03.03.2013 Aufrufe

Homosexual's Film Quarterly - Sissy

Homosexual's Film Quarterly - Sissy

Homosexual's Film Quarterly - Sissy

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

kino kino<br />

TATE LonDon<br />

„Life“, aus „Death Hope Life Fear“, 1984<br />

KonSErvATIvE<br />

AnArcHISTEn<br />

von martin büsser<br />

Gilbert und George finden sich nicht gay, sondern „sexy“. Ende juli startet julian Coles<br />

Langzeitportrait über das skurrilste Herrenpaar der Kunstwelt im Kino.<br />

s Als Paar sind sie zur Ikone geworden, so sehr miteinander<br />

verbunden, dass man sie einzeln womöglich gar<br />

nicht auf der Straße erkennen würde. Der etwas kleinere<br />

Gilbert Prousch, geboren in den Dolomiten, der sich bis<br />

heute seinen Akzent bewahrt hat, und George Passmore,<br />

der intellektuelle Sprecher und leidenschaftliche Sammler<br />

homoerotischer Literatur aus dem viktorianischen Zeitalter,<br />

sind neben Pierre & Gilles das bekannteste männliche<br />

Paar der Kunstgeschichte. Man kennt sie nur adrett<br />

gekleidet, in Maßanzügen, etwas steif in ihren Bewegungen,<br />

ein britischer Anachronismus, so bieder und distinguiert,<br />

dass alleine schon ihr Auftreten für Irritation<br />

sorgt. Die äußerlich zur Schau gestellte Korrektheit, die<br />

weniger an zwei Dandys als an Versicherungsvertreter<br />

erinnert, wirkt wie ein Fall von schwuler Überaffirmation,<br />

also größtmöglicher Anpassung an gesellschaftliche<br />

Etiketten – doch genau das ist sie nicht. Niemand fällt im<br />

modernen Straßenbild Englands so sehr auf wie dieses<br />

seltsam antiquierte Paar, das sich schon von weitem als<br />

„queer“ im Sinne von schräg zu erkennen gibt. „Wir sind<br />

anders“, markiert das strenge Auftreten, das zugleich im<br />

radikalen Kontrast zu dem Umfeld steht, in dem Gilbert<br />

und George seit mehr als dreißig Jahren arbeiten und<br />

dem sie ihre Motive für großformatige Fotoarbeiten entnehmen.<br />

Britische Jugendliche aus der Arbeiterklasse,<br />

Skinheads ebenso wie Migranten, Obdachlose und Graffitis<br />

mit „four letter words“ wie „shit“ und „fuck“ bilden<br />

das Ausgangsmaterial ihrer frühen Arbeiten, die in einem<br />

Milieu entstanden sind, das so gar nicht zu dem korrekten<br />

Auftreten der beiden Herren passen mag.<br />

Im Rahmen der Serie „Dirty Words Pictures“, einer<br />

Montage aus Selbstbildnissen, Hinterhof-Ansichten und<br />

Graffitis, tauchte 1977 erstmals das Wort „queer“ in einer<br />

ihrer Arbeiten auf. „Wir wollten uns dieses Schimpfwort<br />

aneignen“, erklärt George im <strong>Film</strong>, „und es positiv<br />

für uns umdeuten.“ <strong>Film</strong>emacher Julian Cole, der das<br />

Paar für seine Langfilm-Doku With Gilbert And George<br />

18 Jahre begleitet hat, arbeitete 1986 für Gilbert und<br />

George als Model. „Ich stand für sie vor der Kamera“,<br />

lautet die simple Motivation für seinen <strong>Film</strong>, „nun wollte<br />

ich wissen, wie es ist, wenn sie für mich vor der Kamera<br />

stehen.“ Entstanden ist eine faszinierende Annäherung<br />

an zwei Außenseiter, die sich während ihrer Studienzeit<br />

entschieden haben, gemeinsam als lebende Skulpturen<br />

aufzutreten und die inzwischen zu den größten<br />

Exportschlagern des britischen Kunstmarkts zählen.<br />

Gleichzeitig gelingt es Julian Cole, den queeren Charakter<br />

ihrer Kunst herauszuarbeiten, ohne dass das Leben<br />

der beiden Künstler als schwules Paar näher thematisiert<br />

wird. Das ist jedoch keine falsche Scheu, vielmehr<br />

setzen alle am <strong>Film</strong> Beteiligten diese Lebensform als<br />

Selbstverständlichkeit voraus. Das Wort „gay“, erklärt<br />

George im <strong>Film</strong>, habe er nie gemocht. Er bevorzuge das<br />

Wort „sexy“ als neutrale, von Geschlechtszuweisung<br />

unabhängige Zustandsbeschreibung. „Niemand sagt ‚I<br />

feel heterosexy tonight‘“, scherzt George, gerade deshalb<br />

sei der Begriff „sexy“ so gut, um eine universelle<br />

Lust zu bezeichnen. „Erst kämpften die Heterosexuellen<br />

um sexuelle Befreiung, dann kämpften die Homosexuellen,<br />

doch die nächste Schlacht wird für alle sein“, erklärt<br />

George an einer anderen Stelle im <strong>Film</strong>.<br />

Aufgrund solcher Äußerungen verwundert es nicht,<br />

dass Gilbert und George schon früh den Begriff „queer“<br />

in ihre Arbeit eingeführt haben, um darauf hinzuweisen,<br />

dass ihre Kunst darauf abzielt, sämtliche geschlechtliche<br />

Zuweisungen zu überwinden. Vor diesem Hintergrund<br />

wird auch klar, dass ihr scheinbar normatives Auftreten<br />

nicht der Festigung, sondern der Infragestellung von<br />

Normen gilt. Nichts anderes hatten zum Beispiel frühe<br />

Performances wie „Gordon’s Makes Us Drunk“ von 1971<br />

im Sinn: Gilbert und George filmen sich dabei, wie sie<br />

sich hemmungslos mit Gin abfüllen, immer besoffener<br />

werden und dennoch versuchen, die Fassade der korrekten<br />

Englishmen zu bewahren. Das geht natürlich schief<br />

und sorgt für jede Menge Komik. Gleichzeitig haftet diesen<br />

Bildern aber auch etwas Tragisches an. Mit ihrem<br />

zwanghaften Versuch, keinerlei Enthemmung zuzulassen<br />

und krampfhaft ‚sauber‘ zu wirken, zeigen Gilbert<br />

und George, wie sehr sich gesellschaftliche Normen bis<br />

in unser tiefstes Inneres eingefressen und alle Menschen<br />

zu „living sculptures“ gemacht haben, zu fremdbestimmten,<br />

sozial geformten Apparaten. Es ist nur schade, dass<br />

Julian Cole die Originalaufnahmen solcher Performances<br />

nur für wenige Sekunden in seinen <strong>Film</strong> einstreut, so dass<br />

deren ganze Zerrissenheit zwischen Witz und Melancholie<br />

gar nicht ersichtlich wird.<br />

Der tragische Kern im Werk von Gilbert und George,<br />

der tiefe Ausdruck von Entfremdung und der Wunsch,<br />

diese zu überwinden, ist typisch für die radikale Seite der<br />

künstlerischen Avantgarde, in deren Tradition das Paar<br />

steht. Seit Marcel Duchamps „Readymades“, vom Künstler<br />

unverändert zu Kunstwerken erklärten und ins Museum<br />

With gilbert & george<br />

von Julian Cole<br />

GB 2007, 104 Min<br />

Edition Salzgeber,<br />

www.salzgeber.de<br />

20 21<br />

Im Kino<br />

Ab 30. Juli

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!