br />
ist der Denkansatz von der<br />
Organisationslehre her zu berücksichtigen.<br />
Sonst bleibt die Katastrophenabwehr<br />
dem fälschlich sprichwörtlichen<br />
Niveau einer ländlichen Dorffeuerwehr<br />
verhaftet „irgendwo<br />
zwischen Kirche, Kneipe <strong>und</strong> Kübelspritze”.<br />
Fußnoten<br />
1 Elmar Jöris: Katastrophenschutz.<br />
In: Europäische Sicherheit 5/2005,<br />
S. 60 ff., hier S. 60<br />
2 ebenda<br />
3 TF: Truppenführung<br />
4 Heeresdienstvorschrift (HDv 100/<br />
100) Ausgabe 2000, Nr. 326 zitiert<br />
nach Christian Millotat. In: Europäische<br />
Sicherheit 4/2005, S. 48<br />
5 Mitschke/Frank: Incident Command<br />
System. In: <strong>Bevölkerungsschutz</strong><br />
2/2002, S. 5 ff.<br />
6 Nach Funke/Kirk: Umgang mit<br />
komplexen Problemlöse- <strong>und</strong> Entscheidungsprozessen.<br />
In: Mitschke:<br />
Handbuch <strong>für</strong> Technische Einsatzleitungen,<br />
Stuttgart 1997<br />
7 Paul t´Hart: Krisenmanagement<br />
in der öffentlichen Verwaltung. In:<br />
Staatswissenschaft <strong>und</strong> Staatspraxis<br />
8 (1997), S. 31-48<br />
8 Peter Buchner: Ordnung im Chaos.<br />
Katastrophenbegriff <strong>und</strong> die damit<br />
zusammenhängenden Verflechtungen.<br />
In: 112 – Magazin <strong>für</strong> die Feuerwehr<br />
(2000) 7, S. 428 ff.<br />
9 Als Prediktor-Korrektor-Methode<br />
bezeichnet man in der Numerik ein<br />
Verfahren zur Lösung partieller Differentialgleichungen.<br />
10 Peter Buchner: Instrumentarium<br />
<strong>für</strong> Führungskräfte. Die Kunst der<br />
Menschenführung. In: Notfallvorsorge<br />
(1998) 3, S. 13 ff.<br />
11 <strong>Der</strong> Begriff zielgerichtet dürfte<br />
in der Dv eher unzweckmäßig sein,<br />
da es sich um ein auftragsinduziertes<br />
System handelt. Ein Handlungsablauf<br />
ist es sicher nicht, weil Handlung<br />
letztlich als Folge der Befehlsgebung<br />
initiiert wird, selbst aber gar<br />
nicht Bestandteil des kybernetischen<br />
Regelkreises ist.<br />
12 Man stelle sich nur eine Baubehörde<br />
vor, die eine Baugenehmigung<br />
in Einsatzmanier erlässt. Nach Baubeginn<br />
wird deutlich, dass die Form<br />
eines Hauses nicht in das Gemeindebild<br />
passt, dann wird geändert <strong>und</strong><br />
es folgte der Umbau bereits beim<br />
Aufbau.<br />
13 Mit prägnanten Beispielen aus<br />
dem militärischen Bereich vgl. Gerhard<br />
Elser: Führen durch Auftrag <strong>und</strong><br />
das Unvorhergesehene. In: Truppendienst<br />
2/1998, S. 120-124<br />
14 Hermann Schröder: Brandeinsatz.<br />
Praktische Hinweise <strong>für</strong> die<br />
Mannschaft <strong>und</strong> Führungskräfte. Die<br />
Roten Hefte 9. Stuttgart 2005<br />
15 nach Steinbuch: Organisation<br />
8. Auflage 1990, hier S. 165 f.<br />
16 Aufweichungen durch die Einführung<br />
von Fachberatern werden<br />
hier nicht weiter verfolgt. Sie sind mit<br />
der Ausklammerung der emotionalen<br />
Aspekte ebenfalls ausgegrenzt.<br />
Sie haben sich wahrscheinlich als<br />
Relikt aus den Organisationsstrukturen<br />
des LSHD in die heutige Zeit<br />
herüber gerettet.<br />
17 Instanz bezeichnet in der Organisationstheorie<br />
eine Stelle mit Leitungsaufgaben,<br />
d.h. sie ist berechtigt<br />
Entscheidungen zu treffen <strong>und</strong><br />
Anweisungen/Aufträge/Befehle zu erteilen.<br />
18 Ausführende Stelle im Katastrophenschutz<br />
ist zu verstehen als Stelle,<br />
deren Inhaber unmittelbar zur Hilfeleistung<br />
beiträgt, aber nicht berechtigt<br />
ist, anderen Stellen Anweisungen<br />
zu geben.<br />
19 Hill: Organisationslehre 1, Stuttgart<br />
1994, S. 197<br />
20 z. B. Schläfer: Das Taktikschema.<br />
München 1998 (4), S. 92<br />
21 Als Taylorismus bezeichnet man<br />
die strenge Orientierung an der Arbeitsteilung<br />
mit der Kritik der Missachtung<br />
menschlicher Bedürfnisse in<br />
der Unternehmung.<br />
22 Führungsgr<strong>und</strong>gebiete 1 bis 6;<br />
früher wurde der Stab des Örtlichen<br />
Luftschutzleiters aus den Fachdienstführern<br />
des LSHD gebildet. Diese würden<br />
heutzutage die Rolle von Fachberatern<br />
einnehmen. In: <strong>Der</strong> Luftschutzhilfsdienst.<br />
Allgemeiner Leitfaden<br />
<strong>für</strong> Helfer. Schriftenreihe Ziviler<br />
<strong>Bevölkerungsschutz</strong>, Band 1, S. 39<br />
23 Niklas Luhmann: Soziale Systeme.<br />
Gr<strong>und</strong>riss einer allgemeinen Theorie.<br />
Suhrkamp 1983, S. 47<br />
24 Allgemeine Verwaltungsvorschrift<br />
über die Organisation des Katastrophenschutzes<br />
vom 27. Februar<br />
1972 Nr. 14 (1), GMBl S. 184<br />
25 Cimolino, de Vries: Standard-<br />
Einsatz-Regeln (SER) in: Graeger, Cimolino,<br />
de Vries, Haisch, Südmersen:<br />
Einsatz- <strong>und</strong> Abschnittsleitung. Das<br />
Einsatzführungssystem. Landsberg,<br />
2003<br />
26 Die Filterfunktion entspricht annähernd<br />
der Reduzierung von Komplexität<br />
als Konzept der Systemtheorie.<br />
27 Hermann Schröder, aaO S. 105<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 33
Humanitäre Hilfe<br />
Lebensrettende Hilfe<br />
Klaus Liebetanz, Fachberater <strong>für</strong> Katastrophenmanagement, Verden<br />
Im Rahmen von Ergebnisprüfungen hat unser Autor <strong>und</strong> Fachberater <strong>für</strong><br />
Katastrophenmanagement humanitäre Projekte der ADRA (Adventistische<br />
Entwicklungs- <strong>und</strong> Katastrophenhilfe) <strong>und</strong> der Johanniter-Unfall-Hilfe e.V.<br />
(JUH) in der afghanischen Provinz Herat <strong>und</strong> in Kabul überprüft.<br />
ADRA sorgt <strong>für</strong><br />
sauberes Trinkwasser<br />
Nach Angaben von UNICEF haben<br />
nur 13 % der afghanischen Bevölkerung<br />
Zugang zu sauberem Trinkwasser.<br />
Die Kindersterblichkeit ist erschreckend<br />
hoch. Ein Viertel aller Kinder<br />
erreicht das fünfte Lebensjahr<br />
nicht. <strong>Der</strong> Herstellung von sauberem<br />
Trinkwasser kommt daher eine hohe<br />
Priorität zu. Das Auswärtige Amt unterstützt<br />
das Brunnenprojekt von<br />
ADRA Deutschland in der Provinz<br />
Jowzjan im Dristrikt Sheberghan<br />
(150 km westlich von Mazar e Sharif<br />
im Norden von Afghanistan).<br />
Sorgfältige Vorgehensweise<br />
der ADRA<br />
Die Brunnenbauweise der ADRA<br />
AFG zeichnet sich durch besondere<br />
Sorgfalt <strong>und</strong> Nachhaltigkeit aus:<br />
Zunächst werden die Brunnenstandorte<br />
mit dem zuständigen „Ministerium<br />
<strong>für</strong> ländliche Rehabilitierung <strong>und</strong><br />
Entwicklung” (MRRD) festgelegt.<br />
Dann wird die Bevölkerung der geplanten<br />
Standorte an dem Aushub<br />
des Brunnenschachtes bis zur Wasser<br />
führenden Schicht beteiligt. Dies<br />
kann auf zweifache Weise geschehen:<br />
Zum einen kann die betroffene<br />
Bevölkerung das Brunnenloch<br />
(Durchmesser 1,10 Meter) selbst graben<br />
oder einen Spezialisten <strong>für</strong> 4.000<br />
Afghani (80 USD) = pro Familie 1,5<br />
USD beauftragen. Fünf Orte haben<br />
diese Selbstbeteiligung abgelehnt<br />
<strong>und</strong> daher keinen Brunnen erhalten.<br />
In einer zweiten Phase werden von<br />
einer professionellen afghanischen<br />
Firma perforierte Stahlrohre so in den<br />
Boden getrieben, dass das Ende des<br />
letzten Stahlrohres bis zur Kiesschicht<br />
vordringt <strong>und</strong> somit in der Wasser<br />
führenden Schicht liegt. Dann wird<br />
ein ca. drei Zentimeter dickes PVC-<br />
Rohr eingeführt <strong>und</strong> durch eine Elektropumpe<br />
sichergestellt, dass<br />
mindestens 24 St<strong>und</strong>en ständig Wasser<br />
fließt. Danach wird der Brunnenschacht<br />
wieder mit Erde aufgefüllt,<br />
so dass der Brunnenschacht nicht<br />
durch extreme Witterungsschwankungen<br />
von 45 Grad plus bis 30 Grad<br />
minus einbrechen kann. Außerdem<br />
wird so das eventuell kontaminierte<br />
Oberflächenwasser gefiltert. Abschließend<br />
wird der Brunnenschacht<br />
durch eine Zement-Plattform abgeschlossen<br />
<strong>und</strong> mit einer Handpumpe<br />
mit Schwengel versehen.<br />
Nachhaltigkeit der Brunnen<br />
Alle 50 überprüften Brunnen waren<br />
funktionsfähig, auch die kontrollierten<br />
Brunnen, die vor vier Jahren<br />
von ADRA gebaut wurden. Dagegen<br />
wurden auch Brunnen von anderen<br />
Organisationen gesehen, die nicht<br />
funktionsfähig waren, weil der Brunnenschacht<br />
eingestürzt war <strong>und</strong>/oder<br />
die Brunnen nicht tief genug angelegt<br />
waren. Insgesamt hat ADRA 96<br />
neue Brunnen in 2005 erstellt.<br />
Notwendige ergänzende<br />
Hygieneausbildung<br />
In Zusammenarbeit mit der amerikanischen<br />
NGO „Crosslink Development<br />
International” (CDI) <strong>und</strong> der holländischen<br />
Organisation „ZOA”, die<br />
sich beide mit der Hygieneerziehung<br />
im Distrikt Sheberghan beschäftigen,<br />
führt ADRA im Bereich der Brunnenstandorte<br />
eine wasserbezogene Hygieneausbildung<br />
durch.<br />
Bei Notmaßnahmen zur Versorgung<br />
mit sauberem Trinkwasser sollte<br />
stets eine entsprechende Hygieneausbildung<br />
durchgeführt werden.<br />
Dies ergibt sich aus der wissenschaftlich<br />
erwiesenen Tatsache, dass die<br />
Versorgung mit sauberem Trinkwasser<br />
allein zu einer Verbesserung der<br />
Ges<strong>und</strong>heit um 30 % führen <strong>und</strong> die<br />
Hygieneerziehung allein einen Wert<br />
von 45 % erreichen kann. Beide Faktoren<br />
zusammen können eine Verbesserung<br />
der ges<strong>und</strong>heitlichen Situation<br />
von bis zu 60 % bewirken.<br />
Prekäre Lage<br />
der Rückkehrer<br />
Im Zusammenhang mit den Brunnenbesichtigungen<br />
kann man in den<br />
entferntesten Winkeln des Distrikts<br />
Sheberghan wahrnehmen, wo die<br />
Rückkehrer aus Pakistan <strong>und</strong> Iran „untergebracht”<br />
werden. Diese haben<br />
teilweise 15 Jahre lang mit einer gewissen<br />
Alimentierung durch den UN-<br />
HCR in Flüchtlingslagern im benachbarten<br />
Ausland gelebt <strong>und</strong> besitzen<br />
zahlreiche Kinder. Diese Menschen<br />
werden jetzt auf Druck der bisherigen<br />
Gastländer in die „befriedete<br />
Heimat” abgeschoben. Sie werden<br />
einfach in einer unwirtlichen Landschaft<br />
(Sandsteppe mit verstreuten<br />
dornigen Kleingewächsen) abgesetzt<br />
34 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
in Afghanistan<br />
deutscher Organisationen<br />
oder in zerfallenen Kriegsruinen „untergebracht”,<br />
die notdürftig mit Plastik<br />
oder Zeltplanen abgedeckt sind.<br />
Alle anderen noch gerade menschenwürdigen<br />
Behausungen sind bereits<br />
vergeben. UNHCR <strong>und</strong> UNICEF erreichen<br />
nicht alle diese versprengten<br />
Gruppen. Diese „Returnees” gehören<br />
zu den „most vulnerable persons” in<br />
Afghanistan, zumal der Winter mit 10-<br />
20 Grad minus die Lebensbedingungen<br />
erschwert. Solche „Zeltstädte”<br />
gibt es auch in den Außenbezirken<br />
von Kabul, wo im Winter bis zu 30<br />
Grad minus erreicht werden.<br />
Winterhilfsprogramm<br />
der ADRA<br />
ADRA führt mit Unterstützung des<br />
Auswärtigen Amtes ein „Winterhilfsprogramm”<br />
durch. Dabei arbeitet sie<br />
sehr eng mit ARDA, einer lokalen<br />
NGO, zusammen. Projektleiter von<br />
ARDA ist Zahir Aslamy, ein Tadschik-<br />
Afghane, der im Krieg als Offizier unter<br />
Nadschibulla ein Bein verloren<br />
hat. ADRA hat ihm eine funktionsfähige<br />
Prothese besorgt, mit der er unglaublich<br />
behände ist. Er ist ein Organisationstalent.<br />
In Kabul beschäftigt<br />
er ca. 350 Frauen mit der Herstellung<br />
von Steppdecken. Diese erhalten<br />
eine bestimmte Menge Stoff<br />
<strong>und</strong> aufgelockerte Baumwolle <strong>und</strong><br />
haben da<strong>für</strong> jeweils zehn Steppdecken<br />
abzugeben, bevor sie ihre Bezahlung<br />
erhalten. So wird humanitäre<br />
Hilfe auch zu einer dringend notwendigenArbeitsbeschaffungsmaßnahme<br />
<strong>für</strong> Frauen.<br />
Verteilung in Mazar<br />
Am Stadtrand von Mazar e Sharif<br />
kann der Prüfer eine gut organisierte<br />
Verteilerorganisation miterleben. Za-<br />
Einfache Frauen in Burka warten in Kabul auf Arbeit. Sie erhalten eine bestimmte Menge<br />
Stoff <strong>und</strong> aufgelockerte Baumwolle <strong>und</strong> haben da<strong>für</strong> jeweils zehn Steppdecken abzugeben,<br />
bevor sie ihre Bezahlung erhalten.<br />
Vor dem Eingang der Polyklinik in Koshhal Mina, einem Stadtteil mit vielen Rückkehrern<br />
im Westen von Kabul. Die Mitarbeiterin aus der Johanniterzentrale in Berlin, Kathrin<br />
Jungfer (2. von rechts) mit traditioneller Kleidung gehört zu den gut ausgebildeten,<br />
„tuffen“ jungen Frauen, die man zunehmend in Krisen- <strong>und</strong> Katastrophengebieten<br />
antrifft.<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 35<br />
Foto: Klaus Liebetanz<br />
Foto: Klaus Liebetanz
Foto: Klaus Liebetanz<br />
Foto: Klaus Liebetanz<br />
Verteilung der ADRA-Winterhilfe am Stadtrand von Mazar e Sharif an bedürftige<br />
Rückkehrer. Jede Familie erhält vier Steppdecken, sechs verschiedene Paar Schuhe aus<br />
afghanischer Produktion <strong>und</strong> eine dicke Plastikplane. Die Familien haben einen Bezugsschein<br />
<strong>und</strong> wurden vorher ausgewählt.<br />
Prekäre Lage der Rückkehrer aus Pakistan <strong>und</strong> dem Iran. Sie werden teilweise wie hier<br />
im Bild in zerfallenen Kriegsruinen oder in primitiven Zelten untergebracht. Alle anderen<br />
noch gerade menschenwürdigen Behausungen sind bereits vergeben.<br />
hir Aslamy ist mit seinen LKWs auf<br />
dem Landweg von Kabul über den<br />
Salang-Pass schon in Mazar eingetroffen.<br />
Er ist pünktlich an der verabredeten<br />
Stelle <strong>und</strong> lotst den Prüfer zu<br />
den Verteilerstellen am Stadtrand. Die<br />
Rückkehrer warten geduldig auf die<br />
Verteilung der vier Steppdecken,<br />
sechs verschieden großen Schuhpaaren<br />
aus afghanischer Produktion <strong>und</strong><br />
einer dicken Plastikplane (pro Familie).<br />
Sie wurden bereits vorher in Zusammenarbeit<br />
mit dem Ministerium<br />
<strong>für</strong> Rückwanderer <strong>und</strong> Binnenvertriebene<br />
nach Bedürftigkeit ausgewählt<br />
<strong>und</strong> haben einen Zuteilungsschein.<br />
Die Verteilung läuft reibungslos. Zudem<br />
sind ein lokaler Vertreter des UN-<br />
HCR <strong>und</strong> des zuständigen Ministeriums<br />
anwesend <strong>und</strong> überwachen drei<br />
Verteilerstellen. Die Rückkehrer haben<br />
alle Papiere vom UNHCR mit einem<br />
Foto der ganzen Familie. Aus<br />
diesen Dokumenten geht hervor, dass<br />
sie zwischen 10 <strong>und</strong> 20 Jahren im<br />
Ausland gelebt haben.<br />
Die äußerst primitiven „Zeltstädte”<br />
außerhalb von Mazar machen einen<br />
trostlosen Eindruck. Die Hilfe<br />
kommt rechtzeitig vor dem harten<br />
Winter. Ein großes Transparent weist<br />
auf die Spender aus Deutschland hin.<br />
Herz <strong>und</strong> Verstand von<br />
ADRA Afghanistan<br />
Das Schweizer Ehepaar Jaggi ist<br />
Herz <strong>und</strong> Verstand von ADRA Afghanistan.<br />
Dr. Peter Jaggi ist der Landeskoordinator<br />
von ADRA Afghanistan.<br />
Er ist von Beruf Kardiologe (64<br />
Jahre). Zusammen mit seiner Frau<br />
Verena haben beide drei Jahre in<br />
Nepal, 12 Jahre in Malawi <strong>und</strong> vier<br />
Jahre in Afghanistan gearbeitet. Sie<br />
leben <strong>und</strong> arbeiten mit ihren Mitarbeitern<br />
in einem kleinen Gebäudekomplex<br />
der ADRA, im Stadtteil Shari-Naw<br />
in Kabul. Das mit einer Außenmauer<br />
versehene Gebäude ist nicht<br />
gekennzeichnet. Die Jaggis legen<br />
36 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
Endphase einer Brunnenbohrung in der Provinz Sheberghan durch eine lokale Firma.<br />
Ingenieur Mohammed Gulbudin (rechts im Bild) von ADRA Afghanistan überwacht<br />
sorgfältig die Ausführung. Alle ca. 50 überprüften Brunnen, die von der ADRA erstellt<br />
wurden, waren funktionsfähig.<br />
Wert auf „low profile”, den besten<br />
Schutz in Afghanistan. Zusätzlich arbeiten<br />
der international erfahrene Inder<br />
Vinod als Projektbearbeiter <strong>und</strong><br />
der junge Rumäne Ovidio als Finanzbuchhalter<br />
im Team der ADRA.<br />
Verena Jaggi arbeitet zusätzlich als<br />
Projektbearbeiterin <strong>und</strong> „Mädchen <strong>für</strong><br />
alles”. Sie ist die Seele der kleinen<br />
Gemeinschaft. Jovitta, die Frau von<br />
Vinod, ist bei der GTZ in Kabul beschäftigt.<br />
Die ADRA legt Wert auf den<br />
Einsatz von Ehepaaren <strong>und</strong> umgeht<br />
damit die Unsitte von nicht ganz ungefährlichen<br />
Bordellbesuchen (AIDS)<br />
<strong>und</strong> sog. Nebenfrauen, wie sie bei<br />
langjährigen „humanitären Legionären”<br />
nicht unüblich sind. Am Samstag<br />
treffen sich Adventisten aus verschiedenen<br />
UN-Organisationen zu<br />
einer Bibellesung mit Aussprache.<br />
Die Inderin Jovitta hat die Bibelauslegung<br />
vorbereitet. Das Thema lautet:<br />
„Das Christsein bricht die Mauern<br />
zwischen den verschiedenen<br />
Menschen.” Es geht um den Abbau<br />
von Vorurteilen, was von den Teilnehmern<br />
mit vielen persönlichen Erfahrungen<br />
belegt wird.<br />
Für den Prüfer, einen Katholiken,<br />
fällt auch ein Vorurteil: Adventisten<br />
sind keine „weltfremden Sektierer”,<br />
sondern vorbildliche Christen, die<br />
sich an der Urgemeinde orientieren.<br />
Anschließend sind die Teilnehmer<br />
zum gemeinsamen Mittagessen eingeladen.<br />
Das sind die kleinen, vorbildlichen<br />
christlichen Gemeinschaften,<br />
von denen Papst Benedikt XVI.<br />
in seinem Buch „Salz der Erde” spricht.<br />
Zur Lage im afghanischen<br />
Ges<strong>und</strong>heitsbereich<br />
Nach 25 Jahren Krieg <strong>und</strong> Bürgerkrieg<br />
hat sich die humanitäre Lage in<br />
Afghanistan zwar in den letzten Jahren<br />
etwas verbessert, die Bevölkerung<br />
ist jedoch immer noch stark auf<br />
internationale Unterstützung, besonders<br />
im Bereich der medizinischen<br />
Gr<strong>und</strong>versorgung angewiesen. In diesem<br />
Bereich herrscht immer noch<br />
eine erschreckend hohe Kindersterblichkeit<br />
von 257 auf 1000 Lebendgeburten<br />
<strong>und</strong> eine hohe Müttersterblichkeit<br />
von 1600 auf 100.000 Geburten.<br />
Es gibt 18,5 Ärzte pro 100.000<br />
Einwohner <strong>und</strong> nur 8 % der Geburten<br />
werden medizinisch professionell<br />
betreut. Afghanistan hat nach Sierra<br />
Leone die schlechtesten Ges<strong>und</strong>heitsstatistiken<br />
der Welt.<br />
Johanniter unterstützen<br />
Kliniken <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsstationen<br />
Die Johanniter-Unfall-Hilfe e.V.<br />
unterstützt in Abstimmung mit dem<br />
afghanischen Ges<strong>und</strong>heitsministerium<br />
in Afghanistan vier Kliniken/Ges<strong>und</strong>heitsstationen<br />
mit Medikamenten,<br />
medizinischen Verbrauchsmaterial,<br />
medizinischen Geräten, Laborausstattung<br />
<strong>und</strong> Gehaltszuzahlungen<br />
<strong>für</strong> medizinisches Personal. Damit<br />
leistet die JUH einen substantiellen<br />
Beitrag zur Funktionsfähigkeit <strong>und</strong><br />
zum Erhalt dieser medizinischen Einrichtungen.<br />
Eine dieser Kliniken liegt<br />
im noch heute ziemlich zerstörten<br />
Stadtteil Khoshhal Mina im Westen<br />
von Kabul, wo der Bürgerkrieg mehrfach<br />
in erbitterten Häuserkämpfen die<br />
Fronten gewechselt hat.<br />
Die anderen Ges<strong>und</strong>heitsstationen<br />
befinden sich westlich von Herat in<br />
kleineren Ortschaften auf dem flachen<br />
Land. Die JUH wird bei ihren<br />
humanitären Bemühungen im afghanischen<br />
Ges<strong>und</strong>heitsbereich durch<br />
den Arbeitsstab Humanitäre Hilfe im<br />
Auswärtigen Amt unterstützt.<br />
Hoher Anteil<br />
von Rückkehrern<br />
Alle vier von der JUH betreuten<br />
Kliniken <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsstationen<br />
haben einen hohen Anteil an rückkehrenden<br />
Flüchtlingen aus Pakistan <strong>und</strong><br />
dem Iran. Die Quote der unterernährten<br />
Kinder liegt zwischen 20 % <strong>und</strong><br />
30 %. Die Mischung aus Unterernährung,<br />
schlechter Bekleidung (Kinder<br />
zum Teil barfuß) <strong>und</strong> dem derzeitigen<br />
Winter mit Temperaturen bis 30 Grad<br />
minus gefährdet die Ges<strong>und</strong>heit der<br />
Kinder in hohem Maße. Aus diesem<br />
Gr<strong>und</strong>e ist die Unterstützung der o.g.<br />
Ges<strong>und</strong>heitsstationen mit Medikamenten,<br />
Verbrauchsmaterial <strong>und</strong> einzelnen<br />
medizinischen Geräten durch<br />
die JUH lebensrettend <strong>und</strong> sollte in<br />
jedem Fall weitergeführt werden.<br />
Nachlassen des<br />
Spendenaufkommens<br />
Wie bei allen Notlagen, die nicht<br />
mehr im Fokus der Medien stehen,<br />
hat das Spendenaufkommen bei den<br />
Johannitern <strong>für</strong> Afghanistan in den<br />
letzten Jahren stark nachgelassen.<br />
Hochkonjunktur haben zurzeit die Erdbebenopfer<br />
in Kaschmir. In weiser<br />
Voraussicht hat die B<strong>und</strong>estagsabgeordnete<br />
Uta Titze-Stecher (SPD) im<br />
Jahr 2000 den völlig heruntergekommenen<br />
Haushaltstitel „Humanitäre<br />
Hilfsmaßnahmen außerhalb der Entwicklungshilfe“<br />
um 33 % gesteigert.<br />
Dieses Niveau konnte bis heute gehalten<br />
werden. Frau Titze-Stecher gehört<br />
dem Deutschen B<strong>und</strong>estag leider<br />
nicht mehr an. Sie war seinerzeit „Berichterstatterin<br />
<strong>für</strong> den Haushalt des<br />
Auswärtigen Amtes” <strong>und</strong> stellvertretende<br />
Vorsitzende des Haushaltsausschusses.<br />
Bei ihrer Initiative hatte sie<br />
die vergessenen Katastrophen im<br />
Blickpunkt (vgl. NV 4/2000 „Haushälterin<br />
mit Herz <strong>und</strong> Verstand”).<br />
Ein erneuter Absturz des Titels <strong>für</strong><br />
„Humanitäre Hilfsmaßnahmen außerhalb<br />
der Entwicklungshilfe” im B<strong>und</strong>eshaushalt<br />
2006 würde zwangsläufig<br />
das Todesurteil <strong>für</strong> zahlreiche<br />
Menschen, besonders <strong>für</strong> Frauen,<br />
Kinder <strong>und</strong> ältere Personen, in den<br />
„vergessenen Katastrophengebieten”<br />
bedeuten.<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 37
Die Schieflage der Friedenskon<br />
in Afghanistan<br />
– eine Herausforderung <strong>für</strong> die „Große<br />
Klaus Liebetanz, Fachberater <strong>für</strong> Katastrophenmanagement, Verden<br />
Anlässlich einer Ergebnisprüfung von Projekten der humanitären Hilfe in<br />
Afghanistan sprach unser Autor <strong>und</strong> Fachberater <strong>für</strong> Katastrophenmanagement,<br />
Klaus Liebetanz, mit zahlreichen Akteuren der Friedenskonsolidierung<br />
in Afghanistan. Darunter befanden sich Vertreter der deutschen <strong>und</strong><br />
internationalen Streitkräfte, der Polizei, der deutschen <strong>und</strong> internationalen<br />
Entwicklungshilfe <strong>und</strong> der Friedensfachkräfte. Als Ergebnis dieser Gespräche<br />
kommt er zu dem Fazit, dass sich die deutsche Friedenskonsolidierung<br />
in Afghanistan in einer Schieflage befindet, weil die finanzielle Ausstattung<br />
der militärischen Absicherung dreimal so hoch ist wie der Beitrag der<br />
zivilen Konfliktbearbeitung (Polizeieinsatz, Entwicklungs- <strong>und</strong> Demokratisierungshilfe).<br />
<strong>Der</strong> zivile Beitrag ist jedoch entscheidend <strong>für</strong> die Friedensgestaltung<br />
<strong>und</strong> die Tragfähigkeit des Friedensprozesses in Afghanistan.<br />
Deutsches Interesse<br />
Warum soll sich die B<strong>und</strong>esrepublik<br />
Deutschland an der Entwicklung<br />
eines sich selbst tragenden Friedensprozesses<br />
in Afghanistan beteiligen?<br />
1. Weil die terroristischen Aktivitäten,<br />
die von Afghanistan ausgingen<br />
(Lager zur Ausbildung von Terroristen)<br />
<strong>und</strong> welche die USA angriffen<br />
(Zerstörung der Twin Towers), in der<br />
Konsequenz auch Deutschland als<br />
Teil der westlichen Welt bedrohten.<br />
2. Weil Deutschland an einer verstärkten<br />
Migration aus dem traditionell<br />
befre<strong>und</strong>eten <strong>und</strong> durch 25 Jahre<br />
Krieg verarmten Afghanistan nicht<br />
interessiert ist.<br />
3. Weil ein befre<strong>und</strong>etes <strong>und</strong> entwickeltes<br />
Afghanistan bessere Handelsbeziehungen<br />
zu Deutschland als<br />
exportorientierter Nation verspricht.<br />
4. Weil die B<strong>und</strong>esrepublik<br />
Deutschland in Jahren größter Not<br />
1949 in der Präambel des Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />
eine feierliche Selbstverpflichtung<br />
zur weltweiten Friedensgestaltung<br />
„vor Gott <strong>und</strong> den Menschen”<br />
abgegeben hat <strong>und</strong> diese auch <strong>und</strong><br />
gerade in Zeiten des Wohlstands einhalten<br />
sollte.<br />
Fakten der Schieflage in<br />
der Friedenskonsolidierung<br />
Nach Aussagen von Fachleuten<br />
gibt es in Afghanistan noch 150-<br />
200.000 ehemalige Kämpfer, die ihre<br />
Waffen weiterhin besitzen. Ein Teil<br />
dieser „Ehemaligen” verdient sein<br />
Geld mit Raub <strong>und</strong> Erpressung <strong>und</strong><br />
bildet die Basis des organisierten<br />
Verbrechens. Ministerialdirigent<br />
Hans-H. Dube (Regionaldirektor der<br />
GTZ) hält diese Gruppierung <strong>für</strong> wesentlich<br />
gefährlicher als die terroristischen<br />
Taliban. Dadurch kommt dem<br />
Polizeieinsatz in Afghanistan eine<br />
ebenso große Bedeutung zu wie dem<br />
militärischen Engagement. Dem werde<br />
die deutsche Unterstützungsleistung<br />
in Afghanistan nicht gerecht.<br />
Während <strong>für</strong> das deutsche Militär<br />
jährlich 319 Mio. Euro bereitgestellt<br />
werden, sind es lediglich 13 Mio.<br />
Euro, die <strong>für</strong> den deutschen Polizeieinsatz<br />
zur Verfügung stehen. Dabei<br />
kommt es nicht so sehr darauf an,<br />
die Zahl der deutschen Polizeiausbilder<br />
zu erhöhen, sondern vielmehr die<br />
Leistungen <strong>für</strong> Infrastrukturmaßnahmen<br />
der afghanischen Polizei, um<br />
erfolgreich Korruption <strong>und</strong> organisiertes<br />
Verbrechen zu bekämpfen, die<br />
das Gr<strong>und</strong>übel in allen „zerfallenden<br />
Staaten” darstellen.<br />
Außerdem wird es anfangs notwendig<br />
sein, <strong>für</strong> einen Teil der afghanischen<br />
Polizeispezialisten zusätzliche<br />
Zahlungen vorzunehmen, damit<br />
sie nicht vom organisierten Verbrechen<br />
abgeworben werden.<br />
Forderung nach einem<br />
neuen Gesamtkonzept<br />
<strong>für</strong> einen internationalen<br />
Polizeieinsatz<br />
Nach der Fußballweltmeisterschaft<br />
in Deutschland mit ihrem hohen Bedarf<br />
an Polizisten sollte B<strong>und</strong>esinnenminister<br />
Wolfgang Schäuble über ein<br />
Gesamtkonzept <strong>für</strong> den deutschen<br />
internationalen Polizeieinsatz nachdenken<br />
lassen, das auch genügend<br />
Anreize <strong>für</strong> geeignete Polizisten zum<br />
weltweiten Auslandseinsatz schafft<br />
(u.a. Verbesserung der Karrierechancen).<br />
In „zerfallenden Staaten” kommt<br />
dem effektiven, rechtsstaatlichen Polizeieinsatz<br />
generell eine ebenso große<br />
Bedeutung wie den Streitkräften<br />
zu, weil die noch bewaffneten ehemaligen<br />
Kämpfer den zu bildenden<br />
Staat systematisch durch organisierte<br />
Kriminalität unterminieren <strong>und</strong> terrorisieren.<br />
Für solche Maßnahmen<br />
sollte im Etat des B<strong>und</strong>esinnenministers<br />
ein angemessen ausgestatteter<br />
Titel eingerichtet werden. Im Gegensatz<br />
zur b<strong>und</strong>esdeutschen Regierung<br />
setzen die US-Amerikaner erheblich<br />
mehr Polizisten in der Ausbildung der<br />
afghanischen Polizisten ein. Dabei<br />
sind die Amerikaner nach Aussagen<br />
von Polizeifachleuten wenig wählerisch<br />
in der Auswahl ihrer Ausbilder,<br />
teilweise seien es Pensionäre, die in<br />
38 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
olidierung<br />
Koalition”<br />
der Funktion einer „Art Parkplatzwächter”<br />
in den USA fungierten.<br />
Deutschland kann es sich als „Leadnation<br />
<strong>für</strong> den Polizeieinsatz in Afghanistan”<br />
nicht ein zweites Mal (nach<br />
Bosnien Herzegowina) erlauben, trotz<br />
gewaltiger Militärausgaben ein Land<br />
in den Händen des organisierten Verbrechens<br />
zu hinterlassen.<br />
Deutschland muss seine<br />
wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
mit Afghanistan<br />
verstärken<br />
<strong>Der</strong> wirtschaftliche Auf- <strong>und</strong> Ausbau<br />
ist von entscheidender Bedeutung<br />
<strong>für</strong> die weitere Stabilisierung in<br />
Afghanistan.<br />
Solange u.a. Kabul nur alle zwei<br />
Tage <strong>für</strong> vier St<strong>und</strong>en Elektrizität hat,<br />
wird sich kaum Gewerbe <strong>und</strong>/oder<br />
Industrie ansiedeln. Wenn es jedoch<br />
nicht gelingt, genügend Arbeitsplätze<br />
zu schaffen, wird die politische<br />
Lage weiterhin instabil bleiben. Dies<br />
gilt auch <strong>für</strong> die Landwirtschaft: Vor<br />
dreißig Jahren war Afghanistan noch<br />
weltweit der größte Produzent von<br />
Trockenfrüchten. Heute führt Afghanistan<br />
diese Früchte aus Pakistan <strong>und</strong><br />
dem Iran ein. Die o.g. Probleme lassen<br />
sich durch einen verstärkten wirtschaftlichen<br />
Wiederaufbau des komplexen<br />
Bewässerungssystems lösen.<br />
Auch hier gibt es eine Schieflage in<br />
der deutschen Unterstützung.<br />
Deutschland verwendet nur ein Viertel<br />
der Summe, die es auf die militärische<br />
Absicherung verwendet, auf<br />
Entwicklungshilfe. Das ist <strong>für</strong> eine<br />
deutsche Schwerpunktaufgabe zu<br />
wenig. Damit werden die deutschen<br />
Soldaten in Afghanistan zu Lückenbüßern<br />
einer fehlenden Gesamtstrategie.<br />
Die deutsche Gemeinde gedenkt am Volkstrauertag auf dem einzigen christlichen<br />
Friedhof in Kabul der <strong>für</strong> den Frieden in Afghanistan gefallenen Soldaten <strong>und</strong> der<br />
getöteten zivilen Aufbauhelfer.<br />
Deutschland sendet zu<br />
wenige Friedensfachkräfte<br />
Zurzeit setzt der „Deutsche Entwicklungsdienst”<br />
(DED) lediglich vier<br />
Friedensfachkräfte (FFK) in Afghanistan<br />
ein. Das ist eindeutig zu wenig.<br />
Nach einer ersten Evaluierung von<br />
FFK im Auftrag des BMZ im Jahr<br />
2002 wurde nachgewiesen, dass Friedensfachkräfte<br />
in einer bestimmten,<br />
genügend starken Anzahl eingesetzt<br />
werden müssten, um eine flächendeckende<br />
<strong>und</strong> nachhaltige Wirkung zu<br />
erzielen, ansonsten würde die Arbeit<br />
der FFK „verpuffen”. Andererseits<br />
kann ein gesellschaftlicher Wandel<br />
nur von innen her den Friedensprozess<br />
auf Dauer erhalten. Das Militär<br />
ist <strong>für</strong> diese Aufgabe weniger geeignet.<br />
Die „große Koalition” sollte daher<br />
die vermehrte Ausbildung <strong>und</strong><br />
den Einsatz deutscher Friedensfachkräfte<br />
unterstützen <strong>und</strong> sie schwerpunktmäßig<br />
einsetzen, anstatt wie<br />
bisher weltweit im Gießkannenprinzip<br />
ohne nachhaltige Wirkung.<br />
Eigenverantwortung<br />
der Afghanen<br />
Natürlich muss von der afghanischen<br />
Regierung <strong>und</strong> Bevölkerung<br />
auch eine eigene angemessene Leistung<br />
erbracht werden. Dies geschieht<br />
nach Aussagen von Entwicklungsfachleuten<br />
in erforderlichem Maße,<br />
zumal diese Eigenleistung unabdingbarer<br />
Bestandteil einer professionellen<br />
Entwicklungshilfe ist.<br />
Extrem schwierige<br />
Aufbaubedingungen<br />
Darüber hinaus darf nicht vergessen<br />
werden, dass Afghanistan nach<br />
dreißig Jahren verheerendem Bürger-<br />
krieg <strong>und</strong> zusätzlicher ausländischer<br />
Interventionen gründlich zerstört ist.<br />
Das trifft sowohl <strong>für</strong> alle staatlichen<br />
Institutionen als auch <strong>für</strong> das einstmals<br />
gut funktionierende Bewässerungssystem<br />
zu. Aus der Vogelperspektive<br />
gleicht Afghanistan größtenteils<br />
einer „braunen Mondlandschaft”.<br />
Am Boden wächst verstreut ein distelähnliches,<br />
kleines Gewächs, das<br />
auch in extremer Dürre existieren<br />
kann. Es dient den Ziegen als Nahrung.<br />
Große Teile des Landes haben<br />
nicht mehr als 30 bis 40 cm Regenfall<br />
pro Jahr, so dass ohne Bewässerung<br />
keine Landwirtschaft möglich ist.<br />
Zudem besitzt Afghanistan keine nennenswerten<br />
Bodenschätze. Das einzige,<br />
was (mehr oder weniger heimlich)<br />
exportiert wird, ist Rohopium,<br />
womit über 50 % des Bruttonationaleinkommens<br />
erzielt werden können.<br />
<strong>Der</strong> afghanische Staat ist zurzeit dabei,<br />
ein Steuersystem zur Finanzierung der<br />
öffentlichen Aufgaben einzuführen.<br />
Ohne internationale Hilfe kommt Afghanistan<br />
nicht auf die Beine. Nach<br />
Aussagen eines leitenden Mitarbeiters<br />
der GTZ benötigt das Land weitere<br />
20 bis 25 Jahre um den Stand von<br />
1970 zu erreichen.<br />
Unverzichtbarer Einsatz der<br />
B<strong>und</strong>eswehr in Afghanistan<br />
Die B<strong>und</strong>eswehr leistet in Afghanistan<br />
als ein Teil von ISAF (International<br />
Security Assistance Force) einen<br />
unverzichtbaren Einsatz.<br />
Nach Auffassung von Ministerialdirigent<br />
Hans-H. Dube würde Afghanistan<br />
nach einem sofortigen Abzug<br />
der B<strong>und</strong>eswehr/ISAF innerhalb von<br />
sieben Tagen im Chaos versinken.Insofern<br />
ist der B<strong>und</strong>eswehreinsatz<br />
derzeit eine „Conditio sine qua non” <strong>für</strong><br />
den Friedensprozess in Afghanistan.<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 39<br />
Foto: Klaus Liebetanz
Unglückliche <strong>und</strong> missverständliche<br />
Formulierung im<br />
Koalitionsvertrag<br />
In diesem Zusammenhang muss<br />
auf die unglückliche <strong>und</strong> missverständliche<br />
Formulierung aus dem<br />
Koalitionsvertrag vom <strong>11.</strong><strong>11.</strong>2005<br />
hingewiesen werden, in dem es unter<br />
Ziffer 6713-15 heißt: „Auslandseinsätze<br />
der B<strong>und</strong>eswehr werden<br />
stets von politischen Konzepten flankiert<br />
<strong>und</strong> eng zwischen den beteiligten<br />
Ressorts der B<strong>und</strong>esregierung<br />
koordiniert.” Bei der Friedenskonsolidierung,<br />
bislang 99 % der B<strong>und</strong>eswehreinsätze<br />
im Ausland, kann das<br />
Militär nur eine flankierende Maßnahme<br />
sein <strong>und</strong> nicht umgekehrt die zivilen<br />
Aktivitäten, weil das Ziel eines<br />
sich selbst tragenden Friedensprozesses<br />
zivil ist <strong>und</strong> nicht durch militärische<br />
Mittel erreicht werden kann.<br />
Daher muss der Schwerpunkt bei der<br />
Friedenskonsolidierung auf den zivilen<br />
Aktivitäten mit dem entsprechenden<br />
personellen <strong>und</strong> finanziellen Aufwand<br />
liegen.<br />
Friedenskonsolidierung –<br />
Eine Herausforderung <strong>für</strong><br />
die „große Koalition”<br />
Es ist notwendig, dass sich die verantwortlichen<br />
Politiker der „großen<br />
Koalition” auch mit den Konsequenzen<br />
einer Friedenskonsolidierung in<br />
Afghanistan auseinander setzen <strong>und</strong><br />
dazu ein schlüssiges Gesamtkonzept<br />
vorlegen. Notfalls muss B<strong>und</strong>eskanzlerin<br />
Merkel von ihrer Richtlinienkompetenz<br />
Gebrauch machen. Schließlich<br />
handelt es sich beim deutschen<br />
Friedenseinsatz in Afghanistan nicht<br />
um beliebige Aktionen einzelner Ministerien,<br />
sondern um eine Gesamtleistung<br />
der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland.<br />
Eine weitere Schieflage bei der<br />
Friedenskonsolidierung in Afghanistan<br />
wird zwangsläufig bei den eingesetzten<br />
Soldaten zu mehr Frust <strong>und</strong><br />
Resignation führen. Das Vertrauen in<br />
die politische Führung steht auf dem<br />
Spiel. Man darf daher auf das neue<br />
Weißbuch zur Sicherheit der B<strong>und</strong>esrepublik<br />
<strong>und</strong> zur Lage <strong>und</strong> Zukunft<br />
der B<strong>und</strong>eswehr am Ende des Jahres<br />
2006 gespannt sein.<br />
Darfur –<br />
Bürgerkrieg <strong>und</strong>/<br />
Klaus Liebetanz, Fachberater <strong>für</strong><br />
Katastrophenmanagement, Verden<br />
Eine NGO zwingt<br />
den Sicherheitsrat zum<br />
Handeln im Sudan<br />
Am 20. Juli 2004 hat die Menschenrechtsorganisation<br />
Human Rights<br />
Watch an Hand von sudanesischen<br />
Regierungsdokumenten nachgewiesen,<br />
dass die Regierung in Karthum<br />
die Janjaweed-Milizen rekrutiert <strong>und</strong><br />
bewaffnet hatten. Diese „bewachten“<br />
auch die Flüchtlingslager innerhalb<br />
von West-Darfur <strong>und</strong> trieben weiter<br />
ihr Unwesen. Die sudanesische Regierung<br />
hatte bislang vehement bestritten,<br />
dass sie überhaupt etwas mit<br />
den paramilitärischen Janjaweed zu<br />
tun hätte. Als Folge der beweiskräftigen<br />
Aussagen von HRW hat sowohl<br />
der amerikanische Kongress als auch<br />
das Repräsentantenhaus einen Stopp<br />
des Völkermords in West-Dafur verlangt.<br />
<strong>Der</strong> Sicherheitsrat (SR) konnte<br />
endlich am 29. Juli 2004 eine Resolution<br />
gegen den Sudan verabschieden,<br />
in der dieser aufgefordert wurde, die<br />
genozidären Umtriebe innerhalb von<br />
30 Tagen zu beenden. <strong>Der</strong> amerikanische<br />
Resolutionsantrag enthielt eine<br />
Sanktionsandrohung bei Nichtbefolgung.<br />
Dem haben sieben Mitglieder<br />
des SR nicht zugestimmt. Im Sicherheitsrat<br />
gibt es unterschiedliche Interessen.<br />
Die Russische Föderation<br />
sieht seine Waffenlieferungen an den<br />
Sudan gefährdet, China treibt intensiven<br />
Handel mit dem Sudan <strong>und</strong> westliche<br />
Staaten (vor allem Frankreich)<br />
sehen ihre Ölinteressen im Sudan in<br />
Gefahr. Hierzu passt die Auffassung<br />
des deutschen Generals Manfred Eisele,<br />
dem ehemaligen Assistenten<br />
von Kofi Annan im Peacekeeping<br />
Department der Vereinten Nationen:<br />
„Die Vereinten Nationen <strong>und</strong> speziell<br />
der Sicherheitsrat sind keine Gemeinschaft<br />
der ,gutwilligen Menschen’,<br />
sondern eine Zweckgemeinschaft von<br />
Staaten zur Durchsetzung ihrer jeweiligen<br />
nationalen Interessen.”<br />
Untersuchung<br />
der USA vor Ort<br />
Aufgr<strong>und</strong> der beunruhigenden<br />
Meldung von „Human Rights Watch”<br />
setzte die amerikanische Regierung<br />
im Juli 2004 ein Expertenteam ein, das<br />
nach den Kriterien der „UN-Konvention<br />
über die Verhütung <strong>und</strong> Bestrafung<br />
des Völkermordes” (Art. 2) Untersuchungen<br />
vor Ort anstellen sollten.<br />
Von dieser Untersuchungskommission<br />
wurden im Ost-Tschad in 19 Flüchtlingslagern<br />
insgesamt 1.136 zufällig ausgewählte<br />
Personen befragt.<br />
Wesentliche Ergebnisse<br />
der Befragung<br />
Ca. 50 % der Befragten gaben an,<br />
dass reguläre sudanesische Streitkräfte<br />
zusammen mit den arabischen<br />
Reitermilizen Janjaweed ihre Dörfer<br />
<strong>und</strong> Städte angegriffen hätten. Diese<br />
Angriffe seien in der Regel mit einem<br />
Luftbombardement eröffnet worden.<br />
Weitere 25% sagten aus, dass nur<br />
sudanesische Streitkräfte angegriffen<br />
hätten, während 14% berichteten, es<br />
wären ausschließlich Janjaweed-Milizen<br />
gewesen. Alle Angriffe hätten<br />
zur Folge gehabt, dass angegriffene<br />
Dörfer <strong>und</strong> Städte mehr oder weniger<br />
komplett zerstört <strong>und</strong> das persönliche<br />
Eigentum der Bewohner <strong>und</strong><br />
deren Vieh von den Angreifern geraubt<br />
worden wären. 61% der Befragten<br />
berichteten, dass Mitglieder ihrer<br />
Familien ermordet <strong>und</strong> zahlreiche<br />
Vergewaltigungen vorgenommen<br />
worden wären. Die Angreifer hätten<br />
rassistische Parolen gerufen.<br />
Artikel 2 der<br />
UN-Genozidkonvention<br />
„In dieser Konvention bedeutet Völkermord<br />
eine der folgenden Handlungen,<br />
die in der Absicht begangen wird,<br />
eine nationale, ethnische, rassistische<br />
oder religiöse Gruppe als solche ganz<br />
oder teilweise zu zerstören:<br />
(a) Tötung von Mitgliedern der<br />
Gruppe;<br />
40 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
Notfallvorsorge 4/2005
oder „Schleichender Genozid”?<br />
(b) Verursachung von schweren<br />
körperlichen oder seelischen Schäden<br />
an Mitgliedern der Gruppe;<br />
(c) vorsätzliche Auferlegung von<br />
Lebensbedingungen <strong>für</strong> die Gruppe,<br />
die geeignet sind, ihre körperliche<br />
Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;<br />
(d) Verhängung von Maßnahmen,<br />
die auf die Geburtenverhinderung<br />
innerhalb der Gruppe gerichtet sind;<br />
(e) gewaltsame Überführung von<br />
Kindern der Gruppe in eine andere<br />
Gruppe.“<br />
Powell erklärt den<br />
Völkermord in Darfur<br />
US-Außenminister Powell erklärte<br />
am 9. <strong>September</strong> 2004 vor dem Auswärtigen<br />
Ausschuss des US-Senats<br />
den Genozid in Darfur <strong>und</strong> machte<br />
die sudanesische Regierung in Verbindung<br />
mit den Janjaweed-Milizen<br />
<strong>für</strong> den Völkermord an der nichtarabischen<br />
Bevölkerung in Darfur verantwortlich.<br />
Er forderte die Vereinten<br />
Nationen auf, den Völkermord in<br />
Darfur vollständig aufzuklären <strong>und</strong> die<br />
verantwortlichen Täter zu bestrafen.<br />
Die Vereinten Nationen <strong>und</strong> die Afrikanische<br />
Union lehnen es ab, die<br />
Vorgänge in Darfur offiziell als Genozid<br />
anzuerkennen.<br />
Waffenstillstandsmission<br />
der Afrikanischen Union<br />
Mit der Resolution 1564 hat<br />
schließlich der Sicherheitsrat den<br />
Sudan im <strong>September</strong> 2004 aufgefordert,<br />
eine Truppe der Afrikanischen<br />
Union (AU) mit einer maximalen Stärke<br />
von 7.000 Soldaten zur Überwachung<br />
des Waffenstillstandes zwischen<br />
den beiden Rebellenbewegungen<br />
(Sudan Liberation Army (SLA)<br />
<strong>und</strong> Justice and Equality Movement<br />
(JEM) <strong>und</strong> den Janjaweed-Milizen<br />
einschließlich der regulären sudanesichen<br />
Streitkräften zuzulassen.<br />
Diese Truppe wurde Ende 2004 <strong>und</strong><br />
Anfang 2005 auf einem Gebiet von<br />
der Größe Frankreichs disloziert <strong>und</strong><br />
mit einem schwachen Mandat nach<br />
Chapter VI ausgestattet. Ein Scheitern<br />
war vorprogrammiert, weil die<br />
Lehren des Brahimi-Reports aus<br />
dem Jahr 2000 nicht berücksichtigt<br />
wurden.<br />
Unübersichtliche<br />
Gemengelage in West-Darfur<br />
Als Beispiel <strong>für</strong> die unübersichtliche<br />
Gemengelage in West-Darfur soll<br />
im Folgenden aus der Erklärung des<br />
Präsidenten des SR vom 13. Oktober<br />
2005 ausschnittsweise zitiert werden<br />
(5277. Sitzung des SR):<br />
„<strong>Der</strong> Rat verurteilt nachdrücklich<br />
den Berichten zufolge von der Befreiungsarmee/-bewegung<br />
Sudans verübten<br />
Angriff vom 8. Oktober auf Personal<br />
der Mission der Afrikanischen<br />
Union im Sudan (AMS) in Darfur, bei<br />
dem vier nigerianische Friedenssicherungskräfte<br />
<strong>und</strong> zwei zivile Auftragnehmer<br />
getötet <strong>und</strong> drei weitere<br />
Personen in der Nähe von Menawasha<br />
verw<strong>und</strong>et wurden, sowie den<br />
Berichten zufolge von der Bewegung<br />
<strong>für</strong> Gerechtigkeit <strong>und</strong> Gleichheit am<br />
9. Oktober in Tine (Nord-Darfur) verübten<br />
Angriff, bei dem etwa 35 Mitglieder<br />
der AMIS aus dem Hinterhalt<br />
überfallen <strong>und</strong> gefangen genommen<br />
wurden. <strong>Der</strong> Rat spricht den Angehörigen<br />
der Getöteten seine tiefe<br />
Anteilnahme aus.<br />
<strong>Der</strong> Sicherheitsrat verurteilt außerdem<br />
den am 25. <strong>September</strong> von aus<br />
Sudan kommenden bewaffneten<br />
Gruppen verübten Angriff in Modaina<br />
(Tschad), bei dem 75 Menschen,<br />
zumeist Zivilpersonen, getötet wurden.<br />
Gemeinsam mit der Afrikanischen<br />
Union bek<strong>und</strong>et der Rat besondere<br />
Abscheu über den von Rebellen<br />
in Darfur verübten Angriff vom<br />
19. <strong>September</strong> auf die Stadt Sheiara,<br />
den am 28. <strong>September</strong> von Janjaweed-Milizen<br />
verübten Angriff auf<br />
das Vertriebenenlager von Aro Sharow,<br />
bei dem 29 Menschen getötet<br />
<strong>und</strong> viele verw<strong>und</strong>et wurden, <strong>und</strong><br />
den am 29. <strong>September</strong> von sudane-<br />
sischen Regierungstruppen verübten<br />
Angriff auf das Dorf Tawila.<br />
<strong>Der</strong> Sicherheitsrat bek<strong>und</strong>et außerdem<br />
seine Besorgnis über die in dem<br />
Bericht des Generalsekretärs vom 19.<br />
<strong>September</strong> (S/2005/592) enthaltene<br />
Feststellung, dass die Regierung (Sudans)<br />
keine sichtbaren Anstrengungen<br />
unternommen hat, um die Milizen<br />
zu entwaffnen oder sie im Einklang<br />
mit früheren Vereinbarungen <strong>und</strong><br />
den Resolutionen des Sicherheitsrates<br />
zur Rechenschaft zu ziehen.”<br />
UN-Gesandter Jan Pronk<br />
erklärt das Scheitern<br />
der AU-Mission<br />
Mitte Januar 2006 erklärte der UN-<br />
Gesandte Jan Pronk die Bemühungen<br />
um eine Entschärfung der Situation<br />
in West-Dafur <strong>für</strong> gescheitert. Vor dem<br />
Sicherheitsrat in New York forderte<br />
er ein robusteres Mandat <strong>und</strong> bis zu<br />
20.000 Soldaten, um die Milizen zu<br />
entwaffnen, die Ermordungen <strong>und</strong><br />
Vergewaltigungen dort zu stoppen<br />
<strong>und</strong> den zwei Millionen Flüchtlingen<br />
die Rückkehr zu ermöglichen. Die<br />
marodierenden arabischen Reitermilizen<br />
würden ein Dorf nach dem anderen<br />
auslöschen, ergänzte Pronk.<br />
„Mindestens einmal im Monat greifen<br />
Gruppen von 500 bis 1000 Milizionären<br />
auf Kamelen <strong>und</strong> Pferden Dörfer<br />
an, töten dutzende Menschen <strong>und</strong> terrorisieren<br />
die übrigen, die fliehen.”<br />
Ergebnisse der<br />
Genozidforschung<br />
Nach Auffassung des „Instituts <strong>für</strong><br />
Diaspora <strong>und</strong> Genozidforschung” an<br />
der Ruhr-Universität Bochum seien<br />
die seit drei Jahren anhaltenden massiven<br />
Gewaltmaßnahmen gegen die<br />
afrikanische Zivilbevölkerung in Darfur<br />
nicht im Kontext des Bürgerkriegs<br />
zu lesen bzw. ausschließlich als Reaktionen<br />
der sudanesischen Zentralregierung<br />
auf die Rebellion der „Sudan<br />
Liberation Army” <strong>und</strong> des „Justice<br />
and Equality Movement” in der<br />
Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 41
Region zu erklären. Vielmehr seien<br />
die Vertreibungen <strong>und</strong> Massaker, an<br />
denen sich neben eigens gegründeten<br />
Milizen auch sudanesische Regierungstruppen<br />
beteiligten, eingeb<strong>und</strong>en<br />
in eine von der Zentralregierung<br />
systematisch verfolgte Bevölkerungs<strong>und</strong><br />
Identitätspolitik, die sich seit mehr<br />
als einer Dekade nachzeichnen lässt:<br />
Maßnahmen der Zwangsislamisierung<br />
seit den frühen 1990er Jahren<br />
<strong>und</strong> die aktuelle gewaltsame Arabisierung<br />
der Region Darfur, die mit<br />
der Vertreibung <strong>und</strong> Vernichtung der<br />
afrikanischen Bevölkerungsgruppen<br />
in der Region ihren Abschluss finden<br />
soll, zielen auf die Verwirklichung einer<br />
islamisch-arabischen Identität von<br />
Staatselite, Administration <strong>und</strong> Bevölkerung.<br />
Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> ist<br />
die Gewaltpolitik in Darfur nicht als<br />
Bürgerkrieg oder als ethnischer Konflikt<br />
zu bezeichnen, sondern zweifellos<br />
als Genozid zu charakterisieren.<br />
Genozid ist ein<br />
Ergebnis der Moderne<br />
Nach Auffassung der Bochumer<br />
Wissenschaftler ist Genozid kein atavistischer,<br />
barbarischer Akt, sondern<br />
durchaus etwas Modernes. Beim Genozid<br />
geht es um nationale Homogenisierung<br />
<strong>und</strong> um einen Vergemeinschaftungsentwurf<br />
mit nationaler<br />
Selbstbestimmung. Ein neuer Staat<br />
soll entstehen. Minderheiten werden<br />
als Störenfriede betrachtet <strong>und</strong> systematisch<br />
beseitigt. Angesichts der<br />
vielen „failing states” nach 1990 <strong>und</strong><br />
dem daraus resultierenden Stabilisierungsversuchen<br />
erhält die Genozidgefährdung<br />
eine zunehmende Aktualität.<br />
Dabei genügt es nicht, einzelne<br />
Massaker zu dokumentieren, sondern<br />
sie müssen in einen Gesamtzusammenhang<br />
gestellt werden. Nur so<br />
können genozidäre Vorgänge erkannt<br />
werden.<br />
Deutschland muss mehr<br />
Verantwortung übernehmen<br />
Ausgehend von der Präambel des<br />
Gr<strong>und</strong>gesetzes, in der sich die B<strong>und</strong>esrepublik<br />
Deutschland feierlich<br />
verpflichtet, dem Frieden in der Welt<br />
zu dienen, muss der langjährige<br />
Trend, die Ausgaben <strong>für</strong> militärische<br />
Sicherheit <strong>und</strong> <strong>für</strong> Entwicklungshilfe<br />
im Verhältnis zum Gesamthaushalt<br />
ständig zu senken, gestoppt <strong>und</strong><br />
umgekehrt werden. Wenn es der<br />
„Großen Koalition” in den nächsten<br />
neun Jahren nicht gelingt, die Ausgaben<br />
<strong>für</strong> Entwicklungshilfe um jährlich<br />
mindestens 3 % <strong>und</strong> die Ausgaben<br />
<strong>für</strong> militärische Sicherheit um mindestens<br />
jährlich 2 % zu steigern, kann<br />
das o.a. feierliche Versprechen – im<br />
Bewusstsein seiner Verantwortung<br />
vor Gott <strong>und</strong> den Menschen – nicht<br />
eingehalten werden. Darüber hinaus<br />
würde Deutschland – wie es jetzt<br />
schon beginnt – außenpolitisch marginalisiert<br />
<strong>und</strong> langsam, aber sicher<br />
als aktiver Mitgestalter des Weltfriedens<br />
ausscheiden. Die regelmäßige<br />
jährliche Steigerung dieser<br />
beiden o.a. Budgets ist der Lackmustest<br />
<strong>für</strong> die Ernsthaftigkeit der deutschen<br />
Friedensbemühungen <strong>und</strong> wesentlich<br />
wichtiger als ein ständiger<br />
Sitz im Sicherheitsrat. Dabei wäre es<br />
sicher notwendig, dass dem Auswär-<br />
Ulrich Keller, DGVN<br />
Berlin, 14. Februar 2006. Die B<strong>und</strong>esregierung<br />
ist bereit, eine erweiterte<br />
Mission im Sudan auf der Basis<br />
der Vereinten Nationen zu unterstützen.<br />
Dies versprach Gernot<br />
Erler, Staatsminister im Auswärtigen<br />
Amt, auf einer Podiumsveranstaltung<br />
gestern Abend, die die Deutsche<br />
Gesellschaft <strong>für</strong> die Vereinten<br />
Nationen (DGVN) gemeinsam mit<br />
der Gemeinsamen Konferenz Kirche<br />
<strong>und</strong> Entwicklung (GKKE) durchgeführt<br />
hat.<br />
Die Lage in der sudanesischen<br />
Provinz Darfur ist dramatisch. In<br />
dem Bürgerkrieg sind Tausende<br />
Menschen getötet, vergewaltigt <strong>und</strong><br />
vertrieben worden, zwei Millionen<br />
sind auf der Flucht. Trotz des Einsatzes<br />
einer Friedenstruppe der Afrikanischen<br />
Union ist keine durchgreifende<br />
Verbesserung eingetreten.<br />
Erler versprach, sich intensiv mit der<br />
Krise in dem Land zu beschäftigen.<br />
Die prinzipiell erfolgreiche, aber zahlenmäßig<br />
<strong>und</strong> logistisch zu schwache<br />
Mission der Afrikanischen Union<br />
im Sudan müsse jetzt so lange<br />
nachhaltig unterstützt werden, bis<br />
die UN mit einer zahlenmäßig wesentlich<br />
stärkeren Truppe in sechs<br />
tigen Amt ein Haushaltstitel in Milliardenhöhe<br />
zur Verfügung gestellt wird,<br />
um internationale Friedenseinsätze im<br />
Rahmen der Vereinten Nationen<br />
– wie in Dafur oder im Kongo – tatkräftig<br />
zu unterstützen <strong>und</strong> entsprechenden<br />
Einfluss zu nehmen. Zurzeit<br />
ist das Auswärtige Amt eher ein „zahnloser<br />
Tiger” ohne Weisungsbefugnis<br />
gegenüber dem Verteidigungs- <strong>und</strong><br />
Entwicklungsministerium <strong>und</strong> hat<br />
selbst keinen nennenswerten entsprechenden<br />
Haushaltstitel. In diesem<br />
Zusammenhang muss sich der Deutsche<br />
B<strong>und</strong>estag als Budgetverteiler<br />
fragen, was aus seiner jeweils am 27.<br />
Januar feierlich verkündeten Erklärung<br />
„Nie wieder Völkermord!” geworden<br />
ist (Vgl. dazu „Deutscher B<strong>und</strong>estag<br />
im Glashaus – Kein Gr<strong>und</strong> zu<br />
moralischer Überheblichkeit” im Auftrag<br />
247, dem Organ der „Gemeinschaft<br />
Katholischer Soldaten”).<br />
Staatsminister Erler: Falls notwendig,<br />
EU-Sanktionen gegen Täter im Sudan<br />
bis neun Monaten die Verantwortung<br />
übernehmen könne. Dies müsse<br />
Anfang März in Brüssel im Rahmen<br />
der geplanten internationalen<br />
Sudan-Hilfskonferenz sichergestellt<br />
werden. Für den Fall einer weiteren<br />
Blockade des UN-Sanktionskomitees<br />
durch interessierte Staaten<br />
stellte Erler in Aussicht, sich <strong>für</strong> gezielte<br />
Finanz- <strong>und</strong> Reisesanktionen<br />
der EU gegenüber den Tätern im<br />
Sudan einzusetzen.<br />
Ob B<strong>und</strong>esaußenminister Steinmeier<br />
bei seiner bevorstehenden<br />
China-Reise mehr Druck der chinesischen<br />
Führung auf den Sudan zur<br />
Beendigung der Gewalt einfordern<br />
wird, ließ Erler offen.<br />
Die Verhandlungsposition der EU<br />
wurde durch die Ernennung des<br />
ehemaligen finnischen Umwelt- <strong>und</strong><br />
Entwicklungsminister Pekka Haavisto<br />
zum Sonderbeauftragen <strong>für</strong> Sudan<br />
nach übereinstimmender Ansicht<br />
der Anwesenden gestärkt. <strong>Der</strong><br />
Koordinator der europäischen Außenpolitik<br />
zu dem afrikanischen<br />
Land hatte allerdings Mühe, die Positionen<br />
Frankreichs <strong>und</strong> Sloweniens<br />
als Ausdruck einer homogenen<br />
Außenpolitik der Gemeinschaft erscheinen<br />
zu lassen.<br />
42 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />
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