Hexenbote Sonderausgabe - Brunoschneider.ch
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<strong>Hexenbote</strong> <strong>Sonderausgabe</strong> Jul 2010<br />
diesem Fall hat der kleine Trommler ja sogar unter Gefahr für sein eigenes Leben das des<br />
Heilandes gerettet. Das ist do<strong>ch</strong> ein wahrhaft edles und großes Ges<strong>ch</strong>enk, oder?<br />
Zum S<strong>ch</strong>luss kommt no<strong>ch</strong> ein re<strong>ch</strong>t modernes Lied, das erst Ende der 1970er Jahre<br />
entstanden ist und eigentli<strong>ch</strong> jetzt erst über den großen Tei<strong>ch</strong> zu uns herübers<strong>ch</strong>wappt.<br />
„Grandma got run over by a reindeer.” Inhalt: Oma hat am Heiligen Abend zu viel<br />
Eierpuns<strong>ch</strong> getrunken, ihre Medizin ni<strong>ch</strong>t eingenommen und si<strong>ch</strong> gegen den Rat der<br />
Angehörigen in desolatem Zustand zu Fuß auf den Heimweg dur<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>nee und Eis<br />
gema<strong>ch</strong>t. Sie kommt ni<strong>ch</strong>t weit. Am Morgen wird ihre Lei<strong>ch</strong>e gefunden, mit Hufabdrücken<br />
von Rentieren auf der Stirn und anderen Weihna<strong>ch</strong>tsmannspuren. Die Familie ist stolz auf<br />
Opa, der die Situation so gefasst aufnimmt, ein Fußballspiel ansieht, Bier trinkt und Karten<br />
spielt. Die anderen sitzen in s<strong>ch</strong>warzen Kleidern herum und überlegen, ob sie Omas<br />
Ges<strong>ch</strong>enke aufma<strong>ch</strong>en oder umtaus<strong>ch</strong>en sollen. Außerdem sollte kein Führers<strong>ch</strong>ein<br />
ausgegeben werden an einen Mann, der einen S<strong>ch</strong>litten fährt und mit Elfen spielt. Der<br />
Refrain besagt, man könnte an der Existenz des Weihna<strong>ch</strong>tsmannes zweifeln, aber Opa und<br />
das Kind, das als lyris<strong>ch</strong>es I<strong>ch</strong> den Text singt, glauben fest an ihn.<br />
Dieses Lied ist besonders bei den älteren Herrs<strong>ch</strong>aften, sofern sie es überhaupt kennen, gar<br />
ni<strong>ch</strong>t beliebt und au<strong>ch</strong> die jüngeren Jahrgänge sind geteilter Meinung. Kein Wunder, zerstört<br />
es do<strong>ch</strong> so rabens<strong>ch</strong>warz und zynis<strong>ch</strong> das übli<strong>ch</strong>e Bild der Weihna<strong>ch</strong>tsidylle, um die si<strong>ch</strong><br />
au<strong>ch</strong> sonst zerstrittene Familien so krampfhaft bemühen. Au<strong>ch</strong> das gehört ja unweigerli<strong>ch</strong> zu<br />
Weihna<strong>ch</strong>ten. Die große Show wird abgezogen, gerade so, als lebe man auf einer Bühne vor<br />
vielköpfigem Publikum. Dabei bekommt es do<strong>ch</strong> in Wahrheit keiner mit, ob man nun<br />
wirkli<strong>ch</strong> einen statusfördernden Gänsebraten auf dem Tis<strong>ch</strong> hat oder bloß Kartoffelsalat. Es<br />
wird au<strong>ch</strong> kaum einen interessieren, ob si<strong>ch</strong> Müllers, Meiers oder S<strong>ch</strong>ulzes für die<br />
Bes<strong>ch</strong>erung in S<strong>ch</strong>ale geworfen oder ob sie in bequemen Jogginganzügen die Päck<strong>ch</strong>en<br />
ausgewickelt haben. In den meisten Familien ist es do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>nell vorbei mit der Herrli<strong>ch</strong>keit.<br />
Die einen geraten in Streit. Polizei und Sanitäter können ein besonderes Weihna<strong>ch</strong>tslied von<br />
den Einsätzen wegen häusli<strong>ch</strong>er Gewalt mit Tannenbaum im Hintergrund singen. Bei den<br />
anderen geht beizeiten wie jeden anderen Abend im Jahr der Fernseher an, weil es ni<strong>ch</strong>ts<br />
mehr zu sagen gibt. Immer beliebter werden au<strong>ch</strong> Kneipen- oder Discobesu<strong>ch</strong>e am späteren<br />
Heiligen Abend, mit denen gerade Jüngere dem „Idyll“ entfliehen.<br />
Es liegt natürli<strong>ch</strong> an uns selbst, wie ob und wie wir das Fest begehen wollen und was uns<br />
dabei wi<strong>ch</strong>tig ist. Wir haben es ni<strong>ch</strong>t nötig, an Weihna<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>keit die Na<strong>ch</strong>barn<br />
übertrumpfen zu wollen, wir können die Feiertage so verbringen, wie wir das für ri<strong>ch</strong>tig<br />
halten. Die Auswahl der Lieder, die wir hören wollen, trägt si<strong>ch</strong>er dazu bei, unsere<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung auszudrücken und abzurunden. Wir haben viel Auswahl, bei der Musik und<br />
au<strong>ch</strong> sonst. Es gibt Julfestlieder, aber die sind in der Bevölkerung kaum bekannt. Viellei<strong>ch</strong>t<br />
ma<strong>ch</strong>t man si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> verdä<strong>ch</strong>tig, wenn man si<strong>ch</strong> mit sol<strong>ch</strong>er Musik versorgen will. Man<br />
könnte dabei lei<strong>ch</strong>t als Nazi angesehen werden. In den Kaufhäusern werden diese Lieder<br />
au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gespielt und ni<strong>ch</strong>t im Radio. Sie würden wohl kaum den Konsum anfeuern. Dafür<br />
wären si<strong>ch</strong>er einen eigenen Artikel wert.<br />
Und ni<strong>ch</strong>t vergessen: Einmal im Jahr sind Rührung und Kits<strong>ch</strong> erlaubt. Es ist sowieso na<strong>ch</strong><br />
dem großen Countdown, dem Advent, s<strong>ch</strong>nell wieder vorbei. Aber Liebe, Freude und<br />
Barmherzigkeit ist do<strong>ch</strong> kein Vorre<strong>ch</strong>t der Kir<strong>ch</strong>ensteuerzahler.<br />
© Kerstin<br />
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