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Der 11. September 2001 - Bundesamt für Bevölkerungsschutz und ...

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NV 4/2005<br />

Die Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Bevölkerungsschutz</strong><br />

<strong>und</strong> Katastrophenhilfe<br />

NOTFALLVORSORGE<br />

Aus dem Inhalt<br />

Biologische Gefahren<br />

<strong>für</strong> die Tierwelt<br />

<strong>Der</strong> <strong>11.</strong> <strong>September</strong> <strong>2001</strong>:<br />

Gibt es eine<br />

alteuropäische Sicht?<br />

Zivilschutzforschungsprojekt<br />

Gefahrenreduzierung<br />

Sicherheitsmanagement<br />

bei Hilfswerken<br />

Deutschland muss<br />

mehr Verantwortung<br />

übernehmen <strong>für</strong> den<br />

Frieden in der Welt


Bitte aus Heft 3/2005 übernehmen!<br />

Anzeigen:<br />

aqua alta <strong>und</strong><br />

Steuerratgeber öffentlicher Dienst 2006


4<br />

5<br />

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Inhalt<br />

Benötigt der Katastrophenschutz wieder Veterinärzüge?<br />

<strong>Der</strong> <strong>11.</strong> <strong>September</strong> <strong>2001</strong> – Gibt es eine alteuropäische Sicht?<br />

Veränderte Rahmenbedingungen der Internationalen<br />

Zusammenarbeit – Einführung in die Sicherheitssituation<br />

heute<br />

Zivilschutzforschungsprojekt Gefahrenreduzierung<br />

Einige Gedanken zum Sicherheitsmanagement<br />

bei Hilfswerken<br />

Notfallvorsorge <strong>und</strong> Katastrophenschutz<br />

im Spiegel der Gesetzgebung<br />

Betrachtungen zum Katastrophenschutz<br />

Jenseits des Alltäglichen – Organisationstheoretische<br />

Untersuchung zur Katastrophenabwehr<br />

Humanitäre Hilfe in Afghanistan – Lebensrettende Hilfe<br />

deutscher Organisationen<br />

Die Schieflage der Friedenskonsolidierung in Afghanistan<br />

– eine Herausforderung <strong>für</strong> die „Große Koalition“<br />

Darfur – Bürgerkrieg <strong>und</strong>/oder „Schleichender Genozid?“<br />

Staatsminister Erler: Falls notwendig, EU-Sanktionen<br />

gegen Täter im Sudan<br />

www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Impressum<br />

Die Autoren dieser Ausgabe<br />

• Peter Buchner, Fregattenkapitän, Dozent am<br />

Zentrum Innere Führung<br />

Dr. Wolf R. Dombrowsky, Katastrophenforschungsstelle<br />

Universität Kiel<br />

Dr. Dirk Freudenberg M.A., Leiter des Akademiestabes<br />

<strong>B<strong>und</strong>esamt</strong> <strong>für</strong> <strong>Bevölkerungsschutz</strong> <strong>und</strong><br />

Katastrophenhilfe Akademie <strong>für</strong> Krisenmanagement,<br />

Notfallplanung <strong>und</strong> Zivilschutz<br />

Ulrich Keller, Deutsche Gesellschaft <strong>für</strong> die<br />

Vereinten Nationen e.V.<br />

Klaus Liebetanz, Fachberater <strong>für</strong> Katastrophenmanagement,<br />

Verden<br />

Philipp Reber M.A., Ethnologe <strong>und</strong> Historiker,<br />

Sicherheitsberater bei der Caritas Schweiz<br />

Martin Schmidt, Kreisbereitschaftsleiter des<br />

Bayerischen Roten Kreuz, Kreisverband Kronach,<br />

Örtlicher Einsatzleiter des Katastrophenschutzes<br />

des Landkreises Kronach<br />

Manfred Schubert, Angestellter im höheren<br />

feuerwehrtechnischen Dienst im Leitungsstab der<br />

Berufsfeuerwehr Hamburg<br />

Ralph Stühling, Kreisbrandinspektor am Brand<strong>und</strong><br />

Katastrophenschutzamt Landkreis Darmstadt<br />

Dieburg <strong>und</strong> Vorsitzender FA-Katastrophenschutz<br />

Landesfeuerwehrverband Hessen<br />

Dr. Rudolf Wandel, Ministerialrat a. D., Rechtsanwalt,<br />

ausgewiesener Experte auf dem Gebiet<br />

Zivilschutz <strong>und</strong> Notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge<br />

Die Zeitschrift <strong>für</strong> <strong>Bevölkerungsschutz</strong><br />

<strong>und</strong> Katastrophenhilfe<br />

ISSN 0948-7913, 36. Jahrgang<br />

Begründet von Rolf Osang<br />

Die in den Beiträgen dieser Zeitschrift vertretenen<br />

Auffassungen der Autoren stellen deren Meinungsäußerung<br />

dar. Sie müssen nicht identisch sein mit<br />

denen ihrer Institution, der Redaktion oder des Verlages.<br />

Copyright <strong>und</strong> Nachdruck<br />

© Walhalla u. Praetoria Verlag GmbH & Co. KG,<br />

Regensburg/Berlin; Alle Rechte, insbesondere das<br />

Recht zur Vervielfältigung <strong>und</strong> Verbreitung sowie der<br />

Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf<br />

in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Datenübertragung<br />

oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche<br />

Genehmigung des Verlages produziert oder<br />

unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert,<br />

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.<br />

Produktion: Walhalla Fachverlag, 93042 Regensburg<br />

Satz: setz it. Richert GmbH, Sankt Augustin<br />

Druck: Grafischer Betrieb Don Bosco, Ensdorf<br />

Printed in Germany<br />

Verlag/Redaktion/K<strong>und</strong>enbetreuung<br />

Walhalla Fachverlag, Haus an der Eisernen Brücke,<br />

93042 Regensburg, Tel.: 0941 / 56 84-0, Fax: 56 84 111<br />

E-Mail: steckenleiter.eva-maria@walhalla.de<br />

Internet: www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Manuskripte, ausschließlich Erstveröffentlichungen,<br />

nimmt die Redaktion gerne entgegen.<br />

Erscheinungsweise <strong>und</strong> Bezugsbedingungen<br />

Die „Notfallvorsorge“ erscheint 4-mal jährlich. Bestellungen<br />

direkt beim Verlag. Jahresbezugspreis<br />

30 Euro. Die Aufnahme des Abonnements ist jederzeit<br />

möglich <strong>und</strong> erfolgt zum anteiligen Preis <strong>für</strong> ein<br />

Jahresabonnement. Einzelhefte sind zum Preis von<br />

8 Euro (zzgl. Versandkosten) lieferbar. Kündigungen<br />

<strong>für</strong> das folgende Kalenderhalbjahr müssen mindestens<br />

drei Monate vor Jahresende schriftlich im Verlag<br />

vorliegen. Bei Nichterscheinen der Zeitschrift im<br />

Falle höherer Gewalt erlischt jeder Anspruch auf Nachlieferung<br />

<strong>und</strong> Rückerstattung einer bereits geleisteten<br />

Zahlung. Irrtum <strong>und</strong> Preisänderungen vorbehalten.<br />

Titelfoto: „Italienische Hühnchen sind sicher.“<br />

Werbung am Flughafen Fiumicino, Rom. REUTERS,<br />

Max Rossi<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 3


Benötigt der Katastrophenschutz<br />

wieder Veterinärzüge?<br />

Ralph Stühling, Kreisbrandinspektor am Brand- <strong>und</strong> Katastrophenschutzamt<br />

Landkreis Darmstadt Dieburg <strong>und</strong> Vorsitzender FA-Katastrophenschutz<br />

Landesfeuerwehrverband Hessen<br />

Die Aufgabenstellung des Katastrophenschutzes hat sich in den letzten<br />

Jahren erheblich verändert. <strong>Der</strong> politische Wandel Anfang der 90-er Jahre<br />

in Europa bedeutete einen gravierenden Abbau des erweiterten Katastrophenschutzes<br />

(Zivilschutz) <strong>für</strong> den Verteidigungsfall. Die neue Zielrichtung<br />

ergab sich aus den zahlreichen Naturkatastrophen <strong>und</strong> den bekannten<br />

industriellen Gefahrenschwerpunkten. Verb<strong>und</strong>en mit den Terroranschlägen<br />

wuchs auch die Bedeutung der Gefahrenabwehr <strong>für</strong> biologische Gefahren.<br />

Diese erstrecken sich aber nicht nur auf den Menschen, sondern<br />

auch auf die Tierwelt. Da die Aufgabe in diesem Bereich erheblich gestiegen<br />

ist, stellt sich die Frage, ob der Katastrophenschutz wieder Veterinärzüge<br />

(VZ) benötigt.<br />

Mit dem Aufbau des Katastrophenschutzes<br />

im Rahmen des Zivilschutzes<br />

wurde auch Ende der 50-er Jahre<br />

der Veterinärdienst eingeführt. Dieser<br />

Fachdienst stellte im damaligen<br />

Luftschutzhilfsdienst (LSHD) eine Besonderheit<br />

dar. Die Einheiten Veterinärzug<br />

waren nicht flächendeckend<br />

vorhanden <strong>und</strong> bauten auf so genannte<br />

Regieeinheiten auf. Dies bedeutete,<br />

sie hatten keine Bindung zu<br />

Feuerwehr, Technischem Hilfswerk<br />

oder Hilfsorganisationen. Wegen der<br />

Struktur der Viehhaltung auf dem<br />

Lande waren die Veterinärzüge in erster<br />

Linie als bewegliche, überörtliche<br />

Einheiten geplant. Die Aufgabenstellung<br />

der Veterinärzüge ergab sich aus<br />

den Regeln <strong>und</strong> Vorschriften des <strong>B<strong>und</strong>esamt</strong>es<br />

<strong>für</strong> Zivilschutz (BZS) <strong>und</strong><br />

war auf die Schadenswirkung aller<br />

Luftangriffmittel ausgerichtet. <strong>Der</strong><br />

überörtliche LS-Veterinärzug gliederte<br />

sich in eine Führungsgruppe, drei<br />

Tabelle<br />

B<strong>und</strong>esland VZ-Anzahl<br />

Niedersachsen 14<br />

Nordrhein-Westfalen 20<br />

Hessen 2<br />

Rheinland-Pfalz 2<br />

Saarland 2<br />

Baden-Württemberg 13<br />

Bayern 4<br />

Gesamt 57<br />

Fachgruppen <strong>und</strong> einer Stärke von<br />

1/3/22 = 26 Personen. Als Führungskräfte<br />

waren insgesamt 4 Tierärzte<br />

vorgesehen <strong>und</strong> Helfer nur mit Berufsausbildung<br />

aus dem Sachgebiet.<br />

<strong>Der</strong> erweiterte Katastrophenschutz<br />

(ZS) ab dem Jahr 1968 hat den Veterinärdienst<br />

vom LSHD übernommen.<br />

Die Einheit erhielt eine neue Zuggliederung<br />

mit der STAN Nr. 071 <strong>und</strong><br />

der Stärke 1/4/11 = 16 Personen. Für<br />

die Ausbildung der Einheit wurde<br />

1971 die Dienstvorschrift KatS-DV<br />

711 eingeführt. Nach der letzten Planung<br />

des B<strong>und</strong>es sollten insgesamt<br />

76 Veterinärzüge aufgestellt werden.<br />

Die Erhebung jedoch ergab einen Ist-<br />

Bestand von 57 Veterinärzügen (siehe<br />

Tabelle). Die Veterinärzüge waren<br />

ausschließlich Regieeinheiten <strong>und</strong><br />

nur geringfügig ausgestattet. Alle<br />

Fahrzeuge der Einheit waren zu beordern.<br />

Diese Entwicklung bedeutete<br />

somit, dass sich dieser Fachdienst<br />

von der Katastrophenschutzkarte verabschiedete.<br />

<strong>Der</strong> Aufbau eines neuen Fachdienstes<br />

Veterinärwesen ist aus heutiger<br />

Sicht nicht mehr sinnvoll <strong>und</strong><br />

möglich. Eine enge Verbindung <strong>und</strong><br />

Verzahnung mit landwirtschaftlichem<br />

Personal ist nicht möglich, da dieser<br />

Bereich einem fortlaufenden, gravierenden<br />

Veränderungsprozess unterliegt.<br />

<strong>Der</strong> Aufgabenbereich hat sich<br />

verändert, da eine Tierseuche heute<br />

mit einem Störfall in einer Industrieanlage<br />

vergleichbar ist. Hier müssen<br />

betriebliche Einrichtungen greifen,<br />

um den Schaden zu begrenzen <strong>und</strong><br />

einen schnellstmöglichen Weiterbetrieb<br />

zu gewährleisten. Letztendlich<br />

ist doch nicht auszuschließen, dass<br />

die Feuerwehr im Rahmen „Amtshilfe”<br />

die Veterinärverwaltung bei deren<br />

Maßnahmen zur Gefahrenabwehr<br />

unterstützt.<br />

Hierbei ist aber insbesondere die<br />

zuvor genannte personelle Belastung<br />

zu beachten. Weiterhin müssen die<br />

Behörden auf Fachbetrieb zurückgreifen<br />

<strong>und</strong> <strong>für</strong> einen ausreichenden<br />

Selbstschutz sorgen. Eine Erweiterung<br />

des Katastrophenschutzes um<br />

einen Veterinärzug ist deshalb nicht<br />

erforderlich.<br />

Die heutigen biologischen Gefahren<br />

von Milzbrand (Antrax), Maul- <strong>und</strong><br />

Klauenseuche (MKS), Eichenprozessionsspinner<br />

(EPS) oder Vogelgrippe<br />

stellen eine besondere Herausforderung<br />

<strong>für</strong> die Fachbehörden dar. Geeignete<br />

Einheiten <strong>und</strong> Einrichtungen<br />

<strong>für</strong> größere Maßnahmen bei einem<br />

Schadensereignis sind nicht vorhanden.<br />

Oft fehlen schon die geringsten<br />

technischen Voraussetzungen <strong>für</strong><br />

Erstmaßnahmen <strong>und</strong> Untersuchungen.<br />

Hilfe wird von den (G) ABC-Einheiten<br />

der Feuerwehr erwartet. Diese<br />

Einheiten waren <strong>und</strong> sind jedoch im<br />

Wesentlichen auf die Gefahrenabwehr<br />

im A- <strong>und</strong> C-Bereich ausgestattet<br />

<strong>und</strong> ausgebildet. Die Aufgabenstellung<br />

von B-Gefahren im landwirtschaftlichen<br />

Bereich kann weder<br />

personell, noch technisch bewältigt<br />

werden. In den letzten Jahren wurden<br />

deshalb zusätzliche Ausstattungen<br />

(provisorische Dekon-Schleusen)<br />

<strong>für</strong> Fahrzeuge beschafft. Die größte<br />

Schwierigkeit stellt aber eine ausreichende<br />

Personalstärke dar, die bei<br />

solchen Einsätzen im größerem Umfang<br />

<strong>und</strong> längerem Zeitraum erforderlich<br />

ist. Einzelne Schadensereignisse<br />

können in überregionaler Zusammenarbeit<br />

bewältigt werden. Ein<br />

Ausbruch einer b<strong>und</strong>esweiten Tierseuche<br />

kann aber weder personell, noch<br />

technisch mit den vorhandenen (G)<br />

ABC-Einheiten bewältigt werden.<br />

4 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


Foto: creativcollection<br />

<strong>Der</strong> <strong>11.</strong> <strong>September</strong> <strong>2001</strong> –<br />

Gibt es eine<br />

alteuropäische Sicht?<br />

Wolf R. Dombrowsky, Katastrophenforschungsstelle Universität Kiel<br />

„Das ist altes Europa. Wenn Sie sich heute Nato-Europa ansehen, dann<br />

verlagert sich der Schwerpunkt nach Osten“ (Rumsfeld 2003), – hin zu den<br />

neuen EU-Mitgliedern <strong>und</strong> hin zur Türkei, deren EU-Mitgliedschaft die USA<br />

forcieren, zugleich auch hin zu Mitgliedern, die der „Koalition der Willigen“<br />

angehören, also den Be<strong>für</strong>wortern eines Krieges, den die USA nach dem<br />

<strong>11.</strong> <strong>September</strong> <strong>2001</strong> gegen den internationalen Terrorismus <strong>und</strong> <strong>für</strong> eine<br />

neue Weltordnung organisieren.<br />

Die Unterscheidung in „alte“ <strong>und</strong><br />

„neue“ Europäer, die Donald Rumsfeld<br />

in einer Pressekonferenz (22. Januar<br />

2003) vornahm, löste vor allem<br />

bei den „alten“ Europäern, Deutschland<br />

<strong>und</strong> Frankreich, diplomatische<br />

Irritationen aus. Man sah darin eine<br />

gezielte Provokation, die Aussaat von<br />

Zwietracht, gar einen Spaltungsversuch.<br />

Den ungewollten positiven Nebeneffekt<br />

sah man anfangs nicht:<br />

Europa diskutierte mit Verve über<br />

sein Selbstverständnis, über seine<br />

Identität <strong>und</strong> damit auch über seine<br />

Wurzeln – sogar intensiver als während<br />

der Verfassungsgebung.<br />

Die Wurzeln Europas werden gern<br />

bis zur griechischen Antike zurückverfolgt,<br />

der so genannten „Wiege“<br />

der Demokratie. Dabei übersieht<br />

man, dass die politischen Kämpfe<br />

zwischen Demoi <strong>und</strong> Eupatriden<br />

nicht die Geburtsst<strong>und</strong>e von Demokratie<br />

war, sondern der blutige Kampf<br />

um Vorherrschaft. Auch damals<br />

schon ging es um den Zugang zu<br />

Positionen, um Verteilungsmacht <strong>und</strong><br />

um das zu Verteilende selbst.<br />

Noch lieber wird darüber hinweggesehen,<br />

dass die Herleitung von<br />

Demokratie <strong>und</strong> abendländischem<br />

Denken aus der griechischen Antike<br />

schiere Ideologie ist. Das mögen die<br />

Lordsiegelbewahrer solcher Ideologie,<br />

allen voran Silvio Berlusconi <strong>und</strong><br />

Oriana Fallaci, vehement bestreiten,<br />

indem sie Dante gegen Averroes oder<br />

gegen Omar Chajjam aufwiegen <strong>und</strong><br />

damit die eigene Kultur über die aller<br />

anderen stellen. Von solcher Überlegenheitssehnsucht<br />

sollten vor allem<br />

wir Deutschen geheilt sein – <strong>und</strong> vorbeugend<br />

immer wieder Alfred Adler<br />

beherzigen, wenn uns vermeintlich<br />

Superiore einreden wollen, es gäbe<br />

Inferiore, gegen die neuerliche Kreuzzüge<br />

zu führen seien, als Kampf richtiger<br />

gegen falsche Kulturen.<br />

Stattdessen sollten wir nach den<br />

wirklichen Stammbäumen unserer<br />

Erbschaften suchen <strong>und</strong> nicht die<br />

antike Wahlverwandtschaft <strong>für</strong> geburtliche<br />

Blutsverwandtschaft halten.<br />

Dazu hülfe es, auf globalem Niveau<br />

zu wiederholen, was Diderot <strong>und</strong><br />

d‘Alembert während der Aufklärung<br />

erstmals versuchten: eine Enzyklopädie<br />

des gesamten Menschheitswissens<br />

zusammenzutragen. Eine solche<br />

Enzyklopädie mit Supplementbänden<br />

über „not knows“ <strong>und</strong> „lost knows“<br />

wäre heute nötiger denn je, nicht nur,<br />

um alle Beiträge menschlicher Zivilisierungsversuche<br />

zu versammeln,<br />

sondern auch, um uns gegenseitig<br />

verständlich zu machen, wie viele dieser<br />

Beiträge im Namen wechselseitigen<br />

„Zivilisierens“ vernichtet worden<br />

sind.<br />

Betrachten wir Europäer die „mental<br />

map“ unserer geistigen Wahl-Erbschaft,<br />

so wird „alteuropäisch“<br />

beinahe ausschließlich griechisch<br />

<strong>und</strong> römisch interpretiert, während<br />

der Rest des Mittelmeerraumes in<br />

Dämmerung, Indien <strong>und</strong> China im<br />

Vorabend, Afrika <strong>und</strong> Amerika in<br />

dunkler Nacht verschwinden. Selbst<br />

wenn wir nur das antike Rom betrachten,<br />

bleiben wir in seiner christlichen<br />

Deutung befangen, nehmen wir<br />

Ägypten bestenfalls kleopatraisch<br />

erotisiert wahr, während die <strong>für</strong> das<br />

„abendländische“ Denken weit bedeutsameren<br />

Einflüsse des Mithraismus<br />

<strong>und</strong> der antiken Steppenvölker<br />

kaum Erwähnung, geschweige denn<br />

Würdigung finden.<br />

Dabei erweisen sich die größten<br />

Kulturleistungen als Amalgamierungen.<br />

Was wären wir ohne die Keil<strong>und</strong><br />

Bildschriften der hydraulischen<br />

Kulturen, ohne deren Vermessungs<strong>und</strong><br />

Buchführungstechnik? Und spä-<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 5


<strong>Der</strong> <strong>11.</strong> Sept<br />

ter? <strong>Der</strong> frühe Islam verband den spät-<br />

antiken-oströmischenZivilisationsraum mit dem persisch-mittelasiatischen,<br />

der wiederum völlig von China<br />

geprägt war. Die Muslime des 8.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts pflegten intensive Beziehungen<br />

zum China der Tang-Periode<br />

<strong>und</strong> beide kämpften gegen das<br />

damals stärkste Militärreich Eurasiens,<br />

gegen Tibet – doch hat das<br />

jemals in Schulbüchern gestanden?<br />

Die wenigsten von uns haben von<br />

diesen kulturhistorischen Wechselwirkungen<br />

gehört <strong>und</strong> genau dies ist<br />

das Problem angesichts der Schwafeleien<br />

über den clash of civilizations.<br />

In Wahrheit wuchsen Zivilisationen<br />

durch ihre wechselseitige Durchdringung,<br />

nicht durch ihre gegenseitige<br />

Auslöschung. Nur wer in den Verkürzungen<br />

von Kampf <strong>und</strong> Krieg denkt,<br />

betont die Zusammenstöße. Dann<br />

sieht man im spätmittelalterlichen<br />

Mongolensturm nichts anderes, als<br />

den wilden Auf- <strong>und</strong> Einbruch barbarischer<br />

Völker, die plötzlich den Westen<br />

bedrohen – <strong>und</strong> kein Großreich<br />

eurasischer Steppenzivilisation mit<br />

bis dahin unbekannter Organisations-,<br />

Kommunikations- <strong>und</strong> Mobilitätsqualität.<br />

Und selbst das Osmanische Reich<br />

erscheint bis heute der Mehrheit als<br />

Bedrohung der Christenheit <strong>und</strong> nicht<br />

als hoch zivilisierte europäische<br />

Großmacht, die mit den spanischen<br />

Habsburgern um die Mittelmeerwelt<br />

konkurrierte <strong>und</strong> weit mehr zustande<br />

brachte als verkohlte Kaffeebohnen<br />

vor den Toren Wiens liegen zu lassen.<br />

Was, so müsste man fragen, um<br />

geostrategische Dynamik zu begreifen,<br />

ist an der damaligen Schiene<br />

Madrid-Konstantinopel machtpolitisch<br />

anders gewesen, als an der<br />

Schiene Washington-Moskau während<br />

des Kalten Krieges? Dann erfasste<br />

man Zusammenhänge von Balancement,<br />

von Eindämmung, aber<br />

auch von Einfluss <strong>und</strong> Beeinflussung,<br />

von wechselseitiger Bedrohung <strong>und</strong><br />

Zähmung.<br />

Wir sind jedoch nicht nur ideologisch<br />

verblendet, sozusagen Schulbuch<br />

systematisch durch einen stieren<br />

Blick auf die hehre Antike, sondern<br />

auch zu größter Überheblichkeit<br />

freiwillig bereit. Man muss nämlich,<br />

als Kehrseite, zur Inferiorisierung willens<br />

sein, was nicht nur <strong>für</strong> Unkraut<br />

<strong>und</strong> Untier gilt. Töten, vernichten <strong>und</strong><br />

ausrotten kann man als letzte Konsequenz<br />

nur, wenn man sich dazu selbst<br />

legitimiert – <strong>und</strong> zusätzlich legitimiert<br />

wird. Auf kollektiver Ebene ist dies<br />

bislang immer über die Zerlegung in<br />

Über- <strong>und</strong> Unterlegenheit organisiert<br />

worden. Ob „Arier“ gegen „bolschewistische<br />

Untermenschen“, ob „Erleuchtete“<br />

gegen „räudige, ungläubige<br />

H<strong>und</strong>e“, ob „Schwarz“ gegen<br />

„Weiß“, oder ob heute ein neuer<br />

Kreuzzug gegen die „f<strong>und</strong>amentalistischen<br />

Feinde von Demokratie <strong>und</strong><br />

Freiheit“ ausgerufen wird, die dahinter<br />

liegende Psychodynamik war <strong>und</strong><br />

ist die gleiche.<br />

Wir sollten uns dieser Dynamik<br />

vergewissern <strong>und</strong> uns die Produktion<br />

von Inferiorität anschauen, mit der<br />

zum Beispiel der „Stürmer“ vor 70<br />

Jahren unseren Eltern <strong>und</strong> Großeltern<br />

glauben machen wollte, Juden führten<br />

rituelle Kindermorde <strong>und</strong> andere<br />

Monstrositäten aus oder seien wie<br />

Ratten, die die Pest einschleppten (wie<br />

der Vorspann zum Film „<strong>Der</strong> ewige<br />

Jude“ suggerierte). Die Wirkung <strong>und</strong><br />

die Auswirkung dieser Lügenpropaganda<br />

sind uns heute klar. Doch sind<br />

sie historisch überw<strong>und</strong>en? Was bewirkten<br />

die Berichte von „Augenzeuginnen“<br />

über bestialische Kindstötungen<br />

durch irakische Soldaten in Kuweitischen<br />

Krankenhäusern, die 1990<br />

vor den Vereinten Nationen vorgetragen<br />

wurden <strong>und</strong> die sich später als<br />

bezahlte Inszenierung entpuppten?<br />

Oder was bewirkten die (ebenfalls<br />

inszenierten) Bilder von tanzenden<br />

<strong>und</strong> lachenden Palästinenserinnen<br />

nach „9-11“? In beiden Fällen ging es<br />

nicht um Tatsachen oder um „Wahrheit“,<br />

sondern um die Erzeugung von<br />

Bereitschaften <strong>und</strong> um die Legitimation,<br />

sie ausleben zu dürfen, wenn es<br />

sein muss auch mit tödlicher Konsequenz<br />

(vgl. Hill & Knowlton 1990).<br />

Das „alte Europa“, maßgeblich<br />

Deutschland <strong>und</strong> Frankreich, war zu<br />

dieser Konsequenz nicht bereit,<br />

jedenfalls nicht ohne eine vom Völkerrecht<br />

legitimierte Gr<strong>und</strong>lage. Dieser<br />

Unterschied ist es wert, von jedem<br />

einzelnen Bürger der europäischen<br />

Union buchstabiert zu werden.<br />

Insbesondere wir Deutschen sind es<br />

unserer Geschichte schuldig, Menschen-<br />

<strong>und</strong> Völkerrecht über alles zu<br />

stellen <strong>und</strong> nicht unser Land oder<br />

unsere Kultur – <strong>und</strong> auch nicht „Demokratie“.<br />

Gerade wenn man „alteuropäisch“<br />

zu denken versucht, sollte man nicht<br />

vergessen, dass „Demokratie“<br />

keineswegs als das begann, zu dem<br />

sie uns in der Gegenwart heilig gesprochen<br />

wird. Sie war das Ergebnis<br />

erbitterter Kämpfe, buchstäblich herausgeschlagen<br />

aus den Ungerechtigkeiten<br />

des Verteilens <strong>und</strong> dennoch<br />

nur neuer Modus des Verteilens. Demokratie<br />

war, ist <strong>und</strong> bleibt ein Metaverfahren,<br />

das die Verteilung <strong>für</strong><br />

Verteilung regelt. <strong>Der</strong> neudeutsche<br />

Begriff „Partizipation“ drückt es aus:<br />

Wir haben teil an den Verfahren, mit<br />

denen wir bestimmen, wie verteilt<br />

wird. Bei den Eupatriden, letztlich<br />

eine feudale Stammesgesellschaft<br />

wie wir sie heute noch in Afghanistan<br />

finden, wählten die Oberhäupter<br />

ihren König. Das Königtum war ein<br />

temporäres Wahlamt, anfangs nur <strong>für</strong><br />

den Krieg. Auf Dauer gestellt werden<br />

konnte es nur durch Usurpation – <strong>und</strong><br />

nur auf ebenso drastische Weise,<br />

durch Königsmord (vgl. de St. Croix<br />

2004), in Stammesmacht zurückgeholt<br />

werden. Von beiden Missbildungen<br />

ist keine Herrschaftsform weit<br />

entfernt, auch nicht Demokratie. Und<br />

auch sie leidet an Usurpationen. Deshalb<br />

besteht, wie Karl Popper zuspitzte,<br />

das einzig relevante Problem darin,<br />

ob <strong>und</strong> wie man die Herrschenden<br />

wieder los wird.<br />

Vom Kampf der Demoi um mehr<br />

Teilhabe an den Modi der Verteilung<br />

des Reichtums <strong>und</strong> am Reichtum<br />

selbst bis in unsere Gegenwart <strong>und</strong><br />

unseren Kämpfen um die heutigen<br />

Modi der Verteilung <strong>und</strong> um den gegenwärtigen<br />

Reichtum war ein langer<br />

Weg. Auf diesem Weg ist viel<br />

vergessen, sehr vieles aber auch absichtlich<br />

dem Vergessen überantwortet<br />

worden, zumeist (<strong>und</strong> trivial dazu),<br />

weil Geschichte bevorzugt von Siegen<br />

<strong>und</strong> Siegern erzählt <strong>und</strong> letztere<br />

nicht gern erinnert werden, von wo<br />

sie kamen <strong>und</strong> noch weniger, mit<br />

welchen Mitteln sie verteilungsmächtig<br />

wurden <strong>und</strong> reich dazu.<br />

6 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


mber <strong>2001</strong><br />

Wenn heute im Namen von Demokratie<br />

<strong>und</strong> Freiheit Krieg gegen<br />

den Terror geführt wird, erinnert sich<br />

vermutlich niemand mehr, dass diese<br />

Programmatik selbst dem Aufstand<br />

entsprang <strong>und</strong> das régime de<br />

la terreur als heilsames Pädagogikum<br />

gegen die Konterrevolution gefeiert<br />

wurde. Wohl auch nicht, dass liberté,<br />

egalité <strong>und</strong> fraternité schon vor<br />

der Französischen Revolution <strong>und</strong><br />

Robespierre die unbotmäßige Vision<br />

einer sozialverantwortlichen Kirche<br />

formulierte (Francois Fénelon), die<br />

der Monarchie als ausreichender<br />

Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> die Bastille galt (s. Salignac<br />

de la Mothe 1699). Manchmal kann<br />

man sich im wirklichen Leben gar<br />

nicht so schnell drehen, wie aus<br />

Staatsfeinden Revolutionäre, daraus<br />

Terroristen <strong>und</strong> daraus wieder Staatsmänner<br />

<strong>und</strong> Verbündete werden.<br />

Als Deutscher muss man gleichwohl<br />

innehalten. <strong>Der</strong> Attentatsversuch<br />

vom 20. Juli 1944 <strong>und</strong> die Nürnberger<br />

Prozesse lehren, dass es nicht<br />

nur darum geht, wie man falsche<br />

Herrschaft los wird, sondern auch,<br />

dass mehr nötig ist als ein Sieg, um<br />

dauerhaft <strong>und</strong> tragfähig Frieden stiften<br />

<strong>und</strong> Feindschaft beenden zu können.<br />

Aus dieser Perspektive gewinnt<br />

der gegenwärtige Prozess gegen<br />

Saddam Hussein beinahe antipodische<br />

Qualität, mehr noch die Weigerung<br />

Amerikas, die Errichtung des<br />

Internationalen Strafgerichtshof (ICC)<br />

zu ratifizieren. Hier gewinnt der Unbelehrbaren<br />

Lieblingswort tragische<br />

Aktualität: „Siegerjustiz“ hilft nicht der<br />

Gerechtigkeit zum Sieg, sondern verspielt<br />

die Chance zur Befriedung.<br />

Über solche Probleme konnten die<br />

alten Europäer lange grübeln, zwischen<br />

Augsburger Religionsfrieden<br />

1555, Edikt von Nantes 1598 <strong>und</strong><br />

Westfälischem Frieden 1648. Seitdem<br />

aber weiß man schon vor jedem<br />

Schädelspalten, dass die Übrigbleibenden<br />

danach desto verträglicher<br />

miteinander auskommen müssen,<br />

desto brachialer ihre wechselseitigen<br />

Verheerungen vorher waren. Handelt<br />

man zuwider, keimt schon der nächste<br />

Verteilungskampf, Schädelspalten<br />

inklusive. Auch diese Lektion ist sehr<br />

europäisch, wenngleich unbegrenzt<br />

von Raum <strong>und</strong> Zeit. Mehrheitlich gilt<br />

Verzicht als inakzeptabel, galt „Verzichtfrieden“<br />

lange vor Versailles als<br />

so unerträglich, dass man lieber auf<br />

Frieden verzichtete. Ganze Völker <strong>und</strong><br />

Kontinente „schlidderten“ so in Kriege,<br />

die immer aufs Neue verteilen<br />

sollten, was schon zuvor nicht geteilt<br />

werden wollte. Unsere heutigen Konflikte<br />

sind das Ergebnis solcher Welt-<br />

Verteilungen <strong>und</strong> es ist nicht ohne<br />

Ironie, dass die größten Umverteilungsversuche<br />

zum größt- <strong>und</strong><br />

längstmöglichen Unfrieden führten.<br />

An den Erbschaften des britischen<br />

Empire leidet heute die ganze Welt,<br />

am explosivsten im Nahen <strong>und</strong> Mittleren<br />

Osten. Im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert wäre<br />

es an der Zeit, die Konflikte dadurch<br />

zu beenden, dass man endlich gerecht<br />

teilt, statt ungerechten Verteilungen<br />

nur weitere Umverteilungen<br />

<strong>und</strong> neue Ungerechtigkeiten folgen<br />

zu lassen.<br />

Aber auch das wissen wir längst.<br />

Andererseits, was bliebe übrig, wenn<br />

man gerecht teilte? Schon die Frage<br />

lässt schaudern – <strong>und</strong> beherzt zum<br />

Ausweg greifen. Seit Jahrzehnten<br />

wird über Verfahren <strong>und</strong> die Zulassung<br />

zu diesen Verfahren diskutiert;<br />

– die Vereinten Nationen sind das<br />

Archiv solcher Aus- <strong>und</strong> Umwege,<br />

zugleich aber auch Versuchslabor<br />

<strong>und</strong> Zukunftswerkstatt in einem. Am<br />

Ende werden wir alle nicht um die<br />

Einsicht in das Notwendige herum<br />

kommen – oder umkommen. Bislang<br />

wird beides nach Kräften vertagt.<br />

Allerdings werden uns die peaceenforcing-missions<br />

erst die Glaubwürdigkeit<br />

<strong>und</strong> dann den Kopf kosten,<br />

sofern sie nur helfen, ein gerechtes<br />

Teilen zu ersparen. (Tatsächlich<br />

wird unsere Freiheit am Hindukusch<br />

verteidigt.)<br />

Unser historischer terroristischer<br />

Arm, der uns durch Revolution an die<br />

Macht brachte, überzeugte durch andere<br />

Einsätze. Sie propagierten nicht,<br />

sondern demonstrierten, dass durch<br />

die Anwendung von Vernunft das<br />

zum Verteilen Nötige in Überfluss erzeugt<br />

werden kann. Das war die Überzeugungstat<br />

gegen Adel <strong>und</strong> Klerus:<br />

Produktivität durch Wissenschaft. Die<br />

neuen Stände erzeugten das zum Leben<br />

Notwendige selbst, während die<br />

alte Standesgesellschaft als Bande<br />

von Schmarotzern erschien, die<br />

nichts besaß als Boden, – doch blieb<br />

er nackte Krume ohne jene, die ihr<br />

Frucht abgewannen. Den langen Weg<br />

hin zu dieser Überzeugung haben<br />

Paul Hazard (1990) als Entstehung<br />

des „Europäischen Geistes“ <strong>und</strong><br />

Franz Borkenau (1934) als Entstehung<br />

des „bürgerlichen Weltbildes“ trefflich<br />

analysiert.<br />

Worauf die neue Produktivität<br />

gründet, war anfangs das einende<br />

Band: Auf Arbeit <strong>und</strong> Wissen. Wem<br />

der Reichtum gehört, war schnell<br />

umstritten. Denen, die ihn schaffen –<br />

lautete zumindest der Traum der frühen<br />

Sozialisten. <strong>Der</strong>weil ihn schon<br />

jene aneigneten, die Arbeit <strong>und</strong> Wissen<br />

finanzierten. Man lese nur die<br />

Protokolle der Royal Society, vor der<br />

James Watt um Wagniskapital bettelte<br />

<strong>und</strong> kühl beschieden wurde,<br />

dass ein return on investment nicht<br />

absehbar sei. Heute geht es, wie<br />

Meinhard Miegel (2005) aufzeigt, nur<br />

noch um die Spekulation auf schnelle,<br />

lukrative returns, steigert das ökonomische<br />

Wachstum nicht mehr den<br />

Wohlstand der Nationen. Sie verarmen<br />

in dem Maße, wie Produktivität<br />

allein dem Ausschluss der Produzenten<br />

erwächst. Für die Aufrechterhaltung<br />

der gesamten deutschen Volkswirtschaft<br />

genügen inzwischen weniger<br />

als 18 Millionen Arbeitende –<br />

bei einer derzeitigen Auslastung von<br />

weniger als 68 Prozent. Angesichts<br />

solcher Daten ist die Phrase vom<br />

Wachstum, das Arbeitsplätze schafft,<br />

längst eine alberne Absurdität.<br />

Ist der europäische Geist am Ende,<br />

das bürgerliche Weltbild entzaubert?<br />

Rückt Europa, wie es Rumsfeld prognostizierte,<br />

nach Osten, weil dort ein<br />

neues Weltbild entsteht? Schaut man<br />

nach Polen, ins Baltikum oder in die<br />

Ukraine, so lässt sich dort weder ein<br />

Gegenbild zu noch ein neues Bild von<br />

Europa entdecken. Historisch fühlen<br />

sich diese Länder „europäischer“ als<br />

ihre geographische Lage vermuten<br />

lässt. Geht man weiter, Richtung<br />

Russland, so ist weder Produktivität<br />

noch Verteilungsgerechtigkeit zu entdecken.<br />

Und was findet sich in Richtung<br />

Türkei, die die USA massiv einschließt,<br />

wenn von „Erweiterung“<br />

gesprochen wird? Für manchen Eu-<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 7


opäer eine eher bedrohliche Reproduktivität,<br />

Begehrlichkeiten nach<br />

Umverteilung (als Mischung aus Regionalfonds<br />

<strong>und</strong> Agrarsubventionen)<br />

<strong>und</strong> ein Geist, den zu integrieren sich<br />

die meisten nicht wagen, weil sie ihn<br />

so sehr <strong>für</strong>chten.<br />

Was also ist mit Europa los? Hat<br />

Donald Rumsfeld am Ende Recht? Ist<br />

Europa zur Erneuerung unfähig, nur<br />

noch ein ängstlich auf Bestandssicherung<br />

schielender Riese, dem Lenden<strong>und</strong><br />

Geisteskräfte schwinden?<br />

Selbst diese Fragen sind nicht neu.<br />

Sie beschäftigten alle Zivilisationen<br />

<strong>und</strong> sie führten zu vielerlei Antworten<br />

über Aufstieg <strong>und</strong> Fall großer<br />

Mächte <strong>und</strong> Reiche. Ob das alte<br />

Europa, das Abendland, untergeht,<br />

steht dennoch dahin. Das Modell war<br />

so erfolgreich, dass es die Welt erobert<br />

hat <strong>und</strong> alternativlos nach den<br />

letzten Ressourcen jagt, die in Akten<br />

„schöpferischer Zerstörung“ (Schumpeter)<br />

einverleibt werden können, bis<br />

auch sie verschw<strong>und</strong>en sind. Die großen<br />

europäischen Errungenschaften<br />

bleiben dabei auf der Strecke: Produktivität<br />

<strong>und</strong> ein gerechter Modus<br />

ihrer Verteilung. Inzwischen stehen<br />

beide zunehmend auch bei den breiten<br />

Schichten in Zweifel. Produktivität<br />

mehrt nicht mehr Wohlstand <strong>und</strong><br />

gibt nicht mehr Arbeit, Demokratie<br />

versinkt in Usurpation <strong>und</strong> löst ihr<br />

originäres Regulationsversprechen<br />

immer weniger ein.<br />

Das Regulationsversprechen bestand<br />

darin, dass jedes Mitglied sowohl<br />

an den Modi des Verteilens als<br />

auch an dem zu Verteilenden<br />

rechtens <strong>und</strong> gerecht partizipieren<br />

kann. Das erste sollte durch allgemei-<br />

<strong>Der</strong> <strong>11.</strong> Sept<br />

ne, gleiche <strong>und</strong> freie Wahlen, das<br />

zweite durch sozial- <strong>und</strong> wohlfahrtliche<br />

Umverteilungen erreicht werden.<br />

Die Umverteilungsmodi wurzelten<br />

allesamt in gemeinschaftlichen Werten:<br />

Geholfen werden sollte jenen,<br />

die durch Unglück, Krankheit oder<br />

unverschuldete Not der Unterstützung<br />

bedürfen. Dass längst Millionen<br />

Unterstützung brauchen, die sich<br />

selbst ernähren könnten, wenn es <strong>für</strong><br />

sie Arbeit gäbe, sah dieser Gedanke<br />

weder vor noch voraus. Heraus<br />

kommt wechselseitige Beschädigung.<br />

Bei den Menschen, die heraus-<br />

fallen aus Erwerb <strong>und</strong> Erwerbssystem,<br />

<strong>und</strong> beim System, das immer<br />

weniger kann, was zu können es vorgibt.<br />

Das hielten bislang kein System<br />

<strong>und</strong> kein Volk auf Dauer durch.<br />

Statt aber die Zeiger der Uhr auf<br />

Gespensterst<strong>und</strong>e zu stellen <strong>und</strong> mit<br />

Weimar <strong>und</strong> dem Marsch nach Rechts<br />

bis in den Faschismus zu drohen,<br />

könnte auch einmal anders reagiert<br />

<strong>und</strong> darüber nachgedacht werden, ob<br />

womöglich die Bestandskrise gegenwärtiger<br />

Demokratie nicht auch zum<br />

Positiven führen könnte, zur Demokratie<br />

nach der Demokratie, zur „Überdemokratie“.<br />

Man hört Nietzsches kynisches<br />

Gelächter, damals, als er seine<br />

Zeitgenossen fragte, ob sie allen<br />

Ernstes glauben, dass die Evolution<br />

bei ihnen aufhöre?<br />

Genau so wird uns Heutigen „Demokratie“<br />

entzeitigt: als höchste <strong>und</strong><br />

endgültige Stufe der politischen Evolution.<br />

Das aber ist ebenso lächerlich<br />

wie die Annahme, dass der Mensch<br />

die höchste <strong>und</strong> endgültige Stufe der<br />

biologischen Evolution sei. Nein, es<br />

geht weiter <strong>und</strong> wir täten gut daran,<br />

die politische Evolution mit Bedacht<br />

<strong>und</strong> Sorgfalt voranzutreiben. Was<br />

könnte „Überdemokratie“ werden?<br />

Was hätte die nach uns kommende<br />

Demokratie zu sein <strong>und</strong> vor allem:<br />

Was hätte sie zu regulieren?<br />

Man muss weit zurückgehen, um<br />

voran zu kommen. Und man muss<br />

Erbschaften antreten <strong>und</strong> Durchmischungen<br />

zulassen. Dass es gerecht<br />

zugehe auf der Welt, wünschen sich<br />

im Prinzip alle. Den gerechtesten Regulationsmechanismus<br />

findet man im<br />

Philosophischen Probabilismus des<br />

Bartholomé von Medina (1577); er<br />

wurde zentraler Bestandteil der katho-<br />

lischen Morallehre (bis hin zu Fenélon),<br />

hatte aber auch eine hohe Schnittmenge<br />

mit den Erwägungsregeln des<br />

Koran sowie mit dessen Zins- bzw.<br />

Wucherverbot. (Von dort aus sollte<br />

man wieder einmal über ethisches<br />

Investieren nachdenken <strong>und</strong> über die<br />

Verantwortung von Eigentum.)<br />

<strong>Der</strong> philosophische Probabilismus<br />

(vgl. Giegerenzer 2004; 1989) diente<br />

der Formulierung so genannter „probabler“,<br />

also wohl erwogener Begründungen<br />

<strong>für</strong> ein beabsichtigtes<br />

Handeln. Ein Entscheiden <strong>und</strong> Han-<br />

deln ohne probable Gründe war<br />

gleichbedeutend mit Sünde. „Hammartia“<br />

war die Abweichung vom<br />

Richtigen <strong>und</strong> Guten. Nicht probabel<br />

handelten Abenteurer, Hazardeure,<br />

Glücksritter <strong>und</strong> Spekulanten; sie tendierten<br />

zum Betrug <strong>und</strong> schlossen<br />

sogar Pakte mit dem Teufel.<br />

Im Prinzip diente dieser religiös<br />

konstituierte Regulationsmodus der<br />

Wagnismoderation. Bei Unsicherheit<br />

über den Ausgang einer Entscheidung<br />

oder Handlung dürfen deren<br />

Folgen nicht unüberstehbar sein.<br />

Wagnisse, denen die Schutzbefohlenen,<br />

also das „ganze Haus“ <strong>und</strong> sein<br />

Vermögen zum Opfer fallen könnten,<br />

waren zu Recht inakzeptabel <strong>und</strong> erschienen<br />

als Todsünde. Von daher<br />

zielte die Abwägung von Wagnissen<br />

darauf ab, das Maß gegenseitiger <strong>und</strong><br />

gemeinsamer Belastbarkeit vorab zu<br />

ermessen <strong>und</strong> zugleich den Eventualfall<br />

in Form eines „gegenseitigen<br />

Beistandspaktes“ zu verfriedlichen:<br />

Wir wagen, aber wir wagen wohlerwogen.<br />

Dabei erschöpfte sich das vor<br />

Gott verantwortliche Abwägen nicht<br />

in moralischem Beistand, sondern in<br />

materieller Absicherung, indem Vorkehrungen<br />

gegenüber schädlichen<br />

Handlungsfolgen vereinbart wurden.<br />

Das Verfahren selbst war streng konsensual;<br />

erst wenn alle potenziell<br />

Betroffenen in das Wagnis einwilligten,<br />

konnte es eingegangen werden.<br />

Das Konsensusprinzip zwang dazu,<br />

mit Entscheidungen so lange zu warten,<br />

bis auch der letzte überzeugt war.<br />

Dies erscheint bei Entscheidungen<br />

über Wohl <strong>und</strong> Wehe, Leben <strong>und</strong><br />

Tod, mehr als angemessen. Strukturell<br />

wohnt dem Konsensusprinzip die<br />

Entschleunigung inne. Vermutlich<br />

sind die meisten Heißsporne abgekühlt,<br />

bis endlich der Letzte einem<br />

Wagnis zustimmt, während umgekehrt<br />

eine Chance schon extrem<br />

überzeugend sein musste, damit<br />

auch der sprichwörtlich Letzte zu einer<br />

sofortigen Entscheidung drängte.<br />

Demgegenüber ist das Mehrheitsprinzip<br />

strukturell ein Beschleuniger.<br />

Zur Entscheidung reichen 51 Prozent,<br />

zudem werden sich die widerborstigsten<br />

Bedenkenträger immer am<br />

Ende der verbleibenden 49 finden.<br />

Man hat es also sehr viel leichter,<br />

8 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


Wagnisse eingehen zu können, vor<br />

allem dann, wenn man die dadurch<br />

winkenden Chancen mit dem Windh<strong>und</strong>prinzip<br />

koppelt: Wer schnell<br />

wagt, gewinnt am meisten. Letztlich<br />

wurzeln in genau dieser Koppelung<br />

von Mehrheits- <strong>und</strong> Windh<strong>und</strong>prinzip<br />

die größten Anreize <strong>für</strong> Shift Offs<br />

<strong>und</strong> somit <strong>für</strong> ein Riskieren, das sich<br />

um die verbleibende Hälfte immer<br />

weniger kümmert – sei es die nächste<br />

Generation, die Natur oder so genannten<br />

Minderheiten ohne Lobby.<br />

Für die potentiell von Schaden<br />

Betroffenen ist bedeutungslos, ob sie<br />

sich an der Ungewissheit eines Wagnisses<br />

oder an der Wahrscheinlichkeit<br />

eines Risikos beteiligen, <strong>für</strong> sie<br />

zählt allein, ob <strong>und</strong> wie sie die möglichen<br />

Konsequenzen zu überstehen<br />

vermögen. Ist dies geklärt <strong>und</strong> stimmen<br />

sie dem Wagnis zu, so steht zu<br />

erwarten, dass es im Scheiternsfall<br />

nicht zur Störung der sozialer Beziehungen<br />

der aufeinander Angewiesenen<br />

kommt, sondern sie sich vielmehr<br />

Schaden <strong>und</strong> Leid solidarisch<br />

teilen. Dies gilt <strong>für</strong> alle Ungewissheiten,<br />

also auch <strong>für</strong> Risiken, bei denen<br />

die Schadensdrohung nach Maßgabe<br />

der vorausgehenden Ereignisse<br />

berechenbar erscheint. Insofern lassen<br />

sich Risiken kalkulieren <strong>und</strong> Wagnisse<br />

nicht, doch ob man beide eingeht,<br />

hängt nicht von einer wie immer<br />

gearteten Kalkulierbarkeit ab, sondern<br />

von Art <strong>und</strong> Güte der sozialen<br />

Diskurse, in denen Wagnis wie Risiken<br />

bewertet werden, sowie der materiellen<br />

Vereinbarungen, mit denen<br />

man Verluste <strong>und</strong> Gewinne verteilt.<br />

Genau hier liegt der Irrtum heutiger<br />

Politik, weil sie so tut, als könne<br />

mber <strong>2001</strong><br />

eine rechnerische Minimalisierung<br />

eine Entscheidung begründen. Eher<br />

stimmt das Gegenteil. <strong>Der</strong> Mangel an<br />

beratschlagenden Diskursen über Für<br />

<strong>und</strong> Wider <strong>und</strong> – mehr noch – an absichernden<br />

Vereinbarungen über<br />

Schadensersatz <strong>und</strong> Gewinnverteilung<br />

weckt Misstrauen bis zur Risikoaversion.<br />

Viele Menschen fühlen sich<br />

außer Acht gelassen <strong>und</strong> glauben,<br />

selbst Riskierte zu sein, statt als wert<br />

erachtet zu werden, mit ihnen nach<br />

probablen Gründen zu suchen <strong>und</strong><br />

darüber selbst (menschlich) probabel<br />

zu werden.<br />

So besehen sind „probable Gründe“<br />

weit mehr als nur Argumente. Es<br />

sind Verfahren zur sozialen Friedensstiftung<br />

<strong>und</strong> zur Scheiternsregulierung.<br />

Nur wenn beim Eingehen von<br />

Wagnissen/Risiken eine Art sozialer<br />

Kontrakt zustande kommt, durch den<br />

die Folgen von Wagen/Riskieren gemeinsam<br />

getragen werden, bleibt der<br />

soziale Frieden zwischen denen, die<br />

Risiken eingehen, <strong>und</strong> denen, die<br />

dadurch zu Schaden kommen könnten,<br />

gewahrt. Ohne ein solches risiko-umhegendes<br />

Sozial-Kalkül bleiben<br />

Risiko-Kalküle nichts anderes als<br />

Wahrscheinlichkeitsangaben über die<br />

Bereitschaft, Dritte mitzuriskieren.<br />

Erst ein Risiko-Kalkül als kollektives<br />

Sozial-Kalkül über die probablen<br />

Gründe wahrt Moralität <strong>und</strong> sichert<br />

den sozialen Frieden zwischen den<br />

beteiligten Parteien. Das aber wäre<br />

Demokratie, die ihre Regulierungsversprechen<br />

einlöst – mithin erster<br />

Schritt hin zur Überdemokratie im<br />

21. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Von hier aus knüpft sich eine inhaltlich<br />

(nicht historisch) durchgehende<br />

Linie zurück zum Prinzip des bonum<br />

communum der griechischen<br />

Antike. Zusammen mit einer konsensuellen<br />

Regulation unter dem Leitprinzip<br />

aus „Wohlerwogen“ <strong>und</strong> „Sozialförderlich“<br />

könnte sich eine „alteuropäische<br />

Sicht“ formen, die der<br />

derzeitigen amerikanischen Sicht auf<br />

die Welt <strong>und</strong> deren Verteilungsvorstellungen<br />

(vgl. Pfaller 2003) eine<br />

hoffnungsvolle Alternative bietet:<br />

bonum m<strong>und</strong>um.<br />

Literatur<br />

Adler, Alfred: Menschenkenntnis.<br />

Reinbek bei Hamburg: Fischer TB<br />

1978 (1927)<br />

Adler, Alfred: Vom Sinn des Lebens.<br />

Leipzig 1933<br />

Bonß, Wolfgang: Vom Risiko.<br />

Unsicherheit <strong>und</strong> Ungewissheit in der<br />

Moderne. Hamburg: Hamburger Edition<br />

1995<br />

Borkenau, Franz: <strong>Der</strong> Übergang<br />

vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild<br />

, Paris 1934 (Neudruck Darmstadt<br />

1971)<br />

Gigerenzer, Gerd: Das Einmaleins<br />

der Skepsis. Über den richtigen Um-<br />

gang mit Zahlen <strong>und</strong> Risiken [Calculated<br />

Risks: How to Know When Numbers<br />

Deceive You]. Berlin, Btv, 2004.<br />

Gigerenzer, Gerd/Swijtink, Z./<br />

Porter, Th./Daston, L./Beatty, J./Krüger,<br />

L.: The Empire of Chance. Cambridge:<br />

Cambridge Univ. Press 1989<br />

Hazard, Paul: The European<br />

Mind, 1680-1715, Fordham University<br />

Press, 1990<br />

Hill & Knowlton, PR-Agentur,<br />

trainierte die Tochter des kuweitischen<br />

Botschafters in den USA <strong>für</strong><br />

einen Auftritt vor den Vereinten Nationen<br />

am 10.10. 1990, wo sie über<br />

Greueltaten irakischer Soldaten berichtet,<br />

die angeblich Babies aus Brutkästen<br />

gerissen <strong>und</strong> auf den Boden<br />

geworfen hätten. Ein Jahr später wird<br />

nachgewiesen, dass es sich um eine<br />

Inszenierung im Rahmen einer 10 Millionen<br />

Dollar teuren Kampagne Kuweits<br />

gehandelt hatte, die dazu dienen<br />

sollte, die USA zum Kriegseintritt<br />

zu bewegen. (http://www.arbei<br />

terfotografie.com/galerie/kein-krieg/<br />

hintergr<strong>und</strong>/index-manipulation-9-<br />

11-0001.html)<br />

Kelsen, Hans: Vergeltung <strong>und</strong><br />

Kausalität. Mit einer Einleitung von<br />

E. Topitsch. „Vergessene Denker –<br />

Vergessene Werke“, Klassische Studien<br />

zur sozialwissenschaftlichen<br />

Theorie, zur Weltanschauungslehre<br />

<strong>und</strong> zur Wissenschaftsforschung, Bd.<br />

1, hrsg.v. K. Acham. Wien/Köln/ Graz:<br />

Hermann Böhlaus Nachf. 1982<br />

Miegel, Meinhard: Epochenwende.<br />

Gewinnt der Westen die Zukunft?<br />

Propyläen Verlag Berlin 2005<br />

Pfaller, Alfred: Was kann Europa<br />

tun, wenn Amerika tut, was es will?<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung, Electronic<br />

ed.: Bonn: FES Library, 2003 (http://<br />

library.fes.de/fulltext/id/01480.htm)<br />

Rumsfeld, Press Meeting. Wednesday,<br />

January 22, 2003 - 1:30 P.M.<br />

(http://www.defenselink.mil/tran<br />

scripts/2003/t01232003_t0122sdfpc.<br />

html)<br />

Salignac de la Mothe, François<br />

de: Die Abenteuer des Telemachus,<br />

Paris 1699<br />

St. Croix, Geoffrey de: Athenian<br />

Democratic Origins and Other Essays.<br />

Ed., by David Harvey and Robert<br />

Parker, Oxford: Oxford University<br />

Press 2004<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 9


Veränderte Rahmenbe<br />

Dr. Dirk Freudenberg M.A., Leiter des Akademiestabes <strong>B<strong>und</strong>esamt</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>Bevölkerungsschutz</strong> <strong>und</strong> Katastrophenhilfe, Akademie <strong>für</strong> Krisenmanagement,<br />

Notfallplanung <strong>und</strong> Zivilschutz<br />

Humanitäre Organisationen <strong>und</strong> ihre Angehörigen, die als Helfer in Regionen<br />

gehen, die oftmals ein unfriedliches Umfeld bereiten, haben sich immer<br />

schon mit den Risiken eines Einsatzes auseinandersetzen müssen. Allerdings<br />

standen in der Vergangenheit – von Ausnahmen abgesehen – eher Risiken<br />

<strong>und</strong> Gefährdungen aus dem Bereich der Arbeitssicherheit, der Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge<br />

oder des Umgangs mit Kraftfahrzeugen in schwierigem Gelände<br />

im Vordergr<strong>und</strong> (Safety). Zunehmend sehen sie sich direkt bedroht<br />

oder gar als Opfer von (bewaffneten) Angriffen, Entführungen <strong>und</strong> Erpressungen.<br />

Verantwortungsbewusste Organisationen <strong>und</strong> vor allem Personen<br />

mit Personal- <strong>und</strong> Führungsverantwortung werden sich dieser Tatsache<br />

stellen müssen, um ihre erforderlichen personellen, materiellen <strong>und</strong> organisatorischen<br />

Voraussetzungen <strong>für</strong> ihren Verantwortungsbereich <strong>und</strong> ihr<br />

Krisenmanagement in der Vorbereitung, Durchführung <strong>und</strong> Nachbereitung<br />

zu treffen.<br />

Im Überblick werden die entscheidenden<br />

Veränderungen des sicherheitspolitischen<br />

Umfeldes gegeben,<br />

um <strong>für</strong> die Problematik zu sensibilisieren<br />

<strong>und</strong> die wesentlichen neuen Herausforderungen<br />

zu erkennen. Dies<br />

muss die Voraussetzung sein <strong>für</strong> die<br />

Implementierung eines organisationseigenen<br />

Krisen- <strong>und</strong> Sicherheitsmanagements<br />

<strong>und</strong> die organisationsübergreifende<br />

Zusammenarbeit mit<br />

anderen Akteuren.<br />

<strong>Der</strong> Begriff „Globalisierung“ charakterisiert<br />

seit Mitte der 1990er Jahre<br />

die zunehmende weltweite Verflechtung<br />

der Ökonomien sowie der<br />

Finanzmärkte <strong>und</strong> die davon ausgehenden<br />

Prozesse fortschreitender<br />

<strong>und</strong> beschleunigter Modernisierung<br />

von Kommunikation, Produktion von<br />

Wissen <strong>und</strong> Gütern, Transport, aber<br />

auch die Problemfelder von Internationaler<br />

Sicherheit, Organisierter Kriminalität,<br />

Drogen-, Waffen- <strong>und</strong> Menschenhandel,<br />

Krieg <strong>und</strong> Migration. 1<br />

Bei der Betrachtung möglicher Akteure<br />

ist zu beachten, dass nicht nur<br />

bei innerstaatlichen, sondern auch bei<br />

den globalen Konflikten Konflikt- <strong>und</strong><br />

Krisenursachen zunächst häufig nicht<br />

mehr auf klar identifizierbare Verursacher,<br />

sehr oft auch nicht mehr in<br />

Gestalt von Verursacherstaaten zurückzuführen<br />

sind. 2 Im Zuge dieser<br />

Entwicklung sind zunehmend Konflikte<br />

zu beobachten, die nicht als Krieg<br />

zwischen Staaten <strong>und</strong> ihren Armeen<br />

ausgetragen werden, sondern in denen<br />

sozial, ethisch, religiös definierte<br />

Bevölkerungsteile einander bekriegen<br />

<strong>und</strong> Partisanen, Banden, regionale<br />

Kriegsherren sowie internationale<br />

Söldnerfirmen die entscheidende<br />

Rolle spielen. 3 Feindselige Aktivitäten<br />

werden nun von Gruppen angeführt,<br />

die sich von Armeen sehr wesentlich<br />

unterscheiden 4 <strong>und</strong> nicht-staatliche<br />

Akteure beginnen mit militärischen<br />

Mitteln zu handeln. 5 Das gesamte<br />

Spektrum subversiver, verbrecherischer,<br />

nichtstaatlicher Kräfte, Banden,<br />

Partisanen <strong>und</strong> Terroristen gehört<br />

dazu. 6 Es sind unter den Akteuren<br />

solche, die in ihrer Symbiose der<br />

Kulturen das Mittelalter predigen <strong>und</strong><br />

dennoch die Kalaschnikow, wie auch<br />

den Computer benutzen. 7<br />

Insofern fehlt es weitgehend an<br />

klaren <strong>und</strong> konkreten Täter- <strong>und</strong> Fähigkeitsprofilen,<br />

deren Potentiale <strong>und</strong><br />

der Inter<br />

Einführung in die Sicherheitssituation<br />

Einsatzgr<strong>und</strong>sätze bekannt sind <strong>und</strong><br />

auf die sich die Stellen staatlicher<br />

Gefahrenabwehr personell, materiell<br />

<strong>und</strong> von den Abläufen des eigenen<br />

Krisenmanagements her verbindlich<br />

– checklistenartig – einstellen können.<br />

8 Somit ist heute längst erkannt,<br />

dass die neuen Bedrohungen nicht<br />

mehr (nur) von Staaten ausgehen,<br />

deren Bedrohungspotential bekannt<br />

ist <strong>und</strong> auf die man sich durch nationale<br />

Vorsorge – eingeb<strong>und</strong>en in supra-<br />

<strong>und</strong> internationale Strukturen –<br />

einstellen kann, sondern zunehmend<br />

von transnationalen nichtstaatlichen<br />

Akteuren, welche die Vorteile der<br />

Globalisierung nutzen <strong>und</strong> entsprechend<br />

an Staaten vorbei bzw. gegen<br />

Staaten aktiv sind. 9<br />

Dementsprechend ist auch eine<br />

Entwicklung zu beobachten, die es<br />

notwendig erscheinen lässt, die Tätigkeit<br />

von Hilfsorganisationen dahingehend<br />

zu hinterfragen, inwieweit sie<br />

durch ihr Tätigwerden diese Konflikte<br />

beeinflussen, hemmen oder gar<br />

fördern. Gleichzeitig stellt sich die<br />

Frage, ob <strong>und</strong> inwieweit die Hilfe<br />

nicht sogar ein Eingriff in das „humanitäre<br />

Biotop“ darstellt, welcher in der<br />

Lage ist, Gewalt zu katalysieren. Das<br />

umso mehr, wenn die Machthaber –<br />

örtliche oder regionale – die Arbeit<br />

der Hilfsorganisationen zu eigenen<br />

Zwecken nutzen, indem sie die Hilfe<br />

zulassen, steuern oder unterbinden.<br />

An die Stelle klassischer militärischer<br />

Konflikte treten in zunehmendem<br />

Maße kleine <strong>und</strong> asymmetrische<br />

Kriege, in denen das Handeln der<br />

nicht-staatlichen Akteure meist nicht<br />

gegen militärische Ziele gerichtet ist,<br />

sondern auf die Erzielung eines<br />

größtmöglichen – insbesondere psychologischen<br />

– Effektes in der Gesellschaft.<br />

10 Dabei werden alle Akteure<br />

zunehmend zum Ziel gewalttätiger<br />

Aktionen, die dazu beitragen, einen<br />

Raum zu stabilisieren, in dem sie der<br />

10 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


ingungen<br />

ationalen Zusammenarbeit<br />

heute<br />

Bevölkerung Hilfeleistung zugute<br />

kommen lassen. Je nach Standpunkt<br />

der jeweiligen Machthaber oder Opponenten<br />

wird diese Hilfeleistung<br />

geduldet, unterstützt oder behindert,<br />

ja sogar aktiv bekämpft, um den „Aufschwung“<br />

zu fördern oder die Stabilisierung<br />

zu verhindern. Damit treten<br />

humanitäre Akteure in das „Center<br />

of Strategie“ <strong>und</strong> werden ihrerseits<br />

zum Akteur im Einsatzgebiet. Dieses<br />

Einsatzgebiet ist somit nicht mehr allein<br />

als humanitärer Raum zu begreifen.<br />

Dementsprechend werden Helfer<br />

heute oftmals <strong>und</strong> zunehmend<br />

nicht mehr als unparteiliche <strong>und</strong> neutrale<br />

Institutionen angesehen <strong>und</strong> diese<br />

Prinzipien sind auch <strong>für</strong> kommerziell<br />

agierende Warlords mit ihren<br />

kurzfristig angelegten <strong>und</strong> häufig<br />

wechselnden Allianzen nicht mehr<br />

von Nutzen. Im Gegenteil: Kräfte, die<br />

zur Stabilisierung in einer Krisenregion<br />

beitragen, werden, wenn ihre<br />

Maßnahmen den eigenen Interessen<br />

entgegenlaufen bzw. den Einfluss der<br />

eigenen Position tangieren, als feindlich<br />

angesehen <strong>und</strong> entsprechend<br />

konsequent bekämpft. Insofern findet<br />

nicht nur eine Erosion des humanitären<br />

Völkerrechts statt, sondern es ist<br />

auch fraglich, ob die Gr<strong>und</strong>sätze des<br />

humanitären Völkerrechts heute noch<br />

adäquat <strong>und</strong> zeitgemäß sind bzw. ob<br />

das geltende internationale Recht den<br />

gegenwärtigen Gewalt- <strong>und</strong> Konflikttypen<br />

nicht mehr entspricht. Das<br />

Kernproblem besteht also darin, wie<br />

die verschiedenen Akteure das Spannungsverhältnis<br />

zwischen Macht<br />

(Verfolgung <strong>und</strong> Durchsetzung eigener<br />

Interessen), Recht (humanitäres<br />

Völkerrecht) <strong>und</strong> Moral <strong>für</strong> sich lösen.<br />

11 Dieses auch umso mehr, als<br />

die Akteure zur Anerkennung <strong>und</strong><br />

Durchsetzung der völkerrechtlichen<br />

Normen nicht vorhanden sind oder<br />

nicht angemessen durchsetzungsfähig<br />

<strong>und</strong> -willig nach Kräften <strong>und</strong> Man-<br />

datierung im Raum auftreten. Demzufolge<br />

haben sich die humanitären<br />

Akteure in einem kriegerischen<br />

Raum, ohne klare Fronten, Kampflinien<br />

<strong>und</strong> befriedeten Hinterland zu<br />

bewegen, zu handeln <strong>und</strong> zu interagieren.<br />

Humanitäre Akteure sind demnach<br />

heute aktive Elemente auf dem modernen<br />

Gefechtsfeld. Folglich muss<br />

sich bei der Frage, wie die Unversehrtheit<br />

der Mitarbeiter zu gewährleisten<br />

ist, der Schwerpunkt von der<br />

Akzeptanzstrategie hin zu einer<br />

Schutzstrategie verschieben. Die Aktzeptanzstrategie<br />

geht davon aus, dass<br />

die Sicherheit der Helfer durch ihre<br />

Anwesenheit gegeben ist <strong>und</strong> im<br />

Zweifel, durch den Cordon der durch<br />

die Hilfeleistung betroffenen Bevölkerung<br />

garantiert wird, da der Ausfall<br />

oder Abzug der Helfer gleichzeitig<br />

das Ende der Vergünstigungen<br />

bedeuten. Folglich war die wesentliche<br />

Plattform dieser Strategie der<br />

Rückhalt in der Bevölkerung. Auf<br />

Gr<strong>und</strong> der oben beschriebenen Prozesse<br />

<strong>und</strong> Differenzierungen ist dieser<br />

Rückhalt nicht mehr so ungeteilt<br />

gegeben. Humanitäre Helfer werden<br />

folgerichtig zunehmend als direktes<br />

Ziel von Gewalt definiert <strong>und</strong> angegriffen.<br />

<strong>Der</strong> Cordon der Bevölkerung<br />

ist mithin durchlässig geworden <strong>und</strong><br />

erfüllt seinen Schutzauftrag nicht<br />

mehr ausreichend. Dementsprechend<br />

müssen Schutzstrategien entwickelt<br />

werden, die berücksichtigen,<br />

dass die humanitäre Hilfe nicht isoliert<br />

betrachtet werden kann, sondern<br />

immer in vielschichtigen <strong>und</strong> mehrdimensionalen<br />

Wechselwirkung zu<br />

allen Akteuren <strong>und</strong> Aktivitäten im<br />

humanitären Raum steht.<br />

Die Ansatzpunkte <strong>und</strong> Strategien<br />

konstruktiver Konfliktbearbeitung in<br />

der Staaten- <strong>und</strong> Gesellschaftswelt<br />

können in Anlehnung an die Trias<br />

„Prävention – Eindämmung – Nach-<br />

sorge“ in drei Handlungsfelder eingeteilt<br />

werden: Gewaltprävention,<br />

Krisen- <strong>und</strong> Konfliktmanagement <strong>und</strong><br />

Friedenskonsolidierung. 12 Die Problemlösungsansätze<br />

sind entsprechend<br />

den Herausforderungen komplexer<br />

geworden. <strong>Der</strong> Einsatz militärischer<br />

Mittel erfolgt in der Regel<br />

nicht mehr zeitlich als „ultima ratio“,<br />

sondern komplementär zu einem Policy-Mix<br />

aus Außen-, Innen-, Entwicklungs-,<br />

Finanz-, Rechts- <strong>und</strong> Justizpolitik.<br />

13 Die Fähigkeitsorientierung ist<br />

somit nicht allein auf das Einsatzspektrum<br />

militärischer Streitkräfte beschränkt,<br />

sondern soll alle sicherheitspolitischen<br />

Aufgaben <strong>und</strong> Akteure<br />

umfassen. 14 Ausdruck hier<strong>für</strong> ist<br />

der „Inter-Agency-Prozess“, das heißt<br />

die Vernetzung aller staatlichen Akteure<br />

<strong>und</strong> die mögliche Einbindung<br />

nichtstaatlicher Institutionen. Dies<br />

können wissenschaftliche Institute,<br />

Think-Tanks, Wirtschaftsunternehmen,<br />

Finanzdienstleister, aber auch<br />

Hilfsorganisationen sein. 15 In den<br />

Überlegungen aller sicherheitspolitischen<br />

Akteure, Methoden, Strategien<br />

<strong>und</strong> Strukturen zu entwickeln, um<br />

Krisenbewältigung durchzuführen<br />

<strong>und</strong> ein hohes Maß an Stabilität zu<br />

erhalten bzw. wiederherzustellen,<br />

stellen die Streitkräfte, neben anderen,<br />

insofern nur eine Komponente<br />

dar. 16 Militärische Stärke kann sich<br />

gegen asymmetrische Bedrohungen<br />

nur mehr im Verb<strong>und</strong> mit anderen<br />

staatlichen <strong>und</strong> internationalen Akteuren<br />

<strong>und</strong> Institutionen wirksam entfalten<br />

17 <strong>und</strong> umfassende militärische<br />

Fähigkeiten sind Teil eines mehrdimensionalen<br />

Ansatzes aus politischen,<br />

wirtschaftlichen, entwicklungspolitischen<br />

<strong>und</strong> sicherheitspolitischen<br />

Instrumenten, um im multilateralen<br />

Zusammenwirken mit Verbündeten<br />

<strong>und</strong> Partnern die regionale<br />

<strong>und</strong> / oder globale Sicherheit zu stärken.<br />

18 Gleichzeitig sind auch inner-<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 11


staatliche Szenarien denkbar, welche<br />

eine enge Zusammenarbeit von<br />

Nachrichtendiensten, diplomatischen<br />

Diensten <strong>und</strong> die Koordination von<br />

Einsatzkräften der Polizeien, Rettungsdienste,<br />

Hilfsorganisationen<br />

<strong>und</strong> der Streitkräfte erfordern. 19 Fraglich<br />

könnte allerdings sein, ob es wirklich<br />

gelingen kann, die volle Komplexität<br />

<strong>und</strong> umfassende Form der Interoperabilität<br />

zwischen allen<br />

Sicherheitskräften sowie zwischen<br />

diesen <strong>und</strong> den zivilen Akteuren zu<br />

erreichen. 20 Die bejahende Ansicht<br />

sieht zwar, dass es bereits beim Zusammenwirken<br />

staatlicher Kräfte wie<br />

Polizei <strong>und</strong> Militär anspruchsvolle<br />

Schnittstellenprobleme gibt. Diese<br />

werden durch das Problem der Multinationalität<br />

<strong>und</strong> die hierdurch bedingten<br />

vielschichtigen <strong>und</strong> mehrdimensionalenInteroperabilitätsprobleme<br />

noch verstärkt.<br />

In diesem neu zu betrachtenden<br />

Feld zivil-militärischer Interaktion ist<br />

weitgehend unstrittig, dass Sicherheit<br />

nicht ohne Entwicklung <strong>und</strong> nachhaltige<br />

Entwicklung nicht ohne Sicherheit<br />

zu haben sind; in der Diskussion<br />

steht aber die Frage im Vordergr<strong>und</strong>,<br />

ob die zivil-militärische Interaktion an<br />

Rollendistanz, Wettbewerb, einer<br />

komplementären Kooperation oder<br />

am Modell einer zivil-militärischen<br />

Fusion im Namen „ganzheitlicher<br />

Politik“ ausgerichtet sein soll. 21<br />

Hilfsorganisationen <strong>und</strong> NGOs, die<br />

ihrerseits eine zutiefst inhomogene<br />

Gruppe mit zum Teil völlig unterschiedlicher<br />

Ausrichtung, Zielsetzung<br />

<strong>und</strong> Anspruch darstellen, umfassend<br />

in einen Einsatz bewaffneter Organisationen<br />

einzubinden, setzt allerdings<br />

voraus, dass diese auch willens <strong>und</strong><br />

in der Lage sind, Teil einer gemeinsamen<br />

Operation zu werden.<br />

Bisher muss man allerdings davon<br />

ausgehen, dass NGOs gerade das<br />

nicht wollen <strong>und</strong> bei objektiver Betrachtung<br />

eine volle Einbindung in<br />

Operationen bewaffneter Organisationen<br />

auch nicht wollen können. Die<br />

Gründe hier<strong>für</strong> sind mehrschichtig:<br />

Zum einen besteht bei einer Vielzahl<br />

der Hilfsorganisationen eine politisch-ideologische<br />

Ablehnung gegen<br />

alles Militärische; die Mitarbeiter<br />

dieser Organisationen sind oft-<br />

mals nicht zuletzt aus diesem Gr<strong>und</strong>e<br />

hier aktiv geworden. Hier besteht<br />

häufig auch ein Anspruch auf „Definitionshoheit“<br />

der Entwicklungspolitik<br />

bzw. humanitärer Organisationen<br />

mit moralischem Alleinvertretungsanspruch.<br />

22<br />

Gleichzeitig ist ein Trend zur „Kommerzialisierung“,<br />

zur Mutation der<br />

non-profit zur partiellen for-profit Organisationen<br />

in Gang gekommen, der<br />

auch durch die zunehmende Einbindung<br />

der humanitären Akteure in die<br />

Programme <strong>und</strong> Projekte nationaler<br />

<strong>und</strong> internationaler staatlicher Geldgeber<br />

verstärkt wird. 23 Mithin stehen<br />

hier auch handfeste finanzielle Interessen<br />

im Raum: Die Ressourcenverteilung<br />

zugunsten des Militärs wird<br />

als nicht problemadäquat in Frage<br />

gestellt <strong>und</strong> sollte zugunsten der humanitären<br />

Hilfe <strong>und</strong> der Entwicklungshilfe<br />

umverteilt werden. 24 Insofern<br />

sehen sich die Hilfsorganisationen<br />

in direkter Konkurrenz um<br />

Ressourcen <strong>und</strong> Einfluss insbesondere<br />

zum Militär, aber auch anderen<br />

bewaffneten Organisationen gegenüber.<br />

Des Weiteren verbieten die Gr<strong>und</strong>sätze<br />

der Überparteilichkeit <strong>und</strong> Unabhängigkeit<br />

(Code of Conduct) den<br />

meisten NGOs eine solche Art der<br />

Zusammenarbeit. Militär <strong>und</strong> Polizei,<br />

Grenzschutz <strong>und</strong> andere dagegen<br />

sind immer im staatlichen Auftrag tätig,<br />

auch wenn dieses hoheitliche<br />

Handeln auf einen kleinsten gemeinsamen<br />

Nenner multinationaler oder<br />

internationaler Interessendurchsetzung<br />

gerichtet ist. Für viele humanitäre<br />

Organisationen hingegen ist es<br />

gerade keine Aufgabe, sich <strong>für</strong> die<br />

Prävention bewaffneter Konflikte,<br />

Friedenssicherung, Demokratisierung<br />

oder den Schutz der Menschenrechte<br />

einzusetzen, da diese zwar<br />

wichtige, aber nicht-humanitäre Ziele<br />

seien, im Sinne der Sorge um Menschen<br />

in Not <strong>und</strong> das Bemühen um<br />

bedingungslose Menschlichkeit. 25<br />

Dieser Ansicht wird kritisch entgegengehalten,<br />

dass bei einer solchen<br />

Betrachtung der sozialen Beziehungen<br />

von Kriegsgesellschaften die<br />

Menschen auf ihren Status als Opfer<br />

reduziert <strong>und</strong> die besonderen Macht<strong>und</strong><br />

Herrschaftsverhältnisse, durch<br />

die Menschen ins Elend gestürzt werden,<br />

dabei fast immer außer Acht gelassen<br />

werden. 26 Gleichzeitig ist auch<br />

hier zu hinterfragen, inwieweit es mit<br />

der tatsächlichen Unabhängigkeit der<br />

Hilfsorganisationen auf der internationalen<br />

Bühne bestellt ist oder ob sie<br />

nicht zum privaten Arm der Entwicklungs-<br />

<strong>und</strong> Außenpolitik ihrer Heimatstaaten<br />

werden, zu bloßen Dienstleistern<br />

<strong>für</strong> Hilfsprogramme, die Hilfe<br />

als Geschäft betreiben. 27 In diesem<br />

Zusammenhang wird auch davon<br />

ausgegangen, dass die Annahme, die<br />

Nichtregierungsorganisationen stellten<br />

von vornherein ein Gegengewicht<br />

zur staatlichen Politik dar,<br />

falsch ist, da sich zunehmend die<br />

Strategie des out-sourcing einzubürgern<br />

scheint <strong>und</strong> damit die Regierungen<br />

die Nichtregierungsorganisationen<br />

mit der Abwicklung ihrer Projekte<br />

beauftragen, womit sich die Politik<br />

Instrumente zur Steuerung <strong>und</strong> Kontrolle<br />

der in diesen Sektoren tätigen<br />

Akteure verschafft hat. 28 Darüber hinaus<br />

müssen die „Helfer“ auch realisieren,<br />

dass sie durch ihre Hilfsmaßnahmen,<br />

z. B. die Bereitstellung materieller<br />

Hilfe, aber auch durch die<br />

daraus abgeleiteten Einkommen <strong>und</strong><br />

Transportentgelte, selbst wirtschaftliche<br />

Akteure im Konflikt sind. 29 Während<br />

jegliche Form humanitärer<br />

Hilfe mit dem Prinzip der Humanität<br />

vereinbar ist, ergibt sich <strong>für</strong> die nichtstaatlichen<br />

Akteure das Dilemma,<br />

welchen Prinzipien humanitären Handelns<br />

sie Priorität einräumen <strong>und</strong><br />

welchen nicht: Unparteilichkeit, Unabhängigkeit<br />

<strong>und</strong> Neutralität. 30<br />

Eine Unterscheidung zwischen den<br />

Zielsetzungen der Regierungen bzw.<br />

Militärs der intervenierenden Staaten<br />

<strong>und</strong> den NGOs wird erschwert, wenn<br />

diese direkt oder indirekt in die Vorbereitung,<br />

Durchführung oder Nachbereitung<br />

von bewaffneten Interventionen<br />

einbezogen sind. 31 Nicht<br />

zuletzt ist es <strong>für</strong> die NGOs aus berechtigten<br />

Gründen der eigenen Sicherheit<br />

nicht geboten, zu viel Nähe<br />

zu bewaffneten Organisationen zu<br />

zeigen, um nicht mit diesem identifiziert<br />

zu werden. Eine solche Gleichsetzung<br />

könnte die Grenzen zwischen<br />

humanitärer Hilfe <strong>und</strong> bewaffneter<br />

Aktion auch in den Augen Dritter ver-<br />

12 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


schwimmen oder gar aufheben lassen<br />

– mit der Folge, dass Hilfsorganisationen<br />

damit auch mögliches Ziel<br />

werden können. Insofern ist hier der<br />

„Faktor Mensch“ der limitierende Faktor<br />

in einem Prozess, in dem es bisher<br />

im Schwerpunkt um die Transformation<br />

militärischer Fähigkeiten ging. 32<br />

Eine enge Kooperation der Akteure<br />

birgt aus entwicklungspolitischer<br />

Sicht vor allem das erhebliche Risiko,<br />

kurzfristigen militärischen Strategien<br />

untergeordnet zu werden. 33 <strong>Der</strong><br />

Einsatz von bewaffneten Kräften (z.B.<br />

die Provincial Reconstruction Teams,<br />

PRT, in Afghanistan) mit der Begründung,<br />

Hilfsorganisationen müssten<br />

geschützt werden, wird von Vertretern<br />

von Hilfsorganisationen als „gefährlicheWahrnehmungsverschiebung“<br />

angesehen; vielmehr sei es so,<br />

dass humanitäre Organisationen als<br />

Teil der westlichen politischen Strategie<br />

dargestellt <strong>und</strong> als Teil der westlichen<br />

Intervention (so z. B. im Irak)<br />

wahrgenommen werden. 34 Dabei<br />

werden von einer Gegenmeinung die<br />

PRT als Präzedenzfall <strong>für</strong> die organisatorisch-politische<br />

Integration ziviler<br />

<strong>und</strong> militärischer Tätigkeiten im<br />

Rahmen einer gesamtstaatlichen Interventionsstrategie<br />

angesehen. 35<br />

Allerdings ist auch in dieser Frage<br />

zwischen den Hilfsorganisationen ein<br />

Streit entbrannt, bei dem sich die Vertreter<br />

der Linie des „Klassischen Humanitarismus“<br />

darauf beschränken<br />

wollen, dass die humanitären Schutz<strong>und</strong><br />

Hilfeleistungsmaßnahmen im<br />

politisch neutralen <strong>und</strong> unabhängigen<br />

Umfeld geleistet werden; bei den<br />

Vertretern des „Neuen Humanitarismus“<br />

wird humanitäre Akuthilfe<br />

ebenso geleistet wie Wiederaufbau<strong>und</strong><br />

Entwicklungshilfe, wobei – anders<br />

als beim klassischen Ansatz –<br />

keine Berührungsängste zwischen<br />

humanitären, politischen sowie militärischen<br />

Akteuren besteht. 36<br />

Zusammenfassend lässt sich feststellen,<br />

dass die Einbindung nichtmilitärischer<br />

Akteure aus verschiedenen<br />

Disziplinen die Bestrebungen zur Zielerreichung<br />

gewinnbringend katalysieren<br />

<strong>und</strong> unterstützen könnte, oftmals<br />

sogar eine bessere Alternative<br />

zur Anwendung militärischer Gewalt<br />

darstellen könnte. Allerdings ist die<br />

totale Einbindung von Hilfsorganisationen<br />

in den Interagency-Prozess im<br />

Sinne einer Unterstellung oder Einbindung<br />

mit der Absicht, diese zu „koordinieren“<br />

auf Gr<strong>und</strong> der vorgetragenen<br />

Argumente nicht möglich <strong>und</strong><br />

auch gar nicht gewollt. Im Gegenteil:<br />

Ein solcher Ansatz könnte sich kontraproduktiv<br />

auswirken. Es kommt<br />

also darauf an, durch eine Sinn- <strong>und</strong><br />

Zielvermittlung die Hilfsorganisationen<br />

in einer strategischen Abstimmung<br />

zu einem ergänzenden, kohärenten<br />

Handeln auf der operativen<br />

Ebene zu bewegen. Dies erscheint<br />

dann vorstellbar, wenn zweifelsfrei<br />

bleibt, dass unabhängige Organisationen<br />

eigenständige <strong>und</strong> selbstverantwortliche<br />

Entscheidungen <strong>und</strong> auf<br />

eigenem Urteil basierend darüber<br />

befinden, wie sie mit anderen Organisationen<br />

interagieren wollen: Unterstützend,<br />

neutral oder störend. 37<br />

Es wird also darauf ankommen<br />

herauszufinden, wie eine günstige<br />

Interaktionsstruktur geschaffen werden<br />

kann, aus welcher alle interagierenden<br />

Organisationen gegenseitigen<br />

Vorteil ziehen können. 38<br />

In ihrer auf die Zukunft gerichteten<br />

Aufstellung sind die humanitären<br />

Organisationen gefordert, den geänderten<br />

Rahmenbedingungen ihres<br />

Handelns nachhaltig Rechnung zu<br />

tragen: Zum einen ist die Frage zu<br />

beantworten, ob, wie <strong>und</strong> wie weit<br />

sie bereit sind, im humanitären Raum<br />

mit anderen zu interagieren; zum anderen<br />

müssen sie <strong>für</strong> sich die Frage<br />

beantworten, wie sie die Sicherheit<br />

der humanitären Organisation, ihrer<br />

Angehörigen <strong>und</strong> Schutzbefohlenen<br />

in der humanitären Mission gewährleisten<br />

wollen. Beide Fragen bzw.<br />

die sich hieraus ergebenen Antworten<br />

stehen miteinander in einer engen<br />

Wechselwirkungsbeziehung.<br />

Aus ihnen ergeben sich zwingend<br />

direkte Auswirkungen auf das Selbstverständnis<br />

der Organisation, aber<br />

auch insbesondere personelle, organisatorische<br />

<strong>und</strong> technisch-materielle<br />

Konsequenzen:<br />

Die humanitären Akteure müssen<br />

sich tiefgründig mit Risiko- <strong>und</strong> Bedrohungsanalysen<br />

befassen <strong>und</strong> beurteilen,<br />

welche Wirkungen ihre Anwesenheit<br />

<strong>und</strong> ihr Tätigwerden im<br />

Raum auslösen <strong>und</strong> bewirken. Die<br />

Gefahren von Anschlägen, Entführungen<br />

<strong>und</strong> Geiselnahmen sind in diese<br />

Überlegungen einzubeziehen <strong>und</strong><br />

bedürfen Strategien <strong>für</strong> deren Bewältigung.<br />

Ebenso sind Rückzugs- <strong>und</strong><br />

Evakuierungsstrategien zu entwerfen<br />

<strong>und</strong> zu implementieren <strong>und</strong> die hier<strong>für</strong><br />

notwendigen Ressourcen an Personal,<br />

Information <strong>und</strong> Material<br />

bereitzustellen, <strong>und</strong> ggf. kompetente<br />

Sicherheitspartnerschaften zu installieren<br />

<strong>und</strong> zu pflegen.<br />

Bei einer ernsthaften Umsetzung<br />

dieser Fragen müssen sich humanitäre<br />

Organisationen ein Krisen- <strong>und</strong><br />

Sicherheitsmanagement zulegen, das<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage einer entsprechenden<br />

„Policy-Guideline“ Richtlinien<br />

<strong>und</strong> Verhaltensweisen <strong>für</strong> alle sicherheitsrelevanten<br />

Situationen im Feld<br />

verbindlich vorgibt. Dabei ist zu berücksichtigen,<br />

dass derartige Vorgaben<br />

wiederum Auswirkungen <strong>und</strong><br />

Interdependenzen auf die Sicherheit<br />

haben. So ist z. B. das Bereitstellen<br />

einer persönlichen Splitterschutzausrüstung<br />

(Dresscode, Helm, Weste)<br />

eine Frage, die auf dieser Ebene zu<br />

beantworten ist <strong>und</strong> kann nicht auf<br />

der operativ-taktischen Ebene beantwortet<br />

werden, da ein derartiges Auftreten<br />

möglicherweise Einfluss auf<br />

das Ansehen der Organisation <strong>und</strong><br />

ggf. damit auch auf deren Akzeptanz<br />

hat. Dagegen ist die Entscheidung,<br />

ob bzw. wann eine entsprechende<br />

Ausrüstung angelegt werden soll<br />

oder gar muss, eine Entscheidung<br />

der operativen Ebene vor Ort, die sich<br />

aus der Lage ebendort ergibt. Somit<br />

wird deutlich, dass das Krisen- <strong>und</strong><br />

Sicherheitsmanagement mehrstufig<br />

<strong>und</strong> mit abgestuften Verantwortlichkeiten<br />

aufgebaut werden muss.<br />

Fußnoten<br />

1 Dieter Nohlen, Globalisierung, in:<br />

Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze<br />

(Hrsg.), Lexikon der Politikwissenschaft,<br />

Bd. 1, A-M, 2. Aufl. 2004,<br />

S. 301 ff.<br />

2 Norbert Gottschalk, Neue strategische<br />

Trends – Herausforderungen<br />

<strong>für</strong> Strategie <strong>und</strong> Militärstrategie,<br />

Lehrgangsarbeit an der Führungsa-<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 13


kademie der B<strong>und</strong>eswehr Hamburg<br />

1998, S. 22; vgl. John L. Clarke, <strong>Der</strong><br />

Konflikt im Wandel der Zeit. Herausforderungen<br />

der sich wandelnden<br />

Kriegführung, in: ÖMZ 1997, S. 115 ff.<br />

3 Dirk Freudenberg, Terrorismus,<br />

Gr<strong>und</strong>sätzliche Überlegungen zu einem<br />

komplexen Phänomen, Teil 1:<br />

Was ist Krieg heute?, in: Notfallvorsorge<br />

2003, Heft 3, S. 20-22<br />

4 John L. Clarke, <strong>Der</strong> Konflikt im<br />

Wandel der Zeit, Herausforderungen<br />

der sich wandelnden Kriegsführung,<br />

in: ÖMZ 1997, S. 115 ff.<br />

5 Klaus Naumann, Rolle <strong>und</strong> Aufgaben<br />

der NATO in der Zukunft, Manfred<br />

Wörner-Rede, veranstaltet vom<br />

Fre<strong>und</strong>eskreis der B<strong>und</strong>esakademie<br />

<strong>für</strong> Sicherheitspolitik am 20.03.1999<br />

in Bonn, in: Internet vom 18.05.1999,<br />

http://www.baks.com/60HotSpot.<br />

html, S. 3.; vgl. Lutz Krake, das<br />

Schutzkonzept – Antworten auf neue<br />

Bedrohungen bei Friedensmissionen,<br />

in: Wehrtechnischer Report 2000,<br />

Heft 11, S. 18 ff.<br />

6 Lutz Krake, das Schutzkonzept –<br />

Antworten auf neue Bedrohungen bei<br />

Friedensmissionen, in: Wehrtechnischer<br />

Report 2000, Heft 11, S. 18 ff.<br />

7 Frank Schirrmacher, Was gedacht<br />

werden kann, wird auch gemacht<br />

werden, in: FAZ vom 13.<strong>11.</strong><br />

<strong>2001</strong>, S. 51<br />

8 Dirk Freudenberg, Terrorismus,<br />

Gr<strong>und</strong>sätzliche Überlegungen zu einem<br />

komplexen Phänomen, Teil 1:<br />

Was ist Krieg heute?, in: Notfallvorsorge<br />

2003, Heft 3, S. 20 ff.; vgl. Dirk<br />

Freudenberg, Terrorismus <strong>und</strong> Zivilschutz,<br />

in: Informationsdienst Terrorismus<br />

2004, Heft 3, S. VII<br />

9 Dirk Freudenberg, Terrorismus<br />

<strong>und</strong> Zivilschutz, in: Informationsdienst<br />

Terrorismus 2004, Heft 3, S. VII<br />

10 Martin Neujahr, Vernetzte Operationsführung<br />

<strong>und</strong> das neue operative<br />

Umfeld: Gesteigerte Einsatzwirksamkeit<br />

durch verbesserte Führungsfähigkeit,<br />

in: Heiko Borchert (Hrsg.),<br />

Vernetzte Sicherheit. Leitidee der Sicherheit<br />

im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert, S. 38 ff.<br />

11 Wolf Dieter Eberwein, Humanitäre<br />

Hilfe – Krieg <strong>und</strong> Terror. Kontinuität<br />

des Politikfeldes der humanitären<br />

Hilfe, Berlin 2004, S. 1<br />

12 Tomas Debiel, Konfliktbearbeitung<br />

in Zeiten des Staatszerfalls, in:<br />

Ursula Blanke (Hrsg.), Krisen <strong>und</strong> Konflikte.<br />

Von der Prävention zur Friedenskonsolidierung,<br />

Berlin 2004, S. 21 ff<br />

13 Manfred Engelhardt, Militärische<br />

Instrumente der Konfliktbearbeitung,<br />

in: Ursula Blanke (Hrsg.), Krisen<br />

<strong>und</strong> Konflikte. Von der Prävention<br />

zur Friedenskonsolidierung, Berlin<br />

2004, S. 91 ff<br />

14 Heiko Borchert, Reinhardt Rummel,<br />

Von segmentierter zu vernetzter<br />

Sicherheit in der EU der 25, in:<br />

ÖMZ 2004, Heft 3, S. 259 ff.<br />

15 Hans Reimer, Dirk Freudenberg,<br />

Multinationale Interagency Groups –<br />

Unterstützung der Sicherheitsvorsorge<br />

im gesamtstaatlichen Ansatz.<br />

Zu Hintergr<strong>und</strong>, Sachstand <strong>und</strong> Perspektiven<br />

im Themenfeld „Interagency<br />

Interaction“, Internet vom 04.<strong>11.</strong><br />

2004, www.baks.com/transformation/mi.doc<br />

16 Peter Vorhofer, Civil-Military Cooperation.<br />

Zur Evolution einer neuen<br />

Aufgabe in der Krisenbewältigung, in:<br />

ÖMZ 2003, Heft 6, S. 753<br />

17 Bernhard Lauring, Network-Centric-Warfare.<br />

Die Supermacht Amerika<br />

hebt endgültig ab, in: ÖMZ 2003,<br />

Heft 6, S. 760 ff.; 761<br />

18 Manfred Engelhardt, Militärische<br />

Instrumente der Konfliktbearbeitung,<br />

in: Ursula Blanke (Hrsg.), Krisen<br />

<strong>und</strong> Konflikte. Von der Prävention<br />

zur Friedenskonsolidierung, Berlin<br />

2004, S. 91 ff<br />

19 vgl. Helmut Habermayer, Network-Centric<br />

Warfare – <strong>Der</strong> Ansatz<br />

eines Kleinstaates, in: ÖMZ 2004, Heft<br />

3, S. 269 ff.<br />

20 vgl. Heiko Borchert, Reinhardt<br />

Rummel, Von segmentierter zu vernetzter<br />

Sicherheit in der EU der 25,<br />

in: ÖMZ 2004, Heft 3, S. 259 ff.<br />

21 vgl. Andreas Heinemann-Grüder,<br />

Tobias Pietz, Zivil-militärische Intervention<br />

– Militärs als Entwicklungshelfer,<br />

in: Christoph Weller, Ulrich<br />

Ratsch, Rheinhard Mutz, Bruno<br />

Schoch, Corinna Hauswedell (Hrsg.),<br />

Friedensgutachten 2004, Münster<br />

2004, S. 200 ff.<br />

22 vgl. Andreas Heinemann-Grüder,<br />

Tobias Pietz, Zivil-militärische In-<br />

tervention – Militärs als Entwicklungshelfer,<br />

in: Christoph Weller, Ulrich<br />

Ratsch, Rheinhard Mutz, Bruno<br />

Schoch, Corinna Hauswedell (Hrsg.),<br />

Friedensgutachten 2004, Münster<br />

2004, S. 200 ff.<br />

23 Wolf Dieter Eberwein, Humanitäre<br />

Hilfe – Krieg <strong>und</strong> Terror. Kontinuität<br />

des Politikfeldes der humanitären<br />

Hilfe, Berlin 2004, S. 33 f.<br />

24 vgl. Michael Brzoska, Human<br />

Security – mehr als ein Schlagwort?,<br />

in: Christoph Weller, Ulrich Ratsch,<br />

Rheinhard Mutz, Bruno Schoch, Corinna<br />

Hauswedell (Hrsg.), Friedensgutachten<br />

2004, Münster 2004, S. 156 ff.<br />

25 vgl. Ulrike von Pilar, Konfliktprävention<br />

– (k)eine Aufgabe <strong>für</strong> humanitäre<br />

Organisationen?, in: Ursula<br />

Blanke (Hrsg.), Krisen <strong>und</strong> Konflikte.<br />

Von der Prävention zur Friedenskonsolidierung,<br />

Berlin 2004, S. 203 ff<br />

26 Thomas Gebauer, Zwischen Befriedung<br />

<strong>und</strong> Eskalation. Zur Rolle der<br />

Hilfsorganisationen in Bürgerkriegsökonomien,<br />

in: Werner Ruf (Hrsg.),<br />

Politische Ökonomie der Gewalt.<br />

Staatszerfall <strong>und</strong> die Privatisierung<br />

von Gewalt <strong>und</strong> Krieg, S. 281 ff.<br />

27 Bernd Ludermann, Privater Arm<br />

der Geberstaaten? Widersprüchliche<br />

Funktionen von NGOs in der Not- <strong>und</strong><br />

Entwicklungshilfe, in: Tanja Brühl,<br />

Thomas Debiel, Brigitte Hamm, Hartwig<br />

Hummel, Jens Martens (Hrsg.),<br />

Die Privatisierung der Weltpolitik.<br />

Entstaatlichung <strong>und</strong> Kommerzialisierung<br />

im Globalisierungsprozess,<br />

S. 174 ff<br />

28 Wolf Dieter Eberwein, Humanitäre<br />

Hilfe – Krieg <strong>und</strong> Terror. Kontinuität<br />

des Politikfeldes der humanitären<br />

Hilfe, Berlin 2004, S. 36<br />

29 Francois Jean, Jean-Christophe<br />

Rufin (Hrsg.), Ökonomie der Bürgerkriege,<br />

Vorwort, in: Francois Jean, Jean-<br />

Christophe Rufin, Ökonomie der Bürgerkriege,<br />

Hamburg 1999, S. 7 ff.<br />

30 Wolf Dieter Eberwein, Humanitäre<br />

Hilfe – Krieg <strong>und</strong> Terror. Kontinuität<br />

des Politikfeldes der humanitären<br />

Hilfe, Berlin 2004, S. 2<br />

31 Andreas Heinemann-Grüder,<br />

Tobias Pietz, Zivil-militärische Intervention<br />

– Militärs als Entwicklungshelfer,<br />

in: Christoph Weller, Ulrich<br />

14 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


Ratsch, Rheinhard Mutz, Bruno<br />

Schoch, Corinna Hauswedell (Hrsg.),<br />

Friedensgutachten 2004, Münster<br />

2004, S. 200 ff.<br />

32 Hans Reimer, Dirk Freudenberg,<br />

Multinationale Interagency Groups –<br />

Unterstützung der Sicherheitsvorsorge<br />

im gesamtstaatlichen Ansatz. Zu<br />

Hintergr<strong>und</strong>, Sachstand <strong>und</strong> Perspektiven<br />

im Themenfeld „Interagency<br />

Interaction“, Internet vom 04.<strong>11.</strong>2004,<br />

www.baks.com/transformation/mi.doc<br />

33 Stephan Klingebiel, Katja Roeder,<br />

Das entwicklungspolitisch-miltärische<br />

Verhältnis: <strong>Der</strong> Beginn einer<br />

neuen Allianz?, in: Deutsches Institut<br />

<strong>für</strong> Entwicklungspolitik (DIE), Analysen<br />

<strong>und</strong> Studien 2004, Heft 1, S. 2<br />

34 vgl. Ulrike von Pilar, Konfliktprävention<br />

– (k)eine Aufgabe <strong>für</strong> humanitäre<br />

Organisationen?, in: Ursula Blanke<br />

(Hrsg.), Krisen <strong>und</strong> Konflikte. Von der<br />

Prävention zur Friedenskonsolidierung,<br />

Berlin 2004, S. 203 ff.<br />

35 Andreas Heinemann-Grüder,<br />

Tobias Pietz, Zivil-militärische Intervention<br />

– Militärs als Entwicklungshelfer,<br />

in: Christoph Weller, Ulrich<br />

Ratsch, Rheinhard Mutz, Bruno<br />

Schoch, Corinna Hauswedell (Hrsg.),<br />

Friedensgutachten 2004, Münster<br />

2004, S. 200 ff.<br />

36 Michael Schorr, <strong>Der</strong> Wandel der<br />

humanitären Aktion internationaler<br />

Organisationen. Die institutionellen<br />

sowie materiell-rechtlichen Konsequenzen<br />

dargestellt am Beispiel des<br />

IKRK, UNHCR <strong>und</strong> UNHCHR, Hamburg<br />

2004, S. 154<br />

37 Hans Reimer, Dirk Freudenberg,<br />

Multinationale Interagency Groups –<br />

Unterstützung der Sicherheitsvorsorge<br />

im gesamtstaatlichen Ansatz. Zu<br />

Hintergr<strong>und</strong>, Sachstand <strong>und</strong> Perspektiven<br />

im Themenfeld „Interagency<br />

Interaction“, Internet vom 04.<strong>11.</strong>2004,<br />

www.baks.com/transformation/mi.doc<br />

38 Hans Reimer, Dirk Freudenberg,<br />

Multinationale Interagency Groups –<br />

Unterstützung der Sicherheitsvorsorge<br />

im gesamtstaatlichen Ansatz.<br />

Zu Hintergr<strong>und</strong>, Sachstand <strong>und</strong> Perspektiven<br />

im Themenfeld „Interagency<br />

Interaction“, Internet vom 04.<strong>11.</strong><br />

2004, www.baks.com/transformation/mi.doc<br />

Zivilschutzforschungs-<br />

projekt<br />

Reduzierung von Gefahrenbereichen<br />

bei Entschärfungen <strong>und</strong> Sprengungen<br />

von Kampfmitteln wie Bomben <strong>und</strong> Granaten<br />

Manfred Schubert, Angestellter im höheren feuerwehrtechnischen Dienst<br />

im Leitungsstab der Berufsfeuerwehr Hamburg; er hat die zivile Sprengberechtigung,<br />

ist ausgebildeter B<strong>und</strong>eswehrfeuerwerker <strong>und</strong> war als Fachlehrer<br />

<strong>für</strong> Munitionstechnik <strong>und</strong> Kampfmittelbeseitigung an der Technischen<br />

Fachschule der B<strong>und</strong>eswehr in Aachen tätig. Nach seiner Dienstzeit als Soldat<br />

war er 26 Jahre als Sprengmeister beim Kampfmittelräumdienst der<br />

Freien <strong>und</strong> Hansestadt Hamburg, davon 16 Jahre als Leiter des Kampfmittelräumdienstes<br />

<strong>und</strong> von 1999 <strong>für</strong> fünf Jahre als Leiter des Leistungszentrums<br />

„Kampfmittelräumung <strong>und</strong> Umweltschutz” bei der Feuerwehr Hamburg<br />

tätig.<br />

Kampfmittelf<strong>und</strong>e (konventionelle<br />

Munition <strong>und</strong> USBV) stören die Öffentliche<br />

Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung in<br />

dicht bebauten Wohngebieten <strong>und</strong><br />

hochempfindlichen Industrie- <strong>und</strong><br />

Verkehrsanlagen über viele St<strong>und</strong>en<br />

in erheblichem Maße. Wegen des<br />

akuten Gefahrenzustandes der Kampfmittel<br />

(Zeitzünder, Funkzünder, chemische<br />

Instabilität etc.) sowie bei<br />

Maßnahmen der aktiven Gefahrenabwehr<br />

(Entschärfungen, Sprengungen,<br />

Sicherungsarbeiten zum Abtransport)<br />

sind großräumige Evakuierungen<br />

<strong>und</strong> Absperrungen erforderlich, weil<br />

immer die Gefahr einer Detonation<br />

besteht; sie binden über einen langen<br />

Zeitraum eine große Anzahl an<br />

Einsatz- <strong>und</strong> Hilfskräften. Diese Lagen<br />

sind <strong>für</strong> die Kommunen kostenintensiv<br />

<strong>und</strong> bedeuten <strong>für</strong> die gewerbliche<br />

Wirtschaft Produktionsausfälle,<br />

teilweise in Millionenhöhe. Die<br />

in der Regel <strong>für</strong> die Gefahrenabwehr<br />

zuständigen örtlichen Ordnungsbehörden<br />

bedienen sich wegen der fehlenden<br />

speziellen fachlichen Kompetenz<br />

der Dienstleistung des Kampfmittelräumdienstes<br />

oder der Sprengtrupps<br />

der Polizeien des jeweiligen<br />

B<strong>und</strong>eslandes, um die Gefahr endgültig<br />

zu beseitigen.<br />

1. „Kampfmittelbeseitigung”<br />

Unter dem Begriff „Kampfmittel”<br />

versteht man nicht nur Munition militärischer<br />

Herkunft, sondern auch die<br />

so genannten USB „Unkonventionelle<br />

Spreng- <strong>und</strong> Brandvorrichtungen”,<br />

also Gegenstände mit Brand- oder<br />

Explosivstoffen, die in terroristischer<br />

oder in verbrecherischer Absicht außerhalb<br />

des Militärs hergestellt <strong>und</strong><br />

eingesetzt werden.<br />

Die Explosion (Detonation) eines<br />

Kampfmittels ist mit der Freisetzung<br />

gewaltiger Energiemengen, Hitze,<br />

Splitterflug bis zu einer Entfernung<br />

von 2.000 Metern sowie mit Luft- <strong>und</strong><br />

Bodendruckwellen verb<strong>und</strong>en. Bei<br />

der Entschärfung/Sprengung werden<br />

von der „verantwortlichen Person“<br />

(Sprengmeister der Kampfmittelräumdienste/Polizeien)<br />

Sperrzonen<br />

(totale Evakuierung, Abschaltung von<br />

Versorgungsleitungen, Schutz besonderer<br />

Objekte) <strong>und</strong> Warnzonen (teilweise<br />

Evakuierung, luftschutzmäßiges<br />

Verhalten) angeordnet. Diese variieren<br />

je nach Größe des Kampfmittels.<br />

B<strong>und</strong>eseinheitliche Regelungen<br />

bzw. Regelwerke hinsichtlich der Darstellung<br />

der Wirkung <strong>und</strong> die daraus<br />

abzuleitenden Gefahren inklusive der<br />

Notfallvorsorge 4/2005<br />

www.walhalla.de/notfallvorsorge 15


Foto: Schubert<br />

Zivilschutzforsch<br />

oberirdischen Gefahrenbereiche bei<br />

Entschärfungen/Sprengungen existieren<br />

praktisch nicht. Die <strong>für</strong> die Gefahrenabwehr<br />

zuständigen Ordnungsbehörden<br />

müssen auf das Eintreffen<br />

der Fachdienststellen warten <strong>und</strong> sich<br />

in der Regel auf die Empfehlungen<br />

der Sprengmeister verlassen; diese<br />

legen aufgr<strong>und</strong> der örtlichen Gegebenheiten<br />

<strong>und</strong> unter Berücksichtigung<br />

der Munitionsart die notwendigen<br />

Sicherheitsmaßnahmen fest.<br />

Die heutige Generation der „verantwortlichen<br />

Personen” (Sprengmeister)<br />

ist überwiegend bei der B<strong>und</strong>eswehr<br />

oder im Rahmen einer Spezialausbildung<br />

bei der Polizei ausgebildet<br />

worden. Es werden daher in<br />

der Regel die Sicherheitsbestimmungen<br />

der B<strong>und</strong>eswehr angewendet,<br />

die aber an den Aufgaben der Schießplätze<br />

ausgerichtet sind. Diese<br />

Schießplätze liegen fern von Wohngebieten<br />

im freien, <strong>für</strong> Personen abgesperrten<br />

Gelände <strong>und</strong> lassen daher<br />

große Evakuierungsradien zu. Die<br />

wichtigste Verpflichtung der Feuerwerker<br />

auf den Schießplätzen besteht<br />

darin, nie den Lageort des Blindgängers<br />

zu verändern <strong>und</strong> diesen dann<br />

an Ort <strong>und</strong> Stelle berührungsfrei zu<br />

sprengen.<br />

Diese Vorschriften können bei der<br />

Gefahrenabwehr nicht als bindend<br />

angesehen werden, da in der Mehrzahl<br />

der Fälle die Kampfmittel vor der<br />

Entsorgung (Sprengung) zu transpor-<br />

Wirkung von 125 kg TNT auf eine<br />

Hauswand, Hamburg, <strong>September</strong> 1957<br />

tieren sind <strong>und</strong> deshalb entzündert<br />

werden müssen. Ist aus technischen<br />

Gründen eine Entschärfung (Entzünderung)<br />

nicht möglich, so muss das<br />

Kampfmittel an Ort <strong>und</strong> Stelle gesprengt<br />

werden.<br />

Eine Länderumfrage ergab, dass<br />

die jeweils angewandten Gefahrenbereiche<br />

bei gleichem Kampfmittel in<br />

den B<strong>und</strong>esländern nicht einheitlich<br />

sind <strong>und</strong> stark variieren. Ein Vergleich<br />

zu einigen NATO-Ländern ergab zudem,<br />

dass diese weitaus geringere<br />

Gefahrenbereiche bei Entschärfungen/Sprengungen<br />

anwenden.<br />

Auch halten die in Deutschland<br />

angewandten Sicherheitsbestimmungen<br />

einem internationalen Vergleich<br />

nicht stand, da diese in der Regel zu<br />

groß bemessen sind.<br />

Ferner besteht rechtliche Unsicherheit<br />

in der Risikobewertung <strong>und</strong> in<br />

der Risikoakzeptanz, die in vielen Fällen<br />

zu einem „Sicherheitszuschlag”<br />

in der Bemessung der Gefahrenbereiche<br />

führt.<br />

2. Forschungsbedarf<br />

In der zivilen Sprengtechnik wurden<br />

in den vergangenen Jahren neue<br />

Verfahren entwickelt, um die bei einer<br />

Sprengung auftretende Splitter-,<br />

Schleuder- <strong>und</strong> Luftdruckwirkung<br />

sowie die entstehende Hitze zu minimieren.<br />

Als Synergieeffekt war eine<br />

Verringerung des Gefahrenbereichs<br />

zu verzeichnen. Aufgr<strong>und</strong> der Erkenntnisse<br />

eines Sprengversuches mit einer<br />

500 lb. Fliegerbombe (mit einer<br />

„Sandpyramide”) in Hamburg im Mai<br />

<strong>2001</strong> sowie Erfahrungsaustausch mit<br />

Experten aus England, Südafrika <strong>und</strong><br />

den USA ist erkennbar, dass Splitter<br />

vom Munitionskörper durch ein Medium<br />

in unmittelbarer Nähe des<br />

Spreng-/Entschärfungsortes (Sand,<br />

Wasser, Schaum) aufgefangen werden<br />

können <strong>und</strong> danach durch die<br />

Detonationswelle in einen nur nahen<br />

Bereich geschleudert werden. Ferner<br />

ist erfahrungsgemäß davon auszugehen,<br />

dass durch die Präsenz eines<br />

Mediums die Einwirkung von Luftdruckwellen<br />

<strong>und</strong> Hitze auf Menschen<br />

<strong>und</strong> Materialien in der näheren Umgebung<br />

des Spreng-/Entschärfungsortes<br />

erheblich gemindert wird.<br />

Empirische Gewinnung von Daten<br />

Hier<strong>für</strong> müssen gesicherte Daten<br />

durch experimentelles Sprengen im<br />

Nahbereich von verschiedenen Kampfmitteln<br />

(z. B. Granaten, Bomben) gewonnen<br />

werden:<br />

Splitterdichte, -größe <strong>und</strong> -gewicht<br />

ballistisches Verhalten der Splitter<br />

(Anfangsgeschwindigkeit, Querschnittsbelastung)<br />

Endballistik der Splitter bei bestimmten<br />

Rückhaltesystemen<br />

(-medien)<br />

Prüfung von vorhandenen <strong>und</strong> neuen<br />

Medien, die geeignet sind,<br />

Sprengstücke <strong>und</strong> Splitter am Entschärfungs-/Sprengortaufzufangen<br />

Bestimmung der Sek<strong>und</strong>ärwurfweite<br />

(der zurückgehaltenen Splitter<br />

<strong>und</strong> des Rückhaltemediums)<br />

durch den Detonationsdruck des<br />

Kampfmittels<br />

Daten über die zu erwartende Reduzierung<br />

der Luftdruckwellen <strong>und</strong><br />

Hitze bei bestimmten Medien<br />

(Schaum/Wasser/Sprengstoffmatten<br />

etc.)<br />

Implementierung<br />

Mathematische Aufbereitung der<br />

Daten (Splitterballistik, Durchdring<strong>und</strong><br />

Abbremsverhalten der beprobten<br />

Medien, zu erwartende<br />

Schäden an Bauten etc.); rechnerische<br />

Zuordnung der Daten zu bestimmten<br />

Kampfmittelarten oder<br />

anderen Kriterien<br />

mögliche Implementierung obiger<br />

Forschungsergebnisse in bereits<br />

vorhandene (militärische) PC-Anwendungen<br />

(z. B. Ausbreitungsmodelle<br />

von Explosionen, Schutzbereiche<br />

bei der Lagerung von Munition)<br />

oder Entwicklung eines neuen<br />

Computerprogramms, Bewertung<br />

der Sprengexperimente aus w<strong>und</strong>ballistischer<br />

Sicht<br />

Operationalisierung<br />

Entwicklung <strong>und</strong> Erprobung von<br />

praxisnahen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />

Verfahren zur Platzierung der Rückhaltesysteme<br />

am Einsatzort einschließlich<br />

geeigneter Behältnisse<br />

Überprüfung der Empfehlungen<br />

anhand von Sprengversuchen mit<br />

F<strong>und</strong>munition verschiedener Arten<br />

<strong>und</strong> Größen<br />

16 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


ngsprojekt<br />

Erarbeitung von Empfehlungen<br />

(Anweisungen) bei Kampfmittelf<strong>und</strong>en;<br />

Wahl des geeigneten<br />

Rückhaltesystems unter Einbeziehung<br />

des notwendigen Sicherheitsbereiches<br />

beim Einsatz o.g.<br />

Verfahren <strong>und</strong> Medien bzw. bei<br />

Verzicht auf deren Einsatz <strong>und</strong><br />

Diskussion der Sprengergebnisse<br />

hinsichtlich der Schutzziele (incl.<br />

Gefährdungsakzeptanz)<br />

3. Projektverlauf<br />

Das Forschungsprojekt wurde dem<br />

BBK am <strong>11.</strong>03.2002 durch den AK V<br />

vorgeschlagen. Die B<strong>und</strong>esländer<br />

haben dieses Projekt in einem Zustimmungsverfahren<br />

überwiegend<br />

be<strong>für</strong>wortet. Eine „Arbeitsgruppe der<br />

EU-Kommission des DFV/vfdb” hat<br />

sich Mitte 2004 intensiv mit der Umsetzbarkeit<br />

des Vorhabens befasst.<br />

Sie hat dabei auch festgestellt, dass<br />

dieses Projekt nur im Zusammenwirken<br />

von traditionellen, zivilen <strong>und</strong><br />

wehrtechnischen Forschungsfeldern<br />

verwirklicht werden kann.<br />

Als Ergebnis wurde dem BBK vorgeschlagen,<br />

die Wehrtechnische<br />

Dienststelle <strong>für</strong> Waffen <strong>und</strong> Munition<br />

(WTD 91) in Meppen als kompetente<br />

Institution in Deutschland mit der<br />

Durchführung des ersten Teilprojektes<br />

(empirische Gewinnung von ballistischen<br />

Daten) zu beauftragen. Einem<br />

Amtshilfeersuchen des BBK<br />

wurde inzwischen durch die WTD 91<br />

entsprochen. Im November 2005 traf<br />

sich die „Arbeitsgruppe der EU-Kommission<br />

des DFV/vfdb” mit Vertretern<br />

der WTD 91 <strong>und</strong> des BBK in Meppen<br />

<strong>und</strong> legte dabei die qualitativen <strong>und</strong><br />

monetären Inhalte der Sprengexperimente<br />

fest. Diese sind inzwischen<br />

dem BBK zur endgültigen Entscheidung<br />

vorgelegt.<br />

Für bestimmte Aufgaben (Bewertungen)<br />

der munitionstechnischen Sicherheit<br />

sowie <strong>für</strong> die Gefährdungsanalyse<br />

bei Explosionen/Detonationen<br />

stehen bei namhaften in- <strong>und</strong><br />

ausländischen Instituten sowie im<br />

militärischen Bereich bereits PC-<br />

Tools zur Verfügung. Diese haben<br />

sich als schnelles, mobiles <strong>und</strong> zuverlässiges<br />

Werkzeug <strong>für</strong> die Beurteilung<br />

der von Explosivstoffen/Mu-<br />

Foto: Schubert<br />

Pyramide 1: Einhausung einer 500 lb. Bombe durch mit feuchtem Sand gefüllten<br />

„Big Bags“, Abmaße ca. 1 x 1 Meter vor der Sprengung<br />

nition ausgehenden Gefahren bewährt.<br />

Es erscheint daher sinnvoll, die<br />

gewonnenen Daten <strong>für</strong> die Bewertung<br />

der Gefährdungen <strong>und</strong> <strong>für</strong> die<br />

Risikoanalyse in Form einer PC-Anwendung<br />

dem späteren Anwender<br />

zur Verfügung zu stellen. Die Möglichkeit<br />

der Integration bereits bestehender<br />

Prozesse <strong>und</strong> Anwendungen<br />

in die Module ist durchaus denkbar,<br />

muss aber noch geprüft werden. Für<br />

die Entwicklung eines entsprechenden<br />

PC-Tools stehen in Deutschland<br />

namhafte Institute zur Verfügung.<br />

Für die Operationalisierung muss<br />

eine Arbeitsgruppe aus Vertretern<br />

von Polizeien, Kampfmittelräumdiensten<br />

<strong>und</strong> B<strong>und</strong>eswehr gebildet<br />

werden. Die Teilnehmer sollten <strong>für</strong><br />

die operative Umsetzung dieses Teilprojektes<br />

die notwendigen Erfahrungen<br />

bei relevanten Gefahrenlagen<br />

sowie fachliche Fähigkeiten der handwerklichen<br />

Umsetzung besitzen.<br />

Das PC-Tool sollte verschiedene<br />

Grade der Schutzziele (zu erwartende<br />

Personen- <strong>und</strong> Sachschäden beim Einsatz<br />

von verschiedenen Rückhaltemedien)<br />

darstellen <strong>und</strong> diese Fälle mit<br />

Vergleichsrisiken beurteilen können.<br />

4. Architektur des PC-Tools<br />

Modul: Allgemeine Angaben<br />

Eingabe von:<br />

Koordinaten des F<strong>und</strong>ortes<br />

Höhe über N.N. des F<strong>und</strong>ortes<br />

Temperatur <strong>und</strong> aktueller Druck<br />

Wetterverhältnisse<br />

Modul Kampfmittelerkennung<br />

Durch dieses Modul sollen die am<br />

häufigsten vorkommenden Munitionsarten/-sorten<br />

anhand von äußeren<br />

Erkennungsmerkmalen identifiziert<br />

werden können, weil der erste,<br />

sich vor Ort befindende Einsatzleiter<br />

vor dem Eintreffen des Kampfmittelräumdienstes<br />

bzw. Entschärfers die<br />

ersten Sicherheitsmaßnahmen treffen<br />

muss. Dieses Modul gibt dem<br />

Benutzer erste Verhaltens- <strong>und</strong> Sicherheitsratschläge<br />

<strong>und</strong> kann individuell<br />

erweitert werden.<br />

Modul Gefahrenherd<br />

In diesem Modul sind die Parameter<br />

der am häufigsten vorkommenden<br />

Munitionsarten bzw. Munitionssorten<br />

(Landminen, Granaten,<br />

Panzerfäuste, Bomben) bzw. Parameter<br />

der USBV (Sprengstoffbrief, -paket,<br />

USB in Diplomatenkoffer, Autobombe<br />

etc.) aufgeführt, die über ein<br />

Pop-up Menü aufgerufen werden<br />

können.<br />

Diese Parameter sind u. a.:<br />

Kaliber<br />

Munitionsart<br />

Art der Wirkladung (TNT – Äquivalenz)<br />

Masse der Wirkladung<br />

Mittlere Splittergröße<br />

Mittlere Splittergeschwindigkeit<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 17


Zivilschutzforsch<br />

Die vorhandene Liste kann vom<br />

Nutzer jederzeit bedarfsgerecht erweitert<br />

werden.<br />

Modul Kampfmittel auf dem Boden<br />

In der Luft oder am Boden detonierende<br />

Kampfmittel erteilen der<br />

umgebenden Luft einen plötzlichen<br />

Stoß, wodurch Stoßwellen erzeugt<br />

werden. Diese Stoßwellen breiten<br />

sich vom Detonationskern her aus,<br />

ohne die umgebende Luftschicht zu<br />

stören. Daneben dehnen sich die gasförmigen<br />

Detonationsprodukte plötzlich<br />

aus <strong>und</strong> pressen die umgebende<br />

Luftschicht zusammen. Da-durch<br />

breiten sich diese unter starkem<br />

Druck mit hoher Geschwindigkeit hinter<br />

der Stoßwellenfront aus. Es entsteht<br />

so eine positive <strong>und</strong> eine negative<br />

Druckphase.<br />

Detoniert eine metallummantelte<br />

Sprengladung, so verursachen die<br />

sich ausdehnenden Gase eine beträchtliche<br />

Dehnung des Mantels vor<br />

dem Zerlegen bzw. Zersplittern. Bis<br />

zur Hälfte der von dem Sprengstoff<br />

beim Übergang vom festen zum gasförmigen<br />

Zustand erzeugten Energie<br />

kann dabei <strong>für</strong> die Dehnung des Mantels<br />

<strong>und</strong> <strong>für</strong> die Beschleunigung der<br />

Bruchstücke aufgebracht werden.<br />

Hierbei werden auch Teilchen der<br />

Umgebung, wie zum Beispiel Sand,<br />

Steinchen, Erde, mit aufgewirbelt <strong>und</strong><br />

beschleunigt. Die Splitter können in<br />

unmittelbarer Nähe des Detonationsherdes<br />

Wände durchlöchern. Die Temperatur<br />

der Splitter liegt zur Zeit der<br />

Detonation bei ca. 900 °C, nach dem<br />

Flug beim Auftreffen bei ca. 800 °C.<br />

Es erfolgt in diesem Modul die<br />

Berechnung <strong>und</strong> Darstellung unten<br />

aufgezählter Gefährdungen inklusive<br />

der Schadensanalyse (Wirkungen auf<br />

Menschen in Gebäuden <strong>und</strong> im Freien,<br />

Schadensmodelle <strong>für</strong> Gebäude<br />

<strong>und</strong> Versorgungsanlagen, Wirkung in<br />

besonders zu schützenden Objekten<br />

wie Gefahrgüter, BIO-Labors)<br />

Trichter (bei Oberflächendetonation)<br />

Druck (Blast)<br />

Splitter<br />

Feuerball<br />

Modul Kampfmittel im Erdreich<br />

Bei der Explosion von F<strong>und</strong>munition<br />

unterhalb der Oberfläche wird<br />

sich ein Krater bilden, dessen Abmessungen<br />

nicht nur von der Masse der<br />

Ladung, sondern von der Eingrabungstiefe<br />

abhängen. Bei Explosionen<br />

unter der Erdoberfläche entstehen<br />

Gase wie bei Explosionen über<br />

der Erdoberfläche. Diese Gase bewirken<br />

nicht nur eine Verschiebung der<br />

sie umgebenden Erdmasse, sondern<br />

erzeugen auch eine Reihe von Erdstoßwellenfronten.<br />

Die Stoßwellen<br />

breiten sich in ähnlicher Weise im<br />

Erdreich aus wie die von einem Erdbeben<br />

erzeugten Stoßwellenfronten.<br />

Sie durchdringen dabei auch alle<br />

Objekte, die mit dem Erdreich in direkter<br />

Berührung stehen.<br />

Die Art der Beschädigung von Bauwerken<br />

<strong>und</strong> unterirdisch verlegten<br />

Versorgungsleitungen durch Erdstöße<br />

kann berechnet <strong>und</strong> durch Schutzmaßnahmen<br />

(z.B. Schutzgrabenbau)<br />

in vielen Fällen entgegengetreten<br />

werden.<br />

Es erfolgt in diesem Modul die<br />

Berechnung <strong>und</strong> Darstellung unten<br />

aufgezählter Gefährdungen inklusive<br />

der Schadensanalyse (Wirkungen auf<br />

Menschen in Gebäuden <strong>und</strong> im Freien<br />

– W<strong>und</strong>ballistik, Schadensmodelle<br />

<strong>für</strong> Gebäude <strong>und</strong> Versorgungsanlagen,<br />

Wirkung in besonders zu<br />

schützenden Objekten wie Gefahrgüter,<br />

Fortpflanzung der Wellen im Erdreich<br />

<strong>und</strong> Wasser)<br />

Trichter / Kavernen<br />

Druck (Blast), Erdstoßwellen<br />

Splitter<br />

Feuerball<br />

Modul Rückhaltemedien<br />

Für Vernichtungen an einem bestimmten<br />

Ort müssen die Rückhaltemedien<br />

am Rand des künftigen Trichters<br />

angelegt werden, somit muss<br />

dessen Radius im Voraus bekannt<br />

sein.<br />

In diesem Modul werden die Parameter<br />

der verschiedenen Rückhaltemedien<br />

(Art, Dichte <strong>und</strong> Wichte,<br />

Abbremsfaktor Kühlfaktor u. Ä.), die<br />

Form <strong>und</strong> die Abmessungen der<br />

daraus gefertigten Schutzbauten<br />

(Schutzwälle), die Stückliste des zu<br />

verwendenden Materials, die Aufbauzeit<br />

sowie die durchschnittlichen<br />

Kosten (Material <strong>und</strong> Mannst<strong>und</strong>en)<br />

erfasst.<br />

Modul Lage des Gefahrenherdes<br />

Die Schadenswirkung des Detonationsdruckes<br />

kann durch eine Einschließung<br />

der Druckwelle auf Gr<strong>und</strong><br />

der Druckwellenreflexion durch die<br />

einschließenden Flächen verstärkt<br />

werden. So wird eine Druckwelle in<br />

einem Tunnel, Korridor, Graben oder<br />

Straßenzug langsamer an Stärke verlieren<br />

als im offenen Gelände. Bei<br />

Explosionen im Innern von Gebäuden<br />

kommt es zu beträchtlichen Reflexionen<br />

der Druckwellen durch die<br />

Wände.<br />

Reflexionswirkungen <strong>und</strong> die resultierende<br />

trichterförmige Konzentration<br />

der Druckwellen sind bei der<br />

Planung von Evakuierungsmaßnahmen<br />

stets zu berücksichtigen. Durch<br />

reflektierte Druckwellen werden oft<br />

weit außerhalb des normalen Druckbereiches<br />

befindliche Gebäude beschädigt,<br />

während andere Gebäude<br />

gleicher Konstruktion unbeschädigt<br />

bleiben, obwohl sie dem Detonationsherd<br />

bedeutend näher sind.<br />

Einzelne Gebäude oder bestimmte<br />

Geländeformen (Graben, Baugrube,<br />

etc.) dagegen können auch wie<br />

Schutzwälle wirken <strong>und</strong> daher die<br />

Wirkung des Kampfmittels in einem<br />

definierten Bereich in bestimmbaren<br />

Einflüssen minimieren.<br />

Modul GIS<br />

Die Kombination von Geo-Daten<br />

<strong>und</strong> Fachdaten dient der schnellen,<br />

aktuellen <strong>und</strong> präzisen Entscheidungsvorbereitung<br />

<strong>und</strong> bietet Lösungsmöglichkeiten<br />

<strong>für</strong> komplexe<br />

Problemstellungen mit Raumbezug.<br />

Damit eine Simulation auch <strong>für</strong> die<br />

Anwendung in der Kampfmittelräumung<br />

interessant ist, müssen zusätzlich<br />

noch ein interaktiver 3D-Stadt-<br />

Editor der betreffenden Stadt sowie<br />

ein dreidimensionales Strömungs<strong>und</strong><br />

Ausbreitungsmodell zur kleinräumigen<br />

Prognose von Druckwellenverteilung<br />

in Straßen bis hin zu ganzen<br />

Stadtteilen zur Verfügung gestellt<br />

werden:<br />

Hier<strong>für</strong> wird vorausgesetzt, dass<br />

Daten <strong>und</strong> Informationen jederzeit<br />

zugänglich sind, Daten entsprechend<br />

aufbereitet vorliegen, keine Inkompatibilitäten<br />

aufgr<strong>und</strong> verschiedener<br />

IT-Systeme <strong>und</strong> unterschiedli-<br />

18 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


Foto: Schubert<br />

ngsprojekt<br />

Pyramide 2: nach der Sprengung (Reduzierung des Splitterfluges von max 2.000 m<br />

auf ca. 220 m)<br />

cher Standards bestehen <strong>und</strong> dass<br />

Klarheit über die Inhalte von Daten<br />

herrscht.<br />

Modul Auswertung / Risikoanalyse<br />

Die Risikoanalyse sagt die mögliche<br />

Gefährdung der Umgebung im<br />

Falle einer Detonation vorher. Dies beinhaltet<br />

die Auswirkungen des Luftstoßes,<br />

der Splitter <strong>und</strong> des Trümmerwurfs<br />

auf Personen, Tiere, Bauwerke<br />

<strong>und</strong> Umwelt. Daraus werden notwendige<br />

Sicherheitsabstände, Verhaltensregeln<br />

<strong>und</strong> bauliche Schutzmaßnahmen<br />

abgeleitet. Durch eine interaktive<br />

„was wäre wenn“-Abfrage kann die<br />

Wirkung von Schutzbauten berechnet<br />

<strong>und</strong> grafisch dargestellt werden.<br />

Zusammenfassung<br />

Schadenslagen mit Explosivstoffen/Kampfmittel<br />

sind in Deutschland<br />

fast täglich durch die Hinterlassenschaften<br />

des letzten Krieges anzutreffen.<br />

Das Forschungsprojekt soll den<br />

zuständigen Sicherheitsbehörden<br />

durch die Bereitstellung eines PC-<br />

Tools die Vorgänge bei Schadenslagen<br />

mit Kampfmitteln transparent<br />

gestalten, eine zuverlässige <strong>und</strong><br />

schnelle Aussage über Gefährdungen<br />

auf Menschen, Tiere, Infrastruktur<br />

<strong>und</strong> Umwelt bieten, um eine kompetente<br />

Gefährdungs- <strong>und</strong> Risikoanalyse<br />

durchführen sowie zielgerichtet<br />

die notwendigen Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsmaßnahmen<br />

treffen zu können.<br />

Diese Maßnahmen können je nach<br />

Lage sein: Evakuierung, Absperrung<br />

<strong>und</strong> Schutzarbeiten. Die einsatztaktischen<br />

Belange des Entschärfungspersonals<br />

müssen ebenfalls berücksichtigt<br />

werden.<br />

Durch eine mögliche Kosten-/Zeit<strong>und</strong><br />

Gefährdungsanalyse können notwendige<br />

Absperrmaßnahmen zukünftig<br />

auch unter wirtschaftlichen Aspekten<br />

geplant <strong>und</strong> gesteuert werden.<br />

Durch das bedarfsorientierte Anbringen<br />

von verschiedenen Medien<br />

um ein Kampfmittel in Form von<br />

Sandsackumwallungen, Sandsackumhüllungen,<br />

Wasserauflast, Wasserbarriere,<br />

Spezialcontainer etc.<br />

kann zukünftig die Bemessung der<br />

Gefahrenbereiche (Sperr- <strong>und</strong> Warnzone)<br />

bis zu einer Minimalausdehnung<br />

gesteuert bzw. die Schutzziele<br />

genau definiert werden.<br />

Folgende Effekte sind zu erwarten:<br />

Reduzierung der Störung des öffentlichen<br />

Lebens auf das absolut<br />

notwendige Maß<br />

Reduzierung des Bedarfes an Einsatzkräften<br />

Reduzierung der zu evakuierenden<br />

Bevölkerung <strong>und</strong> deren Betreuung<br />

Reduzierung von Kräften des Einsatzhilfsdienstes<br />

Reduzierung von Betriebsstilllegungen<br />

<strong>und</strong> Produktionsausfall<br />

Erhöhung des Schutzes benachbarter<br />

Objekte; dadurch Reduzierung<br />

von Sprengschäden<br />

Durch den modularen Aufbau des<br />

PC-Tools können bereits bestehende<br />

Teile von Anwendungen anderer<br />

Bedarfsträger problemlos eingebaut<br />

werden. Ferner können die neu gewonnenen<br />

Daten in andere PC-Tools<br />

(z. B. Risikobewertung von Gebäuden<br />

bei Explosionsereignissen, Städtebauliche<br />

Risikoanalysen, Schutz<br />

gefährdeter Infrastruktur, militärische<br />

Projekte etc.) auf nationaler oder EU-<br />

Ebene eingebaut <strong>und</strong> verwendet<br />

werden.<br />

Es muss auch zukünftig mit Schadenslagen<br />

mit Explosivstoffen/militärischer<br />

Munition gerechnet werden.<br />

Zwar wird die Zahl der explosiven<br />

Relikte aus dem letzten Kriege zurückgehen,<br />

jedoch bleibt weiterhin die<br />

terroristische Bedrohung präsent.<br />

Auch hier<strong>für</strong> ist das PC-Tool uneingeschränkt<br />

einsetzbar <strong>und</strong> kann<br />

durch nukleare bzw. chemische Module<br />

erweitert werden.<br />

Literatur<br />

US-TM 60A-1-1-4, Explosive Ordnance<br />

Disposal Procedure,<br />

<strong>11.</strong>4.1998, US-Armee<br />

FM 9-16 Explosive Ordnance Reconnaisance,<br />

<strong>September</strong> 1968,<br />

US-Armee (deutsche Übersetzung)<br />

MESH – A Computer Program for<br />

Predicting and Mapping Blast Effects<br />

at Ordnance Remediation Sites,<br />

US-Army Engineering Center,<br />

Huntsville<br />

Crull, Michelle-M., Ordnance and<br />

Explosives Toolbox: Safety Technologies<br />

for OE Programs, US-<br />

Army Engineering Center, Huntsville<br />

Crull, Michelle-M. <strong>und</strong> Wallace A.<br />

Atanabe, Fragment Suppression<br />

by Water in Ordnance Disposal<br />

Operations, US-Army Engineering<br />

Center, Huntsville<br />

DoD 6055-Std, Ammunition and<br />

Explosives Safety Standards,<br />

<strong>11.</strong>08.1997, US-Verteidigungsministerium<br />

Michael M. Swisdak, Jr, The<br />

DDESB Blast Effects Computer-<br />

Version 4.0, Indian Head Division/<br />

Naval Surface Warfare Center<br />

Firmenprospekt Fraunhofer Institut,<br />

Kurzzeitdynamik, Ernst-Mach-<br />

Institut, Freiburg<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 19


Einige Gedanken<br />

Philipp Reber M.A., Ethnologe <strong>und</strong> Historiker, arbeitet seit 15 Jahren<br />

in der humanitären Hilfe <strong>und</strong> Entwicklungszusammenarbeit. Er arbeitet<br />

zurzeit u.a. als Sicherheitsberater bei Caritas Schweiz.<br />

Hilfsorganisationen sehen sich heute zunehmend mit vielfältigen <strong>und</strong> oft<br />

schwer wiegenden Sicherheitsrisiken konfrontiert. Die Gewalt gegen Helfer,<br />

nationale wie internationale, hat vielerorts erschreckende Ausmaße<br />

angenommen. Es lohnt sich deshalb, die Sicherheitsrisiken <strong>für</strong> die Helfer<br />

im Einsatz <strong>und</strong> deren Hintergründe zu verorten sowie den Begriff ‚Risiko’<br />

im Hinblick auf die Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen des Handelns zugunsten<br />

der Sicherheit der Mitarbeitenden zu untersuchen.<br />

Die zunehmenden Sicherheitsprobleme<br />

haben verschiedene Ursachen.<br />

Diese liegen oft in Phänomenen<br />

der so genannten Neuen Kriege<br />

<strong>und</strong> dem seit Ende <strong>2001</strong> laufenden<br />

‚Krieg gegen den Terror’ begründet.<br />

Zu verzeichnen ist eine deutliche Erosion<br />

des internationalen humanitären<br />

Völkerrechts, eine zunehmende Instrumentalisierung<br />

<strong>und</strong> missbräuchliche<br />

Verwendung von Hilfsgütern<br />

<strong>und</strong> Hilfsleistungen, sowie auch, besonders<br />

im Rahmen des ‚Kriegs gegen<br />

den Terror’, ein durch politischreligiösen<br />

Extremismus immer enger<br />

werdender Verhandlungsspielraum<br />

zwischen den Akteuren. Oft geht es<br />

nur noch um die Vertreibung oder<br />

physische Vernichtung der mit dem<br />

Feind assoziierten (fremden) Helfer.<br />

Dies setzt insgesamt ein Fragezeichen<br />

hinter die Nachhaltigkeit <strong>und</strong> insbesondere<br />

auch den Sinn der Hilfe.<br />

Die internationale Zusammenarbeit<br />

<strong>und</strong> die humanitäre Hilfe befinden<br />

sich in den letzten Jahren in einem<br />

Wandlungsprozess, dies vielerorts<br />

als Antwort auf die sich verändernden<br />

politischen, religiösen<br />

usw. Begebenheiten. Die Welt nimmt<br />

sehr selektiv großen Anteil an den<br />

Krisen <strong>und</strong> Katastrophen unserer Zeit.<br />

Eine enorme Mediatisierung findet<br />

statt, die im Rahmen eines internationalen<br />

Solidaritätsgefühls üppige<br />

Spenden generiert. Die Konkurrenz<br />

unter den Akteuren um die Hilfsgelder<br />

hat stark zugenommen, was eine<br />

Koordination der Hilfsaktivitäten vor<br />

Ort <strong>und</strong> eine Abstimmung der Poli-<br />

cy-Entscheide nicht erleichtert. Zudem<br />

erfolgt im Rahmen des so genannten<br />

‚New Humanitarism’ eine<br />

Konditionalisierung, d.h. eine Verknüpfung<br />

der Hilfeleistungen mit dem<br />

Einhalten von Menschenrechtsvorgaben<br />

– <strong>und</strong> somit auch eine Instrumentalisierung<br />

<strong>und</strong> „Verpolitisierung“ der<br />

Hilfe.<br />

All dies ist nicht ganz neu <strong>und</strong> Gegenstand<br />

zahlreicher Betrachtungen.<br />

Sicherheitsprobleme <strong>und</strong> vor allem<br />

der Umgang mit solchen haben jedoch<br />

nicht nur kontextuelle <strong>und</strong> interinstitutionelle<br />

Hintergründe, wie<br />

die oben skizzierten, sondern auch<br />

solche, die in der jeweiligen Organisation<br />

<strong>und</strong> deren Mitarbeitenden begründet<br />

liegen.<br />

Während sich der Artikel von Dirk<br />

Freudenberg vorwiegend mit kontextuellen<br />

Aspekten beschäftigt, versucht<br />

der vorliegende Artikel vor allem<br />

den Bereich ‚Organisation <strong>und</strong><br />

Individuum’ durch die verstärkende<br />

Optik des Begriffs Risiko näher zu<br />

betrachten.<br />

Zum Begriff „Risiko“<br />

zum Sicherheits<br />

<strong>Der</strong> Begriff „Risiko“ beinhaltet zwei<br />

verschiedene Teilaspekte:<br />

1) <strong>Der</strong>jenige der Bedrohungslage<br />

im humanitären Raum bzw. derjenige<br />

der im humanitären Raum auf die<br />

Hilfswerke lauernden Gefahren mit<br />

den Komponenten Wahrscheinlichkeit<br />

des Eintreffens eines Vorfalls <strong>und</strong><br />

dessen Auswirkungen auf die Organisation<br />

<strong>und</strong> deren Mitarbeitende<br />

2) derjenige der eigenen Verw<strong>und</strong>barkeit,<br />

d. h. der Anfälligkeit einer Organisation<br />

auf eine vorherrschende<br />

Gefahr nicht adäquat reagieren zu<br />

können. Dies aufgr<strong>und</strong> eines fehlenden<br />

oder unangepassten Sicherheitsmanagements.<br />

Um einen klareren Blick auf mögliche<br />

Handlungsfelder <strong>und</strong> ein besseres<br />

Verständnis der Wechselwirkungen<br />

zwischen den beiden Teilaspekten<br />

zu erhalten, lohnt sich bei der<br />

Risikoanalyse eine getrennte Betrachtung<br />

derselben. Beiden Ebenen sind<br />

bei der Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen<br />

unterschiedliche Grenzen<br />

<strong>und</strong> Möglichkeiten eigen <strong>und</strong> folgen<br />

einer zum Teil anderen Logik.<br />

Nicht immer können humanitäre<br />

Akteure – auch nicht im Verb<strong>und</strong> mit<br />

staatlichen oder militärischen Akteuren<br />

– auf die Bedrohungslage direkt<br />

Einfluss nehmen <strong>und</strong> Gefahrenmomente<br />

vermindern oder ganz ausschalten.<br />

Die Verbesserung der Sicherheit<br />

der Mitarbeitenden muss in<br />

der Regel über eine Reduktion der<br />

eigenen Verw<strong>und</strong>barkeit erfolgen.<br />

Dem sind jedoch Grenzen gesetzt, da<br />

wirkungsvolle <strong>und</strong> nachhaltige humanitäre<br />

Arbeit in der Regel auf die Akzeptanz<br />

der Organisation bei lokalen<br />

Akteuren sowie den Begünstigten<br />

selbst baut. Schutz- oder gar Abschreckungsmaßnahmen<br />

stellen oft<br />

eine heikle Gradwanderung dar, die<br />

den humanitären (<strong>und</strong> philanthropischen)<br />

Geist der Sache <strong>und</strong> das<br />

Selbstverständnis der Hilfsorganisation<br />

verletzen <strong>und</strong> die Effektivität <strong>und</strong><br />

die Nachhaltigkeit der Arbeit in Frage<br />

stellen. Es gibt Bedrohungslagen,<br />

in denen kein Verhandlungsspielraum<br />

(mehr) besteht zwischen humanitären<br />

Helfern <strong>und</strong> Akteuren, von<br />

denen die Bedrohung ausgeht, <strong>und</strong><br />

somit auch kaum mehr Handlungsspielraum<br />

<strong>für</strong> die Helfer selbst. In solchen<br />

Situationen ist eine weitere Reduktion<br />

der eigenen Verw<strong>und</strong>barkeit<br />

<strong>und</strong> somit ein sicheres Verbleiben vor<br />

Ort nicht mehr möglich <strong>und</strong> erscheint<br />

20 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


anagement bei Hilfswerken<br />

vom Standpunkt einer effektiven Hilfeleistung<br />

aus auch nicht mehr sinnvoll.<br />

Ein Auseinanderhalten von Bedrohung<br />

<strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit eröffnet<br />

nicht nur den Blick auf die eigenen<br />

Schwächen, sondern auch auf die<br />

Wechselwirkungen zwischen den<br />

beiden Bereichen, also darauf wie das<br />

Verhalten einer Organisation <strong>und</strong> ihrer<br />

Mitarbeitenden das Umfeld – <strong>und</strong><br />

auch umgekehrt – beeinflusst im Sinne<br />

einer Risikoerhöhung oder -minderung.<br />

Im Rahmen von human security,<br />

welche als umfassenderes<br />

Konzept von Sicherheit Begünstigte,<br />

Umfeld <strong>und</strong> auch Helfer miteinbezieht,<br />

ist eine do-no-harm-Analyse<br />

notwendig. Hier werden die vielfältigen<br />

Wechselwirkungen zwischen<br />

Projekt <strong>und</strong> Organisation einerseits<br />

sowie Umfeld <strong>und</strong> Akteuren andererseits<br />

untersucht mit dem Ziel, Projekte<br />

so zu gestalten <strong>und</strong> durchzuführen,<br />

dass sie Konflikt mindernd<br />

wirken. Hier trägt die Verminderung<br />

der eigenen Verw<strong>und</strong>barkeit, nämlich<br />

durch eine situationsgerechte Ausgestaltung<br />

der Projektarbeit, möglicherweise<br />

zur Reduktion der Bedrohung<br />

<strong>und</strong> somit zu mehr Sicherheit<br />

<strong>für</strong> die Organisation bei.<br />

Hintergründe der Verw<strong>und</strong>barkeit<br />

von Hilfswerken<br />

Die eigene Verw<strong>und</strong>barkeit manifestiert<br />

sich nicht nur in unangepassten<br />

Programmen <strong>und</strong> Projekten, sondern<br />

fast immer <strong>und</strong> überall im (teilweisen)<br />

Fehlen von Zeit <strong>und</strong> Ressourcen,<br />

Kontextkenntnissen, angepasstem<br />

Verhalten <strong>und</strong> individuellen<br />

Sicherheitskompetenzen, Führung,<br />

nachhaltigem HR-Management, geeigneten<br />

Standorten <strong>und</strong> Gebäuden,<br />

geeigneten Fahrzeugen sowie defensivem<br />

<strong>und</strong> vorausschauendem Fahrverhalten,<br />

Kommunikation (Mittel,<br />

Abläufe, Regeln), insgesamt also von<br />

effizientem <strong>und</strong> effektivem Sicherheitsmanagement.<br />

Diese eigenen Schwächen haben<br />

institutionelle wie auch persönliche<br />

bzw. individuelle Hintergründe. Auf<br />

institutioneller Ebene sind es vor allem<br />

weltanschauliche Standpunkte,<br />

Haltungen, Werte, Mentalitäten, jedoch<br />

auch innerbetriebliche <strong>und</strong> unternehmerische<br />

Gesichtspunkte. Aussagen<br />

wie: „Wir arbeiten ja nicht in<br />

der Nothilfe“, „Risiken gehören halt<br />

zu unserer Arbeit“, „Unsere Kompetenzen<br />

sind ausreichend, um ...“, „Es<br />

ist bisher nie etwas Schlimmes passiert“<br />

oder „Wir tun ja Gutes, also<br />

kann uns nichts passieren“ spiegeln<br />

wie im letzteren Fall nicht nur eine<br />

(beinahe absurd wirkende) Vorstellung<br />

der Immunität, sondern geradezu<br />

gefährliche Haltungen <strong>und</strong> Annahmen<br />

wider, wie: Risiken seien nur in<br />

Krisen- bzw. Konfliktgebieten virulent,<br />

das Arbeitsrisiko sei über all die Jahre<br />

gleich geblieben, eine Vergangenheit<br />

ohne Verluste sei eine Garantie<br />

<strong>für</strong> die Zukunft oder dass Risiken<br />

durch institutionelle Maßnahmen<br />

nicht zu begegnen sei. Spürbar ist<br />

die Tendenz, das gefährlicher gewordene<br />

Arbeitsumfeld der Hilfswerke<br />

als Tatsache hinzunehmen.<br />

Zudem kostet Sicherheitsmanagement<br />

Geld <strong>und</strong> generiert in der Regel<br />

keinen Umsatz. Einmal aufgestellte<br />

Sicherheitsregeln können aus vermeintlichen<br />

Ressourcengründen<br />

nicht umgesetzt werden (z. B. wegen<br />

fehlender Fahrzeuge, Kommunikationsmittel<br />

usw.). Fehlende Zuständigkeiten<br />

<strong>und</strong> mangelnde leadership<br />

schwächen das Sicherheits- <strong>und</strong> Krisenmanagement.<br />

Institutionelle Sicherheitsberater,<br />

falls überhaupt vorhanden,<br />

haben nicht immer ein leichtes<br />

Leben, da sie zum einen meist<br />

keine Weisungsbefugnis haben <strong>und</strong><br />

andererseits ihre Arbeit oft als Einmischung<br />

in die Projektarbeit betrachtet<br />

wird.<br />

Die Verw<strong>und</strong>barkeit einer Organisation<br />

hat auch Ursachen, die in der<br />

Persönlichkeit <strong>und</strong> im Verhalten der<br />

Mitarbeitenden begründet liegen.<br />

Rambos, Eiferer <strong>und</strong> Besserwisser<br />

gefährden nicht nur sich selbst, sondern<br />

auch andere <strong>und</strong> schaden damit<br />

der humanitären Sache selbst.<br />

<strong>Der</strong> Lebensstil vor Ort <strong>und</strong> die Beziehungen,<br />

die man dort pflegt, können<br />

<strong>für</strong> die Sicherheit von entscheidender<br />

Bedeutung sein. Humanitäre Arbeit<br />

in Krisengebieten ist ein hartes<br />

<strong>und</strong> anforderungsreiches Geschäft,<br />

bei dem es nicht in erster Linie um<br />

die Befriedigung der persönlichen<br />

Abenteuerlust gehen kann. Die Auswahl<br />

geeigneter Leute ist vordringlich.<br />

Karrieredenken, die Angst zu<br />

versagen <strong>und</strong> auch eine bestimmte<br />

Gruppendynamik führen dazu, dass<br />

Vorfälle oder Ängste verschwiegen<br />

werden. Nur ein offener Diskurs innerhalb<br />

der Organisation <strong>und</strong> zwischen<br />

den Mitarbeitenden kann jedoch<br />

zu mehr Sicherheit führen.<br />

Anforderungen an das<br />

Sicherheitsmanagement<br />

Sicherheitsmanagement muss auf<br />

einem der Organisation <strong>und</strong> ihren<br />

Bedürfnissen angepassten Sicherheitskonzept<br />

fußen. Sicherheitsmanagement<br />

sollte innerhalb der Organisation<br />

verschiedene Ebenen ansprechen,<br />

<strong>und</strong> es sollte so einfach<br />

<strong>und</strong> prägnant wie möglich sein.<br />

Eine Policy regelt nicht nur institutionelle<br />

Belange <strong>und</strong> Abläufe, sondern<br />

bringt auch die Wichtigkeit der Sicherheit<br />

der Mitarbeitenden <strong>und</strong> Verpflichtung<br />

der Organisation, Verantwortung<br />

zu übernehmen <strong>und</strong> entsprechende<br />

Ressourcen zur Verfügung zu stellen<br />

zum Ausdruck. Lokale Sicherheitspläne<br />

regeln alle relevanten Sicherheitsbelange<br />

in Einsatzgebieten <strong>und</strong> sind<br />

verbindlich. Dokumente sind nur so<br />

viel wert, wie sie gelesen <strong>und</strong> gelebt<br />

werden <strong>und</strong> als Führungsgr<strong>und</strong>lage<br />

verbindlich dienen. Wichtig ist auch,<br />

über ein Sicherheitshandbuch zu verfügen,<br />

welches Gr<strong>und</strong>lagen, Empfehlungen<br />

<strong>und</strong> Hinweise <strong>für</strong> situationsgerechtes<br />

Handeln enthält.<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 21


Besonders wichtiges Element des<br />

Sicherheitsmanagements ist die an<br />

die jeweilige Funktion angepasste<br />

Aus- <strong>und</strong> Weiterbildung der Mitarbeitenden<br />

in den Bereichen personal<br />

safety & security einerseits <strong>und</strong> safety<br />

& security management andererseits.<br />

Dokumente alleine reichen<br />

nicht aus, um sicherheitsrelevantes<br />

Verhalten zu verinnerlichen. Dazu ist<br />

eine Mischung aus theoretischen <strong>und</strong><br />

praktischen Unterrichtselementen<br />

(field simulation excercise) notwendig,<br />

werden die Leute doch hier durch<br />

die Ebene der persönlichen Erfahrung<br />

<strong>und</strong> Auseinandersetzung mit dem<br />

Thema sensibilisiert.<br />

Für den Erfolg entscheidend ist<br />

auch, dass eine oder mehrere geeignete<br />

Personen innerhalb der Organisation<br />

<strong>für</strong> Sicherheitsfragen zuständig<br />

sind. Diese stehen im Feld <strong>und</strong><br />

im Hauptquartier <strong>für</strong> die Organisationsentwicklung,<br />

die Erarbeitung von<br />

Dokumenten, Weiterbildung, Beratung,<br />

Führungs- <strong>und</strong> Krisenunterstützung,<br />

Arbeitsgruppen sowie <strong>für</strong> eine<br />

so genannte community of practitioners<br />

usw. zur Verfügung. Sicherheitsberater<br />

müssen mit einem klaren<br />

Pflichtenheft ausgestattet <strong>und</strong> institutionell<br />

so eingebettet sein, dass sie<br />

<strong>für</strong> alle Beteiligten vertrauenswürdig<br />

<strong>und</strong> zugänglich sind <strong>und</strong> bleiben. Ihre<br />

Rolle ist eine heikle, gewährt sie doch<br />

einen tieferen Einblick auch in die<br />

Schwächen der jeweiligen Hilfsprogramme,<br />

gerne werden zudem sicherheitstechnische<br />

Empfehlungen<br />

<strong>und</strong> Vorgaben als unerwünschte Einmischung<br />

in das Programm- <strong>und</strong> Projektmanagement<br />

empf<strong>und</strong>en.<br />

Sicherheit soll in der Organisation<br />

ein Thema werden, über welches ein<br />

offener Diskurs geführt wird. Die Institutionalisierung<br />

von Sicherheitsmanagement<br />

muss deshalb Chefsache<br />

sein, Führung von unten ist jedoch<br />

genau so wichtig, denn hier<br />

werden die Bedürfnisse des Felds in<br />

die Organisation hineingetragen.<br />

Setzen sich eine Organisation <strong>und</strong><br />

ihre Mitarbeiteden intensiv mit der<br />

Thematik Sicherheit auseinander, so<br />

ist nicht nur der Umgang mit Sicherheitsfragen<br />

eher integraler Teil des<br />

Programmmanagements, sondern<br />

werden auch eher Möglichkeiten <strong>und</strong><br />

Grenzen des eigenen Handelns erkannt<br />

<strong>und</strong> verortet.<br />

Notfallvorsorge <strong>und</strong><br />

im Spiegel<br />

Dr. Rudolf Wandel, Ministerialrat a.D., Rechtsanwalt, ausgewiesener<br />

Experte auf dem Gebiet Zivilschutz <strong>und</strong> Notfallvorsorge<br />

Betrachtet man die Gesetzgebung des Jahres 2005, dann verdient die B<strong>und</strong>esregierung<br />

<strong>für</strong> ihren Fleiß uneingeschränkt volles Lob, denn die Rechtsnormen,<br />

die im B<strong>und</strong>esgesetzblatt I veröffentlicht wurden, umfassen 3728<br />

Seiten. Dies entspricht einem Seitenumfang, der im Durchschnitt auch in<br />

den vergangenen Jahren erreicht wurde. Darüber hinaus wurde mit der<br />

Neufassung von Gesetzen im Jahr 2005 ein Rekord erzielt.<br />

Die Mehrzahl aller Rechtsnormen<br />

befasst sich mit der Gefahrenabwehr.<br />

<strong>Der</strong> B<strong>und</strong>esgesetzgeber regelt dabei<br />

vor allem Maßnahmen, die erforderlich<br />

sind, der Entstehung von Gefahren<br />

entgegenzuwirken. Dabei werden<br />

exakte Prognosen erarbeitet <strong>und</strong> Ursachen<br />

von Schadensereignissen<br />

genau analysiert <strong>und</strong> ausgewertet.<br />

Trotzdem konnte es nicht ausbleiben,<br />

dass auch im vergangenen Jahr<br />

eine Reihe großer Schadensereignisse<br />

eingetreten ist, hierzu ist auch die<br />

Katastrophe durch den Einsturz der<br />

Eissporthalle am 2. Januar 2006 in<br />

Bad Reichenhall zu zählen. Die Gesetzgebung,<br />

die auf Gr<strong>und</strong> von Schadensereignissen<br />

stets verfeinert wird,<br />

ist auf die Zukunft ausgerichtet <strong>und</strong><br />

hat den Charakter der vorbeugenden<br />

Gefahrenabwehr. In diesem Sinne<br />

wird die Gefahrenabwehr zur echten<br />

Notfallvorsorge.<br />

Betrachtet man die gesetzlichen<br />

Vorschriften der Notfallvorsorge, dann<br />

sind diese nicht nur zur Vermeidung<br />

großer Schäden in absehbarer Zukunft<br />

ausgerichtet, sondern sie sollen allumfassend<br />

auch der Schadensvorsorge in<br />

den kommenden Jahrzehnten <strong>und</strong><br />

Jahrh<strong>und</strong>erten dienen. Man denke beispielsweise<br />

an die notwendige Beschränkung<br />

der Emissionen <strong>und</strong> der<br />

Immissionen, die zu einer Klimaänderung<br />

führen können. Es wird immer<br />

so sein, dass geschützte Umwelt <strong>und</strong><br />

Natur Gr<strong>und</strong>lagen des Lebensraumes<br />

<strong>für</strong> Mensch <strong>und</strong> Tier sind.<br />

Außer an diesen langzeitlichen Zielen<br />

muss die Notfallvorsorge auch<br />

daran orientiert werden, inwieweit<br />

Gefahrenquellen mit neuartigen Industrieprodukten<br />

verb<strong>und</strong>en sein<br />

können. Dabei kann es keinen Unterschied<br />

machen, ob die Produkte von<br />

der Gewerbe- oder der Pharmaindustrie<br />

auf den Markt kommen <strong>und</strong> in<br />

den Verkehr gebracht werden. Das<br />

Arzneimittelgesetz ist ein beredtes<br />

Beispiel <strong>für</strong> die Vorsorge in Bezug auf<br />

Arzneimittel. Es wurde im abgelaufenen<br />

Jahr neu gefasst.<br />

Etwa dem Arzneimittelgesetz<br />

gleichbedeutend zur Gefahrenabwehr<br />

sind die Gesetze zur Verhinderung<br />

ges<strong>und</strong>heitsschädlicher Auswirkungen<br />

auf dem Lebensmittel-, Futtermittel-<br />

<strong>und</strong> Kosmetikmittelsektor.<br />

Besonders erwähnenswert ist dabei<br />

das Gesetz zur Neuordnung des Lebensmittel-<br />

<strong>und</strong> Futtermittelrechts.<br />

Dieses Gesetz aus der zweiten Hälfte<br />

des Jahres 2005 geht neue Wege in<br />

der alten Erkenntnis, dass schädliche<br />

Stoffe in Futtermitteln über die Tierernährung<br />

<strong>und</strong> Verarbeitung der Tierkörper<br />

zu Lebensmitteln letztlich doch<br />

auch im menschlichen Körper landen.<br />

Die Gesetze zur Vorsorge bezüglich<br />

der Produktionsverfahren <strong>und</strong><br />

des Gebrauchs gewerblicher Produkte<br />

weisen eine sehr große Vielfalt auf.<br />

Sie reichen vom Immissionsschutz<br />

bis zum Umweltschutz. Von besonderer<br />

Bedeutung sind das Geräte<strong>und</strong><br />

Produktsicherungsgesetz <strong>und</strong><br />

das Produkthaftungsgesetz.<br />

Vorsorge <strong>für</strong> den längerfristigen<br />

Schutz von Natur <strong>und</strong> Umwelt ist u.a.<br />

auch im Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung<br />

normiert, das im<br />

Jahr 2005 neu gefasst <strong>und</strong> bereits<br />

22 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


§<br />

der Gesetzgebung<br />

Katastrophenschutz<br />

wieder geändert wurde. Dieses Gesetz<br />

dient ebenfalls der Vorbeugung<br />

von Katastrophen im Hinblick auf<br />

Verkehrswege, Industrieanlagen,<br />

Wohnsiedlungen, Erhaltung von Natur<br />

<strong>und</strong> Wäldern. Es soll die Entwicklung<br />

der Strukturen in einem Gleichgewicht<br />

halten <strong>und</strong> darauf geachtet<br />

werden, dass bei Eintritt einer Katastrophe<br />

die Rettungskräfte schnell <strong>und</strong><br />

wirksam die Katastrophe bekämpfen<br />

<strong>und</strong> Menschen retten können. Diese<br />

Funktion kommt zwar nicht im Gesetzeswortlaut<br />

zum Ausdruck, aber<br />

sie ist u.a. aus dem Zweck des Gesetzes<br />

zu entnehmen. Interessant ist<br />

die Vorschrift im Gesetz über die<br />

Umweltverträglichkeitsprüfung, wonach<br />

eine Umweltverträglichkeitsprüfung<br />

nicht durchzuführen ist, wenn<br />

ein Vorhaben ausschließlich der Verteidigung<br />

oder dem Katastrophenschutz<br />

dient. Man könnte dies als<br />

gewisse Lücke hinsichtlich der Eingriffe<br />

in die Natur auffassen. Allerdings<br />

kann man sich kaum Vorhaben<br />

vorstellen, die ausschließlich<br />

dem Katastrophenschutz dienen.<br />

Beispielsweise sind Wasserrückhaltebecken,<br />

die aus Gründen des Katastrophenschutzes<br />

errichtet werden,<br />

gleichzeitig auch der Erhaltung der<br />

Natur <strong>und</strong> den fließenden Gewässern<br />

gewidmet. Wichtig ist, dass gegen ein<br />

Vorhaben, das der Umweltverträglichkeitsprüfung<br />

unterliegt, jedermann<br />

<strong>und</strong> auch Personenvereinigungen<br />

Einwendungen erheben können.<br />

Es sind hierzu je nach Umständen<br />

auch die Verbände des Katastrophenschutzes<br />

<strong>und</strong> der sonstigen Rettungs<strong>und</strong><br />

Hilfeleistungskräfte aufgerufen.<br />

Ein diesbezügliches Engagement dieser<br />

Kräfte wird auch zu einem besseren<br />

Katastrophenschutz führen.<br />

Definition<br />

Im Hinblick auf die künftige Notfallvorsorge<br />

sollte man sich auch<br />

einmal vergegenwärtigen, was unter<br />

Katastrophenschutz zu verstehen ist.<br />

Katastrophenschutz ist der Schutz vor<br />

Katastrophen <strong>und</strong> die Hilfeleistung<br />

bei eingetretenen Katastrophen. Eine<br />

gültige Definition der „Katastrophe“<br />

gibt es allerdings nicht. Meistens wird<br />

darunter ein plötzlich eingetretenes<br />

Ereignis verstanden, das größeren<br />

Schaden verursacht hat. Schaden<br />

bedeutet dabei großer Sachschaden<br />

<strong>und</strong> Menschenopfer. Niemandem<br />

wird es gelingen, eine gültige Definition<br />

der Katastrophe zu finden. Ab<br />

welcher Sachschadenhöhe <strong>und</strong> ab<br />

welcher Zahl von Todesopfern soll<br />

von einer Katastrophe gesprochen<br />

werden? Wenn durch ein unerwartetes<br />

Ereignis ein hoher Sachschaden<br />

eingetreten ist <strong>und</strong> mehrere Todesopfer<br />

zu beklagen sind, dann ist die<br />

Bezeichnung „Katastrophe“ sicher<br />

angebracht. Es darf jedoch in diesem<br />

Zusammenhang darauf hingewiesen<br />

werden, dass die Vorsorge <strong>und</strong> die<br />

Vermeidung von Katastrophen der<br />

beste Katastrophenschutz sind.<br />

Die B<strong>und</strong>esgesetze lassen die<br />

Strukturen des Katastrophenschutzes<br />

<strong>und</strong> der Katastrophenschutzeinheiten<br />

unberührt. Diese sind in den Ländergesetzen<br />

geregelt, die allerdings sehr<br />

stark voneinander abweichen.<br />

Im Hinblick auf die Verhinderung<br />

von Gefahren <strong>und</strong> Schadensereignissen<br />

bietet sich an, die Gesetze zur<br />

Gefahrenabwehr unter dem Begriff<br />

der „Notfallvorsorge“ zusammenzufassen.<br />

Schließlich können durch alle<br />

Vorsorgegesetze wie z.B. das Lebensmittel-<br />

<strong>und</strong> Futtermittelrecht, Wasserrecht,<br />

Arzneimittelrecht, Strahlenschutzrecht,<br />

Immissionsrecht, Gefahrstoffrecht<br />

usw. viele <strong>und</strong> große<br />

Schäden wirksam bei Mensch <strong>und</strong><br />

Sachgütern verhindert werden. Alle<br />

diese Gesetze dienen der Schadensverhütung<br />

<strong>und</strong> damit einheitlich der<br />

Notfallvorsorge.<br />

Besondere Bedeutung kommt in<br />

der Notfallvorsorge auch der Störfall-<br />

Verordnung zu, die 2005 wesentlich<br />

verändert <strong>und</strong> erweitert wurde. Wenn<br />

in einem Betriebsbereich gefährliche<br />

Stoffe in großen Mengen vorhanden<br />

sind, hat der Betreiber interne Notfallpläne<br />

zu erstellen, die Beschäftigten<br />

in die Notfallpläne einzuweisen<br />

<strong>und</strong> der zuständigen Behörde Sicherheitsberichte<br />

zu erstatten.<br />

Sofern sich Schadensereignisse<br />

über den Betriebsbereich hinaus erstrecken<br />

können, sind besondere<br />

hierzu korrespondierende externe<br />

Notfallpläne von den Verantwortlichen<br />

der Katastrophenabwehr zu erstellen.<br />

Die Katastrophenschutzkräfte<br />

müssen unabhängig davon in die<br />

Besonderheiten des Betriebsbereichs<br />

eingewiesen sein, falls sie zur Hilfeleistung<br />

bei Schadensfällen zum Einsatz<br />

aufgerufen werden.<br />

Bauvorschriften<br />

<strong>Der</strong> Notfallvorsorge dienen auch<br />

viele Bauvorschriften, die bisher sich<br />

bewährten Seilbahngesetze sowie<br />

die Aufzugsverordnung. Die Katastrophe<br />

von Bad Reichenhall zeigt jedoch,<br />

dass Notfallvorschriften in Bezug auf<br />

Versammlungsstätten nicht ausreichend<br />

waren. Die Stabilität der Versammlungsstätten<br />

ab einem bestimmten<br />

Fassungsvermögen müsste<br />

ständig der statischen Prüfung <strong>und</strong><br />

der Überprüfung der Standfestigkeit<br />

unterzogen werden, hierbei müssten<br />

auch große Schneemassen, Sturm<br />

<strong>und</strong> steigendes Hochwasser einkalkuliert<br />

werden.<br />

Ein besonderes Ereignis der letzten<br />

Wochen war das große Leck in<br />

einer Biogasanlage, durch die riesige<br />

Mengen Gülle ausgelaufen sind.<br />

Nur durch einen Großeinsatz der Einsatzkräfte<br />

konnte eine unverhältnismäßig<br />

große Umweltverschmutzung<br />

verhindert werden.<br />

Es ist nicht zu bestreiten, dass Vorsorgemaßnahmen<br />

bei der Errichtung<br />

<strong>und</strong> beim Betrieb von Anlagen, die<br />

besondere Gefahren in sich bergen,<br />

hohen finanziellen Aufwand erfordern.<br />

Es soll jedoch die deutsche Industrie<br />

konkurrenzfähig bleiben, so<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 23


dass der Gesetzgeber sorgfältig das<br />

Gefahrenpotenzial gegenüber kostenträchtigen<br />

Sicherheitsinvestitionen<br />

abzuwägen hat. Allerdings darf dabei<br />

nicht außer Acht gelassen werden,<br />

dass die Europäische Union immer<br />

mehr Richtlinien <strong>und</strong> Verordnungen<br />

zur Gefahrenabwehr <strong>und</strong> Notfallvorsorge<br />

mit bindenden Verpflichtungen<br />

verabschiedet. Dies gleicht im Hinblick<br />

auf Beschränkungen durch die<br />

Notfallvorsorge die Konkurrenzfähigkeit<br />

im Europäischen Raum aus.<br />

Auf die Interpretation des Sprengstoffrechts<br />

<strong>und</strong> dessen Novellierung<br />

im abgelaufenen Jahr kann hier verzichtet<br />

werden.<br />

Trotz aller Normen zur Gefahren<strong>und</strong><br />

Schadensverhütung ist <strong>für</strong> das<br />

abgelaufene Jahr festzustellen, dass<br />

die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland von<br />

einigen Katastrophen heimgesucht<br />

wurde. Bisherige Analysen zeigen,<br />

dass die Einsatz- <strong>und</strong> Rettungshilfekräfte<br />

im Großen <strong>und</strong> Ganzen ausreichend<br />

waren. Trotzdem bliebe zu<br />

überlegen, ob nicht gesetzliche Normen<br />

notwendig wären, damit Besitzer<br />

von Sonderfahrzeugen <strong>und</strong> Großarbeitsgeräten,<br />

wie z.B. Großkrane,<br />

Räumgeräte usw. durch Anforderung<br />

der Katastrophenschutzkräfte zur Hilfeleistung<br />

verpflichtet werden können.<br />

Sie müssten dann unverzüglich<br />

mit ihren Geräten einschließlich der<br />

Geräteführer am Einsatzort eintreffen.<br />

Einsatz der B<strong>und</strong>eswehr<br />

Ein besonderes Potenzial zur Katastrophenhilfe<br />

stellt die B<strong>und</strong>eswehr<br />

dar. Voraussetzung <strong>für</strong> eine wirksame<br />

Hilfe der B<strong>und</strong>eswehr ist allerdings<br />

deren günstige Stationierung<br />

im näheren Umgebungsbereich zu<br />

einer eingetretenen Katastrophe. Die<br />

Neufassung des Wehrpflichtgesetzes<br />

(WPflG) im Jahre 2005 ist dem Katastrophenschutz<br />

sehr aufgeschlossen.<br />

In § 13a WPflG ist normiert, dass<br />

Wehrpflichtige, die sich vor Vollendung<br />

des 23. Lebensjahres mit Zustimmung<br />

der zuständigen Behörde<br />

auf mindestens sechs Jahre zum ehrenamtlichen<br />

Dienst als Helfer im Zivil-<br />

oder Katastrophenschutz verpflichtet<br />

haben, nicht zum Wehr-<br />

dienst herangezogen werden, solange<br />

sie als Helfer im Zivilschutz oder<br />

Katastrophenschutz mitwirken. Die<br />

Mitwirkung im Zivilschutz ist unbedeutend,<br />

da das Zivilschutzgesetz in<br />

der Öffentlichkeit immer mehr in Vergessenheit<br />

gerät. In § 14 des Zivildienstgesetzes,<br />

das ebenfalls im Jahr<br />

2005 neu gefasst wurde, wurde eine<br />

analoge Regelung wie in § 13 WPflG<br />

getroffen. Danach wird ein anerkannter<br />

Kriegsdienstverweigerer nicht<br />

zum Zivildienst herangezogen, wenn<br />

er sich vor Vollendung des 23. Lebensjahres<br />

zur Mitwirkung im Zivilschutz<br />

oder Katastrophenschutz verpflichtet<br />

hat. Im Übrigen hat das<br />

Zivildienstgesetz mit dem Katastrophenschutz<br />

wenig zu tun, denn nach<br />

§ 1 des Zivildienstgesetzes erfüllen<br />

anerkannte Kriegsdienstverweigerer<br />

Aufgaben, die dem Allgemeinwohl<br />

dienen, vorrangig im sozialen Bereich.<br />

Zusammenfassend ist festzustellen,<br />

dass die Rechtsnormen zur Verhütung<br />

von Gefahren vorrangig gegenüber<br />

den Rechtsnormen sind, die<br />

zur Hilfe bei eingetretenen Großschäden<br />

<strong>und</strong> zur Rettung von Menschen<br />

in Not verpflichten. Auf Gr<strong>und</strong> der<br />

Notfallvorsorge sind bisher keine<br />

spektakulären Schadensereignisse<br />

eingetreten. Man kann jedoch andererseits<br />

auch nicht abschätzen, welche<br />

Schäden durch die Vorsorgenormen<br />

verhütet wurden. Dies ist auch<br />

nicht notwendig, denn es gilt auch<br />

hier der allgemeine Gr<strong>und</strong>satz: Vorsorge<br />

ist besser als Heilung.<br />

<strong>Der</strong> Gesetzgeber, die Behörden,<br />

die Katastrophenschutzkräfte <strong>und</strong> die<br />

Bürger werden dazu aufgerufen bleiben,<br />

die Entwicklung der Industrien,<br />

der Umwelt, der Natur <strong>und</strong> der Siedlungsstrukturen<br />

sorgfältig zu beobachten,<br />

um der Verpflichtung zur<br />

Notfallvorsorge stets entsprechen zu<br />

können. Dies gilt umso mehr bezüglich<br />

der Entwicklung neuer industrieller<br />

Produkte. Die Entwicklung neuer<br />

Produkte steht nämlich im ständigen<br />

Wettlauf mit der Normsetzung<br />

zur Verhütung von Gefahren, die sich<br />

aus neuen Industrieprodukten ergeben<br />

könnten.<br />

Betrac<br />

zum<br />

Martin Schmidt, Kreisbereitschaftsleiter<br />

des Bayerischen Roten<br />

Kreuz, Kreisverband Kronach,<br />

sowie Örtlicher Einsatzleiter des<br />

Katastrophenschutzes des Landkreises<br />

Kronach<br />

Den Ausführungen von RA Dr. Wandel<br />

in der Ausgabe 3/2005 der Zeitschrift<br />

Notfallvorsorge kann ich nur<br />

zustimmen: Die Gründung von Beiräten<br />

<strong>für</strong> den Katastrophenschutz<br />

auf Kreis-, Landes- <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esebene<br />

ist meines Erachtens ein schon<br />

seit langem fälliger Schritt. Und dies<br />

nicht nur wegen der Motivation der<br />

freiwilligen Helfer <strong>und</strong> der Akzeptanz<br />

des Katastrophenschutzes, sondern<br />

auch, um endlich ein zukunftsgerichtetes,<br />

modernes Notfallmanagement<br />

zu implementieren <strong>und</strong><br />

den verwaltungstechnischen Katastrophenschutz<br />

hinter uns zu lassen.<br />

Mit diesen Beiräten wäre es möglich,<br />

eine gemeinsame Sprache zu finden,<br />

denn momentan müssen wir uns<br />

fragen, ob wir immer das Gleiche<br />

meinen, wenn wir über den Katastrophenschutz<br />

sprechen.<br />

Oder werden von B<strong>und</strong>esland zu<br />

B<strong>und</strong>esland verschiedene Terminologien<br />

verwendet?<br />

Schlussendlich bleibt hier die Frage,<br />

wie lange wir uns noch sechzehn<br />

verschiedene Katastrophenschutzsysteme<br />

leisten können.<br />

In der Nachschau der jüngsten<br />

Großschadensereignisse habe ich<br />

noch viele offene Fragen: Haben wir<br />

wirklich aus den Fehlern, die bei den<br />

Hochwasser- <strong>und</strong> Schneekatastrophen<br />

aufgetreten sind, gelernt?<br />

24 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


tungen<br />

Katastrophenschutz<br />

Haben wir unser Notfallmanagement<br />

dementsprechend geändert?<br />

Sind Ausbildung, standardisierte Ausstattungen<br />

oder Einsatzpläne dementsprechend<br />

modifiziert worden? Wurden<br />

Konzepte konsequent <strong>für</strong> überregionale<br />

Einsätze entwickelt? Werden<br />

diese Konzepte auch veröffentlicht<br />

<strong>und</strong> ausgeführt? Wie sieht die b<strong>und</strong>esweite<br />

Umsetzung aus?<br />

Als Anhänger des Föderalismus<br />

sehe ich <strong>für</strong> den Katastrophenschutz<br />

bei der Beibehaltung der unterschiedlichen<br />

Strukturen in den B<strong>und</strong>esländern<br />

eine Sackgasse, denn Großschadensereignisse<br />

laufen identisch<br />

ab, egal ob im Norden, Süden, Osten<br />

oder Westen unserer Republik, ebenso<br />

ist das Ziel in der Einsatzbewältigung<br />

immer das Gleiche. Warum können<br />

wir dann nicht in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland ein einheitliches<br />

System des Notfallmanagements installieren?<br />

Gefordert wäre ein einfaches Führungssystem,<br />

in dem sich die Führungskräfte<br />

auch „heimisch“ fühlen.<br />

Ein Führungssystem, das im täglichen<br />

Einsatz schon gelebt wird, ein<br />

System, das bei der Bewältigung von<br />

Katastrophenfällen bei Bedarf nur<br />

noch erweitert wird. Es muss unbedingt<br />

vermieden werden, dass bei<br />

Katastrophen ein völlig neues bzw.<br />

nur <strong>für</strong> diesen Katastrophenfall vorhandenes<br />

Führungssystem aus dem<br />

Hut gezaubert wird. Voraussetzung<br />

<strong>für</strong> den Einsatz in extremen Situationen<br />

ist ein regelmäßiges Einüben, um<br />

erfolgreich reagieren zu können.<br />

Neben dem einheitlichen Führungssystem<br />

müssen die weiteren<br />

Rahmenbedingungen stimmen. So<br />

müssen die Ausbildungen identisch<br />

sein <strong>und</strong> das durchgängig, von der<br />

Gr<strong>und</strong>ausbildung hin zur Spezialausbildung.<br />

Ausbildung ist nicht nur<br />

wichtig, um einen Einsatz erfolgreich<br />

abzuschließen, sondern auch, wenn<br />

sie konsequent durchgeführt wird,<br />

ein wichtiges Element zum Schutz der<br />

Helfer. Kurz gesagt ist Ausbildung im<br />

Katastrophenschutz Drill, denn das<br />

Handwerk muss sitzen.<br />

Im Einsatzfall erst überlegen zu<br />

müssen, wie Standards umgesetzt<br />

werden sollen, ist kontraproduktiv<br />

<strong>und</strong> <strong>für</strong> eine erfolgreiche Einsatzbewältigung<br />

nicht akzeptabel.<br />

Wie bereits oben angeführt, gibt<br />

es im deutschen Katastrophenschutz<br />

noch sehr viel zu tun, deshalb kann<br />

ich mich der Meinung von Dr. Wandel<br />

nur anschließen <strong>und</strong> die Einrichtung<br />

eines Beirates <strong>für</strong> den Katastrophenschutz<br />

fordern. Dies muss auf<br />

der Ebene der Landkreise beginnen<br />

<strong>und</strong> auf B<strong>und</strong>esebene enden, denn<br />

nur so können wir die vielen noch<br />

unbewältigten Aufgaben lösen.<br />

Notfallkonzepte <strong>für</strong> die Landkreise<br />

können nur vor Ort entwickelt <strong>und</strong><br />

umgesetzt werden. Hier müssen alle<br />

Organisationen <strong>und</strong> Behörden, die an<br />

der Gefahrenabwehr beteiligt sind, an<br />

einem Strang ziehen. Dieses Engagement<br />

darf nicht durch Zufall entstehen,<br />

sondern müsste <strong>für</strong> alle Landkreise<br />

verpflichtend sein.<br />

Die Aufgabe der Landesbeiräte<br />

wäre, überregionale Einsatzpläne <strong>für</strong><br />

jedes B<strong>und</strong>esland zu entwickeln <strong>und</strong><br />

an die benachbarten B<strong>und</strong>esländer zu<br />

adaptieren, bzw. Schnittstellenproblematiken<br />

zu vermeiden <strong>und</strong> zu lösen.<br />

<strong>Der</strong> B<strong>und</strong>esverband sollte abschließend<br />

<strong>für</strong> die Überwachung der<br />

standardisierten Führungsstruktur<br />

sowie die Einhaltung der Ausbildungsordnung<br />

zuständig, genauso<br />

wie <strong>für</strong> die Umsetzung <strong>und</strong> Verbreitung<br />

von neuen wissenschaftlichen<br />

Erkenntnissen in dieser Thematik<br />

sein. Die Entwicklung von Einsatzplänen<br />

<strong>für</strong> Schadenslagen, die mehrere<br />

B<strong>und</strong>esländer betreffen, würde das<br />

Aufgabenprofil des B<strong>und</strong>esverbandes<br />

abr<strong>und</strong>en.<br />

Mit einem einheitlichen Gefahrenabwehrkonzept<br />

können wir aber auch<br />

die europäische Herausforderung<br />

meistern, denn Einsätze bei unseren<br />

europäischen Nachbarn werden in<br />

Zukunft zunehmen. Wenn man den<br />

Prognosen der Wissenschaftler glauben<br />

will, werden die Naturkatastrophen<br />

in den kommenden Jahren zunehmen,<br />

Epidemien <strong>und</strong> Pandemien<br />

auf uns zukommen. Diese Problematik<br />

können wir nur mit einer effizienten<br />

Struktur bewältigen.<br />

Ich bin mir sicher, dass diese Einrichtungen<br />

ein Gewinn <strong>für</strong> die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland wären.<br />

Hier<strong>für</strong> sind bereits viele Ressourcen<br />

vorhanden, sie müssen nur gebündelt<br />

<strong>und</strong> in die richtigen Kanäle geleitet<br />

werden. Dies bedeutet natürlich<br />

viel Arbeit, wird sich aber bei der<br />

Einsatzbewältigung positiv bemerkbar<br />

machen.<br />

Wichtig wäre meines Erachtens,<br />

dass endlich eine Diskussion zu diesem<br />

Thema entstehen würde, aus der<br />

Lösungen <strong>für</strong> unsere Probleme entstehen<br />

müssen. Wie groß muss die<br />

nächste Katastrophe erst sein, um<br />

solch eine Diskussion in Gang zu bringen?<br />

Wollen wir wirklich erst auf die<br />

nächste Flut warten, um danach<br />

wieder festzustellen, dass die Probleme,<br />

die wir bereits heute haben, noch<br />

nicht gelöst sind? Einfach wird dieser<br />

Weg nicht, aber zum Wohl unserer<br />

Bevölkerung ist er notwendig!<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 25


Jenseits des Alltäglichen –<br />

Als 13 Jahre später die Lüneburger<br />

Heide brannte, konnte sich das<br />

Feuer erst durch das unkoordinierte<br />

Vorgehen ausbreiten <strong>und</strong> zur Wald<strong>und</strong><br />

Heidekatastrophe steigern. Es<br />

fehlte ein einheitliches Funknetz der<br />

Feuerwehren, die eingesetzten Geräte<br />

waren nicht kompatibel, von einer<br />

zentralen Führung fehlte zeitweise<br />

jede Spur.<br />

Während der Hochwasserkatastrophe<br />

1997 an der Oder wurde der damalige<br />

Kommandeur der 14. Panzergrenadierdivision<br />

<strong>und</strong> Befehlshaber<br />

im Wehrbereich VIII, General von<br />

Kirchbach, der spätere Generalinspekteur<br />

der B<strong>und</strong>eswehr, zum Deichgrafen.<br />

Er kommandierte nicht nur<br />

r<strong>und</strong> 15.000 Soldaten, sondern koordinierte<br />

damit de facto die Verteidigung<br />

der Deiche. <strong>Der</strong> damalige brandenburgische<br />

Ministerpräsident Manfred<br />

Stolpe erk<strong>und</strong>igte sich bei<br />

Helmut Schmidt, wie er als verantwortlicher<br />

Landespolitiker den Einsatz<br />

der B<strong>und</strong>eswehr denn koordinieren<br />

könne. <strong>Der</strong> Altkanzler soll ihm den<br />

Rat gegeben haben: ,Lassen Sie die<br />

Herren einfach machen!’<br />

Auch bei der Hochwasserkatastrophe<br />

fünf Jahre später versagte weitgehend<br />

der Katastrophenschutz. Das<br />

Meldewesen funktionierte nicht. Die<br />

Katastrophenstäbe zeigten sich weit-<br />

Organisationstheoretische Untersuchung zur<br />

Fregattenkapitän Peter Buchner arbeitet als Dozent am Zentrum Innere<br />

Führung <strong>und</strong> ist als ehrenamtlicher Helfer S3 einer Fachgruppe Führung &<br />

Kommunikation des THW.<br />

„Katastrophenschutz wurde seit jeher in der B<strong>und</strong>esrepublik vernachlässigt.<br />

Die Geschichte der Katastrophen in der B<strong>und</strong>esrepublik ist eine Geschichte<br />

des Versagens des Katastrophenschutzes. Bei der Hochwasserkatastrophe<br />

1962 nahm der damalige Innensenator Helmut Schmidt entschlossen<br />

die Zügel in die Hand, koordinierte die zahlreichen freiwilligen Helfer<br />

<strong>und</strong> forderte die B<strong>und</strong>eswehr an. Sein Vorgehen galt einerseits anschließend<br />

als vorbildlich, schließlich wurden im Nachgang die rechtlichen Rahmenbedingungen<br />

<strong>für</strong> den Einsatz der B<strong>und</strong>eswehr geschaffen.<br />

„Lassen Sie die<br />

gehend überfordert, verfügten vor<br />

allen Dingen nicht über die Kommunikationsmittel,<br />

um den Einsatz zu<br />

führen. Die Telefone fielen aus, das<br />

Handy-Netz, auf das man teilweise<br />

auswich, brach zusammen. <strong>Der</strong> analoge<br />

Funkverkehr von Polizei, Feuerwehr<br />

<strong>und</strong> Katastrophenschutz reichte<br />

nicht aus.“ 1<br />

Ursachen oder ‚Logik des Misslingens’<br />

(Dietrich Dörner) liegen neben<br />

Fernmeldeproblemen in überforderten<br />

Stäben, die ad hoc zusammengestellt<br />

sind, dem Fehlen eines gemeinsamen<br />

Führungsverständnisses,<br />

das die Vorstellung von den Aufgaben<br />

der hierarchischen Ebenen<br />

vernebelt, <strong>und</strong> mangelnder Übung<br />

der Katastrophenabwehr. So beschreibt<br />

Paul Elmar Jöris vom WDR-<br />

Studio Düsseldorf die prekäre Lage<br />

des Katastrophenschutzes 1 <strong>und</strong> zitiert<br />

damit aus den Ergebnissen der Kirchbach-Kommission,<br />

bei der eigentlich<br />

nur die B<strong>und</strong>eswehr als Institution<br />

gut wegkommt. „Sie war in vielen<br />

Bereichen autark, verfügt über die<br />

Kräfte <strong>und</strong> Mittel, die notwendig sind,<br />

selbst. Und der geordnete Einsatz der<br />

Kräfte <strong>und</strong> Mittel ist geübte Praxis<br />

ihrer Führer <strong>und</strong> Führungsorganisation.”<br />

2<br />

Katastrophenschutzeinheiten haben<br />

dabei offensichtlich Defizite. Dies<br />

gibt im Folgenden Anlass, nach Gründen<br />

zu suchen, die <strong>für</strong> die von Jöris<br />

beschriebene unbefriedigende Lage<br />

angeführt werden können. Die Qualifizierung<br />

der Führungskräfte durch<br />

Ausbildung wird hier nicht betrachtet.<br />

Ansatzpunkte werden in den Eigenschaften<br />

des Führungssystems<br />

gesucht <strong>und</strong> der Analyse unterzogen.<br />

Untersuchungsdesign<br />

Die Eigenschaften des militärischen<br />

Führungssystems werden zu<br />

den Situationsparametern von Katastrophen<br />

in Beziehung gesetzt. Dann<br />

werden die faktischen Gegebenheiten<br />

an den funktionalen Erfordernissen<br />

gemessen. Daraus wird eine Kritik<br />

entwickelt, die Fehlentwicklungen<br />

beschreibt <strong>und</strong> zweckmäßige Weiterentwicklungen<br />

benennt. Dem steht<br />

der Gedanke Pate, die immanenten<br />

Eigenschaften zur Geltung, Stärken<br />

zum Tragen zu bringen <strong>und</strong> Schwächen<br />

auszugleichen. Anschließend<br />

können Verbesserungsmöglichkeiten<br />

<strong>für</strong> das Verständnis von der Gefahrenabwehr<br />

abgeleitet werden. Nicht<br />

betrachtet werden die alltäglichen<br />

Hilfen durch Feuerwehren, Rettungsdienst<br />

oder Polizei. Da<strong>für</strong> kommt kein<br />

umfangreiches Einsatzsystem zur<br />

Anwendung, sondern den Bürgern<br />

wird im Einzelfall individuelle Unterstützung<br />

zuteil. Die Überlegungen<br />

beschränken sich auf Schadensereignisse,<br />

in denen umfangreiche Ressourcen<br />

eingesetzt werden müssen,<br />

so wie man es landläufig mit den Begriffen<br />

Katastrophe oder Großschadensereignis<br />

verbindet. <strong>Der</strong> Begriff<br />

Katastrophe wird in diesem weiten<br />

Sinn <strong>für</strong> solche Situationen verwendet<br />

<strong>und</strong> geht damit über die rechtliche<br />

Bedeutung in den Katastrophenschutzgesetzen<br />

hinaus.<br />

26 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


oder:<br />

erren einfach machen“<br />

Katastrophenabwehr<br />

Weiterhin beschränkt sich die Analyse<br />

auf eine funktionale Sichtweise.<br />

Emotionale Aspekte <strong>und</strong> individuelle<br />

Interessenlagen werden nicht diskutiert.<br />

Strukturprinzipien der<br />

operativen Organisation<br />

des Militärs<br />

Wie früher bereits nach den Heidebränden<br />

kann <strong>für</strong> die Untersuchung<br />

eine Anleihe bei der Militärorganisation<br />

genommen werden, <strong>und</strong><br />

zwar in der Heeresdienstvorschrift<br />

(HDv) 100/100 – kurz ‚TF’ 3 . In Nr. 326<br />

liest man dort:<br />

„<strong>Der</strong> Erfolg <strong>und</strong> das Glück des<br />

Tüchtigen sind meistens auf der Seite<br />

dessen, der sich einfallsreich, aber<br />

unkompliziert, mutig, schnell <strong>und</strong><br />

trotzdem überlegt zum Handeln entschließt<br />

<strong>und</strong> seine Entscheidungen<br />

mit angemessener Härte auch gegen<br />

Widerstand beharrlich durchsetzt.<br />

Führer, die auf Befehle warten, können<br />

die Gunst des Augenblicks nicht<br />

nutzen. Unentschlossenheit <strong>und</strong> zögerliches<br />

Handeln sind meist verhängnisvoller<br />

als ein Fehlgriff in der<br />

Wahl der Mittel.” 4 Das dazu erforderliche<br />

Führungssystem, wie es in der<br />

auch im Zivilschutz häufig zitierten<br />

HDv 100/200 „Führungssystem des<br />

Heeres” bzw. in der Neuauflage „Führungsunterstützung”<br />

beschrieben ist,<br />

zielt auf unverzügliche Reaktion <strong>und</strong><br />

schnelle Entscheidungen.<br />

(Siehe Tabelle 1)<br />

Eigenschaften<br />

von Katastrophen<br />

In den Überlegungen zur Übertragung<br />

des amerikanischen Incident-<br />

Command-Systems auf die deutschen<br />

Verhältnisse beschreiben Mit-<br />

schke <strong>und</strong> Frank die Eigenschaften<br />

von Katastrophen 5 :<br />

sie geschehen ohne vorherige Ankündigung<br />

sie entwickeln sich schnell<br />

ohne Eingriffe nehmen Größe <strong>und</strong><br />

Komplexität zu<br />

hohes persönliches Risiko <strong>für</strong> das<br />

Einsatzpersonal<br />

vor Ort sind mehrere Gefahrenabwehrorgane<br />

es existieren vielfältige, teils überschneidende<br />

Zuständigkeiten<br />

Ereignisse stehen im Mittelpunkt<br />

des Medieninteresses<br />

es besteht Gefahr <strong>für</strong> Leib <strong>und</strong> Leben<br />

Kosten des Einsatzes sind ein Entscheidungsfaktor.<br />

Deutlich wird daraus, dass in der<br />

Katastrophenabwehr Handlungs-<br />

Tabelle 1<br />

druck besteht <strong>und</strong> Einfachheit der<br />

Struktur die Orientierung erleichtert.<br />

Funke <strong>und</strong> Kirk fassen als Eigenschaften<br />

von Katastrophen <strong>und</strong> damit<br />

Ursachen <strong>für</strong> die Schwierigkeiten<br />

bei der Katastrophenabwehr zusammen:<br />

6 (s. Tabelle 2)<br />

Um diesen Eigenschaften gerecht<br />

zu werden, ist eine Reduzierung der<br />

Komplexität erforderlich. Die Vernetzung<br />

zwingt zum Handeln ins Ungewisse.<br />

Dies erlaubt der kybernetische<br />

Regelkreis. Einfache Mittel erlauben,<br />

dem Zeitdruck zu begegnen.<br />

Paul t´Hart beschreibt das Krisenmanagement<br />

der öffentlichen Verwaltung<br />

mit den Eigenschaften Bedrohung,<br />

Ungewissheit, Zeitdruck <strong>und</strong><br />

Komplexität. Außerdem hat jede Krise<br />

einmalige, d.h. singuläre „Merkmale,<br />

was Ort, Zeit <strong>und</strong> Organisation<br />

Kriterium funktionale Implikationen<br />

einfallsreich Einfachheit der Mittel im Einsatz im Gegensatz<br />

zur Spezialisierung bei Behörden<br />

unkompliziert Universalität des Denkens wie der Mittel<br />

mutig Handeln ins Ungewisse <strong>und</strong> trotz unbekannter<br />

Lageentwicklung<br />

schnell Entscheidungsbedarf minimieren, Entscheidungen<br />

schnell initiieren <strong>und</strong> zügig in Handlung<br />

(= Hilfe) umsetzen; es besteht Handlungsdruck<br />

überlegt erfordert Gedankengänge offen zu legen, d.h.<br />

Kriterien kennen <strong>und</strong> anwenden als wichtigen<br />

Beitrag von Ausbildung<br />

beharrlich Vorrang des Handelns vor der Rezeption von<br />

Bedenken<br />

Entscheidungen Bündelung der Befugnisse wie z. B. in der<br />

durchsetzen Stab-Linien-Organisation<br />

nicht auf Befehle warten Prinzip des Führens mit Auftrag<br />

Gunst des Augenblicks Freiräume auf allen Ebenen gewähren <strong>und</strong><br />

nutzen ausfüllen<br />

Zögern ist schlimmer kybernetisches Regelkreismodell des<br />

als ein Fehlgriff in der Führungsvorganges mit immanenten<br />

Wahl der Mittel Korrekturmöglichkeiten<br />

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Tabelle 2<br />

Bezeichnung Beschreibung<br />

Komplexität Die Situation besteht aus vielen Variablen. Die<br />

Verarbeitungskapazität wird überschritten. Folgerung:<br />

Die Informationsmenge muss verringert werden.<br />

Vernetzung Die Variablen sind nicht voneinander unabhängig.<br />

Folgerung: Die Abhängigkeiten zwischen den Variablen<br />

müssen herausgearbeitet werden. Dazu strukturieren<br />

Modelle Informationen.<br />

Intransparenz Die Informationen sind nicht vollständig.<br />

Folgerung: Man muss aktiv Informationen beschaffen <strong>und</strong><br />

Annahmen treffen.<br />

Eigendynamik Die Situation verändert sich ohne Eingreifen eines Entscheidungsträgers.<br />

Es steht oft nur wenig Zeit <strong>für</strong> Überlegungen<br />

zur Verfügung. Folgerung: Es sind rasche Entscheidungen<br />

auf Gr<strong>und</strong> der vorhandenen Infos notwendig.<br />

Polytelie Es müssen sich gegenseitig ausschließende Ziele verfolgt<br />

werden. Folgerung: <strong>Der</strong> Entscheidende muss sich über<br />

die unterschiedlichen Ziele im klaren sein <strong>und</strong> bei Zielkonflikten<br />

begründet Position beziehen.<br />

Entschei- Entscheidungen sind notwendig; Entscheidungen hängen<br />

dungsbedarf voneinander ab, aber die Situation ändert sich nicht nur in<br />

Folge der Entscheidungen, sondern auch von allein.<br />

Folgerung: Verzögerte Entscheidungen bergen die Gefahr<br />

in eine Spirale der Zerstörung zu geraten.<br />

anbelangt.” Er stellt fest, dass bei der<br />

Bewältigung dieser Situationen eine<br />

Anpassung des Verwaltungshandelns<br />

erfolgt. „Gr<strong>und</strong>sätze der Amtsführung<br />

(...) werden Schritt <strong>für</strong> Schritt<br />

unter dem Druck der Umstände über<br />

Bord geworfen. <strong>Der</strong> Prozess der Entscheidungsfindung<br />

während Krisen<br />

weicht in einer Anzahl von Punkten<br />

stark von jenem unter normalen Umständen<br />

ab.” Er zitiert weiter die Meinung<br />

des Katastrophenforschers<br />

Quarantelli, wonach die Koordination<br />

der Verwaltungsorganisation nicht<br />

die Lösung (einer Krisensituation<br />

bringt; d. Verf.), sondern Teil des Problems<br />

sei. Er zeigt damit, wie problematisch<br />

zwischenorganisatorische<br />

Verhältnisse gerade in Krisen sind. 7<br />

Aus der Singularität ist zu folgern,<br />

dass man Gemeinsamkeiten <strong>für</strong> die<br />

Organisation erst auf abstrakteren<br />

Ebenen gewinnen kann. Wenn<br />

Gr<strong>und</strong>sätze der Amtsführung aufweichen,<br />

dann ist die Katastrophenabwehr<br />

keine Amtsaufgabe mehr <strong>und</strong><br />

folgt nicht der Logik von Behörden.<br />

Dies erfordert eine andere Organisation<br />

mit möglichst wenig zwischenorganisatorischenBerührungspunkten.<br />

Abgeleitet aus dem gesetzlich normierten<br />

Katastrophenbegriff kann<br />

man Katastrophen mit Phasenübergängen<br />

beschreiben. Wenn die individuelle<br />

Versorgung der Betroffenen<br />

im Schadensabwehrsystem nicht<br />

mehr nach Individualstandard möglich,<br />

sondern ein Übergang zur Minimierung<br />

der kollektiven Betroffenheit<br />

vollzogen ist, liegt eine Katastrophe<br />

vor. 8 Über die Steuerung der vorgehaltenen<br />

Einsatzmittel steuert die Verwaltung<br />

den Eintritt einer Katastrophe<br />

als politischen Prozess. Die Abwehr<br />

erfolgt nach anderen Prinzipien.<br />

Ausgangshypothesen<br />

Um die Rahmenbedingungen zu<br />

erfassen <strong>und</strong> den Schwierigkeiten der<br />

Katastrophenabwehr zu begegnen,<br />

dienen nachfolgende Hypothesen zur<br />

operativen Führung der Gefahrenabwehr<br />

als untersuchungsleitend:<br />

Führung in der Katastrophenabwehr:<br />

Kern von Führung heißt Entscheidungen<br />

treffen<br />

es herrscht eine Mangelsituation<br />

Minimierung des Entscheidungsbedarfs<br />

erhöht den Handlungserfolg<br />

Führungsvorgang:<br />

Schadensabwehr ist Handeln ins<br />

Ungewisse<br />

das kybernetische Regelkreismodell<br />

ist ein probates Mittel <strong>für</strong> die<br />

Bewältigung der Ungewissheit<br />

Auftragstaktik als Führungsprinzip<br />

eröffnet Flexibilität<br />

Erfolgschancen haben einfache,<br />

unspezifische Mittel statt „Spezialwerkzeuge”<br />

Führungsorganisation:<br />

Regelungsbedarf einer Führungsstelle<br />

„auf der Naht”, also der Angelegenheiten<br />

auf der Linie selbst,<br />

<strong>und</strong> von Dingen, die <strong>für</strong> mehrere<br />

Unterstellte gleichzeitig gelten oder<br />

gleich sein müssen<br />

neue Führungsebenen enthalten<br />

neue – emergente – operative Eigenschaften<br />

wie Aufmarsch, Ablösung<br />

oder Logistik, die auf taktischer<br />

Ebene nicht abgebildet sind<br />

Hierarchiestufen sind Abstraktionsstufen<br />

<strong>für</strong> Information<br />

aufbauorganisatorische Unabhängigkeit<br />

vom Einsatz mit vorgeplantem<br />

Aufbau verringert den Entscheidungsbedarf<br />

<strong>und</strong> erzeugt Bekanntheit<br />

bei den Beteiligten<br />

Geschlossenheitsverständnis im<br />

Begriff Einheit als Abgrenzung zwischen<br />

operativem <strong>und</strong> taktischem<br />

Prinzip<br />

Führungsmittel:<br />

stufenweise Abstraktion des Lagebildes<br />

vom Trupp zur Einsatzleitung<br />

verfügbare Führungsunterstützung<br />

entspricht dem Aufwand <strong>für</strong> Führung<br />

gemeinsames Lagebild <strong>für</strong> den<br />

Stab mit seinem Führer steigert die<br />

Schlagkraft, verringert die interne<br />

Kommunikation <strong>und</strong> ist Ausdruck<br />

des Teamgedankens<br />

Beschränkung der Kommunikation<br />

auf die Organisationslinien<br />

Definition Führung:<br />

Als Führung definiert man landläufig<br />

zielgerichtetes Einwirken auf das<br />

Handeln oder Entscheiden anderer.<br />

Das Führungssystem, mit dem Führung<br />

verwirklicht wird, besteht aus<br />

Führungsvorgang, Führungsorganisation<br />

<strong>und</strong> Führungsmitteln.<br />

28 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


Aspekte des<br />

Führungsvorgangs<br />

Traditionell definiert man als Führungsvorgang<br />

einen geschlossenen,<br />

immer wiederkehrenden Denk- <strong>und</strong><br />

Handlungsablauf. Im Nebeneinander<br />

von Denken <strong>und</strong> Handeln besteht ein<br />

erstes Defizit. <strong>Der</strong> Führungsvorgang<br />

aus Lagefeststellung, Planung, Befehlsgebung<br />

<strong>und</strong> Kontrolle enthält<br />

keinen Handlungsaspekt. <strong>Der</strong> Wesensgehalt<br />

von Führen als Entscheiden<br />

bleibt im Nebel.<br />

Im Gegensatz zur kollegialen Entscheidungsfindung<br />

in einer Behörde<br />

muss man im Einsatz ins Ungewisse<br />

handeln. Dies rechtfertigt die Anwendung<br />

eines kybernetischen Regelkreis-Modells<br />

als Art Prediktor-Korrektor-Funktion<br />

9 mit Vorhersage <strong>und</strong><br />

Korrektur, die die Aktion in eine bestimmte<br />

Richtung lenkt <strong>und</strong> dann beobachtet,<br />

ob die Richtung stimmt,<br />

ggf. ändert <strong>und</strong> nachsteuert. Dies ist<br />

notwendig, weil einerseits die Lage<br />

nicht vollständig bekannt, andererseits<br />

ihre Entwicklung nicht determiniert<br />

ist. Gerechtfertigt erscheint dies<br />

aber nur unter dem Druck des Handelns.<br />

Ist doch die Katastrophe eine<br />

Situation des Mangels. Es stehen<br />

nicht mehr genügend Kräfte <strong>und</strong> Mittel<br />

zur Verfügung, um die Standards<br />

zu erfüllen, wie sie z.B. in der notfallmedizinischen<br />

Individualversorgung<br />

eines Patienten im Rettungsdienst<br />

gelten. Die Triage als ethische Grenzsituation<br />

im Katastrophenschutz ist<br />

da<strong>für</strong> Beispiel.<br />

Mit dem Handlungsdruck geht die<br />

Notwendigkeit einher, die Hilfeleistung<br />

nicht durch zu langes Nachdenken<br />

hinauszuzögern. Dabei steht die<br />

Komplexität der Situation schnellem<br />

Entscheiden im Weg. Bleibt der Weg,<br />

die notwendige Anzahl der Entscheidungen<br />

zu minimieren. Dies ist eine<br />

wichtige Forderung, die das Führungssystem<br />

erfüllen muss. Damit<br />

kann zügige Hilfe initiiert werden.<br />

<strong>Der</strong> Begriff Vorbefehl drückt dieses<br />

„schon einmal in die Richtung loslaufen<br />

...” auf der Bühne Situation 10<br />

mit unvollständig bekannter Lage<br />

aus. Demgegenüber müssen Behördenentscheidungen<br />

auf einer vollständigen<br />

Problemanalyse beruhen 11 .<br />

Dazu gehört im Gegensatz zur Entscheidungsfindung<br />

der Gefahrenab-<br />

wehr im Regelkreismodell ein Kriterium,<br />

das das Ende der Problembeschreibung<br />

– also der Lagefeststellung<br />

– <strong>und</strong> i. S. der Dv 100 den Übergang<br />

zur Entscheidung festlegt.<br />

Bezogen auf den Führungsvorgang<br />

bestehen somit gr<strong>und</strong>legende Unterschiede<br />

zwischen der Entscheidungsfindung<br />

im Organisationsgefüge einer<br />

Behörde <strong>und</strong> dem Führungssystem<br />

der Katastrophenabwehr. 12 Die<br />

gedankliche Trennung der beiden<br />

Bereiche à la vorbeugender <strong>und</strong> abwehrender<br />

Brandschutz könnte dies<br />

zum Ausdruck bringen.<br />

Unvollständigkeit <strong>und</strong> Ungewissheit<br />

sind Einflussfaktoren, die in großem<br />

Umfang Selbststeuerungsprozesse<br />

erfordern. Diese systemtheoretische<br />

Erkenntnis wird mit dem<br />

Prinzip des Führens mit Auftrag zum<br />

organisationstheoretischen Element.<br />

Es bewirkt, dass das gemeinsame Ziel<br />

trotz denkbarer unzutreffender Lagebilder<br />

erreicht werden kann. Ziele<br />

werden zentral festgelegt <strong>und</strong> dezentral<br />

ausgeführt. Dazu erhalten die<br />

nachgeordneten Organisationselemente<br />

(OrgElemente) die Handlungsoder<br />

Entscheidungsfreiheit, ein Ziel<br />

zu verfolgen statt dezidierter Handlungsanweisungen<br />

13 . Schließlich besteht<br />

nur am Brandherd selbst der<br />

Blick ins Feuer.<br />

Wenn man nicht im Voraus weiß,<br />

welche Einzelaufgaben auf die Hilfskräfte<br />

exakt zukommen, dann kann<br />

man auch nicht alle denkbaren Spezialwerkzeuge<br />

mitbringen, um das<br />

beste „Werkzeug” vornehmen zu können.<br />

Erlaubt doch der Handlungsdruck<br />

nicht, auf die Nachforderung<br />

von Spezialgerät zu warten. Deshalb<br />

bedarf es universell einsetzbarer<br />

Werkzeuge, die <strong>für</strong> viele Situationen<br />

ein angemessenes Handeln ermöglichen.<br />

Gleichzeitig erhöhen einfache<br />

Mittel die Handlungssicherheit der<br />

Helfer unter Stressbelastung. Bildlich<br />

gesprochen ist dem Franzosen <strong>für</strong><br />

den Katastropheneinsatz der Vorzug<br />

zu geben vor einem Gabelschlüsselsatz.<br />

Diese Metapher ist auf die Entscheidungswerkzeuge<br />

zu übertragen.<br />

Universelle Methoden müssen die<br />

Denkprozesse leiten.<br />

Hermann Schröder 14 gibt den Feuerwehrangehörigen<br />

die Merkregel an<br />

die Hand, <strong>für</strong> den Einsatzerfolg viel zu<br />

tun, indem sie durch Einhalten von<br />

Ordnungsprinzipien mögliche, im Einsatz<br />

auftretende Fehler vermeiden. Er<br />

sagt, dass dies bereits beim Bereitlegen<br />

der benötigten Gegenstände <strong>und</strong><br />

Kleidungsstücke – also einem Alarmstuhl,<br />

wie man ihn aus der Gr<strong>und</strong>ausbildung<br />

beim Militär kennt – beginnt.<br />

Dabei unterlässt er allerdings, seine<br />

Merkregel bis zur Einheitlichkeit der<br />

Aufbauorganisation <strong>für</strong> die Führungskräfte<br />

weiter zu spinnen.<br />

Aspekte der<br />

Führungsorganisation<br />

Die Führungsorganisation beschreibt<br />

die Lage der Elemente der<br />

‚Gefahrenabwehr’ aus Über- <strong>und</strong> Unterordnung,<br />

Abhängigkeit <strong>und</strong> Nebeneinander.<br />

Als Folge der Arbeitsteilung<br />

sind Koordinierungsfunktionen<br />

in eigenständigen Stellen institutionalisiert<br />

– dies drückt der Begriff<br />

„Leitung” im Titel der 100er-Dienstvorschriften<br />

aus. Mit Stelle bezeichnet<br />

man die Zusammenfassung der<br />

Tätigkeiten, die von einer Person zu<br />

erledigen sind. Dies wird als Aufbauorganisation<br />

erfasst. Ablauforganisatorisch<br />

treten mit der Arbeitsteilung<br />

neben die wertschöpfenden Handlungen,<br />

die konkrete Hilfe als Feuerlöschen,Herz-Lungen-Wiederbelebung<br />

oder Trümmerbeseitigung, koordinierende<br />

Aufgaben wie Abschnittgrenzen<br />

oder Anfahrtswege<br />

festlegen <strong>und</strong> Verpflegung oder Ablösungen<br />

bestimmen. Mit diesen<br />

Steuerungsaufgaben verknüpft ist der<br />

Begriff Instanz, der aus der Stellung<br />

in der Organisation die Entscheidungsbefugnis<br />

beschreibt. Er korrespondiert<br />

mit dem Verständnis von<br />

Führung als Entscheiden.<br />

Augenscheinlich liefern diese koordinierenden<br />

Tätigkeiten keinen<br />

greifbaren Beitrag zum Helfen selbst.<br />

Das bedeutet unter Berücksichtigung<br />

des Handlungsdrucks, dass eine Aufbauorganisation<br />

zu wählen ist, die<br />

Aktivitäten – also Helfen – schnell initiiert<br />

<strong>und</strong> zügig zur Ausführung<br />

bringt. Schlagkraft steht dabei im<br />

Vordergr<strong>und</strong>, notfalls um den Preis<br />

der Gründlichkeit.<br />

Gr<strong>und</strong>elemente der Organisationslehre<br />

sind Objekte, beispielsweise<br />

Motoren oder Reifen beim Blick auf<br />

die Automobilindustrie (auch Divisionalorganisation<br />

genannt), <strong>und</strong> Ver-<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 29


Aufbauprinzip der<br />

Stablinien<br />

Organisation im<br />

Einsatzablauf<br />

Grafik 1<br />

Grafik 2<br />

Gefahrenbereich<br />

Bewegungsfreiheit<br />

der Rettungskräfte<br />

Entscheidungsbedarf<br />

Grafik 3<br />

Rettung<br />

Verletztenversorgung<br />

Transportmöglichkeiten<br />

Lagerungsfläche<br />

Erstversorgungsmöglichkeiten<br />

Rettung<br />

Aufwuchsrichtung<br />

Verletztenversorgung<br />

richtungen also Tätigkeiten wie Zusammenbau<br />

eines Handys aus sieben<br />

Teilen. Ein- <strong>und</strong> Mehrlinienorganisation<br />

wie z. B. die Matrixorganisation<br />

unterscheidet nach den Wegen,<br />

auf denen Anweisungen laufen. Daneben<br />

gibt es die Projektorganisation<br />

mit der Eigenschaft zeitlicher Befristung.<br />

<strong>Der</strong> Vollständigkeit halber ist<br />

noch die Teamorganisation 15 zu nennen,<br />

die jedoch unter der Fragestellung<br />

der Organisationsprinzipien im<br />

Blickwinkel Arbeitsteilung ausgegrenzt<br />

ist.<br />

Seit Einführung der KatSDv 100 im<br />

Jahre 1981 besteht Konsens, dass<br />

sich die Katastrophenabwehr als Einlinien-Stabs-Organisationstrukturiert<br />

16 . Ihre Eigenschaften sind Verrichtungszentralisation,Einfachunterstellung<br />

<strong>und</strong> Ausprägung von Vollkompetenz.<br />

Es bestehen ein einheitlicher<br />

Instanzenweg <strong>und</strong> klare Aufgabenabgrenzungen.Zwischenorganisatorische<br />

Berührungspunkte existieren<br />

dank klarer Über- <strong>und</strong> Unterordnungsverhältnisse<br />

nicht. Es besteht<br />

aber die Gefahr der Überlastung<br />

von Führungskräften. Ihr begegnet<br />

man gewöhnlich mit der Einrichtung<br />

von Stäben. Wissenschaftlich definiert<br />

ist Stab ein OrgElement, das<br />

weder Instanz 17 noch ausführende<br />

Stelle 18 ist. <strong>Der</strong> Stab erfüllt Aufgaben<br />

der Entscheidungsvorbereitung – d.h.<br />

in der Terminologie des Führungsvorganges<br />

Planung – Kontrolle sowie<br />

allgemeine <strong>und</strong> fachliche Beratung.<br />

Dies erfordert selbst keine Entscheidungs-<br />

<strong>und</strong> Anordnungskompetenzen.<br />

Sie verbleiben bei der Instanz,<br />

der ein Stab zugeordnet ist 19 . Typische<br />

Stabsstellen in Unternehmen<br />

sind Assistenten von Geschäfts- oder<br />

Vertriebsleitung. Man sagt der Einlinienorganisation<br />

aber auch Schwerfälligkeit<br />

nach.<br />

Aus der Einfachunterstellung müsste<br />

folgen, dass die Lines of Communication<br />

getreu der Namensgebung auf<br />

den organisationalen Linien verlaufen.<br />

Die Bezeichnung Einlinienorganisation<br />

wäre insofern Programm. Beachtet<br />

man dies, muss die übergeordnete<br />

Führungsstelle alle die Dinge regeln,<br />

die nicht der einen oder der<br />

anderen unterstellten Einheit zugeteilt<br />

oder <strong>für</strong> beide gleichzeitig relevant<br />

sind.<br />

Bauprinzip der Einlinien-Stabs-Organisation<br />

ist die „3...5-er-Regel” <strong>für</strong><br />

die Leitungsspanne 20 . Sie sagt aus,<br />

dass <strong>für</strong> 3 bis 5 Unterstellte eine Führungsstelle<br />

einzurichten ist. In tayloristischer<br />

21 Betrachtung wird damit<br />

ein Koordinierungsanteil von 15 bis<br />

30 % an den Tätigkeiten zum Ausdruck<br />

gebracht. Aufbauorganisatorisch<br />

bilden 3-er-Hierarchien – 3<br />

Trupps als Gruppe; 3 Züge in einer<br />

Bereitschaft – die Gr<strong>und</strong>lage, in der<br />

Reserven <strong>für</strong> die Führung zusätzlich<br />

unterstellter Organisationselemente<br />

vorgehalten werden, um die Zeit bis<br />

zur Funktionsfähigkeit der übergeordneten<br />

Führungsebene zu überbrücken,<br />

wenn immer mehr Einheiten an<br />

einer Einsatzstelle anrücken. Da<strong>für</strong><br />

wird Personal dem unmittelbaren<br />

Helfen entzogen. Insofern handelt es<br />

sich auch beim Aufbau der Führungsorganisation<br />

um ein Optimierungsproblem<br />

mit dem Ziel schlagkräftiger<br />

Hilfe.<br />

Im Einsatz wächst die Führungsorganisation<br />

mit den anrückenden<br />

Einheiten auf. Als alte Regel gilt, dass<br />

der zuerst anrückende Einheitsführer<br />

die Einsatzleitung übernimmt. Damit<br />

kommt Doppelarbeit auf ihn zu, sobald<br />

eine weitere Einheit anrückt. <strong>Der</strong><br />

Aufwuchs erfolgt jedoch nicht in vertikaler<br />

Richtung, sondern senkrecht<br />

zu einem Schenkel des symbolisch<br />

umgebenden Dreiecks; die Führungsorganisation<br />

wächst quasi trapezförmig<br />

mit den anrückenden Einheiten<br />

(Grafik 1).<br />

Mit der Einführung von strukturierten<br />

Stäben 22 <strong>und</strong> dem Aufwuchs der<br />

Aufbauorganisation im Einsatz steigt<br />

die Gefahr wuchernder Nebenhierarchien.<br />

Bezeichnungen der THWDv<br />

1-100 wie Fernmelde- oder Logistikführer<br />

neben den Führungsgr<strong>und</strong>gebieten<br />

drücken dies aus. Sie beschreiben,<br />

dass Angehörige des Stabes<br />

neben ihrer beratenden Funktion zusätzlich<br />

Einheiten führen oder selbständig<br />

Entscheidungen treffen. Setzt<br />

man voraus, dass die ungeteilte Verantwortung<br />

des Einsatzleiters als immanente<br />

Eigenschaft der Einlinien-<br />

Stabs-Organisation uneingeschränkt<br />

gilt, muss man hier<strong>für</strong> die strukturierende<br />

„3...5-er Regel” zitieren <strong>und</strong> die<br />

Berücksichtigung in der Leitungsspanne<br />

einfordern. Sie würde mit<br />

Nebenhierarchien überdehnt. Jeder<br />

Fachführer eröffnet eine neue Linie.<br />

Sie beeinträchtigt die Vorteile der Einlinien-Stabs-Organisation,<br />

nämlich<br />

Vollkompetenz, Einfachunterstellung<br />

<strong>und</strong> einheitlichen Instanzenweg.<br />

Über Grenzen hinaus denken<br />

Mit dem Aufwuchs der Aufbauorganisation<br />

kommen neue Aufgaben<br />

auf die Führungsstellen zu (Grafik 2,<br />

Methaper aus der Psychologie: Verbinden<br />

Sie neun Punkte mit vier Linien,<br />

ohne abzusetzen).<br />

Man denke nur an eine brennende<br />

Mülltonne, die von einer Löschgrup-<br />

30 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


pe bearbeitet wird. Das LF fährt vor<br />

<strong>und</strong> beginnt den Löschangriff. Kommen<br />

allerdings zwei oder drei Löschzüge<br />

zum Einsatz, muss man sich Gedanken<br />

machen, wie man den Anmarsch<br />

organisiert <strong>und</strong> wo man die<br />

Autos aufstellt, um die Bewegungsfreiheit<br />

zu erhalten <strong>und</strong> den Löschangriff<br />

wirkungsvoll vorzutragen oder<br />

später eine Drehleiter in Stellung zu<br />

bringen. Wenn man Verletzte rettet,<br />

muss man festlegen, wo sie an die<br />

Sanitäter übergeben werden, wo also<br />

die Verletztenablage einzurichten ist<br />

(Grafik 3). Die dabei stattfindende<br />

Abstraktion lässt sich als Filterfunktion<br />

begreifen, in der die Lines of Communication<br />

nach unten als Konkretisierung<br />

<strong>und</strong> nach oben aggregierend<br />

als Abstraktion wirken. Hierarchiestufen<br />

sind damit Abstraktionsstufen <strong>für</strong><br />

Information, die von oben nach unten<br />

differenzieren <strong>und</strong> von unten nach<br />

oben abstrahieren, d.h. zusammenfassen<br />

<strong>und</strong> bündeln. Damit ist das<br />

Prinzip <strong>für</strong> den Zusammenhang zwischen<br />

den verschiedenen Lagebildern<br />

auf den Lines of Communication<br />

offen gelegt (Grafik 4).<br />

Aufwuchs einer<br />

Verwaltungsorganisation<br />

Anders ist dies bei Verwaltungsbehörden.<br />

Sie haben einen gesetzlich<br />

normierten Zuständigkeitsbereich<br />

beispielsweise als Finanzamt<br />

von Flensburg oder Wasser- <strong>und</strong><br />

Schifffahrtsdirektion Süd. Damit sind<br />

auch die Aufgaben abgegrenzt, die<br />

die Behörde erfüllen muss. Je nach<br />

geografischen oder sachlichen Rahmenbedingungen<br />

werden Stellen<br />

ausgeplant. Die OrgElemente werden<br />

entsprechend der Zuständigkeit in<br />

ihrer Größe dimensioniert <strong>und</strong> können<br />

sich bei wandelnden Aufgaben<br />

in ihrem Umfang verändern. Fest ist<br />

jedoch die traditionell dreistufige Hierarchie<br />

aus Orts-, Mittel- <strong>und</strong> Obersowie<br />

Obersten Behörden (Ministerien).<br />

Bei der Einsatzorganisation des<br />

Abwehrenden Katastrophenschutzes<br />

wächst dagegen die Zahl der Hierarchieebenen.<br />

Das bedeutet, dass<br />

gleichzeitig mit Aufbau der benachbarten<br />

die gemeinsame übergeordnete<br />

Führungsstelle eingerichtet, personell<br />

besetzt <strong>und</strong> materiell ausge-<br />

stattet werden muss. Alle sind identisch<br />

in ihrem Aufbau aus Führungsgr<strong>und</strong>gebieten.<br />

Dies hat den Vorteil,<br />

dass die Gliederung unabhängig von<br />

der Lage ist, die vorgeplante Aufbauorganisation<br />

keinen Entscheidungsbedarf<br />

generiert <strong>und</strong> die Bekanntheit<br />

zu Verhaltenssicherheit führt <strong>und</strong> universell<br />

anwendbar ist, wenn heute<br />

noch niemand weiß, wer morgen<br />

beim Einsatz verfügbar ist <strong>und</strong> welche<br />

Aufgaben konkret zu erfüllen sein<br />

werden. Die Größe erlaubt die Arbeit<br />

mit einem gemeinsamen Lagebild im<br />

Stab <strong>und</strong> liefert einen Impuls zum<br />

Teambuilding. Darüber hinaus kommt<br />

man mit dem Blick auf die gemeinsame<br />

Lage schneller zur Entscheidung<br />

als beim Blättern in Akten. Insofern<br />

ist das gemeinsame Lagebild eine<br />

Stärke der Idee Stab. Die „3...5-er-<br />

Regel” legt die Obergrenze aus 5 Führungsgr<strong>und</strong>gebieten<br />

nahe, weil im<br />

Stab nichts mehr aufwächst. Die Weiterführung<br />

oder Abzweigung der Linie<br />

zu Fachberatern schwächt die<br />

Idee.<br />

Die Filterfunktion der Einlinien-<br />

Stabs-Organisation wirkt in systemtheoretischer<br />

Interpretation als Reduzierung<br />

der Komplexität 23 . Durch<br />

Festlegung eines Einheitsbegriffs, wie<br />

er bereits heute bei den Hilfsorganisationen<br />

allerdings unterschiedlich<br />

gebraucht wird, könnte diese Eigenschaft<br />

noch wirkungsvoller genutzt<br />

werden. Legt doch bereits der Begriff<br />

nahe, das zu bezeichnen, was zusammengehört<br />

– die Einheit, in der man<br />

sich kennt. Auf der untersten Ebene<br />

müssten dazu OrgElemente definiert<br />

werden, die unabhängig von der Anwesenheit<br />

weiterer Einheiten Aufträge<br />

selbständig erfüllen können. Historisch<br />

betrachtet waren dies die Bereitschaften<br />

des LSHD <strong>und</strong> später der<br />

Zug als Basisgröße im Erweiterten<br />

Katastrophenschutz 24 . Die Einheiten<br />

müssen nicht gleiche Größenordnungen<br />

über die unterschiedlichen fachlichen<br />

Schwerpunkte von Brandbekämpfung<br />

bis Betreuung <strong>und</strong> Sanität<br />

bis Technischer Hilfeleistung haben.<br />

Vielmehr legt gerade die Systemtheorie<br />

nahe, die Elemente anhand<br />

von Funktionalitäten zu definieren.<br />

Die Einführung dieses funktionalen<br />

Einheitsbegriffs ginge einher mit einem<br />

Verständnis von Geschlossenheit<br />

<strong>und</strong> würde sich mit der daraus<br />

Grafik 4<br />

Grafik 5<br />

Auflösung zu Grafik 2<br />

entstehenden zwischenmenschlichen<br />

Komponente im Sinne des Team-Gedankens<br />

als schlagkräftiges Ganzes<br />

präsentieren. Dieser Ansatz ist in der<br />

militärischen Organisation nicht unbekannt,<br />

in der zwischen taktischer<br />

<strong>und</strong> operativer Ebene unterschieden<br />

wird. Dort zwar unterschiedlich gebraucht,<br />

könnte hier die Unterscheidung<br />

zwischen dem Einsatz der Kräfte<br />

taktisch – die Zusammenstellung<br />

als Ansatz der Kräfte in der operativen<br />

Dimension gegenüberstehen.<br />

Von der Operation her gedacht, sind<br />

die Einheiten die Elemente, die dann<br />

über operative Relationen der Zusammenarbeit<br />

miteinander verknüpft<br />

werden. Sinnvollerweise ergäben die<br />

Eigenschaften der Einheiten die taktischen<br />

Regeln, nach denen sich der<br />

Einsatz richtet. Heute erkennbare Entwicklungen<br />

zu Standard-Einsatz-Regeln<br />

im Bereich Feuerwehr 25 liefern<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 31


hierzu systematische Ansätze. Mit<br />

Blick auf die Minimierung der Entscheidungen<br />

in der Einsatzorganisation<br />

wird mit den festgeschriebenen<br />

Elementen Entscheidungsbedarf verringert.<br />

Für den im Katastrophenschutz<br />

gebräuch-lichen Begriff des Technischen<br />

bleibt auf subtaktischer Ebene<br />

die Anwendung einzelner Geräte von<br />

Löschpumpe bis Rettungsschere.<br />

Führungsmittel<br />

Aus den Eigenschaften der Führungsorganisation<br />

folgen Erkenntnisse<br />

<strong>für</strong> die Führungsmittel.<br />

Wenn die Kommunikationsverbindungen<br />

als „Lines of Communication”<br />

auf den Organisationslinien verlaufen,<br />

ergibt sich eine Entlastung der<br />

Fernmeldeverbindungen, weil Verbindungen<br />

zwischen Elementen gleicher<br />

Hierarchieebene nicht durch die<br />

Eigenschaften der Organisationsform<br />

begründet sind <strong>und</strong> deshalb eingespart<br />

werden können. Wichtig dabei<br />

ist, dass die gemeinsame Führungsstelle<br />

nicht reaktiv Entscheidungen<br />

„absegnet”, sondern aktiv Festlegungen<br />

trifft, die die nachgeordneten Elemente<br />

<strong>für</strong> ihre Arbeit brauchen. Insofern<br />

führt die Führungsstelle sozusagen<br />

die Hände der Abschnitte <strong>und</strong><br />

Einheiten, wenn irgendetwas – gegenständlich<br />

oder virtuell – übergeben<br />

werden muss <strong>und</strong> damit die<br />

Abschnittsgrenzen berührt.<br />

Die Informationsflut verleitet zum<br />

klein-klein der Daten. Für die Katastrophe<br />

wird nur der Hergang beschrieben;<br />

der Verlauf wird archiviert.<br />

Organisieren <strong>und</strong> Koordinieren als<br />

Kernfunktion des Führungssystems<br />

geraten ins Hintertreffen. Die Abstraktions-/Konkretisierungsideeverringert<br />

die Zahl anfallender Einzelmeldungen.<br />

Einerseits baut sie eine Verzögerung<br />

durch Zusammenfassung<br />

ein. Andererseits bündelt die Abstraktion<br />

Daten, d.h. drei Meldungen von<br />

Unterstellten müssen zu einer Ebenenrelevanten<br />

zusammengeführt,<br />

aber nur einmal befördert werden.<br />

Damit wird dem Mangel entgegengewirkt,<br />

dass die bürokratische Organisation<br />

beim Fortgang der Krise<br />

überlastet wird <strong>und</strong> sich auf das Ordnen<br />

der Informationen beschränkt.<br />

Gleichzeitig werden Kommunikationsverbindungen<br />

entlastet.<br />

Die Mittel der Informationsverarbeitung<br />

– also die Lageführung – richten<br />

sich nach dem Aufwand, der mit<br />

den Entscheidungen, die auf einer<br />

Führungsebene zu treffen sind, verb<strong>und</strong>en<br />

ist. Die Entscheidung über<br />

Innen- oder Außenangriff trifft selbstverständlich<br />

der Gruppenführer. Dies<br />

wird einer TEL bei richtig verstandener<br />

Lageführung mit adäquater Informationsfilterung<br />

nicht möglich sein.<br />

Wo jedoch so detaillierte Lagedaten<br />

vorliegen, dass dies doch gelingt,<br />

wird gegen den Optimierungsgr<strong>und</strong>satz<br />

der Aufbauorganisation verstoßen<br />

<strong>und</strong> man findet wahrscheinlich<br />

stark überlastete Kommunikationswege.<br />

Genauso wenig wird sich der<br />

Führer einer Löschgruppe ein so<br />

umfassendes Lagebild leisten, um<br />

trotz umfangreicher Straßensperrungen<br />

im Großschadensfall über den<br />

Anmarsch von Ablösung mitzureden.<br />

Da er diese hoch aggregierten Infos<br />

nicht braucht, hat er auch nur die auf<br />

seine Bedürfnisse ausgerichtete Führungsunterstützung<br />

in Person des<br />

Melders, Maschinisten oder Fahrers<br />

zur Seite. In diesem Sinne muss der<br />

hierarchischen Führungsorganisation<br />

zukünftig wieder die Filterfunktion<br />

zukommen, die die Informationsflut<br />

als Ergebnis der Komplexität der Einsatzrealität<br />

auf das organisationsimmanent<br />

erforderliche Maß reduziert 26 .<br />

Führungsmittel der Informationsübertragung<br />

– in erster Linie Kommunikationsmittel<br />

– sind mit den Mittel der<br />

Lageführung (Informationsverarbeitung)<br />

verknüpft. Sie richten sich nach<br />

der gestellten Aufgabe, die abhängig<br />

von der Hierarchieebene in der<br />

Aufbauorganisation zu erfüllen ist.<br />

Dabei ist es unnötig, dass die Möglichkeiten<br />

der Informationsverarbeitung<br />

die der Übermittlung übertreffen,<br />

weil die Entscheidungen nicht<br />

verzugslos in Anweisungen auf die<br />

nächste Führungsebene übertragen<br />

werden könnten. Das Personal <strong>für</strong> die<br />

Informationsverarbeitung wäre dann<br />

an anderer Stelle im Gefüge der Katastrophenabwehr<br />

besser eingesetzt.<br />

Schlussbemerkung:<br />

Not kennt kein Gebot!<br />

Aus den Eigenschaften des Führungssystems<br />

ergeben sich funktional<br />

begründete Konsequenzen <strong>für</strong><br />

den Einsatz.<br />

In der modernen Katastrophenabwehr<br />

ersetzt das Lagebild den Feldherrnhügel<br />

des Militärs vergangener<br />

Zeiten. Von dort wurden die Truppen<br />

selbst beobachtet. Bunte Uniformen<br />

kennzeichneten die kämpfenden<br />

Parteien. Befehle wurden im „Tête a<br />

Tête” übermittelt. Mit dem Prinzip der<br />

vertikalen Filterung mit Abstraktion<br />

<strong>und</strong> Konkretisierung oder Differenzierung<br />

entsteht ein neuer Blickwinkel<br />

auf das Einsatzgeschehen. Sinnbild<br />

<strong>für</strong> Abstraktion <strong>und</strong> Aggregation sind<br />

taktische Zeichen.<br />

Anfangs beobachtet man das Geschehen<br />

noch selbst – Helfer, Autos<br />

<strong>und</strong> Werkzeuge. Mit dem Aufstieg in<br />

der Hierarchie wird das Bild unschärfer.<br />

Zum Schluss muss man sich<br />

selbst sein Bild machen – die Lagedarstellung.<br />

Dann sind keine Helfer<br />

mit Helm <strong>und</strong> Handschuh gefragt,<br />

sondern Stärkeformate mit Führer/<br />

Unterführer/Helfer/Gesamtstärke,<br />

nicht mehr LF, DLK oder GKW zählen.<br />

An die Stelle treten Organisationsbegriffe<br />

wie Gruppen oder Züge<br />

ausgedrückt in Taktischen Zeichen.<br />

Sie sind Abstraktionen <strong>für</strong> Menschen<br />

<strong>und</strong> Material, die Aufträge bearbeiten.<br />

Nicht mehr auf Sicherheitsbestimmungen<br />

beim Einsatz von Schere-Spreizer<br />

liegt das Augenmerk, sondern<br />

auf Anmarsch, Ablösung oder<br />

Verpflegung.<br />

Mit der funktionalen Begründung<br />

des Einheitsbegriffes als Ebene von<br />

Zusammengehörigkeit <strong>und</strong> zwischenmenschlichem<br />

Kennen erscheinen<br />

Überlegungen zur Bildung taktischer<br />

Verbände in neuem Licht. Die Erkenntnisse<br />

aus der Organisationslehre<br />

liefern eine funktionale Differenzierung<br />

mit dem Verband als taktische<br />

im Ggs. zum Einsatz- bzw.<br />

Unterabschnitt in operativer Dimension.<br />

Dies zu vermischen würde bedeuten<br />

die soziale Bindung als Systemstärke<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage des Verständisses<br />

der Einheit zu verspielen.<br />

Verbände kann man sich nur leisten,<br />

wo sie wirklich zusammen ausgebildet<br />

werden <strong>und</strong> Einsatzerfahrung gewinnen.<br />

Wo das nicht der Fall ist, sollte<br />

man sich mit Blick auf eine klare<br />

Terminologie auf den operativen Abschnittsbegriff<br />

beschränken.<br />

Mit der Führungsorganisation verb<strong>und</strong>en<br />

ist der auftragsadäquate Einsatz<br />

der Führungsmittel. <strong>Der</strong> Grup-<br />

32 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


penführer wird von seinem Melder<br />

unterstützt. <strong>Der</strong> Zugführer hat einen<br />

ZugTrupp. Dort gibt es dann erste<br />

Unterlagen zur Lageführung. Schließlich<br />

wächst mit Bildung einer Führungsstelle<br />

alles weiter auf, bis<br />

letztlich mit der Führungsstelle nur<br />

noch Lageführung <strong>und</strong> Kommunikation<br />

eingesetzt werden, um schnell<br />

Entscheidungen zu treffen <strong>und</strong> zügig<br />

zu helfen.<br />

Unter der Themenstellung Stress<br />

<strong>und</strong> Feuerwehr leitet Hermann Schröder<br />

die Forderung ab, „in der Einsatztaktik<br />

<strong>und</strong> Einsatztechnik klare Handlungsanweisungen<br />

festzulegen <strong>und</strong><br />

diese konsequent zu schulen. Es darf<br />

kein ‚wenn <strong>und</strong> aber’ oder ‚könnte<br />

auch so sein’ mehr geben. Wir müssen<br />

Standardsituationen mit den dazugehörigen<br />

Standardmaßnahmen<br />

<strong>und</strong> Handlungsanweisungen definieren.<br />

Dabei müssen wir auch akzeptieren,<br />

dass die Maßnahmen vielleicht<br />

nur in 80 % der Einsätze eine optimale<br />

Maßnahme darstellen <strong>und</strong> in<br />

den restlichen Einsätzen eine andere<br />

Maßnahme vielleicht noch besser gewesen<br />

wäre. Doch dies ist immer<br />

noch besser, als in 100 % der Einsätze<br />

hilflos zu sein.” 27 Verallgemeinert<br />

auf das Führungssystem ergibt dies<br />

eine einheitliche Auffassung über die<br />

Führungsebenen. Es werden einheitliche<br />

Verfahren festgelegt, nach denen<br />

die Gefahrenabwehr zu strukturieren<br />

ist. Aufbauorganisatorisch gilt<br />

streng die Einlinien-Stabs-Organisation,<br />

<strong>und</strong> Stäbe gliedern durchgängig<br />

in die Führungsgr<strong>und</strong>gebiete 1<br />

bis 4.<br />

Man wird gut beraten sein, mit<br />

Blick auf das Ziel eines effektiven abwehrenden<br />

Katastrophenschutzes<br />

emotionale Forderungen organisationsimmanenten<br />

funktionalen Kriterien<br />

nachzuordnen. Katastrophenabwehr<br />

ist vom Operativen her zu denken<br />

<strong>und</strong> nicht von einzelnen Bausteinen,<br />

die sich als Puzzle nicht<br />

immer zu einem Bild zusammensetzen<br />

lassen würden. Als ein Ausgangspunkt<br />

ist der Denkansatz von der<br />

Organisationslehre her zu berücksichtigen.<br />

Sonst bleibt die Katastrophenabwehr<br />

dem fälschlich sprichwörtlichen<br />

Niveau einer ländlichen Dorffeuerwehr<br />

verhaftet „irgendwo<br />

zwischen Kirche, Kneipe <strong>und</strong> Kübelspritze”.<br />

Fußnoten<br />

1 Elmar Jöris: Katastrophenschutz.<br />

In: Europäische Sicherheit 5/2005,<br />

S. 60 ff., hier S. 60<br />

2 ebenda<br />

3 TF: Truppenführung<br />

4 Heeresdienstvorschrift (HDv 100/<br />

100) Ausgabe 2000, Nr. 326 zitiert<br />

nach Christian Millotat. In: Europäische<br />

Sicherheit 4/2005, S. 48<br />

5 Mitschke/Frank: Incident Command<br />

System. In: <strong>Bevölkerungsschutz</strong><br />

2/2002, S. 5 ff.<br />

6 Nach Funke/Kirk: Umgang mit<br />

komplexen Problemlöse- <strong>und</strong> Entscheidungsprozessen.<br />

In: Mitschke:<br />

Handbuch <strong>für</strong> Technische Einsatzleitungen,<br />

Stuttgart 1997<br />

7 Paul t´Hart: Krisenmanagement<br />

in der öffentlichen Verwaltung. In:<br />

Staatswissenschaft <strong>und</strong> Staatspraxis<br />

8 (1997), S. 31-48<br />

8 Peter Buchner: Ordnung im Chaos.<br />

Katastrophenbegriff <strong>und</strong> die damit<br />

zusammenhängenden Verflechtungen.<br />

In: 112 – Magazin <strong>für</strong> die Feuerwehr<br />

(2000) 7, S. 428 ff.<br />

9 Als Prediktor-Korrektor-Methode<br />

bezeichnet man in der Numerik ein<br />

Verfahren zur Lösung partieller Differentialgleichungen.<br />

10 Peter Buchner: Instrumentarium<br />

<strong>für</strong> Führungskräfte. Die Kunst der<br />

Menschenführung. In: Notfallvorsorge<br />

(1998) 3, S. 13 ff.<br />

11 <strong>Der</strong> Begriff zielgerichtet dürfte<br />

in der Dv eher unzweckmäßig sein,<br />

da es sich um ein auftragsinduziertes<br />

System handelt. Ein Handlungsablauf<br />

ist es sicher nicht, weil Handlung<br />

letztlich als Folge der Befehlsgebung<br />

initiiert wird, selbst aber gar<br />

nicht Bestandteil des kybernetischen<br />

Regelkreises ist.<br />

12 Man stelle sich nur eine Baubehörde<br />

vor, die eine Baugenehmigung<br />

in Einsatzmanier erlässt. Nach Baubeginn<br />

wird deutlich, dass die Form<br />

eines Hauses nicht in das Gemeindebild<br />

passt, dann wird geändert <strong>und</strong><br />

es folgte der Umbau bereits beim<br />

Aufbau.<br />

13 Mit prägnanten Beispielen aus<br />

dem militärischen Bereich vgl. Gerhard<br />

Elser: Führen durch Auftrag <strong>und</strong><br />

das Unvorhergesehene. In: Truppendienst<br />

2/1998, S. 120-124<br />

14 Hermann Schröder: Brandeinsatz.<br />

Praktische Hinweise <strong>für</strong> die<br />

Mannschaft <strong>und</strong> Führungskräfte. Die<br />

Roten Hefte 9. Stuttgart 2005<br />

15 nach Steinbuch: Organisation<br />

8. Auflage 1990, hier S. 165 f.<br />

16 Aufweichungen durch die Einführung<br />

von Fachberatern werden<br />

hier nicht weiter verfolgt. Sie sind mit<br />

der Ausklammerung der emotionalen<br />

Aspekte ebenfalls ausgegrenzt.<br />

Sie haben sich wahrscheinlich als<br />

Relikt aus den Organisationsstrukturen<br />

des LSHD in die heutige Zeit<br />

herüber gerettet.<br />

17 Instanz bezeichnet in der Organisationstheorie<br />

eine Stelle mit Leitungsaufgaben,<br />

d.h. sie ist berechtigt<br />

Entscheidungen zu treffen <strong>und</strong><br />

Anweisungen/Aufträge/Befehle zu erteilen.<br />

18 Ausführende Stelle im Katastrophenschutz<br />

ist zu verstehen als Stelle,<br />

deren Inhaber unmittelbar zur Hilfeleistung<br />

beiträgt, aber nicht berechtigt<br />

ist, anderen Stellen Anweisungen<br />

zu geben.<br />

19 Hill: Organisationslehre 1, Stuttgart<br />

1994, S. 197<br />

20 z. B. Schläfer: Das Taktikschema.<br />

München 1998 (4), S. 92<br />

21 Als Taylorismus bezeichnet man<br />

die strenge Orientierung an der Arbeitsteilung<br />

mit der Kritik der Missachtung<br />

menschlicher Bedürfnisse in<br />

der Unternehmung.<br />

22 Führungsgr<strong>und</strong>gebiete 1 bis 6;<br />

früher wurde der Stab des Örtlichen<br />

Luftschutzleiters aus den Fachdienstführern<br />

des LSHD gebildet. Diese würden<br />

heutzutage die Rolle von Fachberatern<br />

einnehmen. In: <strong>Der</strong> Luftschutzhilfsdienst.<br />

Allgemeiner Leitfaden<br />

<strong>für</strong> Helfer. Schriftenreihe Ziviler<br />

<strong>Bevölkerungsschutz</strong>, Band 1, S. 39<br />

23 Niklas Luhmann: Soziale Systeme.<br />

Gr<strong>und</strong>riss einer allgemeinen Theorie.<br />

Suhrkamp 1983, S. 47<br />

24 Allgemeine Verwaltungsvorschrift<br />

über die Organisation des Katastrophenschutzes<br />

vom 27. Februar<br />

1972 Nr. 14 (1), GMBl S. 184<br />

25 Cimolino, de Vries: Standard-<br />

Einsatz-Regeln (SER) in: Graeger, Cimolino,<br />

de Vries, Haisch, Südmersen:<br />

Einsatz- <strong>und</strong> Abschnittsleitung. Das<br />

Einsatzführungssystem. Landsberg,<br />

2003<br />

26 Die Filterfunktion entspricht annähernd<br />

der Reduzierung von Komplexität<br />

als Konzept der Systemtheorie.<br />

27 Hermann Schröder, aaO S. 105<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 33


Humanitäre Hilfe<br />

Lebensrettende Hilfe<br />

Klaus Liebetanz, Fachberater <strong>für</strong> Katastrophenmanagement, Verden<br />

Im Rahmen von Ergebnisprüfungen hat unser Autor <strong>und</strong> Fachberater <strong>für</strong><br />

Katastrophenmanagement humanitäre Projekte der ADRA (Adventistische<br />

Entwicklungs- <strong>und</strong> Katastrophenhilfe) <strong>und</strong> der Johanniter-Unfall-Hilfe e.V.<br />

(JUH) in der afghanischen Provinz Herat <strong>und</strong> in Kabul überprüft.<br />

ADRA sorgt <strong>für</strong><br />

sauberes Trinkwasser<br />

Nach Angaben von UNICEF haben<br />

nur 13 % der afghanischen Bevölkerung<br />

Zugang zu sauberem Trinkwasser.<br />

Die Kindersterblichkeit ist erschreckend<br />

hoch. Ein Viertel aller Kinder<br />

erreicht das fünfte Lebensjahr<br />

nicht. <strong>Der</strong> Herstellung von sauberem<br />

Trinkwasser kommt daher eine hohe<br />

Priorität zu. Das Auswärtige Amt unterstützt<br />

das Brunnenprojekt von<br />

ADRA Deutschland in der Provinz<br />

Jowzjan im Dristrikt Sheberghan<br />

(150 km westlich von Mazar e Sharif<br />

im Norden von Afghanistan).<br />

Sorgfältige Vorgehensweise<br />

der ADRA<br />

Die Brunnenbauweise der ADRA<br />

AFG zeichnet sich durch besondere<br />

Sorgfalt <strong>und</strong> Nachhaltigkeit aus:<br />

Zunächst werden die Brunnenstandorte<br />

mit dem zuständigen „Ministerium<br />

<strong>für</strong> ländliche Rehabilitierung <strong>und</strong><br />

Entwicklung” (MRRD) festgelegt.<br />

Dann wird die Bevölkerung der geplanten<br />

Standorte an dem Aushub<br />

des Brunnenschachtes bis zur Wasser<br />

führenden Schicht beteiligt. Dies<br />

kann auf zweifache Weise geschehen:<br />

Zum einen kann die betroffene<br />

Bevölkerung das Brunnenloch<br />

(Durchmesser 1,10 Meter) selbst graben<br />

oder einen Spezialisten <strong>für</strong> 4.000<br />

Afghani (80 USD) = pro Familie 1,5<br />

USD beauftragen. Fünf Orte haben<br />

diese Selbstbeteiligung abgelehnt<br />

<strong>und</strong> daher keinen Brunnen erhalten.<br />

In einer zweiten Phase werden von<br />

einer professionellen afghanischen<br />

Firma perforierte Stahlrohre so in den<br />

Boden getrieben, dass das Ende des<br />

letzten Stahlrohres bis zur Kiesschicht<br />

vordringt <strong>und</strong> somit in der Wasser<br />

führenden Schicht liegt. Dann wird<br />

ein ca. drei Zentimeter dickes PVC-<br />

Rohr eingeführt <strong>und</strong> durch eine Elektropumpe<br />

sichergestellt, dass<br />

mindestens 24 St<strong>und</strong>en ständig Wasser<br />

fließt. Danach wird der Brunnenschacht<br />

wieder mit Erde aufgefüllt,<br />

so dass der Brunnenschacht nicht<br />

durch extreme Witterungsschwankungen<br />

von 45 Grad plus bis 30 Grad<br />

minus einbrechen kann. Außerdem<br />

wird so das eventuell kontaminierte<br />

Oberflächenwasser gefiltert. Abschließend<br />

wird der Brunnenschacht<br />

durch eine Zement-Plattform abgeschlossen<br />

<strong>und</strong> mit einer Handpumpe<br />

mit Schwengel versehen.<br />

Nachhaltigkeit der Brunnen<br />

Alle 50 überprüften Brunnen waren<br />

funktionsfähig, auch die kontrollierten<br />

Brunnen, die vor vier Jahren<br />

von ADRA gebaut wurden. Dagegen<br />

wurden auch Brunnen von anderen<br />

Organisationen gesehen, die nicht<br />

funktionsfähig waren, weil der Brunnenschacht<br />

eingestürzt war <strong>und</strong>/oder<br />

die Brunnen nicht tief genug angelegt<br />

waren. Insgesamt hat ADRA 96<br />

neue Brunnen in 2005 erstellt.<br />

Notwendige ergänzende<br />

Hygieneausbildung<br />

In Zusammenarbeit mit der amerikanischen<br />

NGO „Crosslink Development<br />

International” (CDI) <strong>und</strong> der holländischen<br />

Organisation „ZOA”, die<br />

sich beide mit der Hygieneerziehung<br />

im Distrikt Sheberghan beschäftigen,<br />

führt ADRA im Bereich der Brunnenstandorte<br />

eine wasserbezogene Hygieneausbildung<br />

durch.<br />

Bei Notmaßnahmen zur Versorgung<br />

mit sauberem Trinkwasser sollte<br />

stets eine entsprechende Hygieneausbildung<br />

durchgeführt werden.<br />

Dies ergibt sich aus der wissenschaftlich<br />

erwiesenen Tatsache, dass die<br />

Versorgung mit sauberem Trinkwasser<br />

allein zu einer Verbesserung der<br />

Ges<strong>und</strong>heit um 30 % führen <strong>und</strong> die<br />

Hygieneerziehung allein einen Wert<br />

von 45 % erreichen kann. Beide Faktoren<br />

zusammen können eine Verbesserung<br />

der ges<strong>und</strong>heitlichen Situation<br />

von bis zu 60 % bewirken.<br />

Prekäre Lage<br />

der Rückkehrer<br />

Im Zusammenhang mit den Brunnenbesichtigungen<br />

kann man in den<br />

entferntesten Winkeln des Distrikts<br />

Sheberghan wahrnehmen, wo die<br />

Rückkehrer aus Pakistan <strong>und</strong> Iran „untergebracht”<br />

werden. Diese haben<br />

teilweise 15 Jahre lang mit einer gewissen<br />

Alimentierung durch den UN-<br />

HCR in Flüchtlingslagern im benachbarten<br />

Ausland gelebt <strong>und</strong> besitzen<br />

zahlreiche Kinder. Diese Menschen<br />

werden jetzt auf Druck der bisherigen<br />

Gastländer in die „befriedete<br />

Heimat” abgeschoben. Sie werden<br />

einfach in einer unwirtlichen Landschaft<br />

(Sandsteppe mit verstreuten<br />

dornigen Kleingewächsen) abgesetzt<br />

34 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


in Afghanistan<br />

deutscher Organisationen<br />

oder in zerfallenen Kriegsruinen „untergebracht”,<br />

die notdürftig mit Plastik<br />

oder Zeltplanen abgedeckt sind.<br />

Alle anderen noch gerade menschenwürdigen<br />

Behausungen sind bereits<br />

vergeben. UNHCR <strong>und</strong> UNICEF erreichen<br />

nicht alle diese versprengten<br />

Gruppen. Diese „Returnees” gehören<br />

zu den „most vulnerable persons” in<br />

Afghanistan, zumal der Winter mit 10-<br />

20 Grad minus die Lebensbedingungen<br />

erschwert. Solche „Zeltstädte”<br />

gibt es auch in den Außenbezirken<br />

von Kabul, wo im Winter bis zu 30<br />

Grad minus erreicht werden.<br />

Winterhilfsprogramm<br />

der ADRA<br />

ADRA führt mit Unterstützung des<br />

Auswärtigen Amtes ein „Winterhilfsprogramm”<br />

durch. Dabei arbeitet sie<br />

sehr eng mit ARDA, einer lokalen<br />

NGO, zusammen. Projektleiter von<br />

ARDA ist Zahir Aslamy, ein Tadschik-<br />

Afghane, der im Krieg als Offizier unter<br />

Nadschibulla ein Bein verloren<br />

hat. ADRA hat ihm eine funktionsfähige<br />

Prothese besorgt, mit der er unglaublich<br />

behände ist. Er ist ein Organisationstalent.<br />

In Kabul beschäftigt<br />

er ca. 350 Frauen mit der Herstellung<br />

von Steppdecken. Diese erhalten<br />

eine bestimmte Menge Stoff<br />

<strong>und</strong> aufgelockerte Baumwolle <strong>und</strong><br />

haben da<strong>für</strong> jeweils zehn Steppdecken<br />

abzugeben, bevor sie ihre Bezahlung<br />

erhalten. So wird humanitäre<br />

Hilfe auch zu einer dringend notwendigenArbeitsbeschaffungsmaßnahme<br />

<strong>für</strong> Frauen.<br />

Verteilung in Mazar<br />

Am Stadtrand von Mazar e Sharif<br />

kann der Prüfer eine gut organisierte<br />

Verteilerorganisation miterleben. Za-<br />

Einfache Frauen in Burka warten in Kabul auf Arbeit. Sie erhalten eine bestimmte Menge<br />

Stoff <strong>und</strong> aufgelockerte Baumwolle <strong>und</strong> haben da<strong>für</strong> jeweils zehn Steppdecken abzugeben,<br />

bevor sie ihre Bezahlung erhalten.<br />

Vor dem Eingang der Polyklinik in Koshhal Mina, einem Stadtteil mit vielen Rückkehrern<br />

im Westen von Kabul. Die Mitarbeiterin aus der Johanniterzentrale in Berlin, Kathrin<br />

Jungfer (2. von rechts) mit traditioneller Kleidung gehört zu den gut ausgebildeten,<br />

„tuffen“ jungen Frauen, die man zunehmend in Krisen- <strong>und</strong> Katastrophengebieten<br />

antrifft.<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 35<br />

Foto: Klaus Liebetanz<br />

Foto: Klaus Liebetanz


Foto: Klaus Liebetanz<br />

Foto: Klaus Liebetanz<br />

Verteilung der ADRA-Winterhilfe am Stadtrand von Mazar e Sharif an bedürftige<br />

Rückkehrer. Jede Familie erhält vier Steppdecken, sechs verschiedene Paar Schuhe aus<br />

afghanischer Produktion <strong>und</strong> eine dicke Plastikplane. Die Familien haben einen Bezugsschein<br />

<strong>und</strong> wurden vorher ausgewählt.<br />

Prekäre Lage der Rückkehrer aus Pakistan <strong>und</strong> dem Iran. Sie werden teilweise wie hier<br />

im Bild in zerfallenen Kriegsruinen oder in primitiven Zelten untergebracht. Alle anderen<br />

noch gerade menschenwürdigen Behausungen sind bereits vergeben.<br />

hir Aslamy ist mit seinen LKWs auf<br />

dem Landweg von Kabul über den<br />

Salang-Pass schon in Mazar eingetroffen.<br />

Er ist pünktlich an der verabredeten<br />

Stelle <strong>und</strong> lotst den Prüfer zu<br />

den Verteilerstellen am Stadtrand. Die<br />

Rückkehrer warten geduldig auf die<br />

Verteilung der vier Steppdecken,<br />

sechs verschieden großen Schuhpaaren<br />

aus afghanischer Produktion <strong>und</strong><br />

einer dicken Plastikplane (pro Familie).<br />

Sie wurden bereits vorher in Zusammenarbeit<br />

mit dem Ministerium<br />

<strong>für</strong> Rückwanderer <strong>und</strong> Binnenvertriebene<br />

nach Bedürftigkeit ausgewählt<br />

<strong>und</strong> haben einen Zuteilungsschein.<br />

Die Verteilung läuft reibungslos. Zudem<br />

sind ein lokaler Vertreter des UN-<br />

HCR <strong>und</strong> des zuständigen Ministeriums<br />

anwesend <strong>und</strong> überwachen drei<br />

Verteilerstellen. Die Rückkehrer haben<br />

alle Papiere vom UNHCR mit einem<br />

Foto der ganzen Familie. Aus<br />

diesen Dokumenten geht hervor, dass<br />

sie zwischen 10 <strong>und</strong> 20 Jahren im<br />

Ausland gelebt haben.<br />

Die äußerst primitiven „Zeltstädte”<br />

außerhalb von Mazar machen einen<br />

trostlosen Eindruck. Die Hilfe<br />

kommt rechtzeitig vor dem harten<br />

Winter. Ein großes Transparent weist<br />

auf die Spender aus Deutschland hin.<br />

Herz <strong>und</strong> Verstand von<br />

ADRA Afghanistan<br />

Das Schweizer Ehepaar Jaggi ist<br />

Herz <strong>und</strong> Verstand von ADRA Afghanistan.<br />

Dr. Peter Jaggi ist der Landeskoordinator<br />

von ADRA Afghanistan.<br />

Er ist von Beruf Kardiologe (64<br />

Jahre). Zusammen mit seiner Frau<br />

Verena haben beide drei Jahre in<br />

Nepal, 12 Jahre in Malawi <strong>und</strong> vier<br />

Jahre in Afghanistan gearbeitet. Sie<br />

leben <strong>und</strong> arbeiten mit ihren Mitarbeitern<br />

in einem kleinen Gebäudekomplex<br />

der ADRA, im Stadtteil Shari-Naw<br />

in Kabul. Das mit einer Außenmauer<br />

versehene Gebäude ist nicht<br />

gekennzeichnet. Die Jaggis legen<br />

36 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


Endphase einer Brunnenbohrung in der Provinz Sheberghan durch eine lokale Firma.<br />

Ingenieur Mohammed Gulbudin (rechts im Bild) von ADRA Afghanistan überwacht<br />

sorgfältig die Ausführung. Alle ca. 50 überprüften Brunnen, die von der ADRA erstellt<br />

wurden, waren funktionsfähig.<br />

Wert auf „low profile”, den besten<br />

Schutz in Afghanistan. Zusätzlich arbeiten<br />

der international erfahrene Inder<br />

Vinod als Projektbearbeiter <strong>und</strong><br />

der junge Rumäne Ovidio als Finanzbuchhalter<br />

im Team der ADRA.<br />

Verena Jaggi arbeitet zusätzlich als<br />

Projektbearbeiterin <strong>und</strong> „Mädchen <strong>für</strong><br />

alles”. Sie ist die Seele der kleinen<br />

Gemeinschaft. Jovitta, die Frau von<br />

Vinod, ist bei der GTZ in Kabul beschäftigt.<br />

Die ADRA legt Wert auf den<br />

Einsatz von Ehepaaren <strong>und</strong> umgeht<br />

damit die Unsitte von nicht ganz ungefährlichen<br />

Bordellbesuchen (AIDS)<br />

<strong>und</strong> sog. Nebenfrauen, wie sie bei<br />

langjährigen „humanitären Legionären”<br />

nicht unüblich sind. Am Samstag<br />

treffen sich Adventisten aus verschiedenen<br />

UN-Organisationen zu<br />

einer Bibellesung mit Aussprache.<br />

Die Inderin Jovitta hat die Bibelauslegung<br />

vorbereitet. Das Thema lautet:<br />

„Das Christsein bricht die Mauern<br />

zwischen den verschiedenen<br />

Menschen.” Es geht um den Abbau<br />

von Vorurteilen, was von den Teilnehmern<br />

mit vielen persönlichen Erfahrungen<br />

belegt wird.<br />

Für den Prüfer, einen Katholiken,<br />

fällt auch ein Vorurteil: Adventisten<br />

sind keine „weltfremden Sektierer”,<br />

sondern vorbildliche Christen, die<br />

sich an der Urgemeinde orientieren.<br />

Anschließend sind die Teilnehmer<br />

zum gemeinsamen Mittagessen eingeladen.<br />

Das sind die kleinen, vorbildlichen<br />

christlichen Gemeinschaften,<br />

von denen Papst Benedikt XVI.<br />

in seinem Buch „Salz der Erde” spricht.<br />

Zur Lage im afghanischen<br />

Ges<strong>und</strong>heitsbereich<br />

Nach 25 Jahren Krieg <strong>und</strong> Bürgerkrieg<br />

hat sich die humanitäre Lage in<br />

Afghanistan zwar in den letzten Jahren<br />

etwas verbessert, die Bevölkerung<br />

ist jedoch immer noch stark auf<br />

internationale Unterstützung, besonders<br />

im Bereich der medizinischen<br />

Gr<strong>und</strong>versorgung angewiesen. In diesem<br />

Bereich herrscht immer noch<br />

eine erschreckend hohe Kindersterblichkeit<br />

von 257 auf 1000 Lebendgeburten<br />

<strong>und</strong> eine hohe Müttersterblichkeit<br />

von 1600 auf 100.000 Geburten.<br />

Es gibt 18,5 Ärzte pro 100.000<br />

Einwohner <strong>und</strong> nur 8 % der Geburten<br />

werden medizinisch professionell<br />

betreut. Afghanistan hat nach Sierra<br />

Leone die schlechtesten Ges<strong>und</strong>heitsstatistiken<br />

der Welt.<br />

Johanniter unterstützen<br />

Kliniken <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsstationen<br />

Die Johanniter-Unfall-Hilfe e.V.<br />

unterstützt in Abstimmung mit dem<br />

afghanischen Ges<strong>und</strong>heitsministerium<br />

in Afghanistan vier Kliniken/Ges<strong>und</strong>heitsstationen<br />

mit Medikamenten,<br />

medizinischen Verbrauchsmaterial,<br />

medizinischen Geräten, Laborausstattung<br />

<strong>und</strong> Gehaltszuzahlungen<br />

<strong>für</strong> medizinisches Personal. Damit<br />

leistet die JUH einen substantiellen<br />

Beitrag zur Funktionsfähigkeit <strong>und</strong><br />

zum Erhalt dieser medizinischen Einrichtungen.<br />

Eine dieser Kliniken liegt<br />

im noch heute ziemlich zerstörten<br />

Stadtteil Khoshhal Mina im Westen<br />

von Kabul, wo der Bürgerkrieg mehrfach<br />

in erbitterten Häuserkämpfen die<br />

Fronten gewechselt hat.<br />

Die anderen Ges<strong>und</strong>heitsstationen<br />

befinden sich westlich von Herat in<br />

kleineren Ortschaften auf dem flachen<br />

Land. Die JUH wird bei ihren<br />

humanitären Bemühungen im afghanischen<br />

Ges<strong>und</strong>heitsbereich durch<br />

den Arbeitsstab Humanitäre Hilfe im<br />

Auswärtigen Amt unterstützt.<br />

Hoher Anteil<br />

von Rückkehrern<br />

Alle vier von der JUH betreuten<br />

Kliniken <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsstationen<br />

haben einen hohen Anteil an rückkehrenden<br />

Flüchtlingen aus Pakistan <strong>und</strong><br />

dem Iran. Die Quote der unterernährten<br />

Kinder liegt zwischen 20 % <strong>und</strong><br />

30 %. Die Mischung aus Unterernährung,<br />

schlechter Bekleidung (Kinder<br />

zum Teil barfuß) <strong>und</strong> dem derzeitigen<br />

Winter mit Temperaturen bis 30 Grad<br />

minus gefährdet die Ges<strong>und</strong>heit der<br />

Kinder in hohem Maße. Aus diesem<br />

Gr<strong>und</strong>e ist die Unterstützung der o.g.<br />

Ges<strong>und</strong>heitsstationen mit Medikamenten,<br />

Verbrauchsmaterial <strong>und</strong> einzelnen<br />

medizinischen Geräten durch<br />

die JUH lebensrettend <strong>und</strong> sollte in<br />

jedem Fall weitergeführt werden.<br />

Nachlassen des<br />

Spendenaufkommens<br />

Wie bei allen Notlagen, die nicht<br />

mehr im Fokus der Medien stehen,<br />

hat das Spendenaufkommen bei den<br />

Johannitern <strong>für</strong> Afghanistan in den<br />

letzten Jahren stark nachgelassen.<br />

Hochkonjunktur haben zurzeit die Erdbebenopfer<br />

in Kaschmir. In weiser<br />

Voraussicht hat die B<strong>und</strong>estagsabgeordnete<br />

Uta Titze-Stecher (SPD) im<br />

Jahr 2000 den völlig heruntergekommenen<br />

Haushaltstitel „Humanitäre<br />

Hilfsmaßnahmen außerhalb der Entwicklungshilfe“<br />

um 33 % gesteigert.<br />

Dieses Niveau konnte bis heute gehalten<br />

werden. Frau Titze-Stecher gehört<br />

dem Deutschen B<strong>und</strong>estag leider<br />

nicht mehr an. Sie war seinerzeit „Berichterstatterin<br />

<strong>für</strong> den Haushalt des<br />

Auswärtigen Amtes” <strong>und</strong> stellvertretende<br />

Vorsitzende des Haushaltsausschusses.<br />

Bei ihrer Initiative hatte sie<br />

die vergessenen Katastrophen im<br />

Blickpunkt (vgl. NV 4/2000 „Haushälterin<br />

mit Herz <strong>und</strong> Verstand”).<br />

Ein erneuter Absturz des Titels <strong>für</strong><br />

„Humanitäre Hilfsmaßnahmen außerhalb<br />

der Entwicklungshilfe” im B<strong>und</strong>eshaushalt<br />

2006 würde zwangsläufig<br />

das Todesurteil <strong>für</strong> zahlreiche<br />

Menschen, besonders <strong>für</strong> Frauen,<br />

Kinder <strong>und</strong> ältere Personen, in den<br />

„vergessenen Katastrophengebieten”<br />

bedeuten.<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 37


Die Schieflage der Friedenskon<br />

in Afghanistan<br />

– eine Herausforderung <strong>für</strong> die „Große<br />

Klaus Liebetanz, Fachberater <strong>für</strong> Katastrophenmanagement, Verden<br />

Anlässlich einer Ergebnisprüfung von Projekten der humanitären Hilfe in<br />

Afghanistan sprach unser Autor <strong>und</strong> Fachberater <strong>für</strong> Katastrophenmanagement,<br />

Klaus Liebetanz, mit zahlreichen Akteuren der Friedenskonsolidierung<br />

in Afghanistan. Darunter befanden sich Vertreter der deutschen <strong>und</strong><br />

internationalen Streitkräfte, der Polizei, der deutschen <strong>und</strong> internationalen<br />

Entwicklungshilfe <strong>und</strong> der Friedensfachkräfte. Als Ergebnis dieser Gespräche<br />

kommt er zu dem Fazit, dass sich die deutsche Friedenskonsolidierung<br />

in Afghanistan in einer Schieflage befindet, weil die finanzielle Ausstattung<br />

der militärischen Absicherung dreimal so hoch ist wie der Beitrag der<br />

zivilen Konfliktbearbeitung (Polizeieinsatz, Entwicklungs- <strong>und</strong> Demokratisierungshilfe).<br />

<strong>Der</strong> zivile Beitrag ist jedoch entscheidend <strong>für</strong> die Friedensgestaltung<br />

<strong>und</strong> die Tragfähigkeit des Friedensprozesses in Afghanistan.<br />

Deutsches Interesse<br />

Warum soll sich die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland an der Entwicklung<br />

eines sich selbst tragenden Friedensprozesses<br />

in Afghanistan beteiligen?<br />

1. Weil die terroristischen Aktivitäten,<br />

die von Afghanistan ausgingen<br />

(Lager zur Ausbildung von Terroristen)<br />

<strong>und</strong> welche die USA angriffen<br />

(Zerstörung der Twin Towers), in der<br />

Konsequenz auch Deutschland als<br />

Teil der westlichen Welt bedrohten.<br />

2. Weil Deutschland an einer verstärkten<br />

Migration aus dem traditionell<br />

befre<strong>und</strong>eten <strong>und</strong> durch 25 Jahre<br />

Krieg verarmten Afghanistan nicht<br />

interessiert ist.<br />

3. Weil ein befre<strong>und</strong>etes <strong>und</strong> entwickeltes<br />

Afghanistan bessere Handelsbeziehungen<br />

zu Deutschland als<br />

exportorientierter Nation verspricht.<br />

4. Weil die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland in Jahren größter Not<br />

1949 in der Präambel des Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />

eine feierliche Selbstverpflichtung<br />

zur weltweiten Friedensgestaltung<br />

„vor Gott <strong>und</strong> den Menschen”<br />

abgegeben hat <strong>und</strong> diese auch <strong>und</strong><br />

gerade in Zeiten des Wohlstands einhalten<br />

sollte.<br />

Fakten der Schieflage in<br />

der Friedenskonsolidierung<br />

Nach Aussagen von Fachleuten<br />

gibt es in Afghanistan noch 150-<br />

200.000 ehemalige Kämpfer, die ihre<br />

Waffen weiterhin besitzen. Ein Teil<br />

dieser „Ehemaligen” verdient sein<br />

Geld mit Raub <strong>und</strong> Erpressung <strong>und</strong><br />

bildet die Basis des organisierten<br />

Verbrechens. Ministerialdirigent<br />

Hans-H. Dube (Regionaldirektor der<br />

GTZ) hält diese Gruppierung <strong>für</strong> wesentlich<br />

gefährlicher als die terroristischen<br />

Taliban. Dadurch kommt dem<br />

Polizeieinsatz in Afghanistan eine<br />

ebenso große Bedeutung zu wie dem<br />

militärischen Engagement. Dem werde<br />

die deutsche Unterstützungsleistung<br />

in Afghanistan nicht gerecht.<br />

Während <strong>für</strong> das deutsche Militär<br />

jährlich 319 Mio. Euro bereitgestellt<br />

werden, sind es lediglich 13 Mio.<br />

Euro, die <strong>für</strong> den deutschen Polizeieinsatz<br />

zur Verfügung stehen. Dabei<br />

kommt es nicht so sehr darauf an,<br />

die Zahl der deutschen Polizeiausbilder<br />

zu erhöhen, sondern vielmehr die<br />

Leistungen <strong>für</strong> Infrastrukturmaßnahmen<br />

der afghanischen Polizei, um<br />

erfolgreich Korruption <strong>und</strong> organisiertes<br />

Verbrechen zu bekämpfen, die<br />

das Gr<strong>und</strong>übel in allen „zerfallenden<br />

Staaten” darstellen.<br />

Außerdem wird es anfangs notwendig<br />

sein, <strong>für</strong> einen Teil der afghanischen<br />

Polizeispezialisten zusätzliche<br />

Zahlungen vorzunehmen, damit<br />

sie nicht vom organisierten Verbrechen<br />

abgeworben werden.<br />

Forderung nach einem<br />

neuen Gesamtkonzept<br />

<strong>für</strong> einen internationalen<br />

Polizeieinsatz<br />

Nach der Fußballweltmeisterschaft<br />

in Deutschland mit ihrem hohen Bedarf<br />

an Polizisten sollte B<strong>und</strong>esinnenminister<br />

Wolfgang Schäuble über ein<br />

Gesamtkonzept <strong>für</strong> den deutschen<br />

internationalen Polizeieinsatz nachdenken<br />

lassen, das auch genügend<br />

Anreize <strong>für</strong> geeignete Polizisten zum<br />

weltweiten Auslandseinsatz schafft<br />

(u.a. Verbesserung der Karrierechancen).<br />

In „zerfallenden Staaten” kommt<br />

dem effektiven, rechtsstaatlichen Polizeieinsatz<br />

generell eine ebenso große<br />

Bedeutung wie den Streitkräften<br />

zu, weil die noch bewaffneten ehemaligen<br />

Kämpfer den zu bildenden<br />

Staat systematisch durch organisierte<br />

Kriminalität unterminieren <strong>und</strong> terrorisieren.<br />

Für solche Maßnahmen<br />

sollte im Etat des B<strong>und</strong>esinnenministers<br />

ein angemessen ausgestatteter<br />

Titel eingerichtet werden. Im Gegensatz<br />

zur b<strong>und</strong>esdeutschen Regierung<br />

setzen die US-Amerikaner erheblich<br />

mehr Polizisten in der Ausbildung der<br />

afghanischen Polizisten ein. Dabei<br />

sind die Amerikaner nach Aussagen<br />

von Polizeifachleuten wenig wählerisch<br />

in der Auswahl ihrer Ausbilder,<br />

teilweise seien es Pensionäre, die in<br />

38 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


olidierung<br />

Koalition”<br />

der Funktion einer „Art Parkplatzwächter”<br />

in den USA fungierten.<br />

Deutschland kann es sich als „Leadnation<br />

<strong>für</strong> den Polizeieinsatz in Afghanistan”<br />

nicht ein zweites Mal (nach<br />

Bosnien Herzegowina) erlauben, trotz<br />

gewaltiger Militärausgaben ein Land<br />

in den Händen des organisierten Verbrechens<br />

zu hinterlassen.<br />

Deutschland muss seine<br />

wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

mit Afghanistan<br />

verstärken<br />

<strong>Der</strong> wirtschaftliche Auf- <strong>und</strong> Ausbau<br />

ist von entscheidender Bedeutung<br />

<strong>für</strong> die weitere Stabilisierung in<br />

Afghanistan.<br />

Solange u.a. Kabul nur alle zwei<br />

Tage <strong>für</strong> vier St<strong>und</strong>en Elektrizität hat,<br />

wird sich kaum Gewerbe <strong>und</strong>/oder<br />

Industrie ansiedeln. Wenn es jedoch<br />

nicht gelingt, genügend Arbeitsplätze<br />

zu schaffen, wird die politische<br />

Lage weiterhin instabil bleiben. Dies<br />

gilt auch <strong>für</strong> die Landwirtschaft: Vor<br />

dreißig Jahren war Afghanistan noch<br />

weltweit der größte Produzent von<br />

Trockenfrüchten. Heute führt Afghanistan<br />

diese Früchte aus Pakistan <strong>und</strong><br />

dem Iran ein. Die o.g. Probleme lassen<br />

sich durch einen verstärkten wirtschaftlichen<br />

Wiederaufbau des komplexen<br />

Bewässerungssystems lösen.<br />

Auch hier gibt es eine Schieflage in<br />

der deutschen Unterstützung.<br />

Deutschland verwendet nur ein Viertel<br />

der Summe, die es auf die militärische<br />

Absicherung verwendet, auf<br />

Entwicklungshilfe. Das ist <strong>für</strong> eine<br />

deutsche Schwerpunktaufgabe zu<br />

wenig. Damit werden die deutschen<br />

Soldaten in Afghanistan zu Lückenbüßern<br />

einer fehlenden Gesamtstrategie.<br />

Die deutsche Gemeinde gedenkt am Volkstrauertag auf dem einzigen christlichen<br />

Friedhof in Kabul der <strong>für</strong> den Frieden in Afghanistan gefallenen Soldaten <strong>und</strong> der<br />

getöteten zivilen Aufbauhelfer.<br />

Deutschland sendet zu<br />

wenige Friedensfachkräfte<br />

Zurzeit setzt der „Deutsche Entwicklungsdienst”<br />

(DED) lediglich vier<br />

Friedensfachkräfte (FFK) in Afghanistan<br />

ein. Das ist eindeutig zu wenig.<br />

Nach einer ersten Evaluierung von<br />

FFK im Auftrag des BMZ im Jahr<br />

2002 wurde nachgewiesen, dass Friedensfachkräfte<br />

in einer bestimmten,<br />

genügend starken Anzahl eingesetzt<br />

werden müssten, um eine flächendeckende<br />

<strong>und</strong> nachhaltige Wirkung zu<br />

erzielen, ansonsten würde die Arbeit<br />

der FFK „verpuffen”. Andererseits<br />

kann ein gesellschaftlicher Wandel<br />

nur von innen her den Friedensprozess<br />

auf Dauer erhalten. Das Militär<br />

ist <strong>für</strong> diese Aufgabe weniger geeignet.<br />

Die „große Koalition” sollte daher<br />

die vermehrte Ausbildung <strong>und</strong><br />

den Einsatz deutscher Friedensfachkräfte<br />

unterstützen <strong>und</strong> sie schwerpunktmäßig<br />

einsetzen, anstatt wie<br />

bisher weltweit im Gießkannenprinzip<br />

ohne nachhaltige Wirkung.<br />

Eigenverantwortung<br />

der Afghanen<br />

Natürlich muss von der afghanischen<br />

Regierung <strong>und</strong> Bevölkerung<br />

auch eine eigene angemessene Leistung<br />

erbracht werden. Dies geschieht<br />

nach Aussagen von Entwicklungsfachleuten<br />

in erforderlichem Maße,<br />

zumal diese Eigenleistung unabdingbarer<br />

Bestandteil einer professionellen<br />

Entwicklungshilfe ist.<br />

Extrem schwierige<br />

Aufbaubedingungen<br />

Darüber hinaus darf nicht vergessen<br />

werden, dass Afghanistan nach<br />

dreißig Jahren verheerendem Bürger-<br />

krieg <strong>und</strong> zusätzlicher ausländischer<br />

Interventionen gründlich zerstört ist.<br />

Das trifft sowohl <strong>für</strong> alle staatlichen<br />

Institutionen als auch <strong>für</strong> das einstmals<br />

gut funktionierende Bewässerungssystem<br />

zu. Aus der Vogelperspektive<br />

gleicht Afghanistan größtenteils<br />

einer „braunen Mondlandschaft”.<br />

Am Boden wächst verstreut ein distelähnliches,<br />

kleines Gewächs, das<br />

auch in extremer Dürre existieren<br />

kann. Es dient den Ziegen als Nahrung.<br />

Große Teile des Landes haben<br />

nicht mehr als 30 bis 40 cm Regenfall<br />

pro Jahr, so dass ohne Bewässerung<br />

keine Landwirtschaft möglich ist.<br />

Zudem besitzt Afghanistan keine nennenswerten<br />

Bodenschätze. Das einzige,<br />

was (mehr oder weniger heimlich)<br />

exportiert wird, ist Rohopium,<br />

womit über 50 % des Bruttonationaleinkommens<br />

erzielt werden können.<br />

<strong>Der</strong> afghanische Staat ist zurzeit dabei,<br />

ein Steuersystem zur Finanzierung der<br />

öffentlichen Aufgaben einzuführen.<br />

Ohne internationale Hilfe kommt Afghanistan<br />

nicht auf die Beine. Nach<br />

Aussagen eines leitenden Mitarbeiters<br />

der GTZ benötigt das Land weitere<br />

20 bis 25 Jahre um den Stand von<br />

1970 zu erreichen.<br />

Unverzichtbarer Einsatz der<br />

B<strong>und</strong>eswehr in Afghanistan<br />

Die B<strong>und</strong>eswehr leistet in Afghanistan<br />

als ein Teil von ISAF (International<br />

Security Assistance Force) einen<br />

unverzichtbaren Einsatz.<br />

Nach Auffassung von Ministerialdirigent<br />

Hans-H. Dube würde Afghanistan<br />

nach einem sofortigen Abzug<br />

der B<strong>und</strong>eswehr/ISAF innerhalb von<br />

sieben Tagen im Chaos versinken.Insofern<br />

ist der B<strong>und</strong>eswehreinsatz<br />

derzeit eine „Conditio sine qua non” <strong>für</strong><br />

den Friedensprozess in Afghanistan.<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 39<br />

Foto: Klaus Liebetanz


Unglückliche <strong>und</strong> missverständliche<br />

Formulierung im<br />

Koalitionsvertrag<br />

In diesem Zusammenhang muss<br />

auf die unglückliche <strong>und</strong> missverständliche<br />

Formulierung aus dem<br />

Koalitionsvertrag vom <strong>11.</strong><strong>11.</strong>2005<br />

hingewiesen werden, in dem es unter<br />

Ziffer 6713-15 heißt: „Auslandseinsätze<br />

der B<strong>und</strong>eswehr werden<br />

stets von politischen Konzepten flankiert<br />

<strong>und</strong> eng zwischen den beteiligten<br />

Ressorts der B<strong>und</strong>esregierung<br />

koordiniert.” Bei der Friedenskonsolidierung,<br />

bislang 99 % der B<strong>und</strong>eswehreinsätze<br />

im Ausland, kann das<br />

Militär nur eine flankierende Maßnahme<br />

sein <strong>und</strong> nicht umgekehrt die zivilen<br />

Aktivitäten, weil das Ziel eines<br />

sich selbst tragenden Friedensprozesses<br />

zivil ist <strong>und</strong> nicht durch militärische<br />

Mittel erreicht werden kann.<br />

Daher muss der Schwerpunkt bei der<br />

Friedenskonsolidierung auf den zivilen<br />

Aktivitäten mit dem entsprechenden<br />

personellen <strong>und</strong> finanziellen Aufwand<br />

liegen.<br />

Friedenskonsolidierung –<br />

Eine Herausforderung <strong>für</strong><br />

die „große Koalition”<br />

Es ist notwendig, dass sich die verantwortlichen<br />

Politiker der „großen<br />

Koalition” auch mit den Konsequenzen<br />

einer Friedenskonsolidierung in<br />

Afghanistan auseinander setzen <strong>und</strong><br />

dazu ein schlüssiges Gesamtkonzept<br />

vorlegen. Notfalls muss B<strong>und</strong>eskanzlerin<br />

Merkel von ihrer Richtlinienkompetenz<br />

Gebrauch machen. Schließlich<br />

handelt es sich beim deutschen<br />

Friedenseinsatz in Afghanistan nicht<br />

um beliebige Aktionen einzelner Ministerien,<br />

sondern um eine Gesamtleistung<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland.<br />

Eine weitere Schieflage bei der<br />

Friedenskonsolidierung in Afghanistan<br />

wird zwangsläufig bei den eingesetzten<br />

Soldaten zu mehr Frust <strong>und</strong><br />

Resignation führen. Das Vertrauen in<br />

die politische Führung steht auf dem<br />

Spiel. Man darf daher auf das neue<br />

Weißbuch zur Sicherheit der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

<strong>und</strong> zur Lage <strong>und</strong> Zukunft<br />

der B<strong>und</strong>eswehr am Ende des Jahres<br />

2006 gespannt sein.<br />

Darfur –<br />

Bürgerkrieg <strong>und</strong>/<br />

Klaus Liebetanz, Fachberater <strong>für</strong><br />

Katastrophenmanagement, Verden<br />

Eine NGO zwingt<br />

den Sicherheitsrat zum<br />

Handeln im Sudan<br />

Am 20. Juli 2004 hat die Menschenrechtsorganisation<br />

Human Rights<br />

Watch an Hand von sudanesischen<br />

Regierungsdokumenten nachgewiesen,<br />

dass die Regierung in Karthum<br />

die Janjaweed-Milizen rekrutiert <strong>und</strong><br />

bewaffnet hatten. Diese „bewachten“<br />

auch die Flüchtlingslager innerhalb<br />

von West-Darfur <strong>und</strong> trieben weiter<br />

ihr Unwesen. Die sudanesische Regierung<br />

hatte bislang vehement bestritten,<br />

dass sie überhaupt etwas mit<br />

den paramilitärischen Janjaweed zu<br />

tun hätte. Als Folge der beweiskräftigen<br />

Aussagen von HRW hat sowohl<br />

der amerikanische Kongress als auch<br />

das Repräsentantenhaus einen Stopp<br />

des Völkermords in West-Dafur verlangt.<br />

<strong>Der</strong> Sicherheitsrat (SR) konnte<br />

endlich am 29. Juli 2004 eine Resolution<br />

gegen den Sudan verabschieden,<br />

in der dieser aufgefordert wurde, die<br />

genozidären Umtriebe innerhalb von<br />

30 Tagen zu beenden. <strong>Der</strong> amerikanische<br />

Resolutionsantrag enthielt eine<br />

Sanktionsandrohung bei Nichtbefolgung.<br />

Dem haben sieben Mitglieder<br />

des SR nicht zugestimmt. Im Sicherheitsrat<br />

gibt es unterschiedliche Interessen.<br />

Die Russische Föderation<br />

sieht seine Waffenlieferungen an den<br />

Sudan gefährdet, China treibt intensiven<br />

Handel mit dem Sudan <strong>und</strong> westliche<br />

Staaten (vor allem Frankreich)<br />

sehen ihre Ölinteressen im Sudan in<br />

Gefahr. Hierzu passt die Auffassung<br />

des deutschen Generals Manfred Eisele,<br />

dem ehemaligen Assistenten<br />

von Kofi Annan im Peacekeeping<br />

Department der Vereinten Nationen:<br />

„Die Vereinten Nationen <strong>und</strong> speziell<br />

der Sicherheitsrat sind keine Gemeinschaft<br />

der ,gutwilligen Menschen’,<br />

sondern eine Zweckgemeinschaft von<br />

Staaten zur Durchsetzung ihrer jeweiligen<br />

nationalen Interessen.”<br />

Untersuchung<br />

der USA vor Ort<br />

Aufgr<strong>und</strong> der beunruhigenden<br />

Meldung von „Human Rights Watch”<br />

setzte die amerikanische Regierung<br />

im Juli 2004 ein Expertenteam ein, das<br />

nach den Kriterien der „UN-Konvention<br />

über die Verhütung <strong>und</strong> Bestrafung<br />

des Völkermordes” (Art. 2) Untersuchungen<br />

vor Ort anstellen sollten.<br />

Von dieser Untersuchungskommission<br />

wurden im Ost-Tschad in 19 Flüchtlingslagern<br />

insgesamt 1.136 zufällig ausgewählte<br />

Personen befragt.<br />

Wesentliche Ergebnisse<br />

der Befragung<br />

Ca. 50 % der Befragten gaben an,<br />

dass reguläre sudanesische Streitkräfte<br />

zusammen mit den arabischen<br />

Reitermilizen Janjaweed ihre Dörfer<br />

<strong>und</strong> Städte angegriffen hätten. Diese<br />

Angriffe seien in der Regel mit einem<br />

Luftbombardement eröffnet worden.<br />

Weitere 25% sagten aus, dass nur<br />

sudanesische Streitkräfte angegriffen<br />

hätten, während 14% berichteten, es<br />

wären ausschließlich Janjaweed-Milizen<br />

gewesen. Alle Angriffe hätten<br />

zur Folge gehabt, dass angegriffene<br />

Dörfer <strong>und</strong> Städte mehr oder weniger<br />

komplett zerstört <strong>und</strong> das persönliche<br />

Eigentum der Bewohner <strong>und</strong><br />

deren Vieh von den Angreifern geraubt<br />

worden wären. 61% der Befragten<br />

berichteten, dass Mitglieder ihrer<br />

Familien ermordet <strong>und</strong> zahlreiche<br />

Vergewaltigungen vorgenommen<br />

worden wären. Die Angreifer hätten<br />

rassistische Parolen gerufen.<br />

Artikel 2 der<br />

UN-Genozidkonvention<br />

„In dieser Konvention bedeutet Völkermord<br />

eine der folgenden Handlungen,<br />

die in der Absicht begangen wird,<br />

eine nationale, ethnische, rassistische<br />

oder religiöse Gruppe als solche ganz<br />

oder teilweise zu zerstören:<br />

(a) Tötung von Mitgliedern der<br />

Gruppe;<br />

40 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


oder „Schleichender Genozid”?<br />

(b) Verursachung von schweren<br />

körperlichen oder seelischen Schäden<br />

an Mitgliedern der Gruppe;<br />

(c) vorsätzliche Auferlegung von<br />

Lebensbedingungen <strong>für</strong> die Gruppe,<br />

die geeignet sind, ihre körperliche<br />

Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;<br />

(d) Verhängung von Maßnahmen,<br />

die auf die Geburtenverhinderung<br />

innerhalb der Gruppe gerichtet sind;<br />

(e) gewaltsame Überführung von<br />

Kindern der Gruppe in eine andere<br />

Gruppe.“<br />

Powell erklärt den<br />

Völkermord in Darfur<br />

US-Außenminister Powell erklärte<br />

am 9. <strong>September</strong> 2004 vor dem Auswärtigen<br />

Ausschuss des US-Senats<br />

den Genozid in Darfur <strong>und</strong> machte<br />

die sudanesische Regierung in Verbindung<br />

mit den Janjaweed-Milizen<br />

<strong>für</strong> den Völkermord an der nichtarabischen<br />

Bevölkerung in Darfur verantwortlich.<br />

Er forderte die Vereinten<br />

Nationen auf, den Völkermord in<br />

Darfur vollständig aufzuklären <strong>und</strong> die<br />

verantwortlichen Täter zu bestrafen.<br />

Die Vereinten Nationen <strong>und</strong> die Afrikanische<br />

Union lehnen es ab, die<br />

Vorgänge in Darfur offiziell als Genozid<br />

anzuerkennen.<br />

Waffenstillstandsmission<br />

der Afrikanischen Union<br />

Mit der Resolution 1564 hat<br />

schließlich der Sicherheitsrat den<br />

Sudan im <strong>September</strong> 2004 aufgefordert,<br />

eine Truppe der Afrikanischen<br />

Union (AU) mit einer maximalen Stärke<br />

von 7.000 Soldaten zur Überwachung<br />

des Waffenstillstandes zwischen<br />

den beiden Rebellenbewegungen<br />

(Sudan Liberation Army (SLA)<br />

<strong>und</strong> Justice and Equality Movement<br />

(JEM) <strong>und</strong> den Janjaweed-Milizen<br />

einschließlich der regulären sudanesichen<br />

Streitkräften zuzulassen.<br />

Diese Truppe wurde Ende 2004 <strong>und</strong><br />

Anfang 2005 auf einem Gebiet von<br />

der Größe Frankreichs disloziert <strong>und</strong><br />

mit einem schwachen Mandat nach<br />

Chapter VI ausgestattet. Ein Scheitern<br />

war vorprogrammiert, weil die<br />

Lehren des Brahimi-Reports aus<br />

dem Jahr 2000 nicht berücksichtigt<br />

wurden.<br />

Unübersichtliche<br />

Gemengelage in West-Darfur<br />

Als Beispiel <strong>für</strong> die unübersichtliche<br />

Gemengelage in West-Darfur soll<br />

im Folgenden aus der Erklärung des<br />

Präsidenten des SR vom 13. Oktober<br />

2005 ausschnittsweise zitiert werden<br />

(5277. Sitzung des SR):<br />

„<strong>Der</strong> Rat verurteilt nachdrücklich<br />

den Berichten zufolge von der Befreiungsarmee/-bewegung<br />

Sudans verübten<br />

Angriff vom 8. Oktober auf Personal<br />

der Mission der Afrikanischen<br />

Union im Sudan (AMS) in Darfur, bei<br />

dem vier nigerianische Friedenssicherungskräfte<br />

<strong>und</strong> zwei zivile Auftragnehmer<br />

getötet <strong>und</strong> drei weitere<br />

Personen in der Nähe von Menawasha<br />

verw<strong>und</strong>et wurden, sowie den<br />

Berichten zufolge von der Bewegung<br />

<strong>für</strong> Gerechtigkeit <strong>und</strong> Gleichheit am<br />

9. Oktober in Tine (Nord-Darfur) verübten<br />

Angriff, bei dem etwa 35 Mitglieder<br />

der AMIS aus dem Hinterhalt<br />

überfallen <strong>und</strong> gefangen genommen<br />

wurden. <strong>Der</strong> Rat spricht den Angehörigen<br />

der Getöteten seine tiefe<br />

Anteilnahme aus.<br />

<strong>Der</strong> Sicherheitsrat verurteilt außerdem<br />

den am 25. <strong>September</strong> von aus<br />

Sudan kommenden bewaffneten<br />

Gruppen verübten Angriff in Modaina<br />

(Tschad), bei dem 75 Menschen,<br />

zumeist Zivilpersonen, getötet wurden.<br />

Gemeinsam mit der Afrikanischen<br />

Union bek<strong>und</strong>et der Rat besondere<br />

Abscheu über den von Rebellen<br />

in Darfur verübten Angriff vom<br />

19. <strong>September</strong> auf die Stadt Sheiara,<br />

den am 28. <strong>September</strong> von Janjaweed-Milizen<br />

verübten Angriff auf<br />

das Vertriebenenlager von Aro Sharow,<br />

bei dem 29 Menschen getötet<br />

<strong>und</strong> viele verw<strong>und</strong>et wurden, <strong>und</strong><br />

den am 29. <strong>September</strong> von sudane-<br />

sischen Regierungstruppen verübten<br />

Angriff auf das Dorf Tawila.<br />

<strong>Der</strong> Sicherheitsrat bek<strong>und</strong>et außerdem<br />

seine Besorgnis über die in dem<br />

Bericht des Generalsekretärs vom 19.<br />

<strong>September</strong> (S/2005/592) enthaltene<br />

Feststellung, dass die Regierung (Sudans)<br />

keine sichtbaren Anstrengungen<br />

unternommen hat, um die Milizen<br />

zu entwaffnen oder sie im Einklang<br />

mit früheren Vereinbarungen <strong>und</strong><br />

den Resolutionen des Sicherheitsrates<br />

zur Rechenschaft zu ziehen.”<br />

UN-Gesandter Jan Pronk<br />

erklärt das Scheitern<br />

der AU-Mission<br />

Mitte Januar 2006 erklärte der UN-<br />

Gesandte Jan Pronk die Bemühungen<br />

um eine Entschärfung der Situation<br />

in West-Dafur <strong>für</strong> gescheitert. Vor dem<br />

Sicherheitsrat in New York forderte<br />

er ein robusteres Mandat <strong>und</strong> bis zu<br />

20.000 Soldaten, um die Milizen zu<br />

entwaffnen, die Ermordungen <strong>und</strong><br />

Vergewaltigungen dort zu stoppen<br />

<strong>und</strong> den zwei Millionen Flüchtlingen<br />

die Rückkehr zu ermöglichen. Die<br />

marodierenden arabischen Reitermilizen<br />

würden ein Dorf nach dem anderen<br />

auslöschen, ergänzte Pronk.<br />

„Mindestens einmal im Monat greifen<br />

Gruppen von 500 bis 1000 Milizionären<br />

auf Kamelen <strong>und</strong> Pferden Dörfer<br />

an, töten dutzende Menschen <strong>und</strong> terrorisieren<br />

die übrigen, die fliehen.”<br />

Ergebnisse der<br />

Genozidforschung<br />

Nach Auffassung des „Instituts <strong>für</strong><br />

Diaspora <strong>und</strong> Genozidforschung” an<br />

der Ruhr-Universität Bochum seien<br />

die seit drei Jahren anhaltenden massiven<br />

Gewaltmaßnahmen gegen die<br />

afrikanische Zivilbevölkerung in Darfur<br />

nicht im Kontext des Bürgerkriegs<br />

zu lesen bzw. ausschließlich als Reaktionen<br />

der sudanesischen Zentralregierung<br />

auf die Rebellion der „Sudan<br />

Liberation Army” <strong>und</strong> des „Justice<br />

and Equality Movement” in der<br />

Notfallvorsorge 4/2005 www.walhalla.de/notfallvorsorge 41


Region zu erklären. Vielmehr seien<br />

die Vertreibungen <strong>und</strong> Massaker, an<br />

denen sich neben eigens gegründeten<br />

Milizen auch sudanesische Regierungstruppen<br />

beteiligten, eingeb<strong>und</strong>en<br />

in eine von der Zentralregierung<br />

systematisch verfolgte Bevölkerungs<strong>und</strong><br />

Identitätspolitik, die sich seit mehr<br />

als einer Dekade nachzeichnen lässt:<br />

Maßnahmen der Zwangsislamisierung<br />

seit den frühen 1990er Jahren<br />

<strong>und</strong> die aktuelle gewaltsame Arabisierung<br />

der Region Darfur, die mit<br />

der Vertreibung <strong>und</strong> Vernichtung der<br />

afrikanischen Bevölkerungsgruppen<br />

in der Region ihren Abschluss finden<br />

soll, zielen auf die Verwirklichung einer<br />

islamisch-arabischen Identität von<br />

Staatselite, Administration <strong>und</strong> Bevölkerung.<br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> ist<br />

die Gewaltpolitik in Darfur nicht als<br />

Bürgerkrieg oder als ethnischer Konflikt<br />

zu bezeichnen, sondern zweifellos<br />

als Genozid zu charakterisieren.<br />

Genozid ist ein<br />

Ergebnis der Moderne<br />

Nach Auffassung der Bochumer<br />

Wissenschaftler ist Genozid kein atavistischer,<br />

barbarischer Akt, sondern<br />

durchaus etwas Modernes. Beim Genozid<br />

geht es um nationale Homogenisierung<br />

<strong>und</strong> um einen Vergemeinschaftungsentwurf<br />

mit nationaler<br />

Selbstbestimmung. Ein neuer Staat<br />

soll entstehen. Minderheiten werden<br />

als Störenfriede betrachtet <strong>und</strong> systematisch<br />

beseitigt. Angesichts der<br />

vielen „failing states” nach 1990 <strong>und</strong><br />

dem daraus resultierenden Stabilisierungsversuchen<br />

erhält die Genozidgefährdung<br />

eine zunehmende Aktualität.<br />

Dabei genügt es nicht, einzelne<br />

Massaker zu dokumentieren, sondern<br />

sie müssen in einen Gesamtzusammenhang<br />

gestellt werden. Nur so<br />

können genozidäre Vorgänge erkannt<br />

werden.<br />

Deutschland muss mehr<br />

Verantwortung übernehmen<br />

Ausgehend von der Präambel des<br />

Gr<strong>und</strong>gesetzes, in der sich die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland feierlich<br />

verpflichtet, dem Frieden in der Welt<br />

zu dienen, muss der langjährige<br />

Trend, die Ausgaben <strong>für</strong> militärische<br />

Sicherheit <strong>und</strong> <strong>für</strong> Entwicklungshilfe<br />

im Verhältnis zum Gesamthaushalt<br />

ständig zu senken, gestoppt <strong>und</strong><br />

umgekehrt werden. Wenn es der<br />

„Großen Koalition” in den nächsten<br />

neun Jahren nicht gelingt, die Ausgaben<br />

<strong>für</strong> Entwicklungshilfe um jährlich<br />

mindestens 3 % <strong>und</strong> die Ausgaben<br />

<strong>für</strong> militärische Sicherheit um mindestens<br />

jährlich 2 % zu steigern, kann<br />

das o.a. feierliche Versprechen – im<br />

Bewusstsein seiner Verantwortung<br />

vor Gott <strong>und</strong> den Menschen – nicht<br />

eingehalten werden. Darüber hinaus<br />

würde Deutschland – wie es jetzt<br />

schon beginnt – außenpolitisch marginalisiert<br />

<strong>und</strong> langsam, aber sicher<br />

als aktiver Mitgestalter des Weltfriedens<br />

ausscheiden. Die regelmäßige<br />

jährliche Steigerung dieser<br />

beiden o.a. Budgets ist der Lackmustest<br />

<strong>für</strong> die Ernsthaftigkeit der deutschen<br />

Friedensbemühungen <strong>und</strong> wesentlich<br />

wichtiger als ein ständiger<br />

Sitz im Sicherheitsrat. Dabei wäre es<br />

sicher notwendig, dass dem Auswär-<br />

Ulrich Keller, DGVN<br />

Berlin, 14. Februar 2006. Die B<strong>und</strong>esregierung<br />

ist bereit, eine erweiterte<br />

Mission im Sudan auf der Basis<br />

der Vereinten Nationen zu unterstützen.<br />

Dies versprach Gernot<br />

Erler, Staatsminister im Auswärtigen<br />

Amt, auf einer Podiumsveranstaltung<br />

gestern Abend, die die Deutsche<br />

Gesellschaft <strong>für</strong> die Vereinten<br />

Nationen (DGVN) gemeinsam mit<br />

der Gemeinsamen Konferenz Kirche<br />

<strong>und</strong> Entwicklung (GKKE) durchgeführt<br />

hat.<br />

Die Lage in der sudanesischen<br />

Provinz Darfur ist dramatisch. In<br />

dem Bürgerkrieg sind Tausende<br />

Menschen getötet, vergewaltigt <strong>und</strong><br />

vertrieben worden, zwei Millionen<br />

sind auf der Flucht. Trotz des Einsatzes<br />

einer Friedenstruppe der Afrikanischen<br />

Union ist keine durchgreifende<br />

Verbesserung eingetreten.<br />

Erler versprach, sich intensiv mit der<br />

Krise in dem Land zu beschäftigen.<br />

Die prinzipiell erfolgreiche, aber zahlenmäßig<br />

<strong>und</strong> logistisch zu schwache<br />

Mission der Afrikanischen Union<br />

im Sudan müsse jetzt so lange<br />

nachhaltig unterstützt werden, bis<br />

die UN mit einer zahlenmäßig wesentlich<br />

stärkeren Truppe in sechs<br />

tigen Amt ein Haushaltstitel in Milliardenhöhe<br />

zur Verfügung gestellt wird,<br />

um internationale Friedenseinsätze im<br />

Rahmen der Vereinten Nationen<br />

– wie in Dafur oder im Kongo – tatkräftig<br />

zu unterstützen <strong>und</strong> entsprechenden<br />

Einfluss zu nehmen. Zurzeit<br />

ist das Auswärtige Amt eher ein „zahnloser<br />

Tiger” ohne Weisungsbefugnis<br />

gegenüber dem Verteidigungs- <strong>und</strong><br />

Entwicklungsministerium <strong>und</strong> hat<br />

selbst keinen nennenswerten entsprechenden<br />

Haushaltstitel. In diesem<br />

Zusammenhang muss sich der Deutsche<br />

B<strong>und</strong>estag als Budgetverteiler<br />

fragen, was aus seiner jeweils am 27.<br />

Januar feierlich verkündeten Erklärung<br />

„Nie wieder Völkermord!” geworden<br />

ist (Vgl. dazu „Deutscher B<strong>und</strong>estag<br />

im Glashaus – Kein Gr<strong>und</strong> zu<br />

moralischer Überheblichkeit” im Auftrag<br />

247, dem Organ der „Gemeinschaft<br />

Katholischer Soldaten”).<br />

Staatsminister Erler: Falls notwendig,<br />

EU-Sanktionen gegen Täter im Sudan<br />

bis neun Monaten die Verantwortung<br />

übernehmen könne. Dies müsse<br />

Anfang März in Brüssel im Rahmen<br />

der geplanten internationalen<br />

Sudan-Hilfskonferenz sichergestellt<br />

werden. Für den Fall einer weiteren<br />

Blockade des UN-Sanktionskomitees<br />

durch interessierte Staaten<br />

stellte Erler in Aussicht, sich <strong>für</strong> gezielte<br />

Finanz- <strong>und</strong> Reisesanktionen<br />

der EU gegenüber den Tätern im<br />

Sudan einzusetzen.<br />

Ob B<strong>und</strong>esaußenminister Steinmeier<br />

bei seiner bevorstehenden<br />

China-Reise mehr Druck der chinesischen<br />

Führung auf den Sudan zur<br />

Beendigung der Gewalt einfordern<br />

wird, ließ Erler offen.<br />

Die Verhandlungsposition der EU<br />

wurde durch die Ernennung des<br />

ehemaligen finnischen Umwelt- <strong>und</strong><br />

Entwicklungsminister Pekka Haavisto<br />

zum Sonderbeauftragen <strong>für</strong> Sudan<br />

nach übereinstimmender Ansicht<br />

der Anwesenden gestärkt. <strong>Der</strong><br />

Koordinator der europäischen Außenpolitik<br />

zu dem afrikanischen<br />

Land hatte allerdings Mühe, die Positionen<br />

Frankreichs <strong>und</strong> Sloweniens<br />

als Ausdruck einer homogenen<br />

Außenpolitik der Gemeinschaft erscheinen<br />

zu lassen.<br />

42 www.walhalla.de/notfallvorsorge<br />

Notfallvorsorge 4/2005


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