2012/1 - Rudolf-Steiner-Schule Schwabing
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Es war einmal ein dickes Mädchen. Ihre Eltern waren reich. Dieses Mädchen liebte einen Jungen.<br />
Er ging in dieselbe <strong>Schule</strong> wie sie. Eine Waldorfschule.<br />
Dieser Junge lebte bei seiner Mutter. Die Mutter war arm. Der Junge malte und zeichnete gerne.<br />
Eines Tages gab ihm seine Mutter ein paar Euro mit auf den Weg. Weil es in einem großen Kaufhaus in der<br />
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GLOSSE<br />
Nähe der <strong>Schule</strong> Sprayfarben billig gab. 1 Euro die Dose. Der Junge kaufte sich fünf Dosen und nahm sie<br />
mit in die <strong>Schule</strong>. Die Waldorfschule. Nach der <strong>Schule</strong> spielte er mit seinen Freunden Fußball im Hof der<br />
<strong>Schule</strong>. Sie sprayten Farbe auf ihre Schuhe. Aus Spaß. Das dicke Mädchen saß auf einer Bank und schaute<br />
den Jungen beim Fußballspielen zu. Niemand beachtete sie. Auch der Junge nicht. Da nahm sie eine<br />
Spraydose und sprayte auf eine Wand der <strong>Schule</strong>: Sind wir nicht alle ein bisschen Waldorf?<br />
Am nächsten Tag rief die <strong>Schule</strong> bei der Mutter des Jungen an. Ihr Junge sei gesehen worden. Mit Sprayfarben.<br />
Die Mutter sprach mit dem Jungen. Es war das dicke Mädchen, sagte er. Das sagte er auch in der<br />
<strong>Schule</strong>. Aus Angst vor Strafe. Der Sohn sprach mit dem dicken Mädchen am Telefon. Sie war stolz auf ihre<br />
Tat. Sie wollte den Jungen beeindrucken. Ihrer Mutter hat sie gesagt, dass sie nichts mit der Tat zu tun<br />
habe. Aus Angst vor Strafe.<br />
Die reiche Mutter ging mit der Tochter in die <strong>Schule</strong>. Sie wollte die Übeltäter finden. Damit die Richtigen<br />
bestraft würden. Die Tochter hatte gesagt, dass es die Fußball spielenden Jungs waren. Und dass sie nicht<br />
genau wisse, wer es war. Damit niemand bestraft würde. Die Tochter zeigte wahllos auf verschiedene<br />
Jungs. Die waren es. Als der Junge das sah, sagte er: Es sind meine Farben gewesen. Damit nicht die<br />
Falschen bestraft würden. Die <strong>Schule</strong> ließ kostenaufwendig die Farbe entfernen. Die reiche Mutter und<br />
die arme Mutter wurden verpflichtet, sich die Kosten zu teilen.<br />
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„Aus Angst vor Strafe<br />
oder sind wir nicht alle<br />
ein bisschen Waldorf?“<br />
Es gab keine Strafe, weil es keine bekennenden Täter gab. Die größte Strafe war eine Geldstrafe für<br />
die Mutter des Jungen: aus ihren geringen Mitteln musste sie die teure Reinigung der Wand bezahlen.<br />
Hat sie die Straftat verursacht, weil sie die Tatgegenstände finanziert hat? Ist somit die Tat<br />
gesühnt und die Strafe an der richtigen Adresse gelandet?<br />
Um Strafe abzuwenden haben die Kinder sowohl gepetzt als auch geschwiegen.<br />
Sie haben sich bekannt und verleugnet.<br />
Aus Angst vor einer unbekannten Bestrafung.<br />
Wovor genau hatte das dicke Mädchen Angst. Angst vor Liebesentzug? Wovor der Junge?<br />
Wäre er als möglicher Täter von der <strong>Schule</strong> bestraft worden? Wie?<br />
Vielleicht hätte ein präzises Regelwerk die Straftat verhindert oder modifizierbar gemacht und die<br />
Strafe für die Täter kalkulierbar:<br />
„Auf das Bemalen von schuleigenen Wänden steht pro Quadratmeter Fläche das Reinigen von je<br />
einer Toilette.“<br />
Die Angst vor Bestrafung scheint jedenfalls eher zu Verschleierung als zur Klärung von Tatsachen<br />
beizutragen.<br />
DoRoThea seRoR