Volker Tesmer - Deutsche Geodätische Kommission
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2. Grundlagen der geodätischen VLBI<br />
Die tatsächliche Reaktion der Erde auf das Gezeitenerzeugende Potential ist allerdings deutlich komplizierter als<br />
in (2-11) angedeutet. Z.B. können wegen des inneren Aufbaus der Erde Anregungen in bestimmten Periodenbereichen<br />
Resonanzeffekte hervorrufen und dadurch Tiden mit eigentlich kleinem Potential so verstärkt zu großen<br />
Deformationen führen. In LAMBECK (1988) werden als dafür entscheidende Eigenschaften des Erdkörpers die<br />
Trägheitsmomente des Erdkerns und der gesamten Erde, die geometrische Abplattung des äußeren Erdkerns und<br />
der gesamten Erde, und die mittlere Winkelgeschwindigkeit der Erde angeführt. HAAS (1996, S. 16) gibt als<br />
Beispiele für Eigenschwingungen der Erde die in Abschnitt 2.1.2 erwähnte Chandler-Periode sowie die Free-<br />
Core-Nutation des Rotationspols an (siehe auch MORITZ und MÜLLER 1987). Außerdem verweist er auf weitere<br />
freie seismische Schwingungen mit Perioden von ca. 54 Minuten, 28 Minuten und 24 Minuten (DEHANT 1987),<br />
sowie die Slichter-Moden (ROCHESTER und PENG 1993). Eine umfassende Darstellung der Reaktion der Erde auf<br />
das gezeitenerzeugende Potential liefern z.B. Arbeiten von WAHR (1979 und 1981).<br />
Das in den aktuellen IERS Conventions 2003 (MCCARTHY und PETIT 2003) vorgeschlagene Modell der Tiden der<br />
festen Erde ist wie die Modelle älterer Conventions eine Näherung der Wahr’schen Theorie, in dem zunächst mit<br />
frequenzunabhängigen Love’schen und Shida’schen Zahlen gerechnet wird. Im Gegensatz zu älteren Modellen<br />
werden sie für den Anteil des Mondes bis zum Grad drei verwendet. Eine Vernachlässigung der durch Mond und<br />
Sonne bedingten Erdgezeiten dritten Grades konnte davor bis zu 4 mm Fehler in der Vertikalen bewirken (HAAS<br />
1996, S. 27). In einem zweiten Schritt wird die radiale Verschiebung der Station wegen der Frequenzabhängigkeit<br />
der täglichen Erdgezeiten zweiten Grades genauer als bisher berücksichtigt. Der Gesamteffekt der Frequenzabhängigkeit<br />
kann vertikal bis 6 mm betragen (HAAS 1996, S. 26). Eine Beschreibung der aktuell in den Conventions<br />
vorgeschlagenen Modellierung ist MATHEWS et al. (1997) oder MCCARTHY und PETIT (2003) zu entnehmen.<br />
Das gezeitenerzeugende Potential ruft neben den periodischen auch solche Deformationen hervor, die als eine<br />
permanente Deformation des Erdkörpers interpretiert werden können. In den üblicherweise verwendeten Rechenalgorithmen<br />
(z.B. MCCARTHY und PETIT 2003) soll dem dadurch Rechnung getragen werden, dass von der mittleren<br />
tatsächlichen Oberfläche, die frei von periodischen Deformationen ist („mean tide“), auf eine Rechenfläche<br />
übergegangen wird, die der Form der Erde entspräche, wenn es keine anderen Himmelskörper in unserem Sonnensystem<br />
gäbe („tide free“) (Anmerkung: die Rotationsdeformation der Erde ist bei dieser Fläche aber berücksichtigt).<br />
Auf welcher der beiden Flächen die Koordinaten dargestellt werden, ist Konvention und mit der Festlegung<br />
einer Nullfläche zu vergleichen. Die radiale Komponente eines Punkts an den Polen ist auf der „tide free“<br />
Fläche um ca. 38 cm größer als auf der „mean tide“ Fläche, für einen Punkt am Äquator um ca. 19 cm kleiner.<br />
Statt der Love’schen und Shida’schen Zahl für Flüssigkeiten (hs = 1.94 bzw. ls = 0) werden für den Rechenübergang<br />
in Algorithmen aber üblicherweise die für kurzperiodische Prozesse gültigen, breitenabhängigen Zahlen<br />
h<br />
l<br />
2<br />
2<br />
= 0.6078 − 0.0006 (1 −1.5cos<br />
2ϕ)<br />
, bzw.<br />
= 0.0847 − 0.0002 (1 −1.5cos<br />
2ϕ)<br />
verwendet. Obwohl die sich so ergebende Bezugsfläche nicht physikalisch interpretiert werden kann, wird sie in<br />
allen dem Autor bekannten Lösungen zur Bestimmung von Stationspositionen globaler geodätischer Verfahren<br />
benutzt. In MCCARTHY und PETIT (2003) wird diese künstliche Rechenfläche „conventional tide free“ genannt<br />
(mit dieser Bezeichnung wird der Zusammenhang zu der „tide free“-Fläche angedeutet, vor allem werden die<br />
beiden Flächen aber klar voneinander abgegrenzt). Der Weg zurück von der „conventional tide free“ Fläche auf<br />
die im Zusammenhang mit terrestrischen Referenzrahmen deutlich einfacher zu interpretierende „mean tide“-<br />
Fläche (der mittleren tatsächlichen Oberfläche), kann mit mittleren Love’schen und Shida’schen Zahlen geschehen.<br />
Unter Verwendung von h 2m = 0.<br />
603 und l 2m = 0.<br />
083 lässt sich diese Transformation z.B. durch Korrekturen<br />
in Höhe ∆r radial und Breite ∆r nord z.B. wie folgt auf 1 mm genau angeben:<br />
∆r<br />
radial<br />
= −19.84<br />
h ( 1.5 sin 2ϕ<br />
− 0.5)<br />
[ cm]<br />
und<br />
2m<br />
∆rnord 2m<br />
= −19.84<br />
l ( 3 cosϕ<br />
sinϕ<br />
) [ cm]<br />
.<br />
(2-12)<br />
(2-13)<br />
(2-14)<br />
(2-15)