Homosexual's Film Quarterly - Sissy
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nATionAL GALLERiES oF SCoTLAnD (U), EDiTion SALZGEBER (o)<br />
kino film-flirt<br />
gestellten Alltagsgegenständen, arbeitet die Avantgarde ebenso verzweifelt<br />
wie unerbittlich daran, die Trennung zwischen Kunst und<br />
Leben zu überwinden, das klassische Kunstwerk abzuschaffen und<br />
letztlich das eigene Leben zum Kunstwerk zu deklarieren. John Cage,<br />
der jeden Ton zur Musik erklärte und die Unbestimmtheit des Happenings<br />
einer klar umrissenen Werkstruktur vorzog, steht ebenso<br />
in dieser Tradition wie Andy Warhol, der sich und seine „Factory“-<br />
Gemeinschaft zum 24-Stunden-Kunstwerk erhoben hatte. Gilbert<br />
und George unterscheiden sich von ihren großen Vorgängern lediglich<br />
darin, dass ihr 24-Stunden-Kunstwerk nur in der Konstellation<br />
als Zweierpaar funktioniert. Einzeln sind die Beiden nicht zu haben.<br />
„Ein Großteil der Menschheit ist in Zweiergruppen aufgeteilt“, erklärt<br />
George, „so gesehen ist es völlig normal, dass wir zu zweit auftreten.“<br />
Und noch etwas ist ihm wichtig, wie er im <strong>Film</strong> erklärt: Beide treten<br />
gleichberechtigt auf. Das unterscheidet Gilbert und George von der<br />
patriarchalisch organisierten Gesellschaft, in der Frauen oft nur als<br />
Statussymbol und Anhängsel der Männer wahrgenommen werden.<br />
Die Avantgarde-Geschichte, in die sich Gilbert und George eingereiht<br />
haben, ist eine queere Geschichte. Andy Warhol war für seine<br />
sexuelle Unbestimmtheit bekannt, John Cage lebte mit dem Choreographen<br />
Merce Cunningham in einer nicht zuletzt auch künstlerisch<br />
symbiotischen Beziehung, und selbst von Marcel Duchamp gibt es ein<br />
Selbstbildnis als Frau, „Rose Selavy“, ein Pseudonym, das Duchamp in<br />
den 1920er-Jahren selbst für einige Jahre benutzte, um sexuelle Festschreibungen<br />
in Frage zu stellen. Warum jener Avantgarde-Zweig,<br />
der an einer Überwindung von Kunst und Lebensalltag interessiert<br />
war, so viele queere Aspekte aufweist, liegt eigentlich auf der Hand:<br />
In der queeren Theorie gelten sexuelle Identität und Geschlecht als<br />
etwas Gemachtes, ein soziales Konstrukt und ein performativer Akt,<br />
der eingelernt werden muss. Gerade der Performance-Kunst war stets<br />
daran gelegen, solche sozialen Zwänge aufzudecken und zu überwinden.<br />
Darum handelt auch die Kunst von Gilbert und George stets von<br />
beiden: Die Künstler spiegeln soziale Zwänge, haben sich bereits in<br />
ihrer legendär gewordenen „Singing Sculpture“ von 1968 wie eine<br />
Mischung aus Roboter und Marionetten inszeniert, um gleichzeitig<br />
spielerisch an deren Demaskierung zu arbeiten.<br />
Der einzige Nachteil an Julian Coles filmischem Portrait besteht<br />
darin, dass er solche historischen Zusammenhänge ausblendet und<br />
ganz seinen beiden Objekten der Begierde verhaftet bleibt. Gilbert<br />
und George wirken dadurch ein wenig wie Inseln im Kunstbetrieb,<br />
losgelöst von jeglichem historischen und ästhetischen Kontext, singulär<br />
und damit auch ein wenig verklärt.<br />
Die Stärke des <strong>Film</strong>s besteht allerdings darin, dass er die Solidarität<br />
des Künstlerpaares gegenüber allen Minoritäten herausarbeitet,<br />
die in der Rezeption oft übersehen worden ist. Seit ihren Anfangstagen<br />
als Künstlerpaar arbeiten Gilbert und George bevorzugt in<br />
den ärmeren Gegenden im Osten von London, wo auch das Portrait<br />
„Paki“ (1986) entstand, das Foto eines jugendlichen Einwanderers.<br />
Linke Kritiker haben darauf hingewiesen, dass „Paki“ ein diskriminierendes<br />
Schimpfwort ist, doch George weist solche Kritik im <strong>Film</strong><br />
zurück und wundert sich, dass niemandem aufgefallen ist, wie sexy<br />
der Junge dargestellt worden sei. So fotografiert niemand einen Menschen,<br />
den er zu diskriminieren beabsichtigt. Das Schmähwort „Paki“<br />
wird von Gilbert und George vielmehr als rassistische Zuschreibung<br />
von Außen benutzt und in Kontrast zu dem sympathischen Portrait<br />
des Jungen gestellt. Dieser taucht noch einmal auf einem anderen<br />
Bild auf, dem Foto „Patriots“ von 1980, wo sechs als Patrioten gekennzeichnete<br />
Jugendliche zu sehen sind, darunter auch zwei Skinheads.<br />
Indem Gilbert und George auch den jugendlichen Migranten unter<br />
die Patrioten eingemeinden, machen sie sich über jegliche Form von<br />
Rassismus lustig. Ihre eigene Vorstellung von Patriotismus ist eher<br />
dessen Gegenteil, nämlich die einer universellen Weltgemeinschaft,<br />
die keine Einteilung in Grenzen mehr kennt.<br />
Julian Cole nähert sich dem Künstlerpaar im konventionellen biographischen<br />
Doku-Stil, beginnend bei deren Geburt bis hin zur spektakulären,<br />
von Gilbert und George selbst organisierten Ausstellung in<br />
China. Der <strong>Film</strong> wagt zwar keine formalen Experimente, doch seine<br />
stringente Form trägt sehr viel zum Verständnis der beiden „lebendigen<br />
Skulpturen“ bei und entspricht vielleicht auch deren Selbstverständnis,<br />
das Gilbert am Ende des <strong>Film</strong>es zusammenfasst: „Wir sind<br />
konservative Anarchisten.“ Was das bedeutet, kann man erahnen,<br />
wenn man sieht, wie die beiden das Publikum in ihrer typisch steifen<br />
Art durch die Ausstellung „Naked Shit Pictures“ (1994) führen.<br />
Zu sehen sind Nacktaufnahmen von Gilbert und George, garniert mit<br />
kunstvoll ornamentalen Abbildungen ihrer eigenen Scheiße, die sie<br />
über Jahre für diesen Bildzyklus fotografiert haben. s<br />
Oben: In China. Unten: „In the piss“, 1997<br />
KinoWELT<br />
Der Moment<br />
von hans stempel und martin ripkens<br />
Hans Stempel und Martin Ripkens sind ein Paar, seit sie sich 1957 in Düsseldorf kennen gelernt haben. Gemeinsam<br />
arbeiteten sie als freie <strong>Film</strong>journalisten, schrieben Kinder- und jugendbücher, drehten für TV („Wie<br />
geht ein Mann“) und Kino („Eine Liebe wie andere auch“). Zu ihren Veröffentlichungen gehören „Ach Kerl<br />
ich krieg dich nicht aus meinem Kopf“, „Hyperion am Bahnhof Zoo“, „Hotel-Geschichten“ sowie die Autobiografie<br />
„Das Glück ist kein Haustier“. 2008 erhielten die beiden den Special Teddy Award auf den Berliner<br />
<strong>Film</strong>festspielen für ihr Lebenswerk.<br />
s Einfaches Hinschauen genügt nicht, oft macht erst ein<br />
kritischer Blick, vielleicht geschärft durch eigene, eigenwillige<br />
Erfahrungen, offenbar, dass scheinbare Nebenfiguren<br />
in einem <strong>Film</strong> oder einem Bild eine zentrale Rolle<br />
spielen. So ist in Dürers Gemälde von der Geburt Christi,<br />
dem berühmten Paumgartner Altar (Alte Pinakothek,<br />
München), erst nach genauem Hinsehen ein Freundespaar<br />
zu entdecken, das weit mehr Interesse für einander<br />
als für die Geburt Christi zeigt. Wenn auch dieses Paar<br />
wie ein dezenter Gastauftritt in einem <strong>Film</strong> im Hintergrund<br />
erscheint, so wurde es doch von Dürer genau ins<br />
Zentrum des Flügelaltars platziert und nicht etwa Christi<br />
Geburt.<br />
Mit entsprechendem Blick lässt sich auch in Fellinis<br />
<strong>Film</strong> I Vitelloni eine schwule Komponente entdecken,<br />
die alles andere als unwesentlich ist. Zu einer Gruppe<br />
geschwätziger Frauenhelden, die einen kleinen Badeort<br />
dominieren, zählt auch Moraldo, ein zurückhaltender<br />
junger Mann, der zunächst fast farblos erscheint. Unbeachtet<br />
streunt er nachts durch die toten Straßen der<br />
Kleinstadt und erlaubt sich nur auf einem Maskenball,<br />
wo er als Matrose auftritt, eine ungewöhnliche Geste:<br />
Er greift einem der Tänzer ins Gesicht und äußert sich<br />
begeistert über die schöne Nase.<br />
Aber schon der sehnsüchtige Blick, mit dem dieser<br />
Moraldo dem Zug nachschaut, in dem seine Schwester<br />
Sandra, geschwängert von Fausto, dem großmäuligsten<br />
der Vitelloni, auf Hochzeitreise geht, verrät, wie sehr<br />
Moraldo von einer anderen, offeneren Welt träumt. Nicht<br />
zufällig führen ihn seine nächtlichen<br />
Wege immer wieder zum<br />
Bahnhof, Wege, auf denen er den<br />
noch jungenhaften Guido trifft, der<br />
zu seiner Frühschicht am Bahnhof<br />
eilt. Und sicher ist es kein Zufall,<br />
dass Moraldos Augen leuchten,<br />
wenn er Guido sieht.<br />
Im vordergründigen Getue der<br />
übrigen Vitelloni, sie alle leben noch<br />
bei Mama und verabscheuen Arbeit,<br />
gehen solche Einstellungen fast<br />
unter. Und erst am Ende des <strong>Film</strong>s,<br />
wenn Fellini sichtbar gemacht hat,<br />
wie wenig seine Müßiggänger (so<br />
der deutsche Titel des <strong>Film</strong>s) fähig<br />
oder willens sind, ihr Leben zu<br />
ändern, erzählt er in einer letzten<br />
langen Sequenz, wie Moraldo sich<br />
aus der vermieften Kleinstadt stiehlt, um mit dem Zug<br />
das Weite zu suchen. Nur von Guido bemerkt, der ihn verwundert<br />
fragt, ob er denn wirklich glaube, dass es woanders<br />
besser sei, sagt Moraldo: „Vielleicht nicht besser, aber<br />
anders!“ Weitmehr in den Blicken, die sie tauschen als in<br />
den Worten, die sie sagen, wird deutlich, was Moraldo für<br />
Guido empfindet. So richten sich denn Moraldos letzte<br />
Blicke, Close-ups, die mit Totalen des trostlosen Bahnhofs<br />
wechseln, auf Guido. Und nach Abfahrt des Zuges<br />
sieht man Guido unsicher auf einem Gleis balancierend,<br />
in seiner rechten Hand eine Bahnwärterlampe.<br />
Wie sehr Fellini diese letzte Sequenz als gewichtige<br />
Antithese zum Kleinbürgerelend versteht, lässt er mit<br />
simplen, doch eindrucksvollen Zwischenschnitten erkennen,<br />
die uns die Vitelloni schlafend in ihren Betten zeigen.<br />
– Nie wieder hat Fellini diese Nähe zum Neorealismus<br />
erreicht wie mit dieser Arbeit, die 1953 entstand. s<br />
I vitelloni<br />
von Federico Fellini<br />
IT/FR 1953, 103 Min<br />
Arthaus, www.kinowelt.de/dvd<br />
Liebe Vielleicht<br />
Angstvoll wird er wach, es ist<br />
drei Uhr nachmittags. In welcher<br />
Ecke Münchens der Junge aus<br />
der Bahn wohl wohnen mag?<br />
Er geht noch einmal unter<br />
die Dusche, betrachtet sich<br />
nachdenklich im Spiegel und<br />
überlegt, was er mit dem Rest<br />
des Tages machen soll.<br />
Der neue Roman des<br />
Autorenpaares Hans Stempel<br />
und Martin Ripkens webt um<br />
die Geschäfte und Cafés des<br />
Münchner Gärtnerplatzviertels<br />
ein Geflecht aus Stimmungen,<br />
Gelegenheiten, Blickfängen<br />
und Sommerhitze. Dreimal<br />
müssen der junge Boris und<br />
der doppelt so alte Robert<br />
sich zufällig treffen, bis sie es<br />
wagen, an Liebe zu denken.<br />
So leicht, wie die Menschen<br />
in diesem Roman durch die<br />
Stadt treiben, ist das auch<br />
geschrieben, vom notwendig<br />
dramatischen Ende einmal<br />
abgesehen. Eine klare, präzise<br />
Sprache erfasst die Momente,<br />
in denen alles möglich<br />
erscheint, und die dennoch<br />
so leicht zu verpassen sind.<br />
„Liebe Vielleicht“ ist ein<br />
Szene-Roman aus München<br />
und man fühlt sich beim<br />
Lesen, als säße man selbst<br />
dort, am Gärtnerplatz:<br />
Menschen wie Boris oder<br />
Robert flanierten an einem<br />
vorbei und man bräuchte<br />
ihnen nur eine gemeinsame<br />
Geschichte zu geben.<br />
liebe vielleicht<br />
von Hans Stempel und Martin Ripkens<br />
Querverlag, www.querverlag.de<br />
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