Unser Weg und Ziel! - DIR
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Wohlan Kameraden! Wir sind parteilos;<br />
unsere Organisationen besitzen Autonomie.<br />
Und fordert man uns zum Kampfe heraus,<br />
dann — die Vorschriften genau erfüllen,<br />
gerade dadurch den Sieg erringen!<br />
(Übersetzt aus unserem böhmischen<br />
Bruderblatt „Komuna", Prag-Žižkov<br />
von F.)<br />
Anarchismus.<br />
(Wir entnehmen diese kurze, philosophisch programmatisch<br />
scharf gegliederte Darstellung unserer Weltanschauung<br />
im Auszuge unserem italienischen Bruderorgane<br />
„ V i r " ) .<br />
Der Anarchismus ist die Verneinung jeder<br />
dogmatisch vorherbestimmten oder zwangsweise<br />
aufrechterhaltenen Gesellschaftsform;<br />
er verneint jede dogmatisch absolute Idee:<br />
also wie Vaterland, Staat, Religion, Moral,<br />
Eigentum, Justiz.<br />
Der Anarchist verwirft somit jeden künstlichen,<br />
von aussen oder oben forcierten Aufbau<br />
der zukünftigen Gesellschaftsform; er<br />
vertritt die Anschauung, dass dieselbe aus<br />
dem individuellen <strong>und</strong> socialen Element der<br />
menschlichen Natur ganz von selbst, natürlich<br />
erstehen wird im Zustand der Freiheit.<br />
Der Anarchismus bildet keine dogmatische<br />
Lehre; er ist eine philosophische T e n -<br />
denz <strong>und</strong> Geistesrichtung.<br />
In der Philosophie nennt er den neuheidnischen<br />
Geistesaufschwung sein eigen.<br />
In der Kunst ist er die Behauptung der<br />
Genialität <strong>und</strong> jeder individuellen Geisteskraft ;<br />
er ist die Verherrlichung der Schönheit auf<br />
allen Gebieten des Lebens.<br />
In der Politik ist der Anarchismus die<br />
Erhebung des Einzelnen <strong>und</strong> der unterdrückten<br />
Klasse gegen den mittelalterlich kirchlich-feudalen,<br />
aristokratischen oder modern demokratischen<br />
Zwang.<br />
Auf socialem Gebiet ist der Anarchismus<br />
der Vertreter des freien <strong>und</strong> befreiten Arbeiters,<br />
des industriellen Kollektivismus <strong>und</strong> agrarischen<br />
Kommunismus.<br />
In der Moral ist er das harmonische<br />
Zusammenströmen des ges<strong>und</strong>en Solidarismus<br />
(Krapotkin) <strong>und</strong> des ernsten Individualismus<br />
(Stirner).<br />
Der Anarchismus verachtet jeden Kompromis,<br />
jede Halbheit. Wohl weiss er aber,<br />
das Extreme zu würdigen. Deshalb stellt er<br />
dem S t a a t s s o c i a l i s m u s — d. h. der Übertreibung<br />
des Gesellschaftlichen zum Nachteil<br />
der Freiheit des Einzelmenschen — den Individualismus<br />
e n t g e g e n , ist aber sonst<br />
nichts als der Individualismus innerhalb des<br />
staatslosen Socialismus.<br />
Der Anarchismus ist Anhänger der Evolutionstheorie.<br />
Er erkennt die sociale Entwicklung<br />
an. Doch ist ihm die sociale Revolution<br />
die notwendige Folge jeder Evolution,<br />
wie diese erst wieder die Folge der Revolution<br />
ist.<br />
Der Anarchismus ist eine gesellschaftliche,<br />
er ist eine Sitten- <strong>und</strong> Charakterreform.<br />
Er verteidigt die Errungenschaften der W i s -<br />
senschaften <strong>und</strong> Künste gegen jene schwarze<br />
Reaktion, die die moderne Kultur verleugnet,<br />
das Zeitalter der Industrie <strong>und</strong> Technik zerstören<br />
<strong>und</strong> uns wieder in die Periode einstmaliger<br />
Geistesnacht zurückschleudern möchte.<br />
Der Anarchismus ist die Bekräftigung<br />
individueller Willenskraft <strong>und</strong> socialer Kultur<br />
gegen diejenigen Fanatiker des öden Glaubens,<br />
die sich gegen den Geist <strong>und</strong> dessen<br />
freie Forschung kehren.<br />
Der Anarchismus leugnet jede übersinnliche<br />
Offenbarung der Moral, Pflicht usw.<br />
Er predigt k e i n e irdische Aufopferung zu<br />
Gunsten eines jenseitigen Glückes. Sein W e -<br />
sensinhalt ist die Erziehung zum edlen Verständnis<br />
für das Vergnügen der Geselligkeit.<br />
Der Anarchismus wendet sich vorzugsweise<br />
an den Verstand, die intellektuelle Persönlichkeit<br />
<strong>und</strong> Selbständigkeit des Menschen.<br />
Der Unwissende wird sich nie befreien, die<br />
Unwissenden werden ewig unterdrückt sein.<br />
Jeder trachte nach Wissen.<br />
Und in all dem, im Vollbesitze all dieser<br />
Wesensbestandteile ist er die Erhebung des<br />
Geistes <strong>und</strong> der Persönlichkeit des Menschen<br />
zum Leben, zur Schönheit <strong>und</strong> Freiheit!<br />
Oberdan Gigli.<br />
Der staatliche Kollektivismus<br />
<strong>und</strong> die Freiheit.<br />
Von M a u r i c e B o u r g u i n .<br />
(Auszug aus dem Werke des Verfassers, Professor<br />
der Nationalökonomie an der Universität von Paris,<br />
über „ D i e s o c i a l i s t i s c h e n S y s t e m e u n d<br />
d i e w i r t s c h a f t l i c h e E n t w i c k l u n g . " Ins<br />
Deutsche übertragen von Dr. Louis Katzenstein.<br />
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, 1906<br />
Der radikale Kollektivismus (der Socialdemokratie),<br />
der die Produktion s t a a t l i c h<br />
regelt, <strong>und</strong> die Werte nach der Dauer durchschnittlicher<br />
Arbeitsintensität festsetzt, verleiht<br />
dem Staat eine ungeheuere Gewalt, welche<br />
alle Gebiete der individuellen Tätigkeit umfasst.<br />
Er stellt der Verwaltung, die aus zahllosen,<br />
durch öffentliche Mittel erhaltenen Organen<br />
zusammengesetzt ist, eine übermenschliche<br />
Aufgabe, die ihr eine erdrückende<br />
Verantwortlichkeit auferlegt.<br />
Er betraut sie mit allen wirtschaftlichen<br />
Verrichtungen der Nation, mit dem g e -<br />
samten Betriebe der Produktion, des Verkehrswesens,<br />
der Lagerung <strong>und</strong> der Verteilung,<br />
mit der Vermietung der Wohnung,<br />
wie mit dem Vertrieb der Lebensmittel <strong>und</strong><br />
anderer Gegenstände. Er gibt ihr die ausschliessliche<br />
Befugnis, die Dienstleistung <strong>und</strong><br />
die Güter auf Gr<strong>und</strong> unentwirrbarer Berechnungen<br />
socialer Durchschnitte zu bewerten<br />
<strong>und</strong> erwartet von ihr eine überaus verwickelte<br />
Rechnungsführung, in welcher jeder Fehler<br />
die nationale Existenz in Frage stellen kann.<br />
Die Staatsgewalt, welche die Verantwortung<br />
für jeden Fall der Arbeitslosigkeit trägt, muss<br />
jedem einzelnen eine seinen Fähigkeiten entsprechende<br />
Beschäftigung besorgen. Der Staat<br />
trägt als alleiniger Arbeitgeber von Millionen<br />
Arbeitern die ganze Last der verkehrten <strong>und</strong><br />
der ungerechten Handlungen, welche in der<br />
Verteilung der Aufgaben, in der Berechnung<br />
der Tarife <strong>und</strong> in der Zuweisung der Güter<br />
begangen werden. Die wirtschaftliche Verwaltung,<br />
welche über die Bürger, zugleich in<br />
ihrer Eigenschaft als Konsumenten <strong>und</strong> als<br />
Produzenten, verfügt, schwebt beständig in der<br />
Gefahr, unter der Wucht der auf ihr ruhenden<br />
Verantwortlichkeit zusammenzubrechen.<br />
Für die Entwicklung der Produktivkräfte<br />
<strong>und</strong> den wirtschaftlichen Fortschritt gibt es<br />
keine andere Bürgschaft als den Eifer der<br />
erwählten Beamten <strong>und</strong> die selbstlose Hingabe<br />
der Arbeiter. In Ermanglung jedes persönlichen<br />
Vorteils der Produzenten muss man<br />
bei ihnen ein ausgeprägtes Pflichtgefühl voraussetzen,<br />
um sie zur Annahme neuer M a -<br />
schinen <strong>und</strong> verbesserter Methoden selbst<br />
dann zu veranlassen, wenn diese Neuerungen<br />
sie aus den von ihnen erworbenen <strong>und</strong> liebgewonnenen<br />
Gewohnheiten <strong>und</strong> Stellungen<br />
vertreiben. Die Verminderung der Unkosten,<br />
die sparsame Behandlung der Rohstoffe <strong>und</strong><br />
die Erhaltung der Arbeitsmittel hängen von<br />
dem Zwange ab, den die einen auf ihre<br />
Untergebenen <strong>und</strong> die andern auf sich selbst<br />
auszuüben bereit sind. In Betreff der Siche-<br />
rung der Amortisierung des Produktivkapitals<br />
<strong>und</strong> seiner Erweiterung mittels Abgaben, die<br />
von der Vergütung, welche für die einzelnen<br />
Arbeiten gewährt wird, vorher abgezogen<br />
werden, muss man sich auf die unerschütterliche<br />
Festigkeit der erwählten Behörden verlassen.<br />
—<br />
Will man mit J a u r è s die kollektivistische<br />
Organisation dezentralisieren, indem<br />
man den Berufsgenossenschaften eine relative<br />
Autonomie gestattet <strong>und</strong> indem man ihnen<br />
mit einem gewissen Vorbehalt das Eigentum<br />
an ihren Werkzeugen lässt; will man mit ihm<br />
den energielosen Organen der kollektivistischen<br />
Produktion dadurch Leben <strong>und</strong> Initiative<br />
einflössen, dass man als Werteinheit die<br />
St<strong>und</strong>e durchschnittlicher Arbeitsproduktivität<br />
annimmt, um dadurch der aussergewöhnlichen<br />
Arbeitsproduktivität, die sich aus der Anwendung<br />
vervollkommneter Werkzeugen ergibt,<br />
eine Prämie zu verschaffen; so scheitert man<br />
an einer zweifachen Klippe: einmal an der<br />
ausserordentlich verwickelten Berechnung der<br />
Durchschnitte, die für jeden einzelnen Betrieb<br />
gemäss der Produktivität der Naturfaktoren<br />
angestellt werden muss <strong>und</strong> ein anderes Mal<br />
an dem Fehlen eines automatischen Regulators<br />
der Produktion, an der unvermeidlichen<br />
Fesselung <strong>und</strong> Erdrückung der genossenschaftlichen<br />
Betriebe durch die Willkür der Anordnungen,<br />
die von der Zentralgewalt ausgehen.<br />
Der staatliche Kollektivismus aber versagt<br />
besonders dann, wenn es sich um die Sicherung<br />
des wirtschaftlichen Gleichgewichts handelt.<br />
Die Lebenskraft des socialen Körpers, die<br />
sich in der Anpassung der Produktion an die<br />
Bedürfnisse betätigt, verwandelt sich in eine<br />
Funktion der staatlichen Verwaltung. Die<br />
öffentliche Gewalt wird beauftragt, die Organisation<br />
der Nachrichten zu zentralisieren, die<br />
Nachfrage vorher zu bestimmen <strong>und</strong> dementsprechend<br />
den Umfang der Produktionsmittel<br />
vorzuschreiben; zu ermitteln, welche Waren<br />
im Auslande gekauft <strong>und</strong> welche zum Zweck<br />
der Ausfuhr hervorgebracht werden sollen.<br />
Auf ihr ruht die Aufgabe, die ganze Bewegung<br />
der Güter zu regeln <strong>und</strong> die Art <strong>und</strong><br />
Menge derjenigen vorzuschreiben, welche die<br />
gesuchtesten Luxusbedürfnisse befriedigen<br />
sollen, ohne dass sich dabei ein Mangel oder<br />
ein Ueberschuss herausstellt. Es müssen Beamte<br />
vorhanden sein, die sich dem veränderlichen<br />
Geschmack <strong>und</strong> den Launen der Bevölkerung<br />
fügen, die sich ohne Rücksicht auf<br />
die Erschwerung ihres Dienstes unaufhörlich<br />
bemühen, den leisesten Wünschen der Konsumenten<br />
in derselben Weise entgegenzukommen<br />
wie die Produzenten <strong>und</strong> die Geschäftsleute<br />
der individualistischen Gesellschaft.<br />
In dem Betriebe, der für die Beschaffung<br />
der Lebensmittel sorgt, darf kein Irrtum,<br />
kein Fehler <strong>und</strong> kein Uebersehen vorkommen.<br />
Die Existenz eines ganzen Volkes hängt von<br />
der wachsamen Fürsorge einer alles umfassenden<br />
Regierung ab.<br />
Und nicht einmal in einer rein theoretischen<br />
Weise vermag solcher Kollektivismus<br />
das Gleichgewicht zu sichern. Er verfügt über<br />
kein Mittel, die überschüssigen Güter, die<br />
unmodern oder beschädigt worden sind, a b -<br />
zusetzen. Sie häufen sich in den Magazinen<br />
an, ohne einen Abnehmer zum Kostenpreise<br />
zu finden. Es gelingt ihm auch nicht, die<br />
Zuweisung derjenigen Gegenstände in befriedigender<br />
Weise zu regeln, die in unzureichender<br />
Menge vorhanden sind. Auch für die<br />
Verteilung der Arbeiter auf die einzelnem<br />
Beschäftigungen sind feste Principien nicht<br />
vorhanden. In Ermangelung des spontanen<br />
Gleichgewichts muss der Staat Gewalt anwenden,<br />
um die Arbeiter den weniger begehrten<br />
Gewerben zuzuführen.<br />
Verantwortlicher R e d a k t e u r Jos. Sindelar ( W i e n ) . — H e r a u s g e b e r Jul. E h i n g e r (Wien). — Erste Genossenschafts-Buchruckerei in Budweis.