Homosexual's Film Quarterly - Sissy
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ToBiS<br />
ToBiS UniVERSUM<br />
UniVERSUM<br />
kino<br />
Von oben: „Volver“ (2006), „Schlechte Erziehung – La mala educatión“ (2004), „Alles über<br />
meine Mutter“ („Todo sobre mi madre“, 1999), Pedro Almodóvar bei den Dreharbeiten zu<br />
„Zerrissene Umarmungen“<br />
entzwei ist, wankt sie orientierungslos durch einen aus den Flugblättern<br />
eines Demonstrationszuges gebildeten papierenen Schneesturm:<br />
Ihr süßlicher Lebensentwurf ist zerrissen. Nach einem gescheiterten<br />
Selbstmordversuch kehrt Leo in ihr Heimatdorf zur Mutter zurück.<br />
Eine Rückkehr zu ihren natürlichen Wurzeln? Wird sie von nun an<br />
ein „authentisches“, von jeder Fiktionalität gereinigtes Leben führen?<br />
Nein, denn an dieser Stelle füllt Almodóvar die Leinwand ganz<br />
mit einem wunderbaren Bild aus: Eine textile Struktur, eine Textur,<br />
eigentlich die Spitzenklöpplerei der sich dabei Geschichten erzählenden<br />
Nachbarinnen, doch im übertragenen Sinne Text. Leo schreibt<br />
an einem neuen Lebensentwurf, und sie wird fortan andere, bessere<br />
Bücher schreiben. Ihre bisherige Arbeit übernimmt ein kleiner, etwas<br />
dicklicher heterosexueller Mann, Ángel (Juan Echanove), der schon<br />
immer Kitschromanautorin werden wollte und auch gerne Leos Liebhaber<br />
wäre. Doch am Ende des <strong>Film</strong>s macht, wie Christoph Haas in<br />
seinem lesenswerten Buch „Almodóvar. Kino der Leidenschaften“<br />
treffend feststellt, ein „Hinweis auf George Cukors letzten <strong>Film</strong> Die<br />
wilden Reichen (Rich and Famous, 1981) klar: Er ist fortan Leos ‚beste<br />
Freundin.‘“<br />
Wenngleich die <strong>Film</strong>e Almodóvars nur selten explizit schwule<br />
Liebesbeziehungen thematisieren, so dürfen sie doch insofern das<br />
Prädikat „schwul“ für sich beanspruchen, als sie – ganz im Sinne der<br />
„Queer Theory“ – eine spielerische Zersetzung und Reformulierung<br />
traditioneller Geschlechter- und Lebensentwürfe betreiben. Dass<br />
dieses – oberflächlich besehen zuweilen recht unschwule – „Kino der<br />
Möglichkeiten“ vor allem auch ein schwules Publikum anspricht, verwundert<br />
wenig, da dieses permanent zur Suche nach Alternativen zu<br />
den gesellschaftlich immer noch vorherrschenden heterosexuellen<br />
Mustern gezwungen ist. Ein Zwang, der andererseits aber auch eine<br />
Chance und eine Freiheit bedeuten kann.<br />
Zerrissene Umarmungen bleibt den Prinzipien von Almodóvars<br />
„Kino der Möglichkeiten“ treu, ja lässt sie vielleicht noch deutlicher,<br />
raffinierter und eleganter zum Zuge kommen. Im strahlenden<br />
Zentrum des <strong>Film</strong>s steht Almodóvars neue Muse und Leading Lady<br />
Penélope Cruz, die Lena verkörpert, eine Schauspielerin, die auch<br />
in ihrem Privatleben mehrere unterschiedliche Rollen – aufopferungsvolle<br />
Tochter, verschlagene Femme fatale und hingebungsvolle<br />
Geliebte – zu spielen hat und dabei in die unterschiedlichsten und<br />
aufregendsten Kostümierungen schlüpft. Lena ist die Hauptdarstellerin<br />
in Mateo Blancos (Lluis Homar) neuester Komödie „Frauen und<br />
Koffer“, die origineller Weise stark an Almodóvars Frauen am Rande<br />
des Nervenzusammenbruchs erinnert. Doch der Dreh entwickelt sich<br />
zu einem wahren Horrortrip. Denn Regisseur und Darstellerin verlieben<br />
sich sofort unsterblich ineinander, werden jedoch pausenlos von<br />
Lenas älterem und extrem eifersüchtiger Lebensgefährten Ernesto<br />
Martell (José Luis Gómez) observiert. Der mächtige Finanztycoon<br />
und Produzent des <strong>Film</strong>s hat nämlich seinen verkappt schwulen Sohn<br />
(Rubén Ochandiano), der ebenfalls ein Auge auf Mateo geworfen hat,<br />
mit einer Making-Of-Dokumentation der Dreharbeiten beauftragt –<br />
in Wahrheit ein Überwachungsvideo. Zu allem Überfluss blickt auch<br />
noch Mateos Produktionsleiterin Judit (Blanca Portillo) mit Argwohn<br />
auf die neue Verbindung ihres Ex-Geliebten. Unweigerlich läuft die<br />
explosive emotionale Gemengelage auf eine schreckliche künstlerische<br />
und menschliche Katastrophe hinaus, die Tod und Verderben<br />
mit sich bringt und deren Sprengkraft selbst 14 Jahre später noch<br />
ihre Wirkung zeigt. Zerrissene Umarmungen ist nämlich auf mehreren<br />
Zeitebenen angesiedelt und knüpft mit seiner kunstvoll verschlungenen<br />
Erzählstruktur an die formale Virtuosität von La mala<br />
Educación – Schlechte Erziehung an. Abgesehen davon treibt dieser<br />
<strong>Film</strong> das hintergründige Vexierspiel mit Realität und Fiktion auf die<br />
Spitze, zitiert ebenso dreist wie lustvoll bekannte Highlights aus der<br />
Kinogeschichte sowie aus Almodóvars eigenem Werk und wimmelt<br />
dementsprechend von Spiegelungen, Verzerrungen und Verdopplungen.<br />
Das muss man gesehen haben. s<br />
MFA<br />
rADIAnT bAby<br />
von jan künemund<br />
Am 23. juli kommt der Dokumentarfilm „Keith Haring“ von Christina Clausen ins Kino. Er feiert das<br />
kurze und wilde Leben eines Künstlers, der den Pop geliebt hat und von diesem zurückgeliebt wurde.<br />
s Keith Haring (1958–1990) war ein großer Verunreiniger<br />
von Kategorien. Seine Kunst machte die Vorstellungen<br />
von High Art auf der einen und Street Culture auf der<br />
anderen Seite gleichermaßen fraglich.<br />
Aber das war nur einer der vielen Verwirrungen, die<br />
Haring mit seiner Pop-Ikonen-Produktion stiftete. Der<br />
Zusammenhang zwischen Kunst und Kommerz beispielsweise<br />
wurde auf der Ladentheke seiner verschiedenen<br />
Pop Shops und in Deals mit Absolut Vodka und<br />
Swatch verhandelt. Der demokratische Slogan „Kunst<br />
für Jeden“ stammte von einem bestens in den internationalen<br />
Kunstmarkt integrierten Kreativen, um den sich<br />
der Museumszirkus zwischen documenta und Whitney<br />
Biennial rissen. Die Verankerung Harings in der schwulen<br />
Subkultur New Yorks der 1980er Jahre stand einer<br />
massenhaften Verbreitung, ja geradezu Ikonisierung<br />
seiner Werkmotive auf Postern, T-Shirts, Stoffbeuteln<br />
keinesfalls im Weg. Keith Haring hat Warhol und Disney<br />
auf eine Stufe gestellt, hat die Kunstwelt mit<br />
Graffiti, Hip Hop und Skateboarding bekannt<br />
gemacht und die lebensfrohesten, buntesten<br />
Bilder über den Tod gemalt. Er hat Populärkultur<br />
aufgegriffen und sie selbst wieder mit<br />
neuen Motiven versorgt, fast so, als sei er nur<br />
das Medium der durch ihn hindurch laufenden<br />
Bilder, die Menschen tagtäglich als Zeichen<br />
der Lust, Erregung, Angst und Schönheit produzieren.<br />
Doch auch dieses Medium hat eine Biografie.<br />
Ein Jahr vor seinem Tod bat Keith Haring<br />
den bekannten Kulturjournalisten und Biografen<br />
John Gruen darum, sie aufzuschreiben<br />
(„Keith Haring: Die autorisierte Biographie“).<br />
In langen Interviews wurde der bis dahin<br />
30-jährige Lebenslauf rekonstruiert, die Tonbänder<br />
davon existieren noch. Haring erzählt<br />
von seiner Kindheit in Pennsylvania, seinen<br />
Anfängen als Werbegrafik-Student, seiner<br />
autodidaktischen Weiterbildung. Dann, 1978:<br />
New York. Der Kunst-Underground, New<br />
Wave und die schwule Subkultur. Performances<br />
im öffentlichen Raum, Zusammenarbeit<br />
mit anderen Künstlern. Der Erfolg. Die HIV-<br />
Diagnose kam 1988. Zwei Jahre später wird er<br />
daran sterben.<br />
Die dänische, in Italien lebende Dokumentarfilmerin<br />
Christina Clausen hat diese Tonbänder<br />
in ihrem Portrait über Keith Haring<br />
verwendet. Über dem aufbereiteten Material<br />
aus den Archiven und Museen liegt die Stimme des<br />
Künstlers. Aber Clausen hat noch weitere O-Töne im<br />
Gepäck, eine Phalanx aus Wegbegleitern und Freunden,<br />
die Harings Werk aus ihrer Perspektive verfolgt haben<br />
oder sogar Teil davon geworden sind, wie Grace Jones, die<br />
sich für ein Musikvideo von Haring hat anmalen lassen.<br />
Auch Andy Warhol taucht auf, Madonna, Bill T. Jones,<br />
Fab 5 Freddy, David LaChapelle, Kenny Scharf, Junior<br />
Vasquez, Yoko Ono – ein Chor von Menschen, ohne die<br />
das New York der 1980er heute kein Begriff mehr wäre.<br />
Nicht weniger als The Universe of Keith Haring (so der<br />
Originaltitel des Dokumentarfilms) soll mit diesem <strong>Film</strong><br />
abgebildet und gefeiert werden. Ein komplexes Gebilde<br />
aus Trends, Stilen, prominenten und ganz normalen<br />
Menschen, aus Straße und White Cube, aus Krankheit<br />
und Lebensfreude, aus Naivität und Kalkül. Die Kunst der<br />
Verführung war Keith Harings großes Spiel. Die meisten<br />
sind ihm erlegen. s<br />
Keith Haring<br />
von Christina Clausen<br />
FR/IT 2008, 90 Min, dt. Voiceover<br />
MFA, www.mfa-film.de<br />
16 17<br />
Im Kino<br />
Ab 23. Juli<br />
kino