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Homosexual's Film Quarterly - Sissy

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profil<br />

„MEIn<br />

THErAPEuT<br />

IST AnDErEr<br />

MEInung.“<br />

interview: paul schulz<br />

jamie Travis gilt mit 29 als der vielleicht talentierteste <strong>Film</strong>emacher Kanadas und ist einer der meist<br />

ausgezeichneten Regisseure seines Landes. Dabei besteht sein gesamtes Œuvre aus fünf ziemlich<br />

schwulen Kurzfilmen, die jetzt auf einer DVD erschienen sind. Ein Gespräch über Hitchcock,<br />

Waschzwang und Sex unter Teenagern.<br />

sissy: Ich habe gerade alle <strong>Film</strong>e gesehen, die du in den letzten sechs<br />

Jahren gemacht hast. Und zwar in weniger als zwei Stunden. Ist es<br />

nicht frustrierend, dass ich das schaffen kann?<br />

Jamie Travis: Überhaupt nicht. Es sind ja gute <strong>Film</strong>e, auch wenn sie<br />

kurz sind. Und sie passen auch stilistisch sehr gut zusammen. Hattest<br />

du denn Spaß beim Kucken?<br />

Ja. Aber ich würde gern wissen, wie autobiografisch die <strong>Film</strong>e sind.<br />

Das ist mir beim Machen selbst nicht bewusst gewesen, aber retrospektiv<br />

betrachtet sind alle meine <strong>Film</strong>e ziemlich autobiografisch.<br />

Jetzt mache ich mir Sorgen um dich.<br />

Das ist nett, aber unnötig.<br />

Wirklich? Alle deine <strong>Film</strong>e handeln von sehr unglücklichen Kindern<br />

oder psychisch gestörten Erwachsenen, oder beidem.<br />

Das ist wahr.<br />

Warst du ein glückliches Kind?<br />

Ich würde sagen ja. Mein Therapeut ist allerdings anderer Meinung.<br />

Könntest du das ausführen?<br />

Ich war ein Kind mit riesiger Vorstellungskraft, sehr theatralisch.<br />

Und damit auch relativ selbstzufrieden, weil ich in meiner Phantasie<br />

ja immer sein oder werden konnte was ich wollte. Ich habe als Knirps<br />

stundenlang am offenen Kamin gesessen und Tee getrunken. Das war<br />

nie langweilig, weil ich gespielt habe, dass ich eine echte Lady bin, die<br />

Tee trinkt. Der große weibliche <strong>Film</strong>star in mir konnte sich allerdings<br />

auch ab und zu melodramatisch die Treppe herunter werfen, was ich<br />

dann auch getan habe.<br />

Mochten dich deine Eltern?<br />

(lacht) Ja, sehr.<br />

Hattest du viele Freunde?<br />

Nicht wirklich, das war auch nicht notwendig. Als Teenager war ich<br />

nie jemand, der viel getrunken oder Drogen genommen hat. Im Gegenteil,<br />

ich war ein echter Streber und man traf mich Samstag Abend eher<br />

in der Bibliothek als in irgendwelchen Clubs.<br />

Du hast die 90er also eigentlich komplett verpasst.<br />

Ich sehe das nicht so. Es war enorm wichtig für mich, sehr gute Noten<br />

zu bekommen. Eine 2+ war schon ein echtes Problem.<br />

Warum?<br />

Die Schule war meine Arbeit. Ich wollte Dingen auf den Grund gehen<br />

und sie so gut wie irgend möglich machen.<br />

Wo ist da die Grenze zur Obsession, perfekt sein zu wollen, in dem Wissen,<br />

nicht perfekt sein zu können?<br />

Natürlich ist genau das mein Problem. Aber ich arbeite daran, nicht<br />

mehr ein solcher Kontroll-Freak zu sein.<br />

Das ist schade. Denn letzten Endes leben doch deine <strong>Film</strong>e stilistisch<br />

wie inhaltlich genau davon, dass deine Figuren und du alles perfekt<br />

machen wollt.<br />

Ja. Aber das ist weder für meine Figuren noch für mich besonders<br />

schön, menschlich gesehen.<br />

Entschädigt der Erfolg nicht ein bisschen? Du hattest mit unter 30 deine<br />

erste Retrospektive im London Museum of Modern Art und giltst als<br />

einer der besten <strong>Film</strong>emacher Kanadas.<br />

Jetzt stell dir mal vor, ich würde mir die ganze Mühe machen, jede<br />

Vorhangfalte in meinen <strong>Film</strong>en kontrollieren, mir stundenlang den<br />

Kopf über Kleinigkeiten zermartern und hätte damit keinen Erfolg.<br />

Das wäre doch furchtbar!<br />

Ja. Du musst am Set ein echter Alptraum sein.<br />

Nein, bin ich nicht. Wenn ich drehe ist ja alles durchgeplant. Da fühle<br />

ich mich sicher.<br />

Du fungierst bei vielen deiner <strong>Film</strong>e gleichzeitig als Drehbuchautor,<br />

Produzent, Set-Designer und Regisseur. Um das Endergebnis möglichst<br />

genau unter Kontrolle zu haben, richtig?<br />

Ja, natürlich. Aber ich bemühe mich, mich selbst dabei genauso ironisch<br />

zu betrachten wie meine Figuren. Denn letzten Endes sind alle<br />

meine <strong>Film</strong>e ja auch Komödien. Schräge Komödien, aber Komödien.<br />

Wenn ich wie bei Patterns (Muster) einen <strong>Film</strong> mache, der auch davon<br />

Michael Kurliak als Chester in „Warum die Anderson-Kinder nicht zum Essen kamen“<br />

handelt, wie jemand sich zwanghaft die Hände wäscht, dann mache<br />

ich mich dabei ja auch über mich selbst lustig. Ich bin also durchaus<br />

in der Lage, Distanz zu meinen eigenen Topoi aufzubauen. Wie sollte<br />

ich sie sonst auch künstlerisch verarbeiten.<br />

Dein Stil wird oft mit dem von Hitchcock und Kubrick verglichen. Deren<br />

<strong>Film</strong>e sind auch Widerspiegelungen ihrer psychischen Zustände.<br />

Ja, und sie sind beide sehr statische <strong>Film</strong>emacher, die große Freude<br />

daran haben, ein Bild mit Bedeutungen aufzuladen und ihm mehr<br />

als eine Ebene zu geben. Das verstehe ich gut. Ich habe vor ein paar<br />

Wochen zum ersten Mal Marnie gesehen und konnte mich dabei nur<br />

sehr eingeschränkt auf die Handlung konzentrieren, weil ich so fasziniert<br />

davon war, wie Hitchcock in diesem <strong>Film</strong> mit Bildsprache<br />

umgeht. Sein Stil wird oft als kalt angesehen, weil die Bilder so durchkomponiert<br />

und kontrolliert sind. Aber das macht vieles in seinen <strong>Film</strong>en<br />

erst möglich.<br />

Wie bei dir. Nur das deine <strong>Film</strong>e zwar unfassbar durchkomponiert, aber<br />

auch quietschbunt sind. Wie wichtig ist Farbe für dich?<br />

Sehr wichtig. Wie überhaupt das ganze Production Design unglaublich<br />

wichtig für mich ist. Es fällt mir sehr schwer, das aus der Hand<br />

zu geben. Aber bei meinem neuen <strong>Film</strong>, den ich gerade vorbereite, tue<br />

ich es. Die Lösung: Wenn es dir wichtig ist, dass die Vorhänge in einer<br />

Szene auf eine ganz bestimmte Art und Weise hängen, such dir jemanden,<br />

der sie genau so hängt. Auch Hitchcock, Kubrick oder Fassbinder<br />

haben immer wieder mit den selben Leuten gearbeitet. Wenn man<br />

etwas nicht selbst machen kann, muss man sich nur Leute suchen, die<br />

es genauso tun, wie man es selbst machen würde.<br />

Leute mit der gleichen Macke.<br />

Ja, sehr richtig. (lacht)<br />

Wie schwul sind deine <strong>Film</strong>e und Figuren?<br />

So schwul wie ich. Was die Bilder und Sets angeht also sehr. Ich weiß<br />

nicht, ob sich 100%ig heterosexuelle Männer diese Mühe überhaupt<br />

machen würden. Bei den Figuren kann ich dir das nicht klar beant-<br />

worten. Das The saddest boy in the world bei schwulen Männern so<br />

gut an kommt, hat mich überrascht, aber auch hier werden mir viele<br />

Bezüge erst retrospektiv klar. Wahrscheinlich ist das ein schwules<br />

Kind, auch wenn es zu jung ist, um seine Entfremdung zu den anderen<br />

Kindern darauf zurückzuführen.<br />

Warst du so?<br />

Ja. Ich hatte seit ich 14 war Sex mit meinem besten Freund, aber wenn<br />

du mich an einen Lügendetektor angeschlossen hättest, hätte ich bis<br />

zu meinem Coming Out glaubhaft versichern können, heterosexuell<br />

zu sein. Mein Sex mit ihm hatte einfach nichts mit dem zu tun,<br />

was ich als „schwul“ kannte. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das<br />

zusammen gebracht habe.<br />

Ist es das, wobei dir deine <strong>Film</strong>e helfen?<br />

Wahrscheinlich. Ich benutze meine <strong>Film</strong>e selbst hauptsächlich dazu:<br />

wenn ich sie ansehe, verstehe ich besser, was in mir vorgeht. Und vielen<br />

im Publikum geht das wohl auch so. s<br />

Der traurigste Junge der Welt<br />

Kurzfilme von Jamie Travis<br />

CA 2003–2006, 70 Min<br />

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />

Wir bedanken uns bei unseren Partnern:<br />

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EDiTion SALZGEBER

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