03.03.2013 Aufrufe

Homosexual's Film Quarterly - Sissy

Homosexual's Film Quarterly - Sissy

Homosexual's Film Quarterly - Sissy

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

kino kino<br />

System entsagen und sich Nischen suchen, die nicht von institutioneller<br />

Kontrolle besetzt sind.<br />

Wie bist du dann im zweiten Schritt vorgegangen und hast deine drei<br />

Protagonisten Aileen, Angel und Daniel gefunden?<br />

Unser erster Gedanke war, über Institutionen und Sozialarbeitervereine<br />

an die Menschen zu kommen. Das haben wir versucht und ich<br />

habe auch eine Zeit lang ehrenamtlich als Sozialarbeiter gearbeitet.<br />

Wir haben aber sehr schnell gemerkt, dass das überhaupt nicht funktioniert,<br />

weil du den Jugendlichen von den Sozialarbeitern vorgestellt<br />

wirst und sich in dieser Position automatisch ein starkes Ungleichgewicht<br />

aufbaut. Dann war uns schnell klar, dass wir selbst auf die<br />

Straße müssen, um die Kontakte herzustellen. Es war eine harte und<br />

aufreibende Zeit, an die Orte zu gehen und sie für sich einzunehmen.<br />

Natürlich haben wir uns anfangs unglaublich unwohl und wie Touristen<br />

gefühlt.<br />

Unsere Suche begann im Osten in Einkaufszentren in Hohenschönhausen,<br />

über den Alexanderplatz, zum Nollendorfplatz und der<br />

Kurfürstenstraße, bis wir dann an den Bahnhof Zoo gegangen und<br />

dort hängen geblieben sind. In unserer Vorlaufzeit sind wir dann vor<br />

Ort mit einem alten VW-Bus in die Jebensstraße gefahren, sind peuà-peu<br />

mit den Jugendlichen ins Gespräch gekommen und haben so<br />

versucht, zu einem festen Inventar der Szene zu werden.<br />

Dabei haben wir relativ früh kommuniziert, dass wir einen <strong>Film</strong><br />

machen, aber keine Gagen zahlen können. Einerseits konnten wir das<br />

vom Budget her nicht, anderseits wollten wir, dass den Jugendlichen<br />

auch selbst etwas daran liegt, den <strong>Film</strong> zu machen und sie es nicht<br />

aus Verdienstgründen machen. Bis zum ersten Drehtag sind dann erst<br />

mal drei Monate vergangen. 80 Prozent des Tages haben wir gewartet<br />

oder haben im Bus gesessen. Ab und zu kam jemand vorbei, um Tee<br />

zu trinken, hat angefangen zu erzählen, dann wurde gefragt, ob man<br />

die Geschichte eventuell auf Tonband aufnehmen dürfe, und so hat<br />

sich langsam das Vertrauen aufgebaut. In dieser Zeit hat sich langsam<br />

der Cast herauskristallisiert. Mit Aileen fing es an, mit ihr kam Angel<br />

ins Spiel, da sie sich nicht getraut hatte, das alleine zu machen. Angel<br />

steht ja auf eine gewisse Form der Selbstdarstellung, das merkt man<br />

im <strong>Film</strong> ja auch ganz deutlich. Während der Drehphase war es dann<br />

so, dass das Casting quasi organisch gewuchert ist. In dieser Szene<br />

gibt es ja kaum echte, durch Pech und Schwefel verbundene Freundschaften,<br />

sondern eher Zweckgemeinschaften, die aber leicht wieder<br />

auseinander brechen können und innerhalb derer es eine hohe Fluktuation<br />

gibt. Auf die Tatsache, dass jeden Moment eine neue Figur<br />

herein kommen kann, mussten wir uns während des Drehs einlassen.<br />

Entweder diese Figur begleitet die Protagonisten oder über ihre<br />

Abwesenheit werden Dinge erzählt. Es musste uns immer klar sein,<br />

dass jeder Tag der letzte mit unseren Protagonisten sein kann. Am<br />

nächsten Morgen konnte alles anders sein und einer der drei konnte<br />

keinen Bock mehr haben. Da gab es keine Verlässlichkeiten.<br />

Das klingt nach einer langen Recherche. Wie lange habt ihr für „Drifter“<br />

dann insgesamt gebraucht und wie lange hat der Dreh gedauert?<br />

Als wir bereits am Zoo waren, gab es eine lange, zweimonatige Vorlaufzeit<br />

ohne jede Kameraarbeit. Das hat uns sehr organisch zum ersten<br />

Drehtag geführt um die Protagonisten langsam an die Kamera zu<br />

gewöhnen und mit ihr auch ihre Privatsphäre zu teilen. Wir haben<br />

sechs Monate vom Spätsommer 2005 bis Frühjahr 2006 gedreht und<br />

saßen dann ein Jahr lang im Schnitt. Immerhin hatten wir 70 Stunden<br />

Material.<br />

Dein <strong>Film</strong> wird vor allem über Leerstellen erzählt. Du hast die mutige<br />

Entscheidung getroffen, viele Dinge im <strong>Film</strong> auszusparen. Wir erfahren<br />

nichts über Familie, über Freundeskreise, es werden auch keine einzelnen<br />

Biographien gezeichnet. War das denn eine Entscheidung, die ihr<br />

auch erst im Schnitt getroffen habt oder stand dieses narrative Konzept<br />

schon vorher fest?<br />

Wir haben erklärende Szenen gedreht, in denen Nebenfiguren, deren<br />

Bedeutung im Endschnitt nicht ganz klar ist, ausführlich erklärt<br />

wurden. Wir haben aber während des Schnitts festgestellt, dass der<br />

stärkste Effekt dadurch erreicht wird, dass man möglichst wenig<br />

schneidet. Der beste Schnitt ist, keinen Schnitt zu machen. Dann<br />

haben wir komplett auf Interviews verzichtet, eine Entscheidung, die<br />

bis zur vorletzten Rohschnittfassung nicht feststand. Und es stimmt,<br />

dass ich keinen <strong>Film</strong> machen wollte, der sich groß für die Biographien<br />

der Protagonisten interessiert. Es interessiert mich insofern nicht, als<br />

dass ich nicht glaube, dass ich einem Mensch gerecht werden kann,<br />

indem ich mir biographische Schlüsselmomente aus seinem Leben<br />

herauspicke. Ich finde auch, dass so etwas wie ein Körper mir über die<br />

Vergangenheit und die Persönlichkeit eines Menschen teilweise mehr<br />

erzählen kann als wenn er mir davon im Interview erzählt. Ein Beispiel<br />

ist die Szene, in der Angel für Bodo, einen der Männer, Schnitzel<br />

kocht. Das ist für mich ein ganz starker biografischer Moment. Man<br />

fragt sich unmittelbar, warum dieser Typ auf Hausfrauenart plötzlich<br />

ein Schnitzel mit Mischgemüse zubereiten kann. Man bekommt durch<br />

eine Aktion ein Gefühl, was sich aber über eine Physis, eine Körperlichkeit<br />

vermittelt. Dem vertraue ich mehr, als wenn ich in psychologisierender<br />

Art und Weise versuche in einem Interview etwas aus<br />

ihm herauszubekommen. In diesem Fall wäre es zudem sehr schwierig<br />

geworden, weil sich alle unsere Protagonisten Legenden zurecht<br />

gelegt haben. Wenn Angel Geschichten erzählt, wo er herkommt und<br />

wer seine Eltern sind, und dass sie in Griechenland leben, dann ist das<br />

seine eigene Wahrheit.<br />

EDiTion SALZGEBER<br />

Bei einem mutigen Dokumentarfilm wie deinem ist sicherlich die Frage<br />

eine Herausforderung, welche Rolle du als <strong>Film</strong>emacher spielst. Zum<br />

einen bist du wie alle Dokumentarfilmer der Beobachter, der seine Protagonisten<br />

als Material braucht. Zum anderen intervenierst du aber<br />

auch nicht, was in einem <strong>Film</strong> über Drogensucht und Jugend natürlich<br />

auch ethische Fragen aufkommen lässt.<br />

Es gab natürlich die Gefahr, beim Drehen in eine Sozialarbeiterrolle<br />

zu verfallen. Du bist Freund deiner Protagonisten und hast natürlich<br />

den Impuls sie zu bekehren, was du aber gar nicht leisten kannst,<br />

denn egal wie sehr du dich darauf einlässt – du bleibst Tourist. Natürlich<br />

behältst du auch später noch den Kontakt, aber diese Beziehung<br />

kann nie die Intensität erreichen, die sie während der Drehzeit hatte.<br />

Grundsätzlich war es bei der Beziehung zu den Protagonisten so,<br />

dass zu Aileen die engste und innigste Beziehung bestand. Zu Daniel<br />

bestand die kühlste Beziehung. Er war auch derjenige, der als Letzter<br />

in den <strong>Film</strong> kam. Zu Angel ist die Beziehung schließlich mit der Zeit<br />

gewachsen, wobei er natürlich auch den dicksten Panzer von allen<br />

hat und der versierteste in diesem Milieu ist. Das Grunddilemma war<br />

immer, dass man sich als Regisseur in dieser schizophrenen Situation<br />

befindet, immer auch Vertrauter, Freund und Ansprechpartner<br />

zu sein, denn das war in unserem Fall absolut nötig, um diesen <strong>Film</strong><br />

überhaupt zu machen. Es war unser Anspruch, uns als Personen<br />

komplett da reinzugeben. Auf der anderen Seite bist du als Regisseur<br />

natürlich ganz stur auf Material und gute Szenen angewiesen. Einerseits<br />

mussten wir im Sinne des <strong>Film</strong>s überall dabei sein, andererseits<br />

aber auch das Gefühl behalten, dass wir ein paar Sachen nicht zeigen<br />

wollen, um die Jugendlichen zu schützen. Und natürlich ist es auch<br />

für uns hart, eine Fixszene zu drehen.<br />

Eine Sache um die sich der <strong>Film</strong> dreht, die aber auch nie gezeigt wird,<br />

ist die Sexarbeit. Es scheint als würden alle drei anschaffen gehen, was<br />

aber immer außerhalb des <strong>Film</strong>s stattfindet.<br />

Daniel nicht. Der hat zu diesem Zeitpunkt vor allem Zeitungen ausgetragen<br />

und war nicht auf dem Strich. Bei Angel ist es ganz klar, dass<br />

er Stricher ist, er war aber auch am erfahrensten. Angel hatte einen<br />

Stammfreierkreis und stand auf der Jebensstraße. Bei Aileen waren<br />

wir nie dabei, weil wir es nicht wollten. Genauso wie wir sie auch<br />

nie beim Konsumieren gefilmt haben. Das ist unserer Vertrautheit<br />

geschuldet. Es ist der schmale Grad bei dieser Form von <strong>Film</strong>arbeit.<br />

Wir haben mit Angel und Daniel auch noch andere Konsumierszenen<br />

gedreht, fragten uns aber ständig, wie wir das überhaupt darstellen<br />

sollen. Wir haben uns immer vorgenommen, das ganz nüchtern als<br />

eine Form von Arbeitsbeschreibung wie Schnitzel kochen oder Zähne<br />

putzen zu machen. Das war aber unglaublich schwierig, weil es so<br />

stark klischeebehaftet ist. Sobald man einen Löffel im Bild hat, auf<br />

dem etwas aufgekocht wird, ist es nicht mehr neutral. Deswegen war<br />

ganz schnell klar, dass Konsumierszenen nur gehen, wenn sie in Kontexten<br />

gezeigt werden, die das Eigentliche erweitern oder brechen.<br />

Was das Darstellen der Sexarbeit angeht, ist es fast unmöglich, das<br />

dokumentarisch darzustellen, zuerst einmal, weil kein Freier seine<br />

Einverständnis gegeben hätte. Dann haben sich unsere Protagonisten<br />

gegen den Gedanken gewehrt. Andererseits bietet dir die Realität<br />

auch Möglichkeiten, die viel spannender sind als eine eins-zu-eins-<br />

Umsetzung wie zum Beispiel eine Totale der Kurfürstenstraße oder<br />

die Szene, in der Aileen eine Hardcore-Broschüre für Nutten laut<br />

vorliest. Sie liest dann auch auf eine so naive Art und Weise, dass die<br />

Diskrepanz in diesem Moment sehr augenscheinlich wird. Letzlich<br />

haben wir uns für eine Platzhaltererzählung entschieden. Voyeurismus<br />

muss man zwar beim Dokumentarfilm nicht diskutieren, da<br />

jeder Dokumentarfilm ja auf seine Weise voyeuristisch ist, aber bei<br />

dem Thema gibt es den Moment, wo eine eklige Form von Voyeurismus<br />

entsteht und dem wollten wir uns entziehen. Gerade wenn man<br />

sieht, wie die Jugendlichen an dem, was sie machen, kaputt gehen,<br />

bestand für uns immer die Gefahr, in eine Art Sozialarbeiterhaltung<br />

reinzurutschen. Im Endeffekt haben sie uns aber auch benutzt, was<br />

überhaupt nicht moralisch wertend gemeint ist. Wir bekamen etwas<br />

von ihnen und sie bekamen etwas von uns.<br />

Wie haben sie euch „benutzt“? Was genau haben sie von euch bekommen?<br />

Aufmerksamkeit zum einen, und Verständnis. Wir haben eben nicht<br />

die Haltung eines Sozialarbeiters an den Tag gelegt, nicht alles getan,<br />

damit die da ihr Leben ändern. Es geht auch darum zu vermitteln: Ich<br />

bin jetzt hier, ich mag dich, und mein Interesse hängt nicht davon ab,<br />

ob du mit den Drogen aufhörst oder nicht.<br />

Zu welchen großen Schwierigkeiten ist es denn beim Dreh gerade in dieser<br />

Szene gekommen?<br />

Es ging uns ja vor allem um die Nischen im System, die immer kleiner<br />

werden. Das wollten wir thematisch in den <strong>Film</strong> einbauen, haben aber<br />

beim Drehen festgestellt, dass es überhaupt nicht machbar ist. Erstens<br />

haben wir aufgrund des Themas überhaupt keine Drehgenehmigung<br />

bekommen, und zweitens hat man gemerkt, dass man selbst in<br />

ursprünglich als öffentlich wahrgenommenen Räumen nicht filmen<br />

darf. Das war am Zoo so, in Bussen und U-Bahnen, alles ist in privater<br />

Hand, überall gilt Hausrecht. Das führt eben wieder dazu, dass<br />

es keine Privatsphäre gibt, keine Privatheit und keinen geschützten<br />

Raum.<br />

Dann war ein Problem, dass wir keine Gagen zahlen konnten,<br />

unsere Protagonisten aber Geld verdienen mussten. Dadurch hatten<br />

sie immer nur ab und zu am Tag Zeit, wenn sie gerade Geld gemacht<br />

hatten und vor dem nächsten Schuss. Die Zyklen bestehen ja aus Geld<br />

machen, Drogen kaufen, Drogen konsumieren. Von diesen Zyklen<br />

gibt es ca. vier am Tag. Dazwischen gibt es höchstens kleine Fenster,<br />

in denen sie nicht unter Druck und vollkommen angespannt waren.<br />

Dann kommen natürlich noch die verschiedenen Aggregatszustände<br />

der Drogensucht hinzu. Ein Mensch ist ein komplett anderes Wesen,<br />

wenn er gerade Drogen braucht, bzw. wenn er gerade konsumiert<br />

hat. Das führt eben zu krassen Schwankungen im Temperament<br />

und auch im Tempo. Einmal haben wir ein Interview mit Aileen<br />

sehr ruhig angefangen. Mittendrin ist sie raus gegangen und hat sich<br />

einen Schuss gesetzt, war vollkommen ausgewechselt und wir sind<br />

gar nicht mehr hinterher gekommen. Oder wir haben vier Stunden<br />

im Bus gewartet und plötzlich kommt einer der drei Protagonisten<br />

vorbei und sagt, wo sie/er jetzt spontan hingeht. Wir sind überhaupt<br />

nicht vorbereitet gewesen, hatten keine Drehgenehmigungen und so<br />

weiter. Da mussten dann drei Leute simultan aufspringen und von<br />

null auf hundert gehen. Es war absolut schwer für uns, aber auch sehr<br />

lehrreich fürs <strong>Film</strong>emachen.<br />

Wenn man eine Inhaltsangabe des <strong>Film</strong>es liest, denkt man automatisch<br />

an „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ und Christiane F. Der hochsymbolische<br />

Ort und die Drogenthematik wecken sofort Assoziationen. Es stellt<br />

sich da die Frage, ob es von eurer Seite eine bewusste Hinlenkung oder<br />

Ablenkung zu diesem Thema gab?<br />

Natürlich kann ich mich gegen die Verbindung zu Wir Kinder vom<br />

Bahnhof Zoo überhaupt nicht wehren. Wir haben uns den Zoo ja<br />

nicht vorrangig ausgesucht und ich erinnere mich noch, wie ich<br />

damit am Anfang sehr zu kämpfen hatte, dass es diesen Mythos<br />

gibt. Es war auch in der Arbeit mit den Protagonisten ein Problem,<br />

weil sie sich ja dieses Mythos’ auch bewusst sind, und sich anfänglich<br />

auch in diese Richtung hin inszeniert haben. Es hat viel Arbeit<br />

gekostet zu vermitteln, dass es nicht darum geht, eine 2007er-Version<br />

von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo zu machen. Ich habe mich am<br />

Anfang dadurch sehr beschränkt gefühlt, denn man wurde ständig<br />

dem Vergleich unterzogen. Am Ende habe ich aber festgestellt, dass<br />

es ein unglaubliches Glück ist, einen mythologischen Unterbau zu<br />

haben. Es ist, als ob du eine moderne Version von Hänsel und Gretel<br />

erzählst. Diese Mythen sind ja auch immer eine Verabredung mit<br />

dem Zuschauer, die es dir erlaubt, freier und fragmentarischer zu<br />

erzählen. In unserem Fall ist es eher so, dass man den Mythos bricht<br />

und den Blick neu definieren kann. s<br />

10 11

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!