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Unser Weg und Ziel! - DIR

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Wien, 22. Dezember 1907. Einzelexemplar 10 h. J a h r g . I. — Nr. I,<br />

Der „W. f. A.“ erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition XII. Fockygasse 27. II. 17.<br />

Wien. Gelder sind zu senden an W.<br />

Kubetsch, IV. Schönburgstrasse, 5. III.<br />

Wien.<br />

<strong>Unser</strong> <strong>Weg</strong> <strong>und</strong> <strong>Ziel</strong>!<br />

Einer Welt von Feinden <strong>und</strong> Widersachern<br />

tritt unser Blatt entgegen. So unerfreulich<br />

dies sein mag, gerade damit wird<br />

seine unbedingte Existenznotwendigkeit erwiesen,<br />

unsere Aufgabe uns vorgezeichnet.<br />

Nicht der „Wohlstand für Alle“, die<br />

Zeitschrift an <strong>und</strong> für sich ist es, was diesen<br />

Hass erweckt; es sind die Prinzipien, die<br />

Ideale, die der „W. f. A.“ vertritt, die ihn<br />

verursachen. Wäre er ein Regierungsblatt,<br />

dann fände er bestehende Kreise, die ihn<br />

willkommen hiessen; wäre er ein Blatt der<br />

politischen Linken, so könnte er auch da<br />

leicht B<strong>und</strong>esgenossen finden. Allein der<br />

„W. f. A.“ ist weder das eine noch das<br />

andere; unser Blatt ist vor allem selbständig,<br />

vollständig unabhängig, sowohl von der<br />

Rechten, wie auch der Linken der politischen<br />

Partejen. Und so begegnet er ihrer g e m e i n ­<br />

s a m e n Feindschaft, ihm gegenüber pflanzt<br />

sich eine einheitlich verb<strong>und</strong>ene Parteienkonsolidation<br />

auf; er begegnet einem desto grimmigeren<br />

Hasse, als er das Parteiwesen alier<br />

Kliquen bekämpft, seine eigene Bewegung,<br />

jene der Armen, Bedrückten <strong>und</strong> Elenden von<br />

allem Parteiunwesen befreien will.<br />

Aber sein Name ist ein Programm, <strong>und</strong><br />

in diesem Namen <strong>und</strong> Programm bietet sich<br />

seine Weltanschauung dar. I h r e t w e g e n<br />

blicken nur feindselige Augen auf den „ W .<br />

f. A.“, denn der klaren Erkenntnis seiner<br />

Weltanschauung gegenüber müssen a l l e<br />

Parteien durchschaut verstummen.<br />

E i n Gemeinschaftliches vereinigt sie,<br />

trennt uns von ihnen, lässt sie uns hassem,<br />

weil fürchten :<br />

Sie alle sind s t a a t s g l ä u b i g , erkennen<br />

die gesellschaftliche Notwendigkeit i r g e n d<br />

e i n e r F o r m autoritärer Beherrschung für<br />

die Menschen an <strong>und</strong> sind gemeinsam beseelt<br />

von dem ihnen allen gleichen Verlangen,<br />

die herrschende Staatsgewalt zu stürzen <strong>und</strong> für<br />

ihre eigenen Parteizwecke zu ergattern. Sie<br />

alle wollen die Herrschaft, die Gewalt —<br />

den Staat. Alle ohne Ausnahme.<br />

Die Konservativen wollen den Absolutismus<br />

— den Staat!<br />

Die Konstitutionellen wollen die Beschränkung<br />

des Absolutismus — den Staat!<br />

Die Liberalen, die Christlichsocialen, die<br />

Deutschnationalen, die Freisinnigen — alle<br />

wollen den Staat!<br />

Die Demokraten <strong>und</strong> Socialdemokraten<br />

wollen den Volksstaat, den Staat!<br />

Die Republikaner wollen den Staat!<br />

Kurz, alle sind darin einig, dass das<br />

Zusammenleben der Menschen der zentralen<br />

Gewalt des Staates bedarf, darin finden sie<br />

sich als B<strong>und</strong>esgenossen: a l s s t a a t s e r ­<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen i s t . . .“<br />

h a l t e n d e K r ä f t e ; ihr einziger Zankapfel<br />

ist der, dass jede einzelne Partei gegenüber<br />

allen übrigen den Staat für sich <strong>und</strong> ihre<br />

Zwecke kapern möchte.<br />

Der Hass, die blinde Wut, denen der<br />

„W. f: A.“, begegnen wird, rührt von dem<br />

einen, gewaltigen, historisch alle Vergangenheit<br />

<strong>und</strong> unmittelbare Zukunft durch reissenden<br />

Umstand her:<br />

Wir, die wir den „ W . f. A.“, herausgeben,<br />

gründen hiermit ein Blatt, das wegen<br />

des e i n e n Prinzips von a l l e n Parteien bekämpft<br />

werden wird:<br />

G e i s t i g s o w o h l a l s p r a k t i s c h e r ­<br />

s t r e b e n w i r e i n e s t a a t s l o s e G e s e l l ­<br />

s c h a f t s o r g a n i s a t i o n !<br />

<strong>Unser</strong> <strong>Ziel</strong> ist die freie Gemeinschaft<br />

der ökonomisch, politisch-social <strong>und</strong> moralisch<br />

von allen Fesseln der Autorität befreiten<br />

Individuen, die das höchste Kulturideal der<br />

Freiheit <strong>und</strong> des Friedens nur erreichen<br />

können durch die Abwesenheit jeder Herrschaft<br />

— d i e A n a r c h i e !<br />

Wir sind Anarchisten! Stolz bekennen<br />

wir es, trotz aller Vorurteile <strong>und</strong> dünkelhafter,<br />

absichtlicher Falschdeuterei, trotz aller aufrichtigen<br />

Missverständnisse, die uns bekämpfen,<br />

weil sie in uns die Verkörperung aller<br />

Brutalität, Niedertracht <strong>und</strong> Menschenschändung<br />

zu erblicken gelehrt wurden — in uns,<br />

die wir Materialisten <strong>und</strong> Idealisten in einem,<br />

die wir das höchste Glück der Menschheit,<br />

ihren Frieden, erstreben, das Glück, die Freiheit<br />

der Völker <strong>und</strong> der Einzelmenschen<br />

— d e n W o h l s t a n d f ü r A l l e !<br />

Uns gegenüber pflanzt sich eine einzige,<br />

einige Armee auf: die Parteien der Rechten<br />

<strong>und</strong> der Linken reichen sich versöhnt die<br />

Hände in ihrem Kampfe wider uns!<br />

Sie sind die A r c h i s t e n — wir sind<br />

die A n a r c h i s t e n !<br />

* *<br />

*<br />

Wir wollen an dieser Stelle rieht von<br />

unseren kapitalistischen <strong>und</strong> staatlichen Gegnern<br />

reden, denn aus dem Obigen geht<br />

schon deutlich genug hervor, dass wir gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

Gegner der heutigen Weltordnung<br />

sind. Kurz sei es gesagt:<br />

Wir sind Gegner der kapitalistischen<br />

Produktionsweise, weil ihr privateigentümlicher<br />

Monopolbesitz das Elend <strong>und</strong> die Not der<br />

Millionen Besitzlosen verursacht, weil er die<br />

Menschheit in Klassen spaltet, in die Besitzenden<br />

<strong>und</strong> Besitzlosen, in die Herrschenden<br />

<strong>und</strong> Proletarier.<br />

Als Kommunisten treten wir diesem Zustand<br />

entgegen, erstreben die Umwandlung<br />

des Privateigentums im Gemeinschaftseigentum.<br />

Jede Aktion des Proletariats, soweit sie<br />

diesem <strong>Ziel</strong> direkt, im Interesse der Gesamtklasse,<br />

aufrichtig zustrebt, werden wir be-<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2.40;<br />

halbjährig K l.20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />

50 Cent:<br />

fürworten <strong>und</strong> unterstützen. Wir erkennen<br />

den Klassenkampf des Proletariats an in dem<br />

Sinne, dass das Proletariat als die bedrückteste<br />

Klasse, das vornehmste Interesse besitzt,<br />

sich von den Fesseln der Gegenwart<br />

zu befreien <strong>und</strong> an ihrer Stelle eine freie<br />

Gesellschaft zu errichten. Die ökonomische<br />

Gr<strong>und</strong>lage dieser Gesellschaft soll der Kommunismus<br />

sein.<br />

Für ihn wird unser Blatt kämpfen —<br />

wir sind durch <strong>und</strong> durch ein sozialistisches<br />

Organ.<br />

„Weshalb kämpft Ihr nicht in den Reihen<br />

der Socialdemokratie? Sind Sozialdemokraten<br />

nicht auch Socialisten?“<br />

Auf diese Frage müssen wir eine deutliche<br />

Erklärung geben, denn wir sind g e g e n<br />

j e d e Zersplitterung der Arbeiterbewegung<br />

aus persönlichen Ehrgeizinteressen, gegen<br />

jede, wenn es nur irgend angängig, sie zu<br />

vermeiden, zu überbrücken. Aber dort, wo<br />

e s sich u m v e r s c h i e d e n e P r i n z i p i e n<br />

handelt, um das Ergebnis einer grossen historischen<br />

Geistesentwicklung des Proletariats<br />

können wir nicht anders, als unseren eigenen<br />

W e g gehen, müssen die Fehler sämtlicher<br />

Gegner <strong>und</strong> irrenden Brüder aufdecken, da<br />

wir n u r so im Stande sind, das wahre Endziel<br />

unseres Kampfes zu fördern, es je zu<br />

erreichen.<br />

Wir kämpfen n i c h t in den Reihen der<br />

Sozialdemokraten, weil diese Partei einerseits<br />

den Kommunismus des „Kommunistischen<br />

Manifestes“ längst aufgegeben, theoretisch<br />

kollektivistisch geworden, weil sie anderseits<br />

den Socialismus prinzipiell überhaupt nicht<br />

mehr vertritt, sondern eine d e m o k r a t i s c h e<br />

k l e i n b ü r g e r l i c h e R e f o r m p a r t e i g e ­<br />

worden ist, im günstigsten Sinne eine Art<br />

Staatssocialismus vertritt, die jedem Kulturmoment<br />

feindlich ist.<br />

Hervorgehend aus den Kämpfen der<br />

alten „Internationale“ von 1864 bis etwa<br />

1880 haben sich, sowohl die Bewegungsprinzipien<br />

vor dieser „Internationale“, wie<br />

die in ihr selbst ruhenden zusammen fassend,<br />

zwei weltgeschichtliche Auffassungen des<br />

proletarischen Kampfes entwickelt. Die eine,<br />

theoretisch formuliert im Marxismus, vertritt<br />

die Idee, den Staat durch die Diktatur des<br />

Proletariats zu erringen <strong>und</strong> ihn dann umzuwandeln<br />

in einen socialdemokratischen Volksstaat;<br />

die andere, formuliert von den Gr<strong>und</strong>sätzen<br />

des kommunistischen Anarchismus,<br />

ist gegen jede Diktatur also auch jene<br />

des Proletariats <strong>und</strong> erblickt die ökonomische<br />

Umwälzung der Gegenwartsverhältnisse<br />

darin gegeben, dass das Herrschaftsprinzip<br />

der Staatsgewalt aus der wirt-


schaftlichen Umgebungswelt enfernt werde;<br />

dass der Socialismus nicht etabliert werde<br />

als socialdemokratischer Volkstaat, sondern<br />

als die autonome Föderation freier Gruppierungen<br />

der Produktion, des Konsums, des<br />

Geistes- <strong>und</strong> Liebeslebens, eine Föderation,<br />

die zusammengehalten wird durch das Gegenseitigkeitsband<br />

kommunistischer Solidarität<br />

<strong>und</strong> von jeder Zentralleitung <strong>und</strong> Gewalt, wie<br />

es die Socialdemokraten wollen, frei ist.<br />

So manche, die sich wer weiss wie klug<br />

dünken, werden höhnisch lächelnd meinen, dies<br />

sei ja nur Zukunftsmusik. Die armen Tröpfe,<br />

diese Betörten, die so armselig oberflächlich<br />

in die Geisteswelt des Socialismus eindrangen!<br />

Denn muss schon das von der intelligenten<br />

Willensrichtung der Individuen abhängige Streben<br />

unbedingt einen führenden Einfluss auf<br />

die Zukunft haben, so ergeben sich aus den<br />

obigen Differenzen der Auffassung auch gr<strong>und</strong>verschiedene<br />

Weltanschauungen, von diesen<br />

ausgehend — wie wichtig ist doch die Erkenntnis<br />

der Theorie! — gr<strong>und</strong>verschiedene,<br />

t a k t i s c h e M e t h o d e n , die prinzipiell,<br />

wie praktisch zu beleuchten gerade die Aufgabe<br />

unseres Blattes bilden muss.<br />

Ausgehend von ihrem Staatssocialismus<br />

verlegen die Socialdemokraten ihr ganzes<br />

Mühen <strong>und</strong> Streben darauf, an der Gesetzgebung<br />

der Bourgoisie im Parlamente —<br />

selbst eine bourgeoise Einrichtung — teilzunehmen<br />

<strong>und</strong> widmen alle Kräfte des Proletariats<br />

diesem Zweck. Ausgehend von ihrer<br />

a n t i staatlichen Überzeugung bekämpfen die<br />

kommunistischen Anarchisten jede staatliche<br />

Aktivität, somit auch die Gesetzgebung <strong>und</strong><br />

wollen alle Veränderungen des socialen Lebens<br />

sich in diesem <strong>und</strong> durch sich selbst,<br />

also durch den social geführten Klassenkampf<br />

des organisierten Proletariats erreichen. Die<br />

historische Erfahrung lehrt uns, dass die S o ­<br />

cialdemokraten in allen Ländern, wo sie sich<br />

lange Jahrzehnte politisch-parlamentarisch betätigten,<br />

n i c h t s , überall dort, wo die anarchistische<br />

Auffassung von dem Wesen <strong>und</strong><br />

<strong>Ziel</strong> des Kampfes Platz gegriffen hat, die<br />

Arbeiter viel erzielt haben, geistig <strong>und</strong> social<br />

gereift sind.<br />

Langsam, aber sicher scheint das internationale<br />

Proletariat, wie aus einem langen,<br />

historischen Parlamentsschlaf zu erwachen.<br />

Auch zum Teil in Österreich, obwohl es traurig<br />

genug ist, mitansehen zu müssen, dass unser<br />

Proletariat im allgemeinen noch nicht jene<br />

Lehren aus dem kläglichen Schiffbruch der<br />

parlamentarischen Aktion gewonnen hat, die<br />

sich doch besonders aufdringlich gerade in<br />

Österreich, diesem Lande des wertlosesten<br />

Parlamentarismus, aufdrängen.<br />

Wir werden in der Folge durch M o n o ­<br />

graphien über die sociale Bewegung in allen<br />

Ländern es beweisen, dass die Socialdemokratie<br />

überall dort, wo sie ein Stück Macht<br />

errang, das Proletariat verriet, dort, wo sie<br />

gross an Zahlen <strong>und</strong> reich an Abgeordnetensitzen<br />

ist, nichts für das Proletariat tut, jeden<br />

revolutionären Innpuls der Zukunft aufgegeben<br />

hat, nichts für das Proletariat zu tun vermag.<br />

Stellen wir dem gegenüber das Erwachen<br />

des Proletariats in Frankreich <strong>und</strong> anderen<br />

Ländern! Überall die Erkenntnis, dass der<br />

Socialismus — die Befriedigung der Magenfrage<br />

— allein n i c h t genügt; dass es ein<br />

Problem gibt, das auch die Lösung des socialistischen<br />

in sich birgt, aber darüber weit<br />

hinausgeht, nämlich die Freiheit des Einzelnen<br />

<strong>und</strong> Aller, wie sie sich in dem Freiheit <strong>und</strong><br />

Wohlstand für alle bergenden <strong>und</strong> bietenden<br />

A n a r c h i s m u s darstellt. Und darauf füssend<br />

die taktische Erkenntnis, dass das öde,<br />

politische Kannegiessern <strong>und</strong> parlamentarische<br />

Scheingefecht das Proletariat nur entnerven,<br />

geistig verblöden kann; dass es einer Taktik<br />

bedarf, die revolutionär in das Bewusstsein<br />

eines jeden Einzelnen eingreift, des Generalstreiks,<br />

der p r i n z i p i e l l e n Gegnerschaft<br />

gegenüber dem Staate <strong>und</strong> seinen Gewaltstützen<br />

des Krieges <strong>und</strong> Militarismus — kurz,<br />

dass der Socialismus, der seines Triumphes<br />

würdig sein, der Socialismus, der die Möglichkeit<br />

eines solchen Kultursieges haben will,<br />

seine geistige <strong>und</strong> praktische Repräsentanz in<br />

der Theorie des kommunistischen Anarchismus<br />

finden muss, die alles Freiheitliche <strong>und</strong> Kulturelle<br />

der Menschheit einbegreift, alles Hemmende,<br />

Beherrschende ausschaltet.<br />

Über diese grosse Kampfes- <strong>und</strong> Kulturbewegung<br />

unsere Leser eingehend zu informieren,<br />

ihnen die Überlegenheit unseres intellektuellen<br />

Standpunktes über jenen der Socialdemokratie,<br />

sämtlicher Stützen der Gegenwartsgesellschaft<br />

in würdiger, aber auch geisselnder<br />

Weise zu demonstrieren, <strong>Weg</strong> <strong>und</strong> <strong>Ziel</strong> zu<br />

weisen, wohin der proletarische Emanzipationskampf<br />

sich zu wenden hat, das ist der Zweck<br />

unseres Erscheinens; das währen möge, bis<br />

dieser Kampf einkehrt in jenes Reich freudevoller<br />

Freiheit, des Friedens <strong>und</strong> des Wohlstandes<br />

für Alle, dessen F<strong>und</strong>amente Kommunismus<br />

<strong>und</strong> Anarchie, das Gemeinschaftliche <strong>und</strong><br />

Individuelle einer geläuterten Menschheit bilden<br />

sollen :<br />

„Zu dir, o Freiheit! send' ich mein Verlangen,<br />

Die mir der Zukunft dunkle Pfade weist,<br />

Lass einen Strahl mich deines Licht's empfangen,<br />

Ström' auf mich nieder deinen heil'gen Geist!<br />

Gib, dass umwandelbar auf deinem hehren.<br />

Geweihten Stern mein trunk'nes Auge ruht — .<br />

Und lass des Glaubens nimmer mich entbehren<br />

An Lieb' <strong>und</strong> Menschheit, an ein höchstes Gut!“<br />

D i e H e r a u s g e b e r d e s „ W . f . A “ .<br />

An Österreichs Proletariat*)<br />

Nach einem alten Originale eines unbekannten<br />

Autors von J. F.<br />

Du Freiheitswunsch,der das Proletariat Uberflog,<br />

Auch mich hat er im Strudel fortgezogen;<br />

Doch w e h e ! Jene Hoffnungsstimme log,<br />

Und wieder mehr als je, sind wir betrogen!<br />

Elendes Volk, das jeder Ehre bar,<br />

Das, wie der H<strong>und</strong>, zur Knechtschaft scheint<br />

geboren,<br />

Du bist nur eine feige Sklavenschar,<br />

Zweifach jetzt, am Geist beschnitten <strong>und</strong> an<br />

Ohren! —<br />

Dich schelt' ich nicht, du dreiste Manichäerzunft,<br />

Euch nicht, Ihr verlog'nen Henkersknechte,<br />

Die ihr mit Füssen tretet die Vernunft,<br />

Die ihr verhöhnt des Volkes Wort <strong>und</strong> Rechte t<br />

Ihr habt, wie Schlächtermeister, ja das Recht,<br />

Die Herde erst zu scheren, dann zu schlachten:<br />

Die Peitsche jedem, der sich selbst zum Knecht<br />

Und Allen Schmach, die sich zur Herde machen!<br />

Proletariat, für dich mein Zürnen, dir mein<br />

Fluch,<br />

Denn wieder liessest du dich überlisten,<br />

Dem wie noch nie so nah' der Freiheit<br />

St<strong>und</strong>e schlug,<br />

Und das trotzdem im Staube liegt vor feilen<br />

Egoisten.<br />

*) Obiges Gedicht entnehmen wir einem alten,<br />

Kennern der historischen Entwicklung unseres Proletariats<br />

in Österreich wohlbekannten Blatte, nämlich<br />

der „Volkspressc“, Jahrgang 1891, No. 21. Das<br />

Gedicht passt auch auf die Gegenwartssituation,<br />

nach dem Rausch über den .grossen“ Wahlsieg. Die<br />

Red.<br />

Du bist nicht ohne Kraft, nicht ohne ci£<br />

Ein starkes Volk von vielen Millionen;<br />

Doch fehlt dir E i n s, das Sklavenketten reisst,<br />

Der kühne Trotz vor falschen Kommilitionen.<br />

Es fehlt dir noch, was Recht <strong>und</strong> Freiheit<br />

schafft,<br />

Das freie Urteil <strong>und</strong> das Zusammenhalten:<br />

Drum liegst du auf dem Block, in Kerkerhaft,<br />

Drum höhnen dich die schnöden Herrschgewalten.<br />

Ein Herkules, doch an der Spindel blos,<br />

Ein Samson bist du, mit geschor'nen Locken :<br />

Du schläfst <strong>und</strong> liegst der Delila im Schoss,<br />

Du schläfst <strong>und</strong> hörst nur der Sirene Locken !<br />

Du schläfst <strong>und</strong> hörst nicht der Philister<br />

Schar:<br />

Sie scheren dich, sie binden dich <strong>und</strong> blenden<br />

Die Augen dir, <strong>und</strong> aller Stärke bar<br />

Sollst du als Gaukler unter ihnen enden!<br />

Allein es wächst die Kraft dir mit dem Haar ;<br />

Gaukler, den höchsten Grad der Kunst erklett're!<br />

Ergreif die Pfeiler <strong>und</strong> die Heuchlerschar,<br />

Die spottend deiner lachte, nun zerschmett're !<br />

Zerschmett're sie ! — Aus Asche, Schutt <strong>und</strong><br />

Rauch<br />

Wirst du, ein Phönix, wieder dich erheben!<br />

Mit dir ersteht ein neuer Volkesbrauch,<br />

Mit dir ersteht ein neues, wahres Menschenleben!<br />

O Volk! Duld' nicht in deinen eig'nen Reihen<br />

Den Führer, der es nur aus Eitelkeit;<br />

Du sollst selbst dich deiner Sache weihen,<br />

Es ist die beste Bürgschaft einer neuen Zeit !<br />

Parlamentarier <strong>und</strong> Revolutionäre<br />

in der französischen,<br />

socialistischen Partei.*)<br />

In der socialdemokratischen Partei Frankreichs<br />

kämpfen zwei Richtungen mit einander.<br />

Ein Teil will eine einheitliche republikanische<br />

Partei, strebt nach der E n t w i c k l u n g<br />

der kapitalistischen Gesellschaft auf ausschliesslich<br />

gesetzlichem u. parlamentarischem<br />

W e g e ; befürwortet, ohne es sich selbst einzugestehen,<br />

den Eintritt der Socialdemokraten<br />

in's Ministerium <strong>und</strong> die Annahme des<br />

Budgets.<br />

Wir hingegen, die wir auf der anderen<br />

Seite stehen, haben nicht viel Vertrauen zum<br />

allgemeinen Wahlrecht ; der parlamentarische<br />

Wahlkampf hat, unserer Ansicht nach, nicht<br />

den Zweck, eine socialistische Mehrheit ins<br />

Parlament zu bringen — w a s bei den heutigen<br />

wirtschaftlichen Verhältnissen ohnedies<br />

ganz unmöglich ist — sondern ist höchstens<br />

dazu gut, um die allgemeine Meinung aufzurütteln,<br />

<strong>und</strong> um unser kollektivistisches oder<br />

kommunistisches Ideal zu verkünden. Wir<br />

sind Revolutionäre, u. die bestehende Gesetzlichkeit<br />

geht uns nichts an ; wir ertragen sie<br />

nur, weil wir nicht stark genug sind, uns<br />

ausserhalb ihrer Macht Verhältnisse zu organisieren;<br />

<strong>und</strong> wir werden sie, mit Hilfe des<br />

Generalstreiks aufheben, sobald wir den Geist<br />

der Freiheit <strong>und</strong> unser kollektivistisches<br />

Ideal genügend in den Massen des städtischen<br />

Proletariats verbreitet, <strong>und</strong> den Feind durch<br />

*) Folgendes sind Auszüge aus den Leitartikeln<br />

unseres Genossen G u s t a v H e r v é , i n seinem<br />

Blatt »La G u e r r e S o c i a l e “ (der .Sociale<br />

Krieg“).


Internationale des revolutionären Socialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

„Die anarchistische Internationale“.<br />

Das internationale K o r r e s p o n d e n z b u r e a u zu<br />

London, d a s der intern., anarchistische Kong<br />

r e s s konstituierte, t r ä g t sich mit d e r Absicht,<br />

ein internationales Bulletin zu b e g r ü n d e n . Zu<br />

diesem Zwecke w e r d e n an alle u n s e r e Publikationen<br />

<strong>und</strong> Gruppen F r a g e b o g e n a u s g e s a n d t ,<br />

deren B e a n t w o r t u n g von hoher Wichtigkeit. Die<br />

F r a g e n l a u t e n :<br />

1. Sind Sie für o d e r gegen die B e g r ü n d u n g<br />

eines solchen Bulletins? — 2. W e l c h e d i e s b e ­<br />

züglichen Ratschläge h a b e n Sie zu e r t e i l e n ? —<br />

3. Welche finanzielle Unterstützung können Sie<br />

d e m Plane angedeihen l a s s e n ?<br />

Sämtliche A n t w o r t e n sind zu richten an<br />

den Sekretär A. Shapiro, 163 Jubileestr., London<br />

E. England.<br />

Böhmen.<br />

Die anarchistische Bewegung steht hier auf<br />

festen Füssen; sie hat namentlich in den letzten<br />

Jahren einen gewaltigen Aufschwung genommen.<br />

Die Bewegung hat zwei Zentren. Eines in Prag,<br />

wo die „Böhmische Föderation aller Gewerkschaften“<br />

besteht, fünf periodische Zeitungen erscheinen, die<br />

gewerkschaftliche Bewegung aber geringer ist als<br />

im Norden Böhmens. Dort ist der zweite Brennpunkt,<br />

eigentlich der Kern der Bewegung. Die Arbeiter<br />

der dortigen grossen Bergwerke <strong>und</strong> der<br />

vielen Webereien sind zum grossen Teile in den<br />

Gewerkschaften der „C. F. V. O.“ vereint, <strong>und</strong> bilden<br />

ungefähr 70 Ortsgruppen. Selbstverständlich ist die<br />

Gewerkschaft-Föderation nicht ausschliesslich anarchistisch,<br />

sondern der Hort des wirtschaftlichen<br />

Kampfes; da jedoch noch vor kurzem fast sämtliche<br />

Mitglieder Anarchisten waren, kann die Gewerkschaftsbewegung<br />

in der Föderation in Böhmen<br />

zum Masstabe der anarchistischen Bewegung dienen.<br />

Die anarchistischen Zeitungen erscheinen, wie erwähnt,<br />

überwiegend in Prag. Nur die „Matice Svobody“<br />

(Mutter der Freiheit), die sich ausschliesslich<br />

mit dem Antiklerikalismus befasst, erscheint in<br />

Brünn, die „Hornické Listy“ (Bergarbeiterzeitung)<br />

<strong>und</strong> „Proletarier“ die die direkte Aktion propagieren,<br />

im Norden. Die „Komuna“, die zweimal wöchentlich<br />

erscheint, befasst sich hauptsächlich mit dem<br />

wirtschaftlichen Kampfe des Proletariats, hingegen<br />

das Wochenblatt „Práce“ (Arbeit) theoretische Literatur<br />

bringt, auch eine belletristische Beilage „Kličení“<br />

(Germinal), <strong>und</strong> eine Kinderbibliothek unter<br />

demselben Namen erscheinen lässt. Neuestens wurde<br />

vom Prager Aktionkomitee eine Halbmonatschrift,<br />

namens „Přimá Akce“ (Die direkte Aktion) gegründet,<br />

die ihre Entstehung einem bedauernswerten<br />

Zwist unter den Prager Kameraden verdankt.<br />

In einer sehr grossen Auflage erscheint in gemeinschaftlicher<br />

Redaktion mit der „Komuna“ das<br />

Kreuzerblatt „Chucd`as“ (der Arme).<br />

Die Bewegung in Böhmen wächst von Tag zu<br />

Tag, dank der eifrigen Agitation durch Presse, Broschüren,<br />

Vorträge <strong>und</strong> öffentliche Versammlungen.<br />

Von der Gründung der neuen „Eisenbahn-<br />

Gewerkschaft“ referieren wir in nächster Nummer.<br />

F.<br />

Nieder-Österreich.<br />

Seit mehreren Monaten hat die anarchistische<br />

Bewegung Wiens eine Serie rührigster Agitationsarbeit<br />

<strong>und</strong> Massenaufrüttelung, wie auch prinzipielle<br />

Propagande zu verzeichnen. Es fanden zahlreiche<br />

öffentliche, wie auch § 2.-Versammlungen statt, in<br />

denen die Genossen Ramus, Lickier, Tesar, Urban,<br />

Wagner als Referenten oder Diskussionsredner anscheinend<br />

sehr zündende Gedanken in das Gefühls<strong>und</strong><br />

Geistesleben der stets zahlzeich Anwesenden<br />

zu schleudern wussten. Um nur einige zu nennen,<br />

fanden Referate statt über „Taktik <strong>und</strong> Weltanschauung<br />

des Proletariats“, „Die historische Entwicklung<br />

der Idee der direkten Aktion“, Die Weltanschauung<br />

des Anarchismus“, „Kunst u. Anarchie“,<br />

Zentralismus oder Föderalismus“, „Michael Bakunin<br />

<strong>und</strong> Karl Marx“, „Parlamentarismus oder Generalstreik“<br />

u. s. w. Die Versammlungen verliefen<br />

stets anregend, auch gewöhnlich ruhig — bis es zur<br />

Diskussion kam. Im Laufe derselben versuchten es<br />

die Socialdemokraten stets, so oft sie sich geschlagen<br />

fühlten, durch echt christlichsoziale Manieren, durch<br />

borniertes Radauschlagen die Versammlungen zu<br />

sprengen, was ihnen denn auch zu ihrem moralischen<br />

Schaden manchmal gelang. Besonders amüsant<br />

war dieses Vorgehen, wenn man aus den Argumenten<br />

der Socialdemokraten ersah, dass sie<br />

weder ein noch aus wussten, vom Socialismus nichts,<br />

geschweige denn vom Anarchismus etwas verstanden.<br />

Auch socialdemokratische Abgeordnete <strong>und</strong><br />

Doktoren kamen; an ihrem sauren Gesicht, mit dem<br />

sie abzogen, war zu sehen, dass es ihnen keine<br />

besondere Freude bereitete, erkannt zu haben, noch<br />

viel lernen zu müssen, um den Anarchismus kritisieren<br />

zu können!<br />

* *<br />

*<br />

Es gab eine Zeit, da sprach man in Österreich<br />

von dem Fortwursteln des Absolutismus; es ist<br />

heute die Zeit, v o n d e m F o r t w u r s t e l n d e s<br />

P a r l a m e n t a r i s m u s zu sprechen. Ist es für<br />

jeden Esel möglich, mit dem Belagerungszustand zu<br />

regieren <strong>und</strong> „Ordnung“ zu machen, so ist es auch<br />

für jeden Esel möglich, Radau zu schlagen <strong>und</strong> sich<br />

am patlamentarischen Zetergeschrei lächerlichen<br />

Lärmszenen zu beteiligen oder solche zu provozieren.<br />

Wie wenig gerade dadurch für das Volk herausspringt,<br />

das beweist uns am klarsten unser erster,<br />

verfassungsgemässer Reichsrat, dieses üenieprodukt<br />

des allgemeinen Wahlrechts, Wochen u. Monate sind<br />

vergangen seit seinem Zusammentritt, a l l e Parteien<br />

haben Dringlichkeitsanträge von mehr oder<br />

minderer Wichtigkeit oder Unwichtigkeit eingebracht,<br />

haben es selbst nicht geglaubt, dass a u c h n u r<br />

e i n Antrag durchgehen <strong>und</strong> falls durchgehen ausgeführt<br />

werden wird, sondern sich nur demagogisch<br />

gegenseitig den Wind aus den Segeln holen wollen<br />

— <strong>und</strong> das Resultat ist heute gleich N u l l , das Volk<br />

ist wieder genarrt <strong>und</strong> wieder getäuscht worden<br />

<strong>und</strong> die ganze <strong>Ziel</strong>- <strong>und</strong> Zwecklosigkeit des Parlamentarismus<br />

erweist sich schon daraus klar genug,<br />

dass mehr denn einmal die Schatten des § 14 sich<br />

abermals auf uns zu senken drohten.<br />

Eine Notlage sondergleichen rüttelt das gesamte<br />

österreichische Volk in allen seinen Gliedmassen.<br />

Und das kennen die Socialdemokraten <strong>und</strong><br />

bringen papierene Dringlichkeitsvorschläge vor, die<br />

Christlichsocialen protestieren natürlich — <strong>und</strong> beide<br />

Parteien, wie auch alle übrigen, die einander würdig<br />

sind, wissen ganz genau, dass alle Majoritätsabstimmungen,<br />

wie sie auch ausfallen mögen, gar<br />

nichts helfen können. Denn es würden Monate <strong>und</strong><br />

Jahre darüber vergehen, bis sie zur Ausführung gebracht<br />

würden, d a i s wir bis dahin schon längst<br />

wieder eine Verteuerung auch des ohnedies problematischen<br />

„argentinischen Fleisches“ etc. etc., hatten.<br />

Worin ist diese ganze Teuerung gelegen, die<br />

uns das Stück Brot bereits verunmöglicht hat <strong>und</strong><br />

aus den ärmsten Schichten ihre Riesenprofite schlägt?<br />

Es sind einerseits die öffentlichen Lasten, die der<br />

Staat uns auferlegt, die sie verursachen. Nicht die<br />

Besitzenden, nicht die Kleinbürger bezahlen die indirekten<br />

Steuern, sondern das konsumierende Proletariat<br />

tut das. Und je grösser die Auslagen des<br />

Staates für budgetäre Zwecke — <strong>und</strong> auch ein Parlament<br />

kostet ungeheure Summen, leistet dabei nichts 1<br />

— desto teurer die Lebensmittel. Allerdings gibt es<br />

aber auch Teuerungen in Freihandelsländern. Dann<br />

gibt es anderseits noch einen Punkt, der nicht übersehen<br />

werden darf. Wir haben n i c h t deswegen eine<br />

Lebensmittelteuerung, weil wir Misswachs, Missernte,<br />

eine Unterproduktion haben <strong>und</strong> etwa den Bedürfnissen<br />

der Bevölkerung, nicht genügen könnten.<br />

Nein, es ist a l l e s in Überfluss vorhanden, wenn<br />

nicht die Herren Agrarier <strong>und</strong> Kapitalisten alles<br />

wohl monopolisiert hielten <strong>und</strong> durch die Institutionen<br />

des Privateigentums nach Belieben <strong>und</strong> Bedürfnis<br />

die Preise in die Höhe schrauben könnten.<br />

D a g e g e n hilft kein ödes Parlamentsgeschwätz,<br />

keine demagogenhafte Demonstration, die<br />

den Wahn aufrecht erhalten sollte, als ob die Regierung<br />

helfen würde, wenn eine Abstimmung zu<br />

Gunsten der Socialdemokratie ausfiele, als ob ein<br />

Parlament, das doch auch vom Volksreichtum zehrt<br />

<strong>und</strong> schmarotzerhaft lebt, helfen k ö n n t e . Es erhebt<br />

sich vielmehr die folgende grimme Frage, die<br />

auch das Teuerungsproblem in ein ganz anderes<br />

Licht rückt: h a b e n d i e ö s t e r r e i c h i s c h e n<br />

A r b e i t e r i h r e L ö h n e p r o p o r t i o n e l l m i t<br />

d e r T e u e r u n g s t e i g e n l a s s e n k ö n n e n ?<br />

Waren sie mächtig genug, die zu bewirken? Besässen<br />

sie diese wirtschaftliche Macht — was wäre<br />

da schliesslich an der Teuerung gelegen, die ja unvermeidlich<br />

ist innerhalb der heutigen Gesellschaft.<br />

An einzelnen Orten Österreichs, in Gablonz,<br />

im ganzen Isertal, in Nachod, Triest sind grosse<br />

wirtschaftliche Aktionen ausgebrochen, die die dortigen<br />

Arbeiter unternahmen. Würden sich die Wiener<br />

Arbeiter weniger um Parlamentsgeschwätz<br />

bekümmern, die Herren socialdemokratischen Abgeordneten<br />

in Reih <strong>und</strong> Glied mit den Arbeitern um<br />

Lohnsteigerungen kämpfen, zu diesem Zwecke ein<br />

Generalstreik erklärt werden — sowohl die reaktionären<br />

Parteien, wie auch die Regierung würden<br />

der Teuerung bald abhelfen, <strong>und</strong> die Wiener Arbeiter,<br />

die Proletarier Österreichs, würden aufhören,<br />

in dem Grade zu hungern, wie sie es jetzt tun. —<br />

Nicht nur die Teuerung, auch der Parlamentarismus<br />

<strong>und</strong> sein Wahlrecht lassen sie hungern!<br />

Mähren.<br />

Die Socialdemokraten sind rasch dabei, die<br />

Schurkereien der Christlichsocialen <strong>und</strong> anderer<br />

Parteien aufzudecken; doch vor denjenigen in den<br />

eigenen Reihen wird Halt gemacht <strong>und</strong> über sie der<br />

Mantel christlicher Nächstenliebe gebreitet.<br />

Sekanina, ein socialdemokratischer Krankenkassenbeamte<br />

in Brünn, ist, laut den „Hornické<br />

Listy“ e i n D e t e k t i v geworden; nicht ohne dass<br />

er vordem das kleine Malheur hatte, über r<strong>und</strong><br />

500 Kronen Manko keinen Aufschluss erteilen zu<br />

können. —<br />

Es wäre ejn Unrecht, von diesem Einzelfall<br />

auf die gesamte Socialdemokratie, in der sich viele<br />

ehrliche, wenn auch verführte Arbeiter befinden,<br />

schliessen zu wollen. Doch warum tun solches die<br />

Socialdemokraten uns, den Anarchisten, gegenüber?<br />

Ungarn.<br />

Vor einigen Wochen wurde gemeldet, dass<br />

man in Grosswardein in der Nähe der Kasernen<br />

a n t i m i l i t a r i s t i s c h e P l a k a t e angeschlagen<br />

hat. — —<br />

Mit Rücksicht auf die Gefahr, dass die militärfeindlichen<br />

<strong>und</strong> socialistischen Ideen Eingang in<br />

die Armee finden könnten, hat der Kriegsminister<br />

an das Grosswardeiner Stationskommando <strong>und</strong> Korpskommando<br />

in Temesvar, aller Wahrscheinlichkeit<br />

nach auch an die übrigen Kommanden, einen Erlass<br />

gerichtet, in dem er diesen Kommanden aufträgt,<br />

die Mannschaft zu beobachten <strong>und</strong> jeden Versuch,<br />

in der Armee den Socialismus zu verbreiten, im<br />

Keime zu ersticken. Die Wehrkraft der Monarchie<br />

erfordere, dass die Armee aus wohldisziplinierten<br />

<strong>und</strong> begeisterten Soldaten bestehe. Aus diesem<br />

Gr<strong>und</strong>e sei die Verbreitung des Socialismus energisch<br />

zu verhindern <strong>und</strong> von Fall zu Fall der militärischen<br />

Oberbehörde Bericht zu erstatten.<br />

Ob diese Verfügungen etwas helfen werden<br />

oder überhaupt können, ist allerdings eine Frage,<br />

deren Beantwortung strikt v e r n e i n e n d lauten<br />

muss. Denn der Antimilitarismus ensteht aus dem<br />

System der disciplinaren Knechtung, das das Gr<strong>und</strong>prinzip<br />

eines jeden Militarismus — auch jenem der<br />

Socialdemokraten, das vielgerühmte Volksheer —<br />

bildet. Jede Ursache hat ihre logische Wirkung<br />

<strong>und</strong> so wird der Antimilitarismus gerade dadurch<br />

im Heer an Boden gewinnen, dass man die<br />

propagandistischen Elemente dieser Idee als Soldaten<br />

staatlicherseits selbst dem Heere, der Kaserne<br />

zuführt. Notwendigerweise wird der Antimilitarismus<br />

um sich greifen — die Vorbedingungen für die Entwicklung<br />

dieser Idee <strong>und</strong> Propaganda bietet der<br />

Militarismus in Hülle <strong>und</strong> Fülle! Hat es sich übrigens<br />

historisch nicht längst bewährt, dass die erbittertsten<br />

Feinde der Kirche aus ihrem Schosse<br />

hervorgingen? Es wird in gewisser Beziehung ähnlich<br />

sein mit dem Antimilitarismus I<br />

Schweden.<br />

E i n a r H a k a n s s o n , einer der bravsten<br />

unserer Genossen im Jugendb<strong>und</strong> zu Stockholm, ist<br />

der Proletarierkrankheit erlegen. Obwohl erst 24<br />

Jahre alt, war er doch schon mehrfacher Alitarbeiter<br />

unserer Blätter <strong>und</strong> besonders tätig für die Ideen<br />

des Antimilitarismus unter der schwedischen Jugend.<br />

Belgien.<br />

Nach einem Aufsatz von Paul Sosset in der<br />

„Societe Nouvelle“ haben sich die belgischen Jugendorganisationen<br />

nun definitiv von der Socialdemokratie<br />

losgetrennt <strong>und</strong> in prinzipiellem Einvernehmen<br />

mit den Herveschen Prinzipien des Antimilitarismus<br />

erklärt.<br />

Wir wünschen unseren jungen Kameraden<br />

Glück zu diesem Schritt. Es ist der erste <strong>und</strong> konsequenteste,<br />

der sie zur Weltanschauung des Anarchismus<br />

bringen wird.<br />

* * *<br />

Ist auch dies „politischer Klassenkampf ?“<br />

Wir entnehmen dem Blatte „Penple“, dass der<br />

Antwerpener socialdemokratische Abgeordnete Terwagne<br />

heiss bemüht <strong>und</strong> bestrebt war, im Abgeordnetenhaus<br />

einen Vorschlag durchzubringen, der der<br />

Prinzessin Luise von Belgien eine Summe von<br />

40.000 Frc. gewähren sollte, um zu verhindern, dass<br />

der Verkauf der Juwelen der verstorbenen Königin<br />

Henriette stattfindet.<br />

Eine ideale Erringung der politischen Macht<br />

durch die Socialdemokratie . . .


Rumänien.<br />

Wenig wird im Ausland bekannt über die socialpolitischen<br />

Vorgänge dieses Landes.<br />

Bekanntlich erhob sich das niedergetretene,<br />

ausgebeutete Bauerntum <strong>und</strong> verlangte seine Existenzrechte<br />

unangetastet zu sehen. Wir wissen, wie<br />

blutig dieser Aufstand niedergemetzelt wurde.<br />

Wichtig ist es aber, den inneren Mechanismus<br />

dieser ganzen Unterdrückungspolitik kennen zu lernen,<br />

die bis heute andauert. Es war damals die<br />

konservative Partei am Ruder. Doch sie wollte das<br />

Odium des Regierungstreibens nicht auf sich lasten<br />

lassen, trat zurück <strong>und</strong> räumte der l i b e r a l e n<br />

Partei ihren Platz ein.<br />

Im Ministerium dieser Partei befanden sich<br />

neben den üblichen Liberalen z w e i Demokraten<br />

<strong>und</strong> auch ein ehemaliger Führer der rumänischen,<br />

socialdemokratischen Partei. Die Konservativen<br />

hatten staatsmännisch weise gehandelt, zurückzutreten,<br />

denn das „liberale“ Ministerium leistete eine<br />

Arbeit, die nicht allein sie, sondern die Erwartungen<br />

des gesamten Bojarentums übertraf . . . R<strong>und</strong> 11.000<br />

Bauern mit ihren Frauen <strong>und</strong> Kindern wurden entweder<br />

getötet oder total ruiniert.<br />

Auch sonst wüteten die Liberalen vortrefflich.<br />

Versammlungen wurden verboten, Zeitungen, obwohl<br />

die Zensur gesetzlich nicht mehr zulässig ist —<br />

einfach unterdrückt <strong>und</strong> H<strong>und</strong>erte Arbeiter in die<br />

Gefängnisse geworfen. Interessant ist auch zu wissen,<br />

dass die Herren der Regierung ihre eigenen Gesetze<br />

in geradezu schauderhafter Weise brachen: da man<br />

Rumänen doch nicht „ausweisen“ kann, wurden<br />

unsere rumänischen Genossen heimlich, in Nacht<br />

<strong>und</strong> Nebel über die Grenze geschafft <strong>und</strong> ihnen die<br />

Rückkehr einfach verboten.<br />

Ein Glück, dass alle diese Schläge es nicht<br />

vermochten, den Geist der Freiheit zu bannen; gerade<br />

jetzt beginnt es wieder, sich hoffnungsvoll zu<br />

regen. No.<br />

Triest.<br />

Einer idealen Pressfreiheit erfreut sich hier<br />

jnser Bruderblatt „Germinal“, das die italienischen<br />

Kameraden publizieren. Fast jede Nummer verfällt<br />

zum grössten Teil dem Stifte des gestrengen Herrn<br />

Zensoren. W a s er wohl damit bezwecken mag?<br />

Gelesen wird das Ganze doch <strong>und</strong> gerade darum —<br />

verbotene Flüchte schmecken stets besser . . .<br />

Frankreich.<br />

Die Herren Clemencean, Briand, Viviani, Pi-<br />

Huard sind die besten Vorkämpfer für den Anarchismus.<br />

Sie liefern die Lehren <strong>und</strong> Beweise über die Korrumpierung<br />

des Charakters durch die politische Machtausübung.<br />

Um dieser Korruption tatkräftig entgegentreten<br />

zu können, hat sich in Paris eine neue, schon sehr<br />

zahlreiche Liga gebildet, die Gruppe der »Meinungsfreiheit“,<br />

die in ihrem Manifest in unzweideutigen<br />

Ausdrücken k<strong>und</strong> tut, Gewaltsübergriffen der Regierung<br />

die Gerechtigkeitsprinzipien des Volkes entgegen<br />

setzen zu wollen.<br />

<strong>Unser</strong> französisches Bruderorgan „Libertaire“<br />

feierte jüngst seinen 14jährigen Geburtstag. Es war<br />

ein Tag fröhlicher Gedanken, trozdem gerade jetzt<br />

die französische Regierung, durch die unrechtmässige<br />

Inhaftierung des redaktionellen Genossen Louis Matha,<br />

zu einem mächtigen Schlage wider das Blatt ausholtl.<br />

Doch die Tatsache, dass dies n i c h t die e r s t e<br />

heimtückische Verfolgung ist, die unser Mitkämpfer<br />

„Libertaire“ überstand, lässt uns mit ihm frohgemut<br />

in die Zukunft blicken. Trotz alledem! (Nachtrag:<br />

Matha ist mittlerweile freigesprochen worden).<br />

Trotzdem diese Frechheit einen Sturm der öffentlichen<br />

Empörung hervorrief, als sie sich letztes Jahr<br />

zum ersten Male ereignete, haben die französischen<br />

Herren Abgeordneten die Frechheit wiederholt <strong>und</strong><br />

sich in den letzten Tagen abermals 15.000 Franken<br />

(1 Fr. = 94 h ö. W.) als Jahresgehalt votiert, s e l b s t<br />

votiert. Und an diesem Stück direkter Aktion des<br />

Parlamentarismus beteiligten sich auch einstimmig<br />

dafür die Herren Socialdemokraten.<br />

Bisher hatten die französischen Abgeordneten<br />

„nur“ 9000 Frks. pro Jahr. Das wurde ihnen zu<br />

wenig, <strong>und</strong> so votierten sie sich kurzerhand eine<br />

Gehaltszulage von nicht weniger als gleich 6000 Frks.<br />

auf einmal. Das haben sie nun für das kommende<br />

Jahr wieder votiert.<br />

Herve, der mutige socialistische Antimilitarist,<br />

empört sich in einem Artikel seines Blattes „Der<br />

sociale Krieg“ dagegen <strong>und</strong> protestierte ganz besonders<br />

gegen die französischen Socialdemokraten.<br />

Er vergisst, dass bei diesen Herren die Expropriation<br />

des Kapitalismus längst schon da anhebt,<br />

wo die Lösung der sozialen Frage für die Abgeordneten<br />

in Betracht kommt. Die Löhne des Proletariats<br />

können sie nicht steigern, dafür aber ihre<br />

eigenen!<br />

Die Genossen von ganz Nordfrankreich haben<br />

für den 15. Dezember einen Kongress einberufen.<br />

Derselbe stellte folgende Punkte auf die Tagesordnung<br />

U. a.: 1. Anschaffung einer eigenen,<br />

kommunistisch-anarchistischen Di uckerei <strong>und</strong> eines<br />

Verlags. 2. Über anarchistische Erziehungsmethoden.<br />

3. Begründung einer Förderativorganisation der<br />

nordfranzösischen Genossen. 4. Die Anarchisten <strong>und</strong><br />

die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung.<br />

Auf eine originelle Idee verfiel unser franzözischer<br />

Genosse Andrienx, Mitglied der Konföderation<br />

der Arbeit. Bekanntlich ist die Herstellung von Cigarien<br />

<strong>und</strong> Cigaretten Staatsmonopol in Frankreich;<br />

nicht aber — glücklicherweise — auch schon die<br />

Herstellung von P a p i e r . Um nun wenigstens i n<br />

d i e s e r m ö g l i c h e n Weise den Staat mittels<br />

der Kaufkraft des Proletariats zu bekämpfen, setzte<br />

sich obiger Genosse ins Einvernehmen mit Kameraden<br />

der Papierindustrie <strong>und</strong> sie erzeugten gemeinsam<br />

eine Qualität C i g a r e t t e n p a p i e r , das an<br />

Güte b e s s e r , aber auch b i l l i g e r als jenes des<br />

Staates ist <strong>und</strong> dessen schöne Aufschriften: „Arb<br />

e i t e r , u m e u c h z u b e f r e i e n , m ü s s t i h r<br />

e u c h o r g a n i s i e r e n ! “ „ K r a f t , S o l i d a r i ­<br />

t ä t , E i n i g k e i t ! “ etc., Zeugnis ablegen für den<br />

propagandistischen Eifer der Produzenten, Zudem<br />

wurde beschlossen, von allen 8 Frk., die eingenommen<br />

wurden, 2 Frk. davon der Kasse der<br />

„Konföderation“ zuzuwenden.<br />

Es ist kein Zweifel vorhanden, dass diese<br />

Boykottierung des Staates a u f d i e s e m G e b i e t e<br />

von den französischen Syndikalisten in vollem Masse<br />

durchgeführt werden, der Staat jährlich Tausende<br />

von Franks Einnahmen verlieren wird. Und handelt<br />

es sich in diesem Falle auch nur um eine, relativ<br />

gesprochen, kleinere Sache, so sagen wir doch:<br />

W i e v i e l I n t e l l i g e n z , I n i t i a t i v e u n d<br />

T a t k r a f t l i e g t i n d i e s e r „ d i r e k t e n<br />

A k t i o n “ e i n i g e r P r o l e t a r i e r !<br />

Russland.<br />

Die dritte Duma ist zusammengetreten. Und<br />

durch die Wahl von schalen Oktobristen <strong>und</strong> kräftigen<br />

Echtrussen ins Präsidium hat sie die ihr vorangegangenen<br />

Befürchtungen übertroffen <strong>und</strong> sich<br />

den <strong>Weg</strong> vorgezeichnet.<br />

An dem trüben Novembermorgen, als solches<br />

geschah — welch ein Gegensatz in allem zu den<br />

beiden ersten Dumen! — hatte die' Regierung alles<br />

aufgeboten, um Ehrungen <strong>und</strong> Auschreitungen vorzubeugen:<br />

der Platz vor dem Dumagebäude, dem<br />

Taurischen Palast <strong>und</strong> die anstossenden Strassen<br />

waren von grossen Mengen, Polizei, Gendarmerie<br />

<strong>und</strong> Spitzeln besetzt, die jede Zusammenrottung<br />

verhindern sollten. Die naive Macht, die sich selbst<br />

kontrolliert <strong>und</strong> selbst verhöhnt! Oder sollte das<br />

nur die Unschuld markieren <strong>und</strong> das bösse Gewissen<br />

maskieren? Als wenn sie nicht gewusst hätte, dass<br />

das Volk sich nicht für diese Volksererwählten ihre<br />

Auffahrt <strong>und</strong> ihr Kasperltheater oder Katz- <strong>und</strong><br />

Mausspiel in der Trödelbude interessiert?<br />

Alle die schreitenden <strong>und</strong> reitenden Truppen<br />

hatten nur einige Gymnasiasten, Sonnenbrüder <strong>und</strong><br />

zufällige neugierige Passanten zu beobachten. Auf<br />

die Echtrussen warteten keine Deputationen mit<br />

Kirchen- <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esfahnen <strong>und</strong> die wenigen Mitglieder<br />

der linken Opposition schlichen sich, wie<br />

Schatten, unbemerkt in das Heiligtum der Stagnation.<br />

Sie waren nur geduldet <strong>und</strong> machten der Ehre<br />

oder der Schande halber mit — anlocken konnte<br />

das Schauspiel niemand, am wenigsten das Volk,<br />

das diese gleissnerische Übertölpelung, dieses höhnische<br />

Schindluderspiel herausfühlte.<br />

Freilich wo nur irgend eine schmale Lücke<br />

gelassen worden war, sicherte die unverfälschte<br />

Volksstimmung — nicht die der satten Oktoberschichten<br />

— durch <strong>und</strong> wusste sich trotz aller<br />

Stopfungen, Verschalungen <strong>und</strong> Klappen zur Geltung<br />

zu bringen. Und in der Duma selbst geht unaufhörlich<br />

ein Zerfall-Process vor sich, der nicht<br />

wenig Elemente als nur vorläufig rechtsstehende<br />

ausscheidet <strong>und</strong> in die Reihen des .Umsturzes“<br />

schiebt — ganz wie bei gewissen elektrischen<br />

Strömungen, wo die Teilchen fortgerissen, auf die<br />

andere Seite hinüberfliegen.<br />

Selbst unter den „Deutschen Fahnen“ hat sich<br />

eine Regung der Kritik, ein leises Windchen des<br />

bösen Unwillens fühlbar gemacht, unter diesen<br />

würdelosen Deutschen, die in früheren Jahrh<strong>und</strong>erten<br />

jedem Tyrannen die Lanzknechte <strong>und</strong> die Schweizer<br />

— in Hessen sogar Schlachtvieh für Amerika, nicht<br />

nur Häute für den Markt lieferten <strong>und</strong> in deutscher<br />

Treue ihren angestammten Herren halfen, Deutschland<br />

zersplittert auseinanderzuhalten <strong>und</strong> hier die schwammigen<br />

Oktobristen <strong>und</strong> allen Ehrgefühls baren<br />

Echtrussen geben. Es ist grosse Nachfrage nach<br />

solcher Ware, <strong>und</strong> sie wird gut bezahlt mit mancherlei<br />

Münze.<br />

Hauptsächlich schon mit der des guten Gewissens,<br />

dem Bewusstsein erfüllter Pflicht <strong>und</strong><br />

Schuldigkeit <strong>und</strong> des Verdienstes um die Menschheil<br />

<strong>und</strong> Kultur. Ach, sie sind ja wieder alle auf ihrer<br />

alten ehrwürdigen einnehmenden Positionen aufgefahren,<br />

dem Feind zum Schreck, dem Bürger zui<br />

Beruhigung, die alten bewählten Agressiv- <strong>und</strong><br />

Defensiv - Waffen, angefangen mit dem grosser<br />

Haupt- <strong>und</strong> Zentral - Drehpanzertum, Gott, dei<br />

zugleich als Tausendpfünder wirken kann — sie sind<br />

alle da: das V a t e r l a n d , der S t a a t , das G e s e t z ,<br />

die K u l t u r , die W o h l f a h r t , der M e n s c h e n ­<br />

v e r s t a n d <strong>und</strong> das Gefühl, Wahrheit, Sittlichkeit,<br />

Liebe <strong>und</strong> Gerechtigkeit bis auf den Anstand dei<br />

Brauergehilfengilde in Hinterpoten, alle, in deren<br />

Namen man Menschen zwingt, als Droh-, Schutzes<br />

Lockpopanze der ehrbaren Seelen, die sich für<br />

die Heilheit ihrer Kaffeetöpfe begeistern 1 Sie alle<br />

wirken in christlichem Sinne auf etwaige Abtrünnige<br />

<strong>und</strong> Bedenkliche — linksschielende Beamte, evangeliumsfrohe<br />

Geistliche, der Disziplin entwischte Kosacken,<br />

falls die Fuchtel des väterlichen Vorgesetzten<br />

in Verbindung mit Freiwohnung <strong>und</strong> Freitisch solche<br />

unberechtigte <strong>und</strong> unberechnete Triebe nicht unterdrücken<br />

können sollte. Aber sie ist geübt <strong>und</strong> kann<br />

es meistens, denn auf etwas mehr oder weniger<br />

Druck <strong>und</strong> unverblümte Drohungen mit Massiegelungen<br />

kommt es ihnen nicht an.<br />

Sie vergessen nur, dass nur Narren stürmische<br />

Meere peitschen, <strong>und</strong> dass man kein gutes Wetter<br />

macht, wenn man den Laubfrosch im Wetterglas auf<br />

der obersten Leiterstufe festbindet. Oder nur für<br />

wirkliche Toren <strong>und</strong> angebliche Blinde. Das Volk<br />

lässt sich nichts weiss machen, es lächelt in seinen<br />

Bart. Wie viele haben nicht wählen wollen oder<br />

haben aufs Geratewohl gewählt, wie viele haben<br />

ängstlich schwache Elemente abgeschoben oder<br />

bewusst den Boykott erklärt. Diesem Mummenschanz<br />

— die Duma! T. H.<br />

B R I E F K A S T E N .<br />

Landau. Ihr Artikel ist gut; erscheint in<br />

Nr. 2. Immer we.ter so <strong>und</strong> rüstig arbeiten/<br />

Fr. Prisch, Graz. In seinem Auftrage übermittle<br />

ich Ihnen hierdurch die Grüsse des Fre<strong>und</strong>es<br />

Theo. H.<br />

Schoteten <strong>und</strong> S e r g e j e w . Famos! Deine<br />

Arbeitstüchtigkeit für die Bewegung ist unser aller<br />

Nachahmung würdig. Brüdergrüsse Euch Allen.<br />

S t e r n b e r k . Dank für Brief. Mitteilungen, werden<br />

verwendet in Nr. 2. Neuigkeiten <strong>und</strong> Berichte<br />

sind stets <strong>und</strong> auch in Zukunft willkommen. Gruss!<br />

An die Genossen in Ö s t e r r e i c h - U n g a r n <strong>und</strong><br />

im A u s l a n d ! Wir ersuchen, uns sämtliche Bewegungsereignisse<br />

von öffentlichen Interessen, die Abhaltung<br />

von Versammlungen <strong>und</strong> deren Verlauf, in<br />

knapper aber auch klarer Form, stets <strong>und</strong> unverzüglich<br />

mitzuteilen. Die R e d a k t i o n .<br />

G e n o s s e n ! Verkehrt nur in jenen<br />

Lokalen, in denen der „W. f. A.“, aufliegt.<br />

Werbt unermüdlich neue Abonnenten<br />

<strong>und</strong> verbreitet Euer Blatt!<br />

Vereinskalender.<br />

Allgemeine G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n von<br />

Niederösterreich. Versammlungen finden jeden<br />

Sonntag abends statt, um 7 Uhr im VI. Bez. Einsiedlerg.<br />

60. Adresse des Obmanns: Wenzel H o r a z e k , V.<br />

Kohlg. 21. Wien.<br />

Wir legen es allen nach Aufklärung <strong>und</strong> gewerkschaftlicher<br />

Aktivität strebenden Albeitern ans Herz,<br />

sich dieser revolutionär socialistisch empfindenden<br />

Gruppierung von Gewerkschaftlern anzuschliessen.<br />

S a m s t a g 8 U h r :<br />

Bildungsverein „POKROK“ (Fortschrift).<br />

XIV. H ü t t e l d o r f e r s t r a s se 33.<br />

M o n t a g 8 U h r :<br />

Schuhmachergewerkschaft<br />

XIV. H ü t t e l d o r f e r s t r a s s e 33.<br />

S o n n t a g 9 Uhr v o r m . : Z u s a m m e n k u n f t<br />

Föderation der Bauarbeiter<br />

X. Bezirk W i e l a n d p l a t z Nr. 1.<br />

S a m s t a g 8 Uhr A . - Z u s .<br />

Bildungsverein „ROVNOST“ (Gleichheit).<br />

X. E u g e n g a s s e 9.<br />

S o n n t a g 4 Uhr N a c h m . : Zus.<br />

Allgemeine Gewerkschafts-Föderation<br />

V. E i n s i e d l e r g a s s e 60.<br />

Diskussionen <strong>und</strong> Vorlesungen.


Wie Pantagruel einen äusserst<br />

schwierigen Rechtsstreit<br />

schlichtete.<br />

V o n F r a n c o i s R a b e l a i s .<br />

Wir entnehmen diese glänzende Satire auf<br />

unsere bis heute gänzlich unverändert gebliebenen<br />

Justiz- <strong>und</strong> Rechtsstreitigkeiten dem zur Zeit in<br />

erster wirklich einwandfreier deutscher Übersetzung<br />

erschienenen Werke „DES FRANCOIS RABELAIS<br />

PANTAGRUEL", verdeutscht von Engelbert Hegaur<br />

<strong>und</strong> Dr. Owlglass. Das, was wir ihm entnehnen,<br />

ist nur ein einziges seiner unzähligen Gedankenjuwele,<br />

<strong>und</strong> unsere Wiedergabe geschieht<br />

hauptsächlich deshalb, um unseren Leserkreis zur<br />

Anschaffunch dieses Buches anzuregen. Verlegt<br />

ist dasselbe bei Albert Langen (München 1907),<br />

der sich durch diese deutsche Wiedergabe eines<br />

der ältesten Anarchisten ein wahres Verdienst erwarb.<br />

Die Red.<br />

Pantagruel war im Herzen den Ermahnungen<br />

seines Vaters eingedenk <strong>und</strong> trachtete<br />

danach, seine Kenntnisse auf die Probe zu<br />

stellen. Liess also = eines Tages an allen<br />

Strassenecken 9764 T h e s e n anschlagen, so<br />

die tüfteligsten <strong>und</strong> zweifelhaftesten Punkte<br />

sämtlicher Wissenschaften betrafen. Erstlich<br />

disputierte er in den Strohgassen wider alle<br />

Professoren, Philosophen <strong>und</strong> Rhetoren <strong>und</strong><br />

setzte sie blankweg ärschlings. Dann hielt<br />

er seine Sentenzen in der Sorbonne gegen<br />

die ganze Theologenfakultät sieben Wochen<br />

hindurch von 4 Uhr morgens bis 6 Uhr abends<br />

mit 2 St<strong>und</strong>en Essenspause, um besorgte<br />

Sorbonnisten nicht um ihren gewohnten Mittagsschoppen<br />

zu bringen.<br />

Sie stellten sich wacker auf die Hinterfüsse,<br />

aber all ihrer Siebengescheitheit ungeachtet<br />

liess er sie weidlich abfahlen <strong>und</strong><br />

machte offenk<strong>und</strong>ig, dass der Doktorhut ihre<br />

Eselsohren nur notdürftig verhehle. Da ging<br />

der Ruf von seiner meistermässigen Weisheit<br />

in der ganzen Stadt um, dass selbst die Waschfrauen,<br />

Höckerweiber, Garköche u. Scherenschleifer<br />

mit dem Finger auf ihn deuteten u.<br />

tuschelten: „Das ist er", was ihm indes nicht<br />

unlieb war.<br />

Damals nun schwebte ein Prozess zwischen<br />

2 Edelleuten, von denen als Kläger<br />

Herr von Hintenküss auftrat <strong>und</strong> Herr von<br />

Windloch als Beklagter. Aber der Fall war<br />

dermassen verknuggelt <strong>und</strong> diffizil, dass das<br />

Tribunal nicht mehr davon verstand als eine<br />

Kuh vom Brezelbacken. Die gerühmtesten <strong>und</strong><br />

dickbäuchigsten Rechtsgelehrten von Frankreich,<br />

England <strong>und</strong> Italien hatten in 47 W o ­<br />

chen kein Bröselein von dem Streit aufknacken<br />

mögen, worüber sie also desparat<br />

wurden, dass sie sich aus Ärger schmählich<br />

beschissen.<br />

Als sie eines Tages ihre Hirne wieder<br />

vergeblich zermartert <strong>und</strong> verphilogrobolisiert<br />

hatten, wurden sie eins, nach Pantagruel zu<br />

schicken, der durch seine Disputation so b e ­<br />

rühmt worden war, damit er den Prozess<br />

kläre, entwirre <strong>und</strong> nach gutem Juristenbrauch<br />

<strong>und</strong> bestem Vermögen schlichte. Zu dem Ende<br />

überlieferten sie ihm alle Akten <strong>und</strong> Schriftstücke,<br />

wovon 4 starke Sodenesel zu schleppen<br />

hatten.<br />

Aber Pantagruel fragte: „Ihr Herren, die<br />

zwei Prozessierer leben doch noch ?" —<br />

„Jawohl." — Was, zum Teufel, soll ich also<br />

mit den Papierstössen <strong>und</strong> Schmiralien?<br />

Wär's nicht das Gescheiteste, die beiden in<br />

eigener Person zu vernehmen? Wozu die<br />

Nase in dieses Gekleckse von Kniffen, Umwegen<br />

<strong>und</strong> Rechtsbiegungen stecken? Sicherlich<br />

hat ein jeder von Euch alles erdenkliche<br />

pro <strong>und</strong> contra hineingestopft <strong>und</strong> den<br />

Fall nicht schlichter, sondern blos verzwickter<br />

gemacht, mit seinen überklugen Schlüssen<br />

<strong>und</strong> Zitaten aus allen möglichen Kommentatoren.<br />

Wie hätt' einer von diesen Glossenreissern<br />

die Pandekten lesen können, die im<br />

zierlichsten Latein abgefasst sind, da sie selber<br />

das erbärmlichste Küchen- <strong>und</strong> Kaminfegerlatein<br />

schreiben? Wie hätt' solch ein<br />

blöder Narr die vernunftgemässen Gr<strong>und</strong>lagen<br />

aller Rechtsgelehrtheit verstanden, da<br />

er so wenig von Philosophie im Leib hat<br />

als mein Maulesel? Und gründen sich doch<br />

alle Gesetze auf die Natur- <strong>und</strong> Moralphilo-


sophie! So es also euer Wille ist, dass ich<br />

mich dieses Prozesses .annehme, schmeisst<br />

mir all diese Faszikel ins Feuer, <strong>und</strong> dann<br />

lasst mir die 2 Edeln vorführen. Erst wenn<br />

ich sie vernommen habe, kann ich euch ehrlich<br />

unumw<strong>und</strong>en Bescheid geben".<br />

Also wurden die Papiere, Register,<br />

Aufnahmen, Protokolle, Repliken, Dupliken,<br />

Reserve <strong>und</strong> Kopien verbrannt <strong>und</strong> Kläger<br />

<strong>und</strong> Beklagter in Persona vorgeladen.<br />

Da fragte sie Pantagruel: „Ihr also führet<br />

diesen grossen Prozess wider einander?" —<br />

„Ja", sprachen sie. — „Wer von euch ist<br />

der Kläger?" — „Der bin ich", versetzte<br />

Herr v. Hintenküss. — Also berichtet mir<br />

Punkt für Punkt euer Gutliegen, ganz dem<br />

Sachverhalt gemäss. Denn potzsapperment,<br />

wenn ihr nur mit einem Worte flunkert, reiss<br />

ich Euch den Kopf vom Hals, damit ihr<br />

merket, dass man vor Gericht der Wahrheit<br />

die Ehre gibt; lasset nichts aus, fügt nichts<br />

hinzu <strong>und</strong> beginnet jetzo!"<br />

* *<br />

*<br />

Da tat der v. Hintenküss seinen M<strong>und</strong><br />

auf: „Werter Herr, es ist nicht gelogen, eine<br />

Frau, die bei mir bedienstet ist, trug Eier<br />

auf den M a r k t . . . "<br />

„Bedeckt Euch, Hintenküss", sprach Pantagruel.<br />

„Schönen Dank. Aber mit eins gerät sie<br />

um sechs Batzen zwischen die zwei W e n d e ­<br />

kreise gegen den Zenith hin, um so mehr,<br />

als die Gebirge in dem Jahr sehr karg an<br />

Vogelherden waren, zufolge eines Aufruhres<br />

bei den Firlefranzen, just am ersten Loch im<br />

Jahr, wo man den Ochsen die Suppe aufschüttet,<br />

damit die H<strong>und</strong>e ihr Heu haben.<br />

Indessen die Ärzte meinten, sie könnten an<br />

ihrem Harn nichts Bedenkliches erk<strong>und</strong>en, dafern<br />

nicht die Obrigkeit in B-moll verfügte,<br />

dass die Pocken nicht hinter den Kesselflickern<br />

herzupfen dürfen. Aber ihr Herren,<br />

der Mensch denkt, Gott lenkt, <strong>und</strong> ein Fuhrmann<br />

brach kuhfellig seinen Peitschenstiel".<br />

Da nickte Pantagruel: „Recht schön, recht<br />

schön, lieber Fre<strong>und</strong>; sprecht immerzu, aber<br />

ohne Hast <strong>und</strong> Jast. Ich verstehe den Fall.<br />

Fahret nur so fort.<br />

„Wahrlich", sprach Herr v. Hintenküss<br />

hinwieder, nicht umsonst heisst es, ein G e ­<br />

scheiter wiegt zweie auf. Besagte Frau, die<br />

bei mir bedienstet ist, seufzte ein Stossgebetlein<br />

<strong>und</strong> konnte sich mit der falschen Seite<br />

nicht zudecken, wonach ein eiserner Stockdegen<br />

auf sie knallte, dort wo man die alten<br />

Tücher feil hält, mit denen man die aiten<br />

Grillen beschuhnagelt . . ."<br />

Hier wollte der Herr v. Windloch einen<br />

Einwand erheben, aber Pantagruel fuhr ihm<br />

über den Schnabel: „Heiliger Kühlian, wer<br />

gibt dir Erlaubnis zu sprechen ? Ich schwitze<br />

hier vor Mühsal, den Ausführungen des Gegenparts<br />

zu folgen, <strong>und</strong> du bringst mich<br />

schön aus dem Konzepto! Halt's Maul, zum<br />

Teufel! Du redest dein Schnipfel, wenn<br />

der hier fertig ist. — Fahret fort, Herr von<br />

Hintenküss, <strong>und</strong> überstürzet Euch mit nichten."<br />

„Es bleibt zu erwägen", redete dieser<br />

weiter,<br />

„In der pragmatischen Sanktion<br />

Steht davon nicht die blaue Bohn<br />

<strong>und</strong> der Pabst gab jedweden Urlaub, nach<br />

Belieben zu furzen, wenn es die Unterlage<br />

nicht bräunte, womit auch übereinstimmt,<br />

dass besagte Frau sich das Steissbein krumm<br />

trat. Trotzdem riet ihr Hans Kalb, ihr<br />

Siebensippensuppenvetter, das Brimborium<br />

nicht zu waschen, sie hätte denn zuvor das<br />

Papier angezündet. Solches verursachte die<br />

üble Mär. Ich glaub' auch dem Gegenteil in<br />

sacer verbo dotis. Dann nach des Königs<br />

Befehl hatt' ich mich vom Scheitel zur Zeh<br />

mit einem Bauchpflaster gewappnet, um zu<br />

beobachten wie meine Herbstler die Puppen<br />

tanzen Hessen. Auf Gr<strong>und</strong> all dieser Fakta<br />

beanspruch' <strong>und</strong> heisch' ich hiemit mit Recht,<br />

dass Ihr, hochgepriesener Herr voll Überlegung<br />

sammt Kosten, Gebühren <strong>und</strong> Sportein<br />

sprechen sollt."<br />

Pantagruel fragte: „Werter Fre<strong>und</strong>, habt<br />

Ihr Euern Worten nichts mehr hinzuzufügen?"<br />

„Nein, Euer Gnaden, ich hab' den Tatbestand<br />

von A bis Z ohn' Umschweif festgelegt."<br />

— „So habet Ihr das Wort, Herr v.<br />

Windloch. Fasst Euch in Kürze, aber vergesst<br />

nichts von Belang."<br />

Herr von Windloch hub a n : Werte Anwesende,<br />

wenn das Unrecht so leicht erkannt<br />

würde als Mucken in der Milch, war' die<br />

Welt nicht so rattenzerfressen. Denn wenn<br />

auch jegliches, was mein Widerpart vorgebracht<br />

hat, in Bezug auf Silb' <strong>und</strong> Faktum<br />

von echtem Flaum ist, so sieht man doch<br />

das Knifftige <strong>und</strong> Zackige, <strong>und</strong> wo der Hase<br />

im Pfeffer liegt. Muss ich es nun hinnehmen,<br />

wenn ich meine Suppe auslöffle, (dass man<br />

mir die Ohren mit dem aiten Kindervers<br />

volldudelt:<br />

Wer zu der Suppe Wasser trinkt<br />

Spantrocken einst ins Grabloch sinkt?<br />

Aber wenn eine arme Person in die Badstube<br />

geht, um Winterschuhe zu kaufen,<br />

fleusst den Scharwächtern ein Klystier über


das Spektakulum! Allein wie Gott will, ich<br />

halt still, bei Nacht sind alle Katzen grau,<br />

<strong>und</strong> man braucht mir's nicht zu glauben, wenn<br />

ich's nicht bei T a g ans Licht zerre.<br />

Im Jahre 36 hatt' ich mir einen Stutzschwanz<br />

gekauft, der ganz echt in Garn g e ­<br />

färbt war, wie mir die Goldschmiede versicherten;<br />

aber trotzdem häkelte der Notar<br />

sein Etcätera daran. Ich bin nicht gewitzt<br />

genug, um den Mond bei den Hörnern zu<br />

packen, aber die Gelehrten sagen mir, es sei<br />

das Weiseste, des Sommers im Keller Tinte<br />

<strong>und</strong> Papier zu m ä h e n ; denn abgesehen davon,<br />

dass die Rüstung nach Knoblauch schmeckt,<br />

frisst der Rost die Leber an, was das Salz<br />

so teuer macht.<br />

Werte Anwesende, als besagte Frau den<br />

Vogel auf den Leim lockte, konnte man sich<br />

nicht besser vor den Kannibalen schützen,<br />

denn mit einem Band Zwiebeln als Rosenkranz<br />

in irgend einem Maulwurfsloch, wenn<br />

der Speck in Sicherheit war. Es steht ausser<br />

Zweifel, dass die vier fraglichen Ochsen ein<br />

sehr schwaches Gedächtnis hatten. Immerhin<br />

sagten meine Leute, wir kriegen den Fuchs,<br />

falls wir die Säge über die Windmühle<br />

schieben.<br />

Als er sich schriftlich mit ihm verständigt,<br />

Wurden die Kühe flugs ausgehändigt.<br />

Ward auch in einer martingalischen Akte<br />

festgesetzt, worauf ein hoher Gerichtshof<br />

Rücksicht nehmen muss. Tunc quid inris<br />

pro minoribus? Es ist Brauch nach salischem<br />

Recht, wenn man sich in der Mitternachtsmetten<br />

verkältet, die bretonischen Weissweine<br />

zu wippen, die alleweile das Bein stellen.<br />

Also schliess' ich wie mein Vorsprecher:<br />

samt Kosten Gebühren <strong>und</strong> Sportein!" Nach<br />

Beendigung dieser Rede fragte Pantagruel den<br />

Herrn v. Hintenküss: „Habt Ihr noch etwas<br />

zu erwidern?" Der aber entgegnete: „Nein,<br />

edler Herr; ich habe die Wahrheit gesagt;<br />

macht also um Gotteswillen unserm Zwiespalt<br />

ein Ende, denn es kostet uns hier ein<br />

Erkleckliches".<br />

* *<br />

*<br />

Nunmehr erhob sich Pantagruel, rief die<br />

Räte, Beisitzer <strong>und</strong> Justiziarien um sich her<br />

<strong>und</strong> sprach: „Ihr habt soeben, ehrenfeste<br />

Herren, den Fall gehört, um den wir tagen;<br />

was bedünkt euch jetzo?" Worauf sie erwiderten:<br />

„Wahrlich, wir haben ihm vernommen,<br />

aber keinen Pfifferling davon verstanden.<br />

Ersuchen Euch also una voce, dass<br />

ihr das Urteil fället, dem wir unweigerlich<br />

zustimmen <strong>und</strong> Rechtskraft verleihen wer-<br />

den". — „Wohlan denn", nickte Pantagruel;<br />

„doch befind ich den Fall nicht gar so<br />

schwierig, als ihr ihn hinstellt. Eure neu zusammengewurstelten<br />

Paragraphen, Codices,<br />

Erlässe, Gesetze, Edikte, Leges <strong>und</strong> Verfügungen<br />

wollen mir um vieles düsterer erscheinen".<br />

Mit dem Hess er sie stehen <strong>und</strong> schritt<br />

ein, zweimal in tiefem Sinnen durch den Saal,<br />

wobei er hörbar gluckste wie ein Esel, dem<br />

man den Gurt zu straff schnürt, denn er war<br />

sich wohl bewusst, dass er ohne Ansehen<br />

der Person Recht sprechen müsse. Setzte sich<br />

schliesslich wieder <strong>und</strong> verkündete folgenden<br />

Urteilsspruch:<br />

„In Anbetracht, Erwägung <strong>und</strong> Hinsicht<br />

des Rechtsstreits zwischen den Herrn von<br />

Hintenküss <strong>und</strong> von Windloch erkennt <strong>und</strong><br />

verfügt das Gericht, dass in Rechnung der<br />

Gänsehaut des stapfigen Zwerchfells, das dem<br />

Sommer-Solstitium abtrünnig ward, um für<br />

Hirngespinste zu schwärmen; in fernerer Erwägung<br />

des Eierstockes durch die männlichen<br />

Verhöhnungen seitens der lichtscheuen- Nachteulen,<br />

die im diarrömischen Klima eines reitenden<br />

Kruzifixes mit einer Armbrust am Ziegel<br />

inquilinieren: hatte der Kläger gerechten Gr<strong>und</strong>,<br />

das Schiff zu kalfatern, welches die benannte<br />

Frau halb barfuss, halb gestiefelt aufblus.<br />

Gleicherweis erkennt ihn das Gericht unschuldig<br />

an dem privilegierten Fall der Rotzklunker,<br />

die er von wegen seiner Verstopfung ergattert<br />

haben dürft infolge des Schnittes durch<br />

zwei dreckbalsamierte Fandschuhe mit einem<br />

Nusslicht, mästen er das Tau mit den Eisenkugeln<br />

loslies, weil die Spülvetteln seine Gemüse<br />

trotz der Falkenglocken auf's bestreitbarste<br />

rösteten.<br />

Allein in weiterer Erwägung, dass er dem<br />

Beklagten zuschiebt, er sei ein Bletzflicker,<br />

Käskauer <strong>und</strong> Mumienteer gewesen, was sich<br />

aber als wohlgeklüngelt verlogen erwiesen,<br />

wie es auch der genannte Beklagte mit Fug<br />

von sich abgewehrt hat: verurteilt ihn das<br />

Gericht zu 3 Mäs verstöpselter, gelbgestampfter<br />

<strong>und</strong> perlitanierter gedickter Süssmilch, die<br />

er ihm am Aschermittwoch im nächsten Mai<br />

auszahlen soll. Gegenseits ist besagter Angeklagter<br />

gehalten, Heu <strong>und</strong> Wergbündel zu<br />

schaffen, um die gutturalen Stiefelzieher zu<br />

verstopfen, so mit den wohl purgierten Kupazen<br />

rädelweis verhälftert sind. Und Fre<strong>und</strong>e<br />

sollen sie sein als ehbevor. Ohne Kosten <strong>und</strong><br />

Sportein. Von Rechts wegen!"<br />

Nach Fällung dieses Urteilsspruchs entfernten<br />

sich beide Parteien höchlichst befriedigt,<br />

was ein ganz unerhörtes Schauspiel war. Denn<br />

seit der Sintflut war es niemals vorgekommen


<strong>und</strong> wird sich in dreizehn Jubeljahren nicht<br />

wiederholen, dass zwei Prozesshänse über<br />

ein <strong>und</strong> dasselbe Urteil erfreut sind.<br />

W a s die Gerichtsräte <strong>und</strong> Doktoren anlangt,<br />

eija, so waren selbige länger denn drei<br />

St<strong>und</strong>en vor Staunen maulblöd; dann geriethen<br />

sie in Verzückungen ob Pantagruels Scharfsinnigkeit,<br />

die sie in diesem dornenvollen <strong>und</strong><br />

mühsamen Handel klärlich erschaut hatten.<br />

Sie stünden noch jetzt in ekstatischer Verw<strong>und</strong>ernis,<br />

hätte man sie nicht mit Essig gespritzt<br />

<strong>und</strong> mit Rosenwasser beträufelt <strong>und</strong><br />

dadurch ihre gewohnte Geistesnüchternheit<br />

zurückgerufen. Wofür Gott ganz besonders<br />

belobt <strong>und</strong> gepriesen sei!<br />

Revolution.<br />

„Es wird schon gehn!" ruft in den Lüften<br />

Die Lerche, die am frühsten wach;<br />

„Es wird schon gehn!" rollt in den Grüften<br />

Ein unterirdisch Wetter nach.<br />

„Es geht!" rauscht es in allen Bäumen,<br />

Und lieblich wie Schalmeienton:<br />

„Es geht schon I" hallt es in den Träumen<br />

Der fieberkranken Nation.<br />

Die Städte werden reg <strong>und</strong> munter,<br />

„Es geht!" erschallt's von Haus zu H a u s ;<br />

Schon steigt das Rufen in sie hinunter<br />

Und wählt sich seine Kinder aus.<br />

Die Morgensonne ruft: „Erwache,<br />

O Volk, <strong>und</strong> eile auf den Markt!<br />

Bring auf das Forum deine Sache!<br />

Im Freien nur ein Volk erstarkt.<br />

Trag all dein Lieben <strong>und</strong> dein Hassen<br />

Und Lust <strong>und</strong> Leid im Sturmesschritt,<br />

Dein schlagend Herz frei durch die Gassen,<br />

Ja, bring den ganzen Menschen mit!<br />

Lass strömen all dein Sein <strong>und</strong> Denken<br />

Und kehr' dein Innerstes zu Tage!<br />

Wenn du ein Kind von gutem Schlag!"<br />

Die Moigensonne ruft: „Erwache!"<br />

Klopft unterm Dach am Fenster a n ;<br />

„Steh auf <strong>und</strong> schau zu unsrer Sache,<br />

Sie geht, sie geht auf guter Bahn!<br />

Ich lege Gold auf deine Zunge!<br />

Ich lege Feuer an dein W o r t !<br />

So mach dich auf, mein lieber Junge,<br />

Und schlag' dich zu dem Volke dort!"<br />

Er eilt, <strong>und</strong> es empfängt die Menge<br />

Ihn hoffend auf dem weiten Plan;<br />

Stolz trägt sein Kind des Volk's Gedränge.<br />

Zur Rednerbühne hoch hinan,<br />

Nun geht ein Leuchten <strong>und</strong> Gewittern<br />

Aus seinem M<strong>und</strong> durch jedes Herz;<br />

Durch gold'ne Säle weht ein Zittern —<br />

Es wird schon gehn, schon fliesst das Erz.<br />

Wie eine Braut am Hochzeitstage,<br />

So ist ein Volk, das sich erkennt;<br />

Wie rosenrot vom heissen Schlage,<br />

Vom Liebespuls ihr Antlitz brennt!<br />

Zum erstenmal wird sie es inne,<br />

Wie schön sie sei <strong>und</strong> fühlt es g a n z :<br />

So stehet in der Freiheitsminne<br />

Ein Volk mit seinem Siegeskranz.<br />

•) A u s „ G e s a m m e l t e Gedichte". J. G. C o t t a ' s c h e Buchh<br />

a n d l u n g Nachfolger, S t u t t g a r t u n d Berlin.<br />

Karneval der Elenden.<br />

Eine Nacht nur! Lasst sie toben!<br />

Hat Musik sie doch erhoben<br />

Aus der Gosse düst'rem Leben,<br />

Lass't sie toben, lass't sie leben!<br />

Lass't sie toben! Morgen nieder<br />

Reisst man in den Schmutz sie wieder.<br />

Morgen werden sie sich lassen,<br />

Schlagen um den Kot der Gassen.<br />

Heute sind sie Brüder. Brüder!<br />

Lasst sie sich umarmet küssen<br />

Eine Nacht nur in Genüssen!<br />

Gottfried Keller*).<br />

Lasst sie sich zum Reigen fassen!<br />

Morgen kommt der Kot der Gassen.<br />

Lasst sie toben, lasst sie toben!<br />

Wien. Hugo Sonnenschein.<br />

Inhalt des neuesten Heftes:<br />

Pierre Ramus: 1887 — 1907. Max Nettlau:<br />

Die Begründung eines internationalen Bulletins.<br />

J. P. Proudhon: Die öffentliche Ordnung. Pierre<br />

Ramus: Aus dem Tagebuch eines Propagandidisten.<br />

Edm<strong>und</strong> Burke: Eine Rechtfertigung der<br />

natürlichen Gesellschaft. G. Landauer: Lernt<br />

nicht Esperanto! Pierre Ramus: Lernt Esperanto!<br />

Th. Heermann: Im Talnebel. Archiv des socialen<br />

Lebens.<br />

„Die freie Generation" ist eine theoretische<br />

Monatsrevue der Erkenntnisse des Socialismus<br />

<strong>und</strong> Anarchismus. Sie enthält 32 Selten <strong>und</strong><br />

kostet per Einzelnummer 25 Heller.


die antimilitaristische Propaganda zum Frieden<br />

gegenüber der Aktion der Freiheit g e ­<br />

zwungen haben. D a s m a c h t u n s n o t ­<br />

w e n d i g e r w e i s e z u B u n d e s g e n o s ­<br />

s e n u n d F r e u n d e n d e r a n a r c h i s t i ­<br />

s c h e n K o m m u n i s t e n <strong>und</strong> z u b e ­<br />

scheidenen, aber treuen Helfern der „Allgemeinen<br />

Arbeitsvereinigung“,*) solange dieselbe<br />

der socialen Revolution zustrebt.<br />

Wir wollen, dass die politische <strong>und</strong><br />

parlamentarische Wirksamkeit der socialistischen<br />

Partei aufhören soll. Aber w a r u m ?<br />

Deshalb, weil die Politik <strong>und</strong> der Parlamentarismus<br />

im französischen Proletariat den<br />

revolutionären Geist <strong>und</strong> die revolutionäre<br />

Handlungsweise beinahe ganz ertötet haben*);<br />

was davon übrig geblieben ist, das hat sich<br />

nur dank den Bemühungen der anarchistischen<br />

Kommunisten erhalten.<br />

Den Kämpfern der Partei hat man so<br />

lang vorgepredigt, dass die Umwandlung der<br />

kapitalistischen Gesellschaft in die kommunistische<br />

Gesellschaft nur durch die Eroberung<br />

der politischen Macht mittels der parlamentarischen<br />

Wahlen möglich ist, dass dieselben<br />

ihre ganze Tätigkeit auf diese verwendet<br />

haben. — Die Partei scheint nur zu Zeiten<br />

der Wahlen lebendig zu sein; zu anderen<br />

Zeiten verfällt sie in einen Todesschlaf, unterbrochen<br />

blos vom parlamentarischen Schwätzen<br />

nie aber durch eine Aktion.<br />

Ministerpräsident Clemenceau lässt unsere<br />

besten Kämpfer dutzendweise einsperren;<br />

unsere Versammlungen werden von Polizisten<br />

<strong>und</strong> Spitzeln überwacht; über alle Antimilitaristen<br />

werden schwarze Listen geführt;<br />

in Narbonne werden aufständische Bauern,<br />

in Raon 1' Etape streikende Arbeiter vom<br />

Militär erschossen — <strong>und</strong> all das findet die<br />

Partei ganz natürlich, <strong>und</strong> rührt sich nicht.<br />

Sie wartet bis ihr Führer Jaurès im Parlament<br />

eine schöne Rede darüber hält, <strong>und</strong> wird<br />

sagen: „Der hat's ihnen gegeben!“ <strong>und</strong><br />

glaubt dann, dass sie damit etwas getan hat.<br />

Wenn es aber gilt, die socialdemokratischen<br />

Proletarier ihre Entrüstung <strong>und</strong> ihre Forderungen<br />

auf der Strasse verkünden zu lassen,<br />

so können die Aufrufe der Revolutionäre kaum<br />

ein paar H<strong>und</strong>ert Menschen dafür zusammenbringen.<br />

Jaurès verteidigt den Parlamentarismus<br />

damit, dass er sagt: „Wenn die Verbrechen<br />

der Regierung das Proletariat zu einer Revolution<br />

trieben, dann wäre dieselbe umso<br />

wirksamer, weil der Ruf nach Gerechtigkeit<br />

vom Parlament <strong>und</strong> von der Strasse zugleich<br />

aufsteigen würde“.<br />

Welch' ein Irrtum! Die Partei selbst<br />

hat ja das Proletariat von jeder revolutionären<br />

Handlung entwöhnt. Jaurès selbst bemüht<br />

sich, von derselben abzuraten. Die Partei<br />

arbeitet so gut daran, alles, w a s keine gesetzliche,<br />

wahlrechtliche oder parlamentarische<br />

Handlung ist, zu ersticken, dass an dem Tag,<br />

wo sie das Proletariat, das Volk der Strasse<br />

zur Hilfe riefe, die Strasse verlassen, das<br />

Volk nicht zu finden sein wird.<br />

Es gibt aber einige von uns, die die<br />

Partei zu ihren alten revolutionären Traditionen<br />

zurückführen wollen.<br />

Wir predigen ihr, dass sie sich nicht<br />

im Rahmen der Gesetzlichkeit der bürgerlichen<br />

Gesellschaft betätigen darf. In allen Tonarten<br />

sagen wir ihr, dass die Parlamentswahlen<br />

höchstens dazu gut sind, eine kräftige Agitation<br />

für unsere Ideen des Internationalismus<br />

<strong>und</strong> Socialismus zu betreiben, die Gelegen-<br />

**) „Confederation Generale du Travail“; die<br />

Vereinigung der revolutionären Gewerkschaften<br />

Frankreichs.<br />

*) Auch im österreichischen <strong>und</strong> deutschländischen<br />

Proletariat! Anm. d. Red.<br />

heit benutzen zu können, da die grosse Mehrzahl<br />

der Menschen durch die Wahlen aus<br />

ihrer gewöhnlichen Gleichgiltigkeit aufgerüttelt<br />

werden kann. Aber der Parlamentarismus kann<br />

nur Parlamentsreformen schaffen, die eine<br />

radikale bürgerliche Partei ebenso verwirklichen<br />

könnte, wenn sie verspürt, dass es im<br />

Land eine starke revolutionäre Partei gibt,<br />

die das Volk über die Vernunftwidrigkeit <strong>und</strong><br />

Ungerechtigkeit der kapitalistischen Herrschaft<br />

aufklärt. Die paar Abgeordnete, die eine<br />

w i r k l i c h r e v o l u t i o n ä r e socialistische<br />

Partei vielleicht in's Parlament schicken kann,<br />

haben nur die eine Aufgabe: Das Land zu<br />

bereisen, um unser kollektivistisches <strong>und</strong><br />

kommunistisches Ideal zu verkünden; sie<br />

müssen Gruppen gründen, die der socialistischen<br />

Propaganda dienen <strong>und</strong> bei der<br />

ersten günstigen Gelegenheit die Organisierung<br />

des Generalstreiks als Vorläufer der zukünftigen<br />

Gesellschaft in die Hand zu nehmen<br />

vermögen. Die wirkliche revolutionäre P r o ­<br />

paganda, das ist die Propaganda des Antimilitarismus,<br />

durch die wir die heutige Gesellschaft<br />

allmählich entwaffnen können, <strong>und</strong><br />

die es uns möglich macht — wenn die Idee<br />

der allgemeinen Arbeitsvereinigung stark <strong>und</strong><br />

mutig genug geworden — den Generalstreik<br />

zu versuchen, ohne befürchten zu müssen,<br />

dass uns das Militär niederschlägt, mit der<br />

Hoffnung, die Arbeitsmittel <strong>und</strong> allen Reichtum<br />

dereinst zu Gemeinschaftseigentum umzugestalten.<br />

Freilich gefällt diese Taktik den socialistischen<br />

Politikern nicht, denen der Socialismus<br />

ein Gewerbe, ein Broterwerb oder<br />

die Quelle von grossen <strong>und</strong> kleinen Profiten<br />

ist. An der Spitze der Partei befindet sich<br />

eine Gruppe von Strebern, die sich erst kürzlich<br />

ihre parlamentarischen Diäten von 9000<br />

zu 15.000 Franken erhöht <strong>und</strong> die 6000<br />

Franken einfach in ihre eigene Tasche gesteckt<br />

hat. Aber das genügt den Herren<br />

nicht; sie beziehen ausser dem noch Bezahlungen<br />

als Journalisten, Advokaten etc. <strong>und</strong><br />

wenn wir nicht Acht geben, werden sie bald<br />

in Direktionen der grossen Banken <strong>und</strong><br />

Aktiengesellschaften eintreten. Darum sind<br />

sie Fre<strong>und</strong>e der Ordnung, der Gesetzlichkeit<br />

<strong>und</strong> des Vaterlandes!<br />

Sie wollen nichts als gesetzliche Reformen<br />

<strong>und</strong> sind die Feinde einer jeden socialen<br />

Revolution.<br />

„Die sociale Revolution? Wozu d e n n ?<br />

Haben wir denn nicht das allgemeine Wahlrecht,<br />

durch das wir auf friedlichem W e g e<br />

unser Ideal verwirklichen werden, sobald wir<br />

im Parlament die Majorität sind?^“<br />

U n d s i e w o l l e n , d a s s m a n<br />

s o l c h e s G e r e d e e r n s t n i m m t !<br />

Wenn ihr warten wollt, bis ihr die Majorität<br />

seid, um die socialistische Gesellschaft zu<br />

gründen — dann' könnt ihr lange warten,<br />

ihr armen französischen Proletarier!<br />

W a s ist denn die Majorität? Wisst ihr<br />

denn nicht, dass die allgemeine Meinung<br />

der Mehrzahl der Menschen durch die<br />

grossen Zeitungen gebildet wird, <strong>und</strong> dass<br />

die Presse in den Händen der Banken<br />

<strong>und</strong> Aktiengesellschaften ist? Wenn ein<br />

socialistisches Tageblatt wirklich revolutionär<br />

werden würde, so würde man es durch<br />

Pressprozesse umbringen!<br />

Wisst ihr denn nicht, dass wenn irgend<br />

eine tiefgehende Reform unseren Herren<br />

unbequem ist, die grossen Geld- <strong>und</strong> Kreditinstitute<br />

ihre Abgesandten zu allen Zeitungen<br />

schicken, damit diese ihren Lesern ein X<br />

für ein U vormachen? Wisst ihr nicht, dass<br />

die grossen Geldmächte, wenn sie zusammenhalten,<br />

wann immer sie wollen einen Zeitungskrieg<br />

eröffnen können, der jedes Regierungs-<br />

Ministerium wegfegen kann. Ein Ministerium<br />

kann nur so entstehen <strong>und</strong> bestehen, wenn<br />

es für die Finanzbarone vorteilhaft ist.<br />

Ob in einer Republik oder einer M o ­<br />

narchie, ist das Parlament, solange die kapitalistische<br />

Gesellschaftsordnung besteht, eine<br />

Puppenkomödie <strong>und</strong> die Abgeordneten sind<br />

Puppen, deren Drähte die Geldspekulanten<br />

vermittels der Presse in der Hand halten.<br />

Wenn man das weiss — <strong>und</strong> die Herren<br />

Abgeordneten wissen es recht gut — <strong>und</strong><br />

dann doch noch Loblieder auf die Segnungen<br />

der friedlichen „Entwicklung in den Zukunftsstaat<br />

hinein“ <strong>und</strong> den Parlamentarismus singt,<br />

dann verhöhnt man einfach die armen Teufel<br />

von Arbeiter, hinter deren Rücken man zu<br />

Wohlstand <strong>und</strong> oftmals Reichtum emporgeklettert<br />

ist; <strong>und</strong> die Herschenden müssen<br />

das Proletariat, <strong>und</strong> die sozialistische Partei<br />

insbesondere wirklich für eine Schafherde<br />

halten, um es zu wagen, ihnen das zu bieten!<br />

Wir wollen es bis zum Überdruss wiederholen<br />

: D i e B e f r e i u n g d é s P r o l e t a ­<br />

r i a t s w i r d s i c h n i c h t d u r c h d a s<br />

a l l g e m e i n e W a h l r e c h t u n d d a s<br />

P a r l a m e n t v e r w i r k l i c h e n — das<br />

höchstens Arbeiterversicherungsdekrete oder<br />

Verstaatlichungsgesetze schaffen kann, wie<br />

dieselben in Deutschland bestehen — s o n ­<br />

d e r n s i e w i r d s i c h v o l l z i e h e n<br />

d u r c h d i e r e v o l u t i o n ä r e w i r t ­<br />

s c h a f t l i c h e <strong>und</strong> s o c i a l e A k t i o n d e s<br />

P r o l e t a r i a t s .<br />

Die sociale Révolution — die n i c h t<br />

etwa tolles Blutvergiessen bedeutet, sondern<br />

die bewusste wirtschaftliche Umgestaltung<br />

der socialen Gr<strong>und</strong>formen des Lebens ist —<br />

wird unter drei Bedingungen m ö g l i c h :<br />

Die erste Bedingung ist, dass wir durch<br />

unsere Propaganda unter der Landbevölkerung<br />

die wohlwollende Neutralität der Bauern erhalten<br />

— wenn auch vorläufig nicht ihren<br />

Anschluss an den Socialismus. — Das ist<br />

leicht, denn sie hassen die herrschende Klasse,<br />

die sie auf so vielerlei Arten besteuert <strong>und</strong><br />

beraubt. Und besonders leicht ist es, wenn<br />

wir es ihnen klar machen, dass wir ihnen<br />

nicht, wie sie fälschlich meinen, ihr Stückchen<br />

Land gewaltsam wegnehmen wollen.<br />

Die zweite Bedingung ist, dass wir die<br />

besitzlosen landwirtschaftlichen <strong>und</strong> industriellen<br />

Arbeiter dazu bewegen, sich massenhaft<br />

in revolutionären Gewerkschaftsorganisationen<br />

zu gruppieren, ohne uns aber als<br />

Partei in die inneren Angelegenheiten derselben<br />

einzumischen, <strong>und</strong> wenn wir die P r o ­<br />

paganda derselben für den Generalstreik für<br />

wirtschaftliche Zwecke nicht hindern, sondern<br />

unterstützen.<br />

Die dritte Bedingung endlich ist, dass<br />

wir eine prinzipielle antimilitaristische Propaganda<br />

leisten, ohne die jeder Generalstreik<br />

im Blut erstickt werden kann.<br />

Nachwort der Redaktion.<br />

Die Erfahrungen der Arbeiter in Frankreich<br />

mit der Politik <strong>und</strong> dem Parlamentarismus<br />

beweisen am besten, auf welch g e ­<br />

fährlichen W e g die socialdemokratische Partei<br />

das Proletariat zu leiten sucht. Der eine<br />

w<strong>und</strong>e Punkt, in dem wir mit Hervé, dem<br />

Verfasser obiger Ausführungen, n i c h t übereinstimmen<br />

können, ist, dass er das Parlament<br />

<strong>und</strong> die Wahlen wenigsten als A g i ­<br />

tationsmittel für die Idee des Socialismus<br />

zulässt, während wir davon überzeugt sind,<br />

dass der revolutionäre Geist im Proletariat<br />

unfehlbar getötet wird, sobald dasselbe mit<br />

dem Werkzeug der Unterdrückung, den G e ­<br />

setzen <strong>und</strong> der Maschine zur Fabrikation von<br />

Gesetzen, in Verbindung tritt. Und wie so<br />

gar nichts der Parlamentarismus für den


Socialismus bedeutet, beweist Österreich.<br />

Spricht man in unserem Reichsrat von Socialismus?<br />

<strong>Unser</strong> Ideal ist die H e r r s c h a f t s ­<br />

l o s i g k e i t , d i e A n a r c h i e ; <strong>und</strong> damit, dass<br />

wir bei den Parlaments- <strong>und</strong> anderen Wahlen<br />

mit den übrigen Parteien zugleich abstimmen,<br />

anerkennen <strong>und</strong> billigen wir bis zu einem<br />

gewissen Grade die Herrschaft jener, die wir<br />

dadurch — wenn auch nur als legale Minorität<br />

— zu Gesetzgebern, zu unseren „Vertretern“<br />

machen.<br />

Wir haben blos eine Aufgabe: A n<br />

S t e l l e d i e s e r , a u f B e d r ü c k u n g , E l e n d<br />

u n d S k l a v e r e i a u f g e b a u t e n G e s e l l ­<br />

s c h a f t s o r d n u n g d i e w a h r e G e s e l l ­<br />

s c h a f t f r e i e r , g l e i c h b e r e c h t i g t e r u .<br />

b r ü d e r l i c h z u s a m m e n l e b e n d e r M e n ­<br />

s c h e n z u e r r i c h t e n !<br />

Die Gewerkschaftsbewegung<br />

in Österreich.<br />

Reaktionär <strong>und</strong> unentwickelt, wie das<br />

politische Leben in Österreich überhaupt ist,<br />

oftmals ähnelnd den Verhältnissen in den Balkanstaaten,<br />

so ist auch die österreichische<br />

Arbeiterbewegung <strong>und</strong> insbesondere ihre ökonomische<br />

Kampfesgestaltung. Wohl klingt<br />

es gerade in letzter Zeit, da die Beziehungen,<br />

die zwischen der politischen Socialdemokratie<br />

<strong>und</strong> den ökonomischen Gruppierungen des<br />

Proletariats obwalten, international gespannt<br />

wurden, wie eine Art Hohnlied auf socialdemokratischen<br />

Kongressen, wenn sie auf<br />

die österreichische Arbeiterbewegung, auf die,<br />

man kann e s wohl sagen, e i n h e i t l i c h e<br />

Organisation der politischen <strong>und</strong> ökonomischen<br />

„Betätigung“ hinweisen. In der T a t :<br />

in Österreich s i n d Partei <strong>und</strong> Gewerkschaften<br />

e i n s , besonders soweit sie der<br />

deutschsprachlichen Nationalität angehören.<br />

Aber diese Tatsache ist k e i n Zeichen von<br />

Stärke, von socialer Macht für die Arbeiterbewegung,<br />

sondern ein Zeichen ihrer socialen<br />

Schwäche, ein Zeichen dessen, dass weder<br />

im Princip noch in der Taktik der Gr<strong>und</strong>kern<br />

des Socialismus in Österreich begriffen wird.<br />

Der Zustand, wie er noch heute in unserem<br />

Lande vorwaltet, bestand f r ü h e r in<br />

fast allen Ländern Europas. Er musste aufhören,<br />

durchbrochen werden, um die ökonomischen<br />

Kräfte des Proletariats frei zu<br />

machen von den Fesseln politischer Ehrgeizführung,<br />

um die Arbeiterbewegung zu<br />

solch gewaltigen Möglichkeiten der Machtdemonstration<br />

heranwachsen zu lassen, wie<br />

wir sie während der letzten zwei Jahre in<br />

Frankreich, Spanien, Italien, der romanischen<br />

Schweiz, zum Teil auch in Holland bew<strong>und</strong>ern<br />

konnten.<br />

Die österreichischen Gewerkschaften<br />

ähneln sowohl in Form, als auch in Taktik,<br />

den deutschländischen. Wie diese, <strong>und</strong><br />

schliesslich alle Gewerkschaftsbewegungen<br />

unseres Kontinents, wo die Socialdemokratie<br />

über grosse Wählermassen verfügt <strong>und</strong> die<br />

Gewerkschaftsbewegung eng an sich g e ­<br />

schmiedet hält, e r b a r m u n g s w ü r d i g o h n -<br />

m ä c h t i g ist an socialer Kampfesenergie, an<br />

wirklichem ökonomischen Können, ist auch<br />

die österreichische Arbeiterbewegung ökonomisch<br />

ungemein schwach, <strong>und</strong> es gibt keine<br />

einzige Aktion der letzten 15 Jahre bei uns,<br />

in der diese Arbeiterbewegung, in ö k o n o -<br />

m i s c h e n M e t h o d e n u n d Z i e l e n , sich<br />

über das platteste Niveau der Alltäglichkeit,<br />

der unbedeutendsten Augenblicksforderungen<br />

erhoben hätte. Allerdings mag man einwenden,<br />

dass, falls uns nicht das so herrliche<br />

Papierrecht des Wahlrechtes gewährt worden<br />

wäre, dass die Gewerkschaftsbewegung sich<br />

zu einem Generalstreik aufgerafft hätte. Wiede<br />

das zermalmendste Gefühl von Schwäche<br />

das Kennzeichen ihrer demütigenden Unterwürfigkeit<br />

<strong>und</strong> Abhängigkeit gegenüber der<br />

parlamentarischen Drahtziehern des Reichsratsgeschwätzes!<br />

Denn das ist ja gerade das<br />

Traurige, dass die Arbeiter sich nicht zu<br />

e i g e n e n ökonomischen Zwecken mittels eines<br />

Generalstreiks wappnen <strong>und</strong> sieghaft vorwärts<br />

“drängen, sondern sich von politischen Strebern<br />

die Art ihres Kampfes, also die Forderung<br />

von zwecklosen Papierrechten vorschreiben<br />

lassen <strong>und</strong> für diese willens sind, zu kämpfen<br />

So kommt es, dass der österreichische<br />

Gewerkschaftsboden, das Ackerfeld für rein<br />

parlamentarische Zweckmittel abgibt; nicht<br />

eine rein ökonomische Klassenkampfbewegung<br />

für <strong>und</strong> um socialer Zwecke willen haben wir<br />

vielmehr eine Gewerkschaftsbewegung, die<br />

die finanzielle <strong>und</strong> sociale Melkkuh der politischen<br />

Partei bildet, deren Führer den Socialismus<br />

längst ins Antiquariat für schöne<br />

ehrwürdige Dinge wandern liessen, parlamentarisches<br />

Geschätz <strong>und</strong> Stimmzettel-Abzählerei,<br />

als das wahre Wesen des Klassenkampfes<br />

hinstellen. Alle ökonomischen Hilfsquellen<br />

der ökonomischen Bewegung wurden<br />

<strong>und</strong> werden für eine in a l l e n L ä n d e r n<br />

Bankerott erleidende parlamentarische Wahltaktik<br />

verwendet, <strong>und</strong> so kommt es, dass ein<br />

jeder Gewerkschaftler in Österreich auch ein<br />

Mitglied der Socialdemokratie ist. Die Folge<br />

ist, dass man den Arbeitern einredet, ihre<br />

Gewerkschaften seien nur dazu da, alltägliche<br />

Lohnstreitigkeiten <strong>und</strong> Augenblickforderungen<br />

zwischen den respektiven Arbeitern eines Gewerkes<br />

<strong>und</strong> dem Unternehmer desselben zu<br />

lösen. Dies ist natürlich nicht wahr; daran aber<br />

krankt die gesamte Gewerkschaftsbewegung<br />

Österreichs, dass sie in allen grossen socialen<br />

Fragen vertrauensvoll nach den socialdemokratischen<br />

Parlamentariern blickt <strong>und</strong> vom Reichsrat<br />

die Lösung socialer Probleme erheischt.<br />

Dass es so sei, dies fackelt die Socialdemokratie<br />

den Arbeitern vor!<br />

Niemals war es so, dass ein Parlament<br />

sociale Fragen löste. Kleine wie grosse Probleme,<br />

sie wurden stets ausserhalb des Parlaments<br />

durch die Volkskraft, Volksmacht<br />

gelöst. Und die Gewerkschaften haben n i c h t<br />

n u r die Aufgabe, den kleinen Alltagskampf<br />

um geringfügige Lohnerhöhungen oder gegen<br />

Verschlechterung ihrer Lage zu führen. N e i n ,<br />

i h r e h o h e A u f g a b e b e s t e h t d a r i n ,<br />

d i e T r ä g e r d e r G r u n d i d e e n d e s s o ­<br />

c i a l i s t i s c h e n K l a s s e n k a m p f e s z u<br />

s e i n u n d d e n K a m p f a u c h i n a l l e n<br />

j e n e n s o c i a l e n F r a g e n z u f ü h r e n ,<br />

d e r e n L ö s u n g e n m a n b i s h e r f ä l s c h ­<br />

l i c h v o n d e r S o c i a l d e m o k r a t i e<br />

e r w a r t e t e , ö k o n o m i s c h , a u f d e m<br />

u r e i g e n e n F e l d e d e s P r o l e t a r i a t s ,<br />

m u s s d i e s e r K a m p f g e f ü h r t w e r d e n ,<br />

d e s s e n W e s e n s k e r n d e r i s t : d e r<br />

K a m p f d e r E i n z e l g e w e r k s c h a f t g e ­<br />

g e n d e n E i n z e l u n t e r n e h m e r b i l d e t<br />

n i c h t m e h r d e n C h a r a k t e r d e s ö k o ­<br />

n o m i s c h e n K a m p f e s d e r G e w e r k ­<br />

s c h a f t s b e w e g u n g ; d i e s e r K a m p f<br />

m u s s e r g ä n z t u n d e r w e i t e r t w e r d e n<br />

z u m K l a s s e n k a m p f d e s ö k o n o m i s c h -<br />

o r g a n i s i e r t e n P r o l e t a r i a t s d e r g e ­<br />

s a m t e n G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g<br />

w i d e r d a s g e s a m t e U n t e r n e h m e r t u m<br />

— d e n K a p i t a l i s m u s u n d d e n d i e s e n<br />

s c h ü t z e n d e n S t a a t !<br />

Dagegen sträubts ich die Socialdemokratie.<br />

Denn ein so kämpfendes Proletariat würde<br />

s i e überflüssig machen, was für ihre Führer<br />

den Verlust tausender von politischen Ämtern<br />

bedeutete, die alle eine sehr einträgliche Sache<br />

bilden, ihre Inhaber der Notwendigkeit entziehen,<br />

nach wie vor den Kampf ums Dasein<br />

in der Fabrik, im Bergwerk, in der Schreibstube,<br />

kurz an den Orten kapitalistischer Ausbeutung<br />

physischer <strong>und</strong> geistiger Arbeitskraft,<br />

führen zu müssen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e verwertet<br />

die Socialdemokratie lieber die Kraft<br />

der ökonomischen Organisation für ihre eigenen<br />

Parteizwecke, ein jeder revolutionärer<br />

Kampf der Gewerkschaften wird unterb<strong>und</strong>en,<br />

es wird den Arbeitern vorgeschwätzt, socialdemokratische<br />

Stimmen abzugeben, das sei<br />

ein Klassenkampf <strong>und</strong> würde zu ihrem <strong>Ziel</strong>e,<br />

zur Befreiung des Proletariats von Lohnsklaverei<br />

<strong>und</strong> Unterdrückung in ökonomischen<br />

wie socialen Dingen, führen.<br />

Eine arge Täuschung!<br />

Nicht Wahlrecht, Stimmzettel, Abgeordneten<br />

geschwätz sind Klassenkampf. Seit 40<br />

Jahren haben' die deutschen Socialdemokraten<br />

nicht nur keinen Acht- nein, n i c h t e i n m a l<br />

e i n e n Z e h n s t u n d e n t a g e r r u n g e n . Hingegen<br />

haben ihn die französischen <strong>und</strong> spanischen<br />

Proletarier mittels des Generalstreikes<br />

<strong>und</strong> der direkten Aktion sich bereits vielfach<br />

erkämpft. —<br />

Noch der Parlamentarismus darf für die<br />

österreichischen Arbeiter ihr hauptsächlicher<br />

Stückpunkt sein. Das Gegenteil: Befreiung<br />

ihrer Organisationen von ihm <strong>und</strong> seinem<br />

Torwahn, revolutionärer Ausbau <strong>und</strong> Entwicklung<br />

der Gewerkschaftsbewegung auf<br />

ökonomischer Gr<strong>und</strong>lage: statt des Parlamentarismus,<br />

der Alles verspricht <strong>und</strong> Nichts<br />

hält, den G e n e r a l s t r e i k , welcher Alles<br />

von der direkten, selbständigen Aktion der<br />

ökonomischen Macht der organisierten Arbeiter<br />

abhängig macht, die zielbewusste Persönlichkeit<br />

eines jeden Einzelnen in den Klassenkampf<br />

führt — kurz, n i c h t Parteireste, <strong>und</strong><br />

Kliquentum <strong>und</strong> parlamentarisches Tändeln,<br />

sondern ernster Kampf um die Macht mittels<br />

der ökonomischen Solidarität — <strong>und</strong> nichts<br />

anderes i s t der Generalstreik! — bedeutet,<br />

dies muss Methode <strong>und</strong> Taktik der österreichischen<br />

Gewerkschafsbewegung werden!<br />

Wohl wissen wir, dass die Führer b e i ­<br />

d e r Bewegungen, jene der Socialdemokratie,<br />

wie der Gewerkschaften, die so ziemlich dieselben<br />

Persönlichkeiten sind, sich mit Händen<br />

<strong>und</strong> Füssen dagegen sträuben, ja, schon<br />

jedem Versuche in der Richtung einer solchen<br />

revolutionären Entwicklung hinderlich im<br />

<strong>Weg</strong>e stehen werden. Intoleranz <strong>und</strong> Fanatismus,<br />

gefährdete materielle Interessen werden<br />

sich mit Hass, gemeiner Verleumdung<br />

<strong>und</strong> niederträchtiger Borniertheit wider uns<br />

kehren. Wie immer dem aber auch sein möge,<br />

wir werden unbeirrbar unseren <strong>Weg</strong> fortsetzen,<br />

dessen mühseliger, opferreicher Aufstieg<br />

uns ein leuchtendes <strong>Ziel</strong> verheisst:<br />

Entweder gelingt es uns, die österreichische<br />

Gewerkschaftsbewegung zu vers<br />

e l b s t ä n d l i c h e n , sie auf ihre eigene<br />

wirtschaftliche Gr<strong>und</strong>lage zu stellen, von Parlamentarismus<br />

zu bekehren <strong>und</strong> für die ökonomische<br />

Aktion des Generalstreiks zu gewinnen<br />

— o d e r unsere Genossen werden<br />

sich derselben Aufgabe zu widmen haben,<br />

die in fast allen Ländern zum Segen der Arbeiterbewegung<br />

schon getan wurde: d i e Beg<br />

r ü n d u n g e i n e r e i g e n e n , r e v o l u t i o ­<br />

n ä r e n G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g , d i e<br />

k e i n e S o c i a l d e m o k r a t i e m ä s t e t , d e ­<br />

r e n K a m p f e s r u f d e r l a u t e t : A u s e i ­<br />

g e n e r K r a f t — d i e B e f r e i u n g d e s<br />

P r o l e t a r i a t s m u s s d a s W e r k d e s A r -<br />

b e i t e r s e l b s t s e i n !<br />

V e r a n t w o r t l i c h e r R e d a k t e u r Jos. Sindelar ( W i e n ) . — H e r a u s g e b e r Jul. E h i n g e r (Wien). — Erste Genossenschafts-Buchruckerei in Budweis.


Wien, 9. J ä n n e r 1908. Einzelexemplar 10 h. J a h r g . I. — N r . 2.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition XII. Fockygasse 27. II./17.<br />

Wien. Gelder sind zu senden an W.<br />

Kubetsch, IV. Schönburgstrasse, 5. III.<br />

Wien.<br />

Beschlagnahmeverfügung.<br />

Die k. k. Staatsanwaltschaft verfügt gemäss<br />

§ 487 St.-P.-O. die Beschlagnahme der periodischen<br />

Druckschrift des Druckwerkes „Wohlstand für Alle"<br />

Nr. 1 vom 22. Dezember 1907 wegen der Artikel:<br />

I. »<strong>Unser</strong> <strong>Weg</strong> <strong>und</strong> <strong>Ziel</strong>" in den Stellen<br />

1 . von „ G e i s t i g s o w o h l " bis „ d i e<br />

A n a r c h i e " (S. 1, Sp. 2);<br />

2 . von „ S i e s i n d " bis „ d i e A n a r c h i s t e n "<br />

(S. 1, Sp. n .<br />

II. „Nachwort der Redaktion" in den Stellen von<br />

„ W ä h r e n d w i r " bis „ M e n s c h e n z u e r -<br />

r i c h t e n" (S. 3 <strong>und</strong> 4).<br />

Diese Mitteilung macht die Verfolgung wegen<br />

anderer nicht bekannt gegebener Gründe nicht unzulässig.<br />

(§ 5, Ges. v. 9. Juli 1894, Nr. 161 R.-G.-Bl.)<br />

22. Dezember 1907.<br />

*<br />

*<br />

Unterschrift unleserlich.<br />

*<br />

Zu dieser, durch keinerlei im natürlichen<br />

Rechtsbewusstsein eines Kulturmenschen begründet<br />

liegenden Beschlagnahmeverfügung,<br />

die sich ausdrücklich n i c h t gegen irgend<br />

welche Taten oder „Aufreizung zu denselben",<br />

sondern einzig <strong>und</strong> allein wider d i e k l a r e<br />

u n d t h e o r e t i s c h e P r ä z i s i e r u n g u n -<br />

s e r e r I d e a l a n s c h a u u n g kehrt, wollen<br />

wir nur konstatieren, dass sie ganz im Einklang<br />

ist mit jener herrlichen Ära der „Freiheiten",<br />

wie sie uns von gewisser Seite versprochen<br />

ward.<br />

Proletarier! Lernt daraus, wie man Euer<br />

Blatt, das die Wahrheit auszusprechen n i c h t<br />

scheut, behandelt, eigentlich misshandelt!<br />

Beschlagnahmt wurden — die allgütige<br />

Vorsehung des bewussten Finger Gottes sorgte<br />

dafür! — 2 Exemplare.<br />

Gegen die Beschlagnahmeverfügung wird<br />

Rekurs eingelegt werden.<br />

Mit desto grösserem Eifer an die Arbeit<br />

der Propaganda, Kameraden! Die Reaktion<br />

lässt den wahren Freiheitsaposteln egenüber<br />

die Maske sinken — sie wird uns unbeugsam<br />

<strong>und</strong> darum unüberwindlich finden!<br />

Redaktion <strong>und</strong> Verlag des „ W. f. A."<br />

Die Stimme der Arbeit.<br />

(Aus dem Englischen übersetzt von Lilly Nadler-<br />

Nuellens).<br />

Ich hörte sagen: „Lasst hoffen <strong>und</strong> klagen,<br />

Es bleibt doch ewig, wie's ewig war,<br />

Das Heut' <strong>und</strong> Morgen bringt Angst <strong>und</strong> Sorgen<br />

Und Müh' <strong>und</strong> Arbelt immerdar.<br />

Als die Erde noch jünger, zwischen Arbeit <strong>und</strong><br />

Hunger,<br />

Mit Hoffnung wir strebten <strong>und</strong> starker Hand;<br />

Grosse Männer uns lenkten, <strong>und</strong> Worte uns<br />

schenkten<br />

Zu rechten der Erde Unrecht <strong>und</strong> Schand'.<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeits»<br />

mitttl, d. h. der. Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen i s t . . ."<br />

Oeht, les't die Märe ihrer T a t e n <strong>und</strong> Ehre,<br />

Ihren Rnhm, w o a n d ' r e u n g e n a n n t ;<br />

Lasst dann ab zu belügen, die s t e r b e n d wir<br />

l i e g e n ;<br />

Wo uns j e n e geführt im g e l o b t e n Land.<br />

Wo mit eiserner Kraft, w a s wir selbst uns<br />

geschafft,<br />

<strong>Unser</strong> Herrscher h a r t , uns e w i g treibt,<br />

Schätze zu heben <strong>und</strong> F r e u d e zu g e b e n ,<br />

Die für a n d ' r e r Hoffen <strong>und</strong> Leben bleibt.<br />

Wo d a s Helm ohne Anmut, w i r in Kummer <strong>und</strong><br />

Armut<br />

V e r g e s s e n , d a s s die W e l t so schön —<br />

Wo kein Kind gedeiht, weil die Seele e n t w e i h t ,<br />

Wo Frohsinn <strong>und</strong> Liebe in S ü n d e v e r g e h ' n .<br />

W e r wird uns j e t z t führen, welchen Gott wird<br />

es rühren,<br />

W i e w i r selbst uns geschaffen die Hölle d e r N o t ?<br />

Für uns keine Führer, nur Narr'n <strong>und</strong> Verführer —<br />

Gefallen die Orossen, die W e l s e n sind tot".<br />

Ich h ö r t e s a g e n : „Lasst b e t e n <strong>und</strong> k l a g e n ,<br />

Das Messer hat kein E r b a r m e n für's Schaf;<br />

Sie m ü s s e n uns weichen, die B e d r ü c k e r <strong>und</strong><br />

Reichen,<br />

W e n n d e r T a g bricht a n ü b e r T r ä u m e <strong>und</strong> Schlaf.<br />

Schulter an Schulter steht, eh' noch mehr Zeit<br />

v e r g e h t ,<br />

In uns nur Hegt Hilfe, in dir <strong>und</strong> m i r ;<br />

Vor uns ist Rettung, der J a h r e V e r k e t t u n g<br />

G e b a r uns mehr F ü h r e r als g u t für uns hier.<br />

T o t e Herzen lasst s ä u m e n <strong>und</strong> lieben <strong>und</strong> träumen,<br />

Und zitternd h e g e n ihren T r a u m von Glück —<br />

W ä h r e n d wir, die wir leben, unser Leben hing<br />

e b e n<br />

Zu b r i n g e n d e r W e l t den Frohsinn zurück.<br />

Schulter an Schulter steht, eh` die Zeit w e i t e r<br />

g e h t !<br />

Auf Meer <strong>und</strong> Land u n s ' r e S a c h e s i e g t ;<br />

Die E r d e kracht, <strong>und</strong> die Furcht e r w a c h t ,<br />

Und vor dir <strong>und</strong> mir die F r e u d e liegt!"<br />

William Morris.<br />

Nachträgliche Weihnachts<strong>und</strong><br />

Neujahrsgedanken.<br />

Glockengeläute <strong>und</strong> andächtige Lieder<br />

verkündeten überall Weihnachten, das grosse<br />

Fest der Christen.<br />

Der Tradition nach wurde vor neunzehnh<strong>und</strong>ert<br />

Jahren an diesem Tage in Bethlehem<br />

Jesus geboren, der Sohn Gottes, der Erlösung<br />

<strong>und</strong> Friede auf die Erde brachte. —<br />

Die Reichen <strong>und</strong> Wohlhabenden feiern<br />

die Jahreswende bei fröhlichem Schmaus im<br />

gemütlichen Familienkreis. — Die Armen <strong>und</strong><br />

die Arbeiter aber, die all den Glanz <strong>und</strong><br />

Wohlstand, den jene geniessen, schufen,<br />

freuen sich, wenn sie vom Überfluss ein<br />

kleines Almosen erhalten. — Neun Zehntel<br />

der Menschheit arbeiten angestrengt von T a g<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2.40;<br />

halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />

50 Cent.<br />

zu Tag, das ganze Jahr hindurch, <strong>und</strong> darben<br />

dafür. Ein Zehntel arbeitet nicht <strong>und</strong> lebt in<br />

Überfluss. Am Weihnachtsabend sind tausende<br />

von Menschen, die ohne Heim draussen in<br />

der Kälte frieren <strong>und</strong> hungern, unterdessen<br />

sich andere mehr als satt essen <strong>und</strong> fröhlich<br />

sind. Gewalt <strong>und</strong> Ausnützung sind Herr auf<br />

Erden.<br />

Ist das die Erlösung <strong>und</strong> der Friede, den<br />

Jesus, der Sohn Gottes, b r a c h t e ? !<br />

Nein, d i e s e s Weihnachten ist nicht<br />

unser Fest! <strong>Unser</strong> ges<strong>und</strong>er Verstand, unser<br />

ehrliches Fühlen empören sich gegen diese<br />

Lüge. Freude, Glück <strong>und</strong> Friede sind nicht<br />

auf Erden <strong>und</strong> können nicht sein, bis nicht<br />

j e d e r M e n s c h gleichmässig seinen Anteil<br />

aus dem Reichtum der Natur <strong>und</strong> dem Segen<br />

des Lebens erhält — bis nicht a l l e Menschen<br />

in geschwisterlicher Liebe <strong>und</strong> gemeinsamer<br />

freudevoller Arbeit zusammen leben.<br />

Um dies zu erreichen, müssen wir all<br />

die alten unklaren Traditionen bei Seite tun;<br />

allein nur auf Gr<strong>und</strong> unseres eigeneu Wissens<br />

<strong>und</strong> Denkens müssen wir die Wahrheit suchen;<br />

dann finden wir einen tieferen, edleren<br />

Sinn des Weihnachtsfestes. —<br />

Wie ein endloser, ewig funktionierender<br />

Mechanismus, dessen jeder kleinste Teil g e -<br />

genseitig in ewigem Gleichgewicht <strong>und</strong> ewiger<br />

Bewegung ist, so kreisen die Sterne im Weltenraum;<br />

zwischen ihnen wie ein kleiner<br />

Funke die Sonne; um sie herum wie winzige<br />

Staubkörnchen die Planeten, unter diesen die<br />

Erde, jene Erde, auf der wir leben. Der<br />

Sonne Anziehungskraft bestimmt ihre Laufbahn,<br />

der Sonne Licht <strong>und</strong> Wärme gibt ihr<br />

Leben.<br />

Der Sonne Kraft wärmt die Luft <strong>und</strong> das<br />

Wasser. Das Wasser verdunstet <strong>und</strong> fällt als<br />

Regen wieder herab, macht die Gesteine zerbröckeln<br />

<strong>und</strong> löst sie auf, <strong>und</strong> so entsteht<br />

der fruchtbare Boden. Den in die Erde g e -<br />

fallenen Samen machen die Wärme der Sonne<br />

<strong>und</strong> der Regen keimen, entwickeln die Pflanze,<br />

die Blüte, die Frucht — von Pflanzen nähren<br />

sich die Tiere — <strong>und</strong> auch nur die Sonne<br />

ermöglicht das Leben der Menschen.<br />

Doch die Sonne strahlt ihr Licht <strong>und</strong><br />

ihre Wärme nicht immer gleichmässig auf<br />

die Erde. E i n J a h r braucht die Erde um<br />

ihre Laufbahn um die Sonne zu vollenden;<br />

auf diesem <strong>Weg</strong>e ist einmal die eine <strong>und</strong><br />

einmal die andere Seite den Strahlen der<br />

Sonne mehr ausgesetzt. Auf den Teil, der<br />

sich von der Sonne abwendet, fallen die<br />

Strahlen schiefer auf die Erde, die T a g e sind<br />

kürzer, die Luft kühlt ab, die Blätter der<br />

Pflanzen welken <strong>und</strong> fallen, die Tiere verkriechen<br />

sich in ihre Höhlen, der Landmann<br />

hat seine Ernte eingespeichert, den Samen<br />

gesäet, <strong>und</strong> beendigt seine Arbeit. — Die


Natur ruht, <strong>und</strong> sammelt neue Kräfte für das<br />

kommende Jahr. Dann werden die Tage wieder<br />

allmählich länger — wärmer — die gefrorene<br />

Erde taut auf, der Saft in den Pflanzen kommt<br />

in Bewegung, der angebaute Samen keimt,<br />

Mensch <strong>und</strong> Tier lebt auf <strong>und</strong> fühlt neue<br />

Kraft in sich — das Leben fängt von neuem an.<br />

Der Sterne Lauf, die Rotation der Erde,<br />

der Sonne Wärme bestimmen <strong>und</strong> leiten von<br />

Jahr zu Jahr der Menschheit tägliches Leben.<br />

Die selben ewigen Gesetze regieren den<br />

Grössten wie den Kleinsten: d e s M e n s c h e n<br />

L e b e n i s t e i n s m i t d e m L e b e n d e s<br />

W e l t a l l s . —<br />

Dies ist die Bedeutung des Weihnachtsfestes.<br />

Der 2 1 . Dezember ist der kürzeste T a g<br />

des Jahres — in den darauf folgenden Tagen<br />

feierten die alten Völker das Fest der Wiedergeburt<br />

der Natur <strong>und</strong> den Anfang des neuen<br />

Jahres. Ihr Leben war in noch engerem Zusammenhange<br />

mit dem Wechsel der Jahreszeiten<br />

<strong>und</strong> der Witterung; für sie begann mit<br />

den längeren Tagen <strong>und</strong> der keimenden Saat<br />

tatsächlich ein neues Leben, <strong>und</strong> aus Freude<br />

darüber schmückten sie ihre Häuser mit<br />

immergrünen Zweigen <strong>und</strong> begrüssten durch<br />

gemeinsame Fröhlichkeit das Neue Jahr.<br />

Dieser uralte Brauch vererbte sich von<br />

Geschlecht auf Geschlecht, <strong>und</strong> ist noch heute<br />

im Grossen derselbe geblieben, doch die<br />

Menschen sind anders geworden. In uralten<br />

Zeiten lebten sie ohne Denken <strong>und</strong> Sorgen<br />

gemeinsam mit einander <strong>und</strong> der Natur; sie<br />

fanden es ganz natürlich, dass Verwandte<br />

<strong>und</strong> Nachbarn Fre<strong>und</strong>e, alle anderen Menschen<br />

jedoch ihnen Feinde sind; doch im Laufe<br />

der Entwicklung lösten grössere Erfahrung<br />

<strong>und</strong> regeres Denken diese u n b e w u s s t e<br />

Einheit ab. An ihrer Stelle begann — nach<br />

langem Kämpfen <strong>und</strong> Leiden — das bewusste<br />

Gefühl der menschlichen Zusammengehörigkeit<br />

Wurzel zu fassen, das alle Menschen<br />

für gleich <strong>und</strong> für Geschwister hält, das<br />

höchste Gesetz des Zusammenlebens in der<br />

Liebe <strong>und</strong> dem Zusammenhalten erkennt <strong>und</strong><br />

einsieht, dass d e s M e n s c h e n L e b e n<br />

e i n s i s t m i t d e r M e n s c h h e i t .<br />

Wie die länger werdenden Tage das<br />

erwachende Leben <strong>und</strong> die Verjüngung der<br />

Natur ankündigen, ebenso bedeutet diese<br />

Wahrheit die Wiedergeburt der Gesellschaft.<br />

Für die ersten Christen war Jesus — an<br />

dessen Namen sich die grosse Idee der<br />

Brüderlichkeit knüpfte — die S o n n e , deren<br />

wachsende Kraft die Welt zu neuem Leben<br />

weckt; seinen Geburtstag verlegten sie auf<br />

den 24. December, den durch alte Traditionen<br />

geheiligten Tag, an dem die Sonne ihr<br />

Licht <strong>und</strong> ihre Wärme mit wachsender Kraft<br />

auf die Erde zu ergiessen beginnt.<br />

D i e s e r T a g m i t s e i n e r i h m<br />

f o l g e n d e n N e u j a h r s w e n d e s i n d<br />

a u c h f ü r u n s d a s S i n n b i l d d e r Z u -<br />

k u n f t l<br />

So rauh auch der Winter — der Sonne<br />

Strahlen besiegen ihn doch <strong>und</strong> bringen den<br />

Frühling; der angebaute Samen liegt Monate<br />

lang in der gefrorenen Erde, <strong>und</strong> keimt doch<br />

endlich auf <strong>und</strong> wird zu wehender grüner<br />

Saat, zur samenschwangeren Ähre <strong>und</strong> zum<br />

lebengebenden Brod. Es kommt die Zeit, in<br />

der das Herz <strong>und</strong> der Verstand der Menschen,<br />

wie im Frühling die Muttererde, auftauen <strong>und</strong><br />

erblühen; in der die Menschen in brüderlicher<br />

Liebe zusammen leben, <strong>und</strong> aller Hass, Unterdrückung<br />

<strong>und</strong> Ausnützung aufhören werden.<br />

Der Samen der Wahrheit ist in die Herzen<br />

gesäet. Der winterliche Sturm mag wüten,<br />

sie können diejenigen, welche die Wahrheit<br />

verkünden, in's Gefängnis werfen <strong>und</strong> verstummen<br />

machen, der Samen wird doch<br />

aufgehen! Die Sonnenstrahlen wecken ihn<br />

zum Leben sogar in Jenen, die jetzt noch<br />

keine Ahnung davon haben. Und wie gar<br />

nichts das Erwachen der Natur aufhalten<br />

kann, so wird auch die Kämpfer der Zukunft<br />

niemand aufhalten, die die Gesellschaft der<br />

freien <strong>und</strong> glücklichen Menschen aufbauen.<br />

Dann können wir mit Recht unsere<br />

Häuser mit immergrünen Zweigen schmücken,<br />

denn sie werden nicht mehr durch abgemarterte<br />

Arbeit unserer Mitmenschen aufgebaut<br />

sein, <strong>und</strong> Freude wird in ihnen wohnen.<br />

Dann können wir alle, im Übermut der<br />

Sylvesternacht, uns leichten Herzens <strong>und</strong><br />

guter Laune zu fröhlichem Fre<strong>und</strong>esschmaus<br />

setzen, im Bewusstsein, dass es niemanden<br />

mehr gibt, der hungert, während wir uns<br />

satt essen können!<br />

D e n k e n w i r d a r a n , u n d k ä m -<br />

p f e n w i r d a f ü r , d a m i t d i e s bald<br />

s o s e i !<br />

Die „Arbeiterzeitung"<br />

im Dienste des Kapitalismus.<br />

„Non olet", Geld stinkt nicht! Es ist ein<br />

geflügeltes Wort, aber in unserer Zeit der infamsten<br />

Heuchelei <strong>und</strong> verlogensten Demagogie<br />

ist dieses Wort wahrer, als es sonst<br />

je sein könnte. Angeblich ist die Wiener<br />

„Arbeiterzeitung" das offizielle Organ der<br />

österreichischen Socialdemokratie, ein Organ<br />

der Arbeiterschaft Österreichs, das für den<br />

Sieg <strong>und</strong> die Zukunft des Socialismus kämpft,<br />

usw. usw. Angeblich! Denn in Wahrheit hat<br />

dieses Blatt mit den idealen Gr<strong>und</strong>sätzen des<br />

Socialismus ebenso wenig zu tun, wie mit<br />

dem Socialismus überhaupt, dessen Gr<strong>und</strong>sätze<br />

ja auch nicht in den Spalten der „Arbeiterzeitung"<br />

zu finden sind, die in aller<br />

Monotonie ihres Inhalts es sich niemals gestattet,<br />

die socialistischen Lehren prinzipiell<br />

zu entwickeln, des Socialismus fast nie Erwähnung<br />

tut. Statt dessen ist die „Arbeiterzeitung"<br />

mit einem Material gefüllt, das ganz<br />

gut in ein bourgeoises, etwas radikal angehauchtes<br />

Blatt passte, das von Blättern<br />

dieser Genre sehr oft weit informativer g e -<br />

bracht wird, wie ja überhaupt der Neuigkeitsdienst<br />

der „Arbeiterzeitung" unter aller Kritik<br />

ist, ihre geistigen <strong>und</strong> sonstig literarischen<br />

Leistungen aller ernsteren Würdigung Hohn<br />

sprechen. Und mit diesen Tendenzen, mit<br />

den Gewohnheiten im Jargon bourgeoiser<br />

Pressmacherei ein Blatt herauszugeben, hat<br />

die „Arbeiterzeitung" auch die „ P r i n z i p i e n "<br />

die sehr fadenscheinige „Ehre" dieser Art<br />

Presse, übernommen. Ein angeblich socialdemokratisches<br />

Blatt gibt sich dazu her, in<br />

seiner Ausgabe vom 10. Dezember 1907 folgenden<br />

Erguss zu bringen, den wir im Auszug<br />

— Wozu zu viel des grausamen Spieles ? —<br />

folgen lassen:<br />

„75 J a h r e B a n k h a u s . Jubiläum d e s Bankh<br />

a u s e s Sch. <strong>und</strong> Sch. 1832 bis 1907. Gestein<br />

beging das unseren Lesern wohlbekannte Bankhaus<br />

. . eine ebenso schöne <strong>und</strong> stolze als<br />

auch seltene Feier: die Feier seines dreiviertelh<strong>und</strong>ertlangen<br />

Bestehens, die zwanzigjährige Firmazugehörigkeitsfeier<br />

eines seiner beiden Chefs, des<br />

Herrn . . . , <strong>und</strong> schliesslich die Feier des dreissigjährigen<br />

Bestandes des bedeutendsten Finanzblattes<br />

der Monarchie, . . . , welchem der nimmermüde<br />

<strong>und</strong> für die Grösse seines Hauses immer<br />

tätige Chef, Herr . . . , als Chefredakteur vorsteht.<br />

Fünf<strong>und</strong>siebzig Jahre sind gewiss eine stattliche<br />

Zahl, sie sind ein Menschenalter, aber achtunggebietend<br />

beim Bestand, eines auf reeller<br />

G r u n d l a g e e m p o r g e b l ü h t e n Unternehmens,<br />

w e l c h e s heute nicht nur zu den v o r n e h m s t e n<br />

B a n k h ä u s e r n W i e n s zählt, sondern — wie wir<br />

wohl unbestritten behaupten dürfen — sich eines<br />

Weltrufes erfreut. S t r e n g s t e Reellität <strong>und</strong> Ehrenhaftigkeit<br />

seiner Firmenchefs, gepaart mit deren<br />

nie ermüdender Tätigkeit <strong>und</strong> einer sorgfältigen<br />

Zusammenstellung ihres Beamtenkörpers sowie<br />

der sonstigen Arbeitskräfte, waren von Anbeginn<br />

das F<strong>und</strong>ament, auf dem das Haus, das zur Zeit<br />

nicht nur in kaufmännischen Kreisen eine dominierende<br />

Stellung einnimmt, sondern auch das<br />

Vertrauen des Publikums in hohem Grade besitzt,<br />

sich zu seiner jetzigen stolzen Höhe aufbauen<br />

musste <strong>und</strong> aufgebaut hat. Das Bankhaus, welches<br />

im Jahre 1832 . . . gegründet wurde, ging im<br />

Laufe der Zeit an dessen ältesten Hauptkassier,<br />

. . . , über, später an Herrn . . . <strong>und</strong> die<br />

jetzigen Firmenchefs, die Herten . . . , welch<br />

letztere durch Jahrzehnte die oberste Führung des<br />

Hauses als Einzelprokuristen innehatten <strong>und</strong> d e r e n<br />

unermüdlichem W i r k e n hauptsächlich d e r in<br />

den letzten z w a n z i g J a h r e n vor sich g e g a n g e n e<br />

A u f s c h w u n g zu v e r d a n k e n ist".<br />

Um solch lyrischen Erguss den Wiener<br />

Proletariern darzubieten — dazu bedarf es<br />

einer „Arbeiterzeitung"! Eine solche Verhöhnung<br />

jedes wirklich socialistischen Empfindens<br />

kann wahrlich nicht leicht übertrumpft<br />

werden von den politischen Ehrgeizlingen<br />

<strong>und</strong> Bannerträgern der internationalen<br />

Socialdemokratie. Bekanntlich gibt es keine<br />

Institution der kapitalistischen Wirtschaftsweise,<br />

die sich klarer, merkbarer <strong>und</strong> unverhüllter<br />

auf die Ausbeutung des Proletariats,<br />

der Produzenten durch die Saugrüssel des<br />

Gesamtsystems f<strong>und</strong>iert, als es ein Bankinstitut<br />

ist. Jedes Prozent Zinsen, jeder Zinsfuss <strong>und</strong><br />

jede Dividende, die ein Bankhaus seinen<br />

Aktionären <strong>und</strong> Deponenten auszahlt, ist die<br />

Frucht unbezahlter, menschlicher Arbeitskraft,<br />

der Raubbau, der auf dem Felde menschlicher<br />

Arbeitskraft betrieben wird. Ein Bankinstitut<br />

ist zudem auch noch das finanzielle Nervenzentrum<br />

der staatlichen Herrschaft <strong>und</strong> in<br />

seinen letzten Ausläufen vollständig identisch<br />

mit dem Staate <strong>und</strong> dem Kapitalismus, welch<br />

letzteren zu bekämpfen, ein socialdemokratisches<br />

Blatt doch wenigstens vorgibt!<br />

Solch einem Institut öffnet eine „Arbeiterzeitung"<br />

ihre Spalten! An ihm rühmt sie die<br />

„ r e e l l e G r u n d l a g e " , die „ s t r e n g s t e<br />

R e e l l i t ä t u n d E h r e n h a f t i g k e i t d e r<br />

F i r m e n c h e f s " usw. Es ist ein Verrat<br />

schnödester Art an den Interessen des<br />

schmählich getäuschten österreichischen Proletariats,<br />

der hier betrieben wird.<br />

Die „Arbeiterzeitung" hat sich wieder<br />

einmal selbst demaskiert. „Non ölet!" Ist es<br />

glaublich, dass sie das obige Reklameartikelchen<br />

o h n e B e z a h l u n g veröffentlichte?<br />

Wir glauben es nicht. Und damit hat die<br />

„Arbeiterzeitung" wieder einmal bestätigt, dass<br />

sie k e i n sozialistisches Organ, sondern eine<br />

verkappte Handlangerin des Kapitalismus ist.<br />

Parlamentarische Tätigkeit<br />

<strong>und</strong> politischer „Klassenkampf".<br />

Die österreichische Socialdemokratie ist<br />

bislang nicht im Stande gewesen, auf dem<br />

<strong>Weg</strong>e der parlamentarischen Aktion auch nur<br />

die geringste Verbesserung der elenden Lebenslage<br />

unseres Proletariates <strong>und</strong> Bauernstandes<br />

durchzuführen. Dafür aber ist ihr ein<br />

Triumph geglückt, der in den Annalen einer<br />

socialistischen Chronik eine unvergängliche<br />

Würdigung verdient.<br />

Wir sind Socialisten, weil wir Gegner<br />

des Privateigentums sind. Das Privateigentum<br />

erhält sich im gesellschaftlichen Leben nur<br />

durch die bewaffnete Militär- <strong>und</strong> Justizgewalt<br />

des Staates. Da der Proletarier kein Privateigentum<br />

besitzt, bedürfen nur die herrschenden<br />

<strong>und</strong> besitzenden Klassen des Schutzes ihres<br />

Privateigentums. Der Socialismus strebt einen<br />

Zustand gesellschaftlichen Gemeineigentums


Internationale des revolutionären Socialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Österreich.<br />

„An die Herren Julius Ehinger <strong>und</strong> Josef Sindelar<br />

in Wien . . .<br />

Die von Ihnen laut anher erstatteten Anzeige<br />

. . einberufene Volksversammlung, mit dem<br />

Zwecke einer internationalen Sympathie- <strong>und</strong> Protestk<strong>und</strong>gebung<br />

für E d u a r d J o r i s , wird gemäss<br />

§ 6 des Gesetzes vom 15. November 1867, R.-G.-Bl.<br />

Nr. 135 b e h ö r d l i c h u n t e r s a g t . . . "<br />

Gerade im Lichte der nun erfolgten Freilassung<br />

des Genossen Joris durch den sultanischen Halbmond<br />

erscheint dieses Versammlungsverbot umso interessanter.<br />

In Österreich ist also „behördlich untersagt",<br />

für einen nun e r w e i s l i c h u n s c h u l d i g e n<br />

M e n s c h e n das Interesse der Öffentlichkeit in<br />

Bewegung zu setzen, nachdem dieser über 2 Jahre<br />

in dunkelster Kerkergruft schmachtete! Dabei soll<br />

nicht ausser Acht gelassen werden, dass diese plötzliche<br />

Freilassung des Genossen Joris nur dem Umstände<br />

zuzuschreiben ist, dass das sultanisch-asiatische<br />

Regime befürchtete, die von den Anarchisten<br />

international begonnene Befreiungspropaganda würde<br />

auch sehr bald auf anständige bürgerliche Kreise<br />

übergreifen, die ihre liberalen Ideale noch nicht im<br />

Geldschrank hermetisch verschlossen halten.<br />

Angesichts eines solchen Verbotes wirft sich<br />

wie von selbst die Frage auf: Was eigentlich ist<br />

den österreichischen B e h ö r d e n , d i e doch nun auch<br />

im Zeichen des allgemeinen Wahlrechtes stehen,<br />

„behördlich untersagt"?! U. A. w. g.<br />

Nicht vergessen zu konstatieren, wollen wir<br />

auch, dass die Wiener „Arbeiterzeitung", trotzdem<br />

ihr Versammlungsanzeige <strong>und</strong> Appell für Joris rechtzeitig<br />

zugingen, sich gehörig — a u s s c h w i e g .<br />

Ein im Kerker für die Sache des Proletariats<br />

Schmachtender bedeutet eben keine Wahlstimme . . .<br />

• *<br />

Eine rege agitatorische Tüchtigkeit entfalten<br />

die Wiener Gruppen <strong>und</strong> die einzelnen Kameraden<br />

für die Idee des Anarchismus. Von der Intensität<br />

dieser Propaganda kann man sich leicht einen Begriff<br />

machen, wenn man nur einige der während<br />

der letzten drei Wochen stattgehabten Unternehmungen<br />

ins Auge fasst. Anlässlich der bejammerungswürdigen,<br />

durch die herrschende Teuerung<br />

noch im schlechtesten Sinne verschärften Zustände<br />

<strong>und</strong> der auf diese bezugnehmenden demagogischen<br />

Agitation der Socialdemokraten, beriefen unsere Kameraden<br />

des X. Bezirkes eine öffentliche Versammlung<br />

ein, über das Thema „ L e b e n s m i t t e l v e r -<br />

t e u e r u n g u n d P a r l a m e n t a r i s m u s " . —<br />

Die nächste sehr gut besuchte Versammlung im<br />

XIV. Bezirk behandelte das Thema „ A u g e n -<br />

b l i c k s f o r d e r u n g e n u n d E n d z i e l e " . —<br />

Trotz des Verbotes der Jorisversammlung fand eine<br />

solche im Rahmen des § 2 statt, in der über den<br />

„ K l a s s e n k a m p f z w i s c h e n B o u r g e o i s i e<br />

u n d s o c i a l e r l d e e " referiert wurde, i n welchem<br />

Vortrag auch Joris nicht zu kurz kam. — Sehr anregend<br />

<strong>und</strong> wertvoll sind die „ I n t e r n e n Disk<br />

u s s i o n s a b e n d e " , die von den Föderationsgruppierungen<br />

in Wien für jeden Sonntag Abends<br />

in der Einsiedlergasse anberaumt wurden. Es sind<br />

dies Abende, in denen die Genossen nicht als Propagandisten,<br />

sondern als lerneifrige Forscher <strong>und</strong><br />

Wahrheitssucher auftreten <strong>und</strong>, durch Diskussionen<br />

gegenseitig belehrend, sich erst so recht zu tüchtigen<br />

<strong>und</strong> geistig schlagfertigen Progagandisten <strong>und</strong><br />

Anarchisten ausbilden. Als erstes Thema diente eine<br />

halbstündige Einleitungsrede vom Genossen Pierre<br />

Ramus über „Syndikalismus <strong>und</strong> Anarchismus". An<br />

der Diskussion beteiligten sich u. A. die Genossen<br />

Pletka, Gahlberg, Wollner, Sahorni, Brünner. Die<br />

überwiegende Mehrheit der stattlich vertretenen<br />

Genossen stand auf dem Standpunkt, dass der Syndikalismus<br />

nichts weiter als eine taktische Methode<br />

des Anarchismus werden könne, nie aber die Weltanschauung<br />

des Anarchismus ersetzen kann, sondern<br />

dort, wo er gross, eben von dieser zehre. — Ausserordentlich<br />

<strong>und</strong> enthusiasmierend war der Empfang,<br />

den die Wiener Kameraden der ersten Nummer des<br />

„W. f. A." bereiteten; dank dieses Enthusiasmus<br />

<strong>und</strong> edlen Wollens wird unsere Auflage in Wien<br />

unerwartet gross gewesen sein; darüber mehr in<br />

Wr. 3. — In der Diskussionsversammlung vom 22.<br />

Dezember fand eine Vorlesung jenes vom J u s t i z -<br />

r a t Dr. E r n s t M a m r o t h verfassten Protestaufsatzes<br />

über das unzweifelhaft einen Justizirrtum,<br />

einen Justizmord bergende Todesurteil über das<br />

deutschländische Ehepaar Klein statt. — Einen durchschlagenden<br />

Erfolg haben die unermüdlichen Genossen<br />

der „Morgenröte" mit der von ihnen arrangierten<br />

Weihnachtsfeier zu verzeichnen. Neben<br />

vortrefflichen gesanglichen Leistungen, wurde auch<br />

der Propaganda Genüge getan durch einen Festesvortrag<br />

über „ P h a n t a s i e n e i n e s W e i h -<br />

n a c h t s a b e n d s " . — Noch hesser wurde aber<br />

der nächste Morgen ausgenützt, wo der soc. dem.<br />

Reichsratsabgeordnete <strong>und</strong> Gemeinderat R e u m a n n<br />

über die „ L e b e n s m i t t e l v e r t e u e r u n g u n d<br />

d i e A b s t i m m u n g d e s 28. N o v e m b e r "<br />

sprach. Der Genosse Pierre Ramus — der übrigens<br />

das Referat in all den obigen Versammlungen etc.,<br />

hielt — trat ihm entgegen <strong>und</strong> widerlegte ihn<br />

Punkt auf Punkt so sehr, dass Herr Reumann „ang<br />

e s i c h t s d e r v o r g e r ü c k t e n S t u n d e " —<br />

wer lacht d a ? — eine Antwort weit von sich wies.<br />

Es war ein durchschlagender Erfolg, da viele Socialdemokraten<br />

auf uns zukamen <strong>und</strong>, uns die Hände<br />

schüttelnd, uns Recht gaben. — Sehr interessant,<br />

anregend <strong>und</strong> erhebend war auch der „Rezitationsabend",<br />

den die vereinigten anarch. Klubs in Wien<br />

in interner Zusammenkunft, aber vorzüglichem Besuch<br />

am 29. Dezember abhalten wollten. Der Genosse<br />

Pierre Ramus sollte das von ihm verfasste „<strong>Unser</strong>e<br />

Heimat" (antimilitaristische Szenen <strong>und</strong> Dialoge)<br />

vorlesen, während der czechische Genosse J u l i u s<br />

Polacek, ein Künstler in seinem Fach, den czechischen<br />

Teil der Anwesenden durch den Vortrag der<br />

freiheitlichen Gedichte von Bezruc, Sova, Machar,<br />

Neumann, Srámek entzücken wollte. Leider v e r -<br />

b o t d i e P o l i z e i s ä m t l i c h e G e i s t e s<br />

d a r b i e t u n g e n ! — Überall fanden unsere<br />

Ideen einen zur Aufnahme bereiten Boden, es<br />

bedarf nur des Sämannes. Kameraden von überall,<br />

lasst Euch diese Pionierarbeit nicht verdriessen!<br />

Sie wird schöne <strong>und</strong> reife Früchte tragen!<br />

* *<br />

*<br />

Ein wackerer Vorkämpfer „Der Freidenker"<br />

(Wien), ein Vorkämpfer für die erste Stufe jeder<br />

Geistesbefreiung, nämlich jene der Befreiung vom<br />

Glauben an irgend ein übersinnliches Wesen, wird<br />

mit seinem soeben begonnenen neuen Jahrgang<br />

z w e i Mal im Monat, statt wie bisher nur ein Mal<br />

zu erscheinen anheben. Wir wünschen dem Mitkämpfer,<br />

der nun doppelt schweres Geschütz auffahren<br />

lassen kann, Glück zur Vermehrung seiner<br />

Tätigkeit, zum Ansturm wider die Burg finstersten<br />

Unverstandes, genannt Klerikalismus <strong>und</strong> der von<br />

ihm ausgestreuten Lehren.<br />

Ungarn.<br />

In den 80 Jahren erschien in Budapest ein socialistisch-anarchistisches<br />

Organ „Volkswille". Eben<br />

daselbst gab 1896. der bekannte Tolstoyanische<br />

Philosoph E u g e n H e i n r i c h - S c h m i t t seine<br />

„ideal-anarchistische" Monatsschrift: „Ohne Staat"<br />

heraus, die besonders auf die Bauernbevölkerung<br />

der ungarischen Ebene nicht ohne Einfluss blieb;<br />

es bildeten sich an manchen Orten „Brudergemeinden*.<br />

Die Propaganda Schmitts bewegte sich von<br />

Anfang an im Sinne der Gewaltlosigkeit, des Nichtwiderstrebens<br />

<strong>und</strong> des evangelischen Urchristentums<br />

<strong>und</strong> kann keine revolutionäre „Bewegung" genannt<br />

werden; sie löste sich schliesslich in eine neudogmatische<br />

<strong>und</strong> mystische R e l i g i o n auf. —<br />

Seit Februar 1907 erscheint in Ungarn das erste<br />

r e v o l u t i o n ä r e a n a r c h i s t i s c h e B l a t t<br />

„ D i e S o c i a l e R e v o l u t i o n " . Anfänglich Privatunternehmen,<br />

wird dasselbe seit Juli von der „Budapester<br />

Gruppe der ungarländischen Revolutionären<br />

Socialisten" herausgegeben. Dass der Boden in<br />

Ungarn für die Ideen des anarchistischen Kommunismus<br />

reif ist, beweisen die zahlreichen begeisterten<br />

Zuschriften, die fortwährend von allen Teilen<br />

des Landes aus den Reihen der Arbeiter an die<br />

Redaktion gelangen. Das Blatt erscheint in c. 3000<br />

Exemplaren (zweimal monatlich). Es führt einen<br />

starken Kampf gegen den Parlamentarismus (die<br />

ungarische Arbeiterbewegung besteht jetzt, unter<br />

der Führung der Socialdemokratie, ausschliesslich<br />

in der Forderung des allgemeinen Wahlrechtes!)<br />

<strong>und</strong> hat aus Anlass der grossen Arbeiterdemonstration<br />

<strong>und</strong> des eintägigen Massenstreikes bei Wiedereröffnung<br />

der Parlamentssitzungen (10. Oktober (ein<br />

Flugblatt in 10.000 Exemplaren herausgegeben, in<br />

welchem die Nutzlosigkeit <strong>und</strong> Schädlichkeit der<br />

Gesetze <strong>und</strong> die Notwendigkeit des revolutionären<br />

Generalstreikes <strong>und</strong> der direkten Aktion klargelegt<br />

wurden. Das Flugblatt wurde von der Polizei konfisciert,<br />

aber erst nachdem der grösste Teil der<br />

Exemplare unter die Arbeiter verteilt worden war.<br />

Auch die Anfänge einer vielversprechenden antimilitaristischen<br />

Propaganda wurden in's Leben gerufen.<br />

Zur Zeit der Assentierung (März) <strong>und</strong> dem Einrücken<br />

der Rekruten (1. Oktober) werden spezielie illustrierte<br />

antimilitaristische Nummern herausgegeben<br />

<strong>und</strong> in je 6000 Exemplaren unter den Rekruten <strong>und</strong><br />

jugendlichen Proletariern verteilt. Zum 1. Oktober<br />

erschien auch ein Aufruf an die Rekruten, von fünf<br />

jungen Mitgliedern der budapester Gruppe unter-<br />

zeichnet, der die Soldaten auffordert, ihr Gewissen<br />

<strong>und</strong> ihr proletarisches Klassenbewustsein in jedem<br />

Falle höher zu stellen als die Befehle ihrer Vorgesetzten.<br />

Dieser Autruf wurde in Budapest <strong>und</strong> anderen<br />

grösseren Städten in grosser Menge an die<br />

Mauern geklebt <strong>und</strong> verteilt. Die Polizei Hess denselben<br />

— w<strong>und</strong>erbarer Weise — unbehelligt, wohl<br />

aber stimmte die socialdemokratische Presse ein<br />

Zetergeschrei über diese „ V e r f ü h r u n g d e r<br />

A r b e i t e r" (I) an <strong>und</strong> erklärte feierlichst, dass sie<br />

nichts mit dem Aufruf zu tun habe, den Antimilitarismus<br />

im höchsten Grade missbillige <strong>und</strong> dass die<br />

Socialdemokraten immer gute Patrioten waren <strong>und</strong><br />

bleiben w e r d e n ! ! — Überhaupt hat von Anfang an<br />

die Socialdemokratie mit der grössten Erbitterung<br />

gegen uns gekämpft; es kann sich ihr nur die Staatsanwaltschaft<br />

würdig zur Seite stellen, die von den<br />

bis jetzt erschienenen 21 Nummern 8 confisciert <strong>und</strong><br />

insgesamt gegen c. 20 Artikel Pressprocesse angestrengt<br />

hat.<br />

Die Zahl der bisher in ungarischer Sprache<br />

herausgegebenen anarchistischen Broschüren ist noch<br />

gering. Erschienen sind in früheren Jahren: „ D i e<br />

A n a r c h i e " von E . Reclus <strong>und</strong> „ A n d i e j u n g e n<br />

L e u t e " von Kropotkin; in neuerer Zeit: „Bericht<br />

der Confederation General du Travail über G e -<br />

n e r a l s t r e i k <strong>und</strong> A n t i m i l i t a r i s m u s " ; <strong>und</strong><br />

als Heft 1. der „Bibliotek der Socialen Revolution"<br />

„ D i e G e w e r k s c h a f t e n <strong>und</strong> d i e R e v o l u -<br />

t i o n " von M. Pierrot. Andere Broschüren (Malatesta's<br />

„ G e s p r ä c h z w i s c h e n z w e i L a n d -<br />

a r b e i t e r n " ; Friedebergs: „ P a r l a m e n t a r i s -<br />

m u s <strong>und</strong> G e n e r a l s t r e i k " ) die in der „Socialen<br />

Revolution" in Fortsetzungen erschienen, sind in<br />

Vorbereitung.<br />

Ausser der „Budapester Gruppe der revolutionären<br />

Socialisten", die regelmässig ihre wöchentlichen<br />

Vorträge <strong>und</strong> Discussionen veranstaltet, bilden<br />

sich auch anderswo Propagandagruppen in wachsender<br />

Zahl. So die syndikalistische Tischgesellschaft<br />

der budapester Kellner: „Brüderlichkeit", die Gruppen<br />

in den Provinzstädten u. s. w.<br />

Eine starke Verstärkung hat unsere Bewegung<br />

erfahren durch den — im August erfolgten — Anschluss<br />

der bisherigen sogenannten „Unabhängigen<br />

Socialisten". Diese bestehen in Organisationen von<br />

Bauern <strong>und</strong> Landarbeitern, die sich vor ungefähr<br />

10 Jahren von der socialdemokratischen Partei losgelöst<br />

hatten, aber unter der Führung eines verworrenen<br />

Menschen ohne klares <strong>Ziel</strong> oder Programm<br />

hinvegetierten. Nach dem Eingehen ihres Blattes,<br />

des „Landarbeiters", wurden die in vielen Gruppen<br />

organisierten Mitglieder dieser Fraktion Leser<br />

der „Socialen Revolution", <strong>und</strong> es ist zu hoffen,<br />

dass sie sich dadurch bald zu überzeugten Kämpfern<br />

des anarchistischen Kommunismus heranbilden werden.<br />

— Überhaupt ist es Hauptbestreben der ungarischen<br />

Genossen, eine kräftige, revolutionäre Landarbeiter-<br />

<strong>und</strong> Bauernbewegung in's Leben zu rufen,<br />

in der sie — besonders in einem Agrarland wie<br />

Ungarn — den Hauptfaktor der socialen Revolution<br />

erblicken.<br />

Galizien.<br />

Demokratismus <strong>und</strong> das ihm verbrüderte<br />

Politikantenwesen lasten wie ein Fluch auf der<br />

gesamten Arbeiterbewegung Galiziens, sie sind auch<br />

die ausgesprochensten Feinde des revolutionären<br />

Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus. Die Sozialdemokratie,<br />

deren Alleinherrschaft, gegründet auf der Finsternis<br />

der Massen, ihr Dasein den erwähnten} B<strong>und</strong>esgenossen<br />

verdankt, hat die grosse Bedeutung des<br />

demokratischen Elements für die Parteityrannei<br />

verstanden, sie hat auf ihrer Fahne die Losung der<br />

„Diktatur des Proletariats" angebracht <strong>und</strong> alle intellektuellen<br />

<strong>und</strong> idealistischen Faktoren in der<br />

Bewegung dem gemeinen Materialismus untergeordnet.<br />

Darin sehe ich die Hauptquelle <strong>und</strong> den<br />

unaufhörlich tätigen s p i r r t u s m o v e n s des<br />

inneren Rückschrittes des revolutionären Geistes in<br />

der soc. dem. Arbeiterbewegung, ihrer Abschwächung<br />

in ausschliesslichen bürgerlichen Augenblicksforderungen<br />

<strong>und</strong> spiessbürgerlicher Versicherungshascherei.<br />

Denn es ist eine unbestreitbare Tatsache,<br />

dass nur der heilige Enthusiasmus für die Ideale des<br />

Socialismus der grosse Urheber revolutionärer Taten<br />

gewesen <strong>und</strong> diesen „Ütopismus" hat die „Vorsteherin<br />

des kämpfenden Proletariats" aus der proletarischen<br />

Massenbewegung hinausgejagt.<br />

Dafür hat schon die schreckliche Lage der<br />

proletarischen Massen Galiziens gesorgt, dass diese<br />

sg. Träger des proletarischen Klassenkampfes von<br />

dem Volke meist gutmütig aufgenommen <strong>und</strong> mit<br />

dem Repräsentationsmonopol beschenkt wurde. Tief<br />

gesunken ist der Proletarier in Galizien, wenn er<br />

die Mandatenjägerbande, die auf den Rücken der


eiten Massen sich stützend, die schändlichste<br />

Schacherpolitik treibt, die brutalste Autokratie ausübt,<br />

wenn er von derselben das revolutionäre Ideal der<br />

Zukunft begründet zu sehen hofft, wenn er die niederträchtigsten<br />

<strong>und</strong> von keckem Ignorantismus überfüllten<br />

Antianarchistenpamphlete als den heiligsten, idealsten<br />

Streit für „das höchste Glück der Menschenkinder"<br />

betrachtet <strong>und</strong> in dieser Verblendung den<br />

„demokratischen" Heuchlern <strong>und</strong> Possenspielern<br />

applaudirt. Dieser vom demokratischen Geiste<br />

durchdrungene Massentypus leistet hier dem Anarchismus<br />

Widerstand; der demokratische Sozialismus<br />

konnte <strong>und</strong> musste sich notwendigerweise auf dieser<br />

Basis gründen, es ist auch das unbestreitbare Verdienst<br />

der socialdemokratischen Pfaffen, diesen Sieg<br />

der gemeinsten, finsteren Elemente in der Natur<br />

der Masse durchgeführt zu haben. Und es ist —<br />

um Schillers Worte zu gebrauchen — „das ganz<br />

Gemeine, das ewig Gestrige, was immer war <strong>und</strong><br />

immer wiederkehrt <strong>und</strong> morgen gilt, weil's heute<br />

hat gegolten", das den Charaktergr<strong>und</strong>zug der sg.<br />

Proletariermasse aus der sozialdemokratischen Schule<br />

Galiziens bildet.<br />

Von einer wahren revolutionären Arbeiterbewegung<br />

kann unter solchen Umständen keine<br />

Rede sein. Die sozialdemokratischen Mandatenjäger<br />

erinnere ich nur an die letzte Wahlreform- <strong>und</strong><br />

Wahlbewegung, an jenen Schwindel <strong>und</strong> die Korrumpierung<br />

der Masse durch öffentliche Profanation der<br />

Ideale des Sozialismus, d u r c h K o m p r o m i s s e<br />

m i t d e n b ü r g e r l i c h e n P a r t e i e n u n d<br />

m i t d e r R e g i e r u n g . Auf den Volksversammlungen<br />

waren die Sozialdemokraten die „V o rk<br />

ä m p f e r d e r R e l i g i o n " , energischesten<br />

Protestanten gegen den „coup d' etat" seitens der<br />

„Atheisten", wider das religiöse Gewissen der<br />

Proletarier.'Verteidiger der gesamten Nation (jenseits<br />

von jeder Klassenscheidung I) „legale Reformisten",<br />

die nicht gegen den Staat kämpfen; i h r k o s c h e -<br />

r e n „ w i s s e n s c h a f t l i c h e n " . M a r x i s m u s -<br />

o r t h o d o x e n l — Ihr verdammtet damals die<br />

„phantastischen", Revolutionäre, euch selbst reklamierend<br />

als Erlöser des Volkes, <strong>und</strong> das will ich<br />

Euch zugeben: Ihr habt den galizianischen Proletarier<br />

„erlöst", beruhigt, mit eitler Hoffnung auf das<br />

parlamentarische „panaceum" erfüllt; ihr habt Euer<br />

<strong>Ziel</strong> erreicht: für die Arbeiter wertlose Abgeordnetensitze<br />

im ganzen Land I Unter solchen Umständen<br />

treten die galizianischen Anarchisten in die praktische<br />

Arbeit ein.<br />

Wir Anarchisten sind nicht mehr ganz vereinzelt<br />

in unseren Ansichten, wissen, dass wir unter den Arbeitern<br />

viele enthusiastische Mitkämpfer finden<br />

werden. Aus reiner „Utopie" strömt ihr Anarchismus,<br />

sie wollen die Masse ihrem Massentum entfremden,<br />

die Einzelnen entwickeln, in ihrer Brust<br />

die heilige Flamme des Enthusiasmus für die volle<br />

Freiheit, für die <strong>Ziel</strong>e der Anarchie entzünden, eine<br />

Gemeinschaft gründen, die aus Dichtern, Träumern,<br />

Arbeitern bestehen soll, die gemeinsam Revolutionäre<br />

werden müssen. Diese grosse Aufgabe schleudern<br />

unsere Genossen in den Lebensstrom; ihre<br />

Losung ist: Proletarier, werdet stark, ringt nach<br />

Befreiung! Nur auf diesem <strong>Weg</strong>e kann der Proletarier<br />

die Überwindung der schmarotzerischen Instinkte<br />

der Politiker aller Parteien durchsetzen. In<br />

diesem Sinne führe ich die philosophische <strong>und</strong> theoretische<br />

Propaganda zu Gunsten der Idee der Anarchie<br />

in meiner „Utopja". Es besteht noch eine zweite<br />

kameradschaftliche Richtuig, eine viel stärkere, auf<br />

den Prinzipien der syndikalistisch-revolutionären<br />

Bewegung des Auslandes ruhend, die sich um die<br />

neue Zeitschrift „Nowa Epoka" gruppiert. Ihre Aufgabe<br />

ist, die breiten Arbeitermasserr über das bourgeoise<br />

Schwindelwesen des Parlamentarismus aufzuklären,<br />

sie für die Taktik der Generalstrikesidee<br />

zu gewinnen <strong>und</strong> so dem Anarchismus <strong>und</strong> Socialismus<br />

zuzuführen! Arnold Gahlhorg.<br />

Russland.<br />

(Schluss.)<br />

Kaum hatte es sich herausgestellt, dass die<br />

neuen Manipulationen <strong>und</strong> Prestigationen mit dem<br />

Wahlgesetz eine recht rechtsstehende Mehrheit zu<br />

Tage fördern — wurden alle liberalen Zeitungen<br />

unterdrückt <strong>und</strong> eine Menge Bücher — auch Theaterstücke<br />

aus dem Verkehr genommen; alles, was<br />

links von den Kadetten stand, verlor in wachsendem<br />

Masse Anhänger <strong>und</strong> Stimmen aber auch die Kadetten<br />

mussten büssen. Es wurde ganz ungeniert vorgegangen<br />

<strong>und</strong> das Volk blieb ohne Sprachrohr <strong>und</strong><br />

Herold, die es sich in früherer geheimer oder in<br />

neuer Weise wird suchen müssen. Wohin man sich<br />

auch umsah, auf feste organisierte Hilfe war nicht<br />

zu rechnen. Und nun kam die Einsicht, nicht<br />

nur bei der Intelligenz, auch beim Volke, dass Aufklärung<br />

not tut, um Bewusstsein, Selbständigkeit<br />

<strong>und</strong> Beständigkeit zu zeitigen, da das wildflackernde<br />

Strohfeuer nicht für die Dauer vorhält, weder<br />

wärmt noch schmutzt, wohl aber täuscht. So hat<br />

denn ein Bildungsfieber alle Kreise ergriffen, Schu-<br />

len, Lesezirkel, Volksuniversitäten, Zeitschriften<br />

werden geschaffen <strong>und</strong> besucht, selbst der Bauer<br />

saugt wie ein Schwamm das Wissen in sich ein<br />

<strong>und</strong> schafft sich Blätter — das ist eine der<br />

Waffen, der sichersten, von innen heraus wirkenden<br />

Waffen gegen Unterdrücker <strong>und</strong> Verdummer,<br />

Unterdrückung <strong>und</strong> Verdummung.<br />

Freilich, die breiten Schichten der materiell<br />

gesicherten Intelligenz sind etwas müde — Tschechow<br />

steckt ihnen noch zu sehr im Blut, Gorkij<br />

<strong>und</strong> Andrejew noch zu wenig — <strong>und</strong> sie möchten<br />

ihre mageren Lorbeeren für sich behalten. D o c h<br />

d e r B a u e r n s t a n d w i r d s i e v o r s i c h h e r -<br />

s c h i e b e n !<br />

Er muss es tun! Er hat zu viel zum Sterben,<br />

zu wenig zum Leben, er muss der Qual Schach bieten,<br />

er muss sich aus der Schlinge ziehen, wenn er<br />

nicht mit dem Lande eines elenden Todes sterben<br />

will. Da ist schon ein blutiger besser, weil kürzer,<br />

sicherer! Die Cholera ist noch nicht erloschen, <strong>und</strong><br />

Teuerung zieht schon langsam von Südosten auf.<br />

K o m m t k e i n e H i l f e , s o k o m m t n o c h v o r<br />

d e m F r ü h l i n g d i e H u n g e r s n o t u n d<br />

b r e i t e t s i c h ü b e r d e n S ü d e n a u s , o h n e<br />

v o r D e k r e t e n H a l t z u m a c h e n .<br />

Doch wen soll die Existenz einer so zusammengesetzten<br />

Duma täuschen, welche Gegensätze mildern,<br />

ausgleichen? Dient sie so nicht vielmehr zur Aufreizung<br />

aller Leidenschaften, zur Empörung, in dem<br />

sie die Teile überspannt, den Schraubstock zu stark<br />

anzieht, <strong>und</strong> unmögliche Bedingungen auf den<br />

Kulminationspunkt treibt, indem sie schon durch<br />

ihre Existenz evident nachweist, dass in ihr kein<br />

Heil, keine Rettung sein kann, wenigstens nicht<br />

für den aussterbenden Bauer, den geknebelten<br />

Arbeiter? Fördert sie nicht die Desperation <strong>und</strong><br />

lässt nach anderen Hilfsmitteln ausschauen —<br />

besser als alle Lehren <strong>und</strong> Reden der Revolutionäre<br />

— sie, die als lebendige Tatsache Propaganda<br />

durch gegenteilige Demonstration treibt?<br />

Die Gewalt in zweifelhaften Handschuhen hat<br />

noch niemand für Recht gehalten, wenigstens nicht<br />

in so grober Form, dass die Krallen selbst durch<br />

das Leder kratzen! Und gleissnerisches Augenverdrehen<br />

<strong>und</strong> Beteuerungen, dass man das Volkswohl<br />

wolle, sind ein so altes Stück, dass sie nicht<br />

viele von den Leuten mehr täuschen, denen es um<br />

ein Volkswohl wirklich brennend zu tun ist, nicht<br />

von denen, die es immer nur als hübsche Fechtparade<br />

im M<strong>und</strong>e führen, um in die Duma gewählt<br />

zu werden!<br />

Die rechtgläubige Kirche, die lange die Rolle<br />

eines Bollwerks gegen Freiheit <strong>und</strong> Selbstbestimmung<br />

spielte <strong>und</strong> deshalb ihr Innenleben einbüsste,<br />

ist haltlos leer, achselträgerisch <strong>und</strong> liebedienerisch,<br />

verliert täglich an Achtung, Anhang <strong>und</strong> Kraft —<br />

ganze Gemeinden <strong>und</strong> einzelne Häupter verlassen<br />

sie; <strong>und</strong> was fest zu ihr steht, ist indifferent oder<br />

ungebildet, so dass es sie auch, falls keine Reformation<br />

erfolgt, mit der Zeit verlassen muss.<br />

Die „freie Gewalt* tritt wieder unverbrämt in<br />

Tätigkeit — auch wenn die Gleissner schreien:<br />

„Ja Bauer, das ist etwas Anderes* — <strong>und</strong> beweist,<br />

dass im Volk noch Tüchtigkeit <strong>und</strong> Tatkraft, Furchtlosigkeit<br />

<strong>und</strong> Entschlossenheit, Wille <strong>und</strong> Empfindung<br />

quellen, die es wert wären, in andere Fassung<br />

gebracht zu werden.<br />

Und die die nächste Zakunft auch wohl in<br />

andere Fassung bringen wird. Wo die Menschen<br />

noch nicht ausgestorben sind, können auch die Zeiten<br />

nicht ewig schlecht bleiben. Wo Kraft ist, da ist<br />

auch Leben, <strong>und</strong> da müssen sich <strong>Weg</strong>e öffnen<br />

allen Hindernissen zum Trotz — w i e e i n B a u m<br />

s e i n e W u r z e l n s e l b s t d u r c h F e l s e n<br />

t r e i b t I Th. H., Moskau.<br />

Briefe unserer Leser.<br />

Wien, 29. Dezember 1907.<br />

Werte Genossen! <strong>Unser</strong>e Zeitschrift scheint<br />

einigen „Arbeiterführern" <strong>und</strong> solchen, die es gerne<br />

werden möchten, recht unangenehm zu sein. Besonders<br />

„gebildeten" Ausdruck gab dieser Stimmung<br />

ein gewisser „Herr" Marianek, zweiter Obmann<br />

des Verbandes jugendl. Arbeiter <strong>und</strong> Obmann der<br />

Favoritner Ortsgruppe dieses Verbandes. Dieser<br />

„feine" Herr fuhr auf einen Genossen, der unsere<br />

Zeitung im Arbeiterheime verbreitete, in höchster<br />

Wut los <strong>und</strong> schrie: „Euch sollt' ma olle obfotznen.<br />

Die Dreckbubenzeitung! Jedem ane aufn Schädelt"<br />

u. s. f. Beinahe wäre er gegen unseren Genossen<br />

tätlich geworden. Der gute Mann — etwa ein verkappter<br />

Christlichsocialer, da ja nur die sich so<br />

benehmen können?! — mag wohl alle Ursache haben,<br />

tu fürchten, dass die Jugendlichen Favoritens selbständig<br />

zu denken beginnen.<br />

An die Favoritner Jugendlichen aber stellen<br />

wir die Frage: Wollt Ihr Euch wirklich befehlen<br />

lassen, was Ihr zu denken, was ihr zu lesen habt?<br />

Habt Ihr deswegen das geistige Joch der schwar-<br />

zen Pfaffen abgeschüttelt, um Euch unter das<br />

roter Pfaffen beugen zu lassen ? Binder.<br />

Innsbruck, 20. Dezember 1907.<br />

Werte Genossen! Ich hege gleichzeitig die<br />

Hoffnung; dass Ihr Euer Blatt so halten werdet, um<br />

dem allgemeinen Bedürfnisse des Proletariates nach<br />

Brot <strong>und</strong> Bildung Rechnung zu tragen <strong>und</strong> im „W.<br />

f. A." besonders den wirtschaftlichen, sozialen<br />

Kampf .vertretet, sowie in leicht verständlicher<br />

Schreibart dem Individuum seine Sklaverei <strong>und</strong><br />

Ausbeutung in dieser barbarischen Gesellschaft<br />

vor Augen hält. Wodurch Ihr im Menschen die Selbsterkenntnis<br />

<strong>und</strong> das Selbstbewusstsein erwecken<br />

werdet, woraus jene erste Entschlossenheit gegen<br />

diese unnatürliche Gesellschaft <strong>und</strong> ihre Institutionen<br />

hervorgeht, die die jetzige Gesellschaft überwinden<br />

wird, platzschaffend für eine freie, in der jeder<br />

nach seinen Anlagen frei <strong>und</strong> glücklich leben kann.<br />

Eure Aufgabe ist es auch, die deutsch-österreichische<br />

Arbeiterschaft von der unfruchtbaren,<br />

politischen Aktion der direkten, wirtschaftlichen<br />

Aktion zu zuführen.<br />

Die politische Macht ist ohne die wirtschaftliche<br />

nur eine Scheinmacht, eine glänzende Seifenblase,<br />

die beim ersten Donner der Kanonen in Nichts<br />

zerstieben wird, <strong>und</strong> es gehört eine ziemliche Portion<br />

Verblendung dazu, anzunehmen, dass eine, sich im<br />

Besitze der ganzen Produktion befindliche, Jahrtausende<br />

alte, best organisierte, bewaffnete Machtjdurch<br />

Stimmzettel <strong>und</strong> moralische Predigten bekämpfen<br />

lässt. Oder wurde vielleicht das allgemeine Wahlrecht<br />

in Österreich durch die parlamentarische Aktio«<br />

erreicht? Nein I die Arbeiter haben es sich durch die<br />

direkte Aktion, durch die Strasse, erzwungen.<br />

Ich schliesse mit dem Wunsche, dass Euer<br />

mühevolles Werk durch Hervorspriessung neuer<br />

Keime, aus dem bereits von Most bearbeiteten Boden,<br />

gekrönt werde.<br />

Mit Brudergruss stets Euer<br />

Arnold.<br />

A n m e r k u n g d e r Redaktion. Weitere<br />

Briefe müssen diesmal wegen Raummangel ausfallen<br />

<strong>und</strong> erscheinen in den nächsten Nummern.<br />

B r i e f k a s t e n .<br />

Der Genosse Heinrich Albert ersucht den<br />

Genossen J o h a n n F r i s c h e r (Ostrau) seine Adresse<br />

anzugeben, um sich mit ihm in Verbindung zu setzen.<br />

S t u t t g a r t - O a b l e n b e r g . Dank für fre<strong>und</strong>liche<br />

Worte, Ihr braven Höhenbewohner. Wacker kämpfen<br />

<strong>und</strong> nicht entmutigen lassen. Euch allen meinen<br />

BrudergrussI —<br />

M a r k s . Entschuldigen Sie, kommt in Nr. 3<br />

ganz bestimmt; Raummangel.<br />

Sergius, lbid!<br />

D. Nieux. Beginnt mit nächster Nummer; wird<br />

zu Ihrer Zufriedenheit erledigt. Solidaritätsgruss.<br />

Rudolf Hammer, Dänemark. Was soll ich mit<br />

gesandten „Gratis Postbeweis" machen? Behalten<br />

Sie <strong>und</strong> verteilen Sie die übrig gebliebenen Exemplare.<br />

Bitte um Mitteilung <strong>und</strong> genaue Adressenangaben.<br />

Grussl<br />

B o u r e y . Dank für fre<strong>und</strong>l. Zeilen. Der Betreffende<br />

ist ein braver Kamerad, ein anständiger Charakter,<br />

darf dies aber nicht öffentlich zur Schau<br />

tragen, um desto wirksamer für die Sache tätig sein<br />

zukönnen. Gruss 1<br />

===== Das =====<br />

anarchistische Manifest.<br />

Von Pierre R a m u s .<br />

Wir empfehlen den Genossen aller Städte, diese<br />

neue populäre Propagandaschrift von 16 Seiten, die<br />

wir zu dem billigen Preis von<br />

2 H e l l e r p r o E x e m p l a r<br />

oder — um die M a s s e n p r o p a g a n d a zu fördern —<br />

für<br />

I K 6 0 h p r o H u n d e r l<br />

abgeben.<br />

Kameraden, hier ist eine glänzende Gelegenheit, um<br />

eine nachdrückliche Propaganda entfalten zu können.<br />

Wier ersuchen um umgehende Bestellung, kein Ge-<br />

nosse sollte ohne eines Dutzend Exemplare in der<br />

Tasche sein!<br />

An die Leser!<br />

Anlässlich der Feiertage verzögerte sich das<br />

Erscheinen vorliegender Nummer um 3—4 Tage;<br />

die 3. N u m m e r erscheint am 19. J ä n n e r .<br />

Redaktion <strong>und</strong> Verlag.


ANARCHIE.<br />

VON<br />

E N R I K O M A L A T E S T A .<br />

A n a r c h i e ist ein griechisches Wort <strong>und</strong> bedeutet:<br />

O h n e H e r r s c h a f t . E s bezeichnet also den Zustand,<br />

in welchem ein Volk ohne festgesetzte Obrigkeit, ohne<br />

Regierung seine Angelegenheiten selbst besorgt.<br />

Ehe denkende Menschen diesen Zustand als möglich<br />

<strong>und</strong> wünschenswert erkannt haben, ehe derselbe das <strong>Ziel</strong><br />

einer Bewegung wurde, die seitdem einer der wichtigsten<br />

Faktoren im socialen Kampfe ist, fasste man das Wort<br />

„Anarchie" allgemein als U n o r d n u n g , K o n f u s i o n<br />

auf; <strong>und</strong> es wird noch heute so aufgefasst von den<br />

unwissenden Massen, <strong>und</strong> von unseren Gegnern, in deren<br />

Interesse es liegt, die Wahrheit zu verheimlichen.<br />

Wir wollen hier nicht in das Gebiet der Sprachwissenschaft<br />

abschweifen, denn die Frage ist keine<br />

sprachwissenschaftliche, sondern eine geschichtliche. —<br />

Die allgemein angenommene Bedeutung des Wortes fasst<br />

den wirklichen, sprachlich begründeten Sinn desselben<br />

ganz richtig auf; das Missverständniss entsteht aus<br />

dem V o r u r t e i l e , dass die Regierung, die Herrschaft<br />

notwendig zum Bestehen des gesellschaftlichen Lebens<br />

ist, <strong>und</strong> dass in Folge dessen eine Gesellschaft ohne


- 2 -<br />

Herrschaft der Unordnung anheimfallen muss, <strong>und</strong> zwischen<br />

der Allgewalt der Einen <strong>und</strong> der blinden Rache der Anderen<br />

hin <strong>und</strong> herschwanken wird.<br />

Es ist leicht erklärlich, wie dieses Vorurteil entstanden<br />

ist, <strong>und</strong> wie dasselbe die Bedeutung des Wortes Anarchie<br />

in der Auffassung der Massen beeinflusst hat.<br />

Wie alle Tiere, passt sich der Mensch an <strong>und</strong><br />

gewöhnt sich an die Verhältnisse, in denen er lebt; <strong>und</strong><br />

die angenommenen Gewohnheiten vererbt er auf seine<br />

Nachkommen.<br />

Der Mensch, der in Sklaverei geboren <strong>und</strong> aufgewachsen<br />

ist, <strong>und</strong> von einer langen Reihe von Sklaven<br />

abstammt, glaubte, als er anfing zu denken, dass die<br />

Sklaverei ein unvermeidlicher Zustand des Lebens sei;<br />

die Freiheit erschien ihm unmöglich. So geht es auch<br />

dem Arbeiter; seit Jahrh<strong>und</strong>erten ist er gezwungen, die<br />

Arbeit, das heisst das Brot, von der Laune eines Herren<br />

zu erwarten; er ist daran gewöhnt, dass er fortwährend<br />

von der Gnade dessen abhängt, der den Boden <strong>und</strong><br />

das Kapital besitzt; <strong>und</strong> am Ende glaubt er, dass es<br />

der Arbeitgeber ist, der ihm zu essen gibt. In seiner<br />

Leichtgläubigkeit sagt er: „Wie würde ich denn leben<br />

können, wenn es keine Herren g ä b e ? "<br />

So würde es einem Menschen ergehen, dessen Füsse<br />

seit seiner Geburt gefesselt wären, aber so dass er doch<br />

ein wenig gehen könnte; er würde vielleicht sagen, dass<br />

er sich darum bewegen kann, weil er Fesseln anhat,<br />

obgleich im Gegenteil die Fesseln ihn am freien Bewegen<br />

hindern. —<br />

Ausser der Macht der Gewohnheit müssen wirnoch


- 3 —<br />

die Erziehung der Arbeiter durch die Arbeitgeber, die<br />

Priester, die Lehrer erwähnen, die alle ein Interesse<br />

daran haben, die Notwendigkeit der Obrigkeit <strong>und</strong> der<br />

Herren zu predigen; wir müssen den Einfluss der<br />

Richter <strong>und</strong> Polizisten in Betracht ziehen, die bestrebt<br />

sind, jeden, der anders denkt, wie sie, <strong>und</strong> seine G e -<br />

danken verbreiten will, zum Schweigen zu bringen. Dann<br />

ist es leicht verständlich, wie in den ungebildeten Köpfen<br />

der Masse das Vorurteil über die Nützlichkeit <strong>und</strong> Notwendigkeit<br />

der Arbeitgeber <strong>und</strong> der Regierung Wurzel<br />

gefasst hat. —<br />

Denken wir uns, dass dem Menschen mit gefesselten<br />

Füssen, den wir erwähnt haben, der Arzt eine<br />

ganze Theorie entwickelt <strong>und</strong> tausend geschickt erf<strong>und</strong>ene<br />

Beispiele erzählt, um ihn zu überzeugen, dass er<br />

mit freien Füssen weder gehen noch leben könnte, so<br />

würde dieser Mensch wütend seine Fesseln verteidigen<br />

<strong>und</strong> jeden als seinen Feind betrachten, der dieselben<br />

zerschneiden wollte.<br />

Es ist also natürlich, dass, wenn man die Regierung<br />

für notwendig hält, <strong>und</strong> zugibt, dass ohne Obrigkeit<br />

alles nur Unordnung <strong>und</strong> Verwirrung wäre, das<br />

Wort Anarchie, das die Abwesenheit jeder Regierung<br />

bedeutet, auch das Fehlen der Ordnung bedeuten wird.<br />

Ändert die Ansichten, überzeugt die Massen, dass<br />

die Institution der Regierung nicht nur nicht notwendig,<br />

sondern äusserst gefährlich <strong>und</strong> schädlich ist für das<br />

sociale Leben, <strong>und</strong> dann bedeutet das Wort Anarchie,<br />

gerade weil es das N i c h t v o r h a n d e n s e i n einer Regierung<br />

ausdrückt, für alle Menschen die n a t ü r l i c h e


M i<br />

- 4 -<br />

O r d n u n g , H a r m o n i e d e r B e d ü r f n i s s e u n d I n -<br />

t e r e s s e n v o n A l l e n , v o l l k o m m e n e F r e i h e i t<br />

u n d v o l l k o m m e n e S o l i d a r i t ä t .<br />

Es ist unrichtig zu sagen, dass die Anarchisten<br />

ihren Namen schlecht gewählt haben, weil die Massen<br />

diesen Namen missverstehen <strong>und</strong> falsch auslegen. Der<br />

Irrtum hängt nicht vom Wort, sondern von der Sache<br />

ab, <strong>und</strong> die Schwierigkeiten, mit denen die Anarchisten<br />

bei ihrer Propaganda zu kämpfen haben, ist nicht die<br />

Folge des Namens, den sie sich beilegen, sondern der<br />

Tatsache, dass unsere Anschauungen alle von Alters<br />

hergebrachten Vorurteile verletzen, die das Volk über<br />

die Tätigkeit der Regierung oder, wie man gewöhnlich<br />

sagt, des Staates, hegt.<br />

Ehe wir fortfahren, müssen wir die Bedeutung dieses<br />

Wortes, d e r S t a a t , recht klar machen, denn aus der<br />

falschen Auffassung desselben entstehen viele Missverständnisse.<br />

—<br />

Die Anarchisten gebrauchen das Wort S t a a t , um<br />

die Gesamtheit aller politischen, gesetzgeberischen, g e -<br />

richtlichen, militärischen Institutionen zu bezeichnen,<br />

durch die dem Volke die Führung seiner eigenen Angelegenheiten,<br />

die Bestimmung seiner eigenen Handlungen,<br />

die Sorge um seine eigene Wohlfahrt entzogen wird, um<br />

dieselben einigen Menschen zu übertragen, welche durch<br />

Gewaltsanmassung oder die Wahl des Volkes das Recht<br />

erhalten, Gesetze über alles <strong>und</strong> für Alle zu'machen, sich<br />

zu diesem Zwecke der Kraft des ganzen Volkes bedienen.<br />

In diesem Falle bedeutet das Wort S t a a t die R e -<br />

g i e r u n g , oder das Prinzip der Herrschaft, dessen Aus-


- 5 -<br />

druck die Regierung ist. Aufhebung des Staates, Gesellschaft<br />

ohne Staat, bezeichnet also genau das, was die<br />

Anarchisten anstreben, wenn sie eine jede, auf das Herrschen<br />

gegründete politische Organisation bekämpfen <strong>und</strong><br />

eine Gesellschaft von freien <strong>und</strong> gleichberechtigten Menschen<br />

gründen vollen, die aufgebaut ist auf der Harmonie<br />

der Interessen <strong>und</strong> dem f r e i w i l l i g e n Z u s a m -<br />

m e n w i r k e n Aller für die Befriedigung der gesellschaftichen<br />

Bedürfnisse.<br />

Aber das Wort Staat wird auch noch in manch<br />

anderem Sinne gebraucht, von denen einige Missverständnisse<br />

hervorrufen können, besonders wenn man mit<br />

Leuten zu tun hat, die leider nicht Gelegenheit hatten,<br />

sich an die feineren Unterscheidungen der wissenschaftlichen<br />

Sprache zu gewöhnen, oder — was schlimmer<br />

ist — wenn es sich um solche Gegner handelt, die ein<br />

Interesse daran haben, unsere Ansichten zu verdrehen<br />

<strong>und</strong> nicht verstehen zu w o l l e n .<br />

Man gebraucht z. B. das Wort Staat, um eine<br />

Gesellschaft, eine Gesamtheit von Menschen zu bezeichnen,<br />

die innerhalb der Grenzen eines bestimmten<br />

Landes wohnt; oder man gebraucht es einfach als gleichbedeutend<br />

mit Gesellschaft überhaupt. Darum glauben<br />

unsere Gegner — oder geben vor, es zu glauben —<br />

dass die Anarchisten alle gesellschaftlichen Verbindungen,<br />

jede gemeinschaftliche Arbeit abschaffen wollen <strong>und</strong> bestrebt<br />

sind, die Menschen von einander abzusondern,<br />

das heisst, sie auf eine tiefere Stufe herabziehen wollen,<br />

als jene der niedrigst stehenden Wilden es ist.<br />

Unter Staat versteht man auch die oberste Ver-


- 6 -<br />

waltung eines Landes, die zentrale Regierung im Gegensatz<br />

zur provinzialen oder kommunalen Verwaltung; <strong>und</strong><br />

darum glauben andere, dass die Anarchisten einfach eine<br />

Dezentralisation der Landesteile wollen, das P r i n z i p<br />

der Herrschaft, der Regierung aber nicht bekämpfen. Sie<br />

verwechseln den Anarchismus mit der Autonomie <strong>und</strong><br />

nationalen Unabhängigkeit der einzelnen Landesteile.<br />

Darum glauben wir, dass es besser ist, von der<br />

v o l l s t ä n d i g e n E n t f e r n u n g d e r R e g i e r u n g e n<br />

zu sprechen.<br />

Wir haben schon gesagt, dass Anarchie eine Gesellschaft<br />

ohne Regierung ist.<br />

Aber ist die Entfernug der Regierungen möglich?<br />

Ist sie wünschenswert? Und ist sie vorauszusehen?<br />

Untersuchen wir es.<br />

W a s i s t d i e R e g i e r u n g ?<br />

Viele sehen in der Regierung ein moralisches<br />

Prinzip, das gewisse Eigenschaften: Weisheit, Gerechtigkeit,<br />

Unparteilichkeit besitzt, unabhängig von den Personen,<br />

die an der Regierung sind.<br />

Für diese ist die Regierung, oder besser gesagt der<br />

Staat, die abstrakte gesellschaftliche Macht. Er repräsentiert<br />

die allgemeinen Interessen; er ist der Ausdruck<br />

vom Rechte Aller, der als die Grenze der Rechte eines jeden<br />

Einzelnen aufgefasst wird. Diese Auffassung Uber die<br />

Regierung wird von den Regierenden selbst unterstützt,<br />

für die es wichtig ist, das Prinzip der Herrschaft zu<br />

retten, <strong>und</strong> dasselbe über die Fehler <strong>und</strong> Irrtümer der<br />

einander folgenden Machthaber zu erheben.<br />

Für uns ist die Regierung die Gesamtheit der Re-


- 7 —<br />

gierenden; <strong>und</strong> die Regierenden, Monarchen, Präsidenten,<br />

Minister, Abgeordnete u. s. w. sind diejenigen, die die<br />

Macht haben, Gesetze zu schaffen, um die Beziehungen<br />

der Menschen zu einander zu regeln, <strong>und</strong> die Macht<br />

haben, diese Gesetze vollziehen zu lassen; z. B . : Steuern<br />

auszuwerfen <strong>und</strong> einzutreiben; die Menschen zum Militärdienst<br />

zu zwingen; diejenigen, die gegen die Gesetze<br />

handeln, zu verurteilen <strong>und</strong> zu bestrafen; die privaten<br />

Vereinbarungen zu überwachen <strong>und</strong> gut zu heissen;<br />

einzelne Zweige der Produktion <strong>und</strong> der öffentlichen<br />

Dienstleistungen zu monopolisieren (z. B. Tabak, Salz;<br />

Eisenbahnen, Post <strong>und</strong> Telegraf u. s. w.) oder wenn<br />

sie wollen, die ganze Produktion <strong>und</strong> alle öffentlichen<br />

Dienste zu verstaatlichen, in die Hand zu nehmen; den<br />

Austausch der Produkte (den Handel) zu fördern oder<br />

zu beschränken; mit den Regierungen anderer Länder<br />

Krieg anzufangen oder Frieden zu schliessen; dem Volke<br />

das Wahlrecht zu gewähren oder zu entziehen — <strong>und</strong><br />

dergleichen Dinge mehr. Die Regierenden sind also, mit<br />

einem Wort, diejenigen Menschen, die mehr oder weniger<br />

die Macht haben, die Kräfte der Gesellschaft, d.<br />

h. die körperlichen, geistigen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Kräfte<br />

aller andern Menschen in ihre Dienste zu z w i n g e n .<br />

In dieser Macht besteht das Prinzip der Regierung, das<br />

Prinzip der Herrschaft.<br />

W a s ist der Zweck der Regierung? Warum sollen<br />

wir zu Gunsten einiger Menschen unsere eigene Freiheit,<br />

unsere eigene Initiative aufgeben? Warum müssen wir<br />

ihnen die Möglichkeit geben, sich — mit oder ohne<br />

Willen der übrigen Menschen — der Kraft aller Ande-


- 8 -<br />

ren zu bemächtigen <strong>und</strong> über dieselbe nach eigenem<br />

Gutdünken zu verfügen? Sind sie denn so aussergewöhnlich<br />

begabt, dass sie, mit einigem Rechte, sich an<br />

die Stelle des ganzen Volkes setzen, <strong>und</strong> für die Interessen<br />

der übrigen Menschen besser sorgen könnten?<br />

Sind sie unfehlbar <strong>und</strong> moralisch nicht zu verderben, so<br />

dass man vernünftigerweise das Los eines Jeden ihrer<br />

Güte anvertrauen k a n n ?<br />

Und wenn es auch solche allwissende <strong>und</strong> unendlich<br />

gute Menschen gäbe, wenn auch die Regierung in den<br />

Händen der Fähigsten <strong>und</strong> Besten wäre (eine Annahme,<br />

die die Geschichte nie bestätigt hat <strong>und</strong>, so glauben<br />

wir, nie bestätigen kann) — auch dann würde der<br />

Besitz der Herrschaft ihre wohltätige Macht nicht vermehren.<br />

Im Gegenteil, er würde dieselbe lahmlegen <strong>und</strong><br />

zerstören, denn die Herrschenden wären gezwungen,<br />

sich mit allerlei Sachen zu befassen, die sie nicht verstehen;<br />

<strong>und</strong> den besten Teil ihrer Kraft müssten sie<br />

darauf verschwenden, um sich an der Regierung zu erhalten,<br />

um ihre Fre<strong>und</strong>e zu befriedigen, die Unzufriedenen<br />

im Zaume zu halten <strong>und</strong> die Rebellen zu vernichten.<br />

Übrigens, was sind die Regierungen, seien sie gut<br />

oder schlecht, weise oder unwissend ? W e r stellt sie an<br />

ihren hohen Posten? Drängen sie sich selbst auf durch<br />

das Recht des Krieges, oer Eroberung, der Revolution?<br />

Aber welche Garantie hat dann das Volk, dass sie wirklich<br />

das allgemeine Wohl im Auge h a b e n ? Es ist einfach<br />

die Frage, wer der Stärkere ist; <strong>und</strong> wenn die<br />

Untertanen mit ihrer Regierung nicht zufrieden sind, bleibt<br />

ihnen nichts anderes übrig als sich an die eigene Kraft<br />

zu wenden, um sich vom Joche zu befreien.


an, in dem es kein Privateigentum <strong>und</strong> keine<br />

Schutzgarde des Privateigentums gibt; so<br />

wird er Anarchismus <strong>und</strong> ist deshalb ein natürlicher<br />

Gegner jeder bewaffneten Gewalt<br />

zur Aufrechterhaltung des Privateigentums.<br />

Dies ist aber unseren Socialdemokraten<br />

zu — s o c i a l i s t i s c h gedacht! Und nicht<br />

genug damit, dass schon die herrschenden<br />

Klassen sehr wohl darauf bedacht sind, P o -<br />

lizei, Militär <strong>und</strong> überhaupt die öffentliche<br />

Gewalt im Schutzinteresse des Privateigentums<br />

zu verstärken, müssen sich auch noch<br />

die Herren „Socialisten", die Socialdemokraten<br />

dazu hergeben, die „Interessen des Proletariats"<br />

so zu vertreten, dass sie im Wiener<br />

Gemeinderat vor allem — für die Wiener<br />

Polizei ihr menschlich fühlendes Herz entdecken.<br />

Diese Polizeiseelen brachten durch den<br />

socialdemokratischen Reichsratsabg., <strong>und</strong> G e -<br />

meinderat R e u m a n n folgenden Antrag*) ein:<br />

Die Überbürdung der Sicherheitswache, die<br />

sich durch die gros"se Entwicklung, welche d a s<br />

Veikehrswesen In Wien genommen hat, erklärt,<br />

muss endlich im Interesse der öffentlichen Sicherheit<br />

beseitigt werden. Das Polizeipräsidium ist<br />

daher zu veranlassen, zu prüfen, ob etwa eine<br />

Teilung der Dienstleistung in einen verkehrspolizeilichen<br />

<strong>und</strong> einen solchen Dienst, der ausschliesslich<br />

der Sicherheit der Person <strong>und</strong> d e s<br />

Eigentums gilt, die gegenwärtigen beklagenswerten<br />

Zustände beseitigen könnte. Die Vermehrung<br />

der Wache zur Beschränkung der Dienstzeit<br />

jedes einzelnen Wachorganes ist für die Abwicklung<br />

des Dienstes von der allergrössten Bedeutung<br />

<strong>und</strong> es wird daher auf diesen Umstand<br />

das Polizeipräsidium besonders aufmerksam gemacht.<br />

Der Gemeinderat erkennt aber auch, dass<br />

die Tüchtigkeit der Sicherheitswache vielfach durch<br />

die elenden Lohnverhältnisse beeinträchtigt wird,<br />

<strong>und</strong> er spricht in öffentlicher Sitzung den Wunsch<br />

aus, die Regierung möge endlich die finanziellen<br />

Mittel bewilligen, die eine entsprechende Entlohnung,<br />

welche der Dienstleistung entspricht,<br />

möglich macht. Die Regierung wird schliesslich<br />

an ihre Pflicht erinnert, für die Wachoigane eine<br />

Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsversicherung <strong>und</strong> eine<br />

Witwen- <strong>und</strong> Waisenversorgung einzurichten.<br />

Socialdemokraten — so weit ihr echte<br />

Socialisten seid, die da wissen, was Klassenstaat<br />

<strong>und</strong> Klassenkampf: w i r r u f e n e u c h<br />

z u r S c h a m a u f ! Geschieht es mit eurer<br />

Einwilligung, dass eure „Vertreter" solche,<br />

die Prinzipien des Socialismus mit Füssen<br />

tretende Vorschläge <strong>und</strong> Anträge einbringen,<br />

die eine B e f e s t i g u n g der heutigen Gesellschaftsf<strong>und</strong>amente<br />

<strong>und</strong> eine Vermehrung<br />

der staatlichen Ausgaben für unproduktive<br />

Militärzwecke — <strong>und</strong> damit Steigerung der<br />

hergehenden Teuerung! — bedeuten?<br />

Als Socialisten schämen wir uns, es konstatieren<br />

z u müssen: D e r g e s a m t e W i e -<br />

n e r G e m e i n d e r a t , d i e s e s K o n s o r -<br />

t i u m a l l e r r e a k t i o n ä r e n P a r t e i e n ,<br />

s t i m m t e a k k l a m a t o r i s c h d e m A n -<br />

t r a g e d e s — S o c i a l d e m o k r a t e n R e u -<br />

m a n n b e i . Nicht eine einzige reaktionäre<br />

Stimme fand sich, der der Antrag nicht weit<br />

genug gegangen wäre!<br />

Socialdemokraten, eure Wortführer sind<br />

Verräter an den wahrsten <strong>und</strong> einfachsten<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen des Socialismus geworden! Sie<br />

wollen ihre Staatstüchtigkeit, ihre Regierungsfähigkeit<br />

erweisen. Es ist der Parlamentarismus,<br />

der diese Erdrosselung des Socialismus<br />

durch die politischen Ehrgeizlinge <strong>und</strong> D e -<br />

magogen herbeiführt. Wollt ihr dies dulden;<br />

<strong>und</strong> wie lange n o c h ? !<br />

*) Vergl. „Wiener Arbeiterzeitung" vom 14.<br />

Dezember 1907.<br />

Die Revolte des ges<strong>und</strong>en<br />

Menschenverstandes.<br />

Die passive Resistenz an den Privatbahnen<br />

Österreichs hat den Arbeitern, denen<br />

die Disziplin der soc.-demokratischen Partei<br />

noch nicht den ges<strong>und</strong>en Menschenverstand<br />

zu rauben vermochte, gezeigt, welche <strong>Weg</strong>e<br />

es sind, die den Proletarier zum Siege führen.<br />

Diese Aktion lehrte, dass es weder der W e g<br />

der blinden Masse zur Wahlurne noch der<br />

W e g der socialdemokratischen Dringlichkeitsanträge,<br />

die in den Papierkorb des Ministers<br />

wandern, ist, sondern einzig jener <strong>Weg</strong>, den<br />

der Proletarier selbst betritt, den nicht das<br />

Interesse einer politischen Partei hemmt. Es<br />

ist dies ein Pfad der Selbständigkeit auf dem<br />

er seine Kraft im tatsächlichen Klassenkampf<br />

der wirtschaftlichen Aktion zeigt, dieser W e g<br />

wendet sich ab von der Phrase des Parlamentarismus,<br />

sein Name ist: D i r e k t e s e l b -<br />

s t ä n d i g e A k t i o n . * )<br />

Nach beendetem passiven Widerstand<br />

während des jüngsten Kampfes vor einigen<br />

Wochen traten vor etwa 14 Tagen die Denkenden<br />

unter den Eisenbahnern Böhmens<br />

zusammen <strong>und</strong> gründeten eine neue Eisenbahner<br />

Gewerkschaft. Beschlossen wurde,<br />

diese der „Böhmischen Föderation aller G e -<br />

werkschaften" anzuschliessen, die von rein<br />

wirtschaftlichen Prinzipien inspiriert ist. Es<br />

liefen gruppenweise Beitrittsmeldungen von<br />

vielen auswärtigen Stationen, namentlich aus<br />

Königgrätz, Chotzen, B ö h m . - T r ü b a u , ein.<br />

Weiter wurde beschlossen, ein deutsches <strong>und</strong><br />

Cechisches Blatt als Organ der Gewerkschaft<br />

zu gründen, namens „ V o r s i g n a l " <strong>und</strong><br />

„PfedzvSst."<br />

Ein Flugblatt, das die Gewerkschaft<br />

herausgab <strong>und</strong> verbreitete, lautet im Auszug:<br />

„ K o l l e g e n ! — Die „Erfolge" der<br />

passiven Resistenz haben uns zu einem wichtigen<br />

Schritte bewogen, von dem wir Euch<br />

hiemit Nachricht geben. Die Eifersüchteleien<br />

der politischen Parteien, die sich in sämtlichen<br />

unserer böhmischen Gewerkschafsgruppen<br />

spiegeln, hat sich auch in der Zeit der<br />

pass. Resistenz als ein die Arbeiterbewegung<br />

Unheil stiftender Faktor betätigt. Denn diese<br />

Eifersüchteleien zwischen Koalition <strong>und</strong> Kartei<br />

verursachten, dass die Erfolge, die im Verhandeln<br />

erzielt wurden, nicht nur unsere<br />

Hoffnungen getäuscht haben, <strong>und</strong> unsere b e -<br />

rechtigten Erwartungen nicht nur nicht erfüllt<br />

haben, sondern auch, dass sie der Bedeutung<br />

unserer Aktion, <strong>und</strong> der zur Aktion verwendeten<br />

Energie bei weitem nicht entsprachen.<br />

Denn, was uns die Kapitalisten einerseits<br />

gaben, nahmen sie uns anderseits. W a s war<br />

also der Erfolg der „Verhandlungen" für<br />

u n s ? Erbitterung <strong>und</strong> Zwietracht zwischen<br />

den einzelnen Kategorien <strong>und</strong> Lähmung der<br />

ganzen B e w e g u n g !<br />

U n d a l l e s d a s v e r s c h u l d e t e e b e n<br />

d a s R i v a l i s i e r e n d e r p o l i t i s c h e n<br />

P a r t e i e n , d i e K o a l i t i o n u n d K a r t e i<br />

b i l d e t e n . Diese rangen unter einander um<br />

den Ruhm des Sieges <strong>und</strong> ihren Vertretern lag<br />

viel mehr an dem Interesse der Partei, als<br />

dem Interesse <strong>und</strong> wahren Wohl der Arbeiter,<br />

die in den beiden genannten Organisationen<br />

vereint waren. Gewerkschaftsorganisationen,<br />

d i e z u m T a n z b o d e n d e r p o l i t i s c h e n<br />

P a r t e i e n d i e n e n , G e w e r k s c h a f t e n ,<br />

d i e v o n P o l i t i k a n t e n a u f d e n I r r -<br />

w e g e n „ h ö h e r e r " P o l i t i k u m h e r -<br />

g e s c h i e p p t w e r d e n , erweisen sich untauglich,<br />

als Instrument des wirtschaftlichen<br />

Kampfes zu wirken. Diese Überzeugung, so<br />

wie auch der nachdrückliche Wunsch der<br />

auswärtigen Gruppen bewogen uns, die wohlerprobte<br />

Taktik der besten, revolutionären G e -<br />

werkschaftsorganisationen der Welt zu ergreifen,<br />

(der übrigens die pass. Resistenz auch<br />

*) Eine solche führten soeben auch die Postbediensteten<br />

durch; wir werden über diese Aktion<br />

in nächster Nummer berichten.<br />

amgehört) u n d w i r g r ü n d e t e n e i n e<br />

s e l b s t ä n d i g e , v o n a l l e n p o l i t i s c h e n<br />

P a r t e i e n v o l k o m m e n u n a b h ä n g i g e ,<br />

f o l g l i c h a u c h g ä n z l i c h n e u t r a l e<br />

O r g a n i s a t i o n , w i e e s d i e f r a n z ö -<br />

s i s c h e „Confederation du Travail" (C. der<br />

Arbeit) ist.<br />

Wir traten dann der „Böhmischen Föderation<br />

aller Gewerkschaften" (C. F. V. O.)<br />

bei <strong>und</strong> gliederten ihr unsere selbständige<br />

„Eisenbahner Gewerkschaft" an. Die C. F.<br />

V. O. obzwar sie erst vor wenigen Jahren g e -<br />

gründet wurde, <strong>und</strong> der öfentlichkeit noch<br />

wenig bekannt ist, hat dennoch bereits T a u -<br />

sende von Mitglieder, namentlich unter den<br />

Bergarbeitern <strong>und</strong> Webern. Sie bewies dank<br />

der modernen Taktik <strong>und</strong> politischen Parteilosigkeit,<br />

dass sie im Stande, das Proletariat<br />

Böhmens aus dem verhängnissvollen Labyrinth<br />

des politischen Rivalisierens herauszuführen,<br />

<strong>und</strong> den Boden zu bilden, auf dem sich die<br />

gesammte Arbeiterschaft, trotz verschiedener<br />

Weltanschauung, in wirtschaftlichen Fragen<br />

einigen kann; im Kampfe um gemeinschaftliche<br />

<strong>und</strong> einträchtige <strong>und</strong> nur wirtschaftliche<br />

Interessen.<br />

Die Organisationsprinzipien der „Eisenbahnergewerkschaft"<br />

auferlegen einem jedem<br />

Mitglied die Pflicht, sich aktiv zu betätigen,<br />

so dass es nicht genügt, bloss Beiträge zu<br />

zahlen, Funktionären alles zu überlassen, die<br />

ohne unser Wissen über unser Geschick verfügen.<br />

Die „E.-G." steht auf dem Gr<strong>und</strong>satz,<br />

dass jedes Unterhandeln mit den Arbeitsgebern<br />

direkt von den Arbeitern ausgehen muss,<br />

ohne jegliche Vermittlung <strong>und</strong> zwar so, dass<br />

jeder Kategorie, auf Gr<strong>und</strong> eigener Forderungen,<br />

nicht aber nach Belieben der Vermittler,<br />

vollkommen Genüge geleistet werde.<br />

*<br />

Wir stellen Forderungen, damit sie erfüllt<br />

werden; <strong>und</strong> sie werden erfüllt werden,<br />

wenn wir genug Kraft haben, den Arbeitsgebern<br />

zu zeigen, dass ein schlecht bezahlter<br />

Arbeiter keine oder nur schlechte Arbeit<br />

leisten kann. Haben wir die dazu nötige<br />

Kraft? Wir bewiesen es zur Genüge als durch<br />

die gesetzlichen Vorschriften der Verkehr <strong>und</strong><br />

alles, was von diesem abhängt, sich zur<br />

Katastrophe zu entwickeln drohte. . . .<br />

In unserem oben erwähnten Organ<br />

werden unsere Prinzipien <strong>und</strong> unsere Taktik<br />

ausführlich behandelt werden. Bis dahin<br />

bemerken wir nur, dass die „E. G." anstatt<br />

Sectionen selbständige Gruppen mit beliebiger<br />

Mitgliederzahl in den verschiedenen Stationen<br />

bilden wird. Zur Bildung einer solchen Gruppe<br />

genügt die blosse Anmeldung der Mitglieder<br />

<strong>und</strong> die Bestimmung des Ausschusses, der<br />

in steter Verbindung mit dem Zentralkomitee<br />

sein wird. Rechtlichen Schutz bietet die C.<br />

F. V. O. für den geringen Monatsbeitrag von<br />

10 Hellern, ein weiterer Teil der Beiträge<br />

wird auf die Kosten der Gewerkschaftspresse<br />

verwendet werden, <strong>und</strong> der Rest bleibt in<br />

den Ortsgruppen bis auf weitere Bestimmung<br />

der ersten Plenarversammlung der „E.-G.",<br />

die den Betrag, der an das Zentralkomitee<br />

abzugeben ist, bestimmen wird.<br />

Der Beitrag des einzelnen Mitgliedes<br />

wurde also auf 40 Heller monatlich bestimmt,<br />

von dem alle Auslagen bestritten werden<br />

können.<br />

Beitretende mögen die Anmeldung an die<br />

folgende Adresse senden Heinrich Karpišek,<br />

Prag - Žižkov Stitnehogasse 5 9 1 ; Blankette<br />

hiezu werden auf Wunsch geliefert. Auch ein<br />

Redner wird überall, wohin er verlangt wird,<br />

gesandt, damit unser Programm, unsere Taktik<br />

<strong>und</strong> Organisation ausführlich erörtert werden<br />

können.


Wohlan Kameraden! Wir sind parteilos;<br />

unsere Organisationen besitzen Autonomie.<br />

Und fordert man uns zum Kampfe heraus,<br />

dann — die Vorschriften genau erfüllen,<br />

gerade dadurch den Sieg erringen!<br />

(Übersetzt aus unserem böhmischen<br />

Bruderblatt „Komuna", Prag-Žižkov<br />

von F.)<br />

Anarchismus.<br />

(Wir entnehmen diese kurze, philosophisch programmatisch<br />

scharf gegliederte Darstellung unserer Weltanschauung<br />

im Auszuge unserem italienischen Bruderorgane<br />

„ V i r " ) .<br />

Der Anarchismus ist die Verneinung jeder<br />

dogmatisch vorherbestimmten oder zwangsweise<br />

aufrechterhaltenen Gesellschaftsform;<br />

er verneint jede dogmatisch absolute Idee:<br />

also wie Vaterland, Staat, Religion, Moral,<br />

Eigentum, Justiz.<br />

Der Anarchist verwirft somit jeden künstlichen,<br />

von aussen oder oben forcierten Aufbau<br />

der zukünftigen Gesellschaftsform; er<br />

vertritt die Anschauung, dass dieselbe aus<br />

dem individuellen <strong>und</strong> socialen Element der<br />

menschlichen Natur ganz von selbst, natürlich<br />

erstehen wird im Zustand der Freiheit.<br />

Der Anarchismus bildet keine dogmatische<br />

Lehre; er ist eine philosophische T e n -<br />

denz <strong>und</strong> Geistesrichtung.<br />

In der Philosophie nennt er den neuheidnischen<br />

Geistesaufschwung sein eigen.<br />

In der Kunst ist er die Behauptung der<br />

Genialität <strong>und</strong> jeder individuellen Geisteskraft ;<br />

er ist die Verherrlichung der Schönheit auf<br />

allen Gebieten des Lebens.<br />

In der Politik ist der Anarchismus die<br />

Erhebung des Einzelnen <strong>und</strong> der unterdrückten<br />

Klasse gegen den mittelalterlich kirchlich-feudalen,<br />

aristokratischen oder modern demokratischen<br />

Zwang.<br />

Auf socialem Gebiet ist der Anarchismus<br />

der Vertreter des freien <strong>und</strong> befreiten Arbeiters,<br />

des industriellen Kollektivismus <strong>und</strong> agrarischen<br />

Kommunismus.<br />

In der Moral ist er das harmonische<br />

Zusammenströmen des ges<strong>und</strong>en Solidarismus<br />

(Krapotkin) <strong>und</strong> des ernsten Individualismus<br />

(Stirner).<br />

Der Anarchismus verachtet jeden Kompromis,<br />

jede Halbheit. Wohl weiss er aber,<br />

das Extreme zu würdigen. Deshalb stellt er<br />

dem S t a a t s s o c i a l i s m u s — d. h. der Übertreibung<br />

des Gesellschaftlichen zum Nachteil<br />

der Freiheit des Einzelmenschen — den Individualismus<br />

e n t g e g e n , ist aber sonst<br />

nichts als der Individualismus innerhalb des<br />

staatslosen Socialismus.<br />

Der Anarchismus ist Anhänger der Evolutionstheorie.<br />

Er erkennt die sociale Entwicklung<br />

an. Doch ist ihm die sociale Revolution<br />

die notwendige Folge jeder Evolution,<br />

wie diese erst wieder die Folge der Revolution<br />

ist.<br />

Der Anarchismus ist eine gesellschaftliche,<br />

er ist eine Sitten- <strong>und</strong> Charakterreform.<br />

Er verteidigt die Errungenschaften der W i s -<br />

senschaften <strong>und</strong> Künste gegen jene schwarze<br />

Reaktion, die die moderne Kultur verleugnet,<br />

das Zeitalter der Industrie <strong>und</strong> Technik zerstören<br />

<strong>und</strong> uns wieder in die Periode einstmaliger<br />

Geistesnacht zurückschleudern möchte.<br />

Der Anarchismus ist die Bekräftigung<br />

individueller Willenskraft <strong>und</strong> socialer Kultur<br />

gegen diejenigen Fanatiker des öden Glaubens,<br />

die sich gegen den Geist <strong>und</strong> dessen<br />

freie Forschung kehren.<br />

Der Anarchismus leugnet jede übersinnliche<br />

Offenbarung der Moral, Pflicht usw.<br />

Er predigt k e i n e irdische Aufopferung zu<br />

Gunsten eines jenseitigen Glückes. Sein W e -<br />

sensinhalt ist die Erziehung zum edlen Verständnis<br />

für das Vergnügen der Geselligkeit.<br />

Der Anarchismus wendet sich vorzugsweise<br />

an den Verstand, die intellektuelle Persönlichkeit<br />

<strong>und</strong> Selbständigkeit des Menschen.<br />

Der Unwissende wird sich nie befreien, die<br />

Unwissenden werden ewig unterdrückt sein.<br />

Jeder trachte nach Wissen.<br />

Und in all dem, im Vollbesitze all dieser<br />

Wesensbestandteile ist er die Erhebung des<br />

Geistes <strong>und</strong> der Persönlichkeit des Menschen<br />

zum Leben, zur Schönheit <strong>und</strong> Freiheit!<br />

Oberdan Gigli.<br />

Der staatliche Kollektivismus<br />

<strong>und</strong> die Freiheit.<br />

Von M a u r i c e B o u r g u i n .<br />

(Auszug aus dem Werke des Verfassers, Professor<br />

der Nationalökonomie an der Universität von Paris,<br />

über „ D i e s o c i a l i s t i s c h e n S y s t e m e u n d<br />

d i e w i r t s c h a f t l i c h e E n t w i c k l u n g . " Ins<br />

Deutsche übertragen von Dr. Louis Katzenstein.<br />

Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, 1906<br />

Der radikale Kollektivismus (der Socialdemokratie),<br />

der die Produktion s t a a t l i c h<br />

regelt, <strong>und</strong> die Werte nach der Dauer durchschnittlicher<br />

Arbeitsintensität festsetzt, verleiht<br />

dem Staat eine ungeheuere Gewalt, welche<br />

alle Gebiete der individuellen Tätigkeit umfasst.<br />

Er stellt der Verwaltung, die aus zahllosen,<br />

durch öffentliche Mittel erhaltenen Organen<br />

zusammengesetzt ist, eine übermenschliche<br />

Aufgabe, die ihr eine erdrückende<br />

Verantwortlichkeit auferlegt.<br />

Er betraut sie mit allen wirtschaftlichen<br />

Verrichtungen der Nation, mit dem g e -<br />

samten Betriebe der Produktion, des Verkehrswesens,<br />

der Lagerung <strong>und</strong> der Verteilung,<br />

mit der Vermietung der Wohnung,<br />

wie mit dem Vertrieb der Lebensmittel <strong>und</strong><br />

anderer Gegenstände. Er gibt ihr die ausschliessliche<br />

Befugnis, die Dienstleistung <strong>und</strong><br />

die Güter auf Gr<strong>und</strong> unentwirrbarer Berechnungen<br />

socialer Durchschnitte zu bewerten<br />

<strong>und</strong> erwartet von ihr eine überaus verwickelte<br />

Rechnungsführung, in welcher jeder Fehler<br />

die nationale Existenz in Frage stellen kann.<br />

Die Staatsgewalt, welche die Verantwortung<br />

für jeden Fall der Arbeitslosigkeit trägt, muss<br />

jedem einzelnen eine seinen Fähigkeiten entsprechende<br />

Beschäftigung besorgen. Der Staat<br />

trägt als alleiniger Arbeitgeber von Millionen<br />

Arbeitern die ganze Last der verkehrten <strong>und</strong><br />

der ungerechten Handlungen, welche in der<br />

Verteilung der Aufgaben, in der Berechnung<br />

der Tarife <strong>und</strong> in der Zuweisung der Güter<br />

begangen werden. Die wirtschaftliche Verwaltung,<br />

welche über die Bürger, zugleich in<br />

ihrer Eigenschaft als Konsumenten <strong>und</strong> als<br />

Produzenten, verfügt, schwebt beständig in der<br />

Gefahr, unter der Wucht der auf ihr ruhenden<br />

Verantwortlichkeit zusammenzubrechen.<br />

Für die Entwicklung der Produktivkräfte<br />

<strong>und</strong> den wirtschaftlichen Fortschritt gibt es<br />

keine andere Bürgschaft als den Eifer der<br />

erwählten Beamten <strong>und</strong> die selbstlose Hingabe<br />

der Arbeiter. In Ermanglung jedes persönlichen<br />

Vorteils der Produzenten muss man<br />

bei ihnen ein ausgeprägtes Pflichtgefühl voraussetzen,<br />

um sie zur Annahme neuer M a -<br />

schinen <strong>und</strong> verbesserter Methoden selbst<br />

dann zu veranlassen, wenn diese Neuerungen<br />

sie aus den von ihnen erworbenen <strong>und</strong> liebgewonnenen<br />

Gewohnheiten <strong>und</strong> Stellungen<br />

vertreiben. Die Verminderung der Unkosten,<br />

die sparsame Behandlung der Rohstoffe <strong>und</strong><br />

die Erhaltung der Arbeitsmittel hängen von<br />

dem Zwange ab, den die einen auf ihre<br />

Untergebenen <strong>und</strong> die andern auf sich selbst<br />

auszuüben bereit sind. In Betreff der Siche-<br />

rung der Amortisierung des Produktivkapitals<br />

<strong>und</strong> seiner Erweiterung mittels Abgaben, die<br />

von der Vergütung, welche für die einzelnen<br />

Arbeiten gewährt wird, vorher abgezogen<br />

werden, muss man sich auf die unerschütterliche<br />

Festigkeit der erwählten Behörden verlassen.<br />

—<br />

Will man mit J a u r è s die kollektivistische<br />

Organisation dezentralisieren, indem<br />

man den Berufsgenossenschaften eine relative<br />

Autonomie gestattet <strong>und</strong> indem man ihnen<br />

mit einem gewissen Vorbehalt das Eigentum<br />

an ihren Werkzeugen lässt; will man mit ihm<br />

den energielosen Organen der kollektivistischen<br />

Produktion dadurch Leben <strong>und</strong> Initiative<br />

einflössen, dass man als Werteinheit die<br />

St<strong>und</strong>e durchschnittlicher Arbeitsproduktivität<br />

annimmt, um dadurch der aussergewöhnlichen<br />

Arbeitsproduktivität, die sich aus der Anwendung<br />

vervollkommneter Werkzeugen ergibt,<br />

eine Prämie zu verschaffen; so scheitert man<br />

an einer zweifachen Klippe: einmal an der<br />

ausserordentlich verwickelten Berechnung der<br />

Durchschnitte, die für jeden einzelnen Betrieb<br />

gemäss der Produktivität der Naturfaktoren<br />

angestellt werden muss <strong>und</strong> ein anderes Mal<br />

an dem Fehlen eines automatischen Regulators<br />

der Produktion, an der unvermeidlichen<br />

Fesselung <strong>und</strong> Erdrückung der genossenschaftlichen<br />

Betriebe durch die Willkür der Anordnungen,<br />

die von der Zentralgewalt ausgehen.<br />

Der staatliche Kollektivismus aber versagt<br />

besonders dann, wenn es sich um die Sicherung<br />

des wirtschaftlichen Gleichgewichts handelt.<br />

Die Lebenskraft des socialen Körpers, die<br />

sich in der Anpassung der Produktion an die<br />

Bedürfnisse betätigt, verwandelt sich in eine<br />

Funktion der staatlichen Verwaltung. Die<br />

öffentliche Gewalt wird beauftragt, die Organisation<br />

der Nachrichten zu zentralisieren, die<br />

Nachfrage vorher zu bestimmen <strong>und</strong> dementsprechend<br />

den Umfang der Produktionsmittel<br />

vorzuschreiben; zu ermitteln, welche Waren<br />

im Auslande gekauft <strong>und</strong> welche zum Zweck<br />

der Ausfuhr hervorgebracht werden sollen.<br />

Auf ihr ruht die Aufgabe, die ganze Bewegung<br />

der Güter zu regeln <strong>und</strong> die Art <strong>und</strong><br />

Menge derjenigen vorzuschreiben, welche die<br />

gesuchtesten Luxusbedürfnisse befriedigen<br />

sollen, ohne dass sich dabei ein Mangel oder<br />

ein Ueberschuss herausstellt. Es müssen Beamte<br />

vorhanden sein, die sich dem veränderlichen<br />

Geschmack <strong>und</strong> den Launen der Bevölkerung<br />

fügen, die sich ohne Rücksicht auf<br />

die Erschwerung ihres Dienstes unaufhörlich<br />

bemühen, den leisesten Wünschen der Konsumenten<br />

in derselben Weise entgegenzukommen<br />

wie die Produzenten <strong>und</strong> die Geschäftsleute<br />

der individualistischen Gesellschaft.<br />

In dem Betriebe, der für die Beschaffung<br />

der Lebensmittel sorgt, darf kein Irrtum,<br />

kein Fehler <strong>und</strong> kein Uebersehen vorkommen.<br />

Die Existenz eines ganzen Volkes hängt von<br />

der wachsamen Fürsorge einer alles umfassenden<br />

Regierung ab.<br />

Und nicht einmal in einer rein theoretischen<br />

Weise vermag solcher Kollektivismus<br />

das Gleichgewicht zu sichern. Er verfügt über<br />

kein Mittel, die überschüssigen Güter, die<br />

unmodern oder beschädigt worden sind, a b -<br />

zusetzen. Sie häufen sich in den Magazinen<br />

an, ohne einen Abnehmer zum Kostenpreise<br />

zu finden. Es gelingt ihm auch nicht, die<br />

Zuweisung derjenigen Gegenstände in befriedigender<br />

Weise zu regeln, die in unzureichender<br />

Menge vorhanden sind. Auch für die<br />

Verteilung der Arbeiter auf die einzelnem<br />

Beschäftigungen sind feste Principien nicht<br />

vorhanden. In Ermangelung des spontanen<br />

Gleichgewichts muss der Staat Gewalt anwenden,<br />

um die Arbeiter den weniger begehrten<br />

Gewerben zuzuführen.<br />

Verantwortlicher R e d a k t e u r Jos. Sindelar ( W i e n ) . — H e r a u s g e b e r Jul. E h i n g e r (Wien). — Erste Genossenschafts-Buchruckerei in Budweis.


Wien, 2 6 . J ä n n e r 1 9 0 8 . Einzelexemplar 10 h. J a h r g . I. — N r . 3.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden I. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition XII. Fockygasse 27. II./17.<br />

Wien. Gelder sind zu senden an W.<br />

Kubesch, IV. Schönburgstrasse, 5. III. 27<br />

Wien.<br />

Ideale Pressfreiheit.<br />

Beschlagnahmeverfügung.<br />

Die k. k. Staatsanwaltschaft verfügt gemäss<br />

§ 487 St.-P.-O. die Beschlagnahme der periodischen<br />

Druckschrift „Wohlstand für Alle" Nr. 2, vom 9.<br />

Jänner 1908, wegen nachstehender Stellen:<br />

1. „Wir sind Socialisten" bis einschliesslich „zu<br />

verstärken*.<br />

2. Artikel „Anarchismus" in seiner Gänze, beginnend<br />

mit „Der Anarchismus" bis einschliesslich<br />

„<strong>und</strong> Freiheit".<br />

3. Die Überschrift „Internationale" beginnend <strong>und</strong><br />

einschliesslich „Anarchismus".<br />

4. „in welchem die Nutzlosigkeit" bis einschliesslich<br />

„<strong>und</strong> bleiben werden".<br />

5. Von „Darin sehe ich" bis einschliesslich „hinausjagt".<br />

6. Von „Wir Anarchisten" bis einschliesslich „zuzuführen!"<br />

7. Von „Wodurch Ihr im Menschen" bis einschliesslich<br />

„Aktion zuzuführen".<br />

8. Beilage „Broschürenverlag des Wohlstand für<br />

Alle" Nr. 1, in den Stellen: a) „Ändert die<br />

Anarchisten" bis „Solidarität"; b) „Aufhebung<br />

des" bis „Bedürfnisse"; c) von „Darum glauben"<br />

bis „die Regierung" <strong>und</strong> d) von „Es ist einfach"<br />

bis einschliesslich „zu befreien".<br />

Diese Mitteilung macht die Verfolgung wegen<br />

anderer nicht bekannt gegebener Gründe nicht unzulässig.<br />

(§ 5, Ges. v. 9. Juli 1894, Nr. 161 R.-G.-Bl.)<br />

K. k. S t a a t s a n w a l t s c h a f t Wien,<br />

am 13. Jänner 1908.<br />

Unterschrift unleserlich.<br />

* *<br />

*<br />

Ihr w a c k e r e n G ö n n e r d e s freien G e d a n -<br />

k e n s — S t a a t s a n w a l t s c h a f t u n d Z e n s u r b e -<br />

h ö r d e — wir g r ü s s e n E u c h !<br />

W i e a u s o b i g e n V e r f ü g u n g e n deutlich<br />

hervorleuchtet, fürchtet Ihr z w e i G e d a n k e n -<br />

signale d e s k ä m p f e n d e n , r e v o l u t i o n ä r e n P r o -<br />

letariats a m m e i s t e n : D a s s t r a h l e n d e L i c h t<br />

d e r W e l t a n s c h a u u n g d e s A n a r c h i s m u s , a l s o<br />

die V e r n e i n u n g E u r e r W e s e n s g e w a l t e n u n d<br />

d a s Abschweifen d e s P r o l e t a r i a t s v o m W e g e<br />

d e s p r a k t i s c h l ä h m e n d e n , g e i s t i g z w e c k l o s e n<br />

P a r l a m e n t a r i s m u s .<br />

W i r w e r d e n d e n K a m p f w e i t e r fortsetzen<br />

— trotz a l l e d e m , geleitet v o n d e r<br />

Klarheit u n s e r e s idealen Z i e l e s , erfüllt v o n d e n<br />

hehren A u f g a b e n d e s S o c i a l i s m u s u n d A n a r -<br />

c h i s m u s .<br />

A n u n s e r e K a m e r a d e n richten w i r a b e r<br />

a u c h die Aufforderung, u n s b e i z u s t e h e n in<br />

u n s e r e m R i n g e n mit d e n M ä c h t e n d e r A u t o -<br />

rität <strong>und</strong> G e i s t e s u n t e r d r ü c k u n g . F r e u n d e u n d<br />

L e s e r ! Verbreitet u n s e r Blatt, w e r b e t n e u e<br />

A b o n n e n t e n , s e n d e t Geldmittel als A b r e c h n u n g<br />

für g e s a n d t e Blätter u n d a l s B e i t r ä g e zu<br />

u n s e r e m P r e s s f o n d .<br />

D i e g e s a m t e Auflage d e r Nr. 2 d e s „ W .<br />

f. A . " w u r d e e x p e d i e r t , e h e die H ä s c h e r<br />

ihrer habhaft w e r d e n k o n n t e n .<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse seil st erobert werden muss; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Kl issenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen i s t . . . "<br />

Genossen! Erweist Euch als Anarchisten,<br />

als Kämpfer für Freiheit, ökonomische Gleichheit,<br />

Brüderlichkeit!<br />

Mit Solidarität<br />

Redaktion <strong>und</strong> Verlag des „ W. f. A.'<br />

Reform <strong>und</strong> direkte Aktion.<br />

„Arbeiterschutz <strong>und</strong> Arbeiterversicherung<br />

ergaben sich somit als wirtschaftliche<br />

Notwendigkeiten d e r k a p i -<br />

t a l i s t i s c h e n Gesellschaftsordnung<br />

als ein Bedürfnis des Kapitalismus<br />

selbt . . ."<br />

„Das ist der Gr<strong>und</strong>, warum wir als<br />

die a l l e r e r s t e <strong>und</strong> a l l e r w i c h -<br />

tigste Aufgabe des österreichischen<br />

Abgeordnetenhauses im Jahre 1908 die<br />

Durchsetzung <strong>und</strong> das Inkrafttreten der<br />

I n v a l i d i t ä t s v e r s i c h e r u n g hinstellen<br />

müssen".<br />

(Aus „Die Aufgaben des Jahres" in der „Arbeiterzeitung",<br />

1. Jänner 1908).<br />

Ein Haus ist baufällig geworden; die<br />

Mauern <strong>und</strong> Wände sind geborsten, der Giebel<br />

gebrochen. Türen <strong>und</strong> Stiegen morsch<br />

<strong>und</strong> gebrechlich <strong>und</strong> bis in das F<strong>und</strong>ament<br />

hinein frisst der Schaden weiter, so dass man<br />

die Gefahr des Einsturzes in immer unmittelbarerer<br />

Nähe gerückt sieht. W a s ist da zu tun,<br />

was ist am logischesten zu t u n ? Gewiss das<br />

eine: die Hausbewohner müssen zusammentreten<br />

<strong>und</strong> diejenigen von ihnen, die im<br />

Schweisse ihres Angesichtes als Bauarbeiter,<br />

Maurer usw. arbeiten, werden Stück auf Stück<br />

des Hauses durch neue, bessere Teile ersetzen.<br />

Das Alte wird hinweg geschafft, a b -<br />

getragen, <strong>und</strong> bald steht ein neues, starkes<br />

Gebäude vor uns, ein Zeuge der Kraft sachverständiger,<br />

menschlicher Arbeit, ein Produkt<br />

des einigen Willens der werktätigen Produzenten.<br />

Doch bevor es so kam, bevor sie das<br />

Vernünftigste selbst tun <strong>und</strong> anwenden konnten,<br />

hatten sie sich erst der falschen Ratgeber<br />

zu erwehren gehabt. Da kamen einige<br />

Gesellen, die nicht in dem Hause wohnten;<br />

Politiker nannten sie sich, sprachen ein Langes<br />

<strong>und</strong> Breites über die Baufälligkeit des<br />

Hauses, dass es auch wirklich baufällig wäre<br />

<strong>und</strong> kamen endlich zu der löblichen Erkenntnis,<br />

dass es nicht angehe, die alten Teile des<br />

Hauses abzutragen <strong>und</strong> durch neue zu ersetzen.<br />

Nein, etwas anderes müsste geschehen.<br />

Und diese Philosophen über den Stein der<br />

Weisen d e k r e t i e r t e n — da sie selbst<br />

nicht a r b e i t e n konnten, wollten sie immer<br />

dekretieren, darin allein bestand ihre Stärke!<br />

— dass man nichts einreissen dürfe, sondern<br />

nur Pfeiler <strong>und</strong> Pfosten anbringen müsse. Dies<br />

genüge, dann würde das Haus nicht mehr<br />

einstürzen. Nur nichts einreissen, nur flicken,<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2.40;<br />

halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

ausbessern <strong>und</strong> pfuschen. Das nannten sie<br />

dann Reform — <strong>und</strong> befahlen den anderen,<br />

es zu machen . . .<br />

Es gibt eine Reform, <strong>und</strong> es gibt eine<br />

„Reform". Wir sehen sie beide im täglichen<br />

Leben, <strong>und</strong> sie bauen sich auf auf falschen<br />

oder richtigen Vorstellungen von den Zukunftsaufgaben<br />

der Gesellschaft <strong>und</strong> der Richtungslinie<br />

ihres Werdens. Sowohl der Kapitalismus<br />

wie auch der Socialismus benützen die Reform<br />

als ein Mittel, als eine Methode ihrer<br />

Existenzbetätigung. Aber beide hegen verschiedene<br />

Absichten, verschiedene <strong>Ziel</strong>e in<br />

ihrer reformistischen Betätigung.<br />

Die kapitalistische Reformmethode ist<br />

konservativ. Sie entsteht, wenn die Wirkungen<br />

des Kapitalismus auf socialem, wie auf<br />

ökonomischem Felde mit solch erschreckend<br />

verheerender Wucht auftreten, dass sie die<br />

Quelle des kapitalistischen Profits, die unverwüstete,<br />

kräftige Arbeitsfähigkeit des Proletariers<br />

<strong>und</strong> des Volkes im allgemeinen vollständig<br />

zu brechen <strong>und</strong> zu vernichten drohen.<br />

Die Ausbeutung des Kapitals muss dann eine<br />

andere Richtung annehmen, die die nun<br />

krankhaft gewordene Stelle wenigstens zeitweise<br />

unberührt belässt, bis sie wieder einen<br />

gewissen Grad der Genesung erlangt hat.<br />

Darin <strong>und</strong> in nichts anderem besteht das<br />

Wesen der kapitalistischen Reform, die rein<br />

äusserliche Verbesserungen ganz oberflächlich<br />

mittels ihres Gesetzgebungsapparates dekretiert,<br />

eine Reform, die den Mechanismus der<br />

Ausbeutung n i c h t berührt, den Druck nur<br />

auf eine andere Stelle verlegt <strong>und</strong> für diese<br />

Druckverlegung niemand anderen als wieder<br />

das ausgebeutete Proletariat bezahlen lässt.<br />

Auch der Socialismus benützt die Reform,<br />

auch ihm ist sie e i n e seiner Betätigungsmethoden.<br />

Doch überall, wo der Socialismus<br />

eine socialistische Reform durchführt, ist er<br />

revolutionär. Nur w e n n - d i e Reform revolutionär,<br />

ist sie socialistisch; nur wenn sie s o -<br />

cialistisch, kann sie revolutionär sein. Denn<br />

in letzterem Sinne, kehrt sie sich dann stets<br />

wider z w e i Gr<strong>und</strong>pfeiler des Bestehenden:<br />

sie wirkt einschränkend auf den Ausbeutungsgrad<br />

des Kapitalisten, <strong>und</strong> sie wirkt beeinträchtigend<br />

auf die diktatorische Verfügungsautorität<br />

des Staales über das Volk. Für den<br />

Socialismus ist somit jede Reform, die s o -<br />

cialistisch <strong>und</strong> auf diese Weise durchgeführt<br />

wird, eine revolutionäre Tat, indem sie das<br />

Schwergewicht des historischen Geschehens<br />

aus den Händen der Herrschenden nimmt, den<br />

Funktionären der bestehenden Institutionen —<br />

Gesetzgebung, Staatsmacht etc., — e n t z i e h t<br />

<strong>und</strong> es in den Bereich des Volkes dadurch<br />

verlegt, dass dieses durch selbständige Aktionen<br />

in verbesserndem, das Lebensniveau


tatsächlich erhebendem Sinne neue sociale<br />

Verhältnisse schafft, die ihren Abschluss im<br />

Socialismus finden werden. In dieser Aktion<br />

<strong>und</strong> Methode ist die Gesamttheorie des S o -<br />

cialismus über Evolution (Entwicklung) <strong>und</strong><br />

Revolution enthalten; die revolutionären Teilvorstösse<br />

der Evolution ergeben die universale<br />

sociale Revolution, d. h. die vollständige<br />

Umwandlung des Gesellschaftsganzen im<br />

Sinne des Neuen, für uns des kommunistischen<br />

Anarchismus: — Socialismus <strong>und</strong> Freiheit.<br />

Noch heute gibt es Menschen — die<br />

Politiker aller Schattierungen —, die den Massen<br />

das Lügenmärchen vorgaukeln, die Anarchisten<br />

seien Gegner aller <strong>und</strong> jeder Reformen. Dies<br />

ist eine Lüge. Die Anarchisten sind Gegner<br />

aller S c h e i n r e f o r m e n , <strong>und</strong> sie bekämpfen<br />

die Socialdemokraten vornehmlich deshalb,<br />

weil diese Partei sich an dem Gauklerspiel<br />

der Bourgeoisparteien beteiligt <strong>und</strong> in Gemeinschaft<br />

mit diesen, im Schmieden an<br />

Scheinreformen, ihr socialistisches Endziel<br />

vollständig preisgegeben hat, wie es mit jeder<br />

revolutionären Partei, die sich dem Parlamentarismus<br />

ergibt, stets der Fall sein m u s s .<br />

Wir Anarchisten sind nicht Gegner aller Reformen;<br />

im Gegenteil, es gibt keine sociale<br />

Bewegung, die auf den Gebieten der Socialökonomie,<br />

des gewerblichen Lebens, des<br />

Konsums, der Gewerkschafts- <strong>und</strong> Genossenschaftsbewegung,<br />

der Erziehung, der geistigen<br />

Aufklärung, der direkten, reformistischen Auflehnung<br />

auf allen Gebieten der Moral, Tradition,<br />

Sitte <strong>und</strong> des religiösen Zwangsglaubens<br />

so r e f o r m i s t i s c h <strong>und</strong> klarsehend ist,<br />

in die Verhältnisse eingreifend <strong>und</strong> das individuelle<br />

Leben umwälzend <strong>und</strong> umformend<br />

wirkt, wie es jene der Anarchisten tut.<br />

Aber überall, wo sie auftreten, als Reformatoren<br />

sich betätigen, sind sie a n t i -<br />

s t a a t l i c h , a n t i k a p i t a l i s t i s c h <strong>und</strong> a n t i -<br />

r e l i g i ö s , die Religion als kirchliche Formel<strong>und</strong><br />

Dogmenlehre aufgefasst. Und die Reform<br />

des Anarchismus ist eine solche, dass sie das<br />

Selbsttätigkeitsfeld des Volkes erweitert <strong>und</strong><br />

dieses allein alles das tun, aus eigener Initiative<br />

heraus ausführen lässt, was die G e -<br />

setzgeber nur zum Schein befehlen. Nur der<br />

Anarchismus, also die direkte Einsetzung der<br />

Einzelpersönlichkeit oder der als Gruppe verb<strong>und</strong>enen<br />

Individuen, die von diesen aus<br />

eigener Kraft durchgesetzte Machtäusserung<br />

im socialen Leben — nur solche revolutionäre<br />

Wirksamkeit ist es, die das Proletariat<br />

dem Endziel des Socialismus näher bringt.<br />

Wohlgemerkt: nicht ein Gesetz ist es, was<br />

dies zu leisten vermag. Ein Gesetz ist stets<br />

eine Befestigung des bestehenden Zustandes;<br />

die Eroberung des Socialismus <strong>und</strong> der Freiheit<br />

kann, um das Wort des Kulturhistorikers<br />

Buckle anzuwenden, nur geschehen, indem<br />

man die Gesetze aufhebt <strong>und</strong> das Beste, w a s<br />

die Gesetzgeber leisten könnten, wäre, wenn<br />

sie die erlassenen Gesetze widerriefen, der<br />

sociale Zustand der ökonomischen Gleichheit<br />

<strong>und</strong> Freiheit dadurch etabliert würde.<br />

Nach einer Periode vollständigen, parlamentarischen<br />

Bankerotts, den die österreichische<br />

Socialdemokratie in der ersten Session<br />

des neuen Reichsrates erlitten — denn die<br />

Verringerung der Zuckersteuer, die ausgerechnetermassen<br />

im Jahre etwa vier (4) Kronen<br />

für eine fünfköpfige Arbeiterfamilie, Millionen<br />

von Profiten in den Taschen der<br />

Zuckerbarone bedeutet, kann nur ein kleinbürgerlicher<br />

„Reformer", kein Socialist eine<br />

Reform n e n n e n ; dies ist nur eine der vielen<br />

„Reformen" —, will die Socialdemokratie nun<br />

im Jahre 1908 die I n v a l i d i t ä t s v e r s i c h e -<br />

r u n g durchführen, ganz ungeachtet der Tatsache,<br />

dass das, was die deutschländischen<br />

Arbeiter staatlich in dieser Richtung besitzen<br />

<strong>und</strong> im Gegenwartsstaat erreichbar ist, ein<br />

wahrer Hohn auf das Proletarierelend ist, das<br />

einen Proletarier durchschnittlich höchstens<br />

40 aber nicht 70 Jahre alt werden lässt, im<br />

Unglücksfalle ihn sehr oft um das, was er<br />

selbst bezahlen musste, betrügt. Nun glaube<br />

man aber nicht, dass wir Anarchisten uns<br />

etwa der Erkenntnis der Notwendigkeit verschliessen,<br />

dass der Arbeiter auch schon innerhalb<br />

der Gegenwartsgesellschaft mit ihrer<br />

schmachvollen Ungerechtigkeit es durchsetzen<br />

soll, im Unglücksfalle sich wenigstens relativ<br />

versorgt, bei respektiver höherer Altersstufe<br />

mit resultierender Arbeitslosigkeit sich w e -<br />

nigstens vor dem ärgsten Elend geschützt zu<br />

wissen. Wir treten nur deshalb der Socialdemokratie<br />

entgegen, weil hier wieder etwas<br />

geschaffen werden soll, was seinen Zweck<br />

gar nicht erfüllen wird, wodurch nur der<br />

Staat die Möglichkeit gewinnt, sich noch<br />

besser über dem Volke zu behaupten. Es ist<br />

nämlich die Eigenart aller solcher parlamentarischer<br />

Scheinreformen, dass sie als wahrhaft<br />

aktuelles Ergebnis nur das eine haben:<br />

sie vermehren die staatliche Macht <strong>und</strong> n i c h t<br />

zu Gunsten des Proletariats. Wohl ist es eine<br />

Schande, dass der österreichische Arbeiter<br />

es sich von seinem Ausbeutertum so ohne<br />

weiteres gefallen lässt, sich bei jeder Lebenseventualität<br />

buchstäblich an den Bettelstab<br />

bringen oder in den Selbstmord treiben zu<br />

lassen; aber will die Socialdemokratie vielleicht<br />

behaupten, dass der gute Staat bei<br />

Einführung eines Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsgesetzes<br />

dessen finanzielle Erfordernisse aus<br />

dem Budget des Militarismus oder sonstiger<br />

Staatseinnahmen decken w i r d ? Nein, der<br />

Staat tut dies nicht, sondern die Arbeiter<br />

werden dazu angehalten werden, eine neue<br />

direkte oder indirekte Steuer zu entrichten,<br />

aus deren Ertrag dann die Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsansprüche<br />

befriedigt werden sollen,<br />

d. h. so, wie der Staat es für recht <strong>und</strong><br />

billig hält.<br />

Hier haben wir die Scheinreform in unverhülltester<br />

Nacktheit <strong>und</strong> gemeinster Heuchelei.<br />

So ist jede politische Socialreform beschaffen.<br />

Sie ist eine neue Bürde für den<br />

Arbeiter <strong>und</strong> wird durch ihre speziellen Verfügungen<br />

immerdar nichts anderes als eine<br />

i Segnung für eine ganz bestimmte A r b e i t e r -<br />

a r i s t o k r a t i e , das Proletariat a l s K l a s s e<br />

vollständig unberührt lassend; zur Aufbringung<br />

des nötigen Budgets aber das gesamte<br />

Volk zwingend, worauf die ganze kolossale<br />

Summe unter der ausschliesslichen Kontrolle<br />

des Staates zu stehen kommt, der somit Verwalter,<br />

Eigentümer <strong>und</strong> Revisor in einer<br />

Person ist!<br />

Ganz abgesehen davon, dass, wenn die<br />

Socialdemokratie ihre diesbezüglichen Anträge<br />

sogar durchbringen sollte, das dann geschaffene<br />

Gesetz eine Persiflage auf die wahren<br />

Interessen <strong>und</strong> Bedürfnisse des Proletariats<br />

bilden wird, da sie ja nur nach der von den<br />

diversen bürgerlichen Parteien vorgenommenen<br />

Verslümmelungen der Anträge mit diesen<br />

durchzudringen hoffen darf, also wieder<br />

Schacher <strong>und</strong> Arbeit f ü r das Bourgeoisregime,<br />

nicht aber für das revolutionäre Prinzip des<br />

Socialismus — ganz abgesehen davon, stellen<br />

wir Anarchisten uns ein Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsgesetz<br />

ganz anders, ganz anders durchgeführt<br />

vor. Dort wo der Staat sich in solchen<br />

Angelegenheiten dreinmengt, kann er nicht<br />

anders, als wie als herrschende <strong>und</strong> unterwerfende<br />

Gewalt auftreten; <strong>und</strong> deshalb<br />

wendet sich ein jedes selbst im Sinne der<br />

arbeitenden Klasse erlassenes Gesetz in seiner<br />

Ausführung wider diese Klasse. Darin besteht<br />

eben das Trügerische des Parlamentarismus.<br />

Und da das von der Socialdemokratie m i t<br />

H i l f e d e r v e r s c h i e d e n e n b ü r g e r l i -<br />

c h e n Parteien durchzusetzende Gesetz ein<br />

für alle Arbeiterkategorien e i n h e i t l i c h e s ,<br />

die diversen mannigfachen Unterschiede zwischen<br />

diesen n i c h t berücksichtigendes G e -<br />

setz sein wird, nein: n u r sein kann <strong>und</strong><br />

darf, wird es von vornherein nur ganz bestimmten<br />

<strong>und</strong> ganz gewiss nur den ohnedies<br />

meist begünstigten Kategorien zu Gute kommen.<br />

Es wird sich hier das wiederholen, w a s<br />

wir bei a l l e n Gesetzen erleben, <strong>und</strong> was<br />

ein ausserordentlich scharfsinniger Jurist des<br />

neunzehnten Jahrh<strong>und</strong>erts, Thibaut, sehr richtig<br />

andeutete, wenn er klarlegte, dass ein jedes<br />

Gesetz, sobald es einmal aus dem Stadium<br />

der theoretischen Beratung ausgetreten <strong>und</strong><br />

wirklich Gesetz geworden, eine ganz selbständige<br />

Existenz beginne <strong>und</strong> ein von den Absichten<br />

seiner Urheber ganz unabhängiges,<br />

verschiedenes Leben führe.<br />

Wir Anarchisten sind für eine Alters<strong>und</strong><br />

Invaliditätsversicherung, die sich das<br />

Proletariat aus eigener Kraft, nach Massgabe<br />

eigener ökonomischer Einsicht erkämpf; als<br />

Anarchisten sind wir g e g e n ein diesbezügliches<br />

G e s e t z , weil es erstens den Arbeiter<br />

finanziell ausbeutet, zweitens nur für eine<br />

Arbeiteraristokratie Sorge trägt, für die Gesamtklasse<br />

des Proletariats wirkungs- <strong>und</strong><br />

wertlos ist.<br />

Ja, wir wollen es den Arbeitern sagen,<br />

wie sie sich ihr Alter <strong>und</strong> gegen einen Unfall<br />

versichern können. Am logischesten <strong>und</strong><br />

definitivsten wäre es natürlich durch die Einführung<br />

eines kommunistischen Gemeinwesens<br />

erreichbar. Sind die Arbeiter geistig<br />

aber noch nicht reif dazu, dann müssen sie<br />

sich ihre Forderungen auf direktem <strong>Weg</strong>e,<br />

mit eigener, direkter Aktion, kurz durch ihre<br />

eigene Kraft erkämpfen. Und es gäbe dazu<br />

mehrfache W e g e :<br />

1. Durch einen allgemeinen Generalstreik<br />

für die Erhöhung der Arbeitslöhne im ganzen<br />

Land könnten die Arbeiter einen ökonomischen<br />

Sieg erringen, den ihnen kein Parlament der<br />

Welt bereiten kann.<br />

2. Das österreichische Proletariat muss,<br />

um eine wahre Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsversicherung<br />

zu haben, dieselbe selbst in seinen<br />

Gewerkschaften <strong>und</strong> Genossenschaften besitzen<br />

<strong>und</strong> die kapitalistische Klasse dazu zwingen,<br />

für dieselbe zu zahlen. Dazu ist nötig ein<br />

Generalstreik, der die Forderung aufstellt:<br />

Die organisierten Proletarier Österreichs verlangen<br />

von dem Unternehmertum die von<br />

jenen zu bestimmende Zahlung zu einem vom<br />

Proletariat zu errichtenden Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsfonds.<br />

3. An den Staat müsste der Generalstreik<br />

die folgende Forderung richten: Statt, wie es<br />

jetzt zu unser aller, der Arbeitenden Schmach<br />

<strong>und</strong> Hohn geschieht, die Erhöhung der Offiziersgehälter<br />

durchzuführen, soll der Staat<br />

die für diesen Zweck bestimmte Summe alljährlich<br />

den Gewerkschaften für besagte Versicherung<br />

zuführen.<br />

4. Die Forderungen des generalstreikenden<br />

Proletariats an kapital <strong>und</strong> Staat richten<br />

sich ganz nach den lokalen <strong>und</strong> örtlichen<br />

Bedürfnissen der Arbeiterklasse.<br />

5. Der von den Gewerkschaften zu entrichtende<br />

Fonds darf den Kampfescharakter<br />

des Proletariats nicht lähmen. Eine Gewerkschaft<br />

muss revolutionär sein <strong>und</strong> besteht nur<br />

zwecks Führung ökonomischer Klassenkämpfe,<br />

was aber allerdings die gegenseitige Solidarität<br />

innerhalb der Gewerkschaft nur steigern<br />

soll <strong>und</strong> muss.


Aus der Internationale des revolutionären Socialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

A n u n s e r e M i t k ä m p f e r u n d<br />

K a m p f e s b r ü d e r !<br />

Mit freudiger G e n u g t u u n g dürfen wir es<br />

verzeichnen, d a s s d a s Erscheinen d e s „W. f. A."<br />

in fast alten europäischen Ländern von unseren<br />

wackersten K a m e r a d e n mit g r ö s s t e r S y m p a t h i e<br />

begrüsst wurde. Es erübrigt sich für uns, angesichts<br />

der g r o s s e n Zahl d i e s e r brieflichen o d e r<br />

veröffentlichten K u n d g e b u n g e n , einzeln auf dieselben<br />

antworten zu können.<br />

Diesen F r e u n d s c h a f t s b e z e u g u n g e n g e g e n -<br />

über d r ä n g t es uns zu konstatieren, d a s s wir<br />

österreichische Genossen von u n s e r e n Kameraden<br />

des internationalen Auslandes unendlich viel<br />

lernen <strong>und</strong> g e l e r n t h a b e n ; d a s s u n s e r Dank für<br />

ihre Solidarität darin b e s t e h e n soll, ihnen nachzueifern<br />

im W i r k e n für d a s g e m e i n s a m e a n a r -<br />

chistische Ideal — mit Energie, mit A u s d a u e r<br />

<strong>und</strong> mit Ernst!<br />

Wir treten ein in Reih' <strong>und</strong> Glied d e s internationalen<br />

Kampfes für die Befreiung d e r Menschheit.<br />

Trotz t a u s e n d f a c h e r Schwierigkeiten in<br />

Österreich w e r d e n wir uns e u r e r w ü r d i g zeigen<br />

im gemeinsamen, brüderlichen, heiligen Streit<br />

wider Staat, Kapitalismus <strong>und</strong> j e d e Schmach!<br />

Die Gruppe „Wohlstand für Alle".<br />

Österreich.<br />

Veranlasst durch die mannigfachen Verbote der<br />

Polizei haben etwa 25 Wiener Genossen einen<br />

" A n a r c h i s t i s c h e n K u n s t - n n d L i t e r a -<br />

t u r v e r e i n " begründet, dessen Abende allmontaglich<br />

stattfinden. Die Zusammenkünfte sind bei<br />

Schlor XIV., Märzstr. 33 anberaumt <strong>und</strong> haben nur<br />

reguläre Mitglieder Zutritt. Nach der ersten Konstituierungsversammlung<br />

rezitierte der Genosse Pierre<br />

Ramus diverse selbst verfasste Szenen <strong>und</strong> Dialoge,<br />

die einstimmige Begeisterung hervorriefen. —<br />

Allen Interessenten diene zur Nachricht, dass unsere<br />

öffentlichen Versammlungen allwöchentlich, Dienstag<br />

Abend um 8 Uhr in Schlor's (obige Adresse) grossem<br />

Saale stattfinden. Jedermann willkommen! — Eine<br />

glänzend besuchte Sylvesterfeier haben die Wiener<br />

Genossen hinter sich. Sowohl in gesanglicher, als<br />

auch geistiger Hinsicht — „Streiflichter über das<br />

Jahr 1907" wurden gegeben — war der Abend eine<br />

Meisterleistung der Organisation <strong>und</strong> Ausführung.<br />

Der Reinertrag wurde unserem Blatte zur Verfügung<br />

gestellt. Bis zum frühen Morgen währte das frohgemute<br />

Treiben, an dem sich auch einige auswärtige<br />

Kameraden beteiligten. — Denselben Erfolg<br />

hatte der Rezitationsabend, den der Genosse Polacek<br />

abhielt. — Über die „Internationalen Kongresse<br />

von Stuttgart <strong>und</strong> Amsterdam" referierte der Genosse<br />

Ramus. — Am nächsten Abend fanden sich<br />

einzelne Genossen in der grossen Massenversammlung<br />

der Sozialdemokratie im III. Bezirk ein, in der<br />

Dr. Kappelmacher das Referat führte über „Das<br />

Wesen der Staatsverfassung". Seinen sehr durchschnittlichen<br />

Leistungen trat der Genosse Ramus<br />

entgegen, der trotz fortwährender Unterbrechung<br />

durch den Vorsitzenden dennoch das Wesen der<br />

sozialistisch-anarchistischen Auffassungstheorie über<br />

Staatsverfassungen darlegte. Der Referent antwortete<br />

nur dahingehend, dass er verblüfft konstatierte,<br />

Socialdemokrat zu sein <strong>und</strong> der Versammlungsleitung<br />

den Rat erteilte, das nächste Mal k e i n e D i s -<br />

k u s s i o n zu g e s t a t t e n ; nach einigen versöhnlich-schmeichelhaften<br />

Bemerkungen über die Darlegungen<br />

R.'s endete er mit folgender geistreicher<br />

Juristenphrase: „ W i r s i n d e i n e s t a a t s e r h a l -<br />

t e n d e , k e i n e s t a a t s z e r s t ö r e n d e P a r -<br />

t e i ! " (Das allerdings; aber damit k e i n e s o c i a -<br />

l i s t i s c h e Partei). Zum Schlüsse entschuldigte<br />

sich der Vorsitzende, einem Anarchisten das Wort<br />

erteilt zu haben; mit dem Erfolge, dass viele der<br />

Anwesenden gegen solche Äusserung laut Protest<br />

erhoben <strong>und</strong> unsere Zeitschrift eifrig kauften. W i r<br />

a p p e l l i e r e n a n d i e K a m e r a d e n , s i c h j e d e n<br />

Donnerstag Abend in Fuchs Restauration, III., Rennweg<br />

71, einzufinden <strong>und</strong> dort das gefährdete Prinzip<br />

der Redefreiheit wider die Socialdemokratie zu<br />

wahren! — Die vereinigten Gruppen der allgemeinen<br />

Gewerkschaftsföderation haben für den 8. Februar<br />

eine glanzvolle Ballfestlichkeit arrangiert, deren Reinertrag<br />

für den „W. f. A." bestimmt ist. Sie wird<br />

in Holub's Saallokalitäten, XIV., Huglgasse 15, stattfindet.<br />

* •<br />

Vorigen Sonntag hielten die Genossen des<br />

V. Bezirkes ihre interne Versammlung statt, die<br />

eine interessante Auseinandersetzung über ökonomische<br />

Aktionen <strong>und</strong> ihre Ausführungsmöglichkeiten<br />

ergab. — Ein prächtiges Stiftungsfest war jenes der<br />

Freidenker des XIV. Bez., an dem viele unserer<br />

Genossen teilnahmen. — Die öffentliche Versammlung<br />

der „Gewerkschaftsföderation" behandelte das<br />

spannende Thema über „Verbrecher <strong>und</strong> Verbrechen"<br />

durch den Referenten Ramus. — Am darauffolgenden<br />

Tage fand im III. Bezirk eine mehr oder minder bürgerliche<br />

Versammlung statt, in der über das Thema<br />

„Schulreform" diskutiert wurde, an welcher Debatte<br />

sich einige Kameraden eifrigst beteiligten. — Während<br />

in dieser Versammlung dem Gen. Ramus das Wort erteilt<br />

wurde, gestattete dies die socialdemokratische<br />

Versammlung im gleichen Bezirk n i c h t ! Dr. Braun<br />

sprach über „Staatsverwaltung", durchaus bürgerlich.<br />

Dann erklärte der Vorsitzende, unter dem rohen<br />

Brüllen der Vertrauensmänner, dass eine Diskussion<br />

n i c h t gestattet wäre! „Sie werden als Anarchist<br />

hier nicht mehr sprechen!" erklärte der würdige<br />

Herr. Eine ideale Redefreiheit, diese socialdemokratische<br />

Auffassung; <strong>und</strong> d a s will die bestehenden<br />

Zustände im Sinne der Demokratie umändern! —<br />

Die Versammlung über das „Wesen des Parlamentaris",<br />

das Ramus eingehend darlegte, war sehr gut<br />

besucht, wie auch von hohem Interesse. Eine Diskussion<br />

mit einigen lerneifrigen Socialdeinokraten<br />

entspann sich, die bis lange nach Mitternacht währte.<br />

— Alles in allem ersehen die Kameraden, dass die<br />

Wiener Bewegung n i c h t untätig ist.<br />

*<br />

Im Wiener Gemeinderat schlossen die christlichsocialen<br />

Reaktionäre den Socialdemokraten<br />

S k a r e t für geraume Zeit von ihren Beratungen<br />

aus. Die übrigen soc.-dem. Gemeinderäte Hessen<br />

sich diese für Skaret ohne Zweifel ehrende Handlungsweise<br />

tatenlos gefallen. Nun aber halten sie<br />

nachträglich öffentliche Protestversammlungen wider<br />

dieses ungesetzliche <strong>und</strong> ungehörige Verfahren ab.<br />

Sie vergessen dabei vollständig, dass der, der den<br />

Schaden hat <strong>und</strong> gutwillig hinnimmt, für den Spott<br />

nicht zu sorgen braucht.<br />

*<br />

Zwei - Ehrenmänner, der soc.-dem. Redakteur<br />

Oswald Hillebrand <strong>und</strong> der „Freisozialist" —<br />

welch schändliche Verunglimpfung eines herrlichen<br />

Namens I — Simon Stark liegen einander in den<br />

Haaren, indem ersterer den letzteren wegen Verleumdung<br />

v e r k l a g t e . Wir enthalten uns jeder<br />

meritorischen Wertung des Falles; uns sind beide<br />

Herren einander gleich würdig. Fragen müssen wir<br />

allerdings nach dem einen: W a s ist das eigentlich<br />

für eine socialistische Ehre, die sich ihr Recht von<br />

der bourgeoisen Justiz holt, durch diese hergestellt<br />

oder vernichtet glaubt? Wenn zwei Bourgeois so<br />

etwas tun, ist es selbstverständlich, es sind die<br />

Vertreter der von ihnen anerkannten Weltanschauung,<br />

die über das sociale <strong>und</strong> persönliche Wertmoment<br />

des Einen oder Anderen urteilen sollen;<br />

wenden sich aber Socialisten an bürgerliche Gerichte,<br />

um von diesen Ehrenerklärungen zu erlangen, so ist<br />

dies v e r ä c h t l i c h für die Socialisten, die sich<br />

damit als Männer von bourgeoiser Gedankenart<br />

<strong>und</strong> von all jenen Racheinstinkten beseelt, deklarieren,<br />

die ein Rechtsspruch involviert. Dies ins<br />

Stammbuch der Hillebrand <strong>und</strong> Stark — <strong>und</strong> anderer!<br />

Frankreich.<br />

Ein neues Stück französischer Klassenjustiz!<br />

Der verhandelte Prozess ist ein Erstickungsversuch<br />

des unerschrockenen Blattes „ L a g u e r r e s o -<br />

c i a l e " , an dessen Spitze unsere Fre<strong>und</strong>e Hervé,<br />

Miguel Almereyda <strong>und</strong> Eugene Merle stehen <strong>und</strong><br />

das kürzlich sein einjähriges Bestehen feierte. Der<br />

stets von der allgemeinen Meinung abweichende<br />

scharf kritische Standpunkt dieses Blattes in Sachen<br />

des Marokokrieges war Herrn Clemenceau <strong>und</strong><br />

Genossen seit langem ein Dorn im Auge. Das<br />

Blatt sollte fallen, <strong>und</strong> ein Vorwand war schnell<br />

gef<strong>und</strong>en, unseren obigen 3 Genossen einen Prozess<br />

anzuhängen, der obgleich aus verschiedenen Gründen<br />

hergeleitet, doch in einer einzigen Verhandlung<br />

zur Erledigung gelangen sollte. — Hervé hatte in<br />

einem Artikel über den Krieg der Kapitalisten in<br />

Marokko die französischen Soldaten „ u n b e w u s s t e<br />

B a n d i t e n " genannt <strong>und</strong> sie mit zwei <strong>Weg</strong>elagerern<br />

verglichen, die kürzlich bei Etampes einen<br />

Zug plünderten. Das war eine Beleidigung der Armee.<br />

Die Regierung Hess sich die Gelegenheit nicht entgehen<br />

<strong>und</strong> stellte Hervé unter Anklage.<br />

Almereyda <strong>und</strong> Merle dagegen hatten gelegentlich<br />

des Winzeraufstandes in Südfrankreich <strong>und</strong><br />

der dabei erfolgten Meuterei des 17. Regiment in<br />

einem Artikel diese Geste der Soldaten begeistert<br />

begrüsst <strong>und</strong> zur Nachahmung empfohlen. Die bürgerliche<br />

Gerechtigkeit empfand das als eine „Aufr<br />

e i z u n g z u m U n g e h o r s a m <strong>und</strong> zur Meuterei<br />

<strong>und</strong> stellte Beide gleichfalls unter Anklage.<br />

Wie man sieht, hatte das eine Vergehen mit dem<br />

andern nichts zu tun. Aber die Justiz der 3. Republik,<br />

von dem Wunsche beseelt, einen Hauptschlag<br />

zu führen, verband alle 3 Anschuldigungen<br />

in eine einzige grosse Anklage <strong>und</strong> setzte einen<br />

einzigen Verhandlungstermin fest, um schnell <strong>und</strong><br />

ohne viel Geräusch damit fertig zu werden.<br />

Die Herren in den roten Roben der bürgerlichen<br />

Rache hatten sich getäuscht. Trotz aller Versuche,<br />

eine eingehende Aussprache zu ersticken,<br />

mussten sie Farbe bekennen <strong>und</strong> sich zu einer<br />

umständlichen Verhandlung herbeilassen, wenn auch<br />

mit vielem Missbehagen.<br />

Als der Prozess am 23. Dezember eröffnet<br />

wurde, stellte sich nur Fre<strong>und</strong> Hervé von seinem<br />

mutigen Verteidiger Bonzon begleitet zur Verhandlung<br />

ein. Die Mitangeklagten Almereyda <strong>und</strong> Merle<br />

dagegen hatten einen Brief gesandt, in dem sie<br />

gegen die gemeinsame Verhandlung protestierten<br />

<strong>und</strong> vom Gerichtshof die Trennung ihrer Angelegenheiten<br />

von der ihres Fre<strong>und</strong>es Hervé verlangten<br />

Entsetzen <strong>und</strong> verdutzte Gesichter der Herren<br />

Richter <strong>und</strong> Geschworenen über diese respektlose.<br />

Kühnheit! Es wird beschlossen, gegen die beiden.<br />

Fehlenden im Versäumnisverfahren vorzugehen<br />

Aber der Zweck jenes Briefes ist erreicht. Während<br />

man vorher die feste Absicht hatte, unangenehme<br />

Erklärungen des gefürchteten Hervé zu vermeiden<br />

<strong>und</strong> zu unterbinden, muss man jetzt zusehen, wie<br />

Hervé als alleiniger Angeklagter die neugeschaffene<br />

Situation dazu benützt, um nach Herzenslust über<br />

die Schandtaten der französischen Kapitalisten <strong>und</strong><br />

der Regierung loszulegen <strong>und</strong> die ganze marokkanische<br />

Unternehmung immer aufs neue als ein<br />

widerwärtiges Ausbeutungsmanöver französischer<br />

Habsucht zu brandmarken. Das ist den roten Roben<br />

ersichtlich unangenehm. Der Vorsitzende bietet seinen<br />

gesamten Einfluss auf, den Angeklagten <strong>und</strong> seinen<br />

Verteidiger am Reden zu verhindern. Aber es<br />

scheint nicht leicht zu sein. Hervé, selbst Advokat,<br />

kennt alle Schliche seiner Gegner. Der Vorsitzende<br />

sagt zu ihm : „Hervé" <strong>und</strong> der Angeredete erwidert<br />

ebenso kurz: „Vorsitzender". Wütend stellt ihn jener<br />

zur Rede : „Sie haben Herr Vorsitzender zu sagen".<br />

Hervé blinzelt <strong>und</strong> lacht ihn an : „Und Sie haben<br />

Herr Hervé zu sagen". Wozu sein Verteidiger bekräftigend<br />

bemerkt: „Hervé ist kein Angeklagter<br />

des Zivilrechts, e r i s t p o l i t i s c h a n g e k l a g t .<br />

A b e r e r i s t a u c h g l e i c h z e i t i g e i n A n -<br />

k l ä g e r " . Die Rolle der bürgerlichen Gerechtigkeit<br />

erscheint in diesem Prozess so klein, so feig <strong>und</strong><br />

erbärmlich, als wäre das Richteramt nur noch ein<br />

jammervoll auf den Beinen gehaltener Popanz einer<br />

sterbenden Gesellschaft.<br />

Die Zeugenvernehmung vollzieht sich gleichfalls<br />

nicht ohne bezeichnende Zwischenfälle. Hervé<br />

hat das Zeugnis mehrerer Minister (darunter sein<br />

ehemaliger Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Verteidiger Briand) sowie<br />

einiger Grossindustrieller verlangt. Weil aber die<br />

vorzulegenden Fragen etwas kitzlicher Natur sind,<br />

weil man die beissende Beredsamkeit Hervés fürchtet,<br />

deswegen hat die Mehrzahl dieser Herren es vorgezogen,<br />

nicht zu erscheinen, der Eine ist angeblich<br />

krank, der Zweite auf Reisen, der Dritte erklärt,<br />

nichts mitteilen zu können <strong>und</strong> so fort. Eine längere<br />

Debatte entspinnt sich darüber, ob Hervé auf<br />

der Vernehmung der Exzellenzen Briand, Schneider,<br />

Clemenceau etc. besteht. Er verzichtet schliesslich,<br />

verlangt aber unbedingt das Zeugnis des Industriellen<br />

Schneider (der französische Krupp), was der Gerichtshof<br />

nach längerer Beratung verweigert. Zu<br />

Gunsten Hervels sagen aus G o h i e r, S e m b a t,<br />

V a i l l a n t <strong>und</strong> J a u r è s (durch Brief, da von Paris<br />

abwesend).<br />

Am zweiten Tage nach Beendigung der Zeugenvernehmung<br />

grosses Plaidoyer des Herrn Staatsanwalts.<br />

Seine Anklagerede gegen die Scheusslichkeiten<br />

der Antimilitaristen bringt nicht viel Neues.<br />

In politischen Prozessen gegen Revolutionäre gleichen<br />

die Plaidoyers der Herren Staatsanwälte wie ein<br />

Ei den andern. Er malt auch hier wieder vor den<br />

entsetzten Augen der Biedermänner-Geschworenen<br />

das Schreckbild der einstürzenden Gesellschaft. Er<br />

hat, wie viele seiner Kollegen ein weites Gewissen,<br />

der Herr Staatsanwalt. Mit Zorn in der Stimme<br />

<strong>und</strong> Hass in den Augen behauptet e r : „Die Antimilitaristen<br />

predigen den Raub <strong>und</strong> den Mord <strong>und</strong><br />

noch andere Scheusslichkeiten. — Vorausgesetzt<br />

selbst, dass die Russen, Deutschen <strong>und</strong> Franzosen in<br />

Peking Schandtaten verübt haben, muss man denn<br />

immer wieder darauf zurückkommen ? (Wie hässlich<br />

das ist! D. V.) Der Krieg ist eine Notwendigkeit,<br />

wir können seine Auswüchse bedauern, müssen aber<br />

in ihn den patriotischen Zweck, den er verfolgt,<br />

allein gelten lassen". Es handle sich darum, alle<br />

mildernden Umstände beiseite zu lassen, denn die<br />

Haltung des Angeklagten verdiene keine Milde.<br />

Beim Worte, „mildernde Umstände" haben Hervé


<strong>und</strong> sein Verteidiger eine abwehrende Handbewegung<br />

gemacht <strong>und</strong> rufen fast gleichzeitig: „Aber<br />

wir verlangen ja keine mildernden Umstände".<br />

Die Geschworenen ziehen sich 45 Minuten zur<br />

Beratung zurück. Und weil sie dabei sehr menschenfre<strong>und</strong>lich<br />

waren <strong>und</strong> dachten, man müsse den<br />

Angeklagten auch ein Weihnachtsgeschenk machen,<br />

so kommen sie zu folgender Liebesgabe für unsere<br />

wackeren Kameraden: Hervé 1 Jahr Gefängnis <strong>und</strong><br />

3000 Frc. Geldstrafe, Almereyda 5 Jahr Gefängnis<br />

<strong>und</strong> 3000 Frc. Geldstrafe, Merle 5 Jahr Gefängnis<br />

<strong>und</strong> 3000 Frc. Geldstrafe.<br />

Die bedrohte Gesellschaft ist wieder einmal<br />

gerettet. Aber wir glauben, dass jene Weihnachtsbescheerung<br />

trotz <strong>und</strong> gerade wegen ihrer Reichlichkeit<br />

total ihren Zwek verfehlen dürfte. Sie wird<br />

neuen Hass säen. Und dieser Hass wird eines Tages<br />

aufgehen <strong>und</strong> Ernte halten. Wie? weil einige Männer<br />

den Mut besessen haben, laut zu sagen, was tausende<br />

nur leise zu denken wagten, deswegen schickt<br />

man sie 11 Jahre ins Gefängnis? Wir haben nur<br />

ein kopfschüttelndes Bedauern für die Blindheit der<br />

roten Roben <strong>und</strong> die Philisterangst der Geschworenen.<br />

Wann werden sie endlich begriffen haben,<br />

dass Druck immer Gegendruck erzeugen m u s s ?<br />

Eine erste Enttäuschung der Machthabenden<br />

von h e u t e : „La guerre sociale" hat seine Auflage<br />

vergrössern müssen; in den Tagen des Prozesses<br />

ist dieses Wochenblatt sogar täglich erschienen.<br />

Die Reklame durch den Prozess war gratis <strong>und</strong><br />

einträglich. Und es ist dafür gesorgt, dass jenes<br />

kühne Blatt, von Parteienhass <strong>und</strong> persönlichem<br />

Hader ungeschwächt, nach wie vor den Kampf<br />

gegen menschliche Dummheit <strong>und</strong> Kriegslust führen<br />

wird. Nicht mit Gott für König <strong>und</strong> Vaterland, sondern<br />

mit freiem Geiste für Abrüstung <strong>und</strong> Frieden<br />

<strong>und</strong> Wohlstand für Alle.<br />

Armand Fernau.<br />

Briefe unserer Leser.<br />

l.<br />

E i n P r o t e s t .<br />

Werte Kameraden! Vor mir liegt die e r s t e<br />

Publikation des internationalen, anarchistischen Bureaus,<br />

betitelt „ R e s o l u t i o n e n d e s a n a r c h i -<br />

s t i s c h e n K o n g r e s s e s i n A m s t e r d a m " ,<br />

<strong>und</strong> ich bedauere lebhaft, konstatieren zu müssen,<br />

dass dieser e r s t e Akt des Bureaus bereits einen<br />

Akt a u t o r i t ä r e r E x e k u t i v m a c h t in sich<br />

schliesst, wider welchen jeder Anarchist, der die<br />

Meinungsfreiheit innerhalb unserer Bewegung gewahrt<br />

sehen will, Protest einlegen muss.<br />

Ich habe auf dem Kongress die folgenden<br />

zwei Resolutionen eingebracht:<br />

1. Der vom 24. bis 30. August tagende, internationale<br />

anarchistische Kongress zu Amsterdam<br />

schlägt den Gruppen aller Länder vor, sich zusammenzuschliessen<br />

zu ländlich-lokalen <strong>und</strong> geographischen<br />

Föderationen.<br />

Wir erklären, dass wir diesen Vorschlag machen<br />

in Uebereinstimmung mit den Prinzipien des<br />

Anarchismus, indem wir die Betätigung <strong>und</strong> Initiative<br />

des Individuums nur im socialen Verbände begreifen<br />

können <strong>und</strong> in den so gearteten Vereinigungen<br />

die Gr<strong>und</strong>möglichkeiten für die freie Entfaltung<br />

des Individuums erblicken.<br />

Die föderative Organisation ist die organische<br />

Kampfesform des anarchistischen Proletariats <strong>und</strong><br />

dieser Bewegung. Sie vereinigt die schon bestehenden<br />

Gruppen zu einem Organisationsgan/en <strong>und</strong><br />

gliedert die neu gegründeten dem Ganzen an. Sie<br />

ist an ti autoritär, indem sie keine legislative Macht<br />

annerkennt, die bindend für die einzelnen Mitglieder<br />

oder die Gruppen wäre; indem sie — die Föderation<br />

— das Recht eines jeden einzelnen Individuums,<br />

wie jeder Gruppe innerhalb unserer gemeinschaftlichen<br />

Bewegung anerkennt, sich im Sinne des<br />

Anarchismus <strong>und</strong> seiner wirtschaftlichen Systeme<br />

zu betätigen, ohne gegenseitige Beherrschung oder<br />

Störung. Die Föderation schliesst keine anarchistische<br />

Gruppe aus, jeder Gruppe ist es hingegen<br />

gestattet, mit Rückziehung ihres kollektiven Eigentums,<br />

aus der Föderation auszuscheiden.<br />

Wir empfehlen den Genossen, sich nach<br />

ihren nationalen Bedürfnissen oder Bewegungsnotwendigkeiten<br />

zu vereinigen, doch stets dessen eingedenk<br />

zu sein, dass die Macht der nationalen Bewegung<br />

des Anarchismus von seinem internationalen<br />

Zusammenschluss abhängig ist, denn die Befreiungsmethoden<br />

des Anarchismus müssen i n t e r n a t i o n a l<br />

zusammenwirken.<br />

Kameraden aller Länder, organisiert Euch in<br />

autonomen Gruppen, vereinigt Euch zur autonomen<br />

Föderation der anarchistischen Internationale!"<br />

Diese Resolution ist vom anarchistischen Bureau<br />

unterdrückt <strong>und</strong> in seiner Broschüre nicht<br />

gebracht worden, trotzdem dass sie 17 Stimmen auf<br />

sich vereinigte, welch letzterer Umstand für Anarchisten,<br />

die kein Majoritäts- oder Minoritätsvotum<br />

als bindend betrachten, ja nur relative Bedeutung<br />

besitzt. Angeführt sei, dass der „Vrije Communist"<br />

in seiner Ausgabe vom 5 Oktober das Obige als<br />

eine „Prinzipienerklärung" der neuen Internationale<br />

hinstellt.<br />

Weit schädlicher für die geistige <strong>und</strong> praktische<br />

Harmonie unserer Bewegung ist jedoch die<br />

Unterdrückung der zweiten Resolution, die eingebracht<br />

wurde von den Genossen Baginski, Emma<br />

Goldmann <strong>und</strong> mir Sie lautet:<br />

2. „Der internationale Kongress beschliesst die<br />

Begründung der anarchistischen Internationale.<br />

Die anarchistische Internationale ist eine Föderation<br />

autonomer Gruppen, die jedes zentrale<br />

Bureau ausschaltet <strong>und</strong> deren internationale Beziehungen<br />

geschaffen werden durch die Ernennung<br />

zweier Korrespondenzsekretäre durch jedes Land,<br />

die sich, gemäss den Bestimmungen ihrer resp.<br />

Gruppen oder Föderationen, gegenseitig In internationale,<br />

regelmässige Verbindung zu setzen haben,<br />

Die Internationale ist vollkommen öffentlich,<br />

<strong>und</strong> die Namen sämtlicher internationalen Sekretäre<br />

müssen fortlaufend in allen anarchistischen Zeitungen<br />

erscheinen mit Angabe der Adressen.<br />

Beschlossen, ein internationales Bulletin herauszugeben."<br />

Diese Resolution stellt die gegensätzliche<br />

Richtung innerhalb des Kongresses einem internationalen<br />

Bureau gegenüber dar. Ob sie im Rechte<br />

oder nicht, ist hier bedeutungslos; auf keinen Fall<br />

hat ein anarchistisches Bureau das Recht, sie zu<br />

unterdrücken.<br />

Ich erachte es für durchaus notwendig, den<br />

Genossen diese erste Unterdrückung des Gr<strong>und</strong>prinzips<br />

jeder anarchistischen Auschauung durch<br />

das Bureau zur Kenntnis zu bringen. Wenn wir<br />

Anarchisten sein wollen, müssen wir auch die nötige<br />

Energie haben, gegenüber den Methoden der<br />

heutigen Bourgeoismoral innerhalb unserer eigenen<br />

Bewegung Front zu machen.<br />

Pierre Ramus.<br />

P. S. Ich ersuche die Bruderblatter, Obige?<br />

zum Abdruck zu bringen.<br />

2.<br />

Geehrte Kameraden I . . . Wir in Klagenfurt<br />

begrüssen Euer Blatt mit brüderlicher Solidarität<br />

<strong>und</strong> werden Alles, was in unseren Kräften steht,<br />

für dasselbe tun. Wir haben schon eine Zusammenkunft<br />

betreffs des gründlichen Vertriebes unseres<br />

„W. F. A" gehabt; beschlossen wurde, eine grössere<br />

Anzahl von Exemplaren kommen zu lassen <strong>und</strong><br />

gleich in voraus zu bezahlen.<br />

Endlich wird es möglich sein, unseren Ideen<br />

auch in Deutsi hösterreich Verbreitung zu bieten.<br />

Wohl haben wir das Blatt des Genossen Prisching,<br />

den „G'roden Michl", aber dasselbe widmet sich<br />

mehr ausschliesslich ethischen u. hygienischenSpezialfragen<br />

des fr ien Gedankens <strong>und</strong> nicht so sehr dei<br />

Propaganda der ökonomischen <strong>und</strong> politischen<br />

Gr<strong>und</strong>lehren des Anarchismus. Gegenseitige Hilfe<br />

<strong>und</strong> Unterstützung können hier viel z u s t a n d e bringen.<br />

Wie gesagt, mit Liebe schliessen wir uns dem<br />

„W. F. A." an. Gleichzeitig senden wir Euch die<br />

folgenden Bezugsadressen von guten Abonnenten . . .<br />

Mit Brudergiuss J. N.<br />

3.<br />

W. K.! . . . Vor Weihnachten erhielt ich die<br />

erste Nummer des „W. F. A." <strong>und</strong> habe mich sehr<br />

über denselben gefreut. Ich gratuliere Ihnen allen<br />

zu dem Blatte . . . Veranlassen Sie, bitte, nochmalige<br />

Übersendung der ersten Nummer; die mir<br />

Gesandte hat sich nämlich mein Vater a n g e e i g n e t . . .<br />

Ich werde mein Mäglichstes für das Blatt tun <strong>und</strong><br />

darauf los agitieren, um demselben Abonnenten zuzuführen.<br />

Mit Fre<strong>und</strong>schaftsgruss.<br />

B . . . . in Ungarn. H.<br />

4.<br />

Prag .. . 1908.<br />

W. G . ! Teile Euch mit, dass W. F. A", unter<br />

den Prager Genossen grösster Sympathie begegnet..<br />

Der Eurige O. F.<br />

5.<br />

Prossnitz (Mähren).<br />

W. G.! Alles erhalten. Was ich für die Verbreitung<br />

des Blattes „W. f. A." tun werde können,<br />

wird geschehen, die erhaltenen Blätter habe ich teilweise<br />

verkauft. Ende dieser Woche sende Euch<br />

Geld. Ich bin es hier allein, der anarchistische Literatur<br />

studiert <strong>und</strong> kolportiert. Welchen schweren<br />

Stand ich unter den Sozialdemokraten habe, dies<br />

werdet Ihr begreifen. Ich trage mich mit den Gedanken,<br />

mir auf eigene Kosten billige Schiften, darunter<br />

auch freidenkerische schicken zu lassen, die<br />

ich vorerst zum Lesen ausborge <strong>und</strong> dann verkaufe.<br />

Wenn ihr mir dieselben billig verschaffen könnt,<br />

schreibet mir, damit ich Euch Geld für derartige<br />

Sendungen im vorhinein einschicken kann. Dass der<br />

Anarchismus nicht so leicht <strong>und</strong> bald viele ehrliche<br />

Vertreter finden wird, ist ja begreiflich. Nur auf<br />

Gr<strong>und</strong> der Unwissenheit der Arbeiter, die nicht selbständig<br />

handeln <strong>und</strong> denken, können so viele sozial.-dem.<br />

Führei schön leben. Es ist klar, dass ein<br />

Mensch, der in der Partei seine Existenz hat, niemals<br />

wollen wird, dass ihm seine getreuen Schafe<br />

durch die anarchistische Propaganda untreu werden,<br />

i h m <strong>und</strong> seiner Partei den Rücken kehren sollen.<br />

Da Anarchisten selbständig handelnd Menschen<br />

sind, wollen sie, dass die Menschen so erzogen,<br />

gebildet werden, dass sie keinen Leithammel (Führer)<br />

brauchen. Die Schreibweise des „W. f. A." ist gut<br />

<strong>und</strong> leicht verständlich. Sendet mir mehr Blätter;<br />

die ineisten anderen Leser sind Textilarbeiter <strong>und</strong><br />

sind organisiert. Die Weberverhältnisse sind hier<br />

unter'm H<strong>und</strong>. Ich wünsche unserem Blatt so wie<br />

Euch allen Kameraden, ein glückliches 1908! Mit<br />

solid. Gruss R.<br />

6.<br />

Oppenbach a. Main.<br />

W. G.! Bitte mir als Abonnent des „W. f. A."<br />

einige Freiexemplare zu senden. Bin gerne bereit,<br />

unter hiesigen Landsleuten Abonnenten zu werben.<br />

Als Österreicher hocherfreut, auch in meinem Vaterlande<br />

ein Blatt wie den „W." erstehen zu sehen, mit<br />

dessen Hilfe meine Volksgenossen aus ihrem socialen<br />

Schlafe gerüttelt werden können. Bin auch<br />

gerne für manchen literarischen Beitrag zu haben.<br />

Glück auf! P.<br />

7.<br />

W. G.! Ein herzliches Neujahr Eurem „W. f.<br />

A.", um dessen Zusendung ich bitte. Leider fehlt der<br />

deutschsprachigen Bewegung gegenwärtig ein Blatt<br />

wie der frühere „Arme Temfel" des Genossen<br />

Albert Weidner. Mit revol. Gruss Carl Holtmann,<br />

Biendorf.<br />

Vereinskalender.<br />

Allgemeine G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n von<br />

Niederösterreich. Versammlungen finden jeden<br />

Sonntag abends statt, um 6 Uhr im VI. Bez. Einsiedlerg.<br />

60. Adresse des Obmanns: Wenzel H o r a z e k , V.<br />

Kohlg. 21. Wien.<br />

S a m s t a g 8 U h r :<br />

Bildungsverein „POKROK" (Fortschrift).<br />

XIV. H ü t t e l d o r f e r s t r a s s e 33.<br />

M o n t a g 8 U h r :<br />

Schuhmachergewerkschaft<br />

XIV. H ü t t e l d o r f e r s t r a s s e 33.<br />

S o n n t a g 9 Uhr vorm.: Zusammenkunft.<br />

Föderation der Bauarbeiter<br />

X. Bezirk W i e l a n d p l a t z Nr. 1.<br />

S a m s t a g 8 Uhr A . - Z u s .<br />

Bildungsverein „ROVNOST" (Gleichheit).<br />

X. Euger.gasse 9.<br />

S o n n t a g 4 Uhr N a c h m . : Zus.<br />

Allgemeine Gewerkschafts-Föderation<br />

V. E i n s i e d l e r g a s s e 60.<br />

Diskussionen <strong>und</strong> Vorlesungen.<br />

B r i e f k a s t e n .<br />

S c h w e b e r . Dank für Brief. An „Vrije Socialist"<br />

gesandt. Verkaufe viel <strong>und</strong> sende Geld dafür! Brudergruss!<br />

— Lorenz Gross. Der „W. f. A." ist das<br />

Eigentum der Kameraden <strong>und</strong> diese haben selbstredend<br />

jederzeit das Recht, ihre prinzipielle <strong>und</strong><br />

taktische Meinung in demselben zum Ausdruck zu<br />

bringen. Gruss! — H. Bauer. N. Y. Adresse konnte<br />

nicht früher angegeben werden. Bedauere! — Zeit<br />

W . Die Worte vom „ T r e i b e n d e r r e g i e r e n -<br />

d e n E x a n a r c h i s t e n " in Frankreich, sind natürlich<br />

eine grobe Fälschung der „Arbeiterzeitung",<br />

die b e w u s s t vorgenommen wurde. Briand war<br />

u n d i s t Socialdemokrat, desgleichen Viviani; Clemenceau<br />

war niemals mehr als ein radikaler Liberaler.<br />

— B u d a p e s t . Was soll das bedeuten: „H. P.<br />

rein wie Sonnenlicht?" Uns unverständlich. —<br />

S t e r n b e r g . Wir empfehlen vornehmlich den Massenbezug<br />

des „Anarchistischen Manifests". Gruss! —<br />

Otto N. Bezugsbedingungen aus dem Unterteil des<br />

Kopftitels des Blattes zu ersehen! — Krakau, Ibid.<br />

— Bourey. Wenden Sie sich selbst an den Verlag<br />

des „Fr. Gen." — Herbert. Herzensgruss Dir, Du<br />

tapferer Urwaldfäller des Geistes <strong>und</strong> der Natur<br />

<strong>und</strong> Dank von uns allen für prächtigen Abonnentenstrauss!


Zarenlos.<br />

Aus dem Russischen des Sokoloffskl*).<br />

Es nahm der Imperator<br />

Ins Jenseits seinen Lauf,<br />

Weil ihm sein Operator<br />

Das Bäuchlein schlitzte auf.<br />

Das Reich, es weint nicht wenig,<br />

Es weint das Volk um ihn.<br />

Schon kommt der neue König,<br />

Das Scheusal Konstantin.<br />

Der tote Zar erbleichte,<br />

Er bebt an Mark <strong>und</strong> Bein<br />

Und eine Denkschrift reichte<br />

Er^Gott, dem Herren ein.<br />

Gott zog sie zu Gemüte,<br />

Er hat kein Herz von Stein<br />

Und schenkt in seiner Güte<br />

Uns Nikolaus das Schw...<br />

*) Aus Alexander Herzen's „Erinnerungen".<br />

Übersetzt von Dr. Bueck. Verlag Wiegandt <strong>und</strong><br />

Grieben (G. K. Sarasin), Berlin 1907.<br />

Die Frau der Zukunft<br />

Von Ellen Key.<br />

.. . Mein ideales Bild des Zukunftsweibes<br />

ist, dass sie ein Wesen tiefer Gegensätze<br />

sein werde, welche Harmonie erreicht haben;<br />

dass sie sich als eine grosse Mannigfaltigkeit<br />

<strong>und</strong> eine festgeschlossene Einheit darstellen<br />

w e r d e ; eine reiche Fülle <strong>und</strong> eine vollkommene<br />

Einfachheit; ein durchgebildetes Kulturgeschöpf<br />

<strong>und</strong> eine ursprüngliche Natur; eine<br />

stark ausgeprägte menschliche Individualität<br />

<strong>und</strong> eine volle Offenbarung des tiefst Weiblichen.<br />

Diese Frau wird den Ernst einer wissenschaftlichen<br />

Arbeit, eines strengen Wahrheitsuchens,<br />

des freien Denkens, des künstlerischen<br />

Schaffens verstehen. Sie wird die Notwendigkeit<br />

der Gesetze der Natur <strong>und</strong> des Verlaufs<br />

der Entwicklung begreifen; sie wird Solidaritätsgefühl<br />

<strong>und</strong> Gesellschaftsinteressen besitzen<br />

Weil sie mehr weiss <strong>und</strong> klarer denkt als die<br />

Frau der Gegenwart, ist sie auch gerechter;<br />

weil sie stärker ist, ist sie besser; weil weiser,<br />

auch milder. Sie kann im Grossen sehen, <strong>und</strong><br />

sie kann im Zusammenhang sehen; dabei<br />

verliert sie gewisse Vorurteile, die noch T u -<br />

genden genannt werden. Sie verbleibt stets<br />

diejenige, die die Sitte modelt. Aber sie sucht<br />

dabei nicht ihre Stütze in der socialen Konvention,<br />

sondern in den Gesetzen ihres eigenen<br />

Wesens. Sie hat den Mut, eigene Gedanken<br />

zu denken <strong>und</strong> die neuen Gedanken<br />

ihrer Zeit zu prüfen. Sie wagt, Gefühle zu<br />

empfinden <strong>und</strong> zu bekennen, die sie jetzt<br />

unterdrückt <strong>und</strong> verhehlt. Ihre volle Bewegungsfreiheit<br />

<strong>und</strong> allseitige persönliche Entwicklur.gsfreiheit<br />

ermöglichen kühne Lebensversuche,<br />

ein energisches Streben nach einem<br />

Dasein, das mit ihrem eigenen Ich auf gleicher<br />

Stufe steht; <strong>und</strong> ein solches Dasein wird sie<br />

auch mit sichererem Instinkt als jetzt zu finden'<br />

wissen. Sie versteht es, intensiver zu arbeiten,<br />

intensiver zu ruhen <strong>und</strong> sich intensiver aller<br />

naheliegenden, einfachen Freudequellen zu<br />

freuen, als die Frau der Gegenwart es vermag.<br />

So wird das Lebensgefühl des neuen Weibes<br />

steigen, ihre Erfahrung sich vertiefen, ihr<br />

Seelenleben, ihre Schönheitsforderungen, ihre<br />

Sinne sich entwickeln <strong>und</strong> verfeinern. Sie ist<br />

sehr sensitiv, sehr rasch vibrierend, <strong>und</strong> sie<br />

wird darum viel mehr geniessen <strong>und</strong> auch<br />

viel mehr leiden können, als die Menschen<br />

der Gegenwart es vermögen . . .<br />

Die Frau des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wird nicht<br />

nur viel gelernt, sie wird auch viel vergessen<br />

haben — besonders von den sowohl femininen,<br />

wie antifemininen Torheiten der Gegenwart.<br />

—<br />

Sie wird mit ihrem ganzen Wesen das<br />

Glück der Liebe wollen. Sie ist keusch, nicht<br />

aus Kälte, sondern aus Leidenschaft. Sie ist<br />

vornehm, nicht weil sie bleichsüchtig, sondern<br />

weil sie vollblütig ist. Sie ist sinnlich, weil<br />

sie seelenvoll, <strong>und</strong> wahr, weil sie stolz ist.<br />

Sie fordert eine grosse Liebe, weil sie selbst<br />

mit noch grösserer zu lieben vermag. Das<br />

erotische Problem wird durch ihren verfeinerten<br />

Idealismus sehr zusammengesetzt <strong>und</strong><br />

oft schwer lösbar sein. Dafür ist das Glück,


d a s sie schenken <strong>und</strong> empfinden wird, reicher,<br />

tiefer <strong>und</strong> dauernder als irgend etwas,<br />

d a s bis nun Glück genannt ward. Viele Züge,<br />

die der heutigen Gattin <strong>und</strong> Mutter eigen sind,<br />

werden wahrscheinlich der Frau des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

fehlen. Diese wird stets Geliebte<br />

bleiben, <strong>und</strong> nur so wird sie Mutter werden.<br />

Der schweren <strong>und</strong> schönen Kunst, Geliebte<br />

<strong>und</strong> Mutter zugleich zu sein, wird sie ihre<br />

vornehmsten <strong>und</strong> stärksten Kräfte widmen: ihr<br />

religiöser Kult wird sein, des Lebens Seligkeit<br />

zu schaffen. Weil sie die physischen <strong>und</strong><br />

die psychischen Voraussetzungen der Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> der Schönheit kennt <strong>und</strong> würdigt,<br />

wird sie mit klarerem Blick <strong>und</strong> tieferem<br />

Verantwoitlichkeitsgefühl als jetzt den Vater<br />

ihrer Kinder wählen; sie wird ges<strong>und</strong>e <strong>und</strong><br />

schöne Menschen gebären <strong>und</strong> erziehen, <strong>und</strong><br />

sie selber wird grösseren Reiz <strong>und</strong> längere<br />

Jugend besitzen als die Frauen der Gegenwart.<br />

Sie wird ihr ganzes Leben gefallen,<br />

weil sie immer das Dasein verschönern wird.<br />

Aber sie wird nur dadurch gefallen, dass sie<br />

in jedem Alter ganz sie selbst ist; <strong>und</strong> ihre<br />

uuvergängliche Jugend, ihre höchste Schönheit<br />

offenbait sie einzig <strong>und</strong> allein an dem, den<br />

sie liebt. Sie weiss, dass der seelische Zauber<br />

der tiefste ist; <strong>und</strong> aus ihres Wesens Fülle<br />

schöpft sie die ewige Erneuerung dieses Zaubers,<br />

stets unerwartete <strong>und</strong> ins Unendliche<br />

nuancierte Äusserungen ihrer individuellen<br />

Grazie. Durch ihre blosse Gegenwart hebt<br />

sie den Zwang der Form <strong>und</strong> der Gewohnheit<br />

auf <strong>und</strong> schafft wechselnde durch ihre<br />

eigene Vornehmheit geadelte Formen des Zusammenlebens<br />

in der Familie, in der Öffentlichkeit<br />

<strong>und</strong> in der Gesellschaft. Sie wird<br />

wahrscheinlich weniger sprechen als die Frau<br />

der Gegenwart, aber ihr Schweigen <strong>und</strong> ihr<br />

Lächeln werden beredter sein. Sie teilt sich<br />

immer unmittelbar <strong>und</strong> immer massvoll mit,<br />

differenziert <strong>und</strong> unveränderlich, spontan <strong>und</strong><br />

auserlesen. Ihr Wesen strömt frei <strong>und</strong> sprudelnd<br />

frisch hervor, wie der Schwall des<br />

Giessbaches, aber gleich diesem von einem<br />

festen, inneren Rhytmus geb<strong>und</strong>en. Wie weit<br />

sie sich auch gehen lässt — im Taumel der<br />

Freude, in der Leidenschaft der Zärtlichkeit,<br />

im Rausch des Glückes oder in der Raserei<br />

des Schmerzes —, sie verliert doch niemals<br />

sich selbst. Sie ist eine Vielheit von Frauen<br />

<strong>und</strong> doch immer eine, mag sie spielen <strong>und</strong><br />

lächeln; mag sie in Ges<strong>und</strong>heit strahlen oder<br />

aus tödlichen W<strong>und</strong>en verbluten; mag Ruhe<br />

<strong>und</strong> Nervenspannung, Jubel oder Tränen, Sonne<br />

oder Nacht, Kühlung oder Glut sie erfüllen<br />

<strong>und</strong> von ihr ausstrahlen.<br />

Die Reiter.<br />

Von L o u i s B e r t r a n d .<br />

(Aus dem Französischen von Clara Hepner).<br />

Drei dunkle Reiter, jeder eine junge Dirne<br />

vor sich im Sattel, klopften an die Klosterpforte.<br />

„Holla! Holla!"<br />

Einer hebt sich im Bügel.<br />

„Holla! Gebt ein Obdach im Sturm!<br />

W a s fürchtet Ihr? Blickt durchs Guckloch.<br />

Sind diese Kleinen, die uns am Halse hängen,<br />

nicht lieblich anzuschauen, die Kleinfüsschen<br />

an unseren Satteln nicht wert, geküsst zu<br />

w e r d e n ? "<br />

Der Pförtner scheint zu schlafen.<br />

„Holla! Holla!"<br />

Der Eine rufts, zitternd vor Frost.<br />

„Gebt uns ein Lager, im Namen der<br />

Mutter Gottes. Wir sind verirrte Pilger. <strong>Unser</strong>e<br />

Reliquien sind durchnässt; vom Rand unserer<br />

Hüte, aus den Fellen unserer Mäntel rieselt<br />

das Wasser. <strong>Unser</strong>e Rosse haben die Eisen<br />

verloren <strong>und</strong> straucheln vor Müdigkeit!"<br />

Eine Helligkeit schimmerte durch die<br />

Ritzen der Pforte:<br />

„Zurück, Geister der Hölle!"<br />

Der Prior ist's <strong>und</strong> seine Mönche in<br />

Prozession, mit Kerzen in den Händen.<br />

„Zurück, Töchter der Lüge! Und seid<br />

ihr Fleisch <strong>und</strong> Bein, so verhüte Gott, dass<br />

wir Heidinnen aufnehmen oder Abtrünnige in<br />

den Frieden unseres Klosters!"<br />

„Hiss!" rufen die kühnen Reiter, „hiss,<br />

hiss!" <strong>und</strong> wirbeln hinweg in den Sturm,<br />

über den Fluss, in den Wald.<br />

* *<br />

*<br />

„Konnten wir nicht die jungen Sünderinnen<br />

zu Reue <strong>und</strong> Gnade führen?" murmelt<br />

ein junger Mönch, blond <strong>und</strong> r<strong>und</strong> wie ein<br />

Cherubin.<br />

„Bruder", flüstert der Abt ihm ins Ohr<br />

„Ihr vergesst Madame Aliénor <strong>und</strong> ihre Nichte,<br />

die uns oben zur Beichte erwarten!"


Alexander Herzen, Erinnerungen.<br />

Aus dem Russischen überfragen <strong>und</strong> eingeleitet von<br />

Dr. Otto Buek. 2 Bde. Mit 3 Bildern. Verlag von<br />

Wiegandt & Grieben (G. R. Sarasin) in Berlin. Mk.<br />

10 — ; geb. Mk. 12 50.<br />

Die Erinnerungen Alexander Herzens stellen<br />

eins der hervorragendsten Memoirenwerke ans dem<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert dar, das an Bedeutung der berühmten<br />

<strong>und</strong> mit so viel Beifall aufgenommenen Autobiographie<br />

eines anderen russischen Freiheitsvorkämpfers,<br />

des Genossen Peter Krapotkin, gleich kommt.<br />

Das ganze, an Ereignissen <strong>und</strong> inneren Erlebnissen<br />

so reiche Leben des Verfassers zieht an dem Blicke<br />

des Lesers vorüber: die Kindheit <strong>und</strong> Jugend dieses<br />

Repräsentanten des Moskauer Hochadels, die politischen<br />

Verfolgungen unter Nikolaus I., seine Auswanderung<br />

aus Russland <strong>und</strong> sein bewegtes Leben<br />

im persönlichen Verkehr mit den grossen Politikern,<br />

Publizisten <strong>und</strong> Dichtern der 48er Periode: Garibaldi,<br />

Mazzini, Orsini, Kossuth, Ledru Rollin, Fazy,<br />

Herwegh, Karl Vogt, Heinzen, Struve, Bakunin u.<br />

a. m. Alle diese Persönlichkeiten treten in geistvoller<br />

Charakteristik hervor <strong>und</strong> werden vor unseren<br />

Augen lebendig. Zu diesem ausseien historischen<br />

Interesse kommt noch ein inneres psychologisches<br />

hinzu. Das Buch spiegelt das seelische Drama eines<br />

Mannes, der seinen revolutionären GMuben fast<br />

völlig eingebüsst hat — besonders nach den furchtbaren<br />

Vorgängen des Jahres 1848 —, die Tiagik<br />

einer Persönlichkeit, die viel zu viel nachgedacht<br />

hat <strong>und</strong> zu fein fühlte, um sich bei der Phraseologie<br />

politischer Doktrinäre zu beruhigen <strong>und</strong> in<br />

ihr eine wirkliche Lösung jener sozialen <strong>und</strong> moralischen<br />

Probleme zu sehen, welche sie schon<br />

seit den Studienjahren unter dem Einfluss der russischen<br />

Lebenswirklichkeit <strong>und</strong> dem mächtigen Eindruck<br />

der deutschen idealistischen Philosophie beschäftigten<br />

<strong>und</strong> beunruhigten. Der Autor gilt in<br />

Russland nicht ohne Gr<strong>und</strong> für einen der hervorragendsten<br />

Schriftsteller <strong>und</strong> Stilisten. Die Lebhaftigkeit<br />

<strong>und</strong> Plastik seiner Sprache, die Kühnheit<br />

seiner Assoziationen reissen den Leser mit sich<br />

fort <strong>und</strong> bilden die Eigentümlichkeit dieses Stiles,<br />

den schon ein solcher Kenner wie Friedrich Nietzsche<br />

lebhaft bew<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> anerkannt hat. Herzen ist<br />

bisher von deutschen Lesern noch lange nicht genügend<br />

gewürdigt. Es rührt da- hauptsächlich daher,<br />

dass seine Werke bisher in Russland verboten<br />

waren; erst die Springflut der russischen Revolution<br />

hat seinen Namen wieder emporgetragen<br />

<strong>und</strong> die wissenschaftliche Forschung auf ihn hingelenkt.<br />

Man kann überzeugt sein, dass bei uns<br />

Herzens Erinnerungen nicht nur in den weiteren<br />

Schichten des lesenden Publikums, sondern auch<br />

unter den Literarhistorikern ein lebhaftes Interesse<br />

wecken werden, denen sie manche bedeutsame<br />

Anregung geben dürften. Einen guten Anfang dafür<br />

bietet die orientierende Einleitung, die der Herausgeber<br />

dem Werke vorangeschickt hat, <strong>und</strong> die der<br />

Ausgabe noch einen erhöhten Wert verleiht.<br />

Indem wir das Werk auf das Wärmste empfehlen,<br />

verweisen wir auf eine gründlichere, ein-<br />

gehende Rezension, die demnächst erscheine n<br />

wird <strong>und</strong> diesen „Erinnerungen" erst wirklich Wilr -<br />

digung zuteil werden lassen soll.<br />

E i n e S e l b s t a n k ü n d i g u n g .<br />

„Utopja." Eine unperiodische, polnische Zeit -<br />

schrift, gewidmet der Kunst <strong>und</strong> dem Leben: re -<br />

digiert <strong>und</strong> herausgegeben von Arnold Gahlberg<br />

Nr. 1., Przemysl, Qalizien 1908.<br />

„Ich suche meine Welt im Himmel <strong>und</strong> schaffe<br />

mir erträumte Paradiese auf der E r d e : ich liebe<br />

meine Phantasmagorien <strong>und</strong> sehe im unbeständigen<br />

Streben nach ihrer Verwirklichung die einzige, meine<br />

Wirklichkeit. Mein Wille ist das naive Ewig-Menschliche<br />

<strong>und</strong> er ist zugleich der grosse gottesähnliche<br />

Dichter <strong>und</strong> plastische Bildner meiner irdischen<br />

Himmel, meiner Walhalla."<br />

Also spricht zu uns die unsterbliche Tradition<br />

vom Ikarusflug des menschlichen Gedankens, eine<br />

der weltenschaffenden Ideen des Kampfes um Befreiung<br />

der Kunst im frohlachenden Leben, des Lebens<br />

durch die himmlische Ekstase der hellenischen<br />

Kunst: „Utopie-" Meister Peter Hille's Lebens Offenbarung<br />

auf der Seele hochgebirgigen W e g e n ;<br />

ich verkünde diesen Namen als die höchste Losung<br />

der ewig revoltirenden Idee der Anarchie. Darin<br />

liegt meines Lebens tiefstes Weh <strong>und</strong> höchste Leidenslust.<br />

Und wer darin ein Mittel zur Konfessionsoder<br />

sonstigen Parteiprogrammlosigkeit findet,<br />

der hat mich mehr als verstanden. Ich führe als<br />

Mitarbeiter nur die treffliche Probe Gustav Landauers,<br />

eines der Minneritter der „Utopie" an, diese<br />

als einen <strong>Weg</strong> zu bezeichnen, der nicht nur der<br />

Freiheit, sondern in erster Reihe dem freien Geiste<br />

dienen soll, in dem wir schon heute Freiheit <strong>und</strong><br />

soziale Auferstehung finden werden. Ich weiss, dass<br />

man dagegen seitens der „Viel-zu-Vielen" energisch<br />

protestieren wird. Aber wir Zigeuner, wir Einzelne,<br />

die wir „unsere Sache auf Nichts gestellt" <strong>und</strong><br />

uns des sg. Ansehens beim alleinherrschenden in-,<br />

telligenten Mob längst entschlagen haben, werden<br />

ja darauf nicht achten, vielmehr uns an alle geistig<br />

ewig jungen, unverbesserlichen „Utopisten" wenden,<br />

die der Lebensträume goldene Morgenröten noch<br />

nicht durchgeträumt <strong>und</strong> ihr Herzblut dem Dienste<br />

des „intelligenten* Pöbels nicht verkauft h a b e n ;<br />

an Euch, Ringende, werden wir lauten Kampfesruf<br />

ergehen lassen!<br />

Des freien Menschen Eigentum verkündend,<br />

Wort <strong>und</strong> Tat, Kunst <strong>und</strong> Leben in ein unsterbliches<br />

Auferstehungssinnbild zusammenflechtend,<br />

rufen wir Euch an die Tafel heran, teilzunehmen<br />

an dem Ikarusfluge der Seele, einzutreten in das<br />

Land der „Utopie". Wir, Utopiens Träumer, treten,<br />

in das Heiligste ein <strong>und</strong> während des Gastmahls<br />

unserer Seele <strong>und</strong> unseres Herzens wird Er, Meister<br />

Peter, uns Jüngern, jenes unerforschliche Daseinsgeheimnis<br />

verkünden: „Ich bin — also ist die<br />

Schönheit." J. Machar (A. G)<br />

Ammerk. d. Red. Aus dem Inhalt des ersten<br />

Heftes heben wir hervor: Erich Mühsam: Peter<br />

Hille. Gustav Landauer: Durch Absonderung zur<br />

Gemeinschaft, brich Mühsam: Die Boheme. A. G.:<br />

Ein Wort über Utopia. Die Nr. ist dem Andenken<br />

Peter Hille's gewidmet <strong>und</strong> bietet uns die Gr<strong>und</strong>gedanken<br />

des anarchistischen Idealismus, der Synthese<br />

von Kunst <strong>und</strong> Leben. Die Redaktion verspricht<br />

uns, die nächsten Nummern der Utopja den<br />

hervorragendsten Repräsentanten der Anarchie zu<br />

widmen. Verwertet sollen unter and., die Arbeiten<br />

werden von Wilhelm Spohr, Dr. H. H. Ewers, Gu-


stav Landauer, Dr. Ben. Friedländer. Pierre Ramus,<br />

Dr. Max Nettlau, J. H. Mackay.)<br />

Ein interessantes Schriftchen, das wir allen<br />

unseren Lesern schon deshalb angelegentlichst empfehlen,<br />

weil es ein in unserer Bewegung arg vernachlässigtes<br />

<strong>und</strong> deshalb meist unverstandenes<br />

Thema behandelt, ist jenes von P a u l R o b i n über<br />

„Liebesfreiheit oder Eheprostitution", das der<br />

Genosse A r m a n d F e r n a u aus dem Französischen<br />

übersetzte <strong>und</strong> vom Verlag A. Plessner, Berlin<br />

N. W. 87, Wullenweberstr., 7, herausgegeben<br />

wurde. Preis 10 Pfg.<br />

Im Verlag von J. H. W. D i e t z N a c h f. in<br />

S t u t t g a r t ist soeben erschienen: Die Anfänge<br />

der deutschen Arbeiterbewegung in Amerika,<br />

von H e r r m a n n S c h l ü t e r . XII. <strong>und</strong> 216 Seiten<br />

Grossoktav. Preis broschiert 3 Mk., geb<strong>und</strong>en 4 Mk.<br />

Der Verfasser, seit langen Jahren Redakteur<br />

der „New Yorker Volkszeitung", beginnt mit dem<br />

vorliegenden Bande eine Geschichte der deutschen<br />

Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten an<br />

der Hand eines grossen Quellenmaterials, das er<br />

sich durch eifrige Sammelarbeit zugänglich gemacht<br />

hat. Aus dem reichen Inhalt heben wir hervor:<br />

W i l h e l m W e i t l i n g u n d s e i n e A g i t a t i o n<br />

i n A m e r i k a . — N e g e r s k l a v e r e i u n d A r -<br />

b e i t e r b e w e g u n g . D e r s o z i a l i s t i s c h e<br />

T u r n e r b u n d . Ganz besonders ist der Teil des<br />

Buches, der Weitling <strong>und</strong> seine Agitation behandelt,<br />

von grossem Interesse. Obwohl das Buch durch<br />

seine sozialdemokratische T e n d e n z v i e l e s<br />

zu wünschen übrig lässt, verdient es dennoch, um<br />

seines reichen dokumentarischen Materials willen,<br />

die eifrigste Förderung.<br />

Cabet, Das Weib, sein unglückliches Schicksal<br />

in der gegenwärtigen Gesellschaft, sein Glück in<br />

der zukünftigen Gemeinschaft. Vorwort von Dr.<br />

Hugo Lindemann. Sammlung gesellschaftswissenschaftlicher<br />

Aufsätze. 18. Heft. Verlag von M. Ernst,<br />

München. 8°, XI <strong>und</strong> 20 Seiten, Preis 40 Pfg.<br />

Hermann Huth, Soziale <strong>und</strong> individualistische<br />

Auffassung im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert, vornehmlich bei A d a m<br />

S m i t h <strong>und</strong> A d a m F e r g u s o n . Verlag von<br />

Duncker & Humblot, Leipzig. Preis Mk. 4 4 0 .<br />

Publication des intern, anarch. Bureaus.,<br />

Resolutionen des anarchistischen Kongresses von<br />

Amsterdam.<br />

Eugen Wolfsdorf, Wie klärt man die Kindel<br />

auf? — Das Dogma von der Vaterlandsliebe u. d.<br />

Völkerrecht. Verlag beider Broschüren „Die Einigkeit",<br />

Berlin, C 54. ä 10 Pfg.<br />

In e n g l i s c h e r S p r a c h e .<br />

Guy A. Aldred, 1. Die Möglichkeiten <strong>und</strong> Philosophie<br />

des kommunistischen Anarchismus. 2. Das<br />

historische <strong>und</strong> traditionelle Christentum. 3. Religion<br />

<strong>und</strong> ökonomische Grandsätze der geschlechtlichen<br />

Bedrückung. Verlag der „Bakunin-Presse",<br />

133 Goswell Rd., London E. C. England.<br />

Hutchins Hapgood, Der Geist der Arbeit.<br />

Verlag Duffleld & Co., 36 East 21. Str., New York,<br />

Ver. Staaten. Eine aus Skizzen bestehende Schilderung<br />

der Arbeiter- <strong>und</strong> anarchistischen Bewegung<br />

Chicago's.<br />

In f r a n z ö s i s c h e r S p r a c h e .<br />

J e a n Grave, Freie Erde. Ein vorzüglicher Erziehungsroman<br />

für Kinder <strong>und</strong> Erwachsene. Verlag<br />

„Temps Nouveanx", 4 Rue Broca, Paris V. Frankreich.<br />

In h o l l ä n d i s c h e r S p r a c h e .<br />

Der S o l d a t e n a l m a n a c h d e s J a h r e s 1908. Herausgegeben<br />

von der „Internationalen antimilitaristischen<br />

Vereinigung der Niederlande." C. Ten<br />

Wolde, Sekretär., Maschienenstraat A. 165, Koog a.<br />

d. Zaan, Holland.<br />

Lieder des Elends.<br />

Handwerksburschenpenne.<br />

Das Geld ist aus, die Flasche leer,<br />

Und einer nach dem andern<br />

Legt sich zu Boden müde sehr<br />

Und ruht vom langen Wandern.<br />

Der eine träumt noch vom Gendarm<br />

Dem er mit Not entronnen,<br />

Dem andern ist, er liege Warm<br />

Im Felde an der Sonnen.<br />

Der dritte „K<strong>und</strong>e" schaut ins Licht,<br />

Als ob er Geister sehe,<br />

Er stützt den Kopf <strong>und</strong> schlummert nicht.<br />

Er hat ein heimlich Wehe.<br />

Das Licht verlischt <strong>und</strong> alles ruht,<br />

Nur noch die Scheiben funkeln,<br />

Da nimmt er leise Stock <strong>und</strong> Hut<br />

Und wandert fort im Dunkeln.<br />

Herrmann Hesse.<br />

Vagab<strong>und</strong>.<br />

Es haben sich die Nächte<br />

Gar plötzlich abgekühlt,<br />

Ich steh' vertieft am Flusse,<br />

In dem die Windsbraut wühlt.<br />

Ich starre in die Wellen,<br />

Umweht vom frost'gen Wind.<br />

Es kommt ein leichtes Mädchen.<br />

„Ich hab' kein Geld, mein Kind".<br />

Sie streichelt mich so fre<strong>und</strong>lich,<br />

Ich tu ihr gar wohl leid:<br />

Mir nagt im Leib der Hunger,<br />

Im Kopfe Müdigkeit.<br />

Du bist wohl satt, Geliebte?<br />

Sie geht — ich wünsche nur,<br />

Dass ich ein Mädchen wäre:<br />

Ich würde eine Hur'.<br />

Hugo Sonnenschein-Wien*).<br />

*) Verfasser dieses ist Anarchist <strong>und</strong> hat erst<br />

neulich im Verlag E. Pierson, Dresden ein Gedichtbändchen<br />

gleicher Tendenz wie obiges Original unter<br />

dem Titel: „Ad s o l e m ; e i n e g r e l l e J u g e n d "<br />

herausgegeben.


Ihr superklugen Auguren der Politik <strong>und</strong><br />

der Übervorteilung — seht ihr nun, wie sehr<br />

die Anarchisten gegen jede Reform s i n d ?<br />

Proletarier urteilt selbst: W e r sind die w a h -<br />

ren Reformisten — wir oder die Socialdemokratie<br />

?<br />

Antwort: J e d e w a h r e R e f o r m i s t<br />

r e v o l u t i o n ä r , j e d e S c h e i n r e f o r m , a u f<br />

d e m W e g e u n d m i t t e l s d e s P a r l a -<br />

m e n t a r i s m u s d u r c h g e f ü h r t , i s t<br />

S c h w i n d e l u n d T ä u s c h u n g , bewusst<br />

oder unbewusst. Wir revolutionären Anarchisten<br />

sind für wahre Reformen, hervorgehend<br />

aus der Kraft des Volkes selbst; die<br />

Socialdemokraten lassen sich von den betrügerischen<br />

Versprechungen der Bourgeoispolitiker<br />

abspeisen <strong>und</strong> nehmen teil an diesem<br />

Betrug. Wir wollen k e i n e Reformen, die<br />

sich „als wirtschaftliche Notwendigkeiten der<br />

kapitalistischen Gesellschaft" ergeben; der<br />

Kapitalismus gibt sie uns ganz ohne unser<br />

Zutun oder unter dem Antrieb unserer r e -<br />

v o l u t i o n ä r e n Forderungen. Wir wollen<br />

die Reform, die ein Stück Befreiung, die<br />

wirklich eine Last vom Rücken des Proletariers<br />

abwälzt, uns näher bringt der socialen<br />

Revolution, der erwachten socialen <strong>und</strong> ökonomischen<br />

Gerechtigkeit des Volkes.<br />

Es ist bezeichnend, dass keine einzige<br />

bürgerliche Partei mit uns übereinstimmt, mit<br />

der Socialdemokratie so manche; es ist bezeichnend,<br />

dass eine so reaktionäre Partei,<br />

wie jene der österreichischen Christlichsocialen<br />

ebenfalls für die s t a a t l i c h e Alters<strong>und</strong><br />

Invaliditätsversicherung eintritt. Weil die<br />

Herren wohl wissen, dass es hier wieder<br />

gilt, den Pelz zu waschen, ohne ihn nass zu<br />

machen.<br />

Wir wenden uns gegen jede Reform des<br />

Staates, denn der Klassenstaat kann die Klassengegensätze<br />

nur befestigen <strong>und</strong> alles, was<br />

er gibt, isf ein Danaergeschenk, das wir als<br />

revolutionäre Proletarier von uns weisen<br />

müssen. S e i n e Reformen sind Schein <strong>und</strong><br />

Täuschung, ganz ebenso wie die Versprechungen<br />

aller politischen Parteien. Wir allein<br />

bieten dem Volke die Wahrheit; wir weisen<br />

ihm den direkten W e g der Selbstbetätigung.<br />

Reformen, die bürokratische Vermittler brauchen,<br />

sind keine Reformen; unsere Reform<br />

ist die Erfüllung des proletarischen Lebensinhaltes<br />

mit Neuem, die Heranentwicklung<br />

seiner organisatorischen <strong>und</strong> socialen Macht<br />

zur selbständigen wirtschaftlichen Aktion,<br />

unsere Reform ist die Steigerung der Macht<br />

des Proletariats <strong>und</strong> indem sie sich abwendet<br />

von dem p a p i e r e n e n gesetzlichen Ausdruck,<br />

den realen, social <strong>und</strong> praktisch durchgeführten<br />

Verwirklichungsweg beschreitet, ist<br />

unsere revolutionäre Reform eine Bahnbrecherin<br />

für die Zukunft, für den Socialismus,<br />

für die Freiheit.<br />

Weshalb wir Anarchisten sind.<br />

Von Elisee Reclus.<br />

Wir sind „Revolutionäre", weil wir die<br />

frei waltende sociale Gerechtigkeit erstreben,<br />

anstatt dieser nichts anderes um uns erblicken<br />

als Unrecht <strong>und</strong> Ungerechtigkeit.<br />

Die Verteilung der Arbeitserzeugnisse<br />

findet in der modernen Gesellschaft in einer<br />

verkehrten Weise statt; dadurch wird die<br />

Arbeit selbst schwieriger <strong>und</strong> mühsamer. Der<br />

Nichtproduzent, der Reiche, besitzt alle Rechte,<br />

selbst dieses: s e i n e n M i t m e n s c h e n v e r -<br />

h u n g e r n z u l a s s e n . Dem Armen gesteht<br />

man bisweilen nicht einmal das Recht zu,<br />

in Stille <strong>und</strong> nach Bedürfnis zu sterben. Man<br />

sperrt den Arbeiter ein, sobald er kein Auskommen<br />

findet <strong>und</strong> Vagab<strong>und</strong> wird. Leute,<br />

die sich Priester, Seelsorger, nennen, trachten<br />

darnach, den Einfältigen einen Wahnglauben<br />

einzuflössen; den, dass ihrer priesterlichen<br />

Einsicht die Resultate der Wissenschaft unterworfen<br />

sind. Wiederum gibt es Leute, die<br />

sich Könige nennen <strong>und</strong> vorgehen, von einem<br />

einzigen, ganz besonderen Ahnen abzustammen,<br />

um ihrerseits wieder Übernatürliches<br />

<strong>und</strong> Herrschaftliches darstellen zu können.<br />

Sie setzen das Volk in Bewegung <strong>und</strong> dieses<br />

hackt, säbelt <strong>und</strong> schiesst alles nieder, das<br />

als Feind zu betrachten es gelehrt wurde.<br />

Dann kommen wieder Männer, angetan in<br />

schwarzen Röcken, die sich die vollkommene<br />

Gerechtigkeit dünken, <strong>und</strong> sie verurteilen den<br />

Armen, sprechen den Reichen frei, in Republiken<br />

verkaufen sie oftmals die Verurteilungen<br />

<strong>und</strong> Freisprüche. Kaufleute verteilen Gift an<br />

Stelle von reiner, guter Nahrung; sie morden<br />

im Kleinen, nicht im Grossen, <strong>und</strong> so werden<br />

sie geachtete Kapitalisten. Der Geldsack ist<br />

der Herrscher <strong>und</strong> der ihn besitzt, hält das<br />

Lebenslos des anderen Menschen in Händen.<br />

Alles das erklären wir Anarchisten für<br />

verwerflich, wollen solches verändern. Gegenüber<br />

diesem Unrecht erschallt unser Ruf nach<br />

der socialen Revolution.<br />

Doch halt: — „Recht, Gerechtigkeit,<br />

das sind blos Worte, die wir laut gewöhnlicher<br />

Übereinkunft gebrauchen", ruft man<br />

uns zu. „ W a s in Wahrheit besteht ist die<br />

M a c h t : das Recht des Stärkeren . . . "<br />

Wohlan, wir akzeptieren es. Aber deshalb<br />

sind wir nicht weniger R e v o l u t i o n ä r ! Von<br />

zwei Dingen eines: Entweder die Gerechtigkeit<br />

ist ein menschheitliches Ideal, <strong>und</strong> dann<br />

beanspruchen wir dieses für einen jeden,<br />

oder aber sie ist ein Ausdruck der Macht,<br />

der die Gesellschaft beherrscht, <strong>und</strong> dann gibt<br />

es kein moralisches Recht, das uns davon<br />

abhalten könnte, u n s e r e Macht gegen nusere<br />

Feinde zu gebrauchen.<br />

Man missverstehe uns nicht: Die Freiheit<br />

für Alle — oder das Gesetz der Vergeltung<br />

für Alle!<br />

„Doch weshalb sich übereilen?" sagen<br />

diejenigen, die alles von der Zeit, der „Entwicklung"<br />

erwarten, um — selbst n i c h t s<br />

tun zu müssen. Die allmähliche Entwicklung,<br />

die angeblich alles besorgt, ist ihnen genüg<br />

e n d ; die sociale Umwälzung flösst ihnen<br />

Schrecken ein, sie verschmähen sie.<br />

*<br />

Über diese Entwicklungstheoretiker <strong>und</strong><br />

uns hat die Geschichte der Erfahrung ihren<br />

Urteilsspruch gefällt.<br />

Weder teilweise noch in seinem Ganzen<br />

hat sich jemals ein historischer Vorgang ausschliesslich<br />

<strong>und</strong> allein auf dem <strong>Weg</strong>e der<br />

Evolution abgewickelt; in seiner Ganzheit<br />

ist er stets durch plötzliche Revolutionen entstanden.<br />

Die vorbereitenden Eindrücke <strong>und</strong><br />

die geistige Arbeit finden zuerst statt, dies<br />

ist richtig; der Gedanke selbst, die Idee <strong>und</strong><br />

ihre Verwirklichung aber, das entsteht urplötzlich.<br />

Die Evolution muss in den Köpfen<br />

sich vollziehen, die Arme aber machen die<br />

Revolution.<br />

Und wie können wir dieser Revolution<br />

helfen, die wir allmählich in der Gesellschaft<br />

ihren Lauf nehmen s e h e n ? Wie können wir<br />

sie fördern, wir, die wir mit aller Kraft an<br />

ihrer Verwirklichung tätig sein sollen? Ist es<br />

unsere Aufgabe, uns einzurichten, wie die<br />

Bourgeois oder wie Politiker, also wie bourgeoise<br />

Elemente, die wir bekämpfen; sollen<br />

wir weiter fortfahren, uns „verantwortliche"<br />

Führer zu schaffen <strong>und</strong> unverantwortliche<br />

Untertanen zu bleiben, Werkzeuge in Händen<br />

eines einzigen Leiters?<br />

*<br />

Nein. Denn wir müssen uns als Anarchisten<br />

fühlen, also als Menschen, die die<br />

volle Verantwortlichkeit für ihre Aktionen<br />

tragen, die durch das Gefühl ihres Rechtes<br />

<strong>und</strong> aus ihrer persönlichen Pflichterkenntnis<br />

heraus handeln, die einem jeden Wesen seine<br />

natürliche, selbständige Entwicklung überlassen,<br />

keinen beherrschen <strong>und</strong> keinen als<br />

Herrscher über sich anerkennen.<br />

*<br />

Wir wollen uns vom staatlichen Zwange<br />

befreien; wir missachten die Befehle der M a -<br />

jorität ebenso wie jene der Minorität, die<br />

ihren Willen an die Stelle unseres eigenen,<br />

unserer Empfindungen <strong>und</strong> Neigungen zu<br />

stellen wünscht.<br />

Wir streben die Beseitigung a l l e r ä u -<br />

s s e r l i c h e n Gesetze an <strong>und</strong> halten fest an<br />

dem I n n e n g e s e t z e der menschlichen Natur,<br />

eines jeden Geschöpfes, wünschen die<br />

bewusste, geistige Entwicklung dieses inneren<br />

Gesetzes. Indem wir den Staat abgeschafft<br />

sehen wollen, beseitigen wir auch die offizielle<br />

Moral, in der wohlbegründeten Erkenntnis,<br />

dass keine Ethik in der gehorsamen<br />

Beugung vor unbegriffenen Geboten begründet<br />

sein kann; vor Dingen, über deren W e -<br />

sensart man sich meistens keine Rechenschaft<br />

zu geben vermag. Ohne Freiheit keine echte<br />

Moral, <strong>und</strong> es ist einzig in der Freiheit, dass<br />

diese einer ges<strong>und</strong>en Erneuerung fähig.<br />

*<br />

F r e i m ü t i g w o l l e n w i r b l e i b e n ,<br />

u n s u n s e r e n G e i s t v o r u r t e i l s l o s b e -<br />

w a h r e n u n d i h n v o r b e r e i t e n , e m -<br />

p f ä n g l i c h m a c h e n f ü r j e d e s G e -<br />

s c h e h n i s , f ü r j e d e n n e u e n G e -<br />

d a n k e n , f ü r j e d e n e d e l m ü t i g e n<br />

E n t s c h l u s s !<br />

Doch indem wir Anarchisten sind, Gegner<br />

j e d e r Herrschaft, sind wir gleichzeitig auch<br />

internationale Kommunisten. Wir begreifen,<br />

dass das individuelle Leben ohne gesellschaftliche<br />

Vereinigung unmöglich ist. Vereinzelt<br />

können wir nichts, kraft inniger, solidarischer<br />

Vereinigung können wir die Welt erobern.<br />

Wir vereinigen uns als freie, gleiche M e n -<br />

schen, in gemeinsamer Arbeit arbeitend <strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> regeln unsere gegenseitigen Beziehungen<br />

durch Wohlwollen <strong>und</strong> Gerechtigkeit, durch<br />

die Vernunft. Nicht mehr kann uns der Hass<br />

der Religionen oder Nationen oder Rassen<br />

entzweien; das Studium <strong>und</strong> Erforschen der<br />

Natur wird unser e i n z i g e r Gottesdienst<br />

sein, denn als Anarchisten <strong>und</strong> Kommunisten<br />

ist die ganze Welt unser Vaterland. Die grosse<br />

U r s a c h e des Tierischen <strong>und</strong> der Niedrigkeit<br />

in uns wird aufhören zu bestehen. Die<br />

Erde wird gemeinschaftliches Eigentum, die<br />

Grenzen verschwinden, Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden,<br />

allen gehörend, wird zum Genüsse <strong>und</strong><br />

Wohlbefinden Aller bearbeitet. Die Erzeugnisse<br />

werden die besten Früchte der Natur <strong>und</strong><br />

Arbeit sein, <strong>und</strong> es wird sich nur darum<br />

handeln, wie sie verbessert <strong>und</strong> mit noch<br />

grösserer Arbeitsersparnis hervorgebracht werden<br />

können, als es heute mit unserer verworrenen<br />

<strong>und</strong> verkrüppelnden Arbeitsmethode<br />

geht. Und auch die Verteilung der Reichtümer<br />

des gesellschaftlichen Lebens unter den M e n -<br />

schen wird nicht mehr geleitet werden von<br />

einem oder vielen Unternehmern oder vom<br />

Staate, sondern durch die freien Vereinba


ungen der Menschen selbst, die in normaler<br />

Weise erzeugen <strong>und</strong> frei geniessen.<br />

Für uns ist die Zukunft n i c h t eine<br />

künstlich aufgebaute Form, die unabänderlich<br />

ist oder bleiben muss. Nein, die freie G e ­<br />

sellschaft der Zukunft wird sein das Werk<br />

spontan wirkender Individualitäten, die ihre<br />

Formen bilden <strong>und</strong> schaffen, die sich aber<br />

unaufhaltsam verändern <strong>und</strong> weiter entwickeln<br />

werden, wie alles Aussprüche des Lebens es<br />

tut. Doch was wir wissen, für uns als Lebenspostulat<br />

aufstellen, ist d i e s :<br />

Solange die ökonomische- Gleichheit für<br />

alle Menschen n i c h t etabliert ist — bleiben<br />

wir: i n t e r n a t i o n a l e A n a r c h i s t e n ,<br />

K o m m u n i s t e n , d i e d i e U n v e r m e i d ­<br />

l i c h k e i t d e r s o c i a l e n R e v o l u t i o n<br />

v e r k ü n d e n !<br />

(Übersetzt aus den; Französischen von J u s t<br />

S e r g e j e v).<br />

Syndikalismus*) <strong>und</strong> Parlamentarismus.<br />

Die Gegner des anarchistischen Generalstreiks<br />

stehen auf einem falschen Standpunkt,<br />

verstehen nicht die geschichtliche Rolle <strong>und</strong><br />

die historische Mission der gewerkschaftlichen<br />

Arbeiterorganisationen. In ihrer Beurteilung<br />

des anarchistischen Generalstreiks sehen sie<br />

blos, dass er den Einfluss des Parlamentarismus<br />

abschwächt. Darum sagte die hollandische<br />

Socialdemokratin Roland Holst in<br />

ihrer Broschüre „Generalstreik <strong>und</strong> Socialdemokratie"<br />

auch, dass der Gr<strong>und</strong>stein der<br />

Gewerkschaften, im Gerensatz zu der politischen<br />

Organisation, die angeblich auf den<br />

gemeinsamen Interessen der ganzen Arbeiterklasse<br />

beruht, die Gemeinschaft der engen<br />

Fachinteressen der Arbeiter eines bestimmten<br />

Faches sei. Aufgabe der Gewerkschaften solle<br />

aber nur sein, der Kampf gegen einzelne<br />

Kapitalisten oder gegen Gruppen der Kapitalisten.<br />

Dieser Gesichtspunkt ist falsch. Die<br />

Gegner des Generalstreiks, die Socialdemokraten,<br />

indem sie somit den Gewerkschaften<br />

keine tiefere Bedeutung beilegen, tun es aus<br />

folgenden Gründen. Sie behaupten, dass n u r<br />

d i e p o l i t i s c h e O r g a n i s a t i o n , die bei<br />

ihnen nichts ist, als die parlamentarische<br />

Fraktion, die Gemeinschaftlichkeit der Interessen<br />

d e r g a n z e n Arbeiterklasse vertrete;<br />

alle übrigen Erscheinungen des proletarischen<br />

Kampfes haben bei ihnen nur soviel Bedeutung,<br />

als sie zum Forlschrift des Parlamentarismus<br />

mitwirken. Damit zeigen sie, dass<br />

sie nur politische Parlamentarier sind, ihr<br />

Unverständnis für die sociale Kraft der Arbeiterbewegung.<br />

Es wäre Unwissenheit, wenn ich behaupten<br />

möchte, dass die Arbeitervereine<br />

nur die Früchte der Neuzeit seien. Arbeiter-<br />

*) Das französische Wort „Syndikalismus" bedeutet<br />

in deutscher Übertragung etwa dasselbe wie<br />

Gewerkschaft oder Berufsgenossenschaft. In Frankreich<br />

wiici dieses Wotf für die gesamte Gewerkschaftsbewegung<br />

angewandt. Das bedeutendste revolutionäre<br />

Gewerkschaftsorgan Frankreichs „La<br />

voix du peuple" („Volksstimme") redigiert von<br />

unseren Genossen E m i l e Pouget, Griffclhuis usw.,<br />

spricht deshalb immer auch in unterschiedlichem<br />

Sinne von einem „r e v o l u t i o n ä r e n Syndikalismus",<br />

„gelben Syndikalismus" (Streikbrecherorganisationen),<br />

„ r e f o r m i s t i s c h e n Syndikalismus"<br />

(socialdemokratische Gewerkschaftsorganisationen).<br />

Die für uns massgebende Gewerkschaftsorganisation<br />

Frankreichs ist jene der r e v o l u t i o n ä r e n Gewerkschaftsbewegung,<br />

die den Generaltitel „Arb<br />

e i t s k o n f ö d e r a t i o n " führt, <strong>und</strong> diese bezeichnen<br />

wir auch stets, wenn wir der Kürze halber<br />

nur das Wort Syndikalismus — also für uns die<br />

r e v o l u t i o n ä r e G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g —<br />

gebrauchen. (Anmerkung der Redaktion).<br />

vereine existierten schon bei den mittelalterlichen<br />

Handwerkern. Die modernen Gewerkschaften<br />

aber haben ihre eigene Form der<br />

Entwicklung angenommen. Sie entstanden als<br />

Waffe des Kampfes für unmittelbare Verbesserung<br />

der Lage des Proletariats. So lange<br />

die socialistischen Führer — die künftigen<br />

Parlamentarier — nicht die Absicht hatten,<br />

ins Parlament einzudringen, beschäftigten sie<br />

sich ausschliesslich mit der Agitation unter<br />

den Unterdrückten, auch unter der Bauernschaft<br />

<strong>und</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage des Kampfes<br />

für momentane Interessen organisierten sie<br />

das Proletariat für sein Endziel — für die<br />

Abschaffung des Kapitalismus <strong>und</strong> dessen<br />

Ersetzung durch den Socialismus. Damals<br />

sangen sie andere Liedchen als heutzutage.<br />

Der deutsche Socialdemokrat Liebknecht führte<br />

seinerzeit deutlich aus, dass der Parlamentarismus<br />

eine nutzlose Plauderei <strong>und</strong> eine Beschäftigung<br />

für „socialistische Phantasiepolitiker"<br />

sei.<br />

So propagierten auch die russischen Socialisten,<br />

die jetzigen Socialdemokraten in den<br />

70er Jahren. In der Zeitung „ C z e r n i j P e ­<br />

r e d e l " i n einem „ B r i e f e a n d e n e h e ­<br />

m a l i g e n G e n o s s e n " schrieb der Autor:<br />

„Die historische Erfahrung lehrt uns, dass<br />

die Reorganisierung der Gesellschaft auf gerechteren<br />

Gr<strong>und</strong>lagen nur mit Hilfe der ö k o ­<br />

n o m i s c h e n s o c i a l e n R e v o l u t i o n möglich<br />

ist, dass die politischen Umwälzungen<br />

n i r g e n d s <strong>und</strong> n i e m a l s die ökonomische<br />

<strong>und</strong> politische Freiheit garantieren konnten.<br />

Die Ideen uer politischen Freiheit — sowie<br />

die Souveränität des Volkes, das allgemeine<br />

Wahlrecht — in deren Namen die politischen<br />

Revolutionen vollbracht worden waren, verloren<br />

jede Macht <strong>und</strong> Bedeutung".<br />

Plechanow, der russische Marxist <strong>und</strong><br />

Socialdemokrat, schrieb in Nr. 1 „Czerneij<br />

Peredel" im Leitartikel: „jede social-revolutionäre<br />

Partei muss das Volk dazu bewegen,<br />

dass es, statt des passiven Versprechens auf<br />

die Verteilung des Bodens, die von „ o b e n " , von<br />

der Regierung vollbracht werden soll, zu<br />

aktiven Forderungen zu greifen, Boden <strong>und</strong><br />

Freiheit zu verlangen, von „unten", vom<br />

Volke selber, erkämpft werden muss. Nur<br />

darin besteht die Aufgabe <strong>und</strong> sind die möglichen<br />

Grenzen ihrer revolutionären Beeinflussung<br />

des Volkes gegeben. Alle anderen<br />

Handlungen, wie radikal sie auch scheinen<br />

mögen, wie viel sie auch dem Volke versprechen<br />

mögen, werden in ihrem Wesen<br />

reaktionär sein, weil sie — die Handlungen —<br />

nicht nur die U n v e r l e t z l i c h k e i t des<br />

Staates bedingen, s o n d e r n a u c h s e i n e n<br />

B e i s t a n d v o r a u s s e t z e n " .<br />

Doch diesen Herrn fing das Parlament<br />

zu lächeln an, <strong>und</strong> sie änderten ihre Meinungen.<br />

Je mehr diese Herren sich hinreissen<br />

Hessen, mit, nach dem Ausdruck Liebknechts,<br />

den „socialistischen Phantasiepolitikern" zu<br />

buhlen, desto mehr vernichteten sie die wichtige<br />

Bedeutung der Arbeiterbewegung <strong>und</strong><br />

ordneten diese dem Parlamentarismus unter.<br />

Alles, was nicht dem Nutzen des Parlamentarismus<br />

dienen konnte, verstümmelten sie<br />

oder kämpften leidenschaftlich dagegen. D e s ­<br />

halb ist es, dass die Gewerkschaften Deutschlands<br />

<strong>und</strong> Österreichs, wo die Socialdemokraten<br />

grösseren Einfluss besitzen, ihre richtige<br />

Bedeutung verloren <strong>und</strong> allmählich sich<br />

aus einer Waffe des Proletariats in eine Waffe<br />

für die Parlamentarier umgewandelt haben.<br />

Die proletarische Bewegung stösst sie<br />

aber überall dort zurück, wo sie selbstbewusst<br />

ist. Der Parlamentarismus verliert<br />

immer mehr an Einfluss. Die Arbeiter fühlen<br />

<strong>und</strong> begreifen, dass sie damit ihre Herr-<br />

schende <strong>und</strong> Schmarotzer unterstützen, der<br />

Parlamentarismus sie von ihrem unmittelbaren<br />

Kampfe, von ihrer echten parlamentarischen<br />

Bewegung, der direkten Aktion abhält. Und<br />

je mehr sie dies fühlen <strong>und</strong> begreifen, desto<br />

mehr überzeugen sie sich von der Notwendigkeit<br />

des von anarchistischen Ideen inspirierten<br />

Generalstreiks.<br />

Auf dem italienischen socialistischen<br />

Parteitag von 7. — 10. Oktober 1907 trugen<br />

die revolutionären Syndikalisten einen moralischen<br />

Sieg davon, durch die Propagierung<br />

des Antimilitarismus <strong>und</strong> der Generalstreiksidee.<br />

Auf dem Gewerkschaftskongress in Amiens<br />

vom 9. — 12. Oktober 1906, errang die Idee<br />

des Generalstreiks <strong>und</strong> des Antiparlamentarismus,<br />

die die revolutionären Gewerkschaftler<br />

predigten, den vollsten Sieg. Die Resolution,<br />

die Griffuelhes vorgeschlagen <strong>und</strong> die alle<br />

Syndikalisten unterzeichneten, wurde angenommen<br />

mit 830 Stimmen gegen 8. Unter<br />

anderem wird in dieser Resolution gesagt:<br />

„Er (der Syndikalismus) b e r e i t e t d i e v o l l ­<br />

s t ä n d i g e B e f r e i u n g v o r , die sich nur<br />

durch die E x p r o p r i a t i o n des Kapitals<br />

vollziehen kann. Er erklärt als Kampfesmittel<br />

den Generalstreik".<br />

In Deutschland, wo die Agitation der<br />

Idee des Generalstreiks erst durch Dr. Friedeberg<br />

einen einigermassen anspornenden Einfluss<br />

gewann, hat sie auch ihre Anhänger.<br />

15.000 Arbeiter, die Mitglieder der Freien<br />

Vereinigung deutscher Gewerkschaften, schlossen<br />

sich prinzipiell dieser Idee an. Obzwar<br />

diese Anzahl im Vergleich zu der Million<br />

in den zentraustischen Gewerkschaften klein<br />

ist, ist dennoch mit ihr das F<strong>und</strong>ament einer<br />

revolutionär-syndikalistischen Bewegung gelegt<br />

worden.<br />

Gruppieren wir die Unterschiede zwischen<br />

Parlamentarismus <strong>und</strong> Syndikalismus.<br />

Der Parlamentarismus konstatiert, dass<br />

die Eroberung der poetischen Macht der<br />

socialökonomischen Umwälzung vorausgehen,<br />

die Socialisten die politische Macht erobern,<br />

durch ihre Vermittlung diese Umwälzung sich<br />

vollziehen soll. Die parlamentarischen Sozialisten<br />

versuchen darum, durch die Ausnützung des<br />

Wahlrechtes, die politische Macht zu erobern.<br />

Der Syndikalismus (also das revolutionäre<br />

Gewerkschaftsprinzip) sagen im Gegenteil, dass<br />

die Befreiung der Arbeiter die Sache der<br />

Arbeiter selbst sein muss. Der Syndikalismus<br />

hat die Aufgabe, die Arbeiter mittels der direkten<br />

Aktion revolutionär zu erziehen, um<br />

dann durch den socialrevolutionären Generalstreik<br />

die sociale Revolution vorzubereiten,<br />

die das kapitalistische Wirtschaftssystem <strong>und</strong><br />

den Staat abchaffen, die freie Produktion <strong>und</strong><br />

den Austausch durch freie Vereinigungen, wie<br />

sie das Ideal des Anarchismus bilden, einführen<br />

soll.<br />

Da der Syndikalismus erkennt, dass die<br />

Befreiung des Proletariats von dem Proletariate<br />

selbst <strong>und</strong> durch seine Organisationen<br />

entstehen muss, nicht aber durch eine revolutionäre<br />

Regierung, darum bezeichnet er den<br />

Parlamentarismus als nutzlos für das P r o ­<br />

letariat. J. L a n d a u .<br />

G e n o s s e n ! Kolportiert in allen<br />

Lokalen, in denen Ihr verkehrt, den<br />

„W. f. A." W e r b t unermüdlich neue<br />

Abonnenten <strong>und</strong> verbreitet Euer Blatt!<br />

V e r a n t w o r t l i c h e r R e d a k t e u r J o s . Šindelář ( W i e n ) . — H e r a u s g e b e r Jul. E h i n g e r ( W i e n ) . — Erste G e n o s s e n s c h a f t s - B u c h r u c k e r e i in Budweis.


Wien, 19. F e b r u a r 1908. Einzelexemplar 10 h. J a h r g . I. — Nr. 4<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition XII. Fockygasse 27. IL/17.<br />

Wien. Gelder sind zu senden an W.<br />

Kubesch, IV. Schönburgstrasse, 5. III. 27<br />

Wien.<br />

Z u r B e a c h t u n g ! Moralische Desertion<br />

eines Wiener D r u c k e r s kurz vor d e m Publikationstage<br />

v e r u r s a c h t e d a s v e r s p ä t e t e Erscheinen<br />

vorliegender Nummer. Der W i e d e r h o l u n g eines<br />

solchen Zwischenfalles ist für die Zukunft vorgebeugt.<br />

Mit solidarischem Gruss<br />

Redaktion <strong>und</strong> V erlag.<br />

Das Attentat von Lissabon.<br />

„Wir haben kein G e s e t z mehr. W i r sind<br />

der Willkür eines Einzelnen a n h e i m g e g e b e n .<br />

Wir, die wir ein zivilisiertes . . . ein ruhiges<br />

Volk sind, w e r d e n behandelt wie eine Herde<br />

Schafe, w i e unvernünftige T i e r e . . . h s gibt<br />

keinen A u s w e g mehr, wir haben keine G e m e i n -<br />

schaft mehr mit diesen Leuten, k ö n n e n keine<br />

Gemeinschaft mehr mit ihnen haben: Z w i s c h e n<br />

ihnen u n d u n s k a n n es nur noch eins g e b e n :<br />

K r i e g ! K r i e g b i s a u f s ä u s s e r s t e l T a u -<br />

s e n d m a l lieber wolleu wir sterben als freie M a n -<br />

ner, denn leben als Knechte . . ,"<br />

( A u g u s t o J o s é d a C u n h a , 70jähriger portugiesischer<br />

Monarchist, der kürzlich Republikaner<br />

ward).<br />

Durchbohrt von den Kugeln republikanischer<br />

Verschwörer <strong>und</strong> Rebellen sind der<br />

portugiesische König <strong>und</strong> Infant — ihre Namen<br />

übergehen wir mit demselben Stillschweigen,<br />

mit dem die Geschichte der Kultur es<br />

tun wird denjenigen socialen <strong>und</strong> politischen<br />

Unterjochungszuständen zum Opfer g e -<br />

fallen, als deren Repräsentanz sie sich fühlten<br />

oder deren repräsentative Verantwortung der<br />

Kronprinz zu übernehmen bereit war.<br />

Worte des Mitleids <strong>und</strong> des Bedauerns,<br />

die wir selbst dem gehassten, aber doch zu<br />

achtenden Gegner in ähnlichem Falle widmen<br />

würden, werden von uns nicht erwartet werden.<br />

Dieser König, ein geistloser Prasser,<br />

ein moralisch total entwerteter <strong>und</strong> unterwertiger<br />

Wicht, dessen persönliches Ansehen im<br />

Volke total erloschen war, hat dies nicht verdient.<br />

Selbst vom rein menschlichen Standpunkt<br />

lässt uns, die wir den Mord in jeder<br />

Form aufheben wollen, die wir eine Gesellschaftsorganisation<br />

des freiheitlichen Friedens<br />

erstreben, das gelungene Attentat teils gleichgültig,<br />

teils aber erblicken wir in ihm eine<br />

rächende Nemesis der Geschichte, die stets<br />

dann sich dem dunklen Gewühl der Volksmasse<br />

entringt, wenn die Schuldigen sie zuletzt<br />

vermuten. Und in diesem besonderen<br />

Fall, da vernimmt die gesamte zivilisierte<br />

Welt eher e i n Stöhnen <strong>und</strong> Jammern, das<br />

weit erschütternder an das Herz <strong>und</strong> das<br />

Menschheitsgefühl Aller greift, denn der Tod<br />

dieses Königs <strong>und</strong> seines Geblüts es vermögen<br />

: ein Stöhnen <strong>und</strong> Jammern, das von<br />

dem armen, gequälten portugiesischen Volke<br />

ausgeht, das, ausgesogen <strong>und</strong> ausgesäckelt<br />

vom rücksichtslosesten Steuerdruck bis aufs<br />

Blut, bedrückt <strong>und</strong> behemmt in jeder freieren<br />

Geistesrichtung, sich vor uns windet, als ein<br />

Kollektivopfer auf dem Molochaltar des Despotismus;<br />

einer Autokratie, die verschärft wird<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck Ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen i s t . . . "<br />

von einem Menschen, in dem die Bestie<br />

Orgien feierte, desjenigen, dessen Name stets<br />

sein wird das Schmachdenkmal unserer Zeit,<br />

der H<strong>und</strong>erte von Liberalen, Anarchisten, Republikanern<br />

den Lebensgeist ausblasen oder<br />

sie in der Verbannung elendiglich verenden<br />

liess, der Mann, der Portugal zur St<strong>und</strong>e<br />

bereits feig verlassen hat: Joao Franco, Expremierminister<br />

des toten Königs, für uns ein<br />

Jaguar in Menschengestalt.<br />

Trauern? Nein! Auch nur ein Bedauern<br />

aussprechen ob des Attentates? W i r ? —<br />

<strong>Unser</strong>e Gefühle gehören dem Volke <strong>und</strong> die,<br />

die um den König trauern, trauern nicht für<br />

dieses. <strong>Unser</strong> Herz aber gehört ihm, dem<br />

geknechteten Volke, <strong>und</strong> für dieses krampft<br />

es sich zusammen.<br />

Denn es ist ein tragischer Irrtum, sich<br />

dem schönen Glauben hinzugeben, dass für<br />

dieses arme, unglückliche Volk, spinnengewebeartig<br />

umrankt vom Netz des Klerus,<br />

der meist englischen Latif<strong>und</strong>ienbesitzer <strong>und</strong><br />

dem politischen Druck, nun, nach dem Tode<br />

der Staatsrepräsentanten ein neuer Morgen<br />

anbrechen würde! Noch nicht. Dieses Attentat<br />

war in der Tat kein anarchistisches, wie<br />

es ja für Kenner schon deshalb ziemlich<br />

selbstverständlich, da Portugal im Gegensatz<br />

zu Spanien keine starke anarchistische Bewegung<br />

besitzt. Es war ein Attentat von Republikanern<br />

<strong>und</strong> sogar sehr bürgerlichen Elementen,<br />

was schliesslich auch die mehrfachen<br />

Entschuldigungsargumente begreiflich macht,<br />

die die bürgerliche Presse ihnen elogenartig<br />

darbrachte. Nicht wegen einer total entmenschenden<br />

Kolonialpolitik, nicht wegen der<br />

socialen Notlage, die im Lande wütet, wurden<br />

das Staatshaupt <strong>und</strong> der präsumtive Nachfolger<br />

hingerichtet. Wer tiefer blickt, erkennt,<br />

dass es sich hier nur um bourgeois-politische<br />

Rechte handelte, wie sie das Bürgertum eben<br />

in allen konstitutionellen Staaten gesichert<br />

sehen w i l l , weil dieselbe eine Gr<strong>und</strong>lage<br />

für die ökonomische Ausbeutungsmethode des<br />

Kapitalismus <strong>und</strong> seiner frei wuchernden Elemente<br />

bilden. Und weil der portugiesische<br />

Despotismus i h n e n im <strong>Weg</strong>e stand, damit<br />

auch das Geistesleben der Bourgeoisie traf,<br />

den Pakt zwischen wirtschaftlicher <strong>und</strong> politischer<br />

Herrschaft v e r l e t z t e , deshalb die<br />

Empörung der bürgerlichen Liberalen <strong>und</strong> Republikaner,<br />

die sonst stets gegen die „anarchistischen<br />

Attentäter" wettern oder, wie es<br />

im republikanischen Frankreich geschah, vor<br />

den konservativen <strong>und</strong> dynastischen Repräsentanten<br />

Portugals ihre Pflichtbücklinge machten<br />

<strong>und</strong> die Republikaner jenseits der Grenze<br />

ächteten. Republik oder Monarchie bedeutet<br />

in Portugal genau dasselbe Joch der Unterdrückung<br />

für die arbeitende Klasse der Stadt<br />

<strong>und</strong> des Landes. Und wer da weiss, in wel-<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2.40;<br />

halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

cher Weise sociale <strong>und</strong> politische Veränderungen<br />

sich wirklich vollziehen oder wenigstens<br />

indirekt herbeigeführt werden können, der<br />

kann sich der Erkenntnis nicht verschliessen<br />

— <strong>und</strong> schon w e i l dies nicht erfolgte, ist<br />

das Attentat unzweifelhaft k e i n anarchistisches<br />

gewesen — dass die Beseitigung<br />

des Exdiktators Franco von einer weit grösseren<br />

Wirkung begleitet gewesen wäre, als<br />

es so der Fall ist oder sein kann.<br />

In diesem Sinne wissen wir Anarchisten<br />

nur allzu wohl, dass mit diesem Attentat die<br />

Leidensperiode des geknechteten portugiesischen<br />

Arbeiters oder Bauern auch nicht um<br />

die kürzeste Spanne Zeit vermindert wird.<br />

Darob trauern wir! Freilich wäre es anders<br />

gewesen, wenn wir in Portugal ein socialistisch<br />

<strong>und</strong> anarchistisch gereiftes Empfinden<br />

besässen, was unglücklicherweise, dank verschiedener<br />

historisch - wirtschaftlicher M o -<br />

mente, nicht der Fall ist.<br />

Dies unsere Würdigung des Attentates<br />

vom Standpunkt der Geistesphilosophie des<br />

Anarchismus <strong>und</strong> ihrer Zukunftsperspektiven,<br />

Vom rein persönlichen Standpunkt sind die<br />

Namenlosen, die ihr Leben für ihr, wenn<br />

auch nur bürgerliches Ideal in die Schanze<br />

schlugen, bei weitem höher zu stellen, als der<br />

Prasser <strong>und</strong> sein Sohn, die gefallen, als der<br />

katzenartig feige, wenn auch reissende Franco.<br />

H<strong>und</strong>erte von Verhaftungen <strong>und</strong> Justizmorde<br />

haben stattgef<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> die Unglücklichen, die<br />

gegenwärtig das Staatsruder in Händen halten,<br />

begreifen es gar nicht, dass sie damit die<br />

Saat des Hasses nur weiterstreuen <strong>und</strong> diese<br />

aufgehen muss. Gäbe es eine vernünftige<br />

Gerechtigkeit des Staates, d. h. die logische<br />

Konsequenz s e i n e r Rache- <strong>und</strong> Kriminalphilosophie<br />

— ein Franco müsste als Hochverräter<br />

an die Garotte! Aber wir wissen es<br />

ja schon: die Verblendeten sehen in den<br />

Kämpfern für Licht <strong>und</strong> Wahrheit die Feinde,<br />

begreifen nicht, dass sie in einem u n g e -<br />

h e m m t e n Laufe der Entwicklung selbst<br />

entweder den Triumpf ihrer Herrschaftssache<br />

oder aber ihre Einheit mit allen Übrigen der<br />

Menschheit finden würden, dass es die Reaktion<br />

ist, die allein ihnen ihr Grab gräbt, ihnen<br />

persönliche Vernichtung angedeihen lässt.<br />

Sie sind blind! Und so wird das letztwöchentliche<br />

Blutereignis nicht das letzte auf der<br />

Bahn der Wirrnisse <strong>und</strong> des Machtchaos<br />

sein — bis endlich jener Morgen des Lichtes<br />

anbricht, an dem die Konsequenz der Geistesvernunft<br />

ihr definitives Wort spricht, es<br />

sich nicht mehr darum handelt, e i n e Staatskoterie<br />

abzutun, um einer anderen zur Herrschaft<br />

zu verhelfen, sondern wo, entweder<br />

durch Gewitterwolken oder Sonnenlächeln,<br />

der Frieden allgemeiner Freiheit von den<br />

Völkern errungen wird.


Parlamentarismus, Syndikalismus<br />

<strong>und</strong> Generalstreik.<br />

Schon dadurch fügt der Parlamentarismus<br />

dem Proletariate einen grossen Schaden bei:<br />

An Stelle von Selbsttätigkeit gibt er den<br />

Massen nur die Möglichkeit, alle zwei, drei<br />

oder mehr Jahre zur Wahlurne zu gehen,<br />

um durch verschiedenartige Papierchen <strong>und</strong><br />

Wahlzeichen einen Parlamentären Mischmasch<br />

zu kochen, der mit dem Namen „sociale<br />

Reformen" bezeichnet wird! In allem übrigen<br />

muss die Masse sich auf ihre Abgeordnete<br />

v e r l a s s e n . Auf solche Art <strong>und</strong> Weise erscheinen<br />

diese eifrigen Gegner der Theorie<br />

von der „Rolle des Individuums in der Geschichte",<br />

in der Praxis als die eifrigsten<br />

Gegner der „Rolle der Massen in der G e -<br />

schichte".<br />

W a s i s t s o m i t d e r P a r l a m e n -<br />

t a r i s m u s ?<br />

Der Parlamentarismus ist die Einschläferung<br />

der Arbeiter, die Unterdrückung jeder<br />

revolutionären Bewegung des Proletariats, das<br />

Vorausbestimmen der Massen zur socialen<br />

Untätigkeit.<br />

Parlamentarismus bedeutet, die Sache<br />

des Proletariats in die Hände der politischen<br />

Gaukler zu legen, die heuchlerisch sich Revolutionäre<br />

nennen, aber jeder revolutionären<br />

Bewegung feindselig sind.<br />

Der Parlamentarismus ist der hinterlistige<br />

schlaue Mechanismus der Bourgeoisie, das<br />

Proletariat in politische Tändeleien hineinzuziehen,<br />

damit sie gegenüber seinen Versuchen,<br />

sich zu befreien, leicht siegen kann.<br />

Der Parlamentarismus bedeutet, das<br />

Klassenbewusstsein des Proletariats zu verdunkeln,<br />

die Klassengegensätze gegenüber<br />

der Bourgeoisie zu verwischen; was erreicht<br />

wird durch die von Fall zu Fall in den Abstimmungen<br />

herbeigeführte Vereinigung mit<br />

den liberalen usw. Bourgeoisieparteien, ohne<br />

die der Parlamentarismus nicht bestehen kann.<br />

W a s i s t d e r S y n d i k a l i s m u s ?<br />

Der Syndikalismus ist die Anfeuerung<br />

der Arbeiter zur Selbstätigkeit. Letzterer wird<br />

dargestellt durch die revolutionären Organisationen<br />

des Proletariats; durch deren Anerkennung<br />

der anarchistischen Ideen des Antimilitarismus<br />

<strong>und</strong> Antipatriotismus.<br />

Der Syndikalismus ist die Wiederbelebung<br />

des Prinzips der alten Internationale:<br />

„Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das<br />

Werk der Arbeiter selbst sein".<br />

Der Syndikalismus ist ein echt proletarisches<br />

Kampfesmittel, das aus dem Innern<br />

der Arbeiterklasse entstanden <strong>und</strong> sich entwickelt<br />

hat zum proletarischen Klassenkampfmittel;<br />

als solches kann es nicht für bourgeoise<br />

<strong>Ziel</strong>e des Parlamentarismus dienen,<br />

weil das Mittel dem <strong>Ziel</strong>e <strong>und</strong> umgekehrt<br />

widerspricht.<br />

Der Syndikalismus, der den revolutionären<br />

Generalstreik als Mittel zur Befreiung<br />

des Proletariats anerkennt, drückt damit die<br />

Klassengegensätze des Proletariats gegenüber<br />

allen übrigen herrschenden Klassen deutlich<br />

aus <strong>und</strong> entwickelt folglich das Klassenbewusstsein<br />

des Proletariats im eminentesten<br />

Masse.<br />

Wie ist unsere, der kommunistischen<br />

Anarchisten, Stellung zu dem revolutionären<br />

Gewerkschaftskampf?<br />

Überall, wo es nur möglich, wenn auch<br />

schon zentralistische Gewerkschaften vorhanden<br />

sind, müssen wir von revolutionären<br />

Ideen getragene Syndikate gründen. Ausserdem<br />

müssen wir jede Gelegenheit ausnützen,<br />

unsere Agitatoren <strong>und</strong> Propagandisten in<br />

Versammlungen der sozialdemokratisch beeinflussten<br />

Gewerkschaften auftreten zu lassen,<br />

um den Schaden des zentralistischen Prinzips<br />

in der Arbeiterorganisation <strong>und</strong> den Schaden<br />

des Parlamentarismus aufzudecken.<br />

Wo es schon neutrale d. h. unparteiische<br />

Gewerkschaften gibt <strong>und</strong> wo es noch unmöglich<br />

ist, eigene zu gründen, dort müssen<br />

wir in die schon existierenden Gewerkschaften<br />

eintreten; es wird uns so leichter sein, unsere<br />

Ideen zu propagieren <strong>und</strong> Einfluss zu gewinnen.<br />

In jedem alltaglichen Kampfe zwischen<br />

Kapital <strong>und</strong> Arbeit müssen die Anarchisten<br />

in den ersten Reihen stehen <strong>und</strong> damit beweisen,<br />

wie man kämpfen muss. Aber indem<br />

wir an dem täglichen Klassenkampfe Anteil<br />

nehmen, dürfen wir nicht den Arbeitern die<br />

kleinen Forderungen vor Augen steilen, sondern,<br />

den Enthusiasmus des Kampfes ausnützend,<br />

ihnen verstehen zu geben, dass nicht<br />

diese kleinen Verbesserungen sie befreien<br />

können, dass nur durch die Abschaffung des<br />

Kapitalismus <strong>und</strong> des Staates die Menschheit<br />

sich befreien kann.<br />

Sollten aber die in den Kampf eintretenden<br />

Proletarier zu diesem noch nicht reif<br />

genug sein, so müssen wir als Anarchisten<br />

uns hauptsächlich der geistig revolutionierenden<br />

Erziehung der Arbeiter widmen.<br />

Kurz, im alltäglichen Kampfe des Proletariats<br />

für die Verbesserung seiner ökonomischen<br />

Lage müssen die Anarchisten den<br />

revolutionären Geist erwecken.<br />

Obzwar die Socialdemokratie uns dafür,<br />

unter dem wohlwollenden Schweigen ihres<br />

ganzen Parteitages, „Feinde des Proletariats"<br />

nennen wird, wollen wir dennoch lieber solche<br />

„Feinde" sein, als solche kühne Socialisten"<br />

wie die Bebel, die Adler; solche ordentliche<br />

Bürger, wie der deutsche Socialdemokrat<br />

David, der als Verteidiger das Proletariats,<br />

einem Fürsten zur Geburt eines Sohnes Glück<br />

wünschte, eines Sohnes der vielleicht ein<br />

ausgesprochener Feind der Arbeiter sein wird.<br />

Keine theoretische oder praktische Frage<br />

wurde in letzter Zeit soviel behandelt <strong>und</strong><br />

rief so viele Meinungsverschiedenheiten hervor,<br />

als diejenigen des Generalstreiks. Alle socialistischen<br />

Parteien behandelten ihn in ihren<br />

Zeitungen, eine ganze Reihe socialistischer<br />

Kongresse aller Länder widmeten ihm Zeit.<br />

Warum erregt der Generalstreik ein solches<br />

Interesse? Weil er nicht nur eine praktische<br />

Bedeutung hat, sondern auch ein theoretisches<br />

Problem ist. Dies beweist der Umstand,<br />

dass nicht nur verschiedene Parteien<br />

ganz gemäss ihren Weltanschauungen, den<br />

Generalstreik verschiendenartig betrachten;<br />

nein, sogar innerhalb der socialistischen Parteien<br />

selbst existieren auch verschiedene Richtungen<br />

gegenüber dieser idee, abhängig von<br />

ihren besonderen Anschauungen über die<br />

Entwicklung der Arbeiterbewegung <strong>und</strong> des<br />

Klassenkampfes.<br />

Die Auffassung des Generalstreiks ist so<br />

mannigfaltig, dass man viele Begriffe mit<br />

ihm verbindet. Ich werde hier nicht die einzelnen<br />

Formen des Generalstreiks erläutern,<br />

wie ihn verschiedene Theoretiker der verschiedenen<br />

Parteien verstehen. Mich interessiert<br />

hier nur e i n e Form des Generalstreiks<br />

nämlich der revolutionäre, auf wirtschaftliche<br />

<strong>Ziel</strong>e gerichtete Generalstreik, <strong>und</strong> inwieferne<br />

es das auserwählte Thema betrifft, werde ich<br />

auch andere Formen des Generalstreiks betrachten.<br />

Rolland-Holst*) bietet vier Arten von<br />

Generalstreik: I. den „Solidaritätsstreik", der<br />

*) „Der Generalstreik <strong>und</strong> die Socialdemokratie"<br />

in Italien, Frankreich <strong>und</strong> Spanien sehr populär<br />

ist; 2. den revolutionären socialen Generalstreik,<br />

der von den Anarchisten <strong>und</strong><br />

revolutionären Socialisten propagiert wird ;<br />

3. den ökonomischen Streik mit politischer<br />

Bedeutung <strong>und</strong> 4. den politischen Massenstreik,<br />

der von den linksstehenden Socialdemokraten<br />

propagiert wird.<br />

In ihrer Analyse macht sie dadurch einen<br />

unverzeihlichen theoretischen Fehler, dass sie<br />

den „Solidaritätsstreik" von dem wirtschaftlichen<br />

Generalstreik trennnt. Dieser Generalstreik<br />

ist nur die weitere Entwicklung des<br />

Solidaritätsstreiks <strong>und</strong> dieser ist ein durchaus<br />

notwendiges Attribut des sich auf sociale<br />

<strong>Ziel</strong>e stützenden Generalstreiks. Dieselben<br />

antiparlamentarischen Gewerkschaften <strong>und</strong><br />

revolutionäre Syndikate, die sich unter dem<br />

Einfluss der Anarchisten befinden <strong>und</strong> Anhänger<br />

des social-wirtschaftlichen Generalstreiks<br />

sind, gebrauchen in allen möglichen<br />

Fällen den kleineren Solidaritätsstreik <strong>und</strong><br />

zwar aus folgenden Gründen : Sie sehen in<br />

ihm eine erzieherische <strong>und</strong> agitatorische Bedeutung<br />

für den revolutionären Generalstreik<br />

<strong>und</strong> die Möglichkeit, ihn zum Bahnbrecher<br />

der socialen Revolution zu entwickeln.<br />

Die Arbeiter greifen gewöhnlich zum<br />

Streik, als zu derjenigen Waffe gegen die<br />

Unternehmer, um die Verbesserung ihrer Lage<br />

herbeizuführen oder um die Verschlechterung<br />

derselben zu verhindern. Instinktiv fühlten sie<br />

es stets, dass einzig <strong>und</strong> allein von ihnen<br />

die Produktion abhängt. Sie wissen, dass sie<br />

nur zu w o l l e n brauchen <strong>und</strong> nur mit der<br />

V e r w e i g e r u n g der Erfüllung ihrer<br />

Pflichten, die das moderne Gesellschaftssystem<br />

ihnen auferlegt, können sie das ökonomische<br />

<strong>und</strong> sociale Getriebe der Gesellsch;ii";<br />

desorganisieren <strong>und</strong> vieles erreichen.<br />

Die fatalistische Anschauung, dass der<br />

Kapitaiismus sich s e l b e r zu seiner Verneinung<br />

entwickelt, dass er in einem gewissen<br />

historischen Moment der kapitalistischen Entwicklung<br />

s e l b e r den Socialismus gebären<br />

muss; diese fatalistische Theorie, die der<br />

Freiheit, dem Wollen <strong>und</strong> d e r initiative der<br />

Persönlichkeit <strong>und</strong> Klassen nur einen unbedeutenden,<br />

wiederum von ökonomischen Verhältnissen<br />

abhängenden Raum gewährt, diese<br />

fatalistische Theorie verliert allmählich ihren<br />

Reiz <strong>und</strong> kommt immer mehr in Gegensatz<br />

zu den lebendigen Interessen des Proletariats.<br />

Die Lehre von der „Eroberung der politischen<br />

Macht" auf g e s e t z l i c h e m B o -<br />

d e n verliert immer mehr Anhängerschaft<br />

unter den bewussten Arbeitern; nicht etwa<br />

darum, weil, wie A. Roller sagte*), „es zu<br />

lang dauert" sondern darum, weil diese Lehre<br />

zu u t o p i s t i s c h ist. Keine Regierung, kein<br />

Staat werden sich je zurückhalten, um ihre<br />

„Gleichheit" mit Füssen zu treten, wenn sie<br />

es für sich für vorteilhaft erachten. Niemals<br />

wird sich eine Regierung zurückhalten, das<br />

Parlament zu „verjagen", wenn die Abgeordneten<br />

ihr nicht passen, wie es vor etwas über<br />

Jahresfrist die Junkerbande in Deutschland<br />

tat. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e schwindet unsere<br />

Zeit immer mehr, in der der Proletarier ohne<br />

Nachdenken, jedem Politiker nachläuft. W ä h -<br />

rend verschiedene „socialistische" Politikanten<br />

im Parlamente sich scheinbar damit beschäftigen,<br />

Reförmchen zu drechseln, fängt das Proletariat<br />

zu verstehen an, dass es eine stärkere<br />

<strong>und</strong> revolutionäre Waffe hat, dass es durch<br />

diese sich von der ganzen kapitalistischen<br />

Gesellschaft befreien <strong>und</strong> die Produktionsmittel<br />

wie auch die Produktion selbst ge-<br />

*) „Der Generalstreik <strong>und</strong> die sociale Revolution"<br />

von A. Roller.


Österreich.<br />

Wien. An 14 Stellen in unserer Nr. 3 stiess<br />

sich die k. k. Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> verhängte die<br />

Beschlagnahme derselben. Letzteies konnte natürlich<br />

nicht zur Ausführung gebracht werden, weil die<br />

Exemplare nicht mehr vorhanden waren. Glückliches<br />

Österreich, du <strong>und</strong> deine Pressfreiheit <strong>und</strong> deine<br />

staatliche Fürsorge <strong>und</strong> — <strong>und</strong> deine Zopfwirtschaft,<br />

sie sind ideal, idealer, am idealsten . . .<br />

*<br />

In hoher Auflage haben die Wiener Genossen<br />

einen Separatabdruck des herrlichen, unseren Lesern<br />

bereits bekannten Artikels von Elisee Reclus „W e sh<br />

a I b w i r A n a r c h i s t e n s i n d " herstellen lassen.<br />

Der Aufsatz umfasste eine handliche vierseitige Flugschrift.<br />

Aber auch da ereilte uns die Erleuchtung<br />

der Staatsanwaltschaft, die die theoretische <strong>und</strong> socialistische<br />

Meinung eines glänzenden, international<br />

<strong>und</strong> mit Recht berühmten Gelehrten <strong>und</strong> Anarchisten<br />

i n i h r e r G ä n z e mit Beschlag belegen liess. Allerdings<br />

blieb auch dieses Urteil nur platonische Liebe ...<br />

*<br />

Einen sehr angenehmen Abend verbrachten<br />

unsere Kameraden am Samstag, den 25. v. M. im<br />

II. Bezirk mit den russischen Anarchisten, die in<br />

Gemeinschaft mit den socialrevolut>onären Maximalisten<br />

einen freiheitlich-tendenziösen Theaterabend<br />

veranstaltet hatten. Charakteristisch ist diese B<strong>und</strong>esgenossenschaft<br />

der beiden Gruppierungen <strong>und</strong> auch<br />

ebenso logisch wie natürlich; wie es auch sehr vernünftig,<br />

dass die russischen Socialdemokraten, diese<br />

Verräter der russischen Revolution, von den Socialrevolutionären<br />

konsequenter Denkungsart gemieden<br />

<strong>und</strong> verachtet werden! — Im XIV. hielt der Genosse<br />

Ramus einen Vortrag über „Strassendemonstrationen<br />

<strong>und</strong> Machtdemonstrationen", an den sich eine bis<br />

1 Uhr 15 Min. währende Diskussion schloss. — Die<br />

Rührigkeit <strong>und</strong> energische Ausdauer der Wiener<br />

Genossen lässt uns mit den grössten Hoffnungen<br />

in die Zukunft blicken, umso mehr, als immer neue<br />

<strong>und</strong> weitere Kreise sich unserer Propagandatätigkeit<br />

anschliessen!<br />

*<br />

„Wenn in dem ehemaligen Bergarbeiter nicht<br />

die letzte Empfindung für Pflicht <strong>und</strong> Ehre des Proletariats<br />

erloschen i s t . . . dann bleibt ihm nur eines<br />

übrig, <strong>und</strong> das ist: sein unheilvolles Wirken zu<br />

lassen <strong>und</strong> von der politischen Bildfläche zu verschwinden,<br />

auf der er die systematische Schädigung<br />

der Arbeiter betreibt <strong>und</strong> wo er sich für alle Zeiten<br />

mit dem Verräternamen befleckt hat". Mit diesem<br />

Urteile der Wiener „Arbeiterzeitung" Uber Herrn<br />

S i m o n S t a r c k stimmen wir, wenn auch von<br />

ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus, v o l l -<br />

s t ä n d i g ü b e r e i n . Der Prozess, der sich da vor<br />

den Schranken des hiesigen Gerichtes abspielte,<br />

war die Tragödie dieses Mannes, seines Lebenswandels,<br />

enthüllte ihn als das, wofür wir ihn stets<br />

gehalten hatten, als einen e h r l o s e n Socialdemokraten,<br />

der „frei" im Ehrgeizstreben, „frei" in der<br />

gemeinen Geldsuchtrafferei, „frei" nur in dem verworfenen<br />

<strong>und</strong> verwerflichen Sinne ist, dass Herr<br />

Simon Starck die Socialdemokratie deshalb, einzig<br />

<strong>und</strong> allein deshalb bekämpfte, weil ihm diese Bekämpfung<br />

ein gutes Geschäft war, mit der sich noch<br />

viele, einträglicne Geschäftchen machen Hessen. Die<br />

Redaktion der „Arbeiterzeitung" hat Simon Starck<br />

durch teils unumstössliche, dokumentarische Beweise<br />

dessen überfühlt, dass er sich um 10.000 K an die<br />

Christlichsocialen, an diese borniert kleinbürgerlichreaktionäre<br />

Paitei wandte; dass er von Streikbrecherbeschaffung<br />

für einen "Kapitalisten durch seine Parteiorganisation<br />

wusste; dass er private, vertrauliche<br />

Geschäftszusammenkünfte mit den ärgsten Feinden<br />

des Proletariats pflog <strong>und</strong> in seinen Parlamentsreden<br />

Männer pries, die er darnach um Geldunterstützung<br />

für die „Freisocialisten" anging. Das ist erbärmlichster<br />

Prinzipienverrat, der gewiss nicht schöner wird durch<br />

die Personalverbrämung mit solchen Elementen w i e<br />

es die Leitner, Schober, Heimann sind, die nun<br />

gegen ihren ehemaligen Kumpan als Verräter von<br />

Parteigeheimnissen auftraten. Selten ist ein ekelhafterer<br />

Sumpf, eine totalere Charaktet Verderbnis<br />

innerhalb der ganzen geistig so w e n i g geklärten<br />

proletarischen Bewegung Österreichs zum Vorschein<br />

gekommen, wie hier, wo oppositionelle Socialdemokraten,<br />

die sich Freisocialisten titulieren, als Verräter<br />

der proletarischen Interessen gebührend charakterisiert<br />

wurden.<br />

Das Eine wollen wir unzweideutig konstatiert<br />

wissen: Diejenige „freisocialistische" Bewegung, die<br />

Herr Starck vertritt, hat nichts, aber niemals etwas<br />

mit demjenigen zu tun gehabt, was theoretisch in<br />

aller Welt als freiheitlicher Socialismus bekannt ist.<br />

Freiheitlicher Socialismus ist Anarchismus, genauer<br />

der anarchistische Socialismus. Stark <strong>und</strong> seine ganze<br />

Organisation hatten mit dieser Idee nichts gemein,<br />

was schon aus dem einen Umstand hervorgeht, dass<br />

ja Stark, ganz ebenso wie die Socialdemokialic, an<br />

der parlamentarischen Taktik teilnahm, diese ausübte,<br />

wiewohl wir doch wissen, dass der freiheitliche<br />

Socialismus den Parlamentarismus g r u n d -<br />

s ä t z l i c h verwirft. In Stark <strong>und</strong> den „Freisocialisten"<br />

haben wir u n z u f r i e d e n e S o c i a l d e -<br />

m o k r a t e n zu erblicken, die gegen die führenden<br />

Persönlichkeiten einen nur gehässigen, persönlichen,<br />

nicht aber prinzipiellen Kampf führten, weil ihre<br />

materiellen Streberinteressen mit jenen der in ihrer<br />

Position bereits gefestigten offiziellen Führer kollidierten.<br />

Darin haben diese in der Tat ein grosses<br />

Glück, dass ihre Gegnerschaft sich meistens aus<br />

persönlich ehrenrührigen Elementen zusammensetzt,<br />

die k e i n e Weltanschauung, sondern nur krasses<br />

Selbstinteresse wider das ebenfalls egoistische<br />

Machtintesse des offiziellen Führertums aufmarschieren<br />

lassen. Es muss aus diesem Gr<strong>und</strong>e ausdrücklich<br />

festgestellt werden — <strong>und</strong> hier unterscheiden wir<br />

uns in der Beurteilung dieses Falles von der „Arbeiterzeitung"<br />

—, dass wir es in Simon Starck, der<br />

nun ein für alle Male seine politische Ehre eingebüsst<br />

hat, mit einem S o c i a l d e m o k r a t e n in<br />

punkto prinzipieller Taktik <strong>und</strong> Theorie zu tun haben,<br />

der als P o l i t i k e r , als ein mit parlamentarischer<br />

„Würde" bekleideter Proletarier seiner Ehre verlustig<br />

ging. Als Proletarier mag Simon Starck einstmals<br />

ein Ehrenmann, in seiner Opposition gegen das<br />

innere Parteigetriebe des socialdemokratischen Führertums<br />

ehrlich gewesen sein; als Politiker aber<br />

wurde er das, was im Wesen der parlamentarischen<br />

Politik gelegen ist, die stets <strong>und</strong> immerdar ein<br />

garstig Lied sein <strong>und</strong> im Maelstrom ihrer Charakterkorrumpierung<br />

noch manchen ehemaligen Idealisten,<br />

der an ihr teilnimmt, verschlingen wird!<br />

Proletarier, Kameraden allerorts — lassen wir<br />

uns nicht täuschen, nicht beirren oder abbringen<br />

von dem wahren Wesensinhalt dieser für die gesamte<br />

sociale Bewegung niederschmetternd beschämenden<br />

Episode! Wir begreifen sehr wohl, dass die<br />

„Arbeiterzeitung" im Gefühle ihres Triumphes über<br />

einen verhassten Gegner hoch aufjubelt. Wir aber,<br />

die wir das Prinzipielle dieser ganzen Frage vom<br />

rein persönlichen Element scheiden, wir wissen,<br />

dass der Vorwurf, der Starck trifft: d i e i d e a l e n<br />

Z i e l e d e s p r o l e t a r i s c h e n E m a n z i p a -<br />

t i o n s k a m p f e s u m m o m e n t a n e r p e r s ö n -<br />

l i c h e r I n t e r e s s e n w i l l e n v e r s c h a c h e r t<br />

zu h a b e n — auf die gesamte parlamentarische<br />

Taktik der Socialdemokratie zurückfällt. Sind die<br />

deutschen Zentrumsleute etwas anderes als unsere<br />

Christlichsocialen? Nein; <strong>und</strong> dennoch gingen die<br />

deutschen Socialdemokraten ihren berüchtigten „Kuhhandel"<br />

ein, gehen ihn jederzeit wieder ein. Und<br />

eine jede Abstimmung im Parlament, bei der die<br />

Socialdemokratie sich der Stimmen bürgerlicher<br />

Parlamentarier zu versichern hat, ist eine Abmachung,<br />

die ganz derselbe Verrat, wie Starck ihn verübte.<br />

Wenn die „Arbeiterzeitung" sich für diese vorliegende<br />

Gelegenheit mit solch schoflen Gesellen, wie<br />

die Leitner. Schober usw. es sind, verband — ist<br />

dies nicht ebenfalls eine grauenhafte Bettgenossenschaft?<br />

Es ist ein S y s t e m , das wir in dem Falle<br />

Starck, dieses Mannes, der noch kurz vor den<br />

Wahlen in seinem Schmutzblatte schreiben konnte:<br />

„Hoch die revolutionäre Sociaildemokratie!" bekämpfen,<br />

<strong>und</strong> als System wollen wir diese ganze<br />

Affäre auf das Piedestal der objektiven Würdigung<br />

gehoben sehen.<br />

Nur wir Anarchisten sind ihrer fähig! Denn<br />

der Fall Starck ist n i c h t n u r ein Beispiel aus<br />

dem „Freisocialistischen" Sumpf. Er ist auch dies,<br />

doch noch weit mehr! Euch, Proletarier, rufen wir<br />

es zu: Beherzigt die Lehre! Der Fall Starck ist eine<br />

Illustration des p a r l a m e n t a r i s c h e n Sumpfes,<br />

der Art <strong>und</strong> Weise, wie in ihm gearbeitet wird!<br />

Mit dem Falle Starck ist nicht nur er allein, mit<br />

ihm ist der gesamte Parlamentarismus als proletarische<br />

Taktik gerichtet!<br />

+<br />

Ein Langes <strong>und</strong> Breites hat uns die socialdemokratische<br />

Presse über die Auführungen des<br />

soc.-dem. Landtagsabgeordneten S e i t z über das<br />

Kapitel „Unterrichtswesen" <strong>und</strong> gegen den christlichsocialen<br />

Minister <strong>und</strong> Reaktionär Gessmann gebracht.<br />

Sowohl der Minister als auch der Abgeordnete sind<br />

uns in dieser Fra^e gleich k o m p e t e n ; nämlich i n -<br />

k o m p e t e n t , da jeder von ihnen nur die agitatorisch-demagogischen<br />

<strong>Ziel</strong>e seiner Partei ausnützte,<br />

die ethischen Prinzipien <strong>und</strong> Forderungen eines<br />

Lehr- <strong>und</strong> Unterrichtssystems wahrer Kultur von<br />

beiden in gleicher Weise unberücksichtigt gelassen<br />

wurden.<br />

In derselben Sitzung des Landtages — am 15.<br />

Jänner — wurde der L a n d e s v o r a n s c h l a g<br />

für das Jahr 1908 vollständig erledigt. Die „Arbeiterzeitung"<br />

sagt, nachdem sie die spaltenlangen Ausführungen<br />

Seitz's <strong>und</strong> jene von Gessniann wiedergibt,<br />

wörtlich das folgende:<br />

„Hierauf wurden nach u n w e s e n t l i c h e n<br />

Debatten auch die ü b r i g e n K a p i t e l des<br />

Voranschlages angenommen <strong>und</strong> ebenso auch der<br />

Rechnungsabschluss für 1906. Den Schluss bildete<br />

natürlich eine Dankesk<strong>und</strong>gebung f ü r den<br />

Landesfinanzreferenten".<br />

Das ist alles! Kein Wort darüber, w o r a u s<br />

die übrigen Kapitel bestanden <strong>und</strong> in w i e f e r n<br />

sie unwesentlich waren, somit eine Debatte seitens<br />

der socialdemokratischen Abgeordneten nicht herausforderten.<br />

Wie „unwesentlich" diese weiteren Punkte des<br />

Voranschlages waren <strong>und</strong> weshalb die „Arbeiterzeitung"<br />

sie mit Stillschweigen übergeht, darüber<br />

belehrt uns die — bürgerliche Presse. Wir entnehmen<br />

ihr das folgende:<br />

„Die Kapitel M i l i t ä r w e s e n <strong>und</strong> Verschiedene<br />

Ausgaben w e r d e n o h n e D e b a t t e<br />

a n g e n o m m e n u n d s o d a n n d a s B u d -<br />

g e t a l s g a n z e s s a m t d e m v o m F i n a n z -<br />

a u s s c h ü s s e b e a n t r a g t e n L a n d e s -<br />

f o n d s z u s c h I a g b e i d e n d i r e k t e n<br />

S t e u e r n f ü r d a s J a h r 1908 a n g e n o m -<br />

m e n " .<br />

Begreifen wir nun, warum die „Arbeiterzeitung<br />

ihren Lesern die Mitteilung über die „übrigen Kapitel<br />

des Voranschlages" u n t e r s c h l ä g t ? Es ist<br />

klar <strong>und</strong> deutlich genug: Der soc.-dem. Landtagsabgeordnete<br />

hat, gemeinsam mit den übrigen bürgerlichen<br />

Parteien, o h n e j e d w e d e D e b a t t e<br />

für die Annahme der Ausgaben für das M i l i t ä r -<br />

w e s e n <strong>und</strong> überhaupt für die Annahme des<br />

„Budget als Ganzes" einmütig mit den reaktionären<br />

Abgeordneten gestimmt!<br />

Wer als Socialist die Ausgaben für das Militärwesen<br />

<strong>und</strong> den Militarismus überhaupt k r i -<br />

t i k l o s hinnimmt, ist ein Verräter an den Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />

des Socialismus. Die Regierung hat es<br />

da nicht mehr mit einem geschworenen Feind der<br />

bürgerlichen Gesellschaft zu tun, sondern mit einem<br />

direkten Förderer derselben. Socialist sein, bedeutet<br />

A n t i militarist sein; <strong>und</strong> will man für die Socialdemokratie<br />

<strong>und</strong> ihre bewusste Hinterslichtführung<br />

der Arbeitermassen — siehe obiges Beispiel! —<br />

nicht den Milderungsgr<strong>und</strong> der Unwissenheit gelten<br />

lassen, dann muss ihr immer <strong>und</strong> immer wieder<br />

das Schandmal schmählichsten V e r r a t e s gegenüber<br />

dem Socialismus auf die Stirne gebrannt werden.<br />

Böhmen.<br />

Brüx. Ausgewiesen aus den Bezirkshauptmannschaften<br />

von Brüx, Komotau <strong>und</strong> Dux wurde<br />

der Genosse <strong>und</strong> Bergarbeiter A d o l f C h a r v a t h ,<br />

nachdem er eine Strafhaft von sechs Wochen Arrest<br />

abgebüsst hatte. Sein Delikt bestand darin, dass er<br />

sich erlaubte, an der humanen Institution des Militarismus<br />

— vgl. den jüngsten Fall des Dragoners<br />

Franz Walcher, der sich wegen Misshandlungen<br />

durch den . . . Leutnant Kaiser selbst entleibte!<br />

— Kritik zu üben. Selbst das Ministerium des Innern<br />

musste eingestehen, dass es sich hier nur um<br />

die Bek<strong>und</strong>ung einer Geistesanschauung handelte,<br />

aber das Inquisilions-Mittelalterliche des Reichsgerichtes<br />

trug den Sieg davon, da es ja für einen als<br />

Agitator bekannten Anarchisten nur das Recht einer<br />

mit geistigen Waffen n i c h t kampfesfähigen Justiz<br />

gibt! Anerkennend muss hervorgehoben werden,<br />

dass, mit wenigen Ausnahmen, die gesamte bürgerliche<br />

<strong>und</strong> socialdemokralische Presse ihre Empörung<br />

über das Urteil in kräftigen, erfrischend deutlichen<br />

Worten aussprach. Freilich — denn dieses Urteil<br />

predigt in tausendzüngiger Sprache die Wahrheitsbeweise<br />

des, Anarchismus, denen sich kein ehrlicher<br />

Gegner verschliessen kann. Auch dafür trug das<br />

Re chsgericht Sorge <strong>und</strong> für letzteres sind wir ihm<br />

eigentlich zu Dank verpflichtet. —<br />

Ungarn.<br />

Die ungarländische soc.-dem. Partei hat soeben<br />

das von Erwin S z a b o, Arnold D a n i e l <strong>und</strong> Julius<br />

R a c z entworfene, neue „Agrarprogramm" veröffentlicht.<br />

Dasselbe enthält so viele wichtige <strong>und</strong>,<br />

mit geringer Ausnahme, leider ausgesprochene unzweckmässige<br />

Massnahmen in punkto Agrarfrage<br />

<strong>und</strong> Bauernstand, dass wir dasselbe einer eingehenden<br />

Würdigung unterwerfen werden.<br />

Frankreich.<br />

Am 15. Jänner wurde vor dem Pariser G e -<br />

schworenengerichte der Prozess gegen die „Volks-


stimme", Wochenblatt der französischen revolutionären<br />

Gewerkschaftler verhandelt. Wie jedesmal zur<br />

Zeit der Assentierungen <strong>und</strong> dem Einrücken der<br />

Rekruten hatte das Blatt im Oktober vorigen Jahres<br />

eine illustrierte antimilitaristische Nummer herausgegeben,<br />

die wegen drei Zeichnungen <strong>und</strong> einem<br />

Artikel beschlagnahmt wurde. Für diese wurden nun<br />

der Zeichner, unser Genosse G r a n d j o u a n <strong>und</strong><br />

der verantwortliche Redakteur des Blattes V i g n a u d ,<br />

wegen Beleidigung der Armee <strong>und</strong> Aufreizung zum<br />

Ungehorsam vor Gericht gestellt.<br />

Jenes erste inkriminierte Bild bezieht sich auf<br />

die Ereignisse in Südfrankreich im Juli 1907, wo in<br />

Narbonne ein Kürassierregiment mit barbarischer<br />

Wut das friedlich demonstrierende Volk niederritt<br />

<strong>und</strong> mit Revolvern beschoss. Ein Soldat dieses Regimentes<br />

wird bei seiner Heimkehr mit Schimpf <strong>und</strong><br />

Fluch von seinen proletarischen Angehörigen aus<br />

dem Hause gejagt. In den zwei anderen Zeichnungen<br />

sehen wir die Armee einerseits im Kriege, um<br />

den Kapitalisten in „uncivilisierten" Ländern neue<br />

Märkte — neue Ausbeutungsobjekte — zu erwerben;<br />

<strong>und</strong> im Streik als Wächter des Eigentums der besitzenden<br />

<strong>und</strong> herrschenden Klasse.<br />

Es ist sehr interessant, dass dies in Frankreich<br />

der e r s t e F a l l ist, dass eine bildliche Darstellung<br />

wegen Aufreizung verfolgt wird. Unter dem Königtum<br />

<strong>und</strong> der zweiten Republik (wo das Volk nun<br />

keinerlei „politische Rechte" hatte!) unter der Diktatur<br />

<strong>und</strong> dem Kaiserreich Napoleons III., unter der<br />

Herrschaft der Besieger der Kommune — nie ist<br />

dieser Fall vorgekommen! Wir mussten erleben,<br />

dass die „ s o c i a l i s t i s c h - r a d i k a l e n R e p u -<br />

b l i k a n e r " ans Ruder kamen, dass der einstige<br />

radikale Liberale Clemenceau Ministerpräsident<br />

wurde, in dessen Kabinet zwei Mitglieder der „französischen<br />

socialistischen Arbeiterpartei" (Viviani<br />

<strong>und</strong> Aristide Briand, einst"der stärkste Vorkämpfer<br />

für Generalstreik, militärische Dienstverweigerung<br />

<strong>und</strong> bewaffneten Aufstand) Platz nehmen — damit,<br />

nebst der massenhaften Einkerkerung der Vorkämpfer<br />

der Arbeiter, die Zensur auch über die Kunst<br />

verhängt werde. Das ist doch der schönste Beweis<br />

für die Notwendigkeit <strong>und</strong> die Segnungen der „Eroberung<br />

der politischen Macht!"<br />

Der inkriminierte Artikel „An die jungen Soldaten"<br />

ist ebenfalls sehr harmlos <strong>und</strong> lautet in seinen<br />

Hauptteilen wie folgt:<br />

„Junger Soldat, diese Höhle, die sich Kaserne<br />

nennt, verlangt nach dir. Sie will dich für<br />

zwei Jahre haben. Die St<strong>und</strong>e ist für dich gekommen,<br />

wo du die Blutsteuer bezahlen musst.<br />

Du wirst also einen neuen Menschen anziehen;<br />

deine Arbeiterkleider wirst du mit dem<br />

Soidatenputz vertauschen, <strong>und</strong> statt den Hammer,<br />

die Hacke oder die Schaufel zu handhaben, wirst<br />

du das Gewehr in die Hand bekommen.<br />

Wird dein Herz, dein Verstand auch einen<br />

neuen Menschen anziehen?<br />

Wir glauben es nicht.<br />

Warum solltest du dich ändern, junger Sold<br />

a t ? Wirst du in der Kaserne nicht dasselbe<br />

sein, was du in der Werkstatt der Fabrik, auf<br />

dem Felde gewesen bist — der Sklave des<br />

Kapitals?<br />

Man wird dir sagen, junger Soldat, dass<br />

du deshalb in der Armee dienst, um die Grenze<br />

des Vaterlandes zu verteidigen. Aber wer ist<br />

denn an der anderen Seite dieser Grenze?<br />

Siehe, was in Marokko vorgeht: französische<br />

Soldaten brechen ins Land ein, einzig <strong>und</strong><br />

allein zum Profit der Kapitalisten".<br />

In diesen <strong>und</strong> ähnlichen, rein humanistischen<br />

Ausführungen wollte der Staatsanwalt „Aufreizung<br />

zum militärischen Ungehorsam" finden. Er gab sich<br />

redlich Mühe, um den Geschworenen durch das<br />

„rote Gespenst" des revolutionären Antimilitarismus<br />

<strong>und</strong> Antipatriotismus bange zu machen <strong>und</strong> sie so<br />

zur Verurteilung der Angeklagten, zu bewegen.<br />

Unter anderem sagte er, als Beweis, dass die französischen<br />

Antimilitaristen nur ihr eigenes „Vaterland"<br />

dem Verderben weihen: „Auf dem Stuttgarter<br />

Kongress haben sich die deutschen Socialdemokraten<br />

gegen die Ideen des Antimilitarismus <strong>und</strong> Antipatriotismus<br />

ausgesprochen <strong>und</strong> uns zu verstehen<br />

gegeben, dass im Kriegsfalle kein Socialist seine<br />

Militärpflicht versäumen würde <strong>und</strong> dass alle gegen<br />

den „Erbfeind" zu Felde ziehen werden". Die deutsche<br />

Socialdemokratie kann stolz auf dieses Lob sein!<br />

Das Schwurgericht hat Grandjouan freigesprochen<br />

<strong>und</strong> Vigneaud — wegen der Veröffentlichung<br />

der freigesprocheen Zeichnungen Grandjouans!<br />

— zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt.<br />

Die „Voix du Peuple" gibt dieser Tage wieder<br />

eine illustrierte antimilitaristische Nummer heraus.<br />

Deutschland.<br />

Fast wie eine Ironie klingt es, wenn man in<br />

Bernsteins vorliegendem, zweiten Band über die<br />

„Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung" von<br />

dem v e r g a n g e n e n Wüten des bekannten deutschen<br />

Socialistengesetzes liest <strong>und</strong> daran die Verfolgungen<br />

denen unsere deutschen Kameraden ausgesetzt<br />

sind, misst. Allerdings, für die Socialdemokraten<br />

finden dieselben nicht mehr in dem Grade<br />

statt wie ehedem; sie sind zu zahm geworden. Anders<br />

ist es mit den Anarchisten; aus allen Teilen Deutschlands<br />

laufen unaufhörlich Nachrichten ein, die von<br />

den entsetzlichsten Verfolgungen, von den empörendsten<br />

Justizübergriffen gegenüber unserer Bewegung<br />

berichten, wie erst letzthin die Verurteilung<br />

Kielmeyer zu 1 Jahr, usw. Was bezwecken die deutschen<br />

Polizei- <strong>und</strong> Richtermatadoren eigentlich damit?<br />

Wollen sie mit aller Gewalt die Propaganda der<br />

Aufklärung u n m ö g l i c h machen <strong>und</strong> eine terroristische<br />

Bewegung förmlich aus dem Boden stampfen?<br />

Den Anarchismus auszurotten, das wird ihnen<br />

nie gelingen; den Kampf zwischen Autorität <strong>und</strong><br />

Antiautorität zu verschärfen, gewaltsamere Formen<br />

annehmen zu lassen — das allein wird die Frucht<br />

ihres Wirkens sein.<br />

Angesichts solch wackeren Kampfes unserer<br />

Kameraden — was ist dagegen die lumpige Wahlrechtsdemonstration<br />

der Socialdemokratie? — ist es<br />

interessant zu beobachten, dass die Wiener „A rb<br />

e i t e r z e i t u n g " gerade in Bezug auf Deutschland<br />

von einer „ n a h e n V e r w a n d s c h a f t v o n<br />

A n a r c h i s m u s u n d P o l i z e i s p i t z e l "<br />

spricht. (Vgl. Besprechung des Bernsteinschen Buches).<br />

Der elende Pressbandit, der diese Ausdrücke<br />

prägte <strong>und</strong> dank ihnen, ein gut nährendes Gehalt<br />

bezieht, steht unter aller Kritik <strong>und</strong> ist des Fusstrittes<br />

selbst unseres einfachsten Kameraden Deutschlands,<br />

der trotz aller Verfolgungen seinem I d e a l<br />

treu bleibt, unwürdig!<br />

Briefe unserer Leser.<br />

I.<br />

Wien. Schamröte bedeckt mein Gesicht, wenn<br />

ich mir das Vorgefallene vor Augen führe, das ich<br />

berichten will, denn ich schäme mich für meine<br />

Mitmenschen, für meine Klassengenossen, die sich<br />

durch Verhetzungen seitens ihrer Führer zu Handlungen<br />

verleiten lassen, die schmachvoll sind. Ich<br />

kolportiere den „W. f. A." im Arbeiterheim, da<br />

kommen zwei „Ordner" an mich heran mit der barschen<br />

Aufforderung, das Lokal sofort zu verlassen.<br />

Ich hatte keine Zeit etwas zu erwidern; einer packte<br />

mich beim Rockkragen <strong>und</strong> unter Püffen <strong>und</strong> Stössen<br />

wurde ich hinausgeworfen. Aufgehetzt von dieser<br />

Polizeiseele, verfolgte mich eine Horde dieser verblendeten<br />

Fanatiker, mich stossend <strong>und</strong> beschimpfend.<br />

Auf der Strasse umringten sie mich; ein<br />

Subjekt mit der Physiognomie eines Mastbürgers,<br />

es war wahrscheinlich der Wirt, trat an mich mit<br />

den Worten heran: „Machen Sie, dass sie fortkommen,<br />

sonst hau' ich Ihnen a paar runter". Dieser<br />

Eibärmliche hätte dies ganz wahrscheinlich zur<br />

Ausführung gebracht, wenn ich ihn nicht in ruhiger<br />

<strong>und</strong> bestimmter Weise in die gebührenden Schranken<br />

des Anstands verwiesen hätte. So sieht es aus<br />

in den Reihen derjenigen, die sich dreist Socialisten<br />

nennen <strong>und</strong> dem Volke die „Freiheit" zu bringen<br />

versprechen. Genossen! Es ist höchste Zeit, den<br />

Kampf zu führen gegen solche Dummheit <strong>und</strong><br />

Niedertracht. B. B.<br />

II.<br />

Beifolgende Schriftstücke, sowohl im Jargon als<br />

auch im Gebahren eine blöde <strong>und</strong> niederträchtige<br />

Nachäffung des bestehenden Staates, bringen wir<br />

auf Wunsch des Adressaten, eines ergrauten Socialdemokraten<br />

zum Abdruck. David Jeglitschs Verbrechen<br />

besteht darin, dass er die Prinzipien des<br />

wirtschaftlichen Kampfes im Gegensatz zum Schmarotzerinteresse<br />

der soc.-dem. Politikanten <strong>und</strong> der<br />

Gewerkschaftsbureaukratie entwickelte <strong>und</strong> propagierte.<br />

Wehe jedem Prinzip der Toleranz, der Geistesfreiheit,<br />

wenn die Socialdemokratie je zur Herrschaft<br />

gelangen sollte. Die Parvenüs, die Emporkömmlinge<br />

sind stets ärger als die früheren Despoten!<br />

Hier der Wortlaut der beiden Briefe:<br />

Herrn David Jeglitsch, Wien X. Mit Gegenwärtigem<br />

teile ich Ihnen im Auftrage des Verbandsvorstandes<br />

mit, dass Sie wegen grober Beleidigung<br />

von Funktionären der politischen Organisation,<br />

welche das Ansehen der Metallarbeiter herabwürdigt,<br />

aus dem Verbände ausgeschlossen wurden.<br />

Gegen die Ausschliessung steht Ihnen das<br />

Recht der Berufung an dem nächsten Parteitag zu.<br />

Dies zur geil. Kenntnis bringend, zeichnet für<br />

das „Niederösterreichische Sekretariat des österreichischen<br />

Metallarbeiterverbandes", Wien V,2,<br />

Kohlgasse 27, Telefon Nr. 8643 Hans Drechsler m. p.<br />

Herrn David Jeglitsch bringt Unterfertigter<br />

folgendes zur Kenntnis: Der Vorstand des Vereines<br />

„Arbeiterheim" als Besitzer der Konzession <strong>und</strong><br />

Herr Karl Lob als Pächter derselben, untersagen<br />

Ihnen von nun ab den Zutritt in das Heim <strong>und</strong><br />

wird Ihnen eröffnet, dass Sie weder bedient noch<br />

dort geduldet werden <strong>und</strong> zwar aus Gründen der<br />

im Hause notwendigen Ordnung <strong>und</strong> Ruhe. Sollten<br />

Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, so haben<br />

alle Funktionäre, Wirt <strong>und</strong> Ordner den Auftrag,<br />

Sie sowohl m i t Z u h i l f e n a h m e d e r P o l i z e i<br />

als auch mittelst Brachialgewalt zu entfernen <strong>und</strong><br />

wird in jedem einzelnen Falle die Anzeige wegen<br />

Hausfriedensbruch gegen Sie angestrengt weiden,<br />

sowie Sie alle für Sie unangeneh nen Konsequenzen<br />

aus einem Dawiderhandeln ziehen müssten.<br />

Wir geben uns der Hoffnung hin, dass Sie<br />

vernünftig genug sein werden, da wir mit aller<br />

Entschiedenheit entschlossen sind, allem Vorhergesagten<br />

den nötigen Nachdruck zu verleihen <strong>und</strong> ein<br />

Dawiderhandeln Ihrerseits nur für Ihre Person von<br />

schlechten Folgen begleitet sein würde. Verein „Arbeiterheim",<br />

Wien X, Luxenburgerstr. 8—10. Für<br />

den Vorstand Franz Feilnzeiter, Obmann.<br />

III.<br />

Marburg a. d. Drau.<br />

Liebwerte Fre<strong>und</strong>e! Im Auftrage hierorfiger<br />

Kameraden überbringe ich Euch die herzlichsten<br />

Glückwünsche zu den bisherigen Nummern des<br />

„W. f. A." Wir wissen unsere Pflicht, das Blatt zu<br />

unterstützen, vollauf zu würdigen. Seit dem Jahre<br />

1893, als der Prozess Rismann-Hertschal stattfand,<br />

sind die meisten Alten eingenickt, wir bedürfen der<br />

frischen Kräfte. Wir machen Euch deshalb den Vorschlag,<br />

Euch mit den Kameraden von Graz, Klagenfurt<br />

usw. in Verbindung zu setzen über den Plan<br />

einer A g i t a t i o n s t o u r, die wir hier sehr gerne<br />

unterstützen werden. Des weiteren ersuchen wir,<br />

uns neben den festen Abonnementsexemplaren auch<br />

noch Agitationsnummern des „W. f. A." zur Verfügung<br />

zu stellen. Mit Bewegungsgruss F. P.<br />

(Anmerkung der Redaktion. Mit Freuden greifen<br />

wir die prächtige Anregung unserer Genossen bezüglich<br />

der mündlichen Propaganda <strong>und</strong> Agitationstour<br />

auf <strong>und</strong> ersuchen die Genossen aller Kronländer<br />

— <strong>und</strong> die Zirkulation unseres Blattes erstreckt<br />

sich bereits über alle! — sich über diesen<br />

Plan auszusprechen <strong>und</strong> uns Mitteilungen über ihre<br />

Meinung zugehen zu lassen. Alles weitere werden<br />

wir hier besorgen!)<br />

V e r e i n s k a l e n d e r .<br />

Dienstag, den 18. Februar. Versammlung der<br />

Allg. Gewerkschaftsföderation des XIV. Bezirkes in<br />

Schlor's Lokalitäten, Märzstr. 33, um 8 Uhr abends.<br />

Tagesordnung: Philosophie <strong>und</strong> Ideal des Anarchismus.<br />

Sonntag, den 23. Februar. Öffentl. Volksversammlung<br />

des X. Bez. Vormittags 9 Uhr. Tagesordnung:<br />

Die Prinzipien der Socialdemokratie unc<br />

ihre praktische Betätigung.<br />

Sonntag, den 23. Februar. Vereinsversammlung<br />

der „Allgemeinen Gewerkschaftsföderation"<br />

V. Einsfedlerg. öO, um 6 Uhr abends. Tagesordnung<br />

Generalstreik <strong>und</strong> politische Aktion.<br />

Montag, den 24. Februar. Vereinsversammlung<br />

des II. <strong>und</strong> XX. Bez. Tagesordnung: Marxis<br />

mus <strong>und</strong> Bodenreform. (Näheres postalisch).<br />

Dienstag, den 25. Februar. Vereinsversammlung<br />

des XIV. Bez. in Schlor's Lokalitäten, März<br />

Strasse 33, um 8 Uhr abends. Tagesordnung: Ale<br />

xander Herzen's Memoiren; seine Beziehungen zun<br />

Marxismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Ö f f e n t l i c h e E r k l ä r u n g .<br />

Herr Michel Deutsch! Am 30. Jänner erklärte<br />

Sie, als Zentralobmannstellvertreter des Freidenker<br />

Vereines für Niederösterreich, laut Aussage der Delegierten<br />

der gewesenen Ortsgruppe XIV. obige<br />

Vereines, dass wir Anarchisten eine „Starckbande<br />

<strong>und</strong> „Streikbrecher" seien, .starckische Broschüre<br />

<strong>und</strong> Zeitungen" feilbieten <strong>und</strong> uns „unter dem Deckmantel<br />

des Freidenkertums eingeschlichen" hätten<br />

Solange Sie, Herr Deutsch, diese Behauptungen<br />

nicht durch Beweise öffentlich erhärten, erkläre ich<br />

Sie für einen erbärmlichen Ehrabchneider <strong>und</strong> Verleumder.<br />

Moritz Lickier, Holocherg. 33, III/1<br />

Wien XIV.


- 9 -<br />

Wird die Regierung durch eine Klasse, eine Partei<br />

bestimmt? Dann sind es ja doch nur die Interessen <strong>und</strong><br />

Ideen d i e s e r K l a s s e , die siegen werden, <strong>und</strong> die<br />

Interessen der übrigen Menschen werden denen geopfert.<br />

Oder endlich: wird die Regierung durch das allgemeine<br />

Wahlrecht erwählt? Dann ist das einzig Ausschlaggebende<br />

die Zahl der Wähler, <strong>und</strong> diese beweist doch<br />

keineswegs die Gerechtigkeit, die Weisheit, die Fähigkeiten<br />

der Erwählten. Diejenigen werden oftmals gewählt<br />

werden, die das Volk am besten betrugen können, <strong>und</strong><br />

die Minorität, die möglicherweise die Hälfte der Wähler<br />

ausmacht einen einzigen Menschen abgerechnet —<br />

die wird geopfert. Dazu kommt noch, dass man bisher<br />

kein Wahlsystem hat finden können, durch das gesichert<br />

wäre, dass die Gewählten wenigstens wirklich die Mehrzahl<br />

der Wähler verträten?<br />

Es gibt viele verschiedene Theorien, mit welchen<br />

man das Dasein der Regierung zu erklären <strong>und</strong> zu<br />

rechtfertigen sucht. Im Gr<strong>und</strong>e genommen sind alle auf<br />

der — eingestandenen oder nicht eingestandenen —<br />

Voraussetzung aufgebaut, dass die Interessen der verschiedenen<br />

Menschen einander entgegengesetzt sind <strong>und</strong><br />

dass eine äussere, oberste Gewalt notwendig ist, um die<br />

Einen zu zwingen, die Rechte der Anderen zu achten,<br />

<strong>und</strong> um für sie alle solche Regeln aufzustellen, die, so<br />

weit es geht, die sich bekämpfenden Interessen versöhnen,<br />

<strong>und</strong> jedem so viel Befriedigung <strong>und</strong> so wenig Nachteil<br />

bringen wie nur möglich,<br />

Die Verteidiger der Herrschaft sprechen folgendermassen:<br />

„Wenn die Interessen, die Bestrebungen, die<br />

„ANARCHIE" von Enriko M a l a t e s t a . 2


- 10 -<br />

Wünsche eines Menschen im Gegensatze zu jenen eines<br />

anderen Menschen oder der ganzen Gesellschaft stehen,<br />

wer wird dann das Recht <strong>und</strong> die Macht haben, den<br />

Einen zu zwingen, die Interessen des Anderen zu achten ?<br />

W e r könnte es verhüten, dass ein Mensch den allgemeinen<br />

Willen verletzt? Die Freiheit eines jeden — so<br />

sagen sie — ist begrenzt durch die Freiheit der übrigen<br />

Menschen; aber wer wird diese Grenzen festsetzen <strong>und</strong><br />

beschützen? Die natürlichen Gegensätze der Interessen<br />

<strong>und</strong> Leidenschaften machen die Regierung notwendig<br />

<strong>und</strong> rechtfertigen die Herrschaft, die den gesellschaftlichen<br />

Kampf milder <strong>und</strong> einem jeden die Grenzen seiner<br />

Rechte <strong>und</strong> Pflichten anweist."<br />

Das ist die Theorie. Aber die Theorien müssen<br />

sich, um wahr zu sein, auf den Tatsachen aufbauen <strong>und</strong><br />

dieselben erklären können; <strong>und</strong> man weiss, dass besonders<br />

in den socialen Fragen die Theorien meistens dazu<br />

erf<strong>und</strong>en werden, um die Vorrechte der Herrschenden zu<br />

verteidigen <strong>und</strong> die Unterdrückten zur geduldigen Ertragung<br />

dieser Bedrückung zu zwingen.<br />

Sehen wir also lieber die Tatsachen an.<br />

In der ganzen Geschichte der Menschheit, eben so<br />

wie heute, ist die Regierung e n t w e d e r die gewaltsame,<br />

brutale, willkürliche Herrschaft einiger Menschen<br />

über die Masse des Volkes, o d e r sie ist ein Werkzeug<br />

um die Macht <strong>und</strong> die Vorrechte derer zu bewahren,<br />

die durch Kraft, List oder Erbschaft alles, was zum Leben<br />

notwendig ist — besonders den Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden — in ihre<br />

eigenen Hände gebracht haben <strong>und</strong> durch diesen Reichtum<br />

das Volk in Knechtschaft halten <strong>und</strong> für sich arbeiten lassen.


— 11 —<br />

Man unterjocht die Menschen auf zweierlei Art;<br />

entweder unmittelbar durch die rohe Kraft, die körperliche<br />

Gewalt; oder auf Umwegen, indem man ihnen<br />

alles wegnimmt, was sie zum Leben brauchen <strong>und</strong> sie<br />

so zur Ohnmacht verdammt. Die erste Art ist der Ursprung<br />

der R e g i e r u n g , der p o l i t i s c h e n Macht<br />

überhaupt; die andera Art ist der Ursprung des R e i c h -<br />

t u m s , der wirtschaftlichen Vorrechte.<br />

Es gibt zwar noch eine dritte Art, um die Menschen<br />

zu bedrücken; nämlich indem man ihren Verstand<br />

<strong>und</strong> ihre Gefühle unterdrückt. Das ist die religiöse, die<br />

priesterliche Herrschaft. Aber so wie der sogenannte<br />

„Geist" ein Ergebniss der materiellen Kräfte ist, so ist<br />

die Lüge, <strong>und</strong> die Institutionen die den Zweck haben,<br />

die Lüge zu verbreiten, nur eine Folge der wirtschaftlichen<br />

Vorrechte, <strong>und</strong> ihr Zweck ist nur diese Vorrechte<br />

zu schützen <strong>und</strong> zu befestigen.<br />

In den ursprünglichen Gesellschaftsgruppen, die<br />

nur aus wenigen Menschen bestehen, <strong>und</strong> wo die Beziehungen<br />

der Mitglieder zu einander einfach sind, sind<br />

die b f<br />

iden Gewalten, die politische <strong>und</strong> die wirtschaftliche,<br />

in denselben Händen, oft in der Hand eines einzigen<br />

Menschen, vereinigt. Dieses ist der Fall, wenn<br />

irgend ein Umstand die Entwickelung der Solidarität,<br />

der gegenseitigen Hilfe verhindert oder zerstört hat, <strong>und</strong><br />

in Folge dessen die Herrschaft des Menschen über den<br />

Menschen zustande gekommen ist. — In diesen Gesellschaften<br />

haben die Herrschenden durch ihre Kraft die<br />

übrigen Menschen besiegt <strong>und</strong> eingeschüchtert; <strong>und</strong> so<br />

verfügen sie über die Person <strong>und</strong>.die Besitztümer der


- 12 —<br />

Besiegten, zwingen dieselben, ihnen zu dienen, für sie<br />

zu arbeiten <strong>und</strong> ihnen in allem den Willen zu tun. Sie<br />

sind Besitzer, Gesetzgeber, Könige, Richter <strong>und</strong> Henker<br />

in einem. —<br />

Aber dieser Despotismus wird unmöglich, sobald<br />

die Gesellschaft grösser wird, die Bedürfnisse sich vermehren<br />

<strong>und</strong> die Beziehungen der Menschen zu einander<br />

verwickelter werden. Entweder müssen die Herrschenden,<br />

um ihre Macht zu sichern, oder aus Bequemlichkeit,<br />

oder weil sie nicht anders können, sich auf eine bevorzugte<br />

Klasse stützen — das heisst, auf eine Gruppe von<br />

Menschen, die dieselben Interessen haben wie sie — ;<br />

oder sie müssen dulden, dass ein jeder sein Leben so<br />

einrichtet, wie er kann ; <strong>und</strong> sie behalten nur die Oberaufsicht<br />

für sich, das heisst, das Recht, einen jeden so<br />

weit wie möglich auszubeuten <strong>und</strong> die Befriedigung ihrer<br />

Eitelkeit des Kommandierens. So wächst unter dem<br />

Schutze der Regierung, mit ihrer Mithülfe — <strong>und</strong> oft<br />

ohne dass sie etwas darüber weiss — das Privateigentum,<br />

die besitzende Klasse empor. Mit der Zeit vereinigt<br />

diese in ihren Händen die Produktionsmittel (Boden,<br />

Maschinen, Werkzeuge u. s. w.), die wahren Quellen<br />

des Lebens: Landwirtschaft, Industrie, Handel etc. Sie<br />

bildet schliesslich eine Macht, der es, durch die vielfachen<br />

Interessen die dieselbe umfasst, schliesslich immer<br />

gelingt, die politische Macht, mehr oder weniger offenk<strong>und</strong>ig<br />

zu ihren Diensten zu zwingen <strong>und</strong> aus der Regierung<br />

den Gendarm der besitzenden Klassen zn machen.<br />

Diese Erscheinung hat sich mehrmals in der G e -<br />

schichte wiederholt. Ein jedes Mal, wenn durch eine


— 13 -<br />

Eroberung oder ein kriegerisches Unternehmen die rohe<br />

Gewalt in der Gesellschaft gesiegt hat, haben die Sieger<br />

versucht, in ihren Händen die Regierung <strong>und</strong> den Besitz<br />

zu vereinigen. Aber die Regierung musste sich immer<br />

wieder mit der herrschenden Klasse in's Einvernehmen<br />

setzen; sie war nicht im Stande, die ausgedehntere Produktion<br />

zu überwachen <strong>und</strong> zu leiten; <strong>und</strong> so entwickelte<br />

sich wieder das Privateigentum, die zwei Gewalten (politische<br />

<strong>und</strong> wirtschaftliche) trennten sich von einander,<br />

<strong>und</strong> die Machthaber, die Regierenden, wurden abhängig<br />

von denen, die die Quelle der Macht, den Reichtum,<br />

besitzen. Die Regierung wird immer, unvermeidlich, zum<br />

Wächter des Eigentums.<br />

Aber diese Erscheinung ist nie so stark zu Tage<br />

getreten wie heutzutage. Die Steigerung der Produktions<br />

fähigkeit, der riesige Aufschwung des Handels, die unverhältnissmässig<br />

grosse Macht des Geldes, <strong>und</strong> die<br />

ganze wirtschaftliche Entwicklung, die durch die Entdeckung<br />

Amerika's, die Erfindung der Maschinen etc.<br />

entstanden ist — all das hat die kapitalistische Klasse<br />

so mächtig gemacht, dass sie sich nicht mit der Unterstützung<br />

begnügt, die die Regierung ihr bietet; sie will,<br />

dass die Regierung aus ihren eigenen Reihen hervorgehen<br />

soll. Eine Regierung, die im Recht der Eroberung<br />

ihren Ursprung hatte (im „göttlichen Recht" sagen die<br />

Könige <strong>und</strong> Priester), benimmt sich — wenn auch die<br />

Umstände sie zum Diener der kapitalistischen Klasse<br />

gemacht hatten — doch immer hochmütig <strong>und</strong> verächtlich<br />

gegen ihre früheren reich gewordenen Sklaven,<br />

<strong>und</strong> gegen ihre Gelüste nach Freiheit <strong>und</strong> Macht. Diese


- 14 —<br />

Regierungen waren wohl die Verteidiger, die Gendarmen<br />

der Besitzenden, aber sie waren von der Art Gendarmen,<br />

die eine hohe Meinung von sich haben <strong>und</strong> sich<br />

frech gegen die Leute benehmen, die sie begleiten <strong>und</strong><br />

beschützen müssen — wenn sie dieselben nicht an<br />

einer einsamen Stelle des <strong>Weg</strong>es umbringen <strong>und</strong> berauben.<br />

Die kapitalistische Klasse ist immer bestrebt, sich<br />

von diesem „Schutz" freizumachen <strong>und</strong> durch mehr oder<br />

weniger gewalttätige Mittel ist es ihr (in den „konstitutionellen<br />

Staaten") gelungen, an Stelle dieser Regierung<br />

eine Regierung zu setzen, die sie selbst wählt, die aus<br />

ihren eigenen Mitgliedern besteht, über die sie eine<br />

fortwährende Aufsicht ausübt, <strong>und</strong> die eigens dafür organisiert<br />

ist, um die Besitzenden, die Reichen gegen die<br />

Forderungen der Enterbten, der Armen zu schützen.<br />

D i e s e s i s t d e r U r s p r u n g d e s h e u t i g e n<br />

P a r l a m e n t a r i s m u s .<br />

Die Regierung besteht heute vollständig aus Besitzenden<br />

<strong>und</strong> aus solchen Leuten, die ihnen dienen;<br />

<strong>und</strong> darum steht sie volkommen zu Diensten der Besitzenden;<br />

so sehr, dass die Allerreichsten unter ihnen<br />

sich nicht einmal die Mühe nehmen, selbst an der Regierung<br />

teilzunehmen. Ein Rothschild hat es nicht nötig,<br />

Abgeordneter oder Minister zu sein; es genügt ihm, dass<br />

die Abgeordneten <strong>und</strong> Minister ihm zur Verfügung stehen.<br />

In manchen Ländern hat das Proletariat, dem N a -<br />

men nach, das Recht, mehr oder weniger an der W a h<br />

der Regierung mitzuwirken. Es ist dies ein Zugeständnie<br />

der Bourgeoisie an das Volk; entweder um seine<br />

Hilfe im Kampf gegen die Macht des Königtums oder


- 15 -<br />

der Aristokratie zu erkaufen; oder um die Gedanken<br />

der Unterdrückten von ihrer tatsächlichen Befreiung abzuwenden,<br />

indem sie ihnen e i n e n S c h e i n von Freiheit<br />

<strong>und</strong> Selbstbestimmungsrecht gibt.<br />

Ob nun die Bourgeoisie diese Wirkung des allgemeinen<br />

Wahlrechtes vorausgesehen hat oder nicht:<br />

j e d e n f a l l s i s t e s e i n e T a t s a c h e , d a s s s i c h<br />

d i e s e s „ R e c h t " a l s g a n z n u t z l o s e r w i e s e n<br />

h a t . Es dient nur dazu, um die Macht der Bourgeoisie<br />

zu befestigen, indem es dem tatkräftigsten Teil des Proletariats<br />

die f a l s c h e H o f f n u n g vorspiegelt, dass<br />

es einst selbst zur Herrschaft gelangen wird.<br />

Die Regierung ist auch beim allgemeinen Wahlrecht<br />

— oder besser gesagt, gerade beim allgemeinen<br />

Wahlrecht — der Diener <strong>und</strong> der Gendarm der Bourgeoisie.<br />

Wenn es anders sein könnte, wenn die Regierung<br />

den Reichen je feindlich werden könnte, wenn die D em<br />

o k r a t i e etwas anderes wäre, als ein Mittel, um das<br />

Volk zu betrügen — dann würde die Bourgeoisie, in<br />

ihren Interessen gefährdet, eine Empörung ins Werk<br />

setzen, <strong>und</strong> sich aller Macht <strong>und</strong> allen Einflusses bedienen,<br />

den ihr der Besitz des Reichtums gibt, um die<br />

Regierung zu ihrer einfachen Pflicht, zu ihrem Gendarmendienst<br />

zurückzuführen. Immer <strong>und</strong> überall war die<br />

Bedrückung <strong>und</strong> Ausbeutung des Volkes, das Beschützen<br />

der Bedrücker <strong>und</strong> Ausbeuter die eigentliche Aufgabe<br />

der Regierung, was immer für einen Namen sich dieselbe<br />

beilegen mochte, wie immer auch ihr Ursprung<br />

<strong>und</strong> ihre Organisation ist. Ihre wichtigsten, bezeichnendsten<br />

Werkzeuge sind der Gendarm u n d ' d e r Steuerein-


- 16 -<br />

Ireiber, der Soldat <strong>und</strong> der Gefängniswächter, denen sich<br />

unvermeidlich der Verbreiter von unbewiesenen Behauptungen,<br />

der Priester oder zünftige Professor, zugesellt,<br />

die die Regierung bezahlt <strong>und</strong> beschützt, damit sie den<br />

Geist der Unterdrückten zur Knechtschaft <strong>und</strong> zum g e -<br />

duldigen Ertragen ihres Joches erziehen.<br />

Freilich haben sich diesen wesentlichen Aufgaben,<br />

diesen Hauptwerkzeugen der Regierung, im Laufe der<br />

Zeit andere Aufgaben angeschlossen. Geben wir also<br />

zu, dass es — in einem einigermassen civilisierten Land —<br />

nie oder beinahe nie eine Regierung gegeben hat, die<br />

ausser ihrer Tätigkeit zur Bedrückung <strong>und</strong> Ausbeutung<br />

des Volkes, sich nicht auch anderen Aufgaben zugewandt<br />

hätte, die für das gesellschaftliche Leben nützlich oder<br />

unentbehrlich sind. Aber das W e s e n der Regierung,<br />

die Bedrückung <strong>und</strong> Ausbeutung ist, dass sie durch ihren<br />

Ursprung <strong>und</strong> ihre gegenwärtige Stellung unvermeidlich<br />

dazu bestimmt ist, die herrschende Klasse zu beschützen<br />

<strong>und</strong> aufrechtzuerhalten; die Tatsache, dass sie ihr Wesen<br />

unter dem Deckmantel der allgemeinen Nützlichkeit zu<br />

verbergen sucht, bekräftigt <strong>und</strong> erschwert also nur noch<br />

die Anklagen, die wir gegen dieselbe vorgebracht haben.<br />

Die Regierung übernimmt es, das Leben der Staatsbürger<br />

mehr oder weniger gegen unmittelbare brutale<br />

Angriffe zu verteidigen. Sie anerkennt <strong>und</strong> legalisiert<br />

eine Anzahl von gr<strong>und</strong>legenden Rechten <strong>und</strong> Pflichten,<br />

von Gewohnheiten <strong>und</strong> Gebräuchen, ohne welche ein<br />

gesellschaftliches Leben unmöglich ist. Sie organisiert<br />

<strong>und</strong> leitet einige öffentliche Dienstleistungen, wie z. B.<br />

die Post, die Landstrassen, die öffentliche Ges<strong>und</strong>heit,


meinsam übernehmen kann. Die Waffe dieser<br />

Methode ist — der Generalstreik!<br />

Immer öfter wendet sich das internationale<br />

Proletariat dieser Waffe des Klassenkampfes<br />

zu, trotz allen Bemühungen dagegen<br />

seitens der Politiker.<br />

Davor zittern die Politiker aller Schattierungen<br />

<strong>und</strong> fürchten, ihren früheren Einfluss<br />

zu verlieren. Darum sind sie gezwungen,<br />

sich dem Streben des Proletariats nach Selbsttätigkeit<br />

anzupassen. Sie bemühen sich aber,<br />

die proletarische Waffe f ü r i h r e e i g e n e n<br />

p a r l a m e n t a r i s c h e n <strong>Ziel</strong>e auszunützen.<br />

Durch die wachsende Unzufriedenheit der<br />

Arbeiter mit ihren Führern sahen sich die<br />

Politiker genötigt, etwas Künstliches zu erfinden,<br />

das ihnen ein revolutionäres Aussehen<br />

verleihen <strong>und</strong> sie zugleich nicht zwingen<br />

würde, von ihrem Prinzip der „Gesetzlichkeit"<br />

abzulassen. Deshalb verzerren sie die<br />

Bedeutung des Generalstreiks <strong>und</strong> wollen ihn<br />

aus einer Waffe für die wirtschaftliche Befreiung<br />

des Proletariats in eine politische<br />

Demonstration, zur Erreichung zweckloser,<br />

politischer P a p i e r rechte verwandeln*).<br />

Für uns revolutionäre Anarchisten hat<br />

der Generalstreik eine andere Bedeutung.<br />

Er hat auch seine philosophische Begründung.<br />

D e r G e n e r a l s t r e i k i s t d e r<br />

m ä c h t i g s t e p a s s i v e A n f a n g d e r<br />

k r ä f t i g s t e n a k t i v e n T a t . E r führt<br />

den von den Verhältnissen trotz allem nicht<br />

gebrochenen Proletar, die Verhältnisse zu<br />

brechen. Er bringt den durch die Monopolisierung<br />

der Produktionsmittel ausgebeuteten<br />

Arbeiter dahin, von wo aus er durch ihre<br />

Expropriation den Produktionsprozess, dem<br />

er bisher nur gedient hat, übernehmen kann.<br />

J. Landau.<br />

Offizielles Protokoll<br />

des Internationalen Antimilitaristischen<br />

Kongresses,<br />

gehalten zu Amsterdam, am 30.— 31. August<br />

1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />

des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />

m e r h o r n .<br />

Eröffnungsrede d e s Gen. Domela Nieuwenhuis.<br />

W e r t e G e n o s s e n !<br />

Erlauben sie mir zur Eröffnung des Internationalen<br />

Antimilitaristischen Kongresses<br />

eine kurze Geschichte unserer Vereinigung,<br />

<strong>und</strong> gleichzeitig der antimilitaristischen Bewegung<br />

zu geben, wie ich diese seit drei<br />

jähren ihres Bestehens als Sekretär kenne.<br />

Sie erinnern sich, dass unsere Vereinigung<br />

im Jahre 1904 zu Amsterdam gegründet wurde,<br />

wo sich verschiedene Delegierte aus mehreren<br />

Ländern versammelt hatten. W a s wir da gemacht<br />

haben, war provisorisch, denn wir hauen<br />

von Anfang an die Absiebt, unseren Kongress<br />

bald in Oxford zu wiederholen, um dort unsere<br />

Vereinigung zu befestigen.<br />

Aber die antimilitaristische Bewegung<br />

konnte nicht die nötige Unterstützung in England<br />

finden, <strong>und</strong> bald bemerkten wir, dass es<br />

unmöglich sei, dort einen Kongress abzuhalten,<br />

der gut gelingen würde. Wir setzten uns in<br />

Verbindung mit unseren Kameraden in der<br />

*) Das tat die österreichische Socialdemokratie,<br />

als sie das Proletariat für das Nichts des Wahlrechtszwangesauf<br />

die Strasse treiben wollte, zum Teil<br />

sogar trieb; dies tut erst jetzt wieder die deutsche<br />

Socialdemokratie, die gewissenlos genug ist, die revolutionäre<br />

Demonstrationskraft des Proletariats für<br />

ein durchaus prinzipienwidriges Wahlrecht für den<br />

preussischen Landtag sich betätigen zu lassen: —<br />

für rein bürgerliche <strong>Ziel</strong>e wird Pioletarierblut vergössen!<br />

Anni. d. Red.<br />

Schweiz, wo die antimilitaristische Bewegung<br />

gut aufgenommen ist. Die Kameraden fanden<br />

es ausgezeichnet, dass wir dahin kommen<br />

wollten <strong>und</strong> fingen mit Freude die Vorbereitungen<br />

des Kongresses in Genf an. Aber die<br />

Antimilitaristen denken — <strong>und</strong> die Regierungen<br />

lenken. Kaum hatte die Presse bekannt<br />

gemacht, dass der Kongress in Genf tagen<br />

würde, als die gastfreie Regierung einer freien<br />

Republik allen Fremden gesetzlich verbot, in<br />

der Schweiz für den Antimilitarismus Propaganda<br />

zu machen. Das war ein deutliches<br />

Verbot unseres Kongresses, denn die Delegierten<br />

sollten, sobald sie ankamen, vom heiligen<br />

Schweizer Boden ausgewiesen werden.<br />

Dann wollten wir nach Mailand gehen,<br />

wo eine grosse Ausstellung stattfand; aber<br />

unsere italienischen Kameraden sagten, dass<br />

sie wegen der Wahrscheinlichkeit eines Verbotes<br />

nicht in der Lage sind, einen solchen<br />

Kongress vorzubereiten, <strong>und</strong> derselbe deshalb<br />

beinahe sicher misslingen würde.<br />

Nach vielen harten Schwierigkeiten ist<br />

es uns nun endlich gelungen, unseren Kongress<br />

hier in Amsterdam zu versammeln.<br />

Und jetzt noch ein Wort über die allgemeine<br />

antimilitaris.tische B e w e g u n g ; später<br />

werden wir mehr über dieselbe aus den interessanten<br />

Berichten der verschiedenen Länder<br />

hören. Die Bewegung hat einen w<strong>und</strong>erbaren<br />

Erfolg gehabt, <strong>und</strong> wir können sagen,<br />

dass w i r d i e a m m e i s t e n v e r p ö n t e<br />

<strong>und</strong> am meisten verfolgte Partei in der ganzen<br />

Welt sind. Es wäre unmöglich, aufzuzählen,<br />

wie viele Prozesse unsere Kameraden hier<br />

<strong>und</strong> dort <strong>und</strong> überall gehabt haben, wie viele<br />

Jahre Gefängnis schon auf Rechnung unserer<br />

Bewegung stehen. Aber es ist hier am Platz,<br />

allen jungen Leuten einen Brudergruss zu senden,<br />

die den Mut hatten, den Dienst zu verweigern.<br />

Die jungen Helden, die in ihrer Jugend<br />

leiden, in der Zeit, in der die Meisten<br />

so viel wie möglich gemessen, haben das<br />

volle Recht auf unsere Hochachtung <strong>und</strong><br />

unsere Bew<strong>und</strong>erung, wie geteilt dieselbe<br />

auch sein möge.<br />

Auch einen grossen Verlust hat unsere<br />

Bewegung erlitten durch den Tod unseres<br />

amerikanischen Fre<strong>und</strong>es E r n e s t C r o s b y ,<br />

der, wenn er noch lebte, gewiss hier wäre.<br />

Er war mit Heiz <strong>und</strong> Seele vollständig mit<br />

uns. <strong>Unser</strong> edler, toter Fre<strong>und</strong> EI y s e e<br />

R e c 1 u s, der noch in seinem letzten Briefe<br />

erklärte, dass er im Geiste ganz mit uns ist,<br />

fehlt ebenfalls hier.<br />

<strong>Unser</strong>e Bewegung betätigt sich überall<br />

auf's beste im Geiste der Menschlichkeit; man<br />

kann sogar behaupten, dass der Geist des<br />

Heeres sich in verschiedenen Ländern sehr<br />

verändert hat, weil man unsere Ideen fürchtet.<br />

Wollen sie die Früchte unserer Bewegung<br />

s e h e n ? Mögen einzelne Tatsachen genügen.<br />

Die Fälle der Dienstverweigerung, die<br />

Vermehrung der Desertionen, die grossen <strong>und</strong><br />

kleinen Meutereien im Heere <strong>und</strong> in der Flotte<br />

— all dies allein schon erfüllt die Bewegung<br />

mit Hoffnung für die Zukunft; dies<br />

sind die fühlbaren Ergebnisse unserer Bewegung.<br />

—<br />

Während des Konfliktes zwischen den<br />

Hafenarbeitern <strong>und</strong> den Reedern in Rotterdam<br />

hatte die Regierung ein Kriegsschiff dahin<br />

geschickt, um „die Ordnung aufrecht zu erhalten",<br />

das heisst, um die Reeder zu schützen<br />

<strong>und</strong> die Arbeiter zu unterdrücken. Der Kommandant<br />

hielt eine kleine Ansprache an die<br />

Matrosen <strong>und</strong> fragte sie pathetisch, ob das<br />

Vaterland in jedem Falle auf sie rechnen könne ?<br />

Und die allgemeine Antwort w a r : „Nein!<br />

Nein!" — Das Kriegsschiff ist bald wieder<br />

abgefahren, „der Reparatur w e g e n " ; aber<br />

nicht das Schiff brauchte die Reparatur, sondern<br />

nur der Geist der Matrosen!<br />

Und wer denkt nicht an die prachtvolle<br />

Episode des Knjas Potemkin, dieses russischen<br />

Kriegschiffes, das — zum ersten Mal in der G e -<br />

schichte — elf Tage lang in den Händen der<br />

Malrosen selbst war, zum Schrecken der<br />

russischen Regierung <strong>und</strong> der ganzen russischen<br />

Flotte, die es nicht anzugreifen wagten ?<br />

Freilich ging die Sache verloren, aber nur<br />

durch die Schwäche, die Meinungsverschiedenheiten<br />

<strong>und</strong> Streitigkeiten unter einem meist<br />

socialdemokratischen Teil der Matrosen selbst.<br />

Und wer denkt nicht an die Meuterei des 17ten<br />

Regimentes in Frankreich,, das sich weigerte,<br />

auf seine aufständischen Brüder zu schiessen?<br />

<strong>Unser</strong> Herz schlägt höher, wenn wir von<br />

solchen Taten hören, <strong>und</strong> wir sagen mit Stolz :<br />

lasst unsere Propaganda so weiter gehen, <strong>und</strong><br />

wir werden noch viel grossartigere Sachen<br />

erleben. —<br />

Keine sentimentalen Deklamationen, keine<br />

langen Resolutionen, keine platonischen Erklärungen!<br />

Der Sieg gehört den Mutigen!<br />

Ein einzelner Prinzipienakt des Antimilitarismus<br />

tut mehr für die Sache des Friedens als<br />

zehn Friedenskonferenzen, <strong>und</strong> nebenbei zehn<br />

socialdemokratische Kongresse.<br />

Überall haben wir viele Feinde; nicht<br />

nur in den Reihen der Bourgeoisie, sondern<br />

auch unter den Socialdemokraten. Es ist traurig<br />

zu sehen, dass die Führer einer so mächtigen<br />

Partei, wie es die socialdemokratische<br />

ist, auf ihrem internationalen Kongress in Stuttgard<br />

das Übel nicht an der Wurzel anzugreifen<br />

wagten. Sie sind so „praktisch" geworden,<br />

dass sie sich lieber zur grösseren Ehre ihrer<br />

lieben Vaterländer gegenseitig ermorden, anstatt<br />

in ihrem „Vaterland" in revolutionärer<br />

Weise die Regierungen zu zwingen, von einem<br />

Kriege abzulassen. Die Socialdemokraten b e -<br />

kämpfen den Krieg mit papierenen Resolutionen,<br />

kämpfen ihn aber mit.<br />

Wir sind nicht hergekommen, um einem<br />

Publikum glänzende Reden zu halten. Wir<br />

sind hiehergekommen, um zu arbeiten, <strong>und</strong><br />

wir müssen die kurze Zeit benützen, die uns<br />

zur Verfügung steht, um unsere Gedanken<br />

auszutauschen <strong>und</strong> festzustellen, ob unsere<br />

Auffassung ungefähr dieselbe ist; um die<br />

Richtung zu bestimmen, die unsere direkte<br />

Propaganda — m i t d e n n o t w e n d i g e n<br />

U n t e r s c h i e d e n i n d e n v e r s c h i e d e n e n<br />

L ä n d e r n — nehmen soll.<br />

Ich hoffe, dass wir zufrieden auseinander<br />

gehen werden, im Bewusstsein, nicht umsonst<br />

hier gewesen zu sein <strong>und</strong> die Kosten des<br />

Kongresses nicht umsonst ausgegeben zu halten<br />

— die zwar ein bischen weniger sein werden,<br />

als die der Haager Friedenskonferenz. Damit wir<br />

die Genugtuung haben mögen, unsere Bewegung<br />

durch diesen Kongress befestigt zu haben,<br />

darum tue jeder das Seinige: — seine hohe<br />

Pflicht! — (Fortsetzung folgt).<br />

Ein offener Brief.<br />

An Herrn Di. Adolf Braun, Mitredakteur<br />

der Wiener „Arbeiterzeitung".<br />

„. Kein Schmerz <strong>und</strong> keine Langeweile<br />

Soll mich entmutigen. Gut Ding will seine Zeit.<br />

lch wollt' die Wahrheit in den Herzen wecken,<br />

Die Fre<strong>und</strong>e floh'n in kindisch bleichem Schrecken.<br />

Auch er entfloh — den ich wie einen Bruder.<br />

Den ich wie eine Schwester einst geliebt!<br />

Und einsam gehen wir den trüben Pfad,<br />

Die Wahrheit kündend unter Müh' <strong>und</strong> Leiden<br />

Und mögen Toren uns <strong>und</strong> Menschen meiden .. ."<br />

(N. P. Ogareff.<br />

Nicht so sehr Hass, als eher jenes<br />

drückende Gefühl der Betrübnis <strong>und</strong> Trauer,<br />

nicht so sehr Empörung, als eher jenes<br />

dumpfe quälende Empfinden über diese ganze


grausam deutlich zu Tage tretende Festigkeit<br />

aller F<strong>und</strong>amente des heutigen Gesellschaftssystems<br />

in Österreich, sie sind es, die mich<br />

dazu veranlassen, diesen offenen Brief an Sie<br />

zu richten. Es ist all das Rohe, das geistig<br />

Gehalt- <strong>und</strong> Inhaltslose, das ich in jener<br />

Versammlung erlebte, in der Sie über „Die<br />

Staatsverwaltung" sprachen, jene künstliche<br />

Nährung <strong>und</strong> beständig erneuerte Züchtung<br />

der kleinbürgerlich konservativen Gesinnung,<br />

die Sie in jener Versammlung des soc.-dem.<br />

Wahlvereines auf der Landstrasse betrieben<br />

<strong>und</strong> die bei Ihren Zuhörern, diesen armen,<br />

verführten Proleten so ausnehmend stark <strong>und</strong><br />

kräftig Wurzel geschlagen hat — wissen Sie,<br />

Doktor, dies ist der Gr<strong>und</strong>, weshalb ich mit<br />

Ihnen rechten m u s s . Und noch etwas a n d e r e s !<br />

Sie wussten <strong>und</strong> wissen sehr wohl, dass der<br />

Kahlenberg noch lange kein Himalaya ist,<br />

<strong>und</strong> dass Ihr Vortrag davon weit entfernt<br />

war, auch nur der geringen Würdigungsfähigkeit<br />

von Seiten der Zuhörer Genüge zu tun.<br />

Das bewies der matte Applaus, der ja schliesslich<br />

nur von der Claque herrührte, dieweil<br />

die Übrigen genug damit zu tun hatten, die<br />

lähmende Langweile <strong>und</strong> Schlafsucht abzuschütteln,<br />

die ihnen Ihre Darlegungen gebracht<br />

hatten. Aber d a s , was S i e nachher taten,<br />

hätte selbst ich nicht vermutet. Sie geben<br />

doch wahrlich vor, ein Volkstribun, k e i n<br />

Pfaffe zn sein. Des Pfaffen Ausführungen<br />

müssen unwidersprochen hingenommen werden,<br />

des socialistischen Referenten n i e m a l s .<br />

Seine Ausführungen unterliegen — <strong>und</strong> gar<br />

vom demokratischen Standpunkt! — der<br />

schärfsten Kritik, zumal da Ihnen jeder<br />

Stümper der Pädagogik sagen kann, dass<br />

eine Diskussion geistig weit erspriesslicher<br />

ist, als selbst der wertvollste Vortrag, der<br />

Zöglingen gehalten wird. W a s aber taten<br />

S i e ? — Ich schäme mich für S i e ! — Sie<br />

taten, w a s jeder reaktionäre, christlichsociale<br />

Feigling vor dem Socialdemokraten tut; Sie<br />

rissen einfach aus vor uns, vor den Anarchisten.<br />

Und Sie traten dem Vorsitzenden,<br />

der die Diskussion Ihres Vortrages v e r b o t ,<br />

nicht entgegen, sondern suchten das Weite; wohl<br />

im Gefühle der geistigen Warte, die Sie den<br />

Arbeitern geboten hatten . . .<br />

Ich will Ihnen an dieser Stelle in Kürze<br />

sagen, was ich Ihnen auch dort gesagt hätte<br />

— falls die Demokratie nicht feige vor der<br />

Diskussion ausgekniffen wäre, falls Ihre<br />

„Demokratie" nicht das beliebte Mittelchen<br />

a l l e r Bourgeoisparteien angewandt hätte:<br />

S t r a n g u l i e r u n g d e r f r e i e n M e i n u n g s -<br />

ä u s s e r u n g , U n t e r d r ü c k u n g d e r<br />

R e d e f r e i h e i t .<br />

Wissen Sie, Doktor, Ihr Vortrag war ja<br />

ganz gut; wäre noch viel besser gewesen,<br />

wenn ihn ein — Deutschnationaler, Liberaler,<br />

irgend ein bürgerlicher Acht<strong>und</strong>vierziger, n u r<br />

k e i n Socialdemokrat gehalten hätte, welch<br />

letzterer unglücklicherweise vorgibt, ein S o ­<br />

c i a l i s t zu sein. Ein Socialist? O bewahre;<br />

das Wort Socialismus kam kein einziges<br />

Mal über Ihre Lippen. Die paar öden Mätzchen,<br />

die die sonstige Geistlosigkeit der<br />

Redebrühe verdecken sollten, waren spiessbürgerlich-demokratisch.<br />

D a s allerdings; aber<br />

mit Socialismus hatten Sie e b e n s o w e n i g<br />

g e m e i n , wie I h r e demagogischen Parteisprösslinge,<br />

Simon Starck <strong>und</strong> seine Anhänger,<br />

etwas mit freiheitlichem Socialismus — der<br />

ja in Wahrheit Anarchismus — zu tun haben,<br />

ebensowenig wie die Christlichsocialen mit<br />

ethischem Christentum oder socialen Zukunftsproblemen<br />

etwas gemein haben. Sie, Herr<br />

Starck, irgend ein Matador der Christlichsocialen<br />

sind miteinander i d e n t i s c h ; Wahlköderer,<br />

Stimmenköderer, die gemeinsam dem<br />

Volke die Lüge vorschwatzen, sie, jeder einzelne<br />

von ihnen, könnte ihm, dem getäuschten<br />

Volke, im Parlament sein Heil erkämpfen,<br />

Sie alle drei sind in e i n e m Falle auch<br />

gemeinsam D e m o k r a t e n : nämlich in der D e ­<br />

magogie, mit der sie des Volkes Stimmen<br />

<strong>und</strong> damit 20 Kronen per T a g — jetzt soll's<br />

gar ein jährlicher P a u s c h a l b e t r a g w e r d e n ! —<br />

für die Abgeordneten ergattern wollen.<br />

Nur eine Redeblüte: „ D a s P a r l a m e n t<br />

i s t d e r ä u s s e r e A u s d r u c k d e s V o l ­<br />

k e s " . Wissen Sie nicht, dass dies n i c h t<br />

wahr ist; dass dies in den politisch „freiesten"<br />

Ländern n i c h t der Fall ist? Wissen Sie<br />

nicht, dass selbst in letzteren die Wählermassen<br />

nur eine geringe Minorität — ganz<br />

zu schweigen von den nicht wahlberechtigten<br />

Frauen — bilden? Haben Sie nie etwas davon<br />

gehört, dass das Parlament der Ausgleich,<br />

das Kompromis zwischen Krone <strong>und</strong> Bourgeoisie<br />

ist <strong>und</strong> die einzige Aufgabe h a t . die<br />

wirtschaftlichen <strong>und</strong> ökonomischen Zwistigkeiten<br />

zwischen diesen beiden Machtsphären<br />

auf das Gebiet der Legalität zu verlegen <strong>und</strong><br />

die widerstreitenden Interessen friedlich <strong>und</strong><br />

harmonisch auf Kosten des ausgebeuteten<br />

Dritten — des Proletariats — zu versöhnen!<br />

Davon haben Sie nie etwas g e h ö r t ? Aber<br />

ich, der ich mich ein Bischen mit der Geschichte<br />

<strong>und</strong> Gegenwart des Parlamentarismus<br />

beschäftigte <strong>und</strong> darum weiss, dass das<br />

Parlament, ebenso wie die Staatsverwaltung<br />

nichts anderes sind als die H a u s h a l t u n ­<br />

g e n d e s k a p i t a l i s t i s c h e n S t a a t e s ,<br />

die wohl sehr „gerecht" <strong>und</strong> „vernünftig"<br />

die gegenseitigen Interessen der Bourgeoisie<br />

<strong>und</strong> des Staates schützen, mit denen aber<br />

der Socialismus n u r i n v e r n e i n e n d e r<br />

W e i s e sich beschäftigen kann. Über all dies<br />

haben Sie kein Wort geäussert; uns dafür<br />

erzählt, wie müssig die Minister sind <strong>und</strong><br />

dabei total vergessen, dass zwei Ihrer G e ­<br />

nossen — Briand <strong>und</strong> Viviani — ihr französisches<br />

süsses Nichtstun nur noch damit<br />

verkürzen, dass sie bourgeoise J u s t i z u r t e i l e<br />

unterschreiben, sich organisierende Lehrer<br />

brodlos machen, Arbeiterorganisationen zu<br />

sprengen versuchen oder aus ihrem Heim,<br />

den Arbeitsbörsen, hinauswerfen lassen. Sie<br />

haben, wertester Doktor, kein Wort darüber<br />

verloren, dass es eines Socialisten u n w ü r d i g<br />

ist, Ministerportefeulles anzunehmen, sondern<br />

nur bedauert, dass keiner der Ihrigen sie<br />

inne hat. Sie sind also gegen die Menschen,<br />

nicht aber gegen die Institutionen an <strong>und</strong><br />

für sich, wie ich, der Anarchist, der allerdings<br />

nie Aussicht auf Abgeordnetendiäten oder<br />

eine Ministerialwürde besitzt, wie Sie, Beneidenswerter<br />

. , . Freilich, wenn man<br />

s o l c h e Aussichten hegt, da kann man über<br />

die Verwaltung des Staates nur so sprechen,<br />

wie Sie es taten. Darf nicht sagen, dass Verwaltung<br />

des Staates nichts Förderliches ist<br />

für die individuelle oder kollektive Betätigung<br />

des G e m e i n w e s e n s ; dass diese ganze Staatsverwaltung<br />

nur stattfindet im Interesse der<br />

Bourgeoisie, die socialen Gruppen der Menschen<br />

ihrer nicht bedürfen, sich nicht vom<br />

Staate zu verwalten lassen brauchen, sondern<br />

sehr wohl sich <strong>und</strong> ihre Angelegenheiten in<br />

freier socialer Vereinigung s e l b s t — ohne<br />

Staat — verwalten könnten; dass die Verwaltung<br />

des Staates stets <strong>und</strong> nur eine Verwaltung<br />

s e i n e r Herrschaft <strong>und</strong> ihrer Lebensbedingungen<br />

— die kapitalistische Ausbeutung<br />

<strong>und</strong> Lohnsklaverei — sein muss <strong>und</strong><br />

dass der Socialismus gerade dasjenige sociale<br />

Zusammenleben ist, das darnach strebt, alle<br />

jene Faktoren, die das Produktive, Sociale<br />

oder Geistige aus den Händen der Menschen<br />

nehmen <strong>und</strong> sich selber als Regulativ auf-<br />

pflanzen, aus dem Gesellschaftsverbande des<br />

geistigen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Lebens a u s ­<br />

z u s c h a l t e n , sie wieder den Menschen<br />

zurückzuerstatten: die Erde den Bauern, die<br />

Maschinen <strong>und</strong> Werkzeuge den Industriearbeitern<br />

; die Verwaltung aller Angelegenheiten<br />

sei denen überlassen, die im eigensten, solidarischen<br />

Interesse davon betroffen w e r d e n ;<br />

<strong>und</strong> dies unter Ausschaltung aller schmarotzerischen<br />

Elemente — aber auch der Politiker,<br />

der staatlichen Verwalter <strong>und</strong> Verweser, der<br />

Gesetzesmacher, <strong>und</strong> wie alle die Quälgeister<br />

der Menschheit überhaupt heissen mögen.<br />

Über all dies haben Sie nichts gesagt,<br />

Herr Doktor. Dafür hätte ich Ihnen noch viel,<br />

viel mehr zu s a g e n ; aber es würde den zulässigen<br />

Raum dieses Briefes überschreiten.<br />

Nur einen Rat <strong>und</strong> etwa eine Bitte zugleich<br />

im Interesse des Zukunftssieges des Socialismus,<br />

wenn derselbe je möglich werden soll:<br />

E r z i e h e n S i e d i e M a s s e n a n d e r s a l s<br />

e s b i s h e r g e s c h a h , n i c h t z u g e d a n ­<br />

k e n l o s e m S t i m m v i e h , n i c h t z u f a n a ­<br />

t i s c h e n N a c h l ä u f e r n , d e n e n A l l e s<br />

v e r s p r o c h e n u n d n i c h t s g e h a l t e n z u<br />

w e r d e n b r a u c h t ; sondern z u freien selbstständigen<br />

<strong>und</strong> selbstbewusst denkenden S o -<br />

c i a l i s t e n , die nicht mit christlichsocialem<br />

Wutgebrüll die Stimme des Gegners, der ihren<br />

Führern gewachsen, ersticken, vielmehr bestrebt<br />

sind, den Socialismus kennen zu lernen;<br />

d e n S o c i a l i s m u s , sage ich, nicht kleinbürgerlich-demokratische<br />

Phrasen. Immerhin,<br />

einer Vorbedingung bedarf es d a z u : Dass<br />

Sie <strong>und</strong> Männer wie Sie versuchen, m e h r<br />

Socialfsten zu werden, w e n i g e r Politiker<br />

<strong>und</strong> Demagogen zu sein I<br />

Wien, 20. Jänner 1908.<br />

Quittungen<br />

Pierre Ramus.<br />

vom 22. Dezember bis 24. Jänner.<br />

Bezahlungen tür verkaufte Exemplare: PI.<br />

K 3 — , Hör. K P — , L. K 3 3 0 , R. K 1 1 — ,<br />

B. K 1 - , W. K 4 - , XX. Bez. K 4 - , X.<br />

Bez. K 4-80, R. K 1 — , Dw. K 1-—, Ba.<br />

K 1-20, H. K 1 — , Pisch. K 1 —, Wol. K P — ,<br />

L. K 2 - - , Na. K P — , H. K 150, Sp. K P50,<br />

K. K 120, S - r K 1 — , L. K 1 — , Na. K<br />

2 ' — , Fr. K 1-30, L. K —-40, Cer. K 1 — ,<br />

W. K 2 — , B. K 1 — , Seh. K 1*—, Weber<br />

K 2 - - , W. K 4 - , W. K 1 2 - , Süss K<br />

2-40, Maria K 3*10, N. K 150, Pels. K 2 4 0 ,<br />

Kul. K 10-—, Dr. K—n K 3-32, Kromaier<br />

K P90, Sehr. (Wien) K 2'42, Alfred K —-50,<br />

Albanesi K 1 -90. — Für Nr. 2: Kovar K 1 -20,<br />

Skata K 3-—, Emil Sonnenb. K 1 2 0 , Mar. K<br />

3-11, W. K 6 9 0 , R. K 1 — , Ra. K 1 — , Wie.<br />

K 1 — , Br. K 1 - , Pu. K 1 — , K. W. K<br />

1 — , Ho. K 1 — , Dr. K 1'—, Kr. K 1 — ,<br />

L. K 6 50, Ha. K 2-10, Wo. K 1 — , Na. K<br />

1—, Ku. K 1 —, Res. K 1 2 — , Proletar K<br />

7 3 7 , Sammlung bei Schi. K 2 8 0 , Morgenröte<br />

K 10-—, Sch. K 2-—, Schantl <strong>und</strong> Weissl.<br />

K 2 —, Pokrok K 110, Literaturkl. K 5 - ,<br />

Schuhmachergew. K 6 ' — , B. M. London K<br />

5-—, Klagenf. K 5-—, Leipzig K 3-—, Giovanni<br />

K 2-—, Gabriel K 5-—, Mül. Ungarn<br />

K 1 — , Weitmann K P20, Janad. K 3 6 0 ,<br />

Nov. K 2 — , Gottw. K - -50, Plet. K 2 —,<br />

Jeliz. K P — , Samml. b. Sch. K 140, Frank<br />

K —-80, Ejem K 1 — , X. Bez. K 2 — , Lisk.<br />

K P , Lick. d . Block K 2 — , Janata K 5 1 0 ,<br />

Fischer K 4 — , Lick. K — 90, Nav. K —-26.<br />

(Obige Quittierungen erfolgen auf Wunsch der<br />

Kolporteure <strong>und</strong> Genossen).<br />

V e r a n t w o r t l i c h e r R e d a k t e u r Jos. Šindelář ( W i e n ) . — H e r a u s g e b e r Jul. E h i n g e r (Wien). — E r s t e G e n o s s e n s c h a f t s - B u c h d r u c k e r e i in Budweis.


Wien,1. März 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 5.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Fockygasse 27,<br />

11/17. — Gelder sind zu senden an<br />

W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />

5, I1I./27.<br />

An die G e n o s s e n ! Wir ersuchen<br />

alle unsere Leser <strong>und</strong> Mehrabnehmer<br />

um schleunigste Abrechnung ihrer<br />

Zeitungsbezüge. Mit solidarischem<br />

Gruß Redaktion <strong>und</strong> Verlag.<br />

Vereinskalender.<br />

Gewerkschaft der Schuhmacher Wiens.<br />

E i n . v o r z ü g l i c h a r r a n g i e r t e r B a l l findet<br />

am Fasching-Samstag, den 29. Februar 1908 in<br />

Holubs Saallokalitäten, XIV. Huglgasse 15 statt,<br />

Anfang 8 Uhr. Wir fordern unsere Kameraden zum<br />

Massenbesuch dieses Balles einer wackeren Kampfesorganisation<br />

auf!<br />

Allgemeine Gewerkschaftsföderation des XIV.<br />

Bezirkes in Schlors Lokalitäten, Märzstraße 33.<br />

Versammlung mit freier Diskussion j e d e n D i e n s t a g<br />

8 Uhr abends.<br />

Jeden S o n n t a g vormittags 9 Uhr Vereinsversammlung<br />

X. Wieland-Platz. Referat <strong>und</strong> Diskussion.<br />

Jeden S o n n t a g um 6 Uhr abends Vereinsversammlung<br />

mit Referat <strong>und</strong> Diskussion. V. Einsiedlergasse<br />

60.<br />

Sonntag den 8. März 1908 um 9 Uhr vorm.<br />

in Hambergers Saal, V., S c h l o ß g a s s e 5, öffentl.<br />

Vereins-Versammlung der Allgemeinen Gewerkschafts-Föderation.<br />

Jeden F r e i t a g um 8 Uhr abends Vereinsversammlung<br />

mit Referat <strong>und</strong> Diskussion II. Cafe<br />

Stephanie.<br />

Jeden F r e i t a g um 8 Uhr abends Vereinsversammlung<br />

der Freidenker des XIV. Bezirkes in<br />

Schlors Lokalitäten. _<br />

Die Prinzipien unseres<br />

Kampfes.<br />

Es ist klar, daß wir niemals, solange<br />

wir auf G e s c h e n k e angewiesen sind, uns<br />

sicher, geschweige mächtig fühlen können.<br />

Ich sage dies in Bezug auf unser<br />

heutiges Staatsleben. Wir sind alle Staatsbürger,<br />

d. h. A n g e h ö r i g e einer Gewaltsgilde,<br />

solange wir u n s nicht selbst dienen,<br />

sondern ihr. Jeder, der dawider handeltest wie<br />

ein Ausreißer <strong>und</strong> wird als solcher behandelt.<br />

Zur Erhaltung des Staates sind im<br />

Laufe der Zeit M ä n n e r von Verstand <strong>und</strong><br />

Übersicht n o t w e n d i g g e w o r d e n . Durch ihre<br />

Übersicht haben sie sich natürlicherweise<br />

eine persönliche Macht verschafft, die nun<br />

von ihnen mit Recht ausgenützt wird, d. h.<br />

mit Rechten, die sie durch Gesetze, die sie<br />

wieder geben, bekräftigen, heiligen.<br />

Im Staate m u ß man von zwei Klassen<br />

sprechen: von den Mächtigen <strong>und</strong> den<br />

Ohnmächtigen, <strong>und</strong> die g a b es, gibt es <strong>und</strong><br />

wird es in jedem Staate geben. Die Mächtigen<br />

lassen sich nicht gern auf die Finger<br />

sehen <strong>und</strong> haben sich, zwecks Aufrechterhaltung<br />

ihrer »Ordnung« <strong>und</strong> »Rechte« mit<br />

ihrer größten Macht ausgestattet: d n<br />

Militarismus. Er bildet sich durch die Unterdrückten<br />

selbst <strong>und</strong> schützt den Staat, d. h.<br />

die Mächtigen im Staate vor jeglichen Angriffen<br />

von seiten der Volksgenossen, der<br />

Machtlosen, die in der Mehrheit sind, da<br />

sie das Militär stellen; trotzdem sind sie<br />

die Rechtlosen, mithin die Unfreien, weil<br />

Unwissenden.<br />

Diesen Zustand n e h m e n sich M ä n n e r<br />

aus ihrer Mitte »zu Herzen« u n d lassen sich<br />

von den Übrigen zu Vertretern ihrer In-<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignem der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Or<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck Ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />

teressen wählen. Es entstehen Parlamente.<br />

Ruhig legt das Volk sein Schicksal in die<br />

Hände dieser Führer, um wieder zufrieden<br />

<strong>und</strong> hoffnungsvoll in seine Bergwerke <strong>und</strong><br />

Fabriken zurückzukehren.<br />

W a s diese Parlamente erringen können,<br />

sind nur geschenkte Rechte. Das Volk<br />

zeigt, daß es selbst nicht mächtig ist, sondern<br />

seine Vertreter mächtig gemacht hat.<br />

Diese wissen auch hier die Macht für<br />

sich auszunützen, <strong>und</strong> der bestehende Zustand<br />

bleibt der alte. Das Staatsgebäude<br />

bleibt s t e h e n ; es hat höchstens ein anderes<br />

Gesicht b e k o m m e n . Die G r u n d l a g e ist die<br />

Macht <strong>und</strong> die mit ihr v e r b u n d e n e Gewalt,<br />

Im Parlamente w e r d e n überdies meistens<br />

parteiliche Zwistigkeiten ausgetragen. Die<br />

Lage des arbeitenden Volkes kann durch<br />

dieses höchstens scheinbar verbessert werden,<br />

niemals die G r e n z e zwischen Herr<br />

<strong>und</strong> Diener schwinden. Das Parlament kann<br />

der Regierung Gesetze vorlegen, <strong>und</strong> diese<br />

nimmt sie erst an, falls sie von ihr für<br />

»rechtlich« bef<strong>und</strong>en w e r d e n . Der Einzelne<br />

<strong>und</strong> die Allgemeinheit b e w e g e n sich also<br />

im Staatsrahmen von Staatsgesetzen. W e r<br />

sich über diese G r e n z e hinausbegibt, wird<br />

vom Staate entweder als Narr o d e r Verbrecher<br />

hingestellt <strong>und</strong> behandelt.<br />

Eine mächtige Stütze des Staates sind<br />

auch die Religionen, welche, ob sie katholisch,<br />

protestantisch, oder jüdisch sind, seine<br />

Institutionen für gottgefällig erklären <strong>und</strong><br />

in diesem Sinne in Schulen <strong>und</strong> Gotteshäusern<br />

auf die Massen einwirken.<br />

Der Einzelne k o m m t im Staate niemals<br />

zur G e l t u ng <strong>und</strong> richtet auch nichts gegen<br />

ihn aus. Er kann nur durch Beispiele<br />

Zweifel an der G ü t e der bestehenden Einrichtungen<br />

in den Massen erwecken. Erfolgreich<br />

bekämpft kann der Staat nur dann<br />

werden, w e n n viele Gleichgesinnte sich<br />

gleichzeitig wider ihn w e n d e n , dem Staate<br />

geistig <strong>und</strong> materiell nicht mehr huldigen.<br />

Die wirksamste Aktion ist jene des<br />

wirtschaftlichen Kampfes, des Generalstreikes.<br />

Er darf nur nicht von »Führern< erst sorgfältig<br />

»vorbereitet« werden, sondern die<br />

Streikenden müssen aus sich heraus streiken,<br />

jeder Einzelne als b e w u ß t e Persönlichkeit<br />

seinen Mann stellen. Die raschen Z u g e -<br />

ständnisse der Machthaber <strong>und</strong> Bourgeoisie,<br />

überall dort, wo diese Massenaktion erprobt<br />

w u r d e — vornehmlich bei den Romanen<br />

<strong>und</strong> Slaven — zeigten recht deutlich, wie<br />

leicht sie zur Nachgiebigkeit gebracht werden<br />

könnten, w e n n nur die Kampfesmethoden<br />

des Proletariers direkte <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

sind.<br />

Eine zweckmäßige Erziehung des Kindes<br />

ist vor allem not. Schon in den Schulen<br />

m u ß Abscheu vor dem Kriege <strong>und</strong> dafür<br />

revolutionärerOeist den Schülern beigebracht<br />

werden. Jeder m u ß für den endlichen<br />

sozialen Orkan gerüstet, darf nicht geistlos<br />

oder betäubt von ihm mitgerissen werden.<br />

Der Mensch m u ß lernen, für seine Freiheit<br />

zu kämpfen. Sie erscheint ihm nicht von<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2.40;<br />

halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

selbst; die Freiheit will erkämpft werden.<br />

Nur auf diesen letzten Kampf kann die<br />

i m m e r w ä h r e n d e Freiheit folgen!<br />

Josef Mark.<br />

Zwei Klopffechter.<br />

Ein ergötzlicheres Intermezzo als es die<br />

Rede des Sozialdemokraten <strong>und</strong> internationalen<br />

»Österreich über alles«-Österreichers<br />

S c h u h m e i e r über den Militarismus, dann<br />

wieder dieselbe Klopffechterei des christl.sozial.<br />

»Denkers« D r e x e l wider ihn war,<br />

kann es wohl kaum mehr geben. Herr Schuhmeier<br />

bekämpft eingangs seiner Rede den<br />

Militarismus a n s i c h , das System des Militarismus<br />

— um am Schlüsse mit der rrrevolutionären<br />

F o r d e r u n g nach einer Miliz zu<br />

endigen. Nur eine F r a g e : Hat sich die Miliz<br />

in Ländern wie die Schweiz, die Ver.<br />

Staaten, England a u c h n u r e i n m a l<br />

weniger g e g e n den inneren oder äußeren<br />

»Feind« g e b r a u c h e n lassen als das stehende<br />

Heer? Nein, sie w a r ebenso schlimm wie<br />

dieses. Ein ähnlicher wissenschaftlicher Logiker<br />

wie der gute Schuhmeier ist auch Herr<br />

Drexel, der ja auch ein Reformer h u m a n e r<br />

Sorte ist, weil er die zweijährige Dienstzeit<br />

eingeführt, aber — g a n z wie der Sozialdemokrat<br />

— den Militarismus an sich durchaus<br />

aufrecht erhalten sehen will. D a ß der<br />

Christlichsoziale wie der Sozialdemokrat so<br />

ganz dasselbe wollen, geht aus dem berühmten<br />

Satz Schulimeiers h e r v o r : » A u c h<br />

d e r K l a s s e n s t a a t u n d d i e A r m e e -<br />

v e r w a l t u n g w e r d e n d e r S o z i a l -<br />

d e m o k r a t i e i n u m s o h ö h e r e m<br />

M a ß e s i c h e r s e i n , a l s d e r S t a a t i m -<br />

s t a n d e i s t , d e m a r b e i t e n d e n V o l k e<br />

L i e b e u n d I n t e r e s s e a m V a t e r l a n d e<br />

b e i z u b r i n g e n . « Recht h ü b s c h ; u n d daß<br />

der gute »Klassenstaat« dazu imstande sein<br />

soll, daran arbeiten die Schuhmeier <strong>und</strong><br />

Drexel recht e i n m ü t i g ; auch z w e i Antimilitaristen<br />

nach d e m Stuttgarter internationalen<br />

K o n g r e ß !<br />

Noch amüsanter w a r der kurze Prolog,<br />

den beide Redner ihrer rhetorisch - demagogischen<br />

Klopffechterei gaben. D e r Christlichsoziale<br />

Drexel hatte mit Recht darauf<br />

hingewiesen, daß die Anarchisten absolute<br />

G e g n e r der heutigen Klassengesellschaft sind,<br />

da gelte es denn, mit d e m Säbel zu rasseln.<br />

Herr Schuhmeier wieder rühmte — wohl<br />

sehr mit Unrecht' — s e i n e P a r t e i , der<br />

e s angeblich g e l u n g e n wäre, daß » h e u t e<br />

i n Ö s t e r r e i c h d i e a n a r c h i s t i s c h e<br />

G e f a h r g e b a n n t i s t « . Ein wirklich<br />

schönes Verdienst einer soi-disant revolutionären<br />

Sozialdemokratie: diejenigen vernichtet<br />

zu haben, die von der bürgerlichen<br />

Gesellschaft gefürchtet w e r d e n . . . Ein<br />

hohes, ehrenvolles Verdienst; o b w o h l die<br />

»Gebannten« noch immer l e b e n !<br />

Wir können den Herrn Drexel beruhigen.<br />

V o m Sozialdemokraten z u m Anarchisten<br />

ist derselbe weite Schritt wie vom<br />

Gottesgläubigen zum Atheisten; hingegen<br />

ist es vom Sozialdemokraten bis z u m Christ-


lichsozialen o d e r umgekehrt nur ein kleiner<br />

Schritt, denn die Herren sind im Wesen<br />

eins, verschieden nur in der Form. Beide<br />

sind, wie alle übrigen politischen Parteien<br />

schließlich auch, in ihren reformativen oder<br />

weiterliegenden Forderungen nichts als Dem<br />

a g o g e n . Beide reichen sich" einmütig <strong>und</strong><br />

versöhnt die H ä n d e in ihrem Kampf gegen<br />

den Anarchismus <strong>und</strong> wollen die D u m m e n<br />

glauben machen, daß Anarchismus nichts<br />

als Gewalt sei, w ä h r e n d der Anarchismus<br />

gerade die Lehre des Friedens, der Gewaltlosigkeit<br />

ist, selbst die soziale Revolution<br />

nur im Sinne der Verteidigung <strong>und</strong> Abw<br />

e h r auffaßt, nie im Sinne des Angriffes.<br />

Dem Anarchismus ist die soziale Revolution<br />

n i c h t die Diktatur des Proletariats<br />

(Marx) oder die Gewalt die Geburtshelferin<br />

jeder neuen Gesellschaft (Marx), sondern<br />

sie ist ihm diejenige soziale Verteidigung<br />

der Gesellschaftsgruppierungen, die die von<br />

ihnen vollzogene <strong>und</strong> aus ihrer gemeinschaftlichen<br />

Tätigkeit erwachsene U m w a n d -<br />

lung der Lebensverhältnisse gewahrt <strong>und</strong><br />

von den Mächten der Reaktion unberührt<br />

sehen will.<br />

G e r a d e letzterer Standpunkt ist denn<br />

auch der p r i n z i p i e l l e Unterschied zwischen<br />

uns <strong>und</strong> der Sozialdemokratie in<br />

Sachen des Antimilitarismus. Herr Schuhmeier<br />

<strong>und</strong> die Seinen wollen die Erringung<br />

der Staatsgewalt, dazu bedarf es eines Militärsystems,<br />

darum die Miliz, die a l l e , selbst<br />

die Jugend, zum Soldatenideal erziehen will<br />

<strong>und</strong> soll. Die Anarchisten hingegen bekämpfen<br />

den Staat, w e i l er die organisierte<br />

Militärgewalt, sie wollen volle Freiheit für sich<br />

<strong>und</strong> alle gesellschaftlichen G r u p p e n auf<br />

G r u n d l a g e sozialistischer Harmonie. D a r u m<br />

treten sie ein für die Aufhebung des Militarismus<br />

— k e i n e r sei Soldat, alle freie Menschen:<br />

die Gesellschaft der Autoritätslosigkeit.<br />

Funken vom Amboß der<br />

Anarchie.<br />

Die wissenschaftliche G r u n d l a g e der<br />

Philosophie <strong>und</strong> Lehre des Anarchismus<br />

findet sich im selbständigen Denken <strong>und</strong><br />

allgemeinen Kulturstreben des Individuums<br />

nach Entfaltung seiner Persönlichkeit <strong>und</strong><br />

Befreiung von den diese b e e n g e n d e n<br />

Hemmnissen des Staates <strong>und</strong> der wirtschaftlichen<br />

A u s b e u t u n g gegeben. In der Heranbildung<br />

eines Menschengeschlechtes, dessen<br />

individuelle Eigenschaften sich in dieser<br />

historischen, sozialen <strong>und</strong> ethischen Richt<br />

u n g äußern <strong>und</strong> dem E m p o r k o m m e n einer<br />

Menschheitsgeneration, die des bestehenden<br />

Druckes in jeder Hinsicht überdrüssig gew<br />

o r d e n <strong>und</strong> ihn dann auf G r u n d höchster<br />

geistiger Erkenntnis abschüttelt, ist die<br />

Zukunft unserer Zeit, ist die g r o ß e Kulturmöglichkeit<br />

der Zukunft gelegen. Der<br />

Anarchismus betrachtet somit das Erziehungswesen,<br />

die pädagogische Unterweisung der<br />

Jugend als ein H a u p t m o m e n t jener Bew<br />

e g u n g , die sich der A n b a h n u n g eines<br />

gesellschaftlichen Zustandes widmet, in dem<br />

die einzelnen Individuen geistig, politisch<br />

<strong>und</strong> ökonomisch frei sind. Freie Menschen<br />

werden nur gebildet durch die Befreiung<br />

ihres Geistes von allen W a h n i d e e n der<br />

Autorität <strong>und</strong> des Aberglaubens.<br />

Darin hat vornehmlich unsere m o d e r n e<br />

Erziehung — <strong>und</strong> die allgemein obligatorische<br />

Erziehung ist sozusagen erst Sache<br />

der Modernität — gesündigt. Und so ist es<br />

denn etwas ungemein Eigenartiges, eine<br />

Erscheinung beobachten zu können, die,<br />

a u s g e h e n d von einer rein akademischphilologischen<br />

Diskussion über den Wert<br />

oder U n w e r t des klassischen Sprachenunterrichtes,<br />

bei u n s in Österreich allmählich<br />

die Dimensionen eines großen Kulturp<br />

r o b l e m s a n g e n o m m e n hat, das da lautet:<br />

W e l c h e E r z i e h u n g ist d i e g e e i g n e t s t e ,<br />

u m e i n e M e n s c h h e i t z u T a g e z u f ö r -<br />

d e r n , d i e i n g e i s t i g e r w i e a u c h<br />

p h y s i s c h e r H i n s i c h t i m S t a n d e ist,<br />

d e n g r o ß e n L e b e n s f r a g e n d e s Einz<br />

e l m e n s c h e n u n d d e r G e s e l l s c h a f t<br />

i n s A n t l i t z z u b l i c k e n u n d i h n e n<br />

e i n e z u f r i e d e n s t e l l e n d e L ö s u n g z u<br />

b r i n g e n ?<br />

Wie es gewöhnlich geht in der bürgerlichen<br />

Welt — sie tastet am Äußerlichen,<br />

Oberflächlichen herum, <strong>und</strong> es mangelt ihr<br />

an jenem tieferen Blick, der auf den G r u n d<br />

der D inge zu dringen vermag. Und so hat<br />

die Gesamtdiskussion, die sich über dieses<br />

T h e m a in den Hörsälen der Universitäten,<br />

in der Presse <strong>und</strong> von der Kanzel der Öffentlichkeit<br />

herab überhaupt erhob, eigentlich<br />

ein recht dürftiges Resultat ergeben. D e n n<br />

die Diskussion verrammelte sich in lauter<br />

leeren <strong>und</strong> höchst relativen W ü r d i g u n g e n der<br />

einzelnen Lehrfächer, die in den Hochschulen<br />

gelehrt werden, wollte durchaus<br />

nicht die eine gewichtige Frage beantworten,<br />

die sich förmlich gewaltsam aufdrängt: was<br />

soll denn eigentlich der Z w e c k der Erz<br />

i e h u n g sein oder w e r d e n ? Kein W u n d e r ,<br />

daß das g a n z e g r o ß e Geistesringen in nichts<br />

a n d e r e m auslief, als in den Vorbereitungen<br />

für eine E n q u e t e auf diesem Gebiete, die<br />

aber e b e n s o wenig wie sonst etwas Klärung<br />

<strong>und</strong> Klarheit zu bringen vermag, das sich<br />

an den toten Buchstaben klammert <strong>und</strong><br />

d a r o b den lebenden Geist — Gemüt, Vernunft<br />

<strong>und</strong> Charaktereigenschaften des werd<br />

e n d e n Menschen — total vergißt.<br />

Glücklicherweise gibt es weiße R a b e n ;<br />

M ä n n e r der Bourgeoisie <strong>und</strong> sogenannte<br />

höhere Kreise, die, vielleicht auch nur instinktiv,<br />

aber d e n n o c h mit großem Verständnis,<br />

eine eminente A u s n a h m e von ihren Klassen-<br />

<strong>und</strong> Gesinnungsgenossen, wenigstens<br />

in solchen Spezialfragen der Wissenschaft<br />

— w e r weiß, ob auch des Lebens? — bilden.<br />

Sie begreifen das Problem <strong>und</strong><br />

kennen dessen Beantwortung. Wissen, daß<br />

e s gilt, M ä n n e r <strong>und</strong> M e n s c h e n d . h .<br />

Charaktertypen des männlichen <strong>und</strong> weiblichen<br />

Geschlechtes zu erziehen, nicht nur<br />

Zunftgelehrte <strong>und</strong> gute Schacherer. Und das<br />

Merkwürdigste ist dies: Sobald sie einmal<br />

ihr geistiges Leben von den Scheuklappen<br />

der Voreingenommenheit, des Vorurteiles<br />

befreit <strong>und</strong> eingesehen haben, daß es gilt,<br />

Individuen heranreifen zu lassen, die auch<br />

außermateriellen, nicht nur tierischmateriellen<br />

Interessen <strong>und</strong> Zwecken, also jenen des<br />

G e l d e r w e r b e s gewachsen sein sollen, in<br />

denen die Geistesflamme von harmonisch<br />

d e n k e n d e n <strong>und</strong> empfindenden Vollpersönlichkeiten<br />

lodern müßte <strong>und</strong> die somit<br />

einen Wiederauferstehungstypus der Antike<br />

darbieten w ü r d e n — am merkwürdigsten<br />

ist d i e s : dann m ü s s e n jene Männer, um so<br />

g r o ß <strong>und</strong> w a h r <strong>und</strong> frei denken zu können,<br />

ihre Gedankenfunken aus dem A m b o ß<br />

der anarchistischen Ideenwelt schlagen! Ist's<br />

ein Fatum, ist's neckische Ironie? Wie<br />

immer d e m auch sein m ö g e : Es ist einmal so!<br />

Und für u n s Anarchisten, die wir den ganzen<br />

Glutidealismus unserer Gedankenwelt kennen<br />

; die wir wissen, daß in ihr das Edelwerdende,<br />

das Erhabenste <strong>und</strong> das Zukunftssichere<br />

einer höheren Kulturstufe sich befindet,<br />

ist solche seltsame Erscheinung<br />

nichts anderes als der erneuerte <strong>und</strong> ewig<br />

wiederkehrende Beweis dafür, daß das<br />

Geistesleben der Menschen, soweit es in<br />

Wahrheit der Freiheit dienstbar, sich mit<br />

unaufhaltsamer Kraft von einem auf ihm<br />

liegenden Banne befreit <strong>und</strong> die Ideale der<br />

Anarchie in einer krystallklaren Form erkannt,<br />

im oftmals u n b e w u ß t e n Streben nach<br />

ihr die Vorbereitungsstufen für ihre Verwirklichungsmöglichkeit<br />

erklimmt. Immer<br />

deutlicher erkennt der vorurteilslos forschende<br />

Menschengeist, daß das Freiheitliche das<br />

Individuelle ist, <strong>und</strong> daß das soziale, gesell-<br />

schaftliche Element des wirtschaftlichen Verbandes<br />

sich aus dem Z u s a m m e n s c h l u s s e<br />

solch freier <strong>und</strong> vertiefter Persönlichkeiten<br />

wie von selbst ergibt, das soziale Element,<br />

das uns Anarchisten die kommunistische<br />

G r u n d l a g e des produktiven <strong>und</strong> verbrauchenden<br />

Gesellschaftsprinzips ist.<br />

Um dieses g r o ß e Ideal realisieren zu<br />

können, dazu bedarf es der Vollmenschen.<br />

Mit ihrer Geburt stirbt die bürgerliche<br />

Welt <strong>und</strong> zwar an ihnen! G e w i ß ist es somit<br />

seltsam, zu beobachten, wie es Männer<br />

sind, die sonst zu den eifrigsten Förderern<br />

der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gezählt<br />

werden, die aus d e m A m b o ß des Anarchismus<br />

diejenigen Gedankenfunken schlagen,<br />

die Feuer fangen werden, müssen <strong>und</strong><br />

ein Menschenmaterial ergeben, dem die<br />

bourgeoise W e l t o r d n u n g z u e n g <strong>und</strong> die<br />

es deshalb zu überwinden hat. Einer von<br />

den wenigen, die, ich weiß nicht, ob bew<br />

u ß t oder u n b e w u ß t , in den strittigen Fragen<br />

über Schulreform, Mittelschule oder Gymnasium<br />

sich von d e m Troß der Oberflächlichen<br />

unterscheiden, ist der bekannte H o f -<br />

r a t T h e o d o r F u c h s , Professor der P a -<br />

l ä o n t o l o g i e a n der Wiener Universität,<br />

der uns in einem demnächst zu erscheinenden<br />

Werke, aus dem uns ein Abriß vorliegt,<br />

den Entwurf zur Organisation einer<br />

einheitlichen h u m a n i s t i s c h e n Schule<br />

bietet, dessen Gr<strong>und</strong>prinzipien von der Ans<br />

c h a u u n g des Anarchismus sich nicht nur<br />

n i c h t unterscheiden, sondern die bereits<br />

von unserem französischen F r e u n d e Paul<br />

Robin in der alten »Internationale« vertreten<br />

wurden, gegenwärtig einzig <strong>und</strong> allein<br />

in den von anarchistischen Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />

inspirierten Schulen Frankreichs, Spaniens,<br />

Hollands, jener Tolstois in Rußland u. s. w.,<br />

sich betätigen.<br />

Betrachten wir nur einmal die leitenden<br />

Gr<strong>und</strong>sätze, die Hofrat T h e o d o r Fuchs<br />

befolgt sehen will. Er sagt:<br />

„Das gemeinsame <strong>Ziel</strong> aller physischen <strong>und</strong><br />

geistigen Arbeit des (Menschengeschlechtes ist die<br />

Erhebung des Menschen zu immer höherer<br />

geistiger <strong>und</strong> sittlicher Freiheit.<br />

Die Gr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> Quelle aller sittlicher <strong>und</strong><br />

geistiger Freiheit ist die S e l b s t e r k e n n t n i s , die<br />

Erkenntnis seiner physischen <strong>und</strong> psychischen Natur,<br />

die Erkenntnis seiner Stellung in der Natur <strong>und</strong> in<br />

der Gesellschaft, die Erkenntnis seiner Rechte <strong>und</strong><br />

seiner Pflichten.<br />

Die Erhebung zu höherer geistiger <strong>und</strong> sittlicher<br />

Freiheit ist nur möglich innerhalb einer auf sittlichen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen aufgebauten gesellschaftlichen Ordnung.<br />

Jeder Mensch hat ein unveräußerliches Recht<br />

auf seine Persönlichkeit. Jeder Mensch hat aber<br />

auch die Pflicht, seine Fähigkeiten <strong>und</strong> Kräfte zum<br />

besten seiner Mitmenschen zu verwenden <strong>und</strong> an<br />

der Erweiterung <strong>und</strong> Hebung der sittlichen Gr<strong>und</strong>lage<br />

der Gesellschaft tätigen Anteil zu nehmen."<br />

W a s ist dies anderes als die Ethik des<br />

Anarchismus, die sich hier vernehmbar<br />

macht, o b w o h l man sie gerade aus solchem<br />

M u n d e zuletzt vermutet hätte?<br />

Und daß es sich mir nicht etwa um eine<br />

willkürliche Verzerrung von Begriffen handelt,<br />

sondern um die B e h a u p t u n g eines unleugbaren<br />

Tatbestandes, das geht daraus<br />

hervor, daß ich kühn behaupten kann: Es<br />

gibt keinen einzigen der W e l t a n s c h a u u n g<br />

des Anarchismus huldigenden Menschen,<br />

der diese »leitenden G r u n d s ä t z e " des Professors<br />

nicht freudig unterschriebe!<br />

N e h m e n wir etwas anderes, was uns<br />

hauptsächlich interessiert. Die sittliche Charakterbildung<br />

will Professor Fuchs auf<br />

folgende Strebensziele richten:<br />

„Durch Weckung, Belebung <strong>und</strong> Erhaltung der<br />

L e b e n s f r e u d i g k e i t als der einzigen natürlichen<br />

Quelle alles menschlichen Wirkens <strong>und</strong> Strebens,<br />

als der Urquelle alles Guten <strong>und</strong> Schönen.<br />

Durch Weckung des E h r g e f ü h l s .<br />

Durch Weckung des P f l i c h t g e f ü h l s .<br />

Durch Anleitung zur W a h r h a f t i g k e i t .<br />

Durch Anleitung zur S e l b s t b e h e r r s c h u n g .<br />

Durch Weckung <strong>und</strong> Erhaltung eines die ganz<br />

e Schule umfassenden k o l l e g i a l e n G e i s t e s .<br />

Durch Herstellung <strong>und</strong> Pflege eines v e r -<br />

t r a u e n s v o l l e n E i n v e r n e h m e n s zwischen<br />

Lehrkörper <strong>und</strong> Schüler."


Österreich.<br />

Wien. Seitdem dahier die anarchistische Bewegung<br />

eine eifrige Tätigkeit entfaltet, hat sich<br />

der sozialdemokratischen „Obern" große Unruhe<br />

bemächtigt. Die Disziplin, d. h. das Kuschen der<br />

Massen, ist in Gefahr. Und nun galt es, sie mit<br />

allen Mitteln zu retten. In edlem Eifer ging da der<br />

sozialdemokratische Bezirksausschuß von Favoriten<br />

voran. Diese hochweise Körperschaft dekretierte<br />

zuerst, es sei allen Vertrauensmännern, Funktionären<br />

it. s. w. verboten, unsere Versammlungen zu besuchen.<br />

Fürwahr, ein Heldenstück! Wenn wir<br />

Anarchisten wirklich so verrückte Kerle sind, wenn<br />

die sozialdemokratische Taktik die allein richtige<br />

<strong>und</strong> allein seligmachende ist, dann wäre es ja den<br />

Herren ein Leichtes, mit uns zu diskutieren! Wer<br />

denkt da nicht an das Vorgehen fanatischer Pfaffen,<br />

die ihren treuen Schäflein den Besuch freidenkerischer<br />

Versammlungen verbieten, aus Sorge für<br />

deren Seelenheil natürlich.<br />

Doch dieser Beschluß nützte wenig, <strong>und</strong> so<br />

griff man zu einem radikaleren Mittel. In einer<br />

neuerlichen Sitzung faßte der hohe Senat den Beschluß,<br />

a l l e A r b e i t e r , d i e s i c h m i t d e m a n -<br />

a r c h i s t i s c h e n S o z i a l i s m u s a b ge b e n, a u s<br />

d e n O r g a n i s a t i o n e n a u s z u s c h l i e ß e n , i h n e n<br />

d a s B e t r e t e n d e s A r b e i t e r h e i m e s z u v e r -<br />

b i e t e n u . s . w . Eine Ironie des Schicksals wollte<br />

es, daß dieser Beschluß an demselben Tage gefaßt<br />

wurde, an dem unser Gen. P. Ramus den Abgeordneten<br />

Reumann derart in die Enge trieb, daß er<br />

erklärte, auf eine Diskussion könne er sich nicht<br />

einlassen. Soll das jetzt die Diskussion s e i n ? Meine<br />

Herren, Ausschließungen sind keine Argumente.<br />

Nun könnte vielleicht jemand sagen: Das ist<br />

zwar nicht sehr edel gehandelt von den Sozialdemokraten,<br />

aber sie haben das Recht dazu. Wer<br />

nicht mit ihnen einverstanden ist, der gehört nicht<br />

in ihre Reihen. Gemach; das gilt von der politischen<br />

Organisation, die erwähnten Ausschließungen<br />

beziehen sich aber a u f G e w e r k s c h a f t e n , also<br />

auf u n p o l i t i s c h e Organisationen, die nicht nur<br />

Sozialdemokraten umfassen. Auf dem letzten Parteitage<br />

der deutsch-österr. Sozialdemokratie hat<br />

Abg. Pernerstorfer ausdrücklich anerkannt: „Wenn<br />

ein gewerkschaftlich organisierter Arbeiter sich bei<br />

den Klerikalen, Nationalen u. s. w. behaglicher fühlt<br />

als bei uns, können wir nichts machen". Also klerikal,<br />

national oder indifferent darf man sein; aber<br />

wehe, wenn jemand Anarchist ist. Dann arbeitet<br />

das Ketzergericht <strong>und</strong> stößt ihn aus aus den Reihen<br />

der Gerechten.<br />

Noch interessanter wird die Sache, wenn man<br />

die Art <strong>und</strong> Weise betrachtet, in der so eine Ausschließung<br />

vor sich geht. Da findet eine vertrauliche<br />

Sitzung statt, in der beschlossen wird, diesen <strong>und</strong><br />

jenen auszuschließen. Der Betreffende ist nicht anwesend,<br />

kann sich nicht verteidigen, es wird ihm<br />

dann bloß der fertige Beschluß mitgeteilt. Dem Beschlüsse<br />

wird noch die hübsche Bemerkung hinzugefügt,<br />

wenn der Ausgeschlossene es sich einfallen<br />

lassen sollte, trotz des Verbotes das Arbeiterheim<br />

zu betreten <strong>und</strong> wenn er den Ordnern nicht folgt<br />

<strong>und</strong> hinausgeht, s o w i r d d i e P o l i z e i g e h o l t ,<br />

um den Widerspenstigen aus den heiligen Hallen<br />

zu entfernen! Die „revolutionäre" Sozialdemokratie<br />

Arm in Arm mit der Polizei gegen die Anarchisten!<br />

Ein Schauspiel für Götter!<br />

Ein solches Vorgehen könnte uns wohl empören,<br />

wenn wir sehen, wie diese Leute, die von<br />

Freiheit, Gleichheit <strong>und</strong> Brüderlichkeit, von Freiheit<br />

der Meinungsäußerung u. s. w. nur so triefen, alle<br />

Phrasen vergessen <strong>und</strong> skrupellos die Statuten ihrer<br />

Organisationen übertreten, wenn es gilt, eine selbstständige<br />

Meinung m<strong>und</strong>tot zu machen. Doch wir<br />

sehen daran, daß die Herren „Obergenossen" uns<br />

fürchten. Man hat uns bis jetzt höchstenorts zu<br />

ignorieren geruht. Aber diese Ignorierung war nur<br />

äußerlich; heimlich wurde gearbeitet <strong>und</strong> beschlossen.<br />

Die Herren wissen eben ganz genau: wenn<br />

das Proletariat zur Einsicht kommt, daß es nicht<br />

durch das parlamentarische Geschwätz seiner Führer,<br />

sondern einzig <strong>und</strong> allein durch seine direkte,<br />

revolutionäre ökonomische Aktion etwas erreichen<br />

kann, dann sind die Führer überflüssig, dann ist<br />

ihre Existenz bedroht. Und dieses Erwachen des<br />

Proletariats wird kommen. Weder die Verfolgungen<br />

seitens des Staates, noch die seitens der Sozialdemokratie<br />

werden es verhindern. — — —<br />

Wenn wir nun die sonstige Tätigkeit der Wiener<br />

anarchistischen Bewegung ins Auge fassen, können<br />

wir auf eine große Anzahl von öffentlichen Unternehmungen<br />

hinweisen. Außerordentlich gut besucht<br />

war die Versammlung in der Einsiedlergasse, in der<br />

der Fall S t a r c k nach Gebühr gewürdigt wurde, indem<br />

man sowohl diesen politischen Gaukler wie<br />

aber auch die Herren sozialdemokratischen Gaukler<br />

ins gebührende Licht rückte. — Die Versammlung<br />

des XIV. Bezirkes über „Die Prinzipien des kommu-<br />

nistischen Anarchismus" erfreute sich einer lebhaften<br />

Beteiligung von Seiten ganz neuer Besucher. — Daß<br />

die sozialdemokratische Versammlung im III. Bezirk,<br />

in der Dr. Renner einen geistig öden, wertlosen Vortrag<br />

über das „Wesen des Staates" hielt, die theoretische<br />

Wertlosigkeit dieser ganzen, sich behäbig<br />

spreizenden Nichtswisserei sehr wohl begriff, geht<br />

aus dem Umstand hervor, daß sie jede Diskussion<br />

u n t e r d r ü c k t e , der g e l a h r t e Herr Renner das<br />

Weite suchte. — Bei dieser Gelegenheit sei auf den<br />

glänzenden Verlauf des Balles der „Allgemeinen<br />

revolutionären Gewerkschaftsföderation" hingewiesen,<br />

der von weit über 500 Personen besucht war<br />

<strong>und</strong> auf dem es bis zum Morgengrauen fidel zuging.<br />

Einen geradezu großartigen Erfolg hatte unser<br />

Genosse R a m u s in der Gewerkschaft der Stukkateure<br />

zu verzeichnen, wo er über „Sozialismus <strong>und</strong>.<br />

Gewerkschaftsbewegung" referierte <strong>und</strong> selbst sozialdemokratische<br />

Mitglieder ein solch lebhaftes Interesse<br />

für seine Ausführungen an den Tag legten,<br />

daß der Antrag gestellt <strong>und</strong> einstimmig angenommen<br />

wurde, den Genossen Ramus für eine ganze Serie<br />

von Vorträgen einzuladen. — Ein weiterer Vortrag<br />

fand statt über „Kulturtendenzen des Anarchismus".<br />

Von bemerkenswerter Wichtigkeit ist auch ein<br />

von Dr. Math. R a k o w s k y im II. Bez. gehaltener<br />

Vortrag über „Vergangene <strong>und</strong> zukünftige Gesellschaftsordnungen",<br />

in dem der Referent eine Reformmethode<br />

durch Niederdrückung des Zinsfußes des<br />

Kapitals auf ein „gerechtes Maß" befürwortete. Einige<br />

unserer Genossen traten dem Redner, der übrigens<br />

mit beachtenswerter Geistesschärfe seine Ansichten<br />

vertrat, debattierend entgegen. — Eine erfreuliche<br />

Überraschung wurde den Wiener Kameraden zuteil<br />

durch den unerwarteten Besuch eines kameradschaftlichen<br />

Delegierten der Marburger, Klagenfurter<br />

<strong>und</strong> Grazer Gruppen, den diese behufs Besprechung<br />

propagandistischer Pläne an uns entsandten, welche<br />

mündliche Aussprache auch sehr reiche Propagandaresultate<br />

zeitigen wird. - Seit Jahr <strong>und</strong> Tag kann<br />

die Wiener Bewegung auf eine s o l c h e Versammlung<br />

nicht zurückblicken, wie jene des V. Bez. es<br />

war, in der Genosse R a m u s über die „Arbeitslosenarmee<br />

<strong>und</strong> der Generalstreik" referierte. Ober<br />

400 Männer füllten die geräumige Halle <strong>und</strong> mit<br />

Ausnahme eines einzigen betrunkenen Sozialdemokraten,<br />

der an die Luft befördert werden mußte,<br />

lauschten, abgesehen von einigen, rasch vorübergehenden<br />

Wutausbrüchen sozialdemokratischen Fanatismus,<br />

die von den eigenen, vernünftigeren Elementen<br />

gedämpft wurden, sämtliche der Anwesenden<br />

mit gespanntester Aufmerksamkeit den fast zweistündigen<br />

Ausführungen des Redners. Eine nachfolgende<br />

Diskussion, die bis halb 12 Uhr dauerte,<br />

besiegelte den Erfolg, ob dessen Herbeiführung man<br />

der „Gewerkschaftsföderation" gratulieren darf. -<br />

Regstes Interesse erregte auch der auf Wunsch a b -<br />

gehaltene Vortrag über „Moderne Wissenschaft <strong>und</strong><br />

Anarchismus", nach dessen Beendigung vornehmlich<br />

der Kamerad Sch. an den Genossen Ramus mit der<br />

Aufforderung herantrat, ihm das Manuskript des<br />

Vortrags zu übergeben <strong>und</strong> daß er die Drucklegungskosten<br />

bestreiten würde. - Hervorgehoben muß<br />

werden, daß unsere Kameraden den Vertrieb des<br />

„W. f. A." mit vieler Lebhaftigkeit betreiben <strong>und</strong><br />

überhaupt diejenigen sind, die es bewerkstelligen,<br />

daß eine propagandistische Unternehmung die andere<br />

förmlich jagt!<br />

T r i e s t . Da die allgütige Polizei auch uns<br />

Triester Anarchisten mit ihren Verfolgungen beehrt<br />

<strong>und</strong> Legionen von Schergen, Polizisten <strong>und</strong> Pfaffen<br />

aufbietet, um den Geist der Rebellion im Schutt<br />

<strong>und</strong> Moder des Bestehenden zu ersticken darf<br />

es nicht W<strong>und</strong>er nehmen, daß unsere Propaganda<br />

hier Riesenfortschritte zu verzeichnen hat. Es wird<br />

dies den Hütern der modern-sozialen Unordnung<br />

paradox erscheinen; — warum vergessen sie auch<br />

die Worte des blassen Nazareners: „Ihr könnt den<br />

Körper töten, d e n G e i s t t ö t e t i h r n i c h t ! "<br />

Und tatsächlich: Je mehr die herrschenden<br />

Gewalten uns verfolgten, um so mehr junge, tatkräftige<br />

Elemente fanden sich vor. Als vor ungefähr<br />

5 Jahren das Triester Anarchistenblatt: „ L ' l n t e r -<br />

n a z i o n a l e " einging, glaubten jene Herren, es sei<br />

nun aus mit dem Idealgedanken der Anarchie .. ,<br />

Bald darauf erschien aber „La P l e b e " . Nach<br />

19 Nummern (von denen eine jede konfisziert<br />

wurde) gelanges der juristischen Paragraphenallianz,<br />

dem mutigen Vorkämpfer der Freiheit ein jähes<br />

Ende zu bereiten.<br />

Doch siehe da! Es währte nicht lange <strong>und</strong><br />

die Genossen schleuderten das „Germinal" in die<br />

Massen. Um das schwarz-rote Banner hatten sich<br />

in dieser Aufeinanderfolge von pfäffisch-reaktionären<br />

Gewaltstreichen schon so viele Genossen gesammelt,<br />

daß es möglich wurde, unser Blatt wöchentlich erscheinen<br />

zu lassen. Die Herren der Autorität<br />

schlugen drein. Mit j e d e r Waffe! Vor lauter Dreinhauen<br />

wurden aber ihre Geisteswaffen ganz stumpf.<br />

Nur so können wir es uns erklären, daß sich unser<br />

Blatt 32 Wochen lang hielt, ehe es der rot-schwarzgelben<br />

Koalition abermals gelang, uns m<strong>und</strong>tot zu<br />

machen. Von der Nummer 30 an begannen die<br />

Razzias en gros. Die Postdirektion ließ sich bei<br />

dieser Gelegenheit der Polizei morganatisch antrauen<br />

<strong>und</strong> konfiszierte uns alle Sendungen in die Provinz<br />

<strong>und</strong> ins Ausland; ganze Heere von tapfer-feigen<br />

Spitzeln belagerten die Druckerei unseres Blattes,<br />

häufig unternahmen unter dem allerhöchsten Protektorat<br />

der „Politischen", Häscherbanden Exkursionen<br />

nach unserer Redaktion, Scharen von Genossen<br />

wurden in Staatspension gebracht.<br />

Die Genossen aber lachten <strong>und</strong> arbeiteten<br />

rüstig weiter.<br />

Da, einsehend daß all der Terrorismus unser<br />

Arbeitsfeld nur frisch befruchtete <strong>und</strong> befürchtend,<br />

daß unser Blatt dem eben ausgebrochenen Streik<br />

der Platzarbeiter <strong>und</strong> „Facchini" eine revolutionäre<br />

Wendung geben könnte, entschloß sich die löbliche<br />

Polizei zu einem „coup final". Einige Minuten,<br />

nachdem das Pflichtexemplar der Nummer 32 der<br />

p. t. Zensur überreicht worden, stürzte eine besäbelte<br />

Meute in die Druckerei, begaffte alles, schnüffelte<br />

in jedem Winkel <strong>und</strong> . . . verhaftete endlich die<br />

ganze Anzahl von Genossen <strong>und</strong> Nichtgenossen.<br />

In übereifrigem Pflichterfüllungsdrange schössen die<br />

Wachmänner <strong>und</strong> Spitzel mittlerweile wie Donnerkeile<br />

durch alle Gassen, um auch unseren Redakteur<br />

zu packen. Die Polizei war schon so sicher, ihn<br />

zu fassen, daß in den meisten Triester Zeitungen<br />

der Bericht einging, M a r c e l l o A n d r i a n i , Redakteur<br />

des „Germinal" sei bereits verhaftet <strong>und</strong><br />

in Gewahrsam gebracht. Dies zu einer Zeit, als<br />

unser Marcello wohlgemut die Grenze überschritt!<br />

Wenn die staatlichen Würdenträger nun aber<br />

glauben sollten, sie hätten das Gespenst der Anarchie<br />

für immer aus Triest gebannt, werden sie nur zu<br />

bald ein solennes Fiasko erleben. Die Siegkraft<br />

unserer Idee bewährt sich auch hier wieder <strong>und</strong><br />

trotz der Zerstörungswut der Herrschenden uns<br />

gegenüber, findet schon jetzt, wo ich dies niederschreibe,<br />

eine Neuvereinigung der Kräfte statt, die<br />

den Kampf wieder aufnehmen <strong>und</strong> bis zur völligen<br />

Emanzipation führen wird. J. O.<br />

England.<br />

Die revolutionäre <strong>und</strong> nichtautoritäre Bewegung<br />

des Soziallsmus beginnt große Fortschritte zu<br />

machen; <strong>und</strong> durch die dunklen Wolken des Staates<br />

<strong>und</strong> der kapitalistischen Ausbeutung brechen<br />

allmählich einige kräftige Strahlen der Freiheitssonne.<br />

Eine bedeutende Arbeit wird von der neugegründeten<br />

„Anarchistischen Föderation" geleistet, die die<br />

Propaganda in der Provinz leitet. Neben der energischen<br />

Arbeit <strong>und</strong> den Resultaten, die im Ostende<br />

von London aufzuweisen wären, gibt es deren erfolgreiche<br />

auch innerhalb der englischen Bevölkerung,<br />

Resultate, die ich ins Leben rief. Regelmäßige<br />

Versammlungen wurden während des Sommers,<br />

Herbst <strong>und</strong> Winters verflossenen Jahres von<br />

mir abgehalten. Meine Propaganda erstreckte sich<br />

auch auf die Straßenversammlungen <strong>und</strong> mehr denn<br />

eine sehr erfolgreiche Versammlung fand im international<br />

bekannten Hyde-Park Londons statt. Gegenwärtig<br />

bin ich mit den Vorbereitungen für eine<br />

Agitationstour durch die Hauptstädte des vereinigten<br />

Königreiches beschäftigt. Dank der großen<br />

Kolportage unserer Literatur, ist eine sehr bedeutsame<br />

Regung zu uns herüber in vielen Freidenkervereinen,<br />

wie auch innerhalb mancher sozialdemokratischen<br />

Gruppe bemerkbar <strong>und</strong> ist der Staatssozialismus<br />

deutlich genug im Verfall begriffen. Die<br />

von mir organisierte „Bakuniii"-Verlagsgesellschaft<br />

hat bereits eine Anzahl anarchistischer Schriften herausgegeben<br />

(vgl. „Ohne Herrschaft" Nr. 2. Anm. cl.<br />

Red.) <strong>und</strong> weitere befinden sich im Druck. Der<br />

beste Beweis dafür, was Kampfesfreude <strong>und</strong> ernstes<br />

Wollen trotz aller finanziellen Schwierigkeiten zu<br />

leisten vermögen ! Guy A. Aldred.<br />

Frankreich.<br />

Im französischen Kriegshafen T o u l o n sollte<br />

sich eine Abteilung Marinesoldaten einschiffen, um<br />

sich auf den Kriegsschauplatz in Marokko zu begeben<br />

— wo gegenwärtig die französische Armee<br />

daran ist, die europäische Zivilisation einzuführen,<br />

d. h. ein freies <strong>und</strong> friedfertiges Volk im Interesseeiniger<br />

Kapitalisten <strong>und</strong> Spekulanten hinzumorden<br />

<strong>und</strong> zu knechten. — Unter diesen Matrosen befand<br />

sich einer, der sich weigerte, den Zug mit seinen<br />

Kameraden zu besteigen, welcher sie zum Hafen<br />

bringen sollte. Er erklärte, daß der Krieg in Marokko<br />

eine Scheußlichkeit ist, <strong>und</strong> daß er nicht an so einer<br />

Räuberei teilnehmen wolle.<br />

Der Kommandant der Kaserne hat diesen<br />

Matrosen zwischen vier bewaffneten Soldaten zum<br />

Bahnhof bringen lassen, <strong>und</strong> er wurde mit Gewalt<br />

eingeschifft.<br />

Zur Tat dieses einfachen unbekannten Matrosen<br />

gehört wahrlich mehr Mut als jene Soldaten


<strong>und</strong> Seeleute bewiesen haben, die wohlgeschützt<br />

hinter den Eisenplatten der Panzerschiffe die wehrlosen<br />

marokkanischen Städte <strong>und</strong> Dörfer in Trümmer<br />

geschossen haben, <strong>und</strong> die man als Helden<br />

verherrlicht!<br />

Internationales anarchistisches<br />

Bureau.<br />

1. Werte Genossen! Erlaubt uns eine kurze<br />

Erklärung als Antwort auf den vom Genossen Pierre<br />

Ramus unterzeichneten Protest, der in Nr. 3 des<br />

„W. f. A." zum Abdruck gelangte:<br />

In einem Briefe, datiert vom September 1907,<br />

in dem Pierre Ramus dem Bureau seinen Beitritt<br />

zur Internationale mitteilte, sandte er uns gleichzeitig<br />

einige Dokumente, die er dem Protokolle, dessen<br />

Herausgabe damals von verschiedenen Seiten angeregt<br />

wurde, einzuverleiben wünschte. Unter diesen<br />

Schriftstücken befanden sich auch z w e i Resolutionen,<br />

von denen die eine auf den Antimilitarismus<br />

Bezug nahm, während die andere sich gegen die<br />

Gründung eines Bureaus erklärte.<br />

Was die Resolution über „Organisation" anbetrifft,<br />

die P. R. in seinem Protest erwähnt, ist<br />

uns eine solche weder von dem Vorsitzenden des<br />

Kongresses noch v o n P. R. s e l b s t jemals übergeben<br />

worden!<br />

Was die Resolution über die anarchistische Internationale<br />

anbetrifft, handelt es sich hier ausschließlich<br />

um eine Frage der Technik <strong>und</strong> Methode, nicht<br />

aber um eine solche der prinzipiellen Meinung. Sic<br />

gehört ins Protokoll des Kongresses, sicher nicht<br />

in eine Broschüre, in der die vom Kongresse angenommenen*)<br />

Resolutionen zum Abdruck gelangen<br />

sollten. Von einer Veröffentlichung der Resolution<br />

Pierre Ramus, E. Goldmann, M. Baginsky konnte<br />

umsoweniger die Rede sein, da dieselbe von den<br />

Delegierten verworfen, eine andere Resolution aber<br />

angenommen wurde, die die anarchistische Internationale<br />

für o r g a n i s i e r t erklärte, der sich die<br />

drei Unterzeichneten der ersten Resolution später<br />

auch anschlossen. Die Resolution von P. R. würde<br />

sicher im „Bulletin" ihren Platz gef<strong>und</strong>en haben, in<br />

dem ein Protokoll des Kongresses zuerst veröffentlicht<br />

werden sollte; aber, wiederholen wir es nochmals,<br />

eine Resolution, die nur Bezug hatte auf die<br />

Methode <strong>und</strong> die technische Form der Organisation,<br />

konnte schon deswegen unter den vom<br />

Kongresse angenommenen Resolutionen keine Aufnahme<br />

finden, da eine andere Resolution, die sich<br />

auch nur auf die technische Form der Organisation<br />

bezog, den Teilnehmern des Kongresses praktischer<br />

erschien <strong>und</strong> durch dies allein der anderen Form<br />

schon Leben gegeben wurde.<br />

Endlich haben wir noch zu bemerken, d a ß ,<br />

w e n n e s s i c h u m e i n M i ß v e r s t ä n d n i s<br />

h a n d e l t e , e s v o n R a m u s s i c h e r k a m e r a d -<br />

s c h a f t l i c h e r g e w e s e n w ä r e , w e n n e r s i c h<br />

m i t s e i n e r B e s c h w e r d e d i r e k t a n d a s<br />

B u r e a u g e w e n d e t h ä t t e , a n s t a t t d e n V e r -<br />

s u c h z u m a c h e n , e i n e n L ä r m z u p r o v o z i e r e n .<br />

Mit brüderlichem Gruß<br />

Das Korrespondenz-Bureau der A. I. (London).<br />

2. Z u r E r w i d e r u n g ! Aus obiger Antwort<br />

der Kameraden des „I. B." geht meiner Meinung nach<br />

unzweideutig hervor, daß sie eine unhaltbare<br />

Situation aufrecht erhalten wollen, was eben nicht<br />

angeht. Es tut nichts zur Sache, ob ich die Resolutionen<br />

an das Bureau sandte oder nicht;<br />

ebensowenig kann ich für die Fehler des Vorsitzenden<br />

verantwortlich gemacht werden. Tatsache ist,<br />

daß die Septembernummer der „Freien Generation"<br />

meine Resolutionen vollinhaltlich brachte, welche<br />

Nummer einzelnen deutschlesenden Kameraden des<br />

Bureaus unzweifelhaft bekannt war. Zudem ist es<br />

eine, wie ich glaube, nicht anarchistische Auffassung,<br />

von angenommenen oder nicht angenommenen Resolutionen<br />

zu sprechen. Wenn es deren letztere<br />

gab, dann fragt es sich, w e l c h e Resolution über<br />

den Syndikalismus — eine erhielt etwa- 48, die<br />

andere nur 27 Stimmen (ohne das Gegenvotum zu<br />

nennen) — als „die angenommene" gilt? So weit<br />

ich in Betracht komme, fasse ich die Abstimmung<br />

unter Anarchisten nicht auf im Sinne der Zurmachtgelangung<br />

irgend welcher Fraktion, sondern nur<br />

als resp. I d e e n a u s d r u c k , der in seiner Gänze<br />

<strong>und</strong> Verschiedenartigkeit in vollster Ausführlichkeit<br />

allen Kameraden überantwortet werden muß, die<br />

dann ihrerseits nach eigenem Verständnis handeln.<br />

Gerade deshalb bin ich Mitglied der „Internat.",<br />

obwohl ich den prinzipiellen Gr<strong>und</strong>sätzen, die zu<br />

ihrer Begründung verwendet wurden, nicht beistimmen<br />

kann: als Werk einer genössischen Gruppierung<br />

aber ist sie der experimentalen Unterstützung<br />

eines jeden, wenn auch in Bezug auf ihren Organisationsbau<br />

anders denkenden <strong>und</strong> mit ihr nicht<br />

übereinstimmenden Genossen würdig. Daß es sich<br />

in dieser Polemik nicht nur um technische, sondern<br />

um p r i n z i p i e l l e Fragen handelt, beweist der<br />

Aufsatz des Genossen Grave, den ich folgen lasse<br />

<strong>und</strong> der sich zu meiner Genugtuung völlig auf die<br />

Gr<strong>und</strong>züge meiner Resolution stützt. Allerdings tut<br />

es mir leid, in der wenig angenehmen Lage zu sein,<br />

* D u r c h ein Versehen d e s Ü b e r s e t z e r s fehlt auf dem<br />

Titelblatt der d e u t s c h e n Ausgabe d a s W o r t „ a n g e n o m m e n e "<br />

in d e r e n g l i s c h e n <strong>und</strong> französischen A u s g a b e findet es sich.<br />

Lärm schlagen zu müssen; wenn aber die Kameraden<br />

mir entgegenhalten, ich hätte mich v o r e r s t an sie<br />

wenden sollen, dann vergessen sie, daß dies n a c h<br />

der Publikation der fraglichen Resolutionsbroschüre<br />

nicht mehr gut anging <strong>und</strong> ich sehr wohl ihnen<br />

entgegenhalten kann, s i e hätten wohl daran getan,<br />

sich v o r der fraglichen Publikation mit der Anfrage<br />

an mich zu wenden, ob ich der Auslassung meiner<br />

Resolutionen beistimme.<br />

Mit solidarischem Gruße Pierre Ramus, Wien.<br />

3 . <strong>Unser</strong> französischer Genosse J e a n G r a v e<br />

veröffentlicht in unserem Pariser Bruderblatt „Les<br />

temps nouveaux" folgende beherzigenswerte Betrachtungen<br />

zu obiger Polemik <strong>und</strong> über den G e -<br />

genstand anarchistischer Organisationen:<br />

„Ich habe vom Genossen Ramus aus Wien einen<br />

Protest gegen das Londoner „Internationale Anarchistische<br />

Bureau" erhalten, das in seiner ersten<br />

Veröffentlichung: „Die Resolutionen des Amsterdamer<br />

Kongresses" zwei Vorschläge verschwiegen<br />

haben soll, die Ramus mit anderen Genossen vorgebracht<br />

hat.<br />

Da die „Temps nouveaux" es abgelehnt hat,<br />

sich am Kongreß <strong>und</strong> an der Organisation des<br />

Bureaus zu beteiligen, haben wir uns nicht in diese<br />

inneren Uneinigkeiten zu mischen.<br />

Man wollte, um die anarchistischen Kräfte zu<br />

vereinigen, das alte zentralistische System anwenden,<br />

das von oben wirken sollte; man wollte die<br />

Vereinigung dekretieren <strong>und</strong> die Gruppen auffordern,<br />

sich an dieselbe anzuschließen, indem sie dazu die<br />

Vermittlung einer eigens dafür geschaffenen Gruppe<br />

in Anspruch nehmen; die Förderer dieses Beschlusses<br />

genießen jetzt die Früchte von dem, was sie<br />

geschaffen haben, wenn die Anschuldigungen des<br />

Genossen Ramus exakt sind.<br />

Für mich, in meinem Sinne, hätte die anarchistische<br />

Methode verlangt, daß diese Vereinigung<br />

sich von unten aufbaut, das heißt durch die Gruppen<br />

selber, die sich gegenseitig aufsuchen <strong>und</strong> unmittelbar<br />

ihre Ansichten austauschen.<br />

Von einer oder der anderen würde natürlich<br />

die Initiative ausgehen. Diejenigen Genossen oder<br />

Gruppen, von deren Seite irgend eine Idee ausging,<br />

hätten damit anfangen sollen, daß sie die<br />

Aufgabe der Propaganda, die sie einleiten wollen,<br />

klar darlegen; denn dazu, daß etwas getan wird,<br />

genügt es nicht, in alle Winde zu verkünden, daß<br />

man genug von der Theorie hat, daß man zur<br />

Aktion übergehen wolle.<br />

Wenn einmal dieser Punkt aufgeklärt ist, hätte<br />

derjenige, der den Vorschlag macht, jenen Gruppen<br />

geschrieben, deren Adresse er sich verschaffen<br />

kann — es ist immer leicht, einige solche zu finden;<br />

— er würde ihnen erklären, was er tun möchte<br />

<strong>und</strong> sie bitten, ihm zu helfen <strong>und</strong> ihn mit den<br />

Gruppen in Verbindung zu setzen, welche sie kennen<br />

— indem er gleichzeitig ihnen die Adressen<br />

mitteilt, in deren Besitz er ist.<br />

Die befragten Gruppen hätten wohl zugesagt,<br />

sich der vorgeschlagenen Propaganda anzuschließen;<br />

oder sie hätten es zurückgewiesen, dies zu tun,<br />

wenn sie eine andere Art von Propaganda für<br />

zweckmäßiger hielten. Aber das Verhältnis zwischen<br />

den Gruppen hätte so oder so weiter bestehen<br />

können; denn wenn man auch nicht an einer Art<br />

Propaganda teil nimmt, weil unsere Tätigkeit durch<br />

eine andere in Anspruch genommen ist, so kann<br />

man doch immer durch indirekte Hilfe an derselben<br />

teilnehmen, durch Aufschlüsse u. s. w.<br />

Und der Kreis der Verbindungen hätte sich<br />

so Schritt für Schritt ausgedehnt; indem, wenn hier<br />

eine Gruppe verschwindet, andere sich anderswo<br />

bilden. Der Mittelpunkt hätte überall sein können,<br />

da jede Gruppe die Adressen der anderen besäße.<br />

Man hätte es nicht mehr nötig gehabt, sich an<br />

einen Vermittler zu wenden.<br />

Jedenfalls würde dies Zeit gebraucht haben ;<br />

viel Zeit. Feste, internationale Verbindungen können<br />

nicht auf einen Schlag entstehen. Aber die Vereinigung<br />

hätte sich durch sich selbst aufgebaut, durch<br />

aufeinanderfolgende Anschlüsse <strong>und</strong> innerhalb dieser<br />

allgemeinen Vereinigung hätten die Gruppen mit gemeinsamen<br />

<strong>Ziel</strong>en auf Gr<strong>und</strong> von innerer Verwandschaft<br />

kleinere oder größere Vereinigungen gebildet.<br />

Es ist wahr, daß das nicht so stattlich ausgeschaut<br />

<strong>und</strong> so imposant geklungen hätte, wie ein<br />

„Internationales Bureau". Und dann wäre dazu<br />

viel mehr Arbeit nötig, als um einfach zu dekretieren,<br />

daß die Vereinigung gegründet ist. Aber<br />

meiner Meinung nach hätte man dadurch etwas<br />

viel Gediegeneres, viel Lebensfähigeres <strong>und</strong> viel<br />

mehr Anarchistisches geschaffen."<br />

4. Der Genosse Ramus sendet uns eine briefliche<br />

Mitteilung unseres holländischen Genossen<br />

Nieuwenhuis, die wir ebenfalls in Kürze folgen<br />

lassen:<br />

„Lieber Kamerad! . . . Ja, auch ich habe es<br />

mit Bedauern bemerkt, daß der Zentralisationsbacillus<br />

im „Internationalen Bureau" schon zu wirken<br />

begann, nämlich in Ihrem Falle. Doch habe ich das<br />

nicht von allem Anfang an vorausgesagt? Doch auf<br />

die einzelnen Genossen fällt keine Schuld; wissen<br />

wir es denn noch nicht, sagen wir es denn nicht<br />

immer, daß die Schuld vornehmlich an den Institutionen<br />

<strong>und</strong> n i c h t an den Einzelpersonen gelegen<br />

i s t ? ! Leider vergessen wir dies noch immer<br />

sehr oft . . . Ihr Fre<strong>und</strong> Domela Nieuwenhuis.<br />

Briefe unserer Leser.<br />

1. An die Redaktion! Ich bin Mitglied der<br />

„Unabhängigen Schuhmachergenossenschaft" des<br />

XV. Bezirkes, Hütteldorferstraße 33 <strong>und</strong> ersuche um<br />

das Recht, den nachfolgenden Fall der Öffentlichkeit<br />

bekanntgeben zu können. Vor längerer Zeit arbeitete<br />

ich in der Fabrik des Herrn Neider <strong>und</strong> war somit<br />

dem Werkführer Kujgyza wohlbekannt. Als in dieser<br />

Fabrik ein Platz frei wurde, sandte ich meinen<br />

Wochengesellen, um nach Arbeit zu fragen, die<br />

dieser auch wirklich erhielt. Doch bald verlangte<br />

der Werkführer den Meldezettel zu sehen, aus dem<br />

er ersah, daß der Geselle bei mir — den der Werkführer<br />

prinzipiell haßt — wohnt. Damit war es mit<br />

der Arbeit zu Ende, denn der Werkführer erklärte,<br />

er würde ihm deshalb keine Arbeit mehr geben,<br />

weil er bei mir wohne. „Der Bauer muß in jeder<br />

Hinsicht boykottiert werden" sagte der würdige<br />

Mann. Ich <strong>und</strong> meine Frau wandten uns an den<br />

Fabrikanten Herrn Neider, der nach Anhörung des<br />

Falles erklärte, wir sollten den Wochengesellen nur<br />

senden <strong>und</strong> würden Arbeit bekommen. Wir taten<br />

es, aber da der Werkführer nur ungarisch <strong>und</strong><br />

deutsch, der Wochengeselle nur böhmisch spricht,<br />

hatte der Werkführer es leicht, mit ihm ein Hühnchen<br />

zu pflücken <strong>und</strong> wies ihm die Tür.<br />

Es handelt sich hier um einen Willkürsakt<br />

sondergleichen, den öffentlich niedriger zu hängen<br />

ich für nötig finde. Peter Bauer, Wien.<br />

Stadlau.<br />

2. Werte Genossen! Iis ist mir nicht angenehm<br />

in der Zeit, wo Sie in Wien an die Gründung eines<br />

Blattes gegangen sind, das meines Wissens h i e r<br />

noch ungebahnte <strong>Weg</strong>e betritt, in Ihre Ideenwelt<br />

nicht in dem Maße eingeführt zu sein, um in Ihrem<br />

Blatte mitarbeiten <strong>und</strong> auf diese Weise Sie in der<br />

schweren Arbeit, die Ihnen bevorsteht, unterstützen<br />

zu können. Wir stehen „einer Welt von Feinden<br />

gegenüber", der wir die Ketten abzunehmen haben,<br />

die sie zum Teile unbewußt, zum Teile mit Liebe<br />

trägt. Gerade das ist das Schwierige, was wir zu<br />

leisten haben. Es müssen alle Kräfte in Anstrengung<br />

gebracht werden, in diesem Kampfe um die vollständige<br />

Freiheit. Frei von jedem künstlich erzeugten<br />

Gewissen. Frei von allem, was den Geist, unsere<br />

Weltanschauung, trüben könnte. Physische Freiheit!<br />

Frei von allem, was dem Individuum eine Schranke<br />

ist. Frei von allem, was es unangenehm empfindet<br />

<strong>und</strong> ihm Nachteil bringt. Es ist dies ein schwerer<br />

Kulturkampf. Doch es regt sich bereits! Wir haben<br />

daher nur eine Arbeit zu leisten: D i e s e R e g u n g<br />

r i c h t i g z u e r k e n n e n u n d i n i h r e m S i n n e<br />

z u h a n d e l n .<br />

Ich würde mich besonders freuen, wenn ich<br />

Gelegenheit hätte, mit den Ideenfre<strong>und</strong>en in nähere<br />

Berührung zu treten. Ich selbst bin, nachdem ich<br />

meine Studien im Lehrerseminar aufgeben mußte,<br />

nunmehr bei . . . . angestellt. Ich begrüße Sie als<br />

Gesinnungsfre<strong>und</strong> E. F.<br />

Graz.<br />

3. Verständige Euch davon, werte Genossen, daß<br />

das Blatt hier ausgezeichneten Anklang findet. Die<br />

besten Grüße senden die hiesigen Genossen. K.<br />

Sternberg.<br />

4. Werte Genossen! Sende Euch Abonnements.<br />

Was meine Arbeitsverhältnisse anbelangt, sind sie<br />

elend genug. Verdiene als Seidenweber wegen<br />

schlechten Materials bei der c h r i s t l i c h e n Firma<br />

Hrubij I. W. kaum 7 Kronen. Das Arbeitsmaterial<br />

ist bei diesem Christen nicht zu verarbeiten. Man<br />

könnte darob verzweifeln. Der Herr Chef hat vergessen,<br />

daß er selbst einst ein armer Teufel war.<br />

Euer . . .<br />

Glück auf!<br />

Das Erscheinen der ersten Nummer eines<br />

internationalen anarchistischen Bulletins — „Bulletin<br />

de l'Internationale anarchiste" — verwirklicht einen<br />

langgehegten Plan der rührigsten Elemente unserer<br />

Bewegung <strong>und</strong> füllt im wahrsten Sinne eine längst<br />

schmerzlich gefühlte Lücke aus. Hoffen wir, daß die<br />

Kameraden der Hauptländer den Wert dieses<br />

internationalen Geistesbandes würdigen <strong>und</strong> die<br />

Herausgeber des Bulletins dadurch bald in die Lage<br />

versetzen werden, dieses notwendige Verbindungs<strong>und</strong><br />

Vereinigungsmittel einer geistigen Bewegungseinheitlichkeit<br />

<strong>und</strong> -Information auch in deutscher<br />

Sprache erscheinen zu lassen. Das Abonnement<br />

des französischen Bulletins kostet jährlich K 1.90<br />

<strong>und</strong> ist zu beziehen von L. Schapiro, 163 Jubilee<br />

Str., London E. England.<br />

Die freie G e n e r a t i o n . D o k u m e n t e d e r<br />

W e l t a n s c h a u u n g d e s A n a r c h i s m u s . Inhalt<br />

des Februarheftes: Die Geschäftskomrrission: An<br />

unsere Leser. — Edward Carpenter: Moral <strong>und</strong><br />

freiheitlicher Sozialismus. — N. J. C. Schermershorn:<br />

Der Zweck des Lebens. — Pierre Ramus: Antimilitarismus<br />

<strong>und</strong> Hochverrat. - Julius Skall: Philosophie<br />

<strong>und</strong> Kultur.<br />

Preis jedes Einzelheftes 25 h., zu beziehen<br />

durch unseren Verlag. Wir empfehlen den Genossen<br />

diese theoretische Monatsschrift zur geistigen<br />

Weiterentwicklung.


Glossen über ein Buch, die<br />

in diesem Buche nicht enthalten<br />

sind . . .<br />

Es ist jetzt in der anarchistischen Gedankenwelt<br />

g a n g <strong>und</strong> g ä b e g e w o r d e n ,<br />

leichtsinnig, so von oben herab, über die<br />

materialistische Geschichtsauffassung den<br />

Stab zu brechen. Mit Spott <strong>und</strong> Ironie verfolgt<br />

man da das P h a n t o m der dialektischen<br />

M e t h o d e <strong>und</strong> durch das begeisterte<br />

Anrufen des induktiven G e d a n k e n g a n g e s<br />

sucht man sehr oft die eigene Geistesimpotenz<br />

zu verhüllen. Man verkennt unb<br />

e w u ß t dabei die Bedeutung der dialektischen<br />

Methode als eine der besten heuristischen<br />

Versuche, eine soziologische G r u n d l a g e der<br />

geschichtlichen W a n d l u n g e n zu finden.<br />

Nicht das D o g m a , trotzdem es in prägnanter,<br />

herausfordernder Fassung formuliert<br />

wurde, bildet hier das Wichtigste, sondern<br />

der G e d a n k e der ewigen W a n d l u n g e n , des<br />

beständigen Flusses der sozialen P h ä n o m e n e .<br />

Das alte, heraklitische »Alles fließt« erlitt<br />

hier eine soziologische U m w a n d l u n g . Es<br />

w ü r d e heißen, Eulen nach Athen tragen,<br />

w e n n ich mich darüber des Näheren auseinandersetze.<br />

Eben darum hat dieser gewaltige<br />

G e d a n k e n b a u für die Kultur eine<br />

große Bedeutung, weil durch denselben<br />

zuerst das Bewußtsein <strong>und</strong> der Wille des<br />

Menschen als geschichtlicher Faktor ins<br />

Auge gefaßt wurde. Eine Idee kann man<br />

erst dann richtig be- <strong>und</strong> verurteilen, w e n n<br />

man dieselbe bis in die letzten K o n s e q u e n z e n<br />

ausdenkt, d e n n erst dann fühlt man die<br />

Grenzen derselben, erst dann kann man<br />

die schwächsten Punkte bemerken. Die<br />

materialistische Geschichtsauffassung war<br />

ein Produkt der damals vorherrschenden<br />

Methode der Übertragung der naturwissenschaftlichen<br />

Beobachtungsweisen in das<br />

Gebiet der Geisteswissenschaft. Die menschliche<br />

Schöpferkraft war auf ein Minimum<br />

reduziert, bis sie endlich aus der D o m ä n e<br />

der Geschichte gänzlich ausgemerzt wurde.<br />

Und darum bemerken wir eine tiefe Ver-<br />

wandtschaft der spencerischen Soziologie<br />

mit dem dogmatischen Marxismus, was den<br />

methodischen Ausgangspunkt anbetrifft. Die<br />

Philosophie hat aber schon längst aufgehört,<br />

ein Aschenbrödel zu sein, sie ist jetzt im<br />

vollen Gange, wieder die Vorherrschaft zu<br />

gewinnen. Eine Einschränkung w u r d e nach<br />

der anderen notwendig, bis endlich wieder<br />

der Mensch sich seine früheren Rechte erobert<br />

hat. Kein Produkt des Milieus ist der<br />

Mensch, sondern das Milieu ist sein Produkt.<br />

Bis jetzt hat die Wirklichkeit <strong>und</strong> die<br />

historische Überlieferung einer außerhalb<br />

des Menschen stehenden Macht, m a g sie<br />

auch die sublimste Form annehmen, auf<br />

den Menschen wie eine schwere Last geruht<br />

<strong>und</strong> die helle, zuversichtliche Schaffensfreude<br />

geraubt, seine Initiative gewaltsam<br />

in den Rahmen eines Weltganzen oder<br />

irgend eines andern abstrakten Undings<br />

gefügt. Indem sich zuerst der Mensch von<br />

der Wirklichkeit des äußeren Daseins als<br />

der einzigen Realität befreit hat — dieses<br />

tollkühne Werk hat kein Geringerer als<br />

Kant selbst vollzogen hat er den zweiten<br />

Schritt gemacht <strong>und</strong> schüttelte von sich den<br />

W u s t jedweden historischen Dogmatismus<br />

ab. Der Mensch w u r d e wieder an seine<br />

Freiheit erinnert. Im G r u n d e g e n o m m e n<br />

war er immer frei, sehr oft hat er aber an<br />

seine Freiheit nicht gedacht. Brauche ich<br />

mich erst d a g e g e n zu verwahren, daß ich<br />

hier nicht die transzedente Freiheit des Menschen<br />

meine? Der Apostel <strong>und</strong> Verkünder dieser<br />

Fre'iheit war Friedrich Nietzsche, auf dessen<br />

Verwandtschaft mit Kant hier kurz hingewiesen<br />

wird. Nietzsche's mächtige Gestalt<br />

hat allmählich alles überschattet. Aber da<br />

sehen wir andere k o m m e n , die durch ihre<br />

Unabhängigkeit des Schaffens den Beweis<br />

liefern, daß man den Menschen nicht restlos<br />

auf die Zeitumstände reduzieren kann. Die<br />

Dogmatiker des historischen Materialismus<br />

stehen überhaupt jeder anderen Ideologie<br />

g e g e n ü b e r ; sie sehen in derselben nur eine<br />

sek<strong>und</strong>äre Erscheinung, die von der ökonomischen<br />

Struktur der Gesellschaft bedingt<br />

wird. Wie oftmals hat man z. B. Rousseaus


Theorie, eigentlich die Widersprüche derselben<br />

durch die damaligen Umstände »erklärt«<br />

<strong>und</strong> bewiesen, daß die sozialistische<br />

Gedankenwelt nur einen Reflex der kapitalistischen<br />

Wirtschaftsordnung bildet. Aber<br />

daß fast gleichzeitig mit R o u s s e a u ein<br />

B u r k e seine »Rechtfertigung der natürlichen<br />

Gesellschaft« schreibt, die »in nuce« schon<br />

den kritischen Teil des Anarchismus enthält,<br />

daß einige Jahrzehnte später W i l l i a m<br />

G o d w i n den positiven <strong>und</strong> konstruktiven,<br />

Anarchismus begründet, ist eine Tatsache,<br />

mit der sich die A n h ä n g e r des materialistischgeschichtlichen<br />

D o g m a s auseinandersetzen<br />

müssen, <strong>und</strong> es ist schon eine g r o ß e Jongleurkunst"notwendig,<br />

um mit dieser harten<br />

N u ß fertig zu werden, was man bis jetzt<br />

nur von einem Dr. Max Adler sagen kann,<br />

der sich dessen rühmt, aus Max Stirner<br />

einen Vorläufer von — Karl Marx zu m a c h e n !<br />

W a r u m waren also die Zeitumstände einmal<br />

so barsch, daß sie Rousseau den W e g<br />

zur Erkenntnis lahm legten, aber das andere<br />

Mal wieder so gnädig, daß sie erlaubten,<br />

in den ganzen Mechanismus der Gesellschaft<br />

einen tiefen Blick zu t u n ? W e n n<br />

Englands soziale Verhältnisse ganz anders<br />

geartet waren als Frankreichs in ein <strong>und</strong> ganz<br />

derselben Zeit was aber immer die<br />

Antwort aller geschichtlich-materialistischen<br />

Dogmatiker bildet — w a r u m war es eben<br />

William G o d w i n <strong>und</strong> keinem Anderen vergönnt,<br />

den mystischen Schleier, der in<br />

der Form historischer Gesetze die menschliche<br />

Tatkraft umgarnt, mit einem grellen<br />

Blitz der genialen Intuition zu zerreißen?<br />

G o d w i n hat sein glänzendes Werk schon<br />

im Jahre 1793 geschrieben, <strong>und</strong> seit diesem<br />

Jahre sind Jahrzehnte verflossen, in denen<br />

sogar der N a m e G o d w i n fast gänzlich verschollen<br />

war! Wie sollen wir das verstehen?<br />

W a r u m also die historischen Gesetze stärker<br />

als der Wille d e s einzelnen M e n s c h e n ?<br />

W e n n wir diese »Gesetze« richtig verstehen<br />

wollen, so müssen wir, wie ein bekannter<br />

polnischer Schriftsteller, St. Brzozowsky, sagt,<br />

ein Werk der gedanklichen Dissoziation<br />

vollziehen, wir müssen die schon so gangbaren<br />

Pfade der F o r s c h u n g verlassen <strong>und</strong><br />

uns gewissermaßen außerhalb derselben<br />

stellen. Die Massen sind noch vollkommen<br />

im Banne der Autorität, denn die menschliche<br />

Geschichte ist das Werk eines starken<br />

Willens einer herrschenden Klique, die ihre<br />

egoistischen <strong>Ziel</strong>e in ideologischer Verkleidung<br />

den Massen suggeriert. Hier ist<br />

aber gewissermaßen eine Einschränkung<br />

der voluntaristisch-idealistischen Geschichtsauffassung<br />

notwendig. Der einzelne Mensch,<br />

die starke Persönlichkeit, d i e I n d i v i d u -<br />

a l i t ä t ist nicht von den Zeitumständen<br />

abhängig, im Gegenteil, sie bekämpft dieselben<br />

nicht nur vom Standpunkte der<br />

e p h e m ä r e n Tageserscheinungen, sondern<br />

unter dem Winkel der Ewigkeit, von der<br />

hohen Warte ihres geistigen Kastells. Aber<br />

ihre Ideen, ihre Geistesprodukte unterliegen<br />

wie die übrigen objektiven Tatsachen dem<br />

Gesetze der gedanklichen Faulheit der<br />

Massen, die doch nur die einzige Ursache<br />

ihrer sozialen <strong>und</strong> politischen Versklavung<br />

bildet. In Europa ist es schon heller gew<br />

o r d e n , die G ö t z e n d ä m m e r u n g ist in der<br />

Wirklichkeit nicht für Menschen, deren<br />

Macht im starken Willen <strong>und</strong> im scharfen<br />

Intellekt beruht. Darum erinnert man sich<br />

mehr an Godwin, der wie ein Meteor auf<br />

d e m Firmament erschienen ist, um bald<br />

wieder gänzlich zu verschwinden. Ein<br />

Zeichen dieser Erinnerung bildet eben Pierre<br />

Ramus' Buch über Godwin,* das mich zu<br />

diesen G e d a n k e n angeregt hat, trotzdem<br />

oder weil es sich eben nicht in diesen<br />

Bahnen bewegt. Denn Pierre Ramus gehört,<br />

meiner Meinung nach, noch zu derjenigen<br />

zahlreichen Gemeinde, die sich von dem<br />

D o g m a der historischen Gesetze noch nicht<br />

gänzlich befreit hat. Daher ist es ganz<br />

natürlich, daß für Ramus G o d w i n eine<br />

größere Bedeutung als Stirner hat, denn<br />

Ramus ist noch trotz seiner geistigen Schärfe<br />

ein »Unfreier«, ein »Uneigener«, der sein<br />

Ich von einem heiligen Geiste historischer<br />

Gesetze sanktionieren möchte. Charakteristisch<br />

dafür ist die Methode, mit der er<br />

G o d w i n s abstrakten A u s g a n g s p u n k t zu vertuschen<br />

sucht. »Die Gerechtigkeit ist diejenige<br />

Basis unseres Verhaltens, welche d e m<br />

W o h l e der Gesamtheit in jeder Beziehung<br />

das Maximum beisteuert«. W e n n das kein<br />

Glatteis der Spekulation ist, so soll man<br />

überhaupt das W o r t »Spekulation« aus d e m<br />

W ö r t e r b u c h e streichen! Welche Gesamtheit<br />

ist damit gemeint, bildet denn die Gesellschaft<br />

einen konkreten Begriff? Wie wird er<br />

die a u t o n o m e Ethik des freien Menschen, dieses<br />

Geschenk eines abgr<strong>und</strong>tiefen Max Stirner,<br />

der fast in jeder Beziehung viel höher als<br />

G o d w i n steht, mit diesem abstrakten Gerechtigkeitsprinzip<br />

im Einklang o h n e Vergewaltigung<br />

bringen? Hat Pierre Ramus<br />

denn von diesen kritischen Hieben, die die<br />

utilitaristische Ethik zu G r u n d e gerichtet<br />

haben, nichts v e r n o m m e n ? Es ist bei Pierre<br />

'„William Godwin, der Theoretiker des kommunistischen<br />

Anarchismus. Eine biographische Studie<br />

mit Auszügen aus seinen Schriften <strong>und</strong> eine Skizze<br />

über die sozialpolitische Literatur des Anarcho-<br />

Sozialismus seiner Zeit." Von Pierre Ramus. Mit<br />

Geleitwort von Dr. W. Borgius. Verlag Felix Dietrich,<br />

Leipzig, 1907.


Kamus, der doch ein vielwissender Mensch<br />

ist, ausgeschlossen, <strong>und</strong> daher kann man<br />

von ihm verlangen, daß er nicht in der<br />

Mitte des W e g e s stehen bleibe. Der Anarchismus<br />

ist doch im G r u n d e g e n o m m e n<br />

nur eine Ethik, die die Gr<strong>und</strong>lage des freiheitlichen,<br />

revolutionären Sozialismus bildet,<br />

während der rechte Flügel des Sozialismus<br />

die reformistische Sozialdemokratie auf der<br />

Ethik des deterministischen Materialismus<br />

beruht.<br />

Aber das sind nur Einzelheiten, über<br />

die man gewöhnlich unvorsichtigerweise zur<br />

T a g e s o r d n u n g ü b e r g e h t ; aber von einem<br />

Buch, das einen großen Fleiß <strong>und</strong> tiefe<br />

Liebe zum Gegenstand an den T a g legt,<br />

kann man schon mehr philosophische Vorbereitung<br />

verlangen. Ich habe mich deshalb<br />

länger über dieselbe aufgehalten <strong>und</strong> kann<br />

nur zum Schlüsse diejenigen auffordern,<br />

die dieses Buch gelesen — <strong>und</strong> recht viele<br />

Leser w ü n s c h e ich demselben — es mit<br />

Eugen Dührings glänzender Biographie<br />

Rousseaus (»Die Größen der m o d e r n e n<br />

Literatur«) zu vergleichen. Einerseits der<br />

Vertreter der kleinlichen bürgerlichen Taktik,<br />

ein Mensch, der sich nicht vollkommen<br />

befreit hat <strong>und</strong> der vor den Heiligtümern<br />

der Genfer Republik halt macht, andererseits<br />

G o d w i n ein Mann, der die Fackel des menschlichen<br />

G e d a n k e n s hochhält <strong>und</strong> alle Schlupfwinkel<br />

mit derselben beleuchtet. Dieser<br />

Vergleich kann sehr lehrreich sein, wenn<br />

man eben das richtige Verständnis für solche<br />

Sachen hat . . . M. Käufer.<br />

Nietzsche über den Staat.<br />

Der Geisteskämpfer, der den großen<br />

Kampf gegen die christliche Kirche, gegen<br />

die alten sittlichen Wertungen <strong>und</strong> D o g m e n<br />

führte, wußte auch die G r u n d s ä t z e des<br />

Staates, dieser äußeren Machtorganisation<br />

anzugreifen. Es gehörte in den Kreis der<br />

Kulturmission Nietzsches, die Geheimnisse<br />

dieses Banalsten <strong>und</strong> Alltäglichsten aller<br />

menschlichen Institutionen zu enthüllen,<br />

denn hatte Nietzsche die prinzipielle Lüge<br />

des »Mörders von Anfang an« ans Tageslicht<br />

gezogen, das phantastische Gotteswesen<br />

bekämpft <strong>und</strong> die herrschende Moral<br />

der Winkeltugendhaften verdammt, so konnte<br />

man als richtige Konsequenz auf sozialem<br />

Gebiete nichts anderes erwarten, als daß er<br />

den Repräsentanten dieses Moralisierens<br />

<strong>und</strong> aller Sittenrichterei, den juridischen<br />

Figuranten des Staates selbst das Prinzip<br />

des Verbrechens der Räuberei <strong>und</strong> Betrügerei<br />

zumutete. Und in der Tat beweisen<br />

die Untersuchungen des historischen Ur-<br />

sprungs <strong>und</strong>- der Entwicklungsgeschichte<br />

des Staates, daß die innersten Triebfedern<br />

seines Daseins: Gewalttaten sind, die uns<br />

zunächst überall als die Vergewaltigung der<br />

Schwächeren durch die herrschende Klasse<br />

entgegentreten. Es war das Bestreben aller<br />

bisherigen Machthaber, das schreckliche G e -<br />

waltsprinzip zynisch mit jeder Infamie als<br />

eine natürliche Gesetzmäßigkeit hinzustellen<br />

<strong>und</strong> die gesellschaftlichen Produktionsmittel<br />

unter allen Umständen anzueignen.<br />

Mit der zügel- <strong>und</strong> schrankenlos sich<br />

durchsetzenden mechanischen Gewalt gelang<br />

es ihnen zu allen Zeiten alle Vorteile<br />

der Kultur <strong>und</strong> des sozialen Lebens zu<br />

usurpieren <strong>und</strong> zu monopolisieren, ja die<br />

Masse dem Elend, H u n g e r t o d e , Drucke <strong>und</strong><br />

der Knechtschaft auszusetzen!<br />

Heute weiß alle Welt, daß die Übermacht<br />

des Staates alle Gewaltmaßregeln<br />

anwendet, sogar den, die Individuen tötenden<br />

Schematismus nicht verabscheut, w e n n<br />

von Enteignung des Eigentums die Rede<br />

ist. Im Objektum Staat verschwindet der<br />

letzte Funke des Freiheitsgefühls des Staatsbürgers<br />

<strong>und</strong> der Einzelne wird zum unbedingten<br />

Sklaven herabgesetzt. W a s uns<br />

zunächst überall in dieser Zwangsjacke entgegentritt,<br />

ist die Scheinheiligkeit, mit welcher<br />

die Macht der Finsternis den sich als<br />

verknechtetes Wesen w ä h n e n d e n Menschen<br />

beherrscht; sind die Liebesphrasen, durch<br />

welche das kulturelle Leben der Massen<br />

zu Schanden w i r d ; ist das System der ungeheueren<br />

Gewalttaten, welche als Gerechtigkeit,<br />

Gesetzmäßigkeit, Notwendigkeit <strong>und</strong><br />

Humanität gelten. So wird das Boshafte<br />

des Tierischen als glorreich gepriesen, » d i e<br />

S c h l a n g e u n d d e r g r ä u l i c h e R i n g e l -<br />

w u r m « der geregelten Staatshierarchie verherrlicht.<br />

Rationalistehherrscher sind Despoten,<br />

die mit dem Volke willkürlich schalten<br />

<strong>und</strong> die zentrale Gewaltherrschaft, die<br />

e l e n d e Weltaktion besorgen.<br />

Diesen Vampyrismus will nun Nietzsche<br />

beseitigen <strong>und</strong> durch das System des Erkennens<br />

ersetzen. An die Stelle der Staatsautorität<br />

tritt die Herrlichkeit der f r e i e n<br />

I n d i v i d u a l i t ä t : d e s Ü b e r m e n s c h e n .<br />

Nietzsche sieht im Überwinden des Menschen<br />

Keime der freien Vereinbarung, der<br />

Fre<strong>und</strong>schaftsliebe, bei welcher die Regierung<br />

sich absolut nicht einmischt. In dieser<br />

Kulturepoche wird nun das Solidaritätsgefühl<br />

triumphieren, der Horizont » e r -<br />

s c h e i n t w i e d e r f r e i , g e s e t z t s e l b s t ,<br />

d a ß e r n i c h t h e l l ist, e n d l i c h d ü r f e n<br />

u n s e r e S c h i f f e w i e d e r a u s l a u f e n ,<br />

a u f j e d e G e f a h r h i n a u s l a u f e n , j e -<br />

d e s W a g n i s d e s E i -<br />

k e n n e n d e n i s t


w i e d e r e r l a u b t , d a s M e e r , unser<br />

M e e r l i e g t w i e d e r o f f e n d a , v i e l -<br />

l e i c h t g a b e s n o c h n i e m a l s e i n s o<br />

o f f e n e s M e e r « . Dieser Ozean ist das<br />

Licht der neuen aufdämmernden Kultur<br />

der freien Individualitätsvereinbarung, welche<br />

den p r u n k e n d e n christlichen Staat: die<br />

Staatskirche ersetzen wird.<br />

»Staat? W a s ist d a s ? W o h l a n ! Jetzt tut<br />

n u r die O h r e n auf, denn jetzt sage ich euch<br />

mein W o r t v o m T o d e der Völker.«<br />

Der T o d ! Hört, meine Brüder, der T o d<br />

ist u n s der Staat, die E n t w ü r d i g u n g unseres<br />

Selbst. Vergebens wendet das Christentum<br />

seine Lehren des Mitleids vor allem an.<br />

Vergebens predigen die pfäffischen Sophisten,<br />

die H ä n d e bittend e r h o b e n : »Friede! Alle<br />

Menschen sind gleich <strong>und</strong> der Staat der<br />

goldene Mittelweg«. Aus ihrer tiefsten Selbstheit<br />

heraus lugen sie, denn » S t a a t h e i ß t<br />

d a s k ä l t e s t e a l l e r k a l t e n U n g e h e u e r .<br />

K a l t l ü g t e r a u c h ; u n d d i e s e L ü g e<br />

k r i e c h t a u s s e i n e m M u n d e : »Ich,<br />

d e r S t a a t , b i n d a s V o l k « . Mir gehört<br />

alles, mir: der herrschend-prassenden Minorität.<br />

Ich allein bin das O u t e <strong>und</strong> das<br />

Gegenteil v o m Bösen. — » A b e r d e r<br />

S t a a t l ü g t i n a l l e n Z u n g e n d e s<br />

G u t e n u n d B ö s e n ; u n d w a s e r a u c h<br />

r e d e t , e r l ü g t — u n d w a s e r a u c h<br />

h a t , g e s t o h l e n h a t ers.« Das ganze<br />

System d e s Privateigentums beruht auf<br />

E n t e i g n u n g der Bevölkerung vom gemeinschaftlichen<br />

Besitze des G r u n d e s <strong>und</strong> Bodens;<br />

auf Gewalt, auf Erschwindelung <strong>und</strong> Erhandelung.<br />

Die Enteignung der Produktionsmittel,<br />

die der ganzen primitiven Stammesgemeinschaft<br />

gehörten, tritt in der Geschichte<br />

als Ergebnis der Gewalt auf, die ihre<br />

G r u n d l a g e n in der Allverherrlichung des<br />

nur sinnlichen Lebens findet. Jene konventionellen<br />

Lügner <strong>und</strong> Despoten, die<br />

u n g e h e u e r e Reiche gründeten, wollten alle<br />

Herrlichkeit in ihrem engen Selbst finden,<br />

wendeten daher alle rohe Gewalt an, um<br />

blutige Spuren über die ächzenden Untertanen<br />

zu ziehen. Selbst der ganze Warenaustausch<br />

beruht insbesondere auf Gewalt.<br />

Immer sind diese Knechtschafts-, Rechts<strong>und</strong><br />

ö k o n o m i s c h e n Verhältnisse im u n b e -<br />

schreiblichen Geisteselend der Menschheit<br />

zu suchen, dessen naturmäßige K o n s e q u e n z :<br />

Bosheit, Rache <strong>und</strong> Herrschsucht ist. Darum<br />

ruft Nietzsche a u s : » S e h t m i r d o c h<br />

d i e s e Ü b e r f l ü s s i g e n ! K r a n k s i n d<br />

s i e i m m e r , s i e e r b r e c h e n i h r e G a l l e<br />

u n d n e n n e n e s Z e i t u n g . S i e v e r -<br />

s c h l i n g e n e i n a n d e r u n d k ö n n e n<br />

s i c h n i c h t e i n m a l v e r d a u e n « .<br />

Und weiter:<br />

» S e h t m i r d o c h d i e Ü b e r f l ü s -<br />

s i g e n : R e i c h t ü m e r e r w e r b e n s i e<br />

u n d w e r d e n ä r m e r d a m i t . M a c h t<br />

w o l l e n s i e u n d z u e r s t d a s B r e c h -<br />

e i s e n d e r M a c h t , v i e l G e l d — d i e s e<br />

U n v e r m ö g e n d e n ! «<br />

» S e h t s i e k l e t t e r n , d i e s e g e -<br />

s c h w i n d e n A f f e n ! S i e k l e t t e r n ü b e r<br />

e i n a n d e r h i n w e g u n d z e r r e n s i c h<br />

a l s o i n d e n S c h l a m m u n d d i e T i e f e . «<br />

Erst nachdem der Mensch zur höheren<br />

Bewußtseinsform sich besinnt, wird die<br />

G e b u n d e n h e i t an das Feuer der Unterwelt<br />

gelöst <strong>und</strong> zerfallen die starken Säulen der<br />

Herrschsüchtigen, so beginnt die geistige<br />

Eruption <strong>und</strong> eine neue ätherische Lebensweise.<br />

» D o r t w o d e r S t a a t a u f h ö r t , d a<br />

b e g i n n t e r s t d e r M e n s c h , d e r n i c h t<br />

ü b e r f l ü s s i g i s t : D a b e g i n n t d a s L i e d<br />

d e s N o t w e n d i g e n , d i e e i n m a l i g e<br />

u n e r s e t z l i c h e W e i s e . «<br />

» D o r t , w o d e r S t a a t a u f h ö r t , -<br />

s o s e h t n u n d o c h h i n , m e i n e B r ü -<br />

d e r ! S e h t i h r i h n n i c h t , d e n R e g e n -<br />

b o g e n u n d d i e B r ü c k e n d e s Ü b e r -<br />

m e n s c h e n ? « —<br />

Der Staat, nun ja diese Machtsphäre<br />

ist der W e g zum Verbrechen, ist der Fluch<br />

des Einzelnen. Der Staat m u ß abgestreift,<br />

überflügelt w e r d e n ! Er m u ß fort! Allein<br />

diese U m w ä l z u n g bedingt auch die Ausrottung<br />

der erbärmlichen Brut des Kreaturwesens<br />

<strong>und</strong> der kapitalistischen Produktionsweise,<br />

damit G r u n d <strong>und</strong> Boden, alles Mobile<br />

<strong>und</strong> Immobile den Schöpfern <strong>und</strong> Erhaltern<br />

des Kultur- <strong>und</strong> Soziallebens verbleibe. So<br />

wird der einzelne Herr seines selbst, Herr<br />

<strong>und</strong> freier Träger seiner intellektuellen Innenwelt.<br />

Also ist der Mensch aus dem<br />

Joche der Sklavengesinnung nicht nur, sondern<br />

zugleich aus jenem der herrschenden<br />

Kasten erlöst. Das Individuum wird vollk<br />

o m m e n <strong>und</strong> liebenswert. Der freie Einzelne,<br />

der Erlöser ist aber nicht die Verneinung<br />

des Lebens im Staate, sondern der faktische<br />

Eigner aller Bürden der Innerlichkeit; ist<br />

selbst ein ganzes Leben, das über die<br />

Grenzen des konventionell-staatlichen Lebens<br />

weit, sehr weit hinausgeht.<br />

» F l i e h e , m e i n F r e u n d , i n d e i n e<br />

E i n s a m k e i t ! I c h s e h e d i c h b e t ä u b t<br />

v o m L ä r m d e r g r o ß e n M ä n n e r , « v o m<br />

S c h l a m m e d e s T h r o n e s u n d » v o n<br />

d e n S t a c h e l n d e r k l e i n e n « .<br />

» F l i e h e , m e i n F r e u n d , i n d e i n e<br />

E i n s a m k e i t u n d d o r t h i n , w o e i n e<br />

r a u h e s t a r k e L u f t w e h t . N i c h t i s t<br />

e s d e i n L o s . F l i e g e n w e d e l z u s e i n . « —<br />

Julius Skatl.


Wieder das m e r k w ü r d i g e Charakteristikum,<br />

daß wir hier diejenigen Charakterelemente<br />

aufgezählt erhalten, deren Propaganda<br />

gerade wir Anarchisten u n s besonders<br />

widmen, indem wir sie als die wesentlichen<br />

Vorbedingungen für d e n A u f b a u<br />

u n d d i e F o r t d a u e r einer anarchistischen<br />

Oesellschaft — also ein sozialer Verband,<br />

der herrschaftslos ist — ansehen. Freilich<br />

erblicken wir die Unmöglichkeit, innerhalb<br />

der staatlich-kapitalistischen Gesellschaftsorganisation<br />

diese Charaktereigenschaften<br />

in fruchtbarer Weise zu verwerten, da ja<br />

das heutige System der W e l t o r d n u n g gerade<br />

diese Eigenschaften tagtäglich mit<br />

Füßen tritt. Doch g e r a d e wir sind es, die<br />

in den Menschen immer aufs neue diese<br />

Gr<strong>und</strong>sätze beleben, da wir den Menschen<br />

reif für die Zukunft machen wollen.<br />

Sonderbar, auch in diesem letzteren<br />

Strebensziel können wir, die Anarchisten,<br />

getrost dem Herrn Professor die H ä n d e<br />

reichen — in inniger B e g l ü c k w ü n s c h u n g<br />

zur geistigen Erkenntnisreife, die ihn mit<br />

den Kulturelementen des wahrsten Fortschrittes<br />

verbindet, w e n n er sagt:<br />

„Das ganze menschliche Wissen bildet eine<br />

innerlich zusammenhängende, untrennbare Einheit.<br />

Aus dieser Gesamtheit des menschlichen Wissens<br />

werden jene Partien ausgehoben, welche zur Erreichung<br />

des angestrebten <strong>Ziel</strong>es am geeignetsten<br />

erscheinen, <strong>und</strong> diese werden in jenem Ausmaße<br />

behandelt, als die zu Gebote stehende Zeit dies<br />

gestattet.<br />

Das oberste <strong>Ziel</strong> aber, der Mittelpunkt des<br />

gesamten wissenschaftlichen Unterrichtes, ist der<br />

Mensch selbst, der Mensch von seiner physischen<br />

<strong>und</strong> von seiner psychischen Seite, der Mensch als<br />

höchstes <strong>und</strong> edelstes Glied der organischen Welt<br />

<strong>und</strong> der Mensch als Träger des göttlichen Geistes,<br />

der Mensch in seinem Verhältnisse zur Natur <strong>und</strong><br />

zur Menschheit, der Mensch als Persönlichkeit <strong>und</strong><br />

als Glied der menschlichen Gesellschaft, der Mensch<br />

in seinem Verhältnis zu seinen Rechten <strong>und</strong> zu<br />

seinen Pflichten."<br />

Diese schönen Worte verdienen es,<br />

einem jeden Arbeitssohn, jeder Arbeitstochter<br />

näher gebracht zu werden. D a s i s t<br />

A n a r c h i s m u s , s e i n e e r z i e h e r i s c h e<br />

B e t ä t i g u n g , w i e j a d i e P h i l o s o p h i e<br />

d i e s e r h e r r l i c h e n M e n s c h h e i t s i d e e<br />

j e d e s L e b e n s g e b i e t d e r M e n s c h -<br />

h e i t u m f a ß t , e s ' n e u w e i t e n d , i h m<br />

e r s t s o r e c h t O d e m e i n h a u c h t .<br />

Doch eines ist es, w o r ü b e r wir mit<br />

dem Hofrat rechten m ü s s e n ! Glaubt er, daß<br />

die Verwirklichung solcher Kulturmöglichkeiten<br />

der Pädagogik von der heutigen Gesellschaft<br />

geschaffen werden k ö n n e n ? Ich<br />

glaube es nicht. Wohl wirkt es versöhnend<br />

zu sehen, daß Professor Fuchs dort, wo<br />

andere das W o r t »Staat« a n w e n d e n , das<br />

richtigere W o r t »Gesellschaft« gebraucht.<br />

Diese A n w e n d u n g ist kein Zufall, sondern<br />

klare Unterscheidung, <strong>und</strong> wieder wie wir<br />

Anarchisten es tun. Aber um G r o ß e s zu erreichen,<br />

darf man sich nicht damit begnügen,<br />

bloß große Wahrheiten auszusprechen,<br />

da tut vor allem not, daß man G r o ß e s schafft<br />

<strong>und</strong> wirkt. Ich kann es nicht glauben, daß<br />

ein so sehr tiefer Blick, wie jener des obigen<br />

Verfassers es ist, nicht die traurige Tatsache<br />

erkannt hat, daß all dieses humanistische, edle<br />

<strong>und</strong> ethische Streben nach individuell <strong>und</strong><br />

gesellschaftlich U m w ä l z e n d e m nicht nur<br />

aufgehalten, sondern oft direkt unmöglich<br />

gemacht wird v o m Staate selbst. Ehrgefühl,<br />

Pflichtgefühl, Wahrhaftigkeit, Selbstbeherrschung<br />

— im Rahmen der Umschreibungen<br />

des Hofrates sind sie keine leere Phrasen<br />

mehr, sondern logische Begriffe für ganz<br />

exakte, konkrete Vorstellungen. Doch gerade<br />

sie sehen wir heute in ihr direktes<br />

Gegenteil verkehrt, verachtet, geschmäht,<br />

unterdrückt.<br />

Universitätsprofessor Fuchs hat uns die<br />

Anleitung geboten, wie dies zu überwinden.<br />

Allerdings nur e i n e dürftige Andeutung.<br />

Doch wie wir Anarchisten nun schon einmal<br />

stets diejenigen sind, die die Halbwahr-<br />

heiten des Lebens zu realen Betätigungsm<br />

e t h o d e n u m w a n d e l n , so auch in diesem<br />

Fall. Wir brauchen ein Menschengeschlecht<br />

nach den v o m Hofrat gelieferten G r u n d -<br />

sätzen, die der Philosophie des Anarchism<br />

u s entliehen sind; wir müssen in den<br />

Menschen das Edle, G r o ß e <strong>und</strong> G u t e erwecken.<br />

Dazu wird u n s w e d e r der Staat<br />

noch das Zunftgelehrtentum, das sich in<br />

seinen sichersten Schlupfwinkeln bedroht<br />

fühlt, behilflich sein. Dazu bedarf es anderer<br />

Mittel, Methoden, W e g e . Die Schule<br />

m u ß befreit werden n i c h t n u r von der<br />

Kirche, nein, auch v o m Staate. Sie m u ß<br />

der freien Initiative edel gesinnter, vom<br />

Erziehungsgeist zum W o h l e der k o m m e n -<br />

den Generationen erfüllter M ä n n e r <strong>und</strong> Frauen<br />

überlassen sein, diese müssen sich ihrer<br />

bemächtigen, sie den Mächten der finsteren<br />

Geistesautorität <strong>und</strong> Disziplin, des f o r m eil<br />

e n Kirchenwahnes entreißen. W e n n die<br />

Männer vom Schlage des Hofrates Fuchs<br />

<strong>und</strong> die Frauen derselben Gesinnungsart<br />

zusammenträten, das täten, w a s wir Anarchisten<br />

schon längst <strong>und</strong> dorten tun, wo<br />

die materiellen B e w e g u n g s b e d i n g u n g e n dafür<br />

bereits erobert w u r d e n ; w e n n die Männer<br />

<strong>und</strong> Frauen, die von den v o m Hofrat<br />

Fuchs aufgestellten Idealbestrebungen <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>sätzen der Persönlichkeitsfreiheit <strong>und</strong><br />

des Edelmutes erfüllt sind, sich die H ä n d e<br />

reichten zum g e m e i n s a m e n Einheitswerk:<br />

E r r i c h t u n g v o n f r e i e n G e i s t e s -<br />

a d e l s s t ä t t e n , v o n S c h u l e n , d i e u n -<br />

a b h ä n g i g v o m S t a a t u n d d e r K i r c h e<br />

s i n d , dann fänden die Ideale einer freiheitlichen<br />

Geistesbeeinflussung der heranwachsenden<br />

Generationen ihre lebendige Verwirklichung,<br />

T a u s e n d e von kleinen <strong>und</strong><br />

großen Menschenkindern wären der Tretmühle<br />

langjähriger Geistesdressur entrückt;<br />

der Samen w ü r d e aufgehen für eine Gesellschaftsordnung,<br />

in der das soziale Walten in<br />

Allem der individuellen <strong>und</strong> gemeinsamen<br />

Initiative gehörte, Schönheit <strong>und</strong> Freiheit,<br />

die beflügelten Entwicklungsgefährten der<br />

Menschheit bildeten <strong>und</strong> diese die G r o ß w e r -<br />

ke ihrer neuen Kultur auf d e m F u n d a m e n t e<br />

jenes erhabenen Gedankenfluges der Herrschaftslosigkeit<br />

errichtete, dessen s o z i a l e n<br />

Ausdruck wir im W o r t e Anarchie erblicken!<br />

Pierre Ramus.<br />

Offizielles Protokoll<br />

des Internationalen Antimilitaristischen<br />

Kongresses<br />

gehalten zu Amsterdam, am 30.—31. August<br />

1907. — Übersetzt aus d e m Holländischen<br />

des freireligiösen Pastor N . J . C . S c h e r -<br />

m e r h o r n .<br />

(Fortsetzung.)<br />

D i e T a g e s o r d n u n g d e s K o n g r e s s e s<br />

1 a ii t e t :<br />

1. Das antimilitaristische Komitee von<br />

Schweden schlägt vor, das Gr<strong>und</strong>prinzip<br />

der antimilitaristischen B e w e g u n g klar darin<br />

auszudrücken, daß jede Arbeit zur Unterhaltung<br />

<strong>und</strong> Entwicklung des Militarismus<br />

absolut unzulässig ist.<br />

2. Die Kameraden Stargards schlagen<br />

vor, eine gute antimilitaristische Broschüre<br />

zu verfassen <strong>und</strong> hauptsächlich unter den<br />

jungen Leuten, die zum Militärdienst eing<br />

e z o g e n werden, zu verbreiten.<br />

3. Die revolutionären Sozialisten von<br />

Budapest wollen, daß eine internationale<br />

antimilitaristische Demonstration in allen<br />

Ländern vorbereitet u n d ein Manifest für<br />

die jungen zum Militärdienst einberufenen<br />

Leute h e r a u s g e g e b e n werde, in welchem<br />

ihnen auseinandergesetzt wird, daß sie im<br />

Falle eines Krieges oder Streiks den Gehorsam<br />

verweigern sollen.<br />

4 . Vorschläge von E r i c h M ü h s a m ,<br />

M ü n c h e n :<br />

A. Die antimilitaristische Agitation im<br />

Frieden :<br />

a) unter den Arbeitern;<br />

b) unter den S o l d a t e n ;<br />

c) unter der akademischen J u g e n d .<br />

B. Die antimilitaristische Agitation im<br />

Kriege:<br />

a) Verweigerung des Militärdienstes, Desertion<br />

usw.<br />

b) Generalstreik.<br />

C. Der Militarismus <strong>und</strong> der Individualismus.<br />

Das Sekretariat der A. I. A. (Antimilitaristische<br />

internationale Assoziation) Frankreichs<br />

wirft folgende Fragen auf:<br />

1. Welche Stellung h a b e n die Antimilitaristen<br />

in Zeiten des sozialen Friedens<br />

einzunehmen ?<br />

2. W ä h r e n d partieller Streiks?<br />

3. Im Falle eines Generalstreiks in dem<br />

Lande, wo sie l e b e n ?<br />

4. Im Falle eines Generalstreiks im<br />

benachbarten L a n d e ?<br />

5. Im Falle eines Krieges, geführt v o m<br />

eigenen L a n d e ?<br />

6. Im Falle eines Krieges zwischen<br />

zwei benachbarten L ä n d e r n ?<br />

7. Die absolute Notwendigkeit einer<br />

einheitlichen Sprache unter hauptsächlichster<br />

Berücksichtigung des Esperanto.<br />

8. Die Leitung der A. I. A.<br />

Vorschläge der antimilitaristischen Föderation<br />

H o l l a n d s :<br />

1. Notwendigkeit einer internationalen<br />

Sprache.<br />

2. O r t <strong>und</strong> Zeit des nächsten Kongresses.<br />

3. Der internationale Boykott.<br />

4. <strong>Unser</strong>e Haltung im Falle der P r o -<br />

klamierung der Gewalt.<br />

5. Innere Organisation der internationalen<br />

antimilitaristischen Föderation.<br />

Erster Tag.<br />

Domela Nieuwenhuis ersucht den b ö h -<br />

mischen Delegierten Vohryzeck das Präsidium<br />

führen zu wollen. Dieser ü b e r n i m m t<br />

es. Hierauf werden die Berichte aus den<br />

verschiedenen Ländern erstattet.<br />

Rogdaeff (Rußland) richtet im N a m e n<br />

der russischen Anarchisten einige W o r t e<br />

an den Kongreß. Die russischen Revolutionäre<br />

haben in den letzten Jahren die<br />

Macht des Militarismus eingesehen <strong>und</strong><br />

seitdem haben sich zwei S t r ö m u n g e n entwickelt:<br />

die eine will die Demokratisierung<br />

des Heeres (ein Volksheer), die a n d e r e<br />

nimmt den antimilitaristischen S t a n d p u n k t<br />

ein. Die Antimilitaristen verfügen über<br />

geringe Literatur, es sind fast ausschließlich<br />

die Schriften von Tolstoi, u. a. die Broschüre<br />

von Domela N i e u w e n h u i s : »Krieg dem<br />

Kriege«, welche verbreitet w u r d e n . D a d u r c h<br />

hat man viel P r o p a g a n d a gemacht. Es gibt<br />

Gruppen, die vorwiegend unter den Soldaten<br />

arbeiten. Als Folgen dieser P r o p a g a n d a<br />

sind die Revolten auf den Schiffen zu betrachten.<br />

In Petersburg <strong>und</strong> auch s o n s t w o<br />

haben sich antimilitaristische G r u p p e n gebildet.<br />

— Rogdaeff weist darauf hin, daß<br />

die Gefahr nicht aus d e m Osten, sondern<br />

aus dem Westen k o m m e , aus dem reaktionären<br />

Deutschland. Die deutschen Soldaten<br />

standen bereit, der russischen Regierung<br />

wo nötig, gegen das Volk beizustehen. Die<br />

antimilitaristische Agitation ist in Rußland<br />

sehr n o t w e n d i g . W a s die Anarchisten betrifft,<br />

so verbreiten sie die antimilitaristische<br />

Literatur <strong>und</strong> übersetzen zu dem Z w e c k<br />

viele Schriften aus anderen Sprachen.<br />

In Abwesenheit des Budapester Delegierten<br />

nimmt Dr. med. Friedeberg (Schweiz)<br />

das W o r t :<br />

»Der A u s g a n g s p u n k t der antimilitaristischen<br />

B e w e g u n g in der Schweiz sind die<br />

französischen Kantone, wo sich auch zuerst<br />

die freiheitlich-sozialistische B e w e g u n g regte.<br />

Die Organisationen, aus d e n e n der antimilitaristische<br />

Geist entstanden, sind: die anarchistischen<br />

G r u p p e n , die Gewerkschaften,


aber a u c h die sozialdemokratischen Vereine.<br />

D e r erste Dienstverweigerer w a r C h a r l e s<br />

N a i n e , ein Sozialdemokrat. N a c h ihm<br />

kamen eine ganze M e n g e Dienstverweigerer,<br />

etwa 7 0 ; a u ß e r d e m fand unter d e n italienischen<br />

G e n o s s e n w ä h r e n d des G e n e r a l ­<br />

streiks in Genf im Jahre 1903, ein allgem<br />

e i n e r Streik beim Militär statt. Naines<br />

p r o p a g a n d i s t i s c h e Arbeit in der s o z i a l d e m o ­<br />

kratischen Z e i t u n g »Le P e u p l e « , in der<br />

antimilitaristischen Rubrik der in L a u s a n n e<br />

e r s c h e i n e n d e n »La Voix du P e u p l e « u n d<br />

in d e m Blatte »Réveil« m u ß l o b e n d e r w ä h n t<br />

w e r d e n . Mit den französisch-schweizerischen<br />

K a m e r a d e n steht die antimilitaristische Bew<br />

e g u n g in der deutschen Schweiz auf<br />

g u t e m Fuße, obgleich sie organisatorisch<br />

nicht v e r b ü n d e t sind.<br />

Seit 1905 hat die antimilitaristische Bew<br />

e g u n g in d e r deutschen Schweiz stark<br />

z u g e n o m m e n . Das Auftreten des Militärs<br />

bei Streiks w a r die V e r a n l a s s u n g dazu.<br />

Binnen ein paar Jahren haben die Regierungen<br />

der Schweizer K a n t o n e es s o n a c h für<br />

n o t w e n d i g erachtet, bei Streiks das Miliz-<br />

Militär aufzubieten: in Genf, la C h a u x de<br />

F o n d s , Basel, Simplon, Ricken bei Rohrschach,<br />

Zürich, M o n t r e u x , St. Moritz u n d Hochdorf.<br />

Dieser U m s t a n d öffnete den Arbeitern die<br />

A u g e n <strong>und</strong> erweckte antimilitaristische, antistaatliche<br />

u n d antipatriotische G e d a n k e n<br />

bei den A n h ä n g e r n jeder politischen Richt<br />

u n g u n d s c h l a n g ein Band um alle. Darauf<br />

entstand auch die revolutionäre Agitation<br />

bei den G e w e r k v e r e i n e n . Im Herbst 1905<br />

w u r d e in Zürich ein antimilitaristischer<br />

Verein g e g r ü n d e t . Dies geschah, weil die<br />

B e s p r e c h u n g d e r direkten Aktion viele auf<br />

die N o t w e n d i g k e i t aufmerksam machte, den<br />

b e s t e h e n d e n militärischen Geist zu bekämpfen<br />

— auch im Volksheer, welches<br />

die Arbeiter endlich auch als den Hüter<br />

des Kapitals zu betrachten lernten.<br />

Gleich nach d e . - G r ü n d u n g d ;<br />

e s e s Vereins<br />

in Zürich w u r d e auch der Schweizer antimilitaristische<br />

Verein g e g r ü n d e t . Die französischen<br />

u n d die italienisch-schweizerischen<br />

K a m e r a d e n hatten die Initiative dazu s c h o n<br />

ergriffen u n d die F ü h r u n g hatten C h a r l e s<br />

N a i n e u n d L u i g i B e r t o n i . I m O k t o b e r<br />

1905 kam die Organisation in Luzern zustande,<br />

mit der Absicht: »das Bestreben<br />

zur Abschaffung d e s Heeres mit allen zweckdienlichen<br />

Mitteln«. D e r Verein w u r d e sow<br />

o h l von der Bourgeoispresse wie auch<br />

von den Sozialdemokraten bekämpft.<br />

D e r B u n d e s r a t verordnete, d a ß alle<br />

F r e m d e n , die sich an der antimilitaristischen<br />

P r o p a g a n d a beteiligten, a u s d e m Lande<br />

a u s g e w i e s e n w e r d e n sollten. M e h r e r e wurden<br />

das Opfer dieser V e r o r d n u n g . Deshalb<br />

w u r d e aus d e m Vereine eine g e h e i m e Organisation<br />

gemacht, u n d die Verzeichnisse<br />

der Mitglieder w u r d e n vernichtet.<br />

F o l g e n d e P r o p a g a n d a b r o s c h ü r e n wurden<br />

verbreitet:<br />

»Ch. Naines Verteidigungsrede« (10.000<br />

Exemplare).<br />

»Das Volksheer (Miliz) als W a c h t h u n d<br />

des Kapitals« (6.000 Exemplare).<br />

»Heer u n d Streiks«.<br />

»Das E n d e rückt heran«, von Tolstoi.<br />

»Verteidigungsrede d e s g e w e s e n e n Korporals<br />

J a q u e s Schmid«.<br />

Antimilitaristische Lieder.<br />

Auf d e m sozialdemokratischen Parteitag<br />

in der Schweiz im Jahre 1906 w u r d e<br />

z w a r die N o t w e n d i g k e i t der Landesverteid<br />

i g u n g a n g e n o m m e n , a b e r d e n n o c h von<br />

den Antimilitaristen ein halber Sieg erfochten,<br />

i n d e m der Parteitag erklärte, d a ß man d u r c h<br />

n i c h t p a r l a m e n t a r i s t i s c h e Agitation<br />

g e g e n den Militarismus v o r g e h e n müsse.<br />

D e n n o c h setzte der antimilitaristische<br />

Verein die antipatriotische P r o p a g a n d a eifrig<br />

fort. Das v o n Arbeitern redigierte antimilitaristische<br />

O r g a n »Vorposten«, wird viel<br />

u n d gern gelesen (monatlich 3000 — 6000<br />

E x e m p l a r e ) u n d bespricht auch Fragen der<br />

G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g .<br />

Der antimilitaristische Verein empfängt<br />

regelmäßig G e l d b e i t r ä g e von den besten<br />

Gewerkschaften u n d a u c h von einigen extrem<br />

links s t e h e n d e n , n o c h revolutionären<br />

sozialdemokratischen O r g a n i s a t i o n e n .<br />

Im S o m m e r 1906 w u r d e n gelegentlich<br />

eines Streiks der Metallarbeiter viele M ä n n e r<br />

<strong>und</strong> F r a u e n v o m Militär gemißhandelt. Damals<br />

forderte H a n s S i g g die Soldaten<br />

auf, zu streiken. Er bekam dafür 8 M o n a t e<br />

Gefängnisstrafe. — Vor kurzem w u r d e das<br />

Buch v o n H e r v é u n t e r d e m Titel »Das<br />

Vaterland der Reichen« in 5000 Exemplaren<br />

h e r a u s g e g e b e n . F r i e d e b e r g war der Übersetzer<br />

u n d w u r d e deshalb des H o c h v e r r a t s<br />

beschuldigt*. Die sozialdemokratische Parteileitung<br />

sucht stets der antimilitaristischen<br />

P r o p a g a n d a e n t g e g e n zuarbeiten. Auf dem<br />

letzten Kantonparteitag machte sie den Antrag,<br />

den Verkauf antimilitaristischer Schriften<br />

in ihren O r g a n i s a t i o n e n zu verbieten.<br />

(Mit einer S t i m m e n m e h r h e i t von 80 gegen<br />

60 a n g e n o m m e n ) . D e n n o c h wird der Verkauf<br />

g e h e i m u n d öffentlich fortgesetzt.<br />

F ü r w a s wir P r o p a g a n d a m a c h e n ?<br />

Dafür, d a ß die A r m e e der W ä c h t e r des<br />

Kapitals ist; daß die Kriege aus G e w i n n s u c h t<br />

u n t e r n o m m e n w e r d e n ; daß ein w a h r e r<br />

M e n s c h sich nicht g e g e n seine Arbeiterk<br />

a m e r a d e n w e n d e n darf. Es liegt ein Reg<br />

i e r u n g s a n t r a g bereit, um die antimilitaristische<br />

P r o p a g a n d a zu bestrafen. D e n n o c h<br />

fürchten wir nicht für die antimilitaristische<br />

Agitation, die in der Schweiz s c h o n sehr<br />

b e d e u t e n d ist!<br />

Nach Verlesung dieses Berichtes bittet Pierre<br />

Ramus zur Geschäftsordnung um das Wort <strong>und</strong><br />

stellt den Antrag, daß das Protokoll des Kongresses<br />

in 4 Sprachen, Französisch, Deutsch, Englisch <strong>und</strong><br />

Esperanto aufgenommen <strong>und</strong> herausgegeben werden<br />

soll. Der Antrag wird durch Akklamation angenommen.<br />

C . t e n W o l d e ( H o l l a n d ) : »Als die<br />

Kongreßmitglieder im Jahre 1906 n a c h h a u s e<br />

gingen, taten sie dies n u r unter der L o s u n g :<br />

Kein M a n n u n d kein Pfennig d e m Militar<br />

i s m u s ! Es bestand der Vorsatz, unter den<br />

revolutionären Arbeitern antimilitaristische<br />

G r u p p e n zu bilden. D e r holländische Verein<br />

w u r d e im N o v e m b e r 1903 zu Zwolle gegründet.<br />

Es w u r d e festgesetzt, d a ß derselbe<br />

aus G r u p p e n bestehen sollte u n d daß auch<br />

a n d e r e Vereine sich anschließen k ö n n t e n .<br />

Später w u r d e in Arnhain ein nationaler<br />

K o n g r e ß abgehalten <strong>und</strong> darauf einer in<br />

Utrecht, w o hauptsächlich Vorschläge über<br />

die P r o p a g a n d a behandelt w u r d e n . D e r antimilitaristische<br />

Verein in Holland hat auch<br />

an d e m internationalen Protest g e g e n den<br />

russisch-japanischen Krieg mit voller Kraft<br />

t e i l g e n o m m e n . Es w u r d e s o w o h l mit Worten,<br />

als mit Schriften eine kräftige Propag<br />

a n d a geführt. Die B e w e g u n g w u r d e stark<br />

angefeindet, s o w o h l von der sozialdemokratischen<br />

Arbeiterpartei, als von d e r Bourgeoisie.<br />

Die sozialdemokratische Arbeiterpartei<br />

schloß alle die, die Mitglieder eines<br />

antimilitaristischen Vereines w u r d e n , aus<br />

ihren Reihen aus. D e r antimilitaristische<br />

Verein zählt unter seinen propagandistischen<br />

A u s g a b e n ein Manifest g e g e n den russischjapanischen<br />

Krieg (100.000 Exemplare), einen<br />

Protest g e g e n den Krieg ü b e r h a u p t u n d<br />

speziell d e n Atjehkrieg (50.000 Exemplare)<br />

u n d eine B r o s c h ü r e »An die Mütter« infolge<br />

eines Beschlusses im internationalen Kong<br />

r e ß h e r a u s g e g e b e n (10.000 Exemplare).<br />

In Holland h a b e n sich m e h r e r e Dienstverweigerungsfälle<br />

ereignet, w e l c h e den<br />

Anlaß z u r H e r a u s g a b e einiger Schriften<br />

boten (zweimal in je 10.000 Exemplaren).<br />

N e b e n der Miliz besteht in Holland auch<br />

eine f r e i w i l l i g e Heeresorganisation. U m<br />

die Eltern v o r derselben zu w a r n e n u n d<br />

* Bekanntlich wurde erfreulicherweise die<br />

Anklage fallen gelassen. Anm. d. Red.<br />

um a b e r ihren w a h r e n Z w e c k aufzudecken,<br />

h a b e n die Antimilitaristen eine Broschüre<br />

h e r a u s g e g e b e n : »Die holländische Regierung<br />

als Seelenverkäuferin« (20.000 Exemplarei<br />

— (später mit a n d e r e m Titel: »Ein Hurrah<br />

für die königliche Marine« (25.000 Exemplare).<br />

Weiter g a b der Verein die B r o s c h ü r e :<br />

»Antimilitarismus u n d Gewerkschaftsagitation«<br />

heraus (5.000 E x e m p l a r e ) ; auch eine<br />

Broschüre, w o r i n die G r u n d s ä t z e des Vereines<br />

a u s e i n a n d e r g e s e t z t w u r d e n (selbe fand<br />

nur geringen Abgang) u n d ein Soldatenalmanach<br />

(jährlich 5.000 Exemplare). Es<br />

w u r d e n auch noch a n d e r e antimilitaristische<br />

Schriften h e r a u s g e g e b e n , wie die Monatsschrift<br />

»Die Waffen n i e d e r « ! (in 4 — 5.000<br />

E x e m p l a r e n u n d in Sonderfällen in g r ö ß e r e r<br />

Anzahl).<br />

D e r antimilitaristische Verein beschloß<br />

auch zu einem Protest g e g en die Athjeh-<br />

Greuel Stellung zu n e h m e n . Hieraus w u r d e<br />

a b e r nicht viel. Der Protest g e g e n die<br />

Friedenskonferenz der Regierungen hatte<br />

hingegen einen s c h ö n e n Erfolg zu verzeichnen.<br />

Die Agitation g e g e n die Greueltaten in<br />

Atjeh wird w i e d e r a u f g e n o m m e n w e r d e n .<br />

So entsteht in Holland eine prinzipielle<br />

Antipathie g e g e n das Heer. Im Jahre 1903<br />

b e g r ü ß t e n die Matrosen eines Kriegsschiffes<br />

das v o r ü b e r f a h r e n d e Boot der Streikkommission<br />

mit einem H u r r a h . Und vor kurzem<br />

bei e i n e m Streik im Rotterdamer Hafen<br />

fragte der Kapitän des »Piet Nein« die<br />

Matrosen, ob sie auf Streiker feuern w ü r d e n .<br />

Einstimmig lautete die A n t w o r t : » N e i n « !<br />

Auch die Dienstverweigerer haben eine<br />

kräftige P r o p a g a n d a g e m a c h t (zwei sind<br />

n o c h im Gefängnis).<br />

Eine Folge der antimilitaristischen Propag<br />

a n d a ist es auch, d a ß bei einem kleinen Feste<br />

ein Unteroffizier bei A b w e s e n h e i t der Vorgesetzten<br />

eine Rede hielt g e g e n die Gefangenh<br />

a l t u n g d e s Dienstverweigerers Garter.<br />

Die Ansicht bricht sich Bahn, daß die<br />

Arbeiter im Arbeitskittel <strong>und</strong> die in der<br />

Uniform solidarisch v e r b r ü d e r t n e b e n einander<br />

einherziehen m ü s s e n .<br />

A u ß e r d e m m u ß auch noch der christliche<br />

A n a r c h i s m u s e r w ä h n t w e r d e n , der<br />

auch Dienstverweigerer lieferte <strong>und</strong> kräftig<br />

mitwirkte an der Verbreitung des Antimilitarismus.<br />

K o l t h e k , Redakteur von »Recht vor<br />

Allem« (Holland) fügt n o c h hinzu, d a ß<br />

auf d e m Arnheimer K o n g r e ß beschlossen<br />

w u r d e , den Verein rein revolutionär zu<br />

führen; deshalb w u r d e der Beschluß des<br />

Zwoller K o n g r e s s e s annulliert, w o b e i G e ­<br />

werkvereine zugelassen w u r d e n . Dies geschah,<br />

weil in d e n Gewerkschaften auch<br />

nichtrevolutionäre Leute sind.<br />

D a ß der antimilitaristische Verein Erfolge<br />

zu verzeichnen hat, erhellt wohl am<br />

besten aus d e n militärischen Blättern Hollands,<br />

die ihn e i n g e h e n d besprachen. Der<br />

Antimilitarismus wirkt s c h o n bis in das<br />

Heer. Es ist bei u n s um die u n b e d i n g t e<br />

U n t e r w e r f u n g g e s c h e h e n . W e n n man die<br />

Zügel zu straff anzieht, entsteht Widerstand.<br />

Hat m a n d o c h in Zütfen das Desertieren<br />

von 50 H u s a r e n zu verzeichnen. Als sie<br />

zurückkehrten, jauchzte man ihnen zu.<br />

Von einem Schiffe der königlich-holländischen<br />

Marine desertierten auf einer Reise<br />

nach Amerika 25 Matrosen. Z u m a l der Sold<br />

a t e n a l m a n a c h ist in h ö h e r e n Militärkreisen<br />

sehr verhaßt. W e n n ein Soldat einen Almanach<br />

bei sich hat, wird gleich eine allgemeine<br />

U n t e r s u c h u n g g e h a l t e n . Der antimilitaristische<br />

Verein ist der revolutionärste Verein in<br />

Holland, welcher am wenigsten bourgeoise<br />

E l e m e n t e umfaßt.<br />

Auf Antrag von C. ten W o l d e <strong>und</strong> Friedeb<br />

e r g spricht der K o n g r e ß d u r c h Aufstehen<br />

seine Sympathie mit allen, sich im Gefängnis<br />

befindenden Dienstverweigerern aller Länder<br />

aus. (Fortsetzung folgt.)<br />

Verantwortlicher Redakteur Jos. Šindelář (Wien). — Herausgeber Jul. Ehinger (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.


Wien, 15. März 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 6.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Fockygasse 27,<br />

Ii/17. — Gelder sind zu senden an<br />

W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />

5, HL/27.<br />

Pr. XXXV 59/8<br />

3<br />

Im Namen Sr. Majestät des Kaisers!<br />

Das k. k. Landesgericht Wien als Preßgericht<br />

hat auf Antrag der k. k. Staatsanwaltschaft erkannt,<br />

daß der Inhalt der Nummer 5 der periodischen<br />

Druckschrift „Wohlstand für Alle", Jahrgang I, vom<br />

1. März 1908 durch die Stellen:<br />

1. in dem Artikel „Die Prinzipien unseres Kampfes"<br />

auf Seite 1<br />

a) von „Erfolgreich bekämpft'' bis „mehr huldigen"<br />

;<br />

b) von „Schon in den" bis „Freiheit folgen!"<br />

2. in dem Artikel „Zwei Klopffechter" auf Seite<br />

1 <strong>und</strong> 2<br />

a) von „<strong>und</strong> wollen" bis „sehen will";<br />

b) von „Die Anarchisten" bis „Autoritätslosigkeit".<br />

3. in dem Artikel „Funken vom Amboß der<br />

Anarchie" auf Seite 2 <strong>und</strong> 3<br />

Schön jetzt ist d e r F r ü h l i n g , die E r d e blickt<br />

s e h n e n d<br />

Mit Augen d e r Liebe z u r S o n n e e m p o r ;<br />

Lang w ä h r e t d a s T a g l i c h t , von Hoffen umhüllet<br />

Grünt k e i m e n d e S a a t a u s d e m A c k e r h e r v o r .<br />

Süß, süß ist es jetzt d u r c h d i e L a n d e zu streifen,<br />

Zwischen Blumen u n d T i e r e n im F e l d e so w e i t ;<br />

Liebe eint sich mit Liebe, <strong>und</strong> B ö s e s b e l a s t e t<br />

W e d e r dein Herz noch m e i n e s von Kummer<br />

befreit.<br />

Von Ortschaft zu Ortschaft, ü b e r Hügel <strong>und</strong><br />

W i e s e n ,<br />

Sind weit wir g e w a n d e r t , <strong>und</strong> l a n g w a r<br />

d e r W e g ,<br />

Doch jetzt kommt d e r A b e n d am E n d e<br />

d e s Dorfes,<br />

Wo die Kirche h e r v o r r a g t a u s g r a u e m<br />

G e h e g .<br />

Es ist W i n d in dem Zwielicht, in d e r<br />

S t r a ß e d o r t vor u n s<br />

Weht w i r b e l n d d a s Stroh a u s d e n Ställen<br />

d a h e r ;<br />

Der Mond ist im Aufgeh'n, ein Stern<br />

g l i t z e r t d r o b e n ,<br />

Und am T u r m e die F a h n e s c h w a n k t l a n g -<br />

sam <strong>und</strong> s c h w e r .<br />

Dort senkt sich die S t r a ß e z u r B r ü c k e<br />

h i n u n t e r ,<br />

Der T h e m s ' <strong>und</strong> dem Meer fließt d e r<br />

kleine Bach z u ;<br />

Komm' n ä h e r mein Lieb, h e u t e A b e n d , du<br />

S ü ß e !<br />

Mir <strong>und</strong> der F r e u d e g e g e b e n bist du.<br />

W e r d e n immer wir froh s e i n ? Komm' n ä h e r<br />

<strong>und</strong> h o r c h e :<br />

Drei Felder noch weiter, v e r s c h w o m m e n<br />

<strong>und</strong> matt,<br />

Wenn d e r Neumond nicht scheint, <strong>und</strong><br />

d e r Märzhimmel dunkelt,<br />

Erblickt man vom Hügel die Lichter d e r<br />

S t a d t .<br />

Horch! d e r W i n d in den Ulmen! von<br />

London her w e h e t ,<br />

Von Gold <strong>und</strong> von U n r a s t <strong>und</strong> Hoffnung<br />

er spricht,<br />

Von Macht, die nicht hilft, von W e i s h e i t<br />

<strong>und</strong> W i s s e n ,<br />

Doch w a s g u t <strong>und</strong> w a s b ö s e , d a s lehren<br />

sie nicht.<br />

Von den Reichen er s p r i c h t , die s e l t s a m e<br />

K<strong>und</strong>e,<br />

Wie sie h a b e n <strong>und</strong> g e i t z e n <strong>und</strong> greifen<br />

nach m e h r ;<br />

Und sie leben <strong>und</strong> s t e r b e n , u n d die S c h ö n -<br />

heit d e r E r d e<br />

W a r nur eine B ü r d e , die lastete! s c h w e r .<br />

,,In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />

a) von „Der Anarchismus" bis „des Aberglaubens"<br />

;<br />

b) von „Und für uns" bis „Gesellschaftsprinzips<br />

ist";<br />

c) von „indem wir sie" bis „Füßen tritt";<br />

d) von „Das ist" bis „Odem einhaucht";<br />

e) von „auf dem F<strong>und</strong>amente" bis „Anarchie<br />

erblicken".<br />

4. in dem Artikel „Aus der Internationale des<br />

revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus"<br />

im Beiblatt des „Wohlstand für Alle"<br />

a) von „Die Herren" bis „es verhindern"<br />

b) von „Da die allgütige" bis „führen wird";<br />

c) von „Zur Tat" bis „Helden verherrlicht!".<br />

5. in dem Artikel „Nietzsche über den Staat"<br />

in demselben Beiblatte<br />

a) von „denn hatte" bis „Erkennens versetzen";<br />

b) von „Der T o d " bis „Herrschsucht ist";<br />

c) von „Der Staat" bis „Kasten erlöst"<br />

das Vergehen nach §§ 300, 302 <strong>und</strong> 305 St.-G.<br />

begründe, <strong>und</strong> es wird nach § 493 St.-P.-O. das<br />

Die Botschaft des Märzwindes.<br />

(Übersetzt aus dem Englischen von L i l l y N a d l e r - N u e l l e n s . )<br />

H o r c h ! d e r Märzwind w i e d e r von Menschen<br />

e r z ä h l e t ,<br />

Wie sie d o r t leben in Elend u n d Not,<br />

D a ß w e n n wir, u n s ' r e Lieb, z w i s c h e n ihnen<br />

g e w e i l e t ,<br />

War* verblüht d e i n e Schönheit, mein Lieben<br />

w a r ' tot.<br />

Dies Land, d a s wir Hebten, in Liebe <strong>und</strong><br />

Muße,<br />

Für sie h ä n g t im Himmel, sie e r r e i c h e n es nie,<br />

Die Hügel am Meer sind für sie o h n e<br />

F r e u d e ,<br />

D a s Heim i h r e r Väter o h n ' E r i n n e r u n g für sie.<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2'40;<br />

halbjährig K 1-20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3-50, halbjährig Fr. 175, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

Verbot der Weiterverbreitung dieser Druckschrif<br />

ausgesprochen, die von der k. k. Staatsanwaltschaft<br />

verfügte Beschlagnahme nach § 489 St.-P.-O. bestätigt<br />

<strong>und</strong> nach § 37 Pr.-G. auf die Vernichtung<br />

der saisierten Exemplare erkannt.<br />

G r ü n d e :<br />

In den beanständeten Stellen der obzitierten<br />

Artikel wird durch Schmähungen, unwahre Angaben<br />

<strong>und</strong> Entstellung von Tatsachen zum Hasse <strong>und</strong> zur<br />

Verachtung gegen Staatsbehörden herabzuwürdigen<br />

gesucht, zu durch die Gesetze verbotene Handlungen<br />

aufgefordert <strong>und</strong> werden dieselben angepriesen;<br />

weiters werden Andere zu Feindseligkeiten<br />

wider einzelne Klassen <strong>und</strong> Stände der bürgerlichen<br />

Gesellschaft aufgefordert, angeeifert oder zu verleiten<br />

gesucht <strong>und</strong> es erscheint demnach der Inhalt<br />

dieser Stellen geeignet, den Tatbestand des Vergehens<br />

nach §§ 300 <strong>und</strong> 305 St.-G. zu begründen.<br />

Wien, am 3. März 1908.<br />

Unterschrift unleserlich.<br />

W o h l h a b e n die S ä n g e r g e s u n g e n , die Meister<br />

Und Maler d e r S c h ö n h e i t Gebilde e r d a c h t ;<br />

Doch für w a s <strong>und</strong> für w e n ist d a s W e l t e n b u c h<br />

s t r a h l e n d ,<br />

W e n n für j e n e ist alles n u r Dunkel d e r N a c h t ?<br />

W i e l a n g , u n d für w a s noch g e d u l d i g sie w a r t e n ?<br />

W i e oft <strong>und</strong> wie oft noch e r z ä h l t m a n ihr Leid,<br />

W ä h r e n d Hoffnung, v e r b o r g e n , in Dunkel sich<br />

hüllet,<br />

Und in Gram <strong>und</strong> in K u m m e r v e r g e h e t die Z e i t ?<br />

Komm* zur H e r b e r g ' zurück, Lieb, zum T a n z e n<br />

<strong>und</strong> G e i g e n ,<br />

Zum Licht u n d d e s F e u e r s h e l l e u c h t e n d e m<br />

S c h e i n ;<br />

"~~ D o r t in e i n e r W e i l e k o m m t R u h ' d a n n u n d<br />

S e h n e n ,<br />

Und s ü ß d a s E r w a c h e n a m M o r g e n w i r d sein.<br />

D e n n o c h Lieb, wie wir g e h ' n , w e h t d e r<br />

W i n d u n s im R ü c k e n ,<br />

Und zum letztenmal jetzt von d e r Zukunft<br />

er s p r i c h t ,<br />

W i e hier einst im F r ü h l i n g die Botschaft<br />

u n s f i n d e t ;<br />

Denn die Hoffnung, v e r b o r g e n , e r s t e h e t<br />

zum Licht.<br />

W i e im W i n t e r d a s Korn, u n b e m e r k t , doch<br />

voll L e b e n ,<br />

Wie d e s H e r b s t e s S a a t g r ü n t u n t e r S c h n e e -<br />

s t ü r m e W e h ' n ,<br />

W i e die Lieb u n s ereilt', nicht g e h e g t ,<br />

u n v e r m u t e t ,<br />

Wie u n t e r d e m Herzen w ä c h s t d e i n Kind<br />

u n g e s e h ' n .<br />

So die Hoffnung d e s Volkes j e t z t k n o s p e t<br />

u n d w a c h s e t ,<br />

Vor ihr s c h w i n d e t Angst, d u m p f e Blindheit<br />

<strong>und</strong> Ruh',<br />

Sie e r m a h n e t u n s all i h r e W e i s h e i t zu<br />

l e r n e n ,<br />

Sie fand uns <strong>und</strong> hält u n s <strong>und</strong> rufet u n s z u :<br />

Denn sie b r i n g t u n s die Botschaft: „ E r h e b t<br />

euch am M o r g e n<br />

Und g e h t e u ' r e W e g e d u r c h Zweifel <strong>und</strong><br />

S t r e i t ;<br />

E u e r Hoffen u n d Leiden mit u n s r e m v e r -<br />

einet,<br />

Sucht Liebe der M e n s c h e n in d e r flüchtigen<br />

Zeit".<br />

Doch s i e h e ! die H e r b e r g ´ u n d d a s T a n z e n<br />

<strong>und</strong> G e i g e n ,<br />

D a s Licht <strong>und</strong> d e s F e u e r s h e l l e u c h t e n d e n<br />

S c h e i n ;<br />

Dort in einer W e i l e kommt Ruh' d a n n <strong>und</strong><br />

S e h n e n ,<br />

Und s ü ß d a s E r w a c h e n z u T a t e n w i r d sein.<br />

William Morris.


Märzstürme der Revolution.<br />

„Raum! Raum! brich Bahnen, wilde Brust!<br />

Ich fühl's <strong>und</strong> staune jede Nacht,<br />

Daß nicht blos Eine Sonne lacht;<br />

Das Leben ist des Lebens Lust!<br />

Hinein, hinein mit blinden Händen,<br />

Du hast noch nie das <strong>Ziel</strong> gewußt;<br />

Zehntausend Sterne aller Enden,<br />

Zehntausend Sonnen steh'n <strong>und</strong> spenden<br />

Uns ihre Strahlen in die Brust!"<br />

(Richard Dehmel „Drei Ringe.")<br />

Wie ein Jubelruf des Lebens, ausgestoßen<br />

von höchster <strong>und</strong> erhabenster W a r t e ;<br />

wie ein klingendes Echo, das von Berggipfeln<br />

zu Bergesgipfeln überspringt; wie die<br />

g r o ß e Offenbarung der ersten Liebestat des<br />

physisch <strong>und</strong> geistig vollentwickelten Menschen<br />

— so tritt die Revolution im Leben<br />

der Völker, der Oesamtmenschheit auf. In<br />

ihr lebt die Freude des erwachten Selbstgefühls,<br />

lodert die Begeisterung ob klarster<br />

Erkenntnis <strong>und</strong> u n g e s t ü m - b e s o n n e n e r G e -<br />

staltungskraft, <strong>und</strong> in der Revolution erblicken<br />

wir die Übereinstimmung, das Ineinanderaufgehen<br />

<strong>und</strong> Überklingen aller G e -<br />

fühle, Leidenschaftstriebe, Geistesträume <strong>und</strong><br />

des ahnungsvollen, idealistischen Strebens<br />

der Menschheit. Sie stellt das Erwachen<br />

dar, ist eine E p o c h e der Reife der individuellen<br />

wie gesellschaftlichen Konstitution.<br />

Solange uns die Geschichte ein Bild<br />

der Versklavung des Menschen durch den<br />

Menschen <strong>und</strong> der Unterjochung ganzer<br />

Völker durch die Unwissenheit, den Knechtessinn<br />

eines Teiles dieser Völker aufweist,<br />

die sich als willfährige W e r k z e u g e der G e -<br />

lüste eines vergewaltigenden militärischen<br />

Despotismus gebrauchen ließen, wird die<br />

Revolution im Geistesleben der nach Freiheit<br />

ringenden Menschen nie anders auftreten<br />

denn als B e f r e i e r i n . Trotz ihrer<br />

Fehler, die sie beging, trotz ihres Schuldregisters-<br />

<strong>und</strong> Verbrechens, das an ihr haftet<br />

<strong>und</strong> ihre bisherige U n z u l ä n g l i c h k e i t<br />

ist, trotz alledem, was die neunmal Weisen<br />

<strong>und</strong> Gelehrten wider sie vorbringen m ö g e n :<br />

lasset die Menschheit unfrei sein; knechtet<br />

d e n Sklaven nach wie vor, <strong>und</strong> k o m m e n<br />

wird der Tag, da er zu seines M e n s c h t u m s<br />

W ü r d e erwacht. D a s a b e r u n d n i c h t s<br />

a n d e r e s i s t d a n n d i e R e v o l u t i o n .<br />

Sie ist der klare Ausdruck des sozialen<br />

Gefühls der Massen <strong>und</strong> — ungleich anderen<br />

historischen Epochen — des ehernen<br />

Entschlusses, dieser Erkenntnis <strong>und</strong> Empfind<br />

u n g zum D u r c h b r u c h zu verhelfen.<br />

W e n n die Herrschenden es stets begriffen<br />

hätten, w a n n ihres Herrschtums Totenglöcklein<br />

erklang, die Revolutionen der Vergangenheit<br />

hätten einen ganz anderen Verlauf gen<br />

o m m e n , als es der Fall für beide Kämpfer<br />

gewesen, für die Unterdrückten <strong>und</strong> die<br />

Unterdrücker. Es ist für den in ganz anderen<br />

sozialen Regionen Lebenden schwer,<br />

es zu begreifen, w e n n die da unten, im Schöße<br />

der Gesellschaft, dort wo das Leben wirklich<br />

lebt <strong>und</strong> vergeht, wo die Lohe einer<br />

Feuerglut des Schaffens <strong>und</strong> Vernichtens<br />

mit prasselndem Lärm das ganze Tun <strong>und</strong><br />

Treiben der M e n s c h e n bedeckt, für die all<br />

diesem Entrückten <strong>und</strong> im G e w o h n h e i t s -<br />

schlendrian Lebenden ist es immer schwer,<br />

zu begreifen, daß diese w i m m e l n d e Masse<br />

da unten, nach langem Tasten <strong>und</strong> Fühlen,<br />

sich zu neuen L e b e n s a n s c h a u u n g e n durchgerungen,<br />

d e m Bann des Religionsglaubens,<br />

der Gesetzesvorschrift, d e m Z w a n g e auf<br />

diesem oder j e n e m Gebiet entwachsen ist,<br />

<strong>und</strong> es nun gilt, sich dieser k o n s e q u e n t<br />

herbeigeführten Umgestaltung zu fügen.<br />

Die Herrschaft ist an das Gebieten gewöhnt,<br />

nicht an das G e h o r c h e n . Und sie begreift<br />

nicht, daß sie dann mit ihrem einsetzenden<br />

Widerstande sich g e g e n ein Naturgesetz<br />

des Lebens vergeht, daß sie den freien<br />

Entwicklungsgang vielmillionenfachen Lebens<br />

hemmt, <strong>und</strong> unmöglich siegreich sein<br />

kann in diesen verblendeten Versuchen.<br />

Weil d a n n auf einmal alles bisher Friedliche<br />

das Kampfgerüstete <strong>und</strong> Kämpfende,<br />

Wehrhafte aus sich herausgebärt — die<br />

Revolution tritt auf, sie, die Göttin der Befreiung,<br />

die w e h e n d e n Lockenhaares zur<br />

Freiheit geleitet;die Herrschaft hat noch niemals<br />

verstanden, daß es ein völliges Niederwerfen<br />

dieser erwachten Volkskraft- <strong>und</strong><br />

Macht eben das ist die Revolution —<br />

nicht gibt, nicht g e b e n kann.<br />

Keine Revolution war noch vollständig<br />

vergebens, jede Revolution hat noch stets<br />

g e w i s s e Fortschritte erzielt, einige Hindernisse<br />

für das weitere W e r d e n der sozialen<br />

Institutionen ü b e r w u n d e n . Gewiß, gerade<br />

die Revolutionen des Februars in Paris,<br />

des 13. März in Wien, des 18. März in<br />

Berlin haben uns, den anarchistischen Sozialisten<br />

gelehrt, wie die Revolution nicht<br />

kämpfen soll, w e n n sie in Wahrheit siegen<br />

<strong>und</strong> nicht wie eine schöne Maid von dem<br />

alles versprechenden, unaufrichtigen, bourgeoisen<br />

Verführer vergewaltigt u n d in ihren<br />

Hoffnungen nachträglich getäuscht, werden<br />

will. Allerdings: sowohl die Strategie des<br />

Kampfes, wie auch die <strong>Ziel</strong>e dieses machtvollen<br />

gigantischen Ringens — beide haben<br />

sich verändert. Aber sich gleich ist d e n n o c h<br />

eines geblieben: Das g r o ß e geschichtliche<br />

Moment, daß jedes Stück Befreiung e r -<br />

k ä m p f t w e r d e n muß, daß die Revolution<br />

es noch stets war, die die Nabelschnur<br />

durchschnitt, die das organisch G e w o r d e n e<br />

noch mit d e m verwesenden alten Gesellschaftskörper<br />

verband <strong>und</strong> daß nur die Revolution<br />

es g e w e s e n , die das, was die<br />

Menschheit längst an innerster Ü b e r z e u g u n g<br />

mit sich herumtrug, mit blitzesrascher<br />

Plötzlichkeit zur Reife, zur Vollendung <strong>und</strong><br />

trefflicher Verwirklichung gelangen ließ.<br />

Und in all den Niederschlägen, die die<br />

Revolution erlitt, in all den kolossalen<br />

Opfern, die für der Menschheit weitere<br />

Kulturschritte gebracht werden mußten, ist<br />

gerade das unverkennbar deutlich, daß auch<br />

die Revolution n e b e n vielen Verlusten <strong>und</strong><br />

Rückschlägen sich d e n n o c h immer klarer<br />

gestaltete <strong>und</strong> in ihren sozialen Bestrebungen<br />

immer weiter vordrang, bis knapp vor<br />

eine e r h a b e n e Etappe im Emanzipationskampf<br />

des Proletariats, die Etappe d e s 18.<br />

März 1871, der uns die Proklamation der<br />

unvergänglichen P a r i s e r K o m m u n e<br />

brachte.<br />

Die meisten, die vor uns gingen, die<br />

des »tollen Jahres« Achtzehnh<strong>und</strong>ertvierzig<strong>und</strong>acht<br />

aber fast durch die Bank, waren<br />

Schwärmer, soweit sie w a h r e Idealisten<br />

o d e r aber Reaktionäre, sobald sie den echten<br />

W e g der ganzen Revolutionstätigkeit<br />

voraussahen <strong>und</strong> deshalb fürchteten. Wir<br />

sind heute keine S c h w ä r m e r mehr, sondern<br />

M ä n n e r u n d Frauen, ein Proletariat, das<br />

da getragen wird von der Begeisterung<br />

für ein klar g e s c h a u t e s <strong>Ziel</strong>. Schwärmerei<br />

<strong>und</strong> Begeisterung sind gr<strong>und</strong>verschiedene<br />

Sachen. W a s zählten ein einzelner Blanqui,<br />

ein Bakunin, ein P r o u d h o n , diese aktiven Mitkämpfer<br />

der Revolution g e g e n ü b e r der riesigen<br />

Masse eines u n w i s s e n d e n Proletariats,<br />

das s e m e Haut zu Markte trug für rein<br />

bürgerliche Z w e c k e , weit strenger als selbst<br />

die Machthaber die Heiligkeit des Eigentums<br />

verkündete <strong>und</strong> das glaubte, w e n n<br />

es die Person Metternichs stürzte, es damit<br />

ein System g e ä n d e r t hatte; einen Irrtum,<br />

den Windischgrätz allerdings durch blutige<br />

Reaktionsmaßregel noch vor E n d e desselben<br />

Jahres korrigierte. Darin ist ja g e r a d e der<br />

g r o ß e Unterschied zwischen uns <strong>und</strong> den<br />

ganzen Acht<strong>und</strong>vierzigern gelegen, der uns<br />

auch so sehr von ihnen trennt, daß w e n n<br />

L ö h n er, einer der ihren in der medizinischen<br />

Fakultät a n n o 1848 erklärte, »daß es<br />

sich darum handelt, eine p o l i t i s c h e Revolution<br />

durchzuführen, d a m i t m a n d e r<br />

s o z i a l e n v o r b e u g t « , wir dann laut ver-<br />

k ü n d e n : G e r a d e darum handelt es sich nicht<br />

für uns, d e n n für u n s entfließt nur der<br />

s o z i a l e n Revolution die wahre politische<br />

Freiheit! Und w e n n wir dies heute sagen,<br />

sind <strong>und</strong> stehen wir nicht m e h r allein. Die<br />

Revolution ist auf ein h ö h e r e s Niveau gestiegen,<br />

h u n d e r t t a u s e n d e starke Arme tragen<br />

sie in allen Ländern d e r Pseudokultur<br />

unserer Zeit, kurz, die Erkenntnis, daß es<br />

sich vor allem um die s o z i a l e Befreiung<br />

handelt, sie die politische g a n z selbstverständlich<br />

ergibt, wird mit j e d e m T a g e mehr<br />

das geistige G e m e i n g u t d e s Proletariats internationaler<br />

R<strong>und</strong>e.<br />

Der Monat März leitet das Frühjahr<br />

ein, dieses ist der Vorläufer des Sommers.<br />

Auch in den gesellschaftlichen Kämpfen<br />

haben wir bislang nur Märzstürme gehabt,<br />

Märzstürme der Revolution <strong>und</strong> noch kein<br />

einziges Mal die ganze Revolution selbst,<br />

d. h. die vollständig erlösende Erkenntnistat<br />

der Massen, die darin bestände, das soziale<br />

Leben zu befreien von jeder Herrschaft<br />

auf geistigem, ö k o n o m i s c h e m , politischem<br />

Gebiete. Dazu bedarf es der kämpfenden<br />

Proletarier, die durchglüht sind<br />

v o m edelsten u n d vollständigsten Freiheitsidealismus,<br />

von j e n e m b e s t i m m e n d e n W o l -<br />

l e n , das die Frucht ist eines klar geschauten<br />

<strong>Ziel</strong>es. Die Revolutionäre der Zukunft,<br />

erst sie w e r d e n die Frühzeit der bisherigen<br />

Revolutionen überragen <strong>und</strong> die Revolution<br />

zur Fruchtreife des S o m m e r s geleiten; gestählt<br />

durch die Erkenntnis des G r u n d ü b e l s<br />

der gesellschaftlichen Sklaverei — die ökonomische<br />

Unterjochung durch die M o n o p o l -<br />

besitzenden u n d Privilegierten schreiten<br />

sie voran mit der Fackel strahlender Aufklärung,<br />

sich stets es vor Augen haltend,<br />

daß es vor allem einer prinzipiellen Revolutionierung<br />

der Köpfe <strong>und</strong> der Geistesans<br />

c h a u u n g bedarf, erst a u s ihr die Revolutionierung<br />

der Verhältnisse hervorgeht. Ihren<br />

G e g n e r n , i n s b e s o n d e r e den Sozialdemokraten,<br />

rufen sie die ewig d e n k w ü r d i g e n W o r -<br />

t e R o b e r t B l u m s entgegen, die d a lauten:<br />

» K e i n e h a l b e R e v o l u t i o n m e h r !<br />

F o r t s c h r e i t e n . . . a u f d e r e i n g e -<br />

s c h l a g e n e n B a h n , v o r a l l e m k e i n e<br />

S c h o n u n g g e g e n d i e A n h ä n g e r d e s<br />

a l t e n S y s t e m s , d i e R u h e a u s s e l b s t -<br />

s ü c h t i g e n A b s i c h t e n b e g e h r e n . . . «<br />

Die Märzrevolution in Wien.<br />

„Das Licht sei unsere Fahne! Vernichtet<br />

sei das Reich der Finsternis!"<br />

Dr. Köck am 13. März 1848.<br />

Es ist nun einmal s o : die Geschichte<br />

scheint dazu da zu sein, um u m g e l o g e n<br />

zu werden. Keinmal tritt dies deutlicher zu<br />

T a g e als dann, w e n n die Menschen Gedächtnistage<br />

begehen, w e n n sie sich an<br />

angeblich große Gestalten der Kulturgeschichte<br />

erinnern <strong>und</strong> ihnen in sklavischer<br />

Autoritätsanbetung huldigen nicht weil<br />

sie sie kennen oder ihre Taten würdigen<br />

können, sondern z u m größten Teil deshalb,<br />

weil es ihnen suggeriert wurde, daß man<br />

die huldigen müsse. So ist es auch, v o m<br />

Standpunkt des Proletariats aus, z u m größten<br />

Teil mit den Märzstürmen des Jahres 1848<br />

der Fall, für uns ganz insbesondere mit<br />

der Wiener Revolution.<br />

Zwei Faktoren sind es gewesen, welche<br />

den 13. März in Wien g e b a r e n : es war<br />

erstens das heroische Vorbild der Pariser<br />

Februarrevolution, die ihren gekrönten Bürgerkönig<br />

v o m T h r o n e jagte <strong>und</strong> zweitens<br />

<strong>und</strong> vornehmlich w a r es das herrschende<br />

Elend, die soziale Not. Diesen b e i d e n<br />

Erzeugern ist die W i e n e r Revolution n i c h t<br />

gerecht g e w o r d e n ; d e m letzteren nur insoferne,<br />

als sie das schon ohnedies fast gänzlich<br />

unhaltbar g e w o r d e n e Robotsystem unter<br />

den Bauern endgültig aufhob. Die Elendsverhältnisse<br />

in der Stadt selbst hat sie nicht<br />

b e h o b e n <strong>und</strong> ihr Stückchen Staatssozialismus


mit den Erdarbeiten im Wiener Prater hat<br />

kläglichen Bankerott erlitten, wie ja der<br />

Staat niemals im Stande sein kann, der<br />

sozialen Not Abhilfe angedeihen zu lassen,<br />

eben weil er die bestehenden G r u n d u r s a c h e n<br />

des sozialen Elends, die ausbeuterischen<br />

Gesellschaftszustände, aufrechterhalten muß.<br />

Wie dringend n o t w e n d i g aber g e r a d e die<br />

Aufhebung des sozialen Elendszustandes<br />

gewesen wäre, darüber stimmen alle Historiker<br />

der Revolution überein, die einstimmig<br />

von einem so schaudervollen<br />

Jammerwinter zu erzählen wissen, daß h<strong>und</strong>erte<br />

von Menschen sich T a g <strong>und</strong> Nacht<br />

hindurch in Unratskanälen aufhielten, einfach<br />

weil sie weder Arbeit noch O b d a c h<br />

finden konnten.<br />

So hochherzig der 13. März 1848 für<br />

Wien auch verlief, es darf nie übersehen<br />

werden, daß wir es mit einer d u r c h a u s<br />

bürgerlichen Affaire zu tun haben, die uns<br />

modernen sozialistischen Kämpfern wie eine<br />

längst abgestorbene Sache erklingen muß.<br />

Sie ging von zwei sozialen Schienten a u s :<br />

von dem mächtig emporgestrebten Bürgertum<br />

<strong>und</strong> dem Intellektualismus, d e m Studententum.<br />

Darin ist ihre ganze S c h w ä c h e<br />

gelegen, denn sobald das Wiener Proletariat<br />

in einzelnen seiner Teile an die Erringung<br />

von ökonomischen Rechten <strong>und</strong> ö k o n o -<br />

mischen Freiheiten gehen, kurz gesagt,<br />

seinen Hunger stillen wollte, da war es mit<br />

der Einigkeit <strong>und</strong> Einheit der B e w e g u n g<br />

— <strong>und</strong> dies ist ein charakteristisches, besonders<br />

festzuhaltendes M o m e n t des 13. März<br />

- vollständig vorbei. Und es gelang der<br />

Bourgeoisie auch wirklich, den heraufziehenden<br />

sozialen Gewittersturm zu bannen,<br />

in der Folge w u r d e das W i e n e r Proletariat<br />

der bewährteste Schutz des Privateigentums,<br />

von dem es nicht wußte, daß es in seiner<br />

monopolistischen Form g e r a d e diejenige<br />

soziale Institution ist, die seine Not verursachte.<br />

Es ist etwas sehr Merkwürdiges<br />

daran, daß die W i e n e r Revolution, ganz ungleich<br />

der Februarrevolution, k e i n e r l e i sozialistische<br />

Elemente aufzuweisen hat.<br />

Wir achten die heldenmütigen M ä n n e r<br />

des Bürgertums, die für ihre Ü b e r z e u g u n g<br />

am 13. März gestritten haben. Sie kämpften<br />

für ihre idealen Interessenprinzipien, haßten<br />

den vormärzlichen Absolutismus <strong>und</strong> wollten<br />

von ihm nichts mehr als die A n e r k e n n u n g<br />

ihrer schon längst erworbenen, sozialen<br />

Position. I h r e n Kampf begreifen wir, <strong>und</strong><br />

ihr Fallen für i h r e Sache gehört zu jenen<br />

Idealblättern, deren die Geschichte viel zu<br />

wenige aufzuweisen vermag. Anders ist es<br />

für uns allerdings, w e n n wir das Auftreten<br />

des Wiener Proletariats am 13. März <strong>und</strong><br />

in der Folge des Jahres 1848 beobachten.<br />

Da wird es wahrlich höchste Zeit, daß wir<br />

den verherrlichenden Reden der d e m a g o -<br />

gischen Parteien der G e g e n w a r t entgegentreten<br />

<strong>und</strong> die Tatsachen in ungeschminkter<br />

Form charakterisieren. Und w e n n man sagt,<br />

daß H<strong>und</strong>erte <strong>und</strong> T a u s e n d e von Proletarierleichen<br />

die Barrikaden höher türmten, auf<br />

denen sich die W i e n e r Revolution abspielte,<br />

so darf uns dies von der Feststellung der<br />

historischen Wahrheit nicht abhalten. Und<br />

sie besteht darin: W e n n Proletarier auf<br />

dem Schlachtfelde eines m e n s c h e n m o r d e n -<br />

den Krieges fallen o d e r in den Kämpfen<br />

einer Revolution sinken, in denen es<br />

in keiner Weise ihre Interessen galt, in<br />

diesen Kämpfen für die Interessen anderer<br />

Klassen fielen — darf dies für uns nur Ursache<br />

des Bedauerns, nie aber Ursache zur historischen<br />

Fälschung sein; <strong>und</strong> die W i e n e r<br />

Proletarier haben in den Märztagen des<br />

Jahres 1848 wohl gegen die herrschenden<br />

Gewalten gekämpft, in ihren <strong>Ziel</strong>en aber<br />

für eine für sie t o t a l w e r t l o s e Sache<br />

ihr Leben eingebüßt.<br />

Betrachten wir nur ganz oberflächlich<br />

die Forderungen der damaligen radikalen<br />

Elemente wie sie i n dem M a n i f e s t d e r<br />

ö s t e r r e i c h i s c h e n F o r t s c h r i t t s p a r t e i<br />

vom 4. März 1848 zum präzisierten Ausdruck<br />

gelangen. Wir finden d a :<br />

1. 'Ministerien mit bestimmten Portefeuilles.<br />

2. Selbstverwaltung der G e m e i n d e n<br />

<strong>und</strong> Kreise durch freie Wahl der G e m e i n d e -<br />

vorstände <strong>und</strong> Kreisbehörden.<br />

3. a) Erweiterung der ständischen Verfassung<br />

durch Z u z i e h u n g des Bürger- <strong>und</strong><br />

Bauernstandes zur Vertretung ihrer Interessen;<br />

b) Wiedererstattung <strong>und</strong> A u s d e h n u n g<br />

der ständischen Rechte etc.<br />

4. Ein vereinigter Landtag mit jährlicher<br />

Einberufung.<br />

5. Öffentliches <strong>und</strong> mündliches Gerichtsverfahren.<br />

6. Aufhebung der Zensur.<br />

7. Religiöse D u l d u n g <strong>und</strong> Aufhebung<br />

aller, die einzelnen Konfessionen bedrückenden<br />

Dekrete.<br />

8. Beschränkung der Polizeiwillkür.<br />

( A b s c h a f f u n g d e s p o l i t i s c h e n S p i -<br />

o n i e r s y s t e m s . )<br />

Q. Verbesserung in der Volkserziehung<br />

<strong>und</strong> im öffentlichen Unterrichte.<br />

10. Allgemeine Volksbewaffnung.<br />

11. Allgemeines Petitionsrecht.<br />

Dies sind so ungefähr sämtliche der<br />

aufgestellten F o r d e r u n g e n ; m a n c h e von<br />

ihnen sind errungen, m a n c h e sind bis heute<br />

noch nicht verwirklicht w o r d e n ; alle aber<br />

sind sie samt <strong>und</strong> sonders rein bürgerlicher<br />

Natur <strong>und</strong> w e n n es ihnen gelang, das P r o -<br />

letariat für sich ins Schlepptau zu n e h m e n ,<br />

v i e l f a c h a u c h n o c h h e u t e g e l i n g t ,<br />

so ist dies nur dem U m s t ä n d e zu verdanken,<br />

daß das Proletariat es nicht begriff, oftmals<br />

noch immer nicht begreift, daß die u n b e -<br />

dingte Verwirklichung des Sozialismus die<br />

einzige proletarische H a u p t s a c h e ist, daß<br />

diese Verwirklichung sich selbst in freiester<br />

Form alle notwendigen politischen<br />

Gestaltungen schaffen wird, viele, ja die<br />

meisten der obigen F o r d e r u n g e n mit der<br />

Herbeiführung d e s proletarischen T r i u m p h e s<br />

sozialer Gerechtigkeit gar nichts zu tun<br />

haben, Ballast sind, ja sogar den Sieg zum<br />

Sozialismus direkt verrammeln.<br />

Wie armselig, gering <strong>und</strong> bettlerhaft<br />

sind doch diese Forderungen g e w e s e n , mit<br />

denen es der Bourgeoisie gelang, das Proletariat<br />

zu u m g a r n e n ! Es war eben wirklich<br />

nichts als ein toller Taumel, der überhaupt<br />

nicht wußte, was er wollte, nämlich auf<br />

Seite des Proletariats. W i e sattsam zufrieden<br />

<strong>und</strong> g e n ü g s a m ist doch das G a n z e g e w e s e n .<br />

Und d a f ü r v e r g o ß man sein Blut; wie es<br />

bisher das Proletariat stets getan hat: für<br />

die Interessen anderer Klassen. Und man<br />

rede auch nur nicht so viel v o m politischen<br />

Freiheitsinteresse, vom politischen Freiheitserkennen,<br />

das angeblich den Sturz des<br />

damaligen Absolutismus herbeiführte, der<br />

sich trotz der O k t o b e r t a g e nicht wieder<br />

wie früher aufrichten konnte. Nur Leute,<br />

die D e m a g o g e n sind <strong>und</strong> d e m Proletariat<br />

den w e i t e r e n A u s b l i c k verwehren<br />

wollen oder die damalige »Freiheitsliteratur«<br />

Österreichs überhaupt nicht kennen, können<br />

solches behaupten. W e r erinnert sich<br />

da nicht des bekannten Langer'schen<br />

»Barrikadenliedes«, das tatsächlich die<br />

S t i m m u n g jener Zeit am klarsten zum Ausdruck<br />

bringt:<br />

Mit Gott für Freiheit, Recht <strong>und</strong> Licht!<br />

Auf, Brüder, laßt uns laden;<br />

Ein Schuft, der heut sein Wort uns bricht,<br />

Nicht ehrlich für die Freiheit ficht<br />

Hoch auf den Barrikaden.<br />

Es will das Volk sein gutes Recht<br />

Erbetteln nicht als Gnaden,<br />

Das Volk versteht zu betteln schlecht,<br />

Es holt sein Recht sich im Gefecht<br />

Hoch auf den Barrikaden.<br />

Du Natterbrut, die Österreich<br />

Gebracht zu Schimpf <strong>und</strong> Schaden,<br />

Fort Adeltrotz <strong>und</strong> Pfaffenreich,<br />

Wir halten heut Gericht mit Euch<br />

Hoch auf den Barrikaden.<br />

Ihr nahmt uns unsern Kaiser; doch<br />

Dem Kaiser soll's nicht schaden;<br />

Der Kaiser ist uns alles noch,<br />

Der Kaiser hoch, der Kaiser hoch,<br />

Selbst auf den Barrikaden.<br />

Mit Gott für Freiheit, Recht <strong>und</strong> Licht!<br />

Auf, Brüder, laßt uns laden;<br />

Wir wanken nicht <strong>und</strong> weichen nicht,<br />

Bis unser Aug' im Tode bricht<br />

Hoch auf den Barrikaden.<br />

Es kann nicht leicht etwas Charakteristischeres<br />

geben, als dieses, damals allgemein<br />

verbreitete <strong>und</strong> g e s u n g e n e Gedicht,<br />

das u n s die ganze Unklarheit jener Zeit<br />

deutlich g e n u g vor A u g e n führt.<br />

So ist uns denn der 13. März nicht<br />

ein T a g e r h e b e n d e n G e d e n k e n s , sondern<br />

ein T a g der Erkenntnis: wir erkennen das<br />

viele nutzlos vergossene Blut, wir erkennen<br />

die hohlen Phrasen, wir erkennen das unerreicht<br />

Gebliebene weit schärfer <strong>und</strong> deutlicher<br />

als es noch vor wenigen Jahrzehnten<br />

möglich war. Aber nicht um die Kämpfe<br />

der Vergangenheit zu h ö h n e n , stellen wir<br />

all dies fest; nur um zu verhüten, daß<br />

über der Vergangenheit die G e g e n w a r t <strong>und</strong><br />

Zukunft vergessen werde, wie es ja tatsächlich<br />

heute geschieht, wie ein Blick auf<br />

die Tätigkeit der Sozialdemokratie es beweist,<br />

die noch immer in den F o r d e r u n g e n<br />

der Vergangenheit herumkramt. Eines steht<br />

unerschütterlich fest für uns, die neue<br />

Generation der Revolution:<br />

W i r m ü s s e n ü b e r d i e M ä r z -<br />

k ä m p f e d e r V e r g a n g e n h e i t h i n w e g<br />

u n d h i n a u s g e h e n , w e i t g e w a l t i g e r e<br />

A u f g a b e n l ö s e n a l s s i e e s t a t e n<br />

d e r Z u k u n f t m i t i h r e r E r l ö s u n g<br />

d u r c h d i e g a n z e , w a h r e F r e i h e i t<br />

u n d d e m S o z i a l i s m u s e n t g e g e n !<br />

Die Februarrevolution<br />

von Paris.<br />

Mögen die Arbeiter die folgenden Worte bebeherzigen,<br />

sie bilden einen <strong>Weg</strong>weiser für die Zukunft,<br />

sind ein historisches Verdammungsurteil für<br />

die ganze gegenwärtige parlamentarische Taktik,<br />

denn es war jene <strong>und</strong> mit ihr das marxistische<br />

Schlagwort von der politischen, staatlichen „Diktatur<br />

des Proletariats", die durch den gräßlichen Verlauf<br />

der Februarrevolution den kläglichsten Schiffbruch<br />

erlitten, es einem Abenteurer ermöglichten, durch<br />

einen Staatsstreich die Republik der Arbeiter zu<br />

stürzen, das Kaiserreich der Napoleoniden wieder<br />

zu errichten.<br />

Dr. G o t t s c h a l k , dessen Rede wir, gewissermaßen<br />

als eine photographisch treue Aufnahme der<br />

gesamten Februarrevolution folgen lassen, war einer<br />

der charaktervollsten, geistig bedeutendsten Vorkämpfer<br />

der deutschen Revolution jener Tage. Edel<br />

an Gesinnung verstand er unter dem Ideale der<br />

Demokratie die ganze, volle Freiheit <strong>und</strong> war er<br />

während des Kölner Aufstandes am 3. März 1848<br />

in den ersten Reihen. Wenige Monate, nein Wochen<br />

vor Abhaltung des folgenden Referats war er noch<br />

im Gefängnis gewesen; noch vor Ablauf von 1849<br />

starb er <strong>und</strong> keine schöneren Worte können ihm<br />

nachgerufen werden, als es jene sind, die Herwegh<br />

ihm widmete, da er u. a. schrieb: „Er war eine der<br />

edelsten <strong>und</strong> energischesten Naturen, denen ich<br />

b e g e g n e t . . . Ich bin erschüttert von dieser Nachricht;<br />

es war soviel Zukunft in ihm, aber es scheint,<br />

daß in Deutschland keine mehr ist, weil d i e s e<br />

Menschen sich aus dem Staube machen, indes so<br />

viel Gesindel übrig bleibt . . ."<br />

* *<br />

A u s z u g a u s e i n e r a m 20. M ä r z 1849<br />

v o n D r . G o t t s c h a l k i n B o n n g e h a l -<br />

t e n e n R e d e :<br />

G e w o h n t , mich nur an den Besten <strong>und</strong><br />

Edelsten zu messen, w e n d e t e ich mich zunächst<br />

nach Paris, zu jener Stadt, die in<br />

zweien Revolutionen West- <strong>und</strong> Mitteleuropa<br />

erschüttert, <strong>und</strong> von der ich eine<br />

dritte Revolution erwartete, die auch Rußland<br />

eine andere Gestaltung g e b e n wird.


Ich wollte aber auch die Republik in der<br />

N ä h e sehen, die das Arbeitervolk im Februar<br />

des vorigen Jahres mit seinem Heldenmute<br />

gegründet, <strong>und</strong> die ihm bis jetzt nur<br />

Armut <strong>und</strong> Elend, Kerker <strong>und</strong> V e r b a n n u n g<br />

<strong>und</strong> die Metzeleien des Juni gebracht hat.<br />

Ja, wissen m ö g e n Sie, daß T a u s e n d e von<br />

Arbeitern meuchlings geschlachtet, einzelne<br />

sogar halb lebend verbrannt w o r d e n sind<br />

<strong>und</strong> daß Leute ihre h u n g e r n d e n Verwandten<br />

auf Straßen <strong>und</strong> an Häusern die Pfennige<br />

des Mitleids betteln sahen. Jawohl, die<br />

Frucht ihres in Strömen vergossenen Blutes<br />

w u r d e den Arbeitern durch die Unfähigkeit<br />

ihrer damaligen Leiter entrissen. Ich<br />

gehöre nicht zu jenen, die sich einen kleinen<br />

Ruhmestempel aus den T r ü m m e r n gefallener<br />

G r ö ß e m ü h s a m zusammenstellen;<br />

ich verkenne auch nicht die Schwierigkeiten,<br />

mit welchen die provisorische Regierung<br />

Frankreichs einer, w e n n auch besiegten,<br />

aber noch nicht vernichteten Partei<br />

g e g e n ü b e r zu kämpfen hatte. — Die Reaktion<br />

b e g a n n aber schon an dem ersten<br />

Tage nach der Revolution, am 25. Februar,<br />

mit der Unfähigkeit, mit der Feigheit derjenigen,<br />

die die siegreichen Arbeiter an<br />

ihre Spitze gerufen; sie wird steigend fortgehen,<br />

bis auch der letzte Schatten der<br />

Freiheit dahin ist. In diesem Saale sehe ich<br />

noch die Zeichen der Freiheit; jn Paris,<br />

der Hauptstadt der französischen Republik,<br />

sind sie verpönt; <strong>und</strong> doch waren im Februar<br />

die Arbeiter die Meister <strong>und</strong> Gebieter<br />

dieser Stadt u n d ganz Frankreichs. Die Vera<br />

n t w o r t u n g haftet an der übelverstandenen<br />

G r o ß m u t , die vor dem Siege geübt wird<br />

u n d a n d e r U n f ä h i g k e i t j e n e r ,<br />

w e l c h e d i e A r b e i t e r a u f i h r e n<br />

A r m e n z u r M a c h t g e t r a g e n .<br />

M a g L a m a r t i n e ein Verräter gewesen<br />

sein — er ist bereits von der öffentlichen<br />

M e i n u n g gerichtet — das entschuldigt<br />

aber nicht L e d r u - R o l l i n , der mit ihm<br />

eine mehrmonatliche Diktatur geführt, der,<br />

von ihm betrogen, die Republik in den<br />

eifrigen Republikanern verfolgte <strong>und</strong> der<br />

sich heute noch für eine zweite Revolution<br />

möglich glaubt, wenngleich es zweifelhaft<br />

ist, ob man mit der Unfähigkeit des Kopfes<br />

oder des Herzens seine bedauernswerten<br />

Mißgriffe entschuldigen solle. Ich tadle<br />

nicht M a r r a s t <strong>und</strong> M a r i e , daß sie i n<br />

der Revolution nur ein Mittel gesehen, womit<br />

Bälle <strong>und</strong> Assembleen zu bezahlen<br />

denn e s hat noch immer J u d a s s e gegeben,<br />

die für eitles Silber das Heil der Völker<br />

geopfert — ich tadle L o u i s B l a n c , weil<br />

es ihm an Mut gebrach, seinen aufrichtigen<br />

Willen zur G e l t u n g zu bringen. Hätte er<br />

sich im rechten Augenblicke von der p r o -<br />

visorischen Regierung getrennt, er w ü r d e<br />

zu jener Zeit die Revolution in Paris <strong>und</strong><br />

vielleicht in Europa gerettet haben. G e -<br />

stehen wir, die Reaktion ist <strong>und</strong> war die<br />

einzig b e w e g e n d e Partei in Frankreich, wie<br />

bei u n s ; sie geht rasch, sie wird auch die<br />

letzten Reste der revolutionären Errungenschaften<br />

in den freien Vereinigungen der<br />

Arbeiter vernichten, sie wird vielleicht die<br />

politische Form des Landes noch einmal<br />

v e r ä n d e r n ; aber sie geht rasch, <strong>und</strong> mit<br />

jedem Akte der Brutalität, mit dem sie ihre<br />

Unfähigkeit zu verhüllen sucht, drängt sie<br />

zur endlich entscheidenden Revolution.<br />

Hoffen wir, daß die Arbeiter alsdann, der<br />

traurigen Lehren eingedenk, die sie empfangen,<br />

nicht mehr Schönrednern, sondern<br />

Männern wie B l a n q u i , P r o u d h o n <strong>und</strong><br />

R a s p a i l ihre Geschicke anvertrauen werden,<br />

die einzigen, von denen ich glaube,<br />

daß sie nicht mit schwachen N a c h a h m u n g e n<br />

einer großen Vergangenheit, sondern daß<br />

sie mit eigener schöpferischer Kraft den<br />

A u f s c h w u n g des Volkes zu erhalten verstehen<br />

werden, der allein eine unterdrückte<br />

Klasse zum Siege führt.<br />

Der 18. März in Berlin.<br />

„Der proletarischen oder wirklich<br />

revolutionären Partei gelang es nur<br />

sehr allmählich, die Masse der Arbeiter<br />

dem Einfluß der Demokraten zu entziehen,<br />

deren Schwanz sie zu Beginn<br />

der Revolution gebildet. Aber zur richtigen<br />

Zeit tat die Unentschlossenheit,<br />

Schwäche <strong>und</strong> Feigheit der demokratischen<br />

Führer das Übrige, <strong>und</strong> man<br />

kann heute sagen, daß eines der Hauptergebnisse<br />

der Umwälzungen der letzten<br />

Jahre darin besteht, daß die Arbeiterklasse,<br />

wo immer man sie in einigermaßen<br />

ansehnlichen Massen konzentriert<br />

findet, v o l l k o m m e n b e f r e i t<br />

i s t v o n j e n e m d e m o k r a t i s c h e n<br />

E i n f l u ß , der sie 1848 <strong>und</strong> 1849 zu<br />

e i n e r u n e n d l i c h e n R e i h e v o n<br />

F e h l e r n u n d U n f ä l l e n f ü h r t e . "<br />

(Karl Marx: „Revolution <strong>und</strong> Konire-<br />

Revolution in Deutschland").<br />

Leider treffen diese W o r t e Marx' in<br />

keiner Weise auf Deutschland zu, <strong>und</strong> niemals<br />

hat ein sozialistischer Theoretiker<br />

durch seine eigenen A n h ä n g e r eine ärgere<br />

W i d e r l e g u n g gef<strong>und</strong>en, als es dem T h e o -<br />

retiker der Sozialdemokratie <strong>und</strong> dem Altmeister<br />

des sozialdemokratischen D o g m a s<br />

widerfährt. Unglücklicherweise sind die<br />

Arbeiter auch heute noch nicht befreit v o m<br />

demokratischen Einfluß, <strong>und</strong> ist dieser<br />

bis zu jener Machtfülle gediehen, daß er<br />

den Sozialismus fast erstickt. Nur wir<br />

Anarchisten dürfen das historische Recht<br />

in Anspruch nehmen, den Sozialismus vor<br />

einem vorläufigen, vollständigen Untergang<br />

bewahrt zu h a b e n ; unter den Händen der<br />

Sozialdemokraten sind die Arbeiter fast<br />

vollständig dem Einfluß der bürgerlichen<br />

Demokratie erlegen, die, unter der Umw<br />

a n d l u n g der Sozialisten in sozialdemokratische<br />

P o l i t i k e r — also Glücksjäger<br />

auf d e m Gebiete der D e m a g o g i e ! — d e m<br />

Ideengange des Sozialismus so aufoktroiert<br />

wurde, daß sie den letzteren vollständig<br />

verdrängte.<br />

Doch lassen wir dies; es steht auf<br />

einem anderen Blatte, <strong>und</strong> wir führen es<br />

nur an, um dadurch die w a h r e Ursache des<br />

totalen Fehlschlagens der Märzrevolution in<br />

Berlin deutlicher ins Licht der Betrachtung<br />

zu rücken.<br />

Jenes »köstliche Mißverständnis«, das<br />

zur Erschießung von Volksgenossen führte,<br />

ist eigentlich das einzige b e w e g e n d e Moment<br />

der Berliner »Revolution«. Schon der<br />

angekündigte Entschluß, am 18. März im<br />

Schlosse Friedrich Wilhelm IV. vorsprechen<br />

<strong>und</strong> die F o r d e r u n g e n d e s Volkes zum Ausdruck<br />

bringen zu wollen, genügte, um den<br />

König zu einem »freiwilligen« Zugeständnis<br />

zu b e w e g e n . Und dann kam die Folge<br />

jenes »Mißverständnisses«, jenes g r o ß e<br />

menschliche Nähertreten des Volkes <strong>und</strong><br />

des Königs, bei dem sich dieser samt G e -<br />

mahlin seiner Majestät entkleidete <strong>und</strong> als<br />

Mensch, nicht g a n z gewissensreiner Mensch,<br />

das entblößte Haupt beugte vor den Leiterw<br />

a g e n mit den Leichen der Gefallenen, die<br />

an d e m Schlosse vorbeifuhren. U n d schon<br />

zwei W o c h e n später, am 2. April, schloß<br />

das Bürgertum wieder seinen Pakt mit den<br />

herrschenden Gewalten, die nun ihrerseits<br />

mit d e m Rest der proletarischen D e m o -<br />

kratie spielend fertig w u r d e n . Eine erhöhte<br />

Ironie auf alle revolutionäre Aktionen bildete<br />

das armselige G e s p e n s t der Frankfurter<br />

Nationalversammlung die das für revolutionäre<br />

Begriffe geradezu grauenhafte Resultat<br />

hatte, daß sich die Blutlehre jeder<br />

autoritären E r h e b u n g abermals Bahn brach:<br />

Der 18. März in Berlin gipfelte in der<br />

Etablierung des Erbkaisertums. Das elende<br />

Bürgervolk hatte seinen Verrat an dem ge-,<br />

täuschten Proletariat gekrönt.<br />

Rückblickend verdienen diese Tage die<br />

schärfste Geißelung. U n d wir glauben, sie<br />

wird ihnen zuteil in einem Brief, den einer<br />

der größten Vorkämpfer des internationalen<br />

Proletariats <strong>und</strong> des Anarchismus-Sozialismus<br />

an den Freiheitsdichter H e r w e g h<br />

schrieb: M i c h a e l B a k u n i n . Sein Brief<br />

wirft ein helles Streiflicht auf die Situation;<br />

so m ö g e er denn folgen als ihre beste<br />

Charakteristik <strong>und</strong> g e b ü h r e n d e historische<br />

W ü r d i g u n g .<br />

Michael Bakunin s c h r e i b t :<br />

Göthen, 8. D e z e m b e r 1848.<br />

Mein Lieber! Schon lange h a b e ich<br />

an Dich kein W o r t gerichtet; auf meinen<br />

letzten Brief hast Du mir nicht geantwortet,<br />

aber ich n e h m e es Dir nicht übel,<br />

denn in dieser Hinsicht haben wir uns<br />

gar nichts vorzuwerfen. — Hier mein<br />

Aufruf an die Slaven; Du wirst aus demselben<br />

ersehen, daß ich den Mut nicht<br />

im geringsten verloren habe. W ä h r e n d<br />

diesen neun Monaten habe ich mich an<br />

Geduld, an Warten <strong>und</strong> an Ausdauer gew<br />

ö h n t . — »J'attendrai Monseugneur!« —<br />

das ist meine Antwort auf die triumphierende<br />

Reaktion, — u n d die Anarchie,<br />

— die Z e r s t ö r u n g der Staaten wird doch<br />

bald k o m m e n müssen. — A b e r sehr oft<br />

habe ich an Dich g e d a c h t <strong>und</strong> Dir recht<br />

g e g e b e n , als ich die Verhältnisse <strong>und</strong><br />

die V o r g ä n g e in Deutschland näher sah.<br />

Ich erinnerte mich an die Worte, die Du<br />

mir in Paris, vor der Revolution, so oft<br />

wiederholt hast: »Die erste Revolution<br />

in Deutschland wird für uns nichts Tröstliches<br />

haben, da sie der Sieg der bourgeoisen<br />

Niederträchtigkeit sein wird.« —<br />

Wie g r o ß die Niederträchtigkeit des<br />

deutschen Philisters ist, das habe ich erst<br />

jetzt im vollen Maße gesehen.<br />

N i r g e n d s ist der Bourgeois ein lieb<br />

e n s w ü r d i g e r Mensch, aber der deutsche<br />

Bourgeois ist niederträchtig mit Gemütlichkeit.<br />

Selbst die Art dieser Leute sich<br />

zu e m p ö r e n u n d ihre E m p ö r u n g auszudrücken,<br />

ist e m p ö r e n d . Neulich ist<br />

hier der A b g e o r d n e t e Hildenträger, Sekretär<br />

der Berliner Nationalversammlung,<br />

d u r c h g e g a n g e n . Er erzählte uns, wie das<br />

Militär sein H a u s gestürmt, alle Schlösser<br />

zerbrochen, <strong>und</strong> alle Papiere samt 30.000<br />

Taler w e g g e n o m m e n ; — da schreien<br />

viele, mit sichtbarer Entrüstung: »Und<br />

das Geld auch!« — <strong>und</strong> a n d e r e : »Man<br />

wird Ihnen das Geld wohl z u r ü c k g e b e n !<br />

. . .« Mit einem Worte, Fre<strong>und</strong>, das ist<br />

mein letztes <strong>und</strong> wahrlich ein sehr begründetes<br />

Urteil: W e n n die deutsche<br />

Nation bloß aus der großen, leider zu<br />

großen Masse der Spießbürger, der<br />

Bourgeoisie bestünde, aus dem, w a s man<br />

heute das offizielle, sichtbare Deutschland<br />

n e n n e n könnte, — w e n n unter<br />

dieser offiziellen deutschen Nation es<br />

nicht Stadtproletarier, b e s o n d e r s aber<br />

einegroße Bauernmasse gäbe, dann w ü r d e<br />

ich sagen m ü s s e n : es gibt keine deutsche<br />

Nation mehr, Deutschland wird erobert<br />

<strong>und</strong> zu G r u n d e gerichtet werden. —<br />

Nur ein anarchischer Bauernkrieg einerseits<br />

u n d die V e r b e s s e r u n g der Bourgeoisie<br />

durch die Bankerotte andrerseits<br />

kann Deutschland retten. — Für das<br />

Zweite w e r d e n die Verhältnisse selbst<br />

<strong>und</strong> eine eiserne Notwendigkeit sorgen.<br />

Für das Erste hat man bis jetzt so gut<br />

wie gar nichts gesorgt. — Ich finde<br />

keinen Ausdruck, um Dir die Stupidität,<br />

den Leichtsinn <strong>und</strong> die abstrakte Prinzipienreiterei<br />

der sogenannten demokratischen<br />

Führer in Deutschland zu bezeichnen.<br />

— Mit abstrakten, politischen,<br />

konstitutionellen oder republikanischen<br />

Phrasen glaubten sie, die Bauern in Bew<br />

e g u n g setzen zu k ö n n e n ; — sie wollten<br />

die s o g e n a n n t e n »schlechten Leidenschaften«<br />

nicht im Volke wecken, sie<br />

haben das Volk nicht von T a g zu T a g<br />

empört <strong>und</strong> bearbeitet, sondern bruchweise<br />

durch illusorische <strong>und</strong> Illusion her-


vorbringende Volksversammlungen auf<br />

das Volk wirken wollen, sie haben<br />

mit ihrer ganzen renommistischen Schreierei<br />

nichts gemacht, — heute ist das<br />

also geworden — aber das Volk nicht<br />

parceque aber quoique dieser Führer ist<br />

doch gegenwärtig ein anderes. Es will<br />

alles haben, Alles nehmen, <strong>und</strong> wird sich<br />

durch nichts befriedigen lassen; es ist so<br />

weit, daß es glaubt, allein berechtigt zu<br />

sein, <strong>und</strong> ist in diesem G l a u b e n durch<br />

den Hof <strong>und</strong> die Komplimente, die beide<br />

Parteien ihm machen, bestätigt. —<br />

Schlechte Leidenschaften w e r d e n einen<br />

Bauernkrieg hervorbringen, <strong>und</strong> das freut<br />

mich, da ich nicht die Anarchie fürchte,<br />

sondern sie von ganzer Seele w ü n s c h e<br />

— sie allein kann uns aus dieser verfluchten<br />

Mitte, in der wir seit so lange<br />

vegetieren müssen, mit Gewalt herausreißen.<br />

— Die b e s o n n e n e n , vernünftigen,<br />

energischen Demokraten, die, welche<br />

wahrhaft revolutionär sind, verlieren,<br />

ebenso wie ich, den Mut nicht.<br />

Sie freuen sich selbst, daß jetzt das<br />

unbeschränkte Recht des Schwatzens <strong>und</strong><br />

der öffentlichen Konspiration den Deutschen<br />

wieder g e n o m m e n wird. — Der<br />

Deutsche m u ß sich etwas konzentrieren,<br />

um gescheit zu werden. — Die politische<br />

Liederlichkeit war zu groß. Jetzt fängt<br />

man an, was man eigentlich schon vom<br />

Frühjahr an tun mußte, aber die betrunkenen<br />

Menschen waren dazu nicht zu<br />

bringen. — Jetzt fängt man an, Gott sei<br />

Dank, sich so ziemlich zu organisieren<br />

<strong>und</strong> geheime Gesellschaften zu g r ü n d e n ;<br />

— man will sich für den Kampf, den<br />

man allgemein hier im Frühling erwartet,<br />

gründlich vorbereiten.* — Unterdessen<br />

wird die siegende Reaktion g r o ß e D u m m -<br />

heiten begehen; diese Dummheiten sind<br />

unausbleiblich; man spricht jetzt allgemein<br />

von einer Intrigue, die der edle<br />

Gagern führt <strong>und</strong> die folgendes bezwecken<br />

soll: Der Reichsverweser wird<br />

abdanken, — es wird sich an seine Stelle<br />

ein Triumvirat setzen, dessen Mitglied<br />

Gagern selbst <strong>und</strong> zwei a n d e r e aus der<br />

Frankfurter V e r s a m m l u n g sein sollen, —<br />

<strong>und</strong> dieses Triumvirat soll als Ü b e r g a n g<br />

zur preußischen H e g e m o n i e dienen. —<br />

Man erzählt noch, daß Bayern,<br />

Hannover, Braunschweig <strong>und</strong> einige andere<br />

gegen diesen Plan <strong>und</strong> gegen<br />

Preußen überhaupt eine Sonder-Allianz<br />

zu Stande gebracht haben — übrigens<br />

ist das ein bloßes G e r ü c h t <strong>und</strong> ich g e b e<br />

es Dir nur als ein solches. — Der Winter<br />

wird traurig sein aber interessant. — W a s<br />

mich betrifft, Lieber, so bleibe ich hier<br />

wahrscheinlich noch einen M o n a t ; ich<br />

habe noch m a n c h e s zu b e s o r g e n ; dann<br />

aber ist es sehr möglich, daß ich für<br />

zwei Monate nach Paris gehe. — Ich<br />

brauche Dir gar nicht zu sagen, mit was<br />

für einer Freude ich Euch alle, Dich,<br />

Deine Frau <strong>und</strong> alle unsere Fre<strong>und</strong>e<br />

wiedersehen werde. — Wir werden uns<br />

so vieles zu erzählen <strong>und</strong> zu sagen haben.<br />

— Briefe kann ich nicht schreiben, das<br />

ist einmal abgemacht.<br />

Sei so gut, schreibe mir Deine<br />

Adresse <strong>und</strong> antworte mir, sei es auch<br />

nur mit wenigen Worten. —<br />

* Um hier allen möglichen kleinlichen <strong>und</strong><br />

denkfaulen Verleumdungen als auch der Entstellung<br />

tatsächlicher Dinge von Seite der Sozialdemokraten<br />

von vornherein die Spitze abzubrechen, stellen wir<br />

fest, daß auch Marx bis März 1850 an den Wiederausbruch<br />

der Revolution <strong>und</strong> bis 1851 an den<br />

siegreichen Verlauf dieses Wiederausbruches glaubte.<br />

Was nun ganz insbesondere die Frage der Konspirationen<br />

anbetrifft, so ist die oben ausgedrückte<br />

Meinung Bakunins schließlich auch von Marx geteilt<br />

worden, der in seinem Korrespondenzbericht<br />

an die New-Yorker „Tribüne" vom 1. Dezember<br />

1852 diese geheimen Revolutionsgesellschaften ausdrücklich<br />

guthieß. Anm. d. Red.<br />

Meine A d r e s s e :<br />

Cöthen-Principauté d'Anhalt.<br />

Monsieur Charles.<br />

U n d auf d e m zweiten Kuvert pour<br />

Mr. Jules.<br />

O r ü ß e alle die von unseren Bekannten<br />

<strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en, welche mich<br />

nicht vergessen haben.<br />

Dein Jules Elysard.*<br />

„Es lebe die Kommune!"<br />

In t r e u e r E r i n n e r u n g an den 18. März 1871 u n d an<br />

den h e l d e n m ü t i g e n Kampf d e s P a r i s e r Volkes.<br />

„Mit Blut befleckt, doch lehenstark,<br />

so wurdest du geboren:<br />

Das jüngste Kind der Mutter Zeit zum<br />

letzten Kampf erkoren,<br />

Gezeugt in einer Nacht voll Finsternis<br />

<strong>und</strong> Glut.<br />

Der Lärm der Revolutionen klang in<br />

deinen Ohren.<br />

Und nie hast das Erinnern du an diesen<br />

Klang verloren:<br />

Er zuckt in deinem Hirn <strong>und</strong> er durchpulst<br />

dein Blut."<br />

(John Henry Mackay „Am Ausgang des<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts").<br />

Z u m 37. Male feiern wir diesmal die<br />

Wiederkehr eines Tages, nein, einer Epoche<br />

in der Geschichte des großen, proletarischen<br />

Befreiungskampfes, deren Ereignisse<br />

u n s nicht wie jene der acht<strong>und</strong>vierziger<br />

T a g e so ganz entrückt sind, daß wir<br />

sie nur im Sinne historischer Pietät begehen;<br />

der 18. März 1871 ist ein Datum, das<br />

mit unverwischbarer Runenschrift in unseren<br />

Geist, in unser Gefühl eingeritzt w u r d e ,<br />

denn er war ein Vorsignal der sozialen<br />

Revolution der Zukunft. Er ist der T a g<br />

einer grandiosen Volkserhebung, in der der<br />

Internationalismus kühn <strong>und</strong> stolz seine<br />

Standarte erhob, d e n n Männer <strong>und</strong> Frauen<br />

a l l e r Nationalitäten begründeten die Pariser<br />

K o m m u n e . Er bildete die erste g r o ß e Vora<br />

h n u n g von der strategischen Form des<br />

Kampfplatzes <strong>und</strong> der Kampfesstrategie in<br />

dem endlich unvermeidlichen Ausringen<br />

zwischen Bourgeosie <strong>und</strong> Proletariat, denn<br />

zum ersten Mal seit fast einem Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

erhob am 18. März in Paris der Geist des<br />

Föderalismus wieder sein Haupt gegenüber<br />

d e m seit der französischen Revolution<br />

unumschränkt waltenden Prinzip des jakobinistischen<br />

Centraiismus. Der 18. März 1871<br />

ist die Besitzergreifung einer Stadt durch<br />

das gesamte geistig <strong>und</strong> physisch herangereifte<br />

Volk von Paris gewesen, denn dieses<br />

begriff, daß es sich nur so einer französischen<br />

Regierungsbande von Royalisten<br />

<strong>und</strong> Pseudorepublikaner, politischen Abenteurern<br />

<strong>und</strong> militärischen Betrügern erwehren,<br />

von ihr befreien konnte. Und 73<br />

Tage lang bestand die Pariser K o m m u n e<br />

— o h n e Z e n t r a l g e w a l t , o h n e P o l i -<br />

z e i s c h u t z , o h n e G e r i c h t s h ö f e , o h n e<br />

K a p i t a l i s t e n g i l d e , o h n e P r o s t i t u i r t e<br />

u n d m ä n n l i c h e C h a r l a t a n e a l l e r<br />

S o r t e n . Alles dies hatte sich geflüchtet,<br />

übrig war nur das Paris des heldenmütigen<br />

Sinnens, des schöpferischen Gestaltens, des<br />

kühnen Wollens geblieben, das im Begriffe<br />

stand, eine neue W e l t o r d n u n g zu zeugen.<br />

Ist der H a ß aller Autoritäten auf allen<br />

Gebieten des Lebens gegen die K o m m u n e<br />

irgendwie unerklärlich? Nein; kein soziales<br />

Gebilde der G e g e n w a r t z o g das Prinzip<br />

der herrschenden Autorität so tief hinab<br />

in das abgr<strong>und</strong>tiefste Nichts, wie gerade die<br />

K o m m u n e . Ist die V e r l e u m d u n g des Thiers<br />

<strong>und</strong> seiner Manen eine erstaunliche Sache?<br />

Keineswegs; keine soziale E m p ö r u n g bewies<br />

es klarer, als es die K o m m u n e tat,<br />

daß die republikanischen Tyrannen, nachdem<br />

sie das ehemalige G o t t e s g n a d e n t u m des<br />

Absolutismus gestürzt, sogleich — Renegaten<br />

der Revolution w e r d e n d — dieselbe<br />

* Elysard war Bakunin's literarisches Pseudonym.<br />

ökonomische <strong>und</strong> politische Unterjochung<br />

etablieren, wie es ihre ehemaligen G e g n e r<br />

getan. Und die K o m m u n e bewies, wie<br />

spielend leicht es für ein Volk ist, o h n e<br />

diese »republikanischen« Herrscher auszuk<br />

o m m e n , daß die Wohlfahrt eines Volkes<br />

sich blühender ausgestalten kann, w e n n<br />

dasselbe sich v o m D r u c k e dieser Gewalten<br />

befreit hat, wie Paris es w ä h r e n d den Kommunetagen<br />

sehr klar u n d deutlich erfuhr.<br />

Alle die tausendfache L ü g e <strong>und</strong> Verleumd<br />

u n g <strong>und</strong> Niedertracht, die g e g e n die Komm<br />

u n e <strong>und</strong> K o m m u n a r d e n beiden Geschlechtes<br />

ausgespielt w u r d e n — sie alle werden<br />

begreiflich, w e n n man das Eine w e i ß : Die<br />

K o m m u n e jagte ihre Regierung d a v o n ; die<br />

Pariser K o m m u n e wollte für Paris die<br />

Rechte unabhängigster Selbstverwaltung,<br />

dadurch für sich den zentralen Staat entsetzend<br />

<strong>und</strong> seines »wohltätigen Berufes«<br />

entkleidend; die Pariser K o m m u n e erklärte,<br />

die ö k o n o m i s c h e G r u n d l a g e des bestehenden<br />

Systems in Frankreich antasten zu<br />

wollen, u n d mit Waffengewalt verteidigten<br />

die Pariser Bürger ihre wirkliche Heimat<br />

— Paris — gegen die Söldner <strong>und</strong> Zuavenheere<br />

eines Thiers <strong>und</strong> M a c - M a h o n s —<br />

d i e K o m m u n e w a r d i e P r o k l a m a -<br />

t i o n d e r U n a b h ä n g i g k e i t , S e l b s t -<br />

s t ä n d i g k e i t u n d A u t o n o m i e e i n e s<br />

V o l k e s g e g e n ü b e r d e m S t a a t e , d e r<br />

g e s e l l s c h a f t l i c h e n Z e n t r a l g e w a l t !<br />

Heldenmütiges Paris, ihr Männer, Frauen,<br />

Kinder der K o m m u n e — wir denken<br />

euer! Ein leuchtendes Vorbild der Geistesklarheit,<br />

ein edles Standbild für großmütiges<br />

Opferwerk um eines Prinzips willen,<br />

verklärt vom Ruhmesstrahle einigen Wollens<br />

— so steht ihr März-Kämpfer von 1871<br />

vor u n s ! Es war der letzte Kampf, der da<br />

ausgefochten werden sollte; die Geschichte<br />

hat ihn noch nicht gewollt, aber ihr, die<br />

ihr mit euren Leichen den Boden Paris gedüngt<br />

<strong>und</strong> besät habt, ihr wäret die Bahnbrecher,<br />

die Pioniere von G e d a n k e n , die<br />

die Zeit reifen <strong>und</strong> siegen lassen wird.<br />

Das Paris von 1871 wollte Freiheit,<br />

wollte ö k o n o m i s c h e Gleichheit, wollte Selbstständigkeit<br />

<strong>und</strong> Brüderlichkeit. D a ß es nicht<br />

zur Ausführung all dieser Ideale gelangte,<br />

noch schreiten konnte, ist nicht seine, sondern<br />

seiner G e g n e r Schuld gewesen, die<br />

es umzingelten <strong>und</strong> im ewigen Kriegszustand<br />

erhielten. Aber zahlreich sind die<br />

Anzeichen, welchen W e g die K o m m u n a r d e n<br />

geschritten wären, welchen W e g sie hätten<br />

schreiten müssen, w e n n man der Entwickl<br />

u n g der K o m m u n e freien Lauf gelassen<br />

hätte, der Entwicklung z u m Sozialismus<br />

u n d zur k o n s e q u e n t e n A u t o n o m i e — Anarchie.<br />

W e n n wir der heroischen K o m m u n a r -<br />

den g e d e n k e n , dann steht vor u n s der 18. März;<br />

die Tage, die ihm folgten, erheben sich in gewaltiger<br />

G r ö ß e , w e n n auch ihre B e deutung<br />

vertieft aufgefaßt w e r d e n m u ß ; <strong>und</strong> endlich<br />

erheben sich vor unseren A u g e n die blutigen<br />

Maitage — das E n d e der K o m m u n e . . . .<br />

Kampfessichere Entschlossenheit <strong>und</strong><br />

herrliche Einmütigkeit des W o l l e n s — das<br />

ist uns der 18. März 1871. Verwirklichung<br />

eines Gr<strong>und</strong>prinzips des Sozialismus der<br />

anarchistischen Schule: die G e d a n k e n g ä n g e<br />

des Föderalismus <strong>und</strong> der Autonomie, das<br />

ist u n s die D a u e r der K o m m u n e . U n d ein<br />

Erbe, so s c h w e r <strong>und</strong> traurig anzusehn,<br />

weil es unheilverkündend in die Zukunft<br />

deutet, uns lehrt, daß das siegreiche Proletariat<br />

vor allem stets sich seinen Sieg bewahren,<br />

nicht wieder aus den H ä n d e n<br />

reißen lassen darf, bei Strafe des Unterg<br />

a n g e s nicht — das ist u n s das E n d e der<br />

K o m m u n e von 1871.<br />

* *<br />

*<br />

Die K o m m u n e w a r das Kind eines<br />

Krieges, der geführt w u r d e zwischen Deutschland<br />

<strong>und</strong> Frankreich. Zwei Völker waren


mutwillig aufgepeitscht w o r d e n zu einem<br />

m e n s c h e n s c h ä n d e n d e n , tausendfaches Unglück<br />

herbeiführenden Krieg, in d e m sie sich<br />

gegenseitig zerfleischten. D e r Krieg s o l l t e<br />

sein, so wollte es ein Bismarck, der zu diesem<br />

Z w e c k e selbst vor einer Fälschung der<br />

b e r ü h m t e n Emser D e p e s c h e nicht zurückscheute.<br />

Heute, wo Jahrzehnte der gereiften<br />

Entwicklungseinsicht hinter uns liegen,<br />

wissen wir es g e n a u g e n u g : D e r Krieg,<br />

der a n n o 1871 geführt w u r d e , drehte sich<br />

nicht etwa so sehr um Machterweiterung<br />

durch gewaltsame Aneignung, sondern vornehmlich<br />

darum, in Europa eine nicht mehr<br />

n e u e politische Geistesvorherrschaft abermals<br />

zu b e g r ü n d e n . Es w a r der Rachekrieg wider<br />

Frankreich; aber nicht wider den dritten<br />

Napoleon o d e r seinen erbärmlichen Nachtretern.<br />

Es war der Krieg g e g e n den stets<br />

von Frankreich aus über ganz E u r o p a<br />

flatternden Freiheitsgeist, der hier Rache<br />

nahm, dieses Frankreich der Revolutionen<br />

endgültig demütigen, zu Boden schleudern<br />

<strong>und</strong> abermals das Prinzip des zentralistischabsolutistischen<br />

G e d a n k e n s in g a n z E u r o p a<br />

aufpflanzen wollte. Dies gelang: unter der militärischen<br />

Übergewalt- <strong>und</strong> Macht Deutschlands<br />

brach Frankreich — innerlich uneinig<br />

durch soziale T e n d e n z e n — z u s a m m e n ,<br />

das militärische Prinzip des zentralisierten<br />

Großstaates Deutschland erhob triumphirend<br />

das blutige B a n n e r ; auf Jahrzehnte hinaus<br />

w a r jede b e d e u t e n d e revolutionäre Erheb<br />

u n g in E u r o p a tot, jede echt sozialistische<br />

B e w e g u n g zerfiel o d e r mußte direkt von<br />

n e u e m beginnen, es brach an die s o g e n a n n -<br />

te Iegalistisch-legitime Reaktionsperiode,<br />

die, a u s g e h e n d <strong>und</strong> gestützt von Deutschland,<br />

sich wie ein Todeskeim über den<br />

revolutionären G e d a n k e n von ganz Europa<br />

legte u n d erst gegenwärtig überall im Schwinden<br />

begriffen ist.<br />

Eine unfähige, korrumpierte Militär- <strong>und</strong><br />

Kriegsführung bereitete Frankreich Niederlage<br />

auf Niederlage. Unter ihrem Einflüsse<br />

drängten sich die Ereignisse, die z u m Sturze<br />

des Staatsstreichlers Napoleon III. führten<br />

<strong>und</strong> eine provisorische republikanische<br />

Regierung w u r d e eingesetzt. Aber sie w a r<br />

nur scheinbar republikanisch <strong>und</strong> stützte<br />

sich vornehmlich auf die Provinz, die das<br />

revolutionäre, nach Freiheit ringende Paris<br />

.nicht begriff. Zahlreiche royalistische Intrigen<br />

b e g a n n e n sich zu spinnen, insgeheim<br />

w u r d e Paris gelästert, beschimpft für das, was<br />

es getan hatte. U n d dann ging diese s o g e n a n n -<br />

te republikanische Regierung zur offenen, unverhüllten<br />

Herausforderung u n d Beschimpfu<br />

n g ü b e r : Sie verlegte ihren Sitz zuerst nach<br />

Bordeaux, dann nach Versailles, da ihr<br />

die leidenschaftlich erregte Stimmung in Paris<br />

w e n i g z u s a g t e ; dann wieder w a g t e n es diese<br />

zur Herrschaft gelangten Krautjunker, g e g e n<br />

positive soziale Erleichterungen für die<br />

weitesten Kreise der Bevölkerung, wie z. B.<br />

die S t u n d u n g der Mietszahlungstermine,<br />

aller Kreditpapiere, u. dgl. m., ihr V e t o<br />

einzulegen, dadurch die Aufregung nur<br />

steigernd, die sich nun zur höchsten sozialen<br />

N o t nicht nur für die Arbeiter, sondern<br />

auch <strong>und</strong> g a n z b e s o n d e r s für die<br />

minderbegüterten Klassen gestaltete <strong>und</strong><br />

aus dieser ihre N a h r u n g sog.<br />

Mittlerweile erlitt Frankreich unter<br />

der verräterischen, zweideutigen Haltung<br />

Trochu's Schlappe auf Schlappe. Und anstatt<br />

sich zur energischesten Aktion aufzuraffen,<br />

Frankreich g e g e n ü b e r d e m immer<br />

näher heranrückenden Feind zu verteidigen,<br />

wenigstens einmal g e h ö r i g zurückzuschlagen<br />

— vertrödelte die Nationalversammlung<br />

der neugeschaffenen Bourgeoisrepublik die<br />

kostbare Zeit mit den lächerlichsten Bedenken<br />

<strong>und</strong> gemeinsten Taten, zu d e n e n u. a.<br />

die Inhaftierung des großen Sozialisten<br />

B l a n q u i samt zahlreichen G e n o s s e n gehörte,<br />

nur weil sie diese, die konsequente-<br />

sten Vertreter des revolutionären Prinzips<br />

des damaligen Sozialismus, am meisten<br />

fürchtete <strong>und</strong> sie ihr im W e g e standen in<br />

ihren reaktionären Anschlägen, die auf die<br />

Wiedererrichtung des dritten Kaiserreiches<br />

hinaus liefen.<br />

Da, plötzlich, holte sie zu einem neuen<br />

Anschlage aus. — Es war der Funken,<br />

der ins Pulverfaß fallen sollte! — Allen<br />

ihren infamen Plänen stand eines hindernd<br />

g e g e n ü b e r : P a r i s ! Die Landbevölkerung<br />

konnte leicht g e n u g betört w e r d e n , nicht<br />

aber diese eine Stadt, die nun schon eine Tradition<br />

der Revolution besaß, <strong>und</strong> von dem<br />

man leicht a n n e h m e n durfte, daß es zur<br />

Etablierung einer d r i t t e n K o m m u n e schreiten<br />

könnte — schon im Mittelalter unter<br />

Marcel Stephan, dann wieder ihm Jahre<br />

1792 konstituierte sich Paris als selbständige<br />

Gemeinschaft, w e n n man nach der<br />

gereizten S t i m m u n g <strong>und</strong> dem ernsten Mißmut<br />

der ganzen Bevölkerung über das Regime<br />

der Nationalversammlung, die Kriegsführung<br />

usw., urteilen sollte. W a s g a b es<br />

d a z u tun? N u r eines: Die E n t w a f f n u n g<br />

von Paris — die W e g n a h m e der Kanonen<br />

u n d womöglich der G e w e h r e , die Aufheb<br />

u n g der Nationalgardisten, d e n e n man<br />

die Waffen z u m Kriegführen g e g e n den<br />

äußeren Feind g e g e b e n hatte, aber nicht<br />

zwecks Verteidigung ihrer eigenen Interessen.<br />

Es war dieser wahnwitzige Plan, der<br />

in d e m finsteren T y r a n n e n g e h i r n eines<br />

Thiers ausgebrütet w u r d e , der das Pariser<br />

Volk in einmütigster Selbstverteidigung zur<br />

k o m m u n a l e n Revolution schreiten ließ.<br />

D e n n alle: Männer, Weiber, ja sogar Kinder<br />

begriffen hier eines sehr w o h l : O h n e<br />

Bewaffnung waren sie verloren — war die<br />

Republik verloren — w a r e n alle Mühen,<br />

Sorgen, Kämpfe v e r g e b e n s g e w e s e n — ja,<br />

waren sie wehrlos, sowohl d e m inneren<br />

Feinde der n e u g e b a c k e n e n Regierungsmacht<br />

als auch d e m äußeren, den immer mehr<br />

umzingelnden deutschen Soldatenwerkzeugen<br />

ausgeliefert.<br />

Am 18. März 1871 sollte die Schandtat<br />

Thiers, des neuen Präsidenten der Republik,<br />

des größten Schurken, den u n s je<br />

die Weltgeschichte, in diesem Sinne wirklich<br />

ein Weltgericht, überantwortet hat, zur<br />

Ausführung gebracht w e r d e n .<br />

Früh morgens, als wie w e n n sie sich<br />

ob ihres T u n s schämten, drangen die<br />

Häscher <strong>und</strong> Räuber über den Montmartre<br />

vor. Aber siehe da — o h n e irgend welche<br />

Vorbereitung oder Verabredung, o h n e irg<br />

e n d welches Signal erhebt die Revolution<br />

ihr stolzes H a u p t . . . W e r waren die Ersten,<br />

die sich um ihre Kanonen stellten, ihre<br />

Waffen verteidigten? Wie hießen sie? W e r<br />

sagte ihnen, w a s b e v o r s t a n d ?<br />

Niemals hat es die Revolution glänzender<br />

bewiesen, daß sie nicht Werk von<br />

V e r s c h w ö r u n g e n o d e r einzelnen Agitatoren,<br />

sondern ein W e r k der Namenlosen, der<br />

vulkanische A u s b r u c h aller Gefühlselemente,<br />

die in den getretenen <strong>und</strong> verachteten<br />

Namenlosen schlummern, ist, als die Pariser<br />

K o m m u n e es lehrte <strong>und</strong> zeigte. W e r es<br />

gewesen, der den 18. März 1871 zu einem<br />

glorreichen Volkstage gestaltete, fragt ihr?<br />

— Keiner weiß es. Vielleicht irgend ein<br />

W e i b des Volkes, vielleicht irgend ein<br />

Kind, das sich in unbestimmter M o r g e n -<br />

d ä m m e r u n g im Freien befand <strong>und</strong> die<br />

dunklen Soldatengestalten beobachtete, wie<br />

sie ihr schändliches W e r k zur Ausführung<br />

bringen wollten. G e n u g — im Nu war es<br />

überall lebendig, aus allen Häusern <strong>und</strong><br />

Kellern strömte das Volk, scharte sich um<br />

seine Verteidigungsmittel, redete gütlich auf<br />

die Soldaten ein, b e s c h w o r sie, von ihrem<br />

volksverräterischen T u n abzustehen, ihre<br />

Väter, Mütter, Geschwister nicht wehrlos<br />

zu machen. Und urplötzlich verwandelte<br />

sich das Bild auf dieser Szene welthistori-<br />

sehen G e s c h e h e n s : — in den Armen lagen<br />

sich die Arbeiter im Soldatenrock <strong>und</strong> die<br />

Arbeiter im Arbeitskittel, die Soldaten <strong>und</strong><br />

das Volk fraternisierten. Die Menschen hatten<br />

sich als Menschen wiedergef<strong>und</strong>en . . .<br />

Aber es gab auch solche, denen das<br />

rein Menschliche fremd <strong>und</strong> die keiner<br />

menschlichen R e g u n g zugänglich waren.<br />

T h o m a s <strong>und</strong> Lecomte, die ihren Soldaten<br />

auf das Volk zu schießen befahlen — <strong>und</strong><br />

die diesen entsetzlichen Befehl mit ihrem<br />

Leben b ü ß e n mußten. —<br />

Und als die M o r g e n s o n n e sich in<br />

strahlender Pracht über Paris erhob, da<br />

waren nicht nur die Schatten der Nacht<br />

verscheucht, d a war auch e i n T a g der<br />

Freiheit a n g e b r o c h e n , ein T a g des Lichtes<br />

<strong>und</strong> der Freude. Die funkelnden Strahlen<br />

der S o n n e beleuchteten das Paris der<br />

Freiheit, das verlassen w u r d e von allen<br />

reaktionären Elementen. Eines aber stand<br />

stolzer da als je, das Haupt noch kühner<br />

i n den Nacken g e w o r f e n : D a s V o l k v o n<br />

P a r i s , d a s h e l d e n m ü t i g e , w a c k e r e<br />

V o l k d e s F r e i h e i t s k a m p f e s , d a s<br />

P a r i s d e r R e v o l u t i o n u n d G e -<br />

r e c h t i g k e i t . . .<br />

* *<br />

*<br />

Das ist es, w a s wir an dem 18. März<br />

des Jahres 1871 in begeisterten W o r t e n<br />

feiern.<br />

W a s nun folgt, ist der heldenmütigste<br />

F r i e d e n s k a m p f eines Volkes, den es je<br />

g e g e b e n . Denn Paris wollte Frieden mit<br />

dem übrigen Frankreich, wollte in Wahrheit<br />

das Prinzip der Brüderlichkeit walten<br />

lassen, wollte gemeinsam die Verteidigung<br />

Frankreichs g e g e n den Ansturm der Militärreaktion<br />

Deutschlands durchführen. Dieses<br />

ernste Streben nach Frieden ist ein<br />

Ruhmesblatt der Pariser K o m m u n e , die sich<br />

nun konstituierte in einer vom Volke mit<br />

überwältigender Majorität siegreich durchgeführten<br />

Abstimmung, aber dieses Streben<br />

der Pariser K o m m u n e nach Frieden, w ä h -<br />

rend alle Reaktionsgewalten sich zum Krieg<br />

g e g e n sie konzentrierten, sollte auch ihr<br />

U n g l ü c k w e r d e n .<br />

Es w ü r d e uns zu weit führen, wollten<br />

wir den G a n g der Ereignisse auch nur<br />

flüchtig skizzieren. Es genügt, w e n n wir<br />

die Situation in einigen markanten Strichen<br />

kennzeichnen, d e n n diese Periode gehört<br />

ja schon eigentlich den g r u n d l e g e n d e n Ursachen,<br />

die zur blutigen M a i w o c h e <strong>und</strong><br />

dem U n t e r g a n g e der K o m m u n e führten,<br />

an, <strong>und</strong> wir w e r d e n ohnedies nochmals<br />

auf dieselben z u r ü c k k o m m e n .<br />

Dort w o die K o m m u n e a n a r c h i s -<br />

t i s c h , das heißt, aus dem Innersten des<br />

Volkes, aus seiner eigenen Kraft <strong>und</strong> Erkenntnis<br />

heraus gehandelt hatte, dort ist<br />

sie siegreich g e w e s e n . Der 18. März g e -<br />

hört d e m Siegesgedanken des Anarchismus,<br />

instinktiv verwirklichte ihn das Pariser Proletariat.<br />

W a s nun anhebt, das ist noch immer<br />

großartig <strong>und</strong> gewaltig, aber es ist nicht<br />

mehr die Aktion des Volkes selbst, sondern<br />

eines g e f ü h r t e n Volkes, das sich selbst<br />

erwählte Volksführer auferlegte <strong>und</strong> die<br />

konstituierte Kraft der Revolution dadurch<br />

ihrer fähigsten Elemente beraubte, diese<br />

auf das abschüssige Gebiet des parlamentarischen<br />

G e s c h w ä t z e s , der Komiteediskussion<br />

verweisend, das in einer Zeit, die förmlich<br />

nach Taten schrie.<br />

In der Aktivität der K o m m u n e selbst,<br />

mit ihrem Zentralkomitee, ihren Beschlüssen<br />

<strong>und</strong> der Art ihrer Durchführung können<br />

wir etwas d u r c h a u s S o z i a l d e m o k r a t i -<br />

s c h e s erblicken. So ist denn auch die<br />

W e s e n s a r t der K o m m u n e die große praktische<br />

Lehre von der Unfähigkeit irgend<br />

einer Regierung, eine Revolution im Volkssinne<br />

der Befreiung glücklich zu E n d e führen<br />

zu können, ist der beste, praktisch erprobte<br />

Beweis für die totale Lahmlegung


der besten revolutionären Kräfte im Volke,<br />

w e n n dieses in b e w e g t e n Zeitläufen sich<br />

Autoritäten erkürt, die es leiten sollen,<br />

statt im stolzen Selbstvertrauen seine Sache<br />

durch- <strong>und</strong> zu E n d e zu führen. An<br />

dieser Zentralregierung, ihrer Unfähigkeit<br />

<strong>und</strong> oftmals Feigheit ging die K o m m u n e<br />

zu G r u n d e — <strong>und</strong> in diesem traurigen<br />

Ende sehen wir das Aufgehen der revolutionären<br />

Erkenntnis des Anarchismus von<br />

der h e r r s c h a f t s l o s durchzuführenden<br />

U m w ä l z u n g der sozialen Lebensverhältnisse:<br />

eine Revolution, die mit d e m möglichen<br />

Minimum an Gewalt- <strong>und</strong> Opferverlusten<br />

an Leben das M a x i m u m des m ö g -<br />

lichen Glückes für Alle erreicht u n d dies<br />

in einer lebendigen Periode beschleunigtester<br />

Evolution, an der alle Kräfte des G e -<br />

sellschaftswesens mitwirken, fortschreitend<br />

das N e u e gebärend.<br />

Wie dem aber auch sein m ö g e , lassen<br />

wir die Fehler der K o m m u n e , <strong>und</strong> w e n d e n<br />

wir uns vor allem i h r e m e r n s t e n W o l -<br />

l e n zu. Und da sehen wir viel. Man bed<br />

e n k e : von allen Seiten u m g e b e n von<br />

wuterfüllten Hassern, v e r m o c h t e die Komm<br />

u n e noch an eine g a n z e Anzahl soziale,<br />

tiefgreifende Reformen zu denken, <strong>und</strong><br />

was das Wichtigste: versuchte sie den langsamen,<br />

allmählichen Ü b e r g a n g zur sozialistischen<br />

Produktion u n d Verteilung durch<br />

Einsetzung einer Kommission, die die durch<br />

die Flucht ihrer Eigentümer nun leerstehenden<br />

Werkstätten <strong>und</strong> kleineren Fabriken<br />

wieder in genossenschaftlichen Betrieb setzen<br />

lassen sollte. Es obliegt bei allen Kennern<br />

gar keinem Zweifel, daß sie naturnotwendig<br />

zum Sozialismus gelangt wäre. Die Komm<br />

u n e proklamierte das Prinzip d e s internationalen<br />

Völkerfriedens <strong>und</strong> stieß das<br />

Symbol d e s m o r d e n d e n Krieges, Napoleon I.<br />

Monument, um. Im übrigen ist es Tatsache,<br />

daß alle die infamen Lügen der Versailler<br />

Regierungsbanditen, der Thiers, Gallifets,<br />

Mac Mahons, Vinoys u. s. w., ü b e r den<br />

Und auch ihr, Sklavinnen der Sklaven <strong>und</strong><br />

weibliche Hörige der Geldmächtigen unserer <strong>und</strong><br />

jeder Zeit der Geldherrschaft, sollt nicht vergessen<br />

werden in diesen Märzblättern der Revolution. Denn<br />

ihr gehört zu uns, die Arbeiterin zum Arbeiter, gemeinsam<br />

strebend <strong>und</strong> kämpfend für die glorreiche<br />

Sache der Freiheit <strong>und</strong> Gleichheit für beide Geschlechter<br />

<strong>und</strong> alle Welt. Arbeiterfrauen <strong>und</strong> Mädchen<br />

des Proletariats — ihr gehört zu uns, in allen großen<br />

Auferstehungsepochen der Menschheit habt ihr<br />

Schulter an Schulter mit dem Manne für die unvergänglichen<br />

<strong>Ziel</strong>e sozialer Humanität gestritten,<br />

ihr habt uns Kinder geschenkt, die in den vordersten<br />

Reihen des Emanzipationskampfes standen, habt<br />

uns eine Louise Michel gegeben! Sie sei das Symbol<br />

der ewigen Gleichheit zwischen Mann <strong>und</strong> Weib<br />

in allen Gegenseitigkeitsbeziehungen, so wie sie im<br />

Kampfe der Kommune das Symbol des einmütigen<br />

Trachtens von Mann <strong>und</strong> Weib für das gleiche<br />

Ideal der Befreiung gewesen!<br />

Als Kind freier Liebe ward „die gute Louise",<br />

als die Louise Michel jedes Pariser Kind kannte,<br />

am 20. April 1833 in einem herrschaftlichen Schloß<br />

geboren. Wie der Monat, in dem sie das Licht der<br />

Welt erblickte, stürmisch <strong>und</strong> unruhevoll ist, so<br />

war auch ihr Leben: stets erfüllt von Kämpfen,<br />

vom Ringen gegen die bestehenden Gewalten <strong>und</strong><br />

heiligenartiger Ergebung in das ihr auferlegte Leid.<br />

Nach einer guten Erziehung verließ Louise Michel<br />

als junges Ding das Palais ihrer Geburt. Sie war<br />

eine Lehrerin <strong>und</strong> der gewöhnliche <strong>Weg</strong>, der Staatsdienst,<br />

stand ihr offen. Doch schon damals regte<br />

sich in dem bereits zur glühenden Republikanerin<br />

herangereiften Mädchen ein ungewisses Etwas der<br />

Abneigung gegen jedes Karrieremachen. Und um<br />

dem verhaßten Staatsdienste zu entgehen, begründete<br />

sie eine eigene Schule <strong>und</strong> schlug sich damit kümmerlich<br />

genug durchs Leben. An der Agitation gegen<br />

das dritte- Kaiserreich nahm sie den tätigsten Anteil<br />

<strong>und</strong> als dieses am 4. September 1870 gestürzt wurde,<br />

ruhte sie nicht; sie setzte den Kampf fort, diesmal<br />

gegen die heuchlerische Scheinrepublik. Während<br />

der Kommune stand der ganze 18 Arrondissement<br />

unter ihrer umsichtigen Fürsorge. Gekleidet wie<br />

ein Soldat der Nationalgarde, gelang es ihr, die<br />

Raub, die Plünderung, das Petroleusentum<br />

der K o m m u n e sehr s c h ö n e Phantasiemärchen<br />

waren, an d e n e n auch nicht der<br />

Schatten einer Wahrheit. Die Rotschild'sche<br />

Bank von Paris kann ein Stückchen Lebenstatsache<br />

darüber berichten; daß nämlich die<br />

K o m m u n a r d e n die Bank durch Wachtposten<br />

beschützen ließen <strong>und</strong> in ganz ehrbarer<br />

Weise eine sehr u n b e d e u t e n d e Anleihe von<br />

ihr aufnahmen, von ihr, die die K o m m u n e<br />

sofort anerkannte — wie konziliant ist doch<br />

das Kapital! — hinter ihrem Rücken aber<br />

auch der republikanischen Versailler Mörderklique<br />

eine unendlich b e d e u t e n d e r e Geldanleihe<br />

als der K o m m u n e g e w ä h r t e .<br />

U n d Paris selbst, die Stadt, wie befand<br />

sie sich? Es war das ewig junge, s c h ö n e<br />

Paris, das Paris, das im sorglosesten Freudenjubel<br />

dahinlebte. N u n aber nicht m e h r<br />

im Orgientaumel der reichen Prasser <strong>und</strong><br />

V o r n e h m e n , sondern das Volksparis mit<br />

seinen nun allen zugänglichen Volksbelustigungen,<br />

der A b w e s e n h e i t jedes Diebstahls<br />

<strong>und</strong> sogenannten Verbrechens an L e b e n <strong>und</strong><br />

Sicherheit, der A b w e s e n h e i t jeder Prostitution,<br />

kurz der bürgerlichen W e l t o r d n u n g s -<br />

schablone. Dieses Paris konnte selbst seine<br />

grimmsten, gemeinsten G e g n e r nicht hassen.<br />

In seinem friedlichen Glück <strong>und</strong> freien Leben,<br />

in der unter den U m s t ä n d e n b e w u n -<br />

d e r u n g s w ü r d i g e n O r d n u n g , der Selbstlosigkeit<br />

der meisten seiner führenden Persönlichkeiten<br />

— wir n e n n e n nur Varlin, Duvai,<br />

Delescluze, Arnould etc., — glaubte es,<br />

der Welt ein herrliches Beispiel der selbste<br />

r r u n g e n e n Freiheit zu g e b e n <strong>und</strong> seine<br />

Feinde zu b e k e h r e n . Es hat sich arg g e -<br />

täuscht; aber dies gereicht nicht Paris, sondern<br />

den Kabylenschlächtern <strong>und</strong> der republikanischen<br />

Bourgeoisie zur ewigen<br />

S c h a n d e <strong>und</strong> Schmach.<br />

Die Pariser K o m m u n e hat mit ihren<br />

Fehlern den nachfolgenden Geschlechtern<br />

diejenigen Lehren g e g e b e n , die ihnen über<br />

vieles hinweghelfen werden, was sich sonst<br />

Eine Heldin der Kommune.<br />

Frauen dieses Bezirkes zu organisieren; dazu gesellte<br />

sich ihre eifrige Mitarbeit bei der Begründung<br />

des sogenannten Wachsamkeitskomitees. Nicht nur<br />

als friedliche Kulturpionierin stand sie mit ihrer<br />

ganzen Person ein, nein, auch als Kämpferin; <strong>und</strong><br />

in den blutigen Straßenkämpfen der grauenhaften<br />

Maiwoche erblicken wir sie als heldenmütige Barri-<br />

kadenkämpferin, die bereit ist zu sterben, die sich<br />

niemals ergibt . . . Gefangen genommen, wird sie<br />

am 16. Dezember 1871 vor die berüchtigten Kriegsgerichte<br />

der Versailler gestellt. Ihre Verteidigung<br />

besteht in einer begeisterten K<strong>und</strong>gebung für die<br />

Kommune <strong>und</strong> als Kommunardin, ist der vorauskündende<br />

Hohn der Zukunft, der den Richtern, die<br />

wie Xerxes glauben, das schäumende <strong>und</strong> sturm-<br />

wie Ballast an ihren Fersen <strong>und</strong> A r m e n<br />

g e h ä n g t hätte. W ä r e n die K o m m u n a r d e n<br />

sofort ü b e r g e g a n g e n zum freien K o m m u n i s -<br />

mus, wie sie es t e i l w e i s e s o w o h l politisch<br />

als auch ökonomisch ja taten — vieles,<br />

vieles w ä r e wahrscheinlich anders gek<br />

o m m e n . D e n n diese Ü b e r e i n s t i m m u n g der<br />

ö k o n o m i s c h e n Gemeinschaftsprinzipien mit<br />

den sozialpolitischen hätte u n g e a h n t e Elementarkräfte<br />

erstehen lassen, die unweigerlich<br />

zum Siegesverlaufe d e r e r h a b e n e n Zukunftssache<br />

geführt hätten.<br />

* *<br />

Es hat noch nicht sein sollen — <strong>und</strong><br />

so n e h m e n wir die K o m m u n e als das, was<br />

sie war, als das, was sie uns b o t<br />

Die A s t r o n o m i e lehrt uns, daß es Sterne<br />

gibt, die erst im Sinken hell erstrahlen<br />

<strong>und</strong> ein fast überirdisch leuchtendes Licht<br />

verbreiten. E i n s o l c h e r S t e r n a m F i r -<br />

m a m e n t d e s s o z i a l e n R i n g e n s w a r<br />

u n d i s t d i e P a r i s e r K o m m u n e . Ein<br />

Heldendenkmal d e s Volksmutes, die große<br />

Gemeinschaftstat eines geeinten Volkes,<br />

das Z e r b r e c h e n von Ketten, die bislang unzerbrechlich<br />

schienen u n d eine leuchtende<br />

Fackel in die Z u k u n f t Und w e n n wir uns<br />

auch der Hoffnung hingeben wollen, daß<br />

das strahlende Licht d e r menschlichen Vernunft<br />

u n d Humanität u n s vieles von der<br />

tiefschwarzen Trauer jener T a g e erübrigen,<br />

ersparen wird, so neigen wir d o c h dankend<br />

u n s e r H a u p t in treuer Erinnerung<br />

an die erhabenen T a g e der K o m m u n e ; am<br />

18. März, da wollen auch wir in G e d a n -<br />

ken hinaus z u m Pere Lachaise, zur historischen<br />

Friedhofsmauer, dort, wo die Komm<br />

u n a r d e n den letzten Befreiungskampf<br />

kämpften, in ihrer Niederlage den Zukunftssieg<br />

der Freiheit verbürgten <strong>und</strong> ihrer<br />

d e n k e n : der Pioniere, u n s e r e r Vorkämpfer<br />

<strong>und</strong> Pioniere, die da lebten <strong>und</strong> starben<br />

mit einem Ruf auf den Lippen, der ertönen<br />

wird, bis er Wirklichkeit w a r d :<br />

» E s l e b e d i e K o m m u n e ! «<br />

bewegte Meer durch Peitschenhiebe bändigen zu<br />

können, in die Ohren gellt. Damals entrann Louise<br />

Michel nur wie durch ein W<strong>und</strong>er der Todesstrafe.<br />

Grausam genug lautete indeß das Urteil: lebenslängliche<br />

Verbannung nach Neu-Kaledonien. Neun<br />

Jahre hat sie dort verbracht — ungebeugt <strong>und</strong><br />

mittlerweile vollends zur Anarchistin geworden,<br />

kehrte sie zurück. Kaum drei Jahre des Friedens<br />

sind ihr vergönnt, da wird sie wieder zu sechs<br />

Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie hungernde<br />

Arbeitslose in vollgepfropfte Bäckerläden geführt<br />

<strong>und</strong> das dort befindliche Brot unter ihnen verteilt<br />

hatte. —<br />

Als Louise Michel, begünstigt durch eine<br />

Amnestie, nach drei Jahren wieder „in die Freiheit"<br />

rückkehrte, war vorläufig ihres Bleibens in Frankreich<br />

nicht länger, da der französische Staat nun<br />

einen definitiven Anschlag auf ihr Leben plante.<br />

Kurz gesagt: Er, der grausame Heuchler, wollte<br />

diesen herrlich freien Geist für wahnsinnig erklären<br />

lassen . . . Und so sehen wir denn Louise Michel<br />

auch das bittere Brot des Exils essend, in kümmerlichsten<br />

Existenzkämpfen sich aufreibend, doch unermüdlich<br />

in der Propaganda des kommunistischen<br />

Anarchismus <strong>und</strong> der Idealprinzipien einer neuen<br />

Lebensethik. Dieser stählerne Frauencharakter <strong>und</strong><br />

dieses weichste aller gütigen Herzen gegenüber dem<br />

Elend des Volkes hat seine soziale Frage niemals<br />

zu lösen verstanden — wie die meisten Pseudorevolutionäre.<br />

Sie blieb stets die arme, nur i n n e r -<br />

l i c h reiche <strong>und</strong> im Geben unerschöpflich reiche<br />

Propagandistin. Der Tod ereilte sie auf einer Agitationstour<br />

durch Frankreich für die internationale<br />

antimilitaristische Assoziation; es war in den Jännertagen<br />

von 1905. Keine Königin hat je solch ein<br />

Leichenbegängnis erhalten, wie diese schlichte<br />

Volkstribunin, der ganz Frankreich ein Geleite gab<br />

Louise Michel lernt man am besten aus ihrer<br />

selbstverfaßten Memoiren kennen: als Mensch,<br />

als Denkerin <strong>und</strong> als Kämpferini So nur wird man<br />

es begreifen, wenn wir sagen: Und ist sie auch<br />

tot, so weilt sie doch unter uns, denn der Geist<br />

dieser heldenmütigen Kommunardin ist eingeschreint<br />

in unseren Herzen mit allen Hoffnungen <strong>und</strong> Id»*<br />

unseres Kampfes!


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Österreich.<br />

W i e n . Achtzehnh<strong>und</strong>ertvierzig<strong>und</strong>acht, Jahr der<br />

Revolution des bürgerlichen Freiheitssinnes, erhebe<br />

dein greisenhaftes Haupt, um unseren gegenwärtigen<br />

Kampf zu beobachten — <strong>und</strong> neige es wieder tief<br />

beschämt . . . Das, wofür du gestritten hast, für<br />

die Geistesfreiheit, die Abschaffung der Zensur, die<br />

Preßfreiheit, noch lange, lange haben wir es nicht<br />

erreicht. Oder doch: es gibt Preßfreiheit, aber<br />

wohlgemerkt: nur für die, die ihrer nicht bedürfen,<br />

da die Gedanken, die sie predigen, so harmlos <strong>und</strong><br />

für das Bestehende so wenig belästigend sind, daß<br />

sie der Preßfreiheit, die für sie allerdings besteht,<br />

wirklich nicht bedürfen. D i e s e Männer der<br />

Dunkelheit <strong>und</strong> des Schattens haben die Abschaffung<br />

der Zensur <strong>und</strong> der Preßfreiheit schon durchgeführt;<br />

aber nur für sich, nicht für Alle, nicht für<br />

die unbequemen Gedanken des Lichtes <strong>und</strong> der<br />

Freiheit <strong>und</strong> der sozialen Gerechtigkeit, die das<br />

Althergebrachte <strong>und</strong> Allerheiligste antasten. Für<br />

diese letzteren besteht die Zensur in vollster<br />

Schärfe, ist die Preßfreiheit illusorisch, denn stets<br />

dräut über ihr der ruchlose Arm staatlicher Ahndung.<br />

<strong>Unser</strong>e Nummer 4 wurde nicht beschlagnahmt.<br />

Schon glaubten selbst wir an eine mögliche Selbstbesinnung<br />

der Zensurbehörde <strong>und</strong> meinten, des<br />

an anderer Stelle befindlichen Dokumentes für diese<br />

vorliegende Nummer entbehren zu müssen. Es hat<br />

aber nicht sein dürfen! Und so sind wir denn in<br />

der charakteristischen Lage, nun einmal das bekannte<br />

Freiligrathsche Gedicht mit einer kostbaren Variante<br />

anzuwenden <strong>und</strong> als Lebende zu den Toten des<br />

„tollen Jahres" sprechen zu müssen . . . Wir können<br />

ihnen schwarz auf weiß es beweisen, wie sie so<br />

gar nichts erzielt haben, <strong>und</strong> wir auch heute noch<br />

unter denselben Bedrückungen leiden wie ehedem.<br />

In punkto Geistesfreiheit sind wir stehen geblieben,<br />

nach wie vor kostet es Kampf, erbitterten Kampf,<br />

so denken <strong>und</strong> d a s Gedachte aussprechen zu<br />

dürfen, wie man es für gut <strong>und</strong> richtig hält. Lauschet,<br />

Ihr toten Rebellen — <strong>und</strong> erstaunt nur höchstens<br />

darüber, daß die lebende Generation so ganz ruhig<br />

darüber hinweggeht, ohne viel Aufhebens über<br />

diesen Kampf gegen Geistes- <strong>und</strong> Gewissensfreiheit<br />

zu machen. Ihr Toten schläft den Todesschlaf, wir<br />

aber, die Lebenden, den Winterschlaf unseres<br />

Geistes, <strong>und</strong> dies ist weit ärger als der Tod.<br />

Wie ist es doch merkwürdig eingerichtet bei<br />

uns in Österreich! Weil wir den Anarchismus so<br />

verkünden, wie er es benötigt, seine Prinzipien klar<br />

<strong>und</strong> deutlich darlegen <strong>und</strong> es wahrheitsgemäß konstatieren,<br />

daß wir uns als Anarchisten fühlen, weil<br />

wir die bestehende Staatsgewaltsgesellschaft nicht<br />

lieben — deshalb wurde unser Blatt Nummer<br />

für Nummer konfisziert. Es ist nun einmal s o : in<br />

Österreich muß man ein Revolverblatt herausgeben,<br />

erklären, daß Anarchismus Raub, Mord, Niedertracht,<br />

Gaunerei, Ausbeutung, Menschenversklavung,<br />

Vergewaltigung der Individualität, Verursacher alles<br />

sozialen Elends sei — also lauter Lügen, deren<br />

Wahrheitskern ganz wo anders zu suchen! — um<br />

von der hohen Behörde der zensurierten Preßfreiheit<br />

unseres Vaterlandes nicht konfisziert zu werden.<br />

Eine Prämie auf Wahrheit bieten wir, andere eine<br />

Prämie auf Unverstand!<br />

W i e n e r - N e u s t a d t . Die schmählichen Niederlagen<br />

der Arbeiterbewegung Deutschlands auf ökonomischem<br />

Gebiete, die von den berufsmäßigen<br />

Führern als „Siege" dargestellt werden — häufen<br />

sich in letzter Zeit auch bei uns, in Österreich-<br />

Ungarn. Und auch hier lügen die Führer den<br />

Massen die Verluste in herrliche Triumphe um.<br />

Obigen Ortes verhängte die Lokomotivfabriksdirektion<br />

eine A u s s p e r r u n g über ihre 2500 Arbeiter.<br />

W e s h a l b ? Weil die Arbeiter nur leise Unmutsäußerungen<br />

über die unbegründete, gewissenlose<br />

Entlassung von z e h n Berufskollegen von sich gegeben<br />

hatten. Aber sie murrten nur <strong>und</strong> so ging<br />

die Firma zum Angriff über; die tausende von<br />

Arbeitern lagen auf der Straße. Sie hatten die<br />

f r e i w i l l i g e Kampfessolidarität nicht gewollt, nun<br />

hatten sie die demütigende Verachtung von oben.<br />

Auch das wäre noch nicht das Ärgste gewesen.<br />

Aber was taten die Arbeiter n u n ? Alarmierten sie<br />

alle übrigen Arbeiter der Lokomotiv- <strong>und</strong> Maschinenbauindustrie?<br />

Mit nichten. Sie — „streikten" halt;<br />

das bedeutet: sie arbeiteten nicht, weil sie nicht<br />

durften, weil das Unternehmertum mit ihnen streikte.<br />

Und endlich nach zweiwöchentlichem „Kampfe" —<br />

woraus bestand dieser? — krochen die Arbeiter<br />

zu Kreuze. Die zehn Gemaßregelten erklärten „ f r e i ­<br />

w i l l i g " auf die Wiederaufnahme in die Fabrik zu<br />

verzichten, die übrigen Arbeiter nahmen diese<br />

„freiwillige" Verzichtleistung mit größter Begeisterung<br />

auf — <strong>und</strong> wen glauben die Herren sozialdemokratischen<br />

Leiter, Müller, Schmerz, Domes usw.,<br />

eigentlich zu täuschen, wenn sie da von einem —<br />

Siege der Arbeiter r e d e n ? Es ist zum Lachen, wenn<br />

es nicht allzu traurig wäre.<br />

Die österreichischen Arbeiter müssen den<br />

ernsten, Sozialrevolutionären Gewerkschaftskampf<br />

erst <strong>und</strong> noch lernen, bevor sie Siege, wirkliche<br />

Siege zu verzeichnen haben werden. Solange sie<br />

sich zu Stimmnarren für die Sozialdemokratie oder<br />

irgend eine andere politische Schwindelbande hergeben,<br />

gibt es für die Arbeiter nur Niederlagen,<br />

Für die Führer <strong>und</strong> Erwählten fette Bissen <strong>und</strong><br />

Lebensrenten.<br />

Portugal.<br />

L i s s a b o n . „Der König ist tot — es lebe der<br />

König!" So hieß es ehedem am Bourboneuhofe,<br />

so heißt es jetzt auch am Braganzathron. „Don<br />

Carlos ist tot — es lebe Don Manuel!" . . . D o n !<br />

D o n ! . . .<br />

Ein Schuß Pulver als pereat, einer als viveat,<br />

<strong>und</strong> das Rad der Weltgeschichte dreht mit Knarren<br />

eine Speiche weiter, es knarrt trotz Fürstenblutes,<br />

denn der Wagen rückt nicht von der Stelle —<br />

„Status quo antes" nennt das die Diplomatie. Und<br />

das monarchische Prinzip jubiliert.<br />

Wieder einmal bewahrheitet sich Axel Oxenstjernas<br />

Ausspruch, wie wenig Verstand dazu gehöre,<br />

ein Volk zu regieren.<br />

Don Manuel verzichtete auf die selbstwillige<br />

Erhöhung der Zivilliste seines hochseligen Erzeugers,<br />

um für dies Geld <strong>und</strong> darüber hinweg den Sicherheitsdienst<br />

zu reorganisieren, wirft rasch ein paar<br />

liberale Gesetzhappen dem großen Haufen vor, ein<br />

paar Hoflakaistellen für die führenden Geister <strong>und</strong><br />

dem Rest die H<strong>und</strong>epeitsche <strong>und</strong> den Maulkorb —<br />

<strong>und</strong> jubelnd jauchzt das Volk am Tajo: „Es lebe<br />

Don Manuel!"<br />

Alles dies trägt viel dazu bei, in der anarchistischen<br />

Bewegung Portugals Klärung zu schaffen,<br />

denn bis jetzt waren alle oppositionellen Elemente<br />

durch den Diktatordruck Francos zu einem verworrenen<br />

Knäuel zusammengeballt, bis jetzt wurden<br />

die Anarchistengesetze gegen alles Regierungsfeindliche<br />

ohne Unterschied angewandt; nun soll das<br />

aufhören, die Ausnahmegesetze sollen nur gegen<br />

Anarchisten Geltung haben — — <strong>und</strong> in heilloser<br />

Flucht verlassen die Ratten das gefährliche Schiff.<br />

Republikaner, Progressisten, Liberale, Regeneratoren<br />

etc. etc. wehren sich entschieden, mit den<br />

Anarchisten etwas gemeinsam zu haben <strong>und</strong> nur in<br />

den allerseltensten Fällen lassen sie sich zn einer,<br />

wenn auch nur indirekten Verteidigung ihrer einstigen<br />

Leidensgenossen herab. Als vereinzeltes Beispiel<br />

dieser Art verdient ein H o m e n C r i s t o<br />

gezeichneter Artikel der republikanischen Wochenschrift<br />

„ 0 P o v o d e A v e i r o " zitiert z u werden<br />

<strong>und</strong> soll deshalb sein Hauptteil hier wiedergegeben<br />

w e r d e n :<br />

„Wir haben mit Antipatrioten <strong>und</strong> Anarchisten<br />

nichts gemein", fängt der Artikel an,<br />

um wie folgt weiterzufahren.<br />

„Doch zwischen Anarchist sein <strong>und</strong> den<br />

Anarchismus verabscheuen, besteht ein großer<br />

Unterschied, so wie es einen großen Unterschied<br />

zwischen einem Menschen gibt, der<br />

natürliche Anhänglichkeit zu seiner Heimat empfindet<br />

<strong>und</strong> einem solchen, der im Namen des<br />

Patriotismus jedes Verbrechen, jede Vergewaltigung<br />

für zulässig erachtet.<br />

Wir müssen es für Barbarei, für ein Verbrechen<br />

erklären, wenn man Leute vogelfrei<br />

erklärt, weil sie eine Lehre vertreten, die sich<br />

morgen vielleicht schon verwirklichen könnte.<br />

Wir können heute den Anarchismus für<br />

eine Schwärmerei halten. Doch für gleiche<br />

Schwärmerei hielten die Absolutesten den Konstitutionalismus.<br />

Für gleiche Schwärmerei hielten<br />

die konstitutionellen Monarchisten den republikanischen<br />

Gedanken.<br />

Wir können heute den Anarchismus für<br />

eine Unmöglichkeit halten. Doch unmöglich<br />

hielten es auch die feudalen Ritter, daß der<br />

Feudalismus fallen könne. Unmöglich hielten<br />

es die Anhänger einer konstitutionellen Monarchie,<br />

daß diese eines Tages fallen könne.<br />

Für unmöglich galt es, eine konservative Republik<br />

zu stürzen. Unmöglich erscheint der<br />

anarchistische Sozialismus für staatliche Sozialisten.<br />

Für unmöglich wird alles erklärt, was<br />

der Gewohnheit <strong>und</strong> der Routine störend vorkommt.<br />

Unmöglich ist alles, w a s vom ausgetretenen<br />

<strong>Weg</strong> ab will, dem die Menschheit<br />

in ihrem Herdensinne folgt.<br />

Für unmöglich hielt man den Gedankenflug<br />

eines Kopernikus. Unmöglich die Ideen<br />

Galileis. Unmöglich alle Schöpfer der Wahrheit,<br />

alle Freiheitskämpfer, alle Morallehrer.<br />

Unmöglich war der Seeweg nach Indien, unmöglich<br />

die Entdeckung der Neuen Welt. Unmöglich<br />

ist die Existenz der Gestirne, die noch<br />

nicht bekannt sind, unmöglich ist auch das<br />

Licht, das noch nicht sichtbar wurde.<br />

Wir können den Anarchisten zurufen: „Es<br />

ist noch zu früh, um an einen Triumph Eurer<br />

Ideale denken zu können. Beachtet den wilden<br />

Zustand, in dem sich die Menschheit noch befindet.<br />

Mäßigt also Euren Eifer."<br />

Wir würden sogar die Behauptung aufstellen,<br />

daß wir es nicht für wahrscheinlich<br />

halten, daß die Spezies „Mensch" jemals ihre<br />

tierische Natur aufgebe.<br />

Doch wer vermag zu behaupten, daß die<br />

Gerechtigkeit, die von Anarchisten verlangt<br />

wird, <strong>und</strong> die menschliche Vollkommenheit, die<br />

sie lehren, zum Unmöglichen gehören. Nur<br />

Schwachsinn oder große Unwissenheit vermag<br />

die Lehren aus dem Wind zu schlagen, die<br />

uns die Geschichte der Vergangenheit liefert,<br />

denn grenzenlos anmaßendes Unterfangen wäre<br />

es, den Bereich der Möglichkeit feststellen zu<br />

wollen.<br />

Dazu kommt noch, daß kein vernünftig<br />

denkender Mensch den Vorteil bestreiten kann,<br />

der für die Menschheit aus dem Triumph der<br />

anarchistischen Ideen erwachsen würde. Es<br />

wird nur die Möglichkeit bestritten. Und wenn<br />

nur einen Augenblick, nur bedingt die Möglichlichkeit<br />

zugegeben würde, so könnte niemand<br />

behaupten, daß die Verwirklichung des anarchistischen<br />

Ideals für die Menschheit von<br />

Schaden wäre.<br />

Woher kommt es dann aber, daß man<br />

diese Leute mißachtet, verstößt, verfolgt, wenn<br />

ihre Ideale nur den einen Nachteil haben, nicht<br />

realisierbar zu sein?<br />

Ein Ideal bleibt hoch <strong>und</strong> edel, selbst<br />

wenn es nicht verwirklicht werden k a n n !<br />

Und statt nun an der Verwirklichung<br />

eines Ideals zu arbeiten, das, wenn es nicht<br />

unmöglich wäre, unsere größte Bew<strong>und</strong>erung<br />

verdiente, sehen wir es verachtet, bekämpft,<br />

zurückgestoßen, als wenn es die verworfenste,<br />

schlimmste Gemeinheit wäre.<br />

Ein seltsam sonderbares Schauspiel, die<br />

Menschheit im wütendsten Kampfe mit einer<br />

Idee zu sehen, die doch anerkanntermaßen dazu<br />

beitragen soll, die Menschheit zu beglücken!<br />

Und so trachtet stets die Spezies „Mensch"<br />

das unmöglich zu machen, was ohne ihre<br />

Stupidität zu den einfachsten der Möglichkeiten<br />

gehören könnte. So sind viele Jahrh<strong>und</strong>erte im<br />

Kampfe mit der menschlichen Dummheit vergangen,<br />

jede positive Errungenschaft wurde<br />

von der Ignoranz bekämpft, jede wertvolle<br />

Vervollkommnung stieß auf ein Heer von<br />

Zweiflern . . ."<br />

Diese K<strong>und</strong>gebung ist umsomehr zu schätzen,<br />

als sie nicht die Frucht einer Polemik unter vier<br />

Augen ist, wo so oft von unseren Gegnern manches<br />

zugegeben wird, was tagsdarauf in öffentlichen<br />

Versammlungen wegen der sogenannten Parteidisziplin<br />

bekämpft oder totgeschwiegen wird —<br />

sondern das spontane Bekenntnis eines ehrlichdenkenden<br />

Menschen ist, der sich nicht scheut,<br />

seine Meinung offen zur Schau zu tragen, selbst<br />

wenn es bei seinen Parteigenerälen Anstoß erregen<br />

sollte.<br />

Wenn nun auch die Ratten fliehen, so führt<br />

das noch nicht den Untergang des Schiffes herbei;<br />

die anarchistische Idee hat schon soviel Unwetter<br />

bestanden, daß sie auch dem jetzt bevorstehenden<br />

liberalen Ansturm Stand halten wird, <strong>und</strong> kein noch<br />

so drakonisches Ausnahmegesetz wird es verhüten<br />

können, daß der denkende Teil der Bevölkerung<br />

den politischen Aberglauben ablegt, der, gepaart<br />

mit dem religiösen Mummenschanz, die portugiesische<br />

Nation von der einstigen Höhe zum jetzigen Tiefstand<br />

hinabgedrückt hat. Zur Ehre der hiesigen<br />

anarchistischen Kameraden mag festgestellt werden,<br />

daß sie sich nicht zu Handlangerdiensten von den<br />

reformistischen Parteien ausnutzen ließen, sondern<br />

bei jeder Aktion das eigene Ideal im Auge behielten<br />

; so sehen wir denn auch keinen Anarchisten<br />

am völlig nutzlosen Königsmorde von Lissabon beteiligt<br />

— nutzlos, weil er dazu dienen sollte, ein<br />

paar politische Drahtzieher wieder an die Staatskrippe<br />

zu bringen, von der sie seit längerer Zeit<br />

verdrängt waren. Wenn nun trotzdem Presse <strong>und</strong><br />

Telegraph für die mutmaßlichen Täter Anarchisten<br />

hielt, so liegt dem eine tiefere Ursache zugr<strong>und</strong>e<br />

— die öffentliche Meinung Europas sollte wieder<br />

einmal gegen den Anarchismus mobil gemacht<br />

werden. Obgleich nun dieser Bluff nur von kurzer<br />

Dauer war, soll er doch zu internationalen Maßnahmen<br />

gegen Anarchisten herhalten, so wird es<br />

wenigstens portugiesischerseits gewünscht. Die portugiesische<br />

Regierung tritt in dieser Beziehung trotz<br />

ihrer nichtssagenden Größe im europäischen Konzert<br />

sehr sicher auf, da sie sich von anderen Staaten<br />

sek<strong>und</strong>iert weiß, an deren Spitze der Polizeistaat<br />

Preußen marschiert. Es ist jedoch mehr als wahrscheinlich,<br />

daß sich Portugal dieselbe Nase holen wird,<br />

wie Preußen, das sich mit demselben Anliegen schon<br />

vor mehreren Jahren an die Weltmächte g e s a n d t<br />

hatte <strong>und</strong> ein klägliches Fiasko erlitt. Damals hatte<br />

Wilhelm IL vorgeschlagen, in Berlin ein internationales<br />

Bureau zur Anarchistenüberwachung einzurichten,<br />

das besonders die umherreisenden Kameraden<br />

bewachen sollte, deren geringe Seßhaftigkeit ein<br />

plötzliches Auftauchen <strong>und</strong> Verschwinden ermöglicht<br />

<strong>und</strong> dem Sicherheitsdienst gekrönter Häupter<br />

nicht geringe Unbequemlichkeiten verursacht. Daraus<br />

ist nichts geworden <strong>und</strong> wird wohl auch diesmal<br />

etwas werden, denn gegen berufliche Unfälle<br />

schützen schließlich auch die peinlichsten Maßregeln<br />

nicht, <strong>und</strong> verhindert die Polizei den Anarchisten<br />

das Reisen, so behält sie sie doch auf dem<br />

Halse.<br />

Das wäre in knappen Strichen das Bild Portugals<br />

von heute, soweit es den anarchistischen<br />

Leser interessiert. Einzelheiten aus der hiesigen<br />

anarchistischen Bewegung mitzuteilen, ist aus Vorsichtsgründen<br />

vermieden worden, doch eins darf<br />

alle Welt wissen — daß der Anarchismus in Portugal<br />

stetig an Terrain gewinnt <strong>und</strong> seinen internationalen<br />

Brüdern jederzeit bereit ist, die Hand<br />

zu reichen, wenn es heißen wird, für den internationalen<br />

Völkerfrühling zu kämpfen!<br />

Verantwortlicher Redakteur Jos. Šindelář (Wien). — Herausgeber Jul. Ehinger (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />

Globetrotter.


Wien, 5. April 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 7.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Fockygasse 27,<br />

II./17. — Gelder sind zu senden an<br />

W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />

5, III./27.<br />

Fünf<strong>und</strong>zwanzig Jahre nach<br />

Karl Marx.<br />

Das befruchtende Wirken großer Geister,<br />

länger andauernd als das kurzfristige<br />

menschliche Leben, verdient der E r w ä h n u n g<br />

<strong>und</strong> Erinnerung im Gedächtnis späterer<br />

Generationen. Und je lebendiger dieses<br />

Nachwirkende <strong>und</strong> auch nachmalig Bahnbrechende<br />

sich im sozialen Leben erweist<br />

durch die greifbar deutlichen Tatsachen, je<br />

mehr es seine Bestätigung fand durch die<br />

Geschehnisse im gesellschaftlichen Walten<br />

<strong>und</strong> d a d u r c h näher kam <strong>und</strong> verwandt<br />

wurde mit dem Bewußtsein der Massen,<br />

das, was vordem nur Einzelnen gehörte, —<br />

desto lauter tönt der Massenchor der W ü r -<br />

digung, den ein solch g r o ß e r Geist empfängt,<br />

desto lebendiger ist er im Gefühl,<br />

im täglichen Tun der Massenwelt- <strong>und</strong><br />

Massenaktion. Aber dieser C h o r der festlichen<br />

Würdigung äußert sich dann nicht<br />

mehr durch das Wort allein, denn dieses ist<br />

ja stets der Beweis für das noch nicht Erreichte;<br />

diese W ü r d i g u n g äußert sich dann<br />

im praktischen Tun, im geistigen Streben<br />

der Massen, denen das D e n k e n <strong>und</strong> Gefühl<br />

des von ihnen verehrten Geistes so in<br />

alle Interessenfasern ihres Seins übergegangen<br />

ist, daß er für sie zur Selbstverständlichkeit<br />

wurde.<br />

Wenn wir heute, 25 Jahre nach Karl<br />

Marx Hingang über ihn schreiben <strong>und</strong> ihn<br />

im Lichte dieser Betrachtungsmethode beurteilen,<br />

so können wir es ruhig konstatieren:<br />

das, was vor noch einem Jahrzehnt<br />

seine ganze Bedeutung bildete, das System,<br />

das seinem Namen die Gloriole des beweihräuchernden<br />

Ruhmes verlieh, d e r M a r x i s -<br />

m u s i s t h e u t e t o t u n d ü b e r w u n d e n .<br />

Allerdings, wenn man sich an die phrasenreichen<br />

<strong>und</strong> geistig inhaltslosen Ausspinnungen<br />

in der sozialdemokratischen Presse<br />

Österreichs <strong>und</strong> Deutschlands — <strong>und</strong> charakteristischer<br />

Weise existiert der ruhmselige<br />

Marxkultus n u r in diesen beiden p o -<br />

litisch rückständigen Großstaaten in irgendwie<br />

gefährlichem Maße! — halten wollte,<br />

dann lebten Marx Theorie <strong>und</strong> die marxistische<br />

Praxis noch sehr, fänden T a g auf<br />

Tag ihre Bestätigung <strong>und</strong> A n s c h a u u n g in<br />

der modernen Sozialdemokratie. Leider —<br />

für die letztere — sind wir aber nicht genug<br />

Auguren, um uns gegenseitig in dieser<br />

Weise auf Kosten der genarrten u n d genasführten<br />

Dritten, auf Kosten der proletarischen<br />

Massen zu unterhalten. U n d so kann<br />

uns, die wir die internationale Arbeiterbewegung<br />

kennen <strong>und</strong> miterleben, n i c h t s<br />

vorgefackelt werden, wie die Marxisten es<br />

mit dem Arbeiter tun, der eben durch die<br />

moderne Lohnsklaverei w e d e r die Zeit noch<br />

die geistige Ausbildung besitzt, um die Behauptungen<br />

solch theoretischer Falschmünzer<br />

kontrollieren zu können. Auch wissen<br />

wir nur allzu gut, w e s h a l b die Führer<br />

der Sozialdemokratie sich gerade so sehr<br />

an Marx halten <strong>und</strong> ihn e m p o r h e b e n zwecks<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst eroberl werden muss ; dass<br />

der, Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu ür<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist . ,<br />

staunender B e w u n d e r u n g seitens der Arbeiter,<br />

die ihn größtenteils w e d e r lesen<br />

können noch überhaupt lesen: — stets haben<br />

die Priester jeder Kirche, jedes D o g m a s<br />

dem Volke irgend welche Götter <strong>und</strong> Götzen<br />

geboten, vor d e n e n es ehrfurchtsvoll<br />

in die Kniee sank, eben weil es sie n i c h t<br />

verstand <strong>und</strong> die Pfaffen mittlerweile des<br />

Volkes Ketten desto ungestörter schmieden<br />

k o n n t e n ! Im Falle der Sozialdemokratie<br />

verhält es sich g a n z e b e n s o : Je weiter sich<br />

ihre Praxis von der Theorie Marxens entfernt,<br />

je mehr sie das wirtschaftlich-ökonomische<br />

M o m e n t der Lehre Marxens auf<br />

Kosten des politischen hintansetzt, je mehr<br />

sie aus einer sozialistischen Partei eine<br />

kleinbürgerliche, mittelmäßig-demokratische<br />

Partei wird, desto g r ö ß e r <strong>und</strong> lauter die<br />

Sucht, als M a r x n a r h t r e t e r i n zu posieren,<br />

sich mit Pfauenfedern zu schmücken,<br />

schließlich alles Volksverräterische, was man<br />

tut, als marxistisch auszugeben — o b w o h l<br />

Marx sich im G r a b e zu Highgate u m d r e h e n<br />

müßte, w e n n er, der unerbittliche Ingr<strong>und</strong>u<br />

n d b o d e n w e t t e r e r des Gotha'schen Einig<br />

u n g s p r o g r a m m e s der deutschen Sozialdemokratie,<br />

die Praxis der internationalen,<br />

heutigen Sozialdemokratie sehen könnte;<br />

die s o weit geht, daß ein V i k t o r A d l e r<br />

im parlamentarischen Ausschuß den »vulgärökonomischen«<br />

Blödsinn aufstellen kann,<br />

die Sozialdemokratie hätte nichts g e g e n die<br />

V e r m e h r u n g <strong>und</strong> Verstärkung der Sicherheitsbehörden<br />

einzuwenden, nur dürften<br />

diese nicht g e g e n streikende Arbeiter verw<br />

e n d e t werden. Und dies 60 Jahre nach<br />

dem Erscheinen des Kommunistischen Manifestes,<br />

in d e m zu lesen steht: » D i e m o -<br />

d e r n e S t a a t s g e w a l t i s t n u r e i n<br />

A u s s c h u ß , d e r d i e g e m e i n s c h a f t -<br />

l i c h e n G e s c h ä f t e d e r g a n z e n B o u r -<br />

g e o i s k l a s s e v e r w a l t e t «<br />

An Karl Marx hat sich die Ironie der<br />

Geschichte vollzogen. Die historische Entwicklung<br />

des m o d e r n e n Sozialismus kennt<br />

keinen zweiten, der die Geistesprodukte<br />

der französischen <strong>und</strong> englischen Schulen<br />

der sozialistischen B e w e g u n g so ausgiebig<br />

verwertete, so plagiatorisch sich aneignete, wie<br />

Karl Marx es tat; aber auch keinen, der in<br />

ähnlich perfider Weise g e g e n sämtliche<br />

seiner Lehrer v o r g e g a n g e n wäre, sie ähnlich<br />

g e s c h m ä h t hätte, wie Marx es mit P r o u d h o n ,<br />

Sismondi, Mill, Grün usw. getan. Und dies<br />

stets mit dem wohl ausgeklügelten Plan, eine<br />

dogmatische Schule zu b e g r ü n d e n , die diese<br />

historischen Fälschungen, S c h m ä h u n g e n <strong>und</strong><br />

Verleumdungen k o m m e n t a r m ä ß i g fortsetzen<br />

würde. So vermeinte er, sie alle, einschließlich<br />

der g r o ß e n Utopisten <strong>und</strong> ihrer Schüler,<br />

totgeschlagen zu haben. U n d doch hatte er<br />

sich ganz gründlich verrechnet. D e n n trotz<br />

alledem war Marx ein Sozialist, w e n n auch<br />

nur Staatssozialist nach Louis Blanc'schem<br />

Muster. Er w o l l t e den Sozialismus <strong>und</strong><br />

hoffte, daß die von ihm g e g r ü n d e t e Schule<br />

seine Theorie des revolutionären Staatssozialismus<br />

zum Siege geleiten w ü r d e . Das<br />

wird niemals geschehen, so viel ist schon<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2.40;<br />

halbjährig K P1.20. Pur die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

heute ersichtlich. Die m o d e r n e Sozialdemokratie<br />

hat Stück auf Stück seiner theoretischen<br />

Lehren aufgegeben <strong>und</strong> wird in der<br />

Praxis — <strong>und</strong> nur diese ist der G r a d m e s -<br />

ser der Theorie! — beherrscht von der<br />

kleinbürgerlich-radikalen Demokratie, deren<br />

Führertum die Revisionisten nicht nur sind,<br />

sondern stets waren, selbst dann schon,<br />

als es diesen N a m e n noch gar nicht gab.<br />

Und während so die Sozialdemokratie einzig<br />

<strong>und</strong> allein darin das Erbe Marx' angetreten<br />

hat, daß sie — darin hat sie freilich unübertrefflich<br />

Schule g e m a c h t ! die Anhänger<br />

des n i c h t marxistischen Sozialismus<br />

mit derselben Flut von u n w i s s e n d e r G e -<br />

meinheit überhäuft, wie es ihr quasi-Abgott<br />

getan, hat sie auf der anderen Seite den<br />

revolutionären Standpunkt des Marxismus<br />

vollständig aufgegeben, damit ihn selbst,<br />

der ja theoretisch durchaus unhaltbar, abgetan,<br />

sich ausschließlich zur Linken der<br />

bürgerlich-demokratischen Opposition entwickelt.<br />

Damit ist der Marxismus kläglich<br />

zu E n d e ; das Ende des Marxismus b e d e u -<br />

tet aber auch das E n d e des R u h m e s n a m e n s<br />

Karl Marx, der damit reichlich S ü h n e tut<br />

für alle die V e r l e u m d u n g s s ü n d e n seinen<br />

sozialistischen G e g n e r n g e g e n ü b e r , die<br />

seiner H e g e m o n i e widerstritten.<br />

Aber ganz abgesehen von der modernen<br />

Sozialdemokratie ist Marx hauptsächlich<br />

auch durch das Leben u n d die historische<br />

F o r s c h u n g des Sozialismus erledigt<br />

worden. Bei u n s in Österreich, wo man<br />

doch so gar keine theoretische Tradition<br />

des Sozialismus hat, wo Lassalle u n d Marx<br />

das uns ideal leitende Dioskurenpaar sein<br />

sollen, an dessen Genialität der Arbeiter zu<br />

g l a u b e n — denn in der österreichischen<br />

Arbeiterklasse ist die K e n n t n i s des Sozialismus<br />

grauenhaft gering! — gelehrt wird,<br />

können sie freilich noch die erste G e i g e<br />

spielen. Doch nur, weil man hier gemeinhin<br />

n i c h t s anderes kennt, von n i c h t s<br />

a n d e r e m w e i ß ! Wie sehr abgetan der Marxismus<br />

als theoretisches L e h r g e b ä u d e ist,<br />

das wissen n u r diejenigen, welche die ü b -<br />

rige europäische A r b e i t e r b e w e g u n g kennen<br />

<strong>und</strong> da sehen, daß er in den industriell<br />

wie sozialistisch geistig höchst entwickeltesten<br />

Ländern, wie Frankreich, England,<br />

nach ü b e r 4 0 jähriger Pflanzung so absolut gar<br />

keine Ernte einzuheimsen hat, an B e d e u t u n g<br />

höchst u n b e d e u t e n d ist. Und man glaube<br />

nicht, daß diese Länder, wie alle die übrigen<br />

mit A u s n a h m e Österreichs u n d Deutschlands,<br />

sich jemals z u m Marxismus entwickeln<br />

werden. Niemals; denn weil sie an<br />

Kenntnis <strong>und</strong> Aktionsfrische der sozialistischen<br />

B e w e g u n g weit ü b e r ihm stehen,<br />

ihn innerlich, wie auch teilweise historisch<br />

längst ü b e r w u n d e n haben, aus diesem<br />

G r u n d e sind sie n i c h t marxistisch. W o h l<br />

bedürfen auch sie noch der sozialistischprinzipiellen<br />

Entwicklung; doch niemals<br />

nach der Richtung z u m Marxismus hin.<br />

Ist es nur ein Zufall, daß mit Ausnahme<br />

gerade einiger Broschüren, deren Inhalt<br />

ebenfalls höchst anfechtbar ist, die Gesamt


arbeit von Marx auf literarischem Gebiet<br />

mit dem Sozialismus nichts Tieferes gemein<br />

hatte, sondern rein nationalökonomisch war?<br />

W e n n ihn die Nationalökonomen feierten,<br />

dann hätten sie recht. Aber der historische<br />

Schiedsspruch des Sozialismus wird Marx<br />

niemals in b e d e u t e n d e m Maßstabe für sich<br />

beanspruchen. Man darf dabei nicht vergessen,<br />

daß w e n n schon die gesamte Sozialwissenschaft<br />

heute zum größten Teil<br />

noch Experiment <strong>und</strong> das Tatsächliche ihrer<br />

Erkenntnisse noch lächerlich minimal ist, die<br />

politische Ö k o n o m i e in Wahrheit nichts ist, als<br />

pureste Metaphysik <strong>und</strong> Spekulation. Gerade<br />

darin aber war Marx groß, nämlich in der<br />

Nationalökonomie. Und es geht ziemlich<br />

schwer an, ihn so für den Sozialismus zu<br />

retten, wie man es n i c h t laut seinem<br />

»Kapital«, w o h l a b e r laut diversen anderen<br />

Schriften tun darf, zu sagen, Marx habe<br />

die Metaphysik der Nationalökonomie in<br />

sozialistischem Sinne ausgelegt, a n g e w a n d t<br />

<strong>und</strong> verwertet. Man k a n n dies sagen, doch<br />

man sagt damit blutwenig für <strong>und</strong> zu G u n -<br />

sten von Marx. D e n n man vergißt dabei<br />

ganz, daß ja eben der Sozialismus gar nichts<br />

anderes ist als die aller Metaphysik entkleidete<br />

Gesellschaftsökonomie. Von letzterem<br />

hat u n s Marx außerordentlich wenig, nur<br />

in ganz flüchtigen Strichen geboten. Seine<br />

Stärke bestand darin, in den Produktionsp<br />

r o z e ß der bürgerlichen Gesellschaft e i n -<br />

d r i n g e n z u wollen; seine Schwäche, diesen<br />

Produktionsprozeß als eine für sich<br />

b e s t e h e n d e historische Kategorie anzusehen,<br />

die durch eigene, ihr i n n e w o h n e n d e , ökonomische<br />

Gesetze geleitet <strong>und</strong> fortentwickelt<br />

wird. So konnte er dazu gelangen, zu glauben,<br />

er besäße die Erkenntnis der bürgerlichen<br />

Produktionsweise, w e n n er die Bew<br />

e g u n g s g e s e t z e der Waren, der Kapitalien,<br />

den Zirkulationsprozeß des verschiedenen<br />

Geldkapitals verfolge <strong>und</strong> konstatiere. Ein<br />

arger Irrtum, d e n n die m o d e r n e Produktionsform<br />

wird nicht geleitet o d e r beherrscht<br />

durch den den W a r e n etc. i n n e w o h n e n -<br />

den Charakter, den sie in unveränderlicher<br />

Form ü b e r h a u p t nicht haben, sondern durch<br />

das, was Marx in seinem »Kapital« vollständig<br />

vergaß, durch den staatlich aufrechterhaltenen<br />

<strong>und</strong> je nach den sich durchsetzenden,<br />

verschiedenartigen sozial-ökonomischen<br />

Bedürfnissen der mächtigsten Kapitals-<br />

<strong>und</strong> Herrschaftskliquen. Dort wo das<br />

»Kapital« recht hat, hat nicht Marx recht,<br />

sondern einfach der S o z i a l i s m u s <strong>und</strong><br />

dessen Kritik an der b e s t e h e n d e n Gesellschaft,<br />

wie sie ein Fourier schon so glanzvoll<br />

<strong>und</strong> umfassend durchführte, daß Marx<br />

ihm vieles entlehnen konnte. W i e total wertlos<br />

aber die theoretische Lebensarbeit von<br />

Marx für das Proletariat ist, das weiß jeder,<br />

der das »Kapital« aus eigenem Studium<br />

kennt <strong>und</strong> die Ehrenhaftigkeit besitzt, das<br />

zu konstatieren, was ist.<br />

D a s »Kapital« ist das metaphysischeste<br />

W e r k des m o d e r n e n Sozialismus, das je<br />

geschrieben w u r d e ; <strong>und</strong> g e r a d e weil es<br />

sich ausschließlich mit ö k o n o m i s c h e n Kategorien<br />

beschäftigt. Relativen W e r t haben<br />

nur die A u s z ü g e aus den Blaubüchern<br />

der englischen Regierung, die historischen<br />

Partien, die aber absolut nichts Originales<br />

sind. Dort wo es sich auf das ö k o n o m i s c h e<br />

Gebiet begibt, ist es die ökonomisch verzerrte<br />

Grimasse eines konservativen Hegels<br />

<strong>und</strong> b e w e g t sich in lauter Abstraktionen,<br />

so sehr, daß g a n z e Seiten den eigenen Anhängern<br />

unverständlich bleiben. Für Marx<br />

haben die W a r e n , das Geld, die Profitraten<br />

u . dgl. e i g e n e B e w e g u n g s g e s e t z e , Terminologien<br />

wie Arbeit <strong>und</strong> Arbeitskraft ersetzen<br />

den Arbeitenden, kurz man b e w e g t<br />

sich selbst nicht m e h r unter sinnlich<br />

w a h r n e h m b a r e n G e g e n s t ä n d e n : will man<br />

sie u n d wieder realen Boden unter den<br />

F ü ß e n gewinnen, so m u ß man alle diese<br />

B e g r i f f e — <strong>und</strong> damit experimentierte<br />

die scholastische Dialektik der mittelalterlichen<br />

M ö n c h e ganz ebenso wie es Marx<br />

tut — zurück in reale Dinge verwandeln.<br />

Marx glaubte, wer weiß wie klug zu<br />

handeln, w e n n er in seiner Analyse des<br />

»Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktion«<br />

mit der Darstellung der W a r e<br />

b e g a n n <strong>und</strong> mit der höchst flüchtigen Analyse<br />

der G r u n d r e n t e <strong>und</strong> überhaupt G r u n d -<br />

<strong>und</strong> Bodenfrage endete. H e u t e wissen<br />

wir alle, daß es g e r a d e umgekehrt ist, daß<br />

jeder Mehrwert, j e d e A u s b e u t u n g erst eine<br />

Formabart der ursprünglichsten A u s b e u t u n g<br />

durch den Monopolbesitz des G r u n d <strong>und</strong> Bodens<br />

u n d daß die gesamte Warenwirtschaft<br />

<strong>und</strong> Staatsbelastung erst seine Folge ist.<br />

Dabei, <strong>und</strong> dies ist die Hauptsache, ist das<br />

»Kapital« so geschrieben, in einer solchen<br />

Sprache verfaßt, daß die eigenen Anhänger,<br />

so weit sie aus Proletariern bestehen, den<br />

Ausführungen des Meisters nicht folgen<br />

k ö n n e n , sie einfach nicht verstehen.<br />

Aus diesem Unglück resultiert nur e i n<br />

Glück: es schadet nämlich dem sozialistisch<br />

d e n k e n d e n Arbeiter gar nicht, w e n n er<br />

Marx nicht versteht, da er, w e n n er ihn<br />

verstehen gelernt hat, um nichts klüger in<br />

p u n k t o Sozialismus, um manche ganz falsche<br />

Schrullen reicher g e w o r d e n ist. Und<br />

g e r a d e als Marx sich mit dem Sozialismus<br />

beschäftigen anfangen wollte, bricht das<br />

dreibändige Manuskript ab.<br />

So ähnlich verhält es sich mit allen<br />

anderen Thesen des Marxismus. Keine einzige<br />

hat das ihr gestellte Prognostikon erfüllt<br />

<strong>und</strong> erreicht. W e r belächelt heute nicht<br />

den G e d a n k e n an die totale Vernichtung<br />

der Mittelklasse; wer glaubt noch an die<br />

Konzentration des Kapitals i n i m m e r w e -<br />

n i g e r u n d w e n i g e r H ä n d e n ; was kümmert<br />

uns, die wir den Sozialismus wollen,<br />

die Wert- o d e r M e h r w e r t t h e o r i e ; wer ist<br />

noch der M e i n u n g , daß man auf d e m W e -<br />

ge der parlamentarischen Betätigung einen<br />

K l a s s e n k a m p f führt <strong>und</strong> realisiert; wer<br />

kann sich nach B e o b a c h t u n g der 40 jährigen<br />

parlamentarischen Taktik der deutschen<br />

Sozialdemokratie noch der Hoffnung hing<br />

e b e n , je auf diese Weise die »Diktatur<br />

des Proletariats« zu erreichen; <strong>und</strong> wen,<br />

der wirklich für die Freiheit sich interessiert<br />

<strong>und</strong> nach ihr strebt, k ü m m e r n heute noch<br />

die schabionisierten Begriffe, die Marx aufstellte?<br />

Niemanden, <strong>und</strong> nur jene halten all<br />

dies aufrecht, die sich über das Trügerische<br />

des G a n z e n sehr wohl im Klaren, sich aber<br />

materiell <strong>und</strong> sozial sehr wohl befinden bei<br />

diesem unfruchtbaren W a h n g l a u b e n der<br />

Massen, dem deren Untätigkeit <strong>und</strong> soziale<br />

Aktionslosigkeit entspringt.<br />

U n d nun auch das Letzte! Herr Dr. Max<br />

Adler stellt u n s »Marx als Denker« vor, als<br />

einen E n t d e c k e r u n d E r o b e r e r . Daß<br />

doch selbst die schäbigsten, in Deutschland<br />

längst abgetanen Phrasen bei uns noch<br />

g a n g b a r sind. Und welche Gesichtsblendung<br />

des Proletariats setzt dies voraus. Man denke:<br />

heute, wo wir wissen, daß ein P r o u d -<br />

hon schon 1842 ein W e r k lieferte (»Was<br />

ist das Eigentum?«), von d e m Marx selbst<br />

konstatierte, daß e s das » e r s t e w i s s e n -<br />

s c h a f t l i c h e Manifest« des französischen<br />

Proletariats; daß das »Kommunistische Manifest«<br />

eine oftmals wörtliche Abschrift von<br />

V i k t o r C o n s i d é r a n t ; daß Engels selbst<br />

in seinem V o r w o r t zum 2. Band des »Kapital«<br />

es zaghaft zugestehen muß, daß ein<br />

T h o m p s o n lange vor Marx nicht nur<br />

den Mehrwert enthüllte — jeder sozialistische<br />

Proletar kann dasselbe Kunststück<br />

liefern! —, sondern auch die Schablone der<br />

bürgerlichen Nationalökonomie sozialistisch<br />

verwertete; daß die Lehren v o m Klassenkampf,<br />

von der Konzentration des Kapitals, d e m<br />

Verschwinden der Mittelklasse, der Verelendungstheorie<br />

etc., zu den gebräuch-<br />

lichsten Schlagworten der französischen<br />

B e w e g u n g a n n o 1848 g e h ö r t e n ; daß die gesamte<br />

politisch-parlamentarische Betätigung<br />

der sozialdemokratischen B e w e g u n g seit<br />

Lassalle von Louis Blanc abgeguckt ward<br />

— heute kann kein wissenschaftlich denkender<br />

Mensch mehr Marx als Entdecker<br />

<strong>und</strong> Eroberer darstellen. W e n n man ihn<br />

auffaßt als einen Vorkämpfer des Staatssozialismus,<br />

ähnlich wie es Blanc, Pequeur,<br />

Vidal, etc., waren, lassen wir dies gerne<br />

gelten, konstatieren sogar, daß er sie in<br />

vielem überragte; w e n n man seine Bedeut<br />

u n g a b e r fälschlich vergrößert, so wie es<br />

die Bourgeoisie mit ihren H e r o e n tut <strong>und</strong><br />

eben so u n g e r e c h t e r Weise, dann bleibt<br />

natürlich nichts anderes übrig, als der Wahrheit<br />

o h n e G n a d e die Ehre g e b e n <strong>und</strong> Marx<br />

als das darzustellen, was vornehmlich in<br />

ihm stak: als ehrabschneiderischen Plagiator,<br />

ü b e r dessen Wirken innerhalb der Arb<br />

e i t e r b e w e g u n g sich einige höchst bedauernswerte,<br />

seine Schädlichkeit krasse herv<br />

o r h e b e n d e Kapitel schreiben lassen!<br />

Wir müssen uns daran g e w ö h n e n , den<br />

Sozialismus gesondert v o m Marxismus zu<br />

betrachten <strong>und</strong> zu vertreten. N u r s o können<br />

wir den ersteren vor d e m Untergange<br />

b e w a h r e n . Die dialektische Sophisterei des<br />

Marxismus hat den Sozialismus dorthin gebracht,<br />

wo er heute steht; daß er verknüpft<br />

wird mit unmöglichen Vorstellungen, sich<br />

bläht als eine »Wissenschaft« <strong>und</strong> dabei<br />

sein Gr<strong>und</strong>element, den wirklichen sozial<br />

geführten Klassenkampf für seine Verwirklichung,<br />

vollständig a u ß e r Acht läßt. Marx<br />

hat es schon einmal versucht, die Arbeiterb<br />

e w e g u n g in unheilvollster Weise zu beeinflussen<br />

<strong>und</strong> zu spalten, zu brechen, als er<br />

die »Internationale« gewaltsam sprengte.<br />

Es soll diesmal dem Marxismus nicht ganz<br />

gelingen, was ihm schon f a s t g e l u n g e n :<br />

die totale Einlenkung der A r b e i t e r b e w e g u n g<br />

auf rein bürgerliche B a h n e n ; der immer<br />

kräftiger einsetzende, w e n n auch längst totgesagte<br />

Anarchismus verhindert dies. Er<br />

ist der klarste Ausdruck, den der Sozialism<br />

u s gef<strong>und</strong>en, nämlich im kommunistischen<br />

Anarchismus. U n d so ist uns denn Marx<br />

heute ein Ü b e r w u n d e n e r ; ein Beigelegter,<br />

durch die Taktik seiner eigenen Partei, die<br />

den Gr<strong>und</strong>satz, daß die ö k o n o m i s c h e n<br />

Veränderungen die politischen bedingen<br />

<strong>und</strong> herbeiführen, längst ad acta gelegt <strong>und</strong><br />

den W a g e n vor das Pferd gespannt hat;<br />

ist ein Erledigter in Sachen w i s s e n s c h a f t -<br />

l i c h er Theorie des Sozialismus, denn<br />

k e i n e e i n z i g e seiner Thesen hat sich im<br />

Laufe der letzten 40 Jahre auch nur annähernd<br />

erfüllt, ist irgendwie Tatsache oder<br />

etwa gesellschaftlich gültige Erscheinung gew<br />

o r d e n . In d e m C h o r von Sykophanten <strong>und</strong><br />

marxistischen Parlamentshöflingen, die -<br />

welche Ironie, d e n n es sind g a n z <strong>und</strong> gar<br />

k e i n e A r b e i t e r ! — Marx anläßlich seines<br />

25. Todesjahres gedenken, tönt schrill,<br />

aber der Wahrheit g e m ä ß unsere Stimme, die<br />

für Marx einen Grabstein errichtefsehen will,<br />

auf d e m als passendste Inschrift diejenigen<br />

W o r t e zu lesen sind, die E n g e l s in seiner<br />

Polemik gegen Dr. Conr. Schmidt gebrauchte,<br />

als e r d a sagte: » D i e K o n s t i t u t i o n i s t<br />

ä u ß e r s t s i n n r e i c h , s i e i s t g a n z n a c h<br />

H e g e l s c h e m M u s t e r , a b e r s i e t e i l t<br />

d a s m i t d e r M e h r z a h l d e r H e g e l -<br />

s c h e n , d a ß s i e n i c h t r i c h t i g ist!«<br />

Die freie G e n e r a t i o n . D o k u m e n t e z u r<br />

W e l t a n s c h a u u n g d e s A n a r c h i s m u s . (März<br />

<strong>und</strong> April.) Theo Heermann, Die Kommune; Saul,<br />

Der Anfang der sozialrevolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />

in Deutschland; Pierre Ramus, Zur<br />

Kritik <strong>und</strong> Würdigung des Syndikalismus; Berthold<br />

Cahn, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft; F. Thaumazo,<br />

Kultur <strong>und</strong> Fortschritt; N. J. C. Schermershorn,<br />

Der Zweck des Lebens. Archiv des sozialen Lebens.<br />

Preis jedes Einzelheftes 25 Heller, durch uns zu<br />

beziehen.


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Österreich.<br />

Wien. Auf Gr<strong>und</strong> des herrschenden W a h l ­<br />

z w a n g e s — kein W a h l r e c h t , sondern den<br />

Wahl z w a n g haben wir Oesterreicher — fanden<br />

dieser Tage im III. Wahlkörper die Wahlen für den<br />

Wiener Gemeinderat statt. Auch die Sozialdemokraten<br />

haben „Siege" zu verzeichnen. Welcher Art<br />

diese letzteren aber sind, geht daraus hervor, daß<br />

im Laufe der ganzen Wahlbewegung von den<br />

Sozialdemokraten k e i n e i n z i g e s M a l das<br />

Wort Sozialismus auszusprechen gewagt wurde.<br />

Sonst ergattert man auch nicht die Stimmen des<br />

behäbigen Spießertums! Auf welche ideale Art von<br />

unseren Sozialdemokraten die Wahlzeit für die<br />

Propaganda des Sozialismus ausgenützt wird, liest<br />

man aus folgendem Wahlmanifestzitat, das wohl<br />

auch die Notwendigkeit sozialdemokratischer Stimmenabgabe<br />

begründen soll:<br />

„Wähler Wiens! Wählet Montag die Sozialdemokraten<br />

<strong>und</strong> gebt dem Gemeinderat <strong>und</strong>,<br />

den Bezirksausschüssen damit die so dringend<br />

notwendige Kontrolle!"<br />

Sehr schön! Also durch diese „dringend notwendige<br />

Kontrolle" wird der Sozialismus verwirklicht<br />

werden. Großartiger Klassenkampf! Vorzüglich<br />

revolutionär! Ganz ausgezeichnet!<br />

Wir geben gerne zu, daß das arbeitende Volk<br />

triftige Gründe dafür hat, darüber Kontrolle zu üben,<br />

was mit den aus seiner Arbeitskraft ausgebeuteten<br />

Reichtumswerten geschieht. Doch gründlich kann<br />

dies nur geschehen durch die mittels sozialer<br />

Streikaktion verkürzte Profitrate der Unternehmerklasse.<br />

Niemals durch den Staat <strong>und</strong> die Politiker,<br />

die ja selbst leben, ohne produktiv zu arbeiten.<br />

Kontrolle ist dringend notwendig; allerdings, aber<br />

nicht durch Politiker irgend welchen Kulörs, denn<br />

noch wichtiger wird es da, eine gründliche Kontrolle<br />

über diese „politischen Kontrolleure" zu üben. Recht<br />

schöne Sachen kommen da stets zum Vorschein —<br />

bei a l l e n politischen Parteien, die Sozialdemokratie<br />

mitinbegriffen.<br />

* *<br />

*<br />

Einberufen von der A l l g e m e i n e n G e ­<br />

w e r k s c h a f t s f ö d e r a t i o n fand im V. Bezirk<br />

eine vorzüglich gut besuchte Versammlung statt,<br />

in der unser Fre<strong>und</strong>, der bekannte Freidenker<br />

Brunnecker über das T h e m a : „Krieg dem Kriege!"<br />

referierte. Der Vortrag umfaßte eine reiche Tatsachenfülle<br />

<strong>und</strong> rief derselbe auch eine anregende<br />

Diskussion hervor, an der sich u. a. diverse Sozialdemokraten<br />

<strong>und</strong> die Genossen L i c k i e r <strong>und</strong><br />

R a m u s beteiligten, die das Prinzipielle des von<br />

anarchistischer Geistesanschauung belebten <strong>und</strong><br />

geführten Antimilitarismus zergliederten. Hervorgehoben<br />

darf werden, daß ein Sozialdemokrat die<br />

Ausführungen wesentlich bekräftigte <strong>und</strong> die Haltung<br />

<strong>und</strong> Handlungsweise Schuhmeiers in Sachen des<br />

Militarismus gebührend brandmarkte. — Eine ähnliche<br />

Versammlung mit dem gleichen Thema fand<br />

auch im III. Bezirk statt <strong>und</strong> knüpfte sich abermals<br />

eine interessante Diskussion an dasselbe. Rühmend<br />

können wir es hervorheben, daß es diesmal auch<br />

Sozialdemokraten waren, die sich mit unseren Genossen<br />

in der Einberufung dieser Versammlung<br />

verbanden. Das Auftreten des Genossen Ramus in<br />

den Versammlungen des sozialdemokratischen Wahlvereines<br />

im III. Bezirk <strong>und</strong> die heimtückisch-feige<br />

Art der Hintertreibung der Diskussion hat für uns<br />

die besten Früchte gezeitigt <strong>und</strong> in den Köpfen<br />

vieler eine Art neuer Erkenntnis — nämlich die,<br />

wie gefürchtet die Anarchisten von den Sozialdemokraten<br />

werden, wegen der Wahrheit des<br />

Anarchismus, die sie predigen — aufgehen lassen.<br />

— Wir dürfen es wohl als das charakteristische<br />

Moment der Verschiedenheit zwischen sozialdemokratischen<br />

<strong>und</strong> anarchistischen Versammlungen<br />

hervorheben, daß sich in den letzteren alle Gegner<br />

unumschränkter Redefreiheit erfreuen; i n d e n<br />

s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n i s t d a s G e g e n ­<br />

t e i l d e r F a l l ! Berief d a die G e w e r k s c h a f t<br />

d e r S t u k k a t e u r e eine öffentliche Vereinsversammlung<br />

ein, in der unser Genosse Ramus über<br />

„Sozialreform <strong>und</strong> direkte Aktion" referierte. Wohl<br />

organisiert waren auch zahlreiche Sozialdemokraten<br />

erschienen, von denen einer — Drexler heißt das<br />

Subjekt — gleich anfangs den Versuch machte, die<br />

Versammlung zu sprengen. Es gelang ihm nicht<br />

<strong>und</strong> nach Beendigung des Referats erhielt der von<br />

den Sozialdemokraten speziell deswegen herbeigebrachte<br />

Gegenredner D a n n e b e r g — Redakteur<br />

des „Jugendl. Arbeiters" — das Wort. Brauchen<br />

wir einen besseren Beweis für die Toleranz, die<br />

die Einberufer der Versammluug beseelte, ein<br />

besseres Zeugnis für die unbeugsame — G e d u l d ,<br />

die die Genossen anarchistischer Richtung besaßen,<br />

zu erbringen, als wenn wir konstatieren, daß dem<br />

Redner 55 Minuten Redezeit gewährt w u r d e n ? In<br />

welcher sozialdemokratischen Versammlung hätte<br />

ein Anarchist dies je erhalten? Über die Qualität<br />

des Konterreferates können wir nur eines s a g e n:<br />

e r s t a u n l i c h u n t e r a l l e r K r i t i k s c h l e c h t !<br />

Und die Sozialdemokraten mußten dies gefühlt<br />

haben, denn gerade als Ramus nun antworten<br />

wollte, erhob sich obgenannter Drexler <strong>und</strong> schrie<br />

in den Saal: „Genoss'n, mir wöll'n nix mehr heren<br />

<strong>und</strong> gengan jetzta außi zua die Märzg'fallenen".<br />

Es war der 15. März <strong>und</strong> 12 Uhr mittags. Das<br />

verabredete Signal wirkte — <strong>und</strong> mit lautem Halloh<br />

erhoben sich diese „Klassenbewußten", die in echt<br />

christlichsozialer Weise nun einerseits n i c h t<br />

gingen, andererseits den Fortgang der Versammlung<br />

unter allen Umständen nicht zulassen wollten.<br />

Einer drohte sogar mit der Polizei — o edles<br />

klassenbewußtes- sozialdemokratisch-revolutionäres<br />

G e m ü t ! Und auch Herr Danneberg schien plötzlich<br />

seinen Parlamentarismus gänzlich eingebüßt zu<br />

haben; es fiel ihm nicht ein, den Seinigen — wir<br />

gönnen sie I h m ! — zuzurufen, doch in Anerkennung<br />

des Umstandes, daß ihm eine St<strong>und</strong>e gewährt ward,<br />

dem Referenten wenigstens 15 Minuten für das<br />

Schlußwort zu gewähren. — Herr Danneberg schien<br />

diesen „parlamentarischen Anstand" vergessen zu<br />

haben, hat ihn auch bis heute vergessen, denn er<br />

lud, entgegen seinem ausdrücklich erteilten Versprechen,<br />

den Genossen Ramus bis heute noch<br />

nicht in seine Versammlung ein, in der dieser ihm<br />

entgegnen sollte. Sie sind alle Ehrenmänner, diese<br />

sozialdemokratischen Parlamentarier <strong>und</strong> solche,<br />

die es werden wollen; <strong>und</strong> kühn, mutig sind sie,<br />

daß selbst ein Hase sich verstecken m ü ß t e ! — Eine<br />

interessante Antimarxversammlung fand Im XIV.<br />

Bezirk statt, der eine zweite über das T h e m a<br />

„Marx <strong>und</strong> die Arbeiterbewegung" folgte <strong>und</strong> eine<br />

dritte in den unteren Bezirken stattfand, über die<br />

wir demnächst erst berichten können. Es referierte<br />

Ramus <strong>und</strong> die anwesenden Sozialdemokraten vernahmen<br />

mit Erstaunen <strong>und</strong> Empörung, daß es noch<br />

Menschen gibt, die Marx kennen, auch v e r s t e h e n<br />

k ö n n e n <strong>und</strong> ihn dennoch n i c h t verehren.<br />

Eine ausgezeichnete Leistung waren die Arrangements<br />

unserer G r u p p e „ M o r g e n r ö t e " , die die<br />

K o m m u n e f e i e r einberief. Neben gesanglichen<br />

<strong>und</strong> revolutionär-poetischen Leistungen, schlug die<br />

Gedächtnisrede von Ramus augenscheinlich ein <strong>und</strong><br />

steht zu hoffen, daß die Begeisterung der Genossen<br />

eine andauernde sein wird. Wenn wir dabei noch<br />

konstatieren, daß mit ungebeugter Energie stets <strong>und</strong><br />

überall große Partien unserer Literatur abgesetzt<br />

werden, haben wir wohl allen Gr<strong>und</strong>, mit unserer<br />

Arbeit zufrieden zu sein. Kameraden, mit frischer<br />

Kraft ans Werk der Propaganda <strong>und</strong> Agitation!<br />

In einer für unsere österreichischen Verhältnisse<br />

unvergleichlich hohen Auflage ist unsere letzte<br />

Märznummer erschienen. In allen wahrhaft revolutionären<br />

Kreisen fand sie reißenden Absatz, w a s<br />

es auch zur Genüge erklärlich macht, daß die bekannte<br />

Anstalt für die Unterdrückung des freien<br />

Wortes <strong>und</strong> Gedankens, die hochwohlgeborne<br />

Zensur, sie fast vollständig berotstiftete, d a s heißt<br />

k o n f i s z i e r t e !<br />

Graz. Wenn der Parlamentarismus auch nur<br />

die geringste Einflußsphäre des Proletariats erobern<br />

könnte, dann sollte es doch gerade jetzt der Fall<br />

sein, wo wir über 80 Sozialdemokraten im Reichsrat<br />

sitzen haben. Die ökonomischen Kämpfe des<br />

Proletariats müßten erleichtert werden. Wer aber<br />

ein Bild der absoluten Unfähigkeit, Wertlosigkeit<br />

der offiziellen parlamentarischen Taktik <strong>und</strong> der<br />

in ihrem Gefolge befindlichen taktischen Verknöcherung<br />

der Arbeiterklasse haben will — der<br />

begebe sich nur nach Graz. Fast zwei Monate lang<br />

hielt das Fahrrad-Fabriksunternehmen „Styria" über<br />

800 Arbeiter ausgesperrt, <strong>und</strong> nur, weil diese einen<br />

neuen Vertrag, der ihre Lage wesentlich vers<br />

c h l e c h t e r t e , nicht rasch genug akzeptierten.<br />

Die Tollheit des Unternehmerübermutes griff zum<br />

beliebtesten Mittel gegenüber einer nicht wehrtüchtigen<br />

Arbeiterklasse: zum Hinauswurf. Und in<br />

der Tat — wochenlang ließen sich die Arbeiter<br />

dies ganz ruhig gefallen, bezogen ihre Streikunterstützungen,<br />

bis eben die Situation denn doch zu<br />

ungemütlich wurde, indem diese Aktionslosigkeit<br />

zur Folge hatte, daß die Firma fortlaufend neue<br />

Streikbrecher hinzuziehen konnte. W a s t u n ? Und<br />

als die Arbeiter von dem für sie unerläßlichen<br />

Existenzrecht, Streikbrecher eines Besseren zu belehren,<br />

Gebrauch machten, da wandte sich der<br />

Leiter des Kapitalsunternehmens, ein gewisser<br />

R u m p f , a n die m i l i t ä r i s c h e M a c h t d e s<br />

S t a a t e s , der sie ihm denn auch bereitwilligst<br />

zur Verfügung stellte. W a s dies bedeutet, wird man<br />

begreifen, sobald wir erfahren, daß einige Regimenter<br />

herbeikonsigniert, jedem einzelnen Soldaten<br />

125 Patronen eingehändigt wurden <strong>und</strong> die Weisung<br />

erteilt ward, sobald als der Befehl erging, i n s<br />

V o l k z u s c h i e ß e n , n i e m a n d e n z u<br />

s c h o n e n . S o b e f a h l e s d e r H e r r H a u p t ­<br />

m a n n ; G e r s i n i c h h e i ß t d i e s e r h e l d e n ­<br />

m ü t i g e V e r t e i d i g e r d e s k a p i t a l i s t i ­<br />

s c h e n V a t e r l a n d e s . Daß diesem Befehle<br />

nicht Folge geleistet zu werden brauchte — wir<br />

fragen: würden sich die Soldaten wirklich einer<br />

solchen Untat schuldig gemacht h a b e n ? ! — ist<br />

wahrlich nicht das Verdienst des würdigen Hauptmannes.<br />

Dafür leistete nun der Staat in Form seiner<br />

Justiz erwünschten Ersatz. Ein Richter, der sieh laut<br />

seinen eigenen Aussprüchen in unzweideutigster<br />

Weise auf Seite des Unternehmertums stellte, verhängte<br />

über Dutzende von Verhafteten Insgesamt<br />

jahrelanges Gefängnis, Arrest, Kerker etc.<br />

Das ist so ein hübsches Schulbeispiel für die<br />

Arbeiter, um recht gründlich über die Aufgaben des<br />

Militarismus <strong>und</strong> das Wesen des Staates nachzudenken!<br />

Was aber wird mit den ausgesperrten Arbeitern<br />

geschehen? Zur St<strong>und</strong>e stehen sie, so viel<br />

wir wissen, noch immer draußen, <strong>und</strong> wir sind ehrlich<br />

genug zu konstatieren, daß mit den Mitteln<br />

ihrer sozialdemokratischen Verbändlertaktik der<br />

Streik verloren ist oder verloren gehen mußte.<br />

Denn so lange als sich die Solidarität des P r o ­<br />

letariats nicht im werktätigen Mitkämpfen mit den<br />

streikenden Brüdern ausdrückt, muß jede größere<br />

oder kleinere Aktion des Proletariats verloren gehen.<br />

Wenn die Grazer Arbeiter wirklich sich solidarisch<br />

verb<strong>und</strong>en mit den Streikenden fühlen, dann müssen<br />

sie in einen Solidaritätsstreik für dieselben treten<br />

<strong>und</strong> dabei eigene Forderungen aufstellen. Dies gäbe<br />

dem Unternehmerpack eine solche heilsame Lehre,<br />

"daß nicht nur die streikenden Fahrradarbeiter gewinnen<br />

würden, sondern es auch endgiltig vorbei<br />

wäre mit den sich immer zahlreicher häufenden<br />

Aussperrungen. Allerdings wer den Generals<br />

t r e i k n i c h t will, muß die G e n e r a l a u s s p e r r u n g<br />

resigniert ertragen!<br />

Böhmen.<br />

Vor mehreren Wochen brach ein großer Streik<br />

der Textilarbeiter in den Fabriken der Herren<br />

P i c k <strong>und</strong> S c h i c k i n O b e r l e u t e n s d o r f<br />

bei B r ü x aus, <strong>und</strong> dauert noch immer an. Plötzlich<br />

ereignete sich ein seltsamer Unglücksfall. In<br />

der Fabrik entstand ein Feuer, das große Massen<br />

von Rohmaterial vernichtete, Riemen der Maschinenleitung,<br />

die mit ätzender Säure beschmiert sind,<br />

zerrissen <strong>und</strong> die Beleuchtungsapparate versagten.<br />

Dadurch wurden zahlreiche — diesmal sozialdemokratische!<br />

— Streikbrecher in ihrer „Arbeit"<br />

behindert. Der Fabrikant Pick schrieb eine Prämie<br />

von 500 Kronen für Denjenigen aus, der den Missetäter<br />

angeben würde. Auch wurde schon ein G e ­<br />

nosse verhaftet, obwohl nicht der Schatten eines<br />

Verdachtsbeweises gegen ihn vorliegt. Doch Herr<br />

Pick täuscht sich, wenn er solche Minen springen<br />

lassen wird. Der Streik wird nicht eher beendet<br />

sein, bis alle ihres „aufrührerischen" Wesens wegen<br />

Entlassenen (18 an der Zahl) wieder aufgenommen<br />

<strong>und</strong> alle bei dieser Gelegenheit gestellten Lohn-<br />

Forderungen erfüllt werden.<br />

<strong>Unser</strong>e tschechische Bruderorganisation, die<br />

Allgem. böhm. Föderation, stand seit Anfang des<br />

Streiks den noch zumeist jugendlichen Streikenden<br />

— von denen weit über h<strong>und</strong>ert der Föderation<br />

beigetreten sind — mit ausgiebigem Rat <strong>und</strong> mit<br />

Tat bei. Wir werden nicht verfehlen, über den<br />

Ausgang dieses mit so großem Kampfesmute geführten<br />

Streiks zu berichten.<br />

Am 23. Februar d. J. stab der hervorragender<br />

tschechische Dichter S v a t o p l u c h Č e c t i i m<br />

62. Lebensjahre. — Das tschechische Proletariat<br />

ehrt den Entschlafenen als großen Verkünder der<br />

sozialen Revolution <strong>und</strong> als Sänger der „Lieder<br />

eines Sklaven". Cech, der schon zu Lebzeiten der<br />

populärste Dichter unserer Nation war, lebte a b ­<br />

seits vom öffentlichen Leben; ein Abgeordnetenmandat,<br />

das ihm angeboten wurde, wies er ab,<br />

sowie alle anderen Ehrungen. In vielen seinen<br />

Dichtungen befaßte er sich mit dem Problem der<br />

sozialen Revolution, die ihn seine dichterische<br />

Phantasie intuitiv vorausfühlen ließ. In den allegorischen<br />

Dichtungen: „Lieder eines Sklaven",<br />

„Europa", „Slavie", löste er dieses Problem unter<br />

dem Eindrucke der Pariser Kommune; er baute in<br />

seinen Hoffnungen auf das junge Rußland, von dem<br />

er erwartete, daß es Westeuropa die Revolution<br />

bringen würde. In seinen historischen Epen versuchte<br />

er es das Problem seiner unterdrückten<br />

Nation mit dem Sozialen zu vereinigen <strong>und</strong> dieses<br />

gemeinschaftlich zu lösen. - (Demnächst bringen<br />

wir in der literarischen Beilage „Ohne Herrschaft"<br />

einige Auszüge aus den „Sklaven-Liedern". Anm.<br />

d. Red.) O. F.<br />

G e r s d o r f bei G r o t t a u . Am Sonntag den<br />

15. März wurde im Gasthause des Herrn Volkert<br />

in Gersdorf eine „Allgemeine Gewerkschaftsföderation"<br />

gegründet. Zwei Kameraden referierten über<br />

wirtschaftliche <strong>und</strong> populär-wissenschaftliche Themata.<br />

Die Vorträge wurden mit großem Beifall aufgenommen.<br />

Es wurde beschlossen, einen Monatsbeitrag<br />

von 60 Hellern pro Mitglied zu leisten.<br />

Jeden zweiten Sonntag im Monat, nachmittags halb<br />

3 Uhr, wird von nun an die Vereinsversammlung<br />

abgehalten werden. Als offiziell zu verbreitende<br />

Zeitschrift wurde einstimmig der „Wohlstand für<br />

Alle" angenommen. Wir ersuchen unsere Bruderorganisationen,<br />

die der Föderation angehören, uns<br />

ihre Adressen zukommen zu lassen. Zugereiste<br />

Mitglieder, Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Kameraden werden ersucht,<br />

sich sofort mit uns in Verbindung zu setzen.<br />

Die sozialdemokratischen, hochgeborenen Kritikaster<br />

verspotten uns als „Gelbe Gewerkschaft". Es ist


eine empörende Lüge, doch - wir beneiden dieselben<br />

nicht um ihr „Schwarz-Gelb".<br />

Anton Duchek, Korrespondent-Sekretär<br />

der „Allgemeinen Gewerkschaftsföderation",<br />

Grottau, Zittauerstr. 15, Böhmen.<br />

N a c h s c h r i f t d e r R e d a k t i o n . Wir<br />

beglückwünschen die obigen Kameraden zu ihrem<br />

energischen, konsequenten Schritte <strong>und</strong> hoffen, da3<br />

sie mit Ausdauer <strong>und</strong> unbeugsamer Festigkeit an<br />

ihrem einmal gefaßten Plan festhalten werden : Aufbau<br />

einer ges<strong>und</strong>en, politisch absolut neutralen<br />

Gewerkschaft mit sozialistisch-revolutionären Tendenzen<br />

<strong>und</strong> Front gegen das arrogante Bonzen<strong>und</strong><br />

Bürokratentum der Sozialdemokratie allüberall.<br />

Eine uns von dem Genossen Duchek über letzteres<br />

gesandte Darstellung des schändlichen, für jede<br />

Gewerkschaftsbewegung direkt ruinösen Vorgehens<br />

dieser Obmänner (lies eigentlich: U n t e r m ä n n e r ! )<br />

bringen wir in unserer nächsten Nummer. Mögen<br />

sich die Kameraden aller Städte <strong>und</strong> Ortschaften<br />

ein Muster nehmen an den Kameraden von Gersdorf<br />

<strong>und</strong> Grottau! Vorwärts, an die Arbeit der Organisation!<br />

Republik Chile.<br />

Die südamerikanischen Republiken mit Argentinien<br />

an der Spitze boten schon so oft ein<br />

Schauspiel demokratischer Willkürherrschaft, daß<br />

die Verfechter des autoritären republikanischen<br />

Prinzips nicht warnend genug darauf hingewiesen<br />

werden können; doch bieten die Nachrichten, die<br />

jetzt aus der Republik Chile einlaufen, eine so<br />

bestialische Schändung elementaren Menschenrechts,<br />

eine so neronische Verhöhnung des Menschheitsfortschrittes,<br />

daß man sich wahrlich in die wildesten<br />

Zeiten tiefster Barbarei zurück versetzt glaubt,<br />

einer Barbarei, die mit den modernsten Errungenschaften<br />

der Mordwissenschaft ausgerüstet ist . . .<br />

Mit lakonischer Kürze berichtete der Telegraph<br />

schon vor geraumer Zeit über ein unerhört<br />

gräßliches Blutbad in den Salpeterwerken von Chile.<br />

Den Vorwand hierzu gab der Streik der Salpeterarbeiter,<br />

die unfer anderen Forderungen eine<br />

Erhöhung des Lohnes, Verkürzung der Arbeitszeit<br />

<strong>und</strong> Hergabe von Lokalen zur Einrichtung von<br />

Abendschulen verlangt <strong>und</strong> auf Widerstand bei den<br />

Unternehmern stoßend, die Arbeit eingestellt hatten.<br />

Nach Erklärung des Streiks zogen sich die Arbeiter,<br />

die in den salpeterhaltigen Pampas weit von einander<br />

zerstreut sind, in der Stadt I q u i q u e zur<br />

Beratung zusammen. Friedlich zogen sie in die<br />

Stadt ein, doch genügte schon ihre bloße Anwesenheit,<br />

den Bourgeois <strong>und</strong> den Behörden panischen<br />

Schrecken einzujagen. Letztere bewilligten ihnen zu<br />

Versammlungszwecken ein geräumiges Lokal am<br />

Platze Santa Maria. In wenigen Tagen hatte Iquique<br />

schon über 12.000 Salpeterarbeiter zu beherbergen,<br />

da alle Tage neue Karawanen zuzogen, die die<br />

Zahl der Streikenden vermehrten. Am 20. Dezember<br />

kam das Gerücht in Umlauf, daß in Buenaventura<br />

das Militär auf die Streikenden geschossen, wobei<br />

es 9 Tote <strong>und</strong> 18 Verw<strong>und</strong>ete gegeben habe. Diese<br />

Nachricht, verb<strong>und</strong>en mit der hochmütigen Haltung<br />

der Unternehmer, die sich zu nichts verständigen<br />

wollten, genügte, um die Gemüter auf das Höchste<br />

zu erregen.<br />

So kam der Tag der Schlächterei von<br />

Iquique heran.<br />

Die Arbeiter versammelten sich wie gewöhnlich<br />

im Schullokal von Santa Maria, ermahnten einander<br />

zum Ausharren im Streik <strong>und</strong> protestierten<br />

gegen die Metzelei in Buenaventura. Während nun<br />

im Innern des Gebäudes die Versammlung vor sich<br />

ging, stellten sich auf dem Platze 1500 Soldaten<br />

m i t z w e i M i t r a i l l e u s e n auf, <strong>und</strong> der General Silva<br />

Renard richtete an seine Truppen eine militärischpatriotische<br />

Ansprache, sie zur Erfüllung der Soldatenpflicht<br />

mahnend. Darauf näherte sich der<br />

General mit seinem Offiziersstabe dem Schulgebäude<br />

<strong>und</strong> forderte die Streikenden auf, das<br />

Lokal sofort zu verlassen. Als er einen negativen<br />

Bescheid erhielt, kommandierte er den Mitgliedern<br />

des Streikkomitees: „Falls nicht sofortige Räumung<br />

erfolgt, lasse ich schießen!" Da das Komitee die<br />

Drohung nicht ernst aufnahm, ließ der General ein<br />

Pikett Marinesoldaten <strong>und</strong> ein Pikett vom Regiment<br />

O. Higgins vorrücken <strong>und</strong> aus nächster Nähe in die<br />

Versammlung hineinschießen. Die Streikenden<br />

retteten sich nur in wilder Flucht durch Fenster<br />

<strong>und</strong> Türen <strong>und</strong> fanden sich auf dem Schulplatze<br />

vor der aufgebotenen Truppenmacht. Es heißt, daß<br />

die Streikenden das Feuer erwidert, den General<br />

<strong>und</strong> sein Pferd verw<strong>und</strong>et <strong>und</strong> mehrere Soldaten<br />

außer Gefecht gesetzt hätten. Der General ließ nun<br />

in seiner Berserkerwut die Mitrailleusen auf das<br />

Schulgebäude richten <strong>und</strong> das durch Kartätschenfeuer<br />

zerstörte Lokal durch die Truppen stürmen,<br />

die den dort befindlichen verw<strong>und</strong>eten <strong>und</strong> sterbenden<br />

Kameraden im Proletarierwams noch den<br />

Todesstoß gaben.<br />

Die offizielle K<strong>und</strong>gabe dieser Schlächterei<br />

schließt der General mit den Worten:<br />

„Der Unterzeichnete beklagt dies schmerzliche<br />

Ereignis, doch sind dessen einzige Schuldige<br />

die Agitatoren, die, nach Herrschaft <strong>und</strong><br />

Popularität strebend, das Volk in schwierige, der<br />

sozialen Ordnung widersprechende Situationen<br />

bringen, welchen die öffentliche Macht im Namen<br />

des Gesetzes entgegentreten muß".<br />

Denselben Abend wurden die Mitglieder des<br />

Streikkomitees standrechtlich erschossen. Es sind<br />

dies: der Präsident J o s e B r i g g , der Vizepräsident<br />

M a n u e l A l t a m i r a n o , der Kassier J . S a n t o s<br />

M o r a l e s , der Schriftführer N i c a n o v R o d r i -<br />

g u e z , die Delegierten: J . S a n t o s P a z , J g n a c i o<br />

M o n a r d e s , P e d r o S o t o m a y o r , J u a n O s o -<br />

r i o , J u a n O r d o n e z , F r a n c i s c o S ä n c h e z ,<br />

L u i s M u n o z , J . M . C a c e r e s , V i c t o r F .<br />

C e r p a , S a m u e l T o r o , M a n u e l G o n z a l e z<br />

<strong>und</strong> L u i s C ó r d o v a .<br />

Eine Anzahl Soldaten, die sich geweigert<br />

harte, auf die Versammlung zu schießen, ließ<br />

der General sofort über die Klinge springen. Dieser<br />

eine Tag brachte über 200 Tote <strong>und</strong> zwischen 500<br />

<strong>und</strong> 600 Verw<strong>und</strong>ete. Den nächsten Tag ging das<br />

Militär von neuem gegen die Streikenden vor, w o -<br />

bei es zahlreiche Verluste auf beiden Seiten g a b ;<br />

die Streikenden wurden gezwungen, in die Pampas<br />

zu fliehen <strong>und</strong> setzten in ihrer Ohnmacht die<br />

Salinengebäude „Alianza", „Esmeralda" <strong>und</strong> andere<br />

im Süden der Pampas gelegene Bauten der Unternehmer<br />

in Brand. Es gab gleichfalls erbitterte<br />

Kämpfe in den Ortschaften Negreiros <strong>und</strong> Zapiga,<br />

doch sind die Verluste noch nicht bekannt. Gegenüber<br />

dieser neuen Infamie der republikanischen Demokratie<br />

<strong>und</strong> des Kapitalismus kann nicht laut genug<br />

in alle Welt hineingerufen werden:<br />

S c h m a c h d e n S c h l ä c h t e r n !<br />

F l u c h d e n A u s b e u t e r n !<br />

W e h e d e n W e h r l o s e n !<br />

Spanien.<br />

Die s p a n i s c h e Inquisition.<br />

Aus der zweiten Nummer des „Internationalen<br />

anarchistischen Bulletin" entnehmen wir, dem<br />

Wunsche der Redaktion zufolge, nachstehenden<br />

Schmerzensruf unserer spanischen Genossen, den<br />

wir im Auszug folgen lassen:<br />

„An d i e K a m e r a d e n d e r g a n z e n<br />

W e l t ! Die tyrannische <strong>und</strong> inquisitorische Regierung<br />

von Spanien nimmt, gleich einem blutdürstigen<br />

Tiger, mit aller Macht ihrer Grausamkeit<br />

die tragischen Ereignisse von M o n t j u i c h ,<br />

X e r e x , S e v i l l a , C o r u n a , A l k a l a d e l<br />

Valle wieder auf . . . In ihrem Blutdurst, den<br />

Freiheitsgeist <strong>und</strong> die Brüderlichkeit des spanischen<br />

Proletariats zu vernichten, schreckt sie vor<br />

nichts zurück, um ihr schändliches <strong>Ziel</strong> zu erreichen,<br />

in dessen Verfolgung.<br />

Seit den letzten Reaktionsjahren in B a r -<br />

c e l o n a ist es gang <strong>und</strong> gäbe geworden, eine<br />

unzählige Anzahl Bomben „zu entdecken", die<br />

oftmals aufs Geradewohl geworfen wurden, ohne<br />

Gemeinschaftssinn, ohne logisches Ideal, mit dem<br />

einzigen Zweck, Angst <strong>und</strong> Schrecken in den<br />

einzelnen Städten zu verbreiten <strong>und</strong> um den<br />

Haß gegen diejenigen zu provozieren, die für die<br />

Freiheit kämpfen, die Gerechtigkeit <strong>und</strong> den allgemeinen<br />

Wohlstand. Ja, Kameraden, diese<br />

Bomben hatten kein anderes <strong>Ziel</strong>, als das edle<br />

menschliche Emanzipationsideal, für das wir<br />

streiten, zu vernichten.<br />

Und indem sie nun den Vorwand gef<strong>und</strong>en<br />

— an den Haaren herbeigezogen — hatten, war<br />

es ihnen ein Leichtes, alle konstitutionellen Staatsgarantien,<br />

die dem Treiben der Polizei eine<br />

Grenze steckten, aufzuheben. Die Willkür der<br />

Polizei schaltete nun ungehemmt, man brach in<br />

unsere Wohnungen ein, las alle unsere Privatbriefe,<br />

stöberte in unserem Privateigentum herum,<br />

vieles mittragend, entriß uns den Armen unserer<br />

Familien <strong>und</strong> warf uns in die Gefängnisse. Dort<br />

werden wir nun schon viele Tage gehalten, gepeinigt<br />

von Ungeziefer, auf der Erde schlafend,<br />

eine Nahrung erhaltend, die ekelerregend <strong>und</strong><br />

auch ungenügend ist, um uns vor dem quälenden<br />

Hunger zu retten; dazu kommt noch eine bittere<br />

Kälte, wie auch die ewigen, unablässigen Ärgernisse,<br />

die uns die grausamen Sbirren des heutigen<br />

Systemes bereiten. Ohne uns auch nur das G e -<br />

ringste zu sagen, was mit uns geschehen würde,<br />

brachte man uns ins Gefängnis.<br />

Gibt es irgend welche Anzeichen, die das<br />

gegen uns eingeschlagene Verfahren irgendwie<br />

rechtfertigen können? Keinerlei. Man legt uns<br />

das Werfen oder gewollte Werfen von Bomben<br />

zur Last <strong>und</strong> verhaftete uns auch unter dieser<br />

„Anklage". Aber trotz all ihrer Untersuchungen,<br />

die die Regierungsbeamten zu machen v o r -<br />

g e b e n , , konnten sie keinerlei Beweise gegen<br />

uns aufbringen, was sie aber nicht davon abhält,<br />

uns n i c h t in Freiheit zu versetzen. Tatsache ist<br />

z. B., daß der für den Bombenprozeß ernannte<br />

Untersuchungsrichter sich mit unserer Angelegenheit<br />

nicht beschäftigt; wir bleiben dem Gutdünken<br />

des Gouverneurs Don A n g e l O s s o r i o y<br />

G a l l a r d o überlassen. Daß die herrschende<br />

Reaktion es ist, die selbst die Bomben gelegt<br />

<strong>und</strong> geworfen hatte, um einen scheinbaren Rechtsgr<strong>und</strong>satz<br />

für das Vorgehen gegen unsere G e -<br />

nossen zu besitzen, geht auch aus dem Umstand<br />

hervor, daß ein gewisser M a r g a r i d a in der<br />

Madrider <strong>und</strong> Barcelonaer Presse ganz frank <strong>und</strong><br />

frei erzählte, ja es sogar vor einigen Mitgliedern<br />

des höchsten Gerichtshofes persönlich erklärte,<br />

daß die Bombe, die in Barcelona in der Fernandostraße<br />

im Jahre 1904 platzte, von ihm in einem<br />

Palast Barcelonas aufbewahrt wurde — doch<br />

niemand hat ihn deshalb beunruhigt, im Gegenteil,<br />

sogar einer seiner Vettern ist in Diensten<br />

der Polizei. Es ist auch bekannt, daß J u a n<br />

R u l l , der sich jetzt zusammen mit anderen im<br />

Gefängnis befindet <strong>und</strong> unter Anklage steht,<br />

Bombenexplosionen verursacht zu haben, zur<br />

Zeit dieser Explosionen Polizeispitzel <strong>und</strong> dem<br />

Gouverneur direkt untergeordnet war. Die Staatsanwaltschaft<br />

hält jetzt den Rull in fünf Fällen der<br />

Todesstrafe schuldig <strong>und</strong> verlangt für seine Mithelfer<br />

Gefängnisstrafen von 10 zu 15 Jahren. Diese<br />

Subjekte unterhielten mehr oder weniger intime<br />

Bekanntschaften in bourgeoisen Kreisen <strong>und</strong><br />

droht Rull mit kompromittierenden Enthüllungen,<br />

falls man ihm zu scharf zusetze.<br />

T r o t z d e m n u n d i e ö f f e n t l i c h e<br />

M e i n u n g v o n u n s e r e r U n s c h u l d ü b e r -<br />

z e u g t i s t u n d d i e B o m b e n f ü r e i n<br />

W e r k d e r R e a k t i o n h ä l t , d i e s i c h<br />

d u r c h s o l c h e M i t t e l u n s e r e r e n t l e d i -<br />

g e n w i l l , b l e i b e n w i r d o c h i m G e -<br />

f ä n g n i s , j e d e r G e r e c h t i g k e i t , j a<br />

s e l b s t j e d e m G e s e t z z u m T r o t z ! *<br />

Der zu so trauriger Berühmtheit gelangte<br />

Minister Maurä hat dem Parlament einen Gesetzentwurf<br />

unterbreitet, der der Regierung das Recht<br />

zugestehen soll, solche Personen aus Spanien zu<br />

verbannen, welche dem jetzigen Regime widersprechende<br />

Ideen hegen. Falls solche Personen<br />

auf spanisches Territorium zurückkehren, sollen<br />

sie auf drei Jahre deportiert werden. Es soll also<br />

das Verbleiben im Lande für alle diejenigen unmöglich<br />

gemacht werden, die nicht Monarchisten<br />

<strong>und</strong> Katholiken sind.<br />

Wir stehen vor einem Riesenkampf. Wie<br />

ein H<strong>und</strong> den Befehlen seines Herrn parierend,<br />

spielt sich der Gouverneur von Barcelona zu<br />

einem Torquemada gegen die Arbeiter im allgemeinen<br />

<strong>und</strong> gegen uns im besonderen auf. Sobald<br />

einer von uns eine kranke Mutter hat oder eine<br />

Genossin, die der Niederkunft entgegensieht, oder<br />

eine Familie besitzt, in der die Not eingekehrt<br />

ist, so wird er sofort verhaftet, denn auf diese<br />

Weise glaubt man, ihn mürbe machen zu können.<br />

Die Angst um die Seinen, die dem Hunger preisgegeben<br />

sind, die Anhänglichkeit an seine Familie<br />

sollen ihn zwingen, seinem Willen <strong>und</strong> seinen<br />

Ideen zu entsagen.<br />

Doch wenn man uns in Spanien knebelt,<br />

damit die Welt nicht erfahre, welche Martern die<br />

blutrünstige Regierung uns erdulden läßt, so<br />

findet die Stimme der Bedrückten doch ihren<br />

<strong>Weg</strong> über die Landesgrenze <strong>und</strong> ruft tausendfachen<br />

Fluch gegen das U n g e h e u e r M a u r a<br />

<strong>und</strong> seinen würdigen S a t e l l i t e n O s s o r i o<br />

y G a l l a r d o .<br />

Kameraden! Das einzige Mittel, das Maura<br />

<strong>und</strong> seinen Henkern in ihrem entsetzlichen<br />

Treiben Einhalt gebieten könnte — die öffentliche<br />

Bekanntmachung ihrer Schurkereien — ist uns genommen.<br />

Doch was w i r n i c h t machen können,<br />

d a s b i t t e n w i r E u c h z u u n t e r n e h m e n ,<br />

u m u n s v o r T o d u n d V e r n i c h t u n g z u<br />

b e w a h r e n ! "<br />

Gefängnis von Barcelona, 10. Jänner 1908.<br />

N a c h s c h r i f t d e r R e d a k t i o n . Dieser<br />

Brief, der auf Umwegen an das „Intern. Bulletin"<br />

gelangte, enthält auch die Namensunterzeichnungen,<br />

die aber aus leicht begreiflichen Gründen noch nicht<br />

veröffentlicht werden können.<br />

Allgemeine Gewerkschafts-Föderation.<br />

S o n n t a g d e n 12. April 1908, pünktlich 7 Uhr a b e n d s<br />

Halbjährliche Generalyersammlung<br />

mit Vortrag (böhmisch <strong>und</strong> deutsch)<br />

im V e r e i n s l o k a l , V. Bez., E i n s i e d l e r g a s s e 60.<br />

Quittungen<br />

v o m 26. Jänner bis 1. März.<br />

Col. M. K 2 - - , K. Klag. K 3 - , P. Off. K 3 - ,<br />

Pod. K 5-04, P. R. K 6-20, K. Egg. K 5.60, N. Münch.<br />

K - . 9 4 , Kalv. Ob. Georg K 480, B. Buda. K 120,<br />

Sch. Mariasch. K 332, L. Zürich K 5 - - , Sehr.<br />

Hamb. K. 2 40, M. Marb. K 2-60, B. Skal. K 1-40,<br />

San. Innsbr. K 5 — , Grabenw. Andr. K 2-40, Van.<br />

Wien K 6 - , Miksch. H. K 4 - - , Br. Stürb. K 2 - ,<br />

Krp. Brod K 125, N. Münch. K 2-—. Jan. Machend<br />

K 4 — , Sor. Judenb. K 120, Schi. Berlin K 175.<br />

Cernoäak K P40, Friedb. Asc. K 2856, A.<br />

Gew. Fed. K 2 0 - , Schw. K 164, Rosenf. K 10-- ,<br />

Fisch. K 6 - , Schi. K 10 - X. Bez. K 2 - - .<br />

M. Klost. K 240, Nesch. Br. K 5 - , Ru. Wey.<br />

K 3-20, Lu. Chot. K 2-40, PI. Milwaukee K 980,<br />

A. Zur. K P75, Kubesch K 1 - , Loevius (N. Y.)<br />

K 1235, Eh. Wien K 150, Lik. 2 - - . Wojt. K —.60,<br />

Lik. K 2 . - , Haj. K 1 ' - , Lechk. K 1 . - , Resn. K 4-50,<br />

Kub. K 2-40, Lik. K 8 - , Vel. K 5—, Pek. K 1 - ,<br />

Hör. K 1 - , Nav. K 1—, Haj K 1—, Vojt. K 1 - ,<br />

Eh. K 1 - , Lechtz. K Ir. K 1 - , Korm. K<br />

Kuba. K 1-— Kube. K - . 2 0 , Einz. K - - 8 0 , Läse.<br />

K - . 6 0 .<br />

Res. K 1-60, Res. K 350, Wag. K - . 5 5 , Redout.<br />

K —'90, Vel. K 10-95, Lik. K 5 - , Navr. K 2 - ,<br />

Resn. K 1-52, Resn. K 2 03, Tarn. K V—, Ra. K - - 9 0 ,<br />

Vel. K 1 60, Lakn. K — 78, Mül. I. K 120, Petsch<br />

Zur. K 2 — , H. Bodenb. K 1—, Ra. K - 60, Rosenbl.<br />

K 1— Gabr. K 1 3 - , Tuma Lond. K 5-—,<br />

Botthande K 8-50, Lind. Kadi. K 1-20, Kasp. Leipz.<br />

K 4-60, C. Schönpr. K 2-30.<br />

* Der Tagespresse zufolge hat der Prozeß wider unsere<br />

Genossen bereits vor über einer Woche begonnen; über das<br />

Urteil verlautbart noch nichts. Anm. d. Red.)


— 17 —<br />

die Wasserregulierung, den Forstsclnitz usw.; sie<br />

gründet Waisenhäuser <strong>und</strong> Spitäler <strong>und</strong> gibt sich gern<br />

den Anschein, daß sie die Beschützerin <strong>und</strong> W o h l -<br />

täterin der Armen <strong>und</strong> Schwachen ist. W e n n wir es<br />

aber g e n a u e r betrachten, wie <strong>und</strong> w a r u m sie diese<br />

Aufgaben erledigt, so beweisen die Tatsachen, daß<br />

alles was die Regierung tut, nur darum <strong>und</strong> d e s w e g e n<br />

getan wird, um zu herrschen, um die Vorrechte -<br />

ihre eigenen <strong>und</strong> diejenigen der Klasse, die sie vertritt<br />

<strong>und</strong> verteidigt — aufrecht zu erhalten, zu vermehren<br />

<strong>und</strong> zu verewigen.<br />

Keine Regierung kann lange bestehen, o h n e ihre<br />

wahre Natur unter dem Vorwand der allgemeinen<br />

Nützlichkeit zu verstecken; sie kann nicht das Leben<br />

der Bevorzugten beschützen, o h n e daß sie sich den<br />

Anschein gibt, das Leben Aller beschützen zu wollen;<br />

sie kann nicht den Vorrechten Einzelner G e l t u n g<br />

verschaffen, o h n e Miene zu machen, das Recht von<br />

allen Menschen aufrecht zu erhalten. »Das Gesetz«<br />

sagt Kropotkin — das heißt diejenigen, welche die<br />

Gesetze machen, nämlich die Regierung — »das G e -<br />

setz hat von den gesellschaftlichen Gefühlen des<br />

Menschen Gebrauch gemacht, um mit den allgemein<br />

anerkannten moralischen Vorschriften eine Gesellschaftsordnung<br />

durchzusetzen, welche der kleineu<br />

Anzahl von Ausbeutern nützlich ist, g e g e n welche<br />

die Menschheit sich sonst empört hätte.«<br />

Eine Regierung kann nicht wollen, daß die G e -<br />

sellschaft sich auflöst, denn dann w ü r d e n ja sie <strong>und</strong><br />

die herrschende Klasse keine Menschen mehr finden,<br />

die sie ausbeuten können. Sie kann auch nicht zu-<br />

. A N A R C H I E , von Etiriko Malatesta. 3


— 18 —<br />

g e b e n , daß die Gesellschaft sich selbst regiert, o h n e<br />

offizielle Eingriffe, denn dann w ü r d e das Volk sehr<br />

bald merken, daß die Regierung zu gar nichts nötig<br />

ist — a u ß e r dazu, um die Besitzenden, die das Volk<br />

aushungern, zu beschützen — u n d es w ü r d e anfangen,<br />

sich von der Regierung <strong>und</strong> den Besitzenden zu<br />

befreien.<br />

Heutzutage, wo die F o r d e r u n g e n des Proletariats<br />

immer d r i n g e n d e r <strong>und</strong> d r o h e n d e r werden, zeigen die<br />

Regierungen die Absicht, sich in das Verhältnis zwischen<br />

Arbeitgebern <strong>und</strong> Arbeitern zu mischen. Sie versuchen<br />

auf diese Art, die A r b e i t e r b e w e g u n g auf falsche Bahnen<br />

zu lenken, u n d durch einige irreführende, Reformen<br />

zu verhüten, daß die A r m e n sich selbst alles dies erkämpfen,<br />

w a s sie nötig haben, nämlich ebensoviel<br />

Wohlstand als die anderen Menschen genießen.<br />

A u ß e r d e m m u ß man in Betracht ziehen, daß die<br />

Bourgeoisie, also die Besitzenden, selber immerfort<br />

daran sind, einander gegenseitig zu bekämpfen <strong>und</strong><br />

zu vernichten; <strong>und</strong> daß anderenteils die m o d e r n e<br />

Regierung, obgleich sie der Sprößling, der Sklave<br />

<strong>und</strong> der Beschützer der Bourgeoisie ist, sich doch<br />

immer, wie jeder Sklave, zu befreien sucht <strong>und</strong>, wie<br />

jeder Beschützer, darnach strebt, ihren Schützling zu<br />

beherrschen. D a h e r dieses Hin- <strong>und</strong> Herschwanken,<br />

diese Winkelzüge, dieses G e w ä h r e n <strong>und</strong> Z u r ü c k n e h m e n<br />

von Vergünstigungen, dieses Suchen nach Verbündeten<br />

im Volke g e g e n die Konservativen, dieses ganze Spiel,<br />

das die Wissenschaft der Regierenden ausmacht <strong>und</strong><br />

welches den Leichtgläubigen <strong>und</strong> Faulen, die ihr W o h l<br />

immer von O b e n erwarten, Sand in die Augen streut.


— 19 -<br />

Mit all d e m ändert die Regierung ihre Natur<br />

nicht. W e n n sie die Regelung <strong>und</strong> Aufrechterhaltung<br />

der Rechte u n d Pflichten eines J e d e n übernimmt, so<br />

verdreht sie das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen.<br />

Jede Tat, welche die Vorrechte der Regierenden <strong>und</strong><br />

Besitzenden verletzt oder gefährdet, bezeichnet sie als<br />

»Verbrechen« <strong>und</strong> bestraft dieselbe; die u n b a r m h e r -<br />

zigste A u s b e u t u n g der Elenden, das fortwährende langsame,<br />

seelische <strong>und</strong> körperliche H i n m o r d e n der Besitzlosen<br />

durch die Besitzenden erklärt sie für »gerecht«<br />

<strong>und</strong> »gesetzlich«.<br />

W e n n sie die Leitung der öffentlichen Dienstleistungen<br />

in die Hand nimmt — also eine Art Staatssozialismus<br />

— so hat sie wiederum nur die Interessen<br />

der Regierenden u n d Besitzenden im A u g e . Sie kümmert<br />

sich nur soweit um die Interessen des arbeitenden<br />

Volkes, soweit es n o t w e n d i g ist, damit das Volk willig<br />

seine Steuern zahlt. W e n n sie Schulen g r ü n d e t <strong>und</strong><br />

erhält, so tut sie dies auch nur darum, um die Verbreitung<br />

der u n a b h ä n g i g gelehrten W a h r h e i t zu verhindern<br />

<strong>und</strong> den Geist der jungen Leute so zu erziehen,<br />

daß sie zu m ü ß i g e n Tyrannen u n d g e h o r s a m e n Sklaven<br />

h e r a n w a c h s e n — je nach der Klasse, aus der sie<br />

stammen. In der Hand der Regierung wird alles zu<br />

einem W e r k z e u g der A u s b e u t u n g , alles wird zu einer<br />

Polizei-Institution, um das Volk in Fesseln zu halten.<br />

Es kann nicht anders s e i a W e n n d a s menschliche<br />

Leben ein Kampf zwischen den M e n s c h e n ist,<br />

so gibt es natürlich Sieger <strong>und</strong> Besiegte u n d die<br />

Regierung — welche der Preis des Kampfes ist, oder<br />

als Mittel dient, um den Siegern die Früchte ihres


— 20 —<br />

Sieges zu sichern <strong>und</strong> zu erhalten — wird selbstverständlich<br />

nie in den Händen der Besiegten sein,<br />

ob nun der Kampf durch körperliche oder geistige<br />

Kraft oder auf wissenschaftlichem Felde gefochten<br />

wird. Diejenigen, die gekämpft haben, um zu siegen,<br />

um sich die besten Verhältnisse, die Vorrechte, die<br />

Herrschaft <strong>und</strong> die Macht zu erobern, w e r d e n den<br />

erfochtenen Sieg g e w i ß nicht dazu benützen, um das<br />

Recht der Besiegten zu schützen oder um ihrem<br />

eigenen Willen — oder d e m Willen ihrer Fre<strong>und</strong>e<br />

<strong>und</strong> Verbündeten — Schranken zu setzen.<br />

Die Regierung, oder wie man sie nennt, der<br />

»Staat«, ist als Vollstrecker der Gerechtigkeit, als<br />

Milderer der gesellschaftlichen Streitigkeiten, als unparteiischer<br />

Verwalter der Interessen Aller eine Täuschung,<br />

ein Trugbild, eine nie verwirklichte <strong>und</strong> nie<br />

zu verwirklichende Utopie.<br />

W e n n die Interessen der Menschen mit einander<br />

im G e g e n s a t z stünden, w e n n der Kampf zwischen<br />

den Menschen ein n o t w e n d i g e s Gesetz der m e n s c h -<br />

lichen Gesellschaft wäre, w e n n die Freiheit von<br />

Einigen der Freiheit der Anderen eine Grenze setzen<br />

w ü r d e ; dann w ü r d e ein jeder immer darnach trachten,<br />

seinen eigenen Interessen ü b e r die Interessen der<br />

Anderen zum Siege zu verhelfen; ein jeder w ü r d e<br />

seine Freiheit auf Kosten der Freiheit anderer vergrößern<br />

wollen. W e n n es eine Regierung g e b e n<br />

m ü ß t e , nicht weil dieselbe mehr o d e r weniger allen<br />

Mitgliedern einer Gesellschaft nützlich ist, sondern<br />

weil die Sieger sich die Früchte ihres Sieges sichern<br />

wollen, indem sie die Besiegten sich fest unterwerfen


— 21 —<br />

<strong>und</strong> um sich nicht immerfort zur Verteidigung bereit<br />

halten zu müssen, eigens zum Polizeidienst abgerichtete<br />

Menschen mit ihrer Verteidigung betrauen — d a n n<br />

wäre die Menschheit d e m U n t e r g a n g geweiht, oder<br />

sie wäre dazu verdammt, sich immerfort zwischen<br />

der Tyrannei der Sieger <strong>und</strong> den E m p ö r u n g e n der<br />

Besiegten herumzuschlagen.<br />

Glücklicherweise ist die Zukunft der Menschheit<br />

glückverheißender, denn dieselbe wird durch ein<br />

sanfteres Prinzip geleitet:<br />

D i e s e s w a h r h a f t m e n s c h l i c h e u n d g e -<br />

s e l l s c h a f t l i c h e P r i n z i p i s t d i e S o l i d a r i t ä t .<br />

Die notwendigsten Gr<strong>und</strong>eigenschaften des Menschen<br />

sind erstens das Streben nach der Erhaltung<br />

seines Lebens, o h n e welches nichts L e b e n d e s bestehen<br />

w ü r d e ; <strong>und</strong> zweitens das Streben nach der Erhaltung<br />

seiner Art, o h n e welche keine Art sich entwickeln<br />

oder erhalten könnte. D e r Mensch strebt natürlicherweise<br />

darnach, sein eigenes Leben, sowie jenes seiner<br />

Nachkommenschaft g e g e n Alle <strong>und</strong> Alles zu verteidigen.<br />

Die lebenden W e s e n haben in der Natur zwei<br />

Methoden, um ihr Leben sicherer <strong>und</strong> a n g e n e h m e r<br />

zu gestalten. Einerseits den K a m p f der einzelnen<br />

Individuen gegen die Elemente <strong>und</strong> auch gegen die<br />

anderen Individuen derselben Art o d e r einer anderen<br />

Art; andererseits die g e g e n s e i t i g e H i l f e , d a s Z u -<br />

s a m m e n w i r k e n , welches wir die »Vereinigung zum<br />

Kampfe« n e n n e n können, g e g e n alle Naturgewalten,<br />

die das Dasein, die Entwickelung <strong>und</strong> das Wohlbefinden<br />

der vereinigten Lebewesen gefährden.


— 22 —<br />

In diesen kurzen Zeilen k ö n n e n wir die Rolle<br />

dieser zwei Gr<strong>und</strong>prinzipien in der Entwickelung d e s<br />

Lebens, des K a m p f e s u n d des Z u s a m m e n w i r k e n s<br />

<strong>und</strong> ihr Verhältnis zu einander nicht ausführlicher<br />

behandeln.<br />

Es genügt, festzustellen, daß in der Menschheit<br />

das — freiwillige o d e r unfreiwillige — Z u s a m m e n -<br />

wirken das einzige Mittel für den Fortschritt, zur Vervollkommnung,<br />

zur Sicherheit g e w o r d e n ist; der Kampf<br />

hingegen — als ein Überbleibsel der Urzeiten - ist<br />

ganz unfähig, das Wohlsein der Menschen zu fördern,<br />

im Gegenteil, der Kampf bringt allen Siegern wie<br />

Besiegten nur Schaden.<br />

Die Erfahrung, welche die aufeinanderfolgenden<br />

Menschengeschlechter e r w o r b e n <strong>und</strong> einander überliefert<br />

haben, haben d e m Menschen gezeigt, daß<br />

wenn er sich mit anderen M e n s c h e n vereinigt, sein<br />

Bestehen gesichert, seine Wohlfahrt g r ö ß e r ist. So<br />

hat sich aus d e m Kampf u m s Dasein, welchen die<br />

Menschen g e g e n die Unbilden der Natur u n d die<br />

eigenen Artgenossen führen mußten, der G e s e l l -<br />

s c h a f t s t r i e b entwickelt, der die D a s e i n s b e d i n g u n g e n<br />

der Menschen vollkommen verändert hat. Durch diesen<br />

Trieb konnte sich der Mensch aus d e m tierischen<br />

Zustand emporarbeiten, eine g r o ß e Macht über die<br />

Natur erhalten <strong>und</strong> sich so hoch über die übrigen<br />

Tiere erheben, daß die spiritualistischen Philosophen<br />

es für nötig fanden, eine übernatürliche <strong>und</strong> unsterbliche<br />

Seele für ihn zu erfinden.<br />

Viele Ursachen haben bei der Bildung dieses<br />

Gesellschaftstriebes mitgewirkt. Derselbe hat seinen


— 23 —<br />

U r s p r u n g in d e m Bestreben aller Lebewesen, ihre<br />

Art zu erhalten — welches Bestreben nichts anderes<br />

ist, als wie der auf die natürliche Familie beschränkte<br />

Gesellschaftstrieb — <strong>und</strong> er hat sich in solch einer<br />

H ö h e u n d Stärke entwickelt, daß er von nun an die<br />

eigentliche G r u n d l a g e der moralischen Natur des<br />

Menschen bildet.<br />

Als der Mensch sich a u s den niedriger stehenden<br />

Tierarten entwickelte, war er schwach <strong>und</strong> wehrlos,<br />

um einzeln den Kampf mit den Raubtieren aufnehmen<br />

zu können. A b e r er hatte ein Gehirn, das einer großen<br />

Entwicklung fähig war, ein Stimmorgan (Kehle <strong>und</strong><br />

Zunge), das fähig war, die verschiedenen Regungen<br />

dieses G e h i r n s durch verschiedene Laute auszudrücken;<br />

H ä n d e , mit d e n e n er Stein u n d Holz u n d andere<br />

Stoffe nach seinem Willen formen konnte — <strong>und</strong> so<br />

erkannte er gar bald die Notwendigkeit <strong>und</strong> die Vorteile<br />

der Vereinigung. Man kann sogar sagen, daß er<br />

er erst dann anfing, M e n s c h zu sein, als er sich in<br />

Gesellschaften vereinigte <strong>und</strong> den Gebrauch der<br />

Sprache erlangt hatte, die zugleich eine wichtige Errungenschaft<br />

u n d ein mächtiger F ö r d e r e r der gesellschaftlichen<br />

Gefühle ist.<br />

Da im Anfang die Anzahl der Menschen verhältnismäßig<br />

gering war, so war der Kampf ums<br />

Dasein zwischen M e n s c h u n d M e n s c h weniger erbittert,<br />

nicht so ununterbrochen, sogar weniger notwendig,<br />

was jedenfalls sehr viel zur Entwicklung der<br />

fre<strong>und</strong>schaftlichen Gefühle beitrug <strong>und</strong> die Erkenntnis<br />

<strong>und</strong> W ü r d i g u n g der gegenseitigen Hilfe ermöglichte.


2 4<br />

Der Mensch kann durch die A n w e n d u n g seiner<br />

ursprünglichen Fähigkeiten, im Z u s a m m e n w i r k e n mit<br />

mehr oder weniger seiner G e n o s s e n die Verhältnisse,<br />

in d e n e n er lebt, verändern <strong>und</strong> sie seinen eigenen<br />

Bedürfnissen anpassen. Seine Begierden vermehren<br />

sich <strong>und</strong> wachsen in dem Maße, als es ihm leichter<br />

wird, dieselben zu befriedigen; sie w e r d e n schließlich<br />

zu Bedürfnissen. Die A r b e i t s t e i l u n g entsteht als<br />

Folge der methodischen A u s n ü t z u n g der Naturkräfte<br />

zu Gunsten des Menschen. Und durch all dies wird<br />

das gesellschaftliche Leben zur n o t w e n d i g e n B e d i n g u n g<br />

des menschlichen Daseins, o h n e das der Mensch in<br />

die Tierheit zurückfallen würde.<br />

Durch die Verfeinerung des Gefühles in Folge<br />

der häufigen Beziehungen unter den M e n s c h e n <strong>und</strong><br />

durch die G e w o h n h e i t , die sich w ä h r e n d der Jahrtausende<br />

vererbt hat, ist dieses Bedürfnis nach gesellschaftlichem<br />

Leben, nach Austausch der G e d a n k e n<br />

<strong>und</strong> Gefühle unter den Menschen zu einem notwendigen<br />

Teil des menschlichen Daseins g e w o r d e n .<br />

Es hat sich in Zuneigung, in Fre<strong>und</strong>schaft, in Liebe<br />

verwandelt, <strong>und</strong> besteht u n a b h ä n g i g von den materiellen<br />

Vorteilen, die die Vereinigung bietet, so weit<br />

daß, um es zu befriedigen, man Leiden aller Art <strong>und</strong><br />

sogar dem Tod entgegentritt.<br />

Die Vereinigung bringt dem Menschen riesige<br />

Vorteile. W e n n er vereinzelt bleibt, ist er trotz seiner<br />

geistigen Überlegenheit viel schwächer als die übrigen<br />

Tiere; aber er besitzt die Möglichkeit, sich mit immer<br />

mehr <strong>und</strong> anderen Menschen zu vereinigen, immerfort<br />

engere <strong>und</strong> verwickeitere Beziehungen mit ihnen


Offizielles Protokoll<br />

des Internationalen Antimilitaristischen<br />

Kongresses<br />

gehalten zu Amsterdam, am 30. — 31. August<br />

1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />

des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />

m e r h o r n .<br />

(Fortsetzung.)<br />

M a r m a n d e (Frankreich) ergreift das<br />

Wort als Anarchist, auch als der Delegierte<br />

des anarchistischen Kongresses. In Frankreich<br />

tritt der Antimilitarismus in dreierlei<br />

Gestalten auf: 1. greift man in aufklärender<br />

Weise das Heer <strong>und</strong> die Gewalttaten des<br />

Staates an; 2. erörtert man die Rolle, welche<br />

das Heer, die G e n d a r m e r i e <strong>und</strong> die Polizei<br />

im sozialen Z u s a m m e n h a n g spielen <strong>und</strong><br />

wie sie während Streiks verfahren ; 3. bespricht<br />

man das Verhältnis der Revolutionäre,<br />

der Anarchisten <strong>und</strong> der Arbeiter g e g e n ü b e r<br />

dem Krieg <strong>und</strong> dem Patriotismus.<br />

Schon 1887 w u r d e eine »Ligue antipatriotique«<br />

g e g r ü n d e t ; die Führer dieser<br />

Bewegung, Anarchisten, w u r d e n bestraft.<br />

In dieser Zeit w u r d e auch »Le Revolte«<br />

(später <strong>und</strong> heute »Le T e m p s Nouveaux*),<br />

deren Redakteur Jean Grave gerichtlich<br />

verfolgt. J. Grave selbst bekam zwei Jahre<br />

Gefängnisstrafe, weil er in seinem Buche<br />

»Die sterbende Gesellschaft u n d die Anarchie«<br />

den Soldaten ihre vielfach entwürdigende<br />

Stellung vor A u g e n hielt u n d ihnen<br />

riet, sich männlich g e g e n die Soldatenmißhandlungen<br />

zu kehren.<br />

Für seinen »Catéchisme du soldat« erhielt<br />

Maurice Charnet sechs Monate G e -<br />

fängnis. — Als den Soldaten der Rat erteilt<br />

wurde, das Feuern auf streikende Arbeiter<br />

zu verweigern, fanden massenhafte Verurteilungen<br />

statt.<br />

Trotzdem wird die antimilitaristische<br />

Propaganda immer kräftiger. Die P r o p a g a n d a<br />

wird jetzt auch auf der Bühne geführt.<br />

Man denke an »Le Calvaire« von Octave<br />

Mirbeau, an »Biribi« von Darien etc. Eins<br />

der wirksamsten Propagandamittel w a r aber<br />

die Dreifusaffaire in den Jahren 1899—1901.<br />

Damals haben unsere Feinde, die Bourgeoisie,<br />

viel für den Antimilitarismus getan.<br />

Damals ward auf die Offiziere in schärfster<br />

Weise geschimpft. Die Dreifusaffaire hat<br />

aus bürgerlichen Journalisten Antimilitaristen<br />

gemacht, z. B. Urbaine Gohier, Gustav Hervé,<br />

Aristide Briand (der augenblicklich mitschuldig<br />

ist an den Greueltaten der Regierung).<br />

Gohier w u r d e zwanzigmal verurteilt<br />

<strong>und</strong> freigesprochen. Die antimilitaristische<br />

Idee drang durch. Das Schwurgericht hat<br />

viele Antimilitaristen freigesprochen.<br />

Ein würdigerer Vertreter des Antimilitarismus<br />

als die bürgerlichen Vertreter<br />

desselben ist Yvetot. Dieser, der sich jetzt<br />

für 4 Jahre im Gefängnis befindet, schrieb<br />

»Le manuel du soldat«. Er w u r d e d e s w e g e n<br />

angeklagt <strong>und</strong> freigesprochen.<br />

Ein bekannter Antimilitarist ist Gustave<br />

Hervé. <strong>Weg</strong>en Unterschreibung eines antimilitaristischen<br />

Manifestes w u r d e er zu<br />

4 Jahren verurteilt. Er fing mit der Errichtung<br />

des »Travailleur de l'Yonne« an, g a b später<br />

»Le piou, piou de l'Yonne« heraus, 1905<br />

hielt er im Tivolisaal eine Rede gegen die<br />

Vaterlandsliebe. Damals staunten die bürgerlichen<br />

Delegierten ihn an, aber die Arbeiter<br />

jauchzten ihm zu.<br />

Seitdem hat er eine P r o p a g a n d a in<br />

großem Stile entfaltet. Nach der G r ü n d u n g<br />

der internationalen antimilitaristischen Assoziation<br />

habe man in Frankreich Tüchtiges<br />

geleistet. Überall w u r d e n G r u p p i e r u n g e n<br />

errichtet. Von ihrer Form ist nicht viel übrig<br />

geblieben, dennoch w u r d e desto mehr in<br />

ihrem Geiste <strong>und</strong> viel gearbeitet. Man<br />

denke nur an die bekannten Zettel, in denen<br />

ohne Umschweife gesagt w u r d e , wie man<br />

verfahren müsse, w e n n der Befehl erteilt<br />

werde, auf Streiker zu schießen. Die 24<br />

Unterzeichneten w u r d e n angeklagt. Der geführte<br />

Prozeß n a h m sich wie ein echter<br />

antimilitaristischer K o n g r e ß aus, schöner<br />

als je einer, der gehalten w u r d e . Die Bourgeoisie<br />

fürchtete sich daher, viele Verfolgungen<br />

einzuleiten; aber der Zustand hat sich geändert,<br />

die Zeit der sentimentalen Literatur ist dahin.<br />

Augenblicklich sitzen Almereyda, Yvetot,<br />

Bourquet, Lomlot, Coupaise, Barthes Denac<br />

gefangen. Überall sind die republikanischen<br />

Gefängnisse bereit, die Antimilitaristen aufz<br />

u n e h m e n .<br />

Wieviel Offiziere gibt es in der Kaserne,<br />

die mit uns sind? Wir wissen es nicht;<br />

aber das eine wissen wir: Am 1. Mai 1906 hat<br />

es Soldaten <strong>und</strong> Korporale g e g e b e n , die<br />

sich weigerten, g e g e n das Volk auszuziehen<br />

<strong>und</strong> die »Internationale« sangen. Die Zeitungen<br />

schweigen diese Tatsachen planmäßig tot.<br />

Der Redner schließt mit dem Ausspruch,<br />

daß die antimilitaristische P r o p a g a n d a nur<br />

so einen Erfolg haben kann, w e n n der<br />

Geist des Anarchismus die Arbeiter durchdringt.<br />

Die Sitzung wird vertagt <strong>und</strong> am Abend<br />

fortgesetzt.<br />

N o r b e c k ( S c h w e d e n ) :<br />

Die antimilitaristische Agitation wird<br />

vorwiegend von den J u g e n d v e r b ä n d e n betrieben.<br />

Der sozialistische J u g e n d v e r b a n d<br />

ist immer antimilitaristisch g e w e s e n . Früher<br />

b e g n ü g t e man sich mit einem Protest gegen<br />

das bestehende System des Militarismus,<br />

gegen die Disziplin etc., aber man brachte<br />

der Milizform keinen Widerstand entgegen,<br />

1903 beschloß unser Kongreß, den Kampf<br />

g e g e n den Militarismus überhaupt zu führen,<br />

also auch gegen Miliz <strong>und</strong> Landwehr.<br />

Dieser Beschluß, das E i n n e h m e n dieses<br />

Standpunktes, veranlaßte eine Spaltung in<br />

unserer Organisation, die gemäßigten Mitglieder<br />

bildeten eine selbständige G r u p p e<br />

<strong>und</strong> nannten sich »Sozialdemokratischerj<br />

u g e n d v e r b a n d « . Es darf mit Recht angen<br />

o m m e n werden, daß die Sozialdemokraten<br />

diese Spaltung längst vorbereitet hatten.<br />

Die sozialdemokratischen Blätter haben den<br />

J u g e n d v e r b a n d immerfort bekämpft — <strong>und</strong><br />

tun es noch. D e n n o c h macht man Fortschritte,<br />

wenn auch langsam. Man durfte<br />

zur A n n a h m e geneigt sein, daß infolge der<br />

Spaltung ein Rückgang eintreten sollte.<br />

Dies ist aber nicht geschehen. Im G e g e n -<br />

teil, die Agitation wird noch kräftiger betrieben.<br />

Die zwei Abteilungen arbeiten um<br />

die Wette. Die sozialdemokratische Jugend<br />

kam allmählich zur Einsicht, daß sie auch<br />

antimilitaristisch auftreten mußte, wollte sie<br />

die Jugend heranziehen <strong>und</strong> auf ihrem<br />

letzten Kongreß hat sie einen Standpunkt<br />

a n g e n o m m e n , mit d e m wir zufrieden sein<br />

k ö n n e n . Auf diesem Gebiete sind die beiden<br />

V e r b ä n d e einander wieder näher getreten<br />

<strong>und</strong> arbeiten nun gemeinschaftlich in mehreren<br />

Städten <strong>und</strong> Dörfern von S c h w e d e n .<br />

In diesem Punkte sind wir nun einig, daß<br />

wir antimilitaristisch auftreten müssen, es<br />

fragt sich nur noch, mit welchen Mitteln<br />

<strong>und</strong> welcher Taktik.<br />

Die Erfolge unserer Agitation sind<br />

noch nicht sehr groß, aber wir können<br />

jedenfalls sehen, daß in S c h w e d e n ein<br />

tiefer Haß g e g e n den Militarismus entsteht.<br />

Jedes Jahr weigern mehrere der Unsrigen<br />

sich, Soldat zu werden. Dieses Jahr (1907)<br />

war die Anzahl derselben 14, <strong>und</strong> «die<br />

meisten befinden sich augenblicklich im<br />

Gefängnis.<br />

Daß unsere Agitation Erfolge aufzuweisen<br />

hat, kann man aus dem U m s t ä n d e<br />

schließen, daß auf dem letzten sozialdemokratischen<br />

Parteitag 75 Antimilitaristen zugegen<br />

w a r e n ; die Zahl der G e g n e r war 90.<br />

Wir dürfen also a n n e h m e n , daß wir nächstes<br />

Jahr die Majorität auf d e m Parteikongresse<br />

h a b e n w e r d e n .<br />

Die Anzahl unserer Mitglieder ist nicht<br />

groß. N u r etwa 2000, in kleinen G r u p p e n<br />

ü b e r ganz S c h w e d e n verteilt. Das O r g a n<br />

unseres B<strong>und</strong>es ist »Brand«, das monatlich<br />

in etwa 10.000 Exemplaren in Stockholm<br />

erscheint. Der Verein läßt alljährlich kleine<br />

Schriften unter den Soldaten verteilen. Drei<br />

dieser Schriften w u r d e n beschlagnahmt <strong>und</strong><br />

die Verfasser zu Gefängnisstrafe verurteilt.<br />

Jedes Jahr w e r d e n mit den neueinberufenen<br />

Soldaten V e r s a m m l u n g e n abgehalten.<br />

Der Antimilitarismus hat in dem schwedischen<br />

Proletariat tiefe Wurzeln geschlagen.<br />

Die Regierung hat dies auch eingesehen<br />

<strong>und</strong> sucht sich durch A u s n a h m e g e s e t z e<br />

<strong>und</strong> Verfolgungen zu w e h r e n . Augenblicklich<br />

sind unser Redakteur u n d Expedient<br />

gefangen w e g e n antimilitaristischer Reden,<br />

die sie im Volkshause zu Stockholm gehalten.<br />

Wir sind der Regierung dafür nur<br />

verb<strong>und</strong>en, denn jeder Monat Gefängnisstrafe<br />

ist uns ein n e u e s Agitationsmittel,<br />

das wir zu benutzen wissen w e r d e n .<br />

Dann spricht P i e r r e R a m u s , d e r<br />

mit der Mitteilung anfängt, daß nicht er<br />

der eigentliche Berichterstatter für Ungarn<br />

sei, sondern H a n s Peter; dieser k ö n n e aber<br />

krankheitshalber nicht erscheinen.<br />

Über die B e w e g u n g in Ungarn teilt<br />

er in Kürze das ihm übermittelte Material<br />

mit; daß sie, o b w o h l noch jung, so doch<br />

rasch stärker w e r d e . Das Blatt »Die soziale<br />

Revolution«, das mit der anarchistischen<br />

die antimilitaristische P r o p a g a n d a führt,<br />

w u r d e wiederholt konfisziert. Zumal unter<br />

den Bauern breitet sich die B e w e g u n g<br />

immer mehr aus. Die Budapester G e n o s s e n<br />

betreiben auch eine rege Flugblattpropaganda.<br />

Der Redner hält nun sein eigentliches<br />

Referat über die »Historische Entwicklung<br />

der Idee des Antimilitarismus u n d als Taktik<br />

des Anarchismus.«*<br />

Nach der Rede Ramus wird die A b e n d -<br />

versammlung geschlossen.<br />

(Fortsetzung folgt.)<br />

Der »Zweck« des Staates.<br />

In N u m m e r 9 der W i e n e r »Wage« veröffentlichte<br />

Professor L. G u m p l o w i c z in<br />

Graz eine interessante Studie über »Weltzweck,<br />

Staatszweck u. Lebenszweck«, deren<br />

philosophischer Gehalt ein tiefer <strong>und</strong> g r ü n d -<br />

licher ist. Am interessantesten sind für uns<br />

die Betrachtungen, die G u m p l o w i c z<br />

nicht zu verwechseln mit seinem revisionistisch-sozialdemokratischen<br />

S o h n — an den<br />

Zweck des Staates knüpft <strong>und</strong> die sich von<br />

früheren von ihm geäußerten Ansichten<br />

nicht unterscheiden. Wir lassen hiermit einzelne<br />

der durchaus anarchistischen im Auszuge<br />

folgen:<br />

» . . . D a nun der M e n s c h ein Heerdentier<br />

ist, so w i d m e n sich je einzelne<br />

G r u p p e n von M e n s c h e n jeder einzelnen<br />

Tätigkeiten. Dabei kann es nicht<br />

ausbleiben, daß einzelne G r u p p e n , getrieben<br />

v o m Drange nach leichterem <strong>und</strong><br />

höherem L e b e n s g e n u ß , die Früchte der<br />

Tätigkeit anderer G r u p p e n sich anzueignen<br />

trachten. Das führt zur Unterwerfung<br />

schwächerer G r u p p e n durch mächtigere,<br />

das ist zur Staatenbildung. . . . Tatsächlich<br />

liegt diese S t a a t e n g r ü n d u n g in derselben<br />

Linie menschlicher Tätigkeit, wie<br />

alle andere Befriedigung primärer Bedürfnisse,<br />

d e n n Staatenbildung ist nichts anderes<br />

als ein Mittel, dessen sich eine<br />

G r u p p e bedient, um sich Lebens- <strong>und</strong><br />

Unterhaltungsmittel zu verschaffen, indem<br />

sie sich eine andere G r u p p e unterwirft,<br />

die nun für sie arbeiten m u ß . . . Nun<br />

ist es selbstverständlich leichter, sich die<br />

schwere Arbeit, zum Beispiel d e s Acker-<br />

* Siehe den dokumentarischen Anhang zum<br />

Protokoll.


aues, d u r c h a n d e r e b e s o r g e n zu lassen<br />

u n d sich selbst, um seinen Tätigkeitsd<br />

r a n g zu befriedigen, mit Krieg, R a u b<br />

u n d J a g d zu beschäftigen . . .<br />

E b e n s o verhält sich die Sache mit<br />

den a n d e r e n d e m Staate imputierten<br />

Z w e c k e n : d e m Wohlfahrts-Kultur-Machtz<br />

w e c k usw. . . .<br />

Viel richtiger ist es, w e n n m a n v o n<br />

e i n e m M a c h t z w e c k des Staates spricht<br />

— d e n n einen solchen kann man ja aus<br />

d e m b e w u ß t e n Willen w e n n auch nicht<br />

des Staates, wohl a b e r seiner herrschenden<br />

Kreise ableiten. D e n n v o m ersten<br />

Augenblick der Existenz des Staates d u r c h<br />

die g a n z e aufsteigende E n t w i c k l u n g desselben<br />

sind ja diese Kreise offensichtlich<br />

v o m Streben nach M e h r u n g<br />

ihrer Macht erfüllt, b e h e r r s c h t also alle<br />

Tätigkeit d e s Staates der »Machtzweck«.<br />

Allerdings k ö n n e n Ethiker mit solchem<br />

Streben sich nicht einverstanden erklären,<br />

<strong>und</strong> Sozialisten wie Anarchisten v e r d a m ­<br />

m e n dasselbe g e r a d e z u ; aber von all den<br />

»Zwecken«, die m a n d e m Staate andichtet,<br />

kann man d o c h h ö c h s t e n s n u r d e n<br />

M a c h t z w e c k als einen real g e g e b e n e n<br />

gelten lassen, da er vom b e w u ß t e n Willen<br />

d e r m a ß g e b e n d e n Vertreter d e s Staates<br />

ins A u g e gefaßt u n d mit voller Klarheit<br />

verfolgt wird. Allerdings hindert es<br />

d e r »Machtzweck« des Staates nicht, d a ß<br />

in der n i e d e r g e h e n d e n Phase der Staatse<br />

n t w i c k l u n g d e r subjektive M a c h t z w e c k<br />

sich zu einem objektiven O h n m a c h t s ­<br />

z w e c k wandelt, das heißt, d a ß der Staat<br />

trotz seines M a c h t z w e c k e s seinem Unt<br />

e r g a n g entgegeneilt.« —<br />

Sozialdemokratische Aphorismen<br />

über den Staat.<br />

N a c h f o l g e n d e Zitate sind w ä h r e n d d e r<br />

R e d e d e s sozialdemokratischen Reichsratsa<br />

b g e o r d n e t e n Dr. Renner, eine Rede, die<br />

eigentlich ein »Lehrvortrag« sein sollte (!)<br />

n i e d e r g e s c h r i e b e n w o r d e n u n d k ö n n e n von<br />

O h r e n z e u g e n bestätigt w e r d e n . D e r Vortrag<br />

w u r d e in einer V e r s a m m l u n g d e s III. Bezirkes<br />

gehalten, i n d e r k e i n e D i s k u s s i o n zugelassen<br />

w u r d e ! Die ö d e U n w i s s e n h e i t<br />

u n d g e m e i n e D e m a g o g i e , mit der die<br />

Sozialdemokratie vollständig falsche Ans<br />

c h a u u n g e n ü b e r d a s » W e s e n des Staates«<br />

— dies d e r V o r t r a g s n a m e — lehrt, deckt<br />

sich somit g a n z mit der brutalsten Geistesu<br />

n t e r d r ü c k u n g , dort, wo sie die Herrschaft<br />

ausübt.<br />

1. „Auch der Anarchist Max Stirner betrachtete<br />

den Staat als bloße Idee <strong>und</strong> nichts anderes."<br />

D a s ist nicht wahr. Max Stirner betrachtete<br />

d i e a b e r g l ä u b i s c h e V e r e h ­<br />

r u n g d e s Staates u n d d e r gesellschaftlichen<br />

Institutionen d e s Privateigentums, des G e ­<br />

setzes usw. als Spuk, als fixe Idee.<br />

2. „In jeder menschlichen Gemeinschaft ist es<br />

nötig, daß Regeln aufgestellt werden."<br />

N u r d a n n , H e r r Doktor, w e n n m a n<br />

die G e m e i n s c h a f t auf Z w a n g basieren will,<br />

wie Sie, d e r Sozialdemokrat, in r ü h r e n d e r<br />

Ü b e r e i n s t i m m u n g mit d e n kältesten der<br />

kalten Konservativen es tun wollen. Um<br />

aufgestellte Regeln z u e r z w i n g e n , dazu<br />

ist G e w a l t im militärischen S i n n e nötig.<br />

Ihr »Zukunftsstaat« ist somit das getreueste<br />

Ebenbild d e s b e s t e h e n d e n Staates. Die Anarchisten<br />

b e h a u p t e n d a g e g e n , d a ß j e d e allg<br />

e m e i n gültige Regel, die d o c h stets der<br />

Vernunft oftmals s e h r unvernünftiger Machth<br />

a b e r entspringt, g e g e n den freien Entw<br />

i c k l u n g s g a n g des gesellschaftlichen L e b e n s<br />

verstößt u n d j e n e n h e m m t . Die Gesellschaft<br />

d e r Zukunft ist n u r d a n n frei, also anarchistisch,<br />

w e n n sie k e i n e Regeln aufstellt,<br />

s o n d e r n das W a l t e n u n d Schaffen des G e ­<br />

sellschaftslebens den freien, u n g e b u n d e n e n ,<br />

ewig w e c h s e l n d e n V e r e i n b a r u n g e n u n d<br />

V e r e i n i g u n g e n d e r gesellschaftlichen Ele-<br />

m e n t e u n t e r s i c h — nicht von irgend e i n e m<br />

sich allweise d ü n k e n d e n d e m o k r a t i s c h e n<br />

Konzil v o n o b e n diktiert! — überläßt.<br />

3. „Ein Mensch ist frei im Verein, wenn er<br />

wählen, stimmen <strong>und</strong> reden darf; so ist es auch<br />

mit dem Menschen im Staat."<br />

U n s i n n ! Ein M e n s c h ist nicht d e s h a l b<br />

frei im Verein, s o n d e r n deshalb, weil ihm<br />

die freieste A u s t r i t t s - u n d E i n t r i t t s ­<br />

m ö g l i c h k e i t i n einen a n d e r e n g e b o t e n ,<br />

w a s ihm im Staate total v e r w e h r t ist. D e r<br />

Staat ist eine Z w a n g s o r g a n i s a t i o n , t r o t z ­<br />

d e m wir »wählen, s t i m m e n u n d reden«<br />

dürfen; a b e r w e h e uns, w e n n wir es versuchten,<br />

ihm d e n Rücken zu kehren, d. h.<br />

seine G e s e t z e zu mißachten. Ein Verein<br />

ist also n i c h t dasselbe wie ein Staat, H e r r<br />

Doktor, der Sie in Logik »kaum g e n ü g e n d «<br />

v e r d i e n e n .<br />

4. „Es gibt folgende Rangstufen im S t a a t e :<br />

Untertan, Staatsbürger, Gesetzesorgan <strong>und</strong> Mensch.<br />

E s handelt sich also d a r u m : n i c h t etwa n i c h t<br />

Untertan sein wollen, sondern auch Staatsbürger<br />

<strong>und</strong> Gesetzesorgan zu werden; dann sind wir frei.<br />

Und nur weil uns der Staat nicht die Staatsbürgerrechte<br />

gibt, deshalb bekämpfen wir ihn."<br />

Das <strong>Ziel</strong> der anarchistischen Weltans<br />

c h a u u n g ist die E n t k l e i d u n g d e s M e n s c h e n<br />

als Untertan, als S t a a t s b ü r g e r u n d als G e ­<br />

setzesorgan. In allen diesen drei Eigenschaften<br />

ist d e r M e n s c h nicht Mensch,<br />

vielmehr Bedrücker u n d Bedrückter. W i e<br />

klar tritt hier d e r Unterschied zwischen anarchistisch-sozialistischer<br />

Auffassung u n d<br />

sozialdemokratisch-bürgerlicher Ideologie zu"<br />

T a g e !<br />

5. „Ein Gesetz ist dasselbe, was Statuten im<br />

Verein sind."<br />

Unsinn, H e r r Doktor, blanker U n s i n n !<br />

Die Statuten eines Vereines schaffe ich mit<br />

d e n übrigen Mittgliedern, ich h a b e jederzeit<br />

das Recht des Bei- u n d Rücktrittes.<br />

Die Statuten eines z w a n g l o s e n Vereines<br />

sind nicht zu e r z w i n g e n , b e r u h e n auf freier<br />

Z u s t i m m u n g d e r Mitglieder. Das G e s e t z ist<br />

d a s v o n d e r G e w a l t d e s Staates — Militarismus,<br />

Polizei, Justiz, Kerker, etc., — erz<br />

w u n g e n e M a c h t g e b o t .<br />

6 . „ N u r M e n s c h sein das ist eine<br />

schöne Sache, aber praktisch unmöglich. Sobald<br />

Menschen miteinander in Berührung treten, m ü s s e n<br />

sie entweder Untertanen oder Staatsbürger oder<br />

Gesetzesorgane sein."<br />

J e d e r reaktionäre Staatsrechtler lehrt u n s<br />

dasselbe. D e r russische Staatsmann Pobjedonoffsky<br />

ist in seinen »Betrachtungen eines<br />

russischen Staatsmannes« ganz derselben<br />

Ansicht. Allerdings w ü r d e n Sie sich sehr<br />

rasch zu einer a n d e r e n Ansicht b e k e h r e n ,<br />

w e n n e s hieße, d a ß S i e stets Untertan u n d<br />

wir übrigen G e s e t z e s o r g a n e sein u n d bleiben<br />

m ü ß t e n . . .<br />

7. „Aristoteles hat die anarchistische Freiheit<br />

entwickelt."<br />

Ist dies keine gewollte Lüge, die Sie,<br />

sich stützend auf die leider tatsächliche<br />

U n k e n n t n i s von Arbeitern ü b e r Aristoteles<br />

b e w u ß t a u s s p r a c h e n ? Bekanntlich verfocht<br />

Aristoteles die Institution der Sklaverei u n d<br />

verteidigte sie. W i e k o n n t e n Sie Proletariern<br />

dieses L ü g e n m ä r c h e n aufbinden, d a ß ein<br />

A p o l o g e t der Sklaverei die Anarchie — Herrschaftslosigkeit<br />

- vertrat; ist dies e h r l i c h ? !<br />

8. „Es muß immer B e f e h l e n <strong>und</strong> Geh<br />

o r c h e n geben. Auch ein König muß gehorchen.<br />

Nehmen Sie an, verehrte Zuhörer, er wolle über<br />

ein Geleise. Da tritt ihm der Bahnwächter entgegen<br />

<strong>und</strong> sagt: „Halt — hier darfst du nicht hinübergehen,<br />

denn der Zug mag herangebraust k o m m e n ! "<br />

Der König wird g e h o r c h e n m ü s s e n . Man<br />

sieht also, daß es stets Befehlen <strong>und</strong> Gehorchen<br />

geben wird."<br />

Nicht H e r r Bielohlawek, nein, d e r Sozialdemokrat<br />

D o k t o r R e n n e r g a b dieses<br />

Prachtbeispiel seines G e i s t e s r e i c h t u m s z u m<br />

Besten . . . Ein K o m m e n t a r ist g a n z überflüssig.<br />

G e s a g t sei n u r : E s wird n i c h t<br />

i m m e r ein Befehlen o d e r G e h o r c h e n<br />

g e b e n . Einfach deshalb nicht, weil in allen<br />

rein t e c h n i s c h - ö k o n o m i s c h e n Fragen die<br />

Arbeiter einer freien Gesellschaft sich jede<br />

E i n m e n g u n g v o n N i c h t f a c h l e u t e n in ihre<br />

A n g e l e g e n h e i t e n verbieten w e r d e n . Im Rahm<br />

e n dieser Arbeiten gibt es a b e r kein Befehlen,<br />

s o n d e r n n u r ein der Z w e c k e r k e n n t ­<br />

nis j e d e s Einzelnen e n t s p r i n g e n d e s Z u s a m ­<br />

m e n w i r k e n nach M a ß g a b e des K ö n n e n s<br />

u n d d e r Kräfte. In allen nicht technischen,<br />

das rein m e n s c h l i c h e Leben betreffenden<br />

F r a g e n w e r d e n die Individualitäten einer<br />

freien Gesellschaft es w o h l wissen, wie<br />

einem aufdringlichen Machtfrechling zu beg<br />

e g n e n , der i h n e n etwas befehlen oder<br />

G e h o r s a m heischen wollte. Ja, H e r r Dr.<br />

Renner, diese M e n s c h e n w e r d e n sich sogar<br />

d i e s e Freiheit a n m a ß e n — nach ihrer Façon<br />

zu l e b e n !<br />

9. „Der Staat ist eine Organisation; keine<br />

Organisation ohne Disziplin. Auch im Zukunftsstaat<br />

wird man gehorchen müssen."<br />

Letzteres g l a u b e n wir s e h r wohl, bes<br />

o n d e r s da ja den Sozialdemokraten der<br />

Staat als Ideal d e r Disziplinorganisation<br />

v o r s c h w e b t ! Glücklicherweise hat es noch<br />

lange W e g e bis dorthin. Wir Anarchisten sind<br />

der M e i n u n g , H e r r R e n n e r hätte sagen m ü s s e n :<br />

Keine S k l a v e n o r g a n i s a t i o n o h n e Disziplin!<br />

Da hätte er die W a h r h e i t g e s p r o ­<br />

chen. Das ist eben d e r Unterschied zwischen<br />

sozialdemokratischer u n d anarchistischer<br />

A n s c h a u u n g ü b e r Organisation. J e n e ist<br />

der Staat, es gibt w i e d e r Untertanen, Bürokraten,<br />

das »demokratische« Staatsoberhaupt.<br />

Die anarchistische O r g a n i s a t i o n — u n d die<br />

Anarchisten s i n d Befürworter von Organisation<br />

— ist die freie G r u p p i e r u n g von<br />

Gleichen u n d Gleichgesinnten, i n n e r h a l b<br />

der e s k e i n e r l e i Zentralorgan, das M a c h t<br />

besitzt, gibt u n d alle A n g e l e g e n h e i t e n geregelt<br />

w e r d e n nicht d u r c h das G e b o t der<br />

Einen u n d unterwürfige Ausführung von<br />

Seiten d e r Anderen, s o n d e r n auf d e m W e ­<br />

ge freier B e r a t u n g u n d Z u s a m m e n a r b e i t<br />

aller u n d d e r für die b e s t i m m t e Angelegenheit<br />

Fähigsten. D a n n k ä m e auch n o c h d i e<br />

heikle F r a g e in Betracht: w e r soll befehlen,<br />

w e r g e h o r c h e n ? W e n n schon befohlen<br />

w e r d e n m u ß , d a n n w ä r e n z. B. wir der<br />

Ansicht, d a ß d e r N e u l i n g in d e r sozialistischen<br />

B e w e g u n g u n d k. k. Archivbeamte<br />

Dr. R e n n e r k e i n e s w e g s der für Befehlerteilung<br />

g e e i g n e t e Mann ist, n o c h viel zu lernen<br />

hat u. s. w. Man sieht, aus d e m P r o b ­<br />

lem wird eine sehr strittige Frage, die die<br />

M a c h t h a b e r bisher einfach so beantworteten,<br />

d a ß sie sich die A n e r k e n n u n g ihres<br />

Herrschaftsrechtes d u r c h G e w a l t erzwangen.<br />

A n d e r s k ö n n t e u n s auch ein Dr. R e n n e r<br />

sein Recht auf Befehlserteilung n i c h t klar<br />

m a c h e n !<br />

10. „Es laufen da einige Menschen herum,<br />

die andere Ideen verbreiten, Ideen, die uns von<br />

einer absoluten, unbegrenzten Freiheit erzählen.<br />

Aber diese Leute sind nur Narren <strong>und</strong> Träumer<br />

oder Unwissende. Ich bin dessen gewiß, daß Sie,<br />

meine Fre<strong>und</strong>e, sich auf Gr<strong>und</strong> des Vernommenen<br />

nicht von diesen Leuten werden beirren lassen."<br />

Sprach's, n a h m H u t u n d Rock u n d vers<br />

c h w a n d , w ä h r e n d d e r Vorsitzende, in brutaler<br />

U n t e r d r ü c k u n g jeder Diskussion, die<br />

V e r s a m m l u n g schloß.<br />

Sie sind ein recht armseliger Philister,<br />

H e r r Dr. R e n n e r ; ein Nietzsche w ü r d e Sie<br />

auch einen »Giftmischer« d e r geistigen Aufklärung<br />

n e n n e n . . . Allerdings darf man<br />

kein N a r r u n d T r ä u m e r sein, um es bis<br />

z u m k. k. B e a m t e n u n d Reichsratsabgeordneten<br />

g e b r a c h t zu h a b e n ! »Narren u n d<br />

T r ä u m e r « — so n e n n t d e r Reaktionär<br />

j e d e n Sozialisten; »Unwissende« also<br />

G e l e h r t e wie Krapotkin <strong>und</strong> Reclus,<br />

D e n k e r wie Tolstoi sind I h n e n »Unwissende«,<br />

Sie u n w i s s e n d e r M ö c h t e g e r n ! G e ­<br />

h en Sie erst in die S c h u l e dieser Leute,<br />

b e w e i s e n Sie, d a ß Sie d e n A n a r c h i s m u s<br />

o h n e b e w u ß t e F ä l s c h u n g u n d Entstellung<br />

darzustellen v e r m ö g e n , d a n n allerdings<br />

w ü r d e n Sie sich I h r e r Unwissenheit —<br />

die die freie Diskussion feige fürchtet —<br />

entkleidet h a b e n ! M. L.<br />

Verantwortlicher Redakteur Jos. Šindelář (Wien). — Herausgeber Joh. Podany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.


Wien, 19. April 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 8.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herrhergasse 12,<br />

t/17. — Gelder sind zu senden an<br />

W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />

5, III./27.<br />

Kameraden!<br />

Auf zur wahren Würdigung<br />

d e s 1. Mai !<br />

Eine große Versammlung<br />

findet statt am<br />

1. Mai 1908, 9 Uhr vormittags<br />

in Holubs Saal, XIV., Huglgassc 15.<br />

Thema: „Die Bedeutung des 1. Mai<br />

für das Proletariat".<br />

Redner: Karel Vohryczek (Prag), F. Pletka<br />

(Tschechisch), Ernst Haidt, P. Ramus (Deutsch).<br />

Kameraden <strong>und</strong> Mitkämpfer erscheint In<br />

Massen 1<br />

Achtung, Leser <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e des X. Bezirkes!<br />

Eine öffentliche Vereinsversammlung der<br />

„Föderation der Bauarbeiter Wiens" findet am<br />

Sonntag den 3. Mai 1908, um 9 Uhr vormittags<br />

in den Rosensälen, X., Favoritenstraße 89, statt.<br />

Referent: Karel Vohryczek (Prag) in tschechischer<br />

Sprache über: „Die böhmischen Bruderschaften<br />

des Mittelalters <strong>und</strong> der moderne<br />

Anarchismus".<br />

Wir erwarten die regste Beteiligung seitens unserer<br />

Kameraden <strong>und</strong> eines jeden Freiheitskämpfers.<br />

Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft.*<br />

Wir w e b e n das Tuch<br />

Den Protzen zur Freude<br />

Und uns zum Leide —<br />

Das ist der Arbeit Fluch.<br />

Wir holen die Kohle aus finsterem Schacht,<br />

Wir hämmern, wir feilen bei T a g <strong>und</strong> bei Nacht.<br />

Wir füllen mit Schätzen der Erde Reich,<br />

Uns färbt der Hunger die W a n g e n bleich.<br />

Denn frechen Blickes Gott Mammon tront<br />

Und in der Tiefe d a s Elend wohnt.<br />

Das Elend kennt nicht Friede noch Lust,<br />

Es tötet das Kind an der Mutter Brust.<br />

Ach, die ihr auf s o n n i g e n Plätzen weilt<br />

Von prunkendem Glänze umflossen —<br />

Euch stört nicht das Elend, nicht die Not,<br />

Denn die Armen, sie schaffen für Euch das<br />

Brot —<br />

So emsig <strong>und</strong> unverdrossen.<br />

Das ist der Fluch, der die Armen trifft,<br />

Weil sie im Dienst der Schlemmer frohnen<br />

Und weil sie wähnen, ein düst'res Geschick<br />

Hieß sie entblößt <strong>und</strong> verlassen vom Glück<br />

In dumpfen Höhlen wohnen.<br />

Doch seh' ich im Geiste die Anarchie,<br />

Die sich entledigt von Herren <strong>und</strong> Knechte;<br />

Frei blickt der Mensch zum Menschen empor,<br />

Es schwindet der Priester heiliger Chor<br />

Mit ihrem geschriebenen Rechte!<br />

Berthold Cahn.<br />

' Aus der Märznummer der »Freien Generation«.<br />

Wir gehen!*<br />

Es wird uns von unseren Kritikern oft<br />

vorgehalten, daß wir zuviel Vertrauen in<br />

die Menschen <strong>und</strong> ihre Natur setzen, daß<br />

wir sie für gut halten, während sie schlecht<br />

sei, daß wir fanatisch an unsere Sache<br />

g l a u b e n , daß wir fanatisch von der G e -<br />

w i ß h e i t unseres Erfolges überzeugt seien.<br />

Doch wie irren sich jene Leute! Wir<br />

haben keinen dogmatischen Glauben, wir<br />

haben keine Gewißheit von unserem absoluten<br />

Erfolge; dagegen haben wir wohl<br />

die Überzeugung, nichts versäumt zu haben,<br />

alle unsere Kräfte dazu angewandt zu haben,<br />

* Aus unserem französischen Bruderblatt<br />

„ L ' A n a r c h i e " .<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss ; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Or<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />

um auf dem rechten <strong>Weg</strong>e zum Siege<br />

zu sein.<br />

Wir haben nicht die Gewißheit zu<br />

siegen; doch dessen sind wir uns gewiß:<br />

R e c h t zu h a b e n . . . Wir wissen nicht,<br />

ja wir können es gar nicht wissen, ob der<br />

Erfolg unsere Bemühungen krönen <strong>und</strong><br />

belohnen wird; dafür bemühen wir uns aber,<br />

eben so zu l e b e n <strong>und</strong> nur so zu handeln,<br />

daß wir vernünftigerweise zu dem Resultat<br />

kommen müßten, das unser Interesse gewann.<br />

Wer beim ersten Schritt schon den<br />

letzten getan haben will, wer die Gewißheit<br />

haben will, an das Endziel zu gelangen,<br />

noch ehe er sich auf den <strong>Weg</strong> begibt, der<br />

wird niemals anlangen.<br />

Welcher Art Arbeit man auch unternehmen<br />

möge, <strong>und</strong> wie nahe man auch<br />

ihrer Fertigstellung sei, wer kann behaupten,<br />

daß er ihr Ende absehen kann? Wer vermag<br />

zu behaupten: »Ich werde reichlich<br />

ernten, was ich säe; ich werde das Haus<br />

bewohnen, das ich zu erbauen im Begriffe<br />

stehe; ich werde die Früchte des Baumes<br />

essen, den ich pflanze?« —<br />

Und doch vertraut man die Saat dem<br />

Acker an! Und doch fügt man die Steine<br />

zum Bau zusammen! Und doch läßt man<br />

der Baumpflanze Pflege angedeihen!<br />

Soll man denn von Mühen, die möglicherweise<br />

zum Guten führen, nur aus<br />

dem Gr<strong>und</strong>e Abstand nehmen, weil man<br />

nicht ganz gewiß, nicht ganz sicher weiß,<br />

w e m , w i e <strong>und</strong> w a n n das Resultat zu<br />

Gute kommen werde? Soll man deshalb<br />

die Saat auf steinigen Felsen oder auf<br />

sumpfiges Moor streuen? Soll man deshalb<br />

die Steine ohne Wage <strong>und</strong> Lot fügen? Soll<br />

man deshalb die Pflanze allen vier Winden<br />

aussetzen?<br />

Die Freude am Erfolg ist schon in<br />

der Freude an der Arbeit enthalten. Wer<br />

seine ersten Schritte in einer Richtung tut,<br />

die er vernunftgemäß für gut halten muß,<br />

der langt schon am <strong>Ziel</strong>e an, das heißt,<br />

fühlt sich schon sofort für diese Mühe<br />

belohnt.<br />

Wir brauchen es nicht zu wissen, ob<br />

wir durchdringen werden, ob die Menschheit<br />

zu einer genügend großen Harmonie<br />

gelangen wird, daß die Individualität im<br />

Gesellchaftsverbande zu freier <strong>und</strong> voller<br />

Entfaltung kommen kann — wir müssen<br />

nur unser Leben darnach einrichten, daß<br />

dem nichts im <strong>Weg</strong>e stehe, wir müssen<br />

in der Richtung gehen, die uns von Erfahrung<br />

<strong>und</strong> Vernunft geboten wird.<br />

Wir behaupten nicht, die Menschheit<br />

sei von Natur aus gut veranlagt <strong>und</strong> m ü s s e<br />

zur Harmonie gelangen können, doch sagen<br />

wir: »Vernunftgemäß ist es Interesse der<br />

Menschheit, den größtmöglichen Wohlstand<br />

mit geringster Kraftanstrengung zu erreichen;<br />

nicht um die Arbeit zu beseitigen, sondern<br />

um sie auf das weitestgehende <strong>und</strong> auch für<br />

Alle auszunützen. Man muß also die<br />

Menschheit auf ihr Interesse hinweisen,<br />

man muß ihr zeigen, daß gegenseitige Ver-<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2.40;<br />

halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

ständigung das beste. Mittel ist, um Menschenglück<br />

zu sichern«<br />

Versuchen wir denn, es ihr begreiflich<br />

zu machen.<br />

Der Gedanke, daß ein Zusammenstoß<br />

der Erde mit einem Meteor, daß ein vulkanisches<br />

Ereignis oder ein sonstiges Naturphänomen<br />

unsere Beweisführung unterbrechen<br />

oder unser Beispiel zerstören könne,<br />

darf uns von keinem der beiden abhalten.<br />

Gleicherweise darf für uns die Unwissenheit<br />

oder die Mißratenheit der großen Masse,<br />

die Lügen <strong>und</strong> Verleumdungen ihrer Führer<br />

kein Gr<strong>und</strong> sein, uns in unserem idealen<br />

Streben <strong>und</strong> Kampf zu beirren.<br />

Jede Arbeit, die man in Angriff nimmt,<br />

befindet sich dadurch schon auf dem <strong>Weg</strong>e<br />

zu ihrer Vollendung, gleichviel welcher<br />

Widerstand dem entgegengesetzt wird. Keiner<br />

Selbsttäuschung über die Herrlichkeit<br />

<strong>und</strong> die Nähe des zu erreichenden <strong>Ziel</strong>es,<br />

sondern einer stets wachen Kritik bedürfen<br />

wir, einer Kritik, die fortwährend untersucht,<br />

ob wir auch in der richtigen Weise vorgehen,<br />

ob wir noch immer des richtigen<br />

<strong>Weg</strong>es entlang schreiten.<br />

Und in dieser bestimmten Richtung<br />

gehen wir mit Eifer, mit Kraft <strong>und</strong> mit<br />

Freude vor, weil wir überzeugt sind, alles<br />

getan zu haben, um richtigen <strong>Weg</strong>es zu<br />

sein, weil wir überzeugt sind, auch fürderhin<br />

zu Allem bereit zu sein, um vom<br />

richtigen <strong>Weg</strong>e nicht abzukommen. Deshalb<br />

bringen wir unseren kritischen Untersuchungen<br />

die größte Sorgfalt entgegen, deshalb<br />

schenken wir auch unserer Tätigkeit die<br />

höchste Aufmerksamkeit <strong>und</strong> all unsere Kraft.<br />

Wenn man uns zuruft: »Euer Unterfangen<br />

ist zu mühselig, die staatliche, kapitalistische<br />

Gesellschaft ist zu solid organisiert,<br />

die Dummheit der Menschheit ist zu groß«,<br />

— so kann <strong>und</strong> darf uns das nicht aufhalten;<br />

nur wenn man uns beweisen würde, daß<br />

wir auf falschem <strong>Weg</strong>e seien, würden wir<br />

uns ändern, dann aber auch nur in der<br />

Richtung unserer neuen Erkenntnis, welch<br />

neuer Richtung wir wiederum all unsere<br />

Kraft, all unsere Energie zuwenden würden;<br />

denn nicht der blinde Glaube an ein bestimmtes<br />

Endziel, nicht die Illusion eines<br />

bestimmten Paradieses, sondern die Gewißheit,<br />

unsere Kraft auf das Beste angewandt<br />

zu haben, gibt uns Mut <strong>und</strong> Ausdauer in.<br />

unserem Handeln.<br />

Greifbare sofortige Resultate, Reformen<br />

durch den Staat, wie sie von der großen<br />

Menge verlangt werden, gehen uns nichts<br />

an, denn wir wissen, daß sie uns bloß<br />

aufhalten, daß sie uns vom geraden <strong>Weg</strong>e<br />

ablenken würden, ohne uns auch nur eine<br />

tatsächliche Verbesserung unserer Lebenslage<br />

geboten zu haben.<br />

Wir benötigen nicht der Trugbilder,<br />

um das <strong>Ziel</strong> näher vor Augen, um den<br />

<strong>Weg</strong> kürzer zu glauben. Uns genügt es,<br />

zu wissen, d a ß w i r v o r w ä r t s schreiten,<br />

<strong>und</strong> daß selbst wenn wir manchmal nicht<br />

so recht vom Fleck zu kommen scheinen,<br />

wir uns deshalb doch nicht verirrt haben.


Ein Trugbild kann nur einen Irrglauben<br />

erzeugen; ein Trugbild kann nur vom geraden<br />

<strong>Weg</strong>e ablenken; <strong>und</strong> gelingt es dann<br />

später, sich auf den rechten <strong>Weg</strong> wieder<br />

zurückzufinden, so geschieht es auf Kosten<br />

unserer Kraft, auf Kosten unserer durch<br />

eine verlorene Illusion geschwächten Energie.<br />

Demagogische politische Phrasen <strong>und</strong><br />

Illusionen berauschen wie Alkohol, sie vermögen<br />

die große Masse leidenschaftlich<br />

auf ein nahes <strong>Ziel</strong> hin zu bewegen; doch<br />

wenn der Haltepunkt da <strong>und</strong> der Rausch<br />

vorüber ist, dann greift die Entmutigung<br />

um sich, dann tritt die Leere des Resultats<br />

zum Vorschein*. Wir aber brauchen diese<br />

Gaukelbilder nicht, denn wir schöpfen<br />

unsere Energie nicht aus dem Glauben,<br />

daß wir ankommen werden, sondern aus<br />

der Gewißheit, daß wir Recht haben.<br />

Wir brauchen keine <strong>Weg</strong>weiser, die<br />

anzeigen, daß das Drittel, das Viertel, das<br />

H<strong>und</strong>ertstel des <strong>Weg</strong>es zurückgelegt sei;<br />

wir sprechen keinem das Recht zu, die<br />

Menge unserer Leistungen oder ihr Verhältnis<br />

zu der Gesamtleistung aller zu<br />

messen. Wir fühlen uns stark, weil wir<br />

wissen, daß wir unsere Kraft, unsere ganze<br />

Kraft in der Richtung anwenden, die wir<br />

für die beste halten.<br />

Wir wissen, daß es kein Endziel geben<br />

kann, weil Leben <strong>und</strong> Wirken einer ständigen<br />

Evolution unterworfen sind. Es genügt<br />

uns, daß wir immer voraus gehen, daß wir<br />

immer auf dem rechten <strong>Weg</strong>e bleiben. Und<br />

wenn die H<strong>und</strong>emeute nach uns kläfft,<br />

daß wir verworfen, daß wir verrückt seien;<br />

wenn sich die große Masse uns in den<br />

<strong>Weg</strong> legt; wenn Herkommen <strong>und</strong> Blödsinn<br />

uns ihre Gesetze als unfehlbar bezeichnen<br />

<strong>und</strong> wenn sich der Staat <strong>und</strong> seine Stützen<br />

auch noch so bitter gegen uns kehren,<br />

möge das <strong>Ziel</strong> noch so weit erscheinen<br />

— was ficht uns das an?<br />

Wir gehen immer voraus . . . alle<br />

Mittel des revolutionären <strong>und</strong> geistig revolutionierenden<br />

Kampfes gebrauchend. Wir<br />

sind bereit, uns zu verteidigen, wenn angegriffen,<br />

gleichviel wieviel Opfer es koste.<br />

Wir sind bereit, uns jedem <strong>und</strong> allem anzuschließen,<br />

wenn es in Wahrheit den<br />

Wohlstand für Alle <strong>und</strong> die Freiheit der<br />

menschlichen Individualität gilt.<br />

Wir gehen immerwährend weiter . . .<br />

Und jeder unserer Schritte birgt seine<br />

Freude in sich, <strong>und</strong> jeder Tag bildet eine<br />

neue Etappe, so gering sie auch sein mag.<br />

Wir gehen <strong>und</strong> haben wohl nicht die<br />

»Gewißheit«, anzulangen, doch sind wir<br />

uns dessen gewiß, Alles getan zu haben<br />

<strong>und</strong> zu allem bereit zu sein, um unserem<br />

Ideal gemäß zu handeln, um also rechten<br />

<strong>Weg</strong>es zu sein.<br />

U n d d a s m a c h t , d a ß w i r u n s<br />

ü b e r l e g e n f ü h l e n , d a ß w i r n i m m e r<br />

v e r z a g e n , d a ß w i r i m m e r w ä h r e n d<br />

w e i t e r v o r w ä r t s g e h e n ! Albert Libertad.<br />

Wandlungen,<br />

i.<br />

Es war im Jahre 1893.<br />

Im Schwurgerichtssaale des Kreisgerichtes<br />

R i e d steht ein sozialdemokratischer<br />

Agitator unter der Anklage der Armee- <strong>und</strong><br />

Majestätsbeleidigung.<br />

In einer Volksversammlung im Städtchen<br />

hatte er der verpönten Meinung Ausdruck<br />

gegeben, daß die jungen Menschen<br />

beim Militär zu Faulenzern <strong>und</strong> Nichtstuern<br />

erzogen würden <strong>und</strong> daß das Volk an<br />

Kriegen keinerlei Interesse habe; wenn sich<br />

zwei Könige stritten, so mögen sie es<br />

untereinander ausmachen, eventuell ein in<br />

* Mögen die österreichischen Arbeiter diese<br />

Worte beherzigen <strong>und</strong> der verlorenen Hoffnungen,<br />

die sie auf die Erlangung des Wahlrechtes setzten,<br />

gedenken! Anm. d. Red.<br />

Wien sehr verbreitetes Spiel zu Hilfe<br />

nehmen . . .<br />

Die Rede des Staatsanwaltes war verklungen,<br />

der Verteidiger hatte gesprochen,<br />

<strong>und</strong> nun nahm der Angeklagte das Wort.<br />

In feuriger Rede schilderte er die<br />

Schäden, die der Militarismus der Bevölkerung<br />

zufügt, besprach die Lasten, die<br />

der arbeitenden Bevölkerung dadurch aufgehalst<br />

werden <strong>und</strong> betonte insbesondere,<br />

wie weitaus besser die Summen, die der<br />

Militarismus verschlingt, für Kulturzwecke<br />

verwendet werden könnten. Bei einer Zusammenfassung<br />

der Stimmen, die sich gegen<br />

die Armeen ausgesprochen, kam er auch<br />

auf einen Dichter zu sprechen, der früher<br />

Minister war <strong>und</strong> führte als Gedichtstelle an:<br />

„— — — — — — — — — — — — — — —<br />

so steh'n sie da, geschlossene Mörderketten I"<br />

Scharf unterbrach ihn die Stimme des<br />

Präsidenten, die damit die Rede des feurigen<br />

antimilitaristischen Agitators beendete.<br />

Der Angeklagte wurde in beiden<br />

Punkten f r e i g e s p r o c h e n .<br />

II.<br />

Vierzehn Jahre später.<br />

Im größten Saale eines Wiener Vorortebezirkes<br />

stellte sich der sozialdemokratische<br />

Kandidat für den Reichsrat seinen<br />

Wählern vor, die den großen Saal bis auf<br />

das letzte Plätzchen füllten. Es waren zumeist<br />

Gestalten, denen man Not <strong>und</strong> Entbehrung<br />

vom Gesicht herablesen konnte.<br />

In drastischen Beispielen führte der Redner<br />

die enormen Summen an, die dem Moloch<br />

Militarismus in den Rachen geworfen werden.<br />

»Wozu brauchen wir die Armee?« so<br />

rief der Redner aus. »Gegen den äußeren<br />

Feind? Wir wollen doch mit allen Nationen<br />

in Frieden leben! Wir haben diese ungeheure<br />

Belastung deshalb zu tragen, weil<br />

sie der Kapitalismus als seine Stütze bedarf,<br />

wenn die Arbeitssklaven einmal unbotmäßig<br />

werden sollten. Der Staat, der<br />

gleichmütig zusieht, wenn wir hungern, hat<br />

dann — zur Stillung unseres Hungers —<br />

blaue Bohnen! <strong>Unser</strong>e Gegner sind Leute,<br />

die immer noch jeder Forderung nach Erhöhung<br />

der Militärlasten zugestimmt haben.<br />

Diese Leute wollen nun von Ihnen gewählt<br />

werden. <strong>Unser</strong>e Parole dagegen<br />

lautet: Keinen Mann <strong>und</strong> keinen Heller!«<br />

Tosender Beifallssturm der Versammlung<br />

lohnte den Redner. Der Mühe redlicher<br />

Lohn blieb nicht aus, unser antimilitaristischer<br />

Agitator wurde Reichsratsabgeordneter.<br />

III.<br />

Ein Jahr später.<br />

In den Räumen des sonst so stillen<br />

Herrenhauses ging es geschäftig zu. Es<br />

tagte die Delegation; Kriegsminister <strong>und</strong><br />

Marinekommandant bemühten sich, den<br />

Delegierten die riesige Summe der Militärlasten<br />

m<strong>und</strong>gerecht zu machen.<br />

Unter den Delegierten ist auch unser<br />

antimilitaristischer Agitator aus dem Schwurgerichtssaal<br />

<strong>und</strong> aus der Wählerversammlung.<br />

Jetzt wird man wohl eine ähnliche<br />

Rede hören, wie seinerzeit vor den Geschworenen,<br />

<strong>und</strong>, was das Beste ist, kein<br />

schneidiger Gerichtspräsident wird sie vorzeitig<br />

enden können.<br />

Ach nein, welcher Irrtum!<br />

Eine recht zahme Rede für die zweijährige<br />

Dienstzeit, die der Kriegsminister<br />

— zum wievieltenmale? — verspricht;<br />

einige Anfragen an den Kriegsminister<br />

wegen Soldatenschindereien, die der Minister<br />

dadurch beantwortet, daß er einen<br />

nicht einzuhaltenden Befehl verliest, dann<br />

die gewohnheitsmäßige Leier wegen der<br />

Miliz im Kapitalistensystem <strong>und</strong> dann ist<br />

Schluß.<br />

<strong>Unser</strong> Antimilitarist ist doch recht<br />

zahm geworden.<br />

Doch das ist wohl ein Trugschluß!<br />

Als ein Vertreter des Kleinbürgertums<br />

auf den Plan tritt <strong>und</strong> gleichfalls die zweijährige<br />

Dienstzeit fordert, kommt unser<br />

Antimilitarist in die Rage.<br />

Das ist unlauterer Wettbewerb, <strong>und</strong> er<br />

muß den Kriegsminister überzeugen, daß<br />

er nicht so schlimm ist als sein Leum<strong>und</strong><br />

es besagt.<br />

»Wir s i n d g e g e n d e n M i l i t a r i s -<br />

m u s , w e i l w i r d i e M i l i z w o l l e n « ,<br />

<strong>und</strong> weiter: » A u c h d e r K l a s s e n s t a a t<br />

u n d d i e A r m e e v e r w a l t u n g w e r d e n<br />

d e r S o z i a l d e m o k r a t i e i n u m s o höh<br />

e r e m M a ß e s i c h e r s e i n , a l s d e r<br />

S t a a t i m S t a n d e ist, d e m a r b e i t e n -<br />

d e n V o l k e L i e b e u n d I n t e r e s s e a m<br />

V a t e r l a n d e b e i z u b r i n g e n « .<br />

D u r c h V e r a b r e i c h u n g v o n<br />

b l a u e n B o h n e n ?<br />

IV.<br />

Ein Eilzug, bestehend aus einer Reihe<br />

von Salonwagen, braust durch das Land,<br />

der von den Delegationsmitgliedern besetzt<br />

ist.<br />

Sie fahren zur blauen Adria, um zur<br />

Abwechslung die schwimmenden Mordvorrichtungen<br />

einer Besichtigung zu unterziehen.<br />

In Triest werden sie von den<br />

Spitzen der Behörden empfangen <strong>und</strong> zu<br />

dem reich eingerichteten <strong>und</strong> reichlich verproviantierten<br />

Schiff geleitet.<br />

Bald geht es hinaus ins Meer, die<br />

Herren Delegierten werden auf einzelne<br />

Kriegsschiffe verteilt <strong>und</strong> verfolgen von<br />

dort aus mit gespannter Aufmerksamkeit<br />

die Manöver.<br />

An den Kesseln glühen die Leiber der<br />

gepreßten Sklaven des Militarismus, die<br />

Mannschaft zittert unter dem Blick der<br />

Offiziere; heute würde jeder Mißgriff<br />

doppelt geahndet werden, es s i n d ja<br />

d i e A u s e r w ä h l t e s t e n u n t e r d e n<br />

A u s e r w ä h l t e n z u G a s t e .<br />

Kanonendonner rollt über die Wogen<br />

dahin <strong>und</strong> das sich bietende Schauspiel<br />

wird von allen Delegierten bew<strong>und</strong>ert.<br />

Sie sind doch herrlich, die Mordeinrichtungen<br />

zu Wasser <strong>und</strong> zu Lande, fest<br />

steht der Besitz <strong>und</strong> der innere Feind mag<br />

sich freuen . . .<br />

Man kann nicht wissen, in Rußland<br />

— — — — die Champagnerpfropfen knallen,<br />

die Tafel ist üppig besetzt— — — — — <strong>und</strong><br />

die Kosten? Ach, pah, die werden zu den<br />

Milliarden geschlagen, die dem Volke für<br />

diese Einrichtungen erpreßt werden. Die<br />

liebe Mühe der Marineverwaltung wird<br />

nicht umsonst bleiben, für den Marinismus<br />

kann sie nun getrost neue Forderungen<br />

stellen.<br />

Nachdem alles besichtigt, geht es ans<br />

Abschiednehmen. Jeder Delegierte, auch<br />

unser Antimilitarist samt seinen drei Fre<strong>und</strong>en,<br />

gleichfalls stramme »Antimilitaristen«,<br />

erhält als Andenken an diesen Ausflug ein<br />

Mützenband; schwarz ist es <strong>und</strong> mit Golddruck<br />

steht darauf der Name des Schiffes.<br />

S c h w a r z g e l b ! * *<br />

*<br />

<strong>Unser</strong> Antimilitarist, der Angeklagte<br />

vor dem Schwurgericht, der Redner in der<br />

Wählerversammlung, der Redner in der<br />

Delegation, der Gast des Marinekommandanten,<br />

ist, so unglaublich es klingt, ein<br />

<strong>und</strong> dieselbe Person. Es liegt nur ein Zeitraum<br />

von knapp 15 Jahren dazwischen.<br />

Wie er heißt?<br />

Ach, das ist doch gleichgiltig; zufällig<br />

F r a n z S c h u h m e i e r , er könnte auch auf<br />

einen anderen unter 87 Namen hören.<br />

Wir hoffen, als treue Berichterstatter<br />

dieser vier Kapitel, auf eine Gegenleistung<br />

<strong>und</strong> stellen deshalb eine Bitte: Herr Franz<br />

Schuhmeier möge, ach nur ein einzigesmal,<br />

seinen Hut mit dem schwargelben Erinnerungszeichen<br />

schmücken, möge so in<br />

eine Wählerversammlung kommen, den


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchist.<br />

Lied der Ausgesperrten!<br />

Noch sind wir kräftig, noch sind wir stark,<br />

Noch wirkt in unsern Knochen das Mark,<br />

Noch w o l l e n , noch können die Arbeit wir schaffen;<br />

Noch sind wir bereit, für Andre zu raffen,<br />

D'rum gebt uns Arbeit! <strong>und</strong> gebt uns Brot,<br />

Damit wir stillen können die Not —<br />

Des Magens Notdurft, den Hunger der Kleinen,<br />

Die sonst an dem Elend zu Tode sich weinen.<br />

Gebt Arbeit uns! Doch gebt uns auch Zeit!<br />

Denn unser Himmel ist gar so weit<br />

Und Ihr werdet uns gönnen, i h n uns zu suchen .. .<br />

In Euern Höllen da lernen wir fluchen.<br />

Da lernen wir fluchen: Euch, Euerm Gott,<br />

Die niemals bekümmert all unsere Not;<br />

Da lernen verfluchen wir Eure Sitten<br />

Und lernen, zu n e h m e n , an Stelle zu bitten . . .<br />

Ihr schlaget Euch nur die eigene Brust —<br />

„Zerstören ist auch eine schaffende Lust!"<br />

Und drängt es Euch, dies uns vorzumachen . . .<br />

— schon recht; wir wissen, bald werden w i r lachen.<br />

Wir trugen zu längst schon Mühe <strong>und</strong> Last;<br />

Jetzt fehlt uns nur noch der Hunger zu Gast.<br />

Nur weiter, Ihr Henker, auf Euern Routen,<br />

Bevor wir verhungern, werdet Ihr noch verbluten.<br />

B-d-r.<br />

B ö h m e n .<br />

Die Angestellten der elektrischen Straßenbahn<br />

in P r a g , die der national-sozialen Partei angehören,<br />

hatten sich nach langem Zaudern, gepeitscht<br />

durch unerträgliche Verhältnisse, zum Streik aufgerafft.<br />

Doch schon nach einigen Tagen wurde der<br />

Streik beendigt — fast erfolglos. Die Führer erzielten<br />

in den Verhandlungen nur eine unbedeutend<br />

geringe Lohnerhöhung, auf alle anderen Forderungen,<br />

wie z. B. auf die eminent wichtige F o r d e r u n g<br />

d e r D i e n s t z e i t r e g e l u n g — wurde mit<br />

leeren Versprechungen geantwortet; dafür jedoch<br />

mußten sich die Angestellten verpflichten, zwei<br />

Jahre lang, das heißt, über die Dauer der in Prag<br />

stattfindenden Jubiläumsausstellung, also zur günstigsten<br />

Kampfeszeit, mit den bestehenden Bedingungen<br />

zufrieden zu sein <strong>und</strong> nicht zu streiken. —<br />

Das Tragische ist, daß die Führer in begeisternden<br />

Worten den Streikenden zureden mußten, diese von<br />

ihnen ausgemachten Bedingungen anzunehmen. Der<br />

Abgeordnete Burival erteilte ihnen sogar einen sehr<br />

wertvollen Zukunftswechsel: er werde im Landtag<br />

schon alles für sie richten! — Die Armen!<br />

Galizien.<br />

Von einem geradezu unglaublich schauderhaften<br />

Fall macht uns unser Genosse, der Elektromonteur<br />

D. W i s c h n j i t s c h , Mitteilung. Vor einigen<br />

Wochen stieg er in der galizischen Station Przemysl<br />

um 10 Uhr 30 Min. abends in den Personenzug<br />

Nr. 20. Er war in ein Rauchercoupe gestiegen <strong>und</strong><br />

als er, ein Nichtraucher, den Rauch nicht vertragen<br />

konnte, beschloß er, beim Einfahren des Zuges in<br />

die Station Sedziszow in ein anderes Coupé zu<br />

steigen. Leider aber waren die Türen sämtlicher<br />

Nichtraucherwaggons geschlossen, als er seinen<br />

Plan zur Ausführung bringen wollte. Er wollte also<br />

zurück — doch zu spät, der Zug setzte sich schon<br />

in Bewegung. Nun blieb ihm nichts anderes übrig,<br />

als auf das Trittbrett zu springen. Er hielt sich fest<br />

<strong>und</strong> raste mit dem Zuge davon. Als derselbe sich<br />

etwa 400 bis 500 Meter von der Station entfernt<br />

hatte, bemerkte er, daß ein Kondukteur den Waggon<br />

passierte, an dessen Tür er sich festhielt. Er klopfte<br />

an das Fenster. Der Kondukteur erblickte ihn.<br />

Wischnjitsch glaubte nun, er würde ihm die Coupetüre<br />

öffnen <strong>und</strong> hineingehen lassen. S t a t t d e s s e n<br />

öffnete d e r U n h o l d d i e T ü r e m i t e i n e m unv<br />

e r k e n n b a r b e a b s i c h t i g t e n , p l ö t z l i c h e n<br />

Ruck, v e r s e t z t e d e m G e n o s s e n e i n e n S t o ß<br />

<strong>und</strong> s t i e ß ihn v o m Z u g e h i n a b . 10 bis 15 Meter<br />

fühlte sich der Bedauernswerte mitgerissen, dann<br />

zur Seite geschleudert, <strong>und</strong> da lag er nun auf<br />

freiem Felde, schwer beschädigt für die Dauer von<br />

zwei Wochen.<br />

Es ist etwas unsäglich Trauriges in diesem<br />

Falle gelegen. Ein Proletarier — <strong>und</strong> was sind die<br />

hungernden Kondukteure anderes? — gegen einen<br />

Proletarier, einen Anarchisten, der um die Befreiung<br />

des Proletariats ringt. Aber es ist auch<br />

nicht die Schuld des verbestialisierten Kondukteurs<br />

allein. Es sind andere Leute, die die Schuld an<br />

dieser Verbestialisierung tragen, <strong>und</strong> wir raten<br />

ihnen, die Übelstände auf den Eisenbahnen zu<br />

beheben, da sie nicht immer solche gutmütige<br />

Dulder, wie deren einer unser Genosse ist, antreffen<br />

mögen.<br />

Frankreich.<br />

Nicht mehr die internationale S o z i a l - , sondern<br />

die internationale P o l i ze i demokratie sollte<br />

es heißen. Dem berühmten Fall des deutschländischen<br />

Sozialdemokraten Klinke, jenem des österreichischen<br />

Reumann-Adler, schließt sich nun neuerlich<br />

der Fall des französischen Jaurès an, der im Par-<br />

lament erklärte, daß er gegen die dem Sultan Abdul<br />

Asis von der französischen Regierung vorgeschossene<br />

Geldsumme b e h u f s O r g a n i s a t i o n d e r P o -<br />

l i z e i i n d e n m a r o k k a n i s c h e n H ä f e n<br />

n i c h t s einzuwenden habe, sich sogar über das<br />

dadurch offenbarte internationale Einvernehmen —<br />

welch herrlicher Internationalismus! — sehr freue<br />

<strong>und</strong> nur die eine Frage aufwerfen könne, ob die<br />

Geldanleihe a u c h w i r k l i c h r i c h t i g v e r -<br />

w e n d e t werden .würde.<br />

Die staatlichen Gewalten können sich international<br />

beglückwünschen zu dieser prächtigsten<br />

„sozialreformatorischen" Erfindung, genannt Sozialdemokratie;<br />

denn diese Erfindung beginnt mit der<br />

zweckmäßigsten Konservierung des Bestehenden,<br />

der Eröffnung günstiger politischer Ämter für die<br />

Führer <strong>und</strong> endet mit der Vernichtung jeder sozialrevolutionären,<br />

sozialistischen Bewegung.<br />

*<br />

*<br />

*<br />

Die „La Voix du Peuple", Organ der revolutionären<br />

Syndikate bringt einen Aufruf <strong>und</strong> Artikel,<br />

in dem sich das Blatt gegen mehrfache Versuche<br />

der Sozialdemokraten wendet, die darauf abzielen,<br />

diese kräftige Gewerkschaftsorganisation zu<br />

sprengen durch Hereinzerrung der Stuttgarter internationalen<br />

sozialdemokratischen Kongreßresolution.<br />

Die Redaktion obigen Blattes warnt die Zerstörer<br />

<strong>und</strong> versichert, daß für sie nur der syndikalistische<br />

Kongreß von Amiens maßgebend ist, der die vollständige<br />

Autonomie der französischen Gewerkschaftsbewegung<br />

aussprach.<br />

von a l l e n politischen Parteien<br />

Für uns österreichische Anarchisten, denen<br />

doch so oft Zersplitterungsversuche vorgeworfen<br />

werden, ist dies sehr interessant. Es ist wahr —<br />

wir sind Ze'rsplitterer alles Philiströsen <strong>und</strong> des<br />

Konservativismus von oben wie von unten; die<br />

Sozialdemokraten sehen wir hier aber in einer<br />

allerliebsten, wenn auch nicht mehr ganz neuen<br />

R o l l e : H a n d i n H a n d m i t d e r f r a n z ö s i s c h e n<br />

R e g i e r u n g g e g e n d i e v o n d i e s e r g e h a ß -<br />

t e n r e v o l u t i o n ä r e n G e w e r k s c h a f t s b e -<br />

w e g u n g !<br />

Rom.<br />

Italien.<br />

Glühend rot zeichneten sich die ersten<br />

Tage dieses Monats auf dem Firmament des italienischen<br />

Bruderproletariats, auf dem Firmament<br />

der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung<br />

ab. Wieder einmal hat es sich gezeigt, daß, ungleich<br />

der Arbeiterbewegung Österreichs <strong>und</strong><br />

Deutschlands, das Wort S o l i d a r i t ä t unter den<br />

romanischen, den von den Sozialdemokraten <strong>und</strong><br />

Kapitalisten vielgeschmähten Arbeitern kein leerer<br />

Schall ist, sondern eine praktische Kampfesparole,<br />

die Begeisterung entzündet im Gefühl aller Revolutionäre.<br />

Die italienische Regierungsgemeinheit hat eine<br />

tüchtige Lektion erhalten. Anläßlich eines letzten<br />

Ehrengeleites, das die römischen Arbeiter einem<br />

der ihren, einem von kapitalistischer Profitwut vorzeitig<br />

ins Grab getriebenen Anarchisten gaben,<br />

schössen die Polizei <strong>und</strong> die Karabinieri ins Volk,<br />

verw<strong>und</strong>eten <strong>und</strong> töteten viele. Da, ohne sich erst an<br />

Zentralleitungen <strong>und</strong> Instanzen zu wenden, ohne<br />

deren Befehle abzuwarten, empfand es das römische<br />

Proletariat als E h r e n s a c h e , diesen Schlag den<br />

Herrschenden zurückzugeben. Tags darauf wurde in<br />

Rom der Generalstreik erklärt, <strong>und</strong> zwei Tage lang<br />

stand der ewig spendende Strom der ausgebeuteten<br />

Arbeit still, wurde das Industrie- <strong>und</strong> Finanzsystem<br />

des Kapitalismus in arge Verwirrung gebracht. Der<br />

Generalstreik lehrte so recht deutlich, wie abhängig<br />

alles, was da ist, vom Proletariat <strong>und</strong> daß alle die<br />

wahnwitzigen Schwindelspekulationen des Kapita-<br />

Iismus in sich selbst zusammenbrechen, wenn dein<br />

starker Arm, Proletarier, es will!<br />

Aber warum breitete sich der Streik nicht<br />

a u s ? Waren doch anno 1904 die Arbeiter von<br />

34 Ortschaften Italiens an den Generalstreik getreten.<br />

Weshalb diesmal nicht? Es ist ein trauriges<br />

Kapitel in der Geschichte der Arbeiterbewegung,<br />

dem wir uns nun zuzuwenden haben, wenn auch<br />

keineswegs mehr neu.<br />

D i e s o z i a l d e m o k r a t i s c h e P a r l a -<br />

m e n t s f r a k t i o n e r k l ä r t e , i n h e r r l i c h -<br />

s t e r Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t d e r R e c h t e n<br />

d e s H a u s e s , d u r c h i h r e n W o r t f ü h r e r<br />

T u r a t i , d a ß s i e s i c h g e g e n d e n G e -<br />

n e r a l s t r e i k k e h r e , a l l e s i h r z u G e b o t e<br />

S t e h e n d e a n w e n d e n w ü r d e , u m d e s s e n<br />

A u s b r e i t u n g z u v e r h i n d e r n u n d d e n<br />

G e n e r a l s t r e i k i n R o m r a s c h e s t z u<br />

E n d e z u b r i n g e n . Dieser traurige Verräter<br />

hatte noch die erbärmliche Frechheit zu konstatieren,<br />

jetzt, im Augenblicke des Generalstreiks,<br />

sei n i c h t der richtige Moment gekommen, um<br />

sich gegen die Regierung wegen deren Ermordung<br />

von Arbeitern zu wenden; jetzt, in diesem Augenblicke<br />

müsse vor allen Dingen der Generalstreik<br />

abgebrochen werden!!!<br />

Unter diesen Umständen, da ihnen die Sozialdemokraten<br />

in heimtückischer Weise in den Rücken<br />

fielen, mißlang die versuchte Ausbreitung des G e -<br />

neralstreiks. Angesichts dieser Handlungsweise<br />

kann man nicht anders als zu fragen: W i e v i e l<br />

haben diese sozialdemokratischen Parlamentarier<br />

für diesen Dienst erhalten, den sie der Regierung<br />

leisteten ? S o l c h e Dinge pflegt man nicht gratis<br />

zu tun . . .<br />

Wehe den sozialdemokratischen Gauklern,<br />

wenn einmal ihr Register aller Verrätereien am<br />

Volke aller Länder enthüllt wird! Als niederträchtige<br />

Handlanger der Reaktion werden sie in die<br />

Geschichte des Sozialismus übergehen.<br />

Über den italienischen Arbeitern flattert das<br />

Ehrenbanner des revolutionären Klassenkampfes,<br />

<strong>und</strong> begeisterten Herzens jauchzen wir ihnen z u !<br />

In Deutschland wird die kleinste Wahldemonstration<br />

von Polizei <strong>und</strong> Soldateska gesprengt. Was geschieht?<br />

N i c h t s ! In Österreich wird das Militär<br />

nach Graz zitiert um einen Streik zu brechen; die<br />

Lebensmittelpreise steigen, Aussperrungen sind an<br />

der Tagesordnung. Was geschieht? N i c h t s !<br />

Kein W<strong>und</strong>er, daß die Arbeiterbewegung dieser<br />

Länder ein einzig großes Nichts ist, so weit revolutionärer<br />

Klassenkampf in Betracht kommt. Die<br />

italienischen Arbeiter haben uns wieder gelehrt,<br />

wie die Arbeiterbewegung zur bedeutenden politischen<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Klassenbewegung zu gestalten<br />

ist. Denn was kann die Arbeiterbewegung<br />

sein, wenn sie zu kämpfen versteht? A l l e s , wenn<br />

sie es nur will, sich auf ihre eigenen Kräfte verläßt<br />

<strong>und</strong> die politisch-parlamentarischen Vampyre<br />

abschüttelt!<br />

Russisch-Polen.<br />

Um die Entwicklung des Anarchismus in Polen<br />

verständlich zu machen, muß hier vorausgeschickt<br />

werden, in welcher Verfassung sich die polnische<br />

Arbeiterbewegung befindet.<br />

Das polnische Proletariat führt schon längst<br />

in den Zentren der Textilindustrie (Warschau,<br />

Lodz.Pabianice etc.) <strong>und</strong> im Steinkohlengebiet (Dombrowo,<br />

Sosnowice) einen hartnäckigen Kampf gegen<br />

die Kapitalisten; in diesem Kampfe hat es gelernt,<br />

den ökonomischen Widerstand <strong>und</strong> individuelle T a -<br />

ten zur Geltendmachung seiner Forderungen anzuwenden,<br />

doch wurde dieser Klassenkampf beständig<br />

durch verschiedene nationale Bestrebungen paralysiert.<br />

Die zynische Politik des Zarentums, die mit besonderem<br />

Nachdruck gerade in Polen durchgeführt<br />

wird, fällt mit voller Wucht vornehmlich auf die<br />

Arbeiterklasse nieder <strong>und</strong> diesen Umstand machten<br />

sich die verschiedenen national-demokratischen<br />

Parteien zunutze. Die „Volksdemokraten" schwatzten<br />

den Arbeitern immerfort vor, daß es ein verbrecherisches<br />

Beginnen sei, einen Klassenkampf<br />

innerhalb der polnischen Nation zu führen, wenn<br />

die ganze Nation einen gemeinsamen Feind — d a s<br />

Zarentum — habe; sogar ein Teil der Sozialdemokraten<br />

war in dieser Hinsicht befangen, zwar formulierten<br />

diese ihre Auffassung anders, indem sie<br />

den republikanischen Gedanken propagandierten,<br />

doch sollte es eine p o l n i s c h e Republik sein,<br />

eine nationale Republik, die die polnische N a t i o n<br />

in ihrer Gesamtheit erlösen sollte. Eine Ausnahme<br />

machte der andere Teil der Sozialdemokraten, der<br />

zum Kampfe für die a l l r u s s i s c h e Demokratie,<br />

anfänglich wenigstens, aufrief.<br />

In diesen Prinzipiengegensatz suchten die<br />

Wortführer der Parteien die Arbeiter mit allen nur<br />

erdenklichen Redekünsten hineinzuziehen; wir<br />

wollen diesen d u n k l e n P u n k t der Arbeiterbewegung<br />

übergehen, doch sei erwähnt, daß nach<br />

den Feststellungen der Zeitung „Towarisch" infolge<br />

Parteihaders zwischen Volksdemokraten <strong>und</strong> Sozialdemokraten<br />

in einer einzigen Stadt (Lodz) in einem<br />

Zeitraum von sechs Monaten bei knappster Berechnung<br />

127 Arbeiter <strong>und</strong> 6 Arbeiterinnen getötet<br />

wurden, während die Polizeischergen des Zarentums,<br />

also nach Auffassung der Herren Nationaltheoretiker<br />

— die eigentlichen Gegner der Nation<br />

— während dieser ganzen Periode nur 15 Tote<br />

<strong>und</strong> 6 Verw<strong>und</strong>ete zu beklagen hatten.<br />

Wie schon oben erwähnt, gibt die polnische<br />

Bewegung im Lohnkampfe äußerst radikalen Methoden<br />

sehr oft den Vorzug. Der polnische Arbeiter<br />

boykottierte die Dumawahlen <strong>und</strong> verließ sich auf<br />

die d i r e k t e A k t i o n in ihren revolutionären Anwendungen,<br />

was unumgänglich zu einem Konflikt<br />

mit den sozialdemokratischen <strong>und</strong> anderen Führern<br />

führen mußte. Dieser Konflikt kam nun vollends<br />

durch den Londoner Kongreß der russischen Sozialdemokraten<br />

zum Ausbruch, der bestimmt hatte,<br />

daß: 1. ein parteiloser Arbeiterkongreß nicht stattfinden<br />

dürfe, daß 2. jedwede individuelle oder kollektive<br />

Gewaltaktion vom wirtschaftlichen Kampfe<br />

fernzuhalten sei, da dadurch angeblich der p o l i -<br />

t i s c h e n Revolution Abbruch geschähe, <strong>und</strong> 3. daß<br />

„Expropriationen" zu verdammen seien, weil das<br />

ein demoralisierendes Kampfmittel sei, das alle G e -<br />

sellschaftsklassen gegen die Revolutionäre erbittere.<br />

Gleichzeitig war verfügt worden, daß nunmehr<br />

sämtliche terroristischen Organisationen der Partei<br />

aufzulösen <strong>und</strong> die Waffen an die Parteileitung a b -<br />

zuführen seien, was einen Sturm von Entrüstung<br />

hervorrief; öl ins Feuer goß die gleichzeitig erfolgte<br />

Erklärung der revolutionärsten Fraktionen<br />

der P. P. S. (Polnische Sozialistische Partei) von


Lodz <strong>und</strong> Warschau, daß sie vom ökonomischen<br />

Terror n i c h t s mehr wissen wollen <strong>und</strong> die jüngst<br />

erfolgten Ermordungen von Fabrikanten <strong>und</strong> Fabriksdirektoren<br />

nicht verantworten können. Dazu kam<br />

noch, daß die gesamten sozialdemokratischen Fraktionen<br />

ihren Ton bedeutend mäßigten <strong>und</strong> zu den<br />

Wahlen in die dritte Duma eine so offenk<strong>und</strong>ig<br />

rückschrittliche Richtung einschlugen, daß die an<br />

„anarchische" Methoden gewöhnten polnischen<br />

Arbeiter in schärfste Opposition dazu traten. Das<br />

ergab einen unüberbrückbaren Gegensatz. Einerseits<br />

trug der politische Terror des Zarentums <strong>und</strong><br />

das Aussperrungssystem der Arbeitgeber dazu bei,<br />

die gewohnten radikalen Aktionsmittel der Arbeiterschaft<br />

zu entwickeln — während andererseits die<br />

staatlichen Sozialisten zur Zentralisation, zum engpolitischen<br />

Kampf <strong>und</strong> zur Wahlagitation aneiferten.<br />

Viele Arbeiter blieben ihrem Klasseninstinkt<br />

treu <strong>und</strong> opponierten gegen diese Schwenkung der<br />

Parteiführer nach rechts, die dem vollkommenen<br />

Verrat an der revolutionären Parteivergangenheit<br />

gleichkam; viele revolutionär gestimmte Arbeiter<br />

traten nun zum Anarchismus über <strong>und</strong> die sozialdemokratischen<br />

Organisationen aller Abarten mußten<br />

von nun an mit einer Menge „anarchistelnder"<br />

Elemente in ihrer eigenen Mitte rechnen. Die<br />

Stimmung der großen Masse wurde dadurch sehr<br />

revolutionär.<br />

Bis vor kurzer Zeit spielte die Propaganda<br />

des Anarchismus in Polen eine unbedeutende<br />

Rolle, da es fast gar keine polnische Literatur gab.<br />

In Warschau begann die Propaganda nach<br />

den Jännerereignissen von 1905. Die erste Gruppe<br />

„International" bestand aus 40 Mann, die Redner<br />

zu Versammlungen stellten, die jüdische Arbeiterschaft<br />

organisierten <strong>und</strong> den ökonomischen Kampf<br />

der Arbeiter unterstützten. Es ereignete sich auch,<br />

daß z. B. beim Bäckerstreik mehrere Backöfen in die<br />

Luft flogen, während der Teig untauglich wurde, weil<br />

er einen starken Petroleumbeigeschmack aufwies, etc.<br />

Die erschreckten Unternehmer gaben sofort klein<br />

bei — der Streik war glänzend gewonnen. Die<br />

Panik der Arbeitgeber war so groß, daß die Bekanntgabe<br />

genügte, daß Anarchisten in irgend einen<br />

Streik eingreifen wollen, um den Widerstand der<br />

Fabrikanten zu brechen.<br />

Die ganze Zeit über hatten die Anarchisten<br />

einen energischen Kampf mit den Sozialdemokraten<br />

zu führen, die über den Terrorismus mit der<br />

bürgerlichen Presse um die Wette geiferten. Gleichzeitig<br />

mußte auch gegen die Banditen gekämpft<br />

werden, die sich den durch die anarchistische<br />

Aktion hervorgerufenen Schrecken zu nutze zogen,<br />

um nun vom Raub <strong>und</strong> Erpressungen zu leben.<br />

Als nun im Oktober nach Veröffentlichung des<br />

ersten Freiheitsmanifestes ein paar Freiheitstage<br />

eintraten, riefen die Anarchisten große öffentliche<br />

Versammlungen ein. Doch bald setzte wieder die<br />

alte Reaktion ein, <strong>und</strong> die Polizei begann alle<br />

des Anarchismus verdächtigen Personen zu verhaften.<br />

Als erster fiel der Polizei der Kamerad V i kt o r<br />

R i v k i n d in die Hände, der zu vier Jahren<br />

Zwangsarbeit verurteilt <strong>und</strong> später hingerichtet<br />

wurde. Daraufhin wurden noch 15 Mitglieder der<br />

Gruppe „International" mit einer Menge Waffen,<br />

Bomben, Dynamit, einer Höllenmaschine <strong>und</strong> einer<br />

geheimen Druckerei verhaftet <strong>und</strong> im Jänner nach<br />

entsetzlicher Folterung in der Zitadelle von Warschau<br />

erschossen. Der Folterknecht Grün ist jetzt<br />

bereits von rächender Hand hingerichtet, der Oberhenker<br />

Skalon, Generalgouverneur von Warschau,<br />

lebt aber noch bis heute, weil er sich überhaupt<br />

nicht mehr aus der Warschauer Festungszitadelle<br />

hervortraut. Die erschossenen Anarchisten hießen:<br />

S a l o m o n R o s e n z w e i g , J a k o b G o l d -<br />

s t e i n , V i k t o r R i v k i n d , L e i b F u r z e i g ,<br />

J a k o b C r i s t a l , J a k o b P f e f f e r , K u b a<br />

l g o l s o n , S . M e n d z e l e w s k i , K a r l S k u f a ,<br />

I g n a z K o r n b a u m , I s a a k S c h a p i r o , M .<br />

P u g a e , F . G r a u m a n n , I s r a e l B l u m e n -<br />

f e l d , S a l o m o n S c h a e r <strong>und</strong> A b r a h a m<br />

R o t k o p f. Diese Hinrichtung fand ohne kriegsgerichtliche<br />

Komödie, auf bloßen Befehl Skalotis statt,<br />

<strong>und</strong> die liberale Presse, die gegen die bevorstehende<br />

Hinrichtung des Leutnants Schmidt (Aufruhr<br />

der Schwarzen Meer-Flotte) protestierte, hatte<br />

nicht nur gegen das gesetzlose Vorgehen Skalons<br />

nicht protestiert, sondern diese Anarchistenhinrichtung<br />

ausdrücklich verlangt.<br />

So endete die erste anarchistische Gruppe<br />

von Warschau. Die Leichen der Erschossenen<br />

wurden nachher in der Weichsel von Fischern aufgef<strong>und</strong>en.<br />

Sämtliche Gesichter waren von den<br />

Henkern durch eine Harzmaske unkenntlich gemacht<br />

worden.<br />

D e r l e t z t e S c h w a n e n s a n g .<br />

Am 4. Jänner 1906 wurden im Hofe derWarschauer<br />

Zitadelle 5 Schafotte errichtet — 5 Mitglieder der<br />

Gruppe „International" sollten hier erschossen werden.<br />

Vom Schafott herab spricht J a k o b G o l d -<br />

s t e i n , ein 22jähriger Arbeiter, noch zum letztenmal<br />

zu seinen Henkern: „Soldaten! Brüder! Ihr<br />

seid hierher befohlen, um Feinde des Vaterlandes<br />

zu töten; man sagte euch, wir seien Rebellen —<br />

Anarchisten. Doch man sagte euch nicht, wofür wir<br />

kämpften, wofür wir den Tod erleiden. Man sagte<br />

euch nicht, daß wir Söhne jener großen russischen<br />

Proletariermasse sind, jenes Jahrh<strong>und</strong>ertelang von<br />

Henkern <strong>und</strong> Tyrannen gepeinigten Proletariats,<br />

unseres Vaterlandes sind, daß wir nicht länger<br />

Sklaven bleiben wollten, da wir begriffen, daß unser<br />

zaristisches Sklavenjoch nur mit bewaffneter Hand a b -<br />

gestreift <strong>und</strong> eine neue, freie Gesellschaft begründet<br />

werden könnte. Seht, Brüder! Für dies Ideal<br />

suchten wir die Arbeiterscharen zu begeistern, für<br />

diese Ideen sollt ihr, die ihr Söhne desselben unglücklichen,<br />

gemarterten Volkes seid, uns töten.<br />

Brüder! Weigert euch, diesen Mord zu vollführen,<br />

wir kämpften ja für Glück <strong>und</strong> Freiheit unseres<br />

Volkes. Stimmt ein in den Ruf: Es lebe die<br />

Anarchie". . . Zehn Gewehrläufe sanken n i e d e r . . .<br />

„Bravo, Brüder!" riefen die Kameraden <strong>und</strong> stimmten<br />

die Carmagnole an. Ein unordentliches Pelotonfeuer<br />

machte ein Ende mit ihnen.<br />

Am nächsten Morgen, den 5. Jänner, wurden<br />

weitere sechs von ihnen auf den Hof der Zitadelle<br />

geführt. Unter ihnen befand sich V i k t o r<br />

R i v k i n d , der wegen Verbreitung revolutionärer<br />

Soldatenlieder <strong>und</strong> Agitation in den Kasernen verhaftet<br />

war. Auf die Frage, wie er heiße, hatte er<br />

geantwortet: „Anarchist — Kommunist". Seine letzten<br />

Worte waren: „Tod der russischen Tyrannei. Es<br />

lebe die Anarchie!"<br />

Am 28. Jänner 1906 fand der Schluß dieses<br />

Todesdramas statt es wurden die letzten fünf<br />

Kameraden erschossen. Unter ihnen befand sich<br />

unser aller Liebling, K u b a l g o l s o n , Schüler der<br />

siebenten Gymnasialklasse. Zwei Monate war er<br />

Mitglied der Gruppe „International" gewesen <strong>und</strong><br />

hatte sich als glänzender Propagandist erwiesen.<br />

Obgleich selbst keiner Arbeiterfamilie entstammend,<br />

verstand er es, zu den Arbeitern in ihrer eigenen<br />

Sprache zu reden, sich voll in die Seele des Arbeiters<br />

zu versenken <strong>und</strong> seine Zuhörer enthusiastisch<br />

fortzureißen. Von der Kugel eines Spitzels<br />

verw<strong>und</strong>et, wurde er bei einer Expropriation verhaftet.<br />

Sein Advokat drang wiederholt in ihn, doch<br />

anzugeben, daß er das Geld für sich stehlen wollte,<br />

daß er gemeiner Dieb sei. Doch stolz erwiederte<br />

er jedesmal: „Ich bin Anarchist". Am Schaffot angelangt,<br />

rief er den anwesenden Ärzten z u : „Meine<br />

Herren! Arbeitergeld ermöglichte es Ihnen, Karriere<br />

zu machen. Sie sind jetzt Vertreter der Wissenschaft.<br />

Wenn noch ein Funke der Menschlichkeit<br />

in Ihnen wohnt, so müssen sie sich weigern, diesem<br />

empörenden Schauspiel beizuwohnen!" . . . Drei<br />

Ärzte gingen sofort weg, <strong>und</strong> sterbend rief lgolson<br />

noch: „Ihr könnt den Körper töten, doch nicht<br />

unseren ewigen Geist I"<br />

(Aus „Burewestnik" Nr. 5 u. 9).<br />

Südamerika.<br />

Bolivia. Einen mächtigen Anschlag vermeinte<br />

die hiesige republikanische Regierung gegen die<br />

revolutionär emporstrebende Arbeiterbewegung durch<br />

die Verhaftung ihrer Geistesführer getan zu haben.<br />

Sie verhaftete den Genossen Federico Martinez,<br />

einen Argentiner <strong>und</strong> unseren in Südamerika wacker<br />

kämpfenden österreichischen Kameraden Matthias<br />

Skarnie. Beide sind Redakteure der revolutionärgewerkschaftlichen<br />

Zeitschrift „La Aurora Sozial",<br />

offizielles Organ der dortigen Arbeiterföderation,<br />

<strong>und</strong> wurden — auch in demokratischen Republiken<br />

bestehen solche schöne Einrichtungen — ausgewiesen,<br />

richtiger an Chile ausgeliefert.<br />

Es sind die stets hoffnungslosesten Methoden,<br />

zu denen jede im Sinken begriffene Autorität ihre<br />

Zuflucht nimmt!<br />

Briefe unserer Leser.<br />

Sozialdemokratische Schurkenstreiche in<br />

der Ortsgruppe Grottau d e s österr. Holzarbeiterv<br />

e r b a n d e s .<br />

Werte Genossen! Ich will den beschränkten<br />

Raum Ihres Blattes nicht ungebührlich in Anspruch<br />

nehmen mit der Brandmarkung einer der vielen<br />

Schurkentaten der österreichischen Sozialdemokratie,<br />

sondern mich darauf beschränken, Ihnen nur das<br />

Wesentliche mitzuteilen.<br />

Ich bin Anarchist <strong>und</strong> Sozialist, <strong>und</strong> als solcher<br />

war ich den Bürokraten <strong>und</strong> Parteimenschen<br />

schon seit langem ein Dorn im Auge. Es ereigneten<br />

sich mehrfache Streitigkeiten, weil ich z. B. das<br />

Andenken eines unserer ehrenwertesten Vorkämpfer,<br />

Josef Schillers, nicht schmähen lassen wollte; auch<br />

sonstige Reibungen kamen vor, die ich aber übergehe,<br />

obwohl sie hinlänglich sind, um zu beweisen,<br />

wie infam <strong>und</strong> gemein die Sozialdemokraten <strong>und</strong><br />

die ihnen angehörenden Verbandsherrscher gegen<br />

die Anarchisten verfahren.<br />

Erst seit dem Erscheinen des „Wohlstand für<br />

Alle", den ich natürlich sofort <strong>und</strong> mit Vergnügen<br />

kolportierte, nahmen die Reibungen wieder an<br />

Schärfe zu. Diese steigerten sich so sehr, daß die<br />

Sozialdemokraten mir es verboten, unsere Blätter<br />

z u verteilen. M i t H i l f e " d e r P o l i z e i wurde e s<br />

versucht, nachdem ein improvisierter Hinauswurf<br />

aus dem Lokal an dem Widerstand verschiedener<br />

meiner Fre<strong>und</strong>e gescheitert, dies zu hintertreiben;<br />

in letzterer Aktivität tat sich besonders der Vertrauensmann<br />

der Bezirksverbände hervor. Überhaupt<br />

scheinen die Vertrauensleute eine seltsame Sorte<br />

Menschen zu sein, insoferne nämlich als man nicht<br />

weiß, ob sie Vertrauensleute der Unternehmer oder<br />

der Arbeiter sind?! Bedenken Sie: Als ich ihn einmal<br />

in der Fabrik ansprach, hatte der Mensch nichts<br />

anderes zu tun, als mich böswillig wegzustoßen, um<br />

nur die Aufmerksamkeit des Werkführers auf mich<br />

zu lenken 11 Von der geistigen Aufklärung, die die<br />

Sozialdemokraten sich erworben haben, werden Sie<br />

einen Begriff erhalten, wenn ich Ihnen sage, daß<br />

mein Nebenmann, ein Sozialdemokrat, mir sagte,<br />

daß er, wenn ich nochmals anarchistische Zeitschriften<br />

zur Kolportage mitbrächte, m i c h d e n u n -<br />

z i e r e n würde, was er denn auch direkt oder indirekt<br />

tat. Bei obiger Gelegenheit mit dem Vertrauensmann<br />

<strong>und</strong> Werkführer wurde mir auch mitgeteilt,<br />

daß ersterer die Verpflichtung habe, die<br />

Arbeiter in der Fabrik zu bewachen, damit sie nicht<br />

mit einander sprechen sollen u. dgl. mehr. Und so<br />

etwas nennt sich „Sozialist" — dient dabei dem<br />

Interesse des Kapitalismus in gleicher Weise wie<br />

jeder Werkführer, <strong>und</strong> ist auch noch ein Vertrauensmann<br />

! !<br />

In Folge dessen w<strong>und</strong>erte es mich gar nicht,<br />

wenn mir in einer der jüngsten Fabriksversammlungen<br />

gewaltsam das Wort entzogen ward <strong>und</strong> der<br />

Vorsitzende, auf die erste Nummer des „W. f. A."<br />

weisend, sagte: „Du brauchst keine Beiträge mehr<br />

zu zahlen!" Etwa zwei Wochen später meinte er:<br />

„Nun, wir haben es doch soweit gebracht, daß du<br />

aus dem Verbände ausgeschlossen bist." Ich schrieb<br />

sofort an den Zentralausschuß nach Wien, fragte<br />

an, ob dies wahr wäre, weshalb u. s. w., doch bis<br />

heute kam keinerlei Antwort. Erst Wochen darnach,<br />

als ich im Zittauer Gewerkschaftshause den österr.<br />

Holzarbeiter" las, ersah ich: „ D a s M i t g l i e d<br />

D u c h e k , B u c h Nr. 3 0 9 7 0 , i s t w e g e n a n -<br />

a r c h i s t i s c h - s o z i a l i s t i s c h e r U m t r i e b e a u s<br />

d e m V e r b ä n d e a u s g e s c h l o s s e n w o r d e n . "<br />

So. Was hatte ich getan? War ich jemals<br />

ein Streikbrecher? N e i n . Hatte ich jemals irgend<br />

einem Unternehmer Handlangerdienste geleistet,<br />

wie jener Vertrauensmann? Nein. Nur weil ich revolutionärer<br />

Sozialist bin, haben diese Gaukler es<br />

gewagt, mich aus dem Verbände auszuschließen.<br />

Wäre ich ein reaktionärer Dummkopf, dann hätte mir<br />

so etwas n i e zustoßen können! —<br />

Aber damit nicht genug, haben diese Volksverführer<br />

es auch fertig gebracht, mich b r o t -<br />

l o s z u machen, indem sie m e i n e E n t l a s s u n g<br />

herbeiführten!<br />

Es ist nur einige Monate her, seitdem ein Streikbrecher<br />

aus derselben .Ortsgruppe ausgeschlossen<br />

wurde. Der Halunke verlangte seine geleisteten<br />

Beiträge zurück - <strong>und</strong> dieselben wurden ihm ausgefolgt.<br />

Nun, ich bin vom Verbände w e g e n m e i -<br />

n e r G e s i n n u n g gern a ß r e g e l t worden, wegen<br />

„anarchistisch-sozialistischer Umtriebe" — so drückt<br />

sich auch ein Staatsanwalt a u s ! — bin Vater einer<br />

fünfköpfigen Familie u n d v e r l a n g e a u s d i e s e m<br />

G r u n d e a u f d i e s e m ö f f e n t l i c h e n W e g e<br />

d i e R ü c k z a h l u n g m e i n e r 176 B e i t r ä g e a n<br />

m i c h , w i d r i g e n f a l l s i c h m e i n e A r b e i t s -<br />

l o s e n u n t e r s t ü t z u n g f o r d e r n w e r d e !<br />

Das sind die Männer, die sich immer als<br />

Volksbefreier, als Vorkämpfer für Freiheit <strong>und</strong><br />

Recht darstellen. Wahrlich, die Christlichsozialen<br />

sind arge Halunken, doch ärgere als diese Sozialdemokraten<br />

parteiischer <strong>und</strong> gewerkschaftlicher Richtung<br />

können sie nicht mehr sein. Aber sie werden<br />

uns gewappnet finden auf der ganzen Linie! Kampf<br />

wider das reaktionäre staatssozialistelnde Gesindel<br />

auf der ganzen Linie — dies soll unsere Befreiung<br />

sein! Anton Duchek, Tischler (Grottau).<br />

Grottau <strong>und</strong> Umgebung.<br />

Die Ortsgruppe der hiesigen F r e i d e n k e r<br />

hält am Ostersonntag den 19. April 1908, 3 Uhr<br />

nachmittags, im Lokal „Zur blauen Donau" ihre<br />

Monatsversammlung ab, die mit einem Vortrag vom<br />

Gen. D u c h e k über „ E i n e R e i s e n a c h t r o -<br />

p i s c h e n Z o n e n u n d d e r e n K u l t u r " eröffnet<br />

wird. Gäste willkommen.<br />

Reichenberg. Sämtliche der böhm. Bruderföderation<br />

angehörenden M ü 11 e r g e h i 1 f e n, die<br />

nach hier reisen, werden aufmerksam gemacht, sich<br />

im Gasthause „Central-Herberg", Friedlandg., Reichenberg,<br />

einzufinden.<br />

Achtung! Die nächste Versammlung der<br />

„Allgemeinen Gewerkschaftsföderation" findet<br />

Ostermontag den 20. April 1908, 6 Uhr a b e n d s ,<br />

V., Einsledlergasse 60, statt.<br />

Das Attentat auf den Statthalter<br />

Galiziens.<br />

Sonntag den 12. d. M. wurde der Statthalter<br />

Galiziens, Graf Andreas Potocki, während der Audienz<br />

von einem Ruthenen, namens M i r o s l a w<br />

S i c z y n s k y , Hörer der Philosophie an der Universität<br />

in Lemberg,, durch drei Browningschüsse<br />

tötlich verw<strong>und</strong>et. Über die politischen Ursachen<br />

<strong>und</strong> politische Bedeutung des Aktes werden wir<br />

in der nächsten Nummer einen besonderen Artikel<br />

bringen. L.


Frederik van Eeden.<br />

Autobiographische Skizze des Dichters.<br />

Ich bin im Jahre 1860 in Haarlem<br />

geboren. Mein Vater besaß zu jener Zeit<br />

unweit Haarlem eine große Gärtnerei, die<br />

er indessen verkaufte, als ich fünf Jahre alt<br />

war, weil kaufmännischer Geist ihm völlig<br />

abging. Er wurde darauf Schriftsteller,<br />

Botaniker <strong>und</strong> Philosoph <strong>und</strong> begründete<br />

in Haarlem das Kolonialmuseum. Meine<br />

Mutter war eine Pfarrerstochter aus Gouda.<br />

Beide von rein holländischer Herkunft.<br />

Im Jahre 1878 begann ich in Amsterdam<br />

Medizin zu studieren. Zwar hatte ich<br />

schon zu jener Zeit starke literarische<br />

Neigungen, namentlich lyrische <strong>und</strong> dramatische,<br />

aber das Naturstudium lockte mich<br />

mehr als die Philologie, <strong>und</strong> die Karriere<br />

des Arztes bot in Holland mehr Chancen<br />

als die des Künstlers. Auch erstrebten meine<br />

Eltern für mich den Doktortitel. Diese<br />

Richtung entsprach meinem innerlichsten<br />

Wunsch, mich wirtschaftlich nützlich zu<br />

machen <strong>und</strong> helfen zu können.<br />

Als Knabe schrieb ich kleine Komödien,<br />

die im Familienkreise aufgeführt wurden.<br />

Das erste bedeutendere Werk war ein<br />

phantastisches Spiel in Versen, das ich als<br />

kaum Zwanzigjähriger verfaßte, <strong>und</strong> in dem<br />

ich die materialistische Wissenschaft verspottete.<br />

Das Stück hieß: » Das R e i c h<br />

d e r W e i s e n « .<br />

Im Jahre 1883 gelangte mein erstes<br />

Bühnenwerk » D a s S o n e t t « in Amsterdam<br />

zur Aufführung. Ich war damals Präses<br />

des Studentenkorps, <strong>und</strong> es wurden mir<br />

warme Ovationen dargebracht. Eine zweite<br />

größere Komödie, ein bedeutenderes Werk<br />

» D a s k l e i n e T o r « wurde seitens der<br />

Direktion zurückgewiesen. Erst dreizehn<br />

Jahre später ist es mit Erfolg aufgeführt<br />

worden. Im Jahre 1886 spielte man ein<br />

zweites Stück »Der S t u d e n t d a h e i m « ,<br />

ein frisches Lustspiel ohne viel Tiefe. Im<br />

Frühjahr desselben Jahres promovierte ich<br />

mit einer Dissertation über »Die künstliche<br />

Ernährung bei der Tuberkulose«. Ich selbst<br />

hatte mir das Thema »Hypnose <strong>und</strong> Sug-<br />

gestion« erwählt, das indessen von meinem<br />

Professor nicht gebilligt wurde.<br />

Ich ließ mich als Arzt in Bussun nieder.<br />

Kurz zuvor hatte ich den ersten Teil<br />

meines Romans : » D e r K l e i n e J o h a n n e s «<br />

vollendet, <strong>und</strong> dieser erschien in der ersten<br />

Nummer des »Nieuwe Gids«, einer Zeitschrift,<br />

die ich mit mehreren anderen jungen<br />

Schriftstellern begründet hatte.<br />

Im Jahre 1887 ging ich nach Nancy<br />

<strong>und</strong> Paris, um mich dort dem Spezialstudium<br />

der Hypnose <strong>und</strong> der Suggestion zu<br />

widmen, <strong>und</strong> noch im nämlichen Jahre richtete<br />

ich mit einem Kollegen, Dr. van Renterghem,<br />

eine Klinik für Psycho-Therapie ein.<br />

Im Jahre 1885 schrieb ich wiederum<br />

eine größere Komödie » D o n T o r r i b i o « ,<br />

in der das Königstum <strong>und</strong> der Sozialismus<br />

einander gegenübergestellt <strong>und</strong> die Volksführer,<br />

die die Wucht von Erfolg <strong>und</strong><br />

Macht nicht zu tragen vermögen, geschildert<br />

werden. Auch diese Komödie wurde<br />

nicht sogleich zur Aufführung angenommen,<br />

sondern erst vierzehn Jahre später<br />

mit Erfolg gespielt.<br />

Im Jahre 1890 erschien der lyrische<br />

Zyklus »Ellen, ein L i e d v o n S c h m e r z « ,<br />

darnach das lyrische Prosawerk » J o h a n -<br />

n e s V i a t o r « (deutsch: » J o h a n n e s d e r<br />

W a n d e r e r « , Blätter der Liebe), das zu<br />

Unrecht als Fortsetzung des »Kleinen Johannes«<br />

angesehen wurde <strong>und</strong> in der Tat<br />

mit dem vorgenannten Werk nur lockere<br />

Zusammenhänge aufweist. Es enthält eine<br />

Reihe von Stimmungsbildern <strong>und</strong> Gedanken,<br />

die das innerlichsteSeelenleben des»Kleinen<br />

Johannes« mit lyrischer Prosa umkleiden.<br />

Die eigentliche Fortsetzung der Erzählung<br />

vom »Kleinen Johannes« erschien in<br />

den Jahren 1904 <strong>und</strong> 1906.<br />

Im Jahre 1895 zog ich ich mich aus<br />

der Amsterdamer Klinik zurück, da diese<br />

meine Kräfte <strong>und</strong> meine Zeit allzusehr<br />

in Anspruch nahm <strong>und</strong> meine dortige<br />

Tätigkeit mich nicht befriedigte. Ich vollendete<br />

in jener Zeit ein großes episch-dramatisches<br />

Werk in Versen: »Die Brüder«<br />

(deutsch: »Der B r u d e r k a m p f « ) . Nachdem<br />

die Theaterdirektionen sich dauernd


geweigert hatten, meine wertvolleren Werke<br />

aufzuführen, verzichtete ich auf jeglichen<br />

Versuch einer Aufführung <strong>und</strong> begnügte<br />

mich damit, die Bühne durch epische, beschreibende<br />

Poesie zu ersetzen. Später<br />

habe ich dann die »Brüder« dennoch für<br />

die Bühne umgearbeitet. Dieses Werk, das<br />

die höchsten Fragen über Gott, Satan <strong>und</strong><br />

die Gerechtigkeit behandelt, erachte ich<br />

selbst als eines meiner bedeutendsten.<br />

Darnach erschien »Lioba«, ein romantisches<br />

Versdrama, das zur Zeit des Mittelalters<br />

spielt, <strong>und</strong> in dem die epischen Intermezzo<br />

der »Brüder« nicht vorkommen.<br />

Beide Werke habe ich zu wiederholten<br />

Malen selbst in Holland vorgetragen.<br />

Zu jener Zeit wurde der Kreis des<br />

»Nieuwe Gids« gesprengt, <strong>und</strong> ich habe<br />

wohl von allen, die ihm seinerzeit angehörten,<br />

am einsamsten weitergearbeitet <strong>und</strong><br />

bin von meinen früheren Mitarbeitern am<br />

heftigsten angefeindet worden.<br />

Gegen Ende des vorigen Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

begann ich mich theoretisch <strong>und</strong> praktisch<br />

mit sozialen Fragen zu befassen. Ich machte<br />

einen Vorschlag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit<br />

vermittelst rationeller Durchführung<br />

des staatlichen Landbaues. Von<br />

der Sozialdemokratie, die damals verschiedene<br />

junge Autoren an sich zog, hielt mich<br />

der dogmatische Marxismus stets zurück.<br />

1898 gründete sich bei Bussum ein Unternehmen,<br />

durch welches die Möglichkeit<br />

eines sozialen Zusammenarbeitens praktisch<br />

erprobt werden sollte. Ich selbst zog mich<br />

völlig von der medizinischen Praxis zurück<br />

<strong>und</strong> beteiligte mich soviel wie möglich an<br />

allen dort vorkommenden Arbeiten.<br />

Im Jahre 1902 gründete ich den Verein<br />

»Gemeinschaftlicher Gr<strong>und</strong>besitz«, der auch<br />

heutigentags noch besteht <strong>und</strong> dauernd<br />

Versuche anstellt, um die Praxis mit den<br />

sozialistischen Theorien in Einklang zu<br />

bringen. Der Verein gibt eine Wochenschrift<br />

»Der Pionier« heraus, die sicherlich viel<br />

dazu beigetragen hat, übertriebene fanatische<br />

Begriffe <strong>und</strong> unpraktische Volksredner-<br />

Theorien in den Kreisen holländischer Arbeiter<br />

zu bekämpfen. Während dieser Periode<br />

soziologischer Arbeit schrieb ich den<br />

Roman »Von den kühlen Wassern des<br />

Todes« (in Deutschland unter dem Titel<br />

»Wie S t ü r m e s e g n e n « erschienen),<br />

einen Band Gedichte »Die l e i d e n s c h a f t s -<br />

l o s e Lilie« <strong>und</strong> mehrere Broschüren <strong>und</strong><br />

Artikel. Auch hielt ich zur Zeit der Arbeiterbewegung<br />

viele Reden <strong>und</strong> Vorträge.<br />

Im Jahre 1903 beteiligte ich mich an<br />

dem großen Eisenbahnerstreik. Um den<br />

Streikenden nach ihrer Niederlage beizu-<br />

stehen, gründete ich in Amsterdam eine<br />

Konsumgenossenschaft »Die Eintracht«, die<br />

anfangs eine gewisse Blüte versprach <strong>und</strong><br />

sechzigtausend Mitglieder zählte, die indessen<br />

nach zwei Jahren durch allzu rasches<br />

Wachstum, Mangel an guten Kräften <strong>und</strong><br />

unbrauchbares Persona! zu einem finanziellen<br />

Ruin führte, der mein ganzes Vermögen<br />

verschlang <strong>und</strong> auch den Sturz der<br />

in Bussum gegründeten Kolonie W a i d e n<br />

nach sich zu ziehen drohte. — Was sich<br />

daraus ergeben wird, läßt sich heutigentages<br />

noch nicht klar übersehen.<br />

Damals hielt ich in Amsterdam <strong>und</strong><br />

Hilversum zehn Vorträge, die ich als »Betrachtungen<br />

über die Menschheit <strong>und</strong> die<br />

Gesamtheit Aller« bezeichnete <strong>und</strong> an die<br />

sich stets eine freie Diskussion anzuschließen<br />

pflegte. Mein Auditorium gehörte den verschiedensten<br />

politischen <strong>und</strong> religiösen<br />

Richtungen an. Aus diesen Vorträgen ist<br />

denn nachträglich das Buch » D i e f r e u -<br />

d i g e W e l t « entstanden.<br />

Zu jener Zeit schrieb ich auch den<br />

zweiten <strong>und</strong> dritten Teil des » K l e i n e n<br />

J o h a n n e s « , während ich mich später,<br />

nachdem sich mir im Winter des Jahres<br />

1905 gelegentlich eines ersten Aufenthaltes<br />

in Berlin die Möglichkeit vollendeter Theateraufführungen<br />

offenbart hatte, vornehmlich<br />

auf dramatische Arbeiten verlegte. Nach<br />

jenem Winter schrieb ich fünf Bühnenwerke,<br />

von denen eines, » M i n n e s t r a h l « , ein<br />

Versdrama in Buchform erschien, während<br />

ein zweites, » Y s b r a n d « , eine Tragikomödie,<br />

vom »Neederlandsch Tooneel«<br />

in Amsterdam zur Aufführung angenommen<br />

wurde. Die übrigen sind noch ungedruckt.<br />

Alle diese Werke sind Dramen oder Tragikomödien,<br />

die im modernen Leben spielen<br />

<strong>und</strong> die aktuellsten Lebensfragen umfassen.<br />

Außer den genannten Werken schrieb ich<br />

noch, abgesehen von einigen medizinischen<br />

<strong>und</strong> psychologischen Aufsätzen vier Bände<br />

S t u d i e n über Kunst, Literatur, Psychologie<br />

<strong>und</strong> Soziologie. Darunter auch eine philosophische<br />

Abhandlung »Die G r u n d l a g e<br />

d e r w e c h s e l s e i t i g e n B e z i e h u n g e n «<br />

in streng logisch-dialektischer Form.<br />

Ferner erschienen aus meiner Feder:<br />

ein didaktisch - philosophisches Gedicht<br />

» Das L i e d v o n S c h e i n u n d W e s e n « ,<br />

an dessen zweitem Teil ich noch arbeite.<br />

Bis zum Eintritt der oben genannten<br />

finanziellen Katastrophe wohnte ich selbst in<br />

Waiden bei Bussum. Ob ich mein Domizil<br />

dort werde erhalten können, ist noch fraglich.<br />

Auf Wunsch meiner deutschen Verehrer<br />

geschrieben im Januar 1908.<br />

Frederik van Eeden.


Humanität im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Aus „Die T a g e von Casablanca" von M. Bourdon.<br />

(5. <strong>und</strong> 6. August 1907.)<br />

. . . Die Einwohnerschaft von C a s a -<br />

b I a n k a hatte sich nach dem Osten der<br />

Stadt, in das Araberviertel, auf einen großen<br />

Platz geflüchtet. Die Araberstämme, die<br />

gleichzeitig mit den Franzosen in die Stadt<br />

eingebrochen waren, um sich an der Plünderung<br />

zu beteiligen, suchten sich nunmehr<br />

aus dem Bereiche der französischen Marinegeschütze<br />

zu bringen <strong>und</strong> zogen sich auch<br />

in das Araberviertel zurück. Doch von dem<br />

Kriegsschiff »Gloire« aus wurden die Flüchtlinge<br />

auf dem Platze bald bemerkt <strong>und</strong><br />

sofort begannen die Schiffsgeschütze zu<br />

spielen. Die Dynamitgeschosse hagelten in<br />

die zusammengedrängte Volksmenge hinein<br />

<strong>und</strong> richteten ein so grausames Blutbad an,<br />

daß sich die Feder sträubt, eine Beschreibung<br />

davon zu geben. . . .<br />

Ich sehe noch diesen Araber vor mir,<br />

dem vom Gesicht nur noch die verstümmelte<br />

verzerrte M<strong>und</strong>öffnung übrig blieb,<br />

da ein Geschoßsplitter dreiviertel des<br />

Kopfes abriß. Ich sehe noch die schwangere<br />

Frau, die hier im Todesschrecken gebärt<br />

<strong>und</strong> mit dem Kopf vornüber gestürzt, mit<br />

zusammengekrümmten Knieen, dem entsetzten<br />

Zuschauer einen entblößten, klaffenden<br />

Rücken zuwendet, während sie in den Todeszuckungen<br />

das zum Tode geborene<br />

Kind an die gequälte Brust drückt. Ich sehe<br />

die aufgerissenen Pferdeleiber, die im Todessturze<br />

ihre Reiter unter ihre Eingeweide<br />

begruben. Alles das in einem so grausigen,<br />

unentwirrbaren Knäuel, daß die dämonischesten<br />

Kompositionen eines Schlachtenmalers<br />

die gräßlichsten Bilder der Apokalypse nicht<br />

annähernd der Wirklichkeit gleichen. Tiere,<br />

Männer, Frauen im gräßlichsten Durcheinander,<br />

mit den greulichsten Todesmasken,<br />

mit Riesenleibern, die durch die Leichengase<br />

in der Sonnenglut aufgedunsen <strong>und</strong><br />

unförmig aufgespannt einen pestilenzialischen<br />

Aasgestank verbreiten <strong>und</strong> Wolken<br />

von Aasfliegen erzeugen.<br />

Hier war ich noch gestern hinausgegangen,<br />

um dem melodischen Spielen der<br />

Wellen am Felsengestade zu lauschen —<br />

welch ein Gegensatz heute!<br />

Schamlos entblößt liegt vor mir eine<br />

junge Frau mit halbzurückgeschlagenem<br />

Schleier vor einem Gesicht, das mir halb<br />

zugewandt ist. Es ist kaum noch Leben in<br />

diesen feingemeißelten, nun blutleeren Gesichtszügen,<br />

die dem Tode schon sichtlich<br />

anheimgefallen sind. Die zarte Samthaut<br />

braun abgetönt, wie altes Elfenbein glänzend;<br />

zwei große dunkle Augen unter hochgewölbten<br />

Brauen noch im letzten Funken<br />

des Lebens erzitternd <strong>und</strong> scheinbar auf<br />

mich gerichtet — so liegt sie vor mir auf<br />

dem einen Arm, während der andere auf<br />

dem Ellbogen gestützt, vor dem Gesicht<br />

automatisch die starrgewordene Hand bewegt.<br />

Ob sie mich sieht? Ob die Augen<br />

zu mir reden wollen? Denn der M<strong>und</strong><br />

bleibt stumm, obwohl er offen, starr offen<br />

steht <strong>und</strong> von den schmalen zart-rosa gefärbten<br />

Lippen besäumt, ein blendend weißes<br />

prächtiges Gebiß bloßlegt. Schön, begehrenswert<br />

muß diese junge Marokkanerin<br />

gewesen sein, wie zur Liebe war sie<br />

geschaffen!<br />

Nun liegt sie da, ein mageres Skelett,<br />

dessen Haut allmählich zu Pergament zusammenschrumpft<br />

<strong>und</strong> dessen letzte Lebenszeichen<br />

die langsame Bewegung einer<br />

schon verknöcherten Hand <strong>und</strong> das<br />

dunkle Leuchten hinter halbgeschlossenem<br />

Lide sind.<br />

Und das Entsetzlichste bleibt mir noch<br />

zu sagen.<br />

Auf diesen hilflosen Körper haben sich<br />

die Fliegen gestürzt, die widerlichen Aasfliegen,<br />

die sich auf dem Leichenfelde an<br />

dem Eiter der Verwesung satt saugen, die<br />

keine Stelle, keine Falte, keine noch so<br />

zarte Stelle des entblößten Körpers in ihrer<br />

ekelhaften Suche verschonen. Sie füllen die<br />

Augenhöhlen aus, sie kriechen, die Lippen<br />

entlang <strong>und</strong> in die dunkle Öffnung des<br />

grausig offenen M<strong>und</strong>es hinein; sie suchen<br />

Leicheneiter, sie suchen Kadavergeruch, sie<br />

spüren den Tod, der in diesen Körper einzieht.<br />

Und die Unglückliche hat schon keine<br />

Kraft mehr, sie fortzuscheuchen. . . .<br />

Sie ist auch verw<strong>und</strong>et. Wohl ist die<br />

Todesw<strong>und</strong>e nicht sichtbar, doch weist darauf<br />

ein Blutstreifen am Stoff, der über die<br />

Schulter hängt — eine Kugel oder ein<br />

Schrapnell ist hier eingedrungen — <strong>und</strong><br />

langsam stirbt hier unter dem majestätischen<br />

Sonnenfirmament ein liebreizendes Wesen<br />

hin, des Obdachs, des Gatten, des Lebens<br />

beraubt. — — — — — — — — — — — —<br />

Zwei Jahrtausende sind es bald her,<br />

daß ein Galliläer wegen seiner fanatischen<br />

Nächstenliebe gekreuzigt worden sein soll.<br />

Das war eine rohe Zeit. Jetzt tauft man moderne<br />

Kriegsschiffe nach diesem Namen,<br />

»Le G a l l i l e e « heißt das Schiff, das am<br />

5. August 1907 Casablanca beschoß <strong>und</strong><br />

Frankreich — der vorgeschrittensten Nation<br />

der Welt — gehört dieser traurige Ruhm.<br />

Das ist die moderne Zivilisation.


Eine Reminiscenz an Gaetano<br />

Bresci.<br />

Die Ermordung des Königs <strong>und</strong> des<br />

Kronprinzen von Portugal ruft mir einen<br />

dramatischen Vorfall ins Gedächtnis, der<br />

hier in New-York vor acht Jahren stattfand<br />

<strong>und</strong> dem Tode Umbertos von Italien vorauseilte.<br />

Ich war ersucht worden, in einem italienischen<br />

Befreiungsverein eine Rede zu<br />

halten. Es war schon Ende Juni oder Anfang<br />

Juli <strong>und</strong> ein Gedenktag italienischer<br />

Patrioten, doch wem der Tag galt, dessen<br />

kann ich mich nicht mehr erinnern.* Nachmittags<br />

fuhr ich mit einem Komitee nach<br />

dem Washington-Platz, um vor dem Garibaldidenkmal<br />

einen Kranz niederzulegen,<br />

<strong>und</strong> dann nach dem Centrai-Park, um<br />

gleicherweise die Statue Mazzini's zu<br />

schmücken.<br />

Dann begaben wir uns nach dem Lokal,<br />

wo das Festmahl <strong>und</strong> die Reden stattfinden<br />

sollten, einem bescheidenen, kleinen<br />

Restaurant in der West Houston Straße,<br />

mitten im Italienerviertel gelegen.<br />

Vorn war der Weinausschank, im Hintergr<strong>und</strong>e<br />

eine Anzahl kleiner Tische für<br />

die Besucher <strong>und</strong> ein einzelner langer für<br />

das Komitee.<br />

Alle Anwesenden außer mir waren<br />

Italiener <strong>und</strong> als beim Nachtisch die Reden<br />

anfingen, war ich der einzige, der englisch<br />

sprach.<br />

Das Programm wickelte sich ordnungsmäßig<br />

ab, <strong>und</strong> es hatten schon mehrere Reden<br />

stattgef<strong>und</strong>en, als sich ein junger Mann,<br />

der an einem der r<strong>und</strong>en Tische saß, erhob<br />

<strong>und</strong> höflich sich zum Worte meldete.<br />

Er war schlank — fast mager zu nennen,<br />

von mittlerem Wüchse, in seinem Antlitz<br />

leuchteten dunkle, lebhafte, scharfe<br />

Augen. Er hatte vorher, wie mir schien,<br />

seinen Zigaretten mehr Aufmerksamkeit geschenkt<br />

als unseren Reden. Doch jetzt war<br />

er vollkommen verwandelt.<br />

Als der Vorsitzende zögerte <strong>und</strong> ihn<br />

nach seinem Namen fragte, antwortete der<br />

junge Mann: »Bresci.« Scheinbar widerstrebend<br />

gab ihm der Vorsitzende das Wort.<br />

Was darauf geschah, kann ich zu meinen<br />

dramatischesten Erlebnissen zählen.<br />

Die üblichen einleitenden Worte übergehend,<br />

begann Bresci in einer Weise zu<br />

reden, die alle Anwesende faszinierte;<br />

selbst ich, der ich nicht verstehen konnte,<br />

* Es war der hochpatriotische Festtag der<br />

Wiedervereinigung Italiens, der Einsetzung des Savoyschen<br />

Herrscherhauses zu Rom durch den<br />

„General" Garibaldi. A. d. Ü.<br />

w a s er sprach, fühlte mich mitgezogen durch<br />

das gedämpfte Feuer, das aus seinen Worten<br />

sprach, durch seine sprühenden Blicke,<br />

durch das heftige Mienenspiel <strong>und</strong> den<br />

Klang seiner Worte, die ihm wie einem<br />

heißen Quell entsprudelten.<br />

Was er sprach, brachte alles auf die<br />

Beine. Zwischenrufe wurden wiederholt<br />

laut; der Vorsitzende sprang auf <strong>und</strong> klopfte<br />

auf den Tisch, um Bresci am Weitersprechen<br />

zu hindern.<br />

Doch Bresci wollte oder konnte nicht<br />

einhalten. Seine Stimme wurde schriller.<br />

Noch einen Augenblick, <strong>und</strong> ein allgemeiner<br />

Entrüstungssturm brach los. Mit unglaublicher<br />

Geschwindigkeit wurde die Versammlung<br />

aufgehoben, <strong>und</strong> ich fand mich<br />

draußen mit dem Hut in der Hand <strong>und</strong><br />

einem Komiteemitglied neben mir, das mir<br />

in einem Gemisch von Englisch <strong>und</strong> Italienisch<br />

zu verstehen gab, was vorgefallen war.<br />

Mit Mühe gelang es mir, herauszubringen,<br />

daß Bresci gesagt habe, für die italienische<br />

Freiheit sei nichts zu erwarten ohne<br />

die Darbringung persönlicher Opfer; daß<br />

derjenige, der Italien Freiheit bringen wolle,<br />

bereit sein müsse, dabei zu sterben; daß<br />

der <strong>Weg</strong> zur Freiheit nur über den Körper<br />

des Tyrannen zu Rom führe.<br />

Bresci kam nicht weiter. Man hielt ihn<br />

für einen Spion im Solde der italienischen<br />

Regierung, der die wildesten Reden halte,<br />

um das Vertrauen revolutionärer Kreise zu<br />

gewinnen <strong>und</strong> deren Geheimnisse zu erfahren.<br />

Die Anwesenden waren entsetzt<br />

<strong>und</strong> empört. Sie hielten sich nunmehr für<br />

verdächtige Leute <strong>und</strong> flohen den Platz.—<br />

Wenige Wochen nach diesem Vorfall —<br />

am 29. Juli 1900 — flog die Nachricht<br />

durch die Welt, daß König Umberto von<br />

Italien in Monza erschossen wäre. Es<br />

war die Tat eines Revolutionärs. Es war<br />

die Tat Bresci's.<br />

Es war jener Bresci aus dem kleinen<br />

Weinlokal von Houston Street. Er hatte gehandelt,<br />

so wie er gesprochen hatte —<br />

ganz allein, ohne Beifall, verdächtigt <strong>und</strong><br />

gemieden. So wie er sich den <strong>Weg</strong> der<br />

italienischen Freiheit gedacht hatte, so war<br />

er ihn gegangen — trotz Henker <strong>und</strong><br />

Blutgerüst!<br />

Henry Georgejun*<br />

Aus der „Cincinnati Post" v. 15./2. 1908.<br />

* Verfasser obigen Aufsatzes ist der Sohn des<br />

berühmten Bodenreformers Henry George sen., dessen<br />

Werk „Fortschritt <strong>und</strong> Armut" zu den wertvollen<br />

Büchern der sozialen Frage gehört; ganz abgesehen<br />

von dessen religiösen Verschnörkelungen.<br />

D. R.


Hut dort schwenken <strong>und</strong> den begeisterten<br />

Toast ausbringen: » H o c h l e b e d i e rev<br />

o l u t i o n ä r e S o z i a l d e m o k r a t i e ! «<br />

E. H.<br />

Licht <strong>und</strong> Schatten.<br />

Wäre das bloße Aussprechen der Wahrheit<br />

schon an <strong>und</strong> für sich ein Akt der<br />

Besserung, so würden uns die nachfolgenden<br />

Zeilen hoch erfreuen. Leider aber ist<br />

Aussprechen der Wahrheit noch lange<br />

nicht gleich mit Betätigung der Wahrheit,<br />

<strong>und</strong> so ist wohl mit Recht anzunehmen,<br />

daß die Lehre, die aus nachfolgendem<br />

Zitat zu ziehen ist, an den meisten derjenigen,<br />

die sie hauptsächlich angeht <strong>und</strong><br />

angehen sollte, spurlos vorübergehen wird.<br />

Sagt da der R e c h e n s c h a f t s b e r i c h t der<br />

österreichischen Gewerkschaftskommission<br />

für das Jahr 1907 das Folgende:<br />

„Im ersten Halbjahr war das gesamte Denken<br />

<strong>und</strong> Fühlen der Massen auf die Wahlbewegung<br />

gerichtet. Alle Kräfte der politischen <strong>und</strong> gewerkschaftlichen<br />

Organisationen wurden absorbiert <strong>und</strong><br />

für den W a h l k a m p f k o n z e n t r i e r t . Und als der<br />

herrliche Sieg der Sozialdemokratie in Österreich<br />

erfochten war, trat naturgemäß eine Erschlaffung<br />

der Agitationskräfte ein, wodurch die gewerkschaftliche<br />

Arbeit zurückblieb. Sie setzte erst wieder<br />

fühlbar ein, als die Krise bereits ihre Schatten<br />

vorauswarf."<br />

Dieses Neueinsetzen der »gewerkschaftlichen<br />

Arbeit« hat nur relative Früchte gezeitigt.<br />

Österreich hat angeblich r<strong>und</strong> 500.000<br />

organisierte Proletarier. Leider aber wird<br />

bei uns die Organisation hauptsächlich als<br />

eine Mitgliedsbeitragsfrage aufgefaßt. Sämtliche<br />

Führer wissen es, daß diese ganzen<br />

Organisationen keiner einzigen brutalen<br />

Machtprobe des Unternehmertums gewachsen<br />

wären, dieses sich nur deshalb eine<br />

solche nicht leistet, weil die Gewerkschaften<br />

genug zahm von ihren sozialdemokratischen<br />

Führern im Zaume gehalten werden.<br />

Unlängst fragte die hiesige »Arbeiterzeitung«<br />

einen Christlichsozialen ganz verw<strong>und</strong>ert,<br />

was denn das eigentlich sei, e i n e<br />

nur w i r t s c h a f t l i c h e O r g a n i s a t i o n ?<br />

Ein Christlichsozialer kann ihr natürlich<br />

darauf keine Antwort geben. Wir aber<br />

wollen ihr eine unzweideutige Antwort<br />

erteilen:<br />

Eine nur wirtschaftliche Organisation<br />

ist eine solche, bei der ob der »herrlichen<br />

Siege« einer offiziellen Sozialdemokratie<br />

oder einer nichtoffiziellen, segelnd unter<br />

der Fahne des »Freisozialismus«, k e i n e<br />

»Erschlaffung der Agitationskräfte« eintreten<br />

kann, da das auf nur wirtschaftlichem Boden<br />

organisierte Proletariat allen politischen<br />

Parteien ohne Ausnahme den Rücken gekehrt,<br />

die Politiker verächtlich abgeschüttelt<br />

hat <strong>und</strong>, sich stützend auf seine eigene<br />

wirtschaftliche Organisationskraft, seine momentan<br />

dringlichen <strong>und</strong> weiteren sozialen<br />

Kulturaufgaben bis zur endgültigen wirtschaftlichen<br />

Emanzipation löst <strong>und</strong> erkämpft!<br />

*<br />

In der vorliegenden Nummer der sozialdemokratischen<br />

Monatsschrift »Der Kampf«<br />

unternimmt es Herr Dr. Renner, u. a. auch<br />

beruflicher Diätenempfänger, also Parlamentarier,<br />

den Anarchismus zu demolieren.<br />

Wie weit ihm dies gelungen ist, wird man<br />

am besten aus der Zerknirschung ersehen<br />

können, die aus unseren Zeilen spricht.<br />

Bis zu einem gewissen Grade ist uns die<br />

Darlegung des Herrn Renner's, die den<br />

Anarchismus mit demselben Verständnis<br />

behandelt, wie etwa Herr Bielohlawek unlängst<br />

den sozialdemokratischen Zukunftsstaat,<br />

sehr angenehm. Abgesehen von der<br />

bedauerlichen Verwirrung, die sie in manchen<br />

Köpfen sozialdemokratischer Arbeiter<br />

anrichtet oder aufrecht erhält, gibt sie<br />

wenigstens definitiv d e n Standpunkt auf,<br />

den die ältere sozialistische Literatur v o r<br />

der Broschüre des Charlatans Plechanow<br />

stets strikt gewahrt wissen wollte: nämlich<br />

die Auffassung, daß auch Demokratie nichts<br />

als Freiheit sei <strong>und</strong> in logischer Entwicklung<br />

aus sich heraus zum Föderalismus,<br />

somit zum Anarchismus geleiten müsse.<br />

Für Herrn Renner ist das Ideal — die<br />

D i s z i p l i n , die Autorität, wobei er von<br />

der ja allerdings nur für ein Juristengehirn<br />

begreiflichen Vorstellung ausgeht, daß es<br />

in jedem Arbeitsverband eine Herrschaftsinstitution<br />

geben müsse, der sich die übrigen,<br />

weil nicht so fähig wie die Befehlenden,<br />

unterwerfen m ü s s e n ! Dies setzt voraus,<br />

daß mit Ausnahme der »Verbandsorgane«<br />

alle übrigen Mitglieder des Verbandes Automaten<br />

sind. Bemerken wollen wir auch<br />

noch, daß der Artikel von Entstellungen,<br />

Verdrehungen <strong>und</strong> oftmals direkten Fälschungen<br />

wimmelt, die freilich durch die<br />

generelle, anmaßende Unwissenheit des<br />

Verfassers auf dem Gebiete, das er behandelt,<br />

verzeihlich werden. Köstlich ist nur,<br />

wenn Renner an die Arbeiterschaft appelliert,<br />

»die v o m A r b e i t e n e t w a s w e i ß « ; z u<br />

dieser gehört er doch sicherlich nicht. Aus<br />

dem ganzen Artikel spricht die Herrschsucht<br />

der bürgerlichen Impotenz, der bourgeoisen<br />

Gemeinheit, die sich zum Herrschen berufen<br />

fühlt. Zum Schlüsse widmen wir<br />

diesem Parlamentsgaukler diejenigen Worte,<br />

die er selbst geschrieben hat <strong>und</strong> die ihn,<br />

wie seine Logik <strong>und</strong> Denkungsart am<br />

besten charakterisieren: » U n d a l s k l u g e r<br />

M a n n z i e h t e r z u m S c h l ü s s e d i e<br />

B i l a n z : h ä l t d e r A n t e i l , d e n i c h<br />

b e k o m m e n , d e r M ü h e , d i e i c h g e -<br />

h a b t , d i e W a g e ? «<br />

*<br />

Ein weiterer Artikel in derselben Nummer<br />

behandelt die syndikalistische <strong>und</strong> Gewerkschaftstaktik;<br />

er hat Herrn Adolf Braun,<br />

der ganz wie Renner es nicht wagt, mit<br />

einem Anarchisten öffentlich zu diskutieren,<br />

zum Verfasser. Wenigstens eines hat d i e s e r<br />

Artikel für sich, das Anerkennung verdient:<br />

mit Ausnahme einiger unerheblicher Unrichtigkeiten<br />

ist der Standpunkt des Syndikalismus<br />

nicht gefälscht gegeben.<br />

Was nun die Entwicklung der eigenen<br />

Anschauung anbetrifft, so wird Braun<br />

schwerlich auch nur einem revolutionären<br />

Sozialisten aus der Seele gesprochen haben.<br />

Aber wenn es zur revolutionären Taktik<br />

des Proletariats kommt, dann werden selbst<br />

die frommsten Marxisten Bernsteinianer <strong>und</strong><br />

Revisionisten. Interessant ist jedenfalls, daß<br />

in Frankreich die geeinte Partei <strong>und</strong> diverse<br />

hervorragende Sozialdemokraten u. a. Lagardelle<br />

— ein begeisterter Anhänger Marx'<br />

— sich für den Syndikalismus erklärt haben,<br />

weil sie den Bankerott der parlamentarischen<br />

Taktik erkannten, weil sie sahen, daß wenn<br />

sie nicht m i t den Syndikalisten gehen, der<br />

revolutionäre Sozialismus sie zur Seite<br />

schleudern würde.<br />

Wenn der Parlamentarismus für das<br />

Proletariat auch nur den geringsten d e r<br />

Vorteile erzielt haben wird, den die revolutionäre<br />

Gewerkschaftsbewegung — d i e s<br />

ist d e r S y n d i k a l i s m u s u n d gegen diese<br />

r e v o l u t i o n ä r e Gewerkschaftsbewegung<br />

erklären sich die Sozialdemokraten ä la<br />

Braun! — für das Proletariat bereits errungen<br />

hat, dann wird es ihm vielleicht<br />

möglich sein, mit logischen Argumenten<br />

gegen den Syndikalismus anzukämpfen.<br />

Früher nicht — <strong>und</strong> Brauns Artikel ist<br />

eigentlich nichts anderes als die blasse<br />

Furcht, die aus den Politikern spricht, wenn<br />

sie den wahren Klassenkampf des Proletariats<br />

vor sich aufsteigen sehen: »Um<br />

H i m m e l s W i l l e n , w a s s o l l a u s u n s<br />

P o l i t i k e r n w e r d e n , w e n n d a s P r o -<br />

l e t a r i a t s e i n e n K a m p f s e l b s t ä n d i g<br />

u n d k l a s s e n b e w u ß t , o h n e p o l i t i s c h e<br />

K o m p r o m i s s e , f ü h r e n will!«<br />

Staat, Religion <strong>und</strong> Lämmerherden.<br />

Daß Gott im Deutschen Reiche<br />

sehr viel verhöhnt wird, ist zwar gewiß,<br />

aber die Sozialdemokratie tut es<br />

nicht. S i e l ä ß t j e d e n n a c h s e i n e r<br />

F a s s o n s e l i g w e r d e n , w i e i h r<br />

P r i n z i p : R e l i g i o n ist P r i v a t s a c h e ,<br />

b e w e i s t . Jene, die Gott verhöhnen, sind<br />

nur in den Reihen der Gutgesinnten zu<br />

suchen.<br />

(Berliner Vorwärts, 4. April 1908.)<br />

Wir gehören nicht zu jenen, denen<br />

die Broschüre des bekannten Innsbrucker<br />

Professors Dr. Ludwig Wahrm<strong>und</strong> über<br />

katholische Weltanschauung <strong>und</strong> freie<br />

Wissenschaft, die in den letzten Wochen<br />

in klerikalen wie halbfreiheitlichen Kreisen<br />

so großen Staub aufgewirbelt hat, besonders<br />

zusagt. Einfach deshalb nicht, weil<br />

sie, entgegen zu dem, was die idiotisierende<br />

christlichsoziale <strong>und</strong> klerikal-reaktionäre<br />

Presse über sie sagt, nicht nur k e i n e Profanation<br />

der Religion <strong>und</strong> des Gottesglaubens<br />

ist, nicht nur k e i n e Herabwürdigung<br />

der katholischen Kirche bildet,<br />

sondern in der Tat eine R e t t u n g der<br />

beiden, eine Reinigung von mit allem Rost<br />

des Unsinns bedeckten Irranschauungen<br />

anstrebt <strong>und</strong> somit der Versuch ist, die<br />

katholische Religion, den Kirchenglauben<br />

überhaupt mit dem Geiste der Modernität<br />

zu versöhnen, etwa in Einklang zu bringen.<br />

In diesem Sinne ist der Versuch des<br />

Professor Wahrm<strong>und</strong> etwas durchaus Reaktionäres<br />

für jeden Atheisten, für jeden, der,<br />

um mit Laplace zu sprechen, in seinem<br />

Weltanschauungsbilde den Gottesbegriff<br />

einfach nicht mehr benötigt. Dies ist der<br />

Fall mit jedem Anarchisten, der, um sich<br />

überhaupt eine herrschaftslose Gesellschaft<br />

gedanklich vorstellen zu können, sich vom<br />

Glauben an jede übermenschliche, übersinnliche<br />

Macht <strong>und</strong> Gottheit irgend einer<br />

Theologie befreit haben muß.<br />

Was nun insbesondere die Methode<br />

Wahrm<strong>und</strong>s anlangt, so wissen wir, daß<br />

sie nicht neu ist <strong>und</strong> stets u n f r u c h t b a r<br />

blieb in der Bekämpfung der Religion, da<br />

sie den Zentralpunkt des Ganzen — das<br />

Wesen eines übersinnlichen Gottes —<br />

n i c h t leugnete, sondern nur die um dieses<br />

Wesen sich gruppierenden Anschauungen<br />

in ihren lächerlichen Auswüchsen kritisierte,<br />

auf diese Weise ein g e l ä u t e r t e s K i r -<br />

chen christentum darbieten wollend. So<br />

etwas kann es aber niemals geben, das hat<br />

der große englische Religionskritiker <strong>und</strong><br />

Gelehrte J o h n W i l l i a m D r a p e r in seinem<br />

Werke über die » G e s c h i c h t e d e r<br />

K o n f l i k t e z w i s c h e n R e l i g i o n u n d<br />

W i s s e n s c h a f t « unleugbar bewiesen. Wir<br />

glauben sehr wohl, daß es ein geläutertes<br />

Christentum im Sinne des Anarchisten L e o<br />

T o l s t o i , oder im Sinne eines seiner<br />

begabtesten Jünger, des Philosophen E u g e n<br />

H e i n r i c h S c h m i t t , der gleichfalls erklärter<br />

Anarchist, geben kann; aber in der<br />

Auffassung d i e s e s Christentums haben<br />

die Begriffe einer vergeltenden <strong>und</strong> herrschenden,<br />

persönlichen <strong>und</strong> sinnlich dennoch<br />

nicht wahrnehmbaren Gottheit, sämtliche<br />

theologische Gr<strong>und</strong>sätze der Kirche,<br />

wie diese selbst, k e i n e n R a u m mehr.<br />

Ein geläutertes, mit dem ethischen Geiste<br />

des modernen Strebens nach Selbstbefreiung<br />

<strong>und</strong> Befreiung von allen gesellschaftlichen<br />

Gewalts- <strong>und</strong> Ausbeutungsinstitutionen in<br />

Einklang befindliches K i r c h e n c h r i s t e n t u m<br />

kann es aber n i e m a l s geben, <strong>und</strong> das ist<br />

der große Irrtum Wahrm<strong>und</strong>s, dies versucht<br />

zu haben, <strong>und</strong> darin ist auch die große<br />

Oberflächlichkeit seiner n u r rationalistischen<br />

Kritik gelegen, die eben nicht vom Atheismus<br />

ausgeht <strong>und</strong> in ihm gipfelt, sein müßte.<br />

Dennoch freut uns der geistige Sieg,<br />

den Wahrm<strong>und</strong> zum Teil über die Konfis-


kation der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> über diese<br />

selbst erfocht, als die Verhandlung über<br />

seinen Einspruch wider jene stattfand. Und<br />

da äußerte er in seiner Verteidigung einige<br />

Worte, die dem sonstigen Inhalt seiner<br />

Broschüre wesentlich überlegen waren <strong>und</strong><br />

unzweifelhaft der tiefen Gefühlsleidenschaft<br />

des Gelehrten vor Gericht entsprangen.<br />

Den Arbeitern können diese Worte gar<br />

nicht genügend eingeschärft werden; sie<br />

präzisieren in einzelnen Punkten den Standpunkt,<br />

den das revolutionär empfindende<br />

Proletariat der Religion gegenüber einnimmt.<br />

Wahrm<strong>und</strong> äußerte sich u. a., wie folgt:<br />

„Die großen Massen sind für den Staat <strong>und</strong><br />

die Kirche das Entscheidende. Der Staat wird deshalb<br />

darauf verwiesen, daß L ä m m e r h e r d e n am<br />

leichtesten zu führen sind, <strong>und</strong> den Gebildeten sagt<br />

man, daß man dem Volke die Religion nicht nehmen<br />

dürfe. Man vergißt dabei, daß sich der Staat heute<br />

nicht mehr gegen die anderen Staaten hermetisch<br />

abschließen kann; daß jeder Staat, der sich durch<br />

Verringerung des Bildungsniveaus aus dem Kulturleben<br />

ausschließt, rettungslos verloren ist. Und von<br />

welchem Egoismus zeugt es, die Enterbten auf die<br />

Religion zu verweisen <strong>und</strong> zu sagen: „Ich halt'<br />

mich nicht daran, für d i e a r m e n T e u f e l ist es<br />

a b e r g u t ! " Nun gibt es aber Menschen, die nicht<br />

heucheln wollen, dann solche, die es nicht dürfen,<br />

in allen Kreisen, auch in der Kirche, die Modernisten.<br />

Diesen Konflikt will Rom nicht Uberzeugend lösen,<br />

sondern gewaltsam niederschlagen. So bilden Ultramontanismus<br />

<strong>und</strong> moderne Universitäten die denkbar<br />

schärfsten Gegensätze, deren Aneinanderprallen<br />

auch oft im tiefsten Frieden nicht zu vermeiden ist."<br />

Mit Gewalt will die Kirche den Gedankenflug<br />

freien Denkens niederhalten.<br />

Es soll ihr dies nicht gelingen. Ihrer brutalen,<br />

mit Staatsanwälten arbeitenden Gewalt<br />

setzen wir die überzeugendste <strong>und</strong><br />

unerschütterliche Gewalt der Aufklärung<br />

entgegen, die dem sozialistischen <strong>und</strong> gereift<br />

denkenden Proletarier entgegenruft:<br />

»Die Religion ist k e i n e Privatsache; nur<br />

mit dem Sturze jeder Kirchendogmatik bricht<br />

der Tag des Lichtes <strong>und</strong> der Freiheit an.<br />

Wir revolutionäre Sozialisten haben den<br />

Anfang zu machen <strong>und</strong> zu sagen: Der<br />

Gr<strong>und</strong>stein unserer Weltanschauung beruht<br />

auf der geistigen Befreiung des Individuums<br />

von jedwedem religiösen Mystizismus!<br />

Offizielles Protokoll<br />

des Internationalen Antimilitaristischen<br />

Kongresses<br />

gehalten zu Amsterdam, am 30.— 31. August<br />

1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />

des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />

m e r h o r n .<br />

(Fortsetzung.)<br />

Z w e i t e r T a g .<br />

In der öffentlichen Vormittags-Sitzung<br />

wird zuerst die innere Organisation der<br />

Internationalen Antimilitaristischen Vereinigung<br />

erörtert.<br />

Einige Redner weisen darauf hin, daß<br />

die Internationale Antimilitaristische Vereinigung<br />

eigentlich nur dem Namen nach besteht,<br />

da außer Holland, Frankreich <strong>und</strong><br />

Schweden nirgends eine kräftige besondere<br />

antimilitaristische Organisation existiert.<br />

Die Delegierten von Schweden, Italien<br />

<strong>und</strong> Frankreich erklären sich gegen eine<br />

s e l b s t s t ä n d i g e antimilitaristische Bewegung,<br />

da in ihren Ländern der Kampf gegen<br />

den Militarismus nur im Zusammenhang<br />

mit der allgemeinen revolutionären<br />

Bewegung gegen die bestehende Gesellschaftsordnung<br />

geführt wird <strong>und</strong> nur so<br />

geführt werden kann.<br />

Nach einer lebhaften Diskussion wird<br />

beschlossen, daß das Internationale Komitee<br />

der Internationalen Antimilitaristischen Vereinigung<br />

aus zwei Mitgliedern, einem aus<br />

Holland <strong>und</strong> einem aus Frankreich, bestehen<br />

soll, <strong>und</strong> daß die übrigen Länder je einen<br />

Korrespondenten wählen, die mit dem Internationalen<br />

Komitee in ständiger Verbindung<br />

stehen.—<br />

Auf den Antrag von D e v e n t e r (Holland)<br />

beschließt der Kongreß, daß die ein-<br />

zelnen Gruppen einen den Umständen angemessenen<br />

monatlichen Betrag an die internationale<br />

Kommission für die Zwecke<br />

der Propaganda zahlen sollen, statt den bisbisher<br />

festgesetzten monatlichen: 5 Heller<br />

per Mitglied. —<br />

Die Anträge von S t a r g a r d , zur Herausgabe<br />

einer guten kurzgefaßten antimilitaristischen<br />

Broschüre in verschiedenen<br />

Sprachen, sowie der von B u d a p e s t , zur<br />

Vorbereitung einer internationalen antimilitaristischen<br />

K<strong>und</strong>gebung <strong>und</strong> Herausgabe<br />

eines Manifestes bei Anlaß der Rekrutenaushebungen<br />

— werden dem Internationalen<br />

Komitee zur Verwirklichung überwiesen.<br />

Hiernach werden in g e s c h l o s s e n e r<br />

S i t z u n g diejenigen Fragen behandelt, welche<br />

man nicht öffentlich besprechen kann.<br />

Beschlossen, den Bericht über diese<br />

Verhandlungen nicht zu veröffentlichen.<br />

Die öffentliche Nachmittagssitzung wird<br />

mit der Besprechung des folgenden Antrages<br />

von S c h w e d e n eröffnet:<br />

»Vom internationalen sozialistischen Standpunkt<br />

gesehen ist jede auf die Fortdauer<br />

<strong>und</strong> die Entwicklung des Militarismus<br />

bezügliche Arbeit entschieden verwerflich.<br />

Dies sei das F<strong>und</strong>ament der internationalen<br />

Gewerkschaftsbewegung, die<br />

in dem Kampf gegen den Militarismus<br />

folgende Prinzipien als Leitsätze zu beobachten<br />

hat:<br />

Alle nach Arbeit suchenden <strong>und</strong> der<br />

»Internationalen antimilitaristischen Assoziation«<br />

neu beitretenden Arbeiter der<br />

ganzen Welt, welche die Wahl haben<br />

zwischen allgemein nützlicher Arbeit <strong>und</strong><br />

solcher im Dienst des Militarismus, also<br />

in Waffen- <strong>und</strong> Pulverfabriken, bei Festungs-<br />

oder Kasernenbauten oder auf<br />

Marinewerften sollen unbedingt die allgemein<br />

nützliche Arbeit vorziehen <strong>und</strong><br />

sich jeder Teilnahme an der Fortdauer,<br />

an dem Ausbau <strong>und</strong> der Entwicklung<br />

des Militarismus enthalten.<br />

Alle Arbeiter, die schon bei solchen<br />

Militärarbeiten tätig sind, müssen es als<br />

Ehrenpflicht betrachten, diese ihre Arbeitsmitwirkung<br />

einzustellen, sobald sie allgemein<br />

nützliche, wenn auch weniger lohnende<br />

Arbeit bekommen können.«<br />

S c h w e d e n hält jede nähere Erklärung für<br />

überflüßig;der Antrag spreche für sich selbst.<br />

H a a r l e m schlägt folgendeÄnderung vor:<br />

»Alle Arbeiter <strong>und</strong> neuhinzutretenden<br />

Arbeiter nehmen keine andere als allgemein<br />

nützliche Arbeit an; sie arbeiten<br />

nicht für den Militarismus, weder bei der<br />

Herstellung von Waffen oder Pulver,<br />

noch beim Festungs- oder Kasernenbau<br />

oder auf Marinewerften. Sie enthalten<br />

sich jeder Teilnahme an der Entwicklung<br />

des Militarismus.<br />

Alle schon in dieser Richtung tätigen<br />

Arbeiter müssen die Arbeit einstellen<br />

<strong>und</strong> allgemein nützliche Arbeit vornehmen.«<br />

D u q u e s n e weist auf die schwierige<br />

Ausführbarkeit dieses Vorschlages hin;<br />

wenn man etwas vorschlägt, müsse man<br />

bedenken, was ausführbar sei.<br />

H a a r l e m will keinen bindenden Artikel<br />

daraus machen, dem sich die Arbeiter<br />

unterwerfen müssen; es soll nur die notwendige<br />

Richtung angegeben werden.<br />

Dann kommt es auf dasselbe hinaus<br />

wie der Antrag Schweden — sagt D u q u e s n e<br />

— <strong>und</strong> dieser kann unverändert angenommen<br />

werden.<br />

A l k m o o r meint, ein Arbeiter hätte<br />

keine Wahl bei seiner Arbeit; er müsse<br />

diejenige Arbeit verrichten, die man ihm auferlegt.<br />

Er muß seine Arbeit verkaufen.<br />

Will Haarlem k e i n e n Z w a n g ausüben,<br />

dann kann der Antrag Schweden aber unverändert<br />

bleiben.<br />

S c h w e d e n erörtert seinen Antrag<br />

nochmals. Wenn wir so weit wären, daß<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />

alle Arbeiter diese Arbeit ablehnen — um<br />

so besser. Wir können aber schon jetzt viel<br />

erreichen. Wir wünschen die Arbeiter ja<br />

auch nicht in eine Revolution hineinzuhetzen,<br />

wie uns fälschlich nachgesagt wird<br />

Die Arbeiter müssen selbst ihren Reifegrad<br />

zur Ausführung einer Revolution erkannt<br />

haben, kein Führer darf sie für eigene<br />

Zwecke benützen. Das befreite Denken ist<br />

für die Arbeiter wie für uns, die Revolutionäre,<br />

die Hauptsache; die Arbeiter müssen<br />

sich dadurch vorbereiten auf die Taten, die sie<br />

zu verrichten haben, um ihren sozialen<br />

Willen durchzusetzen.<br />

F r a u S o r g u e sagt, daß mehrere Arbeiter<br />

in den französischen Arsenalen Antimilitaristen<br />

<strong>und</strong> Anarchisten sind. Gerade<br />

dort können wir nützlich wirken. Wenn sie ersetzt<br />

würden durch Arbeiter, die anderen Ideen<br />

anhängen, wäre es in Zeiten des Kampfes<br />

schwer, das zu erreichen, was jetzt möglich<br />

ist.<br />

D o m e l a N i e u w e n h u i s fügt hinzu,<br />

wie taktisch wertvoll es wäre, alle Arsenalarbeiter<br />

auf unsere Seite zu bringen. In<br />

Kriegszeiten wäre ein Streik in den Arsenalen<br />

<strong>und</strong> auf den Marinewerften von<br />

höchstem Interesse. Wenn man tun wollte,<br />

was Haarlem verlangt, was bleibt denn<br />

schließlich übrig für die Arbeiter, wenn sie<br />

nicht in den Arsenalen, nicht auf den Werften,<br />

nicht in den Gefängnissen, an Justizgebäuden<br />

<strong>und</strong> derartigem arbeiten sollen?<br />

D e u t s c h l a n d hält diese Bemerkung<br />

für sehr richtig <strong>und</strong> weist auf die Unmöglichkeit<br />

hin, das von Haarlem Vorgeschlagene<br />

prinzipiell festzusetzen.<br />

A m s t e r d a m fragt, ob die Frage der passiven<br />

Resistenz nicht behandelt werden soll.<br />

Beim Bau von Polizeibauten <strong>und</strong> derartigem<br />

kann das von Wichtigkeit sein. Aber in einer<br />

öffentlichen Sitzung kann darüber nicht gesprochen<br />

werden.<br />

U t r e c h t will das Gegenteil vorschlagen.<br />

Die Arbeiter müssen sich nämlich<br />

nicht zurückziehen aus den genannten Arbeiten,<br />

sondern dorten nach dem Gr<strong>und</strong>satz<br />

verfahren: Nur für gute Bezahlung<br />

eine gute Arbeit!<br />

D e u t s c h l a n d begreift die Diskussionen<br />

nicht; wer Antimilitarist ist, muß wissen,<br />

was er will.<br />

K o e t h e k stellt folgenden Antrag:<br />

»Der Antimilitaristische Kongreß konstatiert,<br />

daß die durch die produktiven Arbeiter<br />

zu Gunsten des Militarismus verrichtete<br />

Arbeit schädliche Arbeit ist;<br />

zieht aber in Betracht, daß die Notwendigkeit<br />

zu leben, die Arbeiter zwingt,<br />

solche Arbeit zu verrichten;<br />

urteilt, daß die passive Resistenz für die<br />

industriellen Arbeiter ein Kampfmittel ist,<br />

das allen Arbeitern zur Beachtung <strong>und</strong><br />

Erwägung sehr empfohlen werden kann.«<br />

E m m a G o l d m a n n (Amerika) begreift<br />

nicht, wie ein Antimilitarist nicht gegen<br />

die Kanonen- <strong>und</strong> Gewehrfabrikation<br />

sein könne. Wenn es als notwendig für die<br />

Propaganda erachtet wird in den Arsenalen<br />

zu arbeiten, muß zugleich daran festgehalten<br />

werden, daß die Arbeiter n i c h t die<br />

Anfertiger ihrer eigenen Mordwaffen sein<br />

dürfen. D e r K r i e g k a n n n u r d a d u r c h<br />

b e s e i t i g t w e r d e n , d a ß m a n d i e Arb<br />

e i t e r e t h i s c h e r z i e h t ! Dafür muß<br />

man die Arbeiter aller Länder soweit bringen,<br />

daß sie die Herstellung von Kriegsmaterial<br />

verweigern.<br />

S c h w e d e n meint, man könne höchstens<br />

von allgemein nützlicher Arbeit in<br />

den Fabriken sprechen. Es wird darüber<br />

gesprochen, daß man in die Arsenale gehen<br />

muß, wie in die Fabriken, um die Propaganda<br />

zu fördern. Redner sagt: »Ich habe<br />

nie eine Kanone gegossen, aber ich weiß<br />

doch aus Erfahrung, daß in den Arsenalen<br />

keine Propaganda gemacht werden kann.«<br />

(Fortsetzung folgt.)


Der „W. f. A." erscheint jeden I. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaiction <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />

I./17. — Gelder sind zu senden an<br />

W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />

5, III./27.<br />

Die Entwicklungsgeschichte der menschlichen<br />

Sklaverei — <strong>und</strong> letztere ist es, die<br />

zum größten Teile die Weltgeschichte erfüllt<br />

— wird zeitweise unterbrochen von<br />

jenen sonnigen Frühlingstagen einer zur<br />

Tat erwachten Menschheit, die der weiteren<br />

Gestaltung der sozialen <strong>und</strong> politischen<br />

Beziehungen zwischen den Menschen eine<br />

neue Richtung weisen.<br />

Nur insoferne als die Menschen der<br />

unterdrückten Klassen ihre ökonomische<br />

<strong>und</strong> daraus resultierende soziale Unterjochung<br />

e i n s a h e n , sich ihres momentan<br />

schmerzhaftesten Druckes entledigten, haben<br />

wir als Kommunisten <strong>und</strong> Anarchisten einen<br />

<strong>Weg</strong> des Fortschrittes zu verzeichnen.<br />

Das Erwachen der Menschheit gegenüber<br />

den diese in Elend <strong>und</strong> Not haltenden<br />

Herrschern <strong>und</strong> Reichen bestand stets<br />

in einem großen, oftmals kürzeren, oftmals<br />

länger hinausgezogenen Akte von welthistorischer<br />

Bedeutung:<br />

Die U n t e r d r ü c k t e n e r h o b e n sich,<br />

i n d e m sie d i e A r b e i t s w e r k z e u g e<br />

von sich w a r f e n , d e m S t r o m e i h r e r<br />

u n e n d l i c h e n R e i c h t u m z e u g e n d e n<br />

Arbeit E i n h a l t g e b o t e n , i h r e Pers<br />

ö n l i c h k e i t d e m A r b e i t s s y s t e m d e r<br />

b e s t e h e n d e n A u s b e u t u n g s a r b e i t<br />

e n t z o g e n !<br />

Dies ist die Anfangsgeschichte jeder<br />

Revolution, die die Geschichte kennt. Ohne<br />

dieses ersten Kapitels hätte sie niemals<br />

werden können, in ihr war die Einleitung<br />

zu den späteren Ereignissen enthalten.<br />

An der Wiege jeder großen Menschheitstat<br />

der Unterdrückten <strong>und</strong> Ausgebeuteten,<br />

um sich mehr oder minder viel Freiheit<br />

zu erringen, s t a n d d e r G e n e r a l -<br />

s t r e i k !<br />

Ausgehend von den Sklavenkriegen<br />

des Altertums bis in die modernste Neuzeit<br />

hinein, bis zur ersten Etappe der unvergänglichen<br />

russischen Revolution, haben<br />

wir stets gesehen, wie diejenigen sozialen<br />

Schichten, die vom bestehenden Unrecht<br />

überzeugt, vom tiefsten Abneigungsgefühl<br />

wider dieses durchdrungen waren, zur Erkenntnis<br />

heranreiften, daß die Arbeit, die<br />

sie leisteten, nur zur Bereicherung ihrer<br />

Tyrannen diente, sich zuerst <strong>und</strong> vor allem<br />

wider diese wandten. Die Arbeit ihrer<br />

Sklaverei, die sie leisteten, fast immer zum<br />

Zweck gegenseitiger Versklavung, wurde<br />

ihnen zum Ekel. Sie warfen sie weit von<br />

sich, ihre persönlichen Ehrgefühle, ihr<br />

Selbstempfinden <strong>und</strong> ihre Selbstachtung<br />

wuchsen über sie hinaus, sie schämten sich<br />

der getanen Arbeitsverrichtung für die Anderen<br />

— <strong>und</strong> sie wandten ihr den Rücken.<br />

D a m i t war die wesentliche Gr<strong>und</strong>lage<br />

des jeweilig bestehenden Systemes<br />

— der Glaube an seine Gottgefälligkeit, an<br />

seine Zweckmäßigkeit, an dem unveränderlichen<br />

Bestand der herrschenden Weltordnung<br />

— erschüttert, die Ü b e r w i n -<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft<br />

; dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gründe liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist. .<br />

Es lebe der Maitag der Kämpfenden!<br />

d u n g des Systems folgte unvermeidlich<br />

nach. *<br />

Und wieder ist der Tag gekommen,<br />

der in dem Herzen eines jeden revolutionären<br />

Proletariers die Flamme glühender<br />

Kampfesbegeisterung hochauf schlagen<br />

lassen sollte — der 1. Mai!<br />

In ihm haben wir den Tag eines Gedankens<br />

zu erblicken, der die Wiederauferstehung<br />

der Tage der historischen Vergangenheit<br />

bedeutet, die stets eine soziale<br />

Weltenwende für die unterdrückten Massen<br />

waren.<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2.40;<br />

halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

Nicht deshalb, weil er auch sonst gewöhnlich<br />

ein w<strong>und</strong>erschöner Frühlingstag<br />

ist. In diesem Sinne ward <strong>und</strong> wird der erste<br />

Maientag immer von den Vornehmen gefeiert.<br />

Aber mit dieser Bedeutung hat jene<br />

der sozialökonomisch Geknechteten nichts<br />

zu tun, denn die haben in den Tagen der<br />

Lohnsklaverei keine Zeit, keine Muße, das<br />

Aufspringen der holden Maiknospen zu<br />

beobachten.<br />

Nein, nicht dies ist seine Bedeutung<br />

für uns. Der 1. Mai ist deshalb heilig, deshalb<br />

historisch geworden zum Sammeltage<br />

des revolutionären Proletariats aller Länder,<br />

weil sich das Proletariat i h n s e l b s t g e -<br />

g e b e n , s e l b s t g e n o m m e n h a t !<br />

D e r 1 . Mai i s t d e r e i n t ä g i g e<br />

G e n e r a l s t r e i k wider Kapital, Unterdrückung,<br />

Ausbeutung, Militarismus <strong>und</strong><br />

jedwede Erniedrigung der Menschheit durch<br />

die Machthaber.<br />

Der 1. Mai ist der Tag der Demonstration<br />

<strong>und</strong> Kampfesparole wider die gesamte<br />

Bourgeoiswirtschaft, an dem das<br />

klassenbewußte Proletariat die Arbeit ruhen<br />

läßt, weil es die versklavte <strong>und</strong> ausgebeutete<br />

Arbeit haßt <strong>und</strong> sich da sehnt nach jener<br />

sozialen Neugestaltung, die ihm Befreiung<br />

der Arbeit von der Notwendigkeit der Lohnsklaverei<br />

<strong>und</strong> gesellschaftliche Herrschaftslosigkeit<br />

verheißt!<br />

Der 1. Mai ist der Tag, an dem das<br />

Proletariat sich wider die bestehende Gesellschaftsordnung,<br />

die ihm Hunger, Elend,<br />

Entbehrung, frühzeitigen Tod im Frieden<br />

<strong>und</strong> Schlachtentod im Kriege für seinen<br />

bienenhaften Arbeitseifer bietet, aufpflanzt,<br />

sie prüfenden Auges mißt — <strong>und</strong> über die<br />

Verkürzung seiner Arbeitssklaverei nachsinnt!<br />

Proletariat, dort wo du kampfesmutig<br />

bist, dort hast du dir diesen e i n e n Tag<br />

deiner Befreiung errungen!1 Nütze ihn,<br />

nütze ihn, laß' ihm die weiteren Tage des<br />

Jahres baldigst folgen!<br />

*<br />

Wie ist der 1. Mai entstanden!<br />

Wer da glaubt, daß der 1. Mai erst<br />

mit dem »Internationalen Sozialistenkongreß«<br />

von Paris (1889) ins Leben trat, glaubt<br />

einen Irrtum, der glaubt, daß ein Beschluß,<br />

ein Gesetz, eine Bestimmung v o r dem<br />

Menschen, f r ü h e r als selbst die sozialen<br />

Verhältnisse sind. Dies ist falsch; erst diese<br />

letzteren erzeugen das Wesentliche der<br />

ersteren.<br />

Von jenseits des »großen Wassers«,<br />

von Amerika ist uns zuerst die revolutionäre<br />

Bedeutung des Tages gegeben worden.<br />

Der 1. Mai ist aus der revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />

hervorgegangen, sein<br />

Anfang ist von den grimmigsten Kämpfen<br />

zwischen Proletariat <strong>und</strong> staatlich begünstigtem<br />

Kapitalismus begleitet.<br />

Der 1. Mai geht hervor aus den<br />

direkten Kämpfen der amerikanischen »Arbeitsritter«-<br />

<strong>und</strong> »Arbeitsföderations«-Ge-


werkschaften für die tatsächliche Durchsetzung<br />

des Achtst<strong>und</strong>entages. Und dieser<br />

Kampf der direkten Aktion, der o h n e<br />

parlamentarische Hintertreibung vor sich<br />

ging, war intim verbündten mit der Idee<br />

des Generalstreiks.<br />

Es war die amerikanische »Arbeitsföderation«,<br />

die laut einem kurz vorher<br />

auf ihrem Kongreß gefaßten Beschluß für<br />

den 1. Mai 1886 an die Proklamation des<br />

Generalstreiks für die Durchführung des<br />

Achtst<strong>und</strong>entages schritt. Sie führte diesen<br />

Beschluß auch wirklich aus. Über<br />

200.000 Proletarier streikten <strong>und</strong> setzten<br />

— vornehmlich in Chicago — ihre Forderung<br />

zum größten Teile durch.<br />

Allein, es scheint das Geschick jeder<br />

großen Bewegung <strong>und</strong> Machtentfaitung der<br />

Unterdrückten zu sein, daß sie ihre Siege<br />

nicht -<br />

' ohne herbe Verluste an edelstem<br />

Menschenmaterial <strong>und</strong> dem Blute großartiger<br />

Pioniere zu erreichen vermag.<br />

So war es auch mit jenem e r s t e n<br />

1. Maitag des sozialen Kampfes. Die Arbeiter<br />

triumphierten vielfach — aber auch<br />

die Rache der Herrschenden raste, <strong>und</strong> sie<br />

erkor sich die beredtesten Wortführer, die<br />

größten Geister der Bewegung als ihre<br />

Opfer.<br />

An der Wiege der ersten Maibewegung<br />

<strong>und</strong> Idee stehen die Anarchisten S p i e s ,<br />

P a r s o n s , E n g e l s , F i s c h e r , L i n g g ,<br />

die von den amerikanischen Justizplutokraten<br />

<strong>und</strong> demokratisch-demagogischen Staatsmatadoren<br />

dieser kapitalistisch-despotischen<br />

Republik unschuldig hingemordet wurden,<br />

als Unschuldige todesmutig den Galgen<br />

bestiegen, wie es der nachmalige Staatsgouverneur<br />

Altgeld juristisch bewies.<br />

Anarchisten haben ihr Leben hingeopfert<br />

für diesen großen Gedanken des<br />

1. Mai, der damit erst ins wahre Relief<br />

seiner Bedeutung gerückt wird. Die Bluttaufe<br />

dieses Tages wurde von den Herrschenden<br />

durch die Hinopferung von unschuldigen<br />

Anarchisten vollzogen, die freudig<br />

in den Tod gingen für die Sache der<br />

Arbeiterklasse.<br />

F E U I L L E T O N .<br />

Die roten Tränen.<br />

Ein Maimärchen von O s w a l d T e l l h e i m.*<br />

Es war einmal ein Schloß, das stand in der<br />

tiefen, tiefen Erde drin. Es hatte schneeweiße Marmorwände,<br />

goldne Säulen <strong>und</strong> ein Dach aus Diamant.<br />

Die Fenster waren aus Krystall, <strong>und</strong> so klar <strong>und</strong><br />

rein, daß die ganze, tiefe Erde sich in ihnen a b -<br />

spiegelte. Um das Schloß war ein Garten. In diesem<br />

Garten bluten viele, viele Bliimelein. Sie hatten<br />

schneeweiße Stengel, silberne Blätter <strong>und</strong> diamantene<br />

Bliitenkronen. Diese Blümlein wuchsen aus<br />

Tröpflein, welche in den Garten herniederrannen,<br />

immerzu, immerzu. Diese Tröpflein kamen aus den<br />

Augen der Menschenkinder, die die Erde bewohnten,<br />

<strong>und</strong> wurden als Kindlein in ihren Herzen geboren.<br />

Die Eltern dieser Tropfenkindlein hießen<br />

K u m m e r <strong>und</strong> N o t , deren Eltern hießen Z w a n g<br />

<strong>und</strong> B e d r ü c k u n g , <strong>und</strong> die Eltern dieser waren<br />

H e r r s c h w i l l e <strong>und</strong> Ü b e r h e b u n g . Auch sie<br />

wurden in den Herzen von Menschenkindern geboren.<br />

Wenn nun diese Tröpflein in den Garten des<br />

Schlosses herniederrannen, so sangen sie mit hellen,<br />

reinen Stimmen. Es klang:<br />

„Tinke tunk, tinke tunk,<br />

Tränlein sind wir!<br />

Erinnerung, Erinnerung,<br />

Säen wir hier!<br />

Kommen aus Menschenherz,<br />

Sahen sein Leid <strong>und</strong> Schmerz.<br />

Tinke tunk, tinke tunk,<br />

Tränlein sind wir!"<br />

Im Schloß drinnen wohnte eine Königin. Sie<br />

saß auf einem schneeweißen Marmortron; der hatte<br />

Silberseiten <strong>und</strong> eine goldene Lehne. Darüber war<br />

ein Himmeldach aus Blau-Edelstein, darinnen funkelten<br />

Sternlein: das waren Diamantsteine. Die<br />

Königin trug ein schneeweiß Kleid, besäet mit Silberblumen.<br />

Ihre Krone war aus Krystall, mit einem<br />

Silberring <strong>und</strong> goldenen Zacken. Um den Tron her<br />

• D e r Verfasser, ein tüchtiger Schriftsteller auf dem Gebiete<br />

freiheitlich aufklärender Jugendliteratur, hat uns das obige, bisher<br />

unveröffentlichte Mainlärchen zur Verfügung gestellt. Wir<br />

verweisen an dieser Stelle angelegentlichst auf sein wertvolles<br />

Werkchen über .Jugendliteratur; ein Versuch in Skizze., das<br />

im Verlag E. Kempe, Leipzig, erschienen. Die Red.<br />

So sind es denn auch wir Anarchisten,<br />

die einzig <strong>und</strong> allein mit wahrer Würdigung<br />

diesen Tag zu feiern vermögen, somit jene,<br />

die willens sind, ihm die echte, verdiente<br />

Würdigung angedeihen zu lassen.<br />

Denn, wie eine sieghafte Kampfesparole,<br />

so flattert überall, wo am 1. Mai<br />

die Fahnen unserer Kampfesbegeisterung<br />

gehißt werden, die eine große Losung auf<br />

ihnen:<br />

Der 1. Mai ist der Tag selbständiger<br />

Aktion des Proletariats — der Gedanke der<br />

Befreiung von allem staatlichen <strong>und</strong><br />

sonstigen Führertum, der Tag des Selbstvertrauens,<br />

der Tag der Erkenntnis von<br />

der ungeheuren Macht der durch den<br />

Willen des Proletariats aufgehobenen, unterbrochenen<br />

Arbeit.<br />

Der 1. Mai ist die Idee von der eintägigen<br />

Aussperrung der Kapitalistenklasse<br />

durch das Proletariat. Sobald das Proletariat<br />

zu demjenigen Erkenntnisgrad herangereift<br />

ist, diese Aussperrung der kapitalistischen<br />

Klasse a l s s o l c h e K l a s s e in<br />

Permanenz zu erklären, hat die St<strong>und</strong>e der<br />

Befreiung aus der düsteren Nacht der<br />

Lohnsklaverei geschlagen.<br />

Und kommen wird dieser Tag, denn<br />

der kräftig pulsierende Lebensdrang der<br />

Menschheit nach vorwärts, garantiert sein<br />

Kommen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e drängt es<br />

sich jubelnd über unsere Lippen:<br />

E s l e b e d e r s o z i a l e K a m p f d e s<br />

P r o l e t a r i a t s !<br />

E s l e b e d i e I d e e d e r S o l i d a r i t ä t<br />

u n d i h r K a m p f e s a u s d r u c k — G e n e -<br />

r a l s t r e i k !<br />

E s l e b e d e r H e r o l d d e r s o l i d a -<br />

r i s c h e n G e m e i n s c h a f t s b e f r e i u n g<br />

i n d e r Z u k u n f t : D e r e r s t e M a i !<br />

Der 1. Mai als Tag der direkten<br />

Aktion.<br />

„Der Kongreß beschließt ferner:<br />

Die K<strong>und</strong>gebung des 1. Mai für den<br />

Achtst<strong>und</strong>entag soll zugleich eine K<strong>und</strong>gebung<br />

des festen Willens der Arbeiter-<br />

st<strong>und</strong>en viele Edelknaben <strong>und</strong> Edelmägdlein, alle<br />

in schneeweiß Kleidern <strong>und</strong> mit Silberreiflein auf<br />

ihren Köpfen.<br />

Nun war es, daß die Königin in den Garten<br />

ging <strong>und</strong> alle Edelknaben <strong>und</strong> Mägdlein folgten ihr,<br />

einmal jeden Tag, jeden Tag. Und jedesmal st<strong>und</strong><br />

sie <strong>und</strong> schaute auf die Tröpflein <strong>und</strong> auf die Blümelein.<br />

Ihr Antlitz war wie der stille Morgenhimmel,<br />

<strong>und</strong> ihre Augen glänzten wie die Strahlen der Sonne<br />

des Ostens. Die Edelknaben <strong>und</strong> Mägdlein st<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> blickten sie an jedesmal. Und jedesmal<br />

traten solche Tröpflein in ihre Augen, als jene die<br />

herniederflossen von der Menschenerde. Sie wußten<br />

nicht, warum die Tröpflein in ihre Augen kamen,<br />

noch wußten sie, woher sie kamen. Doch fühlten<br />

sie, daß in ihren Herzen es klang <strong>und</strong> sang, weh,<br />

weh, <strong>und</strong> doch so süß <strong>und</strong> lieblich, wenn sie ihre<br />

Königin anblickten, jedesmal, jedesmal. So ging sie<br />

in den Garten mit ihrer Schar, einmal jeden Tag.<br />

Einmal in jedem Jahr aber, an einem Tage,<br />

st<strong>und</strong> sie nicht schauend auf die Tröpflein <strong>und</strong> die<br />

Blümlein; aber sie streckte ihre Hand aus über sie,<br />

<strong>und</strong> sieh da! sie wurden zu Edelkindlein, Knaben<br />

<strong>und</strong> Mägdlein. Auch sie trugen schneeweiße Kleider<br />

<strong>und</strong> silberne Reiflein, doch hielten die Mägdlein<br />

Weißblumensträuße in den Händen <strong>und</strong> die Knaben<br />

silberne Stäbe mit goldenen Spitzen.<br />

Nun schlug die Königin an eine silberne Glocke,<br />

<strong>und</strong> zwölf Edelknaben kamen eilends herbei.<br />

Sie gingen <strong>und</strong> brachten der Königin Gefährt; es<br />

war aus Krystall <strong>und</strong> hatte silberne Räder. Zwölf<br />

schneeweiße Rosse zogen e s ; sie hatten silberne<br />

Hufe <strong>und</strong> goldene Mähnen. Die Königin bestieg<br />

das Gefährt <strong>und</strong> fuhr empor in ihm zur Menschenerde,<br />

<strong>und</strong> alle Edelknaben <strong>und</strong> Mägdlein folgten ihr.<br />

Viele zogen einher vor dem Gefährt, andere zu<br />

beiden Seiten, <strong>und</strong> alle die anderen folgten nach.<br />

So zogen sie dahin, durch das ganze, weite Menschenkinder-Land.<br />

Dabei streuten die Mägdlein die<br />

weißen Blumen aus, <strong>und</strong> die Knaben steckten ihre<br />

silbernen Stäbe mit den goldenen Spitzen tief in<br />

die Erde hinein, dicht an den Häusern der Menschenkinder.<br />

Doch diese sahen nichts von all diesem,<br />

denn es war Nacht jedesmal, <strong>und</strong> sie schliefen in<br />

ihren Kammern. Sie wußten aber von der Königin<br />

<strong>und</strong> ihrem Zuge jedes Jahr, denn sie hatten ihr<br />

einen Namen gegeben. Sie nannten sie Maikönigin;<br />

denn jedesmal, wenn sie das Erdenland durchzog,<br />

war es Mai, die erste Maiennacht.<br />

klasse sein, durch soziale Umgestaltung<br />

die Klassenunterschiede zu beseitigen<br />

<strong>und</strong> so den einzigen <strong>Weg</strong> zu beschreiten,<br />

der zum Frieden innerhalb<br />

jedes Volkes, wie zum internationalen<br />

Frieden führt."<br />

(Aus der Maifeierresolution des<br />

internationalen Kongresses in Zürich,<br />

1893).<br />

Es gehört leider zu den üblichen Gepflogenheiten<br />

einer jeden, auf falschen<br />

<strong>Weg</strong>en befindlichen Bewegung oder Partei,<br />

die offenk<strong>und</strong>ige Nichtübereinstimmung<br />

zwischen ihrer Theorie <strong>und</strong> Praxis durch<br />

hochtönende Resolutionen <strong>und</strong> rhetorisches<br />

Floskeltum verdecken <strong>und</strong> verbergen zu<br />

wollen. Besonders trifft dies auf die Sozialdemokratie<br />

<strong>und</strong> ihre Stellung zur Maifeierfrage<br />

zu. Die Gegensätzlichkeit zwischen<br />

dieser Idee des selbstbewußt geführten<br />

Kampfes, der persönlichen Mitwirkung<br />

eines jeden einzelnen Proletariers behufs<br />

Erreichung seiner momentanen materiellen<br />

<strong>Ziel</strong>e, wie auch der vollständigen Befreiung<br />

diese Idee <strong>und</strong> Taktik befindet sich in<br />

einem heillosen Widerspruch mit der parlamentarischen<br />

Vertretungstätigkeit der Sozialdemokratie,<br />

die aus eben diesem Gr<strong>und</strong>e<br />

den 1. Mai entweder ganz sinnlos begeht<br />

<strong>und</strong> dabei bekämpft — wie es die<br />

d e u t s c h e Sozialdemokratie tut — oder<br />

aber sich nicht recht in Einklang mit dieser<br />

Idee <strong>und</strong> Taktik des 1. Mai zu versetzen<br />

weiß, wie im Falle der österreichischen<br />

Sozialdemokratie.<br />

Bekanntlich entspringt die Idee des<br />

1. Mai dem selbständig geführten ökonomischen<br />

Kampf des Proletariats; waren es<br />

Anarchisten, die Schulter an Schulter mit<br />

dem Proletariat dessen ökonomische Kämpfe<br />

wider Ausbeutertum <strong>und</strong> Staatsautorität<br />

führten. Ein Funke dieser Kämpfe war es,<br />

das in den ersten Maitagen des Jahres<br />

188Ö vergossene Arbeiterblut zu Chicago<br />

ist es gewesen, welches die Idee des<br />

1. Mai in den Delegierten zum Pariser<br />

Kongreß (1889) aufsteigen ließ. Wohl wurde<br />

die Idee dort nicht in ihrer ganzen Reinheit<br />

als direkte Aktion des Proletariats auf-<br />

So zog die Maikönigin dahin, durch das Land.<br />

Dann, wann schon der Morgenstern verblaßt <strong>und</strong><br />

die Sonne aufstieg im Osten, dann nahm sie Abschied<br />

vom Erdenland der Menschenkinder <strong>und</strong><br />

winkte den Rosselenkern, daß sie hinabführen zum<br />

Schloß in der tiefen, tiefen Erde. Sie fuhren hinab<br />

<strong>und</strong> alle Edelknaben <strong>und</strong> Mägdlein folgten nach.<br />

Unten im Schloßgarten streckte die Königin die<br />

Hand aus über ihnen, <strong>und</strong> jene, die einst Blumen<br />

waren, wurden wieder zu Blumen im Garten. Die<br />

anderen aber st<strong>und</strong>en wieder um den Tron her.<br />

Oben auf der Erde aber, wenn die Menschenkinder<br />

am Morgen des ersten Mai erwachten,<br />

waren sie voll neuen Leben, neuer Lust <strong>und</strong> neuer<br />

Kraft. Das war der Duft, der aus den weißen Blumen<br />

strömte, die die Edelmägdlein der Königin gestreut<br />

hatten. Und sie waren voll neuer Hoffnung.<br />

Das war der Glanz, der aus den Silberstäben mit<br />

den goldenen Spitzen strahlte, die die Edelknaben<br />

der Königin in die Erde gesteckt hatten, dicht an<br />

ihren Häusern. Und die Menschenkinder — an diesem<br />

einen Tage in jedem Jahr rannen keine Tröpflein<br />

aus ihren Augen, da die Eltern dieser Tropfenkindlein,<br />

Kummer <strong>und</strong> Not, an diesem Tage nicht<br />

in ihren Herzen blieben. Denn die Menschenkinder<br />

waren voll Glück an diesem Tage. S i e f e i e r t e n<br />

e i n g r o ß e s F e s t . E s h i e ß d a s M a i e n f e s t ,<br />

d a s F r ü h l i n g s f e s t , d a s F e s t d e r H o f f n u n g .<br />

Nun begab es sich eines Tages, im Schloß<br />

in der tiefen, tiefen Erde drin, daß ein Edelknabe<br />

kam im Lauf zum Tron <strong>und</strong> rief:<br />

„Frau Königin, o kommet, o kommet zum Garten her!<br />

Die Tröpflein, die Tröpflein, wie sind sie so trüb'<br />

<strong>und</strong> schwer!"<br />

Da erhob sich die Königin <strong>und</strong> eilte zum<br />

Garten <strong>und</strong> alle Knaben <strong>und</strong> Mägdlein folgten ihr.<br />

Als sie hinkamen, sahen sie wie die Tröpflein, die<br />

herniederannen immerzu, immerzu, wie sie nicht<br />

hell <strong>und</strong> rein wie einst, wie sie aber jetzt trüb <strong>und</strong><br />

schwer waren <strong>und</strong> ganz rot. Dazu sangen sie mit<br />

tiefen, schweren Stimmen. Es klang:<br />

„Tinke tunk, tinke tunk,<br />

Rot' Blut sind wir!<br />

Sühnung, Sühnung,<br />

Säen wir hier!<br />

Kommen aus Menschenherz,<br />

Sahen sein' Todesschinerz.<br />

Tinke tunk, tinke tunk,<br />

Rot' Blut sind wir!"


gefaßt, wie es füglich durch ihren Ursprung<br />

hätte geschehen müssen. Aber es war<br />

dennoch der erste V o r s t o ß in die rechte<br />

Richtung d e r b e d e u t s a m e , i n t e r -<br />

n a t i o n a l z u f ü h r e n d e V o r s t o ß d e s<br />

P r o l e t a r i a t s w i d e r d i e i n t e r n a t i o -<br />

n a l e K a p i t a l i s t e n k l a s s e d u r c h Entzug<br />

s e i n e r A r b e i t s k r a f t u n d Pers<br />

ö n l i c h k e i t .<br />

Diese Taktik hat naturgemäß n i c h t s<br />

mit der Sozialdemokratie als politischer<br />

Partei gemein. Sie ist <strong>und</strong> m u ß ihr feindselig<br />

gegenüberstehen, denn dort wo die<br />

Arbeiterklasse selbständig auftritt, bedarf<br />

sie der Politiker nicht mehr, <strong>und</strong> die Führer<br />

der Sozialdemokratie betätigen sich in der<br />

Politik nur zu dem ausgesprochenen Zweck,<br />

ins Parlament gewählt zu werden. Hier ist<br />

der e i n e Gegensatz zur Idee des 1. Mai.<br />

Der z w e i t e <strong>und</strong> noch klaffendere ist darin<br />

gelegen, daß diese revolutionäre Bek<strong>und</strong>ung,<br />

für wenigstens e i n e n Tag der<br />

kapitalistischen Klasse u n b o t m ä ß i g zu<br />

sein, das Kennzeichen für die Vorstellung<br />

bildet, w i e die kapitalistische Gesellschaft<br />

überw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> durch eine kommunistischanarchistische<br />

ersetzt werden kann. Während<br />

die kommunistischen Anarchisten dies durch<br />

die selbständig vor sich gehende revolutionäre<br />

Aktion der Volksmassen <strong>und</strong> Individuen<br />

sich vollziehen lassen wollen, erstreben<br />

die Sozialdemokraten den Stimmzettelsieg<br />

in- <strong>und</strong> außerhalb des Parlaments,<br />

wollen die Gesellschaft dann durch die<br />

Parlamentsmajorität sozialdemokratisch <strong>und</strong><br />

•gesetzlich« umformen. Nur im Hinblick<br />

auf letzteres Streben kann der Parlamentarismus<br />

überhaupt einen Sinn haben für<br />

die Sozialdemokraten.<br />

Ist es ein W<strong>und</strong>er, daß darunter, unter<br />

dieser gr<strong>und</strong>falschen Auffassung der Sozialdemokraten,<br />

die praktische Ausführung der<br />

1. Maiidee litt, leiden mußte? Nein, wahrlich<br />

nicht. Ist es doch eine Tatsache, daß<br />

die deutsche Sozialdemokratie heute, 18<br />

Jahre nach der ersten Maifeier noch immer<br />

keine bestimmte Stellung zum 1. Mai einnimmt,<br />

als Dreimillionenpartei es nicht<br />

Und sie rannen hernieder, immerzu, immerzu;<br />

ein jedes wurde eine Blume. Doch sie hatten keine<br />

schneeweißen Stengel, keine Silberblätter <strong>und</strong> keine<br />

Blütenkronen von Diamant, sondern sie waren rot<br />

wie Blut <strong>und</strong> jede hatte einen scharfen, spitzen<br />

Stachel. Wieder st<strong>und</strong> die Königin <strong>und</strong> schaute auf<br />

Üie Tröpflein <strong>und</strong> auf die Blümlein. Ihr Antlitz war<br />

nicht wie der stille Morgenhimmel, noch glänzten<br />

ihre Augen wie die Strahlen der Sonne des Osten.<br />

Sondern ihr Antlitz glühte wie der Himmel in Mittagsglut<br />

<strong>und</strong> ihre Augen blitzten gleich dem Strahl, der<br />

aus dichtem Hitzgewölk' fährt <strong>und</strong> dahinsprüht, daß<br />

Himmel <strong>und</strong> Erde erbeben unter seiner Allgewalt.<br />

Wieder blickten die Edelknaben <strong>und</strong> Mägdlein sie<br />

an, doch kamen keine Tröpflein in ihre Augen diesesmal.<br />

Denn in ihren Herzen klang <strong>und</strong> sang es<br />

nicht so weh <strong>und</strong> doch so süß, wie einst <strong>und</strong> immer,<br />

sondern sie erbebten diesesmal <strong>und</strong> sie wußten nicht<br />

warum <strong>und</strong> was zu tun. Einer der Knaben aber<br />

faßte sich ein Herz <strong>und</strong> frug:<br />

„Frau Königin, o saget, woher die Tröpflein rot?<br />

Frau Königin, wo schlug man die W<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

den T o d ? "<br />

Da nahm die Königin ihre Krone vom Haupt<br />

<strong>und</strong> hielt sie dar wie einen Spiegel. Dabei sprach sie:<br />

„Was droben im Menschenland geschieht,<br />

Das man in diesem Spieglein sieht 1"<br />

Da schauten die Knaben <strong>und</strong> Mägdlein in die<br />

Krone <strong>und</strong> sahen wie ein Bild eines Königs Schloß,<br />

umgeben von Schnee <strong>und</strong> Eis <strong>und</strong> starren Eisengittern.<br />

Schnee <strong>und</strong> Eis bedeckte auch die Erde<br />

ringsumher.<br />

Vor dem Schloß st<strong>und</strong> viel Volk in dichten<br />

Haufen, <strong>und</strong> alle riefen nach ihrem König. Der aber<br />

zeigte sich nicht seinem Volk, sondern st<strong>und</strong> versteckt<br />

hinter dem Vorhang eines Fensters. „Lieber<br />

Vater", rief das Volk, „Väterchen sieh her! Wir<br />

sind gekommen, um von dir selbst Hülfe zu erflehn!<br />

Lange schon flehten wir bei deinen Dienern vergeblich.<br />

Hilf uns, lieber Vater, hilf uns! G i b F r e i -<br />

heit, gib B r o t ! " „Macht, daß Ihr von hinnen<br />

kommt!" schrie ihnen der Hauptmann der Schloßwache<br />

zu. „Der König hat kein Brot für Euch!"<br />

„Dann gebt uns Freiheit, daß wir selber Brot uns<br />

schaffen können!" „Nun ist's genug!" schrie wieder<br />

der Schloßhauptmann. „Dies sich zu erdreisten!<br />

Frech' Gesindel!"<br />

Er winkte hinter sich in den Schloßhof, die<br />

Tore öffneten sich <strong>und</strong> spien wie Ungeheuer mäch-<br />

w a g t , ihren Anhängern die Arbeitsruhe<br />

zu empfehlen <strong>und</strong> zu ermöglichen, worüber<br />

gerade jetzt wieder in Deutschland ein heftiger<br />

Kampf gegen den Parteivorstand in<br />

den Reihen der Partei ausgebrochen ist.<br />

Man wende nicht ein, daß es bei uns in<br />

Österreich besser sei. Es w a r besser, es<br />

g a b eine revolutionäre K<strong>und</strong>gebung, als<br />

der 1. Mai noch gegen <strong>und</strong> trotz den<br />

Willen der Herrschenden gefeiert wurde,<br />

darüber das Militär auf unbewaffnete Arbeiter<br />

kommandiert wurde; als es noch<br />

kein Wahlrecht gab. Doch heute hat dieser<br />

1. Mai durch die politisch-parlamentarische<br />

Tätigkeit der Sozialdemokratie jede revolutionäre<br />

Bedeutung eingebüßt. Er ist<br />

nichts als das, was er im Sinne von Politikern<br />

sein s o l l t e : ein F o r d e r n von den<br />

öffentlichen Gewalten, ihnen, den Proletariern,<br />

den Achtst<strong>und</strong>enarbeitstag zu g e b e n ;<br />

er ist nicht das, was er im Sinne der amerikanischen<br />

Arbeiterbewegung, ja sogar<br />

was er im Sinne obigen Mottos sein m u ß<br />

<strong>und</strong> i s t : Die Kampfesproklamation des<br />

Proletariats wider die bürgerliche Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> die Erklärung, sich den Achtst<strong>und</strong>entag<br />

zu e r k ä m p f e n , indem man<br />

nicht länger als acht St<strong>und</strong>en arbeitet.<br />

Nur wir kommunistische Anarchisten<br />

sind es, die diesen ursprünglichen <strong>und</strong><br />

wahren Charakter des 1. Mai gewahrt<br />

wissen wollen! Die Sozialdemokraten verwenden<br />

den 1. Mai dazu, damit er ihrer<br />

parlamentarischen Tätigkeit — die schon<br />

eigentlich dadurch allein ihren Bankerott<br />

erklärt! — einigen Nachdruck verleihe;<br />

sonst ist ihnen der 1. Mai kein Tag der<br />

direkten Aktion zur Erkämpfung bestimmter<br />

ökonomischer Forderungen, sondern höchstens<br />

ein sehr unfruchtbarer Demonstrationstag<br />

für ihre politische »Macht«, die sie<br />

aufmarschieren lassen, ohne sie sich selbst<br />

gebrauchen zu lassen, ohne die Massen dazu<br />

zu e r z i e h e n , w i e ihre ökonomische<br />

Massenmacht für ökonomische Zwecke zu<br />

verwerten ist.<br />

An dieser inneren »Unfähigkeit zu<br />

wollen« geht der 1. Maigedanke, soweit<br />

tige Knäuelschlangen von dichtgedrängten Kriegsgesellen<br />

aus. Wie Stacheln blitzten scharfe Schwerter<br />

<strong>und</strong> Federbüchsen. Schlünde rings herum. Ein ander<br />

Zeichen, <strong>und</strong> die Knäuel lösten sich. Die Greuelschlangen<br />

wanden sich ums ganze Schloß <strong>und</strong><br />

drohten gierig dem Volkshaufen. Der wogte nun<br />

<strong>und</strong> wallte, man rief, man schrie, man schwenkte<br />

Bannerzeichen, darunter auch das noch mit Lieb'<br />

umkränzte Bildnis des Königs. Der st<strong>und</strong>, sah alles,<br />

aber rührte sich nicht. Nun winkte er dem Schloßhauptmann.<br />

Der schwenkte seinen Degen, Ruh'<br />

gebietend in der Luft. Nun ward es still.<br />

„So höret denn, Ihr elend Gassengesindel!"<br />

So schrie, so brüllte nun der allgewaltige Herrscherknecht.<br />

„Von hinnen, hört Ihr? Von hinnen! Räumt<br />

den Platz!"<br />

„Wir wollen ungehört nicht heim!" So rief<br />

<strong>und</strong> schrie das Volk <strong>und</strong> wurde ungeduldig, erregt<br />

hier <strong>und</strong> da, doch Viele drängten nun mit Macht<br />

zurück. Jedoch der Haufe war zu groß. Es war ein<br />

Meer, das einmal aufgerührt, nun rührte in sich<br />

selbst, <strong>und</strong> wellenartig wallte es hin <strong>und</strong> her.<br />

„ W i r w o l l e n F r e i h e i t , B r o t ! "<br />

So schallt es wieder. Bejochte Nacken reckten<br />

sich, gekettete Arme streckten sich <strong>und</strong> Antlitze,<br />

auf die der Hunger <strong>und</strong> die Not mit schwerer Hand<br />

geschrieben, hoben sich sonnbeschienen aus dem Häuf.<br />

„Ein letztes Mal — von hinnen! Räumt den<br />

Platz!"<br />

Der Hauptmann brüllte es <strong>und</strong> lugte nach<br />

dem Fenster. Von da ein Wink, er hob den Degen<br />

blitzend — ein Rühren bei den aufgereihten Kriegsgesellen<br />

— ein Krachen, einmal, wieder, wieder.<br />

Die Feuerbüchsen hatten dröhnend, blitzend gesprochen<br />

ihr Schreckenswort. Es ist geschehen!<br />

Dort liegen sie, in dem Haufen des Volkes, das<br />

wirr im Schrecken durcheinander wogt. Und die<br />

Getroffenen schleppen sich dahin, die andern liegen<br />

wie dahingemähet <strong>und</strong> ächzen, stöhnen, klagen laut<br />

<strong>und</strong> kreischend. Noch andere aber liegen still <strong>und</strong><br />

stumm, kalt wie der Schnee, auf dessen weichem<br />

Kissen sie kosend nun gebettet.<br />

So blinkt das Bild im Kristallspiegel: weiß<br />

<strong>und</strong> rot, dies sind die Farben, die nun alles überschimmern.<br />

Der weiße, reine Schnee, das rote, rote<br />

Blutl Hier rinnt's als wie ein Bächlein, schäumend,<br />

murmelnd, denn eine leise Stimme geht mit ihm.<br />

Dort stehts in einem Tümpel, ein kleiner, stiller<br />

See — nicht ganz still. Es redet, predigt auch in<br />

ihn die Sozialdemokratie verwirklichen soll,<br />

leider schmählich zu Gr<strong>und</strong>e. Schöne<br />

Phrasen, aber keinerlei Erziehung zur Tat,<br />

zur direkten ökonomischen Kampfesaktion.<br />

In vielen Ländern von der Sozialdemokratie<br />

nur lahm zur Ausführung gebracht, kommt<br />

es so, daß der 1. Mai heute in keinem von<br />

sozialdemokratischen Parlamentariern beherrschten<br />

Land irgend einer sozialistischen<br />

Bewegung der Bourgeoisie noch irgend<br />

welchen Schrecken einjagt. Sie hat sich<br />

größtenteils an ihn gewöhnt, hat sich, da<br />

sie einsah, daß er ihr ja gar nichts antat,<br />

mit ihm abgef<strong>und</strong>en; wie sie sich auch abgef<strong>und</strong>en<br />

hat mit der n u r reformativen<br />

Gewerkschaftsbewegung, mit der legalen<br />

Sozialdemokratie <strong>und</strong> vielen anderen, anfangs<br />

so schön <strong>und</strong> ideal gewesenen<br />

Dingen. Und noch vor erst zwei Jahren<br />

schien es, daß die Idee des 1. Mai langsam<br />

aber sicher. den unvermeidlichen Tod<br />

der Unfruchtbarkeit sterben würde, höchstens<br />

d i e Länder ausgenommen, in denen<br />

es noch kein Wahlrecht gab <strong>und</strong> die eine<br />

sozialistische Bewegung hatten; aber auch<br />

in ihnen artete die Begehung des 1. Mai<br />

vielfach aus in ein ganz demagogisches<br />

Propagieren für rein politische Zwecke,<br />

statt auf die ökonomischen Gr<strong>und</strong>gedanken<br />

des Tages einzugehen.<br />

Es war die in Frankreich von den<br />

kommunistischen Anarchisten begründete<br />

r e v o l u t i o n ä r e Gewerkschaftsbewegung,<br />

die als die rettende Macht auftrat <strong>und</strong> den<br />

1. Maigedanken dem sonst sicheren Tode<br />

entriß, ihn zu seinem ursprünglichen Wesensgehalt<br />

— zum Tage der Proklamierung des<br />

ökonomischen Kampfes! — zurückführte.<br />

Durch den in Frankreich allenthalben am<br />

1. Mai 1906 ausbrechenden Generalstreik,<br />

d e r d e n f r a n z ö s i s c h e n A r b e i t e r n<br />

i n 1 1 G e w e r b e n d e n A c h t s t u n d e n -<br />

t a g d u r c h s e t z t e , dadurch hat der 1. Mai<br />

seine internationale Bedeutung wieder gewonnen.<br />

A b e r n u r i n l e t z t e r e m S i n n e ,<br />

i m S i n n e d e r a k t u e l l e n , a k t i v e n<br />

K a m p f e s b e t ä t i g u n g !<br />

ihm. — So rinnt <strong>und</strong> fließt das Blut, so rot, so<br />

prangend, im weißen, weichen Schnee. Der nimmt<br />

es auf — als ob er mit ihm fühlte, um was es litt,<br />

um was es hier herkam! Der Schnee erbarmt sich,<br />

der kalte Schnee — wie kalt mußt' da wohl jenes<br />

Herze sein! — er nimmt es auf, das Blut, <strong>und</strong> sachte<br />

läßt ers gleiten <strong>und</strong> sinken in der Erde Schoß hinab.<br />

Und sie, die Erde, kalt fast wie der Schnee, sie<br />

nimmt es auf. Sie nimmt ja alles, was da oben nicht<br />

Zutritt, nicht Gewähr gef<strong>und</strong>en. — So kommt das<br />

Menschenblut zum Erdenleib, das Kind zum Mutterschoß,<br />

zum Busen warm <strong>und</strong> voller Lieb, zurück.<br />

So tropft es nun, hier klingend, singend nieder,<br />

im Garten dieses Schlosses in der tiefen Erde. Hier<br />

st<strong>und</strong>en nun die Edelknaben <strong>und</strong> Mägdlein <strong>und</strong><br />

schauten, was sich oben im Menschenlande zugetragen.<br />

Und die Mägdlein blickten gar traurig, denn<br />

ihre Herzen waren voller Weh. Die Knaben aber<br />

umdrängten die Königin mit glühenden Wangen <strong>und</strong><br />

blitzenden Augen <strong>und</strong> riefen:<br />

„Frau Königin, unsern Harnisch, die Schilde, unser<br />

Schwert!<br />

Gebt's uns, damit wir ziehen hinauf zum Land" der<br />

Erd'!<br />

Zu rächen diese Bluttat, zu sühnen diese Schmach,<br />

An diesem Greuelkönig, noch heute, diesen Tag!"<br />

Die Königin aber st<strong>und</strong> still <strong>und</strong> ruhig. Sie<br />

streckte ihre Hand aus über die roten Blumen, da<br />

wurden sie zu starken, mächtigen Gesellen. Sie<br />

trugen rote Kleider, darüber einen Harnisch aus<br />

Eisen. In ihren Händen trugen sie ein Schild <strong>und</strong><br />

mächtiges Schwert, das war scharf <strong>und</strong> spitz wie<br />

der Stachel der Blumen. Sie waren gar stattlich zu<br />

schauen <strong>und</strong> machten wohl des Feindes Herz erzittern<br />

in Furcht <strong>und</strong> Grauen. Und die Königin<br />

sprach:<br />

„Dies sind die roten Tropfen, die Tränen sind<br />

genannt!<br />

Dies sind die roten Sühner fürs Erdenmenschen-<br />

Land!<br />

So rinnet denn, Ihr Tröpflein, so trüb, so schwer,<br />

so rot!<br />

So singet denn Euer Liedlein, von schmerzend'<br />

W<strong>und</strong>' <strong>und</strong> T o d !<br />

Bis diese Schaar der Sühner zum Heer geschwollen<br />

sei.<br />

Dann lauschet! Wehe, wehe! Der roten Tränen<br />

Schrei!"


Vor mehreren Wochen begab sich<br />

eine sozialdemokratische Deputation der<br />

französischen Bäckergewerkschaft zum sozialdemokratischen<br />

Arbeitsminister Frankreichs,<br />

V i v i a n i , legte ihm verschiedene<br />

Mißstände in ihren Details vor <strong>und</strong> verlangte<br />

um Abhilfe, anderseits um* gesetzliche<br />

Verfolgung der Unternehmer, die ja<br />

ganz offenk<strong>und</strong>ig das Gesetz verletzten,<br />

sich über dessen Wortlaut hinwegsetzten.<br />

Herr Viviani ist ein »Ehrenmann«, er zuckte<br />

mit den Achseln <strong>und</strong> antwortete kühl:<br />

» W e n n S i e n i c h t d u r c h I h r e G e -<br />

w e r k s c h a f t e n d i e s e Ü b e l s t ä n d e<br />

b e h e b e n k ö n n e n , ich k a n n e s n i c h t ,<br />

d e n n d a s G e s e t z g e s t a t t e t s t e t s<br />

v i e l f a c h e A u s l e g u n g e n « .<br />

Als sozialdemokratischer Abgeordnetenkandidat<br />

hat Viviani wohl nicht so frank<br />

<strong>und</strong> frei gesprochen; damals v e r s p r a c h<br />

er vieles <strong>und</strong> alles, heute, wo er es halten<br />

soll, als Minister streift er sein Gehalt ein<br />

— seine ehemaligen Versprechungen sind<br />

unausführbar geworden . . .<br />

Und sie sind in der Tat unausführbar<br />

vom Standpunkte des Beobachters <strong>und</strong><br />

Kenners des Staates aus geurteilt. Man vergesse<br />

niemals: Der Staat ist die Regierungsmaschinerie<br />

der Besitzenden, <strong>und</strong> diese<br />

geben den Lohnsklaven nicht etwa d a z u<br />

das Recht zu stimmen, zu wählen, um sich<br />

diese Regierungsmaschine von ihnen nehmen<br />

zu lassen — was auf parlamentarischem<br />

<strong>Weg</strong>e unmöglich, wie alle wissen — sondern<br />

um die Wortführer des Proletariats<br />

durch die Anteilnahme am bürgerlichen<br />

Parlamentarismus in den Lebenskreis der<br />

bürgerlichen Welt hineinzuziehen, sie dem<br />

Proletariat <strong>und</strong> seinen Klassenkämpfen zu<br />

entziehen, kurz, den Sozialismus dadurch<br />

zu vernichten, wie es ihnen wesentlich, soweit<br />

die Sozialdemokratie maßgeblich, auch<br />

schon gelang.<br />

Als kommunistische Anarchisten fordern<br />

wir das Proletariat auf zur Begehung <strong>und</strong><br />

Vorbereitung des 1. Mai in dem Sinne,<br />

daß er der erste Tag einer durch den<br />

Generalstreik einzuleitenden allgemeinen<br />

ökonomischen Aktion sei. Der 1. Mai darf<br />

nicht sein ein entwürdigendes Petitionieren<br />

<strong>und</strong> Bitten um den Achtst<strong>und</strong>entag — wie<br />

lange, wie lange bittet <strong>und</strong> bettelt schon<br />

die deutsche Sozialdemokratie vergebens<br />

auf diesem <strong>Weg</strong>e? — sondern das geschlossene<br />

Vorgehen der österreichischen<br />

organisierten Gewerkschaftsbewegung in<br />

den Kampf für den Achtst<strong>und</strong>entag. Das<br />

Proletariat hat am 1. Mai die Arbeit niederzulegen,<br />

am 2. <strong>und</strong> folgenden Mai aber<br />

n i c h t zur Arbeit zurückzukehren, solange<br />

die aufgestellte Forderung des Achtst<strong>und</strong>entages<br />

oder eine andere nicht zugestanden<br />

wurde. H<strong>und</strong>erte von Unternehmer in<br />

Frankreich haben in ihren Fabriken bloß<br />

auf die Drohung hin, den Kampf in obigem<br />

Sinne zu führen, gleich von vornherein die<br />

Forderung des Achtst<strong>und</strong>entages zugestanden.<br />

Uns ist der 1. Mai ein Tag der direkten<br />

Aktion. Um sie durchzuführen, dazu bedarf<br />

es keiner Politiker, sie sind dem Proletariat<br />

nur schädlich in seinem Kampfesringen,<br />

denn sie erringen durch die Arbeiterklasse<br />

d i e j e n i g e höhere Lebenslage, die sie dem<br />

Proletariat n i c h t zu verschaffen vermögen.<br />

Aber als kommunistische Anarchisten<br />

wissen wir auch, daß der Achtst<strong>und</strong>entag,<br />

wie eine ganze Anzahl ähnlicher Palliativmittel,<br />

die Frage des sozialen Elends, das<br />

Problem des Reichtums auf Kosten der<br />

Armut, die Herrschaft des Menschen über<br />

den Menschen nicht zu lösen vermag. Aus<br />

diesem Gr<strong>und</strong>e ist uns der 1. Mai ein noch<br />

höheres Zweckmittel. Er ist uns die Geburt<br />

des » f e s t e n W i l l e n s d e r Arb<br />

e i t e r k l a s s e « , » d u r c h d i e s o z i a l e<br />

U m g e s t a l t u n g d i e K l a s s e n u n t e r -<br />

s c h i e d e « u n d j e d e H e r r s c h a f t z u<br />

beseitigen. Der 1. Mai lehrt den Proletarier,<br />

die Kraft, die erhabene, gewaltige<br />

Größe seiner Solidarität <strong>und</strong> vereinten<br />

Aktion endlich zu würdigen. Er erweckt in<br />

ihm den Tatenmenschen, jenes geistige<br />

Etwas der Persönlichkeit, das in den<br />

Worten: » S e l b s t i s t d e r M a n n ! « gelegen,<br />

das aber durch den 1. Mai die unabsehbar<br />

riesenhaftere Bedeutung, den<br />

tieferen Wortsinn gewinnt: Im g e m e i n -<br />

s a m e n , s e l b s t ä n d i g e n K a m p f e s i n d<br />

w i r A l l e M ä n n e r !<br />

Uns kommunistischen Anarchisten gebührt<br />

das Verdienst, die Entwicklung der<br />

1. Maiidee so beeinflußt zu haben, daß sie<br />

die Möglichkeit in sich trägt, alle in ihr<br />

ruhenden Zukunftselemente frei entfalten<br />

<strong>und</strong> betätigen zu können. Was Unentwickeltes<br />

an ihr ist, das ward ihr durch die<br />

Verführung des Proletariats auf parlamentarische<br />

Abwege; was sie aber sein wird,<br />

das soll das Proletariat aus ihr machen,<br />

das im Zeichen der direkten Aktion ihr<br />

lebendigste Wirkung bieten <strong>und</strong> den<br />

Kampfesgedanken des 1. Mai zu einem<br />

Lichtgedanken des kommunistischen Anarchismus<br />

wird werden lassen !<br />

Der 1. Mai als Tag des<br />

Generalstreiks.<br />

„Die F r a g e d e r A r b e i t s r u h e<br />

am 1. M a i f ä l l t - d a s s a g t e ich<br />

s c h o n — u n t e r d e n o b w a l t e n d e n<br />

V e r h ä l t n i s s e n m i t d e r F r a g e d e s<br />

G e n e r a l s t r e i k s t a t s ä c h l i c h z u -<br />

s a m m e n . . . Der Generalstreik für<br />

ein Land oder gar der Weltstreik aber<br />

ist ein U n s i n n . . . Der Gedanke des<br />

allgemeinen Streiks muß als unsinnig<br />

verworfen w e r d e n . . . Mögen diejenigen,<br />

die die Arbeitsruhe durchführen können,<br />

es tun — für s i c h ; aber keine Aufmunterung<br />

zu tollen Versuchen darf<br />

erfolgen, für welche die Partei, um<br />

nicht geschädigt zu werden, die Verantwortung<br />

ablehnen müßte . .<br />

(Wilhelm Liebknecht auf dem Parteitage<br />

in Köln, 1893).<br />

Fünfzehn Jahre sind über die obigen<br />

Worte Liebknechts, des Mannes, der in<br />

seinem ganzen Denken weit mehr bürgerlicher<br />

Demokrat, als proletarischer Sozialist<br />

gewesen, dahin gegangen. Wer vermöchte<br />

sie heute zu lesen ohne zu lächeln? Wo<br />

hat die Erfahrung der letzten fünf bis sechs<br />

Jahre, die uns eine Fülle von Aktionen<br />

brachte, die in ihrer ganzen Machtimposanz<br />

Generalstreiks waren <strong>und</strong> die F<strong>und</strong>amente<br />

der kapitalistischen Wirtschaftsordnung erschütterten,<br />

diese obigen, behaglich-satten<br />

Spießerworte eines Liebknechts gelassen?<br />

Als tote <strong>und</strong> längst überw<strong>und</strong>ene Ladenhüter<br />

historischer Schanddokumente des<br />

reaktionären Geistes der Sozialdemokratie<br />

existieren sie noch; auch noch in den Reden<br />

der Politiker, die um ihre parlamentarischen<br />

Würden bangen; aber als lebensspendende<br />

Weisheit der Praxis <strong>und</strong> Theorie der internationalen<br />

Arbeiterbewegung sind sie längst<br />

abgetan <strong>und</strong> beigelegt. Selbst die Gegner<br />

haben sich zum verschämten demagogischen<br />

Zugeständnis mit dem »Massenstreik« herbeigelassen,<br />

den sie allerdings n u r d a n n<br />

angewendet sehen wollen, wenn i h r e Existenz,<br />

ihre Parlamentswürden in Gefahr<br />

sind, oder es gilt, solche zu erwerben.<br />

Heutzutage ist der Generalstreik, diese<br />

kräftigste Aktionsidee der alten »Internationale«,<br />

zu einer praktischen Methode der<br />

internationalen Arbeiterbewegung geworden,<br />

die, soweit sie sich bessere Lebensverhältnisse<br />

ernstlich erringen will, sich nur auf<br />

den Generalstreik für ökonomische Zwecke<br />

stützen kann.<br />

So borniert lächerlich heute die Worte<br />

Liebknechts für jedes im sozialen Kampf<br />

geschärfte Proletariergehör klingen, in einem<br />

aber hat er recht <strong>und</strong> stimmen wir ihm<br />

aus vollstem Herzen bei: D i e F r a g e d e s<br />

1. M a i fällt t a t s ä c h l i c h m i t d e r<br />

F r a g e d e s ö k o n o m i s c h e n G e n e r a l -<br />

s t r e i k s z u s a m m e n . Wir finden dies so<br />

selbstverständlich, daß wir auch die haßerfüllte<br />

Gegnerschaft Liebknechts wider die<br />

Arbeitsruhe am 1. Mai — <strong>und</strong> die Wörtlein<br />

»für sich« gemahnen in ihrem weiteren<br />

Zusammenhang direkt an die Aufforderung<br />

zum Streikbruch! — gleichfalls als eine<br />

konsequente Verfolgung des ersthin eingenommenen<br />

Standpunktes betrachten.<br />

Wer den Generalstreik n i c h t will,<br />

kann die vorbereitende Einübung für ihn,<br />

sozusagen das Manöver zum Generalstreik,<br />

das Präludium zum ganzen, großen Massenchor<br />

a u c h n i c h t wollen. Er begegnet<br />

sich hier mit unseren konservativen großkapitalistischen<br />

oder kleinbürgerlich-christlichsozialen<br />

Reaktionskreisen — auch sie<br />

wollen weder den Generalstreik noch den<br />

1. Mai als Kampfestag des Proletariats. Die<br />

Gegner des Generalstreiks sind sich alle<br />

gleich: haßerfüllter Widerwillen jeder selbständigen<br />

Massenregung des Proletariats<br />

gegenüber.<br />

Vor uns liegt ein erst kürzlich erschienenes<br />

Werk über » G e s c h i c h t l i c h e s<br />

z u r M a i f e i e r i n D e u t s c h l a n d ; n a c h<br />

T a t s a c h e n m a t e r i a l z u s a m m e n g e s t e l l t<br />

v o m V o r s t a n d d e s D e u t s c h e n M e -<br />

t a l l a r b e i t e r v e r b a n d e s . « Es ist ein<br />

Buch, das ein trübes Licht auf die gesamte<br />

deutsche Arbeiterbewegung wirft <strong>und</strong> uns<br />

Österreichern, deren eigene Sozialdemokratie<br />

ja nichts anderes ist als eine geistige<br />

wie taktische Ablagerung der deutschen<br />

Partei, wohl im Stande sein sollte, ein<br />

warnendes Halt! zuzurufen auf der unheilvollen<br />

parlamentarischen Irrlichterbahn, auf<br />

der sich die österreichische Arbeiterbewegung<br />

»bewegt« oder eigentlich stagniert. Denn<br />

so unglaublich es klingen mag, das Buch<br />

ist ein vom Geiste wildesten Ingrimmes<br />

gegen die Maifeier durchdrungenes Werk,<br />

obwohl es sozialdemokratische Gewerkschaftsgrößen<br />

als Verfasser, resp. Kompilatoren<br />

hat. Dieses Gefühl der Gegnerschaft<br />

ringt sich überall durch <strong>und</strong> äußert sich<br />

im niedersten Verzerren des andersgesinnten<br />

prinzipiellen Standpunktes, verschont die<br />

eigenen Parteigenossen nicht, wie auch<br />

unser Viktor Adler <strong>und</strong> Schumeier — die<br />

damals die »Radikalen« spielten — nicht<br />

übersehen werden <strong>und</strong> mit einigen hämischen<br />

Bemerkungen gerügt werden für ihre<br />

vor über ein<strong>und</strong>einhalb Jahrzehnt wesentlich<br />

korrekte Haltung in Sachen der Maifeier.<br />

Der Metallarbeiterverband Deutschlands<br />

gehört zu den größten Gewerkschaftsverbänden<br />

der Welt <strong>und</strong> eine Manifestation dieser<br />

Art von seiner Seite ist äußerst bemerkenswert.<br />

Die Gegnerschaft d i e s e r wie auch anderer<br />

deutscher Gewerkschaften ist schon seit<br />

Jahren besonders grimmig <strong>und</strong> immer stärker<br />

anwachsend. Daß die Partei mit diesen<br />

Umständen zu rechnen hat, geht dadurch<br />

hervor, daß sie alljährlich die Feier des<br />

1. Mai auf die eine oder andere Art hinterrücks<br />

<strong>und</strong> heimtückisch abzutun versucht,<br />

zum großen Teil darin erfolgreich ist.<br />

Als Gr<strong>und</strong> für die Bekämpfung der<br />

Arbeitsruhe am 1. Mai geben die Herausgeber<br />

des obgenannten Werkes an, daß<br />

diese zu zahlreichen Aussperrungen von<br />

Seite der Unternehmer wider die Arbeiter<br />

führe, die finanziellen Verhältnisse der Gewerkschaften<br />

schwer schädige <strong>und</strong> viele<br />

Gemaßregelte hinterlasse, die noch Wochen<br />

<strong>und</strong> Monate darnach brotlos sind.<br />

So ist es um die deutsche Arbeiterbewegung<br />

bestellt! Und aus allen diesen<br />

Gründen gelangt sie zu dem beruhigenden<br />

Ergebnisse, man brauche den 1. Mai nicht,<br />

denn dieser koste zu viele Opfer, wobei<br />

die Herren vornehmlich an die Kassenverhältnisse<br />

denken, da es doch nicht ihre


Sache ist, sich sonst um Arbeiter zu bekümmern,<br />

die mutig <strong>und</strong> selbstbewußt den<br />

Kampf wider den Kapitalismus aufnehmen.<br />

Es ist eine interessante Erscheinung,<br />

daß die sozialdemokratischen Parteien aller<br />

Länder stets* den 1. Mai votieren — aber<br />

immer n u r als Demonstrationstag für rein<br />

bürgerliche parlamentarische Zwecke <strong>und</strong><br />

Methoden. Daß eine s o l c h e A r t d e s<br />

V o r g e h e n s die Arbeiter wirklich der<br />

Gnade oder Ungnade des Kapitalismus<br />

ausliefert, kümmert sie wenig <strong>und</strong> sie trachten<br />

gar nicht darnach, Mittel <strong>und</strong> Methoden<br />

anzuwenden, die, bei gleichzeitiger, konsequenter<br />

Durchführung der Maifeier, doch<br />

immerhin die Macht des Proletariats über<br />

die kapitalistische Klasse e r h ö h e n <strong>und</strong><br />

s t e i g e r n , nicht aber schwächen könnten.<br />

Am 1. Mai soll <strong>und</strong> darf nicht verschwiegen<br />

werden, daß die Art <strong>und</strong> Weise,<br />

wie er gegenwärtig begangen wird, für<br />

das Proletariat dort, wo er wirklich durchgeführt<br />

wird, wohl ein leuchtendes Beispiel<br />

edelster Solidarität bietet, aber in seinen<br />

ökonomischen Errungenschaften gleich Null<br />

ist. Und warum dies?<br />

Weil die Politiker die Bewegung für<br />

sich, für i h r e Zwecke ausnützen, sie als<br />

Hebel für ihre parlamentarischen Schachereien<br />

verwerten, trotzdem sie auch da nichts<br />

für die Arbeiterklasse erzielen können. Ein<br />

Zusammenkommen, in dem an den Staat<br />

die Forderung auf Gewährung des Achtst<strong>und</strong>entages<br />

<strong>und</strong> sonstige Wünsche in<br />

bezug auf Arbeitergesetzgebung u. dgl.,<br />

gerichtet werden, ist total wertlos. Dieses<br />

Bitten ist für den Klassenkampf des Proletariats<br />

entwürdigend, <strong>und</strong> ein Fordern an<br />

unrechter Stelle ist stets nur Toren Vergnügen.<br />

Freilich — dies sei zugestanden: Für<br />

solches eitles selbstgefälliges Sichhinstellen<br />

der Politiker, die sich dann als die einzigen<br />

Rettungsengel für das Volk anpreisen, verlohnt<br />

es sich nicht, auch nur eine Minute<br />

Arbeitslohn <strong>und</strong> Verdienst zu verlieren, geschweige<br />

denn einen Tag. Und wenn nach<br />

der Maifeier Aussperrungen <strong>und</strong> sonstige<br />

terroristische Akte |der kapitalistischen<br />

Klasse wider das Proletariat folgen, so<br />

hat es sich wahrlich nicht verlohnt,<br />

all dieses durchzumachen — nur um<br />

am 1. Mai an den Staat die untertänigste<br />

Forderung für den Achtst<strong>und</strong>entag richten<br />

zu können . . . Für zwecklosen Unsinn<br />

seine Lebensenergie vergeuden, ist selbst<br />

ein Unding <strong>und</strong> Unsinn. Und da die deutschen<br />

Gewerkschaften es bereits längst<br />

gefühlt haben, daß die parlamentarische<br />

Sozialdemokratie auch nicht einmal das<br />

Geringste für sie durchzusetzen oder gegen<br />

sie abzuwehren vermag, haben sie natürlich<br />

keine Lust, sich als Beute für politische<br />

Ehrgeizeleien benützen zu lassen. Für einen<br />

Augenblick ganz abgesehen von ihrer sonstigen<br />

zünftlerisch-kleinlichen Art <strong>und</strong> Auffassung.<br />

Was ist die Ursache dieses Verfalls<br />

der Maifeier?<br />

Die Antwort ist sehr einfach: D i e<br />

Maifeier ist e n t w e d e r d e r P r o k l a -<br />

m a t i o n s b e g i n n e i n e s a l l j ä h r l i c h e n<br />

G e n e r a l s t r e i k e s für b e s t i m m t e ö k o -<br />

n o m i s c h e F o r d e r u n g e n , o d e r s i e<br />

ist s e l b s t r e d e n d n i c h t s a l s ein<br />

A d e r l a ß für d i e A r b e i t e r k l a s s e .<br />

In ersterem Falle ist sie der Kampf um<br />

bessere Lebensbedingungen, Hebung des<br />

Existenzniveaus der ganzen Klasse, Vermehrung<br />

ihrer Macht — was alles noch<br />

begünstigt wird durch die vielen H<strong>und</strong>erttausende<br />

im Kampfe feiernden <strong>und</strong> stehenden<br />

Generalstreiker des 1. Mai. Ein s o l c h e r .<br />

1. Mai hört nicht auf mit dem Abend des<br />

Tages, sondern er ist die weihevolle Rüstung<strong>und</strong><br />

die freudevolle Instimmungbringung<br />

zum großen Kampf, der mit einem Siege<br />

enden muß <strong>und</strong> damit der Maiidee einen<br />

p o s i t i v e n ö k o n o m i s c h e n I n h a l t<br />

bietet, der für den Arbeiter mehr Brot <strong>und</strong><br />

mehr Lebenszeit bedeutet<br />

In jedem anderen Falle ist die Maifeier<br />

nichts als eine nur sehr bedingte wertvolle<br />

Demonstration, die nur in dem Maße wirkungsvoll<br />

zu sein vermag, als sie die herrschende<br />

kapitalistische Produktionsweise<br />

schädigt.<br />

Wir stehen aus diesem Gr<strong>und</strong>e nicht<br />

an, die Behauptung Liebknechts, daß die<br />

Frage der Arbeitsruhe am 1. Mai eine Frage<br />

des Generalstreiks ist, ausdrücklich für<br />

r i c h t i g zu erklären. Uns Anarchisten ist<br />

der 1. Mai stets nur ein Solidaritätsflammen<br />

zur Vorbereitung des Generalstreikes <strong>und</strong><br />

wir müssen darauf hinarbeiten, daß er es<br />

wirklich werde, daß der 1. Mai der Eröffnungstag<br />

eines Generalstreikkampfes für die<br />

Verbesserung unserer ökonomischen Verhältnisse<br />

sei!<br />

Der Gedanke des 1. Mai ist entstanden<br />

aus den großen Generalstreikkämpfen der<br />

amerikanischen Arbeiter in den 80 Jahren<br />

des verflossenen Jahrh<strong>und</strong>erts. Heute wissen<br />

wir, die russische Revolution, wie auch<br />

Frankreich, Spanien, Italien, Holland, die<br />

romanische Schweiz, um nur europäische<br />

Länder zu nennen, haben es uns wiederholt<br />

bewiesen, welche ökonomischen Vorteile<br />

das Proletariat durch den Generalstreik zu<br />

erzielen vermag; heute erscheinen die<br />

Worte Liebknechts von dem »Unsinn« des<br />

Generalstreiks albern <strong>und</strong> durch die Tatsachen<br />

widerlegt. Was 1889 der französische<br />

Allemanist T r e s s a u d befürwortete, als er<br />

die Idee des 1. Mai mit dem Generalstreik<br />

vereinigte, das muß heute, auf ungleich<br />

klarerer Erkenntnis- <strong>und</strong> Erfahrungsstufe,<br />

als es damals geschehen konnte, wieder<br />

ausgesprochen werden:<br />

D i e A r b e i t s r u h e a m 1 . Mai s o l l<br />

s e i n d i e V e r k ü n d i g u n g d e s G e -<br />

n e r a l s t r e i k s !<br />

D e r G e n e r a l s t r e i k i s t d i e S e e l e<br />

d e s 1. M a i g e d a n k e n s !<br />

D e r 1 . Mai a l s A n f a n g d e s G e -<br />

n e r a l s t r e i k s m u ß s c h o n i n n a h e r<br />

Z u k u n f t a u c h f ü r u n s m i n d e s t e n s<br />

d i e E r k ä m p f u n g d e s A c h t s t u n d e n -<br />

t a g e s b e d e u t e n !<br />

Der 1. Mai als Tag des Antimilitarismus.<br />

Kampfesruf <strong>und</strong> Friedensliebe in einem<br />

ist der 1. Mai, ist der Solidaritätstag des<br />

Proletariats. Als Kämpfer tritt der Lohnsklave<br />

der modernen Welt entgegen, als<br />

einer, der einsehen muß, daß es für ihn<br />

keine Erlösung aus ewiger irdischer Qual<br />

geben kann, ohne daß die heutige Gesellschaft<br />

ersetzt wird durch eine Brudergemeinschaft<br />

von Freien <strong>und</strong> Gleichen.<br />

Die ganze bürgerliche Gesellschaft ist<br />

e i n Waffenarsenal. Ihre technischen, ihre<br />

industriellen Betätigungen sind nur möglich<br />

durch die Auspowerung der in gefügigen<br />

Gehorsam gepreßten menschlichen Arbeitskraft.<br />

Aber über ihr, über den ganzen<br />

Schwindel unseres kapitalistischen wie<br />

bürgerlichen Lebens lauert ein Gespenst,<br />

das dieser bestehenden Gesellschaft mehr<br />

denn ein Alpdrücken verursacht: D a s Erw<br />

a c h e n d e r S k l a v e n , die Möglichkeit,<br />

daß dieses Erwachen <strong>und</strong> Recken des<br />

Riesen Arbeit bald kommt!<br />

Dagegen will sie geschützt sein, <strong>und</strong><br />

um sich zu schützen, ist es notwendig, daß<br />

die große Masse mit Blindheit geschlagen<br />

werde.<br />

Was ist der Militarismus anderes als<br />

eine in ein geniales System der Selbstzerstörung<br />

<strong>und</strong> gegenseitiger Zerfleischung<br />

gebrachte Massenblindheit? Die Massen<br />

sehen <strong>und</strong> fühlen nicht das Grauenhafte<br />

ihrer Sklavenexistenz <strong>und</strong> wie Sklaven ihr<br />

Leben stets gering schätzen, so auch die<br />

Masse der Lohnarbeiter, die gerade deshalb<br />

die individuelle Unterwerfung <strong>und</strong><br />

Untertänigkeit gegenüber dem soldatischen<br />

Wort des Vorgesetzten höher stellt, denn<br />

die Wahrheit des tiefen Satzes, der da<br />

spricht: A c h t e i m L e b e n d e s A n d e r e n<br />

d e i n e i g e n L e b e n !<br />

Die heutige Gesellschaft hat zweierlei<br />

Menschenkategorien geschaffen: die Bewaffneten<br />

<strong>und</strong> die Unbewaffneten. In allen<br />

Regionen des Daseinskampfes stoßen wir<br />

auf sie, auf die beiden. Der Unterdrückte ist<br />

stets der Unbewaffnete, selbst dann, wenn<br />

er eine Waffe in Händen hält, der Herrscher<br />

ist stets der Bewaffnete. Nicht durch<br />

die Waffe, die er trägt, sondern durch die<br />

Blindheit des Unbewaffneten, der es nicht<br />

sieht, daß er ihn erst bewaffnet durch seine<br />

eigene Blindheit <strong>und</strong> Unwissenheit<br />

Die einen sind dazu da, um Reichtümer<br />

<strong>und</strong> immer mehr Güter zu erzeugen,<br />

die anderen, um sie sich bewachen, sich<br />

zuführen zu lassen. Und dabei haben diese<br />

Genußsüchtlinge eine betörende komplizierte<br />

Theorie erf<strong>und</strong>en, die sie Nationalismus<br />

oder Patriotismus oder Vaterlandsliebe<br />

u. dgl. m. nannten, so daß sich die Erzeuger<br />

aller gesellschaftlichen Nutzgüter<br />

darob glücklich fühlen, ihre eigenen Produkte<br />

für die anderen bewachen zu dürfen.<br />

Manchmal wird dieser schöne Akkord<br />

durch eine häßliche Dissonanz aufgehoben,<br />

gestört. Da fangen die Menschen an, die<br />

W o r t e genauer zu studieren <strong>und</strong> finden,<br />

daß hinter all den schönen Worten, wie<br />

Nationalismus, Patriotismus usw. nichts ist,<br />

als der grause Eigennutz jener, die sie<br />

lehrten <strong>und</strong> predigen. Das sind dann die<br />

Erkenntnisfrüchte, deren Genuß uns geistig<br />

reif <strong>und</strong> fähig machen wird, uns aus dem<br />

Wortdickicht des Unverstandes <strong>und</strong> der<br />

herrschenden Gewalt zu befreien, bis alle<br />

die obigen Worte vergessen <strong>und</strong> begraben<br />

sind . . .<br />

Denn wehe, wenn über diese Worte<br />

selbst ein Kampf entbrennt! Schon als<br />

Schuljungen lernten wir das »Du s o l l s t<br />

n i c h t t ö t e n!« Der Staat nahm uns später<br />

in die Lehre <strong>und</strong> sprach, unser Wissen erweiternd,<br />

also zu uns: »Du darfst nicht<br />

töten; doch auf meinen Befehl darfst du<br />

es tun, denn ich werde dich nicht dafür<br />

strafen!« Und dann kam ein gestrenger<br />

Herr, der uns mit blutiger Ironie die folgende<br />

Lehre erteilte: »Töte so viel du<br />

kannst, je mehr, desto besser, ein desto<br />

größerer Held bist du!« Dieser Herr war<br />

der Bruder des Staates — d e r K r i e g .<br />

Und die Blinden waren blind <strong>und</strong> betört.<br />

Sie h a ß t e n den Mord, begingen ihn<br />

aber; sie f ü h l t e n , daß der Mord ein<br />

Übel, verübten ihn aber; <strong>und</strong> wenn sie<br />

gar zum Großmord griffen, dann erteilten<br />

sie sich selbst Absolution durch die Worte<br />

eines titanenhaften Massenschlächters, der<br />

einmal gesprochen hatte: »So i s t d e r<br />

K r i e g ! «<br />

Soll es immer also bleiben? Sollen<br />

wir selbst den Militarismus bauen, errichten<br />

<strong>und</strong> aufrechterhalten? Wird niemals der<br />

Geist des Friedens sich in tatsächliches,<br />

praktisches Lebenswirken <strong>und</strong> befruchtendes<br />

Gedeihen, in eine neue, gewaltlose,<br />

herrschaftslose Ordnung umsetzen?<br />

Nicht, so lange wir selbst unsere<br />

Ketten schmieden; nicht, solange wir selbst<br />

an den Militarismus g l a u b e n ; nicht, so<br />

lange wir noch den Hirngespinsten des<br />

Nationalismus, Patriotismus nachhängen;<br />

nicht, so lange es einen Militarismus gibt.<br />

Der 1. Mai verkörpert den großartigsten<br />

Glutgedanken der Bahnbrecher der<br />

Menschheit: N u r i n d e m i h r s e l b s t


a n d e r s w e r d e t , w e r d e n a u c h d i e<br />

E i n r i c h t u n g e n s i c h ä n d e r n ! Solange<br />

sich die Menschheit nicht selbst vom Kriege<br />

abwendet, solange nicht H<strong>und</strong>erttausende<br />

sich verständnisvoll lächelnd betrachten, während<br />

man die Frage stellt: Wer will kämpfen,<br />

wer will in den Krieg? <strong>und</strong> gar nicht in<br />

Eile sind, sie zu beantworten, wird das<br />

grausige Massenmorden, Krieg genannt,<br />

weiterwüten <strong>und</strong> verheeren.<br />

Denn so will es der Staat, j e d e r<br />

Staat, auch der sozialdemokratische Milizstaat!<br />

Doch auf dem ganzen Erdenr<strong>und</strong> ist<br />

ein helles Jauchzen vernehmbar! Es ist die<br />

Solidarität alles Menschlichen, die ihren<br />

R<strong>und</strong>lauf nimmt <strong>und</strong> Nationen, Rassen,<br />

Völker zu einander führt <strong>und</strong> sie im gegenseitigen<br />

Verständnis sich brüderlich in die<br />

Arme sinken läßt. Sie alle werfen ihre<br />

Waffen weg <strong>und</strong> kehren den Kriegsorganisationen<br />

den Rücken — es entsteht die<br />

freie Vereinigung alles menschlich Gemeinschaftlichen,<br />

es entsteht der große internationale<br />

Bruderb<strong>und</strong> der Völkergruppen,<br />

die jeden politischen Nationalismus überw<strong>und</strong>en,<br />

weil sie alle Herrschaft des Menschen<br />

über den Menschen abgestreift haben!<br />

Dafür, als das erste Morgenglühen<br />

eines aufsteigenden, neuen, besseren <strong>und</strong><br />

schöneren Tages, steht der 1. Mai ein;<br />

das ist er.<br />

Solidarität bedeutet Brüderlichkeit; die<br />

Brüderlichkeit ist die Vernichtung aller<br />

Gewaltsmacht; die bestehende Gewaltsmacht<br />

ist der Militarismus, <strong>und</strong> der 1. Mai<br />

ist deshalb die K<strong>und</strong>gebung des Willens<br />

aller geistig Freien, psychisch tief Empfindenden,<br />

ihre Gemeinschaft der Brüderlichkeit<br />

<strong>und</strong> Interessensolidarität jener der Gewaltsherrschaft<br />

entgegenzustellen. Je größer<br />

jene wird, desto unhaltbarer diese. Die Zukunft<br />

wird den 1. Mai zum Maienmond<br />

der Völkerbefreiung gestalten, durch Überwindung<br />

der Eiskruste jeder militärischen<br />

Gewaltsdisziplin, jeder Beherrschung, Bedrückung<br />

<strong>und</strong> Unfreiheit.<br />

Männer <strong>und</strong> Frauen aller Länder! Der<br />

1. Mai verkündet die Lehre der Solidarität<br />

<strong>und</strong> widerhallt bloß von einer Losung:<br />

D i e W a f f e n n i e d e r , v e r n i c h t e n , mit<br />

d e m P f l u g u n d W e r k z e u g d e s f r e i e n<br />

M e n s c h e n v e r t a u s c h e n !<br />

W e l t f r i e d e , d u b i s t k e i n e Illus<br />

i o n , d e i n e M u t t e r h e i ß t — W e l t e n -<br />

m a i !<br />

Die Maifeier in Österreich.<br />

Zum 19. Male begeht die Arbeiterschaft<br />

Österreichs die Maifeier. Wer die<br />

erste Maifeier im Jahre 1890 miterlebt <strong>und</strong><br />

mitbegangen hat <strong>und</strong> sie mit den folgenden<br />

vergleicht, der wird den enormen<br />

Unterschied zwischen ehedem <strong>und</strong> heute<br />

fühlen, vorausgesetzt, daß er überhaupt<br />

denkgewohnt ist.<br />

Welch enorme Kraftäußerung lag in<br />

dieser ersten Maifeier!, « Die Arbeiterschaft<br />

war durch die brutalsten Polizeimaßregeln<br />

niedergehalten, ein Teil stand unter dem<br />

berüchtigten Ausnahmszustand; aber auch<br />

dort, wo er nicht verhängt ward, wurde er<br />

praktiziert. Da kam die Botschaft des 1. Mai.<br />

Die Arbeitsruhe derjenigen, die das ganze<br />

Jahr für Andere schaffen, die alle Schätze<br />

erzeugen <strong>und</strong> trotzdem darben. Gleich<br />

einem Orkan stand die Arbeiterschaft auf<br />

<strong>und</strong> warf jeden Widerstand vor sich nieder.<br />

Die Feier war eine würdige, weil<br />

keine erlaubte, sondern eine durch den<br />

Willen der Arbeiter hervorgerufene. Lachend<br />

hörten die Proletarier die Warnungen <strong>und</strong><br />

Verbote der Unternehmer, lachend lasen<br />

sie die Verkündigungen der Ordnungsstützen<br />

<strong>und</strong> gingen darüber hinweg.<br />

Diese Maifeier war nicht das Werk<br />

der sozialdemokratischen Partei, die ja da-<br />

mals verschwindend klein war, sie war der<br />

instinktive Ausdruck des Willens der<br />

Massen, die an ihren Ketten rüttelten; e s<br />

w a r e i n e l e m e n t a r e r M a s s e n s t r e i k .<br />

Die Frage des Achtst<strong>und</strong>entages wurde<br />

besprochen, <strong>und</strong> in den Massen flammte<br />

höher das Maclitgefühl, angesichts der geschlossenen<br />

Fabriken, der verlassenen<br />

Werkstätten.<br />

Das war ein herrlicher Tag; wie ganz<br />

anders die folgenden Jahre bis heute! An<br />

Stelle des kühnen Wagemutes trat das<br />

Wiegen <strong>und</strong> Abwiegeln der sozialdemokratischen<br />

Führer. Wo die Unternehmer<br />

den Tag nicht auf Ersuchen freigaben,<br />

wurde eben fast ausnahmslos gearbeitet,<br />

um Konflikte <strong>und</strong> Maßregelungen zu vermeiden<br />

<strong>und</strong> mancher Arbeiter mußte, wenn<br />

er diesem »klugen Abwägen« nicht Folge<br />

leistete, zur Maßregelung noch die Vorwürfe<br />

der Führer hören. Schließlich setzten die<br />

meisten Unternehmer dem höflichen Ersuchen<br />

keinen Widerstand entgegen, die<br />

Zahl der Feiernden wurde nicht geringer,<br />

aber der revolutionäre Charakter der Maifeier<br />

war dahin.<br />

Was war die Maifeier der sozialdemokratischen<br />

Partei seit 1891, <strong>und</strong> was ist<br />

sie heute?<br />

Versammlungen zu Gunsten des Wahlrechtes<br />

bildeten ihren Inhalt <strong>und</strong> der Gegenstand<br />

selbst wurde Schacher zwischen<br />

zünftlerischen Meistern <strong>und</strong> zünfllerischen<br />

Gehilfenvertretern. Es ist wahr, wir sind<br />

seit den letzten zwanzig Jahren dem Achtst<strong>und</strong>entag<br />

näher gekommen, aber nicht<br />

durch die sozialdemokratische Maifeier.<br />

Was wir errungen haben ist reichlich wieder<br />

durch intensivere Arbeit wettgemacht.<br />

Daß der Achtst<strong>und</strong>entag noch nicht allgemeine<br />

Geltung hat, ist der Bindung der<br />

Arbeiter durch Lohnverträge <strong>und</strong> dem<br />

steten Hinweis auf die parlamentarische<br />

»Aktion« zu verdanken. Der Eigenwille der<br />

Arbeiterschaft ist geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> damit jede<br />

Betätigung im Sinne einer revolutionären<br />

Entwicklung.<br />

Darum die inhaltlose Maifeier der Sozialdemokraten<br />

Österreichs.<br />

Ihr prunkt mit Kampforganisationen;<br />

mit Zehntausenden von Mitgliedern? Wo<br />

sind diese am 1. Mai? Wo sind die Eisenbahner,<br />

Tabakarbeiter, Salinenarbeiter, Arsenalarbeiter,<br />

Handelsangestellte usw. Dürfen<br />

diese es nicht wagen, auch nur e i n e n<br />

Tag frei zu sein? Ist ihre Organisation<br />

nicht stark genug, sich diesen zu erzwingen?<br />

So lange dieses der Fall ist, so lange kann<br />

von einer Maifeier auch nur im Sinne des<br />

Pariser Kongresses nicht gesprochen werden.<br />

Man hat die Massen die ganze Reihe<br />

von Jahren mit bürgerlichen Wahlrechtsfragen<br />

traktiert — bei der heurigen Maifeier<br />

kommt das Frauenwahlrecht daran!<br />

— statt sie mit sozialistisch-schöpferischem<br />

Geist zu erfüllen. Deshalb die B e d e u -<br />

t u n g s l o s i g k e i t der sozialdemokratischen<br />

Maifeier! Wären die verflossenen Maifeiern<br />

von dem Geiste der ersten erfüllt gewesen,<br />

wir wären heute weiter. Wir könnten den<br />

Tag als einen Tag des G e n e r a l s t r e i k s<br />

bezeichnen <strong>und</strong> die Unternehmer samt<br />

ihrer Exekutive, der Regierung, wären nicht<br />

die höhnisch lächelnden Zuschauer, wie sie<br />

es heute tatsächlich sind. —<br />

Wir aber wollen den Tag feiern als<br />

Kampftag; wir wollen ihn feiern in dem<br />

Sinne, daß Alles, was die Arbeiterschaft<br />

erringen muß, nur im schärfsten Kampfe<br />

gewonnen werden kann. Für uns ist er<br />

kein Tag des Forderns von den Machthabern,<br />

sondern ein Tag, an dem wir sagen:<br />

W i r t r a c h t e n , s t a r k g e n u g z u w e r -<br />

d e n , u m u n s d a s z u n e h m e n , w a s<br />

m a n u n s m i t G e w a l t v o r e n t h ä l t :<br />

D e n W o h l s t a n d f ü r A l l e .<br />

E. H.<br />

Was ist Anarchismus?<br />

Der Anarchismus erstrebt ein Zusammenleben<br />

der Menschen ohne Herrschaft.<br />

Sein <strong>Ziel</strong> ist eine Gesellschaft, die<br />

jedem ihrer Mitglieder vollkommene Befriedigung<br />

aller seiner Bedürfnisse nach<br />

Wohlstand <strong>und</strong> Freiheit möglich macht,<br />

welche also durch den freiwilligen Entschluß<br />

der sie bildenden Menschen besteht.<br />

Der Anarchismus will alles beseitigen,<br />

durch was Menschen gezwungen werden<br />

können, nach dem Willen anderer zu leben<br />

<strong>und</strong> als Werkzeuge zur Befriedigung fremder<br />

Bedürfnisse zu dienen: Allen Glauben<br />

an irgendwelche göttliche oder menschliche<br />

höhere Gewalten, alle Furcht, Verehrung<br />

<strong>und</strong> Gehorsam vor denselben, alle<br />

religiöse <strong>und</strong> politische Autorität <strong>und</strong> deren<br />

Verehrung; alle wirtschaftliche <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Ungleichheit, alle Vorrechte <strong>und</strong><br />

Regierungsformen, alle geschriebenen Gesetze,<br />

Vorschriften <strong>und</strong> Befehle. Er trachtet<br />

danach, den Menschen die große Wahrheit<br />

zum Bewußtsein zu bringen, daß ihr<br />

Leben nicht von einer äußeren Gewalt<br />

oder einem Zufall abhängt, sondern eins<br />

ist mit dem Naturganzen, <strong>und</strong> aus eigener<br />

innerer Naturnotwendigkeit auf dem <strong>Weg</strong>e<br />

des gesellschaftlichen Zusammenwirkens<br />

emporwächst <strong>und</strong> besteht. Der Wohlstand,<br />

die Freiheit <strong>und</strong> das Glück eines j e d e n<br />

hängt ab von dem Wohlstand, der Freiheit<br />

<strong>und</strong> dem Glück A l l e r , die mit ihm<br />

zusammen unter den gleichen Bedingungen<br />

mit ihm leben — <strong>und</strong> so, im weitesten<br />

Sinne genommen, vom Leben der ganzen<br />

Menschheit. Der Mensch kann nur durch<br />

einträchtiges Zusammenwirken, gemeinschaftliche<br />

Arbeit <strong>und</strong> gegenseitige Hilfe;<br />

mit einem Wort: durch die S o l i d a r i t ä t<br />

mit seinen Gefährten, bestehen; <strong>und</strong> ein<br />

Jeder der durch Bekämpfung, Schädigung<br />

<strong>und</strong> Unterdrückung derselben für sich<br />

allein Vorteile zu verschaffen versucht, gefährdet<br />

dadurch das Bestehen der Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> so sein eigenes Wohl.<br />

Dieses Bestreben nach Solidarität <strong>und</strong><br />

Herrschaftslosigkeit bedeutet eine vollständige<br />

Umwälzung aller bestehenden gesellschaftlichen<br />

Einrichtungen.<br />

Der Anarchismus will an Stelle des<br />

Privateigentums den gemeinsamen Besitz<br />

<strong>und</strong> gemeinsamen Genuß alles gesellschaftlichen<br />

Reichtums; an Stelle des Kapitalismus<br />

<strong>und</strong> der Lohnarbeit will er freie Arbeitsgruppen,<br />

welche nach eigener Initiative<br />

<strong>und</strong> nach eigenen Bedürfnissen alles zum<br />

Leben Notwendige hervorbringen, <strong>und</strong> in<br />

freier Vereinbarung <strong>und</strong> Vereinigung miteinander<br />

die Produktion <strong>und</strong> die Verteilung<br />

<strong>und</strong> den Austausch der Produkte regeln;<br />

an Stelle des Staates <strong>und</strong> seiner Regierung,<br />

Administration <strong>und</strong> Gerichtsbarkeit strebt<br />

er die freiwillige Vereinigung der Menschen<br />

in autonom föderierte Gemeindeverbände an,<br />

deren Mitglieder ohne Obrigkeit, ohne Gesetze,<br />

ohne Beamten <strong>und</strong> Gerichtshöfe alle<br />

ihre eigenen Angelegenheiten nach ihrem<br />

gemeinsamen Willen <strong>und</strong> Interessen selbst<br />

erledigen, <strong>und</strong> welche sich zur Durchführung<br />

gemeinsamer Angelegenheiten nach<br />

den Bedürfnissen der betreffenden Aufgabe<br />

in Freiheit verständigen <strong>und</strong> verbünden;<br />

an Stelle der jetzigen staatlich beherrschten<br />

<strong>und</strong> dementsprechend begrenzten Länder<br />

<strong>und</strong> politischen Nationen ein brüderliches<br />

Bündnis zwischen den unabhängigen Gemeinden<br />

<strong>und</strong> Föderationen über die ganze<br />

Erde; an Stelle der Religionen <strong>und</strong> feststehender<br />

Moralvorschriften <strong>und</strong> -Gebräuche<br />

das selbständige Denken <strong>und</strong> das Suchen<br />

nach Wahrheitserkenntnis, das Handeln<br />

nach eigenem besten Einsehen <strong>und</strong> Willen<br />

<strong>und</strong> den Anforderungen des Augenblicks,<br />

wie das Erziehen des eigenen Selbst <strong>und</strong><br />

der Kinder zu dieser individuellen <strong>und</strong> so-


zialen Freiheit; an Stelle von Prostitution<br />

<strong>und</strong> Zwangsehe <strong>und</strong> der auf die Autorität des<br />

Oberhauptes gegründeten Familie den freien<br />

geschlechtlichen Verkehr zwischen Männern<br />

<strong>und</strong> Frauen, die sich nur aus gegenseitiger<br />

Liebe <strong>und</strong> Leidenschaft einander hingeben;<br />

<strong>und</strong> eine Lebensgemeinschaft von Mann<br />

<strong>und</strong> Weib, Eltern <strong>und</strong> Kindern, die durch<br />

Bedürfnis <strong>und</strong> Liebe zusammengehalten<br />

werden <strong>und</strong> frei ihren eigenen Lebensweg<br />

gehen können, sobald diese aufhören.<br />

Kurzum: An Stelle von jeglichem Herrschen,<br />

von Zwang <strong>und</strong> Gewalt will der Anarchismus<br />

in allem die Solidarität, die freie<br />

Vereinbarung <strong>und</strong> das freie Zusammenwirken<br />

der Menschen setzen.<br />

Diese vollständige Änderung des gesamten<br />

Lebens der Menschheit erscheint<br />

dem Anarchismus nur durch die vollständige<br />

Änderung der Weltanschauung<br />

<strong>und</strong> der daraus folgenden Handlungsweise<br />

der Menschen selbst möglich. Der Zustand<br />

einer Gesellschaft ist der Ausdruck <strong>und</strong> das<br />

Ergebnis des geistigen Niveaus der Menschen,<br />

die sie bilden, <strong>und</strong> kann nicht von<br />

außen her, durch Taten <strong>und</strong> Verfügungen<br />

Einzelner oder einer kleinen Minderheit,<br />

ohne das selbstbewußte Mittun der großen<br />

Masse des Volkes, geändert werden. Der<br />

Anarchismus ist eben nichts anderes, als<br />

das aus der eigenen Vernunft entspringende<br />

selbständige Handeln aller Gesellschaftsmitglieder,<br />

<strong>und</strong> die aus dem Zusammenwirken<br />

dieser Handlungen naturgemäß<br />

entstandene soziale Ordnung <strong>und</strong> Harmonie.<br />

Nur wenn ein ausschlaggebender Teil<br />

der Menschen — in einer bestimmten Gesellschaft<br />

— durch vorurteilsfreies Denken<br />

zur klaren Erkenntnis der anarchistischen<br />

Idee gelangt <strong>und</strong> fähig ist, aus eigener<br />

Kraft, ohne sich auf Andere zu verlassen<br />

<strong>und</strong> Anderen zu folgen, das zu tun, was<br />

ein Jeder für sich selber im gegebenen<br />

Falle für richtig <strong>und</strong> zweckmäßig hält —<br />

erst dann kann sich die anarchistische Gesellschaft<br />

— das einzige Zukunftsheil der<br />

Menschheit — verwirklichen.<br />

Der Anarchismus erkennt aber, daß<br />

diese neue Gesellschaft nicht glatt <strong>und</strong> allmählich<br />

aus der alten Gesellschaft hervorwachsen<br />

kann. Er ist in Allem ein Gegensatz<br />

<strong>und</strong> nicht eine Fortsetzung derselben.<br />

Diejenigen, die herrschen, streben notwendigerweise<br />

immer danach, ihre Macht<br />

zu erhalten <strong>und</strong> trachten mit allen Mitteln,<br />

es zu verhüten, daß die Beherrschten vernünftig<br />

<strong>und</strong> selbständig denken <strong>und</strong> handeln<br />

sollen; denn dadurch wird die Existenz<br />

der Machthaber, welche einzig auf dem<br />

Gehorsam <strong>und</strong> den Arbeitsdiensten der<br />

Beherrschten ruht, unmöglich gemacht.<br />

Deshalb ist es ebenso unvermeidlich, daß<br />

das Streben der Beherrschten nach Befreiung,<br />

welches gewaltsam zurückgehalten<br />

werden konnte, so lange der überwiegende<br />

Teil derselben noch in Unwissenheit <strong>und</strong><br />

Respekt vor der Autorität befangen war,<br />

sich bis zur sozialen Revolution steigert,<br />

sobald eine genügend zahlreiche <strong>und</strong> starke<br />

Masse der Unterdrückten die Ursache ihres<br />

Elendes <strong>und</strong> die Mittel zur Beseitigung desselben<br />

erkennt. Die soziale Revolution ist<br />

die gesellschaftliche Neugestaltung der gemeinsamen<br />

Lebensformen <strong>und</strong>-Institutionen.<br />

Die Herrschaftsformen der alten Gesellschaft<br />

werden aufgehoben, <strong>und</strong> die anarchistische<br />

Organisation-tritt an deren Stelle.<br />

Die Befreiten werden sich in freien Arbeitsgruppen<br />

<strong>und</strong> Kommunen vereinigen <strong>und</strong><br />

die Befreiung all ihrer Bedürfnisse <strong>und</strong> die<br />

Erledigung ihrer eigenen Angelegenheiten<br />

selbst in die Hand nehmen, ohne sich um<br />

die ihnen aufgezwungenen Beschränkungen<br />

durch Vorrechte, Gesetze <strong>und</strong> staatliche<br />

Institutionen zu kümmern.<br />

Die s o z i a l e R e v o l u t i o n ist der<br />

<strong>Weg</strong> zur Verwirklichung des Anarchismus;<br />

<strong>und</strong> diese soziale Revolution muß vornehmlich<br />

von Jenen durchgeführt weiden,<br />

die am meisten unter den Folgen des gegenwärtigen<br />

Gesellschaftssystems leiden:<br />

von den p r o l e t a r i s c h e n A r b e i t e r n .<br />

Die anarchistische Bewegung stellt sich zur<br />

Aufgabe, durch Aufklärung, Beispiel <strong>und</strong><br />

fortwährende Übung im selbständigen<br />

Handeln (bei Streiks, Massenbewegungen,<br />

freien Vereinigungen auf allen Gebieten des<br />

Lebens etc.) immer größere Massen der<br />

Arbeiterschaft für dieselbe vorzubereiten.<br />

Diese paar Zeilen werden vielleicht<br />

genügen, um ein allgemeines Bild von der<br />

Idee des Anarchismus zu geben, <strong>und</strong><br />

wenigstens soviel klarzulegen, daß derselbe<br />

etwas anderes ist als ein Geheimb<strong>und</strong> von<br />

Königsmördern <strong>und</strong> Bombenwerfern — für<br />

was ihn noch viele heute halten.<br />

Wir Anarchisten bilden uns aber nicht<br />

ein, daß diese Ausführungen auch nur<br />

einen einzigen zur Macht gelangten Gegner<br />

des Anarchismus überzeugt haben, oder<br />

die Verfolgung desselben durch seine<br />

mannigfachen Feinde im geringsten mildern<br />

zu können. Diejenigen, welche ihre bestehende<br />

Herrschaft <strong>und</strong> bevorzugte Lebensstellung<br />

aus Interesse oder auch aus Überzeugung<br />

aufrechterhalten wollen, sowie<br />

diejenigen, welche danach trachten, mit<br />

Hilfe des Volkes ein neues, für sie vorteilhaftes<br />

Herrschaftssystem zu begründen,<br />

haben den Anarchismus mit Recht zu<br />

fürchten. Die Machthaber des gegenwärtigen<br />

Staates — Kapitalisten, Parlament, Regierung,<br />

Polizei — <strong>und</strong> die Streber nach Macht in<br />

einem Zukunftsstaat — die Politiker <strong>und</strong><br />

Volksführer, insbesondere die sozialdemokratischen<br />

— werden den Anarchismus<br />

immer <strong>und</strong> überall aufs Schärfste verfolgen,<br />

<strong>und</strong> die Verbreitung <strong>und</strong> Betätigung<br />

der anarchistischen Idee mit allen ihnen zu<br />

Gebote stehenden Mitteln zu verhindern<br />

trachten.<br />

Denjenigen aber, die sich nicht nach<br />

Macht <strong>und</strong> Vorrechten, sondern nach Freiheit<br />

<strong>und</strong> brüderlichem Zusammenleben der<br />

Menschen sehnen, die sich aber von den<br />

ererbten <strong>und</strong> anerzogenen Ideen über<br />

Religion, die Notwendigkeit der Herrschaft<br />

<strong>und</strong> den Respekt <strong>und</strong> Gehorsam vor der<br />

Autorität noch nicht haben befreien können,<br />

wird es eine Hilfe sein, ein klares Bild von<br />

den Ideen des Anarchismus zu gewinnen,<br />

welchen man ihnen bisher totgeschwiegen,<br />

oder als lächerlichen Wahn oder blutiges<br />

Schreckgespenst dargestellt hat. Vielleicht<br />

wird dies dazu beitragen, daß die österreichischen<br />

Arbeiter den <strong>Weg</strong> finden aus<br />

dem Elend <strong>und</strong> der Unvernunft der heutigen<br />

Zustände zu einer schöneren, besseren,<br />

glücklicheren Zukunft.<br />

Empfehlenswerte Bücher <strong>und</strong> Broschüren :<br />

Der letzte Krieg, von Teräffus, eleg. geb. . K<br />

Wohlstand für Alle, von Peter Krapotkin „<br />

Wiliam Godwin, der Theoretiker des kommunistischen<br />

Anarchismus, v. Pierre Ramus „<br />

Die historische Entwicklung der Friedensidee<br />

<strong>und</strong> des Antimilitarismus, von Pierre<br />

Ramus ,<br />

Das anarchistische Manifest, v. P. Ramus „<br />

Kritische Beiträge zur Charakteristik von<br />

Karl Marx, von Pierre Ramus<br />

Wie klärt man Kinder auf? „<br />

Das Dogma von der Vaterlandsliebe . . . . „ •<br />

Liebesfreiheit <strong>und</strong> Eheprostitution, v. Fernau „<br />

Revolutionäre Regierungen, von P. Krapotkin „<br />

Gretchen <strong>und</strong> Helene, Zeitgemäße Betrachtung<br />

des Anarchismus u. d. Sozialdemokratie „<br />

Die Sintflut, von Theodor Brunnecker . . „<br />

Die Auferstehung, v. Theoder Brunnecker „<br />

Eine Reise nach dem Jenseits, von Theodor<br />

Brunnecker „<br />

Die freie Generation, Monatsschrift der Weltanschauung<br />

des Anarchismus . . . . „<br />

Die Pariser Kommune, von P. Krapotkin . „<br />

5 —<br />

1-80<br />

2 -<br />

•30<br />

•06<br />

12<br />

12<br />

•12<br />

12<br />

•0(3<br />

•20<br />

•12<br />

•12<br />

•12<br />

•2f)<br />

12<br />

GENOSSEN! allen Lokalen,<br />

in denen Ihr verkehrt, den „W. f. A."<br />

In unserem Parlament,<br />

Das Reden nimmt kein End'. . .<br />

Nach G e o r g H e r w e g h , mit Variationen.<br />

1908.<br />

Zu Wien am Donaustrand —<br />

Am Franzensring seins beianand,<br />

Proletariervertreter<br />

Und alle Volkserretter;<br />

Die streiten hin <strong>und</strong> herr,<br />

Wie's Volk zu retten war' —<br />

Im Paria—Paria—Parlament,<br />

Das Reden nimmt kein End'!<br />

Versm.iss : Reim dich, oder ich friss dich !<br />

Zu Wien am Donaustrand<br />

Am Franzensring — soso — benannt,<br />

Da ist kein Parlament — aha —<br />

Der Privilegien mehr — nana —<br />

Nui'mehr ein Volksparlament — a ja<br />

D'rum geht's dem Volk so gut — oha —<br />

Im Paria—Paria—Parlament,<br />

Das Reden nimmt kein End'!<br />

Zu Wien am Donaustrand<br />

Kommen d' Minister g'rannt,<br />

Die werd'n scharf interpelliert,<br />

Dann untertänigst petitioniert,<br />

Daß das Volk hat nichts zu kochen —<br />

D'rauf wird ihnen was versprochen<br />

Im Paria—Paria—Parlament,<br />

Das Reden nimmt kein End'!<br />

Zu Wien am Donaustrand<br />

Sind's außer Rand <strong>und</strong> Band,<br />

Die einen woll'n per T a g der Gulden zehn,<br />

Auch wenn's in die Ferien gehn<br />

Und die Proletariergcnossen — naja —<br />

Die nehmens net? — A ja — die nehmens a 1<br />

Im Paria—Paria—Parlament,<br />

Das Reden nimmt kein End!<br />

Zu Wien am Donaustrand<br />

Das Volkshaus ist ja wohlbekannt,<br />

Da wird der Volksstaat gezimmert,<br />

Wobei das Volk vor Hunger wimmert;<br />

Aber die Volksstaatbaumeister<br />

Werd'n mit zehn Guld'n Taglohn immer feister.<br />

Im Paria—Paria—Parlament,<br />

Das Reden nimmt kein End'!<br />

Zu Wien am Donaustrand<br />

Hols der Teufel mitanandl<br />

Es steht die Welt in Flammen,<br />

Die tratschen noch zusammen;<br />

Wie lange soll das dauern?<br />

Auf was wollt ihr noch lauern?<br />

Dein Paria—Paria—Parlament,<br />

O Volk, mach ihm ein End'! M.<br />

Proletariat, e r w a c h e !<br />

Eingeschlafen ist das Proletariat <strong>und</strong> träumt<br />

entzückt von unschuldigen Abenteuern. Neben ihm<br />

befindet sich das Opium, das die pfiffige Bourgeoisie<br />

als herrschende Klasse dem Volke eingibt, um es<br />

vom Realen <strong>und</strong> vom mißlichen Zustand seines<br />

Lebens abzulenken. So hat es seine positive Lage<br />

vergessen, sich vom wahrhaften Standpunkte des<br />

Exploitierten entfernt <strong>und</strong> sich vor dem Altar beruhigender<br />

Glaubensformeln <strong>und</strong> unschuldiger „Ideale,,<br />

niedergelassen, wo es sich zwischen Versprechungen<br />

<strong>und</strong> Visionen dem Schlafe der Gerechten hingibt<br />

. . .<br />

Armes Proletariat! Während du, betäubt<br />

durch das Opium, von deinem menschlichen Wesen<br />

getrennt lebst, saugt dir die Bourgeoisie mit ihrem<br />

Natterinstinkt das Blut aus deinen Adern <strong>und</strong><br />

träufelt Anemie <strong>und</strong> Ohnmacht in deinen Körper ein.<br />

Wie leicht ist es so, das Volk zu beherrschen!<br />

Doch zum Glücke sind noch Keimlinge jener<br />

Legion bewußter Arbeiter übrig geblieben, deren<br />

Entsagung <strong>und</strong> Beharrlichkeit erhabene Seiten in<br />

der Geschichte des Proletariats ausfüllen <strong>und</strong> deren<br />

Genius jenes herrliche Sternbild — die Solidarität<br />

— entsprang, die der Arbeiterwelt den wahren <strong>Weg</strong><br />

zur Besserung <strong>und</strong> zur sozialen Emanzipation<br />

leuchtet. Und das sind diejenigen, welche, von<br />

Tür zu Tür gehend, ihren Genossen mit der mutigen<br />

<strong>und</strong> hohen Idee der Arbeitersolidarität zurufen:<br />

P r o l e t a r i a t e r w a c h e I !<br />

Übersetzt aus dem Spanischen.<br />

Aufruf!<br />

A n a l l e d i e j e n i g e n , d i e s i c h f ü r d i e<br />

a n a r c h i s t i s c h e B e w e g u n g i n R u ß l a n d<br />

i n t e r e s s i e r e n , ergeht hiermit das Ersuchen,<br />

kleinere <strong>und</strong> größere Geldgaben zu einem bereits<br />

bestehenden Publikationsfonds beizusteuern, aus<br />

dem die Herausgabe des deutschen Manuskriptes<br />

„ G e s c h i c h t e d e r a n a r c h i s t i s c h e n B e -<br />

w e g u n g R u ß l a n d s w ä h r e n d d e r j a h r e<br />

1904—1907" bestritten werden soll. Beiträge sind<br />

zu richten an W. K u b e s c h, Wien, IV., Schönburgstraße<br />

5, 111/27.


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Österreich.<br />

W i e n . Nur Raummangel verursachte es, wenn<br />

wir in letzter Nummer den gewohnten Bericht über<br />

die Tätigkeit unserer Genossen ausfallen lassen<br />

mußten. Es genüge, wenn wir konstatieren, daß<br />

seit Anfang April bis zur letzten Woche über zwölf<br />

Versammlungen stattfanden, in denen die Ideen des<br />

Anarchismus vertreten wurden. Besonders interessant<br />

waren überdies noch die Versammlungen unserer<br />

sozialdemokratischen Gegner, in denen die<br />

Genossen kritisierend das Wort ergriffen. Die geaichten<br />

Partei- oder Gewerkschaftsreferenten wurden<br />

grün <strong>und</strong> blau vor Ärger, daß man es wagte,<br />

ihnen zu widersprechen I Oft sprengten sie lieber<br />

die Versammlung, als einem Anarchisten das Wort<br />

zu erteilen. Bemerken möchten wir, daß solches<br />

Vorgehen des Agitationsleiters des Tonarbeiterverbandes,<br />

Alex. Da Rin, uns einen prächtigen Sieg<br />

verschaffte. <strong>Unser</strong> neugewonnener Kamerad Weijda<br />

berief daraufhin eine § 2-Versammlung ein, die<br />

massenhaft besucht war <strong>und</strong> in der die Ausführungen<br />

des Gen. Ramus auf fruchtbarsten Boden fielen.<br />

Hervorheben möchten wir, daß uns in Weijda ein<br />

trefflicher Agitationsredner gewonnen ist. — Ähnlich<br />

erging es Herrn Exner in dem Metallarbeiterverband,<br />

wo er sich als Retter des ökonomischen<br />

Despotismus, lies: Zentralismus, aufspielte. Seine<br />

Entgegnungen auf den föderalistischen Standpunkt<br />

Ramus, waren alles eher als überzeugend. — Von<br />

besonderem Wert war die Versammlung des „Allg.<br />

Bildungs- <strong>und</strong> Diskussionsklubs", in der Dr.<br />

Weisengrün, der bekannte Marxkritiker, einen Vortrag<br />

über Marx hielt. Die sich entspinnende Diskussion<br />

war höchst anregend. Sehr gut besucht<br />

waren stets die Versammlungen, in denen von<br />

Ramus über den „Römischen Generalstreik <strong>und</strong><br />

die Sozialdemokratie", über „Direkte Aktion <strong>und</strong><br />

Parlamentarismus", über „Kritiker des Anarchismus",<br />

die „Histor. Entwicklung der Friedensidee" referiert<br />

wurde. Besonderes Interesse erregte die Versammlung<br />

der „Allg. Gewerkschafts-Föderation", in der<br />

der Gen. Haidt über „Die moderne Gewerkschaftsbewegung"<br />

sprach. Auch die Schuhmachergewerkschaft,<br />

die in den letzten Wochen an Rührigkeit<br />

erlahmte, begibt sich wieder an ihre Arbeit der<br />

Agitation <strong>und</strong> feierte den Ostersonntag durch eine<br />

Massenversammlung, in der Ramus über die „<strong>Ziel</strong>e<br />

der Gewerkschaftsbewegung" referierte. Alles dies<br />

ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus der geleisteten<br />

Arbeitsfülle, die besonders nachhaltig<br />

wirken muß, durch die gleichzeitige massenhafte<br />

Verbreitung unserer Aufklärungsschriften. Einen besonders<br />

schönen Verlauf nahm der literarische<br />

Kunstabend der Gruppe „Morgenröte", der trefflich<br />

besucht war <strong>und</strong> wo Ramus über „Leo Tolstoi<br />

als Mensch <strong>und</strong> Denker" sprach. Eine reiche Geldsammlung<br />

für unseren Preßfond lohnte die von<br />

Allen mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgten<br />

Ausführungen des Referenten.<br />

*<br />

Z u r B e a c h t u n g ! Zur Charakteristik der<br />

österreichischen Sozialdemokratie <strong>und</strong> ihrer Identität<br />

mit den Christlichsozialen in punkto Ethik<br />

nur zwei Fälle:<br />

1. Eine Bande gemeiner Strolche — <strong>und</strong> die<br />

Burschen nennen sich Sozialdemokraten! — überfiel,<br />

während er Flugzettel für die Versammlung<br />

des III. Bezirkes verteilte, unseren Genossen<br />

Brunner, entriß ihm über 500 Zettel <strong>und</strong> übergab<br />

ihn unter derben Rippenstößen der Polizei!<br />

2. Mitglieder des Transportarbeiterverbandes<br />

— unter ihnen befand sich der im XIV. Bezirke<br />

berüchtigte Wonka — verfolgten drei unserer Genossen<br />

bis zwei Uhr morgens auf der Straße <strong>und</strong><br />

denunzierten schließlich den einen von ihnen, daß<br />

er angeblich konfiszierte Broschüren verkaufe, bei<br />

einem Wachmann, der die vor der gewaltigen<br />

Übermacht sich Flüchtenden zum Stillstand brachte.<br />

Schon vorher hatten die Helden den besagten G e -<br />

nossen, einen kranken <strong>und</strong> schwächlichen Menschen,<br />

geschlagen, nachdem sie ihn um eine kleine Geldsumme<br />

übervorteilt hatten! Solche Menschen sind<br />

Schurken, die Partei weiß sehr wohl, wer sie sind,<br />

<strong>und</strong> wir fragen hiermit an, ob solches Naderertum<br />

von ihr gezüchtet wird?<br />

Wir aber werden wissen, was in Zukunft zu<br />

tun ; so sehr daß wir, wenn es notwendig sein<br />

wird, vor der Öffentlichkeit beweisen werden, w a s<br />

die Sozialdemokraten unter Toleranz <strong>und</strong> Heldenmut<br />

verstehen. Die ärgsten Kriecher in der Fabrik<br />

sind wahrscheinlich die Vertreter d i e s e r Kampfesart<br />

„mit geistigen Waffen!"<br />

*<br />

Konfisziert wurde die letzte Nummer des<br />

„W. f. A." an sechs Stellen, u. a. auch beide in<br />

derselben veröffentlichten Gedichte, von denen das<br />

eine nur Nachdruck w a r !<br />

*<br />

G e n o s s e n ! Keiner verfehle, am 1. Mai,<br />

um 9 Uhr vormittags, unserer Versammlung in<br />

Holubs Saal, XIV., Huglgasse 15 b e i z u w o h n e n ,<br />

wo die Genossen Vohryczek (Prag), Pletka,<br />

Haidt <strong>und</strong> Ramus über die wahre Bedeutung<br />

d e s 1. M a i g e d a n k e n s referieren w e r d e n .<br />

An die tschechischen G e n o s s e n ! Der Kamerad<br />

K. Vohryczek spricht am S o n n t a g den<br />

3. Mai, um 9 Uhr vormittags, in den Rosens<br />

ä i e n , X., Favoritenstraße 89, über „Die böhmischen<br />

Bruderschaften d e s Mittelalters <strong>und</strong><br />

der m o d e r n e Anarchismus". Erscheint in<br />

M a s s e n ! *<br />

Haben wir es nicht stets behauptet, daß die<br />

sozialdemokratischen Proletarier, die sich auf Kosten<br />

ihrer Klassengenossen zur zweifelhaften Würde des<br />

Parlamentariers emporschwangen, natürlicher Weise<br />

jedes Verständnis <strong>und</strong> Gefühl für das Empfinden<br />

ihrer ehemaligen Klasse verlieren müssen? Nur so<br />

ist es möglich, daß die Herren mit einer Unverblümtheit<br />

sondergleichen Anträge einbringen können,<br />

die speziell i h r Los verbessern sollen, jenes der<br />

von dem gleichen Los betroffenen Arbeiter aber<br />

gänzlich unberücksichtigt lassen. Stellt da unlängst<br />

der Sozialdemokrat Tomaschek an den Präsidenten<br />

die Anfrage, ob er es „mit der Ehre des Abgeordnetenhauses<br />

vereinbar findet, daß die Freizügigkeit<br />

der Abgeordneten von Polizei Gnaden abhängig<br />

ist <strong>und</strong> ob er die notwendigen Schritte beim Ministerium<br />

des Innern einleiten will, damit diese Ausweisungen<br />

endlich einmal auch rechtlich aufgehoben<br />

werden". Es handelt sich nämlich um die schmachvollen<br />

Ausweisungen der 80er Jahre, in denen das<br />

Polizeiregime glaubte, der Arbeiterbewegung durch<br />

administrative Verfügungen den Lebensgeist ausblasen<br />

zu können. H u n d e r t e von wackeren Revolutionären<br />

wurden damals von den Ausweisungsmaßregeln<br />

betroffen. Wer kennt nicht die Ausweisungen<br />

Taaffes, der in einer einzigen Nacht<br />

300 Arbeiter auswies! Glaubt man, daß Tomaschek<br />

ihrer a u c h n u r m i t e i n e m W o r t erwähnte,<br />

auch die Aufhebung der seinerzeit gegen sie — <strong>und</strong><br />

eine ganze Reihe von ihnen leben noch — erlassenen<br />

Ausweisungen befürwortete, überhaupt gegen das<br />

A u s w e i s u n g s s y s r e m Front machte? Keineswegs;<br />

der gute Mann begnügte sich damit, für die „Herren<br />

Abgeordneten" ein P r i v i l e g i u m zu fordern, an<br />

die H<strong>und</strong>erte <strong>und</strong> H<strong>und</strong>erte von Arbeitern, die in<br />

ungleich schlechteren Umständen demselben Los<br />

verfielen, dachte er überhaupt nicht, verschwendete<br />

kein Wort auf sie.<br />

Die sozialdemokratischen Führer müssen der<br />

Schafsgeduld ihrer Anhänger ziemlich sicher sein,<br />

um ihnen solch starken Tabak bieten zu können.<br />

Jedenfalls ist die Sache ein beredtes Beispiel für<br />

die maßlose Frechheit des Parvenü!<br />

Vereinigte Staaten.<br />

Einem Korrespondenzbrief eines unserer amerikanischen<br />

Kameraden an die Gruppe „W. f. A.",<br />

entnehmen wir die nachfolgenden Einzelheiten, die<br />

ein grelles Licht auf die Verfolgungen werfen, denen<br />

unsere amerikanischen Genossen ausgesetzt<br />

sind, auch in gebührender Weise die Handlungen<br />

der dortigen Sozialdemokraten/gegen unsere Bewegung<br />

geißeln.<br />

Werte Kameraden! Zweck dieses Schreibens<br />

soll es sein, euch, österreichische Genossen <strong>und</strong><br />

sonstige rechtdenkende Menschen über die nichtswürdige<br />

Taktik der politischen Gaukler in der<br />

schlechten Maskierung eines geflickten Staatssozialismus<br />

während der jüngsten Verfolgungen unserer<br />

hiesigen Bewegung durch den demokratischen<br />

Staat zu informieren.<br />

Was ich auch hier behaupte, die Belege für<br />

meine Abführung sozialdemokratischen Mists entnehme<br />

ich der „New-Yorker Volkszeitung", die angeblich<br />

„den Interessen des arbeitenden Volkes",<br />

tatsächlich aber den kleinlichsten Interessen der<br />

gewerkschaftlichen <strong>und</strong> sozialdemokratischen Krippenschacherern<br />

gewidmet ist.<br />

Was diese „Vettel", wie der Genosse Max Baginski<br />

sie in der „Freiheit" nennt, sich namentlich aber<br />

in der letzten Zeit herausnimmt, das übersteigtden gewöhnlichen<br />

Dunst ihrer wahnwitzigen Überhebung,<br />

mit welchem sie den Horizont ihrer Laster zu umnebeln<br />

trachtet. Aber wenn man bedenkt, daß Advokaten<br />

<strong>und</strong> Pastoren mit Ehrfurcht <strong>und</strong> Hosiannah<br />

in ihren Reihen begrüßt werden, dann kann man begreifen,<br />

weshalb die Entstellung von Tatsachen <strong>und</strong><br />

Begriffen, die Heuchelei vor den Krallen des amerikanischen<br />

Adlers, vor dem „Gesetz- <strong>und</strong> Ordnungsbüttel",<br />

der hiesigen Sozialdemokratie augenscheinlich<br />

heiligste Aufgabe geworden sind.<br />

Es ist immer das Vorrecht von Feiglingen <strong>und</strong><br />

Niederträchtigen gewesen, Rache an ihren Widersachern<br />

zu nehmen, wenn eine allgemeine Verfolgung<br />

dieselben überfiel. Hierin ist die hiesige Sozialdemokratie<br />

in den letzten Tagen der eben hingestellten<br />

Behauptung treu geblieben.<br />

Es ist durch die Tagespresse bekannt, mit<br />

welchen Mitteln die Polizei unsere <strong>Ziel</strong>e <strong>und</strong> unsere<br />

Arbeit verleumdet. Ich will euch nun mit den Entstellungen<br />

bekannt machen, welche die leuchtenden<br />

Irrgeister der „Sozialisten" über sich selbst — zum<br />

vermeintlichen Nutzen beim Stimmenfang — <strong>und</strong><br />

über uns — zum prinzipiellen Schaden der Aufklärung<br />

— verbreiten.<br />

Nachdem die erste Aufregung über den<br />

Bombenfall im Union Square am 28. März, dem<br />

eine Sprengung der Arbeitslosen-Demonstration<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />

durch berittene, nach Kosakenart hausende Polizisten<br />

vorausgegangen war, sich gelegt, hatte der<br />

Advokat <strong>und</strong> Sozialdemokrat Morris Hillquit nichts<br />

Eiligeres zu tun, als die Erklärung für die kapitalistische<br />

Presse abzugeben, daß die „Sozialisten<br />

nichts mit Anarchisten <strong>und</strong> s o n s t i g e n R u h e -<br />

s t ö r e r n zu tun" hätten. Die „sonstigen Ruhestörer"<br />

sind natürlich die Polizisten, deren Äquivalent<br />

also die Anarchisten sein sollen. Dieser so<br />

g e l e e r t e Kopf mochte nicht die Umstände begreifen,<br />

welche zu jenem Verzweiflungsakt getrieben<br />

hatten. Oder der t r ü g e r i s c h e R e c h t s a n w a l t<br />

mochte nicht der Wahrheit die Ehre geben, um<br />

seinem Berufe nicht untreu zu werden. Er hat denn<br />

auch in einer am 4. April im Grand Zentral Palace<br />

abgehaltenen Versammlung sich klar ausgedrückt,<br />

um den Gestank des obigen Ablegers zu ergänzen.<br />

Bezugnehmend auf die Katastrophe am Union<br />

Square sagte er folgendes u. a. „Jedenfalls ist es<br />

nicht unsere Sache, sondern eine Angelegenheit,<br />

die die uniformierten <strong>und</strong> nichtuniformierten Anarchisten<br />

unter einander austragen sollten, wir haben<br />

dafür keine Verantwortlichkeit zu tragen. („N.-Y.<br />

Volkszeitung", 5. April 1908.)"<br />

Um der Polizei zu beweisen, was für gute<br />

Kinder die Sozialisten seien, ergeht sich derselbe<br />

Redner in einer Lobpreisung der Verfassung <strong>und</strong><br />

der Gesetze, daß man nicht umhin kann, als ihn<br />

mit einem gezüchtigten Schulbuben zu vergleichen,<br />

der Abbitte leistet.<br />

„. . . Wir beten sie (d. h. die Gesetze) nicht<br />

als Idole an, aber wir erkennen sie an als v e r -<br />

n ü n f t i g e W e s e n . (?) Wir betrachten die Verfassung<br />

nicht als das letzte Wort politischer Weisheit<br />

<strong>und</strong> Gerechtigkeit, sondern sehen viele der<br />

bestehenden Gesetze sogar als ungerecht <strong>und</strong><br />

grausam an. Wir bemühen uns, die Verfassung zu<br />

amendieren <strong>und</strong> die Gesetze im Einklang mit dem<br />

wirtschaftlichen Fortschritte <strong>und</strong> den Nöten des<br />

Volkes zu ändern, aber wir glauben, daß solche<br />

Änderungen nur durch die r e c h t e n K a n ä l e<br />

herbeigeführt werden können, nur dadurch, daß<br />

wir das Volk von der Notwendigkeit der Änderungen<br />

überzeugen. Wir m e i n e n , daß die Verfassung<br />

<strong>und</strong> G e s e t z e j e d e s z i v i l i s i e r t e n L a n d e s<br />

f ü r a l l e B ü r g e r , v o m P r ä s i d e n t e n d e r<br />

V e r e i n i g t e n S t a a t e n bis zum einfachsten<br />

Arbeiter, ja selbst für den Polizei-Kommissär von<br />

New-York bindend sind, daß sie so lange eingehalten<br />

werden müssen, wie sie bestehen. Die Uniform<br />

des Polizisten nimmt ihn nicht davon aus, er<br />

muß ebenso wie alle anderen Bürger die Gesetze<br />

befolgen <strong>und</strong> je eher das die Polizei erkennt, desto<br />

besser wird es für sie sein".<br />

Ihm folgte Jos. Wanhope, der die Sozialisten<br />

der Polizei als die wahren Bekämpfer des Anarchismus<br />

anpries: „Wo der Sozialismus auftritt",<br />

sagte er, „da verschwindet der Anarchismus. Nur<br />

die Sozialisten können es wagen, die Anarchisten<br />

zu bekämpfen, denn sie haben das Mittel mit dem<br />

sie bekämpft werden können, bessere Verhältnisse,<br />

eine neue Weltordnung."<br />

Er hat sicherlich eine geregelte Vorahnung<br />

vom Polizeistaat, den er eine Weltordnung mit<br />

besseren Verhältnissen nennt! Natürlich schließt<br />

seine Rede mit einem Bombast von Prophezeihungen,<br />

der der heiligen Hermandad den letzten<br />

Athemzug benommen hat, daß sie sich dreimal bekreuzigte,<br />

zu Boden sank <strong>und</strong> den Sozialisten das<br />

Feld überließ.<br />

„<strong>Unser</strong>e Antwort auf die Verbrechen der P o -<br />

lizei vom letzten Samstag wird am nächsten Wahltage<br />

gegeben werden, <strong>und</strong> sie wird lauter <strong>und</strong><br />

wirkungsvoller sein, als der Lärm der Bombe am<br />

Union Square." (Großer Beifall.)<br />

Wem- wollen diese Gaukler da Sand in die<br />

Augen streuen? Wer achtet die Gesetze in den<br />

Vereinigten Staaten? Wer sonst, als der bewachte<br />

Sträfling? Wer w e i ß e s nicht, daß die Gesetze hier<br />

n u r noch im Interesse von Kliquen gemacht werden,<br />

die sie in den Legislaturen „bei Nacht <strong>und</strong><br />

Nebel" durchschmuggeln? Soll das dem Rechtsfamulus<br />

fremd sein, was jedem Laufburschen bekannt<br />

ist? Oder erfordert die Aufrechthaltung des<br />

Arbeitersekretariats, das Herrn Hillquit mit Butter<br />

<strong>und</strong> Honig versorgt, daß die Arbeiter über das<br />

Machen der Gesetze hinters Licht geführt werden?<br />

Aber es wird Euch gut tun zu wissen, wie<br />

die Sozialisten uns „bekämpfen". Da öffnet die<br />

„Volkszeitung" seit Jahr <strong>und</strong> Tag ihre Spalten den<br />

unflätigsten Verleumdungen <strong>und</strong> Entstellungen<br />

anarchistischer Bestrebungen. Ein Genosse sandte<br />

einen Ausschnitt aus der „Einigkeit", 1907, Nr. 45,<br />

in der ein Sozialdemokrat über die Schwächen <strong>und</strong><br />

Mängel, über die von Sozialdemokraten begangene<br />

Entstellung des Sozialismus sich aussprach. Die<br />

Redaktion der „N.-Y. Volkszeitung" weigerte sich,<br />

diese Kritik nebst beifolgender Erklärung zu bringen.<br />

So kleinlich, so niederträchtig ist die Art der Bekämpfung,<br />

welche der hiesigen Polizei von den<br />

Sozialisten angepriesen wird.<br />

» Ob die Sozialdemokraten das Amt der<br />

Polizeier, um das sie sich quasi bewerben, erhalten<br />

w e r d e n ?<br />

New-York, Mitte April 1908. Fred.


Wien, 17. Mai 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 10.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />

I./17. — Gelder sind zu senden an<br />

W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />

5, III./27.<br />

An die Genossen!<br />

,,In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse seihst erobert werden muss; dass<br />

der Kampf rar die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignem der Arbeitsmittel,<br />

d, h. der Lebensquellen. der Knechtschaft in allen ihren Formen zu ür<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist. . ."<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2.40;<br />

halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

bisher zu senden an den Genossen W. n e u e Herren zu schaffen, anstatt j e d e r<br />

K u b e s c h , W i e n , IV., S c h ö n b u r g - H e r r s c h a f t ein- für allemal ein Ende zu<br />

Im Laufe der nächsten Woche erhalten s t r a ß e 5, 111/27.<br />

machen. Deshalb ist der größte Teil der<br />

unsere Kolporteure wie Einzelabonnenten, E s l e b e d e r r e v o l u t i o n ä r e So- Menschheit heute noch elend, versklavt<br />

kurz, alle, von denen wir annehmen können, z i a l i s m u s , e s l e b e d e r F r e i h e i t s - <strong>und</strong> verkümmert.<br />

daß ihnen an der Weiterentwicklung un- g e d a n k e d e s A n a r c h i s m u s !<br />

Doch im Herzen des Volkes entserer<br />

Ideen <strong>und</strong> Verbreitung der Gedankenwelt<br />

des Anarchismus gelegen, eine oder<br />

Die Preßkommission.<br />

wickelt sich jetzt langsam, aber sicher die<br />

klare Erkenntnis <strong>und</strong> das zielbewußte<br />

mehrere Sammellisten.<br />

Dieselben haben den doppelten Zweck,<br />

unsere Presse zu unterstützen <strong>und</strong> weiter<br />

ausbauen zu helfen, einen Preßfonds, wie<br />

Ökonomische Gr<strong>und</strong>züge<br />

des kommunistischen Anar-<br />

Streben nach der neuen besseren Gesellschaft;<br />

nach unserem Ideal, d e m a n a r - ,<br />

c h i s t i s c h e n K o m m u n i s m u s .<br />

Was wollen wir also?<br />

auch zwecks Entfaltung der rührigsten<br />

Agitation, sowohl in Wien als auch in den<br />

chismus.<br />

Wir wollen eine Gesellschaft, in welcher<br />

es keine Armen <strong>und</strong> Reichen, keine<br />

anderen Kronländern, einen Agitations- Der Mensch will leben, der Mensch Herren <strong>und</strong> Knechte, keine herrschenden<br />

fonds zu begründen.<br />

will glücklich sein; das ist die Triebfeder <strong>und</strong> beherrschten Klassen gibt, sondern<br />

Genossen! Die Herausgabe unseres<br />

<strong>und</strong> eures »Wohlstandes für Alle« ist in<br />

ganz Österreich das Signal gewesen zur<br />

Belebung <strong>und</strong> Neuerweckung lange still<br />

gelegener Kräfte. Große <strong>und</strong> vielfache<br />

Opfer legen sich die Wiener Genossen<br />

auf, um das Blatt regelmäßig erscheinen zu<br />

lassen, es aufrecht zu erhalten. Was sie tun,<br />

ist aber nicht nur ihre, sondern es ist auch<br />

eure, e s ist u n s e r a l l e r S a c h e : D e r<br />

»W. f. A.« m u ß w e i t e r e r s c h e i n e n<br />

k ö n n e n , e r m u ß b a l d m ö g l i c h s t ein<br />

W o c h e n b l a t t w e r d e n !<br />

Nur von euch hängt es ab, wie bald<br />

dies geschehen soll. Kameraden von überall,<br />

sammelt Geld für einen Preßfonds,<br />

helft uns in unserer schweren Aufgabe,<br />

unserem idealen Streben.<br />

Und dies ist nicht genug. Wir bedürfen<br />

auch vor allem des mündlichen<br />

Wortes der Agitation, der Aufklärung durch<br />

Versammlungen, der rednerischen Einwirkung,<br />

die stets eine Bahnbrecherin für<br />

das geschriebene Wort ist. Dazu bedürfen<br />

wir des Geldes für einen Agitationsfonds.<br />

Eine ganze Reihe von kleineren <strong>und</strong><br />

größeren Ortsgruppen in den verschiedenen<br />

Kronländern hat sich an uns gewandt mit<br />

dem Ersuchen, ihnen für die eine oder andere<br />

Gelegenheit einen Redner zu senden.<br />

Wir mußten es abschlagen, wir verfügen<br />

nicht über die benötigten Reisekosten, der<br />

Kampf um die Existenz unserer Presse<br />

nimmt alle unsere Kräfte in Anspruch; andererseits<br />

haben die einzelnen Gruppen<br />

auch nicht die nötigen Finanzmittel.<br />

Hier tut gegenseitige Förderung <strong>und</strong><br />

Hilfe not. Laßt uns einen Agitationsfonds<br />

gründen — <strong>und</strong> allen Schwierigkeiten,<br />

die sich uns hemmend in den<br />

<strong>Weg</strong> stellen, wird abgeholfen sein.<br />

Kameraden <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e! <strong>Unser</strong>e Bewegung<br />

geht einer großen <strong>und</strong> schönen<br />

Zukunft entgegen. Wollt ihr hintan stehen<br />

in euren Bemühungen gegenüber den<br />

Wiener Gruppen? Wir glauben es nicht,<br />

die Vergangenheit der letzten Wochen <strong>und</strong><br />

Monate, euer einträchtiges, tapferes Arbeiten<br />

fürs gemeinsame Ideal beweist uns zur<br />

Genüge, daß ihr euch einig fühlt mit uns.<br />

Kameraden sammelt für den Preß<strong>und</strong><br />

Agitationsfonds! Gelder sind wie<br />

seines Daseins. Wie jedes lebende Wesen<br />

sucht er sich seiner Umgebung anzupassen,<br />

die Gefahren <strong>und</strong> Unannehmlichkeiten, die<br />

ihn bedrohen zu vermeiden, die günstigen<br />

Umstände auszunützen. Das kann er aber<br />

nur so, wenn er sich mit anderen Menschen<br />

vereinigt. Umgeben von übermächtigen<br />

Feinden, in fortwährendem Kampf mit einander,<br />

wäre die Menschheit längst unter-<br />

gegangen, oder, besser gesagt, sie hätte<br />

sich nie aus den niedriger stehenden Tier-<br />

arten entwickeln können. In Gruppen ver-<br />

einigt, in welchen ein jeder für alle, <strong>und</strong><br />

alle für jeden sorgten <strong>und</strong> arbeiteten, sind<br />

sie stärker geworden als alle Tiere <strong>und</strong><br />

haben sich die ganze Erde unterworfen.<br />

Durch diese S o l i d a r i t ä t besteht <strong>und</strong><br />

entwickelt sich die Menschheit. Jeder Fortschritt,<br />

jede Verbesserung <strong>und</strong> Verschönerung<br />

des menschlichen Lebens ist nur<br />

durch die Ausbreitung <strong>und</strong> das Erstarken<br />

dieser Solidarität, durch festeres Zusammenschließen,<br />

innigere Verbrüderung der Menschen<br />

zu Stande gekommen. Die Solidarität<br />

schließt aber von vornherein jede H e r r -<br />

s c h a f t aus. Sobald unter den Menschen<br />

einer oder einige sich über die anderen<br />

erheben, <strong>und</strong> die anderen zwingen, nach<br />

ihrem Willen zu leben <strong>und</strong> für sie zu arbeiten,<br />

in dem Moment ist die G e m e i n -<br />

s c h a f t zu Ende. Ein Teil der Menschen<br />

wird zum bloßen W e r k z e u g , um die<br />

Bedürfnisse von anderen zu befriedigen,<br />

die ersteren müssen ohne Gewinn für sich<br />

selbst über ihre Kräfte arbeiten, um die<br />

letzteren in müßigem Wohlleben zu erhalten,<br />

<strong>und</strong> dieser unnatürliche Zustand<br />

muß durch Gewalt, Gefängnis, Tortur <strong>und</strong><br />

Todesstrafe erzwungen werden.<br />

Immer <strong>und</strong> immer wieder haben sich<br />

die Unterdrückten <strong>und</strong> Ausgebeuteten gegen<br />

diese Leiden aufgelehnt <strong>und</strong> versucht, die<br />

Herrschaft von sich abzuschütteln <strong>und</strong> in<br />

Solidarität <strong>und</strong> Freiheit ihr eigenes Leben<br />

zu leben. Der Erfolg ihrer Empörungen<br />

war aber immer nur kurz <strong>und</strong> unvollkommen,<br />

denn durch Unwissenheit <strong>und</strong><br />

Vorurteile sahen sie die Ursache ihres<br />

Elends immer nur in diesen oder jenen<br />

herrschenden Personen oder Herrschafts-<br />

f o r m e n <strong>und</strong> begnügten sich damit, diese<br />

aus dem <strong>Weg</strong>e zu räumen — um sich<br />

wo alle Menschen in freiwilligem Zusammenwirken<br />

leben <strong>und</strong> arbeiten, <strong>und</strong><br />

jeder nach seinen Bedürfnissen den durch<br />

gemeinschaftliche Arbeit erzeugten Reichtum<br />

genießen kann.<br />

In dieser Gesellschaft wird der Gr<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> Boden — die Quelle von allem, was<br />

der Mensch zum Leben braucht — a l l e n<br />

gehören; <strong>und</strong> ebenso die Werkzeuge <strong>und</strong><br />

Maschinen, welche zu dessen Bebauung<br />

<strong>und</strong> der Herstellung aller notwendigen<br />

Sachen nötig sind. Arbeiter <strong>und</strong> Bauern<br />

werden sich in Vereinigungen, Gemeinschaften<br />

zusammentun, welche nicht durch<br />

Gesetze <strong>und</strong> bindende Vorschriften, sondurch<br />

gemeinsame Interessen, gegenseitiges<br />

Vertrauen <strong>und</strong> freiwillige Übereinkunft zusammengehalten<br />

werden. Jede dieser Vereinigungen<br />

wird durch gemeinsame Arbeit<br />

das Land besiedeln <strong>und</strong> bearbeiten <strong>und</strong><br />

die Fabriken <strong>und</strong> Werkstätten in Betrieb<br />

nehmen, welche zur Deckung sämtlicher<br />

Bedürfnisse ihrer Mitglieder notwendig<br />

sind; vom Erträgnis der gemeinsamen Arbeit<br />

wird sich jedes Mitglied das <strong>und</strong> soviel<br />

nehmen, was <strong>und</strong> wie viel es braucht.<br />

Selbstverständlich wird es einem jeden<br />

freistehen, so für sich zu sorgen, wie es<br />

ihm gefällt, in seinem eigenen Haus zu<br />

wohnen, seinen eigenen Garten <strong>und</strong> sein<br />

Stück Feld zu bearbeiten (denn die Großstädte,<br />

in denen jetzt die Menschen dem<br />

Profit der Gr<strong>und</strong>besitzer zu lieb, zusanmergepfercht<br />

sind, werden mit dem Privateigentum<br />

an Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden aufhören),<br />

sein eigenes Essen zu kochen, seine eigenen<br />

Kleider zu nähen usw. — überhaupt in<br />

voller Freiheit a l l e s zu tun, was er will,<br />

solange er dadurch nicht andere schädigt.<br />

Ebenso wird man sich nicht die Mühe<br />

nehmen, jedem seinen Anteil an den gemeinschaftlichen<br />

Vorräten nach seiner Arbeitsleistung<br />

abzumessen, man wird nicht<br />

mit einander rechnen <strong>und</strong> feilschen; Geld<br />

<strong>und</strong> Handel werden als überflüssige Dinge<br />

verschwinden. Wie es in einer einträchtigen<br />

Familie oder unter guten Fre<strong>und</strong>en<br />

auch jetzt zugeht, wird ein jeder willkommen<br />

sein, das aufzubrauchen, was er<br />

nötig hat, <strong>und</strong> ein jeder wird es für selbstverständlich<br />

finden, daß er, ohne abzuwägen,<br />

was er erhalten hat, aus besten


Kräften am Wohle seiner Gemeinschaft<br />

mitwirkt.<br />

Wenn aber jemand den Übrigen dennoch<br />

Schaden <strong>und</strong> Unannehmlichkeiten zufügt<br />

<strong>und</strong> wenn einer, obgleich er ges<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> kräftig ist, nicht arbeiten will, dafür<br />

aber das Meiste <strong>und</strong> Beste von den Arbeitsfrüchten<br />

der Übrigen verzehren<br />

möchte; w a s d a n n ?<br />

Nun, kein v e r n ü n f t i g e r Mensch<br />

wird so handeln; denn in einem, auf freiem,<br />

brüderlichem Zusammenwirken begründeten<br />

Gemeinwesen ist das Wohl jedes Einzelnen<br />

e i n s mit dem Wohle aller Übrigen, also<br />

der Gesamtheit. Die gemeinsame Arbeit<br />

<strong>und</strong> die fre<strong>und</strong>schaftliche Harmonie können<br />

alle Bedürfnisse eines jeden Menschen aufs<br />

Beste befriedigen; <strong>und</strong> wenn jemand dieselben<br />

stört <strong>und</strong> unmöglich macht, so<br />

schadet er sich selbst, handelt also unvernünftig.<br />

Wer aber unvernünftig handelt, ist<br />

entweder unwissend, <strong>und</strong> da kann man<br />

ihn leicht aufklären; oder er ist geistig<br />

krank, dann muß man' ihn wie einen<br />

Kranken behandeln <strong>und</strong> zu heilen trachten.<br />

Übrigens dürfte die Krankheit, die man<br />

»Faulheit« nennt, in einer vernünftigen Gesellschaft<br />

recht bald verschwinden. Denn<br />

erstens wird alle Arbeit leicht, schön <strong>und</strong><br />

angenehm sein (sie könnte, mit unserer<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> unseren Erfindungen<br />

schon jetzt so sein, wenn es sich den Kapitalisten<br />

nicht besser »auszahlen« würde,<br />

ihre Arbeiter durch Überarbeit, Schmutz<br />

<strong>und</strong> Unfälle zu Gr<strong>und</strong>e gehen zu lassen<br />

<strong>und</strong> immer neue Kräfte aus der Armee der<br />

Arbeitslosen anzuwerben); zweitens wird<br />

die Langeweile des absoluten Nichtstuns<br />

<strong>und</strong> die Mißachtung <strong>und</strong> der Spott der<br />

Arbeitenden mit der Zeit den ärgsten<br />

Faulenzer davon überzeugen, daß der Anschluß<br />

an irgend eine, seinen Fähigkeiten<br />

<strong>und</strong> seinem Geschmack zusagende Arbeitsvereinigung<br />

besser <strong>und</strong> angenehmer für<br />

ihn ist.<br />

So werden alle Gesetze <strong>und</strong> alle Einrichtungen,<br />

um denselben Geltung zu verschaffen,<br />

wie Zentralzwang des Staates,<br />

Gerichtshöfe, Polizei, Gefängnisse usw.<br />

ihren Sinn <strong>und</strong> Zweck verlieren. Es wird<br />

keine »Verbrecher« mehr geben. Mord,<br />

Raub, Diebstahl, Betrug, Fälschung etc.<br />

werden nicht mehr existieren, wenn es<br />

kein Monopoleigentum mehr gibt. Auch<br />

die beiden anderen Ursachen der heutigen<br />

»Verbrechen«: Trunkenheit <strong>und</strong> ein unnatürliches<br />

— teils unterdrücktes, teils überreiztes<br />

— Geschlechtsleben werden in einer<br />

anarchistisch-kommunistischen Gesellschaft<br />

verschwinden. Denn es ist das Elend,<br />

welches die Menschen in die Schnapsschenken<br />

treibt <strong>und</strong> dieselbe Ursache, verstärkt<br />

durch die tyrannischen Eingriffe der<br />

Kirche, des Staates <strong>und</strong> des Familienoberhauptes<br />

hat zur Folge, daß der Geschlechtstrieb,<br />

frühzeitig geweckt durch das Zusammengepferchtsein<br />

der Eltern mit den<br />

Kindern auf engem Raum, nicht seine<br />

natürliche Befriedigung finden kann, <strong>und</strong><br />

daß andererseits Menschen ohne gegenseitige<br />

Liebe zu geschlechtlicher Vereinigung<br />

<strong>und</strong> Zusammenleben gezwungen werden.<br />

In einer Gemeinschaft, deren Mitglieder<br />

durch Solidarität verb<strong>und</strong>en sind,<br />

kann keine Obrigkeit bestehen. Wenn die<br />

Menschen sich freiwillig vereinigen, um<br />

ihre gemeinsamen Bedürfnisse <strong>und</strong> Interessen<br />

zu befriedigen, <strong>und</strong> ein jeder<br />

ebenso freiwillig aus jeder Vereinigung<br />

austreten <strong>und</strong> sich mit anderen vereinigen<br />

— oder auch, wenn er gerade dazu Lust<br />

hat, als Einsiedler leben — kann, wenn<br />

das seinen Interessen besser zusagt, dann<br />

gibt es keine Gegensätze, keine Streitigkeiten<br />

innerhalb der Gemeinschaft. In<br />

seinen Privatangelegenheiten wird ein jeder<br />

vollkommen ungehindert <strong>und</strong> frei tun, was<br />

er will; die Erledigung der gemeinsamen<br />

Angelegenheiten werden diejenigen, deren<br />

Interessen dieselben berühren, durch gemeinsame<br />

Überlegung <strong>und</strong> Verständigung<br />

<strong>und</strong> durch gemeinschaftliche Arbeit besorgen.<br />

Sie mögen je nach den Umständen<br />

die Durchführung der Aufgabe einem von<br />

ihnen, der dazu besonders befähigt ist,<br />

übertragen <strong>und</strong> beim Zusammenarbeiten<br />

seiner Leitung folgen, wenn sie dies als<br />

notwendig einsehen. Dadurch werden sie<br />

ihm aber nicht das Recht zuerkennen, ihnen<br />

in diesen oder anderen Dingen zu bef<br />

e h l e n , sie werden ihn nicht mit Vorrechten<br />

<strong>und</strong> Machtbefugnissen ausstatten;<br />

mit einem Wort: sie werden sich keine<br />

Obrigkeit schaffen, keine Gesetze <strong>und</strong> Vorschriften<br />

ausarbeiten, welchen sich ein jeder<br />

unterordnen müßte. Die Fragen, welche<br />

die Interessen aller Mitglieder der Gemeinschaft<br />

betreffen <strong>und</strong> durch gemeinsamen<br />

Entschluß aller entschieden werden müssen,<br />

werden praktischer — meistens wirtschaftlicher<br />

<strong>und</strong> technischer — Natur sein, bei<br />

welchen jede persönliche Eitelkeit oder abstrakte<br />

Prinzipienreiterei ausgeschlossen ist;<br />

<strong>und</strong> wenn ein jeder das Wohl der Gesamtheit<br />

— welches sein eigenes Wohl ist<br />

— vor Augen hält, so wird sich nach Erwägung<br />

aller Umstände immer ein <strong>Weg</strong><br />

finden, welcher für a l l e das Zweckmäßigste<br />

ist, ohne daß sich zwei Parteien<br />

bilden, von denen die schwächere sich<br />

gegen ihren Willen der stärkeren fügen<br />

müßte.<br />

So wird jede Gemeinschaft in sich<br />

selbst ein harmonisches Ganzes bilden,<br />

welches jedem seiner Mitglieder das höchste<br />

Maß von Freiheit, Wohlstand <strong>und</strong> Glück<br />

sichern wird. Selbstverständlich wird, da<br />

die Bedürfnisse des Menschen mannigfaltig<br />

sind, ein jeder Mensch verschiedenen<br />

mannigfaltigen Vereinigungen angehören.<br />

Es wird Vereinigungen geben auf Gr<strong>und</strong><br />

des Wohnortes, um denselben schön <strong>und</strong><br />

ges<strong>und</strong> zu gestalten; auf Gr<strong>und</strong> der Beschäftigung<br />

<strong>und</strong> des Gewerbes, um mit<br />

den angenehmsten Arbeitsmethoden die<br />

vollkommensten Erzeugnisse hervorzubringen<br />

<strong>und</strong> allen Bedürfnissen aufs leichteste<br />

zu genügen; Vereinigungen für Aufrechterhaltung<br />

des Verkehrs, für wissenschaftliche<br />

Forschungen, Kunst, Geselligkeit,<br />

Sport usw. Die wichtigste Form der<br />

Vereinigung wird freilich die Arbeitsgemeinschaft<br />

zur Erhaltung des täglichen<br />

Lebens sein; zur Bebauung des Bodens,<br />

Herstellung von Nahrung, Kleidung, Wohnung<br />

etc. Jede nicht zu große <strong>und</strong> nicht<br />

zu kleine Gruppe von Menschen wird sich<br />

diese Lebensnotwendigkeiten selber herstellen,<br />

so wie das in den alten Völkerstämmen<br />

<strong>und</strong> Dorfgemeinden geschah,<br />

welche ja in punkto natürlicher Lebensweise<br />

unserem Ideal des anarchistischen<br />

Kommunismus recht nahe stehen, wenn<br />

wir uns auch dessen Verwirklichung auf<br />

Gr<strong>und</strong>lage unserer heutigen Geisteskultur<br />

denken. Die unsinnigen Zustände, bei<br />

welchen eine Gegend oder Land n u r Getreide,<br />

ein anderes n u r Stoffe, ein drittes<br />

n u r Maschinen oder etwas anderes erzeugt,<br />

ist nicht im Interesse des allgemeinen<br />

Wohlstandes, sondern einzig <strong>und</strong> allein zum<br />

Profit der Kapitalisten <strong>und</strong> Vermittler den<br />

Menschen aufgezwungen worden. Infolge<br />

dieser Verhältnisse sind die Arbeiter zu<br />

geistlosen Maschinen herabgewürdigt worden,<br />

die Erzeugnisse dieser Landwirtschaft<br />

<strong>und</strong> Industrie sind nicht zum Gebrauch,<br />

sondern nur zum Schein, als Verkaufsobjekte<br />

da, <strong>und</strong> fruchtbare Landstriche verwandelten<br />

sich in öde Brachfelder oder<br />

verpestete Kehrichthaufen. Die Natur des<br />

Menschen verlangt, daß sein ganzes Leben,<br />

seine ganze Arbeit in innigstem Zusammenh<br />

a n g mit dem Leben der Erde steht, aus<br />

welcher alles, was er braucht, entspringt.<br />

Die Bebauung des Bodens <strong>und</strong> die Verarbeitung<br />

seiner Erzeugnisse muß Hand in<br />

Hand gehen, diese verschiedenen Arbeiten<br />

<strong>und</strong> die geistige Arbeit, die zu derem erfolgreichem<br />

Vollbringen nötig ist, ergänzen<br />

sich gegenseitig. Nur so können sich alle<br />

körperlichen <strong>und</strong> geistigen Kräfte des Menschen<br />

voll entwickeln; nur so kann die<br />

Arbeit zur Freude <strong>und</strong> schaffenden Kunst<br />

werden, die das ganze Leben verschönt;<br />

nur so kann das Erzeugnis der Arbeit<br />

wirklich vollkommen jenen Bedürfnissen<br />

dienen, für die es bestimmt ist.<br />

Die n a t ü r l i c h e n Verschiedenheiten<br />

der einzelnen Gegenden werden freilich<br />

auch in Zukunft bewirken, daß dieselben,<br />

nachdem sie die allgemein notwendige<br />

Arbeit <strong>und</strong> Befriedigung ihrer täglichen<br />

Bedürfnisse geleistet haben, einen Überfluß<br />

von irgend einem Erzeugnis produzieren,<br />

zu welchem Klima, Bodenbeschaffenheit<br />

oder ererbte Geschicklichkeit ihrer<br />

Einwohner sie besonders befähigen. So<br />

werden einige Gemeinden Getreide, andere<br />

Holz, andere wieder Kohle, Eisen, Salz,<br />

Petroleum etc. für sich <strong>und</strong> die übrigen<br />

Gemeinden produzieren. Die Menge der<br />

Produktion wird sich aber immer nach den<br />

genau gekannten Bedürfnissen der übrigen<br />

Gemeinden richten; die Schönheit des<br />

Landes, die Annehmlichkeit der Bewohner<br />

wird nicht der Produktion e i n e s Artikels<br />

geopfert werden, es wird kein unnützes<br />

Hin- <strong>und</strong> Hertransportieren der Waren<br />

stattfinden, kein Berechnen Handeln oder<br />

Schachern mit Werten, sondern ein fre<strong>und</strong>schaftliches<br />

Nehmen <strong>und</strong> Geben. So wie<br />

das Verhältnis der einzelnen Menschen<br />

innerhalb der Gemeinschaft, so wird auch<br />

das Verhältnis der verschiedenen Gemeinschaften<br />

zu einander sein: vollkommene<br />

Solidarität untereinander, vollständige Freiheit<br />

in eigenen Angelegenheiten, freiwilliges<br />

Zusammenwirken für gemeinsame Interessen.<br />

Abwesenheit jedes Gesetzes, jeder<br />

Obrigkeit, jeder Herrschaft. So wie die<br />

Menschen in Vereinigungen, werden sich<br />

diese Vereinigungen wiederum in mannigfache<br />

Föderationen zu gemeinsamer Arbeit,<br />

gemeinsamer Verschönerung des Lebens<br />

zusammenschließen; jede Vereinigung wird<br />

verschiedenen Föderationen angehören, es<br />

werden keine Grenzen zwischen denselben,<br />

keine Zentralleitung innerhalb derselben<br />

bestehen. Die Gemeinschaften werden einfach<br />

miteinander in Verbindung treten, entweder<br />

unmittelbar (eine leichte Sache in<br />

unserem Zeitalter der Telegraphen <strong>und</strong><br />

Telephone!) oder durch Abgesandte, deren<br />

Aufgabe aber nur die Besprechung der<br />

Fragen <strong>und</strong> die Darlegung des Willens<br />

ihrer Absender sein wird, <strong>und</strong> die nicht<br />

als »Volksvertreter« irgend eine Art von<br />

Parlament bilden werden. Wenn solcher<br />

Art die Zentralgewalt der Staaten, also sie<br />

selbst nicht mehr existieren, wird es selbstverständlich<br />

auch keine Kriege, keine<br />

Armeen mehr geben. Ein brüderliches<br />

Bündnis wird alle Menschen auf der Erde<br />

umfassen, <strong>und</strong> durch dieses werden sie<br />

zu einem immer schöneren, immer glücklicheren<br />

Leben fortschreiten.<br />

Dies ist in kurzen Zügen das Bild der<br />

freien Gesellschaft, nach welcher wir<br />

streben. Dieses <strong>Ziel</strong> müssen wir fortwährend<br />

im Auge behalten, wenn wir uns »von unserem<br />

heutigen Elend befreien wollen.


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Österreich.<br />

Wien. Während der letzten Wochen hatten<br />

die Wiener Genossen das Vergnügen, den Genossen<br />

Karel Vohryczek, Redakteur der „Komuna", in ihrer<br />

Mitte begrüßen zu können, der hier eine vorzügliche<br />

Agitation in vornehmlich tschechischer, aber auch<br />

deutscher Sprache entfaltete. Besonders die große<br />

<strong>und</strong> großartige 1. Maiversammlung unserer Bewegung<br />

gestaltete sich durch ihn zu einem durchschlagenden<br />

Erfolg, da wir hier sehr unter dem<br />

Mangel eines guten tschechischen Redners zu leiden<br />

hatten. Selten wohl, daß sich in Wien so viel Enthusiasmus<br />

zusammenfand, wie in dieser Massenversammlung,<br />

der wohl an 800 bis 1000 Menschen<br />

beiwohnten; der Meinung der älteren Genossen zufolge<br />

haben wir seit den letzten 10 Jahren keine<br />

solche Versammlung mehr gehabt.- Und es war ein<br />

echt revolutionärer Maiengeist, der die gekommenen<br />

Arbeiter beseelte, wie dies der begeisterte Applaus<br />

bewies, der die Redner Vohryzczek, Haidt, Ramus<br />

<strong>und</strong> Lickier belohnte. Unter revolutionären G e -<br />

sangesklängen ging die Versammlung auseinander.<br />

— Nachmittags hatten die Kameraden eine gemütliche<br />

Ausflugszusammenkunft. — Sämtliche der<br />

Versammlungen anzuführen, in denen die obigen<br />

sprachen, geht nicht an, überall aber begleitete sie der<br />

Erfolg. — Erwähnenswert ist eine Einladung, die<br />

der Genosse Ramus vom Arbeiterbildungsverein<br />

des VI. Bezirkes erhielt, um dorten mit dem Sozialdemokraten<br />

Höfer zu diskutieren. An zwei Abenden<br />

fanden die Diskussionen statt, <strong>und</strong> die Bescheidenheit<br />

verbietet uns, irgend etwas Anerkennendes<br />

über Ramus zu äußern; genüge es, wenn wir die<br />

Meinung vieler anwesender Sozialdemokraten wiedergeben,<br />

die darin bestand, daß Höfer alles andere<br />

als ein Verteidiger der Sozialdemokratie zu sein<br />

vermag. - Den Genossen zur Mitteilung, daß unsere<br />

allsonntäglichen großen Versammlungen in den<br />

verschiedenen Bezirken den Hauptzweck verfolgen,<br />

auf die Organisation einer Monstreversammlung<br />

hinzuarbeiten. Raummangel verbietet] uns eine weitere<br />

Darlegung unserer propagandistischen Arbeiten<br />

<strong>und</strong> großen Agitations-Pläne für die Zukunft! —<br />

Direkt komische Konfiskationen gestattete sich<br />

die Staatsanwaltschaft in unserer Mainummer.<br />

Stereotyp dürfen wir konstatieren, daß sie in fast<br />

allen Artikeln unseres Blattes konfiskable Stellen<br />

entdeckte. Glücklicherweise schaden uns diese<br />

Konfiskationen fast gar nicht. Es ist wirklich eine<br />

ideale Preßfreiheit, deren sich in Österreich das<br />

ungeschriebene Wort erfreut!<br />

*<br />

Wir begrüßen auf das herzlichste einen neuen<br />

wackeren Mitstreiter, die von der Freidenkergruppe<br />

„Freien Gedanken" begründete, gleichnamige Monatschrift.<br />

Es sind wirklich „Blätter für moderne<br />

Weltanschauung," die uns geboten werden <strong>und</strong><br />

fordern wir unsere Kameraden zur eifrigsten Unterstützung<br />

der Zeitschrift auf. Redakteur ist der alte<br />

Kämpe Markreiter <strong>und</strong> ist die Zeitschrift zu beziehen<br />

durch ihren Verlag, Wien, XIV. Märzstrasse 33.<br />

Preis eines Einzelexemplars nur 10 h.<br />

W a r n u n g vor dem P r o v o k a t o r Meczislaw<br />

Kensizki! Die russischen Pariser Gruppen folgender<br />

Parteien: Proletariat, Sozialisten-Revolutionäre,<br />

Anarchisten-Kommunisten <strong>und</strong> Sozial-Revolutionäre<br />

Maximalsten warnen durch ein uns gesandtes<br />

Flugblatt vom 12. April 1908 alle Kameraden vor<br />

dem Provakator M e c z i s l a w A l e x a n d r o w i c z<br />

K e n s i z k i (genannt „Metek", „Felix" <strong>und</strong> „Hippolit").<br />

Seit dem Jahre 1904 steht dieses Subjekt<br />

im Dienste der russischen Polizei <strong>und</strong> ist im letzten<br />

Augenblicke, als er entlarvt ward, durch die französische<br />

Polizei „ausgewiesen" worden.<br />

Sein jetziges Alter ca. 21 Jahre, Haare dunkelbraun,<br />

Wuchs über Mittelmaß, Augen braun.<br />

Besondere Kennzeichen: Neben Ohr kleine Warze.<br />

Sonstiges: Im Gesicht fast kein Haarwuchs. Spricht<br />

polnisch, russisch, französisch (letztere zwei Sprachen<br />

mit polnischen Akzent).<br />

Galizien.<br />

Inmitten der Hoch-Rufe auf das allein Erlösung<br />

bringende Volksparlament — kam ein politisches<br />

Attentat! Ein junger ruthenischer S o z i n l d e m o -<br />

k r a t , Namens Miroslaw Siczynskyj, Sohn des vor<br />

Jahren gestorbenen ruthenischen Patrioten <strong>und</strong> Landtagsabgeordneten<br />

<strong>und</strong> Priesters Nikolaus Siczynskyj,<br />

Hörer der Philosophie an der Universität zu Lemberg,<br />

schoß den galizischen Statthalter Andreas<br />

Grafen Potocki tot mit den Worten: „ D a s i s t f ü r<br />

d i e L e i d e n d e s r u t h e n i s c h e n V o l k e s , f ü r<br />

d i e W a h l e n , für d e n K a h a n e t z j T o d l F ü r<br />

Kah an e t z j — P o t o c k i ! "<br />

Was für ein Volk ist es, <strong>und</strong> was sind seine<br />

Leiden, daß ein Jüngling von 21. Lebensjahren, eine<br />

hoffnungsvolle Zukunft vor sich, geliebt von seiner<br />

Umgebung, veranlaßt wird, sein junges Leben aufs<br />

Spiel zu setzen, um den Machthabern <strong>und</strong> Unterdrückern<br />

seines Volkes ein solches Schreckenswort<br />

der Tat ins Ohr zu rufen?<br />

Ein großes <strong>und</strong> altes Kulturvolk ist es, das<br />

aber im Laufe der Geschichte von seinen slavischen<br />

„Volksbrüdern", Polen <strong>und</strong> Russen, aller geistigen<br />

<strong>und</strong> materiellen Güter so beraubt wurde, daß es<br />

in das XIX. Jahrh<strong>und</strong>ert als ein im Joche des Frohndienstes<br />

schmachtendes' Bauernvolk eintrat, das<br />

erst in diesem Jahrh<strong>und</strong>ert, mit jedem Schritt auf<br />

große Hindernisse seitens der genannten slavischen<br />

„volksbrüderlichen" Unterdrücker stoßend, sich<br />

wiederum auf die Stufe einer modernen Nation<br />

emporzuheben begann, welche Entwicklung sich<br />

heute bereits im vollen Schwünge befindet.<br />

Die Ruthenen (auch Kleinrussen <strong>und</strong> Ukrainer<br />

genannt) bilden ein ungefähr 30 Millionen starkes<br />

Volk, wovon über 25 Millionen Südrußland (Kleinrußland,<br />

die Ukraine) <strong>und</strong> die übrigen Österreich-<br />

Ungarn bewohnen <strong>und</strong> zwar ungefähr 3'/s Millionen<br />

Ostgalizien, circa 400.000 die Bukowina <strong>und</strong> ebensoviel<br />

einige Komitate Ungarns.<br />

Was nun das hier allein in Betracht kommende<br />

Galizien anbelangt, das nach der Teilung Polens<br />

unter österreichische Herrschaft kam, so wurde hier<br />

gleich mit Anfang der konstitutionellen Aera dem<br />

polnischen Adelstande, der Schlachta, eine vollständige<br />

freie Hand überlassen, die nationale Politik des<br />

Polenreiches weiter zu führen. Und diese Politik<br />

heißt: die nationale Entwicklung anderer Volksstämme,<br />

d. h. der Ruthenen <strong>und</strong> der Juden* zu<br />

unterdrücken, den Volksmassen keine politischen<br />

Rechte zuerkennen <strong>und</strong> dieselben in sozialer Sklaverei<br />

der polnischadeligen Großgr<strong>und</strong>besitzer zu<br />

erhalten.<br />

In der österreichischen Reichsverfassung haben<br />

wir den berühmten XIX. Artikel, welcher allen<br />

Volksstämmen nationale Gleichberechtigung zuerkennt.<br />

Dieser Gleichberechtigungst h e o r i e entspricht<br />

aber keine G l e i c h b e r e c h t i g u n g s p r a x i s , <strong>und</strong> wir<br />

sehen überall, wo nur das eine Kronland mehrere<br />

Volksstämme bewohnen, daß eine Nation durch die<br />

andere unterdrückt wird.<br />

So gestalteten sich die Verhältnisse auch in<br />

Galizien. Die nationalen Herrscher des Landes wurden<br />

hier die Polen <strong>und</strong> diese Herrschaft wird durch<br />

die polnische Schlachta ausgeübt. Dieser Zustand<br />

widerspricht zwar dem formalen österreichischen<br />

Staatsprinzip der nationalen Gleichberechtigung, er<br />

entspricht aber dem p o l n i s c h e n Staatsprinzip,<br />

nach welchem alle Länder, welche einst dem Polenreiche<br />

angehörten, im staatsrechtlichen Sinne als polnische<br />

Länder betrachtet werden, in welchen n u r die<br />

polnische Nation als politisch herrschende das volle<br />

Recht der allseitigen Entwicklung hat; den anderen<br />

Volksstämmen aber wird dieses Recht nur insoferne<br />

gewährt, als es dem obgenannten polnischen Staatsprinzip<br />

nicht widerspricht; d. h. aber, es wird<br />

eigentlich überhaupt nicht anerkannt. Dieses polnische<br />

Staatsprinzip wurde auch im allgemeinen<br />

von der österreichischen Zentralregierung geduldet,<br />

welche für die Handlangerdienste, die ihr der reichsrätliche<br />

Polenklub in jeder Angelegenheit erwies,<br />

Galizien vollständig der polnischen Schlachzizenherrschaft<br />

preisgab, so daß dieses Land nur der<br />

Form nach ein österreichisches Kronland, dem Inhalte<br />

nach aber ein selbständiges Polenreich ist.<br />

In diesem Polenreiche werden die Ruthenen<br />

nicht nur wie die Volksmassen überhaupt in sozialpolitischer<br />

Hinsicht, sondern noch teils durch die<br />

im Reichsrate zu gunsten der polnischen Oberherrschaft<br />

angenommenen Ausnahmsgesetze für Galizien<br />

(ein solches Ausnahmsgesetz ist z. B. die reichsrätliche<br />

Wahlordnung für GalizienV teils durch die<br />

kaiserlichen <strong>und</strong> ministeriellen Verordnungen, teils<br />

durch die Landesgesetzgebung <strong>und</strong> zuletzt durch<br />

die Verwaltungspraxis in nationalpolitischer Hinsicht<br />

so u n t e r d r ü c k t , daß für sie nicht nur das<br />

österreichische Staatsprinzip der nationalen Gleichberechtigung,<br />

sondern die österreichische Verfassung<br />

überhaupt nur ein leerer Spuk ist. Die Lage des<br />

gesamten ruthenischen Volkes in Galizien kann<br />

mit der Lage des Proletariats in der heutigen Gesellschaftsordnung<br />

verglichen werden: es ist entweder<br />

von gesetzeswegen entrechtet, oder es wird<br />

ihm von der Staatsverwaltung jede wirkliche Möglichkeit<br />

entzogen, sich der ihm zuerkannten Rechte<br />

zu gunsten seiner Sache zu bedienen.<br />

Als Beispiel solcher Entrechtung von gesetzeswegen<br />

sei die landtägliche <strong>und</strong> reichsrätliche Wahlordnung<br />

angeführt, welche dem ruthenischen Volke<br />

bereits die gesetzliche Möglichkeit entzieht, sogar<br />

bei dem allgemeinen <strong>und</strong> gleichen Wahlrechte (vom<br />

Kurialsystcm schon nicht zu reden!) die der Einwohnerzahl<br />

entsprechende Abgeordnetenzahl zu<br />

wählen.<br />

Dabei aber bleibt es nicht. Die Verwaltung entzieht<br />

ihm weiter jede Möglichkeit, sich im Rahmen der<br />

„gesetzlichen Ordnung",Abgeordnete nach seinemWillen<br />

zu erwählen. Es werden Wahllisten, Wahlmännerwahlen<br />

<strong>und</strong> Abgeordnetenwahlen gefälscht, Wahlversammlungen<br />

verboten, aufgelöst <strong>und</strong> überhaupt jede<br />

gegen die polnischen Regierungskandidaten geführte<br />

Wahlagitation unmöglich gemacht. Die Leute werden<br />

terrorisiert, verhaftet, prozessiert <strong>und</strong> verurteilt <strong>und</strong><br />

wo man die kleinste Aufregung der Gemüter ver-<br />

•) Heutzutage bilden die Kutbencn nach d e r offiziellen zu<br />

gunsten d e r Polen gefälschten Statistik 42 % d e r Bevölkerung<br />

Galiziens. Die J u d e n , welche u n g e f ä h r 10 % ausmachen, w e r d e n<br />

in nationaler Hinsicht zu den Polen gerechnet.<br />

spürt, dorthin werden Gendarmen <strong>und</strong> Soldaten<br />

geschickt, die wie während eines Krieges in einem<br />

feindlichen Lande hausen. Es wird ohne jeden Gr<strong>und</strong><br />

geschossen <strong>und</strong> ruhige <strong>und</strong> unschuldige Bauern<br />

werden schonungslos niedergemetzelt. Das neueste<br />

Opfer dieses „Wahlsystems" ist eben ein Bauer<br />

namens Marko Kahanetzj gewesen, der während<br />

der letzten Landtagswahlen von den Gendarmen<br />

niedergestochen wurde utid dessen Tod viel dazu<br />

beitrug, daß Siczynskyj beschloß, den galizischen<br />

Statthalter umzubringen.<br />

Dasselbe, was bei den Wahlen, geschieht auch<br />

bei jeder anderen Volksbewegung. Alle „verfassungsmäßigen<br />

Freiheiten", wie Versammlungs-, Vereins-,<br />

Druck- <strong>und</strong> Redefreiheit, Koalitionsrecht <strong>und</strong> wie<br />

all die Täuschungsmittel der heutigen Gesellschaftsordnung,<br />

bestimmt, die Aufmerksamkeit des Volkes<br />

von dem direkten Kampfe für seine Befreiung abzulenken,<br />

heißen, werden den Ruthenen gegenüber<br />

gänzlich aufgehoben. Versammlungen <strong>und</strong> Vereine<br />

werden verboten oder aufgelöst, Zeitungen konfisziert,<br />

Redner verurteilt <strong>und</strong> während der Streikbewegungen<br />

der ruthenischen Landarbeiter gegen die<br />

polnischen Großgr<strong>und</strong>besitzer befindet sich das Streikgebiet<br />

tatsächlich in einem Belagerungszustand!<br />

Kurz gesagt: wir Anarchisten wissen am besten,<br />

wie wertlos Gesetze oder gesetzliche Garantien für<br />

den Befreiungskampf des Volkes sind, trotzdem<br />

wage ich zu behaupten, daß sich das ruthenische<br />

Volk glücklich fühlen würde, wenn ihm gegenüber<br />

die Gesetze so ausgeübt werden würden, wie es<br />

in westösterreichischen Ländern der Fall ist.<br />

Selbstverständlich, daß dieser Zustand der<br />

Willkürgesetzlichkeit sich mit jedem Jahre verschlimmern<br />

mußte. Denn in dem Maße, in welchem das<br />

Selbstbewußtsein des ruthenischen Volkes <strong>und</strong> sein<br />

Ringen nach der Besserung seiner Lage wuchs,<br />

vermehrten auch die polnischen Machthaber ihre<br />

Bestrebungen, ihre bisherige Oberherrschaft aufrecht<br />

zu erhalten. Der gegenseitige Haß wurde immer<br />

stärker <strong>und</strong> allgemeiner bis es dahin kam, daß<br />

sich alle polnischen bürgerlichen Parteien zusammenschlössen,<br />

um desto wirksamer jeder Forderung der<br />

Ruthenen entgegenzutreten, ja sogar die polnische<br />

Sozialdemokratie in der polnisch-ruthenischen Frage<br />

nicht immer die richtige Stellung einnahm.<br />

Gleichzeitig aber wuchs die Erbitterung des<br />

ruthenischen Volkes, welche insbesondere in der<br />

neuesten Zeit alle Schichten der Bevölkerung mit<br />

sich riß, a l s m a n e i n s a h , d a ß s o g a r d a s<br />

V o l k s p a r l a m e n t , v o n w e l c h e m s o v i e l<br />

g e h o f f t w u r d e , n i c h t s a n d e r S a c h e ä n -<br />

d e r n w i l l u n d k a n n .<br />

Daß diese Erbitterung zuletzt in dem Attentat<br />

auf den Statthalter Potocki gipfelte, der wie ein<br />

jeder Statthalter Galiziens, das sichtbare Haupt <strong>und</strong><br />

der tatsächliche Leiter dieser polnischen rutiienenfeindlichen<br />

Politik <strong>und</strong> außerdem einer der unbeschränktesten<br />

<strong>und</strong> ruthenenfeindlichsten polnischen<br />

Alleinherrscher auf dem k. k. Statthalterposten war,<br />

ist aus den geschilderten Zuständen nur zu erklärlich.<br />

Und daß das Attentat von einem ruthenischen<br />

S o z i a l d e m o k r a t e n verübt wurde, also von<br />

einem Menschen, in dessen Parteikreisen der Terrorismus,<br />

insbesondere in den Verfassungsstaaten,<br />

aufs schärfste verurteilt wird, das bezeugt nur, daß<br />

der Druck, unter welchem das ruthenische Volk<br />

leidet, wirklich allzu unerträglich war, wenn er sogar<br />

den doctrinaren Parteigeist überwinden konnte.<br />

Wie stellte sich die öffentliche Meinung zu<br />

diesem elementaren Ausbruch der Erbitterung des<br />

ruthenischen Volkes, der in der Tat Siczynskyjs<br />

seinen Ausdruck fand?<br />

Die einen, <strong>und</strong> zwar diejenigen, in deren<br />

Interesse es liegt, an der gegenwärtigen „heiligen"<br />

Ordnung nichts zu ändern, brachen in „heilige"<br />

Entrüstung aus <strong>und</strong> stempelten Siczynskyj zum<br />

gemeinen Verbrecher, „für welchen der Galgen eine<br />

noch allzu menschliche Strafe ist", wie ein polnisches<br />

Blatt geschrieben hat. Daß sich nun in<br />

diesem Lager der Ordnungsbeschützer alle polnischen<br />

bürgerlichen Elemente zusammenfanden, das bezeugt<br />

nur, daß sie alle die Unterdrückung des ruthenischen<br />

Volkes für ihr unantastbares nationales Recht ansehen.<br />

Es ist nur traurig, daß es dieselbe polnische<br />

Gesellschaft tut, die in Deutschland <strong>und</strong> Rußland<br />

auch um ihre nationalen Rechte ringt <strong>und</strong> deren<br />

revolutionäre Parteien iu Rußland sich auch terroristischer<br />

Kampfmethoden bedienen.<br />

Das ruthenische Volk dagegen verstellt <strong>und</strong><br />

rechtfertigt die Tat seines jungen Stammesbruders,<br />

inwieferne es möglich ist, all dies da zu konstatieren,<br />

wo die freie Meinungsäußerung mit schweren strafrechtlichen<br />

Folgen bedroht ist. Es wäre nur zu<br />

wünschen, daß sich dieses Volk auch in allen anderen<br />

Fällen mit denjenigen zusammenfände, welche<br />

eben deshalb, weil sie die Gewalt, mag sie noch<br />

so in gesetzliche Hüllen gekleidet sein, verwerfen,<br />

es für ein unveräußerliches Menschenrecht halten,<br />

der bestehenden sozialen Gewalt Widerstand <strong>und</strong><br />

Notwehr entgegenzusetzen.<br />

Am zahlreichsten ist selbstverständlich das<br />

Lager „des goldenen Mittelweges", derjenigen, die<br />

einerseits zugeben, daß die Ursache des Attentates<br />

in den galizischen Zuständen liegt, anderseits aber


nicht den Mut haben, zuzugeben, daß eine solche<br />

Erklärung auch eine Rechtfertigung bedeutet <strong>und</strong><br />

anstatt diese Zustände zu verurteilen <strong>und</strong> diejenigen,<br />

die an ihrem Vorhandensein schuldig sind, lieber<br />

Siczynskyj <strong>und</strong> seine Tat verurteilen.<br />

Hierher gehört auch das P r ä s i d i u m d e s<br />

r e i c h s r ä t l i c h e n R u th en en k l u b s u n d d i e<br />

ö s t e r r e i c h i s c h e S o z i a l d e m o k r a t i e .<br />

Obzwar Siczynskyj bis zum Tage seiner Tat in<br />

der r u t h e n i s c h e n s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n<br />

P a r t e i tätig war, leugnete die polnische <strong>und</strong> die<br />

deutsche Parteipresse diesen Umstand <strong>und</strong> anstatt<br />

wie ein Parteigenosse wurde er von ihr ein dummer<br />

Fanatiker genannt. Jawohl, dumm war er jedenfalls,<br />

denn vernünftige, auf dem granitfesten Standpunkt<br />

des „wissenschaftlichen Sozialismus" stehende Leute<br />

à la Diamant usw. — gehen für das Volk ins<br />

Parlament, nicht aber in den Tod . . .<br />

Erfreulich ist es, daß wenigstens das Parteiorgan<br />

der r u t h e n i s c h e n Sozialdemokratie den<br />

Mut hatte, die Parteiangehörigkeit Siczynskyjs<br />

zu bestätigen <strong>und</strong> für seine Tat in den galizischen<br />

Verhältnissen Rechtfertigung zu finden.<br />

Weniger erfreulich ist es dagegen, daß der<br />

p o l n i s c h e s o z i a l d e m o k r a t i s c h e Reichsratsabgeordnete<br />

H u d e c, wie auch die Lemberger Buchdruckergewerkschaft,<br />

welche unter seinem Einflüsse<br />

steht, a n d e m B e g r ä b n i s d e s P o t o c k i t e i l -<br />

n a h m e n <strong>und</strong> daß der andere polnische sozialdemokratische<br />

Abgeordnete, Dr. D i a m a n d, einen<br />

wahren Schimpfartikel über seinen ruthenischen<br />

Parteigenossen <strong>und</strong> dessen Tat in der Wiener<br />

„Arbeiterzeitung" veröffentlichte.<br />

Auch das Präsidium des reichsrätlichen Ruthenenklubs<br />

hielt es für angemessen, anstatt sich<br />

mit seinem Volke solidarisch zu erklären, die Tat<br />

Siczynskyjs als eine „greuliche, bei den Ruthenen<br />

bisher unerhörte Gewalttat aufs schärfste zu verurteilen",<br />

obgleich es gleichzeitig zugibt, d i e U r -<br />

s a c h e d e s A t t e n t a t e s b i l d e d a s i n G a l i z i e n<br />

h e r r s c h e n d e p o l i t i s c h e S y s t e m , d e r v i e l -<br />

j ä h r i g e D r u c k , d i e u n l e i d l i c h e W i l l k ü r<br />

d e r g a l i z i s c h e n V e r w a l t u n g . Diese Stellung<br />

wird umso erbärmlicher, als wir erwägen, daß dieselben<br />

Herren Abgeordneten die Lage des ruthenischen<br />

Volkes in Galizien immer als eine höchst<br />

rechtlose schilderten <strong>und</strong> unumw<strong>und</strong>en das Recht<br />

der Auflehnung anerkannten, falls die Regierung<br />

nicht gewillt, diese rechtslose Lage zu ändern. Als<br />

nun aber einer aus dem Volke dieses von ihnen<br />

anerkannte Auflehnungsrecht zum Ausdruck brachte,<br />

da verurteilen sie ihn. Wenn wir weiter erwägen,<br />

daß das Attentat aus n a t i o n a l - p o l i t i s c h e n<br />

Gründen verübt <strong>und</strong> unter den Ursachen desselben<br />

vom Attentäter selbst die F ä l s c h u n g d e r W a h -<br />

l e n angegeben wurde, so verdient das Präsidium<br />

des Ruthenenklubs, wie auch die Sozialdemokratie<br />

umso schärfere Verurteilung, weil die ganze Wahlkomödie,<br />

ungeachtet dessen, daß das ruthenische<br />

Volk ihre Fälschung schwer empfindet, erwiesenerweise<br />

vor allem i m I n t e r e s s e d e r G e w ä h l t e n ,<br />

nicht aber in dem der wählenden Volksmassen liegt.<br />

Man erkennt am besten an diesem Vorfall,<br />

was p a r l a m e n t a r i s c h e Volksvertreter <strong>und</strong> Verteidiger<br />

für den Befreiungskampf bedeuten! Solange<br />

es gilt, mit revolutionären Phrasen Wähler zu werben,<br />

gebärden sich die Herren sehr revolutionär;<br />

sobald aber das Volk revolutionär zu handeln<br />

beginnt, werden sie auf einmal gesetzlich bis ins<br />

Mark <strong>und</strong> Bein <strong>und</strong> haben für revolutionäre Handlungen<br />

nur Worte der Verurteilung.<br />

Über die politische Bedeutung des Attentates<br />

läßt sich bis heute noch immer nichts Bestimmtes<br />

sagen. Eigentlich sollte es sowohl für die polnischen<br />

Machthaber Galiziens, wie auch für die Zentralregierung<br />

ein Mahnwort sein, daß auch dem ruthenischen<br />

Volke seine nationalen Rechte anerkannt<br />

werden müssen, wenn man den nationalen Frieden<br />

will; es wird aber höchstwahrscheinlich unmittelbar<br />

eine entgegengesetzte Wirkung haben: die S t e i -<br />

g e r u n g der Unterdrückung des ruthenischen Volkes.<br />

Und da dieselben Ursachen auch dieselben Folgen<br />

hervorrufen, so ist es kaum zweifelhaft, daß solchenfalls<br />

die Tat Siczynskys zwar die erste, nicht aber<br />

die letzte sein wird.<br />

Mögen sich diejenigen darüber kümmern, denen<br />

es daran liegt, die heutige „heilige" Gesellschaftsordnung<br />

aufrecht zu erhalten. Für uns Anarchisten<br />

ist dagegen nur bedauerlich, daß es unter dem<br />

ruthenischen Volke noch keine größere Strömung<br />

gibt, die ihre revolutionäre Energie nicht für parlamentarische<br />

Zwecke ausbeuten ließe, die dem<br />

Volke das einzig wahre <strong>Ziel</strong> der Befreiung zeigen<br />

würde: E i n f ü h r u n g d e r k o m m u n i s t i s c h -<br />

a n a r c h i s t i s c h e n G e s e l l s c h a f t .<br />

Lemberg, M, Lozynskvj.<br />

*<br />

In letzter St<strong>und</strong>e geht uns ein interessanter<br />

Bericht über eine vorzügliche Maifeierrede zu, die<br />

der Genosse M. K ä u f e r am 1. Mai in B u c z a c z<br />

gehalten hat. Die Rede wirkte umso mächtiger, als<br />

ihm diverse Redner vorangingen, die nicht den<br />

prinzipiell . anarchistischen Standpunkt vertraten,<br />

wie unser Genosse es tat.<br />

England.<br />

Für alle jene, die sich während der letzten<br />

zwanzig Jahre an der sozialistischen Bewegung<br />

dieses Landes beteiligt haben, ist es interessant,<br />

ihre gegenwärtig schwankende Entwicklung zu beobachten.<br />

Das einstmalige revolutionäre Fieber in<br />

der marxistischen „ S o z i a l d e m o k r a t i s c h e n<br />

F ö d e r a t i o n " wird stets zu ihrer vergangenen<br />

Ehre angeführt werden müssen. In der Tat, wie<br />

viele Geschäftshäuser <strong>und</strong> politische Parteien, auch<br />

sie lebt heute von ihrer Vergangenheit. Sie hat alle<br />

die Hoffnungen, die man einst in sie setzte, begraben,<br />

eben dadurch, daß sie auf einmal <strong>und</strong> zu gleicher<br />

Zeit revolutionär u n d gesetzlich sein wollte! Eine<br />

unmögliche Sache; die „Sozialdemokratische F ö -<br />

deration" fiel zwischen beide Stühle auf die Erde<br />

<strong>und</strong> gegenwärtig spielt sie w e d e r in der politischen<br />

noch in der revolutionären Arena irgend eine Rolle<br />

mehr. Den einen starken Propagandisten, den sie<br />

hatte, J o h n B u r n s , hat sie verloren; er ist heute<br />

M i n i s t e r , ist das geworden, was die logische<br />

Folge des Eintrittes in den parlamentarischen<br />

Sumpf ist.<br />

Die Begründung der anderen sozialdemokratischen,<br />

aber n i c h t marxistischen, sondern kleinbürgerlich-radikalen<br />

Partei, der „ U n a b h ä n g i g e n<br />

A r b e i t e r p a r t e i " , der später die Geburt eines<br />

parlamentarischen „Arbeits - Vertretungskomitees"<br />

folgte, endete damit, daß man endlich die große<br />

Masse der Gewerkschaften vom rein ökonomischen<br />

Felde abdrängte <strong>und</strong> auf eine politisch-parlamentarische<br />

Taktik einschwor. Es ging dies hauptsächlich<br />

deshalb so glatt, weil die Führer dieser leider<br />

konservativ gewordenen Gewerkschaften darin eine<br />

Gelegenheit erblickten, ihre Gehälter zu verdoppeln<br />

<strong>und</strong> zu verdreifachen, was denn auch geschah!<br />

Doch die Wirkung dieser Massenbekehrung zur<br />

parlamentarischen Taktik, unter der die ökonomische<br />

einfach erdrückt wird, macht sich bereits fühlbar.<br />

Alles, wofür die sozialdemokratische „Unabhängige<br />

Arbeiterpartei" im Parlament eintritt, besteht in<br />

einem „modernen" Programm für die kapitalistische<br />

Kolonialpolitik, das von den kapitalistischen Zeitungen<br />

als eine Art Sozialismus ausgeschrieen wird,<br />

obwohl sie selbst gut genug wissen, daß es auch<br />

nicht der Schatten vom Sozialismus ist. Aber auf<br />

diese Art gelingt es in England, das wahre Wesen<br />

des Sozialismus zu verdunkeln <strong>und</strong> zurückzudrängen.<br />

Zur Ehre des einen oder anderen der führenden<br />

Sozialdemokraten muß es konstatiert werden, daß<br />

sie schon einsehen, daß die parlamentarische Wahlstimmenkomödie<br />

den Ruin des englischen Sozialismus<br />

bedeutet, aber sie haben leider nicht den<br />

Mut, offenherzig zu bekennen, daß das, was sie<br />

bisher im besten Glauben propagierten — Betätigung<br />

auf gesetzlich-parlamentarischem Boden — für den<br />

Sozialismus einfach hoffnungslos <strong>und</strong> erdrosselnd<br />

ist. Dadurch wird diese eine Hand voll ehrlicher<br />

Menschen immer weiter in den Hintergr<strong>und</strong> gedrängt,<br />

zur Bedeutungslosigkeit verurteilt, durch die massenweise<br />

auftretenden Ehrgeizlinge vor. Politikern.<br />

Während dies der Abstieg auf der rechten<br />

Seite ist, ist der Aufstieg der linken Seite, der<br />

A n a r c h i s t e n , langsam aber sicher. Zuerst riß<br />

sich die sogenannte „ S o z i a l i s t i s c h e L i g a " von<br />

den offiziellen sozialdemokratischen Körperschaften<br />

los, angeekelt durch die Bereitwilligkeit, mit welcher<br />

diese Körperschaften Geld von reaktionären politischen<br />

Parteien akzeptierten, angeblich um es in<br />

der Wahlkampagne zu gebrauchen. In den Jahren<br />

1885 bis 1893 entfaltete sich in England eine auf<br />

internationalen Prinzipien begründete revolutionäre,<br />

a n t i parlamentarische, kommunistische Bewegung.<br />

Politisch war diese Bewegung unbewußt, aber instinktiv<br />

anarchistisch. Doch als die Prinzipien des<br />

Anarchismus einem immer klarer werdenden Verständnis<br />

begegneten <strong>und</strong> es galt, die letzten Konsequenzen<br />

zu ziehen, sich Anarchist zu nennen,<br />

zog eine ganze Anzahl der Mitglieder der „Liga"",<br />

die die Bewegung als eine n u r kommunistische<br />

betrachteten, es vor, ihr den Rücken zu kehren.<br />

Einige gingen auch zur parlamentarischen Taktik<br />

über, einerseits aus Sicherheitsbedürfnis in der<br />

bürgerlichen Gesellschaft oder direkt aus Geschäftsinteresse<br />

<strong>und</strong> da sie im Parlamentarismus die Gelegenheit<br />

erblickten, auf ihre Rechnung zu kommen.<br />

Andere wieder, wie unser unvergeßlicher W i l l i a m<br />

M o r r i s standen im stärksten Gegensatz zur<br />

damaligen terroristischen Aktion einzelner französischer<br />

Anarchisten; aber niemals wurde Morris<br />

ein Anhänger der parlamentarischen Aktion. Seine<br />

„K<strong>und</strong>e von Nirgendswo", diese herrliche Utopie<br />

des kommunistischen Anarchismus <strong>und</strong> seines Zukunftsideals,<br />

zeigt uns, was dieser herrliche Vorkämpfer<br />

des freien Kommunismus war; ursprünglich<br />

war das Buch als Protest gegenüber jenem Bellamys<br />

„Ein Rückblick aus dem Jahre 2000" gedacht <strong>und</strong><br />

richtete sich gegen dessen S t a a t s s o z i a l i s m u s , wie<br />

ihn die Sozialctemokratie vertritt.<br />

In den späteren 90 Jahren erlitt die Bewegung<br />

einen kleinen Rückschlag. Nach der Spaltung in der<br />

„Liga" wurde die systematische Propaganda des<br />

Anarchismus nur von kleineren Gruppen geleitet,<br />

die sich aus der „Liga" konstituierten.<br />

Aber mittlerweile war der parlamentarische<br />

Sozialismus in Deutschland <strong>und</strong> Frankreich bereits<br />

erprobt worden <strong>und</strong> hatte sich schon als totale<br />

Machtlosigkeit erwiesen. Und so kam es, daß in<br />

den ersten Jahren des neuen Jahrh<strong>und</strong>erts eine Anzahl<br />

jüngerer Elemente der englischen Sozialdemokratie,<br />

obwohl noch vollständig verwirrt durch<br />

marxistische Dogmen, aber dennoch durchdrungen<br />

vom aufrichtigen Geiste revolutionärer Erkenntnis<br />

<strong>und</strong> Überzeugung, sich von der „Sozialdemokratischen<br />

Föderation" losriß. Bald darauf erfolgte eine<br />

neue Spaltung, indem eine weitere Gruppe den<br />

ersten Sezessionisten folgte. So kommt es, daß wir<br />

gegenwärtig <strong>und</strong> in den letzten 3 bis 4 Jahren das<br />

eigenartige Schauspiel vor Augen haben, daß d r e i<br />

sozialdemokratische Fraktionen sich gegenseitig wie<br />

Tiger bekämpfen <strong>und</strong> jede für sich behauptet, das<br />

wahre, einzig wahre M<strong>und</strong>stück des seligen Marx<br />

zu sein. Die Leutchen wissen gar nicht, wie lächerlich<br />

all dies ist. Ihren Geistesprodukten nach zu<br />

schließen — die Verfasser kennen in den meisten<br />

Fällen keine andere Sprache als die englische -<br />

haben die Wortführer keiner einzigen Fraktion nichf<br />

einmal eine Ahnung von all den Untersuchungen<br />

<strong>und</strong> der kritischen Widerlegungsliteratur über den<br />

Marxismus, der ja heute Tür den Kenner nichts<br />

anderes als ein Wrack ist. Von all dem wissen<br />

diese „Theoretiker" nichts, sie reden über den<br />

Marxismus uud "dessen Thesen noch immer wie<br />

eingebildete <strong>und</strong> unwissende Fanatiker, Dogmatiker.<br />

Immerhin — es konnte nicht anders geschehen,<br />

als daß sie beeinflußt wurden von den moralischen<br />

Bankerotterklärungen der parlamentarischen Sozialdemokratie<br />

um sie herum. So waren sie gezwungen, die<br />

deutsche Partei strenge zu kritisieren. Und sie kamen<br />

schließlich so weit, daß sie den Parlamentarismus nur<br />

mehr t h e o r e t i s c h anerkannten, i h m a b e r j e d e<br />

M ö g l i c h k e i t , d i e ö k o n o m i s c h e R e v o l u -<br />

t i o n d e s S o z i a l i s m u s z u v e r w i r k l i c h e n ,<br />

a b s p r a c h e n . Für dieses letztere <strong>Ziel</strong> organisieren<br />

sie nun, im Gegensatz zur bestehenden Gewerkschaftsbewegung,<br />

die Hand in Hand mit der kleinbürgerlich-sozialdemokratischen<br />

„Unabhängigen Arbeiterpartei"<br />

geht (die sowohl im Wesen wie Taktik<br />

ganz unserer österreichischen Sozialdemokratie entspricht;<br />

Anm. d. Übersetzer), eine e i g e n e r e -<br />

v o l u t i o n ä r e Gewerkschaftsbewegung, deren <strong>Ziel</strong><br />

die Expropriation des Ausbeutertums <strong>und</strong> die Reorganisation<br />

der Produktion <strong>und</strong> Konsumtion auf<br />

gemeinschaftlicher Gr<strong>und</strong>lage sein soll. W i r s e h e n<br />

h i e r e i n a u s g e s p r o c h e n a n a r c h i s t i s c h e s<br />

P r i n z i p im Rahmen einer noch politisch-sozialistischen<br />

Bewegung aufkommen!<br />

Allein diese noch unentwickelten Köpfe, die<br />

sich aber wenigstens teilweise auf den richtigen<br />

<strong>Weg</strong> begeben haben, wären die ersten, davor zurückzuschrecken,<br />

Anarchisten genannt zu werden.<br />

Sie verstehen eben vom Anarchismus - obwohl<br />

sie eines seiner ökonomischen Prinzipien vertreten!<br />

— so viel wie ein Kalb vom Sonnenaufgang. Für<br />

sie ist der Anarchismus extremster Individualismus<br />

<strong>und</strong> der Kommunismus Staatskontrolle! Augenscheinlich<br />

ermangeln sie nicht des guten Willens,<br />

wohl aber auch nur der primitivsten Kenntnisse<br />

über politische Prinzipien, Freiheitsbegriffc u. dgl.<br />

Man höre: Als ein Argument gegen den Standpunkt<br />

des Anarchismus für absolute Freiheit gebrauchen<br />

sie d i e Logik: den Kapitalisten zu enteignen, sei<br />

ja schon eine Vergewaltigung des Prinzips der<br />

Freiheit; somit sei der Anarchismus eine Unmöglichkeit!<br />

Das sagen diejenigen, die fortwährend gegen<br />

die kapitalistische T y r a n n e i propagieren <strong>und</strong><br />

diese Tyrannei in dem Privateigentum wurzelnd<br />

sehen. Es ist doch klar, daß es so etwas wie Freiheit<br />

u n d Tyrannei sozial nicht auf einmal geben<br />

kann. Wenn ein Kapitalist dadurch die Arbeiter<br />

t y r a n n i s i e r e n kann, weil er die Produktionsmittel<br />

privateigentümlich besitzt, dann vergewaltigen<br />

wir doch nicht seine Freiheit, wenn wir ihn zwingen,<br />

von seinem eingebildeten Recht, die Menschen ausbeuten<br />

<strong>und</strong> tyrannisieren zu dürfen, Abstand zu<br />

nehmen. Es ist nicht die Freiheil, es ist das Prinzip<br />

der T y r a n n e i , das wir dadurch unterdrücken<br />

wollen.<br />

Es ist eine Tatsache, daß diese zweiseitigen<br />

Sozialisten die Worte, die sie gebrauchen, selbst<br />

noch nicht verstehen. Sie begreifen auch nicht, daß<br />

das Privateigentum des Kapitalisten n u r d a d u r c h<br />

möglich ist, daß dieser geschützt ist durch die Gewalt<br />

des Gesetzes, des Staates.<br />

Abgesehen von der Erkenntnis der Wertlosigkeit<br />

des Parlamentarismus für die ökonomische<br />

Revolution des Sozialismus, haben sich diese unzufriedenen<br />

Sozialdemokraten noch nicht allzu sehr<br />

nach vorwärts entwickelt. Aber wir müssen doch<br />

gestehen: a u c h d i e s e s W e n i g e ist ein ganz<br />

deutlich wahrnehmbarer Gewinn für uns Anarchisten,<br />

denn diese ihre Ketzerei durchbricht ganz von sich<br />

selbst alle anderen bürgerlich-demokratischen Prinzipien,<br />

die sie anderseits aufrecht zu erhalten versuchen.<br />

Sie geraten dadurch in einen heillosen<br />

Widerspruch mit sich selbst.<br />

Und noch etwas <strong>und</strong> dies ist am wichtigsten:<br />

Sie sind bereits gezwungen gewesen, sich geistig<br />

mit der Theorie des Anarchismus zu beschäftigen.<br />

Sind sie auch einseitig fanatisch, so sind sie<br />

doch immerhin auch ehrlich. Und dort, wo Ehrenhaftigkeit<br />

existiert, besteht für unsere Ideen stets<br />

die größte Hoffnung. <strong>Unser</strong>e Idee ist es denn auch,<br />

die sowohl in England, wie auch in allen Ländern<br />

einen w<strong>und</strong>erbaren Fortschritt zu verzeichnen hat.<br />

Sämtliche andere sozialen Bewegungen, insbesondere<br />

die Sozialdemokratie, scheinen dazu zu bestehen,<br />

durch ihre Betätigung die Wahrheit der<br />

Ideenwelt des kommunistischen Anarchismus zu<br />

bestätigen. (Aus „ F r e e d o m " . )


— 25 -<br />

anzuknüpfen, so daß sich schließlich die Vereinigung<br />

über die ganze Menschheit, über alles, was lebt, ausbreiten<br />

kann; er ist fähig, durch vereinte, gemeinsame<br />

Arbeit mit anderen mehr hervorzubringen, als er zum<br />

Leben braucht. Und aus alledem haben sich endlich<br />

die Gefühle der Zuneigung entwickelt. Darum ist der<br />

»Kampf um's Dasein« bei den Menschen vollkommen<br />

verschieden von dem, welcher bei den anderen<br />

Tieren besteht.<br />

Wie dem auch sei, so weiß man heute doch —<br />

<strong>und</strong> die Naturforscher der Neuzeit bringen uns immer<br />

neue Beweise dafür —, daß das Zusammenwirken in<br />

der Entwicklung der lebenden Welt eine sehr wichtige<br />

Rolle gespielt hat <strong>und</strong> noch spielt, welche nicht<br />

geahnt werden von denen, die — sehr unrichtigerweise<br />

— die Macht der Bourgeoisie durch die Entwicklungstheorie<br />

Darwins rechtfertigen wollten. Der<br />

Unterschied zwischen dem menschlichen <strong>und</strong> dem<br />

tierischen Kampf ist ebenso groß wie zwischen dem<br />

Menschen <strong>und</strong> den übrigen Tieren.<br />

Die übrigen Tiere kämpfen entweder einzeln,<br />

oder in den meisten Fällen in kleinen, zeitweiligen<br />

oder beständigen Gruppen gegen die ganze Natur,<br />

einschließlich ihrer eigenen Artgenossen. Sogar bei<br />

den geselligsten Tieren, wie z. B. den Ameisen,<br />

Bienen usw. sind die Individuen nur innerhalb derselben<br />

Gruppe — desselben Ameisenhaufens oder<br />

Bienenstockes — solidarisch miteinander, aber sie sind<br />

gleichgiltig (wenn nicht feindlich) gegen die anderen<br />

Gruppen ihrer Art. Der menschliche Kampf hat hingegen<br />

im Gegenteil das Bestreben, die Vereinigung<br />

»ANARCHIE« von Enriko Malatesta. 4


- 26 -<br />

der Menschen immer mehr auszubreiten, ihre Interessen<br />

solidarisch zu machen, das Gefühl der Liebe<br />

für alle Menschen in einem jeden Menschen zu entwickeln,<br />

die Naturkräfte durch die Menschheit <strong>und</strong><br />

für die Menschheit zu besiegen <strong>und</strong> zu beherrschen.<br />

Jeder unmittelbare Kampf, welcher den Zweck hat,<br />

unabhängig von anderen Menschen oder gegen dieselben,<br />

für einen Menschen Vorteile zu erringen,<br />

widerspricht der gesellschaftlichen Natur des heutigen<br />

Menschen <strong>und</strong> zieht ihn zum tierischen Zustand hinab.<br />

Die Solidarität, das heißt die Harmonie der Interessen<br />

<strong>und</strong> Gefühle, das Mitwirken eines jeden am<br />

Wohle von Allen, <strong>und</strong> das Zusammenwirken aller<br />

zum Wohle eines jeden Einzelnen — dies ist die einzige<br />

Art, auf die der Mensch seiner Natur gemäß<br />

leben <strong>und</strong> den höchsten Grad der Vollkommenheit<br />

<strong>und</strong> des Wohlstandes erreichen kann. Dies ist das<br />

<strong>Ziel</strong>, das die menschliche Entwicklung anstrebt; dies<br />

ist das höchste Prinzip, das alle heutigen Gegensätze<br />

löst, welche sonst unlösbar sind, <strong>und</strong> welches bewirkt,<br />

daß die Freiheit eines jeden in der Freiheit der anderen<br />

n i c h t i h r e G r e n z e , s o n d e r n i h r e Erg<br />

ä n z u n g , ihre notwendige Lebensbedingung findet.<br />

»Kein einziger Mensch« — sagt Michael Bakunin<br />

— »kann seine eigene Menschlichkeit erkennen<br />

<strong>und</strong> verwirklichen, wenn er sie nicht in den anderen<br />

erkennt <strong>und</strong> den andern zu deren Verwirklichung<br />

hilft. Kein Mensch kann sich befreien, wenn er nicht<br />

zugleich alle Menschen, die ihn umgeben, befreit.<br />

M e i n e Freiheit ist die Freiheit a l l e r , da ich nur<br />

dann wirklich, nicht nur in Gedanken, sondern auch


— 27 —<br />

tatsächlich frei bin, wenn meine Freiheit <strong>und</strong> mein<br />

Recht durch die Freiheit <strong>und</strong> das Recht aller mir<br />

gleichgestellten Menschen befestigt ist.<br />

Die Lage der übrigen Menschen ist für mich<br />

von größter Wichtigkeit, denn wie immer unabhängig<br />

mir auch meine gesellschaftliche Stellung scheinen<br />

mag, wenn ich auch Papst, oder Zar oder König oder<br />

Minister bin, so bin ich doch immer das Produkt derjenigen<br />

Menschen, die zu allerunterst stehen. Wenn<br />

dieselben unwissend, elend, versklavt sind, so ist<br />

mein Leben durch ihre Unwissenheit, durch ihr Elend,<br />

durch ihre Sklaverei bedingt. Ich, der aufgeklärte <strong>und</strong><br />

intelligente Mensch, bin dumm durch ihre Dummheit;<br />

ich, der Tapfere, bin ein Sklave durch ihre<br />

Sklaverei; ich, der Reiche, zittere vor ihrem Elend;<br />

ich, der Privilegierte, erbleiche vor ihrer Gerechtigkeit.<br />

Ich, der ich frei sein will, kann es nicht sein,<br />

denn um mich herum wollen noch nicht alle Menschen<br />

frei sein, <strong>und</strong> indem sie das nicht wollen,<br />

werden sie in meinen Händen zu Werkzeugen der<br />

Unterdrückung.«<br />

Die S o l i d a r i t ä t ist also der Zustand, in<br />

welchem der Mensch die höchste Stufe der Sicherheit<br />

<strong>und</strong> des Wohlstandes erreicht; also selbst der<br />

Egoismus, das heißt, die ausschließliche Berücksichtigung<br />

der eigenen Interessen, treibt den Menschen<br />

<strong>und</strong> die Gesellschaft zur Solidarität. Oder um uns<br />

klarer auszudrücken: Egoismus <strong>und</strong> Altruismus (die<br />

Berücksichtigung der Interessen anderer) verschmelzen<br />

zu einem einzigen Gefühl, so wie sich die Interessen<br />

der einzelnen Menschen mit den Interessen der


- 28 —<br />

Gesellschaft zu einem einzigen Interesse verschmelzen.<br />

Aber die Menschen konnten nicht mit einem<br />

Schritt jenen Zustand erreichen, in welchem anstelle<br />

des Kampfes gegen einander die Vereinigung <strong>und</strong><br />

Solidarität tritt. Die Vorteile, welche die Vereinigung<br />

<strong>und</strong> die daraus folgende Arbeitsteilung mit sich<br />

brachten, lenkten den Menschen auf die Bahn der<br />

Solidarität; aber dieser Entwicklung stellte sich e i n<br />

Hindernis entgegen, das die Richtung derselben veränderte<br />

<strong>und</strong> sie noch heute ihr <strong>Ziel</strong> verfehlen läßt.<br />

Der Mensch entdeckte, daß er bis zu einem gewissen<br />

Grade <strong>und</strong> zur Befriedigung der allernotwendigsten<br />

materiellen Bedürfnisse der einzigen, die er damals<br />

kannte — sich die Vorteile des Zusammenwirkens<br />

sichern kann, indem er andere Menschen<br />

sich u n t e r w i r f t , anstatt sich mit ihnen zu vereinigen.<br />

Und da seine Intelligenz noch sehr unentwickelt<br />

war, verfiel er darauf, die Schwächeren seiner<br />

Rasse zu zwingen, für ihn zu arbeiten ; er zog das<br />

Herrschen dem gemeinschaftlichen Zusammenwirken<br />

vor. Vielleicht war es sogar durch die Ausbeutung<br />

der Besiegten, daß der Mensch zum erstenmale dessen<br />

bewußt wurde, welche Vorteile der Mensch aus- der<br />

Hilfe anderer Menschen ziehen kann.<br />

So führte die Erkenntnis von der Nützlichkeit<br />

des Zusammenwirkens nicht zum Triumph der Solidarität,<br />

sondern befestigte die Institutionen des Privateigentumes<br />

<strong>und</strong> der Regierung, das heißt der Ausbeutung<br />

der Arbeit Aller durch ein kleines Häufchen<br />

privilegierter Menschen. Die Vereinigung, das Zu-


— 29 —<br />

sammenwirken besteht auch so, denn ohne dieselben<br />

ist das menschliche Leben nicht möglich. Aber es ist<br />

ein Zusammenwirken, welches einige Menschen den<br />

übrigen aufgezwungen <strong>und</strong> so geregelt haben, daß<br />

es nur ihren eigenen Interessen dient.<br />

Daraus entspringt der große Widerspruch in der<br />

Geschichte der Menschheit. Einerseits sind die Menschen<br />

bestrebt, sich zu vereinigen <strong>und</strong> zu verbrüdern,<br />

um die Außenwelt zu erobern <strong>und</strong> ihren Bedürfnissen<br />

anzupassen, <strong>und</strong> um ihren Wunsch nach fre<strong>und</strong>schaftlichem<br />

Zusammenleben zu befriedigen. Andererseits<br />

haben sie die Tendenz, sich in verschiedene <strong>und</strong><br />

feindliche Gnlppen zu spalten, je nachdem ihre<br />

geographischen <strong>und</strong> ethnographischen Verhältnisse<br />

<strong>und</strong> ihre wirtschaftliche Stellung verschieden sind, je<br />

nachdem es Menschen gibt, denen es gelungen ist,<br />

für sich Vorteile zu erringen, welche sie verteidigen<br />

<strong>und</strong> vermehren wollen; oder solche, die sich irgendwelche<br />

Vorrechte zu erkämpfen, oder die unter der<br />

Ungerechtigkeit <strong>und</strong> den Vorrechten anderer, leiden,<br />

<strong>und</strong> sich von denselben zu befreien trachten.<br />

Der Gr<strong>und</strong>satz »Jeder für sich selbst«, welcher<br />

den Krieg Aller gegen Alle bedeutet, hat im Laufe<br />

der Geschichte den Kampf der Menschen gegen die<br />

Unbilden der Natur, welcher allein den Wohlstand<br />

der Menschheit sichern kann, gelähmt, verwirrt <strong>und</strong><br />

irregeführt, denn derselbe kann nur so mit Erfolg geführt<br />

werden, wenn er sich auf den Gr<strong>und</strong>satz aufbaut:<br />

»Alle für j e d e n u n d j e d e r für Alle!«<br />

Die Menschheit hat ungeheuer viel unter der<br />

Herrschaft <strong>und</strong> der Ausbeutung gelitten, welche sich


— 30 -<br />

in die menschliche Vereinigung eingeschlichen haben.<br />

Aber trotz der unmenschlichen Bedrückung, die die<br />

Massen erdulden mußten, trotz dem Elend, den<br />

Lastern, der Erniedrigung, welche die Armut <strong>und</strong> die<br />

Sklaverei bei den Sklaven sowohl als bei ihren Herren<br />

hervorbringen, trotz dem aufgehäuften Hasse, den<br />

mörderischen Kriegen, den künstlich erzeugten Interessengegensätzen,<br />

lebte der Geslschaftstrieb fort<br />

<strong>und</strong> entwickelte sich weiter. Das Zusammenwirken ist<br />

die unumgänglich notwendige Vorbedingung dazu,<br />

daß der Mensch sich mit Erfolg in der Natur behaupten<br />

kann, <strong>und</strong> so bleibt dasselbe doch fortwährend<br />

die Kraft, welche die Menschen zusammenhält<br />

<strong>und</strong> das Gefühl der Fre<strong>und</strong>schaft in ihnen entwickelt.<br />

Die Bedrückung der Massen selbst bewirkte<br />

die Verbrüderung der Unterdrückten. Nur durch mehr<br />

oder minder ausgedehnte Solidarität unter den Unterdrückten<br />

haben dieselben die Bedrückung aushalten<br />

können, <strong>und</strong> nur so konnte die Menschheit den<br />

Keimen des Todes, welche sich in ihr festgesetzt<br />

hatten, widerstehen.<br />

Der riesige Aufschwung der Produktion, die<br />

vermehrten Bedürfnisse, die nur durch das Zusammenwirken<br />

von vielen Menschen aller Länder befriedigt<br />

werden können, die Verkehrsmittel, die Reisen,<br />

Wissenschaft, Kunst <strong>und</strong> Handel -- alles verbindet<br />

die Menschheit immer mehr zu einem einzigen<br />

Ganzen, dessen Teile miteinander solidarisch sind<br />

<strong>und</strong> den Raum <strong>und</strong> die Freiheit zu ihrer Entfaltung<br />

nur im Wohle der anderen Teile <strong>und</strong> des Ganzen<br />

finden.


— 31 —<br />

Bei den gegenwärtigen Zuständen der Gesellschaft<br />

ist diese umfassende Solidarität, die alle Menschen<br />

verbindet, zum größten Teile unbewußt, da sie<br />

von sich selbst aus der Mitte der sich befehdenden,<br />

persönlichen Interessen emporwächst, während sich<br />

die Menschen wenig oder gar nicht mit den allgemeinen<br />

Interessen beschäftigen. Dies ist der beste<br />

Beweis dafür, daß die Solidarität das natürliche Gesetz<br />

der Menschheit ist, sich trotz allen Gegensätzen die<br />

die Gesellschaftsordnung geschaffen hat, geltend macht.<br />

Auch die unterdrückten Massen, die sich nie<br />

ganz in ihre Sklaverei <strong>und</strong> in ihr Elend gef<strong>und</strong>en<br />

haben, <strong>und</strong> die heute mehr als je nach Gerechtigkeit,<br />

Freiheit <strong>und</strong> Wohlstand hungern, fangen an zu verstehen,<br />

daß sie sich nur durch das Vereinigen, durch<br />

die Solidarität mit allen Unterdrückten <strong>und</strong> Ausgebeuteten<br />

der ganzen Welt befreien können. Sie begreifen<br />

endlich, daß die unumgängliche Bedingung<br />

ihrer Befreiung der Besitz der Produktionsmittel, des<br />

Bodens <strong>und</strong> der Arbeitswerkzeuge ist, das heißt: die<br />

A b s c h a f f u n g d e s P r i v a t e i g e n t u m s . Die<br />

Wissenschaft, die Beobachtung der gesellschaftlichen<br />

Tatsachen zeigt, daß diese Abschaffung für die Privilegierten<br />

selbst von größtem Nutzen wäre, wenn<br />

sie sich nur vom Geist der. Herrschaft frei machen,<br />

<strong>und</strong> mit allen übrigen an der gemeinsamen Arbeit<br />

zum Wohle aller teilnehmen würden.<br />

Nun denn: w e n n eines Tages die unterdrückten<br />

Massen sich weigern w ü r d e n für andere zu arbeiten,<br />

w e n n sie den Besitzern den Boden <strong>und</strong> die Arbeitswerkzeuge<br />

wegnehmen w ü r d e n , um dieselben auf


— 32<br />

eigene Faust <strong>und</strong> zu eigenem Nutzen, das heißt: zum<br />

Wohle aller, zu gebrauchen; w e n n sie sich nicht mehr<br />

der Herrschaft fügen w ü r d e n , weder der rohen Gewalt<br />

noch den wirtschaftlichen Vorrechten; w e n n die<br />

Brüderlichkeit zwischen den Völkern, das Gefühl der<br />

menschlichen Solidarität, verstärkt durch die gemeinsamen<br />

Interessen, den Kriegen <strong>und</strong> Eroberungen ein<br />

Ende machen w ü r d e n — w a s w ä r e d a n n d e r<br />

S i n n u n d d e r Z w e c k e i n e r R e g i e r u n g ?<br />

Wenn das Privateigentum abgeschafft ist, müßte<br />

die Regierung, die dessen Verteidigerin ist, unvermeidlich<br />

verschwinden. Wenn sie fortleben würde,<br />

so wäre sie immerfort bestrebt, unter irgend einer<br />

Form eine neue privilegierte <strong>und</strong> unterdrückende<br />

Klasse zu bilden.<br />

Regierungslosigkeit bedeutet n i c h t dieZerstörung<br />

des gesellschaftlichen Zusammenhanges <strong>und</strong> kann das<br />

nicht bedeuten. Gerade im Gegenteil: das Zusammenwirken,<br />

welches heute erzwungen ist <strong>und</strong> nur dem<br />

Vorteile von einigen dient, wird frei, freiwillig <strong>und</strong><br />

unmittelbar sein, <strong>und</strong> dem Wohle aller dienen <strong>und</strong><br />

dadurch umso kräftiger <strong>und</strong> wirksamer werden.<br />

Der Gesellschaftstrieb, das Gefühl der Solidarität<br />

wird sich bis zum höchsten Grade entfalten: jeder<br />

Mensch wird alles, was er nur kann, für das Wohl<br />

der anderen Menschen tun, um seinen Fre<strong>und</strong>schaftsgefühlen<br />

<strong>und</strong> seinen richtig verstandenen Interessen<br />

zu folgen.<br />

Aus dem freien Zusammenwirken aller, durch<br />

die freiwilligen Verbindungen der Menschen je nach<br />

ihren Bedürfnissen <strong>und</strong> Sympathien, von unten nach


Wenn ihr euch zur Tat<br />

entschließt.*<br />

Wenn ihr euch zur Tat entschließt.<br />

Wenn ihr eurem Beschluß unzweideutigen<br />

Ausdruck gebt. Wenn ihr beweist, daß es<br />

gefährlich ist, euch entgegenzutreten. Dann<br />

wird das alte System verschwinden. Dann<br />

werden die Träume erfüllt. Dann wird die<br />

Ungerechtigkeit Abbitte tun <strong>und</strong> entsagen.<br />

Dann, erst dann. Solange ihr euer selbst<br />

unsicher seid. Solange ihr nicht ganz sicher<br />

wißt, was geschehen soll. Nicht ganz sicher,<br />

wann etwas geschehen soll. Nicht ganz<br />

sicher, ob es nicht besser wäre, die Dinge<br />

zu lassen wie sie sind, als eine Veränderung<br />

zu wagen. Nicht ganz sicher, ob die Ungerechtigkeit<br />

auch so ungerecht sei, wie<br />

ihr meintet, oder ob die Gerechtigkeit auch<br />

so gerecht sei, wie ihr glaubtet. Solange<br />

wird jeder Mensch fortfahren gegen jeden<br />

andern zu sein, statt daß jeder für den<br />

anderen wäre. Einen Mittelweg gibt es<br />

nicht. Dies ist das Gesetz des Lebens. Das<br />

Gesetz eures Willens, das nur durch ein<br />

anderes, das ihr vorbereiten <strong>und</strong> einführen<br />

müßt, ersetzt werden kann. Die ganze Welt<br />

des Unrechts wartet unterdessen geduldig auf<br />

eure persönliche Welt des Rechts. Harrt.<br />

Lauscht auf euren Befehl. Erwartet sonst<br />

keine Befehle. Denn sie- weiß, daß sie<br />

keinem andern zu folgen braucht.<br />

Ihr, die Arbeiter. Ihr, die Schöpfer. Ihr,<br />

die Erbauer. Ihr hofft, daß irgend ein<br />

Mensch oder irgend eine Macht außer euch<br />

die soziale Gerechtigkeit herstellen werde?<br />

Ihr seht euch nach W<strong>und</strong>ern um, nach<br />

Wohltätern, nach dem guten Menschen,<br />

nach der guten Partei? Hört nur auf. Verschwendet<br />

keine Sehkraft mehr. Alles, wonach<br />

ihr euch umschaut, liegt in euch selbst.<br />

Alle Gerechtigkeit. Alle W<strong>und</strong>er. Alles<br />

Wohltun. Ihr werdet eure eignen guten<br />

Menschen sein. Wenn ihr acht St<strong>und</strong>en<br />

wollt, werdet ihr sie bekommen. Sie werden<br />

euch n i c h t von andern geschenkt.<br />

Ihr werdet sie e u c h s e l b s t s c h e n k e n .<br />

Wenn ihr auf der Einführung des genossenschaftlichen<br />

Systems besteht, so wird es<br />

kommen. Niemand wird es euch auf dem<br />

Präsentierteller bringen. Es wird euch nicht<br />

als Legat testamentarisch vermacht. Es wird<br />

aus eurem eigenen Herzen hervorgehen.<br />

Aus eurer eigenen Einsicht. A u s e u r e m<br />

e i g e n e n W i l l e n .<br />

Die Welt ist euer, ihr, die ihr die<br />

Arbeiter der Welt seid, ihr, die ihr das<br />

Gut <strong>und</strong> Bös der Welt verbessert oder<br />

verschlimmert. Wann werdet ihr eure Ansprüche<br />

erheben? Die Klassen werden euer<br />

Recht nicht für euch vertreten. Ihr müßt es<br />

selbst tun. W e n n e u e r W i l l e e n d l i c h<br />

zum W o l l e n g e l a n g t ist, w i r d e u e r<br />

Wille g e s c h e h e n . Ich meine nicht eine<br />

kleine Anzahl von euch; sondern euch in<br />

der Gesamtheit. Die Gesamtheit von euch,<br />

die ihr arbeitet. Die Gesamtheit von euch,<br />

die ihr aufbaut. Die Gesamtheit von euch,<br />

die ihr die reinlichen wie die schmutzigen<br />

Arbeiten der Welt tut. Die ihr den Gefahren<br />

der Welt besonders ausgesetzt seid. Die<br />

ihr für die Welt lebt <strong>und</strong> für die Welt<br />

sterbt. Das Feld liegt vor euch ausgebreitet.<br />

Werdet ihr einten? Oder werdet ihr immer<br />

ohne Widerspruch zuschauen, wie von<br />

fremden Händen geerntet wird? Die weiten<br />

Äcker sind euer. Die versperrte Aussicht<br />

bietet die Fülle, der ihr die ersten <strong>und</strong> die<br />

letzten Opfer treuen Dienstes dargebracht<br />

habt. Ich sage nicht: Nehmt sie euch mit<br />

Gewalt. Ich sage: Laßt sie euch nicht mit<br />

Gewalt wegnehmen. Ich behaupte nicht,<br />

daß ihr ein Recht hättet, sie für einige<br />

* Entnommen aus „ W e c k r u f e ; k o m m u -<br />

n i s t i s c h e G e s ä n g e " . Verlag R. Piper & Co.,<br />

München 1907.<br />

wenige zu nehmen. Ihr habt nur ein Recht.<br />

Das Recht, sie für alle zu nehmen.<br />

Es ist nicht die Sache des Gravitationsgesetzes,<br />

zu handeln. Noch die Sache des<br />

Gesetzes von der Fortdauer des Tauglichsten.<br />

Noch die Sache von Wohltätern, oder<br />

Kirchen, oder Universitäten, oder Armenkomitees,<br />

oder Vermittlern <strong>und</strong> Beschützern<br />

irgend welcher Art. Eure Sache ist es zu<br />

handeln. Ihr seid die Gravitation. Ihr seid<br />

die Tauglichen. Ihr werdet so lange noch<br />

weiter denken <strong>und</strong> weiter straucheln <strong>und</strong><br />

weiter verzweifeln <strong>und</strong> weiter fluchen, bis<br />

ihr endlich bereit seid. Dann werdet ihr<br />

einen letzten Kriegsrat abhalten. Denn letzten<br />

Kriegsrat, der zugleich die erste Friedensversammlung<br />

sein wird. Dann werdet ihr<br />

eure Befehle erlassen. Befehle, gebietend<br />

durch ihr Gewicht <strong>und</strong> ihren Inhalt. Kein<br />

Mensch, keine Macht wird daran denken,<br />

den Gehorsam zu weigern. Ungehorsam<br />

wird den Tod bedeuten. Es werden Befehle<br />

der Liebe sein. Befehle der Kommune.<br />

Heute gibt es Mein <strong>und</strong> Dein. Und es<br />

herrscht Krieg. Morgen gibt es kein Mein<br />

<strong>und</strong> Dein mehr. Und es herrscht Friede.<br />

Die Welt wird nicht mehr über Besitzrechte<br />

streiten. Sie wird das Besitzrecht- zerstören.<br />

Die Kasten waren imstande, Kasten zu<br />

bleiben, weil ihr unfähig wart, eine Klasse<br />

zu werden. Ihr Arbeiter, die herrschenden<br />

Diener, die dienenden Herrscher der brüderlichen<br />

Erde. Während ihr wartend euch<br />

sorgtet <strong>und</strong> fragtet, was ihr tun dürftet <strong>und</strong><br />

wolltet, haben die Kasten die formellen<br />

Rechte der Auserwählten eifrig befestigt.<br />

Doch das Recht des Widerrufs war stets<br />

in euren Händen. Jederzeit hättet ihr der<br />

Ausbeutung eures Erbes ein <strong>Ziel</strong> setzen<br />

können. Aber ihr wart unentschlossen. Ihr<br />

wußtet <strong>und</strong> wagtet nur halb. Die ewigen<br />

Gesetze sind bereit, euch zu helfen. Sie<br />

werden ihre ganze Macht für euch einlegen.<br />

Ihr braucht nur zu verlangen. Ihr braucht<br />

euch nur zu entschließen. Nichts kann euch<br />

entgegenstehen, wenn ihr einmal selbst für<br />

euch einsteht. Alles ist für euch bereit.<br />

Fremde Unterstützung ist nicht nötig. Mit<br />

euch selbst, mit eurem Innern habt ihr zu<br />

schaffen. Mit eurem eigenen Zweifel, eurer<br />

eigenen Energie habt ihr zu kämpfen. Es<br />

gibt nirgends eine feindliche Gewalt, deren<br />

Wesen auch nur den Rand eures Wollens<br />

zu beschatten vermöchte. Wenn ihr, die<br />

Arbeiter, euch zur Tat entschließt. Wenn<br />

ihr soziale Gerechtigkeit wollt; Gemeinschaften<br />

statt Kasten <strong>und</strong> Klassen. Wenn ihr<br />

die Forderung stellt, daß ihr nichts besitzt,<br />

aber das Recht habt, alles zu gebrauchen.<br />

Wenn ihr den Gr<strong>und</strong>besitz einzieht <strong>und</strong><br />

die Läden <strong>und</strong> alles Eigentum in jeglicher<br />

Form. Zieht alles ein, nachdem es so lange<br />

ausstand. Zieht es an euch. Wenn ihr, die<br />

herrschenden Diener, die dienenden Herrscher,<br />

euch zur Tat entschließt.<br />

Horace Träubel.<br />

Offizielles Protokoll<br />

des Internationalen Antimilitaristischen<br />

Kongresses<br />

gehalten zu Amsterdam, am 30.— 31. August<br />

1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />

des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />

m e r h o r n .<br />

(Fortsetzung.)<br />

C r o i s e t (Holland) sagt, es wäre sehr<br />

ungeziemend, diesen Antrag überhaupt zum<br />

festen Beschlüsse zu erheben. Sollen wir<br />

etwa wie ein kirchliches oder parteipolitisches<br />

Konzil dekretieren: Die Antimilitaristen haben<br />

dies oder das zu tun? Als Anarchisten<br />

können wir wohl etwas als wünschenswert<br />

hinstellen, wir können den Wunsch äußern,<br />

daß etwas so oder so geschehen möge: aber<br />

darüber Vorschriften zu erteilen, wie etwas<br />

geschehen soll oder muß, das geht nicht. —<br />

Er hält unsere Losung: »Keinen Mann <strong>und</strong><br />

keinen Heller für den Militarismus« für genügend.<br />

E m m a G o l d m a n n reicht den folgenden<br />

Antrag ein:<br />

Der Internationale Antimilitaristische<br />

Kongreß in Amsterdam empfiehlt den<br />

Arbeitern, die die antimilitaristische Idee<br />

fördern wollen, bei dem Bau von Kriegsschiffen<br />

<strong>und</strong> bei der Herstellung von<br />

Waffen sich tunlichst der Arbeit zu enthalten,<br />

oder — wenn die Umstände dafür<br />

nicht geeignet sind — die Herstellung<br />

von Werkzeugen für den Massenmord<br />

durch alle Kampfmittel der syndikalistischen<br />

Bewegung, u. a., durch passive<br />

Resistenz nach Kräften zu hintertreiben.«<br />

K o e t h e k spricht gegen den Antrag,<br />

indem er sagt: Wenn man aus prinzipiellen<br />

Rücksichten keine militaristische Arbeit<br />

verrichten darf, dann kann der Anarchist<br />

i n d e r h e u t i g e n G e s e l l s c h a f t keine<br />

einzige Arbeit verrichten. Was soll zum Beispiel<br />

ein Diamantschleifei tun? Alle müssen<br />

Arbeit verrichten, die ihren Prinzipien zuwider<br />

ist. Ich glaube nicht, daß man die Arbeiter dazu<br />

wird bewegen können, ihrem Handwerk<br />

zu entsagen, wenn man dies durch eine<br />

Resolution verlangt. Und — sollte dies<br />

auch einmal der Fall sein — so werden<br />

doch die revolutionär gesinnten Arbeiter in<br />

den Werkstätten des Kapitalismus nützlicher<br />

sein als diejenigen, welche draußen stehen.<br />

Einer wird nicht in die kapitalistische Fabrik<br />

gehen dürfen, ein anderer nicht in die<br />

Arsenale, ein dritter nicht in die Kaserne.<br />

Hat man sie aber dort, so werden sie auf<br />

unserer Seite stehen <strong>und</strong> nicht unsere<br />

Feinde sein. Darum schlägt er vor, wie<br />

Emma Goldmann es zuerst meinte, so auf<br />

die Arbeiter einzuwirken, daß sie immer<br />

den sozialen Kampf <strong>und</strong> die definitive Befreiung<br />

vor den Augen haben.<br />

D e u t s c h l a n d will noch folgendes<br />

hinzufügen:<br />

Alle Arbeiter, die militärische Kinderspielzeuge<br />

anfertigen, müssen nach der<br />

Ansicht der deutschen Genossen diese<br />

einstellen, weil sie durch ihre Produkte<br />

den Geist der Kinder patriotisch beeinflussen.<br />

S c h w e d e n kann prinzipiell seine Resolution<br />

nicht zurücknehmen, schließt sich<br />

aber praktisch der Goldmannschen an.<br />

C r o i s e t beharrt auf seinem Standpunkt.<br />

Er hält es für besser, nicht abzustimmen<br />

<strong>und</strong> keine Resolution anzunehmen.<br />

Die Versammlung pflichtet fast einstimmig<br />

dieser Ansicht bei. Schweden <strong>und</strong><br />

Koethek protestieren gegen ein derartiges<br />

Verfahren.<br />

Es entwickelt sich nun auch eine Diskussion<br />

über eine aus dem Ausland nach<br />

Deutschland eingeschmuggelte Broschüre.<br />

E n s c h e d e berichtet, daß einer der<br />

deutschen Kameraden eine schwere Strafe<br />

bekommen hat wegen der von einem Einzelnen<br />

im Ausland ausgehenden Broschüre<br />

In dieser Schrift kämen Kraftausdrücke vor,<br />

die überflüssig sind <strong>und</strong> in Deutschland<br />

schwer gestraft werden.<br />

F r a n k r e i c h sagt, das mag schon<br />

wahr sein. Aber auch wegen der Broschüre<br />

»Crosse en l'air« seien mehrere verurteilt<br />

worden; die Kolporteure verteilen sie dennoch.<br />

K l e i j n teilt mit, daß diese Broschüre<br />

weder mit dem nationalen noch mit dem<br />

internationalen Komitee der »Antim., Inter.,<br />

A.« in Verbindung steht.<br />

L a n s i n k sagt, das internationale Komitee<br />

müsse in diesen Dingen sehr vorsichtig<br />

sein <strong>und</strong> dürfe sich in die Unternehmungen<br />

Einzelner nicht einlassen. Auf<br />

jeden Fall habe man seht unvorsichtig<br />

gehandelt . . .


Domela Nieuwenhuis hält nun sein<br />

im Auszug wiedergegebenes, nachfolgendes<br />

Referat über den<br />

P l a n e i n e r a n t i m i l i t a r i s t i s c h e n<br />

P r o p a g a n d a .<br />

Kurz vor der Eroberung von Port-<br />

Arthur durch die Japaner im russisch-japanesischen<br />

Krieg richtete der norwegische<br />

Dichter B j ö r n s o n einen Aufruf an die<br />

europäischen Mächte, um dem orientalischen<br />

Krieg, dieser Massenschlächterei ein Ende<br />

zu machen.<br />

Aber wie?<br />

Er bat die Bankiers <strong>und</strong> Finanzleute,<br />

den kriegführenden Mächten kein Geld<br />

mehr zu leihen, denn solange dieselben<br />

Geld erhalten können, würden sie den<br />

Krieg fortsetzen, weil keine daraus als besiegt<br />

hervorgehen wolle.<br />

Er bat auch die Kaufleute <strong>und</strong> Fabriksbesitzer,<br />

den kämpfenden Armeen weder<br />

Waffen noch Munition noch Lebensmittel<br />

zu liefern, denn wenn man die Armeen<br />

von der Außenwelt abschließt, so daß sie<br />

nichts mehr von anderen Ländern erhalten,<br />

so muß der Krieg bald aufhören.<br />

Fortsetzung folgt.<br />

Die Demagogen an der Arbeit.<br />

Wir leben in einer Zeit der sozialen<br />

Massennot <strong>und</strong> selbst dem perfidesten Demagogen<br />

der herrschenden Klasse könnte<br />

es nicht einfallen, ein Loblied auf die<br />

gegenwärtige Konjunktur anzustimmen. Die<br />

Lebensmittelpreise steigen, eine industrielle<br />

Krise wirft ihre Schatten voraus, die Löhne<br />

sinken oder sie bleiben stabil oder sie<br />

steigen in so lächerlich geringem Maße,<br />

daß nur derjenige, der aus demagogisch<br />

eigennützigen Motiven heraus den wahren<br />

Tatbestand zu verschleiern wünscht, von<br />

einer Besserung der sozialen Verhältnisse<br />

der Massen schwätzen kann.<br />

Was wäre in einer solchen Zeit die<br />

klar vorgezeichnete Aufgabe des Sozialismus?<br />

Einfach die: einzugreifen in die Verhältnisse<br />

<strong>und</strong> durch die sozial geführten<br />

Aktionen der gewerkschaftlich geschulten<br />

Massen die Lebenslage des Proletariats zu<br />

erhöhen, kurz allen jenen wirtschaftlichen<br />

Hohn- <strong>und</strong> Spott-Tendenzen des Kapitalismus<br />

vorzubeugen, richtiger: entgegenzuwirken,<br />

die den Arbeiter eben deshalb zu<br />

Not <strong>und</strong> Elend verdammen, w e i l er zu<br />

viel produzierte, weil die kapitalistische<br />

Klasse nicht mehr weiß, wohin mit all dem<br />

erzeugten Reichtum, um kaufkräftige Konsumenten<br />

zu finden. Das ist ja gerade die<br />

alleinige <strong>und</strong> historische Bedeutung der<br />

sozialistischen Bewegung, daß sie die Massen<br />

des arbeitenden Volkes loslösen sollte von<br />

all den trügerischen Gaukeleien politischer,<br />

nationaler, staatlich-reformistischer Bestrebungen,<br />

ihnen stets das eine vor Augen<br />

halten muß: Proletarier, deine soziale Befreiung<br />

ist in der Eroberung des Brotes<br />

gelegen, das Proletariat hat seine wirtschaftliche<br />

Befreiung durchzuführen, <strong>und</strong><br />

aus ihr folgt die politische Freiheit; <strong>und</strong><br />

selbst, als Klasse, muß dieser Kampf geführt<br />

werden.<br />

So stellt der Sozialismus das Problem.<br />

Leider aber identifiziert sich mit dem Sozialismus<br />

nicht n u r diejenige Gruppierung<br />

im revolutionären Kampfe, die wirklich all<br />

das individuell wie auch kollektiv befreiende<br />

des Sozialismus in sich aufnimmt <strong>und</strong> verkörpert,<br />

jene der k o m m u n i s t i s c h e n<br />

A n a r c h i s t e n , sondern auch diejenige<br />

Partei, die sowohl in ihrer Zusammensetzung,<br />

wie in ihrem theoretischen Streben<br />

nichts anderes ist als der linke Flügel der<br />

bürgerlichen Demokratie: d i e S o z i a l -<br />

d e m o k r a t i e . Diese Partei identifiziert<br />

sich mit dem Staatssozialismus, den sie<br />

durch die parlamentarische Betätigung zur<br />

Herrschaft zu bringen wünscht, indem sie<br />

die Eroberung der Staatsmacht anstrebt.<br />

Nur als linker Flügel der Demokratie<br />

ist es begreiflich, daß die Sozialdemokratie<br />

in ihrem ganzen taktischen Auftreten von<br />

der Vertretung wirklich sozialistischer <strong>Ziel</strong>e<br />

vollständig abgekommen ist <strong>und</strong> sich auf<br />

Interessensphären beschränkt, die nur für<br />

den radikalen Teil des Bürgertums, nicht<br />

aber für die sozialen <strong>Ziel</strong>e des Proletariats<br />

von Wert sind; als dieser linke Flügel ist<br />

sie, ihr Wesen treibend auf dem Korruptionsgebiete<br />

der Politik, ganz ebenso<br />

geworden, wie der rechte Flügel des<br />

Bürgertumes: heuchlerisch <strong>und</strong> demagogisch<br />

— <strong>und</strong> verräterisch.<br />

Anstatt in dieser Zeit der sozialen Not<br />

die Massen für den gewerkschaftlichen<br />

Kampf des Generalstreiks zu G u n s t e n<br />

w i r t s c h a f t l i c h e r Z w e c k e zu organisieren<br />

<strong>und</strong> anzufeuern, begeistert die Sozialdemokratie<br />

die Massen für das rein<br />

bürgerliche Zweckmittel des Parlamentarismus,<br />

das W a h l r e c h t , verführt die Massen<br />

in dieser Weise, auf daß sie ihr Gut <strong>und</strong><br />

Blut hinopfern mögen — wofür? Für die<br />

Bestrebungen ehrgeiziger Politiker, die nur<br />

deshalb Sozialdemokraten, weil sie begreifen,<br />

daß diese Partei, dank ihrer speziell<br />

auf das Proletariat zugepaßten Verführungsdemagogie,<br />

ihnen die günstigste Gelegenheit<br />

bietet für den politischen Erfolg: ein<br />

Abgeordnetenmandat.<br />

Die u n g a r i s c h e Sozialdemokratie<br />

hat soeben unter dem direkten Einfluß der<br />

österreichischen, auf ihrem Parteitag den<br />

Beschluß gefaßt, daß sie, falls die ungarische<br />

Regierung nicht das allgemeine Wahlrecht<br />

gewähre, die Massen in einen »polit<br />

i s c h e n M a s s e n s t r e i k « hineinbeordern<br />

würde.<br />

Rein taktischgesprochen haben wirnichts<br />

dagegen, daß die Krone das Wahlrecht gewähren<br />

soll. Im Gegenteil: wir sind der<br />

Meinung, daß das internationale Proletariat das<br />

Wahlrecht <strong>und</strong> dessen Ausübung »notwendig«<br />

hat, um desto rascher <strong>und</strong> gewisser aus<br />

dem trügerischen Phantasiebilde herausgerissen<br />

zu werden, daß der Parlamentarismus,<br />

das Wahlrecht u. dgl. m., a u c h n u r<br />

d e n g e r i n g s t e n W e r t für den Befreiungskampf<br />

des Proletariats habe. In dieser<br />

Hinsicht sind w i r die lachenden Erben,<br />

denn nur aus der Erkenntnis der Unfruchtbarkeit<br />

<strong>und</strong> Schwindelei der parlamentarischpolitischen<br />

Taktik a l l e r Parteien erwächst<br />

uns unsere Kerntruppe des Anarchismus,<br />

die es begreift, daß n i c h t Eroberung der<br />

Staatsmacht das <strong>Ziel</strong>, sondern A u f h e b u n g<br />

j e d e r Staatsgewalt <strong>und</strong> Einführung des<br />

Kommunismus das Gr<strong>und</strong>legende des proletarischen<br />

Kampfes sein muß.<br />

Haben wir somit taktisch gar n i c h t s<br />

g e g e n die Einführung des Wahlrechtes<br />

einzuwenden, so doch sehr viel, sobald es<br />

sich darum handelt, daß eine angeblich<br />

sozialistische Partei die Massen in einen<br />

K a m p f für das Wahlrecht hineinzuzerren<br />

gewillt ist. Denn da erhebt sich vor allen<br />

Dingen d i e Frage:<br />

Ist d e r K a m p f d e s Z i e l e s w e r t ;<br />

ist das <strong>Ziel</strong> d e s K a m p f e s w e r t ?<br />

Ein donnerndes, tausendfaches »Nein!«<br />

schleudern wir den Sozialdemokraten <strong>und</strong><br />

allen Sozialdemagogen ins Antlitz, die diese<br />

Frage bejahen wollen. Wir fragen! Wo, in<br />

welchem Lande, habt ihr auf Gr<strong>und</strong> einer<br />

Jahrzehnte währenden, parlamentarischen<br />

Taktik dem Volke auch nur das Geringste<br />

erkämpft, um dessen soziale Lage zu lieben?<br />

N i r g e n d s , i n k e i n e m e i n z i g e n Land<br />

e h a t d a s W a h l r e c h t e s v e r m o c h t ,<br />

d e m P r o l e t a r i e r s o z i a l e V o r t e i l e<br />

i n d e n S c h o ß z u w e r f e n .<br />

Mußte er sich diejenigen Fortschritte,<br />

die er sich dennoch erkämpft hat, s e l b s t<br />

durch den wirtschaftlich geführten Kampf<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />

erobern, dann beweist uns dies die Tatkraft<br />

der anarchistischen Taktik <strong>und</strong> Behauptung;<br />

<strong>und</strong> wir fragen: W o z u b e d ü r f e n w i r<br />

d a n n e u r e r , d e r P o l i t i k e r ? Damit auch<br />

sie uns aussaugen <strong>und</strong> in unserem selbständigen,<br />

direkten Kampfe hindern können?<br />

Welch unerhörte Demagogie, welches<br />

tückische Spiel mit den Interessen des Proletariats<br />

ist es, zu erklären, man würde auf<br />

die Nichtgewährung des Wahlrechtes —<br />

eine herzlich unbedeutende Sache für das<br />

Proletariat, wichtig nur für die Kleinbourgeoisie<br />

— mit »der P r o k l a m a t i o n des<br />

p o l i t i s c h e n M a s s e n s t r e i k e s antw<br />

o r t e n « ! Mit demselben Generalstreik,<br />

den man stets bekämpft, wenn es sich<br />

um die Eroberung wirtschaftlicher Forderungen<br />

handelt! Mit demselben Generalstreik,<br />

den man belächelt, wenn die Anarchisten<br />

erklären, daß er allein im Stande<br />

ist, w i r t s c h a f t l i c h e Reformen durchzusetzen.<br />

Wenn es sich darum handelt, Abgeordnete<br />

zu wählen, respektive ihre Wahl<br />

zu bewerkstelligen, dann ist der Generalstreik<br />

gerade gut genug dazu; um aber ein<br />

Stück mehr Brot, größere Freiheit für das<br />

Volk selbst durchzusetzen, dazu taugt er<br />

nicht, dann ist er die »Utopisterei der Anarchisten«.<br />

Die österreichische, revolutionäre Arbeiterschaft<br />

hat es bereits durch die erste<br />

Parlamentssession erkannt, wie total wertlos<br />

das Wahlrecht als Mittel des sozialistischen<br />

Kampfes für sie ist. Kein Verdrehen,<br />

keine Spiegelfechterei kann den Bankerott<br />

des internationalen Parlamentarismus<br />

für die proletarische Sache verdecken. Wir<br />

wissen schon heute, was uns die kommenden<br />

Sessionen bringen werden, müssen: «Ein<br />

Nichserl im goldenen Büchserl«. Und gerade<br />

aus diesem Gr<strong>und</strong>e finden wir es verräterisch,<br />

demagogisch, unverantwortlich,<br />

von Arbeitern zu fordern, nein sie so für<br />

trügerische Zwecke zu fanatisieren, daß sie<br />

für die <strong>Ziel</strong>e "der bürgerlichen Klassen ihr<br />

proletarisches Herzblut vergießen sollen!<br />

Mögen die Sozialdemokraten in den Parlamenten<br />

fast aller Länder erst etwas l e i s t e n ,<br />

bevor sie die Massen dazu aufpeitschen, für<br />

das Wahlrecht ihr Herzblut zu verspritzen.<br />

Wir sind dessen gewiß, daß die ungarischen<br />

Anarchisten, unsere Genossen,<br />

soweit sie die Möglichkeit <strong>und</strong> die Kampfesklarheit<br />

unseres <strong>Ziel</strong>es besitzen, wissen<br />

werden, was in dieser schwierigen Situation<br />

zu tun. Wenn es wirklich soweit kommen<br />

sollte, daß der politische Generalstreik proklamiert<br />

wird, dann müssen <strong>und</strong> werden<br />

sie mit hinein in den Kampf. Aber ihr Motto<br />

wird nicht sein: «Hoch das Wahlrecht!»<br />

— ein Losungswort, das die Unmündigkeit<br />

des Proletariats proklamiert, das darum fleht<br />

<strong>und</strong> bittet, durch seine gewählten Vertreter<br />

indirekt mit den Herrschenden feilschen <strong>und</strong><br />

schachern zu dürfen; sondern sie werden<br />

in den Kampf eintreten mit e i g e n e n ,<br />

w i r t s c h a f t l i c h e n Forderungen, werden<br />

d i e s e jener der Sozialdemokratie entgegenstellen.<br />

Mag diese dann diese wirtschaftlichen<br />

Forderungen des Proletariats bekämpfen;<br />

wohlan, die Besten des Proletariats werden<br />

es doch begreifen, daß das ehemalige Wort<br />

eines österreichischen Gewerkschaftsführers,<br />

daß ein Guldenzettel mehr wert als ein<br />

Wahlzettel, wahr <strong>und</strong> richtig ist.<br />

In diesem Kampfe haben wir die<br />

Pflicht, unsere ungarischen Brüder aufs<br />

energischeste zu unterstützen. Und so rufen<br />

wir ihnen schon jetzt zu, daß sich unser.<br />

Ruf mit dem ihren vereint <strong>und</strong> vereinigen<br />

wird, der Ruf, der da lautet:<br />

Nieder mit dem politischen Massenstreik<br />

für den politischen Köder des<br />

Wahlrechts!<br />

Es lebe der wirtschaftliche Generalstreik<br />

für den Achtst<strong>und</strong>entag<br />

in ganz Österreich <strong>und</strong> Ungarn!


Wien, 7. Juni 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. — Nr. 11.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />

I./17. — Gelder sind zu senden an<br />

W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />

5, III/27.<br />

Genossen! Wir ersuchen um rasche <strong>und</strong><br />

pünktliche Einsendung der ausstehenden <strong>und</strong><br />

dringend benötigten Geldbeträge.<br />

Den Siegberauschten vom<br />

14. Mai 1907!<br />

Früher, da ging die Sünde einher<br />

Barhäuptig <strong>und</strong> schwarz im Kleide,<br />

Für jeden war sie ein Ärgernis<br />

Und niemandem Augenweide.<br />

Von Ferne schon jeder die Straße mied,<br />

Wo die Sünde sich öffentlich seh'n ließ,<br />

- Doch war es von jeher noch immer so,<br />

Daß man nicht auch heimlich sie geh'n hieß —<br />

Heute stolziert sie prächtig zu schaun<br />

Auf offener Straße, offenen Blickes,<br />

Und wem sie lächelt verheißungsvoll,<br />

Rühmt gern sich noch seines Glückes.<br />

Das ist das Laster, die Sünde der Tat,<br />

Die Sünde von heute <strong>und</strong> gestern:<br />

Die „Sitte", „Moral" <strong>und</strong> die Heuchelei,<br />

So nennen sich ihre Schwestern.<br />

Die Sünde von morgen wird ausschließlich<br />

Nur in den Gedanken entstehen,<br />

Und, ehe sie sich noch körperlich zeigt,<br />

Wird sie schon schmählich vergehen.<br />

Die Sünde von morgen ist nur ein Wort,<br />

Ein Klang aus vergangenen T a g e n ;<br />

Ein Vorwurf für Taten, die nicht getan,<br />

Und deshalb uns zwingen zu klagen . -. .<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft<br />

; dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist. . ."<br />

Leo Lerche.<br />

Reichlich ein Jahr ist verflossen seit<br />

der ersten Wahl, die uns ein Volkshaus<br />

von Abgeordneten ergeben sollte; heute<br />

ist man versucht zu sagen: Der Racker des<br />

Privilegienparlaments war doch viel besser!<br />

Denn damals kennte man die Vertreter des<br />

aristokratischen, agrarischen <strong>und</strong> industriellen<br />

Volksfeindes wenigstens direkt <strong>und</strong><br />

ohne Heuchelei bekämpfen, wußte, daß das<br />

<strong>Ziel</strong> der Freiheit nur über sie hinweg führte.<br />

Heute ist das ganz anders geworden. Das<br />

Parlament ist derselbe Racker geblieben<br />

wie früher, nur werden heute die Staatsnotwendigkeiten<br />

nicht mehr mittels des<br />

§ 14 oder von den offenen Klassengegnern<br />

erledigt, sondern durch allerhöchste —<br />

A b s t i m m u n g s k o m ö d i e n . Und da man<br />

sich dabei auch rhetorisch anstrengen darf,<br />

um sich nicht auch noch des Scheines seiner<br />

«Würde» zu begeben, so kommt wirklich<br />

nur das heraus, was Herr Dr. Adler im<br />

. Budgetausschusse sagte <strong>und</strong> worin wir<br />

Anarchisten ihm beipflichten: uns ist auch<br />

viel «lieber, wenn nichts geschieht, als wenn<br />

auf irgend einem <strong>Weg</strong>e der A n s c h e i n<br />

erweckt wird, daß etwas geschieht, während<br />

tatsächlich n i c h t s gemacht wird».<br />

Mit Verlaub, das ist aber doch ein<br />

wenig zu strenge geurteilt. Es wird «gemacht»,<br />

sogar sehr viel, <strong>und</strong> Moloch Militarismus<br />

freut sich recht inniglich über all<br />

das, was im Parlament gemacht wird. «Die<br />

allgemeine Wehrhaftigkeit», die die Sozialdemokraten<br />

erstreben — wenn wir nur<br />

wüßten, g e g e n w e n wir als Internationalisten<br />

<strong>und</strong> Antipatrioten wehrhaft sein<br />

sollen? -- wird ganz ausnehmend gut erreicht.<br />

Und indem die Sozialdemokraten<br />

<strong>und</strong> andere bürgerlich-radikale Parteien des<br />

Hauses dagegen schwätzen, hat die Sache<br />

wirklich «den Anschein, daß etwas geschieht,<br />

während tatsächlich n i c h t s gemacht<br />

wird».<br />

Nicht immer ist es so böse, daß das<br />

Herrenhaus sogar die Scheinreformen- vernichtet;<br />

oder gar, daß wenn die Herren<br />

über galizisch-polnische Greuel schwätzen,<br />

die Schlachzizen, wie zum Hohn, das arme<br />

Bauerntum niederschießen lassen. An Obstruktion<br />

— daran denken unsere Sozialdemokraten<br />

nicht mehr, an dieses Radikalmittel<br />

haben sie völlig vergessen . ..<br />

Wir gratulieren dem österreichischen<br />

Proletariat zum ersten Hause des allgemeinen,<br />

gleichen <strong>und</strong> direkten W a h l z w a n g e s . Es ist<br />

erreicht — die S t a a t s n o t w e n d i g k e i t e n<br />

werden diesmal »auf demokratischer Basis«<br />

erledigt. Und was mehr können wir denn<br />

eigentlich verlangen? Nichts andere^ ist<br />

der Zweck des Parlamentarismus.<br />

Frauenstimmrecht <strong>und</strong> die<br />

Befreiung der Frau.<br />

Es liegt in dem Umstände geistiger<br />

Unselbständigkeit <strong>und</strong>- Zurückgebliebenheit,<br />

daß es trotz einer 60 jährigen modernen<br />

Arbeiterbewegung noch möglich ist, dieselbe<br />

durch den Parlamentarismus fast vollständig<br />

aus jener Bahn zu schleudern, die<br />

zu d e m <strong>Ziel</strong> zu führen berufen ist, um<br />

dessen Willen die proletarische Bewegung<br />

ja eigentlich begründet wurde: Erkämpf<br />

u n g d e s S o z i a l i s m u s d u r c h d i e<br />

A u f h e b u n g d e s P r i v a t e i g e n t u m s .<br />

Dieses wirkliche Endziel der sozialen<br />

Kampfesaktion des Proletariats, das sich in<br />

seinen Konsequenzen harmonisch vereint<br />

mit dem Begriff der A u f h e b u n g j e d e r<br />

p o l i t i s c h e n H e r r s c h a f t , also mit dem<br />

Anarchismus, ist durch die parlamentarische<br />

Taktik gänzlich den Blicken des kämpfenden<br />

Proletariats entrückt worden; es gelang<br />

denjenigen, die durch die Ergatterung<br />

sozial auskömmlicher politischer Positionen<br />

ein direktes, unmittelbares Interesse an dieser<br />

Abirrung hatten, den wirklichen sozialen<br />

Kampf in ein ödes Feilschen, Geplänkel<br />

für S c h e i n reformen, ein Einsetzen<br />

der revolutionären Kraft des Proletariats<br />

für bürgerliche Interessen zu verwandeln.<br />

Das Betrübende dieser Situation ist vornehmlich<br />

in dem gelegen, daß man den<br />

Massen vorgaukelt, das parlamentarische<br />

Gaukelspiel sei politischer Kampf <strong>und</strong> führe,<br />

könne jemals zum <strong>Ziel</strong>e führen.<br />

Ist schon der Proletarier bedrückt von<br />

all den Verelendungstendenzen des modern-kapitalistischen<br />

Systems; ist die zentralistische<br />

Gewerkschaftsbewegung mit<br />

ihren den neuen sozialen Verhältnissen absolut<br />

nicht angepaßten, veralteten Mittelchen<br />

des Kleinstreiks nicht im Stande,<br />

diesen Verschlechterungstendenzen wirk-<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2.40;<br />

halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

sam, tiefgreifend entgegenzutreten; ist<br />

somit der m ä n n l i c h e Prolet nur in vereinzelten<br />

Fällen <strong>und</strong> ganz minimalen noch<br />

dazu im Stande, mit geistiger Klarheit <strong>und</strong><br />

echtem Verständnis die sozialen Probleme<br />

zu begreifen — ist, kurz gesagt, der Proletarier<br />

in seiner Unwissenheit, die von dem<br />

heutigen System <strong>und</strong> ihren Stützen künstlich<br />

gezüchtet wird, ein Spielball der politischen<br />

Interessendemagogen, so ist d i e<br />

F r a u , die Proletarierin, zum größten Teil<br />

noch weit unwissender als er.<br />

Wir könnten das eigentliche Thema<br />

dieses Aufsatzes nicht erschöpfen, auch nur<br />

behandeln, wenn wir auf alle ursprünglichen<br />

Ursachen dieser noch weit größeren<br />

Unwissenheit, als sie unter der Männerwelt<br />

besteht, eingehen wollten. Genug, sie ist<br />

da; so sehr, daß zum Beispiel in Belgien<br />

einzelne Wortführer der Sozialdemokratie<br />

g e g e n die Verleihung des Fauenstimmrechtes<br />

waren, weil sie davon eine Verstärkung<br />

der Macht des Klerikalismus befürchteten.<br />

Jahrzehnt auf Jahrzehnt ist es der Demagogie<br />

der bürgerlichen Demokratie<br />

weit besser als dem Despotismus gelungen,<br />

die Arbeiterklasse ins Gängelband rein parlamentarisch<br />

- politischer Scheinprobleme<br />

zu locken. Die Sozialdemokratie ist die<br />

Erbin dieser heimtückisch - bourgeoisen<br />

Taktik. Sie geleitet den Arbeiter von dem<br />

Felde des wirtschaftlichen Kampfes für die<br />

direkte Erkämpfung der neuen Gesellschaft<br />

auf das Gebiet der Aufpäppelung mittels<br />

parlamentarischer Trugreformen, die eine<br />

Stärkung der bestehenden Gesellschaftsordnung<br />

<strong>und</strong> des Staates bedeuten. Nicht nur,<br />

daß der Proletarier durch das Parlament<br />

nicht das Geringste erzielte, was eine wesentliche<br />

Verbesserung seiner Lebenshaltung<br />

wäre, nein, das was er durch die<br />

parlamentarische Spiegelfechterei »gewann«,<br />

war eine direkte Befestigung der bestehenden<br />

sozialen Ausbeutung <strong>und</strong> eine Verrammelung<br />

des <strong>Weg</strong>es, der ihn zur Freiheit<br />

führt, zur sozialen Ordnung des Anarchismus<br />

auf kommunistischer Gr<strong>und</strong>lage.<br />

Obwohl die österreichische Sozialdemokratie<br />

in dem einen Jahr ihres parlamentarischen<br />

Wirkens in dem »Volkshause des<br />

allgemeinen Wahlrechtes« in Gemeinschaft<br />

m i t a l l e n ü b r i g e n Parteien nur das<br />

e i n e treffend illustrierte: den B a n k e r o t t<br />

des b ü r g e r l i c h e n P a r l a m e n t a r i s m u s<br />

für alle echten proletarischen Bestrebungen,<br />

somit auch nicht das Geringste leistete, um<br />

die Hoffnungen, die man dem Proletariat<br />

im Hinblick auf das allgemeine Wahlrecht<br />

gemacht, zu erfüllen — nichts desto weniger,<br />

sie hat schon wieder eine neue<br />

Problemstellung ihres Bankerotts erf<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> »auf allen Höhen« ertönt gegenwärtig<br />

in Österreich der Ruf nach d e m<br />

a l l g e m e i n e n F r a u e n s t i m m r e c h t als<br />

der n ä c h s t e n Aufgabe, die einer Lösung<br />

harrt. Und freilich, wenn es gelingt, die<br />

geistige Unreife des Mannes durch die


öden Litaneien vom »Wert des Parlamentarismus«<br />

gefangen zu nehmen, so gelingt<br />

<strong>und</strong> gelang es noch weit leichter,<br />

die Frau, dieses sowohl von den egoistischen<br />

Vorurteilen der Gegenwartsmoral,<br />

wie von der ökonomischen Abhängigkeit<br />

vom Manne niedergedrückte Wesen, dessen<br />

geistige Unentwickeltheit als Geschlecht ja<br />

stets den Spott der brüsken, diese aber<br />

verursachenden Männerwelt hervorruft, für<br />

das Trugphantom des Wahlrechtes zu gewinnen<br />

<strong>und</strong> der Frau einzureden, daß nur<br />

durch dieses sie sich die Gleichheit <strong>und</strong><br />

Freiheit zu erkämpfen vermöge.<br />

Wie es auch mit dem Männerstimmrecht<br />

nicht anders war, so war <strong>und</strong> ist es<br />

auch mit jenem der Frauen: es sind Ang<br />

e h ö r i g e d e r B o u r g e o i s i e , die dieses<br />

Problem aufstellten <strong>und</strong> die Energie<br />

der unterdrückten Massen gewinnen wollen,<br />

um ihre rein bürgerlichen Zwecke durchzusetzen.<br />

Diese bestehen darin, daß sie, die<br />

Bourgeoisie, an dem politischen Haushalt<br />

der bourgeoisen Ordnung teilnehmen will;<br />

die Aufgabe des Proletariats ist es aber<br />

nicht, an diesem teilzunehmen, Mann <strong>und</strong><br />

Frau des Proletariats haben ihre Ideale der<br />

Befreiung zu erringen, was nur geschehen<br />

kann nach B e s e i t i g u n g der bourgeoisen<br />

Ordnung <strong>und</strong> ihres Haushaltes.<br />

Ebenso wenig als das Männerwahlrecht<br />

auch nur im entferntesten die soziale Lage<br />

des männlichen Proletariats gebessert hat,<br />

hat das Frauenwahlrecht dort, wo es bereits<br />

durchgeführt ist, die Lage der Frau gebessert.<br />

Im Gegenteil, der Köder der bestehenden<br />

Gesellschaft zog: die männlichen<br />

wie die weiblichen Proletarier verloren<br />

den Blick für das <strong>Ziel</strong> ihrer Befreiung,<br />

verzettelten ihre Kraft für nichts.<br />

Nur in einem sozialistisch <strong>und</strong> politischgeistig<br />

so wenig entwickelten Lande wie<br />

Oesterreich ist es möglich, mit einer solchen<br />

demagogischen Parole an die breiten Massen<br />

heranzutreten. In einem Lande wie<br />

Frankreich, wo die Volkselemente beiden<br />

Geschlechtes eine mächtige sozialistische<br />

Tradition <strong>und</strong> klar geschaute revolutionäre<br />

<strong>Ziel</strong>e vor sich haben, ist es aussichtslos,<br />

mit derlei spieß- <strong>und</strong> kleinbürgerlichen<br />

Mittelchen die Massen auch nur in Bewegung<br />

zu setzen. Sie sind zu klug dazu,<br />

sich ins Schlepptau ehrgeiziger Politiker,<br />

ins Schlepptau der diabolischen Diplomatie<br />

des Staates nehmen zu lassen, der für diese<br />

Rufe nach dem Wahlrecht nur ein heimtückisches<br />

Lächeln der Verachtung übrig<br />

hat; im Bewußtsein des einen Gedankens:<br />

»Ihr Toren, welches Danaergeschenk, welche<br />

zweischneidige, heimtückische Selbstmordwaffe<br />

verlangt ihr von mir! Hier,<br />

nehmt sie denn hin —<strong>und</strong> »bekämpft« mich<br />

nur recht wacker mit ihr; gegen solche<br />

Streiche bin ich immun!«<br />

Und darum ist es geradezu erfrischend<br />

<strong>und</strong> besonders für österreichische Verhältnisse<br />

sehr zeitgemäß, wenn wir einer Beführworterin<br />

des Frauenstimmrechtes, der<br />

Französin A n g e l e R o u s s e l von Paris<br />

das Wort dazu erteilen können, um diese<br />

Frage des Parlamentarismus in bezug auf<br />

Mann <strong>und</strong> Frau einmal gründlich zu beleuchten.<br />

Sie sagt darüber in einem Artikel<br />

über das »Frauenstimmrecht«:<br />

»Bei der großen Masse der a r b e i -<br />

t e n d e n K l a s s e n blieb dieser Aufruf<br />

(»Die Frau erhalte das Stimmrecht«) ganz<br />

ohne Resonanz. Nur eine kleine Schar von<br />

M ä n n e r n d e r B o u r g e o i s i e griff ihn<br />

auf <strong>und</strong> begründete auf der Basis der von<br />

ihr ins Land hinausgetragenen Forderung<br />

den sogenannten »Parlamentsausschuß für<br />

Frauenstimmrecht«. Diese parlamentarische<br />

Schutztruppe wuchs zusehends, die Sache<br />

zog immer weitere Kreise <strong>und</strong> der naive<br />

Zuschauer konnte einen Augenblick glauben,<br />

daß in Frankreich die Bewegung schneller<br />

voran kommen werde als irgend wo sonst<br />

in der Welt; das Frauenstimmrecht schien<br />

bereits eine »ausgemachte Sache« zu sein.<br />

Aber die »öffentliche Meinung«, gegen<br />

deren Willen man nichts in der Welt<br />

durchsetzen kann, zeigte sich zurückhaltend.<br />

Die große Masse rührte sich nicht <strong>und</strong><br />

k o n n t e a u f k e i n e W e i s e i n F l u ß<br />

g e b r a c h t w e r d e n .<br />

D i e G r ü n d e d a f ü r l i e g e n a u f<br />

d e r H a n d . D e r P a r l a m e n t a r i s m u s<br />

h a t t e n i c h t d i e R e s u l t a t e g e z e i -<br />

tigt, d i e d i e g r o ß e M e n g e v o n i h m<br />

z u e r w a r t e n b e r e c h t i g t war. E s<br />

gab eine Zeit, wo der Mann im Volke von<br />

seiner Vertretung mächtige <strong>und</strong> bald bemerkbare<br />

Verbesserungen seiner wirtschaftlichen<br />

Lage erhoffte. Darum war er bereit,<br />

alle seine Kräfte einzusetzen, um sich das<br />

Stimmrecht zu erobern, das bisher ein Privilegium<br />

der »oberen« Klassen gewesen<br />

war. Er war bereit an den Gesetzen des<br />

Landes auch seinerseits mitzuwirken.<br />

H e u t e i s t d a s V e r t r a u e n d e s<br />

V o l k e s d a h i n . M a n g l a u b t n i c h t<br />

m e h r a n d i e W i r k s a m k e i t p o l i t i -<br />

s c h e r M i t t e l . U n d m a n i n t e r e s s i e r t<br />

s i c h für d i e A n w e n d u n g d e s S t i m m -<br />

r e c h t e s s e l b s t d o r t n i c h t , w o m a n<br />

e s n o c h g a r n i c h t b e s i t z t . M a n<br />

s a g t s i c h : e s w i r d n a c h E r l a n g u n g<br />

d e s S t i m m r e c h t e s m e h r W a h l b e -<br />

r e c h t i g t e g e b e n , a b e r a u c h m e h r<br />

A b g e o r d n e t e . D a m i t w e r d e n j e d e n -<br />

f a l l s d i e K o s t e n für d a s L a n d anw<br />

a c h s e n , u n d n i e m a n d k a n n u n s<br />

d a f ü r g a r a n t i e r e n , d a ß i m g l e i c h e n<br />

M a ß e a u c h u n s e r W o h l s t a n d anw<br />

a c h s e n u n d u n s e r E l e n d a b n e h -<br />

m e n w i r d . Die Männer insbesondere sagen<br />

sich: wenn wir es nicht erreichen<br />

konnten, warum sollten es unsere Frauen<br />

vermögen? Und die Frauen: wie sollten<br />

denn wir die Handhabung der politischen<br />

Waffen besser als unsere Männer verstehen,<br />

wo wir sie doch noch nicht einmal<br />

kennen?<br />

Damit ist nun freilich nicht gesagt,<br />

daß die französischen Frauen, wenn sie<br />

diese Waffe, o h n e daß es ihnen besondere<br />

Anstrengungen kostet, erlangen können,<br />

etwa verschmähen würden; am wenigsten<br />

würden das die Frauen der Arbeiterklasse<br />

tun. Es f e h l t n u r g e g e n w ä r -<br />

t i g a n L e u t e n , d i e v o n d e r N ü t z -<br />

l i c h k e i t d e s S t i m m r e c h t e s "überz<br />

e u g t s i n d . «<br />

Mit Recht <strong>und</strong> glücklicherweise ist die<br />

französische Arbeiterklasse im wesentlichen<br />

dem Wahne des Parlamentarismus entwachsen.<br />

Wir glauben, die Stimme der obigen<br />

A n h ä n g e r in des Frauenstimmrechtes<br />

führt diese gegenwärtig von der österreichischen<br />

Sozialdemokratie aufgenommenen<br />

Politikantenparole genugsam ad absurdum.<br />

Wenn wir von der Frau sprechen, so<br />

sprechen wir von ihr wie von /einem vergewaltigten<br />

Heiligtum, wenn man sie für<br />

den Unsinn einer solchen Forderung, wie<br />

sie das Stimmrecht in der bürgerlichen<br />

Gesellschaft überhaupt ist, zu fanatisieren<br />

<strong>und</strong> im Interesse b ü r g e r l i c h e r Frauenrechtler<br />

sich betätigen läßt. Die Frau ist<br />

n i c h t deswegen unfrei, weil sie nicht<br />

stimmen darf; im Gegenteil, es ist eine<br />

Herabwürdigung der Frau, ihr zu sagen,<br />

daß ihre Freiheit von da anfängt, wo sie<br />

der Staat ihr gestattet, — durch die Verleihung<br />

eines Fetzen Papieres. Der österreichische<br />

Arbeiter ist nicht freier geworden<br />

durch den Stimmzettel. Beide,der Proletarier<br />

wie die Proletarierin, sind sozial unfrei<br />

durch ihre ökonomische Besitzlosigkeit.<br />

Die ökonomische Armut ist der Richtspruch,<br />

der sie beide zur sozialen Nichtswürdigkeit<br />

verurteilt. Die Dame der Bourgeoisie, die<br />

reich, in Luxus <strong>und</strong> Überfluß leben kann,<br />

h a t politischen, wie sozialen Einfluß —<br />

auch ohne einen Stimmzettel; noch mehr:<br />

so weit sie sich auch geistig befreit hat,<br />

reißt sie sich los von allen den moralischen<br />

Vorurteilen, die die Welt des Privateigentums<br />

auf die Frau gehäuft hat, <strong>und</strong> sie besitzt<br />

dann ihre wahre Befreiung: G e i s t i g e<br />

<strong>und</strong> m a t e r i e l l - ök o n o m i s c h e U n -<br />

a b h ä n g i g k e i t !<br />

Dies muß das <strong>Ziel</strong> der emporstrebenden<br />

Proletarierin sein! Sie muß sich geistig<br />

befreien, muß vor allem sich selbst die<br />

Freiheit geben, indem sie Schulter an<br />

Schulter mit dem organisierten Männerproletariat<br />

ö k o n o m i s c h e Kämpfe kämpft,<br />

um sich zu erringen mehr Brot, mehr Licht,<br />

mehr Luft. Das Recht der freien Mutterschaft,<br />

das ist es, was sie zu erreichen hat,<br />

<strong>und</strong> dies gibt ihr der Staat nie, noch die<br />

bestehende Gesellschaftsordnung. E i n e<br />

e i n z i g e Frau, die solcher Art geistig <strong>und</strong><br />

ethisch den Morgenschimmer der Befreiung<br />

erblickt, fest verbündet mit dem Mann in<br />

seinen wirtschaftlichen Kämpfen ihm zur<br />

Seite steht, ist wichtiger als tausende von<br />

Frauenstimmen in der Wahlurne, die dem<br />

Feuer der Vernichtung preisgegeben werden<br />

<strong>und</strong> Alles beim Alten belassen.<br />

Das Ideal des Anarchismus ist die absolute<br />

ökonomische Gleichheit von Mann<br />

<strong>und</strong> Frau; die gleiche, absolute Freiheit für<br />

beide Geschlechter. Ihn zu erstreben, bedeutet<br />

schon, die Praxis seiner Ideen zu<br />

erproben, was dadurch geschieht, daß die<br />

Frau geistig dazu erzogen wird, sich allen<br />

den traditionellen Vorurteilen der überlieferten<br />

Sitte, den Geboten der Herrschaft<br />

des Mannes zu entziehen <strong>und</strong> in freier<br />

Kameradschaft mit dem Manne durch das<br />

Band gegenseitiger Liebe wahre soziale<br />

Gleichheit <strong>und</strong> Freiheit zu erstreben, zu erkämpfen.<br />

Nur gemeinsam kann sie erkämpft<br />

werden, nicht durch das Parlament,<br />

sondern dadurch, daß Mann <strong>und</strong> Frau die<br />

Fesseln der ökonomischen, staatlichen <strong>und</strong><br />

geistigen Knechtschaft abschütteln, in <strong>und</strong><br />

durch Freiheitskampf denjenigen Gesellschaftszustand<br />

der Befreiung begründen,<br />

in dem als sozialer Tenor e i n Motto gilt:<br />

M a n n u n d F r a u s i n d g l e i c h<br />

f r e i , i n h a r m o n i s c h e r , f r e i e r V e r -<br />

e i n i g u n g l e b e j e d e s s e i n G l ü c k ,<br />

s e i n e F r e u d e : — d a s G l ü c k d e r<br />

G e m e i n s c h a f t , d i e F r e u d e i n d e r<br />

F r e i h e i t i h r e r g e g e n s e i t i g e n L i e b e !<br />

W a s kümmert uns die Antialkoholbewegung?<br />

Anarchisten sind f r e i e Menschen resp.<br />

bemühen sich, solche zu sein oder zu<br />

werden; sie kümmert kein Dogma, <strong>und</strong> sie<br />

fragen nach keiner Erlaubnis <strong>und</strong> keinem<br />

Verbot. Nicht, was ein anderer für recht<br />

hält, wird von ihnen getan <strong>und</strong> nicht der<br />

andern Sorge <strong>und</strong> Sünde gemieden, sondern<br />

der Anarchist tut als freier Mensch nur<br />

nach s e i n e m Dafürhalten, nach s e i n e m<br />

Rechtbefinden. Doch wie seine Freiheit<br />

keiner Willkür, sondern der Erkenntnis sozietärer<br />

Menschenwürde entspringt, richtet<br />

sich sein Handeln nach dem von ihm erworbenen<br />

Wissen <strong>und</strong> Verständnis. Gerade,<br />

weil wir als Anarchisten d e n k e n d e Menschen<br />

sein müssen, ist es notwendig, daß<br />

wir uns, wie mit allen Fragen, so auch<br />

mit der Alkohol- resp. Antialkoholbewegung<br />

befassen.<br />

Das Thema, welches ich hier anschneide,<br />

ist so überaus vielseitig, wie die Einwirkung<br />

des Alkohols auf die verschiedensten Formen<br />

des menschlichen Lebens <strong>und</strong> Zusammenlebens<br />

überhaupt von eminentester Bedeutung.<br />

Es würde mich weit über den<br />

Rahmen meiner Absicht, vor allen Dingen<br />

zum Nachdenken über die Trinkunsitten


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Österreich.<br />

Wien. Unter der Beschuldigtenvorladung, sich<br />

wider den § 305 — den berüchtigsten Kautschukparagraphen<br />

unserer Strafgesetzordnung — vergangen<br />

zu haben, wurden bereits zwei Verhöre<br />

gegen unseren Genossen Ramus eingeleitet. Der<br />

besagte Paragraph umfaßt in buntestem Sammelsurium<br />

die „öffentliche Herabwürdigung der Ehe,<br />

der Familie, des Eigentums oder Gutheißung von<br />

ungesetzlichen oder unsittlichen Handlungen". Die<br />

Beschuldigung will angeblich feststellen, daß der<br />

Genosse Ramus in seiner Rede am 1. Mai eine<br />

Gutheißung von ungesetzlichen Handlungen begangen<br />

habe. Wie durchaus haltlos diese Beschuldigung<br />

ist, weiß jedermann, der das Wesen des<br />

1. Mai <strong>und</strong> unsere Stellung zu ihm kennt, weiß jeder<br />

Vorurteilslose, der jener Versammlung beiwohnte.<br />

*<br />

„. . . Wie wehst du kühl, o Weidenlaub von<br />

Babylon!" fühlt man sich versucht, auszurufen, wenn<br />

man der kleinlichen Gewaltsmaßregeln gedenkt, die<br />

die Autorität wider die Freiheit unternimmt. So<br />

mußten die Genossen Sindelar <strong>und</strong> Poddany, letzterer<br />

Redakteur unseres Blattes, eine 4 tägige Gefängnisstrafe<br />

absitzen wegen technischer Preßdelikte,<br />

<strong>und</strong> weil sie lieber in den Kerker gingen als dem<br />

Staate die Summe zahlten, nach der er gierig seine<br />

Krallen ausstreckte. Und gleich auf dem Fuße folgen<br />

neue Anklagen, wieder wegen technischer Preßdelikte<br />

<strong>und</strong> dann aber auch solche wegen ernsterer<br />

Vergehen, wie jene der Totschlagparagraphen 303<br />

<strong>und</strong> 305, ersterer wegen Beleidigung einer gesetzlich<br />

anerkannten Kirche oder Religionsgemeinschaft, die<br />

der Genosse Poddany angeblich begangen haben soll.<br />

Es ist das Los derer, die die Befreiung der<br />

Menschheit <strong>und</strong> ihr Glück wünschen, ihre eigene<br />

Freiheit, ihr eigen Gegenwartsglück in die Schanze<br />

schlagen zu müssen. Alle, die dies tun, gehören zur<br />

langen Schar jener Edlen, die eine zukünftige Kultur<br />

ehrend nennen wird; wohl wäre es den Verfolgern<br />

dieser Edlen, wenn die zukünftige Kultur mit beredtem<br />

Schweigen über sie hinwegschreiten würde!<br />

*<br />

Den K<strong>und</strong>machungen des „Amtsblattes zur<br />

Wiener Zeitung" zufolge, wurde die Nr. 10 des<br />

„W. f. A." abermals <strong>und</strong> ganz regelmäßig konfisziert.<br />

Kein einziger Artikel des Blattes entging der<br />

hochnotpeinlichen Wachsamkeit der k. k. Staatsanwaltschaft.<br />

Wenn man den sonstigen Inhalt des<br />

Amtsblattes betrachtet, kommt man fast zur Überzeugung,<br />

daß diese, unsere Konfiskationen, die<br />

immer an erster Stelle prangen, ein wesentlicher<br />

Manuskriptbestandteil der löblichen Redaktion jenes<br />

Amtsblattes sind, um es überhaupt füllen zu können.<br />

Verschiedene Blätter, verschiedene Redakteure; die<br />

einen arbeiten mit Kleister <strong>und</strong> Schere, die anderen<br />

mit Rotstift <strong>und</strong> Konfiskationen. W a s tut man nicht<br />

alles, um dem leidigen Manuskriptmangel abzuhelfen<br />

<strong>und</strong> seinen Geistesreichtum darbieten zu können?<br />

Hervorheben möchten wir bei dieser Gelegenheit,<br />

daß die sozialdemokratische Interpellation im<br />

Abgeordnetenhause über die willkürlichen P r e ß -<br />

konfiskationen der Staatsanwaltschaft nur die einoder<br />

zweimalige Konfiskation der täglichen „Arbeiterzeitung"<br />

während eines halben Jahres erwähnte, von<br />

den uns, der anarchistischen Presse, Nummer auf<br />

Nummer zugefügten Konfiskationen kein W o r t zu<br />

sagen wußte. Wir verzichten gern auf die Solidarität<br />

jener Herren für 20 Kronen per Tag, konstatieren<br />

aber, daß ein Stillschweigen bei solcher Gelegenheit<br />

<strong>und</strong> Tatsache direkt gleichbedeutend ist mit einer<br />

G u t h e i ß u n g der seitens der Staatsanwaltschaft<br />

uns gegenüber betätigten Willkürpraxis des „objektiven<br />

Verfahrens".<br />

Preßfreiheit, Preßfreiheit, die i c h , die Sozialdemokratie,<br />

meine — dies ist es, was die Herren<br />

verlangen, nicht aber wahre Preßfreiheit, also auch<br />

Freiheit für ihre prinzipiellen Gegner!<br />

*<br />

Zahlreiche Versammlungen fanden im III., V.,<br />

X., XVI. <strong>und</strong> X X . Bez. statt, in denen die Genossen<br />

Vohryzek <strong>und</strong> Ramus, Haidt <strong>und</strong> andere Genossen<br />

referierten oder diskutierend eingriffen. Das T h e m a<br />

bildete gewöhnlich die „Moderne Gewerkschaftstaktik"<br />

<strong>und</strong> waren die großen Vereinsversammlungen<br />

stets massenhaft besucht. Daß die anwesenden<br />

Sozialdemokraten sich als erstklassige Radaumacher<br />

erwiesen, gereicht ihrer sonstigen geistigen Qualifikation,<br />

die unendlich armselig <strong>und</strong> — streberisch<br />

ist, zu Ehren. Es half ihnen aber nichts, denn sie<br />

zogen entweder moralisch oder geistig überall, <strong>und</strong><br />

zwar in erbärmlichster Weise, den Kürzeren. —<br />

Von großer Bedeutung war eine besondere Organisationsversammlung<br />

der „Allgemeinen Gewerkschaftsföderation",<br />

in der ein regelrechtes Netz von<br />

Fachorganisationen über ganz Wien entworfen wurde<br />

<strong>und</strong> in der die erfreuliche T a t s a c h e zu T a g e trat,<br />

daß wir mit Ausnahme von etwa 4 bis 5 Bezirken,<br />

bereits überall kleinere oder größere Gruppierungen<br />

der Föderation besitzen. An die Befestigung dieser<br />

Knotenpunkte wird nun geschritten. — Des weiteren<br />

hat die Kolportage unserer Blätter in jener Versammlung<br />

gleichfalls eine Vergrößerung erfahren<br />

<strong>und</strong> ersuchen wir unsere Kameraden aufs Dringendste,<br />

trotz der etwas schlaffer machenden Sommermonate,<br />

in ihren Bemühungen nicht zu erlahmen, sondern unaufhörlich<br />

„weiter zu wühlen"! — Die Vorbereitungen<br />

für eine in nächster Zeit einzuberufende Monstreversammlung<br />

reifen immer mehr <strong>und</strong> arbeitet der<br />

klägliche Bankerott des Parlamentarismus in Österreich<br />

auf das Rüstigste für uns <strong>und</strong> in unserem<br />

Sinne. Kameraden, agitiert <strong>und</strong> kolportiert!<br />

Einer erbärmlichen Handlungsweise machte<br />

sich das Sekretariat des „Arbeiterheimes" im X. Bez.,<br />

machten sich Klassenbewußte der Alleinseligmachenden<br />

schuldig. Die r o t e n Polizisten schlugen den<br />

Genossen Ignaz Albert, weil er im Pfaffen- — — — — pardon<br />

A r b e i t e r h e i m Einladungen zu unseren Versammlungen<br />

verteilte. Die Genossen Kienwald <strong>und</strong><br />

W a w e r k a eilten dem von einer ganzen Rotte Mißhandelten<br />

zu Hilfe <strong>und</strong> sahen noch, wie man ihn<br />

mit voller Wucht in die Glasscheibe eines Türfensters<br />

hineinschlug. Die beiden Herbeieilenden protestierten<br />

laut gegen dieses brutale Vorgehen <strong>und</strong><br />

so wurden alle drei Genossen hinauf, in die Kanzlei<br />

des Sekretariats geschafft, wo man von ihnen (!)<br />

verlangte, s i e sollten die zerbrochene Scheibe bezahlen.<br />

Als sie sich dessen weigerten, hatte der<br />

würdige Sekretär — ein Sozialdemokrat! — die<br />

Schamlosigkeit, die Polizei herbei zu zitieren <strong>und</strong><br />

er brachte es durch die niederträchtigsten Lügen <strong>und</strong><br />

Verdrehungen so weit, daß der Angeschuldigte mit<br />

den zwei übrigen Zeugen zu je 48 St<strong>und</strong>en Arrest<br />

verurteilt wurden.<br />

Diese Schmach charakterisiert die Sozialdemokraten<br />

gebührend; sie, die durch eine Wandtafel im<br />

„Arbeiterheim" gegen das Eindringen der Polizei protestieren,<br />

sie rufen die Polizei gegen — einen Anarchisten.<br />

Rote Jesuiten!<br />

Einen glänzenden Triumph der zentralistischverbändlerischen<br />

Gewerkschaft der Kleidermacher<br />

haben die Arbeiter der Firma Weinmann zu verzeichnen.<br />

Man frage aber nicht, w i e der „Sieg"<br />

beschaffen.<br />

Als die Arbeiter sahen, daß sie nur für besondere<br />

Festzugaufträge, die am 1. Juni beendet sein<br />

mußten, arbeiteten, wandten sie sich am 11. Mai<br />

an die Verbandsleitung mit dem Ersuchen, r a s c h e s t<br />

m ö g l i c h eine Versammlung einzuberufen, um eine<br />

Lohnsteigerung durchzusetzen oder in den Streik<br />

zu treten, welch letzteres der Unternehmer unter<br />

keinen Umständen hätte zulassen können. Aber<br />

die Führer haben es nicht allzu eilig, wie die Arbeiter,<br />

<strong>und</strong> so kam es, daß sie die Versammlung<br />

erst für den 25. Mai einberiefen, als es natürlich<br />

schon zu spät, da fast alles schon fertig gearbeitet war.<br />

Das Ende des Liedes ist, daß eine ganze<br />

Anzahl Arbeiter Ende letzter W o c h e entlassen wurden.<br />

Die Strategie der Herren Führer ist wirklich<br />

genial. *<br />

Im sozialdemokratischen Wahlverein VI. „Gleichheit"<br />

sollte ein Vortrag über den Antimilitarismus<br />

stattfinden. Da aber der Referent absagte, sprach<br />

ein Herr Wächter über Wohnungsnot. In seinen<br />

weiteren Ausführungen gestand Redner die Ohnmacht<br />

der Gesetzgebung ein <strong>und</strong> empfahl die Gründung<br />

von Baugenossenschaften. In der folgenden<br />

Diskussion ergriff Kamerad Felsenburg das Wort.<br />

Für uns Anarchisten, sagte er, sei die Wohnungsnot<br />

von ganz besonderem Interesse, weil nirgend<br />

die Nutzlosigkeit des Parlamentes <strong>und</strong> die Notwendigkeit<br />

direkter Aktionen deutlicher zu Tage<br />

trete, als gerade hier. Für Sozialdemokraten sei es<br />

freilich schwer, über diese Sache zu sprechen, denn<br />

dieselbe sei enge mit der Bodenfrage verknüpft <strong>und</strong><br />

man könne diese nicht berühren, ohne die Fehler<br />

der Theorie Karl Marx aufzudecken. Nach einer<br />

kurzen Darlegung der Georgischen Theorie wies<br />

Kamerad F. auf die Aktionen Dr. Franz Oppenheimers<br />

<strong>und</strong> deren Vorzüge hin. Dem sozialdemokratischen<br />

Referenten wurde es schließlich recht<br />

schwül <strong>und</strong> er ergriff die Flucht <strong>und</strong> damit seiner<br />

Herde das Signal zum Aufbruche gebend.* Kamerad<br />

F. wurde vom Vorsitzenden aufgefordert, in einer<br />

demnächst abzuhaltenden Versammlung mit der<br />

Tagesordnung „Anarchismus <strong>und</strong> Sozialismus" unsere<br />

Theorien ausführlich darzulegen.<br />

•<br />

Auf, auf Arbeiter, zum Kaiserjubiläums-Festzug!<br />

Außerordentlich billig sind die Tribünensitze zu<br />

erhalten bei —; <strong>und</strong> ihr, wackere Kämpfer des<br />

Klassenkampfes <strong>und</strong> der k. k. Sozialdemokratie,<br />

werdet doch nicht dabei fehlen, wenn es die Huldigung<br />

der 60jährigen glorreichen Regierungsepoche<br />

des greisen Monarchen gilt, vor dem selbst die<br />

strammsten Bekenner der Lehre Marxens freiwillig<br />

in Demut ersterben <strong>und</strong> einen parlamentarischen<br />

Bückling machen!<br />

Ihr wollt wissen, wo, wo die Verkaufsstellen<br />

für Billete seien, wo Ihr, Schulter an Schulter mit<br />

Euren parlamentarischen Führern, dem Jubiläums-<br />

Festzuge „Hurrah" zurufen könnt?<br />

W i r wurden nicht dafür bezahlt, es Euch zu<br />

sagen. Leset die „Arbeiterzeitung", die über diesen<br />

Gegenstand großmächtige Inserate veröffentlichte.<br />

0, wir haben ein wirklich prinzipientreues sozialdemokratisches<br />

Blatt in der schönen Kaiserstadt!<br />

* Tröste dich, Genosse: Das machten die Leuchten der<br />

Ottakringer Sozialdemokratie ebenfalls, als ihnen die Entgegnungen<br />

des Gen. Ramus „zu schwül" wurden. Anm. d. Red.<br />

Kaiserjubiläumsinserate <strong>und</strong> Sozialdemokratie —<br />

kann sich irgend etwas besser <strong>und</strong> revolutionärer<br />

reimen? Nein; nicht so lange Geld nicht stinkt,<br />

die Geldmacher aller Sorten, wie uns wahrlich<br />

dünken will, aber s e h r s t i n k e n !<br />

E i n e m e r k w ü r d i g e V e r s a m m l u n g d e s hiesigen<br />

T o n a r b e i t e r v e r b a n d e s . Am 17. Mai d. J.<br />

berief der Verband der Tonarbeiter im Arbeiterheim<br />

im X. Bezirk eine Protestversammlung gegen<br />

die Organisationszersplitterer, die sogenannten<br />

gelben, nationalen <strong>und</strong> christlichsozialen Gewerkschaften<br />

ein, welche selbstverständlich Streikbrecher-<br />

Organisationen sind. Ein sehr löbliches Beginnen,<br />

doch leider bewies die Rede sämtlicher sozialdemokratischer<br />

Wortführer, daß die Versammlung<br />

n i c h t gegen die gelben Gewerkschaften, sondern<br />

gegen die anarchistischen Gewerkschaftler gerichtet<br />

war. Den Vorsitz führte der Agitationsleiter Alex.<br />

Da Rin. Als Hauptredner sprach ein Mitredakteur<br />

der „Arbeiter-Zeitung", Herr Dr. Adolf Braun, <strong>und</strong><br />

als einfache Arbeiter müssen wir sagen, daß dieser<br />

hochgelahrte Herr eine so wüste Schimpfpauke losließ,<br />

daß es wirklich zum Erbarmen war, wenn<br />

man bedachte, daß d i e s die Argumente der sozialdemokratischen<br />

Größen gegen den Anarchismus<br />

sein sollten . . . Es war wirklich kein W<strong>und</strong>er,<br />

daß der Genosse Ramus, der anwesend war, den<br />

„Historisch-Ökonomischen" so schlagend, Punkt<br />

auf Punkt, widerlegte <strong>und</strong> entkräftete, daß brausender<br />

Applaus den Saal erfüllte, als er seine Ausführungen<br />

beendet hatte. Ich muß konstatieren:<br />

wenn die Sozialdemokraten ihren Standpunkt nicht<br />

besser, nämlich tatsächlich mit geistigen Waffen zu<br />

wehren vermögen, als es in dieser Versammlung<br />

geschah, dann haben sie überhaupt keinen Standpunkt<br />

zu vertreten. Am Schlüsse nützte der Vorsitzende,<br />

Herr Da Rin, die Geschäftsordnung so<br />

zu seinen Gunsten aus, daß er mich angriff; mir<br />

wurde das W o r t verweigert. So fühle ich mich als<br />

Tonarbeiter genötigt, wahrheitsgetreu meine Erlebnisse<br />

in dieser Gewerkschaftsorganisation öffentlich<br />

bekanntzugeben.<br />

Es war am 1. Mai 1907 als im selben Saale<br />

sich die Tonarbeiter der Ortsgruppe 67 desselben<br />

Verbandes versammelten. Es handelte sich darum,<br />

ob wir für bestimmte Forderungen in den Streik<br />

treten oder den Unternehmern noch eine verlängernde<br />

Frist gewähren sollten. Die Meisten waren<br />

dagegen, da ja die Forderungen ohnehin z i r k a<br />

5 W o c h e n vor dem 1. Mai überreicht worden<br />

waren <strong>und</strong> so mancher Unternehmer sich schon<br />

rüsten konnte zu einem Kampfe, indem er Streikbrecher<br />

vorbereitete oder seine Waren anderwärts<br />

produzieren lassen konnte. Nichtsdestoweniger hatte<br />

der Verband die große Nachgiebigkeit, daß er die<br />

Entscheidungsfrist noch um 12 Tage verlängern wollte ;<br />

<strong>und</strong> jener Da Rin war es selbst, der als Schönredner<br />

die Arbeiter für den Aufschub gewinnen<br />

sollte. Die Arbeiter aber sahen, daß ihre Solidarität<br />

mißachtet wurde; man protestierte gegen diesen Antrag<br />

<strong>und</strong> bestürmte mich, dagegen zu sprechen. Es<br />

wurde von mir der Gegenantrag auf Streik gestellt,<br />

worauf Da Rin hinter meinem Kücken sich abfällig<br />

äußerte, dann aber seinen ersten Antrag zurückzog,<br />

einen neuen stellte, der nur mehr auf 3 Tage Verlängerung<br />

der Frist lautete. Als die Arbeiterschaft<br />

diese Schacherei sah, wurde sie — <strong>und</strong> mit Recht<br />

— so empört darüber, daß sie den Saal verließ.<br />

Von über 500 Personen blieben nur mehr zirka<br />

50 zurück, wovon zirka 35 für die 3 T a g e Verlängerung<br />

stimmten; die übrigen dagegen.<br />

Von da an mißtrauten meine, zu Kampf <strong>und</strong><br />

Solidarität bereiten, Arbeitsbrüder, welche sich nun<br />

von sozialdemokratischer Gewerkschaftstaktik überzeugt<br />

hatten, dem Verbände.<br />

Dies flößte den Unternehmern Mut ein, <strong>und</strong><br />

bei den Verhandlungen konnte man schon bemerken<br />

wie so Manches von den Forderungen gestrichen,<br />

<strong>und</strong> zurückgestellt wurde. So wurden die Arbeiten<br />

in der Kellerpartie auf die lange Bank gezogen,<br />

<strong>und</strong> viele detailierte Arbeiten wurden ebenso b e -<br />

handelt. Unter den Arbeitern griff eine große Mißstimmung<br />

um sich, <strong>und</strong> so kam es, daß sie dem<br />

Verbände nach <strong>und</strong> nach den Rücken kehrten.<br />

Trotz alledem büßten sie nichts an solidarischem<br />

Gefühle ein <strong>und</strong> wären bereit gewesen, 20 ihrer Brüder,<br />

die entlassen wurden wegen angeblichen Arbeitsmangel,<br />

zu verteidigen. Doch da kamen wieder die<br />

Herren Schönredner <strong>und</strong> gaben bekannt, daß man<br />

nicht streiken dürfe, da durch ihr Bitten weitere E n t -<br />

lassungen vorläufig hintangehalten wurden! Also,<br />

statt die Arbeiterschaft zu revolutionären Kämpfern<br />

zu erziehen, würdigt man sie zu unterwürfigen<br />

Bettlern herab; <strong>und</strong> wer dagegen protestiert, wird<br />

als Anarchist <strong>und</strong> Gewerkschaftszersplitterer ausgeschlossen!<br />

Das Sprüchlein der Herren sozialdemokratischen<br />

Verbandsleiter ist eben: „Du mußt<br />

bezahlen <strong>und</strong> wählen, alles weitere besorgen wir;<br />

sei recht dumm, damit du uns nicht die Wahrheit<br />

sagen kannst!"<br />

Nicht ich war es, nicht die Anarchisten waren<br />

es, sondern die zentralistische Organisations- <strong>und</strong><br />

Zersplitterungstaktik ist es, welche die vernünftigen<br />

<strong>und</strong> revolutionären Arbeiter unserer Branche von<br />

der Organisation fernhält.


Im Übrigen kann ich nur eins sagen: Da Rin<br />

konnte Arbeitern, die unsere Verhältnisse nicht<br />

kennen, mit Unwahrheiten <strong>und</strong> Verleumdungen<br />

dienen, da er ja doch das Schlußwort führte <strong>und</strong><br />

er wohl wußte, daß die Wahrheit dort nicht mehr<br />

zu Worte kommen würde. Anton Wejda.<br />

Reichenberg. Die hiesige revolutionäre G e ­<br />

werkschaftsorganisation unserer tschechischen Brüder<br />

w a r n t alle M ü l l e r a r b e i t e r davor, nach<br />

Reichenberg zu kommen, um dort Arbeit aufzunehmen.<br />

Schon seit Wochen wütet dort ein mit<br />

großer Energie geführter Kampf gegen die Ausbeuter-<br />

<strong>und</strong> Mehlpantscherfirmen Hirschmann wie<br />

auch der Gebrüder Schatten. Die Arbeiter kämpfen<br />

für eine menschenwürdige Existenz, um anständige<br />

Bezahlung <strong>und</strong> Behandlung <strong>und</strong> gegen ein ehrlos<br />

gebrochenes Versprechen der Ausbeuter, ihre,<br />

der Arbeiter, L a g e verbessern zu wollen. Wir<br />

wünschen den Arbeitern besten Erfolg <strong>und</strong> nochmals:<br />

Vor Zuzug wird gewarnt! Um Auskunft<br />

wende man sich an Wenzel Scholz, Ober-Rosental<br />

Nr. 74, bei Reichenberg, Böhmen.<br />

Ungarn.<br />

Einen ärgeren Bankerott als hier hat die<br />

Taktik <strong>und</strong> Technik des gewerkschaftlichen Zentralismus<br />

wohl nirgends zu verzeichnen: ein glänzend,<br />

mit größter Zuversicht begonnener Streik<br />

nahm ein jähes Ende, <strong>und</strong> in wilder Stampede kehrten<br />

die an selbständiges Denken <strong>und</strong> Handeln n i c h t<br />

gewöhnten Arbeiter in die Fabrikshöhlen zurück.<br />

Wir meinen den Streik der Arbeiter der<br />

Schlachthäuser <strong>und</strong> Selchereien, bei dem es sich<br />

um das gewerkschaftliche Vereinsrecht handelte,<br />

da die Unternehmer kategorisch den Austritt der<br />

Arbeiter aus der Organisation verlangten. Der<br />

Streik wurde ein Generalstreik, ja sogar die Gasarbeiter,<br />

die Lampenanzünder, die Arbeiter der<br />

Wasserleitungswerke standen auf dem Sprunge,<br />

gemeinschaftliche Sache mit den Streikenden zu<br />

machen, wie dies die Kellner bereits getan hatten.<br />

Da kam es zu einem jener Ereignisse, die<br />

von den Unternehmern provoziert werden. Während<br />

einer Zusammenrottung vor einem Selcherladen<br />

soll ein sozialdemokratischer Arbeiter namens<br />

Fröhlich einige Schüsse abgegeben haben, denen<br />

ein Menschenleben zum Opfer fiel. Dies führte zur<br />

behördlichen Auflösung des Streiklagers <strong>und</strong> zu<br />

den ärgsten Übergriffen der Unternehmer gegen die<br />

Arbeiter. Wären nun diese daran gewöhnt worden,<br />

s e l b s t ä n d i g zu kämpfen, so hätte die Auflösung<br />

des Streiklagers nichts geschadet. So aber wurden<br />

die Streikenden dadurch einfach kopflos, <strong>und</strong> die<br />

Machthaber wußten, daß es so komme würde . . .<br />

Der Streik, statt sich nun erst recht auszubreiten,<br />

um eben ein rasches, siegreiches Ende für die Arbeiter<br />

zu bewirken, brach binnen 24 St<strong>und</strong>en aufs<br />

kläglichste zusammen.<br />

Föderalistisch organisierten Arbeitern hätte<br />

das niemals passieren können. Solche Arbeiter<br />

denken nicht durch ein Streiklager, sondern durch<br />

ihre eigene, individuelle Vernunft, der ihre Handlungen<br />

entsprießen. Der Zentralismus ist Unselbstständigkeit,<br />

Wirrwarr <strong>und</strong> Kadavergehorsam, der<br />

Föderalismus sich selbst bildende <strong>und</strong> erstehende<br />

Organisation, Ordnung <strong>und</strong> selbstbewußtes Denken<br />

durch die Freiheit seiner Kampfesinitiative.<br />

Rußland.<br />

<strong>Unser</strong> italienisches Bruderblatt „II P e n s i e r o "<br />

veröffentlicht an leitender Stelle einen Nachruf, dem<br />

wir uns warm anschließen <strong>und</strong> im folgenden unerheblich<br />

verkürzt wiedergeben.<br />

D e r T o d e i n e s H e l d e n .<br />

V, L e b e d i n z e f , den wir in Rom unter<br />

dem Pseudonym C i r i l l o kannten, hat unlängst<br />

zusammen mit sechs mutigen Kameraden,<br />

unter welchen sich zwei Frauen befanden, auf<br />

des Zaren Geheiß das Schafott bestiegen. Bis<br />

zum letzten Augenblicke boten selbst die Frauen<br />

ein Bild ungebeugter Charakterstärke, ihren Kameraden<br />

zum leuchtenden Beispiel.<br />

Lebedinzef war ein begabter Jüngling, der der<br />

revolutionären Idee alles geopfert hatte, w a s dem<br />

Durchschnittsmenschen teuer ist: Ruhm, Ehren,<br />

Familie <strong>und</strong> Studium. Nach Italien gekommen,<br />

um sich von einer langen <strong>und</strong> fieberhaften Tätigkeit<br />

zu erholen, hielt er es hier nicht lange aus,<br />

es zog ihn wieder zurück nach dem Kampffelde<br />

der Revolution. Unter der Maske eines italienischen<br />

Journalisten, die ihm sehr gut stand, da er<br />

inzwischen vorzüglich Italienisch gelernt hatte,<br />

kehrte er nach Petersburg zurück. Hier wurde er<br />

mit einer großen Anzahl anderer Revolutionäre<br />

verhaftet, als sie mit Bomben bewaffnet die Ausfahrt<br />

des Petersburger Gouverneurs erwarteten,<br />

um einen Todesspruch der revolutionären Partei<br />

zu vollstrecken.<br />

Wir hegten für einige T a g e die Hoffnung,<br />

daß er sich retten werde können. Doch es sollte<br />

nicht sein. Mutig <strong>und</strong> unerschüttert ging er mit<br />

seinen Leidensgenossen dem T o d e entgegen <strong>und</strong><br />

grausam mordeten ihn die zaristischen Henker.<br />

D a s italienische Volk, das infolge des zuerst<br />

italienischen Namens sich für seinen Fall interessierte,<br />

bewahrte es ihm auch späterhin, als es<br />

von seinem todesmutigen Betragen erfuhr <strong>und</strong><br />

nimmt die Nachricht von seiner Hinrichtung mit<br />

trauerndem Herzen auf. Ein neues Band verbindet<br />

nun wieder die italienische Jugend mit der russischen,<br />

die romanischen Revolutionäre mit den<br />

slavischen — ein ideales Band, wie es Michael<br />

Bakunin herbeisehnte, <strong>und</strong> das er stets zu festigen<br />

<strong>und</strong> zu stärken bestrebt war!<br />

Als Lebedinzef in Rom war, brachte er den<br />

Anarchisten lebhafte Sympatien entgegen. Er gab<br />

sich für einen revolutionären <strong>und</strong> antiparlamentarischen<br />

Kommunisten aus <strong>und</strong> war eifriger B e ­<br />

sucher der anarchistischen Gruppe » C o n s t a n ­<br />

t i n o Q u a g l i e r i " ; er hatte sich in dieser<br />

Gruppe mit verschiedenen Arbeitern befre<strong>und</strong>et,<br />

die sich seiner hingebenden Natur <strong>und</strong> seiner<br />

lehrreichen Diskussionen mit Bew<strong>und</strong>erung erinnern.<br />

Oft ging er mit ihnen nachts durch die<br />

leeren Straßen Roms, von den gemeinsamen<br />

Hoffnungen auf die kommende soziale Revolution<br />

erfüllt <strong>und</strong> über russische Ereignisse plaudernd.<br />

Oft kam es vor, daß der Genosse, der ihn nachts<br />

am Schreibtisch verlassen hatte, ihn noch morgens<br />

an demselben in Arbeit vertieft vorfand. Er bewegte<br />

sich mit Vorliebe in Gesellschaft jugendlicher<br />

Arbeiter, denen er Bücher <strong>und</strong> Broschüren<br />

schenkte; soeben zeigt uns tiefbewegt einer von<br />

ihnen ein Exemplar Bakunins „Gott <strong>und</strong> der Staat",<br />

das mit einer fre<strong>und</strong>schaftlichen Widmung Cirillos<br />

versehen ist.<br />

Wir erinnern uns noch seiner Rede, die er<br />

anläßlich einer Veranstaltung der anarchistischsozialistischen<br />

Föderation von Lazio über die<br />

soziale Revolution, unsere Hoffnungen <strong>und</strong> gemeinsamen<br />

Ideale h i e l t . . . . "<br />

Eine Warnung.<br />

Als gebürtiger Österreicher <strong>und</strong> zuständiger<br />

Preuße, der die deutschländischen Verhältnisse genau<br />

kennt, warne ich die österreichischen Kameraden<br />

davor, nach Deutschland auszuwandern, da ihnen<br />

bei der geringsten Betätigung ihrer wirtschaftlichen<br />

<strong>und</strong> geistigen Interessen die A u s w e i s u n g sicher<br />

bevorsteht. So wurde erst jetzt wieder ein 16 Jahre<br />

hier ansässiger Genosse, der um seine Naturalisation<br />

anhielt, kurzerhand ausgewiesen.<br />

Franz D r e s c h e r , Görlitz.<br />

Ein Protest.<br />

In der Nr. 8 des „W. f. A." berichtet der<br />

Tischler Duchek aus Grottau über seinen Ausschluß<br />

aus dem Holzarbeiterverband, als dessen<br />

Gr<strong>und</strong> die Redaktionspolizisten des „Holzarbeiters",<br />

„anarcho-sozialistische Umtriebe" angaben. Es ist<br />

kein Zufall, wenn die Staatspolizei „lästigen" Elementen<br />

gegenüber denselben Ausdruck gebraucht,<br />

ist es doch den einen wie den andern um dasselbe<br />

z u tun — j e g l i c h e f r e i e W i l l e n s - u n d<br />

M e i n u n g s ä u ß e r u n g z u u n t e r d r ü c k e n .<br />

Daß ohne lebendige Kritik kein Fortschritt<br />

möglich ist, lehrt uns Geschichte <strong>und</strong> Wissenschaft,<br />

daß jeder gesellschaftliche Organismus dem Verfall<br />

anheimfällt, wenn er sich starr gegen die Außenwelt<br />

abschließt, das zeigt uns zum Überfluß die<br />

Sozialdemokratie Österreichs, die eins in Partei<br />

<strong>und</strong> Gewerkschaft ist. Nur damit ist es zu erklären,<br />

daß freiheitliche Elemente aus dem Verbände ausgestoßen<br />

<strong>und</strong> zu deren Ersatz Streikbrecher aufgenommen<br />

werden.<br />

„Das seinerzeit ausgeschlossene Mitglied<br />

W l č e k (Kistentischler) wird nach Abgabe einer<br />

Erklärung in den Verband wieder aufgenommen",<br />

heißt es im Bericht über die Vorstandssitzung vom<br />

8. April 1908 in Nr. 16 des Organs der „Holzarbeiter<br />

Österreichs".<br />

Zwei T a g e vorher, am 6. April 1908 war in<br />

der Vereinsversammlung der Kistentischler Wiens<br />

beraten worden, ob dem Ersuchen des Kistentischlers<br />

W l č e k um Wiederaufnahme stattzugeben<br />

sei; als elenden S t r e i k - u n d B o y k o t t b r e c h e r<br />

wurde ihm jedoch der Eintritt verweigert, denn er<br />

war wegen gemeinen Streikbruchs ausgeschlossen<br />

worden. Er hatte Arbeitslosen- <strong>und</strong> außerordentliche<br />

Unterstützung bezogen <strong>und</strong> war doch zum<br />

Streikbrecher geworden; er hatte darauf in einer<br />

boykottierten Werkstätte gearbeitet <strong>und</strong> war nun<br />

entlassen, da es scheinbar seinem Meister am<br />

Nötigsten fehlte; um nun wieder in einer Fabrik<br />

Arbeit zu finden, mußte er sich der Organisation<br />

anschließen; also aus ganz elenden Motiven ersuchte<br />

er um Wiederaufnahme. Die V e r e i n s ­<br />

v e r s a m m l u n g der Kistentischler Wiens vom<br />

6. April 1908 verweigerte ihm deshalb den Wiedereintritt;<br />

die V o r s t a n d s s i t z u n g vom 8. April<br />

1908 nahm ihn dagegen auf. Es wurde hier erklärt,<br />

daß Wlcek, Mitglied des X. Bezirkes der politischen<br />

Organisation sei <strong>und</strong> sich da nichts zu Schulden<br />

habe kommen lassen, sogar eifriger Leser der<br />

„Arbeiter-Zeitung" <strong>und</strong> der „Volkstribüne" sei . . .<br />

Partei <strong>und</strong> Gewerkschaft sind eins, so meint<br />

der V o r s t a n d , wenn Streikbrecher wieder aufgenommen<br />

werden. Partei <strong>und</strong> Gewerkschaft sind<br />

eins, so meint auch die Wahlleitung, wenn die für<br />

<strong>und</strong> durch wirtschaftliche Kämpfe gesammelten<br />

Arbeitergroschen zu politischen Kandidaturen ausgegeben<br />

werden. Partei <strong>und</strong> Gewerkschaft sind<br />

eins, wenn Arbeiter, die' die Ges<strong>und</strong>ung der Partei<br />

anstreben, aus der Gewerkschaft ausgeschlossen<br />

werden.<br />

Daß dem nicht mehr so sein solle, daß sich<br />

die Gewerkschaftsbewegung Österreichs von den<br />

Schlacken reinige, d i e d u r c h P a r t e i u n d V o r ­<br />

s t a n d verursacht werden, dafür erheben wir unsere<br />

Stimme als klassenbewußte <strong>und</strong> freiheitsringende<br />

Proletarier, deshalb legen wir Protest ein<br />

gegen den Ausschluß von ehrlichen anarchistischen<br />

Genossen <strong>und</strong> gegen die Wiederaufnahme von<br />

Streikbrechern a la Wlcek.<br />

Mitglieder des Holzarbeiterverbandes:<br />

Alfred Wagner (Buch Nr. 38.674), B. Brünner<br />

(101.827), Josef Schalek (5414), EI. Kozak (17.525),<br />

H. Schebesta (22.837), Jos. Kabouek (45), Jakob<br />

Kressa (29.487), Rudolf Zinterhof (112.735), Karl<br />

Kostron, Anton Petzl (387), Leopold Martinek<br />

(12.924), Josef Janda, Karl Sinko, Alois<br />

Ondfej (21.451).<br />

Vereine <strong>und</strong> Versammlungen.<br />

A l l g e m e i n e G w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n . J e d e n<br />

Montag halb 8 Uhr abends, V., Einsiedlergasse 60.<br />

A l l g e m e l n e G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t l o n . J e d e n<br />

Sonntag vormittags 9 Uhr, X., Eugengasse 9.<br />

A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n . Jeden<br />

Dienstag 8 Uhr abends, XIV., Märzstrasse 3 3 .<br />

A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n . Rhetorischer<br />

Kurs, tschechisch <strong>und</strong> deutsch, jeden<br />

Donnerstag 8 Uhr abends, XIV., Märzstraße 33.<br />

G e s a n g v e r e i n „ M o r g e n r ö t e " . Jeden Mittwoch<br />

abends bei Schlor.<br />

„ F r e i e r Gedanke", Freidenkerversammlung<br />

jeden Freitag abends 8 Uhr, XIV., Märzstraße 33.<br />

A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n . S o n n -<br />

tag den 7. Juni, 9 Uhr vormittags in Saßhofers<br />

Saal, XVI., Johann Nepomuk Bergerplatz 6. T h e m a :<br />

„Gewerkschaftliche <strong>und</strong> volkserzieherische Organisation".<br />

Referenten: Ramus <strong>und</strong> Vohryzek.<br />

A l l g e m e i n e r B l l d u n g s - <strong>und</strong> Diskussionsklub.<br />

Große öffentliche Vereinsversammlung am<br />

Sonntag den 14. Juni, 9 Uhr vormittags, XIV., Huglg<br />

a s s e 15. T h e m a : Die Wertlosigkeit des Parlamentarismus<br />

für die Gewerkschaftsbewegung.<br />

G e w e r k s c h a f t d e r S c h u h m a c h e r . Jeden<br />

Samstag XIV. Beingasse.<br />

Briefkasten.<br />

B ä u m l . Ersparen Sie sich die Mühe des Herausschreibens,<br />

senden Sie uns das Buch selbst,<br />

<strong>und</strong> wir werden sehen, w a s sich verwerten läßt.<br />

W a s Siedlungsgenossenschaften auf prinzipieller<br />

Gr<strong>und</strong>lage anbetrifft, s sind wir denselben nicht nur<br />

n i c h t abgeneigt, sondern befürworten sie sogar<br />

eifrig. Doch wohlgemerkt: an Ort <strong>und</strong> Stelle, nicht<br />

erst H<strong>und</strong>erte von Kronen auf Reisespesen hinauswerfen!<br />

Ein Artikel über diese Frage ist jederzeit<br />

willkommen. Gruß! — „ F r e i h e i t " , N. Y. Bitte mir<br />

Nr. 1, 2 <strong>und</strong> 3 der Flugschriften der „New-Yorker<br />

anarchistischen Föderation" zu senden! — K l a g e n ­<br />

furt. Jene Krapotkinschen Broschüren sind vergriffen.<br />

Bestellen Sie die in unserem Verzeichnis<br />

angegebenen. Gruß <strong>und</strong> mutig kämpfen! — G r a z .<br />

Nr. 1 vollständig vergriffen. Kampfesgruß Euch<br />

allen! — H o l t m a n n . Senden Sie Geld, wie Sie<br />

wünschen.<br />

Franz Schustaczek,<br />

einer der alten Radikalen der Achtzigerjahre<br />

der damaligen Sozialrevolutionären Bewegung,<br />

ist am 21. Mai gestorben. Er stand in<br />

den vordersten Reihen des Kampfes <strong>und</strong><br />

f ü n f Jahre verbüßten, schweren Kerkers<br />

legen Zeugnis ab für die Unbeugsamkeit<br />

seiner Oberzeugung. Es ist gegenwärtig nicht<br />

der Moment gekommen, auf das Einzelne<br />

dieses Lebensganges einzugehen, der eine<br />

große Menge erlebten Leidensmaterials hinterläßt,<br />

das der historischen B e - <strong>und</strong> Verarbeitung<br />

harrt. Doch eines sei schon jetzt<br />

konstatiert: Ein Vielgeprüfter <strong>und</strong> von der<br />

gegenwärtigen Art der sozialdemokratischen<br />

Bewegung arg Enttäuschter ist mit ihm zu<br />

Grabe getragen worden, dessen scharf-kritischer<br />

Geist aber hoffentlich weiter leben <strong>und</strong><br />

auferstehen wird zwecks Klärung <strong>und</strong> Aufklärung<br />

der lebenden <strong>und</strong> kämpfend strebenden<br />

Generation.<br />

Ein treues Andenken wollen wir ihm<br />

bewahren ob all des Leides, das er gelitten,<br />

<strong>und</strong> nachträglich drücken wir auf diesem<br />

W e g e auch seiner Kampfgenossin, die ihm<br />

lange Jahre treu <strong>und</strong> hilfreich zur Seite stand,<br />

unser aufrichtigstes Beileid aus!<br />

An alle Österr. Arbeiter! Zuzug ist strengstens fernzuhalten von der italien. Provinz Parma, wo 30.000 Landarbeiter einen heldenmütig<br />

geführten Streik durchkämpfen wider die Hydra des Großgr<strong>und</strong>monopols <strong>und</strong> der staatlichen Ausbeuterwillkür!


Die freie Generation. Dokumente zur Weltanschauung<br />

des Anarchismus. Heft 11. P. Ramus,<br />

Nachträgliche 1. Maigedanken. Flax, Jules Guesde.<br />

Hertha Vesta, Vom Frauenstandpunkt. Julius Skall,<br />

Philosophische Gr<strong>und</strong>prinzipien des Anarchismus.<br />

Eduard Joris, Ein W o r t an die Öffentlichkeit. Archiv<br />

des sozialen Lebens. Preis pro Einzelheft 25 h.<br />

Auf dem Schlachtfelde.<br />

Ein Kriegsgedicht gegen den Krieg.<br />

„Dort war's <strong>und</strong> dortl Da oben da könnt ihr Alles<br />

seh'n. —<br />

Hier mußten an zwei St<strong>und</strong>en sie still im Feuer<br />

steh'n.<br />

Dort standen die Kanonen; ich hör' es heute noch,<br />

Das Prasseln <strong>und</strong> das Donnern, <strong>und</strong> wie nach Blut<br />

es roch!<br />

Und dort, dort stand mein Häuschen. Wie Hagel<br />

kam's herein.<br />

0 Gott! mein Lebtag denk' ich an diese Angst <strong>und</strong><br />

Pein.<br />

'ne Kuh hatt' ich im Stalle, sie trieben sie hinaus.<br />

Mein Acker ward verwüstet, verbrannt mein kleines<br />

Haus.<br />

Hier fielen wohl die Meisten. Welch' W u t - <strong>und</strong><br />

Schmerzgeschrei!<br />

Nun ruh'n sie dort am Hügel, mein Sohn ist auch<br />

dabei —<br />

Es sind jetzt schlimme Zeiten; weiß nicht, wie's<br />

werden soll.<br />

0 Herr, ich kann nicht weiter; o laßt mich, Herr,<br />

lebt wohl!"<br />

Mir wurden feucht die Augen. Der arme Alte schied.<br />

Es war so still, so eigen, die Lerche sang ihr Lied.<br />

0 w<strong>und</strong>erbar gesegnet, o üppig fruchtbar Land,<br />

Geackert <strong>und</strong> gepfleget von fleiß'ger Menschenhand!<br />

Wie lange wird es währen, bis du a u f s neu zerzaust,<br />

Bis wieder Kriegesfurie, entfesselt in dir haust?<br />

Bis wieder grimmer Wahnsinn den eig'nen Fleiß<br />

zerfetzt,<br />

Bis wieder sich die Völker mit Phrasen aufgehetzt?<br />

Mit „Ruhm <strong>und</strong> Waffenehre", „für Gott <strong>und</strong> Vaterland"<br />

O Gott! o wahre Ehre! wie werdet ihr verkannt!<br />

Wenn einer einen mordet, dann gibt`s ein groß'<br />

Geschrei.<br />

Wenn Tausende sich morden, dann denkt man<br />

nichts dabei.<br />

Wenn einer einen mordet, war's Haß, war's Beutesucht;<br />

Der Mörder wird verstoßen, verachtet <strong>und</strong> verflucht.<br />

Wenn Tausende sich morden, dann wird's 'ne<br />

große Tat,<br />

Trophäen, Feindesbeute, Kriegsrecht nach Gottes Rat.<br />

Da gilt's des Landes Ehre, des Volkes Heiligtum,<br />

Da gilt's die Waffenehre, da gilt's den Schlachtenruhm,<br />

Da beten alle beide, daß tötlich sei ihr Blei,<br />

Die Pfaffen segnen, weihen <strong>und</strong> bleiben ernst dabei.<br />

Da wird auf beiden Seiten um Hilfe Gott gefleht;<br />

Auf beider Gegner Banner das Recht, die Freiheit steht.<br />

W a s sind denn Recht <strong>und</strong> Ehre, w a s Freiheit,<br />

Vaterland,<br />

Wenn die Entscheidung darüber liegt nur in eines<br />

Hand?<br />

Wenn eines einz'gen Willkür, wenn eines Machtgebot<br />

Für H<strong>und</strong>erttausend andere ist Untergang <strong>und</strong> T o d ?<br />

Dort liegen sie <strong>und</strong> ruhen von ihrer Todesqual,<br />

Die sich gemordet haben, weil einer es befahl,<br />

Weil man der Waffenehre Genüge tun gemußt.<br />

0 Weiber, Kinder, Mütter! o hättet ihr's gewußt!<br />

W o z u die bange Sorge, mit der du manche Nacht<br />

An deines Lieblings Bette, o Mutter, hast g e w a c h t ?<br />

Daß deines Alters Stütze, daß einst dein Trost er sei.<br />

Jetzt liegt er da erschossen — man findet nichts<br />

dabei.<br />

Man jubelt, [lärmt, trompetet, setzt ihm ein Kreuz<br />

auf's Feld,<br />

Bescheinigt ihm zur Grube, das brav er fiel als Held.<br />

Man feiert Siegesfeste, — Tedeum, Glockenton.<br />

Könnt ihr damit erwecken, nur einer Mutter S o h n ?<br />

Mit Achselzucken weist man der Mutter Schmerz<br />

zurück;<br />

Um sie zu trösten, nennt man's die hohe Politik.<br />

O, trockne deine Tränen! es ist ein hart Geschick;<br />

Doch das dein Sohn erschossen, o nenn' es noch<br />

ein Glück!<br />

War' er zum Krüppel worden, bekreuzt war' seine<br />

Brust;<br />

Dann aber hätt' er hungern <strong>und</strong> betteln noch<br />

gemußt,<br />

Und mit ihm Tausend andere. O Wahn 1 o Wahn<br />

der Z e i t !<br />

Wie lange wird es währen, bis wir von dir befreit?<br />

Bis alle Völker einig in diesem einen W o r t :<br />

W i r w o l l e n k e i n e K r i e g e , w i r w o l l e n<br />

k e i n e n M o r d !<br />

Nicht jene, die da würfeln mit blut'gem Menschenbein.<br />

Du selber bist der Mörder, du selber, Volk, allein —<br />

Die Knechtschaft <strong>und</strong> ihr Wechsel sind nicht das<br />

Pulver wert;<br />

W a s dich allein begeist`re, das sei der eig'ne Herd;<br />

Nicht „Ruhm", nicht Waffenehre, nicht schnöder,<br />

hohler Tand,<br />

Der Wohlstand <strong>und</strong> der Friede, ein freies Vaterland<br />

I<br />

Das Recht des ärmsten Bürgers, das sei des<br />

Landes Wahl.<br />

Und lieber tot, als dulden, daß dieses Recht je fall'!<br />

Und dieses Recht zu wahren, das sei des Kampfes<br />

wert:<br />

Der einz'ge Krieg der Zukunft sei für den eig'nen<br />

Herd. -<br />

O sprecht es aus, ihr Völker, sprecht endlich aus<br />

das W o r t :<br />

W i r w o l l e n k e i n e K r i e g e , w i r w o l l e n<br />

k e i n e n M o r d !


O laß den T a g bald kommen, o m a c h e ' endlich<br />

Ernst,<br />

Den Tag, an dem du selber, o Volk, dich achten<br />

lernst!<br />

Nur dadurch, daß du selber zur Hand nimmst dein<br />

Geschick,<br />

Nur dadurch bringst den Frieden, die Freiheit du<br />

zurück.<br />

- Horch, Trommeln <strong>und</strong> Trompeten! — o Wahn,<br />

o Wahn der Zeit!<br />

Wie lange wird es währen, bis wir von dir befreit?<br />

Johannes Guttzeit.<br />

Ein holländisches »Nirgendsheim«.<br />

*)<br />

Dieses herrliche Gedicht in Prosa,<br />

welches mir leider nur in der englischen<br />

Übersetzung vorliegt, ist eine erquickende<br />

Abwechslung in der Menge von modernen<br />

Romanen, welche uns die Gegenwart in<br />

düsteren Farben malen, oder aber die Zukunft<br />

nach irgend einem Programm vor<br />

unseren Blicken entrollen. Der holländische<br />

Dichter hat es verstanden, eine Satyre der<br />

Gegenwart zu schreiben, in welcher das<br />

Unzulängliche aller modernen Weltanschauungen<br />

in einer liebevollen Weise beleuchtet<br />

wird, <strong>und</strong> er schildert uns dann<br />

eine Gesellschaft freier Menschen — in<br />

einer Weise, welche nicht verfehlen kann,<br />

den Gleichgültigen mit Begeisterung <strong>und</strong><br />

neuer Strebenslust zu erfüllen.<br />

»Der kleine Johannes«, ein Kind wohlhabender<br />

Eltern, <strong>und</strong> Markus, ein Scherenschleifer<br />

sind die Helden dieser w<strong>und</strong>erbaren<br />

Erzählung. Die ganze Tragödie der kleinen<br />

Kinderseele finden wir in Johannes verkörpert,<br />

während er gezwungen ist die<br />

Schule zu besuchen, wo die Seele des<br />

Kindes unbefriedigt bleibt. Er hatte auch<br />

einen guten <strong>und</strong> weisen Vater, welcher mit ihm<br />

durch die Wälder streifte <strong>und</strong> ihn zu belehren<br />

suchte. Aber wirklich wohl fühlte<br />

sich Johannes nur, wenn er mit seinem<br />

H<strong>und</strong>e, sein anhänglichster Fre<strong>und</strong>, durch<br />

Flur <strong>und</strong> Wald streifen <strong>und</strong> sich mit den<br />

Blumen <strong>und</strong> Insekten unterhalten konnte.<br />

Wittekind, ein Zwerglein, machte ihn auch<br />

mit dem Leben der Ameisen bekannt. Eines<br />

Tages fanden sie eine alte Ameise, welche<br />

Pflanzenläuse (die Milchkühe der Ameisen)<br />

hütete. »Wir leben jetzt in großer Bedrängnis«,<br />

erzählte ihm die Ameise, »weil uns<br />

ein großer Krieg bevorsteht. Wir wollen<br />

das Nest unserer Nachbarn zerstören <strong>und</strong><br />

die Larven stehlen oder töten.«<br />

»Was ist die Ursache des Krieges?«<br />

fragte Johannes. »Es ist doch nicht schön.«<br />

*) „Der kleine Johannes" von F. van Eeden.<br />

Englisch: „The Quest," herausgegeben von John<br />

W. Luce & Co., Boston.<br />

»In der Tat«, antwortete die Hirtin,<br />

»Es ist ein sehr lobenswertes Unternehmen!<br />

Du solltest wissen, daß es streitbare Ameisen<br />

sind, welche wir angreifen wollen.<br />

Diese Art wollen wir vertilgen, <strong>und</strong> das<br />

ist doch eine gute Tat.«<br />

»Und seid ihr denn nicht auch streitbare<br />

Ameisen?« fragte Johannes.<br />

»Sicherlich nicht! Was fällt dir ein?<br />

Wir sind friedliche Ameisen.«<br />

»Aber wie soll ich das verstehen?«<br />

»Weißt du es nicht? Ich will es dir<br />

erklären. Es gab einmal eine Zeit, wo sich<br />

alle Ameisen beständig bekriegten — nicht<br />

ein Tag verging ohne große Metzeleien.<br />

Dann erschien eine gute <strong>und</strong> weise Ameise,<br />

welche dachte, daß viel Verdruß <strong>und</strong><br />

Elend würde aus der Welt geschafft<br />

werden, wenn alle Ameisen friedlich zusammenleben<br />

würden. Das fand man sehr<br />

sonderbar — <strong>und</strong> wurde sie in Stücke zerbissen.<br />

Dann kamen noch andere Ameisen,<br />

welche wieder derselben Meinung waren.<br />

Auch diese wurden zerbissen. Aber es<br />

kamen deren soviele, daß es den kriegerischen<br />

Ameisen zu viel Arbeit war, alle<br />

zu zerreissen. Dann nannten sie sich alle<br />

Friedens-Ameisen <strong>und</strong> man gab zu, daß<br />

die erste Friedens-Ameise doch das Richtige<br />

gelehrt habe. Wenn nun eine damit<br />

nicht einverstanden war, dann wurde sie<br />

von den Friedens-Ameisen getötet. Heute<br />

sind wir alle Friedens-Ameisen <strong>und</strong> die<br />

Überbleibsel der ersten Friedens-Ameise<br />

werden jetzt verehrt uud sorgfältig aufbewahrt.<br />

Wir haben ihren Kopf — den verbürgten<br />

Kopf. Wir haben zwölf andere<br />

Kolonien verwüstet <strong>und</strong> die Ameisen ermordet,<br />

welche auch vorgaben, den echten<br />

Kopf zu besitzen. Jetzt sind bloß noch vier<br />

Kolonien geblieben. Sie nennen sich Friedens-Ameisen,<br />

sind in Wirklichkeit jedoch<br />

Kriegs-Ameisen. Denn nur wir haben den<br />

echten Kopf, weil die Friedens-Ameise<br />

doch nur einen Kopf hatte. Wir wollen<br />

jetzt die dreizehnte Kolonie zerstören.<br />

Siehst du jetzt, daß es ein gutes Werk ist?«<br />

Diese Logik wollte dem kleinen Johannes<br />

nicht recht in den Kopf. Viel einleuchtender<br />

<strong>und</strong> sympathischer waren ihm die<br />

Erzählungen <strong>und</strong> Belehrungen des Scherenschleifers<br />

Markus. Zu ihm fühlte sich Johannes<br />

auch hingezogen, wie auch alle<br />

anderen Kinder der Stadt <strong>und</strong> ihrer Umgebung.<br />

Markus hat die Eigenschaft, alle<br />

Kinder an sich zu ziehen. Auch die verdorbensten<br />

Rangen sind in seiner Gegenwart<br />

die fre<strong>und</strong>lichsten <strong>und</strong> gehorsamsten<br />

Wesen, wenn er ihnen Geschichten erzählte.<br />

Sie waren wie umgewandelt. Diese Macht


über die Kleinen lag einfach in dem ernsten<br />

<strong>und</strong> treuherzigen Interesse, das er für<br />

die Kinder zeigte. Da war nichts, gar nichts,<br />

das ihn nicht interessierte <strong>und</strong> er sich nicht<br />

bemüht hätte, zu helfen. So beschwichtigte<br />

er die hungrige Seele des Kindes, gewann<br />

dessen Vertrauen <strong>und</strong> übte solche w<strong>und</strong>erbare<br />

Macht über dasselbe aus. Eltern, welche<br />

mit ihren Kindern schlecht fertig wurden,<br />

glaubten, daß Markus »etwas in seinen<br />

Augen,« — »seinen Fingern hatte,« ein<br />

»Zaubermittel, mit welchem er die Kleinen<br />

so fügsam machte. »Wenn die Kinder nicht<br />

sprechen sollen,« antwortete er einer strengen<br />

Mutter, »wer soll dann verständig<br />

sprechen?«<br />

Markus war auch ein eifriger Befürworter<br />

der Arbeiter, aber da er diesen so<br />

wenig schmeichelte, wie den Reichen,<br />

mußte er viele Gehässigkeiten über sich<br />

ergehen lassen.<br />

Eines Abends besuchten Markus <strong>und</strong><br />

Johannes eine sozialdemokratische Arbeiterversammlung.<br />

Der Hauptredner war<br />

Dr. Feibock, welcher wie gewöhnlich die<br />

Tugenden der Arbeiter besonders hervorhob<br />

<strong>und</strong> die Kapitalisten moralisch vernichtete.<br />

Erst die Macht der Arbeiter werde<br />

die Gerechtigkeit herstellen. Nach dem<br />

Applaus erhob sich Markus <strong>und</strong> sagte u. a.<br />

folgendes:<br />

»Es sind hier Väter <strong>und</strong> Mütter, welche<br />

wissen, was verzogene Kinder sind.<br />

Das verdorbene Kind, welches immer geschmeichelt<br />

<strong>und</strong> verzärtelt worden ist, oder<br />

welches sich immer dem Zwange unterwerfen<br />

muß, wird mit der Zeit zänkisch,<br />

bösartig <strong>und</strong> krankhaft. Sollen wir uns nun<br />

gegenseitig so behandeln, wie wir nicht<br />

einmal mit unseren Kindern umgehen<br />

sollten? Durch unangebrachtes Lob schmeicheln<br />

die Menschen sich ihre Macht <strong>und</strong><br />

ihres Einflusses — werden fortgerissen von<br />

den süßen <strong>und</strong> feingewählten Worten betreffs<br />

der Ungerechtigkeit, welche sie<br />

schon zu lange erduldet haben, <strong>und</strong> der<br />

Wohlhabenheit <strong>und</strong> Glückseligkeit, zu welcher<br />

alle Menschen berechtigt sind. Das<br />

hört ihr alle sehr gern, nicht wahr?<br />

»Aber das was man am liebsten hört,<br />

ist nicht immer ratsam zu sagen. Es gibt<br />

Dinge, welche man nicht gern hört, welche<br />

aber doch gesagt <strong>und</strong> beherzigt werden<br />

sollten. Ich weiß, daß ich keinen Applaus<br />

zu erwarten habe, wie mein Vorredner,<br />

<strong>und</strong> doch bin ich euch ein besserer Fre<strong>und</strong>.<br />

Gewiß, ihr leidet, man ist ungerecht<br />

gegen euch; aber ihr sollet euch deswegen<br />

nicht erhaben fühlen, sondern ihr solltet<br />

euch dessen schämen. Denn wenn ihr fort-<br />

fahrt, Ungerechtigkeiten zu dulden, so ist<br />

das nur ein Beweis, daß ihr zu schwach,<br />

zu dumm oder zu gleichgiltig seid, um<br />

solche zu überwinden.<br />

Ihr müßt nicht immer fragen: »Was<br />

tut man mit uns?« sondern: »Warum dulden<br />

wir es?« Die Antwort zu dieser Frage<br />

kann immer nur lauten: »Schwäche, Stupidität<br />

<strong>und</strong> Gleichgiltigkeit!« Ich mache euch<br />

keinen Vorwurf, aber ich sage: beschuldigt<br />

nicht andere, sondern euch selbst. Das ist<br />

der <strong>Weg</strong> zur Besserung.<br />

Ist hier jemand, auch nur ein einziger,<br />

welcher es wagen würde mir zu versichern,<br />

feierlich, daß, wenn ihm sein Arbeitgeber<br />

wegen guter Leistung <strong>und</strong> Fähigkeit eine<br />

bessere Stellung mit höherem Lohn offerieren<br />

würde, — daß er dann sagen würde:<br />

»Nein, ich nehme das nicht an, denn das<br />

wäre ein Verrat an meinen Genossen <strong>und</strong><br />

meiner Partei!« Ist hier ein solcher, so<br />

möge er aufstehen.«<br />

Aber niemand rührte sich, <strong>und</strong> das<br />

Schweigen wurde nicht unterbrochen.<br />

»Also gut,« fuhr Markus fort, »noch<br />

ist hier eine einzige Person, welche das<br />

Recht hat, gegen die Reichen zu eifern,<br />

welche er haßt <strong>und</strong> vertilgen möchte. Ein<br />

jeder von euch würde ganz genau dasselbe<br />

tun, was die Reichen heute tun.<br />

Die Dinge der Welt würden nicht besser<br />

gehandhabt werden, wenn ihr an der<br />

Spitze ständet.<br />

Wie ihr euch doch gegenseitig zu<br />

täuschen <strong>und</strong> zu schmeicheln sucht! Fortwährend<br />

hört ihr, daß ihr unschuldig, die<br />

Unterdrückten seid, die so viel leiden<br />

müssen; daß ihr besserer Dinge würdig<br />

seid; daß ihr so gut <strong>und</strong> so mächtig seid;<br />

daß ihr die Welt so viel besser <strong>und</strong> weiser<br />

regieren würdet; jetzt sei eure Zeit gekommen,<br />

in Bequemlichkeit <strong>und</strong> Pracht zu<br />

leben.<br />

Männer, selbst wenn dem so ist, ist es<br />

dann notwendig, daß man euch immer das<br />

sagen muß? Werdet ihr dadurch nicht zu<br />

eingebildeten Narren gemacht? Würde sich<br />

die Wirklichkeit nicht fürchterlich an euch<br />

<strong>und</strong> an den Kriechern <strong>und</strong> Schmeichlern<br />

rächen?<br />

Alles, was ihr hört, ist Falschheit <strong>und</strong><br />

Einbildung. Ihr würdet die Welt nicht besser<br />

regieren, denn dazu habt ihr weder<br />

das Wissen noch die erforderliche Menschenliebe.<br />

Ihr seid des Mitleides nicht<br />

mehr würdig als eure Unterdrücker; denn<br />

wenn dieselben euch ein Unrecht zufügen,<br />

schaden sie selbst ihre eigene Seele. Die<br />

Reichen wandeln auf viel gefährlicheren<br />

<strong>Weg</strong>en als die Armen, denn es ist im-


mer besser zu leiden, als das Unrecht zu<br />

begehen.<br />

Die guten Dinge der Erde gehören<br />

euch noch nicht, denn ihr würdet damit<br />

denselben Mißbrauch treiben, als diejenigen,<br />

gegen welche man euch aufhetzt.<br />

Kämpft bis zum Tode, aber es muß<br />

ein Krieg der Gerechten gegen die Ungerechten<br />

sein; ein Kampf der Weisen <strong>und</strong><br />

Wohlwollenden gegen die Stupiden <strong>und</strong><br />

Schlechtgesinnten. Und fragt nicht, wo<br />

eure Waffenbrüder herkommen, denn ihr<br />

seid nicht die einzig Unglücklichen: nicht<br />

ihr allein seid die Barmherzigen unter der<br />

Menschheit; Wohlwollen <strong>und</strong> Redlichkeit<br />

sind nicht ausschließlich die Eigenschaften<br />

der Armen.«<br />

Jetzt sprang Dr. Felbek auf <strong>und</strong> donnerte<br />

eine Entgegnung in den Saal hinein,<br />

die allen Lesern bekannt klingen dürfte:<br />

»Genossen, wir haben es nicht nötig,<br />

zu fragen, von wo der Wind bläst. Es ist<br />

dies einer von jener kleinen, veralteten<br />

Bande bürgerlicher Idealisten, welche die<br />

Welt mit Traktätchen <strong>und</strong> Predigten reformieren<br />

<strong>und</strong> die Arbeiter in der Unterjochung<br />

<strong>und</strong> Entsagung zufrieden sehen<br />

möchten. Arbeiter, ich frage euch, habt ihr<br />

nicht lange genug Geduld geübt? Habt<br />

ihr kein Recht auf die Genüsse des Lebens?<br />

Könnt ihr die hungrigen Magen eurer<br />

kleinen Kinder mit dem betrügerischen<br />

Geschwätz über Weisheit <strong>und</strong> Wohlwollen<br />

füllen?«<br />

»Nein, nein!« schrie die Versammlung,<br />

welche sich sogleich von dem Zauber der<br />

Achtung, mit welchem Markus dieselbe gefangen<br />

gehalten hatte, befreite.<br />

»Laßt euch nicht von solchem langweiligen<br />

Geschwätz betören, welches den<br />

Klassenkampf bestreiten möchte, O wahrlich!<br />

Solchen hören die Herren der Sicherheitskasten<br />

(die Polizei) gern zu, denn diese<br />

fürchten ja den Klassenkampf so sehr!<br />

Könnten sie diesen Herrn sprechen hören,<br />

er würde sicherlich ihren Beifall finden . . .<br />

Die Medaille hat man für ihn gewiß schon<br />

in Bereitschaft.«<br />

»Und eine Pension!« schrie jemand,<br />

während die Versammlung lachte.<br />

Ein Leser.<br />

Bücherschau.<br />

Hektor Z o c c o l i , D i e A n a r c h i e ; i h r e<br />

V e r k ü n d e r , I d e e n u n d T a t e n , V e r s u c h<br />

e i n e r s y s t e m a t i s c h e n u n d k r i t i s c h e n<br />

Ü b e r s i c h t , s o w i e e i n e r e t h i s c h e n B e u r -<br />

t e i l u n g . Verlag von Maas & van Suchtelen, Leipzig.<br />

Wir haben es hier mit dem großzügigen Werke<br />

eines italienischen Professors <strong>und</strong> Forschers zu tun,<br />

der bis zu einem gewissen Grade die objektive<br />

Aufrichtigkeit <strong>und</strong> Gründlichkeif eines Gerichtsassessors<br />

Eitzbacher besitzt. Dies will viel besagen,<br />

es beweist, daß letzterer schließlich nicht allein<br />

bleibt in seiner ehrlichen, unparteiischen Würdigung<br />

desjenigen Problems, das leider <strong>und</strong> ganz unrichtig<br />

als ein Prototyp des Verbrechens <strong>und</strong> der Schändlichkeit<br />

aufgefaßt wird. Bei Zoccoli sticht ein etwas<br />

allzu lebhafter Ton hervor, der manchmal leise ins<br />

Polemische <strong>und</strong> dann stets irrtümlich werdend, umschlägt.<br />

Dort aber, wo sich das Werk auf referierende<br />

Wiedergabe des Tatsächlichen o h n e besondere<br />

Würdigung desselben, maßvoll beschränkt, ist es<br />

eine ungemein gediegene Leistung <strong>und</strong> läßt jene<br />

Zenkers weit hinter sich. Zudem hat der Verlag<br />

sich ein doppeltes Verdienst mit der Herausgabe<br />

erworben, erstens dadurch, daß er überhaupt ein<br />

Werk über ein solches in Deutschland arg verpöntes<br />

T h e m a herausgibt, zweitens aber, daß er dasselbe<br />

in Lieferungsheften herausbringt, wodurch die Anschaffung<br />

des Werkes einem jeden ermöglicht wird.<br />

Es wird 20 Lieferungen haben, von denen jede einzelne<br />

nur 72 Heller kostet. Die bislang erschienenen<br />

sechs Nummern behandeln Stirner, Proudhon, Bakunin.<br />

Ober den Fortlauf der Serie werden wir berichten,<br />

wie auch das Gesamtwerk eingehender<br />

würdigen.<br />

P a u l Louis, G e s c h i c h t e d e s S o z i a l i s -<br />

m u s in F r a n k r e i c h . Verlag von J. H. W. Dietz<br />

Nachf., Stuttgart. Dieses Werk ist außerordentlich<br />

flüchtig <strong>und</strong> unzureichend ausgearbeitet; es ist kein<br />

gründliches, wenig objektives Geschichtswerk, bringt<br />

zudem eine ganze Fülle des wichtigsten Materials<br />

nicht. Dennoch empfehlen wir es denjenigen Genossen,<br />

denen eine geschichtliche Entwicklungsskizzierung<br />

des französischen Sozialismus bisher<br />

unbekannt blieb. Für Anfänger ist die Sache gut<br />

genug, schon wegen des billigen Preises von K 3 — .<br />

L ' E c o l e R é n o v é e (Die renovierte Schule) betitelt<br />

sich eine neue Zeitschrift unseres spanischen<br />

Genossen F. Ferrer, die in Brüssel (Rue de l'Orme 76)<br />

erscheint <strong>und</strong> deren Streben, die spanischen anarchistisch-sozialistischen<br />

Erziehungsstätten über ganz<br />

Europa zu verpflanzen, nur mit Begeisterung erfüllen<br />

kann. Mitarbeiter sind der Herausgeber, Peter<br />

Krapotkin <strong>und</strong> Domela Nieuwenhuis, Robin <strong>und</strong><br />

D'Arsar — <strong>und</strong> diese Namen allein genügen schon,<br />

um die Musterqualität dieser aufbauenden Tendenz<br />

der anarchistischen Weltanschauung zu charakterisieren.<br />

<strong>Unser</strong> Glückauf! diesem herrlichen Unternehmen!<br />

Empfehlenswerte Bücher <strong>und</strong> Broschüren :<br />

Der letzte Krieg, von Teranus, eleg. geb. . K 5 -<br />

—<br />

Wohlstand für Alle, von Peter Krapotkin „ 1 _<br />

Wiliam Godwin, der Theoretiker des kommu-<br />

80<br />

nistischen Anarchismus, v. Pierre Ramus „<br />

Die historische Entwicklung der Friedensidee<br />

2-—<br />

<strong>und</strong> des Antimilitarismus, von Pierre<br />

Ramus „ — -<br />

3 0<br />

Das anarchistische Manifest, v. P. Ramus „ —"06<br />

Kritische Beiträge zur Charakteristik von<br />

Karl Marx, von Pierre Ramus . . . . „ — ' 1 2<br />

Wie klärt man Kinder auf? „ — ' 1 2<br />

Das Dogma von der Vaterlandsliebe . . . . „ — ' 1 2<br />

Liebesfreiheit <strong>und</strong> Eheprostitution, v. Fernau „ —'12<br />

Revolutionäre Regierungen, von P. Krapotkin „ —'06<br />

Gretchen <strong>und</strong> Helene, Zeitgemäße Betrachtung<br />

des Anarchismus u. d. Sozialdemokratie „ —'20<br />

Die Sintflut, von T h e o d o r Brunnecker . . „ — -<br />

1 2<br />

Die Auferstehung,<br />

Eine Reise nach<br />

v. T h e o d e r Brunnecker „<br />

dem Jenseits, von Theodor<br />

- 1 2<br />

Brunnecker<br />

Die freie Generation, Monatsschrift der Welt-<br />

, — 1 2<br />

anschauung des Anarchismus . . . . „ —"25<br />

Die Pariser Kommune, von P. Krapotkin . „ 12


anzuregen, führen, wenn ich alle nachgewiesenen<br />

Schädigungen in bezug auf die<br />

eheliche Gemeinschaft, die Stillfähigkeit der<br />

Mutter, die Ges<strong>und</strong>heit der Kinder, der<br />

sexuellen Ges<strong>und</strong>erhaltung etc. auch nur<br />

knapp diskutieren wollte. Es muß dies anderen<br />

Artikeln oder dem Studium der darüber<br />

reichhaltigen Literatur vorbehalten<br />

bleiben. Ich will mich bewußt nur an der<br />

Oberfläche halten, ohne in die Tiefe eindringen<br />

zu wollen.<br />

«Unter den vielen Schädlichkeiten,<br />

denen der Mensch von der Wiege bis zum<br />

Grabe ausgesetzt ist, unter allen Giften,<br />

welche das Leben bedrohen, ist keines<br />

heimtückischer <strong>und</strong> gefährlicher als der<br />

Alkohol» — sagt Sanitätsrat Dr. P a t e r na.<br />

Das «heimtückische» gibt jeder ihm gern<br />

zu. Es trinkt sich ja so vergnügt <strong>und</strong> fröhlich,<br />

aber oft kommt wirklich solch unerwünschter<br />

Katzenjammer hinterher. Aber<br />

gefährlich? Ja, wo. Welcher Trinker — <strong>und</strong><br />

Dr. Magnus Hirchfeld nennt schon denjenigen,<br />

meiner Ansicht nach, mit vollem<br />

Recht einen Gewohnheitstrinker, der jeden<br />

Tag sein bestimmtes, ein oder zwei Gläschen<br />

zu sich nimmt, weil ihm sonst sein<br />

Essen nicht heruntergehen will — welcher<br />

Trinker, frage ich, wird zugeben, daß ihm<br />

sein Tun schädlich? So leicht niemand.<br />

Der Gefragte weiß immer, wieviel i h m gut<br />

bekömmt, nur die Dritten schlagen über<br />

die Stränge; <strong>und</strong> denen mags vielleicht<br />

schaden. — Die englischen Lebensversicherungen<br />

machen so feine Unterschiede<br />

nicht. Ihnen gilt jeder Trinker für solch'<br />

Dritter, der sich schadet. Abstinenten genießen<br />

bei ihnen einen Prämienrabatt bis<br />

2 0 % ! Und daß diese Schmarotzer des<br />

Kapitalismus sich auf ihr Geschäft verstehen,<br />

darauf können wir uns verlassen. Wenn<br />

nichts Anderes, müßte das zum Nachdenken<br />

anregen! Leider ist aber bei dem Gewohnheitstrinker<br />

— siehe oben Dr. Magnus<br />

Hirchfeld — den es am meisten angeht,<br />

die Denkkraft so gemindert, daß er dafür<br />

kaum noch fähig erscheinen möchte <strong>und</strong><br />

die sittlichen Hemmungen so weit ausgeschaltet,<br />

daß er seinem Willen kein Durchsetzen<br />

erzwingen kann.<br />

Es ist niemand ein Geheimnis, welche<br />

Wirkungen der übermäßige Alkoholgenuß<br />

erzeugt. Die Zustände, die sich beim berauschten<br />

Manne zeigen, gleichen nicht nur<br />

der äußeren Form nach den Anzeichen des<br />

Irrsinns. Die feinst organisierten Gehirnzellen,<br />

die den Sitz des Verstandes <strong>und</strong><br />

seine Kraft ausmachen, verändern sich de<br />

facto unter der Einwirkung des Alkohols.<br />

Dem Namen nach kennen wir alle die furchtbare<br />

Bezahlung für den reichlich gefröhnten<br />

Genuß — delirium tremens. Eine Irrsinnserscheinung,<br />

die nur selten heilbar <strong>und</strong><br />

dann nur bei völligster Enthaltsamkeit! —<br />

Kleinere <strong>und</strong> nicht regelmäßig genossene<br />

Quantitäten erzeugen bei Anfängern ähnliche<br />

Krankheitsbilder. Daß sie beim Gewohnheitstrinker<br />

nicht mehr sich zeigen,<br />

kommt nicht etwa daher, daß der Körper nun<br />

gegen das Gift immun geworden ist, sondern<br />

die Reagenz des ges<strong>und</strong>en Körpers<br />

gegen die Vergiftung eingebüßt hat. An<br />

sich ein besorgniserregender Zustand. Verhängnisvoller<br />

dadurch, daß nun der instinktive<br />

Widerwillen gebrochen ist <strong>und</strong> nur<br />

noch die «Süffigkeit» in Frage zu kommen<br />

scheint.<br />

Das aber ist das Verabscheuungswürdigste<br />

bei der ganzen Sache: Der Trinker<br />

trinkt nicht, weil er Durst hat, sondern<br />

weil er sich durch den g e s e l l s c h a f t -<br />

l i c h e n D r u c k d a z u z w i n g e n l ä ß t .<br />

«Die alten Deutschen tranken immer noch<br />

eins.» «Wer niemals einen Rausch gehabt,<br />

der ist kein braver Mann.» «Wer ein ganzer<br />

Kerl sein will, muß einen ordentlichen<br />

Schluck vertragen können» — so <strong>und</strong> bis<br />

ins Unendliche variiert, kann man's hören,<br />

wenn einer nicht mithalten will. Auf den<br />

Kneipen der nicht arbeitenden Studentenschaft<br />

wird der Komment großgezogen<br />

<strong>und</strong> der beschäftigungslose Bourgeois schlägt<br />

seine überflüssige Zeit damit tot. Dem<br />

Proletarier aber kamen bis nun alle Sitten<br />

— <strong>und</strong> Unsitten — aus den «höheren»<br />

Kreisen, die er sich nur zu sehr bemühte,<br />

nachzuäffen. Damit gehts nun zu Ende.<br />

(N.B. Auch «oben» beginnts zu dämmern,<br />

<strong>und</strong> man beginnt sich von den Trinkunsitten<br />

zu emanzipieren.) Der Proletarier ist erwacht<br />

<strong>und</strong> beginnt, sich sein Leben selbst<br />

zurecht zu zimmern. Dabei ist ihm aber<br />

sein Bewußtsein <strong>und</strong> sein Wille Richtlinie<br />

des Handelns. Bewußtsein <strong>und</strong> Wille müssen<br />

rein <strong>und</strong> klar gehalten werden, damit keine<br />

Phase des bevorstehenden Kampfes den<br />

erwachten Proletar, den Sozialisten <strong>und</strong><br />

Anarchisten ablenken kann von dem geraden<br />

<strong>Weg</strong>e zur Freiheit.<br />

Zum Schlüsse will ich nur darauf hinweisen,<br />

daß selbstverständlich Statistiken<br />

<strong>und</strong> Krankheitsbilder in Fülle vorhanden<br />

sind, die von der Minderwertigkeit der Alkoholiker<br />

beredtes Zeugnis ablegen. Und<br />

ohne eine Analyse der verschiedenen Getränke<br />

zu versuchen, muß ich doch noch<br />

darauf aufmerksam machen, daß ein «Gläschen»<br />

Schnaps, ein «Glas» Wein, ein<br />

«Seidel» Bier im Durchschnitt dieselbe<br />

Menge reinen Alkohols besitzen; also eines<br />

so schädlich ist, wie das andere. Befreit<br />

Euch von diesem Feinde, <strong>und</strong> Ihr werdet<br />

früher frei werden. Alfred Bader.<br />

Sozialdemokratische Ketzergedanken<br />

über die Anarchie.<br />

Wie der Gläubige es wagt, sich seinen<br />

Himmel vorzustellen, so stelle ich mir eine Gesellschaft<br />

im Reiche der Anarchie vor. Der<br />

Unterschied beruht eigentlich nur auf zweierlei<br />

gr<strong>und</strong>verschiedenen Glauben: Während<br />

wir die unumstößliche Überzeugung in uns<br />

tragen, daß die Menschheit so v e r -<br />

e d l u n g s f ä h i g ist, daß die Betätigung<br />

des Lebens jedem einzelnen Individuum<br />

nur rn^ehr freudiger Genuß ohne jeden<br />

Zwang sein soll, das ist also ohne Herrschaft,<br />

Militär- oder Polizeigewalt, Gefängnisse<br />

u. dgl. sein kann <strong>und</strong> wird, glauben<br />

jene, daß die Menschen, obwohl nach dem<br />

Ebenbilde ihres geglaubten Gottes geschaffen,<br />

unverbesserliche Bestien seien,<br />

die nur mit Gewalt in Zaum <strong>und</strong> Zügel<br />

gehalten werden können; wovon dann<br />

eben einige, zwar auch nicht vollkommene<br />

Individuen durch die Gnade ihres Gottes,<br />

den sie fort <strong>und</strong> fort anbetteln, nach dem<br />

Tode in einen Ort kommen, den sie<br />

Himmel nennen <strong>und</strong> den sich jeder nach<br />

seinen egoistischen Wünschen ausmalt.<br />

Kurz: Wir halten einen wahrhaft glücklichen<br />

Zustand auf Erden für die Lebensdauer<br />

jedes Individuums für möglich, jede<br />

sogenannte S e l i g k e i t n a c h d e m T o d e<br />

a b e r für u n m ö g l i c h .<br />

Die Gottesgläubigen jedoch sind gegenteiliger<br />

Ansicht, das heißt sie glauben, die<br />

Menschen seien alle mehr oder weniger<br />

sündhaft, die Erde sei nur ein Prüfungsort,<br />

auf dem jeder leiden müsse, <strong>und</strong> erst<br />

nach dem Leben könne man gleich, direkt<br />

oder stationenweise in den Ort der Seligkeit<br />

— den Himmel — kommen. In diesen<br />

beiden Anschauungen stehen sich wieder<br />

einmal Vernunft <strong>und</strong> Glaube antagonistisch<br />

gegenüber, wobei ich zu bemerken nicht<br />

unterlassen kann, daß »Glaube« eigentlich<br />

nur ein umschreibendes Höflichkeitswort<br />

für »Etwas Gewisses weiß man nicht«, also<br />

für » N i c h t s w i s s e n « oder » U n w i s s e n -<br />

h e i t « ist.<br />

Da der Glaube der Gegner aber nicht<br />

Gegenstand dieser Abhandlung sein soll,<br />

so müssen wir vor allem anderen zu einer<br />

möglichst verständlichen Definition des<br />

Begriffes der Anarchie schreiten.<br />

Zu diesem Zwecke wollen wir uns<br />

aus einigen renommierten Büchern unterrichten.<br />

In Professor Gustav Heyses bester <strong>und</strong><br />

teuerster Lexikonausgabe ist zu lesen:<br />

»Anarchie, die Ohneherrschaft, Herrenlosigkeit<br />

eines Staates, Mangel der Gesetzherrschaft,<br />

gesetzloser Zustand; Wühlerherrschaft;<br />

anarchisch, gesetzlos, verfassungslos,<br />

herrscherlos; Anarchist, ein Gesetzloser,<br />

Zügelloser.« Nicht so professoralfeindlich<br />

schreibt Meyers Konversations-<br />

Lexikon: »Anarchie, Regierungs- oder Gesetzlosigkeit;<br />

anarchisch, im Zustand der<br />

Herrschafts- <strong>und</strong> Gesetzlosigkeit; Anarchisten,<br />

diejenigen, welche einen solchen<br />

Zustand anstreben.« Liebknechts Volks-<br />

Fremdwörterbuch, vom sozialdemokratischen<br />

Parteigeist diktiert, belehrt das Volk unter:<br />

»Anarchie, Abwesenheit jeder Regierung,<br />

gesetzloser Zustand; anarchisch, gesetzlos;<br />

Anarchismus, die Lehre, welche das höchste<br />

Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsideal in der Vernichtung<br />

jeder Autorität <strong>und</strong> staatlichen<br />

Ordnung erblickt; Anarchist, Gegner jeder<br />

Herrschaft <strong>und</strong> jeder staatlichen Ordnung;<br />

anarchistisch, der Lehre des Anarchismus<br />

entsprechend oder anhängend.« Und das<br />

sozialdemokratische »Volks-Lexikon«, herausgegeben<br />

von Emanuel Wurm, unter<br />

Mitwirkung von F a c h s c h r i f t s t e l l e r n ,<br />

das heißt sozialdemokratischen Tendenzschriftstellern,<br />

die den Eid auf das Dogma<br />

des umstrittenen Parteiprogramms geleistet<br />

haben, belehrt seine »wohldisziplinierten«<br />

Anhänger über: »Anarchie, Herrschaftslosigkeit;<br />

auch: Gesetzlosigkeit, Unordnung;<br />

anarchistisch, der Lehre des Anarchismus<br />

entsprechend oder folgend; anarchisch,<br />

gesetzlos, regellos, ungeordnet.«<br />

Dann folgt eine Erklärung, eigentlich versuchte<br />

Widerlegung des Anarchismus, in<br />

der unter anderem behauptet wird, daß<br />

der Einfluß des Anarchismus auf die Arbeiterbewegung<br />

ein dauernd schädigender<br />

war <strong>und</strong> ist, weil sie durch ihn von der<br />

» w o h l d i s z i p l i n i e r t e n O r g a n i s a t i o n «<br />

abgelenkt werden etc. etc. — Die Geschichte<br />

des Anarchismus, die eigentlich<br />

mit Märtyrerblut geschrieben ist, wird als<br />

ein » G e w e b e v o n g u t h e r z i g e r T o r -<br />

h e i t <strong>und</strong> n i c h t s w ü r d i g e r S c h u r -<br />

k e r e i « bezeichnet; wörtlich gedruckt<br />

»recht klar gelegt«.<br />

Aus dem Vorangeführten ist die traurige<br />

Tatsache zu ersehen, daß die Sozialdemokraten<br />

— besonders die » w o h l -<br />

d i s z i p l i n i e r t e « P a r t e i l e i t u n g — als<br />

Vertreter der Devise »Freiheit, Gleichheit,<br />

<strong>und</strong> Brüderlichkeit« die ärgsten Feinde der<br />

Freiheit, Gleichheit <strong>und</strong> Brüderlichkeit sind,<br />

weil sie geistig nie in das hochedle Ideal<br />

der Anarchie eingedrungen sind. Würden<br />

sie sagen, die Menschheit sei derzeit nicht<br />

reif, eine anarchistische Gesellschaft zu<br />

gründen — auch keine kommunistische —,<br />

ja nicht einmal eine sozialdemokratische,<br />

die doch der gegenwärtigen s e h r ähnl<br />

i c h sehen dürfte — so wäre dies schließlich<br />

eine einfache Meinungsverschiedenheit;<br />

aber ein so hehres Ideal <strong>und</strong> dessen Entwicklungsgeschichte<br />

als ein »Gewebe von<br />

gutherziger Torheit <strong>und</strong> nichtswürdiger<br />

Schurkerei« zu bezeichnen, ist entweder<br />

Torheit oder Schurkerei. Sollten die Herren<br />

Fachschriftsteller aber nicht die Sache: die<br />

Anarchie, sondern eventuelle Führer der<br />

anarchistischen Partei damit haben zeichnen<br />

wollen, so möchte ich doch ersuchen, die<br />

Geschichte der sozialdemokratischen Partei,<br />

besonders der Leitung, einer unparteiischen<br />

Prüfung zu unterziehen, ob nicht trotz der<br />

» W o h l d i s z i p l i n i e r t h e i t « so manches<br />

»Gewebe von gutherziger Torheit <strong>und</strong>


nichtswürdiger Schurkerei« aufgedeckt, aber<br />

sogleich wieder diskret <strong>und</strong> flugs zugedeckt<br />

wurde.* Keine Partei hat lauter Heilige zu<br />

Führern, sondern diese Leiter sind Menschen<br />

mit erhöhten, Leidenschaftsempfindungen.<br />

Wenn daher diese Herren Fachschriftsteller<br />

nicht vom taktischen Parteistandpunkte,<br />

sondern vom menschlichen<br />

das allgemeine Getriebe betrachten könnten<br />

oder wollten, so würden sie mit Goethe<br />

bekennen müssen: »Ich sehe keinen Fehler<br />

begehen, den ich nicht auch begangen<br />

hätte«.<br />

Und nun kommen wir zur Schlußfolgerung:<br />

Theoretischer Anarchismus ist<br />

die Lehre <strong>und</strong> die geistige Heranbildung<br />

der Menschen zu einem Gesellschaftsverbande,<br />

innerhalb welchem jedem einzelnen<br />

Individuum unumschränkte Freiheit seines<br />

Tun <strong>und</strong> Lassens gewährleistet werden soll,<br />

o h n e dadurch dieselbe Freiheit der anderen<br />

Individuen zu beeinträchtigen. Daß<br />

dieser Gesellschaftsverband nur ohne Autorität<br />

<strong>und</strong> Zwangsgesetze f r e i sein kann,<br />

ist umso selbstverständlicher, als bisher erfahrungsgemäß<br />

unter autoritativen Gesetzen<br />

die Volksmassen geknechtet, ausgebeutet<br />

<strong>und</strong> niedergedrückt wurden <strong>und</strong> werden.<br />

Selbst in der sozialdemokratischen<br />

Partei ist diese Tendenz unverkennbar:<br />

die Spaltung in Nationen, die trotz des<br />

nominativen Internationalismus in ihren<br />

Prinzipien auseinandergehen, was durch<br />

die angeblich notwendigerweise verschiedenartige<br />

Taktik verschleiert wird; — die<br />

Spaltung in Sekten, wie orthodoxe Marxisten,<br />

Bernsteinianer, freiheitliche Sozialisten, Nur-<br />

Gewerkschaftler, Revisionisten, Anti- <strong>und</strong><br />

Pro-Herveisten, Anti- <strong>und</strong> Pro-Millerandisten<br />

etc. etc., die sich alle mehr oder weniger,<br />

mitunter auch persönlich bekämpfen; —<br />

ferner in der Exkommunikation jedes anders<br />

Denkenden — »wer nicht pariert,<br />

fliegt hinaus« — das heißt, er wird als<br />

Parteiangestellter brodlos gemacht; im<br />

Kliquenwesen, in der Erstrebung von<br />

Macht- <strong>und</strong> Geldmitteln durch <strong>und</strong> für Einzelne,<br />

usw. usw., — alles das weist auf den<br />

Druck von oben hin. Dessenungeachtet,<br />

nein, gerade d e s h a l b wird der Anarchismus<br />

seinen unaufhaltsamen <strong>Weg</strong> durch<br />

den Sozialismus nehmen müssen, ihn dadurch<br />

reinigend <strong>und</strong> klärend. — Es ist<br />

daher der Anarchismus das Ideal reinster<br />

Freiheit bei ungetrübter Genußfähigkeit —<br />

<strong>und</strong> die Erreichung dieses hehren <strong>Ziel</strong>es<br />

durch geistige Entwicklung bis zur höchsten<br />

Intelligenz im Bereiche der Möglichkeit.<br />

Alles darüber gegenteilig Gesagte beruht<br />

auf gänzlichem Miß- oder Unverständnis,<br />

wenn nicht gar infamen Gründen.<br />

Von a l l e n bourgeois-politischen Parteien<br />

ist die Abneigung gegen den Anarchismus<br />

erklärlich, denn sie haben von<br />

ihm den Sturz ihres gesetzlichen »Gewalt-<br />

Archismus« (Gewaltherrschaft) zu erwarten;<br />

dieser aber sichert ihnen die arbeits- <strong>und</strong><br />

mühelos erbeuteten Genußmittel; sie befürchten<br />

diesen Verlust. Was aber kann die<br />

Geistesführer der sozialistischen Parteien<br />

veranlassen, den Anarchismus nicht nur<br />

nicht zu erklären, sondern zu verdunkeln<br />

<strong>und</strong> zu verdächtigen? — Opportunitätsrücksichten?<br />

— Taktik? — Prinzip? — Ist<br />

aber ein Prinzip starr geworden, dann ist<br />

jede Weiterentwicklung ausgeschlossen.<br />

Nachdem sich aber so manche geistig<br />

hervorragende »Genossen« aus oder durch<br />

verschiedene Parteiprinzipien zum sozialdemokratischen<br />

Abgeordneten oder Gewerkschaftsführer<br />

h e r a u f e n t w i c k e l t haben,<br />

so ist auch eine fernere Entwicklung zum,<br />

wie wir hoffen, ehrlichen Denken zu er-<br />

* H. O b e r w i n d e r , ein Mitbegründer der<br />

österreichischen Sozialdemokratie, stand nachweislich<br />

in enger Geldbeziehung zur Regierung.<br />

Anm. d. Red.<br />

warten — auf Gr<strong>und</strong> Darwinistischer Evolutionslehre.<br />

Ein_ Sozialist.<br />

Offizielles Protokoll<br />

des Internationalen Antimilitaristischen<br />

Kongresses<br />

gehalten zu Amsterdam, am 30.—31. August<br />

1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />

des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />

m e r h o r n .<br />

(Fortsetzung.)<br />

Der Gedanke selbst war vorzüglich,<br />

nur hat sich der berühmte Schriftsteller<br />

nicht an die richtigen Leute gewendet.<br />

Es ist sehr einfältig, sich wegen dieser<br />

Sache an die Bankiers <strong>und</strong> Finanzleute<br />

zu wenden, denn gerade diese sind es ja,<br />

die die Kriege veranlassen <strong>und</strong> den Frieden<br />

nach ihren eigenen Interessen schließen.<br />

Ebenso einfältig ist es, das Ende des Krieges<br />

von den Kaufleuten <strong>und</strong> Fabriksbesitzern<br />

zu erhoffen, denn die sind es wiederum,<br />

die sich durch den Krieg auf die schändlichste<br />

Art bereichern.<br />

Es ist leicht für diese Herren, die<br />

Friedensfre<strong>und</strong>e zu spielen, aber man darf<br />

sich nicht von ihnen täuschen lassen.<br />

Nehmen wir z. B. Carnegie, den bekannten<br />

amerikanischen Millionär, der eine<br />

Million Dollars gespendet hat, um einen<br />

»Friedenspalast« zu gründen. Was für ein<br />

großartiger Friedensfre<strong>und</strong>! Aber wißt ihr,<br />

wer dieser Carnegie ist? Er ist der Präsident<br />

des amerikanischen Stahl- <strong>und</strong> Eisentrusts.<br />

Glaubt ihr wirklich, daß dieser Herr<br />

sich weigern würde, das Material für die<br />

Bewaffnung der Völker zu fabrizieren?<br />

Wer ist so leichtgläubig, daran zu glauben?<br />

Herr Carnegie ist ein hochachtbarer<br />

<strong>und</strong> hochgeehrter Mann; er gibt gern eine<br />

oder mehrere Millionen für einen Friedenspalast,<br />

für das Rote Kreuz oder irgend<br />

einen wohltätigen Zweck, aber er muß ungehindert<br />

die Gelegenheit haben, h<strong>und</strong>ert<br />

Millionen durch den Krieg zu verdienen.<br />

Diese Herren hüten sich wohl, die<br />

Ursache der Kriege zu zerstören. Es ist<br />

wohl wahr, daß die Bankiers, die Kaufleute<br />

<strong>und</strong> Fabrikanten die Kriege unmöglich<br />

machen könnten, wenn sie wollten,<br />

aber man könnte ebenso gut die Bäume<br />

darum bitten, wie sie. Der Aufruf, den<br />

Björnson an sie richtete, hat also seinen<br />

Zweck vollkommen verfehlt.<br />

Und doch hat der Gedanke einen ges<strong>und</strong>en<br />

Kern, welchen wir verwerten können.<br />

Nur muß man sich an eine andere<br />

Klasse von Menschen wenden, nämlich<br />

an die produktiven Arbeiter, die ein Interesse<br />

am Frieden haben <strong>und</strong> die die Macht<br />

in Händen haben, um jeden Krieg unmöglich<br />

zu machen. Die Arbeit <strong>und</strong> der<br />

Krieg sind unvereinbar mit einander. Die<br />

Arbeit s c h a f f t , der Krieg z e r s t ö r t . Wie<br />

könnte der Arbeiter Interesse am Krieg haben?<br />

Die menschliche Arbeit ist die Gr<strong>und</strong>bedingung<br />

zum Bestehen der Gesellschaft.<br />

Die produktive Arbeit <strong>und</strong> der Boden —<br />

der Ursprung aller Produkte — sind die<br />

Quelle des gesamten Reichtums. Und weil<br />

die Arbeiter die Macht haben, diese Quelle<br />

zu ernähren, so haben sie auch die Macht,<br />

dieselbe zu verstopfen. Sie ernähren sie<br />

dadurch, d a ß s i e a r b e i t e n , sie verstopfen<br />

sie dadurch, daß sie n i c h t a r b e i t e n .<br />

Das ist doch einfach, nicht wahr?<br />

Wenn die Arbeiter ihre internationalen<br />

Interessen erkennen werden, so werden sie<br />

bald einsehen, daß sie <strong>und</strong> nur sie, das<br />

Mittel in der Hand haben, um den Krieg<br />

abzuschaffen, <strong>und</strong> daß sie mit aller Kraft<br />

Propaganda für dieses Mittel machen müssen.<br />

Dieses Mittel ist: D e r i n t e r n a t i o -<br />

n a l e B o y k o t t g e g e n d i e k r i e g f ü h -<br />

r e n d e n M ä c h t e .<br />

Dieser Gedanke ist bei den Amsterdamer<br />

Transportarbeitern entstanden, die<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />

denselben vorgeschlagen hatten, um dem<br />

Kriege Englands gegen die südafrikanischen<br />

Republiken ein Ende zu machen. Ganz<br />

Europa verurteilte diesen schändlichen Raubkrieg<br />

<strong>und</strong> stand mit seiner Sympathie auf<br />

Seiten der angefallenen Republiken. Aber<br />

niemand wagte es, sich England zu widersetzen,<br />

<strong>und</strong> trotz der allgemeinen Sympathie<br />

wurden die südafrikanischen Republiken<br />

vom Stärkeren unterjocht.<br />

Als man den Gedanken d e r Boykottierung<br />

Englands in Holland aussprach,<br />

wurde derselbe günstig aufgenommen,<br />

nicht n u r in den Kreisen der Arbeiter, aber<br />

auch bei anderen Gruppen, welche dadurch<br />

der englischen Ungerechtigkeit Widerstand<br />

zu leisten hofften. Es bildete sich ein Landes-Komitee<br />

aus den Delegirten d e r v e r -<br />

schiedenen Arbeiterorganisationen <strong>und</strong> dasselbe<br />

setzte sich mit den bekannten Führern<br />

der englischen Transportarbeiter in Verbindung.<br />

Man schickte überall hin Abgesandte,<br />

um sich mit den Arbeitern deranderen Länder<br />

zu verständigen. Die Arbeiter von Havre,<br />

Hamburg, Kopenhagen, Christiania, Antwerpen,<br />

Genf, Göteborg, Bordeaux schlossen<br />

sich der Bewegung an. Man wollte einen<br />

internationalen Kongreß der Transportarbeiter<br />

zusammenrufen. Später schloß sich<br />

auch die Arbeiterschaft von Marseilles <strong>und</strong><br />

Genua an. <strong>und</strong> Tom Man, einer der englischen<br />

Führer, gab seine volle Zustimmung<br />

unter der Bedingung, daß die Arbeiter der<br />

größten Hafenstädte genügend vorbereitet<br />

sind, um den Plan zu verwirklichen. Aber<br />

später erkaltete die Begeisterung durch das<br />

Vorgehen des Herrn Müller, Präsidenten<br />

der d e u t s c h e n Seemanns-Gewerkschaft,<br />

der sich beleidigt fühlte, weil die Bewegung<br />

ohne ihn entstanden war. Obgleich<br />

er früher seine Mitwirkung versprochen<br />

hatte, zog er sich zurück, <strong>und</strong> durch seinen<br />

Einfluß löste sich sogar das Komitee von<br />

Hamburg auf. Zwistigkeiten unter den<br />

holländischen Arbeitern gaben der Sache<br />

den Rest; der Kongreß wurde vertagt <strong>und</strong><br />

ist nie zu Stande gekommen.<br />

Man darf aber nicht glauben, d a ß eine<br />

Idee, welche plötzlich auftaucht, sofort v o n<br />

allen Menschen verstanden <strong>und</strong> verwirklicht<br />

werden kann. Eine solche I d e e m u ß<br />

d a s ganze Denken d e r Menschen durchdringen,<br />

um Erfolg zu haben; aber wenn<br />

sie einen lebensfähigen Keim in sich trägt,<br />

wird sie immer wieder in fortwährend<br />

klareren Formen auftauchen <strong>und</strong> ihren<br />

<strong>Weg</strong> bahnen. So wird es auch mit unserem<br />

Plan geschehen. Fortsetzung folgt.<br />

Quittung<br />

seit 1. März bis 20. April.<br />

ResniJek K 3 50, Loevius 1 2 - , Fischer 6 -<br />

—,<br />

Ramus 2 1 0 , Warschatka 2-40, Brunner V—, Likir i<br />

10-—, W a g . 1 — , Moser 3 ö 0 , Kienzle 3 2 5 , Appel, <<br />

Chicago 10'—, Laska 2-—, ResniCek 5'20, Rappa- !<br />

port 2-—, Pachta 4"—, Ramus 2-90, Sammlung bei<br />

Senior am 19. April 15-20, Landau 2-90, K. Navratil \<br />

2 - - , Horacek 1 6 0 , Frankl 1 - P e k l o 2 — , Hajek 1 - ,<br />

Bader —'50, Landau 1-—, Kubesch - - 4 0 , Wejda 1 - - ,<br />

Nadoba 2-20, Riha V—, Brünner —-70, Marie Welan<br />

1 - , W e l a n 3 7 0 , Navratil 1 - , Kuban 1 5 0 , Eiern 1-—,<br />

:<br />

Rappaport V—, Beisteuer 7 8 0 , Röschmann 2 -<br />

—,<br />

Winarsky 1-20, Arbeiter-Zeitung 2 4 0 , Sekr. d. soz.- •<br />

dem. Part. 2-40, Fischer 10-—, Bledy — 80, Skall 1—,<br />

Formatschek 3 ' — , Lechki 1-—, Elem l -<br />

Resnifek K 3 5 0 , Loevius 1 2 ' - - , Fischer 6<br />

—, Fischer '.<br />

3-80, Blatzer 1-20, Kuban 3-60, Verk. d. Redakt. 2-20,<br />

Schamann 4-37, H. H. Plauen 2-40, Kubesch —-50,<br />

Kulle 6 — , B a r t h 2 4 0 , Hanri, SilsMarie 1-66, Ruhsam,<br />

Weyer 2-10, Wariete 1 — , Nocar 6 6 0 , Janata 4-40, j<br />

KornmUller 1 —, Engel 1 — , Alfari 2 1 0 , Stern 7 - , •<br />

Moser T—, Schneider 3-32, Kauka 16-20, Stuttgart «<br />

5-75, T e y a 1-20, Brinat 1 2 0 , Heller 2 4 0 , Baran 3-50, .<br />

Nik 2-92, R. B. 1 - , Liebig 2 4 0 , Stern - - 6 0 , Kulle<br />

10-—, Smech 1 2 0 , Borgius 2 50, Pitterle 2 — , Duchek2<br />

—,Brejka3-—,Zavertschek 1-20,Wohanka2-40, ,<br />

Barthelmeß 6 6 0 , Brimisel 1 2 0 , Schnell, London 4 1 9 ,<br />

Frick 1-20, Müller 1-20, Schamann 8 2 7 , Weber 5 - ,<br />

Katzer 2-40, Fischer 4-52, Mandl, London 8 — .<br />

-<br />

—,<br />

Ramus 2 1 0 , Warschatka 2-40, Brunner 1-—, Likir<br />

10-—, W a g . 1 — , Moser 3 6 0 , Kienzle 3 2 5 , Appel,<br />

Chicago 10'—, Laska 2-—, Resnicek 5'20, Rappaport<br />

2'—, Pachta 4-—, Ramus 2-90, Sammlung bei<br />

Senior am 19. April 15-20, Landau 2-90, K. Navratil<br />

2 - - , Horacek 1 6 0 , Frankl 1 - P e k l o 2 — , Hajek 1 - ,<br />

Bader —'50, Landau 1-—, Kubesch - ' 4 0 , Wejda<br />

Nadoba 2-20, Riha 1 —, Brünner —-70, Marie Welan<br />

1 - , W e l a n 3 7 0 , Navratil 1 - , Kuban 1 5 0 , Eiern 1-—,<br />

Rappaport r—, Beisteuer 7 8 0 , Röschmann 2 -<br />

—,<br />

Winarsky 1-20, Arbeiter-Zeitung 2 4 0 , Sekr. d. soz.dem.<br />

Part. 2-40, Fischer 10-—, Bledy — 80, Skall 1—,<br />

Formatschek 3 ' — , Lechki 1-—, Elem 1*—, Fischer<br />

3-80, Blatzer 1-20, Kuban 3-60, Verk. d. Redakt. 2-20,<br />

Schamann 4-37, H. H. Plauen 2-40, Kubesch —-50,<br />

Kulle 6 — , B a r t h 2 4 0 , Hanri, SilsMarie 1-66, Ruhsam,<br />

Weyer 2 1 0 , Wariete 1 — , Nocar 6 6 0 , Janata 4 4 0 ,<br />

KornmUller 1 — , Engel 1 — , Alfari 2 1 0 , Stern 7 - ,<br />

Moser T—, Schneider 3-32, Kauka 16-20, Stuttgart<br />

5-75, T e y a 1-20, Brinat 1 2 0 , Heller 2 4 0 , Baran 3-50,<br />

Nik 2-92, R. B. 1 - , Liebig 2 4 0 , Stern - - 6 0 , Kulle<br />

10-—, Smech 1 2 0 , Borgius 2 50, Pitterle 2 — , Duc<br />

h e k 2 — , Brejka 3-—, Zavertschek 1-20, Wohanka2-40,<br />

Barthelmeß 6 6 0 , Brimisel 1 2 0 , Schnell, London 4 1 9 ,<br />

Frick 1-20, Müller 1-20, Schamann 8 2 7 , Weber 5 - ,<br />

Katzer 2-40, Fischer 4-52, Mandl, London 8 — .<br />

Preßfond. Barth K —-80, — 80, Loibl 1 0 - , Samml.<br />

Föderation 3 50, B l o c k 2 - , Hacura 1'—,Voit, Ade- Ade- :<br />

laide 24-—.<br />

Inhaftiertenfond. Barth, Wien K —-80.<br />

- 80.


Wien, 21. Juni 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. — Nr. 12.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redatction <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />

I./17. — Gelder sind zu senden an<br />

W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />

5, III./27.<br />

Allgemeine Gewerkschafts-Föderation.<br />

Ausflug der Kameraden<br />

zum Kubetz in Atzgersdorf<br />

Sonntag, 21. Juni, 2 Uhr nachmittags<br />

Fahrgelegenheiten: Südbahn-Meidling oder Breitenfurterstraße-Endstation.<br />

Wir hoffen zuversichtlich, daß alle unsere<br />

Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Gesinnungsgenossen, eventuell<br />

samt Familie sich an diesem Ausfluge beteiligen<br />

werden. Kameraden, es gilt den Fortschritt des<br />

gemeinsamen Ideals zu unterstätzen!<br />

Allgemeine Gewerkschafts-Föderation.<br />

Ausserordentliche Generalversammlung<br />

Dienstag den 23. Juni, präzise 8 Uhr abends bei<br />

Schlor, ?(IV., Märzstrasse 33.<br />

T a g e s o r d n u n g : 1. Berichte; 2. Statutenveränderung;<br />

3. Agitation <strong>und</strong> Organisation; 4.<br />

Eventuelles.<br />

Die Delegierten <strong>und</strong> Kameraden aller Bezirke<br />

sind aufgefordert, unbedingt anwesend<br />

zu sein.<br />

Kameraden, Gesinnungsfre<strong>und</strong>e!<br />

Einen Haupfschlag<br />

sondergleichen versuchte sich die k. k. Staatsanwaltschaft<br />

wider die vorliegende Nummer des<br />

„Wohlstand für Alle", wider unser <strong>und</strong> euer<br />

Blatt im allgemeinen zu leisten: Laut einer vom<br />

13. Juni datierten Zuschrift wurde die weitere<br />

Herausgabe der Druckschrift behördlich untersagt.<br />

Als Gr<strong>und</strong> für diese von unerhörtester Gewaltanmaßung<br />

diktierte, uns gegenüber schablonenmäßig<br />

geübte Willkürmaß. egel wurde die<br />

Nlchtbefolgung diverser Zahlungen von Strafgeldern<br />

durch einzelne an Redaktion <strong>und</strong> Administration<br />

unserer Zeltschrift beteiligten Genossen<br />

angegeben.<br />

Mit welchem Hochgenuß mag die Staatsanwaltschaft<br />

diese ihre Maßnahme gegen uns<br />

eingeleitet haben, Im Glauben, daß nun der<br />

„W. f. A." — dieses meistgefürchtete, meistgehaßte,<br />

meistverfolgte <strong>und</strong>-verleumdeteBlatt der<br />

gesamten österr. Presse — das Organ der Weltanschauung<br />

des Anarchismus, vor deren Hoheit<br />

<strong>und</strong> edlem Streben alle Institutionen der bestehenden<br />

Unkultur moralisch zu Staub werden —<br />

daß dieses Blatt nun unterdrückt <strong>und</strong> abgetan<br />

sei; wie hätten die Gegner ailer Partelen, diese<br />

Gegner gegenüber dem Staat nur deshalb, weil<br />

sie einen Vorteil aus dieser Gegnerschaft für<br />

sich ziehen, aber diese B<strong>und</strong>esgenossen des<br />

Staates <strong>und</strong> der Kapitalsherrschaft wider uns,<br />

die wir als Anarchisten die einzigen sind, die<br />

In rücksichtslos unerschrockener Welse jedes<br />

Trugphantom der Unwahrheit <strong>und</strong> Niedertracht<br />

entlarven — wie hätten sie gejubelt, wenn es<br />

den Machthabern geglückt wäre, uns so aufs<br />

Haupt zu schlagen, daß der „W. f. A." wirklich<br />

nicht hätte erscheinen können 1<br />

Verfrühte Freude, ihr Herren des Geldsacks,<br />

der Herrschaft <strong>und</strong> der Herrschsucht!<br />

Der „W. f. A." ist da, die vorliegende Nummer<br />

ist ein grandioser Triumph unserer Sache der<br />

Menschheitsbefreiung <strong>und</strong> kommunistischen KuK<br />

tur über die Tücke der Reaktion <strong>und</strong> brutalen<br />

Unterdrückungsmanie! Wir leben; <strong>und</strong> die Solidarität<br />

gemeinsamer Begeisterung für jenes<br />

Licht eines erhabenen Ideals, das Glück, Frieden,<br />

Freiheit, Abschüttelung alles Unmenschlichen<br />

bedeutet, sie war es, die dieser Nummer des<br />

„W. f. A." Lebensodem eingehaucht <strong>und</strong> uns<br />

die Macht bot, den wider uns gezielten Hauptschlag<br />

abzuwehren. Trotz alledem, trotz aller<br />

Machinationen, trotz aller Heimtücke von oben<br />

wie von unten — die vorliegende Nummer des<br />

„W. f. A." erweist seine Lebensfähigkeit, ist der<br />

,,In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die Ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gründe liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />

Sieg eines echten Prinzips der Unbezwingbar<br />

keit seines Kampfnaturells <strong>und</strong> darf stolz di«<br />

Fahne seines Wesens entrollen, die ihm schor<br />

fast entglitten war! Vivat sequenz!<br />

Kameraden, die ihr von uberall In der<br />

Gauen Österreichs unseren Kampf beobachte'<br />

<strong>und</strong> mitkämpft; Kampfesgenossen, wir rufer<br />

euch abermals zur rüstigsten Wehrhaftigk^i<br />

auf! Kämpft für unser geineinsames Gut — der<br />

„W. f. A." —, indem ihr ihn verbreitet, überall<br />

hinträgt, wo die Burgen des Unverstandes ir<br />

die Höhe ragen; kolportiert den ,,W. f. A.", sc<br />

daß alle Menschen, mit denen ihr in Berührung<br />

kommt, ihn lesen sollen; verbreitet ihn nacli<br />

Kräften, sammelt Leser <strong>und</strong> Geld für ihn; seid<br />

dessen eingedenk — der Kampf, den wir alle<br />

kämpfen, er ist der wahre Wert unseres Lebens<br />

durch ihn wollen wir erringen den wahrer<br />

Zweck des Menschheitslebens !<br />

Kameraden ! An die Arbeit derSammlung,<br />

der Organisation <strong>und</strong> Agitation in jeder Weisei<br />

Der „ W . f. A." muß leben, er soll <strong>und</strong> wird<br />

gedeihen durch unser brüderlichesZusanimenwirken<br />

für das Endziel unseres Kampfes!<br />

Freiheit für Alle, Wohlstand für Alle!<br />

Die Weltanschauung "des<br />

Anarchismus.<br />

l.<br />

Wenn wir uns von unserem Elend<br />

befreien <strong>und</strong> zu einem glücklichen Dasein<br />

gelangen wollen, so müssen wir vor Allem<br />

die U r s a c h e unserer Leiden e r k e n n e n ;<br />

denn nur wenn wir diese erkannt <strong>und</strong> beseitigt<br />

haben, wird das Elend, das deren<br />

Folge ist. verschwinden.<br />

<strong>Unser</strong>e Lage — die Lage des arbeitenden<br />

Volkes, der Proletarier <strong>und</strong> Bauern —<br />

ist heute in kurzen Worten beschrieben,<br />

die folgende:<br />

Wir wollen leben <strong>und</strong> glücklich sein;<br />

<strong>und</strong> um leben zu können, wollen wir arbeiten;<br />

wir wollen durch den vernünftigen<br />

Gebrauch unserer Kraft <strong>und</strong> Geschicklichkeit<br />

uns Nahrung, Kleidung, Obdach<br />

schaffen — kurzum alles, was wir zu einem<br />

ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong> glücklichen Leben nötig<br />

haben. Dazu aber brauchen wir in erster<br />

Linie den Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden — die Erde,<br />

aus welcher alles Leben entspringt — <strong>und</strong><br />

wir brauchen Hilfsmittel — Werkzeuge<br />

<strong>und</strong> Maschinen — um den Boden zu bebauen<br />

<strong>und</strong> seine Erzeugnisse uns nutzbar<br />

zu machen.<br />

Ein solches Leben aber — das einzig<br />

naturgemäße <strong>und</strong> vernünftige, das es gibt —<br />

wird uns heute unmöglich gemacht. Den<br />

Boden <strong>und</strong> die Arbeitswerkzeuge hat eine<br />

verhältnismäßig kleine Anzahl Menschen<br />

als ihr Privateigentum erklärt. Wenn wir<br />

sie benützen wollen, also wenn wir essen<br />

<strong>und</strong> leben wollen, so müssen wir zuerst<br />

für jene arbeiten, damit s i e nicht zu arbeiten<br />

brauchen. Wenn wir auch selber<br />

darben <strong>und</strong> mit Arbeit überbürdet sind, so<br />

müssen wir doch zuerst i h r e Speicher<br />

mit Getreide füllen, kostbare Kleider für<br />

s i e weben, prachtvolle <strong>und</strong> bequeme<br />

Häuser für s i e bauen — <strong>und</strong> erst wenn<br />

wir all dies getan haben, erlauben sie uns,<br />

daß wir vom Brot, das wir schaffen, auch<br />

ein wenig behalten dürfen, daß wir ein<br />

wenig von unserer übrigbleibenden Arbeitskraft<br />

dazu verwenden, um unser Dasein<br />

fristen zu können — so lange sie uns<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2-40;<br />

halbjährig K 1-20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3 -<br />

50, halbjährig Fr. 1-75, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

nötig haben. Wir müssen allzeit nach ihrem<br />

Willen leben <strong>und</strong> in ihrem Dienst bereit<br />

sein, so lange unsere Arbeit ihnen Nutzen<br />

bringt; wenn sie uns nicht mehr brauchen,<br />

wenn wir, in dieser Arbeit erschöpft, frühzeitig<br />

alt <strong>und</strong> siech geworden sind, dann<br />

können wir angesichts der aufgestapelten<br />

Reichtümer, der Früchte u n s e r e r Arbeit,<br />

vor Hunger sterben.<br />

Denjenigen, die sich diesem vernunftwidrigen<br />

<strong>und</strong> entwürdigenden Zustand<br />

nicht fügen wollen, wird derselbe mit Gewalt<br />

aufgezwungen. Nicht durch die persönliche<br />

Kraft der Besitzenden <strong>und</strong> Herrschenden.<br />

Diese sind eine kleine Minderheit<br />

der großen Masse jener gegenüber,<br />

denen sie die Anerkennung ihrer Besitzrechte<br />

<strong>und</strong> ihrer Herrschaft aufzwingen,<br />

um dadurch ohne Arbeit <strong>und</strong> in Bequemlichkeit<br />

leben zu können. Wenn sie sich<br />

nur auf ihre eigene Kraft, ihre körperliche<br />

Stärke <strong>und</strong> Geschicklichkeit <strong>und</strong> die Macht<br />

ihrer Waffen stützen könnten, um andere<br />

Menschen in ihren Diensten <strong>und</strong> zum Gehorsam<br />

zu zwingen, so würde ihre ganze<br />

Sicherheit <strong>und</strong> Bequemlichkeit, jeder Vorteil<br />

ihrer Stellung vernichtet werden; <strong>und</strong><br />

auch um diesen Preis könnten sie nur eine<br />

ganz kleine Anzahl Menschen in ihrer<br />

Macht halten. Um eine große Mehrheit<br />

sicher <strong>und</strong> mühelos beherrschen zu können,<br />

müssen die Herrschenden wenigstens einen<br />

großen Teil der übrigen Menschen von<br />

der Unvermeidlichkeit, Notwendigkeit <strong>und</strong><br />

Berechtigung ihrer Herrschaft überzeugen<br />

können, so daß ihnen stets große Massen<br />

von Besitzlosen <strong>und</strong> Unterworfenen zur<br />

Verfügung stehen, welche von ihnen befehligt<br />

<strong>und</strong> organisiert, die Herrschaft <strong>und</strong><br />

den Besitz ihrer Herren — also ihre eigene<br />

Knechtschaft <strong>und</strong> Armut — gegen jene<br />

verteidigen <strong>und</strong> jenen aufzwingen, die nach<br />

eigenem Willen frei leben <strong>und</strong> arbeiten<br />

wollen, ohne die Macht <strong>und</strong> die Rechte<br />

der Besitzenden anzuerkennen <strong>und</strong> ohne<br />

ihnen Gehorsam <strong>und</strong> Tribut zollen zu<br />

müssen.<br />

Zum Schutze ihres Privateigentumes<br />

<strong>und</strong> ihrer daraus entspringenden privilegierten<br />

Stellung organisieren sich die Besitzenden<br />

eines jeweiligen Landstriches im<br />

Staate, welcher durch seine Gesetze sich<br />

anmaßt, das Leben eines jeden Einwohners<br />

zum Nutzen der herrschenden Minderheit<br />

zu regeln; <strong>und</strong> wer diesen Gesetzen zuwiderhandelt,<br />

wer sich weigert, an ihrer<br />

Vollstreckung — wenn auch mit der Verletzung<br />

seiner eigensten Interessen <strong>und</strong><br />

Gefühle <strong>und</strong> mit Gefahr für sein Leben<br />

— teilzunehmen, der wird durch die gedrillte<br />

bewaffnete Macht der Unterworfenen<br />

<strong>und</strong> Unterwürfigen — von denen, die aus<br />

Furcht oder Wahnglauben, aus Gedankenlosigkeit<br />

oder kurzsichtiger Selbstsucht den<br />

Befehlen der Herrschenden Folge leisten<br />

— mit Kerker <strong>und</strong> selbst Tod bestraft.<br />

Dies sind die Gr<strong>und</strong>züge unserer heutigen<br />

Gesellschaftsordnung. Die Frage ist:<br />

Wie konnte ein solcher Zustand, welcher<br />

allem ges<strong>und</strong>en Menschenverstand <strong>und</strong> Gerechtigkeitsgefühl<br />

Hohn spricht, <strong>und</strong> dem<br />

größten Teile der Menschheit Elend <strong>und</strong>


Leiden bereitet, entstehen, wie kann er sich<br />

behaupten? Warum lassen sich die Menschen<br />

zum größten Teil die Früchte ihrer<br />

Arbeit nehmen, warum fügen sie sich Befehlen<br />

<strong>und</strong> Gesetzen, durch welche ihr<br />

Leben zum bloßen Werkzeug der Bequemlichkeit<br />

Anderer gemacht wird; was bewegt<br />

sie dazu, durch Hinmorden <strong>und</strong> Martern<br />

ihrer Leidensgenossen den Zustand der<br />

Sklaverei, unter welchem sie alle schmachten,<br />

aufrecht zu erhalten?<br />

U n w i s s e n h e i t u n d A b e r g l a u b e ,<br />

d i e F u r c h t u n d A c h t u n g v o r eing<br />

e b i l d e t e n h ö h e r e n G e w a l t e n , d i e<br />

U n f ä h i g k e i t , s e l b s t ä n d i g z u d e n k e n<br />

dies sind die Ursachen aller Unterwerfung.<br />

Aufgeklärte, vernünftig denkende<br />

Menschen werden stets nach eigenem<br />

bestem Einsehen handeln, so wie es ihrem<br />

wahren Interesse <strong>und</strong> Gefühl entspricht.<br />

Sie werden keinerlei Vorschriften Gehorsam<br />

leisten, sich keiner Herrschaft unterwerfen,<br />

<strong>und</strong> sich zu nichts gegen ihre<br />

Überzeugung <strong>und</strong> ihren Willen zwingen<br />

lassen. Wissend, daß sie durch vereinte<br />

verständige Arbeit — <strong>und</strong> durch diese<br />

allein — im Stande sind, sich alles, was<br />

zu einem ges<strong>und</strong>en, reichlichen <strong>und</strong> schönen<br />

Leben notwendig ist, im Überfluß zu<br />

schaffen, werden sie in freiem Zusammenwirken<br />

<strong>und</strong> gegenseitiger Hilfe leben <strong>und</strong><br />

arbeiten, so wie es die Bedürfnisse <strong>und</strong><br />

Neigungen eines jeden am besten befriedigt,<br />

anstatt daß einer den andern die<br />

Früchte ihrer Arbeit entreißt <strong>und</strong> die Benützung<br />

des Bodens <strong>und</strong> der Arbeitswerkzeuge,<br />

die er selber nicht braucht, unmöglich<br />

macht, um sich auf Kosten Anderer<br />

unnützen Reichtum aufzuhäufen. Sie werden<br />

die Freiheit <strong>und</strong> das Glück eines jeden in<br />

der Freiheit <strong>und</strong> im Glück Aller erkennen<br />

<strong>und</strong> dieselben durch freiwillige Verständigung<br />

<strong>und</strong> Vereinbarung verwirklichen, anstatt<br />

zu trachten, einander zu bekämpfen<br />

<strong>und</strong> zu beherrschen. Jeden Versuch einzelner<br />

oder einer Gruppe von Menschen,<br />

welcher darauf gerichtet ist, andere auszubeuten<br />

<strong>und</strong> zu unterdrücken, werden sie durch<br />

vereinten Widerstand unmöglich machen.<br />

Die überwiegende Mehrzahl der Menschen<br />

glaubt aber heute noch — aus Unwissenheit<br />

<strong>und</strong> Unfähigkeit zu denken oder<br />

aus einer durch kirchliche Dogmatik verfehlten<br />

Überzeugung heraus — an die<br />

Unvermeidlichkeit, Notwendigkeit <strong>und</strong> Berechtigung<br />

der Herrschaft. Die Ausgebeuteten<br />

<strong>und</strong> Bedrückten fristen ihr Elend in<br />

dumpfer Ergebenheit <strong>und</strong> Angst dahin,<br />

ohne daß es ihnen in den Sinn käme, daß<br />

es anders sein könnte; sie halten diesen<br />

Zustand für die Verfügung einer göttlichen<br />

Weltordnung oder für ein unabwendbares<br />

Schicksal oder ehernes Naturgesetz. Ihren<br />

einzigen Vorteil erblicken sie darin, durch<br />

Gehorsam <strong>und</strong> Mithilfe an der Unterdrückung<br />

<strong>und</strong> Ausbeutung anderer, mit<br />

Erlaubnis ihrer Herren <strong>und</strong> der Gesetze,<br />

einen Teil des erpreßten Reichtums <strong>und</strong><br />

der Machtbefugnisse über andere mit zu<br />

genießen. Wo sie dazu Gelegenheit haben,<br />

streben sie danach, ihrerseits andere zu beherrschen<br />

<strong>und</strong> deren Arbeitskraft auszunützen.<br />

Der tyrannisierte Bauer <strong>und</strong> Proletarier<br />

ist Schwächeren, besonders seiner<br />

Frau <strong>und</strong> Kindern gegenüber, häufig der<br />

ärgste Tyrann; die Arbeiter, die zu Aufsehern,<br />

die gemeinen' Soldaten, die zu<br />

Unteroffizieren avanzieren, sind oft die<br />

härtesten Vorgesetzten; <strong>und</strong> der Arbeiter,<br />

der ein schmarotzern der Politiker geworden,<br />

wird gewöhnlich zum ärgsten Unterdrücker<br />

gegenüber dem Gegner. Sie alle halten jede<br />

Verbesserung ihrer Lage nur dadurch möglich,<br />

daß sie aus der Reihe der Beherrschten<br />

immer mehr in die Reihe der Herrschenden<br />

hinaufsteigen. Sie sind überzeugt,<br />

daß das monopolistische Privateigentum,<br />

der Staat, das Gesetz, die Obrigkeit unbedingt<br />

notwendige <strong>und</strong> an s i c h g u t e<br />

Einrichtungen sind; das gibt den meisten<br />

Besitzenden <strong>und</strong> Herrschenden eine so<br />

starke m o r a l i s c h e Kraft über ihre Untergebenen;<br />

das macht so viele der Beherrschten<br />

zu nicht bloß gehorsamen, sondern willigen,<br />

pflichtgetreuen, aufopfernden Dienern<br />

ihrer Herren <strong>und</strong> der herrschenden ausbeuterischen<br />

Ordnung. Und sogar eine<br />

Änderung dieser Ordnung scheint ihnen<br />

nur durch eine Änderung der F o r m der<br />

Herrschaft durchführbar, wohinter sich<br />

meistens das Bestreben versteckt, daß ein<br />

Teil der beherrschten Klasse zur herrschenden<br />

Klasse werden soll, welcher die<br />

große Masse so wie ehedem frohnden <strong>und</strong><br />

gehorchen müßte.<br />

Der Glaube an eine übernatürliche<br />

Macht, die Ursprung <strong>und</strong> Rechtfertigung<br />

aller Herrschaft sei, <strong>und</strong> das Streben danach,<br />

andere auszubeuten <strong>und</strong> zu beherrschen,<br />

ist eine Folge jenes Urzustandes der<br />

Menschen, in dem sie nicht fähig waren,<br />

ihr eigenes Leben <strong>und</strong> die Natur geistig<br />

zu erkennen <strong>und</strong> zu begreifen <strong>und</strong> sie deshalb<br />

deren Elemente <strong>und</strong> Äußerungen nicht<br />

durch brüderlich vereinte Kräfte auszunützen<br />

verstanden, sondern überall <strong>und</strong><br />

in Allem Verderben, drohende, feindliche<br />

Gewalten sahen. Diese Unwissenheit, der<br />

Aberglaube <strong>und</strong> die falsche Weltauffassung,<br />

die daraus entstanden, wurden von denen,<br />

die diese Faktoren zur Förderung ihrer<br />

eigenen Bequemlichkeit auf Kosten der<br />

Arbeit anderer auszunützen verstanden,<br />

systematisch aufrechterhalten, befestigt, <strong>und</strong><br />

zu Religionen, Moralsystemen <strong>und</strong> Rechtsvorschriften<br />

ausgebildet; <strong>und</strong> diese Irrtümer,<br />

dieser Aberglaube wurden einer<br />

Generation der Beherrschten nach der anderen<br />

von frühester Kindheit an eingedrillt<br />

<strong>und</strong> anerzogen; das Erkennen der wahren<br />

Tatsachen des Lebens, das selbständige<br />

Prüfen <strong>und</strong> Nachdenken wurde ihnen mit<br />

allen Mitteln unmöglich gemacht.<br />

Dadurch — <strong>und</strong> nur dadurch — ist<br />

es bisher den Herrschenden gelungen, ihre<br />

Herrschaft aufrecht zu erhalten. Denn sobald<br />

die Beherrschten zur Einsicht gelangen,<br />

daß ein h e r r s c h a f t s l o s e s Z u s a m m e n -<br />

w i r k e n d e r M e n s c h e n möglich ist,<br />

<strong>und</strong> daß dies die einzige Art ist, um allen<br />

Menschen das volle, wirklich edle Glück<br />

des Lebens zu sichern, werden sie sich<br />

nicht mehr ihrem Zustand fügen, sondern<br />

durch gemeinsames Handeln ihr Leben auf<br />

diese Weise, gemäß ihrem Freiheitsempfinden<br />

gestalten. Diese Erkenntnis ist<br />

aber die unvermeidliche Folge einer der<br />

Wahrheit <strong>und</strong> der Vernunft entsprechenden<br />

W e l t a n s c h a u u n g , <strong>und</strong> kann nur auf<br />

Gr<strong>und</strong> einer solchen entstehen. Darum<br />

müssen diejenigen, die die Ursache ihres<br />

Elendes erkannt haben <strong>und</strong> nach Befreiung<br />

von demselben streben, vor Allem in sich<br />

selbst <strong>und</strong> ihren Leidensgenossen alle Unwissenheit<br />

<strong>und</strong> Lüge, allen Glauben an<br />

übernatürliche Gewalten <strong>und</strong> die Anerkennung<br />

<strong>und</strong> Verehrung einer jeden Autorität<br />

geistig zermürben, <strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong>lage<br />

vorurteilsloser, genauer Beobachtung des<br />

lebenden Naturganzen <strong>und</strong> eigenem, klarem,<br />

vernünftigem Denken eine neue Weltanschauung<br />

aufbauen <strong>und</strong> verkünden.<br />

Gegen Hunger <strong>und</strong> Not!<br />

Eine verzweifelte Stimme ruft:<br />

«Hört — ihr von Hunger gebrochenen<br />

Männer; hört — ihr Kranken, das Bett<br />

hütende Frauen; hört — ihr um Brot<br />

schreiende Kinder!<br />

Ihr habt Nahrung im Überfluß geschaffen,<br />

habt Glück, Reichtum, Wohnungen,<br />

Häuser, Paläste, all dies aus eurem Blut<br />

<strong>und</strong> eurer Kraft erzeugt.<br />

Aber nicht für euch, nur für die kleine<br />

Zahl der Besitzenden <strong>und</strong> Ausbeutenden,<br />

die sich mit dem Glänze eures Schweißes<br />

schminkt, euch verachtet, für euch die<br />

Ketten, Gefängnisse <strong>und</strong> Nachtasyle, wie<br />

andere verächtliche Unterschlupforte der<br />

verachteten Armut in Bereitschaft hält.<br />

Ja, ihr seid gut genug dazu, die Warenhäuser<br />

<strong>und</strong> Magazine zu füllen. Und wenn<br />

dieselben vollgepfropft sind von all dem<br />

von euch geschaffenen Überfluß — wirft<br />

man euch, die Erzeuger, aufs Pflaster.<br />

Es gibt wohl auch philantropische<br />

Unterstützungen. Aber ach, ihre Wohltaten<br />

kommen den Beamten, die sie austeilen<br />

sollen <strong>und</strong> verwalten, mehr zugute als den<br />

Ärmsten der Armen, die diese Beamten ja<br />

niemals erreichen.<br />

Man sagt euch: «So will es Gott!»<br />

Welche Gotteslästerung von jenen, die<br />

an Gott glauben!<br />

Wir aber sagen: Gott hat u n s alles<br />

das gegeben, was auf der Erde sich befindet<br />

<strong>und</strong> von ihr hervorgebracht wird.<br />

Diejenigen, die es sich aneignen, ohne uns<br />

an den Tisch des Lebens herankommen zu<br />

lassen, haben sich mit organisierter Gewalt<br />

umgeben, der ihre Gesetze entfließen. So<br />

kommt es, daß wir n i c h t s , sie, die Mächtigen,<br />

a l l e s haben.<br />

Doch halt! Wer ist eigentlich diese<br />

ganze organisierte Gewalt? Wer?<br />

Wir allein! Ihr allein, ihr Armen, unterdrückt<br />

euch gegenseitig. Ich fordere euch auf:<br />

Umarmet euch gegenseitig, auf daß<br />

ihr Brüder <strong>und</strong> nicht mehr Werkzeuge sein<br />

sollt! Damit ihr Menschen werdet.<br />

Wenn der Strahl der Erkenntnis eure<br />

Not durchdringt, habt ihr die wahre Leuchte<br />

für den Lebenskampf gef<strong>und</strong>en. Dann werdet<br />

ihr einfach den Hunger nicht mehr<br />

ertragen im Bewußtsein dessen, daß Hunger<br />

<strong>und</strong> Not einen schimpflichen Tod bedeuten.<br />

Lasset euch nicht führen von Führern,<br />

wie die Schafe von Hirten. I h r s e l b s t<br />

m ü ß t e u r e F ü h r e r s e i n ! E i n j e d e r<br />

e i n z e l n e s e i n e i g e n e r F ü h r e r ! Auf<br />

zum Kampf für Brot <strong>und</strong> Leben!»<br />

Biografus.<br />

Die positiven Ergebnisse der<br />

Direkten Aktion in Frankreich.<br />

Der Aufmarsch für den Achtst<strong>und</strong>entag,<br />

den die in der Confédération Générale<br />

du Travail (Allgemeiner Arbeiterb<strong>und</strong>) verb<strong>und</strong>enen<br />

Gewerkschaften Frankreichs im<br />

Mai 1906 vollzogen haben, wird auch heute<br />

noch auf so sonderbare Manier gewürdigt,<br />

daß es sich lohnt, die Dinge ins rechte<br />

Licht zu stellen.<br />

Der Plan zum Kampfe ist auf dem<br />

Kongreß von Bourges (September 1904)<br />

festgelegt worden. Eine sozusagen einstimmig<br />

angenommene Resolution bestimmte den<br />

1. Mai des Jahres 1906 als den Augenblick,<br />

wo sich der Achtst<strong>und</strong>entag verwirklichen<br />

solle, oder doch als den Ausgangspunkt<br />

einer Bewegung in diesem Sinne.<br />

Es war die Absicht des Kongresses,<br />

der Agitation einen neuen Anstoß zu geben.<br />

Sie sollte dafür sorgen, daß der Achtst<strong>und</strong>entag<br />

allgemein als eine leicht durchführbare<br />

Verbesserung der Verhältnisse <strong>und</strong><br />

zugleich als eine vorläufige Errungenschaft<br />

der Arbeitermasse auf einem <strong>Weg</strong>e erscheine,<br />

der nur dem Schwachen lang, dem<br />

Mutigen kurz vorkommen könnte. Man<br />

sehnte sich darnach, aus der ewigen gedankenmäßigen<br />

Demonstration endlich einmal<br />

heraus <strong>und</strong>, ohne das wirtschaftliche<br />

Leben zu beirren, in Handlungen <strong>und</strong> Taten<br />

hinein zu kommen.<br />

Das Arbeitergehirn mußte von der<br />

Erkenntnis ganz durchsetzt werden, daß<br />

man eben einfach einmal handeln, selbst<br />

seinen Mann für seine <strong>und</strong> aller Sache ein-


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Österreich.<br />

Wien. Am 3. Juni fand in Fuchs großem Saal<br />

im III. Bez. eine von der „Allgemeinen Gewerkschaftsföderation"<br />

einberufene Versammlung statt,<br />

in der der anarchistische Genosse P. R a m u s über<br />

„Moderne Gewerkschaftstaktik" referierte. Die Versammlung<br />

nahm einen sehr stürmischen Verlauf, denn<br />

jeder Geisteshieb, den R. der veralteten, zentralistischen<br />

Zunftgewerkschaftstaktik versetzte, traf irgend<br />

einen der anwesenden Gewerkschaftsbeamten, <strong>und</strong><br />

der Referent wurde durch fortwährende Zwischenrufe<br />

in seinem einstündigen Referate gestört <strong>und</strong><br />

unterbrochen, an denen sich auch der anwesende<br />

sozialdemokratische Reichsratsabgeordnete Winarsky<br />

wacker beteiligte. Nach dem Referat meldete<br />

sich derselbe zum Wort <strong>und</strong> ohne irgend wie<br />

von der Versammlungsleitung behindert zu werden,<br />

gewährte man ihm reichlich über eine St<strong>und</strong>e Redefreiheit.<br />

Seine Ausführungen waren das alte Larifari<br />

eines an der Brotkrippe des Parlamentarismus sich<br />

sättigenden Menschen, der, als Parlamentarier, natürlich<br />

die Institution, die ihm eine Existenz des<br />

Wohllebens <strong>und</strong> des Nichtstuns bietet, lobt; mit<br />

nicht übermäßiger Bescheidenheit versieht er s e l b s t<br />

dieses Lob, da seine W ä h l e r keinen Gr<strong>und</strong> zu<br />

solchem Lobe zu finden scheinen <strong>und</strong> es darum<br />

unterlassen. Auch sonst zeigte er nur seine Unfähigkeit,<br />

das gestellte Problem aufrichtig würdigen zu<br />

nenen; stellte seine Unwissenheit über den Anarchismus<br />

glänzend zur Schau, indem er „bewies",<br />

daß die Stirnerianer kommunistische Anarchisten<br />

„geworden"; während es lange v o r dem erneuten<br />

Bekanntwerden des Stirnerschen Buches in den 90<br />

Jahren schon den kommunistischen Anarchismus<br />

gab. Interessant war auch, daß er in seinen Zwischenrufen<br />

versprochen hatte, den Beweis dafür zu erbringen,<br />

daß die österreichische Gewerkschaftsbewegung<br />

jener der französischen ü b e r l e g e n sei,<br />

welchen Beweis er aber total schuldig blieb. Kurz<br />

gesagt: ein Gemisch von Verdrehung, Entstellung,<br />

die bis an bodenlose Gemeinheit grenzte, <strong>und</strong><br />

Borniertheit, das war das „geistige" Waffenarsenal<br />

des Sozialdemokraten Winarsky.<br />

Zudem ein erbärmlicher Feigling! Am Schlüsse<br />

seiner Rede forderte er die Anwesenden in nicht<br />

' mißzuverstehenden Worten dazu auf, dem Schlußwort<br />

des Genossen Ramus n i c h t beizuwohnen;<br />

Herr W. wußte, daß er nun in seiner ganzen Geistesniedrigkeit<br />

entlarvt werden würde. Er hetzte denn<br />

auch mit Hilfe eines Subjektes namens Bernt die<br />

Masse so sehr gegen die Anarchisten auf, Lügen<br />

<strong>und</strong> Schmähungen gebrauchend, daß sie seiner <strong>und</strong><br />

Bernts Aufforderung teilweise nachkam, die dahin<br />

gehend lautete: „Genossen, Disziplin! Wir brauchen<br />

<strong>und</strong> wollen kein Schlußwort mehr hören; geh'n<br />

ma aussi!"<br />

Es bemächtigte sich nun der vielen Zurückgebliebenen<br />

eine große Aufregung <strong>und</strong> aus vielen<br />

Kehlen wurde dem Abgeordneten Winarsky ins<br />

Antlitz geschleudert: „ F e i g l i n g ! S i e f ü r c h t e n<br />

das S c h l u ß w o r t ! " „ U n t e r d r ü c k u n g der<br />

R e d e f r e i h e i t , d a s i s t d i e S o z i a l d e m o -<br />

krat isch e W i s s e n s c h aft!" „ R o t e C h r i s t -<br />

l i c h s o z i a l e s e i d ihr!" Um diese Rufe zu überschreien<br />

<strong>und</strong> den Genossen Ramus definitiv am<br />

Sprechen zu verhindern — welche erbärmliche<br />

Feigheit! — stimmten die Herren Winarsky <strong>und</strong><br />

Bernt in rührender Einmütigkeit ein wüstes Gejohle<br />

an, wobei es, wie auch früher schon, fast zu Tätlichkeiten<br />

kam.<br />

<strong>Unser</strong>e Kameraden verlangten von diesen Subjekten<br />

nichts mehr, als daß sie sich heimwärts<br />

sputen sollten, um den ruhigen Fortgang der Versammlung<br />

nicht zu stören. Aber dies wagten die<br />

Tapferen nicht, denn noch waren viele Sozialdemokraten<br />

anwesend, die gespannt der Antwort von<br />

R. harrten. Das war dem parlamentarischen Maulhelden<br />

unerträglich <strong>und</strong> er, wie Bernt, erteilten<br />

deshalb nochmals die Ordre, daß alle anwesenden<br />

Sozialdemokraten heim müßten. Um dieser Aufforderung<br />

den nötigen Nachdruck zu verleihen, ergriffen<br />

die Führer ihre Stöcke <strong>und</strong> wie mit Ochsenziemer<br />

wurde eines der anwesenden Parteischäflein<br />

nach dem anderen hinausgetrieben <strong>und</strong> geworfen<br />

— von seinen eigenen Leuten. Alles im Namen der<br />

„Disziplin"! Und als ich die Leute aufforderte,<br />

rascher zu gehen, damit wir die Versammlung fortsetzen<br />

könnten, versetzte mir einer der Banditen<br />

eine O h r f e i g e !<br />

Ich bin in Rußland Sozialdemokrat gewesen,<br />

wurde als solcher drei Mal verhaftet <strong>und</strong> büßte für<br />

meine damals sozialdemokratische Überzeugung <strong>und</strong><br />

Agitation 1½ Jahre Kerker. Die russische Zarenregierung,<br />

die im Besitze der „politischen Macht"<br />

ist, hat mich wohl eingekerkert, aber n i c h t geschlagen.<br />

Die Herren Sozialdemokraten müssen die<br />

politische Macht erst erobern; sie können noch<br />

nicht einkerkern <strong>und</strong> darum schlugen sie mich.<br />

Worin besteht der Unterschied zwischen der russischen<br />

Regierung <strong>und</strong> der österreichischen k. k.<br />

Sozialdemokratie? —<br />

Diese Versammlung hatte ein Nachspiel. Für<br />

Mittwoch den 10. Juni war im selben Lokal wieder<br />

eine Versammlung anberanmt worden, in der Ge-<br />

nosse Ramus referieren sollte über unsere „Antw<br />

o r t a n den S o z i a l d e m o k r a t e n W i n a r s k y . "<br />

Herr W.,der brieflich eingeladen wurde zu erscheinen,<br />

zog es vor, sich von obigem Subjekt Bernt — seines<br />

Herrn <strong>und</strong> Meisters würdig! — als von Wien abwesend<br />

entschuldigen zu lassen, was eine absolute<br />

Lüge war, denn am Vormittag dieses Tages war<br />

Herr Winarsky im Abgeordnetenhause gesehen<br />

worden. Während der Rede des Sozialdemokraten<br />

Jarosch — das „hohe Haus" bestand damals aus<br />

sage <strong>und</strong> schreibe 16 Mann, die der Rede lauschten!<br />

— saß Herr Winarsky an seinem Pult <strong>und</strong> erledigte<br />

seine Privatkorrespondenz, wofür 20 Kronen Taglohn<br />

kein schlechtes Honorar. Geben wir wieder der<br />

Wahrheit die Ehre <strong>und</strong> sagen wir: Herr W. war<br />

zu f e i g e , in jene Versammlung zu kommen, um<br />

seine geistige Impotenz nicht vor aller Augen enthüllt<br />

zu sehen. Darum wurde der gelehrige Jünger<br />

Bernt gesandt, der den Auftrag hatte, unsere Vereinsversammlung<br />

unter allen Umständen zu sprengen.<br />

Derselbe begann damit, daß er den Vorsitzenden,<br />

Genossen Haidt einen „früheren Christlichsozialen"<br />

etc. etc. nannte. Dafür brandmarkte ihn derselbe in<br />

öffentlicher Versammlung als einen Verleumder.<br />

Nun wollte der Genosse Ramus das Wort zu seinem<br />

Vortrag nehmen, doch die idiotisierte Meute, die<br />

aus feiger Angst vor dem Wissen eines Anarchisten<br />

von ihren Auftraggebern <strong>und</strong> Führern den Auftrag<br />

erhalten hatte, gerade dies um Gottes Willen zu<br />

hintertreiben, setzte, unter Kommando des Bernt,<br />

mit ihrer Johlerei — die Erziehungsrüstung der<br />

österreichischen Sozialdemokratie — ein. Nicht<br />

genug damit, stürzten sich einige der sozialdemokratischen<br />

Radauelemente auf unsere Genossen, <strong>und</strong><br />

es entwickelte sich eine arge Schlägerei, bei der<br />

die Sozialdemokraten die Wache herbeizitierten <strong>und</strong><br />

dieselbe mit folgenden Worten zum „Zugreifen"<br />

aufreizen wollten: „Kommt, helft uns, die Anarchisten<br />

sind ja auch gegen euch, wie gegen uns; wir wollen<br />

euch ja auch helfen im Parlament!" Freilich bekamen<br />

die r<strong>und</strong> 20 Wachleute, die sich inzwischen eingestellt<br />

hatten, nichts zu tun, <strong>und</strong> endlich wurde der<br />

Saal geräumt.<br />

Dies ist die „Wissenschaftlichkeit", dies ist<br />

die „Toleranz", dies ist die „Redefreiheit", an die<br />

die Sozialdemokratie des III. Bez. unter Führung<br />

des Herrn Winarsky glaubt. Rot-gelb-schwarze<br />

Christlichsoziale, nichts weiter, dabei von grausiger<br />

Ignoranz! Doch wenn die Herren glauben, daß sie<br />

uns dadurch entmutigen werden in unserem Kampf<br />

— gegen ihre Verführung, Beschwindelung des Proletariats<br />

— da irren sie sich gewaltig. Herr Hagenhofer,<br />

pardon Winarsky wird mit Entsetzen einsehen<br />

lernen, wohin diese Art der Knebelung der Redefreiheit<br />

führt; wir garantieren ihm dafür! Wir werden<br />

Gleiches mit Gleichem vergelten! Und trotz<br />

der infamen sozialdemokratischen Banditenbande,<br />

die sich gegen jede Aufklärung <strong>und</strong> Feststellung in<br />

Tatsachen verschworen hat, weil es die Führer in<br />

ihrem Parlamentsgeschäft stören mag, kündigen wir<br />

schon jetzt wieder den regelmäßigen Fortgang der<br />

Versammlungen im III. Bez. an. Wir sind gewarnt,<br />

wir werden gewappnet sein <strong>und</strong> gegenüber brutalster<br />

Vergewaltigungstaktik gibt <strong>und</strong> gilt es den Verzweiflungskampf<br />

! J. L.<br />

Im sozialdemokratischen Wahlvereine VI<br />

„Gleichheit" sollte der schon wiederholt abgesagte<br />

Vortrag von Schulz über „Antimilitarismus" unter<br />

dem abgeänderten Titel „Bekämpfung des Militarismus"<br />

stattfinden. Allein der Referent kam auch<br />

diesmal nicht, <strong>und</strong> statt seiner sprach der „rühmlichst"<br />

bekannte Dr. Braun über „Anarchismus <strong>und</strong><br />

Sozialismus" (Merkwürdigerweise <strong>und</strong> gegen alle<br />

Gepflogenheit hatte sich zu der aus zirka 50 Personen<br />

bestehenden Vereinsversammlung e i n R e -<br />

g i e r u n g s k o m m i s s ä r eingef<strong>und</strong>en!) Dr. Braun<br />

führte aus: Er wolle nicht die Theorie besprechen,<br />

sondern dieselbe bis in ihre letzte Konsequenz<br />

ausdeuten <strong>und</strong> an der Hand dreier Beispiele das<br />

Utopische einer anarchistischen Gesellschaft erweisen.<br />

Er könne sich erstens nicht vorstellen, wie<br />

der Bau eines St. Gotthard-Tunnels in einer anarchistischen<br />

Zukunft möglich wäre, wie ein großer<br />

Dampfer über das Meer fahren könne, wenn der<br />

Steuermann das Steuer verlassen dürfte, wann es<br />

ihm beliebe, <strong>und</strong> wer in der anarchistischen Gesellschaft<br />

den Kanal ausräumen würde.<br />

Es ergriff Kamerad F e l s e n b u r g das Wort<br />

<strong>und</strong> führte etwa folgendes aus: Er konstatiere,<br />

daß allem Anscheine nach der Regierungskommissär<br />

nur zu dem Zwecke bestellt worden sei, um ihn in<br />

seiner Redefreiheit zu beschränken. Was die Ausführungen<br />

des Dr. Braun betreffe, so seien diese<br />

lächerlich <strong>und</strong> kindisch. Der Bau des St. Gotthard-<br />

Tunnels sei in der kommunistisch-anarchistischen<br />

Gesellschaft eher möglich, als jetzt, weil in freier<br />

Assoziation die Menschheit eher für kommende<br />

Generationen sorge, da der Einzelne während<br />

solcher Arbeit von ökonomischen Existenzsorgen<br />

befreit sei. Als „Marxist" sollte er doch wissen,<br />

daß der Steuermann nicht aus Idealismus am Steuer<br />

des Schiffes stehe, sondern weil der Untergang<br />

der Andern auch sein Untergang wäre; ein Kanal<br />

würde nur deshalb geräumt, weil er stinke <strong>und</strong><br />

wen der üble Geruch belästigt, der würde schon<br />

für die Reinigung des Kanals Sorge tragen. Einen<br />

zweiten Redner verwies Kamerad Felsenburg auf<br />

den Widerspruch, der darin liege, wenn man einerseits<br />

von freier Meinungsäußerung spreche <strong>und</strong> andererseits<br />

jeden Kritiker „Verräter" nenne. Nachher<br />

ergriff Dr. Braun das Schlußwort zu folgender<br />

„Widerlegung": „Dieser Kerl (!) von Anarchist ist<br />

ein dummer Junge (!), dessen Argumente ich nicht<br />

widerlegen will (I), weil ich dadurch nur sein<br />

Selbstbewußtsein heben würde. (!) Ich glaube, daß<br />

er bei keinem von ihnen den Glauben (!) an die Sozialdemokratie<br />

wankend gemacht habe <strong>und</strong> das<br />

genügt mir!" Der Vorsitzende schloß nun die Versammlung,<br />

indem er erklärte, daß von nun an in<br />

diesem Vereine Anarchisten nicht mehr sprechen<br />

dürfen, (sie!) *<br />

Im Laufe der Budgetdebatte im Parlament<br />

hatte der Sozialdemokrat Dr. Adler, die — gerade<br />

heraus gesagt — unerhörte Frechheit, folgendes<br />

zu sagen:<br />

„. . . Allein, wenn ich in einer Versammlung<br />

zum Schlüsse von der geistigen Unterdrückung<br />

durch die Herrschaft der Kirche sprechen werde,<br />

dann wird dies bei den Arbeitern — g e g e n<br />

m e i n e n W i l l e n — gerade den größten Widerhall<br />

. . . finden . . . Es kommt vor, daß irgend ein<br />

s o g e n a n n t e r f r e i r e l i g i ö s e r o d e r f r e i -<br />

d e n k e r i s c h e r S c h w ä t z e r nur darum, weil er<br />

sich gegen die kirchliche Autorität, gegen die<br />

Herrschsucht der Kirche wendet, weit leichter Gehör<br />

bei den Massen findet als jemand, der vom<br />

wirtschaftlichen Standpunkt die Dinge gründlich<br />

untersucht".<br />

Dieses e i n e Zitat aus der Rede Adlers trägt<br />

so unzweideutig das Gepräge des demagogischen<br />

Parlamentsschwätzers <strong>und</strong> -Gauklers, daß Herr<br />

Adler besser daran getan hätte, im Hause des Gehängten<br />

nicht vom Strick zu reden. Ernste Männer,<br />

die als konsequente Freidenker für den Atheismus<br />

Propaganda machen, sind Männer der Wahrheit<br />

<strong>und</strong> des Fortschrittes, selbst dann, wenn sie irgend<br />

einer politischen Richtung angehören; sie sind<br />

n i e m a l s „Schwätzer"! Schwätzer, <strong>und</strong> nur das,<br />

sind aber die Herren Parlamentarier durch die<br />

Bank, denn wie sagte der alte Liebknecht anno<br />

1869: „Welchen »praktischen- Zweck hat also das<br />

Reden im Reichstag? K e i n e n . Und z w e c k l o s<br />

r e d e n , i s t T o r e n V e r g n ü g e n ! "<br />

Zu obigem müssen wir nur noch hinzufügen,<br />

daß diese niedere Verhöhnung des Freidenkertunis<br />

durch Dr. Adler die lebhafte Beipflichtung <strong>und</strong><br />

freudige Anerkennung des „Slovenen Krek" fand,<br />

von dem aber die „Arbeiter-Zeitung" in einer Anwandlung<br />

von schuldbewußtem Schamgefühl es zu<br />

konstatieren „vergaß", daß Krek ein C h r i s t l i c h -<br />

s o z i a l e r ist. Sozialdemokratie <strong>und</strong> Christlichsoziale<br />

einmütig im B<strong>und</strong>e wider das Freidenkertum<br />

dies ist die vorläufig prächtige Frucht „parlamentarischen<br />

Klassenkampfes". — —<br />

#<br />

Vor einigen Wochen verließ der Genosse B.<br />

Brunner Wien, gezwungen durch längere Arbeitslosigkeit.<br />

Er ist einer der vom sozialdemokratischen<br />

Terrorismus (nur wider Arbeiter, n i e wider Unternehmer!)<br />

am ärgsten verfolgten Kameraden. Weshalb?<br />

Weil er die Gewerkschaften nicht als Melkkühe<br />

für die parlamentarischen Müßiggänger <strong>und</strong><br />

Nichtstuer sehen will, sondern den Generalstreik<br />

<strong>und</strong> die Direkte Aktion propagiert. Erst unlängst<br />

wurde er von sozialdemokratischen Schurken des<br />

III. Bez. überfallen <strong>und</strong> blutig geschlagen, weil er<br />

Einladungen für eine unserer Versammlungen verteilte;<br />

darauf übergaben ihn diese Würdigen der<br />

Polizei, „da ja laut österreichischem Gesetz hier<br />

keine Anarchisten sein dürfen", wie diese Schafsköpfe<br />

<strong>und</strong> Hyperdespoten meinten. Nun erhielt<br />

ich ein Schreiben von ihm, u. a. des folgenden<br />

Inhaltes:<br />

„. . . Als ich Wien wegen Arbeitslosigkeit<br />

verließ, sandte der löbl. Vorstand des Holzarbeiterverbandes<br />

mir einen regulären Steckbrief nach, d.<br />

h. an den hiesigen Verbandsausschuß. Darin hieß<br />

es, daß der Anarchist B. B. am Sonntag, 7 Uhr früh,<br />

von Wien abgefahren sei. Dann: Haare, Augen,<br />

Statur genau beschrieben. Und weiter: Warnung<br />

vor diesem Anarchisten! — Man kann sich vorstellen,<br />

mit welchem Mißtrauen mir begegnet wurde,<br />

als ich mich vorstellte. Ich habe erst später alles<br />

durch ein Ausschußmitglied erklärt bekommen. Und<br />

einige Tage darauf wurde ich „ w e g e n a n a r -<br />

c h i s t i s c h - s o z i a l i s t i s c h e r U m t r i e b e " aus<br />

dem Verbände ausgeschlossen."<br />

Gibt es einen Unterschied zwischen: erstens<br />

der offiziellen katholischen Kirche, zweitens der<br />

Polizei <strong>und</strong> drittens der roten sozialdemokratischen<br />

Kirche? Vielleicht den, welche denn eigentlich den<br />

h ö c h s t e n Grad der Intoleranz erreicht! J. L.<br />

Ungarn.<br />

Budapest. Zwei unserer Brüder standen am<br />

20. Mai vor dem Schwurgericht.<br />

Die antimilitaristische Nummer unseres Bruderblattes<br />

„Társadalmi Foradalom", die aus Anlaß der<br />

Einrückung unserer Brüder in die blauen Röcke, im<br />

Oktober 1. J. zu vielen Tausenden unter den Re-


kruten verbreitet ward, wurde damals von der<br />

Staatsanwaltschaft konfisziert <strong>und</strong> folgende Artikel<br />

inkriminiert: „Schwur der Soldaten", ein Gedicht<br />

von Gäspär Imre. „Der Fall von Kaschau", ein<br />

ein Brief von Dr. Skarvän <strong>und</strong> seine Abhandlung<br />

über: „Weshalb soll man kein Militärarzt sein",<br />

außerdem der Artikel „Töte nicht!". Die Verantwortung<br />

für die drei ersten Artikel übernahm der<br />

damalige verantwortliche Redakteur des Blattes,<br />

Genosse Max Glückmann.<br />

Für den Artikel „Du sollst nicht töten", welcher<br />

in selber Nummer erschien, übernahm die Verantwortung<br />

unser Kamerad A l e x a n d e r H e r m a n .<br />

Die Verteidigung führte Dr. Balog V. Imre.<br />

Im Laufe der Verhandlung ersucht der Verteidiger<br />

über die ersten drei Artikel die Verjährung<br />

zu konstatieren, da das Gedicht von Gáspár Imre<br />

schon 1877 erschien <strong>und</strong> seitdem in mehreren<br />

Büchern <strong>und</strong> Zeitungen reproduziert wurde, ohne<br />

daß es inkriminiert worden wäre. Der Brief von<br />

Dr. Skarván erschien 1894 in sämtlichen bürgerlichen<br />

Blättern <strong>und</strong> in der anarchistischen Zeitschrift<br />

„Ohne Staat". Leo Tolstoj sammelte im Jahre 1905<br />

unter dem Titel „Für alle Tage", die Ideen der<br />

hervorragendsten Denker der Weltliteratur in einem<br />

Bande, in welchem er den erwähnten Brief <strong>und</strong> die<br />

Abhandlung von Dr. Skarván, als zwei auserlesene<br />

Gedankenperlen aufnahm. 1906 wurde das Buch<br />

unter dem selben Titel ins Deutsche übersetzt <strong>und</strong><br />

ist auch in Ungarn in aller Hände, ohne daß es<br />

inkriminiert worden wäre. Verteidiger beruft sich<br />

auf die Verjährung, da das Gesetz aus dem Jahre<br />

1848 die Verordnung enthält, daß literarische Produkte<br />

nach sechs Monaten seit Erscheinen nicht<br />

mehr klagbar sind.<br />

Das Budapester Schwurgericht nahm diesen<br />

Standpunkt des Verteidigers nicht ein. Die Geschworenen<br />

sprachen den Angeklagten schuldig,<br />

weil er es wagte, die Schriften eines Tolstoj, Gáspár<br />

Imre, <strong>und</strong> Dr. Skarván, die andere Blätter <strong>und</strong><br />

Bücher unbeanstandet brachten, in einem sozialistisch-anarchistischen<br />

Blatte zu bringen. Genosse<br />

Glückmann- wurde von der unparteiischen, unabhängigen,<br />

unantastbaren, jungfräulichen, mit verb<strong>und</strong>enen<br />

Augen erhaben stehenden, bürgerlichen<br />

Justitia zu e i n e m J a h r e Staatsgefängnis verurteilt.<br />

„Du sollst nicht töten!" der schönste Punkt<br />

der zehn Gebote, welche uns unsere Eltern, Lehrer,<br />

der Pfarrer in der Kirche lehrte, den Jesus in den<br />

Worten lehrt: „Wer das Schwert ergreift, wird auch<br />

durch das Schwert umkommen" — wird solcherart<br />

von der heutigen Welt mit Füßen getreten <strong>und</strong> auch<br />

der Genosse Alexander Herman wurde wegen „Aufreizung"<br />

für sündig <strong>und</strong> zu a c h t Monaten Staatsgefängnis<br />

verurteilt. Und dennoch geht es vorwärts<br />

— stärker als alle Justizfolterwerkzeuge ist das<br />

Bewußtsein des Martyriums für die edle Sache der<br />

Kultur des Friedens <strong>und</strong> der Freiheit!<br />

Nagy Antal.<br />

Italien.<br />

Der Landarbeiterstreik in Parma. Die Provinz<br />

Parma — 50 Gemeinden, 304.000 Einwohner<br />

— ist ein landwirtschaftlicher Mittelpunkt von<br />

Italien. Der Wert des Viehstandes dieser Gegend<br />

wird auf mehr als 100.000 Franken geschätzt. Es<br />

gibt 359 Käsefabriken, 19 Fabriken für die Herstellung<br />

von Tomaten-Konserven, Zuckerrübenkulturen<br />

<strong>und</strong> Seidenzuchten, deren durchschnittlicher<br />

Jahresertrag 500.000 Kilo von Kokons ist.<br />

Die größere Arbeit der Organisation unter den<br />

italienischen Bauern begann 1906, nach einem Sieg<br />

der Schuhmacher <strong>und</strong> Maurer <strong>und</strong> einer Niederlage der<br />

Bauern einer Gemeinde. Während sechs Jahren arbeiteten<br />

die letzteren schon an der Schaffung von Gewerkschaften,<br />

von Genossenschaften, beinahe ohne<br />

die Unternehmer anzugreifen. Im Mai 1907 erklärten<br />

die Bauern den Unternehmern den Krieg. Nach<br />

drei Tage währendem allgemeinen Streik wurde<br />

eine Vereinbarung unterzeichnet, die den vollständigen<br />

Sieg der Landarbeiter bestätigte. Es ist<br />

dies ein Ergebnis jener Mittel des syndikalistischen<br />

Kampfes, die die Arbeiterbörse von Parma anwandte.<br />

Dieselbe, zusammen mit jener von Piacenza<br />

<strong>und</strong> Ferrara, bildet den Kern der syndikalistischen<br />

Streitkräfte, welche sich in Opposition<br />

zur reformistischen sozialdemokratischen Arbeitervereinigung<br />

befinden.<br />

Es begannen Provokationen von Seiten der<br />

Arbeitgeber, die von einer Klasse der Arbeiter, den<br />

S p e s at i, zwei St<strong>und</strong>en mehr Arbeit verlangten<br />

als von den übrigen Bauern. — Die Arbeiterbörse<br />

verhängte den Boykott über die Unternehmer, welche<br />

ihre Versprechungen nicht einhielten. Darauf verhängte<br />

die Agrarvereinigung die allgemeine Aussperrung<br />

<strong>und</strong> weigerte sich, 26.000 Bauern die<br />

Löhne zu bezahlen. Während den letzten Wochen<br />

seit dem 1. Mai haben Tausende von Landarbeitern<br />

keinen Heller erhalten, <strong>und</strong> die Felder liegen verlassen.<br />

Um die Einheit der Arbeiter zu untergraben,<br />

haben sie in allen Gemeinden „freie Arbeiterscharen"<br />

gegründet — ein schamlos wohltönender<br />

Name für Streikbrecher — <strong>und</strong> organisierten auch<br />

„Freiwillige", das heißt Bourgeoisjünglinge — die<br />

ihre Studien in der Stadt verließen, um auf den<br />

Feldern <strong>und</strong> in den Ställen die Bauern zu ersetzen.<br />

Doch es hilft nichts, die Bauern halten fest an ihren<br />

Forderungen: V e r k ü r z u n g der A r b e i t s z e i t<br />

u m e i n e S t u n d e für a l l e L a n d a r b e i t e r ,<br />

a l l g e m e i n e s E r h ö h e n d e r A r b e i t s l ö h n e .<br />

Die Besitzer haben, wie sie gedroht, die gewerkschaftlich<br />

organisierten Bauern aus ihren<br />

Häusern vertreiben lassen; <strong>und</strong> um die Regierung,<br />

die sich bisher neutral verhielt, zum Einschreiten<br />

zu zwingen, drohten sie, i h r e S t e u e r n n i c h t<br />

zu b e z a h l e n ! Die Provinz Parma ist schon von<br />

Tausenden von Soldaten besetzt, die Unternehmer<br />

wollen eine blutige Unterdrückung der Arbeiter<br />

heraufbeschwören. Ihre Zeitung schreibt ganz offen:<br />

„Bewaffnet euch auch, Gr<strong>und</strong>besitzer <strong>und</strong> Kaufleute,<br />

bewaffnet euch, wenn ihr stark <strong>und</strong> frei sein wollt,<br />

denn nur die Unruhen können uns endlich den ersehnten<br />

Frieden bringen!"<br />

Nach einem Monat des allgemeinen Streiks<br />

sind die 30.000 Bauern noch mehr zum Widerstand<br />

entschlossen; ihre Drohung: das Heu wird auf den<br />

Wiesen <strong>und</strong> das Korn auf dem Feld verfaulen,<br />

fängt an wahr zu werden; die Gr<strong>und</strong>besitzerhaben<br />

schon riesig viel Heu verloren, ungefähr zwei<br />

Drittel ist auf den Feldern vertrocknet. Umsonst<br />

haben sie „freie Arbeiter" (nämlich Streikbrecher)<br />

<strong>und</strong> bewaffnete Banden von „Freiwilligen" aufgenommen.<br />

Bei dieser Gelegenheit haben diese<br />

Verteidiger des Kapitals (ohne zu wollen) die wahre<br />

Sabotage angewandt, sie haben die Beine der<br />

Kühe <strong>und</strong> Ochsen abgemäht <strong>und</strong> aus grünem Getreide<br />

Heu gemacht!<br />

Übrigens ist ihre Anzahl lächerlich klein,<br />

kaum 3000 alles in allem. Darum haben sich auch<br />

manche Gutsbesitzer, zum erstenmal in ihrem<br />

Leben, dem biblischen Fluch unterwerfen müssen:<br />

„Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein<br />

Brot essen". Die Sonne ist nicht still gestanden,<br />

als sie den Grafen so <strong>und</strong> so <strong>und</strong> die Baronin so<br />

<strong>und</strong> so mit der Sense <strong>und</strong> dem Rechen in der<br />

Hand sah, während die Bauern hinter den Hecken<br />

lachend diesem Schauspiel zuschauten. In Parma<br />

haben zwei Marquis, ein Doktor, ein Ingenieur <strong>und</strong><br />

andere Herren, einen Wagen Holz abgeladen, der<br />

für einen von den Bauern boykottierten Bäcker<br />

bestimmt war.<br />

Die Gr<strong>und</strong>besitzer versuchten in der Provinz<br />

Piacenza Streikbrecher anzuwerben. Als Antwort<br />

traten daselbst 25.000 Landarbeiter auch in den<br />

Streik, <strong>und</strong> forderten die Zurückberufung der<br />

Streikbrecher <strong>und</strong> die <strong>Weg</strong>schickung des zugesandten<br />

Viehes. Diese w<strong>und</strong>erbare K<strong>und</strong>gebung<br />

der Solidarität war eine heilsame Warnung für die<br />

Arbeitgeber jener Gegenden, die aufhörten, den<br />

Ausbeutern von Parma weiter zu helfen. 100.000<br />

Bauern der Po-Gegend erwarten nur das Signal,<br />

um auch in den Generalstreik zu treten; in der<br />

Provinz Verona streiken bereits 15.000 Landarbeiter<br />

aus freien Stücken, <strong>und</strong> das Agitationskomitee<br />

hat vorläufig das Anerbieten der Bauerngewerkschaften<br />

von Brescia <strong>und</strong> Ferrara, ebenfalls<br />

die Arbeit einzustellen, abgelehnt, um diesen Schlag<br />

auf später aufzusparen.<br />

Gegen die Streikbrecher wird mit rücksichtsloser<br />

Energie gekämpft. Es kam z. B. in Parma<br />

ein Eisenbahnzug an, der 240 Streikbrecher führte,<br />

aber am Bahnhof fanden die ihn erwartenden Arbeitgeber,<br />

daß die Fensterscheiben zertrümmert,<br />

<strong>und</strong> die Wagen vollkommen leer waren. Was war<br />

geschehen? In Casalmaggiore, ein paar Stationen<br />

vor Parma, hatten die Bauern den Zug angehalten;<br />

sie drangen in die Waggons ein, zwangen diese teils<br />

durch Überredung, teils durch Gewalt zum Aussteigen<br />

<strong>und</strong> gaben ihnen in ihren eigenen Häusern<br />

Unterkunft. Nächsten Tag rasten die Gr<strong>und</strong>besitzer<br />

in Automobilen nach Casalmaggiore, aber während<br />

der Nacht hatte der Verstand in den Streikbrechern<br />

gesiegt, <strong>und</strong> nur 20 von ihnen folgten den<br />

Herren, die Übrigen kehrten nach ihrer Heimat zurück.<br />

Denselben Tag geschah es in Brescia, daß<br />

sich einen Kilometer vor der Stadt die Arbeiter<br />

vor einem Zug auf die Schienen legten, um ihn<br />

aufzuhalten, denn sie befürchteten, daß derselbe<br />

Streikbrecher transportiere; nur nachdem sie sich<br />

überzeugt hatten, daß dies nicht der Fall sei,<br />

ließen sie den Zug weiterfahren.<br />

Das täglich erscheinende Bulletin der Streikenden,<br />

die „Internationale", schreibt aus dem Anlaß:<br />

„Wir übernehmen es nicht, die Arbeiter zur Ruhe<br />

zu ermahnen, wenn Streikbrecher auf sie schießen,<br />

<strong>und</strong> werden' uns neutral verhalten, wenn unsere<br />

Brüder es für gut befinden, mit den Waffen auf<br />

die Attentate zu antworten, denen sie ausgesetzt<br />

sind. Ist es das, was die Regierung will?"<br />

Die Politikanten aller Art sind tief unglücklich<br />

über diesen Kampf bis aufs Äußerste. Zuerst<br />

wandte sich die demokratisch-radikale Partei, dann<br />

das ständige Arbeitskomitee (Vorläufer eines „Arbeitsministeriums")<br />

<strong>und</strong> schließlich die Leitung der<br />

sozialdemokratischen Partei mit dem Vorschlag an<br />

die Streikenden, ihre Sache der Entscheidungeines<br />

Schiedsgerichtes zu unterbreiten; aber die revolutionäre<br />

Arbeiterkammer von Parma hat alle diese<br />

Anträge r<strong>und</strong>wegs abgewiesen. Die Bauern riefen<br />

die Solidarität des Proletariats von Italien <strong>und</strong> des<br />

Auslandes an. Auf diese Art sind durch Sammlung<br />

schon 50.000 Francs eingelaufen. Über f ü n fh<br />

u n d e r t Gr<strong>und</strong>besitzer haben bereits den Kampf<br />

aufgegeben; die übrigen werden auch bald gezwungen<br />

sein, sich den Forderungen der Arbeiter<br />

zu fügen. <strong>Unser</strong>e Pflicht, die Pflicht der gesamten<br />

internationalen Arbeiterschaft ist es, ihnen dabei<br />

zu helfen. So wenig auch ein jeder zu geben vermag,<br />

so ist unsere v e r e i n t e Kraft denn doch<br />

im Stande dazu! (Geldsendungen sind zu adressieren<br />

an die „ C a m e r a d e l L a v o r o di Parma"<br />

Parma, Italien).<br />

Eines ist sicher: Es gährt mächtig unter der<br />

italienischen Landbevölkerung. B a k u n i n, der<br />

seinerzeit einen regen Anteil an den ersten Kämpfen<br />

der italienischen Internationale genommen hat, sah<br />

in den Bauernbewegungen die Zukunft der sozialen<br />

Revolution in Italien. Hoffen wir, daß der gegenwärtige<br />

Kampf in den Bauern das Bewußtsein<br />

ihrer Aufgabe so gestärkt hat, daß sie bald jenen<br />

Tag der Befreiung erreichen, wo sie das Land, das<br />

sie durch ihre Arbeit fruchtbar machen, von allen<br />

Schmarotzern befreien <strong>und</strong> in den gemeinsamen<br />

Besitz des arbeitenden Volkes bringen. L. Berta<br />

Frankreich.<br />

Es ist erfreulich zu sehen, wie ein Teil der französischen<br />

sozialistischen Partei sich immer mehr<br />

von den Verirrungen der sozialdemokratischen<br />

Doktrinen des Parlamentarismus <strong>und</strong> der gesetzlichen<br />

Eroberung der politischen Macht frei macht<br />

<strong>und</strong> allmählich zu den alten, wahren Idealen des<br />

Sozialismus, der anarchistisch - kommunistischen<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> der direkten Aktion als Taktik<br />

übergeht. Die Ereignisse sind sehr dazu geeignet,<br />

die französischen Arbeiter in unsere Richtung des<br />

Sozialismus zu treiben <strong>und</strong> sie dadurch zu kommunistischen<br />

Anarchisten zu erziehen. Bei den jüngst<br />

stattgehabten Gemeindewahlen hat die sozialdemokratische<br />

Partei den größten Teil ihrer Mandate<br />

v e r l o r e n , <strong>und</strong> auch dort, wo sie sich behaupten<br />

konnte, w a r d a s nur d u r c h d a s B ü n d n i s<br />

mit d e r R a d i k a l e n - , a l s o e i n e r B o u r g e o i s -<br />

p a r t e i m ö g l i c h .<br />

„Die Eroberung der politischen Macht durch<br />

die sozialistische Partei geht prachtvoll voran*<br />

Auf diese Art werden wir in 7 —8000 Jahren das<br />

gelobte Land erreichen! Und dieser arme parlamentarische<br />

Sozialismus hat sich doch sanft genug<br />

gebärdet, besonders bei der zweiten Abstimmung!<br />

Er hat genugsam die Sabotage** <strong>und</strong> die „lächerlichen<br />

<strong>und</strong> gefährlichen Übertreibungen des Herveschen<br />

Antimilitarismus" verleugnet! Hat er denn in<br />

Nordfrankreich nicht verkündet, daß die 30.000 sozialdemokratischen<br />

Wähler von Lille <strong>und</strong> Roubaix<br />

bereit sind, für das Vaterland - des radikalen<br />

Kandidaten — zu sterben, wo dieselben in Wahrheit<br />

beim Ausbruch eines Krieges ohne viel Aufsehen<br />

die benachbarte belgische Grenze überschreiten<br />

würden.<br />

Aber kein Aufgeben <strong>und</strong> Verleugnen der<br />

Überzeugung hat etwas geholfen. Der parlamentarische<br />

Sozialismus hat sich seit Jahren nur durch<br />

das Bündnis mit der radikalen Bourgeoispartei behauptet.<br />

Die Unterdrückungs- <strong>und</strong> Eroberungspolitik<br />

des radikalen Ministerpräsidenten Clemenceau,<br />

das Erwachen des revolutionären Geistes in<br />

der sozialistischen Bewegung durch die Propaganda<br />

Hervels <strong>und</strong> der syndikalistischen „Allgemeinen:<br />

Arbeitsvereinigung", haben dieses Bündnis zerschnitten.<br />

Dies ist die Ursache der sozialdemokratischen<br />

<strong>und</strong> radikalen Niederlagen bei den neulichen<br />

Gemeindewahlen; denn auch die Radikalen<br />

haben große Verluste erlitten <strong>und</strong> nicht sie, sondern<br />

die Nationalisten <strong>und</strong> Klerikalen erobern die verlorenen<br />

Sitze in den Stadtvertretungen — <strong>und</strong> in<br />

zwei Jahren wird bei den Parlamentswahlen wohl<br />

dasselbe geschehen. — Wir haben dabei nichts zu<br />

bedauern. Die Nationalisten werden die Arbeiterreformen<br />

nicht ärger verschleppen, sie werden sich<br />

dem russischen Zarismus <strong>und</strong> seinen Gläubigern<br />

nicht gefälliger «rweisen, sie werden in Marokko<br />

nicht grausamer hausen, sie werden nicht noch<br />

mehr Polizeispitzel in unsere Versammlungen<br />

schicken, die revolutionäre Presse nicht noch mehr<br />

belästigen als die Radikalen <strong>und</strong> Ministersozialisten,<br />

die jetzt an der Herrschaft sind; unter dem neuen<br />

Regime werden die Gerichte nicht noch kriecherischer<br />

vor den Mächtigen, noch grausamer gegen<br />

die Armen <strong>und</strong> Aufklärenden sein, die Polizei wird<br />

sich nicht brutaler <strong>und</strong> gemeiner benehmen als jetzt!<br />

Das Bündnis mit den Radikalen ist vorbei;<br />

umso besser. Aber die revolutionären Sozialisten<br />

müssen Acht geben; denn alle sozialistischen Abgeordneten,<br />

die diesem Bündnis ihren Sitz im Parlament<br />

verdanken, zittern, daß sie in zwei Jahren<br />

nicht wiedergewählt werden könnten, <strong>und</strong> deshalb<br />

versuchen sie, die Partei offen oder versteckt zum<br />

radikalen Bündnis zurückzuführen. Wir aber wollen das<br />

nicht haben; denn dieses Bündnis bedeutet für uns,<br />

daß unsere revolutionäre Propaganda fortwährend<br />

den Rücksichten auf die Wahlen geopfert wird, daß<br />

der Sozialismus jeden Tag mehr gedämpft wird, um<br />

die Bourgeoisparteien nicht zu erschrecken; es bedeutet,<br />

daß wir statt unserem wahren Programm,<br />

der Darlegung der sozialistischen Gesellschaft,<br />

unser Minimalprogramm verkünden müssen, das<br />

sich kaum von dem der radikalen Bourgeoisparteien<br />

unterscheidet; daß, mit einem Wort, der Sozialismus<br />

immer mehr zur parlamentarischen Sozialdemokratie,<br />

das heißt, zum farblosesten Reformismus<br />

herabsinkt.<br />

Die parlamentarische Sozialdemokratie ist nur<br />

eineKarrikatur auf den Sozialismus. — Der Sozialismus<br />

wird revolutionär sein, oder er wird nicht sein!"<br />

* Das folgende ist ein teilweise wörtlicher Auszug aus<br />

Nr. 22 des .Guerre Sociale".<br />

** Das Kampfmittel der Arbeiter, durch welches schlechte<br />

Bezahlung mit schlechter Arbeit oder passiver Resistenz vergolten<br />

wird.


— 33 —<br />

oben, vom einfachen zum verwickeiteren, beginnend<br />

mit den unmittelbarsten Interessen, um zu den allgemeineren<br />

aufzusteigen — aus all dem wird eine<br />

gesellschaftliche Organisation emporwachsen, deren<br />

<strong>Ziel</strong> der größte W o h l s t a n d <strong>und</strong> die größte F r e i -<br />

h e i t a l l e r sein wird, welche die ganze Menschheit<br />

in einer brüderlichen Gemeinschaft umfaßt; welche<br />

sich fortwährend verändern <strong>und</strong> verbessern wird, so<br />

wie sich die Verhältnisse ändern <strong>und</strong> die Erfahrung<br />

es lehrt.<br />

D i e s e G e s e l l s c h a f t f r e i e r M e n s c h e n ,<br />

d i e s e G e s e l l s c h a f t v o n F r e u n d e n — d i e s i s t<br />

d i e A n a r c h i e . *<br />

Bisher haben wir die Regierung so betrachtet,<br />

wie sie jetzt ist, wie sie notwendigerweise sein muß<br />

in einer Gesellschaft, welche auf Vorrechte, auf die<br />

Ausbeutung <strong>und</strong> Unterdrückung des Menschen durch<br />

den Menschen, auf entgegengesetzte Interessen <strong>und</strong><br />

Kampf — mit einem Wort: a u f d a s P r i v a t e i g e n -<br />

t u m gegründet ist.<br />

Wir haben gesehen, wie der Zustand des Kampfes<br />

nichts weniger als eine notwendige Bedingung<br />

des menschlichen Lebens ist, sondern im Gegenteil<br />

im Gegensatz zu den Interessen der Menschen <strong>und</strong><br />

der Menschheit steht. Wir haben gesehen, wie das<br />

Zusammenwirken, die Solidarität das Gesetz des<br />

menschlichen Fortschrittes ist, <strong>und</strong> wir haben daraus<br />

den Schluß gezogen, daß wenn das Privateigentum<br />

<strong>und</strong> jede Herrschaft des Menschen über den Menschen<br />

abgeschafft wird, die Regierung jeden Zweck<br />

verliert <strong>und</strong> verschwinden muß.<br />

«ANARCHIE» von Enriko Malatesta. 5


— 34 —<br />

«Aber» — so sagt man uns, <strong>und</strong> es sagen dies<br />

vornehmlich die Sozialdemokraten — «wenn man die<br />

Gr<strong>und</strong>lage verändert, auf welcher heute die gesellschaftliche<br />

Organisation aufgebaut ist, wenn man an<br />

Stelle des Kampfes die Solidarität, an Stelle des Privateigentums<br />

den gemeinsamen Besitz setzt, so wird<br />

man die Natur der Regierung ä n d e r n <strong>und</strong> dieselbe<br />

wird n i c h t m e h r die Interessen einer Klasse vertreten<br />

<strong>und</strong> verteidigen — da es ja keine Klassen mehr<br />

geben wird — sondern die Interessen der ganzen<br />

Gesellschaft. Ihre Aufgabe wäre es, im Interesse von<br />

allen, das gesellschaftliche Zusammenwirken zu sichern<br />

<strong>und</strong> zu regeln, die allgemein notwendigen gesellschaftlichen<br />

Arbeiten zu verrichten, die Gesellschaft gegen<br />

die eventuellen Versuche zu schützen, welche die<br />

Wiederherstellung der Vorrechte bezwecken würden,<br />

die Angriffe Einzelner gegen das Leben, den Wohlstand<br />

<strong>und</strong> die Freiheit Aller zu verhüten <strong>und</strong> zu<br />

unterdrücken.<br />

«In der Gesellschaft gibt es einzelne Tätigkeiten<br />

welche zu notwendig sind, zu viel Beständigkeit <strong>und</strong><br />

Regelmäßigkeit erfordern, als daß man sie dem freien<br />

Willen des einzelnen Menschen überlassen könnte,<br />

ohne zu riskieren, daß alles in die größte Unordnung gerät.<br />

«Wer wird ohne Regierung die Anschaffung <strong>und</strong><br />

Verteilung der Lebensmittel, die öffentliche Ges<strong>und</strong>heit,<br />

den Eisenbahn-, Post <strong>und</strong> Telegraphendienst<br />

u. s. w. organisieren <strong>und</strong> aufrechterhalten? Wer wird<br />

für den allgemeinen Unterricht sorgen? Wer wird die<br />

großen Arbeiten der Entdeckungen, der Verbesserungen,<br />

der wissenschaftlichen Forschungen unternehmen, die


— 35<br />

Erde umgestalten <strong>und</strong> die Kräfte der Menschen verh<strong>und</strong>ertfachen?<br />

«Wer wird das gesellschaftliche Kapital behüten<br />

<strong>und</strong> vermehren, um es bereichert <strong>und</strong> verbessert der<br />

zukünftigen Menschheit zu überliefern? Wer wird die<br />

Verwüstung der Wälder, die unvernünftige Ausnutzung<br />

<strong>und</strong> Aussaugung des Bodens verhindern?<br />

«Wer wird die Vollmacht haben, die Vergehen,<br />

das heißt die gesellschaftsfeindlichen Taten zu bestrafen?<br />

«Und was mit jenen, in denen das Gefühl der<br />

Solidarität fehlt <strong>und</strong> die nicht arbeiten wollen? Und<br />

die, welche ansteckende Krankheiten verbreiten würden,<br />

weil sie sich weigern, den wissenschaftlich anerkannten<br />

hygienischen Vorschriften Folge zu leisten?<br />

«Und wenn es geistig kranke Leute gäbe, die die<br />

Ernte verbrennen, Kinder vergewaltigen wollten oder<br />

ihre physischen Kräfte gegen die Schwächeren gebrauchen<br />

würden?<br />

«Wenn man das Privateigentum zerstört, ohne<br />

eine neue Regierung aufzurichten, welche das Leben<br />

der Gemeinschaft organisiert <strong>und</strong> die gesellschaftliche<br />

Solidarität sichert, so würde das die Vorrechte Einzelner<br />

nicht abschaffen <strong>und</strong> der Welt keinen Frieden<br />

<strong>und</strong> keinen Wohlstand bringen. Das würde die Zerstörung<br />

aller gesellschaftlichen Bande bedeuten <strong>und</strong><br />

die Menschheit in die Barbarei zurückstoßen, wo jeder<br />

nur für sich selbst lebt <strong>und</strong> wo die brutale Kraft <strong>und</strong>,<br />

daraus entspringend, die wirtschaftlichen Vorrechte<br />

über den Schwächeren siegen!»<br />

Dies sind die Einwendungen, welche die Anhänger<br />

der Autorität, selbst wenn sie Sozialisten sind,


— 36 —<br />

d. h. wenn sie das Privateigentum <strong>und</strong> die daraus<br />

entstehende Regierung der jetzigen herrschenden<br />

Klasse abschaffen wollen, uns entgegenhalten.<br />

Darauf antworten wir folgendes:<br />

Erstens ist es nicht wahr, daß die Regierung ihr<br />

Wesen <strong>und</strong> ihre Tätigkeit ändern wird, wenn sich die<br />

allgemein-gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. Werkzeug<br />

<strong>und</strong> Tätigkeit sind untrennbar von einander. Wenn<br />

man einem Körperteil seine Tätigkeit nimmt, so stirbt<br />

er entweder ab, oder die Tätigkeit stellt sich aufs<br />

neue ein. Man setze eine Armee in ein Land, wo<br />

weder die Ursache noch die Befürchtung zu einem<br />

äußeren oder inneren Kriege vorhanden ist: sie wird<br />

einen Krieg hervorrufen, oder wenn ihr das nicht<br />

gelingt, wird sie sich auflösen. Eine Polizei wird dort,<br />

wo es weder Verbrechen zu entdecken noch Verbrecher<br />

zu verhaften gibt, Verbrechen <strong>und</strong> Verbrecher<br />

provozieren <strong>und</strong> erfinden, oder sie wird aufhören<br />

zu sein.<br />

Seit Jahrh<strong>und</strong>erten besteht in Frankreich eine<br />

Behörde (heute der Forstverwaltung angeschlossen),<br />

die sogenannte »Wolfsjägerei«, deren Beamte die<br />

Vertilgung der Wölfe <strong>und</strong> anderer schädlichen Tiere<br />

zu besorgen haben. Niemand wird sich w<strong>und</strong>ern, daß<br />

gerade deshalb es in Frankreich noch Wölfe gibt <strong>und</strong><br />

dieselben im Winter viel Schaden anrichten (während<br />

in den übrigen Ländern Westeuropas sie so gut wie<br />

verschw<strong>und</strong>en sind). Die Bevölkerung kümmert sich<br />

nicht viel um die Wölfe, da doch die »Wolfjäger«<br />

da sind, deren Aufgabe es ist, sich um dieselben zu<br />

kümmern. Diese machen allerdings Jagd auf sie, aber


sie verfahren dabei »waidgerecht« indem sie die<br />

Jungen verschonen <strong>und</strong> ihnen Zeit lassen, sich zu vermehren,<br />

damit eine so interessante Tierart nicht ausgerottet<br />

wird. Die französischen Bauern haben auch<br />

recht wenig Zutrauen zu diesen Wolfsjägern, <strong>und</strong><br />

sehen sie eher als W o l f s z ü c h t e r an. Es ist begreiflich:<br />

Was würden die Beamten der »Wolfsjägerei«<br />

anfangen, wenn es keine Wölfe mehr gäbe?<br />

Eine Regierung, d. h. eine gewisse Anzahl von<br />

Leuten, deren Aufgabe es - ist, Gesetze zu machen,<br />

die gewohnt sind, sich der Kraft aller zu bedienen,<br />

um jeden zu zwingen, sie zu achten, bildet schon in <strong>und</strong><br />

für sich selbst eine privilegierte Klasse, welche von der<br />

Masse des Volkes geschieden ist. Sie wird, wie jede<br />

fest begründete Körperschaft instinktiv danach trachten,<br />

ihre Machtbefugnisse zu erweitern, sich der Aufsicht<br />

des Volkes zu entziehen, ihre besonderen Bestrebungen<br />

zu verwirklichen <strong>und</strong> ihre eigenen Interessen<br />

den übrigen Menschen aufzuzwingen. Indem<br />

sie eine privilegierte Stellung einnimmt, befindet sich<br />

die Regierung im Gegensatz zur Masse des Volkes,<br />

dessen Kräfte sie täglich in Anspruch nimmt.<br />

Übrigens könnte eine .Regierung, selbst wenn<br />

sie es wollte, niemals a l l e Menschen zufriedenstellen.<br />

Wenn es ihr gelingen würde, einige zu befriedigen,<br />

müßte sie sich gegen die Unzufriedenen verteidigen,<br />

<strong>und</strong> infolgedessen einen Teil des Volkes für ihre Interessen<br />

zu gewinnen suchen, damit dieser sie unterstützt.<br />

So würde von neuem die alte Geschichte anfangen:<br />

daß sich mit Hilfe der Regierung eine privilegierte<br />

Klasse bildet, welche, wenn sie auch diesmal


— 38 —<br />

nicht den Besitz des Bodens an sich risse, doch jedenfalls<br />

die b e v o r z u g t e n S t e l l e n , die zu diesem Zweck<br />

geschaffen würden, besetzte, <strong>und</strong> welche die übrigen<br />

Menschen nicht weniger bedrücken <strong>und</strong> nicht weniger<br />

ausbeuten würde als die heutige Kapitalistenklasse.<br />

Die Herrschenden, die an das Befehlen gewöhnt<br />

sind, würden nicht in die Masse des Volkes zurückkehren<br />

wollen; wenn sie ihre Macht nicht behalten<br />

könnten, würden sie sich wenigstens die dann bevorzugten<br />

Stellungen sichern, wenn sie schon diese<br />

Macht anderen überlassen müssen. Sie würden von<br />

allen Mitteln, welche der Regierung zur Verfügung<br />

stehen, Gebrauch machen, um zu ihren Nachfolgern<br />

ihre eigenen Fre<strong>und</strong>e erwählen zu lassen, damit diese<br />

dann wiederum sie stützen <strong>und</strong> verteidigen sollen.<br />

So würde also die Regierung in denselben Händen<br />

hin <strong>und</strong> her wandern, <strong>und</strong> die Demokratie, welche<br />

angeblich die Regierung aller, die » V o l k s h e r r -<br />

s c h a f t « ist, würde am Ende wie immer zur » Oligarchie",<br />

zur Herrschaft der Wenigen, einer privilegierten<br />

Klasse werden.<br />

Was für eine allmächtige, bedrückende, alles in<br />

sich aufsaugende Oligarchie wäre eine solche Regierung,<br />

welche die Sorge, d. h. Verfügungsrecht<br />

über allen gesellschaftlichen Reichtum, alle öffentlichen<br />

Dienstleistungen hätte, von der Verpflegung<br />

des Menschen bis zur Fabrikation der Zündhölzchen,<br />

von den Universitäten bis zu den Operettentheatern!<br />

Aber nehmen wir an, daß die Regierung nicht<br />

an <strong>und</strong> für sich eine privilegierte Klasse bildet, <strong>und</strong><br />

daß sie bestehen kann ohne rings um sich eine Klasse


- 39 -<br />

von privilegierten Menschen zu schaffen — daß sie<br />

also die Vertreterin, sagen wir die Dienerin der<br />

ganzen Oesellschaft bleiben würde. Wozu würde sie<br />

dann dienen? In was <strong>und</strong> wie würde sie die Kraft,<br />

die Intelligenz, den Geist der Solidarität, die Sorge<br />

für das Wohl Aller <strong>und</strong> der zukünftigen Menschheit,<br />

die zur gegebenen Zeit innerhalb der Menschheit bestünden,<br />

vermehren können?<br />

Es ist immer dieselbe Geschichte vom gefesselten<br />

Menschen, welcher, da er t r o t z seiner Fesseln leben<br />

kann, glaubt, daß diese Fesseln zu seinem Leben notwendig<br />

sind.<br />

Wir sind gewohnt, unter einer Regierung zu<br />

leben, die alle Kräfte, alle Intelligenz, jeden Willen,<br />

den sie für ihre eigenen Zwecke benützen kann, in<br />

Beschlag nimmt, <strong>und</strong> alle jene, welche sie nicht<br />

braucht oder welche ihr feindlich sind, hindert, lähmt<br />

<strong>und</strong> unterdrückt — <strong>und</strong> wir bilden uns ein, daß<br />

Alles, was in der Gesellschaft geschieht, das Werk<br />

der Regierung ist <strong>und</strong> daß ohne Regierung weder<br />

die Gesellschaft noch die Kraft, die Intelligenz oder<br />

der gute Willen der Menschen weiterbestehen würde.<br />

So läßt z. B. der Gr<strong>und</strong>besitzer den Boden für seinen<br />

eigenen Profit bebauen: er läßt dem Arbeiter nur<br />

soviel vom Ertrag übrig, daß derselbe für ihn weiter<br />

arbeiten kann <strong>und</strong> will — <strong>und</strong> der geknechtete Arbeiter<br />

glaubt, daß er ohne Arbeitgeber nicht leben<br />

könnte, als ob dieser den Boden <strong>und</strong> die Naturkräfte<br />

erschaffen hätte!<br />

Womit kann eine Regierung die geistigen <strong>und</strong><br />

materiellen Kräfte, die in einer Gesellschaft bestehen,


- 40 —<br />

vermehren? Ist sie vielleicht wie der Gott der Bibel,<br />

der etwas aus nichts zu erschaffen vermag? Da in<br />

der ganzen Natur nichts »erschaffen« worden ist, so<br />

wird auch in der komplizierten Form der Natur, die<br />

wir die menschliche Gesellschaft nennen, nichts »erschaffen«.<br />

Darum kann die Regierung nur die schon<br />

vorhandenen Kräfte v e r w e n d e n , ausgenommen jene<br />

großen Kräfte, die sie durch ihre eigene Tätigkeit<br />

lahmlegt <strong>und</strong> zerstört — die Kräfte der Empörung,<br />

die Kraft, die sich in den unvermeidlichen, sehr zahlreichen<br />

Reibungen einer so künstlichen Maschine als<br />

es die s t a a t l i c h e Gesellschaft ist, verlieren.<br />

Und wenn sie ihrerseits etwas zu den guten Kräften<br />

der Gesellschaft beiträgt, so geschieht das durch die<br />

persönlichen Handlungen der Herrschenden als<br />

M e n s c h e n <strong>und</strong> n i c h t als Regierende. Und endlich<br />

wird nur der allergeringste Teil der materiellen<br />

<strong>und</strong> moralischen Kräfte, über welche die Regierungen<br />

verfügen, wirklich zum wahren Nutzen der Gesellschaft<br />

verwendet. Die meisten werden entweder dazu<br />

benützt, um die rebellischen Kräfte der Menschen im<br />

Zaume zu halten oder zum ausschließlichen Profit<br />

einiger Leute <strong>und</strong> zum Schaden des größten Teiles<br />

der übrigen Menschen gebraucht.<br />

Man hat sich lange darum herumgestritten, in<br />

wie weit das Leben <strong>und</strong> der Fortschritt der menschlichen<br />

Gesellschaft von den Handlungen Einzelner<br />

beeinflußt werden, <strong>und</strong> in wie weit sie das Ergebnis<br />

der »gesellschaftlichen Handlungen« sind. Mit allerlei<br />

Kunstgriffen der Sprache <strong>und</strong> der Philosophie hat<br />

man die Sache so verwickelt, daß es ganz gewagt


setzen müsse. Diese Einsicht mußte einmal<br />

in eine greifbare Tatsache umgesetzt werden,<br />

die Einsicht, daß die Proletarier eine Macht<br />

seien, der zur ausschlaggebenden Bedeutung<br />

nur der Wille fehle.<br />

Ich für meine Person halte dafür, daß<br />

sich die Wünsche des Kongresses von<br />

Bourges verwirklicht haben.<br />

Was den Achtst<strong>und</strong>entag anlangt, hat<br />

der 1. Mai 1906 das Ende der Periode des<br />

Besinnens, des Studierens <strong>und</strong> unfruchtbaren<br />

Theoretisierens für die Gewerkschaftsbewegung<br />

bedeutet. Er ist der ersehnte Ausgangspunkt<br />

eines Feldzuges der Taten, nicht<br />

mehr nur der Gedanken, geworden.<br />

Was die geistige Verfassung der Arbeiterschaft<br />

betrifft, sind die Ergebnisse die<br />

denkbar besten gewesen. Zunächst die Agitation:<br />

18 Monate hindurch ist ohne Nachlassen<br />

mit einer Energie <strong>und</strong> Umsicht gekämpft<br />

worden, wie man sie nie vorher<br />

erlebte. In ebenso unerhörtem Grade ist es<br />

gelungen, die gesamte Arbeiterschaft in der<br />

Ueberzeugung zu einigen, daß es sich um<br />

eine allgemeingültige Forderung handle.<br />

Und das Leben am 1. Mai 1906 selber:<br />

Das hätte man sollen mit ansehen dürfen!<br />

Eine Einheit des Fühlens <strong>und</strong> Wollens zu<br />

Stadt <strong>und</strong> Land, in ganz Frankreich umher,<br />

wie sie herrlicher die tiefgrabende Wucht<br />

der Propaganda nicht hätte beweisen können.<br />

Das französische Proletariat hat aus<br />

dieser seiner Aktion, die es Mann an Mann<br />

geschart gewagt hatte, einen unberechenbaren<br />

Gewinn gezogen: Ein gefestigtes<br />

Selbstvertrauen <strong>und</strong> die Gewißheit, daß<br />

derartige Massenerhebungen, Vorspiele des<br />

endgültigen Generalstreiks möchte man sie<br />

nennen, die notwendige Gymnastik des<br />

Proletariats sind, falls es die Macht des<br />

Kapitalismus ernstlich niederringen will.<br />

Nun hat man sich freilich auf seiten<br />

unserer theoretischen Gegner wohl oder<br />

übel dazu entschließen müssen, die Früchte<br />

der Direkten Aktion anzuerkennen, soweit<br />

ihr Saft <strong>und</strong> Mark in der Verdichtung des<br />

proletarischen Klassenbewußtseins <strong>und</strong> Klassenwillens<br />

besteht. Die Schätzung der praktisch<br />

durch die Direkte Aktion erzielten<br />

Vorteile dagegen: Da weiß man vielorts<br />

wenig zu rühmen; ja gewisse Leute versteifen<br />

sich darauf zu behaupten, daß sie<br />

solche überhaupt nicht entdecken könnten.<br />

Gerade von diesen materiellen Errungenschaften<br />

— denn sie sind da — möchte<br />

ich ein kleines Bild geben.<br />

Am Kopf dieser Liste steht mit Fug<br />

<strong>und</strong> Recht, als eine unmittelbare Maieroberung<br />

des Proletariats, der Wöchentliche<br />

Ruhetag. In Paris <strong>und</strong> in verschiedenen<br />

Provinzstädten haben die Koiffeurgehilfen<br />

von diesem Tage ab, — <strong>und</strong> längst v o r der<br />

Annahme des Gesetzes im Parlament — den<br />

Meistern die Verpflichtung auferlegt, ihre<br />

Buden einmal wöchentlich t a g ü b e r zu<br />

schließen. Die Annahme des diesbezüglichen<br />

Gesetzes ist lediglich dem Druck<br />

zuzuschreiben, den die Achtst<strong>und</strong>entagbewegung<br />

auf die Kammern ausgeübt hat.<br />

Neben dem wöchentlichen Ruhetag,<br />

der vom Mai 1906 an Praxis geworden ist,<br />

steht eine zweite Verbesserung derselben<br />

Art, ihr Widerspiel gleichsam: Die »englische<br />

Woche«, die die Schließung von<br />

Arbeitsplätzen, Werkstätten <strong>und</strong> Fabriken<br />

für d e n S a m s t a g N a c h m i t t a g mit<br />

sich bringt. In vielen, namentlich metallurgischen<br />

Werkstätten <strong>und</strong> Fabriken ist<br />

vom 1. Mai ab diese »englische Woche«<br />

eingeführt <strong>und</strong> hat sich heute mehr <strong>und</strong><br />

mehr eingelebt.<br />

Im Baufach sind, vornehmlich in der<br />

Hauptstadt, ganz beträchtliche Fortschritte<br />

erzielt worden, moralische wie materielle.<br />

Die Steinhauer beziehen 85 <strong>und</strong> 90 Centimes<br />

statt 75; die Verputzarbeiter beziehen<br />

trotz einer Herabsetzung der Arbeitszeit<br />

von zehn auf neun St<strong>und</strong>en nach wie vor<br />

12 Franken pro Tag. Maurer von der Art<br />

der Mörtelmaurer beziehen 70 bis 75 statt<br />

60 bis 65 Centimes. Andere, die Gipsarbeiter<br />

sind um 5 Centimes die St<strong>und</strong>e<br />

gestiegen, nachdem sie vorher 75 bis<br />

80 Centimes bezogen hatten. Ähnliche<br />

Lohnerhöhungen haben auch die hierhergehörigen<br />

Handlanger erlangt. Ganz allgemein<br />

aber ist, <strong>und</strong> zwar vor der Aktion<br />

des Parlaments, der wöchentliche Ruhetag<br />

durchgesetzt worden. Noch bezeichnender<br />

aber als es diese materiellen Erfolge sind,<br />

ist ein moralischer: Vordem nahm man auf<br />

einem Arbeitsplatz sein Beispiel an dem,<br />

der sich am meisten ins Zeug legte <strong>und</strong><br />

schwitzte: h e u t e r i c h t e t m a n s e i n<br />

T e m p o m e h r n a c h d e m K a m e r a d e n<br />

ein, der Eile mit Weile verbindet. Das<br />

greift so um sich, daß die Arbeitsleistung,<br />

die ein Kleinunternehmer erhält, sich jetzt<br />

um 20 bis 25 Prozent, diejenige, die für<br />

den großen Unternehmer bleibt, um ungefähr<br />

30 Prozent vermindert hat. Die unmittelbare<br />

Folge dieser moralischen Wandlung<br />

ist die, d a ß e i n B a u l ä n g e r zu<br />

tun g i b t , o d e r d a ß m a n m e h r Arb<br />

e i t e r a n s t e l l e n muß.<br />

Die Baumaler haben Lohnerhöhungen<br />

erwirkt <strong>und</strong> wenn die Schreiner, außer<br />

seitens weniger Firmen, fast nichts gewonnen<br />

haben, so hat sich ihre gewerkschaftliche<br />

Einigung doch stärker geschlossen.<br />

Die Erdarbeiter haben ähnliche Erfolge<br />

erzielt. Die tubistes unter ihnen, die 9 St<strong>und</strong>en<br />

in geschlossenen Caissons unter Wasser arbeiteten,<br />

haben den Achtst<strong>und</strong>entag erlangt<br />

<strong>und</strong> ihren Lohn behauptet. Die übrigen<br />

haben mit Erfolg die Forderung aufgestellt,<br />

daß in neuen öffentlichen Bauanlagen der<br />

Achtst<strong>und</strong>entag zu erproben sei. Außerdem<br />

ist ihre Gewerkschaft von 800 zu 3000 Mitglieder<br />

emporgeschnellt. Ähnliche Resultate<br />

sind auch in der Provinz vielfach erzielt<br />

worden.<br />

Im Lederverarbeitungs- <strong>und</strong> Kürschnergewerbe<br />

der Hauptstadt ist es den Arbeitern<br />

gemeinhin gelungen, ihre Bezüge um mindestens<br />

10 Prozent zu steigern. In Chaumont<br />

haben die Weißgerber den Achtst<strong>und</strong>entag<br />

bei gleichbleibendem Lohn<br />

errungen; in Annonay sind sie bis zum<br />

Neunst<strong>und</strong>entag vorgedrungen <strong>und</strong> haben<br />

sich e i n e h ö h e r e Bezahlung für die<br />

neunte St<strong>und</strong>e gesichert. In Dôle ist der<br />

Arbeitstag von elf bis zwölf zunächst auf<br />

zehn St<strong>und</strong>en herabgesetzt <strong>und</strong> der Lohn<br />

um 20 Prozent verbessert worden. Ähnliche<br />

Erfolge sind in Montluçon, Romans <strong>und</strong><br />

anderorts erzielt worden. In Lorient <strong>und</strong><br />

Lyon haben die Weber <strong>und</strong> Seiler ansehnliche<br />

Lohnerhöhungen gewonnen.<br />

Im Pariser Kupfer-, Goldschmiede- <strong>und</strong><br />

Schmuckgewerbe ist für die Spezialität in<br />

mehreren Häusern der Achtst<strong>und</strong>entag zugestanden<br />

worden <strong>und</strong> der Lohn von 6½<br />

auf 7 Franken 20 Centimes gestiegen. Frühere<br />

Arbeitsdauer: Zehn St<strong>und</strong>en. In sehr<br />

vielen Provinzstädten sind in erster Linie<br />

beträchtliche Verkürzungen der Arbeitszeit<br />

eingetreten. Im Pariser Buchdruck desgleichen<br />

<strong>und</strong> dazu noch Erhöhungen der<br />

vorher elenden Löhne. In der Lithographie<br />

kam man Dank einem prächtigen Vormarsch<br />

der Arbeiterschaft zu Gunsten des<br />

Achtst<strong>und</strong>entages vorläufig zu neun St<strong>und</strong>en.<br />

In der Lebensmittelbranche haben die<br />

Marseiller Köche den Neunst<strong>und</strong>entag, den<br />

wöchentlichen Ruhetag <strong>und</strong> eine Lohnerhöhung<br />

erobert; ähnlichen Erfolg haben<br />

die Bäcker <strong>und</strong> Limonadearbeiter errungen.<br />

In Limoges <strong>und</strong> Pau haben die Bäcker<br />

ihre Lage verbessern können.<br />

In der Metafturanche <strong>und</strong> Mechanik<br />

sind außer den für Paris schon erwähnten<br />

Ergebnissen solche namentlich seitens der<br />

Westinghouse-Werke, in Amiens, Lyon,<br />

Unieux usw. gewährt worden.<br />

Die Bekleidungsarbeiter, die noch zu<br />

wenig organisiert sind, hatten erst in<br />

wenigen Zentren ihre Forderungen aufgestellt;<br />

die Pariser Damenschneider bekamen<br />

15 Prozent Lohnerhöhung; die Konfektionsarbeiter<br />

der großen Firmen haben es zu<br />

einer Verkürzung der Arbeitszeit von zwölf<br />

auf zehn St<strong>und</strong>en bei gleichzeitigem Lohnzuschlag<br />

im Betrag eines halben Frankens<br />

pro Tag gebracht. In Lyon haben die Zuschneider<br />

<strong>und</strong> Konfektionsarbeiter sich eine<br />

ganze Reihe von Vorteilen gesichert: Neunst<strong>und</strong>entag,<br />

die »englische Woche«, Bezahlung<br />

der männlichen Arbeiter während<br />

der Militärkurse (28 <strong>und</strong> 13 Tage), der<br />

weiblichen um die Zeit ihrer Entbindung<br />

seitens der Fabrikanten.<br />

Diese kurze <strong>und</strong> notgedrungen unvollständige<br />

Übersicht über einige materielle<br />

Ergebnisse, die im Zusammenhang mit der<br />

Bewegung vom 1. Mai sich eingestellt<br />

haben, ist der schlagendste Beweisgr<strong>und</strong><br />

für den Wert der Direkten Aktion.<br />

Das ist auch der Gr<strong>und</strong>, warum die<br />

französischen Gewerkschaften ihr Augenmerk<br />

entschieden einer raschen Veränderung<br />

der ö k o n o m i s c h e n Verhältnisse zuwenden.<br />

Sie haben es praktisch erfahren, was alles<br />

sich mit Willen <strong>und</strong> Tatkraft tun läßt. Und<br />

nur dadurch. Durch eine Tat der ganzen<br />

Masse, die je länger je geschlossener wird,<br />

greifen sie ohne Zaudern <strong>und</strong> Zagen die<br />

kapitalistische Gesellschaft an, <strong>und</strong> ohne<br />

Unterlaß: Denn sie wissen, daß sie so die<br />

Bahn zum letzten Generalstreik öffnen, der<br />

uns vom Eigentum erlösen, uns Besessene<br />

von den Besitzern befreien wird. D u r c h<br />

uns selbst.• Emile Pouget*<br />

Ein Zwiegespräch mit<br />

Anatole France.<br />

In unserem amerikanischen Schwesterorgan<br />

„ M u t t e r E r d e " finden wir den Bericht über ein<br />

kurzes Gespräch, das eine russische Genossin mit<br />

dem berühmten französischen Dichter führte. Unter<br />

anderem kam sie auch auf ein Gebiet zu spreche;.,<br />

das internationales Interesse besitzt, <strong>und</strong> welchen<br />

Teil der Unterhaltung wir hiermit wiedergeben.<br />

«. . . <strong>Unser</strong> Gespräch lenkte bald über<br />

zu allgemeinen sozialen Fragen.<br />

«Ja», sagte Anatole France ruhig <strong>und</strong><br />

ernst, «ich bin ein Sozialist — in dem größtmöglichen<br />

Sinn dieses Wortes, in seinem<br />

gesellschaftlichen Sinn. Die P o l i t i k erscheint<br />

mir hingegen als nichts anderes<br />

denn als Verschwendung der Energie. Sobald<br />

Sozialisten die politische Arena betreten,<br />

werden sie notwendigerweise zu näheren<br />

Verbindungen mit den übrigen bürgerlichen<br />

Parteien gezwungen <strong>und</strong> müssen dadurch,<br />

um überhaupt existieren zu können, sich<br />

den gegebenen Verhältnissen anpassen. Das<br />

Resultat davon ist, daß sie, wie hier in<br />

Frankreich, von sehr geringer Bedeutung<br />

werden in dem Marsche des wirklichen<br />

sozialen Fortschrittes.»<br />

Dann wandte er sich an mich mit einer<br />

eigenartigen graziösen Bewegung <strong>und</strong><br />

fragte, während ein Strahl hellen Interesses<br />

über sein Antlitz huschte:<br />

«Fräulein sind wohl auch Sozialistin?»<br />

«Ja», antwortete ich, «aber gleichfalls<br />

in Ihrem Sinne — im umfassendsten Wortsinn».<br />

Und glücklich, nun Gelegenheit zu<br />

einer Frage zu haben, die ich gleich anfangs<br />

an ihn richten wollte, fragte ich:<br />

«Sind Sie nicht der Meinung, daß das<br />

großartigste, revolutionäre Mittel, das gegenwärtig<br />

in unserer Macht ist — in der Macht<br />

der arbeitenden Klasse — im G e n e r a l -<br />

s t r e i k besteht?»<br />

«Es gibt kein anderes soziales Mittel<br />

als dieses in der Gegenwart», antwortete<br />

* Redakteur des Organes der französischen, revolutionären<br />

Gewerkschaften „ L a V o i x du P e u p l e " .


er sofort <strong>und</strong> mit freudiger Erregung. «Es<br />

ist das großartigste Kampfesmittel, das wir<br />

besitzen. — Ah», seufzte er <strong>und</strong> schüttelte<br />

dabei langsam sein Haupt, «die marxistischen<br />

Theorien wurden zu einer Zeit geschrieben,<br />

als die Verhältnisse so ganz<br />

anders waren als heute! Alles hat sich so<br />

vollständig verändert — <strong>und</strong> Marx war<br />

kein Prophet.<br />

H e u t e b r a u c h e n w i r a n d e r e<br />

K a m p f e s m i t t e l u n d ü b e r a l l , w o e s<br />

s i c h u m s o z i a l e s W e i t e r s c h r e i t e n<br />

h a n d e l t , k a n n m a n d i e Z w e c k l o s i g -<br />

k e i t d e s P a r l a m e n t a r i s m u s b e o b -<br />

a c h t e n . Der Generalstreik ist, wie Sie sehr<br />

richtig sagten, Fräulein, das großartigste<br />

Kampfmittel . . . »<br />

Und als er sich erhob, um Abschied<br />

zu nehmen, wiederholte er nochmals:<br />

«Ja, Fräulein, d e r G e n e r a l s t r e i k<br />

ist e i n e w u n d e r v o l l e W a f f e , s i e<br />

e n t s p r i c h t d e n N o t w e n d i g k e i t e n<br />

u n d A n f o r d e r u n g e n d e s T a g e s . »<br />

Offizielles Protokoll<br />

des Internationalen Antimilitaristischen<br />

Kongresses<br />

gehalten zu Amsterdam, am 30.—31. August<br />

1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />

des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />

m e r h o rn.<br />

(Fortsetzung.)<br />

<strong>Unser</strong> Losungswort muß heißen: D i e<br />

A r b e i t e r s o l l e n k e i n S c h i f f , d a s für<br />

e i n e d e r k r i e g f ü h r e n d e n M ä c h t e<br />

b e s t i m m t ist, l a d e n o d e r l ö s c h e n !<br />

Dieses Vorgehen kann seine Wirkung<br />

nicht verfehlen, wenn nur die Arbeiter erkennen,<br />

über welche Kräfte sie verfügen<br />

können. Es ist die einzig zweckmäßige<br />

Friedenspolitik.<br />

Man muß auf diese Weise diejenigen<br />

Adern durchschneiden, welche den kriegführenden<br />

Militarismus ernähren, um den<br />

Krieg unmöglich zu machen. Von oben,<br />

von den Herrschern <strong>und</strong> Diplomaten, den<br />

Regierungen, den Bankiers <strong>und</strong> Finanzleuten,<br />

den Geschäftsmännern <strong>und</strong> Großindustriellen<br />

wird die Menschheit nie etwas<br />

Gutes erhalten. Ebensowenig wie von den<br />

Friedenskongressen der Regierungen, wo<br />

sich die Abgesandten von Tyrannen versammeln,<br />

deren Hände von Blut triefen,<br />

<strong>und</strong> die sich nicht um Maßnahmen zur<br />

Sicherung des Friedens kümmern, sondern<br />

nur um eine gesetzliche Regelung des<br />

Krieges, was etwas ganz anderes ist. Diese<br />

Leute könnten nicht einmal etwas tun, sogar<br />

wenn sie es wollten. Nein, d i e prod<br />

u k t i v e n A r b e i t e r s i n d es, u n d n u r<br />

s i e a l l e i n , d i e d e n F r i e d e n v e r w i r k -<br />

l i c h e n k ö n n e n u n d m ü s s e n !<br />

<strong>Unser</strong> Plan ist der folgende:<br />

Die organisierten Arbeiter des Wassertransportes<br />

(Seeleute, Schiffer, Hafenarbeiter<br />

usw.) sind schon in einem internationalen<br />

Verbände vereinigt. Wenn man unseren<br />

Vorschlag zur Boykottierung der kriegführenden<br />

Mächte auf die Tagesordnung<br />

des nächsten internationalen Kongresses<br />

der Transportarbeiter setzt, <strong>und</strong> wenn dieselben<br />

beschließen, durch Flugschriften,<br />

Versammlungen <strong>und</strong> durch ihre Zeitungen<br />

eine kräftige Propaganda dafür zu entwickeln,<br />

so werden wir bald überall eine<br />

Gruppe von Arbeitern haben, die in einemfort<br />

diese Idee verbreiten. Und wenn der<br />

Kongreß die Verwirklichung dieses Planes<br />

für den Fall eines Krieges beschließt, wird<br />

die Idee den ersten Schritt zur Verwirklichung<br />

getan haben.<br />

Außerdem haben wir noch die Arbeiter<br />

des Transportes zu Lande, das heißt die<br />

Eisenbahnarbeiter, die sich notwendiger-<br />

weise anschließen werden, um mit ihren<br />

Genossen gemeinsam vorzugehen. Die Arbeiter<br />

dieser zwei großen Arbeitszweige<br />

sind schon allein im Stande, jeden Krieg<br />

unmöglich zu machen. Tun sie es nicht,<br />

dann sind s i e dafür verantwortlich, daß<br />

die Truppen an die Grenze gehen, um sich<br />

zu schlagen; daß die Beförderung der Kanonen,<br />

der Munition, der Lebensmittel vor<br />

sich geht <strong>und</strong> dadurch jede Bewegung der<br />

Armeen vollkommen möglich wird.<br />

Die Frage ist: Wie können wir Sozialisten,<br />

sofort, auf die wirksamste Art den<br />

Kapitalismus bekämpfen? Der Sozialismus<br />

verbreitet sich überall, aber sollen die Sozialisten<br />

untätig dastehen, wenn es zu einem<br />

Kriege kommt, <strong>und</strong> sich mit Protestresolutionen<br />

wider die kampfführenden Mächte<br />

begnügen?<br />

Wir dürfen nie vergessen, daß der<br />

Militarismus die letzte Schutzmauer des<br />

Kapitalismus ist.<br />

Der Kapitalismus ist der einzige Feind<br />

des Proletariers, welcher kein Vaterland hat.<br />

Nichts gehört ihm von all dem, was man<br />

Vaterland nennt. Er wird überall ausgebeutet.<br />

Er kennt keine Grenzen, denn überall<br />

wird er verfolgt <strong>und</strong> dem Hunger geopfert.<br />

—<br />

Hier müssen wir auf eine Einwendung<br />

antworten, die man von einer gewissen<br />

Seite gegen unsere Propaganda erhebt.<br />

Die Sozialdemokraten behaupten, daß der<br />

Kampf gegen den Militarismus keine große<br />

Bedeutung hat <strong>und</strong> haben kann. Da der<br />

Militarismus aus dem Kapitalismus hervorgeht,<br />

wird er — so sagen sie — von<br />

selbst verschwinden, sobald wir den Kapitalismus<br />

besiegt haben. Das ist die sozialdemokratische<br />

Formel, die jede Pforte<br />

zum Unsinn öffnet. Die Religion, das<br />

Königtum, der Alkoholismus u. s. w. werden<br />

alle »ganz von selbst« mit dem Kapitalismus<br />

verschwinden. Aber das ist unwahr.<br />

Denken wir nur an die Propaganda,<br />

die die Sozialdemokraten für die allgemeine<br />

Volksbewaffnung, das »Volksheer« machen,<br />

in dem auch von der Disziplin die Rede<br />

ist. Der preußische Kriegsminister von<br />

Einem hat sehr richtig bemerkt: » E i n e<br />

A r m e e , w i r d i m m e r e i n e A r m e e<br />

b l e i b e n , w a s i m m e r für e i n e n<br />

N a m e n m a n i h r g i b t . « Der sozialdemokratische<br />

Staat wird auch eine Armee<br />

nötig haben, um diejenigen zu unterwerfen,<br />

die sich seinen demokratisch-demagogischen<br />

Majoritäts-Gesetzen nicht fügen<br />

wollen. Die Sozialdemokraten greifen darin<br />

nur die F o r m <strong>und</strong> n i c h t das W e s e n<br />

des Militarismus an; <strong>und</strong> darum würde<br />

auch in i h r e m Staat, nach dem Verschwinden<br />

des Kapitalismus, eine antimilitaristische<br />

Propaganda notwendig sein.<br />

Also: Der Krieg zwischen den<br />

Völkern ist die Hinmordung der Arbeiter<br />

durch die Arbeiter selbst, um<br />

der. besitzenden Klasse, den Kapitalisten,<br />

zu dienen.<br />

Vergessen wir nicht die Worte des<br />

alten geriebenen Massenmörders Thiers:<br />

» E s g i b t n u r z w e i M i t t e l , u m d i e<br />

R u h e i m L a n d e h e r z u s t e l l e n : d a s<br />

s i n d d e r K r i e g n a c h A u ß e n u n d<br />

d i e A b s c h a f f u n g d e r V o l k s c h u -<br />

len.« Das heißt: um die »Ordnung, aufrecht<br />

zu erhalten, muß man die Proletarier<br />

entweder verdummen oder sie zu Kanonenfutter<br />

machen. Nun, wir antworten darauf:<br />

Wir wollen weder verdummt werden<br />

noch Kanonenfutter sein!<br />

(Fortsetzung folgt.)<br />

Mariaschein. Achtung! Die Belegschaftsorganisation<br />

Dobl-Hof Hl hält Sonntag den 5. Juli 1908,<br />

um 9 Uhr vormittags, im Gasthause „zur Fortuna"<br />

in Mariaschein ihre ganzjährige Generalversammlung<br />

ab.<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />

Öffentliche Erklärung.<br />

In einer Vereinsversammlung der „Allgemeinen<br />

Gewerkschaftsföderation" im III. Bez., Rennweg 71,<br />

erklärte ein gewisser Herr Bernt, der sich als Expedient<br />

der „Arbeiterzeitung" gerierte, daß die<br />

„ W i e n e r A n a r c h i s t e n u n t e r dem P r o t e k -<br />

t o r a t e d e r P o l i z e i s t e h e n . " Namens der in<br />

der Versammlung anwesend gewesenen Kameraden<br />

erkläre ich obgenannten Bernt für so lange als<br />

L ü g n e r <strong>und</strong> V e r l e u m d e r , bis er den Beweis<br />

für seine Behauptungen erbracht hat. Meine persönliche<br />

Angelegenheit werde ich anderwärts mit<br />

ihm zum Austrag bringen. Ernst Haidt.<br />

BEWEGUNGSNOTIZEN.<br />

Warnung. Ich warne die Genossen davor,<br />

sich der Kolonie Fotodatera bei Athen anzuschließen,<br />

da dieselbe nicht auf anarchistischer Gr<strong>und</strong>lage begründet<br />

<strong>und</strong> die Gegend überhaupt außerordentlich<br />

wasserarm ist. Mit Solidaritätsgruß<br />

Willi. Warschatka.<br />

*<br />

Sämtliche Artikel der letzten Nummer des<br />

„W. f. A." wurden stellenweise konfisziert <strong>und</strong> die<br />

Beschlagnahmeverfügung über Nr. 11 ausgesprochen.<br />

*<br />

Eine sehr große Anzahl Versammlungen fand<br />

während der letzten zwei Wochen statt. Wir erwähnen<br />

der Kürze halber nur die wichtigsten. Es<br />

sprach der Genosse Haidt über den „Streik als<br />

Waffe im Klassenkampf", der Genosse Felsenburg<br />

über die „Theorien Henry Georges <strong>und</strong> der Anarchismus".<br />

Eine prächtige Massenversammlung fand<br />

im X. Bez. statt, in der die Genossen Haidt, Drschewo<br />

<strong>und</strong> Ramus über „Österreichische oder moderne<br />

Gewerkschaftstaktik des Anarchismus" referierten.<br />

In der Versammlung des XVI. Bez. blamierten sich<br />

die Sozialdemokraten fürchterlich, weil sie unter<br />

großer Radaumacherei das Wahlrecht als „heilig"<br />

priesen, dieweil ihnen bewiesen ward, daß es nur<br />

ein Fetzen Papier ist, der gar keine ökonomische<br />

Wirksamkeit hat; auch ward ihnen gezeigt, daß die<br />

Beziehungen des Simon Starck zu den Christlichsozialen<br />

gerade dem parlamentarischen Sumpfe erwuchsen,<br />

in dem sich auch i h r e Wortführer befinden.<br />

Begeisternd verlief die Massenversammlung bei<br />

Holub, in der die Genossen Ramus <strong>und</strong> Haidt über<br />

die „Wertlosigkeit des Parlamentarismus für die<br />

Gewerkschaften" referierten; einige Sozialdemokraten,<br />

die sich zuerst eifrig Notizen gemacht, gestanden<br />

zum Schlüsse ein: „Wir haben nichts zu<br />

entgegnen, es ist alles wahr!" —<br />

Zu den an anderer Stelle vom Genossen L.<br />

ausführlich besprochenen Versammlungsereignissen<br />

des III. Bez. erhalten wir auch noch die folgende<br />

Mitteilung: Der Sozialdemokrat <strong>und</strong> Vertrauensmann<br />

Arpad Bacher, der schließlich ehrliche Anständigkeit<br />

von gemeinster Brutalität zu unterscheiden vermag,<br />

rief seine Genossen zur Ruhe, indem er ihnen das<br />

Schändliche ihres Tuns vorhielt. „So handelt ihr<br />

als Sozialdemokraten?" rief er ihnen zu. <strong>Weg</strong>en<br />

dieser Worte wurde er von den eigenen „Genossen"<br />

u. a. von seinem Kollegen Kral im Aktionskomitee<br />

— mit Fäusten, Stöcken <strong>und</strong> Sesseln bearbeitet.<br />

Die Sozialdemokraten können sich nach diesem<br />

Vorfall um einen anderen Vertrauensmann umsehen;<br />

sie haben für uns gearbeitet, denn aus d i e s e m<br />

Sozialdemokraten wird bald ein Anarchist werden.<br />

Belehrt durch die eigenen „Genossen" !<br />

4:-<br />

A c h t u n g ! Von vertraulicher Seite erhalten<br />

wir die Mitteilung, daß die Gewerkschaftskommission<br />

an die verschiedenen Bezirksleitungen<br />

die Weisung ergehen läßt, die anarchistischen<br />

Gewerkschaftsversammlungen unter allen Umständen<br />

zu sprengen. Wir warnen die Herren<br />

vor solchem Tun. Denn für uns m u ß es dann<br />

heißen: Für j e d e gesprengte anarchistische<br />

Versammlung eine gesprengte sozialdemokratische<br />

Versammlung!<br />

Briefkasten.<br />

Breuer. Verspätet erhielt ich Deinen Brief,<br />

lieber Kamerad! Ich drücke Dir im Geiste herzlich<br />

die Hand! — Warnung an alle Arbeiterorganisationen.<br />

Wir warnen vor einem Individuum namens<br />

R i c h a r d H e i j e r , das uns zumindest 40 Kronen<br />

veruntreut <strong>und</strong>, wie wir erst jetzt erfahren, dasselbe<br />

Spiel mit der sozialdemokratischen „Volkstribüne"<br />

getrieben hat. Sollte der Betreffende seine Schuld<br />

tilgen, werden wir dies bekannt geben. -- R. B.<br />

Bedauren, nicht druckreif, lieber Prosa versuchen.<br />

— Nagy Antal. Besten Dank für Bericht, weiteres<br />

stets willkommen; auch Skizze kommt in „Ohne<br />

Herrschaft". — Gillespie, Spokane. Herzensdank<br />

für erfrischende Solidaritätsworte <strong>und</strong> Geldsendung.<br />

Die „Prinzipienerklärung" in der Mainummer des<br />

„W. f. A." wird Ihnen die hiesige Situation klar<br />

machen. Dahier verfolgen wir mit großem Interesse<br />

Eure Entwicklung aus Eurem „Industrial Bulletin",<br />

Hütet Euch vor den intriganten Politikern a l l e r<br />

Parteien, <strong>und</strong> Ihr werdet die Erfüllung des sozialrevolutionären<br />

Ideals der Freiheit <strong>und</strong> insbesondere<br />

der amerikanischen werden. Kampfesgruß! Fred,<br />

Brooklyn. Für diese Nummer zu spät, für nächste.<br />

Dank <strong>und</strong> Herzensgruß! —


Gewerkschaft der Schuhmacher Wiens,<br />

Grosses Gartenfest<br />

verb<strong>und</strong>en mit<br />

Tanzunterhaltüng, Gesang, Juxhazar etc. etc.<br />

am Sonntag den .12. Juli 1908<br />

in<br />

J . Holubs Saallokalitäten<br />

XIV., Huglgasse 15.<br />

= = = = = ANFANG 3 UHR NACHMITTAGS. = = = = =<br />

Karten im V o r v e r k a u f 30 h, an d e r K a s s a 50 h.<br />

Das Fest, zu dessen zahlreichem Besuch wir<br />

dringend unsere Wiener Kameraden auffordern,<br />

findet bei jeder Witterung statt.<br />

Der christliche Staat.<br />

Von<br />

H o f f m a n n v o n F a l l e r s l e b e n .<br />

Seht, wie schwer die Ähren schaukeln,<br />

Wie am Baum die Äpfel gaukeln!<br />

s' wächst so viel auf dieser Erde,<br />

Doch für unser einen nicht.<br />

Vieh auf Weiden, Wild in Wäldern,<br />

Korn <strong>und</strong> Futter auf den Feldern.<br />

Reben an der Berge Rücken,<br />

Gerst' <strong>und</strong> Hopfen zum Entzücken.<br />

Fisch' in Teichen, Vögel in Lüften,<br />

Gold <strong>und</strong> Silber in den Klüften.<br />

Wenigen gehört das Beste —<br />

Ach, wir andern sind nur Gäste.<br />

Nicht ein Halm, nicht eine Blume,<br />

Ward uns hier zum Eigentume.<br />

Sind die Hohen <strong>und</strong> die Reichen<br />

Sind nicht alle unsersgleichen ?<br />

Sollen denn die Güter werden<br />

Nie gemeinsam hier auf E r d e n ?<br />

's wächst so viel auf dieser Erde,<br />

Doch für unser einen nicht.<br />

Tatsächliches.<br />

Eine statistisch so langweilig gründliche<br />

Arbeit, daß man sie fast für das Blaubuch<br />

einer Regierung halten könnte, bietet<br />

die gewiß seitenstarke erste Juninummer<br />

der «Gewerkschaft» dar. Sie weist die Stärke<br />

<strong>und</strong> Leistungsfähigkeiten der Gewerkschaften<br />

Österreichs im Jahre 1907 aus.<br />

Gleich anfangs ist es wichtig, auf den<br />

vielsagenden Umstand hinzuweisen, daß<br />

dieses Zentralorgan der österreichischen<br />

Gewerkschaftsbewegung, die eine halbe<br />

Million Mitglieder umfaßt, keine Kampfesoder<br />

Agitationsschrift darstellt, überhaupt<br />

von einer lächerlich geringen Zahl Organisierter<br />

gelesen wird. Laut eigener Angabe<br />

besitzt die «Gewerkschaft» eine Auflage<br />

von 3600 Lesern, sie ist also nichts als eine<br />

Zeitschrift für die Beamten der Gewerkschaften,<br />

wird von den Mitgliedern nicht<br />

beachtet.<br />

Aus der Tagespresse haben unsere<br />

Leser bereits die Einzelheiten dessen erfahren,<br />

was dieses Heft bringt. Uns interessiert<br />

vornehmlich dasjenige, was das Heft nicht<br />

bringt. Da ist vor allem das eine ganz<br />

unsichtbar geblieben: bei aller Gründlichkeit<br />

hat die Gewerkschaftskommission es<br />

unterlassen oder «vergessen», eine detaillierte<br />

Aufstellung v o n d e n G e h ä l t e r n<br />

d e r d i v e r s e n F u n k t i o n ä r e zu geben.<br />

Darüber verlautet kein Wort <strong>und</strong> nach wie<br />

vor verbleibt dieser hochwichtige Umstand<br />

für die breite Öffentlichkeit, wie auch die<br />

eigenen Mitglieder, ein «dunkles Problem»,<br />

über das man wohl Schlüsse ziehen, aber<br />

unmöglich Bestimmtes erfahren kann.<br />

Einen ungefähren Anhaltspunkt bieten<br />

die d r e i Posten über «sachliche Verwaltung,<br />

persönliche Verwaltungskosten <strong>und</strong> sonstige<br />

Ausgaben», die man nicht fehl geht zusammenzuziehen,<br />

worauf sich insgesamt<br />

2 Millionen 123.638 Kronen 80 h ergeben<br />

oder in anderen Worten 30 Prozent aller<br />

Gesamtausgaben werden konstituiert durch<br />

die diversen Verwaltungskosten. Das ist<br />

erschrecklich viel <strong>und</strong> beweist uns die öde<br />

zentralistische Bureaukratenwirtschaft der<br />

österreichischen Gewerkschaftsbewegung;<br />

ganz davon zu geschweigen, daß sich allein<br />

die «sonstigen Ausgaben» bis in die H<strong>und</strong>erttausende<br />

belaufen.<br />

Noch ein anderes charakteristisches<br />

Merkmal. Für allerlei Unterstützungseinrichtungen<br />

gaben die Gewerkschaften im<br />

Jahre 1907 2 Millionen 841.339 Kronen, für<br />

ökonomische Kämpfe in derselben Zeit nur<br />

1 Million 825.587 Kronen aus. Bedarf es<br />

eines beredteren Zeugnisses dafür, daß die<br />

Gewerkschaften vornehmlich z w e c k s Unterstützungseinrichtungen<br />

bestehen <strong>und</strong> erst<br />

in zweiter <strong>und</strong> letzter Hinsicht behufs ökonomischer<br />

Kämpfe? Wenn die 2 ¾ Millionen<br />

Unterstützungsgelder in zweckdienlicher<br />

Weise für die Begründung sozialistischer<br />

Produktivgenossenschaften verwandt würden<br />

— wer bedürfte da noch der diversen<br />

armseligen Unterstützungen, die aus diesem<br />

Fonds gewährt werden?<br />

Wir haben es stets behauptet: W e n n<br />

das ganze eingenommene Geld wirklich<br />

zu Kampfeszwecken verwendet würde, es<br />

wäre noch nicht das schlimmste. Aber leider<br />

ist der größte Teil der vereinnahmten<br />

Gelder blos dazu bestimmt, die Härten des<br />

bestehenden Systems in ganz unzweckmäßiger,<br />

nichtsdestoweniger einschläfernder<br />

Weise zu «lindern», zu «beheben». So<br />

werden die Gewerkschaften zu Stützpfosten<br />

des kapitalistischen Systems, statt revolutionäre<br />

Kampfesgruppierungen zu sein.<br />

Auch die halbe Million an Mitgliedern<br />

haben die österreichischen Gewerkschaften<br />

erreicht. Würden sie sie aber haben, wenn<br />

sie k e i n e Unterstützungseinrichtungen besäßen?<br />

Wir bezweifeln es stark. In Frankreich<br />

hat die Sozialrevolutionäre Gewerkschaftsbewegung<br />

r<strong>und</strong> 400.000 Mitglieder;<br />

sie könnte wenigstens das Dreifache haben,<br />

wenn sie auch Unterstützungseinrichtungen<br />

einführte. Sie verschmäht es, denn ihr gilt<br />

der Kampf wider den Kapitalismus als die<br />

Hauptsache.<br />

Dafür aber bilden ihre 400.000 Mann<br />

eine Kerntruppe sozialrevolutionärer Aktion.<br />

Die französische Gewerkschaftsbewegung<br />

ist eine Organisation, der die Zukunft des<br />

Sozialismus gehört. Von der österreichischen<br />

läßt sich dies nicht behaupten; sie wird<br />

ganz anders werden müssen, um es je sein<br />

zu können.<br />

Begründung freier Schulen<br />

durch Gewerkschaften.<br />

Der Kongreß der revolutionär-gewerkschaftlichen<br />

Organisation der f r a n z ö s i s c h e n Volksschullehrer<br />

hat beschlossen, im nächsten Jahre -<br />

t r o t z d e m V e r b o t e d e r R e g i e r u n g — einen<br />

gemeinschaftlichen Kongreß der Volksschullehrer<br />

<strong>und</strong> der Arbeiterorganisationen abzuhalten; <strong>und</strong><br />

damit haben sie die Frage der gewerkschaftlichen<br />

Schule aufgeworfen. Wenn nämlich wegen dem<br />

Kongresse ein oder mehrere Lehrer von der R e -<br />

gierung strafweise entlassen werden, wie es ganz<br />

bestimmt der Fall sein wird, werden die Arbeiter-<br />

Organisationen unvermeidlich dazu getrieben, diese<br />

Opfer der Regierungswillkür mit ihrer Solidarität<br />

zu unterstützen. Um das zu tun, gibt es nichts<br />

Einfacheres, als in Verbindung mit den Gewerkschaften<br />

eine oder mehrere freie Schulen zu eröffnen,<br />

in der diese Lehrer die Kinder der Kameraden erziehen<br />

können. Übrigens hat sich auch schon der<br />

letzte Kongreß der Gewerkschaftsföderation der<br />

r o m a n i s c h e n S c h w e i z dieser T a g e mit der<br />

gleichen Frage befaßt; aus diesem Anlaß sind die<br />

trefflichen W o r t e unseres Schweizer Kameraden<br />

J. W i n t s c h geschrieben worden, die wir im folgenden<br />

wiedergeben:<br />

Wir müssen unseren Blick auf die Zukunft<br />

richten.<br />

Da haben wir zwischen uns eine<br />

Menge kleiner Wesen, welche die Menschheit<br />

der nächsten Zukunft bilden werden<br />

<strong>und</strong> die uns die Möglichkeit zur Erfüllung<br />

all unserer Bestrebungen bieten — u n s e r e<br />

K i n d e r ; <strong>und</strong> wir lassen sie durch uusere<br />

ärgsten Feinde erziehen! So kommt es, daß<br />

man dann in ein paar Jahren einen Sohn,<br />

einen Bruder, einen Arbeitskameraden neben<br />

sich hat, der in seinem ganzen Wesen eine<br />

kräftige Stütze der heutigen Ordnung ist.<br />

Der kapitalistische Staat hat geschickt<br />

gearbeitet, indem er gerade aus diesem<br />

Proletarierkinde, welches ebenso wie<br />

seine Familie von allem Besitz <strong>und</strong><br />

Lebensglück ausgeschlossen ist, das sein<br />

ganzes Leben lang ausgebeutet, geknechtet,<br />

mißhandelt <strong>und</strong> verachtet sein wird, ein<br />

Werkzeug dazu gemacht hat, um mit aufgepflanztem<br />

Bajonett die Lohnsklaven in<br />

ihre elenden Höhlen zurückzutreiben, wenn<br />

dieselben eine Verbesserung ihres harten<br />

Loses verlangen.<br />

Die jungen Leute — Arbeiter oder<br />

Bauernburschen — aus der Mitte der Arbeiterklasse<br />

herauszunehmen <strong>und</strong> sie zu<br />

gebrauchen, um die Knechtschaft dieser<br />

selben Arbeiterklasse, so wie die Vorrechte<br />

der Regierenden, der Kapitalisten, der verschiedenen<br />

Schmarotzer aufrecht zu erhalten<br />

— das ist es, was die herrschende<br />

Klasse durch ihre offizielle obligatorische<br />

Schule erreichte. Die Bourgeoisie geht nicht<br />

auf Umwegen auf ihr <strong>Ziel</strong> los. Um uns zu<br />

unterdrücken, nimmt sie uns das Beste, was<br />

wir haben: unsere Kinder.<br />

Lassen wir uns das gefallen? Und<br />

wollen wir dann allerlei Heilmittelchen


suchen, um die Ausbeutung erträglicher zu<br />

machen? Es ist Zeit, diesem Zustand abzuhelfen,<br />

<strong>und</strong> unseren Herren nicht länger<br />

gutmütig, d u r c h u n s e r e K i n d e r , die<br />

menschlichen Werkzeuge der Reaktion selbst<br />

in die Hand zu geben. D i e O r g a n i -<br />

s i e r u n g v o n g e w e r k s c h a f t l i c h e n<br />

S c h u l e n , d i e v o n d e n A r b e i t e r n<br />

s e l b s t g e g r ü n d e t , e r h a l t e n u n d bea<br />

u f s i c h t i g t w e r d e n , ist w i c h t i g e r<br />

a l s a l l e U n t e r s t ü t z u n g s e i n r i c h -<br />

t u n g e n d u r c h d e n S t a a t , d i e w i r<br />

a u c h s e l b s t u n d t e u e r z u b e z a h l e n<br />

h a b e n . Streikenden zu helfen ist gut; eigene<br />

Schulen zu haben, ist noch besser.<br />

Wir richten hier das Wort sowohl an<br />

die sozialdemokratischen, wie an die anarchistischen<br />

Arbeiter. Die Arbeiter müssen<br />

endlich, was immer für einer Geistesrichtung<br />

sie angehören, danach trachten, s i c h<br />

s e l b s t zu g e n ü g e n . Es ist ein Rest des<br />

religiösen Aberglaubens, wenn sie sich einbilden,<br />

daß der Staat oder die zentralistischen<br />

Gewerkschaften, daß«guteGesetzgeber» oder<br />

ehrliche Gewerkschaftsbeamte uns unser<br />

Glück schaffen können. Sicherlich werden<br />

wir nur das haben, w a s w i r u n s s e l b s t<br />

e r k ä m p f e n . Durch das selbständige<br />

Handeln, die direkte Aktion, wird die<br />

Arbeiterklasse ihre wahre gesellschaftliche<br />

Aufgabe erfüllen, nur dadurch wird sie sich<br />

frei <strong>und</strong> stolz entwickeln, ihre lebenerneuernde<br />

<strong>und</strong> wohltätige Kraft, die sie besitzt,<br />

beweisen <strong>und</strong> am besten die allgemeine<br />

Achtung vor der alles schaffenden Arbeit<br />

sichern.<br />

Mehr als alles andere, verlangt die Erziehung<br />

der Kinder Ehrlichkeit. Die disziplinierten,<br />

religiösen, patriotischen Schulen<br />

der Bourgeoisie stopfen nur den Respekt<br />

vor der bestehenden Ordnung in unsere<br />

Kinder — d. h. Achtung vor der grauenhaftesten<br />

Unordnung <strong>und</strong> sozialer Ungerechtigkeit,<br />

die man sich vorsteilen kann.<br />

Die staatlichen Schulinstitute vergiften uns<br />

mit dem Geist der Resignation, oft mit dem<br />

der Heuchelei aus Furcht vor der Rute,<br />

mit einer absterbenden Religion, mit dem<br />

Patriotismus, der dazu dient, uns gegen<br />

unsere Proletarierbrüder zu bewaffnen. Es<br />

ist noch ein Glück, wenn die niederen<br />

Schulklassen uns nicht zu Streikbrechern<br />

erziehen, wie das die höheren Schulen —<br />

siehe nach Parma — tun. Genug davon.<br />

Viele Arbeiter wollen heute nicht mehr,<br />

daß man ihnen ihre Kinder nehme; sie<br />

wollen nicht, daß dieselben zu willigen<br />

Dienern der Bourgeoisie erzogen werden;<br />

sondern im Gegenteil: s i e w o l l e n , d a ß<br />

s i e g l ü c k l i c h , k a m p f e s f r e u d i g '<br />

s c h a f f e n s f ä h i g , k l a s s e n b e w u ß t<br />

e r z o g e n w e r d e n , daß sie die ges<strong>und</strong>e<br />

nützliche Arbeit lieben <strong>und</strong> die<br />

Lüge, den Zwang der Regierungen, des<br />

Militarismus, der Kirche nicht mehr anerkennen<br />

sollen. Und es ist gut so.<br />

Übrigens ist in so einem Wunsche gar<br />

nichts Unmögliches gelegen. Schon vor<br />

zwanzig Jahren hatten die spanischen anarchistischen<br />

Arbeiter von Katalonien ein<br />

Lokal, in dem sie an Sonntagen ihre Versammlungen<br />

hielten, an Wochentagen zur<br />

Schule hergerichtet. Sie wählten einen<br />

tüchtigen Genossen als Lehrer, dem sie<br />

durch Beiträge, so gut es ging, halfen, teils<br />

mit Geld, teils mit Lebensmitteln usw. Die<br />

Schule wurde in ganz volkstümlichem Sinne<br />

geführt, <strong>und</strong> vielleicht war sie es, die unseren<br />

Fre<strong>und</strong> Ferrer zu seinem w<strong>und</strong>erbaren<br />

Werk, der Gründung seiner freiheitlichen<br />

»Modernen Schule«* begeisterte.<br />

* Der letzten Nummer des vom Genossen<br />

Ferrer begründeten Propagandaorgans „Die renovierte<br />

Schule" entnehmen wir die Ankündigung von<br />

der Etablierung <strong>und</strong> Neubegründung seiner freiheitlichen<br />

Schulinstitute in Brüssel <strong>und</strong> — was uns<br />

ganz insbesondere freut — in Rom. Anm. d. Red.<br />

In letzterer Zeit ist eine Gewerkschaftsschule<br />

zu erwähnen, die die mächtige<br />

anarchistische G e w e r k s c h a f t d e r F u h r -<br />

l e u t e i n B u e n o s A y r e s gegründet hat.<br />

Es ist dies, denken wir, eine sehr hoffnungsvolle<br />

Tatsache. Dieses Bestreben der Arbeiter,<br />

daß ihre Kinder stärker, besser <strong>und</strong><br />

freier werden wie sie, zeigt eine große<br />

Entwicklung des Klassenbewußtseins. Dies<br />

beweist, daß die Freiheit <strong>und</strong> Würde der<br />

Persönlichkeit sich immer stärker innerhalb<br />

ges<strong>und</strong>er Gewerkschaften geltend macht.<br />

In Paris hat unser Kamerad C l e m e n t<br />

den Plan gefaßt, in jedem Mittelpunkt der<br />

Arbeiterbewegung unter der Aufsicht der<br />

revolutionären Gewerkschaften eine freie,<br />

religionslose <strong>und</strong> antipatriotische Schule zu<br />

begründen. Sein Bericht an den anarchistischen<br />

Kongreß von Amsterdam (1907)<br />

zeigt, daß sich in Frankreich die Allgemeine<br />

Gewerkschaftsföderation selbst ernstlich mit<br />

der Frage befaßt. Dasselbe scheint in<br />

B e l g i e n der Fall zu sein.<br />

In L a u s a n n e (Schweiz) haben wir<br />

seit drei Jahren versucht, diesen Plan praktisch<br />

durchzuführen. Im Anfang stand unsere<br />

»Freie S c h u l e , die wir an Sonntagen<br />

abhielten, unter der Aufsicht des Freidenkervereines.<br />

Sie hat sich schnell entwickelt,<br />

<strong>und</strong> erstrebt eine gründliche Vorbereitung<br />

der Kinder für das Leben, das sie führen<br />

werden, das Leben des produktiven Arbeiters.<br />

Sie will ihnen ihre wirkliche Lage<br />

zum Bewußtsein bringen, sie an das selbstständige<br />

Handeln, an die Freiheit gewöhnen.<br />

Da sie nur Arbeiterkinder als<br />

Schüler hat — die bourgeoisen Freidenker<br />

haben ihre Kinder sofort weggenommen —<br />

ist es auch natürlich, daß sie ihnen nicht<br />

die Sitten, Gebräuche, Vorurteile <strong>und</strong> Bestrebungen<br />

der kapitalistischen Gesellschaft<br />

anerzieht, das Gefühl der Kinder nicht<br />

ihrer Klasse entfremdet, wie das in den<br />

staatlichen Schulen geschieht, sondern danach<br />

trachtet, daß sich die Kinder ihrer<br />

eigenen Natur gemäß entwickeln. Wir haben<br />

in unseren Schülern — Knaben <strong>und</strong> Mädchen<br />

— immer ihre Persönlichkeit geachtet<br />

<strong>und</strong> ihnen nie anderes gelehrt als wahre,<br />

genaue, nützliche, praktische Tatsachen, die<br />

sich auf die menschliche Entwicklung, besonders<br />

die Geschichte der Arbeit beziehen.<br />

Die praktische Kenntnis der einzelnen Gewerbe,<br />

welche oft durch Arbeiter des betreffenden<br />

Faches vorgetragen werden, die<br />

Ges<strong>und</strong>heitslehre des Proletarierlebens, sowie<br />

heitere Gegenstände, Experimente,<br />

Lichtbilder, Ausflüge <strong>und</strong> Bewegungsspiele<br />

- diese vervollständigen unseren Lehrplan.<br />

Aus diesem Unterricht scheint sich ganz<br />

von selbst, ohne jedes besondere Predigen,<br />

die ges<strong>und</strong>e Moral der erzeugenden Arbeit<br />

abzuleiten — die einzig mögliche Moral,<br />

sobald man den religiösen Glauben abstreift.<br />

Die freie Schule von Lausanne, der<br />

die Gewerkschaften der Anstreicher <strong>und</strong><br />

Stukkateure ihr Lokal zur Benützung geliehen<br />

haben, während der sozialdemokratische<br />

Grüttli-Verein ihr nur Geringschätzung zeigt,<br />

versammelt sich jeden Sonntag Morgen <strong>und</strong><br />

zählt eine stattliche Anzahl Kinder als<br />

Schüler. Jean Wintsch.<br />

Ein Gebot internationaler<br />

Solidarität.<br />

Wir gehören nicht zu jenen, die mit<br />

den Aktionen der Sozialdemokratie oft<br />

übereinstimmen können. Was unsere eigene<br />

österreichische anbetrifft, so sind wir selbst<br />

beim besten Willen nicht im Stande, auch<br />

nur das geringste Merkmal des Sozialismus<br />

an ihr zu entdecken, finden in ihr nur<br />

bürgerlich-demokratische Demagogie <strong>und</strong><br />

eine reiche Dosis Geschäftsmache. Aber<br />

wir sind auch gewiß die letzten, d a s nicht<br />

anzuerkennen, was gut <strong>und</strong> echt sozialis-<br />

tisch ist, bloß weil <strong>und</strong> wann es vom<br />

Gegner kommt; im Gegenteil, wir freuen<br />

uns, konstatieren zu können, daß das, was<br />

der Generalrat der französischen sozialdemokratischen<br />

Partei im Nachstehenden<br />

annahm, unsere volle Billigung findet <strong>und</strong><br />

auch ganz merkwürdig von dem absticht,<br />

was unsere eigene Sozialdemokratie im<br />

gleichen Falle tun würde.<br />

Der Generalrat nahm folgende Resolution<br />

an, die für sich selbst spricht:<br />

»Der Nationalrat erklärt, daß die französische<br />

sozialistische Partei, getreu der<br />

Pflicht der internationalen sozialistischen<br />

Solidarität, sich mit Empörung g e g e n den<br />

B e s u c h des Herrn F a l l i e r e s beim russischen<br />

Autokraten erhebt, der in einein<br />

Augenblick stattfinden soll, wo die zarische<br />

Blutregierung die Erschießungen, die Henkerarbeit<br />

<strong>und</strong> die Deportationen nach Sibirien<br />

vervielfacht. Er fordert nach dem<br />

Beispiel der italienischen <strong>und</strong> neuestens<br />

der englischen Arbeiter die Parteiorganisationen<br />

auf, den Protest zur Durchführungzu<br />

bringen, Er erklärt, daß, falls<br />

der Zar N i k o l a u s , wie man angek<br />

ü n d i g t hat, nach F r a n k r e i c h käme,<br />

das g a n z e P r o l e t a r i a t s i c h e r h e b e n<br />

würde, um den H e n k e r n des russis<br />

c h e n V o l k e s s e i n e n - g a n z e n Haß <strong>und</strong><br />

s e i n e V e r a c h t u n g k u n d z u g e b e n « .<br />

Verschiedene Preßstimmen erklären,<br />

daß der blutige N i k o l a u s auch Ö s t e r -<br />

r e i c h einen Besuch abzustatten beabsichtige.<br />

Wird die Sozialdemokratie ihre internationale<br />

Solidaritätspflicht zu erfüllen<br />

wissen? Wir wollen es abwarten, werden<br />

aber die ersten sein, im gegebenen Falle<br />

dem österreichischen Proletariat die Augen<br />

über die Situation zu öffnen! T.z.<br />

Einst <strong>und</strong> jetzt.<br />

1. Einst<br />

Resolution des H a i n fei d e r Parteitages der<br />

österr. Sozialdemokratie, 30., 31. Dez. 1888 <strong>und</strong><br />

1. Jänner 1889.<br />

»Was heute vorzugsweise „Sozialreform"<br />

genannt wird, d i e E i n f ü h r u n g<br />

d e r v o m S t a a t e o r g a n i s i e r t e n Arb<br />

e i t e r - V e r s i c h e r u n g g e g e n K r a n k -<br />

h e i t u n d U n f a l l , entspringt vor allem<br />

der Furcht vor dem Anwachsen der proletarischen<br />

Bewegung, der Hoffnung, die<br />

Arbeiter von dem Wohlwollen der besitzenden<br />

Klassen zu überzeugen <strong>und</strong> zuletzt<br />

aus der Einsicht, daß die zunehmende<br />

Verelendung des Volkes endlich die Wehrfähigkeit<br />

beeinträchtigen müsse. Mit der<br />

Ausführung der Arbeiter-Versicherung werden<br />

zwei Nebenzwecke verknüpft: Die<br />

teilweise Überwälzung der Kosten der<br />

Armenpflege von den Gemeinden auf die<br />

Arbeiterklasse <strong>und</strong> die möglichste Einengung,<br />

womöglich Beseitigung der selbstständigen<br />

Hilfsorganisationen der Arbeiter,<br />

welche als Vorschulen <strong>und</strong> Übungsstätten<br />

der Organisation <strong>und</strong> Verwaltung den<br />

Herrschenden ein Dorn im Auge sind. Angesichts<br />

dieser Sachlage erklärt der<br />

„Parteitag"«:<br />

D i e A r b e i t e r - V e r s i c h e r u n g ber<br />

ü h r t d e n K e r n d e s s o z i a l e n P r o b -<br />

l e m s ü b e r h a u p t n i c h t . Eine Einrichtung,<br />

welche im besten Fall dem arbeitsunfähigen<br />

Proletarier ein klägliches, von<br />

ihm selbst teuer bezahltes Almosen gewährt,<br />

verdient nicht den Namen „Sozialreform".<br />

Die Arbeiterschaft wird sich darüber<br />

nicht täuschen lassen, sondern klare Einsicht<br />

darüber verbreiten, daß eine wirkliche<br />

soziale Reform den arbeitsfähigen Arbeiter<br />

zum Gegenstand <strong>und</strong> die Beseitigung seiner<br />

Ausbeutung zum letzten <strong>Ziel</strong>e haben muß,<br />

daß aber freilich diese soziale Reform niemals<br />

von den Ausbeutern, sondern nur von den<br />

Ausgebeuteten durchgeführt werden wird.


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Österreich.<br />

W i e n . Nr. 12 des „W. f. A." wurde konfisziert.<br />

— In agitatorisch-praktischer Hinsicht betätigen<br />

sich viele unserer Genossen darin, mit der B e -<br />

gründung von freien Einkaufsgenossenschaften einzelne<br />

Institutionen zu schaffen, durch die der immer<br />

toller werdenden Lebensmittelverteuerung wenigstens<br />

teilweise gesteuert werden kann. Die bestehenden<br />

sozialdemokratischen Konsumvereine tun es<br />

nicht, während die von uns zu begründenden Einkaufsgenossenschaften<br />

die gemeinsam eingekauften<br />

Waren ihren Mitgliedern zum Selbstkostenpreise<br />

abgeben werden. Darüber mehr in nächster Nummer.<br />

Agitatorisch wird trotz der drückenden Sommerhitze<br />

sehr viel geleistet. Bemerkenswert sind viele<br />

Ereignisse, die aber Raummangels halber hier nicht<br />

angetührt werden können. Hervorgehoben muß eine<br />

im X. Bezirk stattgef<strong>und</strong>ene Versammlung werden,<br />

in der der Gen. Lickier Uber „Gewerkschaftsaufgaben"<br />

referierte. — Sehr reges Interesse fand der<br />

Vortrag des Gen. Ramus über „William Godwin",<br />

den derselbe auf Wunsch unserer Kameraden des<br />

XIV. Bezirkes hielt. — Eine Versammlung im X. B e -<br />

zirk (Gellert-Platz), die sehr stark besucht war <strong>und</strong><br />

in der die Genossen Dschewo (tschechisch) <strong>und</strong><br />

Ramus (deutsch) referierten, konnte leider nicht zu<br />

Ende geführt werden, da ein halbes Dutzend Radauhalunken<br />

der Sozialdemokratie eine wüste Schlägerei<br />

provozierten, um die Versammlung zu sprengen,<br />

i h r e geistigen Waffen; dabei beklagen sich die<br />

Herren über die Sprengung der „Freie Schule"-Versammlung<br />

in Langenzersdorf durch Christlichsoziale!<br />

— Gut besucht war auch die außerordentliche<br />

Generalversammlung der „Allgemeinen Gewerkschaftsföderation"<br />

<strong>und</strong> wurde eine Anzahl wichtiger<br />

Organisations- <strong>und</strong> Agitationsfragen' eingehend besprochen.<br />

— Wir machen die Kameraden hauptsächlich<br />

darauf aufmerksam, alle unsere Versammlungen<br />

zu besuchen, um so den Sprengungsversuchen der<br />

Sozialdemokraten wirkungsvoll entgegentreten zu<br />

können. — Einen angenehmen Kameradennachmittag<br />

ergab auch der Ausflug nach Atzgersdorf, der uns<br />

einen hübschen Reinertrag für Agitationszwecke<br />

abwarf.<br />

*<br />

W i e d e r e i n e r ! Nämlich e i n sozialdemokratischer<br />

Denunziant. Einer unserer Kameraden, namens<br />

Kinwald, hatte das Pech, durch seine Agitation<br />

für unsere Bewegung den Unwillen seines<br />

n i c h t organisierten Vorarbeiters zu erregen, was<br />

seine Entlassung herbeiführte. Auf dem <strong>Weg</strong>e aus<br />

der Werkstatt äußerte er sich zu seinem soz.-dem.<br />

Arbeitskollegen S t ö h l i c h , daß ein Arbeiter, der<br />

gegen seinen Kollegen in dieser Weise vorgehe <strong>und</strong><br />

ihn in Not <strong>und</strong> Elend jage, Prügel wert sei! F ü n f<br />

W o c h e n s p ä t e r wurde unser Kamerad ohne jeden<br />

Gr<strong>und</strong> auf offener Straße von mehreren wildfremden<br />

Menschen unter Führung des erwähnten<br />

Vorarbeiters angegriffen <strong>und</strong> trotz des Einspruches<br />

des Publikums der Polizei übergeben. Hier stellte<br />

es sich heraus, daß der Sozialdemokrat S t ö h l i c h<br />

unseren Kameraden wegen „gefährlicher Drohungen",<br />

Einladung zu einer konspirativen anarchistischen<br />

Versammlung — Spitzelgehirn? — <strong>und</strong> als spanischen<br />

Anarchisten (der Kamerad ist Galizianer!)<br />

denunziert hatte. Trotzdem man ihn in wahrhaft<br />

mittelalterlicher Weise durchsuchte — er mußte sich<br />

splitternackt ausziehen —, ihn eine ganze Nacht in<br />

einem schmutzigen, von Ungeziefer wimmelnden<br />

Untersuchungsgefängnis zubringen <strong>und</strong> nach der<br />

Freilassung durch Spitzel, diesmal staatliche <strong>und</strong><br />

nicht rote, überwachen ließ, konnte auch nicht der<br />

Schein der ihm zur Last gelegten „Verbrechen" gef<strong>und</strong>en<br />

werden. Obgleich der sozialdemokratische<br />

Verleumder eine gehörige Lektion verdiente, verschmäht<br />

es unser Kamerad seinerseits, die Hilfe des<br />

Staates gegen den Erbärmlichen anzurufen, warnt<br />

aber alle Genossen vor ihm <strong>und</strong> ähnlichen Subjekten.<br />

*<br />

Den 20. Juni fand bei den jugendlichen sozialdemokratischen<br />

Arbeitern der Ortsgruppe Leopoldstadt<br />

ein Vortrag des Frl. Schlesinger über „Klerikalismus"<br />

statt. An der darauf folgenden Diskussion<br />

beteiligte sich auch unser Kamerad F e l s e n b u r g ,<br />

doch wurde dieselbe „wegen vorgerückter Zeit"<br />

abgebrochen <strong>und</strong> F. zur Fortsetzung derselben für<br />

Samstag den 27. Juni eingeladen. Als sich unser<br />

Kamerad an dem genannten T a g e einfand, wurde<br />

ihm nun mitgeteilt, daß ein Herr Wolf, der Macher<br />

des II. Bezirkes, die Diskussion verboten habe.<br />

Felsenburg erwiderte hierauf, er sehe, daß er sich<br />

augenscheinlich in den Zwecken <strong>und</strong> <strong>Ziel</strong>en des<br />

Vereines geirrt habe, denn er habe angenommen,<br />

daß derselbe die Heranbildung überzeugter Sozialdemokraten<br />

anstrebe, w a s aber doch nur dann<br />

möglich, wenn die jungen Leute auf Gr<strong>und</strong> ihrer<br />

eigenen Logik Sozialdemokraten würden, nicht aber<br />

weil irgend ein Führer diese Theorie als beste erkläre.<br />

Er hätte also dieses Streben nur unterstützt,<br />

indem er den jungen Leuten Gelegenheit gebe, an<br />

der Theorie des Anarchismus die „Güte" der s o -<br />

zialdemokratischen Theorie zu ermessen. Die Diskussion<br />

fand nicht statt.<br />

*<br />

Im Arbeiterheim „Karl Marx" wurde unserem<br />

Kameraden Felsenburg verboten, erstens anarchistische<br />

Schriften bei sich zu tragen (!), <strong>und</strong> zweitens<br />

dort private Diskussionen iibsr anarchistische T h e -<br />

mata zu füliren. Kamerad F. bat den Vorstand um<br />

Mitteilung des sozialdemokratischen Index, sowie<br />

um eine genaue Aufstellung der erlaubten Themata.<br />

Deutschland.<br />

B e n e d i k t F r i e d l ä n d e r , ein begeisterter<br />

Anhänger der Henry George-Bewegung <strong>und</strong> Ehrenretter<br />

Eugen Dührings gegenüber den verdreherisch<br />

gemeinen Angriffen in Engels Buch über die „Umwälzung<br />

der Wissenschaft", hat in der Nacht vom<br />

21. auf den 22. Juni seinem Leben ein Ende gemacht.<br />

Es wird auch behauptet, daß er die T a t im<br />

Zustand geistiger Umnachtung beging. —<br />

Über den soeben stattgehabten VI. Allgemeinen<br />

Gewerkschaftskongreß verlohnt es sich nicht zu<br />

schreiben, richtiger, das hervorzuheben, was er<br />

Ersprießliches leistete, denn von letzterem ist<br />

nichts wahrzunehmen gewesen. Hingegen kann dies<br />

nicht stillschweigend übergangen werden, daß der<br />

Kongreß die 1. Maiaktion nun faktisch abgemeuchelt<br />

hat, indem er die Unterstützungsverantwortung<br />

den einzelnen Ortschaften überließ. Plötzlich<br />

werden die Zentralsten enragierte Föderalisten!<br />

Auch über den Boykott wurde gesprochen,<br />

aber da die Verhängung desselben vom Führertum<br />

abhängig gemacht wird, hat es mit großen Boykottakttonen<br />

keine besondere Eile, vielmehr recht langmütige<br />

Weile. —<br />

Ober einen Fall patentiert reichsdeutscher<br />

bestialischer Justiz berichtet der „Fr. Arb." in<br />

seiner letzten Nummer. Darnach hat das Oberk<br />

r i e g s g e r i c h t der 17. Division in Altona unseren<br />

mutigen <strong>und</strong> idealistischen Genossen A l b e r t<br />

L i e b s c h, der gegen eine Verurteilung zu zwei<br />

Jahren neun Monaten wegen V e r w e i g e r u n g d e s<br />

M i l i t ä r d i e n s t e s Berufung einlegte, zur Meuchelmordstrafe<br />

von — s e c h s Jahren Gefängnis verurteilt!<br />

Waren diese Richter bei Sinnen, als sie ihres<br />

traurigen Handwerkes walteten? Man könnte es<br />

bezweifeln, denn solche Urteile machen die sanftmütigsten<br />

Menschen zu Hyänen der Empörung <strong>und</strong><br />

müssen, indem sie Öl ins Feuer gießen, sich dereinst<br />

furchtbar rächen an den Verübern. Solche Urteile<br />

benehmen der Justiz selbst den Schein der<br />

Gerechtigkeit, sie zünden geradezu die Klassenerbitterung<br />

<strong>und</strong> lassen sie bis zur Siedehitze<br />

steigen. Wie die Saat, so wird die Ernte sein!<br />

Rußland.<br />

Indem wir den nachstehenden Brief eines lettischen<br />

Revolutionärs aus dem Gefängnis zu Riga,<br />

eines Arbeiters <strong>und</strong> alten Vaters an seinen Sohn,<br />

zur Veröffentlichung bringen, machen wir das P u -<br />

blikum darauf aufmerksam, daß die Inquisition in<br />

der Folterkammer zu Riga, die schon seit drei Jahren<br />

funktioniert <strong>und</strong> H<strong>und</strong>erte von Menschen verschlungen<br />

<strong>und</strong> zu Krüppeln gemacht, auch gegenwärtig<br />

nicht eine Minute still steht, ja sogar nicht um ein<br />

einziges Opfer abgenommen hat. Alles, was der<br />

nachfolgende Brief behauptet, liegt außerhalb jeden<br />

Zweifels. Aus konspirativen Rücksichten sind einige<br />

Sätze ausgelassen. Den T e x t entnehmen wir dem<br />

Blatte „Proletarier".<br />

Teurer <strong>und</strong> lieber Sohn!<br />

Diesmal will ich Dir erzählen, wie es mir in<br />

letzter Zeit gegangen. Die grausamen Herren verfolgen<br />

<strong>und</strong> erniedrigen mich auf jedem Schritt. Aber<br />

doch, mein Lieber, wenn ich — als ein 54 jähriger<br />

Greis — mich daran erinnere, daß wir, obwohl<br />

verarmt <strong>und</strong> unterdrückt in der Gegenwart, dennoch<br />

mit Stolz <strong>und</strong> Bewußtsein in die Zukunft schauen<br />

können, weil wir wissen, daß die Zukunft uns gehören<br />

wird: dann entstehen neue Kräfte für unseren<br />

Kampf in mir, <strong>und</strong> ich sehe von neuem, daß der<br />

Kampf für Freiheit <strong>und</strong> Recht bis zum Ende geführt<br />

werden muß. Die „Herren Ärzte" haben uns während<br />

der letzten Monate 18 Visiten abgestattet, aber<br />

immer haben sie mich ges<strong>und</strong> vorgef<strong>und</strong>en. Das<br />

neunzehnte Mal aber, trotzdem wir vollständig ges<strong>und</strong><br />

waren <strong>und</strong> sogar nicht die geringsten Merkmale<br />

einer „Krankheit"* vorhanden waren, dennoch<br />

wurden wir zusammen mit Mutter ins „Spital" gebracht.<br />

Am anderen Tage wurde ich von zwei<br />

Gensdarmen ins Museum** abgeliefert, wo dann<br />

auch ich am selben Abend in Anwesenheit des<br />

Hauptarztes Herrn G r e g u s (Chef der geheimen P o -<br />

lizei) operiert ward. Die Operation dauerte von<br />

12 Uhr nachts bis 5 Uhr morgens. Um diese Zeit<br />

finden gewöhnlich die Operationen statt. Nur in<br />

der Nacht von Sonntag auf Montag ist das Museum<br />

geschlossen, weil die Herren wie Schweine besoffen<br />

sind <strong>und</strong> sich nicht auf den Beineu halten können.<br />

Ich wurde von folgenden Herren bearbeitet: Karl<br />

Pupil, Paulene, Zwetkow (Spitzel), drei Bezirksauf-<br />

* Unter denn Worte "Krankheit" versteht der Verfasser<br />

dieses Briefes die politischen Verbrechen, ebenso unter dem<br />

Worte „Ärzte." — Polizei <strong>und</strong> überhaupt Henker jeder Art.<br />

** Seit dem Jahre l906 ist die Folterkammer zu Riga<br />

unter dem Namen „Museum" bekannt, weil da die Prügel- <strong>und</strong><br />

Folterinstrumente der ganzen Welt gesammelt sind <strong>und</strong> tagtäglich<br />

ihre Anwendung linder.<br />

scher <strong>und</strong> einem Subjekt von den Beamten des<br />

Museums.<br />

Die Operation vollzog sich in folgender Ordnung.<br />

Man legte mich auf eine B a n k ; die Hände<br />

wurden hinauf, parallel mit dem Rumpfe ausgestreckt;<br />

auf den Beinen, sowie auf den Händen setzte sich<br />

je ein Mann; einer hielt die Gurgel fest <strong>und</strong> zwei,<br />

einer links <strong>und</strong> einer rechts, standen mit schweren<br />

Gummischlägern in der Hand. Nach dem Kommando<br />

Gregus ließ man das Hauen los. Der M<strong>und</strong> war<br />

mit einem nassen Lappen festgeb<strong>und</strong>en, so daß ich<br />

kaum zu atmen vermochte. Nun wurde so lange<br />

gehauen, bis ich in Ohnmacht fiel. Dann brachte<br />

man mich mittels kalten W a s s e r s zur Besinnung<br />

<strong>und</strong> es wurde befohlen, das einzugestehen, dessen<br />

man mich beschuldigte. Auf alle mir vorgelegten<br />

Fragen antwortete ich, daß ich nichts weiß <strong>und</strong><br />

folglich auch nichts sagen könne. Da solche Antworten<br />

den Herren nicht gefielen, drohte man mir,<br />

mich auf den „amerikanischen Bock" zu setzen.<br />

Man band mir beide Hände zusammen. Dann befahl<br />

man mir, mich auf die Diele hin zu setzen,<br />

wobei die Hände über die Knie hinübergezogen<br />

wurden; nachher durchstieß man zwischen Beinen<br />

<strong>und</strong> Händen eine eiserne Stange. Und dies soll<br />

dann der „amerikanische Bock" heißen. Wenn du<br />

nun in eine solche Lage gebracht bist, kannst du<br />

keinen Widerstand mehr leisten. Nachher verstopfte<br />

man mir wieder den M<strong>und</strong> mit nassen Lappen,<br />

streckte mich auf die Diele nieder <strong>und</strong> verabfolgte<br />

mir wieder eine Portion Gummischläge. Anfangs<br />

fühlte ich Schmerz, aber was dann später geschah,<br />

war ich nicht mehr im Stande zu unterscheiden.<br />

Ich erwachte erst dann, als man mich, wie vordem<br />

mittels W a s s e r <strong>und</strong> Branntwein zur Besinnung<br />

brachte. Dann löste man mir die Hände, stellte<br />

mich auf die Beine <strong>und</strong> legte wieder dieselben<br />

Fragen v o r . (Können nicht veröffentlicht werden).<br />

Und so ging die Folterei weiter, 6 Tage lang.<br />

Im Museum habe ich deinen armen <strong>und</strong> unglücklichen<br />

Kameraden X gesehen. Er ist r<strong>und</strong> fünf<br />

T a g e gequält <strong>und</strong> so gefoltert worden, daß man<br />

ihn kaum erkennen kann. Diesmal brannten sie ihn<br />

an den Fersen <strong>und</strong> an einem Schenkel; dennoch<br />

hielt er fest aus <strong>und</strong> biieb unserer Sache treu. Du<br />

kannst darauf stolz sein, daß du solch einen Kameraden<br />

hast.<br />

Es freut mich sehr, daß es dir gelungen ist,<br />

dem berüchtigten Rigaschen Museum auszuweichen.<br />

W a s darinnen verrichtet wird, vermag kein Mensch<br />

zu beschreiben! Sei umarmt <strong>und</strong> heiß geküßt von<br />

deinem . . . (Unterschrift.)<br />

Wir leben im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, im Zeitalter der<br />

Aufklärung 1 Dennoch duldet die europäische Menschheit<br />

eine solch infame Pestbeule an ihrem Körper,<br />

wie es die russische „Justiz" <strong>und</strong> „Gerechtigkeit"<br />

ist. Wann wird hier der T a g der Vergeltung dämm<br />

e r n ? Denn nur Feuer <strong>und</strong> Schwert können diese<br />

Verbrechen sühnen, die, wie obiger Brief erschütternd<br />

zeigt, ungestraft verübt werden von den Söldlingen<br />

des russischen Knutenregimes <strong>und</strong> seinen Stützen!<br />

F r a n k r e i c h .<br />

Die Ereignisse im Sinne einer gedeihlichen<br />

Entwicklung des französischen Sozialismus überstürzen<br />

sich gegenseitig, so unglaublich rasch vollziehen<br />

sie sich. Es ist die innere Parteientwicklung<br />

der Sozialdemokratie, die einer rapiden A u f -<br />

l ö s u n g entgegeneilt, die wir an dieser Stelle besprechen<br />

wollen.<br />

Die letzte Beratung des Generalrats der „geeinigten"<br />

Partei hat dies wieder einmal bewiesen.<br />

Der Parteikassier Camelinat enthüllte die Finanzlage<br />

der Organisation, die alles andere eher als<br />

glänzend ist. Wohl wahr, die Arbeiter zahlen <strong>und</strong><br />

zahlen noch immerfort; aber schon beginnen viele<br />

die Frage zu stellen: Zahlen auch die Abgeordneten<br />

ihre Parteisteuern <strong>und</strong> vor allem: wie viel geben<br />

sie von ihren 15.000 Franken Diäten pro Jahr an<br />

die Partei a b ? Da stellte sich das unsäglich B e -<br />

zeichnende heraus, daß fast keiner der Abgeordneten<br />

laut seiner Parteisteuer nach Parteimitglied<br />

<strong>und</strong> w a s die Abführung eines Teiles der Diäten an<br />

die Partei anbetrifft, so existiert so etwas überhaupt<br />

nicht. Die einen schützen Krankheit, die anderen<br />

Schulden vor — alle sind aber darin einstimmig,<br />

daß das r<strong>und</strong>e Sümmchen von 15.000 Francs<br />

für einen erhabenen Abgeordneten keineswegs zu<br />

viel sei. In dieser Weise verbourgeoisiert, d. h.<br />

korrumpiert der Parlamentarismus den Charakter.<br />

Auf dem nächsten Parteitag wird wieder eine<br />

Frage auf die Tagesordnung kommen, die den<br />

Herren Abgeordneten nicht gerade angenehm: D e r<br />

z u n e h m e n d e A n t i p a r l a m e n t a r i s m u s inn<br />

e r h a l b der Partei. F a s t die gesamte Seineföderation<br />

erklärte sich nämlich antiparlamentarisch<br />

<strong>und</strong> behauptete, der Sozialismus müsse durch die<br />

ökonomische Kraft der „Arbeiterkonföderation" —<br />

also die revolutionären Gewerkschaften - erkämpft<br />

werden, <strong>und</strong> daß die parlamentarische Aktion nichts<br />

anderes als eine Erstickung der wirtschaftlichen<br />

Aktion des Proletariats darstellt, wie es ja tatsächlich<br />

der Fall ist. Das ist nun jenen, die vom<br />

Parlamentarismus beruflich leben, nicht sehr angenehm,<br />

<strong>und</strong> der kommende Parteitag verspricht sehr


lebhaft "zu werden. Die antiparlamentarische Taktik<br />

des Anarchismus gewann in Frankreich eine mächtige<br />

Stütze durch die jüngste absolute Tatenlosigkeit<br />

der sozialdemokratischen Abgeordneten, als<br />

der Erzschurke Clemenceau die Blutereignisse von<br />

Draveil-Vigneux mit glatten Worten abfertigen <strong>und</strong><br />

parlamentarisch auch wirklich erledigen konnte.<br />

Es tagt! Die Befreiung des Proletariats von<br />

den politischen Schmarotzern in seinen Reihen<br />

bedeutet die Hinwegräumung der letzten Schranke,<br />

die sich dem Klassenkampfe in seinem Ansturme<br />

wider die bestehende Gesellschaft in den <strong>Weg</strong> legt.<br />

Vereinigte Staaten.<br />

Mitte Juni.<br />

Die Anarchisten sind das Gesprächsthema im<br />

Senate zu Washington <strong>und</strong> des von Neugierde erfüllten<br />

Publikums. Wenn die Senatoren <strong>und</strong> ihre<br />

Presse das nur für längere Zeit forttreiben, bis wir<br />

das notwendige Aufklärungsmaterial unter die Leute<br />

gebracht haben, werden sie uns zu einem guten<br />

Werk verholten haben. Verfolgungen haben allerdings<br />

geistige Strömungen begraben (siehe das Christentum!),<br />

andererseits aber sind unter Maßregelungen jeglicher<br />

Art Völker Jahrh<strong>und</strong>erte hindurch zum Widerstand<br />

gereizt worden. Ein Bismarckscher Liberalismus ist<br />

weit gefährlicher für die Entwicklung von Selbstständigkeit<br />

als offene Despotie.<br />

Ein hies. sozialistisches Monatsblatt nimmt die<br />

Niederwerfung des Anarchismus für sich in Anspruch.<br />

In seinen Annonzen in den Waggons der<br />

Hochbahn gibt es k<strong>und</strong> <strong>und</strong> zu wissen, daß die<br />

Einfuhr des sozialdemokratischen Karrens dem<br />

Anarchismus ein Ende machen würde. Das muß<br />

man den Sozis lassen: das Regieren haben sie<br />

gelernt; sie würden das Volk nach Bismarckschem<br />

heuchlerisch-liberalem Rezept an der Nase herumführen,<br />

anstatt mit der Tölpelhaftigkeit Roosevelts<br />

ihm offene Feindschaft zu bieten.<br />

Der Komödiant Teddy wird wahrscheinlich<br />

das Podium verlassen müssen; die schlechten<br />

Zeiten haben seiner Rolle übel mitgespielt; er kann<br />

die Geister, die er gerufen, nicht mehr bannen.<br />

Hatte sich dieser Hanswurst, dessen Reklame von<br />

den Trusts bezahlt war, eingebildet, seinen Direktoren<br />

zu predigen! Und wenn er nun ihnen zulieb<br />

gegen die Anarchisten <strong>und</strong> Sozialisten loswettert,<br />

— hilft ihm alles nichts; Strafe muß sein. Es gibt<br />

genug Günstlinge der Trusts in Amerika, um in<br />

würdigerer Weise ihre Geschäfte zu besorgen.<br />

Unterdessen aber haben die Krise <strong>und</strong> die<br />

Arbeitslosigkeit eins für die Fabrikanten fertig gebracht:<br />

den Niedergang der Löhne. Beschäftigung<br />

zu finden, wird immer schwieriger. Um ein Beispiel<br />

anzuführen, genüge folgender Hinweis. Ein<br />

Geschäftsmann in New-York brauchte einen Fuhrmann<br />

<strong>und</strong> auf seine diesbezügliche Annonze hin,<br />

meldeten sich am nächsten Morgen s i e b e n -<br />

h u n d e r t !<br />

Daß die Auswanderung infolge dieses Arbeitsmangels<br />

große Dimensionen angenommen hat, ist<br />

erklärlich. Täglich treffen in New-York allein Züge<br />

aus allen Teilen des Landes mit ganzen Familien<br />

von Slaven, Ungarn, Italienern, Deutschen usw. ein,<br />

um sich nach ihren ursprünglichen Heimatsorten<br />

einzuschiffen. Es gibt einen herzzerreißenden Anblick,<br />

wenn man die Weiber <strong>und</strong> Kinder, nach all<br />

den Reise-Strapazen ermüdet <strong>und</strong> verkommen, gewahrt,<br />

wie sie von den rohen Eisenbahnbeamten<br />

mit weniger Rücksicht als H<strong>und</strong>e behandelt werden.<br />

Proletarierlos! Überall mit Mißtrauen empfangen<br />

<strong>und</strong> mit Fluch entlassen zu werden! Wann<br />

kommt dein Tag der Ruhe, dein Lächeln des<br />

Friedens!<br />

Den bittersten Kelch müssen aber jene Unglücklichen<br />

leeren, die von der Regierung deportiert<br />

werden. Nach dem vor einigen Jahren erlassenen<br />

Einwanderungsgesetz können, alle der R e -<br />

gierung mißliebige Personen, die nicht beweisen<br />

können, daß sie drei Jahre schon in den Vereinigten<br />

Staaten geweilt, nach dem „Lande ihrer Väter"<br />

zurückbefördert werden. Dieses Gesetz, dehnbar<br />

nach allen Richtungen, ist hauptsächlich gegen die<br />

Anarchisten gerichtet, zum nicht geringen Teil gegen<br />

russische Flüchtlinge <strong>und</strong> arme Teufel, die nach<br />

Mühsal <strong>und</strong> Entbehrungen an den Klippen der G e -<br />

sellschaftsmisere scheitern.<br />

Die Monopole des Staates <strong>und</strong> des Kapitalismus<br />

werden ihre Rächer finden; dafür wird schon<br />

die unsinnige Weise ihrer Ausbeutung sorgen. Die<br />

Geographische Gesellschaft in Amerika hat in den<br />

letzten Jahren zu wiederholten malen auf die Rücksichtslosigkeit<br />

<strong>und</strong> Verschwendung, mit welcher die<br />

natürlichen Reichtümer des Landes für die Zwecke<br />

des Kapitalismus <strong>und</strong> des Staates ausgebeutet werden,<br />

aufmerksam gemacht. Um sich K o s t e n zu<br />

e r s p a r e n , die Lagen über den Schachten zu<br />

halten, wird kaum die Hälfte der Schätze gehoben;<br />

<strong>und</strong> stürzt dann die Erdkruste über den Minen zusammen,<br />

unter sich H<strong>und</strong>erte von Arbeitern vergrabend,<br />

dann kann die Arbeit daselbst nie mehr<br />

in Angriff genommen werden. Auf diese Weise<br />

gehen Kohle, Öl, Metalle, Mineralien <strong>und</strong> natürliches<br />

Gas durch verschwenderische Ausbeutung<br />

dem Volke verloren, auf diese Weise werden die<br />

billigen Menschenleben begraben, um kostenfrei<br />

durch andere ersetzt zu werden.<br />

Die gegenwärtigen Zustände beweisen die Unfähigkeit<br />

der leitenden Kräfte, die Unhaltbarkeit des<br />

Systems. Wenn sie so weiter arbeiten, dann werden<br />

sie die E r d e bald abgewirtschaftet haben. Aber<br />

gemach! Ehe die Gaukler sich dessen gewiß werden,<br />

ergießt sich des Volkes Ingrimm über sie.<br />

Stimmen werden laut in zitternder Vorahnung des<br />

kommenden Gewitters. Ein Richter Gaynor warnt<br />

vor den drastischen Methoden der Behörde; John<br />

Goff, ein Kenner der Verhältnisse wie kein zweiter,<br />

nannte in einer Versammlung die Polizei „eine geheime<br />

Gesellschaft, organisiert, um eigenen Zwecken<br />

durch Korruption zu dienen". (Derselbe Goff führte<br />

den Vorsitz vor mehreren Jahren bei einer Untersuchung<br />

der Polizeikorruption.)<br />

Alles in Allem: uns gehört die Zukunft! Denn<br />

unsere Kritik der Gesellschaft wird durch die<br />

Worte der Träger der heutigen „Ordnung" in unbewußter<br />

Weise bekräftigt. Fred.<br />

Aus der Korrespondenz.<br />

Liebe Kameraden! Des Anarchisten Vaterland<br />

ist die weite Welt. Dort, wo er am besten <strong>und</strong> am<br />

weitesten für seine Ideen wirken kann, ist sein „zu<br />

Hause". Das Internationale unserer Weltanschauung<br />

führt uns gern in die Fremde ; doch eine hochwohllöbliche<br />

Polizei sorgt überall dafür, daß wir uns<br />

möglichst dort wieder zusammenfinden, wo unser<br />

„liebes teures Vaterland".<br />

Mich persönlich haben bisher wenig direkte<br />

Bekanntschaften mit der Polizei verknüpft; meine<br />

Première in Wien dürfte euch aber genug interessieren,<br />

als daß ich sie euch verschweigen könnte.<br />

Um mir eine Existenz zu suchen, war ich nach<br />

dort gekommen. In aller Stille <strong>und</strong> Zurückgezogenheit<br />

suchte ich mir Beschäftigung, daneben selbstverständlich<br />

auch die Bekanntschaft der Kameraden.<br />

Da überrascht mich mit einem Male die Einladung,<br />

dem k.k. Polizei-Präsidium einen Besuch abzustatten.<br />

Mehr aus Neugierde als aus Höflichkeit komme ich<br />

dieser sofort nach. Aber ganz Höflichkeit war der<br />

mich empfangende Kommissär. Also ich wurde<br />

höflichst empfangen <strong>und</strong> zum Niedersitzen genötigt.<br />

Dann ging die Unterhaltung von statten; ziemlich<br />

einseitig, da fast nur der Herr Kommissär die Kosten<br />

der ca. einstündigen Konferenz trug. Er war famos<br />

über die Wiener Bewegung informiert, besser wie<br />

ich <strong>und</strong> wurde so diese Unterredung für mich zu<br />

einer Instruktionsst<strong>und</strong>e. (Wofür ich hiermit meinen<br />

besten Dank sage). Väterlich redete er mir zu:<br />

„Wenn Sie Propaganda machen wollen, gehen Sie<br />

nach Deutschland zurück oder nach der Schweiz.<br />

Die österreichischen Anarchisten müssen wir uns<br />

ja gefallen lassen. Sobald Sie als Deutscher aber<br />

mündlich oder schriftlich sich als Propagandist betätigen,<br />

müssen wir Sie ausweisen. Nicht unsertwegen,<br />

sondern kraft des internationalen Abkommens."<br />

Und weiter: „Wenn Sie sich hier stille<br />

verhalten wollen <strong>und</strong> hauptsächlich der Beschäftigung<br />

wegen hergekommen sind, habe ich persönlich, so<br />

lange ich im Amt bin, nichts gegen Ihr Hiersein<br />

einzuwenden. Sie werden aber nur Stellung finden,<br />

wenn Sie sich sozialdemokratisch organisieren".<br />

Auf meine Erwiderung, daß unter solchen Umständen<br />

dies hoffentlich keine verschärften Gründe für meine<br />

Ausweisung abgeben würde, lachte der Herr Kommissär:<br />

„I, wo. Das werden Sie schon an den<br />

Zeitungsberichten gesehen haben, mit der Sozialdemokratie<br />

steht unsere Regierung im besten Einvernehmen".<br />

Daß mir das nicht gleich aufgefallen w a r ! W a s<br />

sollte in Wirklichkeit ein Staat gegen eine staatserhaltende<br />

Partei einzuwenden haben. — Weshalb<br />

war ich nicht auch ein k. k. Sozialdemokrat! Später<br />

ging er dann zur Internationale über. Ich kennte<br />

doch S e n n a H o y von Berlin her. Ob ich wüßte,<br />

daß dieser nach Wien kommen wolle. Da ich doch<br />

wahrscheinlich mit ihm in Verbindung stände, solle<br />

ich ihm davon abraten. In Wien würde er sofort<br />

gefaßt werden. Nun, außer Werner Daya im „Fr. A."<br />

weiß wohl niemand der Polizei mit Sicherheit anzugeben,<br />

wo Senna sich aufhält. Da aber jene<br />

Kombinationen auch von dem Rechtsanwalt Halpert<br />

in demselben Blatte als „ i r r i g e " bezeichnet werden<br />

konnten, genügte es mir, dem Herrn Kommissär<br />

amtlich — wie er es wünschte, Euch Kameraden<br />

aber zur Ehrenrettung eines lieben Genossen mit<br />

kameradschaftlichem Worte — zu versichern, daß<br />

Senna Hoy sich weder in Wien befindet, noch befand,<br />

noch nach dem Wissen seiner dort befindlichen<br />

Fre<strong>und</strong>e nach dort zu kommen beabsichtigt.<br />

Die k. k. Polizei braucht sich vorläufig seinetwegen<br />

also nicht zu bemühen.<br />

Wie weit der Herr k. k. Beamte sonst über<br />

die scheinbar unwichtigsten Sachen unserer B e -<br />

wegung unterrichtet war, zeigte er z. B. daran, daß<br />

er mir genau sagen konnte, daß ich schon für anarchistische<br />

Blätter mitgearbeitet habe, ja noch mehr,<br />

daß ich sogar schon Beiträge von unsern Blättern<br />

zurückgewiesen erhalten hätte!! (Woher mag diese<br />

i n t i m s t e Redaktionskenntnis wohl s t a m m e n ? Ein<br />

ehrfurchtsvolles Staunen packt mich ob dieser Allwissenheit.<br />

Wenn ich dabei noch bedenke, daß all<br />

meine geringe Tätigkeit bis dahin nur von Berlin<br />

ausging <strong>und</strong> dies in Wien mir vorgehalten wurde,<br />

muß ich daran denken, wieviel wir Anarchisten an<br />

internationaler Solidarität noch von der Polizei<br />

lernen können!) Auf meine dahin lautende Antwort,<br />

riet mir dann der Herr Kommissär, etwa dem Genossen<br />

Ramus übergebene Artikel aus Rücksicht<br />

auf die sonst unvermeidliche Ausweisung zurückzuziehen.<br />

Nun, die „Freie Generation" hat genügend<br />

Mitarbeiter, <strong>und</strong> gern wurde auf meinen Wunsch mein<br />

Artikel für eine spätere Nummer zurückgestellt.<br />

Von anderen Zeitungen war ja nicht die Rede. Daß<br />

ich für diese schnell ein Pseudonym wählte <strong>und</strong><br />

nach dem Verbot erst recht schrieb, wollt Ihr mir<br />

das übel nehmen?<br />

Ich grüße von der W a r t e preußischer Strammheit<br />

alle dortigen Fre<strong>und</strong>e kameradschaftlich.<br />

Berlin, Ende Juni. Alfred Bader.<br />

An die Arbeiterschaft der Wienerberger<br />

Ton warenfabrik!<br />

A r b e i t s b r ü d e r <strong>und</strong> A r b e i t s s c h w e s t e r n !<br />

In einem Flugblatte, das der Verbandsvorstand<br />

des Tonarbeiterverbandes in tschechischer <strong>und</strong><br />

deutscher Sprache herausgegeben, wagte es dieser,<br />

im tschechischen Teile desselben, einige verleumderische<br />

Beschuldigungen wider mich, einem Arbeiter,<br />

zu erheben, die er im deutschen Teile der<br />

Flugschrift sich nicht zu wiederholen getraute.<br />

Wie ist es doch weit gekommen mit den<br />

Herren Führern in unserer Organisation! Anstatt im<br />

Stande zu sein, meinem Standpunkt den ihrigen<br />

entgegenzusetzen, erklären sie eigentlich schon<br />

durch ihr Vorgehen, daß sie k e i n e geistigen<br />

Waffen gegen mich haben. Sie glauben zu widerlegen,<br />

indem sie verleumden, frech nach dem Gr<strong>und</strong>satz<br />

der Jesuiten, daß man nur kühn verleumden<br />

möge, denn in den Augen der nicht urteilsfähigen<br />

Masse würde schon etwas hängen bleiben . . .<br />

Und warum all d i e s ?<br />

Ich bin Anarchist, <strong>und</strong> aus diesem Gr<strong>und</strong>e<br />

bekämpfe ich den Zentralismus, will den Föderalismus<br />

der Gewerkschaftsbewegung; unsere Organisation<br />

darf nicht sein eine Melkkuh für parlamentarische<br />

Streber, sondern eine Kampfesorganisation.<br />

Aus diesem Gr<strong>und</strong>e müßten in ihr der Generalstreik,<br />

die direkte Aktion, der Antimilitarismus propagiert<br />

<strong>und</strong> die wahren Prinzipien des sozialistischen<br />

Klassenkampfes gelehrt werden. Dies alles<br />

geschieht nicht, statt dessen haben wir ewige Abwiegelei,<br />

Verluste über Verluste, Schacherei, die<br />

zu Tarifgemeinschaften verdichtet wird, die eine absolute<br />

Benachteiligung der organisierten Arbeiter sind.<br />

W a s wir wollen, das ist eine ges<strong>und</strong>e,<br />

kampfeskräftige Organisation. <strong>Unser</strong>e „Führer"<br />

reden immer von Einigkeit. Das ist ein schönes,<br />

wahres Wort, aber es muß die Einigkeit auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage wahrer, echter Prinzipien sein, es muß<br />

die Einigkeit sein, die stark macht durch gemeinsame<br />

Kampfesbereitschaft; nicht aber die „Einigkeit",<br />

die da glaubt, daß Kasernendisziplin <strong>und</strong> Unwissenheit<br />

auch wirklich Einigkeit sei; <strong>und</strong> die<br />

durch Schachern <strong>und</strong> Feilschen den Klassenkampf<br />

verhindert, die Arbeiter dadurch in ihrem Wollen<br />

zurückhält, enttäuscht <strong>und</strong> uns zersplittert, indem<br />

sie, die Herren Führer, unsere Kampfeseinigkeit<br />

sprengen <strong>und</strong> brechen.<br />

Das ist es, was ich will, <strong>und</strong> was ich bekämpfe,<br />

deshalb wurde ich in infamster Weise verleumdet,<br />

von denselben Leuten, die in einer großen<br />

Massenversammlung im Arbeiterheim im X. Bezirke<br />

noch am 17. Mai meine E h r e n h a f t i g k e i t<br />

rühmten, die in einer Zuschrift vom 25. April 1908<br />

mir ausdrücklich schrieben, daß sie meine T a t -<br />

k r a f t für die Organisation hochschätzen <strong>und</strong> mir<br />

nur eins vorzuwerfen haben, nämlich daß ich mich<br />

geistig entwickelt habe <strong>und</strong> aus einem demokratischen<br />

Staatssozialisten ein kommunistischer Anarchist<br />

geworden bin — dieselben Leute erniedrigen<br />

sich jetzt, nachdem sie sehen, daß ich nicht mehr<br />

für sie arbeiten werde, so tief, mich zu verleumden!<br />

Kollegen <strong>und</strong> Mitkämpfer!<br />

Ich erkläre jedes Mitglied unserer Verbandsleitung,<br />

wie überhaupt jedermann, der sich darin<br />

mit ihr solidarisch erklärt, f ü r e i n e n e r b ä r m -<br />

l i c h e n V e r l e u m d e r , solange die Verbandsleitung<br />

nicht beweist:<br />

1. daß ich mich wirklich mit Christlichsozialen<br />

verb<strong>und</strong>en habe;<br />

2. daß ich ein Verräter an den Interessen der<br />

Arbeiter bin;<br />

3. daß ich je Organisationsgelder für mich<br />

verbraucht habe;<br />

4. daß ich dem Kassier für den Monat April<br />

noch Organisationsgelder abzuliefern verpflichtet<br />

bin oder überhaupt dem Verbände noch etwas<br />

schulde.<br />

Nochmals: jeder, der da behauptet, daß ich<br />

mich irgend eines der vier angeführten Punkte<br />

schuldig gemacht habe, ist ein schurkischer Verleumder<br />

<strong>und</strong> solange mir die Verbandsleitung die<br />

obigen vier Punkte nicht nachweist, e r k l ä r e i c h<br />

i h r e B e h a u p t u n g g e g e n m i c h i n b e s a g t e m<br />

F l u g b l a t t a l s s c h u r k i s c h e V e r l e u m -<br />

d u n g e n .<br />

Kameraden! Wir brauchen eine Organisation,<br />

doch nicht eine solche, deren Führer Arbeiter gegen<br />

Arbeiter aufhetzen. D a s i s t d i e A r b e i t v o n<br />

W e r k z e u g e n d e s U n t e r n e h m e r t u m s , <strong>und</strong><br />

dies hat die Verbandsleitung in oben erwähntem<br />

Flugblatt wider mich getan.<br />

Kameraden, begründen wir eine neue, revolutionäre<br />

Gewerkschaft, die da aufgebaut ist auf<br />

Wahrheit, auf Brüderlichkeit <strong>und</strong> Solidarität.<br />

Dies ist die Antwort, die ich, ein Arbeiter,<br />

der Verbandsleitung ins Antlitz schleudere: V e r -<br />

a c h t u n g d e n V e r l e u m d e r n !<br />

Solidarisch der eure im Kampfe wider<br />

Kapitalismus, Ausbeutung <strong>und</strong> Führerdespotie<br />

wie Führerverleumdung, zeichnet<br />

Anton Wejda.


Kultur <strong>und</strong> Fortschritt.<br />

Von F . T h a u m a z o .<br />

Zur Kritik <strong>und</strong> Würdigung des Syndikalismus.<br />

Von P i e r r e R a m u s .<br />

Beide Broschüren sind Aufklärungs- wie<br />

auch theoretische Schriften über zwei dem<br />

Anarchismus sehr wichtige Themata.<br />

Einzelexemplar 5 h, bei Bezug von wenigstens<br />

200 Exemplaren ä 3 h.<br />

«Der Freiheit entgegen<br />

Tosendes Sturmgebraus <strong>und</strong> herzlichste<br />

Sanftmut, erhabene Oedankenglut <strong>und</strong> süßeste<br />

Innigkeit, all dies <strong>und</strong> Saiten, die bisher<br />

fast noch nie geklungen im Kreise deutscher<br />

Freiheitsjünger, bringt uns der neueste<br />

Band des großen englischen Sozialphilosophen<br />

<strong>und</strong> Dichter Edward Carpenter.<br />

Wenn Carpenter kein Fremdling unter<br />

uns wäre, sondern ein lieber Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

Geistesführer, wie stünde es um die sozialistische<br />

Bewegung aller Länder <strong>und</strong> Sprachen?<br />

Weit besser, als es ist. Denn indem<br />

die Arbeiterbewegung sich auf das rein<br />

ökonomische Moment beschränkte, hat sich<br />

das Gewaltigere, das besondere Problem<br />

ziemlich aus dem Auge verloren: das Persönliche,<br />

das persönlich Intime <strong>und</strong> tiefinnerst<br />

aufwühlende, dasjenige Moment,<br />

das aus dem frohndenden Sklaven den<br />

fühlenden <strong>und</strong> empfindenden Menschen<br />

macht. Carpenters Genialität besteht darin,<br />

daß er uns s e h e n lehrt, nicht Zeichen <strong>und</strong><br />

Abstraktionen, nicht Ziffern <strong>und</strong> in täuschenden<br />

Worten, sondern in den farbensatten<br />

Bildern des Lebens <strong>und</strong> durch die<br />

Geisteskraft, nach innen zu schauen, sich<br />

zu erkennen. Und d i e s e Sprache redet<br />

unvergeßliche Worte, die wie mit Meißel<br />

<strong>und</strong> Hammer in unser Gehirn hineingeschlagen<br />

werden, uns singen lassen von<br />

dem Großzügigen einer hellen Zukunft, uns<br />

mit Abscheu abwenden lassen von der<br />

grauen Gegenwart <strong>und</strong> vor allem dadurch<br />

empfindsam wirken, daß sie uns lehren,<br />

w i e uns selber treu zu bleiben.<br />

* Von Edward Carpenter. Einzig autorisierte<br />

Übersetzung von Lilly Nadler-Nuellens <strong>und</strong> Erwin<br />

Batthyany. Verlag „Willowdene", London N. W.<br />

England.<br />

Es gibt keine Phase, keine Metamorphose<br />

des menschlichen Lebens <strong>und</strong> Leidens<br />

<strong>und</strong> Duldens <strong>und</strong> Strebens nach den<br />

echten Gütern der Menschheitsidee, wie nach<br />

dem Kleinziel individuellen Begriffes, die<br />

uns Carpenter nicht vorführte. Vergangenheit,<br />

Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft tanzen uns<br />

vor den Augen <strong>und</strong> bilden den e i n e n<br />

Strom, mit dem wir uns eins wissen <strong>und</strong><br />

dem wir wieder angehören werden: die<br />

Ewigkeit. Und ein grandioses Werden <strong>und</strong><br />

Vergehen <strong>und</strong> Neuentstehen <strong>und</strong> der unaufhaltsame<br />

Schöpfungssinn im Menschen<br />

— alles dies ersteht vor uns, bildet eine<br />

neue Welt, die Welt aller Schönheiten, die<br />

Welt aller Sehnsucht <strong>und</strong> Zukunftsmöglichkeit.<br />

Mir ist's, während ich das Buch immer<br />

<strong>und</strong> immer wieder lese, als stünde ich auf<br />

sonniger Haide <strong>und</strong> blickte weit weg in<br />

die Ferne, bis zum Horizont; <strong>und</strong> die funkelnden<br />

Sonnenstrahlen, die mit dem Wiesengr<strong>und</strong>e<br />

kosen, bilden plötzlich kristallene<br />

Bauten <strong>und</strong> schönheitsduftende Gärten,<br />

Springbrunnen in allen Regenbogenfarben<br />

<strong>und</strong> lauschige Lauben <strong>und</strong> geheime Wandelgänge<br />

<strong>und</strong> freudig liebende Paare . . .<br />

Eine neue Menschheit der Lust <strong>und</strong> fröhlichen<br />

Jugendmutes ersteht, die mit fest<br />

abgeklärtem Selbstverständnis auf die Vergangenheit<br />

blickt <strong>und</strong> in der Zukunft neue<br />

Möglichkeiten zur Entfaltung bringt. Singvögel<br />

trillern die Töne des Gewesenen <strong>und</strong><br />

schmelzend weich sind die Hoheklänge, die<br />

uns das genesene Menschheitsreich verkünden<br />

— befreit vom Schatten des Übels,<br />

befreit vom Ekel des Lebens, befreit von<br />

der Trauer über das Leben.<br />

. . . Alles dies <strong>und</strong> noch vieles andere<br />

sehen wir, wenn wir Carpenters Buch mit<br />

dem vielsagenden Titel lesen.<br />

Unlängst las ich in einem hies. Blatte<br />

eine Besprechung des Buches aus der Feder<br />

eines namhaften Schriftstellers. Er verglich<br />

Carpenter mit Walt Whitman <strong>und</strong> stellte<br />

letzteren über ersteren. O daß doch die<br />

kleinen Menschen stets das Unfaßbare <strong>und</strong><br />

Unvergleichliche mit einander messen, an<br />

einander wägen wollen! Gewiß, es gibt<br />

viele Berührungspunkte, wie es gewöhnlich


das Merkmal genialer Gedanken ist, daß<br />

sie von mehreren Auserlesenen der Gedankenwelt<br />

zu gleicher Zeit gedacht werden.<br />

Aber daß einer «größer» als der andere?<br />

Welch kurzsichtige Erwägung. Freuen wir<br />

uns, daß wir z w e i solche Geistesgrößen<br />

besitzen, zwei Männer, die große, erhabene<br />

Menschheitsgedanken in einer Sprache dachten,<br />

die wie der reinste Glockenklang <strong>und</strong><br />

volltönend uns ins Bewußtsein klingt. Whitman<br />

ist ein Gigant, Carpenter aber auch.<br />

Und nicht minder. Und wenn man die<br />

Dichtung umso höher stellt, je mehr sie<br />

durchhaucht ist von jenem echt Goetheschen<br />

Allwissen <strong>und</strong> Allwollen, dann steht<br />

uns Carpenter weit näher; in ihm ist Psyche<br />

u n d Geist, in Whitman nur Psyche, <strong>und</strong><br />

die weil jener alles weiß <strong>und</strong> erst sein W i s -<br />

s e n dichterisch gestaltet, ist Whitman der<br />

Mann des Gefühls, nur dieses allein. In<br />

vielem ist Whitman deshalb einseitig, in<br />

allem ist Carpenter vielseitig; er weiß nicht<br />

nur, wie kontemplativ das Schöne zu entdecken,<br />

sondern auch den Gegenstand der<br />

Schönheit selbst zu würdigen, zu begreifen.<br />

Carpenter ist Dichter <strong>und</strong> Denker;<br />

Whitman war, seiner eigenen Aussage zufolge,<br />

stets nur Dichter.<br />

Für die moderne Arbeiterbewegung<br />

wird bald ein neuer Morgen dämmern. Die<br />

Tage, in denen sie nur von Kampfgetöse<br />

erdröhnte, o h n e ihre <strong>Ziel</strong>e zu kennen, ohne<br />

im Vollbesitz tiefster Erkenntnis zu sein,<br />

sie gehen rascher vorüber, als manche<br />

glauben. Es wird dann die Zeit kommen,<br />

in der der ökonomische Faktor sich in ein<br />

besseres Einvernehmen mit dem ethischen<br />

<strong>und</strong> psychologischen setzen wird, als es<br />

bisher je geschah, je geschehen konnte in<br />

unserer Zeit der Irrgänge <strong>und</strong> Wirren für<br />

das Proletariat. Dann wird Carpenter nicht<br />

nur gelesen, sondern geistig verdaut werden.<br />

Es gibt keine wahre Befreiung ohne<br />

eine Umwertung aller unserer Kulturanschauungen.<br />

Und nur diejenigen, die uns<br />

auf diesem Pfade gehen lehren, sie sind<br />

die wahren Bahnbrecher der neuen, aufsteigenden<br />

Kultur. Sie pflanzen in uns dasjenige<br />

Gefühl der Revolte <strong>und</strong> des Aufbauenden,<br />

dem wohl Welten zum Opfer fallen<br />

aber wieder neuerdings geschaffen werden,<br />

ungleich vollkommener, schöner <strong>und</strong> wahrer.<br />

Nennen wir die Namen der Besten solcher<br />

Pioniere, dann drängt es uns immer, den<br />

Namen desjenigen zu nennen, dessen vielfache<br />

Geisteswerke auf den Werdegang des<br />

modernen Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus in<br />

zwar heute noch ziemlich unbekannter <strong>und</strong><br />

verkannter Weise, aber doch in einem<br />

Maßstabe gewirkt haben, daß wir den<br />

Namen Edward Carpenter nur mit Bewegung<br />

<strong>und</strong> Dankbarkeit aussprechen können,<br />

im Vollbewußtsein dessen, daß dieser Name,<br />

ähnlich wie jener eines Morris, Männer <strong>und</strong><br />

Frauen des Kampfes schuf, die sich in der<br />

Avantgarde des Ringens um Freiheit <strong>und</strong><br />

Menschheitsglück befinden. Seine Gefolgschaft<br />

wandelt aufrecht <strong>und</strong> zuversichtlich<br />

— der Freiheit entgegen . . .<br />

Mögen die Proletarier <strong>und</strong> arbeitenden<br />

Frauen dieses Buch, das uns in — man<br />

kann nicht banal sagen «Übersetzung» —<br />

formvollendeter Nachdichtung vorliegt, emsig<br />

lesen. Sie finden darin ihr Leben <strong>und</strong><br />

das hohe Lied ihrer Befreiung; möge das<br />

Buch ihre Liebe gewinnen!<br />

Pierre Ramus.<br />

Der ältere Kämpfer in der Bruderschaft<br />

an den Jüngeren.<br />

Lieber Kamerad, zu dessen Füssen ich<br />

jetzt so kniee,<br />

Von dir vielleicht, so bald, nicht mehr<br />

gesehn zu werden —<br />

Hier gebe ich dir mein Vermächtnis,<br />

damit später, dich meiner erinnernd <strong>und</strong><br />

nach mir verlangend,<br />

Du mich wiederfinden magst in diesen<br />

anderen.<br />

Langsam aus ihren Gesichtern werde<br />

ich dir wiedererstehen — Siehe! ich schwöre<br />

es,<br />

Beim fallenden Regen <strong>und</strong> geballten<br />

Wetterwolken im Osten, schwöre ich es —<br />

[In dir aufzugehen, den ich solang<br />

geliebt]<br />

Mit Liebe vereinigend, mit Freude <strong>und</strong><br />

Glückseligkeit umgebend,<br />

Werde ich dir wieder erstehen.<br />

Dass du jetzt anderen Kameraden, <strong>und</strong><br />

diese wieder anderen,<br />

Über die ganze Welt das frohe Bündnis<br />

tragen möget, vervollkommnet, vollendet<br />

—<br />

Einen unauflösbaren B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Vertrag<br />

zu bilden, eine Bruderschaft unwandelbar,<br />

Weit durchdringend, frisch <strong>und</strong> unsichtbar<br />

wie der Wind, vereint in Freiheit —<br />

Ein goldener Kreis von Staubfäden,<br />

unter den Blumenblättern der Menschheit<br />

verborgen,<br />

Und die heilige B<strong>und</strong>eslade bewachend.<br />

Durch Heldentaten <strong>und</strong> Tod <strong>und</strong> Opfer,<br />

Immer für die Armen <strong>und</strong> Verachteten,<br />

immer für die Ausgestoßenen <strong>und</strong> Unterdrückten.<br />

Durch Verwandtschaft mit der Natur,<br />

<strong>und</strong> das freie Handhaben aller Formen <strong>und</strong><br />

Sitten,


Durch die heilig gehüteten Lehren Inspirierter<br />

— nie verloren <strong>und</strong> nie gänzlich<br />

der Welt gegeben, doch immer wiedererstehend<br />

—<br />

Durch Liebe, treue Kameradenliebe,<br />

endlich die Seele befreiend in jene andere<br />

Sphäre (von Freiheit <strong>und</strong> Freude) in welche<br />

es keinem Sterblichen zu dringen erlaubt<br />

ist -<br />

So den unlösbaren Vertrag zu verwirklichen,<br />

der Menschheit Urgestalt zu<br />

offenbaren.<br />

Dir, mein Gefährte, übergeb' ich dies<br />

Vermächtnis — auch mir anvertraut<br />

In Liebe treu dir bleibend, wie jetzt,<br />

unwandelbar,<br />

Durch alle Zeiten <strong>und</strong> Veränderung<br />

dir treu, dir treu.<br />

Hier jetzt zu deinen Füssen, an deine<br />

Knie gelehnt, in deine Augen tief blickend,<br />

Bestätige ich alles, was ich gesagt.<br />

Edward Carpenter.<br />

Aus meinem Tagebuch.<br />

Am nächsten Morgen zog es mich<br />

unwiderstehlich wieder nach T.<br />

Grau <strong>und</strong> schwer hingen die Wolken<br />

am dämmernden Himmel; den seligen<br />

Abend doppelt schön erinnernd im fahlen<br />

Licht des trüben Morgens.<br />

Und siehe: schon weint der Himmel;<br />

schwere bleierne Tropfen fallen, erst langsam<br />

<strong>und</strong> einzeln, dann immer dichter <strong>und</strong><br />

schneller <strong>und</strong> erfrischen die lange durstende<br />

Erde.<br />

Doch den Menschen kein Wohlgefallen.<br />

Lange wohl hatten sie sehnsüchtig das<br />

belebende Naß erwartet. Nun wo es erscheint,<br />

kommt es zu schnell <strong>und</strong> zu viel.<br />

Nur wenige freuen sich der neu aufquellenden<br />

Natur; geflüchtet sind die meisten vor<br />

dem alles durchdringenden Regen.<br />

Jubilieren <strong>und</strong> leben tuen die Vögel,<br />

doch jammern <strong>und</strong> vegetieren die Menschen.<br />

Erbärmliches Lumpengesindel! —<br />

Doch dorten! Da seh ich ja welche,<br />

die nicht kümmert der strömende Regen<br />

<strong>und</strong> die empfindbare Kühle.<br />

Eng aneinander geschmiegt sitzen sie<br />

auf den Bänken.<br />

Hier ein Paar <strong>und</strong> dort ein Paar.<br />

Nicht jede Bank ist besetzt; doch nie<br />

eine auf allen Sitzen.<br />

Hier eine Bank <strong>und</strong> dort eine Bank<br />

— <strong>und</strong> immer nur e i n Paar.<br />

Männlein <strong>und</strong> Weiblein traulich vereint;<br />

sie störet kein Regen, kein Wetter <strong>und</strong><br />

Wind.<br />

Ein Wesen nur scheinen sie; <strong>und</strong> wo<br />

die bergende Hülle des schützenden Schirmes<br />

vorhanden, ist sie eine Vorwand, um<br />

beide noch enger sich schmiegen zu lassen.<br />

*<br />

Glückliche Menschen; Natur ist in<br />

Euch <strong>und</strong> schützend waltet die Liebende<br />

über ihre Kinder.<br />

Seid fröhlich <strong>und</strong> freut Euch. Liebt Euch<br />

<strong>und</strong> lacht <strong>und</strong> denket nicht fernerer Zeiten.<br />

Aber vergeßt nicht das Eine:<br />

So Ihr schon vorher zu denken begonnen<br />

— niemals laßt Euch dann gehen.<br />

D a n n bedenket <strong>und</strong> denket auch weiter.<br />

Doch ich sag Euch:<br />

Nicht das ist das Glück.<br />

Wenn Ihr es suchet, nehmt, wo Ihr es<br />

findet. Ohne Besinnen <strong>und</strong> Denken <strong>und</strong><br />

Schwanken.<br />

So Ihr erst schwankt, wird Sünde was<br />

Glück war. *<br />

* *<br />

Dieses gilt nicht nur Euch, die Ihr am<br />

Tage lustwandelt.<br />

Euch, die Ihr in lauschiger Nacht die<br />

<strong>Weg</strong>e <strong>und</strong> Bänke besetzet, sag' ich ein<br />

Gleiches. —<br />

Doch dieses noch bitt' ich:<br />

Tut nicht, was ich Euch sag; sondern<br />

tut, was Ihr fühlt! Leo Lerche.<br />

Das Werden des wahren<br />

Menschen.*<br />

. . . In der Tat ist der soziale Instinkt<br />

der Ameisen ein w<strong>und</strong>erbares Ding, eine<br />

völlig organisierte, ausgezeichnet funktionierende<br />

A n a r c h i e . . . Keine Regierung,<br />

kein König, keine Gesetze, keine Bureaukratie,<br />

keine Behörden, niemand kommandiert,<br />

niemand gehorcht. Selbst die sogenannten<br />

Sklaven sind völlig frei <strong>und</strong> arbeiten<br />

freiwillig, aus Instinkt. A l s o a b s o l u t e<br />

F r e i h e i t b e i a b s o l u t e r S o l i d a r i t ä t .<br />

Wenn ein Arbeiter faulenzen will, wird er<br />

dennoch gepflegt (man sieht es an der<br />

Amazonenameise). Aber dieses Faulenzen<br />

kommt nicht vor, außer bei den Sklaven<br />

machenden Ameisen <strong>und</strong> den Schmarotzern.<br />

Es gibt also keine «Kratie», keine Bürgerkriege<br />

<strong>und</strong> dennoch besteht dabei die<br />

prachtvollste Ordnung, ja, ein w<strong>und</strong>erbares<br />

Geschick, in der denkbar schlimmsten, verwirrtesten<br />

Lage in kurzer Zeit durch einträchtige,<br />

rastlose Arbeit Ordnung zu<br />

schaffen . . .<br />

*<br />

* *<br />

* Aus „ Ü b e r d i e Z u r e c h n u n g s f ä h i g -<br />

k e i t d e s n o r m a l e n M e n s c h e n " . München<br />

1907, Ernst Reinhardt, Verlagsbuchhandlung.


. . . Die wahre Ethik, welche die Verteidiger<br />

d e s Alten immer gefährdet glauben,<br />

kann aus einer tieferen Erkenntnis der<br />

wahren Harmonie des Weltalls <strong>und</strong> speziell<br />

der menschlichen Seele <strong>und</strong> ihres Organes,<br />

des Gehirnes, nur gewinnen. Sie beruht<br />

ja psychologisch a u f einer immer höher<br />

sich ausbildenden Anpassung ursprünglicher,<br />

ererbter Sympathiegefühle des<br />

Menschen an immer feiner <strong>und</strong> immer<br />

komplizierter werdende Elemente der reinen<br />

Erkenntnis, d. h. auf ihrer Kombination,<br />

resp. Assoziation mit denselben. Ebenso<br />

wie das Gefühl, erhöht <strong>und</strong> verfeinert sich<br />

der Wille in seiner harmonischen Angliederung<br />

an einer erhöhten <strong>und</strong> verfeinerten<br />

Erkenntnis. Das alles kann jedoch nur bei<br />

Integrität <strong>und</strong> entsprechender qualitativer<br />

Verbesserung des Organs der Erkenntnis,<br />

des Gefühles <strong>und</strong> des Willens, d. h. des<br />

Gehirnes, erreicht werden.<br />

Daraus ergeben sich einige gebieterische<br />

Erfordernisse:<br />

1. Beseitigung aller das Gehirn schädigenden<br />

Einflüsse, vor allem aller Hirngifte<br />

<strong>und</strong> in erster Linie der die Nachkommenschaft<br />

<strong>und</strong> ihr Gehirn so furchtbar<br />

schädigenden sozialen Unsitte des Alkoholgenusses,<br />

bei Vermeidung aller verwandten<br />

Unsitten (Opiumgenuß u. dgl. m.<br />

— überhaupt des Gebrauches narkotischer<br />

Gifte <strong>und</strong> Alkaloïde).<br />

2. Energische Anhandnahme der Vorstudien<br />

zur allmählichen Erreichung einer<br />

besseren menschlichen Zuchtwahl, die auf<br />

Gr<strong>und</strong> vertiefter Kenntnis <strong>und</strong> freier Überzeugung<br />

bekehrter Menschen zu geschehen<br />

hätte.<br />

3. Beseitigung zur Versuchung zur<br />

Geldsucht, zur ausschließlichen Anbetung<br />

des Mammon (Kapitalismus), einer Versuchung,<br />

die alles korrumpiert.<br />

4. Erreichung eines höheren Grades<br />

der Ethik, d. h. des Strebens nach einer<br />

glücklicheren <strong>und</strong> höheren Z u k u n f t s -<br />

m e n s c h h e i t , wofür einige individuelle,<br />

übrigens meistens äußerst kurzdauernde<br />

Vorteile des Augenblickes da <strong>und</strong> dort zu<br />

opfern wären.<br />

Dr. August Forel.<br />

An das jugendliche Proletariat.<br />

Laß wachsen uns zu jungen Recken,<br />

Laß wachsen, bis die St<strong>und</strong>e dröhnt,<br />

Wo wir die Schläfer unversöhnt<br />

Zum Kampfe auf mit Donnerworten schrecken!<br />

Laß wachsen uns noch eine Weile,<br />

Bis unsre Jugendkraft sich mehrt,<br />

Und uns das Leben weiter lehrt,<br />

Zu wandein recht — den Pfad zu unserem Heile!<br />

Laß wachsen uns, vereint im B<strong>und</strong>e,<br />

Uns freudig folgen unsrem Stern,<br />

Zu jenen lichten Höhen fern,<br />

Woher die Dichter nur uns brachten K<strong>und</strong>e . . .<br />

Dann aber schlagen wir wie Hagelschlacken<br />

Mit Sturm <strong>und</strong> Blitz <strong>und</strong> Donner ein,<br />

Und setzen bei dem Wetterschein<br />

Den Siegerfuß dem Feinde auf den Nacken.<br />

Aus dem Estnischen des Gustav Suits<br />

„Lied der Jungen".<br />

Vom Büchertisch.<br />

K . S c h w e c h l e r . D i e ö s t e r r e i c h i s c h e<br />

S o z i a l d e m o k r a t i e . Verlag „Styria", Graz <strong>und</strong><br />

Wien 1908. Diese ziemlich eingehende Studie zeichnet<br />

sich, obwohl nicht sozialistisch, so doch in<br />

bemerkenswerter Weise von derlei gegnerischen<br />

Schriften dadurch aus, daß sie neben großer Materialienfülle<br />

sich auch einer seltenen Objektivität —<br />

oftmals wahrlich allzu sehr! — befleißigt.<br />

F r i e d r i c h F r i e d e n s f e l d . D e r P r e d i g e r<br />

g e g e n d e n K r i e g . Verlag 0 . Bley, Leipzig. Eine<br />

sehr minderwertige Arbeit, wenn auch aufrichtig<br />

friedensfre<strong>und</strong>lich gemeint.<br />

P r o f . Dr. H . M o l e n a a r . E s p e r a n t o o d e r<br />

U n i v e r s a l ? Selbstverlag in Kophel, Bayern,<br />

Preis 20 Pfg. Wir empfehlen allen unseren<br />

Genossen, die sich mit dem Wellsprachenproblem<br />

auch nur einigermaßen beschäftigen, diese Broschüre,<br />

die in einfacher, fesselnd klarer Ausführung uns die<br />

Möglichkeit einer raschest zu erlernenden Weltsprache<br />

in die greifbarste Nähe rückt. Der „Erfinder"<br />

ist ein durchaus wissenschaftlicher Denker <strong>und</strong> Redakteur<br />

der Monatsrevue „ M e n s c h h e i t s z i e l e " .<br />

Seine im Universal geschriebene Zeitschrift mit<br />

demselben Namen dürfte bald ein bedeutender Faktor<br />

auf diesem Problemgebiete werden.<br />

E n r i c o F e r r J . D i e r e v o l u t i o n ä r e M e -<br />

t h o d e . Mit einer einleitenden Abhandlung über<br />

„Die Entwicklung der Theorien im modernen Sozialismus<br />

Italiens" von Dr. Rob. Michels. Verlag<br />

von L. C. Hirschfeld, Leipzig 1908. Preis Mk. 2.<br />

Wir können uns des Gefühles nicht erwehren, daß<br />

dieser, ob Veröffentlichung einer glänzenden Serie<br />

von „Hauptwerken des Sozialismus <strong>und</strong> der Sozialpolitik",<br />

die von Prof. Dr. Georg Adler redigiert<br />

wird, so ungemein verdienstvolle Verlag durch die<br />

Herausgabe der vorliegenden Schrift <strong>und</strong> ihre Einreihung<br />

in obgenannte Serie direkt mißbraucht wurde.<br />

Die Schrift ist weder theoretisch noch taktisch<br />

wertvoll <strong>und</strong> haben wir Deutsche in unserem Bernstein,<br />

wie überhaupt der gesamten revisionistischen<br />

Richtung viel „logischere" Vertreter. Gut gemeint<br />

<strong>und</strong> stellenweise wertvoll ist die Einleitung von<br />

Dr. Michels, doch kann sie über den deprimierenden<br />

Eindruck nicht hinwegtäuschen, den der Umstand<br />

bereitet, ein solch minderwertiges Zeug wie jenes<br />

Ferris unter Essays von der Bedeutung eines Spence,<br />

Godwin, Hall, Lamennais u. a. eingereiht zu sehen.<br />

C o n g r e s A n a r c h i s t e tenu a A m s t e r d a m ,<br />

August 1907. Eine vorzügliche Protokollveröffentlichung<br />

über den anarchistischen Kongreß zu Amsterdam.<br />

Verlag M. Delesalle, 46 Rue Monsieurs-le-<br />

Prince, Paris.<br />

Briefkasten.<br />

F. D o m . Nieuw. Brüderlichen Dank für<br />

prächtigen Artikel über B. Wieso es kommt, daß<br />

Sie das Blatt nicht erhalten, ist desto unverständlicher,<br />

als wir es Ihnen regelmäßig senden. Solidaritätsgruß!<br />

— An V e r s c h i e d e n e . Aufruf an die<br />

jugendlichen Arbeiter konnte nicht mehr ins Blatt.<br />

Demnächst.


2. Jetzt.<br />

Arbeiter <strong>und</strong> Arbeiterinnen Wiens!<br />

Dienstag den 23. Juni um 7 Uhr abends in der<br />

Volkshalle des Rathauses<br />

MASSEN-VERSAMMLUNG.<br />

Tagesordnung:<br />

Die Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsversicherung der<br />

Arbeiter.<br />

Sprechen werden die Reichsratsabgeordneten Dr<br />

Viktor Adler, Simon Abram (Innsbruck), Wilhelm<br />

Cerny (Prag), Ignaz Daszynski (Krakau), Matthias<br />

Eldersch (Freudenthal), Leo Fre<strong>und</strong>lich (Mährisch-<br />

Schönberg), Josef Hybesch (Brünn), Valentin Pittoni<br />

(Triest), Josef Pongratz (Graz), Josef Seliger<br />

(Teplitz), Semen Wityk (Boryslaw).<br />

Arbeiter <strong>und</strong> Arbeiterinnen! Noch immer hat<br />

die Regierung den längst versprochenen Gesetzentwurf<br />

nicht eingebracht! Die Arbeiter werden<br />

aber keine weitere Verschleppung dulden! Erscheint<br />

in Massen <strong>und</strong> bekräftigt eure Entschlossenheit,<br />

für die g r o ß e soziale Reform zu kämpfen, bis<br />

sie errungen ist!<br />

Keinem dieser führenden »Genossen«<br />

fiel es ein, an die Hainfelderresolution zu<br />

denken. Die Entwicklung »von der Utopie<br />

zur Wissenschaft« besteht bei der österreichischen<br />

Sozialdemokratie darin, daß sie<br />

heute für Dinge eintritt, von denen sie<br />

selbst einmal sagte, daß sie »nicht den<br />

Namen Sozialreform verdienen«.<br />

Welche Schmach! Einer aus Tausenden<br />

bestehenden Volksversammlung werden<br />

Ideen <strong>und</strong> Bestrebungen aufoktroyiert, die<br />

mit den wirklichen Gr<strong>und</strong>sätzen des Sozialismus<br />

gar nichts zu schaffen haben!<br />

Ob es den Herren wohl einmal einfiele,<br />

eine Volksversammlung im Rathause einzuberufen<br />

mit dem Thema: »Welta<br />

n s c h a u u n g u n d Z i e l d e s S o z i a l i s -<br />

mus?« Niemals, denn solches Thema rechtschaffen<br />

behandelt, ködert zu wenige Wahlstimmen.<br />

Da ist es besser, mit demagogischen<br />

Phrasen um sich zu werfen, staatliche<br />

Sozialreform als Allheilmittelchen anzupreisen<br />

— auf solch bornierte Weise<br />

schläfert die Sozialdemokratie den revolutionären<br />

Gedankengang des Proletariats ein<br />

—- das ist i h r e Erziehung zur »Reife des<br />

Sozialismus!"<br />

Die Schädlichkeit der Tarifgemeinschaften.<br />

Es ist verhältnismäßig kurze Zeit her,<br />

daß in Österreich der Tarifvertragskoller<br />

auftrat, der uns nunmehr als Allheilmittel<br />

gepriesen wird. Die Produktion ist eine<br />

recht ergiebige; mehr als 300 Tarifverträge<br />

hat die österreichische zentralistische Gewerkschaftsorganisation<br />

zu verzeichnen.<br />

Ohne sachliche Kritik, in der Für <strong>und</strong> Wider<br />

geprüft worden wäre, mit beiden Füßen ist<br />

man hineingesprungen, <strong>und</strong> jetzt vermeidet<br />

man es ängstlich zu sagen, daß es ein<br />

Sumpf ist, in dem man immer tiefer <strong>und</strong><br />

tiefer hineingerät.<br />

Die Arbeiter irgend einer Branche stellen<br />

Lohnforderungen; sie fordern z. B. nebst<br />

anderen einen St<strong>und</strong>enlohn von 50 Hellern.<br />

Heute wird in den allermeisten Fällen gleich<br />

seitens Organisation ein diese Forderung<br />

enthaltender Vertrag als Gr<strong>und</strong>lage der<br />

Tarifgemeinschaft ausgearbeitet <strong>und</strong> den<br />

Unternehmern meist zu Händen der zünftlerischen<br />

Genossenschaftsvorstehung oder<br />

der Unternehmerorganisation übermittelt.<br />

Soferne die Unternehmer die Arbeit dringend<br />

benötigen, sehen sie sich noch vor<br />

Ausbruch des Streiks zu Unterhandlungen<br />

veranlaßt; ist dieses nicht der Fall, so<br />

warten sie ruhig den Streik ab <strong>und</strong> erklären<br />

erst später sich zu Unterhandlungen<br />

bereit. Auf alle Fälle haben bei gemeinsamer<br />

Verhandlung die borniertesten <strong>und</strong><br />

ausbeuterischesten Unternehmer das große<br />

Wort. Nun wird gehandelt <strong>und</strong> gefeilscht<br />

um jeden Heller mehr Lohn <strong>und</strong> jede Minute<br />

Arbeitszeit. Die schlechtesten Zahler<br />

sind die größten Schreier <strong>und</strong> nur unter<br />

dem Zwange der äußersten Notwendigkeit<br />

werden wenige Heller zugestanden. Wo<br />

dieses angeht, wird der Betrag der bewilligten<br />

Erhöhung noch auf mehrere Jahre<br />

verteilt, d. h. man gibt das, was man ohne<br />

Vorschlag einer Tarifgemeinschaft gleich<br />

geben müßte, erst in einem oder nach zwei<br />

<strong>und</strong> drei Jahren. (Siehe Maurer, Zimmerer<br />

u. a. m.) Der gedankenlosen Masse sagt<br />

man allerdings: «Wir haben so <strong>und</strong> so viel<br />

nach einem, so <strong>und</strong> so viel nach zwei<br />

Jahren; seht, welch ein Erfolg!» In Wahrheit<br />

wird der beträchtlichere Teil der Erhöhung,<br />

um den schäbigsten Ausbeutern<br />

Rechnung zu tragen, auf möglichst lange<br />

Zeit hinausgeschoben — zum Schaden der<br />

Arbeiter.<br />

Für die Zugeständnisse, die die Unternehmer<br />

machen, wollen sie nun wieder<br />

Schadloshaltung, die sie in Form einer möglichst<br />

langen Vertragsfrist anstreben. Wir<br />

finden Verträge, die auf drei <strong>und</strong> vier Jahre,<br />

ja noch für längere Zeit abgeschlossen sind.<br />

Während dieser Zeit sind die Arbeiter jeder<br />

Bewucherung seitens der Lebensmittel<strong>und</strong><br />

Wohnungswucherer ausgesetzt, ohne<br />

sich in Form von höheren Löhnen schadlos<br />

halten zu können. Bei Tarifgemeinschaften<br />

ist die sich von selbst ergebende<br />

Tendenz, daß der festgesetzte Minimallohn<br />

zum Maximallohn wird. Die Zentralorganisationen,<br />

die sich als die Hüter der Tarifgemeinschaft<br />

betrachten, sehen ihre Aufgabe<br />

darin, darüber zu wachen, daß jeder<br />

Unternehmer den M i n i m a l l o h n bezahle,<br />

den Lohn also, dem der schäbigste Unternehmer<br />

zugestimmt hat. Über den Minimallohn<br />

hinaus möge jeder Arbeiter selbst<br />

sorgen, natürlich ohne Hilfe der Organisation.<br />

Diese hält sich jeder Verpflichtung<br />

für entb<strong>und</strong>en. Wir sehen schon nach dieser<br />

Seite hin den sehr problematischen Wert<br />

der Tarifgemeinschaft.<br />

Noch eines. Bei Eintritt in eine Tarifbewegung<br />

hat die Organisation mit zwei<br />

Faktoren innerhalb der beteiligten Arbeiter<br />

zu rechnen; das sind die Nichtorganisierten<br />

oder die unter dem Zwang der Verhältnisse<br />

sich in der Organisation befindlichen<br />

<strong>und</strong> die besser entlohnten Arbeiter, die bei<br />

einer solchen Lohnbewegung wenig oder<br />

nichts gewinnen können oder gar zu Schaden<br />

kommen durch das Streben der Unternehmer,<br />

nur den Minimallohn zu zahlen.<br />

Es ist daher begreiflich, daß jede Tarifbewegung<br />

mit den minimalsten Zugeständnissen<br />

enden muß, die im Vergleich zu den<br />

gesteigerten Konsumpreisen keine Steigerung<br />

der Lebenshaltung bedeuten. Alle<br />

diese Umstände beweisen uns den geringen<br />

Wert der Tarifgemeinschaften; immer bei<br />

der Voraussetzung, daß jeder Unternehmer<br />

den Vertrag überhaupt einhält. Gegen den<br />

Vertragsbruch der Unternehmer, der erwiesenermaßen<br />

sehr häufig ist, wäre die<br />

einzige Schutzwehr eine tüchtige, schlagfertige,<br />

jeden Moment kampfbereite Organisation<br />

mit selbsthandelnden Mitgliedern.<br />

Die Zentralorganisationen haben aber<br />

durch ihre Reglementierung jeder Streikbewegung,<br />

auch der Abwehrstreiks, jedes<br />

selbständige Handeln faktisch u n m ö g l i c h<br />

gemacht; sie sind ja nur mehr aufs Verhandeln<br />

eingerichtet. Dazu kommt, daß<br />

diese Organisationen jede Streikbewegung<br />

möglichst vermeiden. Für Erziehung der<br />

Mitglieder zur Direkten Aktion, die vielfach<br />

den Streik überflüssig machen würde, ist<br />

ja nie etwas geschehen. Diese ist den<br />

meisten Organisationsleitern ein spanisches<br />

Dorf. So kommt es, daß eine Reihe von Tarifverträgen<br />

kurze Zeit nach ihrem Abschluß<br />

nur ein wertloses Geschreibsel sind <strong>und</strong><br />

trotzdem die «Erfolge» der zentralistischen<br />

Organisationen mehren helfen müssen.<br />

Jeder befristete Tarifvertrag besagt aber<br />

dem Unternehmer a u f d e n T a g , w a n n<br />

die Arbeiter mit neuen Forderungen an ihn<br />

herantreten werden. Jeder Unternehmer wäre<br />

vom Klassenstandpunkte blöde, wenn er<br />

den ungeheuren Vorteil, der ihm dadurch in<br />

die Hand gegeben ist, — nicht ausnützen<br />

würde. Vielfach ist noch dazu eine einbis<br />

dreimonatliche Kündigungsfrist festgesetzt.<br />

Wer wagt da noch zu behaupten,<br />

daß Derartiges zum Vorteil der Arbeiter<br />

sein kann? Man bedenke noch, daß heute<br />

der Arbeiterorganisation die Unternehmerorganisation<br />

gegenübersteht.<br />

Die Tarifzeit bedeutet für die Unternehmer<br />

eine Periode der ungestörten Ausbeutung,<br />

aber auch eine Periode der Kampfrüstung.<br />

Man sagt nun, auch den Arbeitern<br />

komme diese Zeit zugute, die Organisation<br />

könne ausgebaut <strong>und</strong> Streikfonds können<br />

gesammelt werden. Was aber sind die Spargroschen<br />

der Arbeiter gegen das Kapital<br />

der Unternehmer? Diese dem Unternehmer<br />

gewährleistete Frist der Ruhe ist die Vervielfachung<br />

der kommenden Kampfperiode.<br />

Nur Narren können glauben, daß die<br />

rückständigen, bornierten Unternehmer<br />

Österreichs so begeistert auf die Idee mit<br />

den Tarifverträgen eingegangen wären, wenn<br />

es nicht i h r Vorteil wäre. Tausende Arbeiter<br />

verwünschen heute die Tarifverträge,<br />

die ihnen die Hände binden, die sie zwingen,<br />

die Zeiten der günstigen Konjunktur<br />

tatenlos verstreichen zu lassen, um dann<br />

gegebenen Falles sich in der Zeit der<br />

schlechten Konjunktur dem gut gerüsteten<br />

Gegner gegenüberstellen zu müssen. I s t es<br />

n i c h t W a h n s i n n , i m V o r a u s z u s a -<br />

g e n , i n d e m u n d d e m J a h r e , M o n a t<br />

u n d T a g w e r d e n w i r u | n s e r e K r ä f t e<br />

messen? Hier wird die Tarifgemeinschaft<br />

zum Verbrechen an die Arbeiter, <strong>und</strong> sie<br />

wird es immer mehr mit jeder neuen Tarifgemeinschaft,<br />

mit jeder Vertragserneuerung.<br />

Ihr brüstet euch mit der halben Million<br />

organisierter Arbeiter! Diese sind geb<strong>und</strong>en<br />

in H<strong>und</strong>erten von Verträgen <strong>und</strong> der Feind,<br />

der sie schlägt, hat die Waffen von euch.<br />

Was wir brauchen, um tatsächlich zu einer<br />

höheren Lebenshaltung zu kommen, ist<br />

folgendes: Die Arbeiterschaft stellt ihre Forderungen,<br />

die sie mit allen ihr zu Gebote<br />

stehenden wirtschaftlichen, sozialen Waffen<br />

zu erkämpfen sucht. Wollen die Unternehmer<br />

Verträge, dann gut, der Vertrag<br />

enthalte Minimallohn <strong>und</strong> Arbeitszeit. A b e r<br />

k e i n e Z e i t d a u e r . J e d e k o m m e n d e ,<br />

g ü n s t i g e K o n j u n k t u r w i r d b e n ü t z t ,<br />

u m n e u e F o r d e r u n g e n z u s t e l l e n<br />

u n d s i e zu e r k ä m p f e n . Nur so kann<br />

die Arbeiterschaft zu einer höheren Lebenshaltung<br />

gelangen. Man verteuert uns die<br />

Lebensbedürfnisse! Die erste beste Gelegenheit<br />

müßte benützt werden, damit wir uns<br />

in Form von höheren Löhnen schadlos<br />

halten.<br />

Das ist wahrer Klassenkampf, nicht<br />

Scheinmanöver, durch das man die Arbeiter<br />

einlullt. So kann der Kapitalismus zurückgedrängt,<br />

so kann Geldsackdünkel bekämpft<br />

werden. Direkter Kampf muß dem Kapitalismus<br />

entgegengesetzt werden, nicht vereintes<br />

Schachern um Brosamen, die man<br />

uns auch ohne dies zu geben gewillt ist.<br />

Das ist aber auch der einzige <strong>Weg</strong>, der<br />

die Arbeiterschaft für den Kampf schult,<br />

auf daß einstmals die wirtschaftliche Befreiung<br />

zur Tatsache wird. E. H.<br />

Die Politik ist ein schmutziges<br />

Geschäft.<br />

Vom sozialdemokratischen Reichsratsabgeordneten<br />

L u d w i g W u t s c h e l .<br />

• V o r b e m e r k u n g : Der Leser denke<br />

beileibe nicht, daß der h e u t i g e , der sozialdemokratische<br />

Parlamentspolitiker L. Wutschel<br />

den nachfolgenden, seine Partei, wie<br />

überhaupt alle politischen Parteien trefflich


illustrierenden Aufsatz g e g e n w ä r t i g<br />

schrieb. Er, wie auch Herr Dr. Adler, hüten<br />

sich heute davor, Wahrheiten über die Politik<br />

im allgemeinen zu sagen. Der Artikel<br />

stammt aus dem Wiener »Freidenker« vom<br />

30. November 1902, als Herr Wutschel<br />

eben — n o c h kein Reichsratsabgeordneter<br />

war! Das erklärt alles!<br />

Bei dieser Gelegenheit wollen wir<br />

nicht verfehlen, auf die 2. Nummer des<br />

»Freien Gedanken« hinzuweisen, die einen<br />

hochaktuellen <strong>und</strong> interessanten Artikel von<br />

unserem Fre<strong>und</strong>e Anton M a r k r e i t e r enthält,<br />

» Ü b e r die t o t g e s c h w i e g e n e n Urs<br />

a c h e n der S p a l t u n g i m ö s t e r r e i c h i -<br />

s c h e n F r e i d e n k e r t u m « . Diesem Aufsatz<br />

entnehmen wir nachstehenden selbständigen<br />

Artikel; Markreiters Aufsatz belehrt uns in<br />

ausgezeichneter Weise, wie schmutzig der<br />

M e n s c h Wutschel schon durch das<br />

schmutzige Geschäft des P o l i t i k e r s wurde.<br />

D. Red.<br />

*<br />

» D i e P olitik ist ein s c h m u t z i g e s<br />

G e s c h ä f t « . Der Ausspruch Dr. Adlers hat<br />

uns so gut gefallen, daß wir ihn nicht nur<br />

vollinhaltlich unterschreiben, sondern auch<br />

beschreiben wollen.<br />

So nützlich <strong>und</strong> notwendig die B e -<br />

s c h ä f t i g u n g mit ö f f e n t l i c h e n A n g e -<br />

l e g e n h e i t e n in S t a a t <strong>und</strong> G e s e l l s c h a f t<br />

(so verdeutschen wir das Wort Politik), ist,<br />

so gefährlich wird dieses Geschäft für die<br />

allgemeinen Sittlichkeitsbegriffe, wenn es<br />

im Übermaße betrieben wird. Ob wir den<br />

großen Weltpolitiker oder den kleinen<br />

Kirchturmpolitiker betrachten, sein Tun <strong>und</strong><br />

Lassen ist immer dasselbe. Es gibt nur ein<br />

Rezept für große wie für kleine Politiker.<br />

Der reinlichste Charakter muß, will er<br />

im öffentlichen Leben sich Geltung verschaffen,<br />

zunächst seine Konkurrenten ignorieren,<br />

totschweigen oder verkleinern.<br />

Fr braucht Gehilfen, Auguren, die bezahlt<br />

sein wollen. Da heißt es für »treue Dienste«<br />

belohnen, Pfründen <strong>und</strong> Sinekuren, Diäten<br />

<strong>und</strong> Sporteln schaffen.<br />

Je breiter die Schar der »Anhänger«<br />

wird, desto gefährlicher wird die Position<br />

des Führers. Gefährdet von innen <strong>und</strong><br />

außen. Schlüpfrige Elemente, strebernde<br />

Kriecher, moralfreie Subjekte aller Art verpesten,<br />

stets auf ihren Vorteil bedacht, die<br />

geistige Atmosphäre in immer größerem<br />

Umkreise.<br />

Um die Meute zusammenzuhalten, muß<br />

bald diesem, bald jenem ein Knochen hingeworfen<br />

werden. Im politischen Jargon<br />

heißt das kalt gestellt <strong>und</strong> warm gestellt<br />

werden.<br />

Aber der Gegner ruht nicht, er ist in<br />

der Wahl seiner Kampfesmittel skrupellos.<br />

Eine ehrliche Politik? Eine politische Moral?<br />

Sind i d e a l e Begriffe!<br />

Der Volksm<strong>und</strong> nennt schon einen<br />

schlauen, listigen Menschen p o l i t i s c h .<br />

Und er hat recht. Im großen wie im kleinen<br />

politischen Leben ist Klugheit, Schlauheit<br />

<strong>und</strong> List nötig, weil man sonst von dem<br />

Gegner übertölpelt wird. Aber diese politischen<br />

Eigenschaften steigern <strong>und</strong> vergröbern<br />

sich, die Klugheit wird zur Verdrehungskunst,<br />

die Schlauheit zur Verschlagenheit,<br />

die List zur Hinterlist.<br />

Und so geht es immer rascher mit den<br />

moralischen Qualitäten bergab. Lügen, Beschimpfungen,<br />

Verdächtigungen <strong>und</strong> Verleumdungen<br />

sind die nächste Serie. Den<br />

Schluß bilden politische Maßregelungen,<br />

Rechtsbeugungen, Gewaltakte <strong>und</strong> Gemeinheiten<br />

in allen Gestalten. Natürlich ruft der<br />

Betroffene im Namen der Menschlichkeit<br />

um Hilfe, was ihn ebenso natürlich nicht<br />

hindert, morgen dasselbe zu tun. Macht<br />

ist Recht <strong>und</strong> jeder Gewaltakt heißt politische<br />

Raison!<br />

Die Masse will kräftige Kost, Versprechungen,<br />

Prophezeihungen, ihre inner-<br />

sten Wünsche will sie ausgesprochen hören,<br />

E r f o l g e will sie sehen!<br />

Die Jagd nach dem Erfolg läßt keine<br />

Zeit, wählerisch in den Mitteln zu sein. Der<br />

Geriebenere ist Sieger <strong>und</strong> ihm jubelt der<br />

blinde Haufe zu, bis er durch List oder<br />

Gewalt eines noch glatteren Popularitätssüchtlings<br />

außer Kurs gesetzt wird.<br />

Der Erfolg, den die umschmeichelte,<br />

geköderte Masse bringt, garantiert aber<br />

keine Dauer. Wo alle niedrigen, tierischen<br />

Instinkte aufgepeitscht werden müssen, um<br />

Feuerwerks-Enthusiasmus zu erzielen, kommt<br />

der Rückschlag unvermeidlich.<br />

Die Politik ist in unserer raschlebigen<br />

Zeit zum schalen Handwerk geworden, sie<br />

bringt den Skrupellosen entweder bald<br />

empor oder verekelt dem ehrlichen Kämpfer<br />

das Ringen, ihm die erleichternden Worte<br />

erpressend: » D i e P o l i t i k i s t e i n<br />

s c h m u t z i g e s G e s c h ä f t ! «<br />

D i e m i t d e n l a n d e s l ä u f i g e n<br />

M i t t e l n e r r u n g e n e p o l i t i s c h e M a c h t<br />

ist T a l m i . V o n D a u e r k a n n n u r d i e<br />

a u f s i t t l i c h e r B a s i s h e r a n g e r e i f t e<br />

W e l t a n s c h a u u n g s e i n u n d d i e ihr<br />

e n t s p r u n g e n e m o r a l i s c h e M a c h t .<br />

P o l i t i s c h e Moral ist ein Unding, weil es<br />

in der Politik keine Moral gibt <strong>und</strong> nie gegeben<br />

hat.<br />

M o r a l i s c h e Politik zu treiben ist zwar<br />

ein langwieriger, dafür aber, nach unserer<br />

Auffassung, der einzige, zum <strong>Ziel</strong> führende<br />

<strong>Weg</strong>. „w."<br />

Offizielles Protokoll<br />

des Internationalen Antimilitaristischen<br />

K o n g r e s s e s<br />

gehalten zu Amsterdam, am 30.—31. August<br />

1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />

des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />

m e r h o r n .<br />

(Fortsetzung.)<br />

Erklären wir ein für allemal, so klar<br />

<strong>und</strong> energisch wie möglich, daß die deutschen,<br />

französischen, englischen etc. Arbeiter<br />

nicht Feinde sind, sondern daß alle<br />

einen gemeinsamen Feind haben: den<br />

Kapitalismus.<br />

Befreien wir uns von allen Vorurteilen<br />

des Patriotismus <strong>und</strong> des Nationalstolzes.<br />

<strong>Unser</strong>e wahren Feinde sind diejenigen, die<br />

uns beherrschen <strong>und</strong> die ihre Macht dazu<br />

benützen, um die Arbeiter auszubeuten <strong>und</strong><br />

zu bedrücken. Nur wenn wir uns von diesen<br />

befreien, werden wir ganz frei sein.<br />

Im Manifest der »Internationale«, während<br />

des Bürgerkrieges in Frankreich<br />

im Jahre 1871, sagte Marx, daß nur e i n e<br />

Art des Krieges eine Berechtigung habe :<br />

der Kampf der Sklaven gegen ihre Herren.<br />

Wir müssen überall erklären, daß unser<br />

<strong>Ziel</strong> die Abschaffung der internationalen<br />

Kriege ist, um an deren Stelle den inneren<br />

Frieden, die Befreiung des Proletariats, zu<br />

setzen.<br />

Als wegen Marokko zwischen Deutschland<br />

<strong>und</strong> Frankreich ein Krieg auszubrechen<br />

drohte, schickte die französische<br />

»Allgemeine Arbeitervereinigung« ( C o n -<br />

f é d é r a t i o n G é n é r a l e d u T r a v a i l )<br />

ihren Sekretär nach Berlin, damit er sich<br />

mit den Führern der deutschen sozialdemokratischen<br />

Partei <strong>und</strong> der Gewerkschaften<br />

in Verbindung setze, um durch eine<br />

großartige, gemeinsame Demonstration den<br />

Regierungen zu verkünden, daß die Arbeiter<br />

beider Länder auf alle nur mögliche<br />

Weise versuchen würden, den Krieg zu<br />

verhindern.<br />

Und wie wurde diese prächtige Idee<br />

in Berlin aufgenommen? Sowohl die Sozialdemokraten,<br />

wie die Gewerkschaftsführer<br />

haben dieselbe k u r z w e g a b g e w i e -<br />

s e n <strong>und</strong> damit gezeigt, daß sie ihrer Aufgabe<br />

in so schweren Zeiten gar nicht gewachsen<br />

sind <strong>und</strong> die wahre Bedeutung<br />

der internationalen Solidarität der Arbeiter<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />

nicht verstehen. Trotz allem werden wir<br />

aber unsere antimilitaristische Propaganda<br />

fortsetzen, wenn nötig ohne <strong>und</strong> gegen<br />

die sozialdemokratischen Parteiführer.<br />

Wir müssen unser Ideal unter den Massen<br />

verbreiten, um sie zu begeistern, denn<br />

ohne Ideal, ohne Begeisterung werden<br />

wir nie etwas erreichen; die großen Ideen<br />

entspringen immer aus den Herzen. Eines<br />

Tages wird es uns zur Ehre gereichen,<br />

daß wir zuerst den Kampf gegen das Ungeheuer,<br />

den Militarismus, aufgenommen<br />

<strong>und</strong> dem Kriege den Krieg erklärt haben.<br />

Professor Sergi in Rom sagt sehr<br />

treffend im »Courier Européen«: »Der<br />

Friede wird sich dann verwirklichen, wenn<br />

die Menschen, die Opfer des Krieges, die<br />

Opfer der Ausgaben für die Bewaffnung<br />

<strong>und</strong> die Opfer jener Sklaverei sind, die<br />

»allgemeine Wehrpflicht« heißt (eine Sklaverei,<br />

die sich kaum von der Sklaverei des<br />

Altertums unterscheidet) — wenn alle diese<br />

Menschen, sich weigern werden, den bestehenden<br />

barbarischen Zuständen Achtung<br />

zu zollen, — den Zuständen, die durch<br />

Machthaber geschaffen werden, die selber<br />

nie die Opfer von irgend etwas sind —<br />

<strong>und</strong> wenn sie den Kriegsrüstungen <strong>und</strong><br />

dadurch dem Kriege ein Ende machen<br />

würden.«<br />

Heute werden die Antimilitaristen überall<br />

verfolgt <strong>und</strong> bestraft, morgen werden<br />

sie siegen »wenn das sittliche Gefühl der<br />

Empörung allgemein <strong>und</strong> das große Vorurteil<br />

besiegen wird, das man »Vaterland«<br />

nennt. Und der allgemeine Frieden kann<br />

nicht aus diplomatischen Konferenzen entstehen,<br />

sondern nur durch die Massen, die<br />

sich vom Werkzeug des Krieges, vom<br />

Militarismus befreien werden.«<br />

N u r d i e p r o d u k t i v e n A r b e i t e r<br />

h a b e n d i e M a c h t i n H ä n d e n , d e n<br />

K r i e g u n m ö g l i c h z u m a c h e n , w e n n<br />

s i e es w o l l e n . Wir müssen sorgen, daß<br />

sich der Wille <strong>und</strong> die Macht vereinigen.<br />

Wenn man seit den 16 Jahren, die seit<br />

dem Brüsseler Kongreß verflossen sind,<br />

für die Ideen des Antimilitarismus nur<br />

halb so viel Propaganda gemacht hatte<br />

wie für das Wahlrecht, dann wären wir<br />

heute viel weiter. Sogar der deutsche Kaiser<br />

würde sich scheuen, einen Krieg anzufangen,<br />

wenn er wüßte, daß die 3¼ Millionen<br />

sozialdemokratischen Wähler entschlossene<br />

Sozialisten sind.<br />

Die Arbeiter können nie einen Nutzen<br />

aus dem Krieg haben, denn Arbeit <strong>und</strong><br />

Krieg sind unvereinbare Gegensätze. Nur<br />

der Sieg d e r Arbeit w i r d den Sieg<br />

des F r i e d e n s herbeiführen!<br />

Quittung<br />

vom 20. April bis 10. Juni 1908.<br />

C . Schönpr. K 5 4 0 , J . Machend 4 - , N . Eberg.<br />

1-20, St. Neuchât. 1 66, Win. Sils. Mar. 4 5 0 , Br.,<br />

Köln 1 1 7 0 , W., Hamburg 5 8 6 , M. Br<strong>und</strong>. 4 5 0 , N.,<br />

Eggenb. 3 4 0 , Str., Wien 2-40, Res., Wien 1-—, R.,<br />

Wey. 4 - - , Sehn. Schatzl. 1 2 0 , B . Skata 3 — , Sch.,<br />

Mariasch. 8-06, M., Marb. 8-40, N., Berlin 10-57, Dr.,<br />

Görlitz - - 8 5 , M., Bucz. 4-80, K., Reichenb. 1-20,<br />

K., Esseg — 60, L., Esseg — 60, Gr. Maxpl. 4 1 6 ,<br />

B., Skat. 3 6 0 , Kr., Brod 3 5 0 , Kr., Algier 2 8 5 , K,<br />

Spokane 4-90, K, Klagenf. 13-50, Jan., Machend. 4 20.<br />

N., Münch. 4-22, St., Vevey 9-52, N., Eggenb. 3-40,<br />

Ruh., Wey. 3(30, Wag., Wien 1 6 0 , R. Sternb. 2 - - ,<br />

B., Paris 5-71, L., Kostenbl. 1 2 0 , L., Brooklyn 4 - - ,<br />

Lucifer 2 - , Pekl. 1 - , Jel. 2 2 0 , Hirn. 1 - , Red. - - 3 0 ,<br />

Hüb. 1-44, Wag. 1-68, Nadl., London 5-—, Mandl,<br />

London 3 - , W e j . 3-78, Nav. 2 3 0 , Nav. 1 - , Pek.<br />

2-40, Kub. —-60, He. - 96, Ho. L 2 0 , W e . 5 8 0 , Hüb.<br />

1 20, Ra. 3-20, Le. —-72, Ha. 2-80, Schi. 2-40, Sch.<br />

2-04, W e j . 4- -, Kub. 7-50, Navr. Hör. 1 - - ,<br />

Ku. - - 5 0 , Ba. - - 5 0 , Hej. — 50, Kos. - - 6 0 , W. 580,<br />

Lik. 1 - - , Ram. 1-60, Lan. - - 6 0 , W a g . 2 3 0 , Vanna<br />

10-—, P. R. —-74, Schach. 2 04, Hüb. V—, Lucifer<br />

10-—, Herrn. Fritz 6 1 0 , Ra. 5-- -, Wag. - - 4 0 , Ra. 1 - ,<br />

Met.-Arb.-Verb. 2 4 0 , Pazd. 2-—, Lask. 1-—, Hora.<br />

!•—, Jelin. 1 - , Sch. Mariasch. 7 3 0 .<br />

Preßfond. Liste Nr. 8 K 6-40, Liste Nr. 36 6 5 0 .<br />

Sch., Wien 1 0 - - , Schuhm. Gewerksch. (für Vortr,<br />

v. Ramus) 4 — , Mika —-40, Likir 4-—, Cern., Wien<br />

- • 4 0 , Ira —-40, Preö-Komm. am 14. Juni — 9 0 ,<br />

Liste Nr. 4 10-65.<br />

A g i t a t i o n s f o n d . Liste Nr. 8 K 6 — , Liste Nr.<br />

36 —-20, Liste Nr. 4 4*60.


Wien, 19. Juli 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 14<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />

I./I7. — Gelder sind zu senden an<br />

W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />

5, HL/27.<br />

,,In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in alten ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die Ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />

Michael Bakunin zum Andenken.<br />

Und es schlägt eine St<strong>und</strong>e der Erfüllung für Alle, für Gerechte<br />

<strong>und</strong> Ungerechte! Längst tot geglaubt <strong>und</strong> scheinbar zu<br />

Staub <strong>und</strong> Asche geworden, entringt sich der Phönix der Wahrheit<br />

stets dem Banne seiner Widersacher. Mit unwiderstehlicher<br />

Kraft zum Angriff übergehend, erbaut sich sein ewiger Geist dann<br />

die Altäre des neuen Lebens, einer verjüngten Auferstehung, die<br />

nun die Huldigung dessen bringt, was sich unbezwingbar durch-<br />

rang <strong>und</strong> dem aie Zukunft<br />

gehört!<br />

Michael B a k u n i n s<br />

Name erklingt heute auf<br />

Tausenden von Lippen.<br />

Zum ersten Mal seitdem<br />

wir eine deutsch-österreichische,<br />

anarchistische<br />

Bewegung haben, soll<br />

dieser Giordano Bruno<br />

des Anarchismus durch<br />

vorliegende Gedächtnisnummer<br />

dem kämpfenden<br />

Proletariat unseres<br />

Landes näher gebracht<br />

werden, als Mensch, als<br />

Kämpfer, als Denker.<br />

Und es ist wahrlich eine<br />

Art Erfüllung, die für<br />

Bakunin angebrochen,<br />

denn während unsere<br />

staatlich - demokratischen<br />

Sozialisten vor nur wenigen<br />

Wochen den 25.<br />

Todestag von Karl Marx<br />

begingen, da dachten sie<br />

wohl nicht daran, daß es<br />

hier bei uns, wo der<br />

Anarchismus längst totgesagt,<br />

Männer <strong>und</strong><br />

Frauen gibt, die eines<br />

Mannes gedenken würden<br />

können, der der<br />

größte Widersacher von<br />

Karl Marx gewesen <strong>und</strong><br />

der den Massen eine Kampfesparole<br />

bot, die ihn<br />

diesen stets als edelstes<br />

Vorbild vor Augen führen<br />

wird, sobald sie aus<br />

ihrem Schlummer erwacht<br />

<strong>und</strong> wissen werden,<br />

wie <strong>und</strong> wofür zu<br />

kämpfen: M i c h a e l B a -<br />

kunins g e d e n k e n wir<br />

heute anläßlich s e i -<br />

nes 32jährigen T o d e s -<br />

tages. — Den marxistischen<br />

Einschläferern<br />

des Proletariats, seinen<br />

Verleumdern <strong>und</strong> Schmähern zum Trotz, dem Volke, für das er<br />

sein ganzes Leben lang kämpfte <strong>und</strong> rang, zu Nutz <strong>und</strong> Frommen.<br />

Michael Bakunin ist nicht tot! Sein Geist durchweht die<br />

Kampfeszelte unserer internationalen Bewegung, feiert eine lebendige<br />

Auferstehung in der nunmehrigen raschen Entwicklung der<br />

Arbeiterbewegung zu dem, was er aus ihr machen wollte, jenem<br />

idealen <strong>Ziel</strong>e entgegen, für das er sie begeisterte.<br />

Als Michael Bakunin vor 32 Jahren gestorben, da breiteten<br />

sich die Schatten der Reaktion über die internationale Arbeiter-<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2 -<br />

4 0 ;<br />

halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3.50, halbjährig F r . 1.75, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

bewegung. Der bismärckische Staatsgedanke des militaristischen<br />

Zentralismus, der marxistische Bismarckgedanke des Staatssozialismus<br />

feierten Triumphe, denn obwohl sie scheinbar einander widerstritten,<br />

insoferne es sich handelte um die Einführung des Sozialismus,<br />

arbeiteten sie doch darin einander in die Hände, daß sie<br />

den Staatsgedanken stärkten, ihn stützten <strong>und</strong> ihn gewissermaßen<br />

zur Unvermeidlichkeit des Völkerlebens ausgestalteten. Die deutsche<br />

Sozialdemokratie, der<br />

man durch die zehnjährige<br />

Knebelung des<br />

Sozialistengesetzes ihren<br />

ganzen Sozialismus benahm,<br />

die österreichische<br />

Sozialdemokratie, der<br />

man von oben tunlichst<br />

entgegenkam, sobald sie<br />

sich dazu bereit erklärte,<br />

den Kampf gegen die<br />

Radikalen gemeinsam mit<br />

der Regierung zu führen<br />

<strong>und</strong> die langsam, doch<br />

heute vollständig sich<br />

jedes überflüssigen, sozialistischen<br />

Ballastes entledigte<br />

<strong>und</strong> eine demokratische<br />

Reformpartei<br />

ward die Ära einer<br />

solchen Entwicklung war<br />

es, in deren Zeichen die<br />

letzten 25 Jahre sozialpolitischer<br />

Evolution in<br />

Europa standen <strong>und</strong> die<br />

bis heute noch nicht vollständig<br />

behoben sind.<br />

Und der Name Marx<br />

warf sein Strahlenlicht<br />

auf dieses Werden des<br />

gesetzmäßigen Entwicklungssozialismus,<br />

dessen<br />

Entwicklung darin bestand,<br />

daß er zu sein<br />

aufhörte <strong>und</strong> dessen<br />

Bourgeois-Vertreter die<br />

Maßnahmen der bestehenden<br />

Ordnung ins<br />

Fahrwasser des politischen<br />

«Fortschritts» zu<br />

leiten versuchten. Als ob<br />

derSozialismus, seineEntwicklung<br />

<strong>und</strong> Verwirklichung<br />

etwas zu tun<br />

hätten mit dem «Fortschritte»<br />

des Staates <strong>und</strong><br />

Kapitalismus!<br />

In dem wüsten Lärm<br />

der Betörung der Vernunft<br />

des Proletariats<br />

konnte es kommen, daß der Name Bakunins <strong>und</strong> die Prinzipien,<br />

für die er stand, zeitweise erstickt wurden. Sozialdemokratie <strong>und</strong><br />

Staatsautorität reichten sich in diesem Beginnen einmütig die Hände.<br />

Die Gedanken des autonomen, des herrschaftslosen, also anarchistischen<br />

Sozialismus wurden durch eine Dreieinigkeit von<br />

autoritärer Gewalt, gemeiner Verleumdungspolitik <strong>und</strong> ehrgeiziger,<br />

nach Ämtern jagender Parteigewalt gemeuchelt.<br />

Schon heute hat die Weltgeschichte ein neues Blatt aufgeschlagen!<br />

Wir haben die Früchte einer ein Vierteljahrh<strong>und</strong>ert


umfassenden Entwicklung vor uns <strong>und</strong> können gegenwärtig stolz<br />

behaupten: E s ist a l l e s s o g e k o m m e n , w i e M i c h a e l<br />

B a k u n i n <strong>und</strong> d i e M ä n n e r d e r J u r a f ö d e r a t i o n i n d e r<br />

a l t e n I n t e r n a t i o n a l e e s v o r a u s g e s a g t h a b e n ! A n der<br />

Erfüllung ihrer eigenen Entwicklung, an der totalen Vernichtung<br />

des revolutionären Oedankenganges des Sozialismus <strong>und</strong> des<br />

Proletariats mittels der parlamentarischen Taktik — dadurch hat die<br />

Sozialdemokratie alle Hoffnungen, die auf sie gesetzt wurden,<br />

durch die Tatsachen täglicher Ereignisse vernichtet, vernichten<br />

müssen.<br />

Weder ihr, noch dem eigentlich psychologischen Pakt, den sie<br />

mit der Staatsautorität geschlossen hat, ist es gelungen, die Geistesbefreiung<br />

<strong>und</strong> den revolutionären Kampf der Massen dauernd <strong>und</strong><br />

definitiv niederzuhalten. Es ging für geraume Zeit; aber heute<br />

ist es vorbei, eben deswegen, weil die Sozialdemokratie im Bewußtsein<br />

denkender Menschen aufgehört hat, die Vertreterin des Sozialismus<br />

zu sein. In eben derselben Weise wie die Bourgeoisie das<br />

Volk um seine Revolutionsfrüchte getäuscht hat in den historischen<br />

Acht<strong>und</strong>vierzigertagen, ganz ebenso hat die Sozialdemokratie schon<br />

heute dem Volke seine wahrhaft befreiende Kampfestaktik g e -<br />

nommen, ihm sein echtes <strong>Ziel</strong>, die Frucht seines sozialen Kampfes<br />

entführt, diesem Endziel das Proletariat entfremdet. Anarchistische<br />

Kräfte sind es, denen die Zukunft die Erhaltung des Sozialismus<br />

zu danken haben wird.<br />

Wie ein Gigant mit fast übermenschlich zu nennenden Formen,<br />

so ragt Michael Bakunin heute vor unserem geistigen Auge empor!<br />

Er, dessen riesenhafte Energie <strong>und</strong> Ausdauer uns das gab, was er<br />

begründete: d i e m o d e r n e a n a r c h i s t i s c h e B e w e g u n g ;<br />

er, der den Sozialismus als praktische Aktionsbetätigung dem<br />

ringenden Proletar bot <strong>und</strong> ihm da wies, daß jeder seiner Kämpfe<br />

ein Breschelegen ins bestehende System sein, <strong>und</strong> seine Kampfesorganisation<br />

d i e G r u n d z ü g e d e r f r e i e n a n a r c h i s t i s c h e n<br />

K o m m u n e d e r Z u k u n f t b i l d e n m u ß ; er. der uns den<br />

Sozialismus aufbewahrte in seiner ursprünglichen Reinheit <strong>und</strong><br />

gründlichen Tiefe, auf daß seine Kampfgenossen, Krapotkin,<br />

Reclus, Malatesta, Cafiero ti. a. m. die Gr<strong>und</strong>lehren seiner Theorie<br />

<strong>und</strong> Aktion weiter entwickeln, uns das bieten konnten, was Bakunin<br />

stets empfand <strong>und</strong> erstrebte: d e n k o m m u n i s t i s c h e n A n a r -<br />

c h i s m u s , d i e s e v o l l e n d e t s t e E i n h e i t <strong>und</strong> H a r m o n i e<br />

ö k o n o m i s c h e r G e r e c h t i g k e i t , s o z i a l e r N o t w e n d i g -<br />

k e i t <strong>und</strong> i n d i v i d u e l l e r , w i e g e s e l l s c h a f t l i c h e r F r e i h e i t .<br />

35 Jahre des rastlosesten Kampfes hat Michael Bakunin der<br />

Sache der Befreiung dargebracht <strong>und</strong> heute, 32 Jahre nach seinem<br />

Tode, tritt sein Bild noch weit lebendiger ins Relief unserer Zeit<br />

Michael Bakunin.*<br />

„Um diese Lippen zittert des Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Vernichtungseifer, zuckt Voltaire'scher<br />

Spott, Rousseau'scher Geist<br />

<strong>und</strong> üiderot'sche Herbe".<br />

(M. E. dclle Grazie.)<br />

Große Gedanken bedürfen mehr als<br />

ihrer eigenen Kraft, um für das Leben der<br />

Menschheit zu ihrer ganzen Geltung zu<br />

gelangen. Sie wollen einen Geist, einen<br />

Apostel, der sie in ihrer Tiefe zu erfassen,<br />

bis zu ihrer letzten Grenze in den Einzelheiten<br />

zu begleiten vermag. Dennoch darf<br />

man sagen, daß sie nicht von dem Auftreten<br />

eines solchen abhängig sind; sind sie<br />

nur wirklich da, als wahres Eigentum einer<br />

Zeit, so finden sie ihn oder schaffen ihn<br />

selber.<br />

D a s w a r M i c h a e l B a k u n i n ! Ein<br />

Kind jener Zeit, die sehnend nach einem<br />

Apostel verlangte, der ihre schlummernden<br />

Gedanken erwecken sollte; ein Verkünder,<br />

Kämpfer, groß an Vernunft <strong>und</strong> Herzens-<br />

* Als einen Akt der Gerechtigkeit <strong>und</strong> des<br />

anerkennenden Dankes fühlen wir die Verpflichtung<br />

eines Hinweises auf die Materialien zu dieser kleinen<br />

Arbeit über Bakunin. Abgesehen von einigen persönlichen<br />

Quellenstudien- <strong>und</strong> erfreulichen Resultaten,<br />

sind wir für unsere intimere Kenntnis des<br />

Lebenswandels Bakunins vornehmlich dem Gen.<br />

Dr. M a x N e 1 1 1 a u verpflichtet. Fast ein Jahrzehnt<br />

opfermutiger For.scherarheit liegt in seinem großartigen,<br />

leider bis heute noch ziemlich unbekannten,<br />

weil s e l b s t hektographierten W e r k e über Michael<br />

Bakunin, das in allen größeren Bibliotheken Amerikas<br />

<strong>und</strong> Europas zu finden <strong>und</strong> in einer Auflage<br />

von nur 30 Exemplaren erschien. Eine kurze Skizze<br />

über Bakunin ist vom selben Autor auch im Verlage<br />

des „Freien Arbeiters" erschienen <strong>und</strong> für r<strong>und</strong><br />

3 0 h erhältlich; leider läßt das darin versprochene<br />

<strong>und</strong> so dringend notwendige Buchwerk über Bakunin<br />

noch immer auf sich warten. M ö g e dieser Fingerzeig<br />

unseren Lesern genügen, eine ausführlichere<br />

Bakuninbibliographie können wir an dieser Stelle<br />

nicht bieten.<br />

große, der tausendfältig das wieder zurückgab<br />

dem Oedanken, was er von ihm<br />

empfangen. In dieser Stärke seiner Auffassung<br />

<strong>und</strong> seines Empfindens, in der unerschütterlichen<br />

Festigkeit, mit welcher er<br />

Stand hielt <strong>und</strong> im Boden wurzelte, bis<br />

eine Epoche der Staatsmacht jene Bewegung<br />

des Aufbaues <strong>und</strong> darum der Zerstörung,<br />

die anarchistische Bewegung geboren<br />

— darin b e r u h t das u n v e r g ä n g -<br />

lich E r h a b e n e in der P e r s ö n l i c h k e i t<br />

v o n M i c h a e l B a k u n i n .<br />

Olücklicherweise ist unser Vorkämpfer<br />

keine muffige »historische Größe«, er hat<br />

nicht Einzug gehalten in die Stammbücher<br />

der Patentierten <strong>und</strong> Geaichten. Aber gerade<br />

deshalb ist er uns so unendlich lieb,<br />

weil es nur diejenigen sind, die arm, oder<br />

diejenigen, die längst verlernt haben, an<br />

den Geldbeutel zu schlagen, welche Bakunin<br />

feiern <strong>und</strong> seiner immer wieder gedenken.<br />

Gerade die wilde, titanische Kraft,<br />

die unbezähmbare Kühnheit dieses Mannes<br />

bilden für uns das vereinigende Solidaritätsband,<br />

u n s e r e aufbauende Stärke, u n s e r e<br />

geistige Heimatluft.<br />

Aus dem Leben von Michael Bakunin<br />

kann man eine große Wahrheit lernen:<br />

daß es nicht nur eine Philosophie des<br />

Wissens, sondern auch eine Philosophie<br />

der Tat gibt. Erobern wir uns diese letztere,<br />

<strong>und</strong> durch sie ehren wir <strong>und</strong> achten wir<br />

unseren Vorkämpfer, unseren unsterblichen<br />

M i c h a e l B a k u n i n !<br />

* *<br />

Michael Alexandrowitsch Bakunin war<br />

der älteste Sohn einer kinderreichen adeligen<br />

Familie <strong>und</strong> wurde am 8./20. Mai<br />

1814 in Prjamuchina, im Gouvernement<br />

Twer geboren. Seine Kindheit verlief sehr<br />

glücklich <strong>und</strong> nach Absolvierung des St.<br />

Petersburger Artilleriekollegs wurde er<br />

als es in der Vergangenheit, in seiner Periode, der Fall sein konnte.<br />

Denn wir, die wir uns freudig als seine Jünger <strong>und</strong> neuerstandenen<br />

Waffengefährten fahlen, wir leben in der Zeit einer kommenden<br />

Reife <strong>und</strong> Ernte all dessen, was ein Bakunin mit seinem Herzblute<br />

für uns gesäet. Der Ausblick in die Zukunft ist durch ihn klarer <strong>und</strong><br />

leuchtender geworden, indem Bakunin viele Wälle für uns stürmte,<br />

die uns sonst auch heute noch den Ausblick <strong>und</strong> <strong>Weg</strong> zur Freiheit<br />

gehemmt hätten. In unserem <strong>Ziel</strong>e: gesellschaftliche Anarchie,<br />

a l s o A u f l ö s u n g a l l e r H e r r s c h a f t s i n s t i t u t i o n e l l u n d<br />

S t a a t s f o r m e n , s o z i a l e O r d n u n g d u r c h d i e f r e i e V e r -<br />

e i n i g u n g a l l e r g e i s t i g u n d p h y s i s c h P r o d u z i e r e n d e n<br />

a u f d e r G r u n d l a g e d e r v o l l s t ä n d i g s t e n ö k o n o m i s c h e n<br />

G l e i c h h e i t , d e s K o m m u n i s m u s — darin ist die große<br />

Erfüllung der Menschheit, ihrer Zukunft <strong>und</strong> ihrer Glücksmöglichkeit<br />

gelegen. Es ist ein <strong>Ziel</strong>, dem wir unaufhaltsam zustreben, denn<br />

nicht zu bändigen ist der Freiheitsdrang im Menschen, sein Haß<br />

gegen alle Unterdrückung, gegen den Zustand sozialer Verarmung<br />

der Erzeugenden <strong>und</strong> Schaffenden, nicht lahm zu legen ist der<br />

Genius des Menschengeistes, der immer wieder aufs neue gegen<br />

die Bollwerke des Bestehenden anstürmt, uns in die Zukunft geleitet.<br />

Als ein solcher Bahnbrecher, Pionier der Anarchie, steht<br />

Michael Bakunin vor uns, er, dem wir Österreicher noch ganz insbesondere<br />

zu Danke verpflichtet sind, <strong>und</strong> wäre es auch nur, weil<br />

er auch auf unserem Boden gestritten <strong>und</strong> in Österreich fast sein<br />

Leben ausgehaucht hätte unter den Scharfrichterhänden der Staatsautorität.<br />

Aber, wie gesagt, sein Wesensgeist erlebt erfreulicherweise<br />

einen hohen Triumph, er hat nicht umsonst gelebt, das Werk<br />

seiner Lebenstat ist heute international geworden, <strong>und</strong> endlich ist<br />

es ihm auch vergönnt, in Deutsch-Österreich, im Lande klerikalen<br />

<strong>und</strong> noch halbfeudalen Herrschaftsdruckes, jene Würdigung zu<br />

empfangen, die uns eine Kampfesparole, eine Aufrüttelung <strong>und</strong><br />

Begeisterungsfackel sondergleichen, ein Ansporn im herrlich<br />

großen Streite für die vollständige Emanzipation aller Unterdrückten,<br />

Ausgebeuteten <strong>und</strong> Geknechteten.<br />

Für ihn, dessen wir heute in treuer Solidaritätsgefolgschaft<br />

gedenken, für ihn gilt jener Spruch des englischen Feuerkopfes<br />

P e r c y B y s s h e S h e l l e y , der sich wie ein Lorbeerkranz um das<br />

Haupt unseres Michael Bakunin legt:<br />

„Von Berg <strong>und</strong> W o g e <strong>und</strong> jagender Wolke<br />

Glänzt die Sonne durch Nebel <strong>und</strong> dunstigen Flor;<br />

Von S e e l e zu Seele, von Volke zu Volke,<br />

Von Stadt zu Dorf schwingt dein T a g sich empor —<br />

Wie Schatten der Nacht fliehen Skiav' <strong>und</strong> Tyrann,<br />

Wenn dein Licht zu leuchten begann!"<br />

(1832) als Fähnrich in ein in Litauen, im<br />

Gouvernement Minsk stationiertes Regiment<br />

verschickt. Dort verbrachte er zwei äußerst<br />

traurige Jahre: zum erstenmale in seinem<br />

jungen Leben sah er die Not in entsetzlichster<br />

Nacktheit vor sich. Angewidert von<br />

den Pflichten des Dienstes, legte er seine<br />

Charge nieder.<br />

In diesen Jahren hatte er viel gelesen,<br />

<strong>und</strong> die Schärfe seines Geistes manifestierte<br />

sich bereits in der Klarheit <strong>und</strong> Logik, mit<br />

welcher er die verschiedensten philosophischen<br />

Systeme umfaßte. Teils auf dem Gute<br />

seines Vaters, teils in Moskau <strong>und</strong> Petersburg<br />

lebend, studierte er mit besonderer<br />

Vorliebe die encyklopädistische Literatur;<br />

entscheidend für einige Zeit wirkte auch<br />

der literarische Cercle auf ihn, den Stankjewitsch,<br />

ein junger begabter Philosoph, um<br />

sich versammelt hatte. Dieser veranlaßte<br />

ihn zu Kantstudien <strong>und</strong> durch die Lektüre<br />

von Kants »Kritik der reinen Vernunft«<br />

lernte Bakunin, nach eigener Aussage,<br />

deutsch. Bald war er begeisterter Fichteaner<br />

<strong>und</strong> später (1837) wurde er Hegelianer. In<br />

dieser Zeit schloß er auch Bekanntschaft<br />

mit dem berühmten russischen Kunstästhetiker<br />

Belinski, kam auch mit Alexander<br />

Heizen zusammen. —<br />

Ungefähr zur selben Zeit als Karl Marx<br />

in der Redaktion der »Rheinischen Zeitung<br />

sich zum erstenmal mit materiellen Interessen<br />

beschäftigte, publizierte Bakunin anonym<br />

seine wider Shelling gerichtete Broschüre.<br />

die von Rüge in den »Deutsch. Jahrbüchern«<br />

sehr lobend besprochen ward. In letzterer<br />

täglicher Foliozeitung erschien sein glänzender<br />

Essay: »Die Reaktion in Deutschland.<br />

Ein Fragment von einem Franzosen«<br />

(17.—21. Oktober 1842), unterzeichnet Jules<br />

Elysard. In diesem Aufsatze unterwirft Bakunin<br />

die halben <strong>und</strong> schwankenden


Fre<strong>und</strong>e der Freiheit einer vernichtenden<br />

Kritik. Die Schlußworte dieses ersten sozialistischen<br />

Aufsatzes in Deutschland sind<br />

der berühmte <strong>und</strong> so oft zitierte Satz: » D i e<br />

Lust der Z e r s t ö r u n g ist z u g l e i c h<br />

eine s c h a f f e n d e Lust.«<br />

Von Berlin wandte sich Bakunin nach<br />

Dresden, woselbst er mit Herwegh zusammentraf.<br />

Schon längst hatte sich bei<br />

ihm die Umwandlung vom konservativen<br />

zum revolutionären Hegelianer vollzogen.<br />

In ungefähr dieselbe Periode fällt seine<br />

direkte Zuwendung zum Sozialismus, dessen<br />

Ideengänge er in den Persönlichkeiten von<br />

Weitling, Cabet <strong>und</strong> Proudhon zu beobachten<br />

Gelegenheit hatte. Wahrscheinlich<br />

war schon der erste Anstoß, den er geistig<br />

von Proudhon erhielt, genügend, wozu<br />

sich auch Bakunins Kenntnis der frischen<br />

<strong>und</strong> fröhlichen Jungdeutschen Bewegung<br />

in der Schweiz, die durch Marr, Standau<br />

u.a. die Vereinigung derökonomischen Ideen<br />

Proudhons mit dem Atheismus <strong>und</strong> Anarchismus<br />

erstrebte, gedanklich gesellen<br />

mochte. 1844 <strong>und</strong> die folgenden Jahre finden<br />

wir Bakunin in Paris, woselbst er auch Marx<br />

kennen lernte, doch gleich anfangs das ehrgeizige<br />

Wesen dieses Mannes mied.<br />

Von Rußland traf ihn die Nachricht,<br />

daß er seines Vermögens durch den Staat<br />

beraubt <strong>und</strong> zu lebenslänglicher Verschickung<br />

nach Sibirien verurteilt wurde —<br />

all dies, weil er sich geweigert hatte, nach<br />

seinem Vaterlande zurückzukehren. Nach<br />

einer Rede, die er im Jahre 1847 in einer<br />

Polenversammlung hielt <strong>und</strong> die voll revolutionären<br />

Hasses wider das offizielle Rußland<br />

ist, wurde er aus Paris ausgewiesen.<br />

Über die Ausweisung Bakunins kann<br />

man unmöglich sprechen, ohne eines anderen<br />

Umstandes, der dabei mitwirkte, Erwähnung<br />

zu tun. Sie wurde veranlaßt durch<br />

den russischen Gesandten Kisseleff. Wir<br />

wissen bereits, daß Bakunin gleich anfangs<br />

dem Charakter von Marx keine Sympathien<br />

entgegenzubringen vermochte; er stand dem<br />

Hause Marx auffallend ferne. Im Zusammenhang<br />

damit ist es interessant zu wissen,<br />

daß Kisseleff ein intimer Fre<strong>und</strong> des Hauses<br />

des preußischen Regierungsrates Baron von<br />

Westphalen war. Die Tochter dieses Hauses,<br />

Jenny von Westphalen, war die Gattin<br />

von Marx.<br />

* *<br />

In einem Briefe an E m m a H e r w e g h ,<br />

datiert vom 6. September 1847, sagte Bakunin<br />

scherzend:<br />

»Ich aber warte auf meine, oder wenn<br />

ihr wollt, auf unsere gemeinschaftliche Frau<br />

die R e v o l u t i o n . Nur dann werden<br />

wir wirklich glücklich, d. h. wir selbst sein,<br />

wenn der ganze Erdboden im Brande steht.«<br />

Diese halb scherzenden, halb prophetischen<br />

Worte sollten sich bald erfüllen <strong>und</strong><br />

zu keiner Zeit haben wir schöner Gelegenheit,<br />

die Übereinstimmung zwischen Trachten<br />

<strong>und</strong> Handeln in dieser großen Revolutionsgestalt<br />

zu bew<strong>und</strong>ern, als gerade in<br />

den Jahren 1848 <strong>und</strong> 1849, da Bakunin<br />

sein Möglichstes tat, damit wirklich »der<br />

ganze Erdboden im Brand« stehe. Seines<br />

<strong>Ziel</strong>es war er sich damals schon vollständig<br />

klar, denn aus dem »roten Jahre« stammt<br />

ein Brief von ihm, der an Georg Herwegh<br />

gerichtet ist, <strong>und</strong> in dem er ausdrücklich<br />

darlegt, daß seine Hoffnung die Anarchie,<br />

also die Beseitigung der Staaten sei!<br />

Im Juni des Jahres 1848 sehen wir<br />

Bakunin auf dem Prager Slavenkongresse,<br />

nachdem er vorher definitiv mit Marx <strong>und</strong><br />

Engels gebrochen hatte, die schon einige<br />

Monate später dafür bittere Rache an ihm<br />

nahmen. Wie wenig er mit den Tendenzen<br />

des obigen Kongresses zu tun hatte; wie<br />

klar er erkannte, daß es Rußland war,<br />

welches das eigentlich entscheidende Moment<br />

zwischen dem Kampf der Reaktion<br />

<strong>und</strong> Revolution des 48er Jahres, die Hoffnung<br />

einer russischen Allianz <strong>und</strong> die<br />

Furcht vor einer Invasion, bildete, geht aus<br />

seinen kühnen Artikeln in der »Dresdener<br />

Zeitung« hervor, die anfangs 1849 erschienen<br />

<strong>und</strong> die ganze militärische Inkompetenz<br />

Rußlands so trefflich darstellten,<br />

daß sie sogar heute noch die besten Erklärungen<br />

für das russische Debacle in der<br />

Mandschurei liefern könnten. — Doch vorher,<br />

6. Juli 1848, stand in der von Marx,<br />

Engels etc. geleiteten »Neuen Rheinischen<br />

Zeitung« zu lesen, daß die Dichterin George<br />

Sand die Beweise besäße, welche darlegen,<br />

Bakunin wäre ein Spion der russischen Regierung.<br />

Durch einen Brief, den sich Bakunin<br />

von der Sand sofort verschaffte, in dem<br />

sie völlig in Abrede stellte, sich jemals so<br />

geäußert zu haben, wie ihr zugeschrieben<br />

wurde, wurde diese Verleumdung niedergeschlagen,<br />

allein sie war immerhin im<br />

Stande, Bakunins Tätigkeit vorderhand zu<br />

hindern.<br />

In der Betätigung Bakunins an der<br />

Dresdener Mairevolution erreicht seine revolutionäre<br />

Teilnahme an den Sturmjahren<br />

ihren Höhepunkt. Leider schloß er sich erst<br />

am 6. Mai der Bewegung an, zuerst bewogen<br />

durch Heubner — ein Mitglied der<br />

provisorischen Regierung — dem er in<br />

Fre<strong>und</strong>schaft zugetan war. Was Bakunin<br />

aber für die Stadt bedeutete, das kann man<br />

zusammenfassen in den wenigen Worten,<br />

die ich jenem historischen Dithyrambus<br />

auf Bakunin entnehme, den A d o l p h S t r e c k -<br />

fuß in dem 1850 zu Berlin erschienenen<br />

»Volks-Archiv« publizierte, in dem er sagt:<br />

» . . . Von diesem Augenblicke (als Bakunin<br />

sich der Revolution anschloß) aber<br />

wurde er auch ihr Haupt <strong>und</strong> ihre Seele.<br />

Sei es nun, daß der Gr<strong>und</strong> davon entweder<br />

Bakunins persönliches Übergewicht oder<br />

die bloße Fassungslosigkeit seiner Kollegen<br />

war: genug, mit Bakunins Auftreten zeigte<br />

die Revolution jene Energie, welche im<br />

Anfang vielleicht den Sieg, nun aber nur<br />

noch ein rühmliches Ende erringen konnte.<br />

Die Verteidigung, der Angriff, die Propaganda<br />

übers flache Land, das alles gewann<br />

unter Bakunins Einfluß ein frischeres Aussehen<br />

. . .«<br />

Allein es war zu spät. Dieweil Richard<br />

Wagner steckbrieflich verfolgt wurde, ward<br />

Bakunin in der Nacht vom 9.— 10. Mai<br />

1849 von sächsischen Krämern überfallen<br />

<strong>und</strong> den preußischen Soldaten ausgeliefert.<br />

*<br />

Es sind nicht Jahre des Martyriums,<br />

die nun für Bakunin beginnen. Er gehörte<br />

nicht zu den schwachen <strong>und</strong> schwächlichen<br />

Prügeljungen der Geschichte, die das<br />

Schafott oder den Scheiterhaufen besteigen<br />

müssen, ohne sich dieser persönlichen<br />

Rache, welche ihnen das herrschende<br />

System widerfahren läßt, überhaupt würdig<br />

gemacht zu haben <strong>und</strong> wirklich gefährlich<br />

gewesen zu sein. Bakunin tritt uns entgegen<br />

als ein Mann, der niemals Märtyrer, s t e t s<br />

nur ein O p f e r der s t a a t l i c h e n Barb<br />

a r e i gewesen; ein Opfer, an dem sie in<br />

ohnmächtigem Grimm ihre kaltblütig berechnete<br />

Grausamkeit ausübten, das sie aber<br />

fürchteten <strong>und</strong> vor dem sie mit Recht<br />

zitterten, zagten.<br />

Zweimal zum Tode verurteilt, wurde<br />

das Urteil über ihn zum drittenmale in<br />

lebenslängliche Zuchthausstrafe umgewandelt.<br />

Allein schon im Jahre 1850 sollte eine<br />

Wandlung seines entsetzlichen Schicksals<br />

sich vollziehen. <strong>Weg</strong>en seiner Beziehungen<br />

zu den konspirativen Organisationen in<br />

Böhmen, hauptsächlich Prag, wurde er an<br />

Österreich ausgeliefert. Seine Haft war eine<br />

ungemein harte. Im Mai 1851 fand seine<br />

dritte Verurteilung zum Tode (durch den<br />

Strang) statt. Wieder retteten ihn glückliche,<br />

unverhoffte Zufälle. Zuerst begnadigt zu<br />

lebenslänglichem, schwerem Kerker, begann<br />

nun Rußland ihn für sich zu reklamieren.<br />

Bald war er lebendig begraben in der<br />

schauerlichen Peter-Paul-Festung, von da<br />

wurde er überführt nach der Schlüsselburg,<br />

<strong>und</strong> sein ganzes Denken <strong>und</strong> Empfinden<br />

konzentrierte sich nun auf den Gedanken:<br />

entweder eine Rettung aus diesen entsetzlichen<br />

Qualen, oder der Tod. Glücklicherweise<br />

gelang es 1857, für ihn eine Verschickung<br />

nach Westsibirien zu erwirken.<br />

In Sibirien ging es ihm später ziemlich<br />

erträglich. Er verheiratete sich dort mit<br />

der Tochter eines polnischen Exilierten<br />

namens Antonie Wassiliewicz Kwiatkowski.<br />

Endlich im Jahre 1861 konnte er nach<br />

mancherlei Überwindung von großen<br />

Schwierigkeiten seine Flucht bewerkstelligen;<br />

über Japan <strong>und</strong> Kalifornien gelangte<br />

er Ende des Jahres in London an. -<br />

Im Jahre 1853, als Bakunin in der<br />

sächsischen Festung Königstein in Ketten<br />

lag <strong>und</strong> sein Todesurteil erwartete; lanzierte<br />

Marx abermals jene Beschuldigung in die<br />

Presse, welche George Sand bereits nachdrücklichst<br />

zurückgewiesen hatte. Über den<br />

Mann, der über zwölf Jahre seines Lebens<br />

in deutschen, österreichischen, russischen<br />

Gefängnissen <strong>und</strong> in Sibirien auf dem Altar<br />

der Freiheit niedergelegt, konnten Marx<br />

<strong>und</strong> seine Kreise solch eine Beschuldigung<br />

ausstoßen! Derselbe Marx hatte im Jahre<br />

1874 den traurigen Mut zu schreiben: »Die<br />

revolutionäre Vergangenheit des permanenten<br />

Bürgers Bakunin war nicht ruhmreich<br />

genug . . .« etc.* Und erst neuerdings beeilen<br />

sich die M<strong>und</strong>stücke der sozialdemokratischen<br />

Partei wieder, das Andenken an<br />

die revolutionäre Vergangenheit des herrlich-großen<br />

Revolutionärs Michael Bakunin<br />

mit dem Schlamm der Verleumdung zu<br />

besudeln.**<br />

Wohl selten hat ein Mann es verstanden,<br />

mit solch kraftvoller Energie wie<br />

Bakunin dies tat, die Gesamtsumme seines<br />

Lebens, seines idealen Strebens <strong>und</strong> Denkens<br />

noch in den letzten zehn Jahren seines persönlichen<br />

Wirkens mit gleicher Kühnheit <strong>und</strong><br />

Heldengröße zum Ausdruck zu bringen,<br />

Die letzte Periode seines grandiosen Lebens<br />

findet ihn ungebrochen, nein, neuverjüngt,<br />

denn er hat sich vollkommen abgewendet<br />

von irgend welchen Spezialanschauungen<br />

über die Frage des <strong>Weg</strong>es <strong>und</strong> der Taktik,<br />

für ihn gibt es nur mehr das revolutionäre<br />

Proletariat <strong>und</strong> die direkte Aktion gegen<br />

den Staat <strong>und</strong> das Privateigentum. Die Revolte<br />

der Massen, die Einzeltat des Pioniers,<br />

die Zusammenfassung der mutigsten revolutionären<br />

Elemente, das gründlichsteStudium<br />

in der Schule des Lebens mit seinen vielen<br />

Kämpfen, die entschlossenste Zurückweisung<br />

der Tücke <strong>und</strong> Lüge — damit sind<br />

seine letzten Jahre ausgefüllt, <strong>und</strong> durch sie<br />

erringt er eine unvergleichlich hohe Bedeutung<br />

für unsere modernen sozialen<br />

Kämpfe: denn B a k u n i n ist der V a t e r<br />

der m o d e r n e n a n a r c h i s t i s c h e n B e -<br />

w e g u n g , die sich wohl in ihren Mitteln<br />

vielfach geändert hat, in ihrem <strong>Ziel</strong> <strong>und</strong><br />

Streben aber in ungleich entwickelterem<br />

Grade ihrem Begründer treu geblieben ist.<br />

In Italien war er es, der den Samen<br />

des revolutionären Sozialismus zuerst ausstreute,<br />

<strong>und</strong> im Gegensatze zu Mazzini<br />

gründete er dorten die »Allianz der sozialen<br />

Demokratie«; Männer vom Schlage eines<br />

Malatesta, eine herrliche Persönlichkeit wie<br />

Carlo Cafiero u. a. schlossen sich ihm an<br />

<strong>und</strong> waren der beste Rückhalt für seine<br />

Propaganda. Auf dem ersten Kongreß der<br />

Freiheits- <strong>und</strong> Friedensliga, abgehalten in<br />

Genf 1867, ertönte seine Stimme im Sinne<br />

* „Ein Komplott gegen die Intern." ( S . 9.)<br />

** Vgl. Gustav J a e c k s : „Die Internationale"<br />

Leipzig 1904.


der anarchistischen Ideale, er wies auf die<br />

Unzulänglichkeit jeder bourgeoisen Halbheit<br />

hin.<br />

Nun aber setzt der große Kampf ein,<br />

der sich entspann zwischen Bakunin <strong>und</strong><br />

Marx, ein Kampf, aus dem der erstere damals<br />

als formeller Sieger hervorging, der<br />

in nächster Zukunft jedoch endgiltig die<br />

Siegesentscheidung, den endlichen Triumph<br />

jenen überlassen wird, die sich als die Anhänger<br />

Bakunins betrachten dürfen — den<br />

modernen kommunistischen Anarchisten im<br />

Gegensatz zur Sozialdemokratie. Es ist verfehlt,<br />

den Kampf zwischen beiden Giganten<br />

unter dem Gesichtswinkel eines persönlichen<br />

Literatengezänks zu betrachten, denn<br />

nicht mehr noch weniger war es, als der<br />

erste große Kampf zwischen dem S t a a t s -<br />

kommunismus <strong>und</strong> resp. wider die Prinzipien<br />

der Freiheit, der Anarchie, wie sie<br />

heute formuliert sind im anarchistischen<br />

Kommunismus.<br />

Als seine Versuche, die Freiheits- <strong>und</strong><br />

Friedensliga als eine revolutionäre Organisation<br />

der »Internationalen«anzugliedern, vergeblich<br />

blieben, trat Bakunin aus derselben<br />

<strong>und</strong> mit ihm u. a. Elisee Reclus, Aristide<br />

Rey, Fanelli etc. aus, <strong>und</strong> sie gründeten in<br />

Genf die »Intern. Allianz der soz. Demokratie«.<br />

Anfangs handelte es sich um Formalitäten,<br />

aber schließlich setzte Marx er<br />

doch durch, daß die Allianz sich formell<br />

auflosen mußte. Jedoch ließen die persönlichen<br />

Beziehungen der Fre<strong>und</strong>e eine tatsächliche<br />

Auflösung gar nicht zu, <strong>und</strong> so blieb<br />

denn im Schoß der »I.« die »I. A.« mit<br />

ihrem anarchistisch-atheistischen Programme<br />

bestehen. Man mag vielleicht fragen, was<br />

Bakunin damit bezweckte. Es geschah dies<br />

aus dem einfachen Gr<strong>und</strong>e, weil es seinem<br />

kühnen Gedankenflug nicht genügen wollte,<br />

das Proletariat bloß auf ökonomischem Kampfesfelde<br />

zu assistieren. Ihm handelte es<br />

sich darum, die revolutionäre Aktion wirken<br />

zu lassen, durch ihre propagandistische<br />

Entfaltung das Volk zu kühnen Taten mitzureißen.<br />

Kurz, die Allianz sollte eine revolutionäre<br />

Körperschaft sein, dieweil die<br />

»I.« eben nur eine große Solidaritätsgewerkschaft<br />

darstellte. Und gerade die Tatsache,<br />

daß Bakunin ihrer geheimen Existenz zustimmte,<br />

lehrt, wie wenig dieser Heldengestalt<br />

der sozialen Revolution an dem<br />

persönlichen Ansehen lag.<br />

* *<br />

*<br />

Mit steigender Erbitterung gewahrte<br />

Marx, wie sehr Bakunins Einfluß in der<br />

»I.« im Zunehmen begriffen, umsomehr<br />

als letzterer über bedeutende Rednergaben<br />

verfügte, welche Marx bekanntlich mangelten.<br />

Aber noch sollte der Kampf nicht<br />

zum endlichen, unvermeidlichen Austrag<br />

kommen. Bakunin übersiedelte nach Locarno,<br />

<strong>und</strong> seine Briefe an Ogarjow zeigen,<br />

wie glücklich er sich dort fühlte. Aus<br />

Geldnot machte er sich an die russische<br />

Übersetzung der »ökonomischen Metaphysik«,<br />

wie er das Marxsche »Kapital«<br />

nannte.<br />

Da kam der deutsch-französische Krieg<br />

mit seinen bismärckischen Nackenschlägen<br />

für Frankreich, es kam die Pariser Kommune.<br />

Schon vorher hatte James Guillaume,<br />

in intimer Fre<strong>und</strong> von Bakunin, ein Manifest<br />

erlassen, in dem er dazu aufforderte,<br />

der französischen Republik zu helfen wider<br />

Preußen <strong>und</strong> seine Blut- <strong>und</strong> Eisenmacht.<br />

Bakunin stimmte mit dem Gedankengang<br />

dieses Manifestes vollständig überein. Der<br />

Generalrat der »I.« — also Marx — natürlich<br />

nicht; erst später gewann Marx sicheren<br />

Boden behufs definitiver Stellungnahme<br />

zur Kommune etc., unter den Füßen. Mittlerweile<br />

ist Bakunin nicht müßig, er verfolgt<br />

genau die Verhältnisse <strong>und</strong> Zuspitzung<br />

der Dinge. (»Briefe an einen Franzosen über<br />

die gegenwärtige Krisis«). Er reiste nach<br />

Lyon, tat dort sein Möglichstes, um trotz<br />

des Verrates von Cluseret einen Aufstand<br />

herbeizuführen. Bitter enttäuscht mußte er<br />

abreisen. Verkleidet, mit abgeschnittenem<br />

Kopfhaar, rasiertem Antlitz, das durch eine<br />

große blaue Brille entstellt war, kehrte er<br />

wieder nach der Schweiz zurück.<br />

1871 erschienen zwei Broschüren von<br />

Bakunin: »Das Knuto-germanische Kaiserreich<br />

<strong>und</strong> die soziale Revolution«; dann<br />

»Die politische Theologie Mazzinis <strong>und</strong> die<br />

»I.« Das versprochene große Werk über<br />

»Gott <strong>und</strong> der Staat« ist niemals beendet<br />

worden, doch selbst das Fragment, welches<br />

wir besitzen, ist unschätzbar wertvoll für<br />

die Idee der Anarchie. Wer ihm einen<br />

Vorwurf daraus machen wollte, daß es<br />

nur ein Fragment sei, dem antwortete er<br />

stolz: »Auch mein Leben ist ein Fragment«.<br />

* *<br />

*<br />

Marx wollte ein Ende machen. Bakunins<br />

Einfluß, wie er z. B. auf dem Kongreß<br />

zu Sonvillier (1871) zu Tage trat, war<br />

ihm unerträglich geworden. Nach Herausgabe<br />

eines Zirkulars über »Die behaupteten<br />

Spaltungen in der »I.«, nach unzähligen Verleumdungsattacken<br />

durch Borckheim, Liebknecht,<br />

Bebel, Hess, Utin etc., nach Duldung<br />

der gemeinsten Infamien verübt an Bakunin<br />

nach alldem stand dieser Mann hocherhobenen<br />

Hauptes da, unüberwindlich <strong>und</strong><br />

in organisatorischer Hinsicht erfolggekrönt.<br />

Bakunins Tätigkeit in der »l.« ist es zu<br />

danken, daß es Marx niemals gelang, wie<br />

er es mit allen erdenklichen Mitteln bezweckte,<br />

die große Organisation zu einer<br />

parlamentarisch-politischen Sekte herabzuwürdigen,<br />

den Parlamentarismus obligatorisch<br />

in der »l.« zu machen.<br />

Aber länger konnte Marx es nicht aushalten,<br />

<strong>und</strong> da es ihm nicht mit ehrlichen<br />

Mitteln gelang, wider seinen Widersacher<br />

aufzukommen, mußten die unehrlichen herhalten.<br />

Marx berief einen Kongreß nach<br />

dem Haag ein; er wußte, daß Bakunin, der<br />

in der Schweiz war, der Zutritt zu irgend<br />

einem der umliegenden Länder verwehrt<br />

war. Der Kongreß war »gepackt«, d. h.<br />

zahlreiche falsche Mandate waren von Marx<br />

ausgestellt worden <strong>und</strong> durch eine Kommission<br />

von fünf Männern, in der sich, wie<br />

nachträglich erwiesen, zwei Polizeispione<br />

befanden, wurden Bakunin <strong>und</strong> Guillaume<br />

aus der »I.« ausgeschlossen, wie auch die<br />

Juraföderation suspendiert. Die Anschuldigungen,<br />

welche Marx wider Bakunin erhob,<br />

sind heute in ihrer ganzen erbärmlichen<br />

Nichtigkeit <strong>und</strong> Gemeinheit allbekannt <strong>und</strong><br />

leicht nachweisbar.*<br />

Marx hatte äußerlich gesiegt, doch in<br />

der Wirklichkeit verloren. Der Ausschluß<br />

der energischesten Elemente tötete die »I.«<br />

von 1864. Nur mehr der »bakunistische<br />

Flügel bestand noch jahrelang weiter.<br />

Es bleibt uns noch übrig, die fernere<br />

Tätigkeit Bakunins zu skizzieren. Aber<br />

einige Andeutungen müssen genügen. In<br />

Italien, in Spanien <strong>und</strong> indirekt für die<br />

russische Bewegung, für alles <strong>und</strong> überall<br />

arbeitete er noch, mit Einsetzung seines<br />

Lebens, unermüdlich an seinem Lebenswerke,<br />

an dem revolutionären Gedeihen<br />

der Revolution. Sie allein bildete den Gedanken,<br />

der ihn über die materielle Not<br />

<strong>und</strong> Misère des Tages erhob. Die letztere<br />

wurde manchmal gelindert durch die Hilfe<br />

der Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Gefährten. Am 9. Oktober<br />

begab sich Bakunin nach Lugano <strong>und</strong> lebte<br />

dort bis kurz vor seinem Tode. Die Wassei-<br />

* W i r verweisen bei dieser Gelegenheit auf<br />

das glänzende <strong>und</strong> vorzüglich - ausführliche Geschichtswerk<br />

unseres alten Kampfpioniers J a m e s<br />

G u i l l a u m e über „ D i e I n t e r n a t i o n a l e " . Dokumente<br />

<strong>und</strong> Gedenkblätter. (1864—1874), Verlag<br />

der Société Nouvelle de Librairie et D'Edition.<br />

Rue de Vaugirard 101, Paris, das drei Bände umfassen<br />

wird <strong>und</strong> von dem der I. <strong>und</strong> II. Band bereits<br />

vorliegen.<br />

sucht, als Folge einer schweren Herzkrankheit,<br />

beschleunigte diesen, <strong>und</strong> am 1. Juli<br />

1876 hatte sein Herz, das stets dem Idealen<br />

<strong>und</strong> Erhabenen entgegenpochte, aufgehört<br />

zu schlagen.<br />

* *<br />

*<br />

Michael Bakunins Leben war der unaufhörliche<br />

Kampf wider jede Autorität,<br />

<strong>und</strong> seine Absicht läßt sich ausdrücken in<br />

dem Satze: Wo Zentralisation herrscht,<br />

herrscht Dummheit! Treu ist er dieser Idee<br />

immer verblieben; in ihm finden wir einen<br />

Mann, der mit dem Erkennen, mit der reinen<br />

Anschauung der Welt <strong>und</strong> dem heiligsten<br />

Glauben an die Zukunft der Menschheit<br />

<strong>und</strong> seines Ideals die Tat verband,<br />

nicht im Winkel grübelnd verkommen,<br />

sondern durch die Pandestruktion die Wiedergeburt<br />

der Gesellschaft herbeiführen<br />

wollte; er ist eine Kampfesgestalt, die umso<br />

erhabener, als ihre Sturmestage in stetem<br />

Kampfe wider persönliches Mißgeschick <strong>und</strong><br />

materielles Elend verlaufen, die aber Bakunin<br />

niemals von der g e r a d e n Bahn des<br />

wahren Befreiungskampfes abzubringen vermochten,<br />

die Bahn, auf der das persönlichste<br />

Mitleiden <strong>und</strong> Mitertragen all dessen,<br />

was das Volk drückt, gelegen ist.<br />

Lernen wir Bakunin gut verstehen, begeistern<br />

wir uns an der Heldengröße des<br />

Kämpfers <strong>und</strong> herrlichen Menschen; gewiß<br />

wird es uns dann gelingen, all die Kraft, den<br />

Geist <strong>und</strong> die schöpf erische Tat des Volkes zusammenzuschließen<br />

— zur großen Schöpfung,<br />

zur Erzeugung des Stromes, der alle Quellen<br />

des Volkes zur befreienden Tat mit sich<br />

fortreißt, zu einem Werden der Gerechtigkeit,<br />

der Gleichheit <strong>und</strong> Freiheit.<br />

Pierre Ramus.<br />

Michael Bakunin <strong>und</strong> Karl<br />

M a r x .<br />

Es ist gewiß merkwürdig, daß man<br />

Bakunin immer lieber gewinnt, je mehr<br />

man ihn kennen lernt, sich mit ihm beschäftigt;<br />

im Gegensatze zu Marx, der uns<br />

bei näherer Bekanntschaft immer kleiner<br />

erscheint <strong>und</strong> in unserer Würdigung wird.<br />

Was Bakunin in einem seiner letzten Briefe<br />

schrieb: »Will die r e v o l u t i o n ä r e Tätigkeit<br />

ein w i r k u n g s v o l l e s R e s u l t a t haben,<br />

dann darf sie ihre S t ü t z e niemals<br />

in g e m e i n e n <strong>und</strong> n i e d e r e n Leid<br />

e n s c h a f t e n s u c h e n ; sie muß e s wohl<br />

v e r s t e h e n , daß k e i n e R e v o l u t i o n o h n e<br />

h ö h e r e , s e l b s t v e r s t ä n d l i c h m e n s c h -<br />

l i c h e I d e a l e j e zum S i e g e k o m m e n<br />

kann« — dem Tiefsinne dieses Satzes hat<br />

Bakunin stets nachgestrebt, ihm sein ganzes<br />

Leben gewidmet. Und darum ist er uns so<br />

teuer als Vorkämpfer, selbst mit seinen ihm<br />

nachgesagten Fehlern, ja oftmals gerade<br />

durch diese, ob dieser.<br />

Marx tritt uns entgegen wie ein. moderner<br />

M o s e s . Auf zwei steinernen Tafeln bot<br />

er uns den Marxismus, seine Lehre dar,<br />

<strong>und</strong> haben uns auch seine theoretischen<br />

Gesetze im Stich gelassen, übrig blieb dennoch<br />

das Eherne <strong>und</strong> Unbeugsame der<br />

Steintafeln. Bakunin wieder gleicht dem<br />

Satan, den er so köstlich schilderte in seinem<br />

großartigen Werke über »Das knuto-germ<br />

a n i s c h e K a i s e r r e i c h <strong>und</strong> die s o z i a l e<br />

R e v o l u t i o n « (1870 — 1871), als »den<br />

geistigen Gebieter aller Revolutionäre der<br />

Vergangenheit, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft,<br />

den wirklichen Urheber der menschlichen<br />

Befreiung laut dem Zeugnis der Bibel, den<br />

Verneiner des himmlischen Reiches, wie<br />

wir jede irdische Herrschaft verleugnen, als<br />

den Schöpfer der Freiheit«, weil der Empörung.<br />

In Marx <strong>und</strong> Bakunin haben wir es<br />

mit zwei Titanen zu tun, <strong>und</strong> so darf es<br />

nicht W<strong>und</strong>er nehmen, wenn der Kampf<br />

zwischen ihnen titanisch geführt wurde.


Als Mazzini den Arbeitern zurief:<br />

»Seid gewarnt vor der Internationalen Arbeiterassoziation!<br />

S i e ist der Teufel!« —<br />

da nahm Bakunin diese Bezeichnung an,<br />

<strong>und</strong> er sagte: »Gewiß, wir sind die Partei<br />

des Teufels. Aber was will dieser Teufel<br />

eigentlich haben? Er behauptet folgendes:<br />

1. Jeder Arbeiter soll den vollen Ertrag<br />

seiner Arbeit haben.<br />

2. Alle Reformen <strong>und</strong> Revolutionen<br />

sind wertlos, so lange die arbeitenden<br />

Massen im wirtschaftlichen Elend verbleiben.<br />

3. Daß alle politischen Forderungen<br />

hinter den w i r t s c h a f t l i c h e n zu stehen<br />

kommen.<br />

4. Daß die Arbeiter sich s e l b s t befreien<br />

müssen.<br />

5. Daß dem Proletariat, wenn national<br />

<strong>und</strong> international gut <strong>und</strong> solidarisch organisiert,<br />

keine Macht der Welt Widerstand<br />

zu leisten vermag.<br />

6. Daß das Proletariat d i e A b -<br />

schaffung j e d e r H e r r s c h a f t anstreben<br />

muß.<br />

7. Daß die Arbeiter aller Länder brüderlich<br />

miteinander verb<strong>und</strong>en sind; das<br />

Vaterland des Proletariats ist n i c h t das<br />

Land seiner Geburt, sondern das internationale<br />

Feld der Arbeit.<br />

8. Daß, weil die Unterdrückung der<br />

arbeitenden Klasse international ist, auch<br />

die Befreiung international sein muß.<br />

All dieses will <strong>und</strong> behauptet der<br />

»Teufel« — <strong>und</strong> wir mit ihm!«<br />

Bakunin war ein Mann der Tat, <strong>und</strong><br />

nie war er so glücklich, so ganz in seiner<br />

Kraftfülle, wie dann, wenn er ungehemmt<br />

seine großen Aktionen ins volle Menschenleben<br />

hineintreiben konnte. Aktion <strong>und</strong> Tat,<br />

sie bildeten die Atmosphäre seines Lebens,<br />

wie er es selbst gemeint.<br />

Viel des Romantischen finden wir in<br />

diesem Heldenleben. Oftmals wird man<br />

vom Gedanken überrascht: »Wie ist es nur<br />

möglich, daß ein einzelner Mensch all dies<br />

getan <strong>und</strong> geleistet hat? Wenn es von jemanden<br />

gilt, ihn eine internationale Figur<br />

nennen zu dürfen, dann ist es der Fall mit<br />

Bakunin. Es ereignet sich höchst selten,<br />

daß ein Mensch z w e i m a l zum Tode, einmal<br />

zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe<br />

verurteilt wird seinen Feinden <strong>und</strong><br />

Widersachern, im steten Kampf wider sie,<br />

entkommt . . . Ja, Bakunins Leben ist ein<br />

Roman, <strong>und</strong> wenn man es liest, wird man<br />

sich sagen, daß man solch ein Leben wohl<br />

leicht schildern kann, daß es aber schier<br />

unmöglich ist, all dies in einem einzigen<br />

Menschenleben zu erdulden <strong>und</strong> zu erleben.<br />

Von mancher Seite wird es heute versucht,<br />

die Gegensätze zwischen Bakunin<br />

<strong>und</strong> Marx zu verwischen; es wird behauptet,<br />

daß sie eigentlich dasselbe gewollt hätten;<br />

man will die Antithese dieser beiden Männer<br />

in eine Synthese auflösen.<br />

Ich bin der Meinung, daß wir es der<br />

Ehre unseres Michael Bakunin schulden,<br />

energischen Protest wider solches Vorhaben<br />

einzulegen. Freilich, auch mit Temperamentsunterschieden<br />

haben wir es in<br />

der Beurteilung beider Männer zu tun;<br />

aber eigentlich lag der wahre Unterschied<br />

viel tiefer. Selbst dann, wenn es Bakunin<br />

nicht ganz klar gewesen wäre, um was es<br />

sich handelte, wir wissen es doch ganz<br />

genau: Es h a n d e l t e sich um zwei<br />

g r u n d v e r s c h i e d e n e W e l t - <strong>und</strong> Leben'sanschauungen,<br />

die sich schroff wider einander<br />

aufpflanzten.<br />

Karl Marx ist der Vertreter des sozialistischen<br />

Autoritätsprinzips, Michael Bakunin<br />

der Vertreter der Lehre sozialistischer<br />

Autoritäts- <strong>und</strong> Herrschaftslosigkeit, der<br />

vollständigen Freiheit.<br />

Dies müssen wir stets im Auge behalten,<br />

es ist meiner Meinung nach die<br />

Hauptsache.<br />

Bakunin war eine magnetische Kraft,<br />

die alles anzog, womit er in Berührung<br />

kam. Darum fürchtete Marx seinen Einfluß<br />

so sehr. Vielleicht ist Bakunin niemals<br />

besser geschildert worden als von seinem<br />

Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Kampfesgenossen Alexander<br />

Herzen, der in seinen »Nachgelassenen<br />

Arbeiten« sich wie folgt über ihn äußert:<br />

». . . Seine Aktivität, wie sein Nichtstun,<br />

seine mächtige Statur, sein Appetit —<br />

alles nahm bei ihm riesenhafte Dimensionen<br />

an <strong>und</strong> überragt alles, was man bei anderen<br />

antrifft. Seine Figur ist die eines Titaten mit<br />

Löwenkopf, mit einem prachtvollen Haarwuchs.<br />

Fünfzig Jahre alt, bleibt er der Student<br />

von Moskau; ein Bohemien der Bourgognestraße<br />

in Paris; sorglos wegen der Zukunft,<br />

mit Geringschätzung das Geld behandelnd,<br />

das er mit vollen Händen hergibt <strong>und</strong> herleiht,<br />

wenn er es hat, von allen Seiten<br />

borgend, wenn er nichts mehr besitzt; <strong>und</strong><br />

das alles mit derselben Einfachheit, die er<br />

auch zeigte, wenn er alles, was er besaß,<br />

weggab <strong>und</strong> sich nicht genügend zurückbehielt,<br />

um sich Zigaretten <strong>und</strong> Tee kaufen<br />

zu können.«<br />

Diese Lebensweise genierte Bakunin<br />

gar nicht. Seiner ganzen Natur nach war<br />

er ein Ungeb<strong>und</strong>ener <strong>und</strong> Unzähmbarer.<br />

Wenn man ihn gefragt hätte, was er denn<br />

eigentlich unter dem Worte Eigentum verstehe,<br />

er hätte sicherlich mit einer Variation<br />

der Worte Lalandes geantwortet, mit denen<br />

dieser Napoleon auf dessen Frage nach der<br />

Existenz Gottes entgegnete: »Sire, ich habe<br />

während all meiner Untersuchungen nie<br />

das Bedürfnis gefühlt, d a s zu untersuchen.«<br />

In Bakunins ganzer Veranlagung entdecken<br />

wir in allen seinen Zügen etwas Kindlich-<br />

Reines, etwas Aufrichtiges, Einfaches, was<br />

ihm eine besondere Liebenswürdigkeit verlieh<br />

<strong>und</strong> wodurch er alle Welt an sich zog<br />

— Starke wie Schwache, oftmals zu seinem<br />

eigenen Schaden. Nur die Stolzen <strong>und</strong> Hochmütigen<br />

mieden ihn <strong>und</strong> wollten von Bakunin<br />

nichts wissen, weil er sich vor ihnen<br />

nicht verbeugte. —<br />

Wir können es gerne zugestehen, daß<br />

Bakunin auch viele Fehler besaß; aber was<br />

sind sie, wie klein im Vergleiche zu seinen<br />

großen <strong>und</strong> guten Eigenschaften. Richtig<br />

sagt Herzen wieder:<br />

»Im Gr<strong>und</strong>e seines Wesens findet man<br />

den Keim einer kolossalen Aktivität . . .<br />

Bakunin hat in sich die Eigenschaften eines<br />

Agitators, eines Volkstribunen, eines Apostels,<br />

eines Kämpfers . . . Man setze ihn,<br />

wohin man will — unter die Anabaptisten<br />

oder Jakobiner, neben Anarcharsis Cloots<br />

oder Babeouf, i m m e r j e d o c h auf die<br />

linke S e i t e — <strong>und</strong> er wird die Massen<br />

mit sich fortreissen, wird Einfluß ausüben,<br />

auf die Bestimmung der Völker . . .«<br />

Wir, die wir freudig es bekennen, auf<br />

den Schultern dieses Riesen zu stehen, entbieten<br />

ihm unsere Solidarität, Bruderliebe<br />

<strong>und</strong> Gefolgschaft.<br />

F. Domela Nieuwenhuis.*<br />

F. D. Nieuwenhuis, der uns für unsere vorliegende<br />

Bakunin-Erinnerungsnummer des „W. f. A."<br />

den obigen Beitrag gütig sandte, muß unseren<br />

österreichischen Lesern <strong>und</strong> den Neulingen innerhalb<br />

unserer Bewegung persönlich näher gebracht<br />

werden. Wir tun dies kurz, indem wir konstatieren,<br />

daß er der Pionier des Sozialismus in Holland,<br />

seit über einem Jahrzehnt Anarchist ist <strong>und</strong>, trotz<br />

seines hohen Alters, mit unbeugsamer Jugendfrische<br />

im Greisenkörper unentwegt in den vordersten<br />

Reihen der sozialistisch-anarchistischen Bewegung<br />

Hollands kämpft. D a s von ihm redigierte, zweimal<br />

wöchentlich erscheinende Kampforgan betitelt sich<br />

„Der freie Sozialist". Die Red.<br />

D a s W e s e n der politischen<br />

Macht <strong>und</strong> der Parlamentarismus.*<br />

Von Michael B a k u n i n .<br />

I.<br />

Die ganze Lüge des Vertretungssystems<br />

beruht auf der Fiktion, daß eine aus der<br />

Volksabstimmung hervorgegangene Regierung<br />

<strong>und</strong> gesetzgebende Körperschaft durchaus<br />

den wirklichen Willen des Volkes vertreten<br />

müssen oder vielleicht auch nur<br />

können. Das Volk in der Schweiz, wie<br />

überall, will instinktiv, will notwendig zwei<br />

Dinge: die denkbar größte materielle Wohlfahrt,<br />

verb<strong>und</strong>en mit der größten Freiheit<br />

der Existenz, der Bewegung <strong>und</strong> Betätigung<br />

seiner selbst; das heißt die beste Organisation<br />

seiner wirtschaftlichen Interessen<br />

<strong>und</strong> das vollständige Fehlen jeder Regierung,<br />

jeder politischen Organisation — weil jede<br />

politische Organisation notwendig zur Verneinung<br />

seiner Freiheit führt. Das ist. die<br />

natürliche Gr<strong>und</strong>lage aller Volksinstinkte.<br />

Die Instinkte der Regierenden, <strong>und</strong><br />

zwar ebenso sehr derjenigen, welche die<br />

Gesetze machen als derjenigen, welche die<br />

Vollziehungs- («Exekutiv-») Gewalt ausüben,<br />

sind gerade wegen ihrer Ausnahmestellung,<br />

diametral entgegengesetzte. Welcher Art<br />

immer ihre demokratischen Gefühle <strong>und</strong><br />

Absichten sein mögen, von der Höhe aus,<br />

auf die sie sich gestellt sehen, können sie<br />

die Gesellschaft nicht anders anschauen,<br />

als wie ein Vorm<strong>und</strong> sein Mündel anschaut.<br />

Und zwischen Vorm<strong>und</strong> <strong>und</strong> Mündel kann<br />

die Gleichheit nicht bestehen. Auf der einen<br />

Seite steht das Gefühl der Überlegenheit,<br />

das notwendig durch eine höhere Stellung<br />

eingeflößt wird; auf der andern das einer<br />

Minderwertigkeit («Inferiorität»), das sich<br />

aus der Überlegenheit («Superiorität») des<br />

Vorm<strong>und</strong>es ergibt, der entweder die Vollziehungsgewalt<br />

oder die gesetzgebende<br />

Gewalt ausübt. Wer politische Macht sagt,<br />

sagt Beherrschung; da, wo eine Beherrschung<br />

stattfindet, muß notwendigerweise auch ein<br />

mehr oder weniger großer Teil der Gesellschaft<br />

vorhanden sein, der beherrscht wird,<br />

<strong>und</strong> die Beherrschten verabscheuen natürlicherweise<br />

die sie Beherrschenden, während<br />

die Herrschenden, die, welche ihrer<br />

Herrschaft unterliegen, notwendigerweise<br />

unterdrücken <strong>und</strong> infolgedessen bedrücken<br />

müssen.<br />

II.<br />

Das ist die ewige Geschichte der politischen<br />

Macht, seit diese Macht in der<br />

Welt begründet worden ist. Das erklärt<br />

auch, warum <strong>und</strong> wie Männer, welche die<br />

rötesten Demokraten, die wütendsten Revoluzzer<br />

waren, solange sie sich unter der<br />

Masse der Beherrschten befanden, äußerst<br />

gemäßigte Konservative werden, sobald sie<br />

zur Regierung gelangt sind. Man schreibt<br />

diese Wendungen gewöhnlich dem Verrate<br />

zu. Das ist ein Irrtum; ihr Hauptgr<strong>und</strong> ist<br />

die Änderung des Gesichtswinkels <strong>und</strong> der<br />

Stellung; <strong>und</strong>, vergessen wir nie, daß die<br />

Stellung <strong>und</strong> der Zwang, den sie auferlegt,<br />

immer mächtiger ist als der Haß oder der<br />

böse Wille des Individuums.<br />

Von dieser Wahrheit durchdrungen,<br />

scheue ich mich nicht, die Überzeugung<br />

auszusprechen, daß, wenn man morgen<br />

eine ausschließlich aus Arbeitern bestehende<br />

Regierung <strong>und</strong> gesetzgebende Körperschaft,<br />

ein Parlament, einsetzen würde, diese Arbeiter,<br />

die heute zielbewußte Sozialdemokraten<br />

sind, übermorgen ausgesprochene<br />

* Übersetzt aus dem zweiten Band der französischen<br />

Gesamtausgabe von Bakunins Wericen;<br />

insbesondere aus der Broschüre „Die Bären von<br />

Bern <strong>und</strong> der B ä r von St. Petersburg", verfaßt<br />

im Jahre 1870. (Verlag der Gesamtwerke : P. V.<br />

Stock, 155 Rue Saint Honoré, Paris).


Aristokraten würden, kühne oder furchtsame<br />

Anbeter des Gr<strong>und</strong>satzes der Autorität,<br />

Unterdrücker <strong>und</strong> Ausbeuter. Mein Schluß<br />

ist folgender: M a n m u ß A l l e s , w a s<br />

p o l i t i s c h e M a c h t h e i ß t , v o l l s t ä n d i g ,<br />

g r u n d s ä t z l i c h u n d t a t s ä c h l i c h a b -<br />

s c h a f f e n ; w e i l , s o l a n g e die p o l i -<br />

t i s c h e M a c h t b e s t e h t , e s H e r r s c h e r<br />

u n d B e h e r r s c h t e , H e r r e n u n d S k l a -<br />

ven, A u s b e u t e r u n d A u s g e b e u t e t e<br />

g e b e n wird. N a c h A b s c h a f f u n g d e r<br />

p o l i t i s c h e n M a c h t m u ß m a n s i e<br />

d u r c h d i e O r g a n i s a t i o n d e r p r o -<br />

d u k t i v e n K r ä f t e u n d w i r t s c h a f t -<br />

l i c h e n E i n r i c h t u n g e n e r s e t z e n .<br />

D i e O r g a n i s a t i o n der<br />

Internationale<br />

Von M i c h a e l B a k u n i n .<br />

(Aus dem « Almanack du Peuple» von 1872.)<br />

V o r b e m e r k u n g . In dem nachfolgenden<br />

Aufsatz entwickelt Bakunin die Gr<strong>und</strong>prinzipien,<br />

auf denen jene großartige internationale Arbeiterassoziation<br />

gegründet wurde, die uns das Jahr 1864<br />

schenkte. W a s B. in ihr erblickte, welche Aufgaben<br />

er der „Internationale" zur Lösung stellte, <strong>und</strong> wozu<br />

er sie für berufen erachtete, geht aus dem Artikel<br />

hervor. Außerordentlich bemerkenswert ist seine<br />

Vorahnung von dem Wesen einer proletarischen<br />

Bewegung, in der die Massen unwissend sind <strong>und</strong><br />

künstlich so erhalten werden. Wer die internationale,<br />

aber ganz insbesondere die ö s t e r r e i c h i s c h e<br />

Sozialdemokratie kennt, wird in ihr ein getreues<br />

Abbild jener Schilderung vom „oligarchischen Staat"<br />

finden, die Bakunin uns am Ende seines Artikels<br />

entwirft. Die Red.<br />

Die Massen sind die soziale Kraft oder<br />

wenigstens der wesentliche Bestandteil einer<br />

jeden Kraft; was fehlt ihnen denn dazu,<br />

um einen Zustand der Dinge, den sie hassen,<br />

aufzuheben? Zwei Sachen fehlen ihnen:<br />

die Organisation <strong>und</strong> das Wissen, gerade<br />

jene zwei Sachen, die heute <strong>und</strong> immer<br />

die Macht aller Regierungen ausmachen.<br />

So ist also die Organisation das Erste;<br />

anderenteils kann sich dieselbe ohne die<br />

Hilfe des Wissens nicht befestigen. Dank<br />

der militärischen Organisation kann ein<br />

Bataillon Soldaten, d. h. tausend bewaffnete<br />

Männer leicht eine Million von bloß<br />

bewaffneten, aber nicht organisierten Menschen<br />

unterwerfen. Dank seiner bureaukratischen<br />

Organisafion regiert der Staat<br />

vermittelst einiger h<strong>und</strong>erttausend Angestellten<br />

riesige Länderstrecken. Aber um<br />

eine Volkskraft zu schaffen, die fähig ist,<br />

die militärische <strong>und</strong> regierende Macht des<br />

Staates unschädlich zu machen, muß man<br />

das Proletariat organisieren.<br />

Das ist es gerade, was die «Internationale<br />

Arbeitervereinigung» tut: <strong>und</strong> an dem<br />

Tage, an dem sie die Hälfte, den dritten,<br />

vierten oder sogar nur den zehnten Teil<br />

des Proletariats von Europa in sich vereinigt<br />

<strong>und</strong> organisiert haben wird, werden<br />

der Staat, die Staaten von Europa, aufgehört<br />

haben zu bestehen. Die Organisation<br />

der Internationale, deren <strong>Ziel</strong> n i c h t das<br />

Errichten von neuen Staaten <strong>und</strong> einer<br />

neuen Herrschaft, sondern die Beseitigung<br />

aller verschiedenen Herrschaftssysteme ist,<br />

muß von der Organisation der Staaten von<br />

Gr<strong>und</strong> aus verschieden sein. Je mehr die<br />

letztere autoritär, gekünstelt <strong>und</strong> gewaltsam<br />

ist, je mehr sie der natürlichen Entwickelung<br />

der Interessen <strong>und</strong> den Bestrebungen des<br />

Volkes fremd <strong>und</strong> feindlich gegenübersteht,<br />

desto mehr muß die Organisation der Internationale<br />

frei <strong>und</strong> naturgemäß sein <strong>und</strong><br />

sich allen diesen Instinkten <strong>und</strong> Bestrebungen<br />

anpassen. Aber was ist die natürliche Organisation<br />

der Massen? Jene, die sich auf<br />

die Ergebnisse ihres täglichen wahren Lebens,<br />

ihrer verschiedenartigen Arbeit gründet;<br />

es ist die gewerkschaftliche Organisation.<br />

Vom Augenblick an, in welchem sämtliche<br />

Arbeitszweige in der Internationale vertreten<br />

sein werden, mit Einschluß der verschie-<br />

denen landwirtschaftlichen Betriebe, wird<br />

die Organisation der Volksmassen vollendet<br />

sein.<br />

Man könnte einwenden, daß diese Art,<br />

in der die Internationale ihren Einfluß auf<br />

die Volksmassen organisiert, auf den Trümmern<br />

der alten Herrschaft anscheinend ein<br />

neues Herrschaftssystem <strong>und</strong> eine neue<br />

Regierung aufzubauen strebt. Aber das ist<br />

ein großer Irrtum. Der Einfluß, den die<br />

Internationale auf die Massen ausübt, unterscheidet<br />

sich von allen Regierungen <strong>und</strong><br />

allen Handlungen der Staatsgewalten immer<br />

dadurch, daß sie nichts anderes ist als der<br />

natürliche unoffizielle Einfluß einer einfachen<br />

Meinung, ohne jede Autorität. Zwischen<br />

der Staatsgewalt <strong>und</strong> der Internationale besteht<br />

derselbe Unterschied wie zwischen<br />

den offiziellen Handlungen des Staates <strong>und</strong><br />

der natürlichen Tätigkeit eines Klubs. Die<br />

Internationale hat immer nur einen großen<br />

Einfluß auf die Meinungen <strong>und</strong> wird nie<br />

etwas anderes sein, als die natürliche Einwirkung<br />

der einzelnen Menschen auf die<br />

Massen. Der Staat hingegen <strong>und</strong> all seine<br />

Einrichtungen: die Kirche, die Universität,<br />

die Gerichtshöfe, die Bureaukratie, die Finanzen,<br />

die Polizei <strong>und</strong> das Heer, fordern<br />

von ihren Untergebenen willenlosen Gehorsam.<br />

Natürlich versuchen sie auch so weit<br />

wie möglich, die Überzeugung <strong>und</strong> den<br />

Willen ihrer Untertanen zu verdrehen, aber<br />

auch außer dieser Überzeugung <strong>und</strong> diesem<br />

Willen — <strong>und</strong> oft gegen denselben —<br />

müssen die Beherrschten ohne Überlegung<br />

den immer dehnbaren, anerkannten <strong>und</strong><br />

festgesetzten Vorschriften des Gesetzes<br />

Folge leisten.<br />

Der Staat ist die Autorität, die Herrschaft<br />

<strong>und</strong> die organisierte Macht der besitzenden<br />

Klassen <strong>und</strong> der angeblich erleuchteten<br />

einzelnen Menschen über die<br />

Massen. Da der Staat nie etwas anderes<br />

will oder wollen kann als die Knechtschaft<br />

der Massen, appelliert er an ihre Unterwerfung.<br />

Die Internationale, welche nichts<br />

anderes will, als ihre vollständige Freiheit,<br />

appelliert an ihre Empörung. Aber um<br />

diese Empörung selbst auch mächtig zu<br />

machen, um sie zu befähigen, die Herrschaft<br />

des Staates <strong>und</strong> der privilegierten<br />

Klassen, welche nur durch den Staat vertreten<br />

werden, abzuschütteln, zu diesem<br />

Zweck muß sich die Internationale organisieren.<br />

Um dieses <strong>Ziel</strong> zu erreichen, wendet<br />

sie zwei Mittel an, die beide volle Berechtigung<br />

haben. Diese zwei Mittel sind: erstens<br />

die Propaganda der eigenen Ideen<br />

<strong>und</strong> zweitens die natürliche Organisierung<br />

des Einflusses ihrer Mitglieder auf die<br />

Massen.<br />

Wer daraufhin noch behauptet, daß<br />

eine derart organisierte Tätigkeit auch schon<br />

ein Attentat gegen die Freiheit der Massen,<br />

ein Versuch zur Schaffung einer neuen<br />

herrschenden Gewalt ist, der ist ein Wortverdreher<br />

oder ein Dummkopf. Es steht<br />

schlimm genug um diejenigen, welche die<br />

natürlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Gesetze<br />

der menschlichen Solidarität nicht kennen,<br />

so daß sie sich einbilden, daß die vollkommene<br />

Unabhängigkeit der einzelnen<br />

Menschen <strong>und</strong> der Massen von einander<br />

möglich oder wünschenswert ist. Der das<br />

wünscht, der will die Auflösung der menschlichen<br />

Gesellschaft, denn das ganze gesellschaftliche<br />

Leben besteht aus dieser gegenseitigen<br />

<strong>und</strong> fortwährenden Abhängigkeit<br />

der einzelnen Menschen <strong>und</strong> der Massen.<br />

Jeder Mensch, auch der gescheiteste <strong>und</strong><br />

stärkste, ja, besonders die Klugen <strong>und</strong><br />

Starken, sind in jedem Moment ihres Lebens<br />

die Erzeugnisse <strong>und</strong> die Erzeuger dieses<br />

gegenseitigen Einflusses. Die Freiheit eines<br />

jeden Menschen ist das immerfort neu<br />

hervorgebrachte Ergebnis der Gesamtheit<br />

dieser materiellen, geistigen <strong>und</strong> moralischen<br />

Einflüsse, ausgeübt von sämtlichen Menschen,<br />

die ihn umgeben <strong>und</strong> von der Gesellschaft,<br />

in welcher er lebt, sich entwickelt<br />

<strong>und</strong> stirbt. Wer sich diesem Einfluß entziehen<br />

will, im Namen einer überirdischen<br />

göttlichen, vollkommen egoistischen Freiheit,<br />

welche sich selbst genügt, der strebt<br />

danach n i c h t zu s e i n . Wer darauf verzichten<br />

will, diesen Einfluß auf andere auszuüben,<br />

der verzichtet auf jede gesellschaftliche<br />

Tätigkeit selbst, auf die Mitteilung<br />

seiner eigenen Oedanken <strong>und</strong> Empfindungen<br />

<strong>und</strong> strebt damit wiederum nach dem<br />

Nichtsein. Diese «Unabhängigkeit», welche<br />

die Ideologen <strong>und</strong> Metaphysiker so oft<br />

verkündet haben, <strong>und</strong> die in diesem Sinne<br />

aufgefaßte persönliche Freiheit ist also —<br />

d a s N i c h t s . *<br />

In der Natur sowohl wie in der menschlichen<br />

Gesellschaft — welche nie etwas<br />

anderes ist als eben diese selbe Natur —<br />

lebt alles nur unter der Gr<strong>und</strong>bedingung,<br />

daß es auf die tätigste Weise <strong>und</strong> so kräftig,<br />

wie es ihm seine Eigenart gestattet, in<br />

das Leben anderer eingreift. Deshalb wäre<br />

die Abschaffung dieses gegenseitigen Einflusses<br />

gleichbedeutend mit dem Tode. Und<br />

wenn wir die Freiheit der Massen fordern,<br />

so wollen wir keine von diesen natürlichen<br />

Einflüssen zerstören, welche einige Menschen<br />

<strong>und</strong> Gruppen von Menschen durch<br />

ihre Handlungen auf diese Massen ausüben.<br />

W a s w i r w o l l e n , d a s ist d i e A b -<br />

s c h a f f u n g d e r k ü n s t l i c h e n p r i v i l e -<br />

g i e r t e n , g e s e t z l i c h e n , o f f i z i e l l e n<br />

E i n f l ü s s e . Wenn die Kirche <strong>und</strong> der<br />

Staat Privateinrichtungen sein könnten,<br />

wären wir natürlich auch ihre Gegner, wir<br />

würden aber nicht gegen ihr Recht aufs<br />

Dasein protestieren. Wir protestieren aber<br />

gegen beide, denn obgleich sie ohne Zweifel<br />

in dem Sinne Privatinstitutionen sind,<br />

daß sie nur für die besonderen Interessen<br />

der privilegierten Klassen bestehen, bedienen<br />

sie sich dennoch der gesamten Kraft der<br />

organisierten Massen, um sich autoritär,<br />

offiziell <strong>und</strong> gewaltsam ihnen aufzubürden.<br />

Wenn sich die Internationale in staatlicher<br />

Form organisieren könnte, würden wir aus<br />

ihren begeisterten Fre<strong>und</strong>en zu ihren erbittertsten<br />

Feinden werden.**<br />

Aber sie k a n n sich gar nicht in staatlicher<br />

Form organisieren, weil sie, wie es<br />

ihr Name andeutet, alle Grenzen abschafft,<br />

<strong>und</strong> es keine Staaten ohne Grenzen geben<br />

kann; denn die Geschichte hat bewiesen,<br />

daß die Verwirklichung des Universalstaates,<br />

von welchem die erobernden Völkerschaften<br />

<strong>und</strong> die größten Despoten geträumt haben,<br />

unmöglich ist. Wer also vom Staate spricht,<br />

spricht damit notwendigerweise von verschiedenen<br />

Staaten, welche im Inneren<br />

Unterdrücker <strong>und</strong> Ausbeuter, nach Außen<br />

hin Eroberer <strong>und</strong> mehr oder weniger gegenseitige<br />

Feinde sind — er spricht damit von<br />

dem Gegensatz der Menschheit.<br />

Die Internationale Vereinigung der<br />

Arbeiter würde gar keinen Sinn haben,<br />

* W i r machen bei dieser Gelegenheit darauf<br />

aufmerksam, daß die Sozialdemokraten in ihren<br />

versuchten theoretisch-ohnmächtigen Widerlegungen<br />

des Anarchismus stets auf den Popanz einer solchen<br />

metaphysischen Freiheit zurückzugreifen gezwungen<br />

sind <strong>und</strong> ihn als Anarchismus darbieten. Nur so,<br />

auf solch lächerlich unterschiebende Art, können<br />

diese Herren den Anarchismus „widerlegen". So<br />

erst unlängst Herr Dr. Renner-Springer, der im<br />

„Kampf" den Anarchismus einer theoretischen „Vernichtung"<br />

unterzog, indem er ihn als absolute Robinsonfreiheit<br />

hinstellte, dieweil doch die Anarchie<br />

ein s o z i a l e s Ideal der Zukunftsgesellschaft ist.<br />

Es ist umso interessanter, dies in Erinnerung zu<br />

bringen, wenn wir nun lesen, in welcher Weise<br />

gerade ein genialer Vorkämpfer des Anarchismus<br />

diese abstrakt-konservative Auffassung des Freiheitsprinzips<br />

bekämpft; eine Auffassung, die die Marxisten,<br />

aus Mangel an triftigen Argumenten, stets<br />

den Anarchisten andichten <strong>und</strong> anfälschen. Die Red.<br />

** Bekanntlich versuchte Marx dies. Anm.<br />

d. Red.


wenn sie nicht unaufhaltsam der Abschaffung<br />

des Staates zustreben würde. Sie organisiert<br />

die Volksmassen nur, um dieses <strong>Ziel</strong> zu<br />

erreichen. Und auf welche Art organisiert<br />

sie sie? Nicht von oben nach unten, indem<br />

sie den gesellschaftlichen Unterschieden,<br />

welche aus den Verschiedenheiten der Beschäftigungen<br />

entstehen, oder dem natürlichen<br />

Leben der Massen, eine scheinbare<br />

Einheit <strong>und</strong> Ordnung aufzwingt, wie das<br />

die Staaten machen; aber im Gegenteil von<br />

unten nach oben, das gesellschaftliche Leben<br />

der Massen, ihre tatsächlichen Bestrebungen<br />

als Ausgangspunkt nehmend, sie anfeuernd,<br />

ihnen helfend sich in Gruppen zu vereinigen,<br />

ihre Interessen in Einklang zu<br />

bringen <strong>und</strong> sich ihrer natürlichen Verschiedenheit<br />

von Arbeit <strong>und</strong> Lebenslage<br />

gemäß im Gleichgewicht zu halten.<br />

Aber eben darum, weil die Internationale<br />

derart von unten nach oben organisiert,<br />

zu einer wirklichen Kraft, einer ernsten<br />

Macht wird, ist es notwendig, daß ein jedes<br />

Mitglied in jeder Gruppe vollkommen von<br />

den Gr<strong>und</strong>sätzen der Internationale durchdrungen<br />

wird. Nur unter dieser Bedingung<br />

kann er zu Zeiten des Friedens <strong>und</strong> der<br />

Ruhe ein guter Propagandist <strong>und</strong> Apostel<br />

unserer Sache, <strong>und</strong> zu Zeiten des Kampfes<br />

ein wahrer Revolutionär sein.<br />

Wenn wir von den Gr<strong>und</strong>sätzen der<br />

Internationale sprechen, so meinen wir<br />

jene, welche in der Einleitung zu unseren<br />

Statuten enthalten sind, welche am Genfer<br />

Kongreß angenommen wurden.*<br />

Wir alle wissen, daß dieses unser Programm,<br />

welches so einfach <strong>und</strong> gerecht<br />

ist <strong>und</strong> welches mit so wenigen <strong>und</strong> würdigen<br />

Worten die menschlich berechtigten<br />

Forderungen des Proletariats ausdrückt, gerade<br />

weil es ein ausschließlich menschliches<br />

Programm ist, alle Keime einer sozialen<br />

Revolution in sich enthält; es verkündet<br />

die Zerstörung der alten <strong>und</strong> die Schaffung<br />

einer neuen Welt.<br />

Das ist es, was wir jetzt allen Mitgliedern<br />

der Internationale erklären <strong>und</strong><br />

vollkommen verständlich machen müssen.<br />

Dieses Programm bringt eine neue Wissenschaft,<br />

eine neue Philosophie mit sich, welche<br />

an Stelle sämtlicher alten Religionen<br />

* Wir haben die Aufzählung dieser Einzelpunkte<br />

unterlassen, da sie im Wesentlichen bereits in dem<br />

Artikel des Genossen Nieuwenhuis enthalten. Die Red.<br />

treten wird <strong>und</strong> eine neue internationale<br />

Politik, welche als solche, wir wagen es<br />

zu sagen, kein anderes <strong>Ziel</strong> haben kann,<br />

als die Aufhebung aller Staaten. Damit alle<br />

Mitglieder der Internationale gewissenhaft<br />

ihre doppelte Aufgabe als Propagandisten<br />

<strong>und</strong> Revolutionäre erfüllen können, ist es<br />

notwendig, daß sich ein jeder von ihnen<br />

so weit wie möglich mit dieser Wissenschaft,<br />

dieser Philosophie <strong>und</strong> dieser Politik erfüllt.<br />

Es genügt nicht, wenn sie wissen <strong>und</strong><br />

sagen, daß sie die wirtschaftliche Befreiung<br />

der Arbeiter, den Genuß des vollen Ertrages<br />

seiner Arbeit für einen jeden, die Abschaffung<br />

der gesellschaftlichen Klassen <strong>und</strong> der<br />

politischen Knechtschaft, die volle Verwirklichung<br />

der Menschenrechte <strong>und</strong> vollkommen<br />

gleiche Pflichten <strong>und</strong> Rechte für alle<br />

— mit einem Wort, die Verbrüderung der<br />

Menschheit wollen. A l l d i e s i s t o h n e<br />

Z w e i f e l s e h r g u t u n d w a h r , a b e r<br />

w e n n d i e A r b e i t e r d e r I n t e r n a t i o -<br />

n a l e s i c h d i e s e g r o ß e n W a h r h e i t e n<br />

a n e i g n e n , o h n e s i c h i n d e r e n V o r -<br />

a u s s e t z u n g e n , d e r e n F o l g e n u n d<br />

d e r e n G e i s t z u v e r t i e f e n , u n d w e n n<br />

s i e s i c h d a m i t b e g n ü g e n , d i e s e l b e n<br />

i m m e r u n d i m m e r w i e d e r i n d i e s e r<br />

a l l g e m e i n e n F o r m z u w i e d e r h o l e n ,<br />

s o T a u f e n s i e s e h r G e f a h r , a u s d e n -<br />

s e l b e n i n k u r z e r Z e i t l e e r e u n -<br />

f r u c h t b a r e W o r t e u n d u n v e r s t a n -<br />

d e n e G e m e i n p l ä t z e z u m a c h e n .<br />

Aber, wird man sagen, alle Arbeiter,<br />

wenn sie auch Mitglieder der Internationale<br />

sind, können nicht Gelehrte werden. Ist<br />

es denn nicht genug, daß im Schöße dieser<br />

Vereinigung sich eine Gruppe von Menschen<br />

findet, welche soweit wie heute möglich, im<br />

Besitz der Wissenschaft, der Philosophie <strong>und</strong><br />

der Politik des Sozialismus ist, damit die<br />

Mehrzahl, das Volk der Internationale, getreulich<br />

ihrer Führung <strong>und</strong> ihren «brüderlichen<br />

Befehlen* folgend, sich nicht vom<br />

rechten <strong>Weg</strong>e entfernt, welcher es zur endgültigen<br />

Befreiung des Proletariats führt.<br />

Dies ist ein Gedankengang, welchen<br />

wir nur zu oft von der a u t o r i t ä r e n<br />

Kommunisten-Partei* innerhalb der Inter-<br />

* Zur Zeit Bakunins nannte man die autoritäre<br />

Richtung des Sozialismus — die jetzige Sozialdemokratie<br />

— K o m m u n i s m u s <strong>und</strong> die anarchistische,<br />

revolutionäre Richtung K o l l e k t i v i s m u s .<br />

Seitdem haben sich die Namen vertauscht. Die Red.<br />

nationale aussprechen hörten; nicht offen,<br />

denn die Leute sind nicht genug aufrichtig<br />

<strong>und</strong> mutig, um das zu tun, sondern versteckt,<br />

auf Umwegen, mit allerlei mehr oder<br />

weniger geschickten Ausflüchten <strong>und</strong> mit<br />

demagogischen Komplimenten über die<br />

unübertreffliche Weisheit <strong>und</strong> Allmacht des<br />

souveränen Volkes. Wir haben diese Auffassung<br />

immer aufs leidenschaftlichste bekämpft,<br />

denn wir sind überzeugt davon,<br />

daß an dem Tage, an welchem sich die<br />

Internationale Vereinigung in zwei Gruppen<br />

spalten würde: in eine, welche die riesige<br />

Mehrheit ausmacht <strong>und</strong> aus solchen Mitgliedern<br />

besteht, die in wissenschaftlicher<br />

Hinsicht nur einen blinden Glauben an<br />

die theoretische <strong>und</strong> praktische Weisheit<br />

ihrer Führer haben; <strong>und</strong> in eine andere,<br />

welche nur aus zehn oder zwanzig oder<br />

mehr führenden Männnern zusammengesetzt<br />

ist — an diesem Tage würde diese Vereinigung,<br />

welche die Menschheit befreien<br />

sollte, sich von selbst in eine Art von<br />

o l i g a r c h i s c h e m S t a a t — in die schlimmste<br />

Form des Staates - - verwandeln. Schlimmer<br />

noch: diese erleuchtete, gelehrte <strong>und</strong><br />

fähige Minderheit würde mit der Verantwortung<br />

ihrer Position auch alle Rechte<br />

der Herrschenden für sich beanspruchen<br />

<strong>und</strong> ihre Herrschaft würde umso despotischer<br />

werden, je mehr sie dieselbe verbergen<br />

kann unter dem Schein des servilen<br />

Respektes für den Willen <strong>und</strong> die Beschlüsse<br />

des Volkes — für jene Beschlüsse, welche<br />

immer die Führer selbst dem angeblichen<br />

Willen des Volkes eingeredet haben. So<br />

w ü r d e d i e s e M i n d e r h e i t i n F o l g e<br />

d e r n o t w e n d i g e n E n t w i c k l u n g u n d<br />

i h r e r p r i v i l e g i e r t e n S t e l l u n g , d e m<br />

L o s e a l l e r R e g i e r u n g e n v e r f a l l e n<br />

u n d T a g für T a g d e s p o t i s c h e r ,<br />

s c h ä d l i c h e r <strong>und</strong> r e a k t i o n ä r e r w e r d e n .<br />

Die Internationale Arbeitervereinigung<br />

kann nur dann zum Werkzeug der Befreiung<br />

der Menschheit werden, wenn sie sich<br />

zuerst selbst befreit hat; das heißt, wenn<br />

sie aufhört, in zwei Gruppen geteilt zu sein,<br />

in eine Mehrheit, die das blinde Werkzeug<br />

einer gelehrten Minderheit ist <strong>und</strong> wenn<br />

sie in das Denken <strong>und</strong> das Bewußtsein<br />

e i n e s j e d e n i h r e r M i t g l i e d e r d i e<br />

W i s s e n s c h a f t , d i e P h i l o s o p h i e <strong>und</strong><br />

d i e P o l i t i k d e s S o z i a l i s m u s e i n -<br />

g e p f l a n z t hat.<br />

Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Österreich.<br />

Wien. Mit automatischer Regelmäßigkeit verkünden<br />

wir die Konfiskation unserer letzten Nr. 13.<br />

Als eine Erklärung für dieses geradezu über- (oder<br />

unter?) menschliche Vorgehen uns gegenüber kann<br />

vielleicht die neuliche Debatte im Parlament über<br />

die augenblicklich gehandhabte Zensurwillkür <strong>und</strong><br />

Konfiskationserdrosselung des freien Wortes dienen.<br />

Justizminister K l e i n meinte da in naiver W e i s e ,<br />

daß „ d a s A n w a c h s e n a n a r c h i s t i s c h e r<br />

D r u c k s c h r i f t e n " dafür eine Begründung bilde,<br />

weshalb die Konfiskationspraxis nun mit solcher<br />

Berserkerwut geübt werde. Eine famose Erklärung,<br />

für die wir dem Justizminister danken, da sie uns<br />

wenigstens d e n Trost bringt, daß es die anarchistische<br />

Presse ist, die ihm arges Kopfzerbrechen<br />

verursacht. Geradezu als eine Parodie auf seine<br />

ganze Beantwortung der Interpellation — die wohl<br />

viel von Anarchisten spricht, aber es kein einziges<br />

Mal wagt, auf die Frechheiten hinzuweisen, denen<br />

unser Blatt ausgesetzt ist! — darf sein Stoßseufzer<br />

gelten, daß, wenn „die geschilderten Ursachen wieder<br />

verschwinden werden" auch die Konfiskationspraxis<br />

wieder abnehmen würde. Wir glauben es<br />

ihm gerne, in der Farblosigkeit der sonstigen nichtanarchistischen<br />

Presse gibt es eben selbst beim<br />

besten Willen nichts zu konfiszieren. Gelegentlich<br />

dieser Debatte mußte sich natürlich der Sozialdemokrat<br />

N e m e c wieder einmal blamieren. S o -<br />

sagte der gute K a u z : „Die größte Lächerlichkeit ist<br />

es, wenn' man von anarchistischen Druckschriften,<br />

welche die Propaganda der T a t verbreiten, spricht<br />

<strong>und</strong> glaubt, d a ß e s h e u t e i n d e r Z e i t d e s<br />

a l l g e m e i n e n W a h l r e c h t s n o c h m ö g l i c h<br />

s e i , eine große anarchistische Bewegung zu inaugurieren".<br />

Apropos: welche anarchistischen Druckschriften<br />

Österreichs propagieren denn die „ P r o p a -<br />

ganda der Tat" oder richtiger des T e r r o r i s m u s ?<br />

Wir kennen keine, <strong>und</strong> Herr Nemec „vergaß" es,<br />

dem Justizminister darauf die gebührende Antwort<br />

zu erteilen. W a s aber die angebliche Unmöglichkeit<br />

anbetrifft, „in der Zeit des allgemeinen Wahlrechtes"<br />

eine anarchistische Bewegung zu inaugurieren, so<br />

trösten wir Herrn Nemec damit, daß wir s a g e n :<br />

g e r a d e i n d i e s e r Z e i t i s t e s m ö g l i c h , g e -<br />

wissermaßen nur dann! Übrigens besitzt Frankreich<br />

das allgemeine Wahlrecht länger als Österreich <strong>und</strong><br />

erfreut sich dennoch einer sehr starken anarchistischen<br />

Bewegung. Freilich kann sie numerisch<br />

nicht so stark sein, wie die deutsche oder österreichische<br />

Sozialdemokratie, doch dafür ist sie auch<br />

nicht so machtlos wie jene.<br />

* Am 14. Juli fand vor dem Bezirksgericht<br />

des X. Bezirkes die Verhandlung gegen unseren<br />

Genossen Kienwald statt. Weshalb ? Das ist eben<br />

das Interessante <strong>und</strong> Belehrende. In einer großen<br />

Massenversammlung unserer Bewegung in obigem<br />

Bezirke wurden die anwesenden Sozialdemokraten<br />

geistig wieder einmal knieschwach, statt dessen<br />

aber recht faustlustig. Und da ihre Führer sie g e -<br />

hörig verhetzt hatten, sprengten sie die Versammlung<br />

durch gemeine Radauschlägereien. Im Laufe<br />

derselben ergriff der Sozialdemokrat G o r i t s c h a n<br />

einen Sessel <strong>und</strong> schlug mit diesem auf unseren<br />

physisch absolut wehrlosen Kameraden Kienwald<br />

los. Damit nicht genug, hatte der Kerl noch die<br />

Frechheit, gegen Kienwald die Anzeige zu erstatten;<br />

vielleicht nur um sein infames Tun zu verdecken.<br />

Gern wollte er es auch in obiger Verhandlung tun,<br />

w a s ihm aber trotz des Rechtsanwaltes F. Winter<br />

nicht gelang, indem Goritschan tatsächlich durch<br />

seine eigenen Zeugen belastet wurde. Kienwald<br />

wurde vertreten durch Herrn Dr. Schäfer (Advokaturskanzlei<br />

des Herrn Dr. E. Frischauer), <strong>und</strong><br />

muß dessen aufrichtiges <strong>und</strong> unerschrockenes<br />

Eintreten für seinen Klienten lobend hervorgehoben<br />

werden. Die Verhandlung endete mit einem Freispruch,<br />

wider den die Staatsanwaltschaft Berufung<br />

einlegte. Vielleicht werden es sich die S o z i a l d e m o -<br />

kraten bald vergehen lassen, als Versammlungssprenger<br />

nach christlichsozialem Muster zu debütieren!<br />

* Eine sehr stark besuchte Versammlung fand<br />

in dem nahegelegenen T r a i s k i r c h e n statt, in der<br />

G e n o s s e Ramus über „Parlamentarismus <strong>und</strong> G e -<br />

werkschaftsbewegung" referierte. In einem 1½ stündigen<br />

Referat führte er den Bourgeoisschwinde! des<br />

Parlamentarismus für das Proletariat ad absurdum.<br />

In der Diskussion trat ihm der 1. besoldete S e k r e -<br />

tär der Krankenkassa, 2. besoldete Abgeordnete<br />

Joh. Smitka entgegen; der Refrain seiner Rede<br />

waren Verdrehungen, lächerliche Unwissenheit <strong>und</strong><br />

grandiose Einschläferung j e d e s ges<strong>und</strong>en proletarischen<br />

Kampfesbewußtseins. Als dann der G e n o s s e<br />

Ramus antworten wollte, wußten die anwesenden<br />

Sozialdemokraten sehr wohl, daß nun des Triumphes<br />

letzter T a g für Herrn Smitka gekommen — <strong>und</strong><br />

dies mußte verhindert werden. 0 kühner M a n n e s -<br />

mut <strong>und</strong> echte Überzeugungstreue - im Nu wurde<br />

die Versammlung gesprengt, nur damit Ramus nicht<br />

sollte antworten können. Welch vorzüglichen Erfolg<br />

dieses mutige Vorgehen — f ü r u n s hatte, darüber<br />

folgendes Zitat aus einem Schreiben der T r a i s -<br />

kirchner G e n o s s e n : „Werte Kameraden! Ersuche<br />

nächstes Mal um. . . E x e m p l a r e m e h r vom „W. f.<br />

A.", <strong>und</strong> . . . Stück Mitgliedskarten zu senden, da<br />

wir nun daran gehen können, uns zu gruppieren.<br />

A m S o n n t a g d e n 26. J u l i findet eine diesbezügliche<br />

Versammlung statt. W a s die letzte anlangt,<br />

sind die Sozialdemokraten ganz aus dem Häuschen<br />

. . ." Wenn man bedenkt, daß dies eigentlich<br />

die e r s t e Versammlung war, die wir in T r a i s -<br />

kirchen hatten, ist der Erfolg nicht so schlecht;<br />

nicht wahr, Herr S m i t k a ?<br />

* Sehr lehrreich <strong>und</strong> interessant war der Vortrag,<br />

den G e n o s s e Ernst H a i d t im XIV. Bezirk<br />

hielt über „Die Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsversicherung<br />

durch den Staat <strong>und</strong> das Parlament". Redner zeigte


die Wertlosigkeit der ganzen diesbezüglichen parlamentarischen<br />

Aktion im Spiegel unseres Artikels<br />

über „Einst <strong>und</strong> jetzt" in voriger Nummer.<br />

* T r o t z a l l e d e m u n d d e n n o c h ! Dies war<br />

das Motto, das die Genossen des III. Bezirkes dazu<br />

bewog, dort wieder eine Versammlung einzuberufen,<br />

obwohl die letzte Versammlung ihnen von<br />

Herrn Bernt, einem Manne, der allzugerne das<br />

Tischlerhandwerk an den Nagel hängen <strong>und</strong> gegenwärtig<br />

als Kandidat irgend ein politisches Ämtchen<br />

bekommen möchte, samt seinen Konsorten gesprengt<br />

wurde. Diesmal ließ sich jener Bernt anfangs nicht<br />

blicken, <strong>und</strong> so konnte der G e n o s s e Ramus vor<br />

einem gut besetzten Saal sein Referat über „Die<br />

Zukunft der Gewerkschaftsbewegung" halten. Er<br />

mochte etwa eine ¾ St<strong>und</strong>e gesprochen haben, da<br />

erhob sich plötzlich ein Unbekannter <strong>und</strong>, den Hut<br />

schwenkend, ging er geräuschlos hinaus; ihm folgten<br />

etwa 10 „Männer". Wieder vergingen gute<br />

20 Minuten, während welcher Ramus ruhig weitersprach.<br />

Da zischelten auf einmal einige Stimmen<br />

durch die T ü r : „Genossen, kumt 's aussi, Disziplin<br />

I . . ." Und nun sah man auch das Mondgesicht<br />

des Herrn Bernt, der von draußen, mit seiner<br />

Rotte vor der Türe stehend, Kommando erteilte,<br />

wie Ramus am Weiterreden zu behindern.<br />

Dreimal versuchten sie es, die Leute hinaus zu<br />

beordern, aber es gelang ihnen nur h<strong>und</strong>smiserabel.<br />

Einige muckten sogar auf <strong>und</strong> sagten: „Wir lassen<br />

uns nicht befehlen, w a s wir anhören dürfen <strong>und</strong><br />

w a s nicht . . ." Und als die Rotte Bernt sah, daß<br />

es diesmal mißglückt war, wußte sie sich nicht anders<br />

zu helfen, als indem sie, vor der Türe stehend,<br />

das „Lied der Arbeit" anstimmte, um den Redner<br />

— nicht zu widerlegen, sondern zu überschreien.<br />

Der aber war mittlerweile zu Ende gekommen ;<br />

unsere Genossen lachten diese armseligen sozialdemokratischen<br />

Figuranten aus, die nichts B e s s e r e s<br />

zu tun wußten, als v o r der Halle <strong>und</strong> draußen<br />

stehend sich heiser zu schreien.<br />

Die Angelegenheit hatte auch ein kleines Nachspiel.<br />

Herr Bernt konnte es sich nämlich nach dem<br />

kläglichen Reinfall im Sprengungsversuch nicht versagen,<br />

seine vorzügliche Befähigung als Kandidat<br />

für ein Amt — wofür nur? vielleicht beim Polizeipräsidium?<br />

— dadurch zu erweisen, daß er schnurrstracks<br />

zu einem Kommissär ging <strong>und</strong> unseren<br />

Genossen J o s e f K. verhaften lassen wollte ; weil<br />

derselbe Anarchist sei — huhu! — <strong>und</strong> ihn b e -<br />

leidigt habe (kann man d i e s ? ) . Doch siehe da, der<br />

Polizeikommissär mußte Herrn Bernt, den sozialdemokratischen<br />

Kandidaten für Amtswürden, an<br />

Anstand übertreffen, indem er ihm sagte, daß man<br />

deshalb, weil man Anarchist ist, noch nicht verhaftet<br />

wird <strong>und</strong> er doch die Ehrenbeleidigungsklage<br />

gegen K. einreichen könne. Tableau — <strong>und</strong><br />

das lange Gesicht des Herrn Bernt hätten wir unseren<br />

Lesern zu sehen gewünscht, als ihm einer<br />

seiner eigenen Genossen das Wort „Denunziant"<br />

ins Ohr zischelte . . .<br />

* Im V. Bezirk referierte der G e n o s s e Felsenburg<br />

über das T h e m a „Syndikalismus <strong>und</strong> Anarchismus",<br />

wobei er zu dem Schlüsse gelangte, daß<br />

die beiden nur sehr wenig miteinander gemein<br />

hätten.— — — —<br />

* Im X I V . Bezirke fanden zwei Versammlungen<br />

statt, in denen der G e n o s s e Ramus zwei Vorträge<br />

hielt, die sehr gut besucht waren. Das Thema des einen<br />

lautete: „Die Prinzipien der Sozialdemokratie <strong>und</strong> des<br />

Anarchismus", des andern „Probleme der deutschen<br />

<strong>und</strong> französischen Gewerkschaftsbewegung".<br />

* Die Genossen der Einkaufsgenossenschaftsgruppe<br />

treffen sich jeden Donnerstag Abend bei Schlor.<br />

Böhmen.<br />

B r u c h b e i B r ü x . Seit fast drei Monaten b e -<br />

finden sich die vier Genossen <strong>und</strong> Bergarbeiter<br />

F r a n z B r u c k , F r a n z N o w a k , J . F r o n e k ,<br />

R u d o l f T r e i b a l in Dux in Untersuchungshaft<br />

wegen der gegen sie erhobenen Anklage der Herstellung<br />

<strong>und</strong> Verbreitung antimilitaristischer Flugblätter.<br />

Es wird dies der e r s t e antimitaristische<br />

Prozeß sein, den wir in Österreich haben. Treibal<br />

ist Soldat <strong>und</strong> wird in Theresienstadt in Haft g e -<br />

halten.<br />

Wir alle blicken mit großer Spannung auf den<br />

Ausgang dieses Prozeß-Anschlages auf die selbstbewußte<br />

Würde von Menschen, die den Soldatenstand<br />

hassen, weil er die Eindrillung zum Mord<br />

b e z w e c k t ; <strong>und</strong> unsere wärmste Teilnahme für die<br />

wackeren Pioniere hinter Kerkermauern sei hiermit<br />

ausgedrückt. Im übrigen werden wir die genauesten<br />

Berichte über den Prozeß veröffentlichen.<br />

* <strong>Unser</strong>e Kameraden der böhmischen Bergarbeitergewerkschaft<br />

haben nachstehendes Plakat<br />

in hoher Auflage herausgegeben, dessen Inhalt auch<br />

für unsere deutschen Genossen von großer Bedeutung:<br />

Bergarbeiter! Ihr habt gewiß gehört <strong>und</strong> gelesen,<br />

daß die Regierung ein Gesetz, betreffend die Alters<strong>und</strong><br />

Invalidenversicherung vorbereitet, an welcher<br />

auch die Bergarbeiter beteiligt werden sollen. Und<br />

welche Vorteile bietet diese Regierungsvorlage<br />

unseren verschiedenen Bruderladen gegenüber?<br />

Keine, die Bedingungen sind noch schlechter als<br />

sonst wo. Im Alter von 65 Jahren erst ist der<br />

Bergarbeiter berechtigt, die Rente zu beanspruchen,<br />

welche vielleicht noch kleiner ist als die der Bruderlade,<br />

oder erhalten deine Frau mit Kindern drei<br />

solche Jahresrenten als Abfertigung. D a s bietet uns<br />

die Regierung mit unseren Herren Vertretern im<br />

Parlament. Bei der Reichskonferenz der G e n o s s e n -<br />

schaftsdelegationen in Wien wurde eine Resolution<br />

zu Gunsten der Regierung angenommen. Wo ist<br />

denn eine unserer Hauptforderungen, nach 25jähriger<br />

Grubenarbeit 2 Kronen Tagespension, wo ist der<br />

Beschluß des internationalen Bergarbeiterkongresses<br />

geblieben, eine Jahresrente von 6 0 0 bis 800 K zu<br />

erkämpfen? Und wo bleibt der Beschluß des letzten<br />

Kongresses in S a l z b u r g ? Oder werden diese Kongresse<br />

nur zum Vergnügen der verschiedenen soz.dem.<br />

Unionen abgehalten? Gewiß wird keiner mehr<br />

warten, bis das Gesetz, welches uns schädigen soll,<br />

angenommen wird, um dann wieder Jahrelang gegen<br />

schlechte Versicherung kämpfen zu müssen. Die<br />

Bergarbeiter aller Nationen kämpfen um eine Versicherung<br />

in der Höhe von 7 3 0 K nach 25 Jahren<br />

der Grubenarbeit, welches sie auch teilweise schon<br />

errungen haben. Bergarbeiter! Handeln wir also in<br />

unserem eigenen Interesse, <strong>und</strong> reichen wir uns die<br />

Hand zur gemeinschaftlichen Arbeit. Veranstaltet<br />

überall öffentliche <strong>und</strong> Belegschaftsversammlungen<br />

mit dem Programm betr. die Alters- u. Invalidenversicherung<br />

der Bergleute. Es ist im Interesse des<br />

Bergarbeiterfaches selbst, auf dieser Forderung zu<br />

bestehin <strong>und</strong> überall für dieselbe selbst zu kämpfen.<br />

Auf jeder Grube mögen Delegierte gewählt werden<br />

für den Bergarbeiterkongreß, auf welchem die Bergarbeiter<br />

ohne Unterschied der Parteiangehörigkeit<br />

vertreten sein werden. Der Kongreß wird in Prag<br />

oder in einem anderen Reviere in den Tagen vom<br />

15. bis 17. August d. J. abgehalten <strong>und</strong> sind alle<br />

Anfragen, Anträge, den Kongreß betreffend, an die<br />

A d r e s s e : Alois Basus, Bruch Nr. 70 (Böhmen) zu<br />

senden. Das Komitee.<br />

Verlag der Föderation der Bergarbeiter.<br />

Ungarn.<br />

B u d a p e s t . Herrliches Glück <strong>und</strong> diplomatisch<br />

gewerkschaftliche Weisheit der Tarifverträge, w e s -<br />

halb hast du dich so wenig im Interesse der ungarländischen<br />

Gasarbeiter betätigt? Anfang dieses<br />

Monats lief der für die Dauer von 3 Jahren von<br />

den Gasarbeitern abgeschlossene Tarifvertrag ab,<br />

<strong>und</strong> natürlich haben die Unternehmer einer Erneuerung<br />

desselben vorgebeugt, sie mit allen ordinären<br />

Mitteln hintertrieben. Da setzten die Arbeiter mit<br />

der passiven Resistenz ein, die anfangs vorzüglich<br />

wirkte, indem statt 30000 Kubikmeter G a s nur 20000<br />

erzeugt wurden. Leider aber bekümmerten sich die<br />

Arbeiter desselben Berufes, der konsolidiert in den<br />

Händen der allgemeinen österreichischen Gasgesellschaft<br />

ist, gar nicht um die Aktionen ihrer Brüder.<br />

In Triest, wo der Sitz der Gesellschaft, fiel es den<br />

Arbeitern <strong>und</strong> deren Führern nicht ein, g l e i c h f a l l s<br />

passive Resistenz zu üben <strong>und</strong> sofort eigene F o r -<br />

derungen aufzustellen; in anderen Städten auch<br />

nicht. Und nun erfolgte das, w a s schwachen Arbeiterkategorien<br />

stets geschehen wird, wenn sie<br />

nicht gestützt werden durch die Solidaritätswaffe<br />

des Generalstreiks: die Arbeiter wurden ausgesperrt<br />

<strong>und</strong> S o l d a t e n b e s e t z t e n a l s S t r e i k -<br />

b r e c h e r i h r e P l ä t z e . Wieder zeigte sich die<br />

totale Kopflosigkeit des Zentralismus; die Arbeiter<br />

gaben sogleich klein bei, wollten sogar ihre Vertrauensleute<br />

opfern, die nicht mehr angestellt werden<br />

sollten. Alles vergebens — das Unternehmertum<br />

erwies sich sehr hartnäckig. Warum sollte es eigentlich<br />

auch nicht, weiß es sich doch stärker ob der<br />

Dummheit der Arbeiter?! Und so ist der Streik<br />

zur St<strong>und</strong>e wohl schon beendet, wenigstens verlautet<br />

nichts mehr über ihn; den Arbeitern verbleibt<br />

das Nachsehen — <strong>und</strong> das N a c h d e n k e n .<br />

Herr Dr. Adler brachte im Parlament eine<br />

Entrüstungsinterpellation gegen den Gebrauch von<br />

Soldaten als Streikbrecher ein. Bis heute ist darüber<br />

nicht verhandelt worden. Und eine T a t s a c h e ist es<br />

doch wahrhaftig, daß, wenn man Menschen in<br />

einem Kriege als Totschläger verwenden kann, man<br />

sie im Frieden doch auch als „ökonomische" T o t -<br />

schläger von Arbeitern, als Streikbrecher gebrauchen<br />

darf! Die Interpellation Adlers wandert in den<br />

Papierkorb, ein Solidaritätsstreik der Gasarbeiter<br />

anderer Städte mit den Budapestern hätte den<br />

letzteren aber einen wohl zu vergönnenden Sieg<br />

gebracht.<br />

Bei dieser Gelegenheit meldete die bürgerliche<br />

Presse, daß unsere ungarischen Kameraden eine<br />

antimilitaristische Proklamation herausgaben, in der<br />

sie die Arbeiter im Soldatenrock aufforderten, keine<br />

Streikbrecher zu sein. Ein Kamerad soll verhaftet<br />

worden sein; näheres ist uns jedoch nicht bekannt.<br />

Deutschland.<br />

Am 13. September findet zu Nürnberg der<br />

sozialdemokratische Parteitag statt. Will man die<br />

ganze Kern- <strong>und</strong> Saftlosigkeit der deutschen Sozialdemokratie<br />

kennen lernen, so genügt ein Blick auf<br />

d i e s e Tagesordnung: I . Geschäftsbericht des Vorstandes<br />

(Allgemeines, Organisation der Frauen <strong>und</strong><br />

über Jugendorganisationen, Kasse <strong>und</strong> P r e s s e ) ;<br />

2. Bericht der Kontrollkommission; 3. Parlamentarischer<br />

Bericht; 4. Maifeier; 5. Sozialpolitik <strong>und</strong><br />

der neue K u r s ; 6. Die Reichsfinanzreform; 7. S o n -<br />

stige Anträge; 8. Wahl des Parteivorstandes, der<br />

Kontrollkommission <strong>und</strong> des Ortes, an dem der<br />

nächste Parteitag stattfinden soll.<br />

Nett, nicht w a h r ? Und dies ist die „rrrevolutionäre,<br />

völkerbefreiende Sozialdemokratie"!<br />

Norwegen.<br />

Der 6 . Kongreß der n o r w e g i s c h e n J u -<br />

g e n d o r g a n i s a t i o n e n hat dieselben nun definitiv<br />

von der Sozialdemokratie losgetrennt <strong>und</strong><br />

selbständig, sowohl im Geiste, wie in ihren Mitteln<br />

konstituiert.<br />

Beschlossen wurde u. a. eine strikte antimilitaristische<br />

Propaganda zu entfalten, einen Aufruf<br />

gegen den Militarismus herauszugeben <strong>und</strong> während<br />

der Waffenübungen auf den Exerzierplätzen gratis<br />

zu verteilen.<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur J o b . Poddany ( W i e n ) . — Druck von Karl lsda in Wien.<br />

Als ökonomische Taktik wurde der Generalstreik<br />

<strong>und</strong> die direkte Aktion angenommen. Fast<br />

alle erklärten sich g e g e n den Parlamentarismus<br />

<strong>und</strong> wurde nachstehende Resolution mit überwältigender<br />

Majorität angenommen:<br />

„Indem der Kongreß anerkennt, daß die Fachorganisationen<br />

die besten <strong>und</strong> sichersten Waffen<br />

der Arbeiterklasse gegen Reaktion <strong>und</strong> Unterdrückung<br />

sind, der Streik das beste Machtmittel,<br />

um sich bessere ökonomische <strong>und</strong> lebenswürdigere<br />

Bedingungen zu erkämpfen sowie reaktionäre Rückschläge<br />

z u hindern, b e t r a c h t e t d e r K o n g r e ß den<br />

G e n e r a l s t r e i k a l s d a s b e s t e <strong>und</strong> w i r k s a m s t e<br />

K a m p f m i t t e l d e r A r b e i t e r k l a s s e , um die bestehende<br />

Gesellschaftsordnung umzuwandeln <strong>und</strong> die<br />

Hindernisse wegzuräumen, die der Einführung einer<br />

sozialistischen Gesellschaftsordnung den W e g sperren.<br />

Der Kongreß fordert deshalb den Verband <strong>und</strong><br />

dessen Abteilungen <strong>und</strong> Mitglieder auf, energische<br />

Aufklärungs- <strong>und</strong> Agitationsarbeit für die Idee des<br />

Generalstreiks zu betreiben, sowie unermüdlich <strong>und</strong><br />

intensiv zu agitieren, um das Verständnis <strong>und</strong><br />

Interesse der arbeitenden Jugend zu erwecken."<br />

In der R e l i g i o n s f r a g e wurde beschlossen,<br />

eine intensive freidenkerische Propaganda zu entfalten<br />

<strong>und</strong> für die Abschaffung des Religionsunterrichtes<br />

in den Schulen einzutreten. Nach diversen<br />

anderen, minder bedeutenden Angelegenheiten wurde<br />

der nächste Parteitag für 1909 <strong>und</strong> in Skien anberaumt.<br />

Wir wünschen den jungen norwegischen Kameraden<br />

viele Erfolge, die ja sicher nicht ausbleiben<br />

werden. S o I c Ii e Jünglinge werden feste, unbeirrt<br />

kämpfende Männer ergeben. Bei uns aber in Österreich<br />

könnten die alten, ergrauten Männer der<br />

Sozialdemokratie den Hut vor dieser norwegischen<br />

Jugend wohl lüften!<br />

Spanien.<br />

W e r den Wert der direkten, außerparlamentarischen<br />

Taktik kennen lernen will, braucht sich<br />

nur das eine vor Augen zu führen, daß angesichts<br />

der gewaltigen Agitation, die die spanischen revolutionären<br />

Arbeiter im Verein mit den Freidenkern<br />

<strong>und</strong> Republikanern dagegen führten, die Regierung<br />

überhaupt n i c h t im Stande war, das von ihr geplante<br />

Ausnahmegesetz wider das Proletariat, das<br />

unter dem Namen „Anarchistisches Terroristengesetz"<br />

verkappt wurde, vor das Abgeordnetenhaus<br />

zur Besprechung zu bringen.<br />

Kontrast: In Deutschland kann das Proletariat<br />

nicht die kleinste Willkürmaßregel der Regierung<br />

hintanhalten, in Österreich ist die parlamentarische<br />

Taktik nicht im Stande, auch nur den kleinsten Anschlag<br />

seitens der Regierung abzuwehren. Dies ist<br />

der Triumph der „parlamentarischen Taktik".<br />

Vereine <strong>und</strong> Versammlungen.<br />

A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s f ö d e r a t i o n . Jeden<br />

Montag Abend im V. B e z . , Einsiedlergasse 60. —<br />

Jeden Dienstag Abend im XIV, B e z . , Märzstraße 33.<br />

— Jeden Sonntag um 10 Uhr vormittags im X. Bez.,<br />

Eugengasse 9. — Jeden Mittwoch Abend hat der<br />

Gesangverein „Morgenröte" eine Zusammenkunft<br />

bei Schlor.<br />

Raummangels halber können wir weitere Zusammenkünfte<br />

<strong>und</strong> größere Versammlungen in dieser<br />

Nummer nicht angeben. In obigen Lokalitäten können<br />

alle, die es interessiert, sowohl die Adressen sonstiger<br />

Zusammenkünfte erfahren, wie Handzettel<br />

für die größeren Versammlungen w ä h r e n d der<br />

n ä c h s t e n z w e i W o c h e n entgegennehmen.<br />

Öffentliche Volksversammlung<br />

zur Feier des Andenkens an<br />

Michael Bakunin<br />

am S a m s t a g den 2 5 . Juli, präzise 8 Uhr abends,<br />

in Holubs g r o ß e m S a a l , X I V . , H u g l g a s s e 15.<br />

Referenten in deutscher, tschechischer <strong>und</strong> russischer<br />

Sprache werden sprechen.<br />

T h e m a : M i c h a e l B a k u n i n a l s D e n k e r <strong>und</strong>Kämpfer.<br />

Zur weihevollen Begehung der Erinnerung an unseren<br />

Vorkämpfer wird der Gesangverein „Morgenröte"<br />

mitwirken.<br />

A r b e i t e r , e r s c h e i n t in M a s s e n .<br />

E m p f e h l e n s w e r t e B ü c h e r <strong>und</strong> B r o s c h ü r e n :<br />

Der letzte Krieg, von Teranus, eleg. geb. . K<br />

Wohlstand für Alle, von Peter Krapotkin „<br />

Wiliam Godwin, der Theoretiker des kommunistischen<br />

Anarchismus, v. Pierre Ramus „<br />

Die historische Entwicklung der Friedensidee<br />

<strong>und</strong> des Antimilitarismus, von Pierre<br />

5'—<br />

1.80<br />

2 —<br />

Ramus „ — 3 0<br />

Das anarchistische Manifest, v. P. Ramus „ — 0 6<br />

Kritische Beiträge zur Charakteristik- von<br />

Karl Marx, von Pierre Ramus . . . . „ — 1 2<br />

Wie klärt man Kinder auf?<br />

Das Dogma von der Vaterlandsliebe . . .<br />

„ — 1 2<br />

. „ — 1 2<br />

Liebesfreiheit <strong>und</strong> Eheprostitution, v. Fernau „ — 1 2<br />

Revolutionäre Regierungen, von P. Krapotkin „<br />

Gretchen <strong>und</strong> Helene, Zeitgemäße Betrachtung<br />

— 0 6<br />

des Anarchismus u. d. Sozialdemokratie „ — 2 0<br />

Die Sintflut, von Theodor Brunnecker . . „ — 1 2<br />

Die Auferstehung,<br />

Eine Reise nach<br />

v. T h e o d e r Brunnecker „<br />

dem Jenseits, von Theodor<br />

—-12<br />

Brunnecker<br />

Die freie Generation, Monatsschrift der Welt-<br />

„ — 1 2<br />

anschauung des Anarchismus . . . . „ —-25<br />

Die Pariser Kommune, von P. Krapotkin . — -<br />

l2


Wien, 2. August 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 15.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />

I./17. — Gelder sind zu senden an<br />

W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />

5, III./27.<br />

Kameraden! Seit einigen W o c h e n<br />

erhalten wir von den<br />

diversen Kolporteuren nicht mehr so<br />

pünktlich, w i e dies früher geschah,<br />

die Gelder für ihre diversen Zeitungsbezüge.<br />

Wir hoffen, daß diese Notiz<br />

genügen wird, sie an ihre Pflicht —<br />

deren getreue Erfüllung eine Lebensbedingung<br />

für unser Blatt — zu erinnern.<br />

Das jeweilige Nichteintreffen<br />

des Blattes bitten wir, sofort mitzuteilen.<br />

Allgemeine Gewerkschafts-Föderation, Wien,<br />

EINLADUNG<br />

zu dem am Sonntag den 2. August in J. Holubs<br />

Etablissement, XIV., Huglgasse 15, stattfindenden<br />

Garten-Fest<br />

verb<strong>und</strong>en mit Tanzunterlialtung <strong>und</strong> unter solidarischer<br />

Mitwirkung des Gesangvereines „Morgenröte".<br />

Anfang 3 Uhr nachmittags.<br />

Eintritt im Vorverkauf 40 h, an der Kassa 50 h.<br />

Das Fest findet bei jeder Witterung statt.<br />

Wir ersuchen unsere Fre<strong>und</strong>e, vollzählig zu erscheinen.<br />

Die Stadt der Sonne.*<br />

Aus dem Englischen von L i l l y N a d l e r -<br />

N u e l l e n s.<br />

Durch alle Zeiten tönt ein Schrei d e s Leidens,<br />

Wo Menschen rastlos mühen sich in Not,<br />

Daß and're schwelgen, während sie verschmachten<br />

In Armut <strong>und</strong> in Schmerzen bis zum T o d .<br />

Immer ein Schrei von Männern in Verzweiflung,<br />

Von Frauen <strong>und</strong> von Kindern, dringt empor<br />

Aus Ketten, Elend, aus d e s Hungers Qualen,<br />

Aus Sklaverei <strong>und</strong> T o d e s a n g s t hervor.<br />

Immer das Land, die Quelle alles Lebens,<br />

Dem Volk geraubt mit List <strong>und</strong> mit Gewalt<br />

Und immer tapfere Rebellenherzen<br />

Zermalmt durch die Gesetze fühllos kalt.<br />

Die Näherin in ihrer düst'ren Kammer,<br />

Die Arbeiter in Städten <strong>und</strong> am Land,<br />

Krank, elend — sich für and're endlos mühend —<br />

Von jenen unbeachtet, ungekannt.<br />

Doch immer durch den Kampf <strong>und</strong> die Verwirrung,<br />

Durch der Verzweiflung Schrei <strong>und</strong> bitt'rem<br />

Wort,<br />

Hört man Musik, den Wehruf übertönend,<br />

Erklingt der Hoffnung schwellender Akkord.<br />

Von w<strong>und</strong>en Herzen, so in eins verschmolzen,<br />

Erklingt das Lied — trotz allem Spott <strong>und</strong><br />

Hohn —<br />

Von Zukunftstagen, von der Stadt der Sonne,<br />

In ahnend, selbsterfüllender Vision.<br />

Von Dingen ungeseh'n ein sich'res Zeichen —<br />

Im Menschenherz ihr tiefer Wiederhall;<br />

Verborg'ne Worte — endlich d o c h gesprochen —<br />

Freiheit <strong>und</strong> Bruderliebe überall.<br />

Immer aus Schwäche neue Kraft entsteigend<br />

Und neue Freude aus geteiltem Leid;<br />

Immer vereint die Seele aller strebend<br />

Nach Leben, Liebe, Sieg <strong>und</strong> Herrlichkeit.<br />

Edward Carpenter.<br />

* Obiges ergreifende Gedicht ist die neueste<br />

Geistesschöpfung des englischen Sozialphilosophen<br />

<strong>und</strong> Dichter, <strong>und</strong> bieten wir dessen e r s t e deutsche<br />

Übertragung hiermit dar. Die Red.<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gründe liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />

In den Sommerferien.<br />

Fröhliche Sommerferien hat der Herr<br />

Ministerpräsident dem Volkshause des allgemeinen<br />

Wahlrechtes gewünscht, <strong>und</strong> wir<br />

wünschten, wir könnten sie dem arbeitenden<br />

Volke wünschen. Doch leider verbleibt<br />

letzteres ein frommer Wunsch; nicht jeder<br />

ist in der glücklichen Lage der Herren Parlamentarier,<br />

schon heute das ideale Zeitalter<br />

von, aus dem unergründlichen Volkssäckel<br />

bezahlten, Sommerferien genießen zu können.<br />

Nur sie sind die Auserwählten, die der Staat<br />

als die Vertreter der verschiedenen Klassen<br />

an seinen Karren gespannt hat <strong>und</strong> denen<br />

er dafür, daß sie Hand in Hand mit ihm<br />

an der Aufrechthaltung der heutigen Gesellschaftsordnung,<br />

an deren lügenhaft-täuschendem<br />

Erträglicherwerden arbeiten, diejenigen<br />

privilegierten Positionen innerhalb der bestehenden<br />

Gesellschaftsunterdrückung bietet,<br />

die im allgemeinen von denen innegenommen<br />

werden, die entweder in der Wahl ihrer<br />

Eltern recht vorsichtig gewesen, oder anderseits<br />

die als staatserhaltende Elemente<br />

von den herrschenden Mächten an die Tafel<br />

der Lebensgenüsse herangelassen werden.<br />

Wenn das arbeitende Volk nicht von<br />

seinem Elend so herabgedrückt würde, daß<br />

es in der Tat in sozialpolitischen Fragen<br />

als geistig umnachtet erklärt werden muß;<br />

wenn die intelligenten Wortführer seiner<br />

Ideale nicht ein politisches — also wohl<br />

schmutziges, doch immerhin sehr e i n t r ä g -<br />

liches — Geschäft aus seinem Klassenringen<br />

machten —, niemals könnte dieses Proletariat<br />

in so einfacher Weise ein Spielball der<br />

herrschenden politischen Verschlagenheit,<br />

des Parlamentarismus werden, wie es tatsächlich<br />

der Fall ist. Betrachten wir doch<br />

einmal klaren Auges die realen Verhältnisse,<br />

<strong>und</strong> wir finden dann, daß z. B. die sozialdemokratische<br />

Parlamentsvertretung, die in<br />

ihrer Gesamtheit 88 Mann zählt, laut dem<br />

biographisch-statistischen Handbuch des<br />

Abgeordnetenhauses, sage <strong>und</strong> schreibe<br />

n u r zwei Arbeiter in ihrer Mitte zählt;<br />

alle die übrigen sind Landwirte, Privatbeamte,<br />

Gewerbetreibende, Schriftsteller<strong>und</strong><br />

Künstler, kurz Leute, die schon vor ihrem<br />

Einzüge ins Parlament nicht der arbeitenden<br />

Klasse angehörten <strong>und</strong> deren Einkommen<br />

sich nun in geradezu ideal risikoloser<br />

Form ganz enorm vermehrte. Laut<br />

dieser Aufstellung wäre es doch nur selbstverständlich,<br />

daß die Herren »Arbeiterführer«<br />

der Sozialdemokratie, die doch<br />

schon früher in sozialer Beziehung so<br />

ziemlich sichergestellt waren, nun schon<br />

längst jener Frage wieder nähergetreten<br />

wären, die v o r den Wahlen verschiedentlich<br />

angeregt ward: W a s w e r d e n d i e<br />

» V e r t r e t e r d e s P r o l e t a r i a t s « m i t<br />

i h r e n D i ä t e n , monatlich 600 Kronen,<br />

machen? Statt dessen hört man keinen Laut<br />

mehr aus dieser Richtung.<br />

Vielleicht werden die Herren, die sich<br />

des Vollbesitzes dieser ganz schönen Nebeneinnahme,<br />

die ja ihre sonstigen Einnahms-<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2.40;<br />

halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

quellen, als noch anderweitig besoldete oder<br />

als selbständige Industrielle, in keiner Weise<br />

berührt, vielleicht werden sie uns Begehrlichkeit<br />

vorwerfen. Die echteste Kapitalistenlogik,<br />

die sich ja auch immer gegenüber<br />

den Forderungen des Proletariats auf- <strong>und</strong><br />

sattsam in die Brust wirft. Mögen sie es<br />

bezeichnen, wie es ihnen beliebt, für uns<br />

bleibt d i e Frage ein brennendes Problem:<br />

W o d u r c h u n t e r s c h e i d e n s i c h d i e<br />

A b g e o r d n e t e n d e r S o z i a l d e m o k r a -<br />

t i e v o n j e n e n d e r ü b r i g e n b ü r g e r -<br />

l i c h - p o l i t i s c h e n P a r t e i e n , wenn sie,<br />

ganz wie diese, den Parlamentarismus als<br />

eine Melkkuh für s i c h betrachten, während<br />

sie ihren Wählern es vorschwätzen,<br />

daß der Parlamentarismus eine Volksinstitution<br />

— dieweil er eine B o u r g e o i s -<br />

institution —, daß er für das V o l k eben<br />

im weitesten Sinne von Wert sei, während er<br />

faktisch nichts anderes als ein prägnanterer<br />

Ausdruck der kapitalistischen Bourgeoiswirtschaft<br />

<strong>und</strong> nur für diese von allerdings<br />

ungeheurem, weil konservierendem Werte<br />

ist. Ist es nicht der klarste Beweis für den<br />

Schwindel, den die Parlamentarier a l l e r<br />

Parteien mit dem Volke treiben, wenn sowohl<br />

der Vertreter einer so ausgesprochen<br />

reaktionären Partei, wie es die christlichsoziale<br />

ist, wenn Herr S t e i n e r in seiner<br />

Rede über den Staatsvoranschlag am<br />

26. Juni den Wert des »ersten Volksparlaments«<br />

in lächerlich lügnerischer Weise<br />

preist, die »Arbeiter-Zeitung« vom 27. Juni<br />

aber in ihrem Leitartikel ihn noch übertrifft<br />

in ihrer Ruhmeseulogie, die sie dem<br />

»neuen Parlament« widmet. Eine rührende<br />

Übereinstimmung in Gedanken <strong>und</strong> Gefühlen;<br />

freilich, kein W<strong>und</strong>er!<br />

Und was hat uns das Parlament gebracht?<br />

Neue Steuerbelastungen, einen verstärkten<br />

Militarismus, eine Steigerung, der<br />

Zuckerpreise o h n e Ermäßigung der Zuckersteuer,<br />

eine für den Staat in jeder Hinsicht<br />

befriedigende Erledigung seines Budgets<br />

kurz, sämtliche Staatsnotwendigkeiten,<br />

wie sie auch früher entweder bewilligt oder<br />

einfach genommen wurden. Will man überdies<br />

wirklich wissen, was das Parlament<br />

geleistet hat, dann sollte man eigentlich<br />

fragen, bei welchen Gelegenheiten es vollständig<br />

wirkungslos <strong>und</strong> tatenlos blieb.<br />

Mehr als einmal hat während der letzten<br />

zwölf Monate die Flinte aufs Volk geschossen,<br />

der Säbel in die Massen blindwütend<br />

dreingehauen; das Parlament war<br />

darin machtlos, ihnen Einhalt zu gebieten,<br />

als in Galizien, als in der Bukowina, als<br />

erst vor einigen Wochen in Wien, während<br />

des Streiks der Kanalarbeiter, sich die bewaffnete<br />

Macht des Staates wider die berechtigten<br />

— <strong>und</strong> ach, wie bescheidenen<br />

-- Forderungen des Proletariats aufpflanzte;<br />

dies nur als kleiner Ausschnitt aus dem<br />

Ganzen. Es war unfähig, die Verstärkung<br />

des Militarismus um r<strong>und</strong> 4800 Mann abzuwenden,<br />

die Vermehrung von Steuern zu verhüten,<br />

kurz, den Druck der staatlichen <strong>und</strong><br />

kapitalistischen Autorität auch nur im mindes-


ten lahmzulegen. In zahlreichen Gewerkschaftskämpfen<br />

haben die Behörden das Koalitionsrecht<br />

mit Füßen getreten, wie nur beispielsweise<br />

in Graz — die parlamentarische<br />

Maschinerie funktionierte nicht,oder sie brachte<br />

eine Interpellation ein nach der praktischen<br />

Erdrosselung des Koalitionsrechtes. In unerhörtester<br />

Weise schaltete <strong>und</strong> waltete die<br />

Beamtenwillkür in der Behandlung von Arbeitern<br />

<strong>und</strong> die selige Ära der A u s w e i -<br />

s u n g e n ist wieder angebrochen — die<br />

parlamentarische Maschinerie funktionierte<br />

nicht, oder sie vermeinte, mit dummen Interpellationsredseligkeiten<br />

»etwas« getan zu<br />

haben. Und sollen wir auch noch darüber<br />

sprechen, daß das Parlament sich als völlig<br />

unfähig erwiesen hat, die Lebensmittelpreiseteuerung<br />

zu beheben?<br />

Man wende nicht ein, daß all dies nur<br />

deshalb durchpassieren konnte, weil die<br />

Sozialdemokratie noch in der Minorität im<br />

Abgeordnetenhaus vertreten ist. Das kläglichste<br />

Argument; denn: entweder die Minoritätsparteien<br />

können durch den Parlamentarismus<br />

erfolgreiche Politik treiben,<br />

oder aber: sie selbst beweisen, daß der<br />

Parlamentarismus für irgend welche proletarisch-soziale<br />

Zwecke total untauglich, da<br />

sich die Herren Parlamentarier, z. B. sozialdemokratischen<br />

Kolorits, doch selbst nicht<br />

der dummen Meinung hingeben können,<br />

je in absehbarer Zeit die Majorität zu gewinnen;<br />

<strong>und</strong> was soll inzwischen im Parlament<br />

geleistet werden?<br />

Viele radikale Sozialdemokraten werden<br />

uns darauf antworten, daß die Abgeordneten<br />

Obstruktion treiben <strong>und</strong> dadurch<br />

vielleicht manche ihrer »proletarischen«<br />

Forderungen hätten durchpeitschen können.<br />

Mit nichten; <strong>und</strong> die Sozialdemokraten<br />

wissen selbst sehr gut, daß sie dies nicht<br />

können. Man vergesse niemals, daß wir<br />

seit 1861 in Österreich 10 Legislaturperioden<br />

gehabt haben, die k e i n Volksparlament«<br />

konstituierten <strong>und</strong> von denen n e u n<br />

gewaltsam unterbrochen, von der Regierung<br />

a u f g e l ö s t wurden. Wie würde es erst<br />

dieser elften Legislaturperiode des allgemeinen<br />

Wahlrechtes ergehen, wenn sie sich<br />

bockbeinig erwiese! Es gibt keinen beredteren<br />

Beweis dafür, wie sehr der Parlamentarismus<br />

nichts anderes leistet, als die<br />

Geschäfte der herrschenden Klassen, wie<br />

dieser eine Umstand; tut er es nicht, so wird<br />

er einfach heimgeschickt zu Muttern, wie<br />

im Frühjahr 1907 der deutsche Reichstag,<br />

keine Majorität oder Minoritätskraft irgend<br />

einer Oppositionspartei kann ihn davor,<br />

vor diesem armseligen Schicksal eines entlassenen<br />

<strong>und</strong> hinausgeworfenen Lakaien<br />

bewahren. Und es ist für keinen Abgeordneten<br />

eine angenehme Sache, dem Vergnügen<br />

der Obstruktion halber monatlich<br />

600 Kronen einzubüßen.<br />

Doch Gerechtigkeit dem, dem Gerechtigkeit<br />

gebührt! Das soeben in die Sommerferien<br />

gegangene Parlament — welch<br />

schreckliche parlamentslose Zeit, welches<br />

Chaos muß da wohl herrschen in der<br />

Zwischenzeit bis zum Herbst! — hat auch<br />

L e i s t u n g e n zu verzeichnen. In der Tat,<br />

die Herren können stolz sein auf ihre «Erfolge»,<br />

die ihnen von der Regierung, als<br />

s ä m t l i c h e i h r e r W ü n s c h e bewilligt<br />

waren, hingeworfen wurden wie Knochen,<br />

die man H<strong>und</strong>en zuwirft. Haben wir nun<br />

nicht das formelle Versprechen der Regierung,<br />

den weißen Phosphor abzuschaffen;<br />

haben wir nicht eine «Entschädigung» der<br />

Reservisten durch etwa K 1 pro Tag"; haben<br />

wir nicht das Versprechen, die Alters- <strong>und</strong><br />

Unfallversicherung in der Herbstsession<br />

einzubringen; haben wir nicht die Abschaffung<br />

der letzten Waffenübung?<br />

All dies hat uns das Parlament gebracht;<br />

so behaupten es wenigstens die Herren,<br />

die schließlich beweisen müssen, daß sie<br />

K 600 pro Monat nicht umsonst einstreuen,<br />

Nun gibt es aber solche böse Leute, die<br />

alle diese schönen «Errungenschaften» —<br />

wie gefährlich für Thron, Altar <strong>und</strong> Geldsack!<br />

— mit kritischen Augen betrachten.<br />

Was die Arbeiterschutzgesetzgebung anbetrifft,<br />

wissen wir z. B., daß t r o t z ihrer<br />

geschriebenen Gesetze <strong>und</strong> Verbote in den<br />

Ziegelwerken Wiens unmenschlich lange<br />

Arbeitszeit <strong>und</strong> mit Kinderkräften gefrohndet<br />

wird; was die Entschädigung der Reservisten<br />

anbetrifft, erachten wir sie als k e i n e<br />

Entschädigung, da sie zu wenig ist, um<br />

damit leben, zu viel, um damit sterben zu<br />

können, <strong>und</strong> weil sie ja wieder das Volk<br />

durch ein ungeheuerlich v e r m e h r t e s<br />

Staatsbudget zu bezahlen hat; wenn wir<br />

nicht irren, belief sich die Mehrforderung<br />

auf über 200 Millionen Kronen; <strong>und</strong> die<br />

Abschaffung der letzten Waffenübung ist<br />

größtenteils die Folge des Schwächezustandes,<br />

in dem sich das dazu gehörige<br />

Menschenmaterial dann schon befindet, wie<br />

auch des Umstandes, daß der Staat nicht<br />

mehr wußte, was mit denjenigen anzufangen,<br />

die in immer größerer Anzahl instinktiv die<br />

direkte Aktion betätigten, mit Weib <strong>und</strong><br />

Kindern einrückten, da sie nicht wußten,<br />

wo die ihren unterzubringen; man rede<br />

uns nicht von dieser schon so oft kommenden<br />

Alters- <strong>und</strong> Unfallversicherung -<br />

selbst die russische Regierung führt eine<br />

solche ein! — die von dem Volke wieder<br />

selbst bezahlt wird werden müssen, <strong>und</strong><br />

wofür es nur zum kleinsten Teil etwas<br />

gewinnen wird. Man blicke bloß nachEngland,<br />

<strong>und</strong> ist doch das englische Versicherungsgesetz<br />

noch «ideal» im Vergleich zu dem,<br />

was wir hier erhalten werden.<br />

Schwindel, Selbsttäuschung, bewußte<br />

Täuschung der Volksmassen, eine perfide<br />

Verhöhnung jedes wahren Kulturfortschrittes<br />

— d i e s ist d i e L e i s t u n g d e r H e r r e n<br />

in d e n S o m m e r f e r i e n . . . Und die<br />

Sozialdemokraten löschen sich schon dadurch<br />

aus der Liste des Sozialismus aus,<br />

daß sie an diesem organisierten Volksbetrug<br />

mitwirken, als Mitbeteiligte auch Mitgenießer<br />

an den Beutefrüchten dieser kolossalen<br />

Volksbetörung, also mitschuldig sind.<br />

Auf ökonomischem Gebiete hat sich<br />

der moderne Kapitalismus sein Parlament<br />

in der Institution der B ö r s e geschaffen.<br />

Eine Institution schwindelhafter Spekulation<br />

mit fremden Werten, mit fremder millionenfacher<br />

Arbeitskraft, wo die kapitalistische<br />

Klasse unter sich die Konjunktur ausnützt,<br />

regelt, kurz, das ökonomische Treibhausleben<br />

der kapitalistischen Gesellschaft sich<br />

dienstbar macht. W a s d i e B ö r s e auf<br />

ö k o n o m i s c h e m G e b i e t , d a s ist d a s<br />

P a r l a m e n t auf p o l i t i s c h e m G e b i e t .<br />

In der Börse zählt der Besitz, der Reichtum;<br />

auch im Parlament. Und genau so<br />

absurd, albern, wie es wäre, einem Besitzlosen<br />

einen Börsensitz zu erkaufen, damit er<br />

nun das ökonomische Getriebe dieser Institution<br />

beeinflusse — genau so absurd, albern,<br />

selbstsüchtig-demagogisch ist es, zu<br />

lehren, daß man durch die Wahl von sozialdemokratischen<br />

Abgeordneten ins Parlament<br />

die politische Position, die sozialen Machtinstitutionen<br />

der herrschenden Klasse irgend<br />

wie erschüttern könne.<br />

Nicht parlamentarische Interpellationsfetzen,<br />

ödes Parteikleppertum <strong>und</strong> dessen<br />

jesuitisch-demagogisches Gebahren ist es,<br />

was dem Volke ökonomische Augenblicksverbesserungen<br />

erkämpfen kann. Einzig <strong>und</strong><br />

allein d e r G e n e r a l s t r e i k u n d d i e<br />

d i r e k t e A k t i o n , die bewußte Massenaktion<br />

durch Entzug der Arbeitskraft d e m<br />

<strong>und</strong> durch bewußtes Eingreifen in d e n<br />

Arbeitsprozeß der kapitalistischen Industrie<br />

sind es, die dem Volke seine momentanen<br />

Augenblicksforderungen erkämpfen können.<br />

Allerdings, wir sind ehrlich genug, es ein-<br />

zugestehen, daß das Volk, wenn siegreich<br />

die Relativität <strong>und</strong> Zweischneidigkeit a l l e r<br />

Gegenwartsverbesserungen selbst sehr bald<br />

erkennen wird, eben weil diese k e i n e<br />

d a u e r n d e n Verbesserungen sein können.<br />

Aus dieser Erkenntnis wird das Proletariat,<br />

losgelöst von dem Schwindel des Parlamentarismus,<br />

sich stützend auf seine eigene<br />

organisierte Solidaritätsmacht, sich dann<br />

überhaupt nur mit den Großproblemen des<br />

sozialen Kampfes beschäftigen, die lauten:<br />

A b s c h ü t t e l u n g d e r L o h n s k l a v e r e i<br />

u n d j e d e r s t a a t l i c h e n A u t o r i t ä t .<br />

Das Proletariat wird im steten Ringen um<br />

diese e c h t e n <strong>Ziel</strong>e menschheitlicher Befreiung<br />

die Verwirklichungsmöglichkeiten<br />

für dieselben beschaffen, mit seinen hohen<br />

<strong>Ziel</strong>en geistig reifen.<br />

So wird, so muß es gehen <strong>und</strong> kommen,<br />

dies ist unsere, der Anarchisten Aufgabe!<br />

Wir rufen deshalb unverdrossen immer<br />

wieder dem Volke zu: die Befreiung<br />

des Proletariats muß das eigene Werk dieses<br />

Proletariats sein, ein Werk, das durch<br />

kein Parlament der Welt geleistet werden<br />

kann, ein Werk, das durch jedes Parlament<br />

der Welt verhindert wird. N i c h t für<br />

die Verbesserung des Staates, n i c h t für<br />

das Erträglichermachen der kapitalistischen<br />

Herrschaft <strong>und</strong> Ausbeutung gilt es zu<br />

kämpfen, sondern um vollständigste Befreiung,<br />

um endgültige Lösung des sozialen<br />

Konfliktes, der gegenwärtig die Menschheit<br />

durchtobt.<br />

Und, wir sind dessen gewiß, trotz all<br />

des Eigennutzes <strong>und</strong> der bornierten Niedertracht<br />

all unserer Gegner: i h r e S o m m e r -<br />

f e r i e n w e r d e n d e r e i n s t , u n d z w a r<br />

b a l d z u E n d e g e h e n !<br />

Das Leben in Freiheit.*<br />

Es fehlt in der menschlichen Geschichte<br />

nicht an Beispielen, daß die Menschen,<br />

wenn sie in ihren Handlungen vollkommen<br />

frei <strong>und</strong> ungehindert sind <strong>und</strong>, ihren Bedürfnissen<br />

gemäß, den vollständigen Nutzen<br />

des sie umgebenden natürlichen Reichtumes<br />

genießen können, fähig sind, als vernünftige<br />

Geschöpfe zu leben. Sie sind darum besorgt,<br />

ihre Nachbarn nicht zu unterdrücken, ihren<br />

Mitmenschen nicht zu schaden <strong>und</strong> sogar<br />

bestrebt, nach besten Kräften für das Wohl<br />

der ganzen Gemeinde zu arbeiten. Einige<br />

neue Beispiele bestätigen es uns wieder,<br />

daß, wenn es die einzelnen Menschen eines<br />

Tages nur wirklich ernstlich wollen, die<br />

von jedem Zwang freie Gesellschaft aus<br />

einem schönen Traum zur vollen Wahrheit<br />

werden wird.<br />

Die kleine Stadt U t i l l a , welche ehedem<br />

zu Großbritannien gehörte <strong>und</strong> unweit<br />

der Küste der südamerikanischen Republik<br />

Honduras liegt, wurde vor ungefähr sechzig<br />

Jahren vom ersteren Staat an Honduras<br />

überlassen. Die Insel ist fast ausschließlich<br />

von Nachkommen englischer <strong>und</strong> gallischer<br />

Kolonisten bevölkert. Utilla bleibt auch in<br />

ihrem Aussehen <strong>und</strong> ihrem Charakter ganz<br />

eine englische Kleinstadt, <strong>und</strong> trotzdem ihre<br />

achth<strong>und</strong>ert Einwohner die Untertanen der<br />

benachbarten Republik sind, bewahren sie<br />

eifersüchtig die Traditionen <strong>und</strong> Gebräuche<br />

ihrer ursprünglichen Heimat. Inmitten unserer<br />

heutigen Zivilisation würde eine Stadt<br />

wie Utilla nicht ohne Steueramt, Gendarmerie,<br />

Gerichtshöfe, Gefängnisse <strong>und</strong> andere<br />

so unendlich schöne Institutionen bestehen<br />

können. Sie wäre auch mit einem Haufen<br />

Beamten belastet, vom Bürgermeister an<br />

bis zum Feldhüter, um den Gesetzen Respekt<br />

zu verschaffen <strong>und</strong> die Verbrecher<br />

zu bestrafen. In U t i l l a a b e r , wo d i e<br />

m e n s c h l i c h e A r b e i t n i c h t d a s G e -<br />

* Übersetzt aus unserem französischen Bruderblatt<br />

„Les Temps Nouveaux".


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Österreich.<br />

* Die Nummer 14 des „W. f. A." verfiel der<br />

regulären Konfiskation.<br />

* Wir ersuchen sämtliche unsere Abonnenten<br />

<strong>und</strong> Kolporteure, wenn ihnen das Blatt nicht regelmäßig<br />

zugeht, sofort bei der Post zu reklamieren,<br />

wie uns auch stets unverzüglich Mitteilung davon<br />

zu machen. Letzteres gilt vornehmlich für unsere<br />

kolportierenden Kameraden. Verschiedene Umstände<br />

veranlassen uns, auf die genaueste Ausführung<br />

dieses Ersuchens bei den Genossen zu dringen.<br />

* Am 20. Juli hatten wir, zum ersten Mal seit<br />

der Wiederentfaltung unserer hiesigen Propaganda,<br />

im XII. Bezirk eine große Versammlung. Der Saal<br />

war dicht besetzt <strong>und</strong> hatten sich auch die Würdenträger<br />

der Sozialdemokratie eingef<strong>und</strong>en. Besonders,<br />

wenn auch wenig rühmlich, wollte sich der sozialdemokratische<br />

Reichratsabgeordnete W u t s c h e i<br />

hervortun. Ehe dem Genossen Ramus das Wort zu<br />

seinem Vortrag über „Die Gewerkschaftsbewegung<br />

<strong>und</strong> der Anarchismus" erteilt werden konnte, meldete<br />

sich Herr Wutschel zu Worte <strong>und</strong> warf nun mit einem<br />

halben Dutzend gemeinen Verdächtigungen wider die<br />

Anarchisten nur so herum. Sie seien Polizeiwerkzeuge,<br />

Regierungssubjekte, dies wäre Peukert gewesen<br />

— mit derlei faustdicken Beleidigungen<br />

warf er um sich. Dabei konnte sich der behäbige<br />

Herr die Kleinlichkeit nicht verkneifen, die welterschütternde<br />

Neuigkeit zu offenbaren, daß der Gen.<br />

Ramus ja eigentlich R. Großmann heiße. Wie schrecklich,<br />

wie entsetzlich; wenn nur die Herren Springer<br />

nicht auch Renner, Habakuk eigentlich Kralik, Oblononski<br />

eigentlich St. Großmann hießen! Schließlich<br />

aber „zog" die Persönlichkeit des Herrn Wutschel<br />

nicht hinlänglich, <strong>und</strong> die Versammelten verlangten<br />

stürmisch, den Referenten zu hören. So mußte<br />

dem Gen. Ramus das Wort erteilt werden, der, vor<br />

dem eigentlichen Eingehen auf das Thema des<br />

Abends, vorerst die Behauptungen des Herrn Wutschel<br />

richtig stellte; besonders dadurch, daß er den<br />

Namen H. O b e r w i n d e r fallen ließ . . . Dies genügte<br />

<strong>und</strong> mit Ausnahme diverser Unflätigkeiten, die<br />

sich ein Bezirksleiter namens H u m m e l leistete,<br />

wofür er vom Referenten in durchaus gebührendem<br />

Ton gebrandmarkt wurde — der Gerichtsweg steht<br />

ihm ja nun offen! — ging die Versammlung ziemlich<br />

ruhig zu Ende, bis es zur Diskussion kam,<br />

Nachdem Herr Wutschel sich <strong>und</strong> seine Partei durch<br />

die ihm vorausgegangenen Diskussionsredner gehörig<br />

hatte blamieren lassen, meldete er sich als Sechster<br />

zu Worte. Und wir müssen es gestehen: die Lektion,<br />

die ihm der Gen. R. gleich anfangs erteilt,<br />

hatte W<strong>und</strong>er gewirkt, der Herr Wutschel sprach<br />

nun als anständiger Gegner <strong>und</strong> benahm sich<br />

schließlich auch als solcher. Doch lange kann die<br />

Katze das Mausen niemals lassen — <strong>und</strong> als sich<br />

der Gen. R. nun an die Widerlegung der W.'schen<br />

Ausführungen machte — was schon ziemlich schwer<br />

ging, da die Hummel <strong>und</strong> Konsorten fortwährend<br />

Radau provozierten — da verdroß ihn dies so<br />

sehr, daß der edle Freidenker, der neuerdings zubegeben<br />

hatte, daß die Politik ein schmutziges Geschäft<br />

sei, dazwischen rief: „Das sind jüdische Verdrehungen!"<br />

Geist der Väter der Adler, Renner,<br />

Bratin, Diamant usw. stehe uns bei! Dieser Geistesruf<br />

genügte jedoch als Signal für die würdigen Anhänger,<br />

sie stimmten das Lied „Die Arbeit hoch!"<br />

bravo, ihr wackeren Lohnsklaven! — an <strong>und</strong><br />

unter Radau schloß die Versammlung. — Als Facit<br />

derselben können wir den Ausspruch eines alten<br />

Sozialdemokraten bieten, der sagte: „Zwanzig Jahre<br />

war ich Sozialdemokrat, von heute an bin ich es<br />

nicht mehr, denn ich sehe, meine Partei kann die<br />

Anarchisten wohl niederjohlen, aber nicht widerlegen."<br />

* Merkwürdigerweise <strong>und</strong> wider alles Erwarten<br />

hatte die Polizei die von uns einberufene große<br />

Volksversammlung zum Andenken an Michael Bakunin<br />

n i c h t verboten. So war, trotz eines erzmiserablen<br />

H<strong>und</strong>ewetters, das draußen tobte, die<br />

Versammlung auch wider alle Erwartungen, außerordentlich<br />

gut besucht <strong>und</strong> konnte um punkt 8 Uhr<br />

15 Min. eröffnet werden, sobald der Regierungsvertreter<br />

eingetroffen war. Den Vorsitz führte Kamerad<br />

E. Haidt, der in kurzen Finleitungsworten die<br />

Bedeutung dieser Versammlung auseinandersetzte<br />

<strong>und</strong> hierauf dem Gen. P. R a m u s das Wort zu<br />

seinem Referat über „Bakunin als Denker <strong>und</strong><br />

Kämpfer" erteilte. Es war das erste Mal, daß man<br />

Bakunins in Österreich in öffentlicher Massenversammlung<br />

gedachte <strong>und</strong> aller der vielen Anwesenden<br />

hatte sich eine begeisterte Stimmung bemächtigt.<br />

Sie folgten deshalb auch mit musterhafter Ruhe<br />

den 1¾ St<strong>und</strong>e währenden Ausführungen des Redners,<br />

<strong>und</strong> am Schlüsse fand seine Rede begeisterte<br />

Zustimmung. Darnach gruppierte sich der Gesangverein<br />

„Morgenröte" <strong>und</strong> trug zwei der Gelegenheit<br />

angepaßte Gesänge vor, einer derselben war der<br />

begeisternde Sturniesgesang der „Internationale". Es<br />

hatten sich sehr viele Sozialdemokraten eingef<strong>und</strong>en,<br />

aber keine häßlichen Radauszenen störten den Gang<br />

der Feier. Gr<strong>und</strong>? Es war kein einziger „Führer"<br />

anwesend, der die gemeinen Instinkte in ihnen hätte<br />

aufpeitschen können. Eine größere Anzahl Zeitungen<br />

<strong>und</strong> Broschüren wurde abgesetzt <strong>und</strong> ergab eine<br />

freiwillige Kollektion ebenfalls eine unerwartet reichliche<br />

Summe für unseren Preßfond.<br />

<strong>Unser</strong>e erste Bakuninfeier wird all unseren<br />

Kampfesgefährten <strong>und</strong> jenen, die aus Neugierde gekommen<br />

waren, um zu hören, was die vielgeschmähten<br />

Anarchisten eigentlich zu sagen haben,<br />

in schönster <strong>und</strong> weihevollster Erinnerung bleiben,<br />

* Einer unser wackersten <strong>und</strong> unermüdlich<br />

tätigen Genossen, nämlich L. Ratz, ist von der löblichen<br />

Hermandad ausgewiesen worden. Er kolportierte<br />

eine konfisziert g e w e s e n e Nummer unseres<br />

Blattes <strong>und</strong> wurde von zwei Denunzianten — einer<br />

derselben ist Sozialdemokrat! — der Polizei angegeben.<br />

Ratz wurde zu 5 Tagen Gefängnis verurteilt,<br />

die er absaß; aber schon einen Tag nach<br />

seiner Freilassung wurde ihm die Ausweisung überreicht,<br />

denn laut dem österreichischen Wahnsinn<br />

leben wir wohl in einer österreichisch-ungarischen<br />

Monarchie — nichtsdestoweniger ist Ungarn ein<br />

Ausland . . . Die Föderation legte gegen diese Ausweisung<br />

Rekurs ein, doch leider bewahrheitete sich,<br />

was der Polizeibeamte unserem Genossen gleich<br />

anfangs gesagt hatte: „Glauben Sie vielleicht, daß<br />

dies Ihnen etwas nützen wird?" Es half in der Tat<br />

nichts, denn eine Krähe hackt der andern die Augen<br />

nicht aus. Wir sind dessen gewiß, daß die Worte<br />

des Genossen Haidt, die dieser in bezug auf Ratz<br />

in unserer Bakuninversammlung äußerte, als die Anwesenden<br />

in corpore von ihm Abschied nahmen,<br />

noch viele vortreffliche Beweise erhalten werden:<br />

Wo immer Ratz sich aufhalten wird, er wird stets<br />

ein Lichtträger der Lehre des Anarchismus sein!<br />

Genossen, ahmen wir ihm nach!<br />

* Im Inlande schämt sich die österreichische<br />

Sozialdemokratie, ihren wahren Geist zu offenbaren,<br />

sei's aus Scham vor älteren sozialistischen Traditionen,<br />

sei's aus Furcht vor dem ihrer Durchschauung<br />

<strong>und</strong> einer höheren Geistesauffassung entspringenden<br />

Anarchismus. Dafür aber geniert sie sich<br />

desto weniger im Auslande. So gesteht ein anonymer<br />

Wiener Berichterstatter im Berliner „Vorwärts"<br />

: „ . . . Es (das Haus des allgemeinen Wahlrechts)<br />

hat dem Hof eine Rekrutenvermehrung gebracht,<br />

auf dip er in dem angeblich so patriotischen<br />

Privllegienparlament n i e h ä t t e h o f f e n k ö n n e n . "<br />

Und da freut sich die kreuzbrave Seele über<br />

dieses ideale Parlament. Wenn wir Anarchisten behaupten,<br />

daß die ganze parlamentarische Institution<br />

nichts als ein Werkzeug des Staates für sich <strong>und</strong><br />

seine Zwecke, da leugnen es die guten Sozialdemokraten.<br />

Im Auslande sind sie „ehrlicher" <strong>und</strong> zeigen<br />

aufrichtig, wie sie eigentlich denken. Wir entnehmen<br />

derselben Berichterstattung:<br />

„In diesem ersten Jahr eines Parlaments, dessen<br />

Umgestaltung bis in die Tiefen hinabreicht, können<br />

verantwortliehe <strong>und</strong> gewissenhafte Leute d e n g e -<br />

w a l t i g e n W e r t d e r D e m o k r a t i e a u c h f ü r<br />

d e n S t a a t u n d s e i n e E r f o r d e r n i s s e e r -<br />

k e n n e n . " Was von einer Wahlreform erwartet<br />

werden kann, hat die des österreichischen Abgeordnetenhauses<br />

erfüllt."<br />

Gewiß also die Demokratie ist von Wert<br />

für die Staatsnotwendigkeiten. Ist es denn nicht<br />

schon deshalb notwendig, sich von dieser Demokratie<br />

abzukehren, um kein Staatslakai zu werden ?<br />

Da lobe ich mir den Konservativen, er vertritt w e -<br />

nigstens einen Standpunkt. Aber der Demokrat?<br />

Er ist da — siehe oben — für die Erfordernisse<br />

des m o n a r c h i s c h e n Staates. Ja nun, was tut<br />

man nicht alles für 20 Kronen pro T a g ; wird doch<br />

die physische Prostitution • obwohl aufreibender<br />

— weit schlechter bezahlt.<br />

* Die diversen Millerandisten der österreichischen<br />

Sozialdemokratie werden ihren Herzenswunsch<br />

bald erfüllt sehen. In der nächsten Session des Parlaments<br />

wird wohl ihr Wunsch in Erfüllung gehen<br />

<strong>und</strong> einer der ihrigen eine Vizepräsidentenstelle einsacken<br />

<strong>und</strong> mit all ihren für den Sozialismus so<br />

ungemein kompromittierenden Würden bekleiden.<br />

In Oesterreich ist man viel praktischer als in Deutschland.<br />

Dort zeterte der „radikale" Teil der Partei<br />

ganz gewaltig, als diese Frage vor fünf Jahren auf<br />

dem politischen Horizont der deutschen Partei auftauchte.<br />

Bei uns herrscht „Meeresstille", hier ist<br />

alles einig <strong>und</strong> einmütig — in der Schmach.<br />

Macht nichts, nur immer weiter auf diesem<br />

halsbrecherischen Pfade, desto rascher wird der<br />

Schrecken ein Ende nehmen!<br />

* Unlängst entrüstete sich die „Arbeiterzeitung"<br />

mit vollem Recht über die windigen Prinzipien des<br />

Christlichsozialen Lueger, der dem jüdischen Bankier<br />

v. Taussig um ein Anlehen von 150 Millionen<br />

Kronen anging, dasselbe auch erhielt.<br />

Ihre moralische Entrüstung <strong>und</strong> Ästhetik hinderte<br />

die „Arbeiterzeitung" aber keineswegs daran,<br />

von dem Konzern Lueger - Taussig ein großes<br />

Inserat aufzunehmen, in dem den Lesern die Bedingungen<br />

einer Subskription auseinandergesetzt<br />

wurden, die sie im redaktionellen' Teil des Blattes<br />

— <strong>und</strong> zwar mit vollem Recht — verhöhnt hatte.<br />

Freilich hat sie dafür, für diese Charakterfestigkeit,<br />

die Entschuldigung, daß sie, laut oft wiederholter<br />

Weisung, für den Inseratenteil des Blattes<br />

„keine Verantwortung" übernimmt. Die schönste<br />

Art, um sich aus unangenehmen Situationen zu<br />

ziehen; im übrigen haben wir noch von keinem<br />

Streik der Arbeiterzeitungsredaktion gegen die Geschäftsadministration<br />

gehört, denn die Praxis der<br />

letzteren trägt viel Geld ein.<br />

Tirol.<br />

B o z e n . <strong>Unser</strong> Genosse L. Saverschak, der<br />

sich hier wegen des letzten Streiks der Holzarbeiter<br />

in aufopferndster Weise exponierte, wurde schon<br />

mehrfach in Fabriken gemaßregelt. Es ist sehr bezeichnend,<br />

daß sich die Verbandsleitung seiner in<br />

keiner Weise annimmt. Im Gegenteil jammerte die<br />

sozialdemokratische „Volkszeitung" über seinen<br />

<strong>und</strong> einiger Kameraden mehr Mut <strong>und</strong> Ausdauer<br />

während des Kampfes; Eigenschaften, die gegen<br />

das Streikbrechergesindel an den Tag gelegt wurden.<br />

Schweiz.<br />

Bedecke dein Antlitz mit Schamröte - elende,<br />

feile Dirne eines Teil, die du nun schon zum wiederholten<br />

Male die Revolutionäre, die sich nach<br />

deinen Kantonen flüchteten, den Bestialitäten des<br />

russischen Blutzarismus überantwortet hast!<br />

Wieder ist eine solche Schandtat geschehen:<br />

W a s s i l i e f f , ein energischer Jüngling <strong>und</strong> Mitglied<br />

der sozialistisch-revolutionären Partei Rußlands,<br />

hatte den in seinem Blutdurste sich sadistisch gebärdenden<br />

Polizeimeister von Pensa hingerichtet.<br />

Er flüchtete nach dem „Asyl", in die „freie Schweiz",<br />

um dort einem Schicksale entgegen zu gehen, das<br />

ihm nur sehr wenige monarchische Regierungen<br />

Europas bereitet hätten. Das B<strong>und</strong>esgericht entschied<br />

nämlich durch eine Majorität von 6 gegen 5<br />

— ist dies nicht schon genügend, um den ganzen<br />

Wahnwitz einer demokratischen Herrschaft, die Tod<br />

oder Leben nach Zufallszahlen bemißt, endgiltig<br />

totzuschlagen? — daß Wassilieff als gemeiner(!)<br />

Mörder an Rußland ausgeliefert werde, was denn<br />

auch geschah.<br />

Ein weiteres Opfer ist somit der Bestie Zarismus<br />

übermittelt. Fluch den erbärmlichen Schergen,<br />

Ehre dem geopferten Vorkämpfer für ein freies<br />

Rußland!<br />

Bei dieser Gelegenheit können wir nicht umhin,<br />

einen direkt in die Augen springenden Punkt<br />

zu berühren. Was tat die in der Schweiz p o l i -<br />

t i s c h außerordentlich starke Sozialdemokratie für<br />

Wassilieff, i h r e n Parteigenossen? Nichts; eine<br />

Protestresolution wurde angenommen. Dabei ist<br />

die Schweizer Sozialdemokratie eine in den Kantonen<br />

Zürich, Basel <strong>und</strong> St. Gallen an der Regierung<br />

beteiligte Partei; ist in den Parlamenten von r<strong>und</strong><br />

20 Kantonen <strong>und</strong> von 15 Kommunen stark vertreten;<br />

hat einen eigenen Regierungspräsidenten.<br />

Und wenn es nur dieser allein wäre, er hätte W.<br />

schon dadurch retten können, daß er verfügen<br />

hätte können, daß sich keine Polizeiorgane zu den<br />

Schergendiensten für des Zaren Mordzwecke bereit<br />

finden sollten. Aber weder er noch die gesamte<br />

„politische Macht" tat das Geringste; so wie das<br />

B<strong>und</strong>esgericht entscheidet, so muß es eben sein . . .<br />

A u ß e r p a r l a m e n t a r i s c h zu kämpfen, durch<br />

einen großen Generalstreik, das hat nur das romanische<br />

Proletariat der Schweiz gelernt <strong>und</strong> dies<br />

noch nicht zur Genüge, wie vorliegender Fall beweist.<br />

Das deutschschweizerische Proletariat kann<br />

überhaupt nur Resolutionen fassen, Regierungspräsidenten<br />

erwählen <strong>und</strong> den alten politischen<br />

Gaukler Greulich hochleben lassen; diesem Umstand<br />

verdankt Wassilieff seinen Tod, die Machtlosigkeit<br />

der „politischen Macht" hat ihn getötet.<br />

Belgien.<br />

Während die reichsdeutsche Jugendbewegung<br />

in der sozialdemokratischen Partei- <strong>und</strong> Gewerkschaftsbewegung<br />

in ihrer Selbständigkeit nicht mehr<br />

anerkannt wird; während die österreichische Jugendbewegung<br />

in ihrer geistigen Qualität noch sehr hinter<br />

jener einherhinkt, <strong>und</strong> mau bei uns die Jugend anstatt<br />

zu energischen revolutionären Kämpfern, zu<br />

getreuen, wackeren, gesetzesk<strong>und</strong>igen <strong>und</strong> -fürchtenden<br />

Staatsbürgern erzieht, denen das Gift des Antimilitarismus<br />

ganz vorenthalten bleiben muß — hat<br />

die „Junge revolutionäre Garde" von B r ü s s e l sich<br />

aus den Fangen der Ämtestreber <strong>und</strong> politischen<br />

Beutejäger befreit <strong>und</strong> die nachfolgende Resolution<br />

angenommen:<br />

„Es ist hohe Zeit, dem betrügerischen Reformismus<br />

der Politiker aller Kategorien <strong>und</strong> der interessierten<br />

Parteiführer, den aufrichtigen revolutionären<br />

Geist derjenigen entgegenzusetzen, die einen selbständigen<br />

sozialistischen Willen haben.<br />

Wir erstreben die gänzliche Umwandlung der<br />

gegenwärtigen Gesellschaft:<br />

B e s e i t i g u n g d e s K a p i t a l i s m u s , der<br />

einigen wenigen auf Kosten aller das Eigentum <strong>und</strong><br />

die Nutznießung der Produktionsmittel zuspricht<br />

also — Beseitigung der Unternehmerklasse <strong>und</strong> des<br />

Lohnsystems, damit die Ausbeutung des Menschen<br />

durch den Menschen aufhöre.<br />

B e s e i t i g u n g d e s S t a a t e s u n d a l l e r<br />

s e i n e r I n s t i t u t i o n e n — der Bürokratie, des<br />

Klerus, der Armee <strong>und</strong> der Judikatur — die gegenwärtig<br />

nur dazu dienen, das Kapital zu schützen,<br />

<strong>und</strong> die in der Zukunftsgesellschaft keine Berechtigung<br />

haben.<br />

E r s e t z u n g d e r k a p i t a l i s t i s c h e n G e -<br />

s e l l s c h a f t d u r c h e i n e a u f i n d i v i d u e l l e<br />

F r e i h e i t u n d d e m g e m e i n s c h a f t l i c h e n<br />

B e s i t z d e r P r o d u k t i o n s m i t t e l g e g r ü n -<br />

d e t e , die allen Menschen die größte Freiheit <strong>und</strong><br />

den größten Wohlstand sichert <strong>und</strong> die Gleichberechtigung<br />

der Geschlechter proklamiert.


<strong>Unser</strong> Gr<strong>und</strong>satz ist: Alle Welt hat ein Anrecht<br />

auf den Wohlstand; jedermann arbeite nach<br />

seinen Kräften <strong>und</strong> genieße nach seinen Anforderungen.<br />

Um nun das kapitalistische Gebäude durch<br />

ein Reich der Gerechtigkeit <strong>und</strong> des Menschenglückes<br />

zu ersetzen, ist die Expropriation notwendig,<br />

wie der Sozialismus sie lehrt. Die besitzenden<br />

Klassen müssen ihrer Monopolrechte enthoben <strong>und</strong><br />

expropriiert werden, damit alle Welt den Nießbrauch<br />

der Produktionsmittel h a b e ; es müssen die Kasten<br />

<strong>und</strong> die Vorrechte beseitigt, es muß der Einzelbesitz<br />

in gemeinschaftlichen verwandelt werden.<br />

„Arbeiter, nimm die Maschine, nimm dir die<br />

Erde, Landmann!" Der Refrain dieses bekannten<br />

Liedes ist unser Motto.<br />

Angesichts der kommenden Revolution, die<br />

zur Expropriation der leitenden Klassen durch G e -<br />

neralstreik <strong>und</strong> direkte Aktion führen wird, müssen<br />

sich die Arbeiter organisieren:<br />

1. Um dem Unternehmertum die revolutionäre<br />

Gewerkschaft entgegenzusetzen;<br />

2. um die internationale Solidarität zu proklamieren,<br />

die kein Vaterland kennt;<br />

3. um durch eine aktive Propaganda die antimilitaristische<br />

Idee in alle Herzen einzupflanzen;<br />

4. um sich im Kampfe des Alltages die Hand<br />

zu reichen <strong>und</strong> den Kampf für den neuen Morgen<br />

der Freiheit vorzubereiten.<br />

D a s i s t u n s e r Z i e l .<br />

Komme also zu uns, wer die Irrgänge der<br />

Politikanten durchschaut, wer die Streitereien der<br />

Sekten als irreführend erkannt hat. Kamerad <strong>und</strong><br />

Bruder, komm z u uns. W i r b r a u c h e n B a u -<br />

s t e i n e z u r E r r i c h t u n g d e r G e s e l l s c h a f t<br />

d e r Z u k u n f t ! "<br />

Die „Internationale Jugendorganisation", mit<br />

den Herren Danneberg, Winarsky, usw., an der<br />

Spitze, scheint immer mehr zusammenschrumpfen<br />

zu wollen. Bald werden diesen sozialdemokratischen<br />

Politikern nur noch diejenigen Jugendorganisationen<br />

verbleiben, die den katholischen Lehrlingsvereinen<br />

stark ähneln, somit k e i n e Jugendorganisationen von<br />

unserem Standpunkt aus sind.<br />

Italien.<br />

Wir haben bereits früher über den großartigen<br />

Kampf berichtet, den die Landarbeiter von P a r m a<br />

seit drei Monaten gegen ihre Ausbeuterführen, <strong>und</strong><br />

die Hoffnung ausgesprochen, daß nach den letzten<br />

blutigen Ereignissen, wo die Soldaten der Regierung<br />

die Arbeiterkammer mit Sturm nahmen <strong>und</strong> 72 der<br />

Vorkämpfer dieser Bewegung verhafteten, das Proletariat<br />

der norditalienischen Städte zur Unterstützung<br />

unserer kämpfenden Genossen in den<br />

Generalstreik treten werde.<br />

Diese Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt.<br />

Die Laudarbeiter der Provinz Parma führen zwar<br />

— trotz der lügnerischen Berichte der bürgerlichen<br />

<strong>und</strong> sozialdemokratischen Presse — mit ungeschwächtem<br />

Mut <strong>und</strong> Ausdauer ihren Heldenkampf<br />

fort. „Wir ergeben uns nie!" ist ihre Losung, <strong>und</strong><br />

da, trotz Maschinen <strong>und</strong> Streikbrechern die Gutsbesitzer<br />

außer Stande sind, ihre Ernte einzubringen,<br />

<strong>und</strong> das Korn auf den Feldern zu verfaulen beginnt,<br />

werden sie ihn auch sicher zum Siege führen.<br />

Auch ist es einem dreitägigen allgemeinen Streik<br />

in Parma selbst gelungen, die Regierung zur Rückgabe<br />

der Arbeitskammer <strong>und</strong> des geraubten Streikfonds<br />

zu zwingen; aber in den übrigen Städten,<br />

wo die Arbeiter selbst, aus eigenem Antrieb, fest<br />

entschlossen waren, in den Solidaritätsstreik zu<br />

treten, ist derselbe im letzten Moment unterblieben;<br />

d i e R e g i e r u n g u n d d i e K a p i t a l i s t e n k ö n n e n<br />

d a f ü r d e r s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n P a r t e i u n d<br />

d e n F ü h r e r n d e r z e n t r a l e n r e f o r m i s t i s c h e n<br />

G e w e r k s c h a f t e n d a n k b a r s e i n !<br />

Die Ereignisse Verliefen folgendermaßen:<br />

Nachdem es unserem Genossen De A m b r i s<br />

- die Seele der Bewegung -- auf den ausdrücklichen<br />

Wunsch der Streikenden hin, <strong>und</strong> nachdem<br />

er bis zum letzten Augenblick von den Dächern<br />

gegen das Militär gekämpft hatte — gelungen war,<br />

sich in Sicherheit zu bringen, eilte ein ganzes<br />

Rudel von sozialdemokratischen Abgeordneten <strong>und</strong><br />

Delegierten der „Konfederazioni del Lavoro", der<br />

Zentralleitung der reformistischen Gewerkschaften,<br />

nach Parma, um die Führung des Streikes an sich<br />

zu reißen. Sie verkündeten — während des<br />

Kampfes! — das Scheitern der revolutionären Taktik<br />

<strong>und</strong> wollten die Streikenden dazu bewegen, die<br />

Arbeit — nach HOtägigem Kampf! — zu den alten<br />

Bedingungen wieder aufzunehmen, nur um die<br />

O r d n u n g wieder herzustellen! Die Streikenden<br />

ließen sich aber nicht zu Narren machen, <strong>und</strong><br />

wählten auf den Rat von De Ambris, ein neues<br />

Streikkomitee aus erprobten revolutionären Genossen.<br />

Trotzdem streuten die Reformisten überall<br />

die Lüge aus, daß die Landarbeiter die Leitung<br />

des Streikes ihnen übertragen, <strong>und</strong> das sozialdemokratische<br />

Blatt „II T e m p o " schrieb sogar, daß<br />

dies auf den Rat von De Ambris geschehen sei.<br />

Nur eine energische Erklärung des letzteren <strong>und</strong><br />

ein Beschluß der Streikenden zu Gunsten der direkten<br />

Aktion <strong>und</strong> der revolutionär-syndikalistischen<br />

Taktik konnte der Verbreitung dieser Verleumdung<br />

ein Ende machen.<br />

Zu gleicher Zeit beging die Konföderation<br />

einen anderen schmählichen Verrat.<br />

Beim ersten Zusammenstoß mit dem Militär<br />

richteten die Streikenden in Parma einen Aufruf an<br />

das italienische Proletariat mit der Bitte, seine<br />

Solidarität dadurch zu beweisen, daß es mit dem<br />

allgemeinen Generalstreik gegen die Schandtaten<br />

der Regierung protestiere. Als die Konfederazione<br />

von diesem Manifest Kenntnis erhielt, sandte sie<br />

ein Telegramm an sämtliche Arbeitskammern, in<br />

welchem sie ihnen v e r b i e t e t , den Generalstreik<br />

auszusprechen, so lange sie von der Z e n t r a l -<br />

l e i t u n g nicht den B e f e h l d a z u erhalten!<br />

Die Arbeiterschaften von Bologna, Spezia, Livorno,<br />

Ancona empörten sich gegen diese Tyrannei <strong>und</strong><br />

traten in den Streik; Piacenza, Ferrara <strong>und</strong> andere<br />

Städte waren auf dem Punkt sich ihnen anzuschließen,<br />

die Regierung war nahe daran, klein beizugeben<br />

— aber in Rom, Milano, Genua triumphierten<br />

die reformistischen V e r r ä t e r u n d<br />

S t r e i k b r e c h e r — <strong>und</strong> der Generalstreik, aus<br />

dem vielleicht eine revolutionäre Erhebung der italienischen<br />

Arbeiterschaft hätte werden können,<br />

wurde vereitelt. Wieder ein neuer Beweis, daß diejenigen,<br />

die den Arbeitern fortwährend Disziplin<br />

<strong>und</strong> Gesetzlichkeit vorpredigen, die besten Stützen<br />

der Herrschenden <strong>und</strong> die ärgsten Feinde des<br />

Volkes sind.<br />

Mit welchen Mitteln diese Leute kämpfen, das<br />

hat sich am besten in G e n u a gezeigt. Die revolutionären<br />

Gewerkschaften dieser Stadt hatten den<br />

Generalstreik beschlossen. Die reformistischen<br />

Leiter der Arbeitskammer verweigerten ihnen den<br />

Eintritt in dieselbe; diese Reformisten wollten ihnen<br />

weder die letzten Nachrichten von Parma mitteilen<br />

noch gestatten, daß der Beschluß zu Gunsten des<br />

Generalstreiks in dem sozialdemokratischen Blatt<br />

„Lavoro" veröffentlicht werde. Es entstand ein<br />

leichter Zusammenstoß, wobei von unbekannter<br />

Hand ein Revolverschuß abgefeuert wurde, welcher<br />

unglücklicherweise einen Zuschauer tötete. Keiner<br />

der Syndikalisten hatte einen Revolver, <strong>und</strong> übrigens<br />

waren sie in der Mehrzahl <strong>und</strong> hatten es nicht<br />

nötig, sich zu verteidigen; der Schuß kann also nur<br />

von der Seite der Reformisten abgefeuert worden<br />

sein. T r o t z d e m d e n u n z i e r t e n d i e l e t z t e r e n<br />

s ä m t l i c h e S y n d i k a l i s t e n , d i e s i e e r -<br />

k e n n e n k o n n t e n , d e r P o l i z e i a l s A n -<br />

g r e i f e r . 18 wurden verhaftet, <strong>und</strong> nächsten Tag<br />

brachte das „Lavoro" einen Schandartikel, in<br />

welchem es hieß, daß die Syndikalisten die Revolte<br />

entfesseln wollen, um in der Verwirrung ihre perversen<br />

Leidenschaften zu befriedigen — <strong>und</strong> derlei<br />

Sachen mehr!<br />

Auf die Denunziation dieser sozialdemokratischen<br />

„Arbeiterführer" hin, wurde auch unser<br />

Genosse U g o N a n n i, der Begründer unseres italienischen<br />

Bruderblattes „Der soziale Kampf", verhaftet,<br />

obgleich sowohl die Redaktion des „Lavoro",<br />

wie die Polizei, wußten, daß er nicht am Orte des<br />

Zusammenstoßes zugegen war, da er seit ein paar<br />

Tagen infolge polizeilicher Mißhandlungen zu Bette<br />

lag <strong>und</strong> überdies unter fortwährender polizeilicher<br />

Aufsicht stand.<br />

Mit Lüge, Verrat, Streikbruch, Denunziation<br />

versucht eine neue herrschsüchtige Politikantenklasse,<br />

unter dem Deckmantel des „Sozialismus"<br />

<strong>und</strong> der zentralistischen Gewerkschaftsbewegung,<br />

das Proletariat unter ihr Joch zu bringen. Glücklicherweise<br />

sind dies ihre einzigen Waffen, <strong>und</strong> s o -<br />

bald die Arbeiter sich zu selbständigem Denken<br />

<strong>und</strong> Handeln aufraffen, werden sie mit dieser<br />

Herrschaft ebenso aufräumen, wie mit jeder anderen,<br />

Luigi Berta.<br />

Deutschland.<br />

Hamburg. Wieder hat die internationale Solidarität<br />

der anarchistischen Antimilitaristen ihr Opfer<br />

gefordert.<br />

„Anarchistische Attentate" werden von Jahr<br />

zu Jahr mehr diejenigen g e g e n Anarchisten, als<br />

solche, die von ihnen ausgehen. Die internationale<br />

Polizei ist scharf hinter uns her <strong>und</strong> leistet in Verfolgungen<br />

ihr Bestmöglichstes. Vor allen Dingen<br />

paßt sie aber scharf auf d i e a u s d e m A u s l a n d e<br />

kommende Literatur. Die Genossen, die fern vom<br />

Verbreitungsorte ihrer Produkte leben, bringen die<br />

Genossen „Verbreiter" in eine sehr schiefe Situation.<br />

Es scheint fast so, als ob die diversen Staatsretter<br />

meinten, wenn die Schreiber der Broschüren<br />

im Auslande leben, müßte ihre Gefährlichkeit eine<br />

doppelte sein, <strong>und</strong> die Kolporteure werden dementsprechend<br />

doppelt hart bestraft. Schön ist es ja<br />

auch nicht, die Verantwortlichkeit für seine Taten<br />

n u r auf andere Schultern abzuladen. Die Verbreiter<br />

müssen sich der drohenden Strafe immer bewußt<br />

sein <strong>und</strong> dürfen eine gewisse Vorsicht nicht außer<br />

Acht lassen. Die Solidarität unserer Anschauungen<br />

wird es natürlich trotz alledem nie vermeiden lassen,<br />

daß im Auslande geschriebene <strong>und</strong> gedruckte Broschüren<br />

ihren <strong>Weg</strong> in die Hände der Leser finden,<br />

aber sie sollten auch stets mit bewußtem Verantwortlichkeitsgefühl<br />

geschrieben sein. Ich wünsche<br />

ihnen die Kolportage immer da, wo eine gleichwertige<br />

einheimische nicht vorhanden. — — -<br />

Diesmal aber handelte es sich hauptsächlich<br />

um die Verbreitung des „Soldatenbreviers", dann<br />

aber waren die Angeklagten auch beschuldigt „Die<br />

direkte Aktion", die „Resolutionen des Amsterdamer<br />

Kongresses", „An die jungen Leute" <strong>und</strong> „Antimilitarismus<br />

<strong>und</strong> Generalstreik" verbreitet zu haben.<br />

Vorgeschichte <strong>und</strong> Tatbestand sei kurz rekapituliert:<br />

Im Februar dieses Jahres wurde bei 30<br />

Hamburger Genossen Hausdurchsuchung gehalten,<br />

deren Resultat der gesetzlich konzessionierte Diebstahl<br />

einer großen Menge von Zeitungen, Büchern<br />

<strong>und</strong> Broschüren war. 5 Genossen wurden in Haft<br />

genommen, von denen 2 — Böger <strong>und</strong> Krüger —<br />

nach 8 Wochen entlassen wurden, während gegen<br />

die anderen Genossen, Drews, Schreyer <strong>und</strong> Schuster<br />

nunmehr — unter dem schon selbstverständlichen<br />

Ausschluß der Öffentlichkeit — verhandelt wurde.<br />

Vor Gericht bekannten sich die Angeklagten<br />

als kommunistische Anarchisten. Schreyer <strong>und</strong><br />

Schuster bestritten aber die Verbreitung der Broschüren,<br />

während der Genosse Drews zugeben<br />

mußte, das „Soldatenbrevier" dem Zeugen Maschinistenmaat<br />

R e h b e i n vom Kreuzer „Scharnhorst"<br />

zugestellt zu haben. Dieser, der seine proletarische<br />

Abstammung ganz vergessen zu haben scheint,<br />

schien sich in der Rolle des Denunzianten sauwohl<br />

zu fühlen. Weil er sich durch die Gabe der Broschüre<br />

„ b e l e i d i g t fühlte", so führte er hoheitsvoll<br />

aus, „ h a b e e r d e m G e n o s s e n d i e F a l l e<br />

g e s t e l l t ! " Der Herr Maat hatte Drews nach einem<br />

Lokale bestellt, wohin er weitere Broschüren bringen<br />

sollte <strong>und</strong> hierbei standen 12 geheime Posten,<br />

die den Nichtsahnenden dann festnahmen.<br />

Die Angeklagten hielten sich brav <strong>und</strong> verteidigten<br />

sich tapfer. Das Urteil lautete schließlich<br />

gegen Drews wegen Verbreitung des „Soldatenbreviers"<br />

auf 15 Monate Gefängnis, bei Anrechnung<br />

von 3 Monaten auf die Untersuchungshaft; Schuster<br />

<strong>und</strong> Schreyer wurden freigesprochen.<br />

Ich wünsche den Genossen, daß sie mit ungebrochenem<br />

Kampfesmut aus der langen Untersuchungshaft<br />

zurückgekehrt sind. An uns allen wird<br />

es sein, tapfer für unsere Ideen weiter zu arbeiten,<br />

damit, wenn übers Jahr Genosse Drews wieder in<br />

die „Deutsche Freiheit" zurückkehrt, er die Fortschritte<br />

merkt, die wir im Kampfe für seine <strong>und</strong><br />

unsere Ideale gemacht haben. Es geht vorwärts —<br />

trotz Ihrer, Herr Staatsanwalt! Leo Lerche.<br />

Vereine <strong>und</strong> Versammlungen.<br />

Allgemeine Gewerkschafts-Föderation. V.,<br />

Einsiedlergasse 60. Jeden Montag 8 Uhr abends.<br />

Föderation der Bauarbeiter. X., Eugengasse<br />

9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />

jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />

U n a b h ä n g i g e Schuhmacher-Gewerkschaft.<br />

XIV.,Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />

M ä n n e r g e s a n g v e r e i n „Morgenröte". XIV.,<br />

Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />

jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />

Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „Pokrok". XIV.,<br />

Hütteldorferstraße 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />

F r e i e Einkaufsgenossenschaft. Jeden Donnerstag<br />

abends bei Schlor.<br />

Allgem. Gewerkschafts-Föderation, Ortsgruppe<br />

XIV. Vereinsversammlung mit Vortrag<br />

jeden Dienstag 8 Uhr abends.'<br />

Allgem. Gewerkschafts-Föderation, Ortsgruppe<br />

II, Achtung! Öffentliche Vereinsverversammlung<br />

am Sonntag den 2. August, um<br />

9 Uhr vormittags, in Müllers Gasthaus, II.,<br />

Taborstraße 36. Die Genossen sind ersucht,<br />

zahlreich zu erscheinen.<br />

Briefkasten.<br />

Alois Scheffel, Bruch. Die gewünschten<br />

Adressen unbekannt. — Kopenhagen. Unbesorgt,<br />

der „W. f. A." ist persönlichen Streitigkeiten nicht<br />

geöffnet. Wir sind nicht in der Lage, den Fall zu<br />

untersuchen, können deshalb das Blatt weder der<br />

einen noch der anderen Seite zur Verfügung stellen,<br />

da dies zu tun, für uns gleichbedeutend wäre mit<br />

einer bestimmten Stellungnahme, die uns in diesem<br />

Fall absolut unmöglich. Bourey. Dank für Sendung<br />

<strong>und</strong> Gruli. — Jul. Eh., Wien. Dank für<br />

Fre<strong>und</strong>schaftsbeweis durch Sendung der 15 Expl.<br />

des Sch<strong>und</strong>es jener Druckschrift an mich; wanderten<br />

insgesamt in den Papierkorb. Brudergruß.<br />

— Triest, C. Auch die kleinste Summe, gegeben<br />

von brüderlicher Solidarität, ist uns lieb; senden<br />

<strong>und</strong> Herzensdank! — Voit, Australien. Die besten<br />

Solidaritätsgrüße an Dich <strong>und</strong> den übrigen Fre<strong>und</strong>en<br />

von uns Allen! Geld wurde wie gewünscht verteilt.<br />

Ein Brief folgt auf den Deinen. Brüderlicher Handdruck.<br />

— lg. Pauer. Die Genossen Sindelar <strong>und</strong><br />

Eichinger sind nach wie vor wacker im Vordertreffen;<br />

manch junger „Krüppel" könnte sich ein Muster<br />

nehmen an diesen beiden von der alten „Zukunfts"garde.<br />

Geld wird sehnsüchtig erwartet. Gruß! —<br />

Nierens. Den Sch<strong>und</strong> des bekannten Bruder Straubinger,<br />

wegen dessen schönen Seelenergüssen erst<br />

jüngst wieder Genosse D. 15 Monate Gefängnis<br />

erhielt, haben wir nicht mehr. Grußl — J. R.<br />

Sollen wir uns über die Lügen <strong>und</strong> Verleumdungsschurkereien<br />

eines christlichsozialen „Deutschen<br />

Volksblattes" arg aufregen? Da lacht man, spuckt<br />

aus <strong>und</strong> geht seiner <strong>Weg</strong>e. — Ruhsam. Recht so;<br />

Paragraph 2-Zusammenkunft ist das Zweckmäßigste.<br />

Brudergruß.<br />

Achtung! Einer unserer rührigsten Genossen<br />

ist durch die im Baugewerbe<br />

wütende Krise schon monatelang arbeitslos.<br />

Er ersucht unsere Kameraden, auf diesem <strong>Weg</strong>e<br />

es entgegenzunehmen, daß er willens ist, als<br />

Wohnungsrenovierer, einfacher Wandmaler <strong>und</strong><br />

Ausbesserer von Öfen sich überall nützlich zu<br />

machen, wo er gebraucht werden kann; <strong>und</strong> dies<br />

gegen geringe Entschädigung. Zwecks Adresse<br />

wende man sich an unsere Redaktion.


— 41 —<br />

erschien zu behaupten, daß in der Welt des Menschen<br />

a l l e s durch die Handlungen der einzelnen Menschen<br />

vollbracht <strong>und</strong> geordnet wird. Und doch ist dies eine<br />

so einfache Wahrheit, daß der ges<strong>und</strong>e Menschenverstand<br />

sie sofort einsieht, sobald er sich die wahre<br />

Bedeutung der Worte klar macht. Das, was wirklich<br />

existiert, ist d e r e i n z e l n e M e n s c h ; die Oesellschaft<br />

oder Gemeinschaft, der Staat oder die Regierung,<br />

welche vorgibt, denselben vertreten zu können, sind, wenn<br />

nicht bloße Begriffe, nur eine Vereinigung einzelner<br />

<strong>und</strong> mehrerer Menschen. Und es ist im Innern eines<br />

jeden einzelnen Menschen, daß notwendigerweise alle<br />

menschlichen Gedanken <strong>und</strong> Handlungen entstehen,<br />

welche zu gesellschaftlichen Bestrebungen <strong>und</strong> Handlungen<br />

werden, wenn viele Menschen zur selben Zeit<br />

dasselbe denken, wollen oder tun. Die gesellschaftlichen<br />

Handlungen sind also nicht das Gegenteil <strong>und</strong><br />

auch nicht die Ergänzung der persönlichen Handlungen,<br />

sondern sie sind das Ergebnis der Bestrebungen,<br />

der Gedanken <strong>und</strong> der Handlungen aller<br />

e i n z e l n e n Menschen, aus denen die Gesellschaft<br />

besteht; <strong>und</strong> dieses Ergebnis ist, wenn sich die anderen<br />

Umstände gleich bleiben, größer oder geringer,<br />

je nachdem alle Kräfte einem <strong>Ziel</strong>e zustreben oder<br />

auseinandergehen oder miteinander im Gegensatz<br />

sind. Wenn man hingegen, mit den Autoritäten unter<br />

gesellschaftlichen Handlungen die Handlungen der<br />

Regierung versteht, so sind dieselben ebenfalls das<br />

Ergebnis der persönlichen Kräfte; aber in diesem<br />

Falle nur der Kräfte derjenigen Personen, welche die<br />

Regierung bilden, oder die durch ihre Stellung die<br />

« A N A R C H I E » von Enriko Malatesta. 6


— 42 --<br />

Handlungen der Regierung beeinflussen können.<br />

Deshalb handelt es sich im Jahrh<strong>und</strong>erte langen<br />

Kampf zwischen Freiheit <strong>und</strong> Autorität, oder anders<br />

gesagt, zwischen dem sozialer Gleichheit <strong>und</strong> Klassenscheidung,<br />

in Wahrheit nicht darum, die persönliche<br />

Unabhängigkeit auf Kosten des gesellschaftlichen Zusammenwirkens<br />

oder dieses auf Kosten von jenem<br />

zu erreichen. Sondern, es handelt sich darum, zu verhüten,<br />

daß e i n i g e Menschen die a n d e r e n unterdrücken<br />

können; es handelt sich darum, allen Menschen<br />

dieselben Rechte <strong>und</strong> dieselbe Möglichkeit zum<br />

Handeln zu geben, <strong>und</strong> die vereinten Bestrebungen<br />

aller, welche natürlicherweise zum Wohle aller führen<br />

müssen, an Stelle der besonderen Bestrebungen Einzelner<br />

zu setzen, welche ebenso unvermeidlich zur<br />

Unterdrückung aller anderen führen. Kurzum: es<br />

handelt sich immer darum, die Herrschaft <strong>und</strong> die<br />

Ausbeutung zu zerstören, so daß alle Menschen ein<br />

Interesse am allgemeinen Wohle haben, <strong>und</strong> die persönlichen<br />

Kräfte eines jeden, anstatt unterdrückt zu<br />

werden oder sich gegenseitig zu bekämpfen <strong>und</strong> zu<br />

zerstören, die Möglichkeit finden, sich vollständig zu<br />

entwickeln <strong>und</strong> sich miteinander zum größten Wohle<br />

aller zu vereinigen.<br />

Aus all dem folgt, daß das Bestreben einer Regierung<br />

— selbst wenn dieselbe die von den autoritären<br />

Sozialisten angenommene »ideale Regierung«<br />

wäre — die schaffenden, ordnenden <strong>und</strong> schützenden<br />

Kräfte der Gesellschaft nicht im geringsten vermehren<br />

würde; sondern gerade im Gegenteil: sie würde<br />

dieselben ungeheuer schwächen, indem sie die Mög-


- 43 —<br />

lichkeit, etwas zu tun, auf einige beschränkte <strong>und</strong><br />

jenen so das Recht gäbe, alles zu tun, was sie wollen,<br />

ohne ihnen die Fähigkeit geben zu können, alles, was<br />

dazu nötig wäre, zu wissen.<br />

Wahrhaftig, wenn man von der Gesetzgebung<br />

<strong>und</strong> allen anderen Werken der Regierungen all das<br />

wegnimmt, was zur Verteidigung einer privilegierten<br />

Klasse dient <strong>und</strong> nur den Willen dieser Privilegierten<br />

ausdrückt — was bleibt dann- übrig außer dem, was<br />

das Ergebnis der Tätigkeit aller ist?<br />

»Der Staat — sagt Sismondi — ist immer eine<br />

konservative Macht, welche die Erfolge des Fortschrittes<br />

legalisiert, regelt, organisiert <strong>und</strong>, wie wir es<br />

in der Geschichte sehen, dieselben immer zum Nutzen<br />

der privilegierten Klassen ausnützt, die aber nie den<br />

Anstoß zu irgend einem Fortschritt gibt. Der Fortschritt<br />

entspringt immer von unten. Er wird im Gr<strong>und</strong>e<br />

der Gesellschaft, in den Gedanken der einzelnen<br />

Menschen, geboren, welche sich dann verbreiten, zur<br />

allgemeinen Meinung, zur Majorität werden, aber auf<br />

ihrer Bahn immer die Überlieferungen, Gewohnheiten,<br />

Vorrechte <strong>und</strong> Irrtümer, welche von den bestehenden<br />

Mächten vertreten werden, bei Seite schieben <strong>und</strong><br />

bekämpfen müssen.«<br />

Um übrigens zu verstehen, wie eine Gesellschaft<br />

ohne Regierung leben kann, genügt es, die jetzige<br />

Gesellschaft ein bischen gründlich zu beobachten;<br />

<strong>und</strong> man wird sehen, daß in Wirklichkeit der größte,<br />

der wichtigste Teil des gesellschaftlichen Lebens<br />

sogar schon heute o h n e Mitwirkung der Regierung<br />

vor sich geht, <strong>und</strong> wie die Regierung nur in dasselbe<br />

6*


- 44 —<br />

eingreift, um die Massen auszubeuten, die Privilegierten<br />

zu schützen; <strong>und</strong> endlich um, sehr unnötigerweise,<br />

alles, was ohne sie <strong>und</strong> oft gegen ihren Willen geschehen<br />

ist, zu sanktionieren. Die Menschen arbeiten,<br />

tauschen ihre Arbeitsprodukte aus, studieren, reisen,<br />

befolgen die Regeln der Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> der Sitte,<br />

zum größten Teil, wie sie es wollen, machen sich die<br />

Fortschritte der Kunst <strong>und</strong> Wissenschaft nutzbar,<br />

haben unzählige Beziehungen zu einander, ohne daß<br />

Bedürfnis nach jemand zu empfinden, der ihnen vorschreibt,<br />

wie sie leben sollen. Und gerade jene Sachen,<br />

in welche sich die Regierung nicht hineinmischt, gehen<br />

am besten, diese verursachen am wenigsten Streitigkeiten<br />

<strong>und</strong> passen sich am besten an den Willen<br />

aller an, so daß dabei jedermann seinen Nutzen <strong>und</strong><br />

seine Freude findet.<br />

Ebensowenig ist die Regierung notwendig für<br />

die großen Unternehmungen, für jene öffentlichen<br />

Dienste, welche das geregelte Zusammenwirken von<br />

vielen Menschen, von verschiedenen Ländern <strong>und</strong><br />

Verhältnissen erfordern. Tausende solcher Unternehmungen<br />

sind sogar schon heute das Werk privater<br />

Vereinigungen, welche durch freie Vereinbarung geschaffen<br />

sind; <strong>und</strong> man ist sich allgemein darüber<br />

einig, daß diese es sind, die am besten gelingen. Wir<br />

sprechen nicht von den Vereinigungen der Kapitalisten,<br />

die zum Zwecke der Ausbeutung organisiert sind, obgleich<br />

auch diese beweisen, daß die freie Vereinigung<br />

möglich <strong>und</strong> ein mächtiges Werkzeug ist, <strong>und</strong> daß<br />

die Leute aller Länder <strong>und</strong> mit den weitverzweigtesten<br />

<strong>und</strong> verschiedensten Interessen umfassen kann.


— 45 —<br />

Sprechen wir lieber von jenen Vereinigungen,<br />

deren Triebfeder die Zuneigung <strong>und</strong> Hilfbereitschaft<br />

der Menschen zu einander, oder der Liebe zur Wissenschaft,<br />

oder auch nur einfach das Verlangen, sich zu<br />

zerstreuen oder sich bew<strong>und</strong>ern zu lassen ist. Diese<br />

geben ein besseres Bild von jenen Gruppen, welche<br />

in einer Gesellschaft entstehen werden, wo das<br />

P r i v a t e i g e n t u m u n d d e r Kampf u n t e r den<br />

M e n s c h e n a b g e s c h a f f t w o r d e n sind, <strong>und</strong> wo<br />

infolgedessen jeder sein Interesse <strong>und</strong> seine größte<br />

Befriedigung darin finden wird, das Interesse aller zu<br />

fördern <strong>und</strong> den anderen Gutes <strong>und</strong> Angenehmes zu tun.<br />

Die wissenschaftlichen Gesellschaften <strong>und</strong> Kongresse,<br />

die Internationale Gesellschaft zur Rettung<br />

Schiffbrüchiger, der Verein des Roten Kreuzes, die<br />

Geographischen Gesellschaften, die Arbeitervereinigungen,<br />

die Gruppen von Freiwilligen, die bei jedem<br />

großen Unglück zur Hilfe herbeieilen, sind einige von<br />

den tausend Beispielen davon, wie mächtig der Geist<br />

der Vereinigung ist, welcher sich immer geltend<br />

macht, wenn es sich um ein wahres Bedürfnis oder<br />

einen wirklich gefühlten gesellschaftlichen Wunsch<br />

handelt; <strong>und</strong> wenn dies der Fall ist, so finden sich<br />

bald die Mittel <strong>und</strong> <strong>Weg</strong>e zu seiner Befriedigung.<br />

Wenn die freiwilligen Vereinigungen nicht die ganze<br />

Erde überziehen, nicht alle Zweige der materiellen<br />

<strong>und</strong> geistigen Tätigkeit umfassen, so ist das nur,<br />

weil die Herrschenden ihr überall Hindernisse in den<br />

<strong>Weg</strong> legen, weil das Privateigentum einen Gegensatz<br />

zwischen den Interessen der Menschen schafft, weil<br />

durch die Anhäufung des Reichtums in den Händen


— 46 —<br />

weniger die große Mehrzahl der Menschen unfähig<br />

gemacht <strong>und</strong> verdorben worden ist. Die Regierung<br />

übernimmt z. B. den Postdienst, den Eisenbahnverkehr<br />

usw. Aber in was besteht in Wirklichkeit ihre<br />

Hilfe bei diesen Unternehmungen? Wenn das Volk<br />

in die Lage kommt, von diesen Diensten Nutzen zu<br />

machen, <strong>und</strong> das Bedürfnis nach denselben fühlt,<br />

wird es daran denken, sie zu organisieren; <strong>und</strong> die<br />

Techniker werden auch keinen Erlaubnisschein von<br />

der Regierung nötig haben, um sich an die Arbeit<br />

zu machen. Je allgemeiner <strong>und</strong> dringender das Bedürfnis<br />

ist, desto mehr Freiwillige werden sich finden,<br />

um dasselbe zu befriedigen. Wenn das Volk die Fähigkeit<br />

hätte, an die Produktion <strong>und</strong> die Versorgung zu<br />

denken, brauchten wir uns nicht zu fürchten, daß es<br />

sich selbst verhungern ließe, bis nicht die Regierung<br />

diese Sache durch Gesetze geregelt hat. Wenn sich<br />

die Regierung neu bilden würde, wäre sie auch gezwungen,<br />

darauf zu warten, daß das Volk alles organisiert,<br />

um dann mit ihren Gesetzen das zu sanktionieren,<br />

was schon geschehen ist. Es ist bewiesen,<br />

daß das Privatinteresse die stärkste Triebfeder alles<br />

Handelns ist. Wohlan! Wenn das Interesse aller das<br />

Interesse eines jeden sein wird — <strong>und</strong> dies wäre unvermeidlich<br />

der Fall, wenn es kein Privateigentum<br />

gäbe — so w e r d e n alle h a n d e l n . Wenn Sachen<br />

geschehen, welche nur einige angehen, so werden sie<br />

umsomehr <strong>und</strong> umso besser geschehen, wenn alle<br />

ein Interesse an denselben haben werden. Es ist<br />

schwer zu verstehen, daß es Leute gibt, welche<br />

glauben, daß die Ausführung <strong>und</strong> der regelmäßige


— 47 —<br />

Gang der öffentlichen Dienste, welche für das Leben<br />

der Gesellschaft unentbehrlich sind, besser gesichert<br />

werden durch die Arbeit von Regierungsangestellten,<br />

als wie unmittelbar durch die Arbeiter selbst, die entweder<br />

aus freier Neigung oder durch Verabredung<br />

mit den andern diese Arbeit gewählt haben <strong>und</strong> dieselbe<br />

unter der unmittelbaren Aufsicht all jener ausführen,<br />

die daran ein Interesse haben.<br />

Ohne Zweifel ist in jeder großen gemeinsamen<br />

Arbeit Arbeitsteilung, technische Leitung, Administration,<br />

Verwaltung etc., notwendig. A b e r die Anh<br />

ä n g e r d e r A u t o r i t ä t t r e i b e n ein f a l s c h e s<br />

S p i e l m i t d i e s e n W o r t e n , wenn sie die Notwendigkeit<br />

einer Regierung aus der wirklich vorhandenen<br />

Notwendigkeit der O r g a n i s a t i o n der Arbeit<br />

ableiten wollen.<br />

Die Regierung, ich sage es nochmals, ist die<br />

Gesamtheit jener Leute, welche das Recht <strong>und</strong> die<br />

Mittel dazu erhalten oder sich genommen haben, Gesetze<br />

zu machen <strong>und</strong> andere zum Gehorsam zu<br />

zwingen. Die Arbeiter einer Unternehmung, der Techniker,<br />

Ingenieur etc. ist hingegen ein Mensch, der den<br />

Auftrag erhält oder auf sich nimmt, eine bestimmte<br />

Arbeit zu vollbringen <strong>und</strong> sie vollbringt. »Regierung«<br />

bedeutet Übertragung von Gewalt, das heißt, das Abdanken<br />

aller von jedem selbständigen Handeln <strong>und</strong> jeder<br />

Selbstbestimmung, zu Gunsten einiger. »Administration«<br />

hingegen bedeutet die Übertragung von Arbeit,<br />

das heißt: das Übergeben <strong>und</strong> Übernehmen einer<br />

Aufgabe, den freien Austausch von Dienstleistungen,<br />

welcher auf freier Vereinbarung beruht. Die Regieren-


— 48 -<br />

den sind Privilegierte, da sie das Recht haben, anderen<br />

zu befehlen <strong>und</strong> sich der Kräfte anderer zu<br />

bedienen, um ihre eigenen Ideen <strong>und</strong> persönlichen<br />

Wünsche zu erfüllen. Die Verwaltenden, die technischen<br />

Leiter etc. sind Arbeiter, wie die Übrigen;<br />

natürlich nur in einer solchen Gesellschaft, in welcher<br />

A l l e die gleiche Möglichkeit haben, sich zu entwickeln,<br />

wo alle zugleich körperliche <strong>und</strong> geistige<br />

Arbeit leisten oder leisten können, wo jede Art Arbeit<br />

<strong>und</strong> Dienstleistung das gleiche Recht auf den Genuß<br />

der gesellschaftlichen Vorteile gibt. Man darf die<br />

Tätigkeit der Regierenden nicht mit derjenigen der<br />

Verwaltenden verwechseln; wenn diese beiden heute<br />

nicht geschieden sind, so ist das die Folge der wirtschaftlichen<br />

<strong>und</strong> politischen Ungleichheit der Herrschaft.<br />

Aber gehen wir zu der Tätigkeit über, für welche<br />

die Regierung von allen, die nicht Anarchisten sind,<br />

als wirklich unentbehrlich angesehen wird: die Verteidigung<br />

der Gesellschaft nach außen <strong>und</strong> innen, das<br />

ist der »Krieg«, die »Polizei«, die » G e r i c h t s -<br />

barkeit«.<br />

Wenn einmal die Regierungen verschw<strong>und</strong>en<br />

sind <strong>und</strong> der Reichtum der Gesellschaft allen zur Verfügung<br />

steht, werden alle Gegensätze zwischen den<br />

Völkern <strong>und</strong> mit diesen der Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> die Ursache<br />

der Kriege, rasch verschwinden. Übrigens können wir<br />

auch behaupten, daß, wenn im gegenwärtigen Zustand<br />

der Gesellschaft in einem Lande die Revolution ausbräche,<br />

sie überall im Volke, wenn auch vielleicht<br />

nicht unmittelbare Nachahmung, aber wenigstens so


wicht v o n M o n o p o l e n u n d e i n -<br />

e n g e n d e n O e s e t z e n z u t r a g e n hat,<br />

leben die L e u t e frei, w i e s i e w o l l e n<br />

<strong>und</strong> sind s o g l ü c k l i c h , w i e m a n e s<br />

n u r sein k a n n . Dort gibt es keine Gerichtsbarkeit,<br />

keine Polizei, keine wohltätigen<br />

Anstalten, um diese vollkommene Zufriedenheit<br />

zu verderben. Nur vom Militarismus<br />

ist Utilla noch nicht frei. Die Garnison<br />

besteht aus — einem General oder Kommandanten<br />

<strong>und</strong> drei Soldaten ohne Mütze<br />

<strong>und</strong> ohne Schuhe, mit alten Musketen<br />

bewaffnet. An den Türen gibt es keine<br />

Schlösser; <strong>und</strong> Seckatur, Diebstahl <strong>und</strong><br />

Fälschung sind unbekannte Worte.<br />

*<br />

1500 Meilen südlich von St. Helena<br />

liegt im Atlantischen Ozean das Felseneiland<br />

Tristan d ' A c u n h a , der kleinste <strong>und</strong><br />

gesündeste Bestandteil des großbritannischen<br />

Reiches. Während der Gefangenschaft Napoleons<br />

auf St. Helena beherbergte es eine<br />

englische Besatzung, <strong>und</strong> die jetzigen Bewohner<br />

sind die Nachkommen von einem<br />

Korporal, seiner Frau <strong>und</strong> zwei gemeinen<br />

Soldaten, welche es vorzogen, auf der Insel<br />

zu bleiben, nachdem die Garnison zurückgezogen<br />

wurde. Für die zwei Soldaten<br />

wurden von St. Helena Frauen beschafft,<br />

<strong>und</strong> von Zeit zu Zeit vermehrte sich die<br />

Bevölkerung durch das Hinzukommen einiger<br />

männlicher <strong>und</strong> weiblicher Deportierten.<br />

Die Insel ist achtzehn Quadratmeilen groß.<br />

Achtzig bis neunzig Menschen leben darauf<br />

in guter Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong>, was mehr ist,<br />

sie ernähren sich ohne Sorgen, worin sie<br />

einer großen Anzahl unserer europäischen<br />

Brüder überlegen sind. Es h e r r s c h t ein<br />

v o l l s t ä n d i g e r K o m m u n i s m u s . E s<br />

gibt k e i n e S p u r v o n G e s e t z e n o d e r<br />

einer R e g i e r u n g . Nur der älteste männliche<br />

Bewohner wird ein wenig als Patriarch<br />

angesehen. Einmal im Jahr kommt der<br />

Gouverneur von St. Helena, um nachzusehen,<br />

ob alles in Ordnung ist <strong>und</strong> um<br />

seinen Bericht ans «Vaterland» zu schreiben.<br />

Er könnte gerade so gut zuhause bleiben,<br />

ohne daß die Inselbewohner schlechter<br />

daran wären.<br />

Nicht nur auf einsamen Inseln, sondern<br />

auch auf dem Festlande von Amerika <strong>und</strong><br />

Asien finden wir manches Stückchen «Freiland».<br />

E. Rec1 u s erwähnt in seinem Werk:<br />

«Eine Reise nach der Sierra Nevada» die<br />

Stadt R i o - H a c h a in Südamerika, welche<br />

sich fortwährend ohne Unordnung einzig<br />

<strong>und</strong> allein durch die freie Vereinbarung<br />

ihrer Einwohner regiert. « D e r f r i e d -<br />

fertige F r e m d e k a n n j a h r e l a n g i m<br />

Lande w o h n e n , o h n e d a ß i h n irgend<br />

e t w a s a n d a s D a s e i n e i n e r<br />

R e g i e r u n g e r i n n e r t » . A . B u l l a r d<br />

erwähnt ein sibirisches Dorf, dessen Bewohner<br />

entflohene Sträflinge waren: «Sich<br />

selbst ü b e r l a s s e n , f ü h r t e n s i e ein<br />

braves, g e o r d n e t e s , g l ü c k l i c h e s L e -<br />

ben <strong>und</strong> w ä h l t e n i h r e B e a m t e n auf<br />

die a l l e r e i n f a c h s t e d e m o k r a t i s c h e<br />

Weise». Wenn einmal die Gewaltherrschaft<br />

des Zarenreiches gestürzt worden ist, wird<br />

der Bauern-Kommunismus in Rußland stärker<br />

wie anderswo sich zu neuer Blüte<br />

entfalten. Der Geist der Gemeinsamkeit,<br />

des Kommunismus, ist dem russischen<br />

Bauer angeboren.<br />

*<br />

Es ist wahr, daß diese hier erwähnten<br />

Gemeinwesen entweder von der übrigen<br />

Welt getrennt sind oder von den gesellschaftlichen<br />

<strong>und</strong> industriellen Mittelpunkten<br />

der Jetztzeit weit entfernt liegen. Es wäre<br />

aber ein seltsamer Irrtum, anzunehmen, daß<br />

die Verbannung diese Leute gut <strong>und</strong> gerecht,<br />

menschlich <strong>und</strong> wohlwollend gemacht<br />

habe. Die Wahrheit ist einfach die, daß die<br />

Bewohner von Utilla <strong>und</strong> Tristan d'Acunha,<br />

von der zivilisierten Welt getrennt, nicht<br />

mehr die kalten Polypenarme des Staates<br />

auf ihrem "Rücken fühlten, <strong>und</strong> nicht mehr<br />

die ewige Furcht vor den sie immer bedrohenden<br />

Gesetzen verspürten. Da es so<br />

nichts mehr gab, was sie hindern <strong>und</strong> einengen<br />

könnte, ließen diese Menschen ihren<br />

natürlichen Neigungen, ihrem Gefühl der<br />

gegenseitigen Hilfe <strong>und</strong> der freiwilligen<br />

Vereinbarung freien Lauf. Damit ist es zur<br />

Genüge bewiesen, daß der anarchistische<br />

Kommunismus die einzig vernünftige Organisation<br />

der Menschheit ist.<br />

Aristide Pratelle.<br />

Der Anarchist als Kämpfer.<br />

Quacksalber aller Arten <strong>und</strong> dogmatischen<br />

Gebiete kommen mit ihren Rezepten<br />

<strong>und</strong> Heilmedizinen, wenn es sich um das<br />

soziale Problem handelt, bieten mit anbiedernder<br />

Miene ihre Waren, ihre Salben dar<br />

<strong>und</strong> betören dadurch die leider unwissende<br />

Menge zu dem falschen Glauben, daß man<br />

das gesellschaftliche Leben so bauen könne,<br />

wie Kinder es tun, wenn sie mit ihren Bausteinen<br />

kleine Häuser <strong>und</strong> Türme aufführen.<br />

Und es sind regelmäßig zwei Arten von<br />

solchen falschen Propheten, die an das<br />

Volk herantreten: zuerst die Herrschenden,<br />

denen es sich um die Aufrechterhaltung<br />

ihrer Privilegien handelt <strong>und</strong> die, soweit<br />

sie zur nachgiebigen Einsicht gegenüber<br />

dem Volkselend sich gezwungen fühlen,<br />

den Armen weißmachen, daß all ihr Tun<br />

<strong>und</strong> Treiben im Staat, in der Diplomatie<br />

<strong>und</strong> in der Finanzwelt nur zum Heile der<br />

Gesamtheit geschehe <strong>und</strong> sie aufrichtig bemüht<br />

seien, das von ihnen gekannte Mittel<br />

zur Linderung des himmelschreienden sozialen<br />

Jammers der Gegenwart zur Anwendung<br />

zu bringen; dann wieder diejenige<br />

Sorte, die noch gefährlicher ist als jene, die<br />

die vollständige Nutzlosigkeit all der von<br />

der Bourgeoisie dargebotenen Mittelchen<br />

für das Volk wohl durchschaut, die Sorte,<br />

die aber vor allem i h r e soziale Frage zu<br />

lösen bestrebt ist <strong>und</strong>. sehr wohl weiß, daß<br />

dies innerhalb des gegenwärtigen Systems<br />

nur möglich durch Volksbetrug <strong>und</strong> Volksbetörung.<br />

Es sind diese letzteren die Politiker,<br />

diese ärgsten Quacksalber des gesellschaftlichen<br />

Lebens <strong>und</strong> die, wie alle echten,<br />

rechten Giftmischer, sich ihr Tränklein materiellen<br />

Reichtums zusammenbrauen <strong>und</strong><br />

dann mit ihren Salben einpacken — sie<br />

haben i h r <strong>Ziel</strong> erreicht.<br />

Wie anders ist diesen gegenüber der<br />

Anarchist! Geschmäht <strong>und</strong> verleumdet <strong>und</strong><br />

gehaßt von aller Welt, steht er aufrecht da,<br />

das Licht der Wahrheit, Freiheit <strong>und</strong> des<br />

sozialen Glückes all den Verpestern des<br />

Menschheitslebens ins Antlitz haltend <strong>und</strong><br />

darum gefürchtet <strong>und</strong> gehaßt von allen.<br />

Vor nicht langer Zeit konnte man in<br />

den Zeitungen lesen, daß das französische<br />

Abgeordnetenhaus sich einstimmig gegen<br />

die Zulassung eines neuen, einzutretenden<br />

Abgeordneten wandte, da bekannt war, daß<br />

der Neuling ein strammer Gegner der Gehaltserhöhung<br />

wäre, die die Herren Volksvertreter<br />

sich recht selbstherrlich <strong>und</strong> eigenmächtig<br />

votiert hatten. Freilich, sie fürchteten<br />

den e i n e n Mann, denn er hätte ihnen<br />

unangenehme Wahrheiten zu sagen gehabt.<br />

Und die hört man bekanntlich nicht gern,<br />

das Stickige unserer Gesellschaftsatmosphäre<br />

wird viel leichter ertragen, wenn man nicht<br />

gewöhnt wird an den Luftzug frischer,<br />

sachlicher Kritik, vielmehr sich recht hübsch<br />

daran gewöhnt, das Dumpfe, das Bedrückende<br />

einer von Millionen Miasmen<br />

der innersten Verrottung <strong>und</strong> Fäulnis durchschwirrten<br />

Gesellschaftsatmosphäre als gut<br />

<strong>und</strong> unabänderlich zu betrachten.<br />

Vielleicht ist's ein schlechter Vergleich,<br />

aber in e i n e m doch sehr zutreffend: wie<br />

jenes Abgeordnetenhaus sich zaghaft gegenüber<br />

dem Eindringling verschloß, so verschließt<br />

sich die heutige Gesellschaft, ihr<br />

ganzer Klüngelanhang von Kliquen, Parteien<br />

<strong>und</strong> Schwindelexistenzen der Autorität <strong>und</strong><br />

Ausbeutung vor uns, den Anarchisten. Straußengleich<br />

glauben sie, man sähe sie nicht,<br />

wenn sie den Kopf in den Sand stecken;<br />

gemach, ihr Herren aller Rangstufen der<br />

Autorität, wir wissen euch zu würdigen...<br />

Nicht wie jene Quacksalber tritt der<br />

Anarchist auf. Er verspricht nichts; verspricht<br />

niemals, der Menschheit Probleme zu lösen,<br />

behauptet nie, daß mit der Einsetzung seiner<br />

werten Persönlichkeit in die ganz ertragreichen<br />

Würden eines Abgeordneten,<br />

auch nur eine Jota eines sozialen Problems<br />

gelöst werden könne, von ihm gelöst werden<br />

würde. Der Anarchist ist ein soziologischer<br />

Wahrheitsmensch, <strong>und</strong> deshalb verkündet<br />

er es stets laut <strong>und</strong> deutlich, daß<br />

das soziale Elend n i c h t durch die Institutionen<br />

der bestehenden, versklavenden Gesellschaft,<br />

sondern einzig <strong>und</strong> allein durch<br />

die dieses gesellschaftliche Leben bildenden<br />

Menschen selbst, die geistiger <strong>und</strong> physischer<br />

Tatenfreude fähig, aufgehoben werden<br />

kann.<br />

In einem ist der Anarchist der edelste,<br />

idealste Kämpfer. Da er, um Anarchist zu<br />

sein, mit allen Vergünstigungen <strong>und</strong> Hoffnungen<br />

des gegenwärtigen kapitalistischen<br />

Systems gebrochen, auf sie verzichtet hat,<br />

gibt es für ihn keine Rücksichten mehr in<br />

bezug auf die Aufdeckung der U r s a c h e n<br />

des Menschenelends. Er weiß, daß es die<br />

Gewalt ist, die die gesamte Menschheit<br />

darniederhält, in ihre Beziehungen sich einmengt<br />

<strong>und</strong> das Unrecht einer Gesellschaft<br />

unerhörtesten Reichtums <strong>und</strong> unerhörtester<br />

Armut, schrankenloser Verschwenderfreiheit<br />

von Geldmillionen <strong>und</strong> schmachvollster<br />

Lohnhörigkeit <strong>und</strong> Unfreiheit von menschlichen<br />

Millionen aufrecht erhält. Da er n i e<br />

mit dem Staate schachern, noch je Vergünstigungen<br />

von ihm zu erhalten wünscht,<br />

weist er mit kaltblütiger Überlegenheit auf<br />

den Urheber, auf die Verkörperung des<br />

gesellschaftlichen Gewaltprinzips, auf den<br />

Staat, hin. Mit dem Sturze des Staates stürzt<br />

jede andere Art von Unfreiheit <strong>und</strong> Abhängigkeit;<br />

es stürzt der Kapitalismus, es<br />

stürzt also die Ausbeutung, die heuchlerische<br />

Philantropie, die doppelbödige<br />

Moral, die Prostitution der Masse, der<br />

menschenmordende Krieg k u r z all<br />

d a s U n w e s e n , d a s s i c h n u r d u r c h<br />

d i e G e w a l t d e s S t a a t e s a u f b a u t e<br />

u n d e r h ä l t . Aus allen Geistesgebieten<br />

dringt diese Erkenntnis auf den Anarchisten<br />

ein, <strong>und</strong> sie ist die großartigste Offenbarung<br />

eines Geheimnisses über die Ursache der<br />

allgemeinen Knechtschaft, die, wenn von<br />

dem Volke nur in starker Minorität begriffen,<br />

zum Heile der Gesamtmenschheit ausschlagen<br />

wird.<br />

Aber ungleich den Sozialdemokraten<br />

verwirft der Anarchist jede doktrinäre Vorherbestimmung<br />

der Zukunftsgesellschaft;<br />

ungleich allen übrigen Quacksalbern geht<br />

er hierin vor. Jede politische Partei, die<br />

den S t a a t zu e r o b e r n wünscht, arbeitet<br />

dem vor, daß sie sich an die Stelle der<br />

alten Herrschaft setzen kann, bereitet somit<br />

die Fortsetzung der Menschheitssklaverei<br />

vor. Der Anarchist verwirft den Staat wie<br />

dessen Eroberung; er strebt d i e E r o -<br />

b e r u n g d e r G e s e l l s c h a f t für die Freiheit<br />

an, was nur unter absolutestem Ausschluß<br />

aller Staatssysteme geschehen kann.<br />

Anarchie bedeutet die individuelle <strong>und</strong><br />

soziale Freiheit gegenüber allen durch Menschen<br />

erzeugten Gesetzen, die stets von irgend<br />

einer Zentralgewalt ausgehen müssen. Eine<br />

Zentralgewalt der Majorität, dies wünscht die<br />

Sozialdemokratie zu etablieren <strong>und</strong> nach<br />

der Diktatur der von dieser Majorität ein-


gesetzten Zentralgewalt müßte das soziale<br />

Leben sich betätigen. Der Anarchist bekämpft<br />

dies als Despotismus der Majorität,<br />

ganz wie er auch den Despotismus der<br />

Minorität <strong>und</strong> des Einzelnen bekämpft. Er<br />

will die individuelle Freiheit A l l e r . Er ist<br />

nicht so utopistisch wie die Sozialdemokratie,<br />

zu glauben, daß eine Majorität alle<br />

Kulturmöglichkeiten der Gesamtheit wissen<br />

oder im Interesse Aller wirken kann; jede<br />

Majorität wird besondere Interessenvertretung<br />

<strong>und</strong> damit ist sie gezwungen, sich mit Verteidigungsmitteln<br />

der Gewalt gegenüber jedem<br />

sozialen Abänderungsversuch zu umgeben.<br />

Und deshalb ist es richtig, wenn man sagt,<br />

daß die Sozialdemokratie — n i c h t zu verwechseln<br />

oder zu identifizieren mit Sozialismus!<br />

— eine Hemmung jeder friedlichen<br />

Entwicklung bedeuten würde; ganz wie<br />

der Gegenwartsstaat.<br />

Der Anarchist wendet sich als Kämpfer<br />

gegen jeden durch Menschen über Menschen<br />

ausgeübten B e s c h r ä n k u n g s d r u c k<br />

— somit vor allem wider den Staat. Als<br />

Kämpfer strebt er nach vollkommener Freiheit,<br />

d. h. nach demjenigen gesellschaftlichen<br />

Zustand, in dem es dem Einzelnen<br />

möglich sein wird, sich nach Maßgabe<br />

individueller Veranlagung zu betätigen <strong>und</strong><br />

mit Gleichgesinnten frei zu vereinigen zu<br />

allen materiellen <strong>und</strong> geistigen Zwecken.<br />

Ein solcher Zustand bietet vor allem ein<br />

Bild der Mannigfaltigkeit, der Vielseitigkeit<br />

dar. Allerdings ist jeder Anarchist — selbst<br />

der individualistische» ist es — ein Sozialist,<br />

doch welchem besonderen System des Sozialismus<br />

er sich anschließt, hängt ganz ab<br />

von seinem persönlichen Empfinden <strong>und</strong><br />

seiner intellektuellen Erkenntnis. Erste Vorbedingung<br />

für den Anarchisten ist stets<br />

das Freiheitsmoment, <strong>und</strong> da er nur die<br />

freiheitlichen <strong>und</strong> freiwilligen Elemente des<br />

Sozialismus zu verwirklichen bestrebt ist,<br />

adelt er den Sozialismus zu einem System<br />

freiheitlichen Wohlstandes für Alle, streift<br />

ihm alles Despotische ab, wie es ihm gerade<br />

die Sozialdemokratie — als Mischung<br />

des Bourgeoisen mit Demokratisch-Sozialistischem<br />

— anzutun bemüht ist. Der Anarchist<br />

kämpft für die Anarchie — eine<br />

staatslose Gesellschaft humanster Freiheit,<br />

in der a l l e Menschen den unbeschränktesten<br />

gesellschaftlichen <strong>und</strong> individuellen<br />

Zutritt zu sämtlichen Produktionsmitteln,<br />

die Möglichkeit haben werden, sich so zu<br />

vereinigen, zu betätigen, wie es ihrem<br />

besonderen Geistes- <strong>und</strong> Gefühlstriebe<br />

eigen ist.<br />

Der Anarchist als Kämpfer der Gegenwart<br />

ist vollständig kompromißlos in bezug<br />

auf sein Ideal. Er beteiligt sich an allen<br />

antistaatlichen Aktionen, die seinem <strong>Ziel</strong>e<br />

zuführen <strong>und</strong> ideell mit diesem in Einklang<br />

sich befinden; er ist für den Generalstreik,<br />

weil dieser die ökonomische Selbstbestimmungsmacht<br />

der Kapitalistenklasse zertrümmert;<br />

ist Antimilitarist, weil der Militarismus<br />

<strong>und</strong> der sich auf ihn stützende<br />

Staat Gewalt, <strong>und</strong> Anarchie Friede, Freiheit,<br />

also G e w a l t l o s i g k e i t bedeutet. Für<br />

dieses Ideal tritt er in allen seinen Aktionen<br />

im privaten wie öffentlichen Leben ein,<br />

i h m macht er alle seine Aktionen dienstbar.<br />

Als Apostel des höchsten Freiheitsstrebens<br />

wird er durch die Gefängnisse<br />

geschleppt, in Verließe geworfen, endet<br />

— man lese Tolstois erschütternde Anklage:<br />

«Ich kann nicht schweigen!» — als Justizopfer<br />

wohl auch unter den Schergenhänden<br />

der bestehenden Gewaltsautorität, doch<br />

überall, wo wir ihn sehen, erblicken wir<br />

ihn als einen geistig <strong>und</strong> physisch Ringenden<br />

wider Vergewaltigung <strong>und</strong> Tücke. Ihm<br />

lacht nie die beschauliche Ruhe <strong>und</strong> Behäbigkeit<br />

der Politiker, überall ist er, was<br />

er sein <strong>und</strong> bleiben muß bis zum idealen<br />

Aufgang des leuchtenden <strong>Ziel</strong>es: der Anar-<br />

chist, der Kämpfer — w e i l A n a r c h i s t ,<br />

d a r u m ein u n e r m ü d l i c h e r K ä m p f e r !<br />

Offizielles Protokoll<br />

des Internationalen Antimilitaristischen<br />

Kongresses<br />

gehalten zu Amsterdam, am 30.—31. August<br />

1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />

des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />

m e r h o r n .<br />

(Fortsetzung.)<br />

Der Delegierte von Alkmaar beantragt,<br />

daß dieses Referat von Nieuwenhuis in<br />

mehreren Sprachen herausgegeben werden<br />

soll. Er möchte noch einfügen, daß die<br />

Arbeiter keine Erlösung zu gewärtigen<br />

haben von den Abgeordneten in den Parlamenten<br />

- sondern allein <strong>und</strong> ausschließlich<br />

von der eigenen Kraft.<br />

E n s c h e d e meint, Domela Nieuwenhuis<br />

Referat wird wohl die Sympathie eines<br />

jeden Menschenfre<strong>und</strong>es haben. Aber ein<br />

wichtiger Faktor ist übersehen <strong>und</strong> muß<br />

hinzugefügt werden, weil das Referat international<br />

herausgegeben werden soll. Wo<br />

die kapitalistische Klasse auf alle erdenkliche<br />

Weisen bekämpft wird, da muß man darauf<br />

hinweisen, daß der Antimilitarismus auch<br />

eine spezielle Propaganda braucht. Wir<br />

müssen es den Leuten klar machen, daß<br />

die ökonomische Propaganda allein nicht<br />

ausreicht. Es muß entschieden an erster<br />

Stelle auf dem Programm stehen: P r o p a -<br />

g a n d a g e g e n d e n M i l i t a r i s m u s .<br />

Bedient sich doch der Kapitalismus desselben<br />

zu all seinen unsauberen Praktiken<br />

gegen die Arbeiter.<br />

Es entspinnt sich eine rege Diskussion<br />

zwischen den Anhängern der gewaltsamen<br />

Revolution <strong>und</strong> des passiven Widerstandes,<br />

worin verschiedene Redner erklären, die<br />

Internationale Vereinigung müsse für Alle<br />

offenstehen, die in was immer für einer<br />

Art gegen den Militarismus kämpfen; <strong>und</strong><br />

dieselbe habe nicht die Aufgabe, ihren Mitgliedern<br />

vorzuschreiben, was sie in einem<br />

gegebenen Falle tun sollen, sondern sie<br />

müsse nur die Haupttendenzen des Kampfes<br />

gegen den Militarismus angeben <strong>und</strong> alles<br />

übrige der freien Initiative des Einzelnen<br />

überlassen. Es wird kein Beschluß gefaßt.<br />

Schließlich wird noch die Frage einer<br />

i n t e r n a t i o n a l e n S p r a c h e besprochen.<br />

Mehrere Delegierte schildern die Schwierigkeiten,<br />

die das Fehlen einer gemeinsamen<br />

Sprache dem internationalen Verkehr verursacht<br />

<strong>und</strong> weisen auf die großen Vorteile<br />

hin, die die Erlernung einer internationalen<br />

Sprache, besonders des Esp<br />

e r a n t o , mit sich bringt.<br />

Mit dem Wunsche, daß sämtliche Teilnehmer<br />

in ihrem eigenen Lande mit voller<br />

Kraft für die antimilitärischen Prinzipien<br />

eintreten sollen, geht der Kongreß nach<br />

zweitägiger Sitzung auseinander.<br />

Dokumentarischer <strong>und</strong> historischer<br />

Anhang.<br />

I.<br />

Manifest des Internationalen Antimilitaristischen<br />

Kongresses an die Arbeiter<br />

Deutschlands <strong>und</strong> Frankreichs.<br />

(Nachfolgender Manifesterlaß wurde anläßlich<br />

der grausamen Niedermetzelung der sich wider<br />

bestialischer deutschländischer Kolonialpolitik in<br />

Südwestafrika erhebenden Hereros verfaßt; es ist<br />

dies eine Kolonialpolitik, die aus den Hereros, die<br />

bislang freie Viehzüchter gewesen, besitzlose Sklaven<br />

macht).<br />

Der Internationale antimilitärische Kongreß<br />

in Amsterdam beschließt, im Hinblick<br />

auf die Verbrechen der französischen<br />

<strong>und</strong> deutschen kapitalistischen Regierungen<br />

in M a r o k k o <strong>und</strong> S ü d w e s t a f r i k a<br />

<strong>und</strong> auf die aus dem vorigen Anlaß<br />

drohende <strong>und</strong> immer gegenwärtige Gefahr<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Jon. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />

eines europäischen Krieges, folgenden Aufruf<br />

an die Arbeiter der genannten Staaten<br />

zu richten <strong>und</strong> denselben in ihre, resp.<br />

Landessprache übersetzt, sämtlichen Arbeitervereinigungen<br />

<strong>und</strong> revolutionären Gruppen<br />

dieser Länder zu senden mit der Bitte: daß<br />

sie denselben mit allen ihren zu Gebote<br />

stehenden, zulässigen Mitteln unter dem<br />

Proletariat ihres Landes verbreiten; daß sie<br />

dieselben in jeder Art <strong>und</strong> Weise auffordern,<br />

im Falle einer Expedition oder eines Krieges<br />

— von welcher Seite auch die Kriegserklärung<br />

zuerst kommen möge — dagegen<br />

zu wirken; <strong>und</strong> daß sie durch unausgesetzte<br />

Propaganda <strong>und</strong> durch systematischen Boykott,<br />

Generalstrike gegenüber den dem<br />

Kriege dienenden Industrien, jeden Krieg<br />

unmöglich zu machen suchen <strong>und</strong> so die<br />

internationale Befreiung des Proletariats von<br />

Staatsgewalt <strong>und</strong> Lohnsklaverei vorbereiten.<br />

Arbeiter! Soldaten!<br />

Die Profitgier der Kapitalisten hat<br />

wieder an zwei Stellen eure Regierungen<br />

zu Raubzügen gegen ein «unzivilisiertes»<br />

Volk veranlaßt <strong>und</strong> die Gefahr eines internationalen<br />

Krieges heraufbeschworen.<br />

Das Volk von Marokko hat sich gegen<br />

die Rücksichtslosigkeiten empört, mit der<br />

europäische Eindringlinge seine Lebensart<br />

<strong>und</strong> Gefühle verletzten, um die Geldinteressen<br />

einiger Spekulanten durchzusetzen.<br />

Es hat ein paar französische Matrosen getötet.*<br />

Darum müßt nun ihr, französische<br />

<strong>und</strong> deutsche Proletarier, zu Tausenden<br />

nach Afrika eilen, um Rache zu nehmen<br />

<strong>und</strong> die «Ehre der Nation» wieder herzustellen.<br />

Man wird euch befehlen, sie mit Feuer<br />

<strong>und</strong> Schwert zu bestrafen, diese «grausamen<br />

fanatischen Wilden» — die doch nicht<br />

anders gehandelt haben, als wie ihr im<br />

gleichen Falle auch gehandelt hättet. Je<br />

grausamer ihr gegen sie wütet, desto mehr<br />

wird man euch loben. Diebstahl, Raub,<br />

Mord, Vergewaltigung, Tortur — alle Verbrechen<br />

<strong>und</strong> Scheußlichkeiten, die ihr gegen<br />

dieselben begeht, werden euch als Heldentaten<br />

angerechnet werden.<br />

Aber auch von euch wird man verlangen,<br />

daß ihr euch den größten Qualen<br />

<strong>und</strong> Gefahren aussetzt — der glühenden<br />

Sonne, dem Durst, dem Fieber, den Kugeln<br />

der Feinde — für «das Wohl <strong>und</strong> die Ehre<br />

des Vaterlandes»! Wenn ihr nicht willig<br />

seid, euer Leben, euere Ges<strong>und</strong>heit zu<br />

opfern, wird euch das Kriegsgericht mit<br />

Tortur <strong>und</strong> Tod zum Gehorsam zwingen.<br />

Schon haben französische Kriegsschiffe<br />

eine blühende Stadt in Trümmer geschossen<br />

<strong>und</strong> deren Bewohner zu H<strong>und</strong>erten niedergemetzelt.<br />

Doch das ist nur der Anfang.<br />

Die Rache für die getöteten Matrosen ist<br />

nur ein Vorwand zur französischen Eroberung<br />

Marokkos. Auch die Bewohner<br />

dieses Landes, die bisher mehr oder weniger<br />

frei <strong>und</strong> zufrieden vom Ertrag ihrer<br />

Arbeit lebten <strong>und</strong> ihre eigenen Angelegenheiten<br />

besorgten — auch sie sollen zu<br />

Lasttieren <strong>und</strong> Arbeitssklaven eurer Kapitalisten<br />

<strong>und</strong> Regierungen gemacht werden.<br />

Andere Staaten werden sich beeilen, dem<br />

Beispiele Frankreichs zu folgen, sich auch<br />

neuer «unzivilisierter» Länder bemächtigen,<br />

deren Naturreichtum <strong>und</strong> Bevölkerung leicht<br />

auszubeuten sind.<br />

Und wenn sich die Ausbeuter der verschiedenen<br />

Staaten nicht einigen können<br />

über ihre Beute - dann werden sie ihre<br />

Zänkereien durch den Krieg der Nationen<br />

entscheiden lassen!<br />

Um ihretwillen werdet ihr, Soldaten<br />

des einen Landes, die Soldaten des anderen<br />

Landes mit den furchtbarsten Mordwerkzeugen<br />

zu H<strong>und</strong>erttausenden hinmorden<br />

Fortsetzung folgt.<br />

* Gemeint ist die Affaire von Casablanca.


Wien, 16. August 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. — Hr. 16.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />

I./17. — Gelder sind zu senden an<br />

W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />

5, JII./27.<br />

Allgemeine Gewerkschafts-Föderation, Wien.<br />

Ausflug der Kameraden<br />

znm Kubetz in Atzgersdorf<br />

Sonntag den 23. August 1908, nachmittags 2 Uhr<br />

Gesinnungsgenossen, wir fordern euch<br />

auf, euch samt Familie zahlreich an unserem<br />

kameradschaftlichen Ausflug zu beteiligen!<br />

Fahrgelegenheiten Südbahn-Meidling oder Breitenfurterstraße<br />

Endstation.<br />

Kameraden <strong>und</strong> Kampfesgenossen<br />

!<br />

Wir Wiener Genossen <strong>und</strong> Anarchisten,<br />

die als große Pflicht <strong>und</strong> schwere Bürde<br />

die Herausgabe des «W. f. A.» auf uns<br />

genommen haben, sind uns dessen bewußt,<br />

daß die soziale Lage der meisten unserer<br />

Kameraden gerade jetzt eine sehr drückende<br />

<strong>und</strong> bedrückte ist. Die Arbeitslosigkeit, die<br />

akute ökonomische Krise reißt große Lücken<br />

in unseren Reihen. Kurz, wir begreifen die<br />

ungeheuren Schwierigkeiten, die uns die<br />

Herausgabe gerade während der Sommermonate<br />

verursacht, sehr wohl <strong>und</strong> würdigen<br />

sie als Resultat der gerade jetzt besonders<br />

kritischen Lebensverhältnisse.<br />

Was wir aber von unseren Kameraden<br />

zu fordern berechtigt sind, das ist der<br />

e n e r g i s c h e V e r t r i e b u n s e r e s B l a t t e s .<br />

Und nur darum ersuchen wir diejenigen,<br />

die als Anarchisten fühlen <strong>und</strong> denken.<br />

Hand aufs Herz — tut jeder darin seine<br />

Pflicht, ist jeder darin das, was er sein<br />

muß: ein Agitator?<br />

Dies ist l e i d e r n i c h t der Fall.<br />

Daran wollen wir u n s e r e K a m e r a d e n<br />

<strong>und</strong> G e s i n n u n g s f r e u n d e g e m a h n e n ,<br />

sie zu e n e r g i s c h e m T u n a n s p o r n e n .<br />

Es sollte E h r e n p f l i c h t e i n e s j e d e n<br />

E i n z e l k a m e r a d e n sein, m o n a t l i c h wenigstens<br />

einen n e u e n L e s e r der anarchistischen<br />

P r e s s e z u z u f ü h r e n ; <strong>und</strong><br />

unsere w a c k e r e n V o r k ä m p f e r auf<br />

diesem G e b i e t e , u n s e r e K o l p o r t e u r e ,<br />

müssen darnach t r a c h t e n , ihren A b -<br />

satz zu v e r g r ö ß e r n , w e n i g s t e n s um<br />

drei bis vier D u t z e n d E x e m p l a r e<br />

während e i n e s J a h r e s .<br />

Es soll nicht gesagt werden, daß dies<br />

nicht in gewissem Maße geschehen ist;<br />

doch lange nicht in ausreichendem Maße.<br />

Kameraden, wir appellieren an euch —<br />

arbeitet unablässig <strong>und</strong> energisch an dem<br />

Vertrieb unseres gemeinsamen Blattes; nur<br />

so wird es möglich sein, den «W. f. A.»<br />

zu erhalten.<br />

Tue j e d e r s e i n e P f l i c h t !<br />

Eine notwendige Revision.*<br />

Schon im Jahre 1895 habe ich darauf<br />

hingewiesen, daß in der Entwickelung der<br />

* Der obige, auch für Österreich so überaus<br />

zeitgemäße Aufsatz unseres alten, unermüdlichen Vorkämpfers<br />

ist dem französischen Bruderorgan „Temps<br />

Nouveaux" entnommen. Die Red.<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft,<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . . "<br />

eigentlichen sozialistischen Idee ein Stillstand<br />

eingetreten ist, <strong>und</strong> daß eine gründliche<br />

Revision dessen, was man den Arbeitern<br />

als Sozialismus verkündet, notwendig geworden<br />

ist, wenn diese große leitende Idee<br />

des neunzehnten Jahrh<strong>und</strong>erts nicht entarten<br />

<strong>und</strong> die ganze proletarische Bewegung vergiftet<br />

werden soll.<br />

Seitdem ist diese Gefahr immer stärker<br />

geworden; so daß heute in Frankreich,<br />

Italien, der Schweiz <strong>und</strong> sogar in der deutschen<br />

Sozialdemokratie sich mehr <strong>und</strong> mehr<br />

das Bedürfnis fühlbar macht, all das, was<br />

man in den sich »sozialistisch« nennenden<br />

Kreisen tut <strong>und</strong> lehrt, zu überprüfen.<br />

Wahrscheinlich wird man fragen, ob<br />

man von einem Stillstand in der Entwickelung<br />

des Sozialismus sprechen könne, wenn,<br />

einesteils die Zahl der Stimmen, die bei den<br />

Wahlen für die Sozialdemokraten abgegeben<br />

werden, fortwährend zunimmt, <strong>und</strong> wenn<br />

anderenteils das, was man »die Verbreitung<br />

sozialistischer Ideen« nennt, sogar in jene<br />

Kreise vordringt, die früher dem Sozialismus<br />

vollkommen feindlich waren.<br />

Nun, gerade die Tatsache, daß man so<br />

weit gekommen ist, eine Zunahme der sozialdemokratischen<br />

Wahlstimmen oder ein<br />

paar Versuche von Verstaatlichung, also<br />

von R e g i e r u n g s - K a p i t a l i s m u s , für<br />

eine Verbreitung der s o z i a l i s t i s c h e n<br />

Ideen anzusehen — daß man den Sinn des<br />

Wortes S o z i a l i s m u s so weit vergessen<br />

hat, daß eine solche Verwirrung möglich<br />

ist — gerade dies ist in unseren Augen<br />

die wirkliche Gefahr. Glücklicherweise fängt<br />

man immer mehr an, diese Gefahr zu erkennen,<br />

sogar in jenen Kreisen von Deutschland,<br />

Österreich <strong>und</strong> der deutschen Schweiz,<br />

die am meisten zu dieser fatalen Verwirrung<br />

beigetragen haben.<br />

* *<br />

*<br />

Nehmen wir nur ein Beispiel. Vor<br />

einiger Zeit machte ein französisches Bourgeoisblatt<br />

die Bemerkung, daß das gegenwärtige<br />

Ministerium Clemenceau, trotzdem<br />

es anti-sozialistisch ist, dennoch Gesetze<br />

zur Annahme bringt, die ganz sozialistisch<br />

seien; <strong>und</strong> es führte die Verstaatlichung der<br />

Eisenbahnen <strong>und</strong> den Plan einer Einkommensteuer<br />

als »sozialistische« Gesetze an.<br />

Man sollte denken, daß die französische<br />

Sozialdemokraten sich beeilt hätten, diesen<br />

Irrtum richtig zu stellen, indem sie erklärten,<br />

daß das »antisozialistische« Ministerium<br />

seinem Standpunkt treu geblieben ist, daß<br />

es nur Gesetze geschaffen hat, die nach der<br />

Idee der Bourgeoisie als eine Schutzwehr<br />

gegen den Sozialismus dienen <strong>und</strong> die einen<br />

Teil jenes großen Systems der sozialpolitischen<br />

Gesetzgebung bilden, dessen Absicht<br />

es ist, den Sozialismus lahm zu legen. Dieses<br />

System versucht die sozialistischen Arbeiterbewegungen<br />

zu hindern, zu gleicher Zeit<br />

die Kräfte der Bourgeoisie zu verstärken.<br />

Es ist ein System, das danach trachtet <strong>und</strong><br />

dem dies auch teilweise gelingt, den Sozialismus<br />

zu unterschlagen.<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2.40;<br />

halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

Aber die französischen Sozialdemokraten<br />

antworteten gerade das Gegenteil<br />

von dem. Sie sagten das, was man seit<br />

zwanzig Jahren in Deutschland <strong>und</strong> überall<br />

in der sozialdemokratischen Presse bei solchen<br />

Gelegenheiten zu sagen pflegt. Wenn<br />

der Staat eine Eisenbahnlinie ablöst oder<br />

sich des Monopoles der Banken, des Handels,<br />

des Alkohols bemächtigt, heißt auch<br />

ihnen dies »Gesetze in sozialistischer Richtung«<br />

schaffen.<br />

Seit mehr als einem Vierteljahrh<strong>und</strong>ert<br />

hat man in allen Tonarten geschrieben ; so<br />

daß der Arbeiter — jener wenigstens, der<br />

in den sozialdemokratischen Organisationen<br />

als »klassenbewußt« angesehen wird — es<br />

schließlich selbst glaubt, daß Demokratie,<br />

Regierungskapitalismus <strong>und</strong> Sozialismus eins<br />

<strong>und</strong> dasselbe sind. Wenn man nur Demokrat<br />

bleibt, so werde man, ohne es zu wollen,<br />

zum Sozialisten, wie die unschuldigen Ministerpräsidenten<br />

von Frankreich <strong>und</strong> England,<br />

von denen der eine für die Westbahnverstaatlichung<br />

<strong>und</strong> der andere für die vom<br />

Staat bezahlte Altersversorgung stimmt. Als<br />

dritten im B<strong>und</strong>e könnte man noch den<br />

Zaren Nikolaus II. hinzufügen, der ebenfalls<br />

alle russischen Bahnen verstaatlichen<br />

ließ <strong>und</strong> der heute das Einkommen dieser<br />

»nationalisierten« Eisenbahn — in guter Gesellschaft<br />

nennt man das Nationalisation —<br />

dazu verwendet, seine Untertanen hinmorden<br />

zu lassen. In Deutschland rechnet man<br />

zu diesen Sozialisten wider Willen auch<br />

Bismarck, der dort schon lange die staatliche<br />

Altersversicherung eingeführt hat.<br />

Alle diese Leute sind, wenn auch wider<br />

eigenen Willen, Sozialisten ; <strong>und</strong> ihr, Arbeiter,<br />

ihr müßt nur die Bourgeoisie die<br />

Sachen in dieser Richtung besorgen lassen.<br />

So spricht die Sozialdemokratie, <strong>und</strong> wenn<br />

man ihr glaubt, so geht der Sozialismus<br />

ganz von selbst voran.<br />

Gewiß sagen auch wir anarchistische<br />

<strong>und</strong> sozialistische Propagandisten manchmal,<br />

daß alles in der jetzigen Gesellschaft<br />

die Entwickelung der Produktivkräfte des<br />

Menschen, die Entwickelung seines Gleichheitsgefühles,<br />

ja sogar die Kriege, die die<br />

Bourgeoisien der verschiedenen Staaten um<br />

Eroberung der Weltmärkte gegeneinander<br />

führen —, daß dies alles dazu beiträgt, in<br />

einem günstigen Augenblick die soziale Revolution<br />

herbeizuführen. Alles! Aber nur<br />

unter e i n e r u n e r l ä ß l i c h e n Bedingung:<br />

daß wir uns n i c h t d u r c h d i e B o u r -<br />

g e o i s i e i r r e f ü h r e n l a s s e n ! Und daß<br />

wir wissen, wohin wir gehen, daß wir das<br />

<strong>Ziel</strong> des Sozialismus richtig auffassen : die<br />

A b s c h a f f u n g <strong>und</strong> nicht die E r h a l -<br />

t u n g der Ausbeutung des Menschen durch<br />

den Menschen! Wenn das Verständnis<br />

dieses <strong>Ziel</strong>es verloren geht, kann man sich<br />

herumschlagen, so viel man will, die Revolution<br />

wird nicht sozial sein, sie wird uns<br />

der sozialen Revolution nicht tinmal näher<br />

bringen.<br />

* *<br />

*


Es ist Zeit, dieser Komödie von Demokraten,<br />

die sich als Sozialisten verkleiden,<br />

ein Ende zu machen.<br />

Es ist Zeit, laut zu verkünden, daß<br />

S o z i a l d e m o k r a t i e <strong>und</strong> Sozialismus zwei<br />

gr<strong>und</strong>verschiedene Sachen sind. Die Sozialdemokratie<br />

ist ein K o m p r o m i ß zwischen<br />

dem Sozialismus der Arbeiter <strong>und</strong> dem Individualismus<br />

der Bourgeoisie; ein Kompromiß,<br />

der das »Recht« des Reichen, den<br />

Armen auszubeuten, voll <strong>und</strong> ganz aufrecht<br />

erhält, <strong>und</strong> nur die Form dieser Ausbeutung<br />

ein wenig zu mildern sucht; ein Kompromiß,<br />

der die Sorge, diese Ausbeutung abzuschaffen,<br />

den fernen, kommenden Zeiten<br />

überläßt — wenn bis dahin die Oesellschaft<br />

unter der Last dieser Ausbeutung nicht zu<br />

Gr<strong>und</strong>e gegangen ist. Und eben deshalb,<br />

weil die Sozialdemokratie ein Kompromiß<br />

ist, ist sie unvermeidlich bestrebt, diese Ausbeutung<br />

auf ewig aufrecht zu erhalten, derweil<br />

dieselbe für e i n e n T e i l der Ausgebeuteten<br />

gemildert werden wird. Die Sozialdemokratie<br />

ist die Verleugnung des Sozialismus.<br />

Es ist auch Zeit, ebenso laut zu verkünden,<br />

daß, was man »die Verbreitung<br />

der sozialistischen Ideen« genannt hat, in<br />

Wirklichkeit nichts anderes ist, als eine Verbreiterung<br />

gewisser Bedenken in den Kreisen<br />

der Bourgeoisie, die es als zweckmäßig erscheinen<br />

lassen, einen verschwindend kleinen<br />

Teil der in den letzten dreißig Jahren geschaffenen<br />

riesigen Reichtümer mit einem<br />

w i n z i g e n T e i l der Arbeiter — besonders<br />

auch deren Führer — zu teilen. Dies ist<br />

ein sicheres Mittel, um die Arbeiterklasse<br />

zu spalten, indem man einen Teil der Ausgebeuteten<br />

in die vermittelnde Klasse von<br />

verbourgeoisierten Arbeitern <strong>und</strong> Arbeiterbeamten<br />

übergehen läßt <strong>und</strong> so einen<br />

« v i e r t e n S t a n d » schafft, um die große<br />

Masse unter dem Joche der Kapitalisten<br />

behalten zu können.<br />

Andererseits ist es eine schändliche<br />

Täuschung der Arbeiterklasse, wenn man<br />

behauptet, daß einige schwache Verbesserungen<br />

im Betriebe der großen Unternehmungen,<br />

wie z. B. in den Wohnungs<strong>und</strong><br />

Lebensverhältnissen der Arbeiter, der<br />

Sozialismus oder ein <strong>Weg</strong> zum Sozialismus<br />

sind — wo doch jeder Bourgeois w e i ß ,<br />

daß dies nur ein Mittel ist, um die Produktivkraft<br />

des Arbeiters zu steigern, ohne den<br />

Löwenanteil, der dem Kapitalismus zufällt,<br />

im geringsten zu schmähen. Und wenn<br />

man dem Bourgeoisstaate das Verfügungsrecht<br />

über die ganze Transportindustrie <strong>und</strong><br />

den Eisenbahnverkehr einräumt, so vermehrt<br />

man dadurch ganz ungeheuer die<br />

Kraft, die der Staat zur Verteidigung des<br />

Kapitalismus besitzt. Man sieht das am<br />

auffälligsten in Rußland.<br />

Deshalb ist es die höchste Zeit, die<br />

sogenannten sozialistischen Programme einer<br />

Revision zu unterziehen, nachzusehen, was<br />

noch an unklarem Sozialismus in diesen<br />

Kompromiß-Programmen bleibt, <strong>und</strong> alle<br />

sozialistischen Bestrebungen der Arbeitermassen<br />

so zu formulieren, damit alles Gift,<br />

was die geriebenen Schlaufüchse der Bourgeoisie<br />

in dieselben hineingeschmuggelt<br />

haben, daraus verschwindet.<br />

Peter Krapotkin.<br />

Die Hauptaufgabe der anarchistischen<br />

Propaganda.*<br />

Wenn man in der letzten Zeit die<br />

anarchistische Bewegung beobachtet, so<br />

muß man zur Überzeugung gelangen, daß,<br />

obwohl nicht so sehr viel in Deutschland,<br />

so doch über Deutschlands Grenzen hinaus,<br />

ja sogar in anderen Erdteilen als in Europa,<br />

der Anarchismus gute Fortschritte macht.<br />

* Wir stellen diesen Artikel zur Diskussion.<br />

Die Red.<br />

Und dies, trotzdem man doch mit allen<br />

erdenklichen Mitteln es versucht, diese Idee<br />

totzuschweigen, was u, a. hauptsächlich<br />

unsere sogenannten «Stiefbrüder», die Sozialdemokraten,<br />

vortrefflich verstehen.<br />

Aber das ist es nicht allein, was uns<br />

auffallen muß; es ist noch etwas, was jeder<br />

Beobachter ohne Zweifel anerkennen wird<br />

— die Stellung, die sich der Anarchismus<br />

im großen <strong>und</strong> ganzen innerhalb der Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> der Gelehrtenwelt erobert<br />

hat, ist sehr bemerkenswert.<br />

Dieses so viel «geschmähte Kind», das<br />

man immer umhergestoßen, ja sogar sehr<br />

oft totgesagt hat, scheint zu einer Respektsperson<br />

heranzuwachsen, so daß Gelehrte,<br />

die sich auch nur in beschränkterem Maße<br />

mit fortschrittlichen Ideen beschäftigen, sich<br />

auch eingehender mit der Theorie, wie<br />

Taktik des Anarchismus befassen müssen.<br />

Allerdings unterlaufen den meisten von<br />

ihnen große Fehler, denen wohl, wie ich<br />

glaube, andere als böswillige Motive zu<br />

Gr<strong>und</strong>e liegen. Der Hauptfehler ist wohl<br />

der, daß nicht immer genau zwischen dem<br />

Anarchismus — <strong>und</strong> den mit dem Anarchismus<br />

sympatisierenden Strömungen unterschieden<br />

wird. So kommt es, daß nur<br />

zu oft Mitte! <strong>und</strong> <strong>Ziel</strong> verwechselt werden.<br />

Es liegt aber kein Gr<strong>und</strong> vor, sich hierüber<br />

groß zu verw<strong>und</strong>ern, so lange ähnliche<br />

Fehler von vielen unserer eigenen Genossen<br />

gemacht werden. Dieses sich selbst im Unklaren<br />

sein ist es, was in den meisten<br />

Fällen zur Verflachung, ja sogar manchmal<br />

ganz vom <strong>Ziel</strong>e ableitet.<br />

Um dem einigermaßen vorzubeugen,<br />

ist immer <strong>und</strong> immer wieder notwendig zu<br />

untersuchen — hauptsächlich wenn wir an<br />

Breite zunehmen — ob wir auch an wirklicher<br />

Tiefe nicht verloren haben.<br />

Die wahren Scheidungslinien zwischen<br />

allen sich sozialistisch nennenden Strömungen<br />

festzustellen, muß jederzeit Aufgabe<br />

unserer Propagandisten sein.<br />

In Betracht kommen weniger die Linien,<br />

die uns von der Sozialdemokratie trennen,<br />

weil sie zu markant sind, als die vom Syndikalismus,<br />

weil Syndikalismus <strong>und</strong> Anarchismus<br />

sich in vielem durchdringen. Nicht<br />

schwer ist es wohl zu beweisen, wie ganz<br />

entgegen unsere Anschauung jener der<br />

Sozialdemokratie ist, die nichts anderes als<br />

eine Reformpartei geworden <strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong><br />

ihrer Geschichtsauffassung nichts anders<br />

sein kann.<br />

<strong>Unser</strong>er Auffassung, auf die ich des<br />

Näheren noch zu sprechen komme, stehen<br />

vor allem die Anhänger Karl Marx entgegen,<br />

die da behaupten: D i e t r e i b e n d e<br />

G e w a l t i n der g e s c h i c h t l i c h e n E v o -<br />

l u t i o n ist d i e E n t w i c k l u n g d e r<br />

P r o d u k t i o n s k r ä f t e . Das menschliche<br />

Handeln spielt nur gewissermaßen eine<br />

passive, untergeordnete Rolle, der menschliche<br />

Geist ist etwas Sek<strong>und</strong>äres, etwas<br />

indirekt Wirkendes in der Weltgeschichte.<br />

Diese Wissenschaft, die aus dem Menschen<br />

eine Sache macht, ja fast u n t e r<br />

diese stellt, muß in kürzerer oder längerer<br />

Zeit in sich selbst zusammenfallen. Von<br />

ihrem «wissenschaftlichen» Standpunkte ausgehend,<br />

machen ihre Vertreter auch tatsächlich<br />

keinen Versuch, in das Weltenrad<br />

einzugreifen — höchstens mal durch ein<br />

bischen Schönreden — sonst suchen sie<br />

nach allen Seiten einen Ausgleich mit den<br />

herrschenden Gewalten zu schaffen <strong>und</strong><br />

warten im übrigen bis die «Zeit» sich erfüllet.<br />

Weil sie eben die Gesetzesmaschine<br />

in ihre Hand bekommen wollen, darum<br />

setzen sie auch schon jetzt alle Kraft für<br />

recht viele «gute» Gesetze ein, um schon<br />

jetzt wenigstens näher an diese Gesetzesmaschinen<br />

zu gelangen.<br />

Auch ihre Stellung zum Militarismus<br />

ist bezeichnend: Wohl ist man «gegen»<br />

den Militarismus, a b e r auf k e i n e n Fall<br />

f ü r A n t i m i l i t a r i s m u s ! Sie sind gegen<br />

Berufsoldaten, also gegen den Offiziers<strong>und</strong><br />

Unteroffiziersstand, gegen die Trennung<br />

der Armee vom Volke durch Kasernen <strong>und</strong><br />

Kasinos, gegen Verwendung von Militär<br />

zu Polizeizwecken gegen das Volk. Sie<br />

wollen, daß das Volk selbst über Krieg<br />

<strong>und</strong> Frieden bestimmt u. s. w. Sie wollen<br />

also andere, ihrer Idee angepaßtere Formen<br />

einführen, ungefähr wie die Schweizer<br />

Miliz, nur noch gereinigter; aber den Militarismus<br />

verwerfen sie keineswegs, <strong>und</strong> es<br />

ist auch ganz selbstverständlich für diese,<br />

wie jede Bewegung, die eine Herrschaft<br />

erstrebt. Sie muß notwendigerweise darnach<br />

trachten, den Militarismus in irgend einer<br />

Form zu erhalten, weil eine Herrschaft ohne<br />

organisierte Macht einfach <strong>und</strong>enkbar ist.<br />

Diese Demokratie hat nichts mit dem<br />

echten Sozialismus, dem anarchistischen<br />

Kommunismus gemein. Letzterer behauptet,<br />

nicht die Verhältnisse allein, sondern der<br />

menschliche Geist ist es, der die Geschichte<br />

macht. Nicht nur die Verhältnisse, sondern<br />

eine starke Minorität, die zusammengesetzt<br />

ist von moralisch höher entwickelten <strong>und</strong> von<br />

ihrem Ideal durchdrungenen Persönlichkeiten,<br />

dies ist es von jeher gewesen, was in<br />

edlem Sinne die Masse mit sich zu reißen<br />

vermochte. Um also das weitestgehende,<br />

das höchste <strong>Ziel</strong>, die Anarchie zu erreichen,<br />

müssen vollständige Umwandlungen der<br />

Individuen vor sich gehen. A n a r c h i s t<br />

k a n n s i c h , n u r d e r j e n i g e n e n n e n ,<br />

d e r s i c h s e l b s t b e h e r r s c h t <strong>und</strong><br />

g e r a d e d a r u m n i c h t b e h e r r s c h t z u<br />

w e r d e n b r a u c h t . Die freie Vereinigung<br />

solcher Persönlichkeiten, solcher Vollmenschen,<br />

ist dann in der Lage, die Verhältnisse<br />

nach ihrem Bilde, zu formen. Daher<br />

auch dieser kolossale Unterschied der Propaganda:<br />

Bei den Sozialdemokraten geht<br />

die ganze Propaganda darauf hinaus, eine<br />

möglichst große Masse für ihre Sache zu<br />

begeistern <strong>und</strong> dies auf Gr<strong>und</strong> möglichst<br />

großer Versprechungen, ohne viele Gegenleistung.<br />

H i n g e g e n l e g t d e r A n a r -<br />

c h i s m u s s e i n A u g e n m e r k a u f d i e<br />

E r z i e h u n g d e s I n d i v i d u u m s , wenn<br />

irgend möglich schon von Kindheit auf,<br />

weil man überzeugt ist, daß die Menschen<br />

weniger von Natur, als vielmehr durch<br />

systematisches Niederhalten des wahren<br />

Menschentums schon als Kinder zur bestehenden<br />

sozialen Unvollkommenheit verdammt<br />

worden sind.<br />

Doch wenden wir uns, um weiterzukommen,<br />

zu der Strömung, die uns näher<br />

steht, z u m S y n d i k a l i s m u s , also revolutionären<br />

Gewerkschaftsprinzip. Sehr viele<br />

Verfechter des Syndikalismus — <strong>und</strong> das<br />

wurde auch auf dem Amsterdamer Kongreß<br />

behauptet — erklären, der Syndikalismus<br />

genüge sich selbst. Mit anderen Worten:<br />

Der Syndikalismus erklärt, daß seine Bewegung<br />

ganz allein imstande sei, die herrschende<br />

Gesellschaft zu stürzen <strong>und</strong> an<br />

Stelle des Staates <strong>und</strong> der kapitalistischen<br />

Gesellschaft selbst die Konsumtion wie<br />

auch Produktion zu übernehmen. Seine<br />

Mittel sind nicht der Parlamentarismus, der<br />

die Arbeiterschaft dem <strong>Ziel</strong>e nicht näher<br />

bringt, wohl aber zur Verflachung, ja zur<br />

vollständigen Tötung des Klassenbewußtseins<br />

führt, sondern der wirtschaftliche<br />

Klassenkampf in seinem ernsten Sinne;<br />

seine Mittel sind: Direkte Aktion, Sabotage,<br />

Boykott, Massenaktionen, aber mit der<br />

Verantwortlichkeit aller einzelnen Persönlichkeiten.<br />

Weil nun die herrschende Klasse<br />

die Exekutivgewalt des Staates zu ihrer<br />

Verfügung hat, so müssen die Syndikalisten<br />

notwendigerweise Antimilitaristen im wahren<br />

Sinne des Wortes sein.<br />

Hat nun der Anarchismus gegen die<br />

Idee des Syndikalismus als Kampfesmittel


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Vorsignale der sozialen Revolution in Frankreich.<br />

Anlässlich von Manifestationen der im<br />

Solidaritätsstreik befindlichen 10 000 Bauarbeiter<br />

von Paris zu Ounsten streikenden Kameraden<br />

in Vigneux gegen die Brutalitäten des Militärs<br />

wider diese, gab ein Regiment Dragoner drei<br />

G e w e h r s a l v e n auf die Manifestanten ab,<br />

tötete drei <strong>und</strong> verw<strong>und</strong>ete über sechzig streikende<br />

<strong>und</strong> kämpfende Kameraden.<br />

(Villeneuve, 30. Juli 1908.)<br />

In dem großen sozialen Krieg, der international<br />

zwischen Ausbeutung <strong>und</strong> Freiheit wogt, haben<br />

wir wieder einen Markstein seiner geschichtlichen<br />

Entwicklung erreicht, den das französische Proletariat<br />

errichtet hat. Großes hat sich zugetragen in<br />

den letzten zwei Wochen <strong>und</strong> die vereinte Bestialität<br />

der Herren Clemenceau, Briand <strong>und</strong> Viviani<br />

als Vertreter des kaltblütig mordenden Staatsprinzips,<br />

die feilste Dirne der öffentlichen Dummheit<br />

<strong>und</strong> Unwissenheit, die Presse aller politischen Parteien,<br />

sämtliche Schakale der Bereicherung auf<br />

Kosten der Gesamtheit, .die ganze Bourgeoisie mit<br />

ihrem Klüngel haben es versucht, das französische<br />

organisierte Proletariat zu brechen <strong>und</strong> den Ausbruch<br />

seines sozialen Ingrimmes zu ersticken —<br />

es ist nicht gelungen, heute steht die „Konföderation<br />

der Arbeit", die einzige Klassenorganisation<br />

des französischen Proletariats, gefestigter da, als es<br />

früher der Fall war. Sie hat sich im Kampfe erprobt,<br />

sie wagte den Kampf wider alle die vereinten<br />

Mächte der Brutalität, <strong>und</strong> sie hat in diesem Kampfe<br />

ihre Stärke <strong>und</strong> Schwäche zugleich kennengelernt:<br />

ihre reissend zunehmende Stärke, ihre rapid abnehmende<br />

Schwäche, wie alle die Notwendigkeiten<br />

des Kampfes, denen es in der Zukunft zu begegnen<br />

gilt.<br />

Was ist geschehen, was trug sich zu? Diese<br />

Frage ist vor allem geboten gegenüber der infamen<br />

literarischen Kesseltreiberei der Bourgeoispresse,<br />

gegenüber dem erbärmlich-hämischen Umfälschen<br />

<strong>und</strong> Verfälschen der Eigenberichte des Berliner<br />

„Vorwärts" durch die Wiener „Arbeiter-Zeitung".<br />

Dieses letztere Blatt hat es gewagt, ein kämpfendes<br />

Proletariat zu verhöhnen, diese Herren, von<br />

denen die meisten nie eine Ahnung hatten, was es<br />

heißt, einen Solidaritätskampf durchzuführen, wie<br />

es die französischen Arbeiter taten. Die moralisch<br />

erbärmlichen Redakteure der „Arbeiter-Zeitung"<br />

redigierten die für den Generalstreik im ganzen<br />

großen noch einigermaßen anständig lautenden Berichte<br />

des „Vorwärts" mit ihrer Scheere <strong>und</strong> ihrem<br />

Kleisterpinsel um, schrieben ihre eigenen scharfmacherischen<br />

Betrachtungen gegen die französischen<br />

Gewerkschafter dazu — <strong>und</strong> gaben dieses Sammelsurium<br />

von schiefen Bourgeoismeldungen, elenden<br />

Lügen <strong>und</strong> demagogischen Schwindeleien als ihre<br />

„Eigenberichte" aus! Zur Zeit, als Arbeiter im<br />

bittersten Kampfe standen, fielen ihnen diese politischen<br />

Gaukler in Österreich geistig in den Rücken,<br />

Hand in Hand mit den ausgesprochensten Feinden<br />

des Proletariats setzten sie den heroischen Generalstreik,<br />

der dort in Frankreich geführt wurde, herab,<br />

belächelten ihn, besudelten ihn mit dem Geifer<br />

ihrer eigenen Impotenz, um ihre eigene Machtlosigkeit,<br />

die Tatsache zu verdecken, daß sie <strong>und</strong><br />

ihre ganze Partei oder Gewerkschaftsbewegung<br />

nicht den zehnten Teil dessen zu leisten imstande<br />

sind, was die „Konföderation der Arbeit" vollbrachte.<br />

Österreichisches Proletariat, deine sozialdemokratischen<br />

Lehrer sind parlamentarische Betrüger.<br />

Ihr Lügen über den Generalstreik geschieht im Interesse<br />

der herrschenden Klassen.<br />

Am 30. Juli, an einem Donnerstag, legten<br />

zehntausend Pariser Bauarbeiter die Arbeit nieder<br />

<strong>und</strong> traten freiwillig in einen Sympathieausstand<br />

mit ihren streikenden Kameraden in Vigneux. Wann<br />

wird das in Österreich möglich sein? Tausende von<br />

ihnen gruppierten sich <strong>und</strong> legten den etwa zwölf<br />

Kilometer entfernten <strong>Weg</strong> bis Villeneuve zu Fuß<br />

zurück. Aber das Ministerium der radikalen Demokratie<br />

<strong>und</strong> des sozialdemokratischen Parlamentarismus<br />

wußte, welche Einbuße dies für die Bauunternehmer<br />

bedeutete, wußte, wie sehr solch ein Beispiel<br />

in Frankreich um sich zu greifen geeignet ist.<br />

So wollten sie allem weiteren dadurch vorbeugen,<br />

daß sie einen Aderlaß des Proletariats provozierten.<br />

Das Militär sollte eingreifen. Doch siehe da,<br />

die antimilitaristische Propaganda wirkte: Die<br />

Dragoner des 27. Regimentes fraternisierten mit<br />

dem marschierenden Volk. Eine Szene unbeschreiblicher<br />

Freude folgte, Soldaten <strong>und</strong> Proletarier lagen<br />

einander in den Armen, <strong>und</strong> die Dragoner machten<br />

Kehrt.<br />

Wir folgen genau der ersten Darstellung des<br />

französischen syndikalistischen Organes „Volksstimme"<br />

<strong>und</strong> des Hervéschen „Sozialen Krieges".<br />

Vielleicht hätte die obige Verbrüderung<br />

zwischen Proletarier im Waffenrock <strong>und</strong> Proletarier<br />

im Arbeiterwams der nachfolgenden schrecklichen<br />

Tragödie vorbeugen können. Drei Männer wollten<br />

dies aber nicht: es waren dies der General V i rv<br />

a i r e, ein Hauptmann, dessen Namen noch nicht<br />

veröffentlicht wurde <strong>und</strong> der feige Präfekt der Gemeinde<br />

Villeneuve. Sie provozierten das, was das<br />

Militär nicht tun wollte, denn das Bild dieser Manifestation<br />

ist wohl ein außergewöhnliches zu<br />

nennen: überall konnte man Arbeiter <strong>und</strong> Soldaten,<br />

Arbeiter <strong>und</strong> Offiziere im eifrigsten Gespräch mit-<br />

einander sehen; die einen versuchten es, die anderen<br />

von ihrem Vorhaben abzubringen.<br />

Jener Hauptmann war es, der das Zeichen<br />

zum Angriff gab. Mit jener echt militärisch-gemeinen<br />

Arroganz spornte er sein Pferd in die dichte Menge<br />

der Demonstranten hinein, als man die kleine Ortschaft<br />

erreicht hatte. Nun änderte sich die Szene<br />

rapide: „Meuchelmörder!" so ertönte es in den<br />

Lüften, ein Schrei, den h<strong>und</strong>erte Kehlen wiederholten.<br />

Und die Erbitterung über das Vorgehen des<br />

Militärs stieg; schon erhoben sich Barrikaden, hinter<br />

denen sich die Demonstranten aufpflanzten.<br />

Es begann ein Kampf, wie ihn Europa seit<br />

den Barrikadenkämpfen der russischen Revolution<br />

nicht mehr gesehen hat. Hut ab, vor den Helden<br />

des kämpfenden Proletariats, die so ihre Menschenwürde<br />

zu verteidigen wagten! Gestehen wir es,<br />

sie waren nun die Angreifer, <strong>und</strong> es gereicht ihnen zur<br />

Ehre, es gewesen zu sein. Aber- <strong>und</strong> abermals erschallten<br />

die Warnungssignale der Soldateska, die<br />

Barrikaden zu räumen; es geschah nichts. Nur der<br />

Ruf: „Meuchelmörder" zerriß immer wieder die Luft.<br />

Und dann ereignete sich das Schreckliche:<br />

Die Soldaten verrieten ihre Brüder, sie schossen<br />

auf die Arbeiter. Allerdings, auch hier bewährte sich<br />

die antimilitaristische Propaganda: es war ihnen<br />

befohlen worden, scharf zu zielen, hätten sie es<br />

getan, dann hätten ihre vier aufeinanderfolgenden<br />

Salven h<strong>und</strong>erten von Menschen das Leben geraubt<br />

— so lagen, als der Pulverdampf sich verzogen<br />

hatte, nur drei gefallene Kämpfer <strong>und</strong> etwa sechzig<br />

Verw<strong>und</strong>ete auf dem Felde des Klassenkampfes;<br />

ungefähr die gleiche Anzahl auf Seite der Soldaten.<br />

Das war am 30. <strong>und</strong> schon am nächsten Tage<br />

fanden sich die Vertreter sämtlicher Organisationen<br />

von Paris zur Beratung über die zu unternehmenden<br />

Schritte zusammen. Nun war der Moment gegeben,<br />

zu handeln <strong>und</strong> auf allen Lippen, selbst auf<br />

jenen der Vertreter der sonst reformistischen Buchdrucker,<br />

schwebte ein Wort: Generalstreik! Der<br />

Generalstreik mußte nun proklamiert werden <strong>und</strong><br />

zwar so rasch als möglich, zu Vorbereitungen war<br />

keine Zeit mehr, die sühnende Strafe mußte der<br />

Mordtat der französischen Bourgeoisie auf dem<br />

Fuße folgen.<br />

Zum ersten Mal in seiner gesamten Geschichte<br />

trat das französische Proletariat in<br />

einen Generalstreik zum Zwecke einer Solidaritätsk<strong>und</strong>gebungfür<br />

die gefallenen Vorkämpfer,<br />

zwecks Protestes wider die Niedermetzelung<br />

des Proletariats durch die Militärschergen der<br />

Bourgeoisrepublik. Was wir im Jahre 1906 in<br />

Frankreich sahen, war ein Streik für ökonomische<br />

Vorteile, die so manche, ideell noch wenig gereifte<br />

Arbeiter auch mitreissen konnten; nun aber handelte<br />

es sich zum ersten Mal darum, den Gradmesser<br />

seiner sozialistischen Durchbildung <strong>und</strong><br />

seines Solidaritätsgefühles zu bek<strong>und</strong>en.<br />

Erwies sich das Proletariat als geistig gereift<br />

<strong>und</strong> genügend entwickelt dazu? Ja, es legte eine<br />

erstmalige Kraftprobe von solcher Entschiedenheit<br />

ab, daß man von den schönsten Hoffnungen für die<br />

Zukunft erfüllt sein darf. Drei Tage nach den<br />

Mordszenen in Villeneuve stand das organisierte<br />

Pariser Proletariat im Generalstreik; man bedenke<br />

wohl: nur drei Tage Vorbereitung besaß es. Und<br />

es trat, ein leuchtendes Beispiel föderalistischer<br />

Initiative ablegend, trotz der Verhaftung sämtlicher<br />

Leiter seiner Presse, seiner Organisation, alle diese<br />

im Nu durch neue Kräfte ersetzend, in den Generalausstand<br />

ein.<br />

Selbst der Berliner „Vorwärts" muß sagen:<br />

„Sollte der Generalstreik nur die Trauer- <strong>und</strong><br />

Solidaritätsk<strong>und</strong>gebung der schon zum revolutionären<br />

Bewußtsein erwachten <strong>und</strong> dank ihrer<br />

Organisationen zu einer gewissen Bewegungsfreiheit<br />

gelangten Arbeiterschichten sein?<br />

D a n n d ü r f t e d a s P r o l e t a r i a t mit s e i n e m<br />

A u s f a l l l e i d l i c h z u f r i e d e n sein." Nun, der<br />

Generalstreik sollte selbstredend nichts anderes<br />

sein, denn daß das französische Proletariat schon<br />

heute zur Durchführung der sozialen Revolution<br />

noch nicht fähig ist, das ist diesen Klassenkämpen<br />

wohl bekannt. Im Gegenteil, wenn man bedenkt,<br />

daß dieser Generalstreik fast sporadisch <strong>und</strong> für<br />

einen solchen Zweck zum ersten Mal in Frankreich<br />

ausbrach, dann darf man diesen Generalstreik<br />

als einen wahren Triumph des revolutionären<br />

Tatenprinzips der französischen Gewerkschaftsbewegung<br />

betrachten.<br />

Nach der „Arbeiter-Zeitung" <strong>und</strong> Bourgeoispresse<br />

hat eigentlich niemand <strong>und</strong> nichts gestreikt;<br />

die Proklamation der Kameraden der Konföderation<br />

verhallte ungehört. Und doch ist es eine Tatsache,<br />

daß die französische Bourgeoispresse — vergl.<br />

Gaulois — die Ausstandsbewegung in einer Anzahl<br />

von 60.000—80.000 für Paris allein schätzt, daß die<br />

Erdarbeiter, Bauarbeiter <strong>und</strong> Maurer, Schiffsarbeiter<br />

<strong>und</strong> Dampfschiffahrtsarbeiter, die Holzarbeiter,<br />

Drucker, die Elektrizitätsarbeiter zum<br />

größten Teil sofort, oder rasch aufeinander an den<br />

Streik gingen, daß die Städte Amiens, Toulouse,<br />

Marseille, Nantes, Bourges, St. Etienne, Lens<br />

ebenfalls in den General- <strong>und</strong> Solidaritätsstreik<br />

traten. Ist alles dies nichts, sind wir hier in Österreich<br />

imstande, es zu leisten? Haben wir es auch<br />

nur versucht zu leisten, als in Graz die Arbeiter<br />

genau so behandelt wurden, wie die Kameraden<br />

von Vigneux? Und wieso ist denn die Konföderation<br />

der Arbeit so schwach, so machtlos, wenn die gesamte<br />

französische Bourgeoispresse nach Auflösung<br />

der Gewerkschaftsföderation schreit <strong>und</strong> zetert?<br />

Die Machtlosigkeit der französischen Sozialdemokraten<br />

will diese selbe Bourgeoisie nie aufgelöst<br />

sehen, warum eigentlich die „Konföderation", wenn<br />

dieselbe so ganz unfähig ist, gegen die Bourgeoisie<br />

anzukämpfen, wie es die Lügner der „Arbeiter-<br />

Zeitung" behaupteten?! Warum das riesige Militäraufgebot,<br />

wenn es nichts zu fürchten gab?<br />

Nur ein Beispiel dafür, wie die Herren fälschen,<br />

die Herren, die das österreichische Proletariat<br />

systematisch verblöden mit ihrem Parlaments-<br />

geschäft <strong>und</strong> dem Waschen ihrer politischen<br />

Schmutzwäsche. In ihrem Artikel über das „Experiment<br />

mit dem Generalstreik" erklärt die „Arbeiter-<br />

Zeitung" am 5. August freudestrahlend, daß auch<br />

die „Zeitungen" „in ihrer Mehrzahl erschienen sind".<br />

Dagegen teilt der „Vorwärts" .wieder unter demselben<br />

Datum mit, daß, wie es auch tatsächlich der<br />

Fall war, 13 Zeitungen nicht erscheinen konnten,<br />

hingegen an den paar „großen" Zeitungen, die erschienen,<br />

von den Arbeitern in auffälligster Weise<br />

Sabotage betrieben wurde, so daß sie äußerst<br />

fehlerhaft gedruckt waren <strong>und</strong> klaffende leere<br />

Spalten aufwiesen! Und derselbe „Vorwärts" muß<br />

trotz alles Zickzackkurses berichten: „Infolge der<br />

Propaganda des Allgemeinen Arbeiterverbandes<br />

ist der Aufruf zu Gunsten des allgemeinen<br />

Streiks von zahlreichen Arbeitern befolgt<br />

worden."<br />

Wir sind die letzten, die behaupten wollen<br />

oder werden, daß dieser Generalstreik den Höhepunkt<br />

eines Sieges darstellt. Wieso auch, ist er<br />

doch erst ein Anfang! Wie könnte er auch bei<br />

seiner ungenügenden Vorbereitung, bei seinem<br />

Überraschungsausbruch nach den Blutereignissen<br />

von Villeneuve! Auch wir wissen, daß das französische<br />

Proletariat noch viel zu vollenden hat, um<br />

seinen Endkampf siegreich durchführen zu können.<br />

Aber dies ist hier nicht die Frage. Was gebrandmarkt<br />

werden muß, das ist die rote Jesuitenart der<br />

Sozialdemokratie, aus einem heroischen Kampfe<br />

organisierter Arbeiter Frankreichs eine Niederlage<br />

zusammenzufälschen, bloß weil nicht alle Arbeiter<br />

streikten (als ob „alle" organisiert wären!); bloß<br />

weil man nicht schon die soziale Revolution glücklich<br />

durchzuführen vermochte (als ob es sich darum<br />

gehandelt hätte!); bloß weil es den Herren nicht<br />

bequemt, einzugestehen, daß diese Generalstreiksaktion<br />

des französischen Proletariats ein Symbol<br />

seiner Kraft <strong>und</strong> seines revolutionären Geistes ist.<br />

Gegenüber solch verlogenem, entstellendem, gemeinem<br />

Gebahren, da sei es schlankweg konstatiert:<br />

Mit Ausnahme des italienischen <strong>und</strong> russischen<br />

Proletariats — <strong>und</strong> dieses scheidet eigentlich<br />

aus der Betrachtung aus, da es sich bei ihm um<br />

eine Revolution handelte — gibt es in ganz Europa<br />

kein Proletariat, das einer solch heroischen<br />

Kampfesaktion fähig wäre, wie sie die<br />

französische Arbeiterklasse am 3. August<br />

durchgeführt hat, wie sie herbeigeführt wurde<br />

durch die ihr vorausgehenden Ereignisse proletarischen<br />

Klassenkampfes.<br />

Die sozialdemokratischen Parlamentsgeschäftsmänner<br />

— wo waren sie in Frankreich am<br />

3. August? Warum nahm man sie nicht fest, wohl<br />

aber die Gewerkschaftsleiter? Ein Glück liegt in<br />

all diesen tobenden Kampfesereignissen, <strong>und</strong> dies<br />

ist die positivste Aufklärung des Proletariats Uber<br />

den Kampfesweg, den es zu gehen hat, sie öffnen<br />

die Augen: in Frankreich ist die politische „Aktion"<br />

als Lockspeise für die Arbeiter töter als tot. Ein<br />

Land, das 50 sozialdemokratische Abgeordnete,<br />

über eine Million Wahlstimmen aufzuweisen<br />

hat, kann als einzigen Erfolg seiner Tätigkeit das<br />

aufweisen: zwei sozialdemokratische Parteihalunken<br />

— Briand <strong>und</strong> Viviani — im Verein mit einem<br />

„radikalen Sozialisten", Clemenceau (als solcher<br />

wurde dieser erwählt!) sind die Rädelsführer dieses<br />

Blutbades von Villeneuve. Das ist die einzige parlamentarische<br />

Krönung der politischen Aktion der<br />

französischen Sozialdemokratie! Und sie dürfen<br />

nicht einmal mehr losdonnern gegen dieses Ministerium,<br />

denn sonst erhebt sich Clemenceau in<br />

seiner ganzen Größe <strong>und</strong> donnert Jaures entgegen,<br />

wie er es bei früheren Arbeiterniedermetzeleien<br />

tat: „Was würden Sie an meiner Stelle tun?"<br />

Jaures blieb stets die Antwort schuldig.<br />

Wo wäre in Deutschland das Proletariat imstande,<br />

einen ähnlichen Kampf zu führen, wie ihn<br />

unsere Brüder in Frankreich soeben führten? Als<br />

im Frühjahr dieses Jahres eine harmlose Landtagswahlrechtsdemonstration<br />

in Berlin vor sich ging,<br />

wurde sie von der Polizei gesprengt, <strong>und</strong> viele der<br />

Beteiligten wurden verw<strong>und</strong>et <strong>und</strong> niedergeschlagen,<br />

obwohl sie nichts taten. Was geschah danach?<br />

Nichts, gar nichts, <strong>und</strong> die Worte eines Militärgewaltigen,<br />

daß für die deutschen Arbeiter das<br />

Militär nicht nötig sei, da genüge die große Feuerspritze,<br />

fand seine traurige Bestätigung in dieser<br />

machtlosen Lethargie.<br />

Und wir in Österreich? Gestehen wir es ein:<br />

Das österreichische Proletariat ist darauf eingedrillt<br />

worden, bei Wahlen zu stimmen <strong>und</strong> für parlamentarischen<br />

Unsinn seine Haut zu Markte zu tragen,


wie im November 1906, für ökonomische Klassenkampfziele,<br />

dort, wo es nicht die Unterstützung<br />

weiter Bourgeoiskreise findet, ist es noch nicht im<br />

entferntesten dazu im Stande, sich selbständig zu<br />

betätigen. Das österreichische Proletariat muß den<br />

sozial <strong>und</strong> proletarisch geführten Klassenkampf erst<br />

lernen, gegenwärtig muß es dazu erzogen <strong>und</strong> den<br />

politischen Parlamentsgeschäftsleuten tunlichst rasch<br />

entrissen werden.<br />

Es berührt geradezu komisch, wenn der Berliner<br />

„Vorwärts" — <strong>und</strong> von ihm druckt die „Arbeiterzeitung"<br />

ihre „Eigenberichte" ab — wenn<br />

beide Blatter der französischen Sozialdemokratie<br />

in direkt gelb-streikbrecherischer Weise anraten,<br />

jetzt, im Augenblicke des Kampfes, dem französischen<br />

Gewerkschsftsproletariat verräterisch in den Rücken<br />

zu fallen. Sehr leicht für die Herren in Deutschland<br />

<strong>und</strong> Österreich so zu reden. Jaures aber, der den<br />

wahren Sachverhalt kennt, weiß, daß er mit solchem<br />

Tun seine ohnedies im Proletariate ausgespielte<br />

Partei einfach meucheln würde. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e<br />

muß er, dem dies genug bitter ist, gute Miene zum<br />

unangenehmen Spiel machen. Und nun hören wir,<br />

wie er in seinem Blatt „Menschheit" am 5. August<br />

über die „Konföderation der Arbeit" schreibt, eine<br />

Äußerung, die die „Arbeiterzeitung" natürlich auch<br />

nicht brachte, denn sie züchtigt nicht zuletzt auch<br />

ihre Redakteure:<br />

„Eben so wenig wie man das Proletariat in<br />

seiner allgemeinen Organisation treffen kann, wird<br />

man den revolutionären Syndikalismus treffen oder<br />

in seinem Kern zerstören können, da's heißt das<br />

Streben nach dem vollständigen sozialistischen Endziel<br />

durch ihn, das von nun an die gewerkschaftliche<br />

Bewegung beseelt. Was den revolutionären<br />

Syndikalismus eigentlich charakterisiert, ist<br />

nicht die Anwendung dieser oder jener Mittel:<br />

es ist die dem Proletariat vermittelte Idee, daß<br />

jeder Versuch einer teilweisen Befreiung seinen<br />

Wert von der vollständigen, vollendeten Tat empfängt;<br />

es ist der Entschluß, die bürgerliche Gesellschaft<br />

endlich zu zwingen, vor der Macht der<br />

stufenweise entwickelten Lohnarbeiterscliaft zu kapitulieren;<br />

es ist die Überzeugung, daß endlich<br />

der T a g kommen wird, wo die Macht der kollektiven,<br />

gemeinsamen Arbeitsverweigerung dazu<br />

beitragen wird, durch die kombinierte Wirkung der<br />

gewerkschaftlichen <strong>und</strong> politischen Aktion jenen<br />

letzten entscheidenden Augenblick einer langen<br />

Arbeit herbeizuführen, wo sich die Evolution in der<br />

Revolution vollendet. Es ist die Ehre dieser so<br />

viel verleumdeten <strong>und</strong> verfolgten Arbeitskonföderation,<br />

diesen Geist verbreitet, diese Denkweise<br />

in die gewerkschaftliche Arbeit getragen zu<br />

haben. Frivol sind diejenigen, die, getäuscht durch<br />

vorübergehende <strong>und</strong> unvermeidliche taktische Irrtümer,<br />

durch vorübergehende Schlappen <strong>und</strong> unvermeidliche<br />

Unsicherheiten, nicht die allgemeine<br />

Größe dieses Werkes sehen, seine Fruchtbarkeit<br />

nicht begreifen."<br />

Wir wissen, daß die Kirche, wenn sie die Unüberwindlichkeit<br />

der Revolution einsah, sich dann<br />

rasch auf die Seite der Revolution stellte, <strong>und</strong> wir<br />

wissen es auch, weshalb Jaures, der früher ein erbitterter<br />

Gegner der Konföderation war, sich nun<br />

in sein Schicksal fügen, nun der Wahrheit die Ehre<br />

geben muß. Doch man verfehle nicht, die Sprache<br />

<strong>und</strong> das Urteil eines Jaures über die Konföderation<br />

<strong>und</strong> ihre Leistungen, die Sprache eines sich anschmiegenden<br />

Politikers, mit jenen verlogenen Lügenredensarten<br />

zu vergleichen, die die parlamentarischen<br />

Maulwurfsfänger der „Arbeiterzeitung" bei<br />

uns in Österreich über diesen Gegenstand verzapft<br />

haben! Wer spricht nun die Wahrheit von diesen<br />

Sozialdemokraten: der Franzose Jaures oder die<br />

österreichischen Parlamentsstreber <strong>und</strong> ihre literarischen<br />

Quatschergüsse, die Wochen lang das ödeste<br />

Zeug über den türkischen Schwindelrummel vorbrachten,<br />

über den Heldenkampf des französischen<br />

Proletariats jedoch nur im Telegraphenstil berichten<br />

<strong>und</strong> dann die Jauche ihrer Verleumdung darüber<br />

gießen; wer spricht die Wahrheit von den beiden<br />

„Parteigenossen" ?<br />

Jaures sagt aber noch mehr, was ebenfalls<br />

die Macher der „Arbeiterzeitung" Lügen straft: „Sie<br />

(die Tage des Kampfes) haben, trotz alledem, die<br />

Machthaber gewarnt, daß sie sich nicht ohne<br />

Gefahr noch einmal auf den <strong>Weg</strong> des Blutvergießens<br />

begeben können. Sie haben bei den<br />

Organisationen, die bis jetzt die abgeschlossensten<br />

<strong>und</strong> engherzigsten schienen, wie bei den Buchdruckern,<br />

einen Geist der proletarischen Gemeinschaft<br />

<strong>und</strong> des gemeinsamen Kampfes enthüllt, der die<br />

Herrschenden zum Nachdenken bringen wird."<br />

Und da schwätzt man noch von einer „verlorenen<br />

Aktion"?! Wo in aller Welt ist bei dem<br />

heutigen Stande des proletarischen Kampfes mehr<br />

erzielt worden ? In allen sozialdemokratisch verseuchten<br />

Ländern wird nichts, gar nichts erzielt,<br />

<strong>und</strong> wäre eine solche Pression auf die Herrschenden<br />

ja förmlich gleichbedeutend mit einer Revolution.<br />

Und dennoch wagen es diese armseligen Geisterlein,<br />

das gigantische Tatengefühl des französischen Proletariats<br />

zu höhnen, zu schmähen <strong>und</strong> seinen durch<br />

Opfer <strong>und</strong> Heldenmut erkämpften ersten Vorstoß<br />

auf der Bahn der sozialen Revolution zu verkleinern.<br />

Diese erbärmlichen Bourgeois <strong>und</strong> Bourgeois der<br />

Arbeiterbewegung <strong>und</strong> Bourgeoiswerkzeuge der<br />

Herrschenden!<br />

Um nichts Geringeres, als was unser Titel<br />

besagt, handelt es sich gegenwärtig in Frankreich.<br />

Das französische Proletariat schreitet mit Riesenschritten<br />

seiner sozialen Revolution entgegen. Es<br />

tut bitter weh, die Opfer fallen zu sehen, die die<br />

Befreiung der Arbeiterklasse kostet. Aber nicht an<br />

unseren Fingern klebt das Blut der gefallenen Brüder,<br />

es klebt an den Fingern der Herrschenden <strong>und</strong><br />

ihrer Trabanten. Um frei zu werden, dazu bedarf<br />

es des sozialen Ringens für die Arbeiterklasse<br />

ohne Opfer an Leben, an Glück, an Genuß wird<br />

diese Freiheit niemals kommen, <strong>und</strong> deshalb sind<br />

die Kameraden, die Gefallenen, für eine so große,<br />

erhabene Sache der Menschheit gefallen, daß sie<br />

in dem Fortschritte dieser Idee ein weit herrlicheres<br />

Auferstehen finden, als es ihnen im Leben der<br />

knechtenden Lohnsklaverei vergönnt gewesen wäre.<br />

Vorsignale der sozialen Revolution - sie<br />

ertönen in Frankreich! Wir werden ihrer noch<br />

viele vernehmen; glücklich können wir sein, wenn<br />

wir stets im Stande sein sollten, solch markante<br />

Vorstöße zu berichten, wie diesmal, zum ersten<br />

Mal. Doch das französische Proletariat stählt sich<br />

im sozialrevolutionären Ringen, es weiß auch Niederlagen<br />

zu ertragen, es überwindet sie durch die erneute,<br />

verdoppelte Wiederaufraffung seiner Stoßkraft.<br />

So ist es auch diesmal. Uns aber geziemt es nicht,<br />

entblößten Hauptes dabei zu stehen <strong>und</strong> als bew<strong>und</strong>ernde<br />

Zuschauer dem Heldenkampfe einer<br />

nach Freiheit ringenden Klasse beizuwohnen; nein,<br />

für uns muß es lauten als Losung: Nachahmen<br />

die prächtige Kampfesorganisation der französischen<br />

Proletarier, nacheifern in der Erziehung<br />

zur Kampfestüchtigkeit! Das ist unsere<br />

Lehre aus dem „Experiment des französischen Generalstreiks",<br />

in dieser Weise tönt unser Echo den<br />

kämpfenden französischen Proletariern zurück, die<br />

uns ein heldenmütiges Vorsignal der sozialen Revolution<br />

in Frankreich gegeben haben!<br />

Österreich.<br />

Konfisziert wurde die Nummer 15 des „W. f. A."<br />

* An interessanten Versammlungen haben wir<br />

zu registrieren eine sehr wichtige <strong>und</strong> vorzüglich<br />

besuchte Versammlung der G i e ß e r a r b e i t e r im<br />

X. Bezirk, die von ihrer Verbandsleitung während<br />

eines Streiks so außerordentlich schofel behandelt<br />

wurden, daß ihnen nun die Theorie des Zentralismus<br />

durch seine egoistisch-gemeine Praxis aufs<br />

Beste illustriert wurde. Die Ausführungen des Gen.<br />

Ramus über „Die P r i n z i p i e n der modernen<br />

G e w e r k s c h a f t s t a k t i k " fanden begeisterten Beifall,<br />

<strong>und</strong> die anwesenden Verbandsvorstände hatten<br />

förmlich ausgespielt. Die Versammlung dauerte<br />

5 St<strong>und</strong>en!<br />

* Eine, zum ersten Mal im 11. Bezirk stattgehabte,<br />

Versammlung, in der Gen. Ramus über<br />

„ S o z i a l d e m o k r a t i e o d e r A n a r c h i s m u s "<br />

sprach, zog ein vornehmlich aus sozialdemokratischen<br />

Jugendlichen bestehendes Publikum. Auch<br />

mit dem Erfolg dieser Versammlung dürfen wir<br />

zufrieden sein!<br />

* Einen mehr theoretisch-ethischen Vortrag,<br />

das traurige Sensationsgebiet der Marcell Veithaffaire<br />

streifend, hielt der Gen. Ramus im XIV. Bezirk.<br />

Thema: „Herrschaftliche <strong>und</strong> bürgerliche Moral".<br />

* Am letzten Dienstag sprach der Kamerad<br />

M. Lickier vor ziemlich gutem Besuch über das<br />

treffend <strong>und</strong> gründlich von ihm behandelte Thema:<br />

„Romanische oder germanische Taktik?" An Hand<br />

der Riesenaussperrung der Stettiner „Vulkan"arbeiter<br />

bewies er die „Erfolge" der germanischen<br />

Gewerkschaftstaktik.<br />

* Am Abend vorher hatten uns die Sozialdemokraten<br />

des X. Bezirkes ein schon seit einer<br />

Woche gemietetes Lokal a b g e t r i e b e n ; im letzten<br />

Augenblick fand man ein neues. Trotz alledem —<br />

es hatten sich an 120 Arbeiter eingef<strong>und</strong>en, die mit<br />

sichtlichem Interesse den Ausführungen des Gen.<br />

Ramus über „Zentralismus oder Föderalismus"<br />

folgten.<br />

* Eine große Massenversammlung fand am<br />

Donnerstag im XII. Bezirk statt. Gen. Ramus referierte<br />

über „Die Wahrheit über den französischen<br />

Generalstreik". Über den Verlauf dieser bemerkenswerten<br />

Versammlung berichten wir in nächster<br />

Nummer.<br />

* Im Wiener „Holzarbeiter" vom 7. August<br />

leistet sich die Redaktion an gebührend erster<br />

Stelle einen Artikel über „Anarchistische Gewerkschaftspraxis",<br />

die sich auch in Wien einbürgern<br />

möchte, da sich „eine Bewegung bemerkbar macht,<br />

welche darauf hinausläuft, anarchistische Tendenzen<br />

in der Arbeiterschaft zu verbreiten".<br />

Wir registrieren mit freudiger Genugtuung<br />

diese bescheidene Anerkennung unserer Aktivität;<br />

auch die sonstigen drolligen Redensarten von den<br />

„gewissenlosen Strebern", über die Anarchisten,<br />

„bei denen ein Unterschied zwischen ehrlich <strong>und</strong><br />

unehrlich überhaupt nicht existiert" u. dgl. m.,<br />

nehmen wir mit gutem Humor entgegen, da sie ja<br />

ein gut bezahlter, in behäbig-gesicherter Position<br />

sich befindlicher Angestellter schreibt, der sich<br />

durch dieses Spiegelbild allein schon selbst <strong>und</strong><br />

genugsam ohrfeigt.<br />

Aber wahrlich: es ist ein geistiger Riese, der<br />

die Redaktion des „Holzarbeiter" leitet. Was sind<br />

seine gewaltigen Argumente gegen die Anarchisten<br />

<strong>und</strong> deren Gewerkschaftspraxis? Dieselben sind<br />

allerdings vernichtend; man höre <strong>und</strong> staune ob<br />

dieser gutgespielten Entrüstung, die einmal übers<br />

andere Mal den Klassenkampf <strong>und</strong> Sozialismus mit<br />

Füßen tritt, wenn es das „ruhige Auskommen" <strong>und</strong><br />

die „schwere Gegenwartsarbeit" — die für die<br />

Verbandsangestellten wahrlich leichter ist, als in<br />

der Fabrik zu arbeiten — gilt.<br />

Es gelang der Pariser Tischlergewerkschaft<br />

die Abschaffung des Sch<strong>und</strong>möbelmarktes. Nicht<br />

übel, sollte man meinen. Unsinn, sagt der Holzarbeiter,<br />

denn „es hat sich herausgestellt, daß die<br />

Möbelhändler dahinter standen, die auch . . . den<br />

ganzen Profit dieser direkten Aktion eingeheimst<br />

haben." Oanz abgesehen davon, daß dies eine<br />

grauenhafte Unwissenheit offenbart, da ja die<br />

Möbelliändler dadurch mehr fabrizieren lassen<br />

müssen — aber ist es denn in Österreich nicht<br />

auch so, daß z. B., hinter der Siebenuhrsperre der<br />

Handelsangestellten die Großwarenhäuser stehen?<br />

Freilich könnte es nur einem Esel einfallen, den<br />

Handlungsangestellten daraus einen Vorwurf zu<br />

machen, daß sie die Konkurrenzmächte des Kapitals<br />

gegen einander ausspielen <strong>und</strong> dabei durch direkte<br />

Aktion nicht durch Parlamenteln — sich eine<br />

menschenwürdigere Arbeitszeit erkämpfen. Anders<br />

ist überhaupt keinerlei Kleinreform im Gegenwartsstaat<br />

zu erkämpfen.<br />

Ein zweites Verbrechen: die französische Gewerkschaft<br />

weigerte sich, einen „permanenten Verbandssekretär"<br />

anzustellen. Das ist freilich schon<br />

kein Vergehen mehr, sondern ein Verbrechen, denn<br />

wo kämen denn die Herren Verbandssekretäre hin,<br />

wenn alle Gewerkschaften "beschließen würden, sie<br />

wollten ihre internen Angelegenheiten selbst, individuell<br />

abwechslungsweise nach der Arbeitsfrohn<br />

des Tages verrichten. Lassen wir dies, das wäre<br />

greulich — für die Bürokratie der Verbandssekretare.<br />

Und nun das dritte Verbrechen! Christlichsoziale,<br />

ihr seid übertrumpft an reaktionärer Verfinsterung<br />

des Geistes durch die Beelzebuben-<br />

Anarchisten des französischen Tischlersyndikats.<br />

Man schaudere: Bestellt da „die Klique" — so<br />

nennt der „Holzarbeiter" das Agitationskomitee der<br />

französischen Kameraden, das, beiläufig gesagt,<br />

seine gewerkschaftliche Arbeit ganz unbezahlt leistet<br />

— eine ganze Anzahl a n a r c h i s t i s c h e r Broschüren<br />

<strong>und</strong> wagt es, dieselben als Gratisbeilage des Fachorganes<br />

an alle Mitglieder der Gewerkschaft zu<br />

senden!!! Welcher Bösewicht kann es sich vorstellen,<br />

daß eine österreichische „Klique" dem Fachorgan<br />

eine sozialistische Agitationsbroschüre beilegen .<br />

wird? Wir schlagen schuldbewußt die Augen nieder,<br />

denn dazu sind die österreichischen Arbeiter viel<br />

zu aufgeklärt, die brauchen so etwas nicht mehr,<br />

für sie genügt eine Beitragskarte <strong>und</strong> ein Stimmzettel.<br />

Sind wir zu Ende? Ja, wir haben die Verbrechen<br />

der französischen Gewerkschaft vollzählig<br />

angeführt. <strong>Unser</strong>e Haare stehen zu Berge ob des<br />

Scharfsinnes dieser Redaktionsstaatsanwaltschaft<br />

des „Holzarbeiter", denn nun ist der französische<br />

Syndikalismus, Generalstreik, die direkte Aktion tot,<br />

mausetot. Nur schade, daß die meisten französischen<br />

Arbeiter den Weisheitserguß des „Holzarbeiters"<br />

nicht lesen können. Sie würden nämlich nach den<br />

welterschütternden Leistungen des österreichischen<br />

Bruderverbandes fragen; wären begierig, deren<br />

praktische Erfolge kennen zu lernen, von dem<br />

„Geiste" des „Holzarbeiters", der diese Arbeiter<br />

inspiriert, naschen zu dürfen.<br />

Wie enttäuscht wären sie, wenn sie, vorausgesetzt,<br />

daß sie der deutschen Sprache mächtig<br />

wären, lernen müßten, daß der „österreichische<br />

Erfolg" darin besteht, schon jetzt geduldig der<br />

H e r b s t a u s s p e r r u n g entgegenzusehen, die eine<br />

Monate lang währende „Streikperiode" bringt, nach<br />

deren Ablauf die Arbeiter einen s o l c h e n „Sieg"<br />

errungen haben, um über 3 Jahre arbeiten zu müssen,<br />

damit nur erst der materielle Streikverlust wieder<br />

eingebracht wäre!<br />

Achtung!<br />

letzter St<strong>und</strong>e erfahren wir<br />

von der willkürlichen Auflösung<br />

der tschechischen Föderation revolutionärer Gewerkschaftsorganisationen<br />

in Prag. Wir werden darüber<br />

in nächster Nummer ausführlich berichten.<br />

Q u i t t u n g<br />

vom 10. Juni bis 24. Juli 1908.<br />

Machendorf J. Nr. 7 K 5.20, Schach. Sammelliste<br />

25.53, Welan 9.22, Mai 14.82, Svidra Preßfond<br />

-.40, Künwald 7.80, Sammelliste Nr. 35 2.10,<br />

Sammelliste Nr. 33 5.20, A. S. b. Mörger -.25,<br />

Sammelliste Preßfond Nq. 3.40, Sammelliste Agitation.<br />

Nq. 6.30, Lorenz Preßfond 4.—, Canada<br />

Preßfond 1.90, Schach. Preßfond —.72, G. Schumacher<br />

Preßfond —.40, Jemata March. Agitation<br />

4.05, Pachta 6.—, Linz 15.—, Ratz 6.—, Pachta<br />

2 . - , Haubner 2.40, Pachta 9.20, Lorenz 1.40, Schlor<br />

6.—, W. Rosenkranz 9.70, Graz Fretz 5.—, Chicago<br />

Apel. 5.—, Woit. Brasilien 30.—, Welan 9.—, Hajek<br />

5 . - , Wejd. 11.—, Horac. 3.—, Nawrat. 3 . - , Kuban<br />

8.50, Heit. - . 8 0 , Rapp. 2.—, Peklo 2.—, Hübl 1.40,<br />

Kubes" —.50, Ratz. 6.10, Eichig, 1 . - , Lando 1.20,<br />

Tischler 1.—, Budolsti 2 . - , Sch. Böhmen 7.30, Ni.<br />

Berlin 10.—, Gr. Galizien 2.40, Mo. Steierm. 4.30,<br />

J. Ma. 3.90, Gelb. Wien 2.40, Wa. Wien 1-20, Ku.<br />

Wien —.50, Mi. München 1.20, Ku. 7.—, Erh. Vevey<br />

1.66, Sch. Schatziar 1.20, Platzer Wisc. 6.13, Gra.<br />

Dresden 1.10, Ung. Bremerhafen 1.90, Wo. 6-40,<br />

Mik. Kopenhagen 4.—, Mo. 10.— Noc. 3.40, N.<br />

Berlin 9.20, Ha. Bie. 1.20, St. Neu. 1.20, Sch. 7.33<br />

Wini. Zürich 2.50, Ja. 3.80, Sch. Leipzig 3.51, Barth.<br />

Brüssel 4.72, Kö. Wien - . 6 0<br />

Preßfond. Wini. Zürich K 2.50, Sch. Sam.-Li.<br />

Nr. 4 10.30, Dr. Fr. Ascona 28.56, Bue. Sam.-Li.<br />

Nr. 10 1.30, Sw. 1.20, Cer. - . 7 6 , Na. Sam.-Li,<br />

Nr. 32 3.60.<br />

Agitationsfond. Sch. Liste Nr. 4 4.60, Bue.<br />

Liste Nr. 10 570.


Sturmgedichte <strong>und</strong> Melodien des inter-<br />

nationalen Freiheitskampfes.<br />

Nachfolgende Anthologie soll einen<br />

kleinen Ersatz bilden für ein revolutionäres<br />

Liederbuch, dessen wir Deutsche unbedingt<br />

bedürfen. Ist doch der Deutsche ein<br />

sangesfroher Mensch, <strong>und</strong> klingt uns<br />

Österreichern manch frohes Lied ins Ohr,<br />

das wir in früheren Jahren mit Begeisterung<br />

gesungen, das uns aber heute nicht mehr<br />

genügt oder zu wenig im Einklang ist mit<br />

unserer revolutionären Gefühlsleidenschaft<br />

<strong>und</strong> freien Weltanschauung. Und ein Lied<br />

hat nur dann einen echten Wert, wenn<br />

der Singende oder deklamatorisch Vortragende<br />

ganz von ihm beseelt ist, wenn<br />

jedes Wort, jeder Ton all dasjenige in ihm<br />

auslösen, was sonst gebannt bleibt von der<br />

Prosa des Alltags oder im Innern niemals<br />

erklingen kann — wenn es nicht eben geweckt<br />

wird durch die Begeisterung, die<br />

besser als durch alles andere von einem<br />

gehaltvollen, erhebenden Liede geschürt<br />

werden kann.<br />

Einige der folgenden Lieder sind bekannt<br />

<strong>und</strong> entstammen der Feder anarchistischer<br />

Dichter; andere wieder <strong>und</strong> besonders<br />

die aus dem Russischen übertragenen<br />

Gesänge haben das revolutionäre<br />

Volk, den großen Genius der Namenlosen,<br />

zum Verfasser. Für uns sind diese letzteren<br />

besonders wertvoll, denn es sind nicht<br />

nur vorzügliche, sondern vor allem e r s t -<br />

m a l i g e Übersetzungen. Sie lassen einen<br />

Chor von Gefühlen in uns ertönen, der<br />

EINLEITUNG.<br />

in seltsam verwandter Beziehung zur<br />

großen russischen Revolution steht <strong>und</strong><br />

ihre unterirdischen Tendenzen, ihr wahres<br />

<strong>Ziel</strong> uns vorführt. Was wir hier begonnen<br />

haben, das wollen wir unperiodisch fortsetzen:<br />

Diese erste Anthologie von revolutionären<br />

Gedichten <strong>und</strong> der Revolutionslieder<br />

Rußlands in »Ohne Herrschaft« soll<br />

nicht die letzte sein; Lieder aus dem<br />

Französischen, Italienischen, Spanischen.<br />

Holländischen werden ihr folgen, bis jene<br />

ganze Sammlung von Rebellenklängen vorliegt,<br />

die wir brauchen <strong>und</strong> die auf der<br />

Marschroute des kämpfenden Proletariats<br />

erklingen müssen, um seinen Edeldrang<br />

nach Freiheit <strong>und</strong> Gleichheit wach zu erhalten.<br />

Wir singen viel zu wenig! Und die<br />

Lieder, die gewöhnlich dem Proletariat<br />

geboten werden, huldigen allem anderen,<br />

als den großen <strong>Ziel</strong>en der Sprengung<br />

a l l e r s o z i a l e n F e s s e l n . Vielleicht ist<br />

es nur der anarchistischen Poesie gegeben,<br />

so ganz <strong>und</strong> vollkommen die Tendenz des<br />

sozialen Kampfesideals mit der Wahrheit<br />

jeder echten Kunst zu vermählen <strong>und</strong> dadurch<br />

all d a s zu sagen, was gefühlt wird<br />

<strong>und</strong> »was ist«. Möge denn diese Anthologie<br />

trotzig-kühner, begeisterungsfroher,<br />

tiefinnerlich aufwühlender <strong>und</strong> des Herzens<br />

ganzen Schmerz ausströmender Lieder des<br />

Elends, Lieder der kommenden internationalen<br />

Revolution, wie sie die Völker


Der Zukunft heiliges Gut — —<br />

Sein Rot glänzt, wo nur Menschen wohnen,<br />

[:Denn an ihm klebt Arbeiterblut!:]<br />

Wohl strecken sie nach uns die Hände,<br />

Die uns versenkt in Not <strong>und</strong> Nacht.<br />

Wir aber schleudern unsre Brände,<br />

[:Die gestern noch der Feind verlacht.:]<br />

Nun zum Kampf . . .<br />

Die alte Ordnung stürzt in Trümmer —<br />

In ihrem Tode leben wir!<br />

Gemeinsam schaffen wir für immer,<br />

[:Was unser <strong>Ziel</strong> war für <strong>und</strong> für.:]<br />

Nun zum Kampf . . .<br />

Drum Brüder, schließet euch zusammen!<br />

Nur ein Gedanke füllt die Brust.<br />

Das Schlechte muß in Trümmer fallen,<br />

[:Und ewig lebt des Guten Lust.:]<br />

Nun zum Kampf . . .<br />

Nun Tod den Herren, Tod den Knechten,<br />

Und Tod der alten schuft'gen Welt!<br />

Ein neues Leben gilt's errechten,<br />

[:Das uns die alten Träume hält.:]<br />

Nun zum Kampf . . .<br />

Nach dem Polnischen von Matislaw Gordij.<br />

Ihr Testament.<br />

Melodie: Hymne der Narodnaja Wolja.<br />

Brüder, gedenket der Toten,<br />

Die atmend die Sonne nicht seh'n.<br />

Denen die Sprache verboten,<br />

Lautlos die Jahre vergeh'n.<br />

Klirren begleitet die Schritte,<br />

Eisen vergittert das Licht . . .<br />

Brüder in Werkstatt <strong>und</strong> Hütte,<br />

[:Brüder, vergeßt ihrer nicht!:]<br />

Freut euch das Blühen der Bäume,<br />

Zaubert der Lenz seine Pracht —<br />

Ihre Gefährten sind Träume,<br />

Träume bei Tage <strong>und</strong> Nacht.<br />

Klirrend schlägt Ihnen die St<strong>und</strong>e,<br />

Dämmerung heißt ihnen Licht:<br />

Träumend erwarten sie K<strong>und</strong>e I . . .<br />

[:Brüder, vergeßt ihrer nicht.:]<br />

Das ist ihr Traum: unsre Ketten<br />

Schmiedete Arbeiterhand.<br />

Sie, die die Welt will erretten,<br />

Baut unsres Grabes Gewand,<br />

Gießt unserem Feinde die Waffe,<br />

Bannt uns von Wärme <strong>und</strong> Licht -<br />

Mutlose, Feige nur, Schlaffe . . .<br />

[:Brüder, vergeßt ihrer nicht!:]<br />

Das ist ihr Traum: unsere Ketten<br />

Bricht freie Arbeiterhand.<br />

Sie, die die Welt will erretten<br />

Bricht unsres Grabes Gewand,<br />

Nimmt sich <strong>und</strong> gibt uns die Waffe,<br />

Holt uns zu Wärme <strong>und</strong> Licht<br />

Hell tönt die Freiheit ihc Schaffe!. .<br />

[:Briider, vergeßt ihrer nicht!:]<br />

Brüder, euch rufen die Toten,<br />

Denen das Grab ihr gebaut.<br />

Ihr, der Tyrannen Heloten,<br />

Brüder: euch rufet die Braut.<br />

F r e i h e i t will euch sich vermählen,<br />

Führt euch zu ewigem Licht,<br />

Endet das Martern, das Quälen — —<br />

[:Brüder, vergeßt ihrer nicht I:]<br />

Sodomn.<br />

Das Arbeiter-Lied.<br />

Melodie: Russische Arbeiter-Hymne.<br />

Fre<strong>und</strong>e, Genossen im Kampfe,<br />

Gestärkt durch zerstörende Lust —<br />

LEingang zum Reiche der Freiheit<br />

Bricht uns die stürmende Brust.:]<br />

Kinder des Volkes wir Alle,<br />

Geboren im Arbeiterheim.<br />

[:<strong>Unser</strong>es Kampfes Devise —<br />

Freiheit <strong>und</strong> Bruderverein.:]<br />

Vorwärts zur Schlacht <strong>und</strong> zum Siege<br />

Für Freiheit <strong>und</strong> Arbeit <strong>und</strong> Brot.<br />

[:Siegesgewiß jetzt zum Kampfe<br />

Gegen die schmachvolle Not.:]<br />

Zum Handeln die Zeit ist gekommen,<br />

Das Arbeitervolk ist erwacht —<br />

LSollt' unsre Kühnheit wohl fürchten<br />

Der Zaren gespenstige Macht?:]<br />

Worauf ihre Throne sich stützen,<br />

Ist Arbeit von Arbeiterhand.<br />

[:Jetzt laden wir selbst die Patronen<br />

Und nehmen die Flinte zur Hand.:]<br />

{ etzt rühren wir selber die Trommel<br />

Jnd blasen so lange zum Tanz,<br />

LBis daß wir für ewige Zeiten<br />

Die Fahne der Arbeit gepflanzt! —:]<br />

Nach dem Russischen von Matislaw Gordij.<br />

Die Bleichen.<br />

Melodie: Nekrassows „Am Paradeaufgang".<br />

Lirow gewidmet.<br />

Sagt, was lauscht ihr den Wassern der Meere,<br />

Sagt, was raunt euch das Beben der Nacht?<br />

Denkt ihr d'ran, wie die Welten euch glühten,<br />

[:Als die Fesseln der Stumpfheit Ihr bracht?:]<br />

Als der Freiheit Idol euch gerufen,<br />

Als die Menschheit ihr Werben gelacht.<br />

Nach der Hand ihr der Brüder gegriffen —<br />

[:Als die Herzen der Mütter ihr bracht?:]<br />

Sagt, was bleicht euch die glühenden Stirnen,<br />

Und was würgt euch das stickende Herz?<br />

Daß die Brüder in Ketten verkrümmen,<br />

[:Daß der Reif fraß die Blüten des März?:]<br />

Rauscht das Wellen der ewigen Meere,<br />

Der Geopferten Schwanengesang?<br />

Trägt der Wind die gemarterten Seelen,<br />

[:Denen sieglos ihr Träumen verklang?:]<br />

„Die im Kampf für die Träume gefallen,<br />

Haben göttlich gelebt <strong>und</strong> gelacht.<br />

Daß die Lebenden sklavisch erwachen,<br />

[:Künden Winde <strong>und</strong> Wellen <strong>und</strong> Nacht:]"<br />

Sämtliche der vorliegenden Übersetzungen der<br />

russischen Gedichte sind von unserem geliebten Kampfgenossen<br />

Sodoma verfaßt worden.


in ihren besonderen Eigenheiten fühlen<br />

<strong>und</strong> erstreben, mögen diese sozialen<br />

Melodien ihren <strong>Weg</strong> finden in die Hütten<br />

der Armen <strong>und</strong> Bedrückten, der Kampfesfrohen<br />

<strong>und</strong> zukunftahnenden Menschen.<br />

Wir alle, die wir sie singen werden, werden<br />

uns durch sie mehr eins <strong>und</strong> innig<br />

Fackel-Träger.<br />

Sie wandern durch die Nacht. Ihr Fuß, er ruht<br />

Und rastet nicht. Ob Nachtigallen singen,<br />

Ob Schneesturm-Lieder durch die Straßen klingen,<br />

Stets bleibt sich gleich ihr tapfrer Wandermut.<br />

Sie tragen schwere Fackeln. Helle Glut<br />

Und süße Wärme allem Volk zu bringen:<br />

Den Zweifelnden, die nach der Wahrheit ringen,<br />

Den Hoffenden, der ärmsten Bettler-Brut.<br />

Die Fackel der Erkenntnis tragen sie.<br />

Das Schwert des Wahns wird gegen sie geschwungen,<br />

Indeß sie klagen <strong>und</strong> verzweifeln nie.<br />

Sie sinken endlich hin, todmüde Streiter,<br />

Nach hartem Kampfe in den Staub gezwungen,<br />

Doch ihre Fackeln tragen andre weiter.<br />

Mariin Drescher.<br />

Anarchie.<br />

Immer geschmäht, verflucht — verstanden nie,<br />

Bist du das Schreckbild dieser Zeit geworden.<br />

Auflösung aller Ordnung — riefen sie —<br />

Seist du, <strong>und</strong> Kampf <strong>und</strong> immerwährend Morden— —<br />

O laß sie schrei'n! Denen, die nie gesucht,<br />

Die W a h r h e i t hinter einem Wort zu finden,<br />

Ist auch des Wortes rechter Sinn verwehrt;<br />

Sie werden Blinde bleiben unter Blinden.<br />

Du aber, Wort, so klar, so stark, so rein,<br />

Das alles sagt, wonach ich ruhelos trachte:<br />

Ich gebe dich der Zukunft! Sie ist dein,<br />

Wenn j e d e r e n d l i c h zu sich s e l b s t e r w a c h t e .<br />

Kommt sie im Sonnenblick, im Sturmgebrüll?<br />

— Ich weiß es nicht, doch — sie erscheint auf Erden!<br />

Ich bin ein Anarchist! — Warum? — Ich will<br />

Nicht herrschen, aber auch beherrscht nicht werden.<br />

John Henry Maskay.<br />

Die I n t e r n a t i o n a l e .<br />

Nun auf, wer Elend trägt <strong>und</strong> Knechtung,<br />

Nun auf, wer Hunger fühlt <strong>und</strong> Spott!<br />

Jetzt gilt's, zu zahlen unsere Rechnung<br />

An Tyrannis, Staat <strong>und</strong> Gott.<br />

Nutzlos ist das Klagen, das Gewimmer !<br />

Arbeitsbrüder, nun zu Häuf!<br />

Das Alte schlagen wir in Trümmer<br />

Und bauen neue Welten drauf.<br />

[:Laßt flammen Fackeln, Fanale,<br />

Zum letzten Kampfe schließt die Reih'n!<br />

L'Internationale<br />

Soll unser Schlachtruf sein!:]<br />

verb<strong>und</strong>en wissen mit denen, die sie uns<br />

gegeben: d e n i n t e r n a t i o n a l e n<br />

S ä n g e r n d e r A n a r c h i e , d e n B a h n -<br />

b r e c h e r n d e r F r e i h e i t u n d d e n<br />

n o c h i m T o d e k ü h n u n d hoffn<br />

u n g s f r e u d i g e i n K a m p f e s l i e d<br />

a n s t i m m e n d e n P i o n i e r e n !<br />

Nicht fern, nicht jenseits der Vogesen<br />

Findst du den Räuber deines Rechts:<br />

Der dir die Bibel gab zum Lesen,<br />

Er gab dir auch das Recht des Knechts.<br />

Er ließ dich an die Tretmaschine schließen<br />

Und nahm dir Willen, Kraft <strong>und</strong> Mut,<br />

Fr hieß dich auf die Brüder schießen<br />

Und fand sein Glück in deinem Blut.<br />

[:Laßt flammen . . .:]<br />

Ein Narr, der mit dem Gegner rechtet.<br />

Erschachern läßt sich Freiheit nicht!<br />

Die Hand dem Schuft, der uns geknechtet?<br />

Die Faust wohlan — doch ins Gesicht!<br />

Wir pfeifen aufs Geschwätz in Parlamenten,<br />

Wo Despotismus wird legal<br />

Und mit papiernen Dokumenten<br />

Man spottet jeder Not <strong>und</strong> Qual.<br />

[:Laßt flammen . . .:]<br />

Ihr wurdet lang genug gehämmert —<br />

Nehmt jetzt den Hammer in die Hand<br />

Und schwört: die neue Sonne dämmert<br />

Dem neuen, freien Vaterland.<br />

Wo keine órente freie Menschen scheidet,<br />

Wo keine Knechtschaft Brüder trennt,<br />

Wo niemand deine Freiheit neidet<br />

Und dich die Schwester Bruder nennt.<br />

[:Laßt flammen . . .:]<br />

Eugene Pottier.<br />

Generalstreik-Lied.<br />

Wir waren lang genug die Knechte,<br />

Wir wollen unsre Herrn nicht mehr.<br />

Wir setzen uns für unsre Rechte,<br />

Für unsre Freiheit nun zur Wehr.<br />

Schläft denn das Volk? — Wir woll'n es wecken!<br />

iHe Arbeitsmann! Rebell! wach auf!<br />

etzt gilts die müden Glieder strecken!<br />

)ie Trommel dröhnt — nun dran, nun drauf!<br />

Auf Brüder, auf ihr Massen!<br />

Laßt uns Raum für die Freiheit schaffen,<br />

Erhebt euch, Mann für Mann!<br />

Nun nieder Reichtum, Bourgeoisie!<br />

Nun nieder Knechtschaft, Tyrannei!<br />

Nun auf, nun auf zum Kampf<br />

Für Anarchie!<br />

Laßt stille steh'n die Dampfmaschine,<br />

Geh' auf die Straße Proletar.<br />

Mag nun das große Rad bedienen,<br />

Wer gestern sein Besitzer war.<br />

Nun streike Volk, <strong>und</strong> streike solange,<br />

Bis deine Knechtschaft reißt entzwei!<br />

Der Generalstreik ist im Gange,<br />

Der Generalstreik macht uns frei!<br />

Auf Brüder . . .<br />

Erich Mühsam.


B<strong>und</strong>eslied der schweizerischen<br />

antimilitaristischen Liga.<br />

M o t t o : Heil dir im Siegeskranz.<br />

Schwielhändig, rußgeschwärzt<br />

Steht die Armee beherzt<br />

Zur blut'gen Tat.<br />

Arbeitsmann! Wem zu Nutz<br />

Trägst du den Waffenputz?<br />

Ach, nur für's Kapital<br />

Bist du Soldat!<br />

Arbeitsmann! Proletari<br />

Gegen der Brüder Schar<br />

<strong>Ziel</strong>t dein Gewehr!<br />

Leih' nicht die Arbeitshand<br />

Trüg'rischem Vaterland,<br />

Das nur die Reichen schützt.<br />

Fern bleib dem Heer!<br />

Wer's mit der Freiheit meint,<br />

Der kennt nur einen Feind,<br />

Das Kapital!<br />

Willst du ein Kämpfer sein,<br />

Sei's in der Brüder Reih'n.<br />

Kämpf gegen Druck <strong>und</strong> Not<br />

Und Hungersqual!<br />

Gürtest du um das Schwert,<br />

Prüf ob das <strong>Ziel</strong> auch wert<br />

Leben <strong>und</strong> Blut.<br />

Wer für die Freiheit ficht,<br />

Wer Sklavenketten bricht,<br />

Nur der soll Sieger sein —<br />

Dess' Kampf ist gut.<br />

D a s Barrikadenlied.<br />

Melodie des russischen <strong>und</strong> polnischen Barrikadcnlicdcs.<br />

Zur Barrikade<br />

Arbeiterbrüder,<br />

Das schwarze Banner<br />

Leuchtet voran!<br />

Lang hinterm Ofen<br />

Summten wir Lieder,<br />

Sense <strong>und</strong> Hammer<br />

Brechen jetzt Bahn.<br />

<strong>Unser</strong> die Welt!<br />

Freiheit der Welt!<br />

Im Fackellicht<br />

Schmieden wir Gericht.<br />

Schon glüht der Brand<br />

Hämmer zur Hand!<br />

Gestern Knecht,<br />

[Freiheit heißt heut Recht!:]<br />

Schaut nicht nach Hilfe,<br />

Bruder, zur Ferne!<br />

Nehmt Pflug <strong>und</strong> Rechen,<br />

Schmiedet sie ein.<br />

Nicht Marx <strong>und</strong> Engels,<br />

Götter, Himmel, Sterne<br />

Können Ketten brechen,<br />

Schlagt ihr nicht drein!<br />

<strong>Unser</strong> die Welt . . .<br />

Wir beugten die Herzen,<br />

Beugten die Rücken<br />

Lang diesen H<strong>und</strong>en,<br />

Trugen Not <strong>und</strong> Schmach.<br />

<strong>Unser</strong> Kinder Jammer,<br />

<strong>Unser</strong>er Väter Schmerzen<br />

Glühten wie W<strong>und</strong>en,<br />

Brannten endlich auch.<br />

<strong>Unser</strong> die Welt . . .<br />

Wir bauten Paläste,<br />

Die and're bewohnen,<br />

Wir speisten Maschinen<br />

Mit Schweiß <strong>und</strong> mit Blut.<br />

Wir webten die Kleider,<br />

Zu wärmen die Drohnen,<br />

Wir schaffen wie Bienen,<br />

Zu mehren ihr Gut.<br />

<strong>Unser</strong> die Welt . . .<br />

Wir leuchten in Gruben,<br />

Wir gössen Kanonen —<br />

Die Kinder, die Mütter<br />

Vergingen in Schmutz.<br />

Für H<strong>und</strong>e Erbarmen —<br />

Für uns blaue Bohnen!<br />

Bei eisernem Gitter<br />

Verkrampfte der Trutz.<br />

<strong>Unser</strong> die Welt . . .<br />

Der Mann hinterm Webstuhl,<br />

Das Weib auf der Gasse!<br />

Sich Brot zu erwerben<br />

War Prostitution.<br />

Wohlan, auf die Straße,<br />

Arbeitermasse!<br />

Gilt's denn zu sterben,<br />

Gelt's höchsten Lohn 1<br />

<strong>Unser</strong> die Welt . . .<br />

Jaget zum Teufel<br />

Lehrer <strong>und</strong> Führer!<br />

Magen <strong>und</strong> Nieren<br />

Geben uns Lehr.<br />

Wir brauchen nicht Krämer,<br />

Schwätzer <strong>und</strong> Spieler —<br />

Denn zu verlieren<br />

Blieb uns nichts mehr!<br />

<strong>Unser</strong> die Welt . . .<br />

Zur Barrikade,<br />

Arbeiterbrüder,<br />

Das schwarze Banner<br />

Leuchtet voran.<br />

Fäuste <strong>und</strong> Straße<br />

Singen jetzt Lieder!<br />

Sense <strong>und</strong> Hammer<br />

Brechen jetzt Bahn!<br />

<strong>Unser</strong> die Welt . . .<br />

Rote Fahne.<br />

Melodie: Czcrwony Standar.<br />

Zu lange würgen uns die Henker,<br />

Zu lange, Brüder, weinen wir.<br />

Vergossenes Blut ruft die Vergelter<br />

[:Und noch ein Tag, da richten wir!:]<br />

Nun zum Kampf, nun zum Kampf, auf mit Mut!<br />

Bald flammt das Banner über Thronen!<br />

Es trägt voran den bittern Groll, des Volkes Wut


nichts einzuwenden — es ist hauptsächlich die<br />

alte, längst propagierte Taktik des Anarchismus,<br />

also: Verwerfung jeder Vertretung, statt<br />

dessen eigenmächtiges Eingreifen aus freier<br />

Initiative, Stellungnahme gegen jede bewaffnete<br />

Macht — so erklärt die Weltanschauung<br />

des Anarchismus gleichzeitig immer <strong>und</strong><br />

immer wieder, daß der Syndikalismus die<br />

Idee des Anarchismus n o c h l a n g e n i c h t<br />

e r s c h ö p f e . Wie es auch in einer der<br />

Amsterdamer Resolutionen (es ist jene vom<br />

Gen. Dr. Friedeberg) zum Generalstreik<br />

heißt:<br />

„Klassenkampf <strong>und</strong> ökonomische Befreiung<br />

sind nicht identisch mit den Ideen <strong>und</strong> <strong>Ziel</strong>en des<br />

Anarchismus, der über den Klassenkampf hinaus<br />

die völlige ökonomische <strong>und</strong> psychische Befreiung<br />

der menschlichen Persönlichkeit zum <strong>Ziel</strong>e hat, der<br />

einen herrschaftslosen Zustand erstrebt, nicht etwa<br />

eine neue Herrschaft der Majorität über die Minorität<br />

. . . Der Anarchismus sieht daher in der Beseitigung<br />

der ökonomischen Unfreiheit nur eine<br />

notwendige Etappe auf dem <strong>Weg</strong>e zum Endziel."<br />

Außerdem bestritten die Anarchisten<br />

von jeher <strong>und</strong> tun es auch noch jetzt, daß<br />

die Gewerkschaften, wie sie heute sind,<br />

dazu berufen sind, die Produktion <strong>und</strong><br />

Konsumtion, sowie sie für eine sozialistische<br />

Gesellschaft notwendig seht wird, zu regeln.<br />

Die heutige Produktion <strong>und</strong> Konsumtion<br />

ist in keiner Weise ein Vorbild für eine<br />

freie Gesellschaft. Nebenbei bemerkt, kennen<br />

sehr wenige Arbeiter den Produktionsprozeß<br />

oder die Organisation der Konsumtion.<br />

Sie erfahren davon nichts in ihrer<br />

Gewerkschaft, die nur eine Kampforganisation<br />

ist. Die Anarchisten behaupten, daß<br />

es andere Zellen sein müssen, die die obgenannten<br />

Funktionen der Gesellschaft zu<br />

übernehmen haben, <strong>und</strong> das sind die g e -<br />

n o s s e n s c h a f t l i c h e n K o n s u m - u n d<br />

P r o d u k t i o n s v e r e i n i g u n g e n , mit denen<br />

man sich in früheren Jahren viel befaßte,<br />

leider aber bis vor kurzem, wo unser Genosse<br />

Gustav Landauer (Berlin) seine ganze<br />

Kraft dafür einsetzt, in Deutschland fast<br />

vergessen zu haben schien.<br />

Wohl kann auch diese Richtung auf<br />

dem Amsterdamer Kongreß durch den<br />

holländischen Genossen Samson zu Wort,<br />

spielte aber eine nebensächliche Rolle. Eine<br />

Resolution des genannten Genossen wurde<br />

ohne Debatte zur Kenntnis genommen. Sie<br />

lautet:<br />

„Der internationale Kongreß spricht die Meinung<br />

aus, daß die produktive Assoziation sowohl<br />

einzeln wie auch in Verbindung mit der revolutionären<br />

Gewerkschaftsbewegung nützlich sein kann<br />

für das Erringen einer anarchistischen Lebensgemeinschaft.<br />

Es wird für die Arbeiterschaft zweckmäßig<br />

sein, wenn am Vorabend eines Generalstreiks<br />

sowie nachher, eine Anzahl von produktiven Körperschaften<br />

auf Gr<strong>und</strong> ihrer Erfahrung mit Hand<br />

anlegen können zur Eruierung der Anfertigung <strong>und</strong><br />

des Austausches von Produkten im antiparasitären<br />

Sinne.<br />

Ferner gibt der Kongreß zu erkennen, daß<br />

bereits unter den jetzigen Verhältnissen die revolutionäre<br />

Gewerkschaftsbewegung, wie auch die<br />

ganze Arbeiterklasse, sich die oben angegebenen<br />

Oedanken zu nutze machen können."<br />

Die geringe Bedeutung, die man der<br />

Sache auf dem Kongresse beigemessen hat,<br />

sagt genug, um alle diejenigen Genossen,<br />

die überzeugt sind, daß mehr nach dieser<br />

Richtung hin gemacht werden muß, anzuspornen<br />

zur intensiven Propaganda in<br />

Wort <strong>und</strong> Schrift für das, was man in der<br />

Verbrüderung mit dem Syndikalismus beinahe<br />

ganz vergessen hat. In einer Periode,<br />

wie die unserige, wo die Krisen kein Ende<br />

nehmen, ja immer <strong>und</strong> immer mehr an<br />

Ausdehnung gewinnen, müßte man meinen,<br />

daß das genug zum denken veranlassan muß,<br />

was denn eigentlich geschehen soll, wenn,<br />

es sei angenommen, sogar ein Generalstreik<br />

ausbrechen <strong>und</strong> zu Gunsten der Arbeiterschaft<br />

endigen würde. Was wäre dann für<br />

unsere Idee, für den Anarchismus gewonnen?<br />

Vor der Hand nicht viel. Weil sehr, sehr<br />

viele unserer Kräfte — <strong>und</strong> es sind die<br />

besten — sich im zerstörenden Kampfe<br />

aufgerieben haben <strong>und</strong> zum Aufbau nur<br />

Wenige vorhanden wären. Das Volk, nur<br />

zu sehr geneigt, wieder zur Ruhe zu kommen,<br />

beißt allzu gerne den größten Köder<br />

an, den ihm die Schönredner, deren es in<br />

solchen Perioden eine Masse gibt, vorwerfen.<br />

Da auf unserer Seite es an einem<br />

besseren Beispiel mangelt, ist es dem Volke<br />

schließlich nicht zu verdenken.<br />

Vergegenwärtigen wir uns eine Zeit<br />

der Revolution. Wir haben viele Beispiele<br />

vor Augen.. Aber <strong>und</strong> Abertausende fallen<br />

der Revolution zum Opfer. Es ist wahr,<br />

Nichts oder nur Weniges wird ohne Schmerz<br />

geboren, aber alles neue muß auch, wenn<br />

es zukunftssicher sein soll, sich schon einen<br />

einigermaßen bereiten Boden verschafft<br />

haben <strong>und</strong> auf diesen gesetzt werden.<br />

Darum sollen alle diejenigen Menschen,<br />

die eine freie Gemeinschaft erstreben <strong>und</strong><br />

eingesehen haben, daß, wenn sie sich zu<br />

einem (um mit Landauer zu reden) «festen<br />

Block» zusammenschließen, sie schon jetzt<br />

in der Lage sind, je n a c h i h r e r M a c h t<br />

i n f r e i e r G e m e i n s c h a f t u n t e r A u s -<br />

t a u s c h i h r e r P r o d u k t e s e l b s t ä n d i g<br />

i n G e r e c h t i g k e i t z u w i r t s c h a f t e n .<br />

Unter Gerechtigkeit verstehen wir den<br />

guten Willen unter g l e i c h Mächtigen, sich<br />

gegenseitig a b z u f i n d e n , sich a u s z u -<br />

g l e i c h e n , Dieses Sichabfinden, unter sich<br />

auszutauschen, also Handeln, muß schon<br />

vom Urmenschen, der sich mit diesem<br />

Schritt über das Tier hebt, datieren <strong>und</strong><br />

ist an sich auch kein Fehler, wenn nur die<br />

Mittel g l e i c h sind, um die verschiedenen<br />

Tauschobjekte herzustellen oder auf andere<br />

Weise zu erlangen.<br />

Diese Mittel sind der Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden,<br />

sowie die Produktionsmittel, die von<br />

ihm unzertrennlich sind, wenn man gerecht<br />

sein will <strong>und</strong> worauf die ganze menschliche<br />

Gesellschaft ein gleiches, unveräußerliches<br />

Recht hat. Sobald man ihnen dieses Recht<br />

streitig macht, in dem Augenblicke macht<br />

man ihnen das Leben streitig, weil die<br />

Menschen selbst ein Produkt der Erde sind<br />

<strong>und</strong> ohne Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden nicht zu leben<br />

vermögen.<br />

Die Anmaßung, die Massen der Menschen<br />

vom Gr<strong>und</strong>besitz auszuschließen, die<br />

in der heutigen Gesellschaft als «Recht»<br />

besteht, das, daß einige wenige ganze<br />

Ländereien für sich in Anspruch nehmen<br />

<strong>und</strong> somit die Mehrzahl der Menschen dem<br />

Hungertode ausliefern dürfen, ohne daß<br />

sie auch nur der geringste V o r w u r f trifft,<br />

ist das ganze große Verbrechen, worauf<br />

unsere Propagandisten fortwährend hinweisen<br />

müssen <strong>und</strong> immer <strong>und</strong> allerorts<br />

erklären wollen, daß diese Mittel — der<br />

Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden sowie die Produktionsmittel<br />

— unbedingt notwendig sind, um<br />

in Gerechtigkeit leben zu können.<br />

Da wir, die wir uns schon heute zum<br />

freien Austausch vereinigen sollen, aber<br />

noch zu wenige <strong>und</strong> daher zu schwach<br />

sind, um diese Mittel durch die soziale<br />

Revolution zu erkämpfen, so bleibt uns<br />

nichts anderes übrig, als durch K a u f so<br />

viel als möglich zu unserem Zweck zu<br />

erwerben. Es ist wahr, daß wir dadurch,<br />

daß wir diese Mittel durch Kauf erwerben,<br />

der heutigen Gesellschaft Konzessionen<br />

machen, aber müssen wir das nicht auch<br />

jetzt jeden Augenblick tun <strong>und</strong> werden es<br />

immer tun müssen, so lange wir uns in<br />

der gegenwärtigen Gesellschaft behaupten<br />

wollen <strong>und</strong> so lange wir zu schwach sind,<br />

andere Maßnahmen zu treffen.<br />

Von ungeheuer großer Wichtigkeit ist<br />

aber unser Unternehmen, wenn wir in Betracht<br />

ziehen, wie sehr vorbildlich es wirken<br />

muß für die ganze Gesellschaft <strong>und</strong> speziell<br />

für das Stadtproletariat, das noch immer<br />

nicht genug davon überzeugt ist, daß nicht<br />

auf dem Großstadtpflaster, sondern auf dem<br />

flachen Lande, wo Industrie <strong>und</strong> Landwirtschaft<br />

sich vereinigen, d i e f r e i e G e s e l l -<br />

s c h a f t e r s t e h e n m u ß .<br />

Und unsere Propagandisten, die ganz<br />

gut mit einem Kugelsammler zu vergleichen<br />

sind, der keinen Behälter für die gesammelten<br />

Kugeln hat, in seinem Arm nur<br />

eine bestimmte Anzahl zu tragen vermag,<br />

beim Weitersammeln aber beinahe ebensoviele<br />

verliert, wie er gesammelt hat, sie<br />

werden in einer solchen freien Vereinigung<br />

nach Freiheit strebenden Menschen diesen<br />

Behälter gewissermaßen gef<strong>und</strong>en haben,<br />

in welchem sie durch ihre Betätigung auch<br />

Gelegenheit haben zu beweisen, wie <strong>und</strong><br />

inwieferne es ihnen ernst ist mit der Sache.<br />

Dieses gilt für sehr viele Kameraden in<br />

unseren Reihen, für die der ganze Anarchismus<br />

aus lauter Syndikalismus besteht,<br />

was unrichtig ist. Tausende Gründe wären<br />

anzuführen zu Gunsten dieser neuen Aufgabe<br />

unserer Propaganda, aber dies würde<br />

zu viel Raum in Anspruch nehmen. Ich<br />

lasse es dabei bewenden, nur kurz zu<br />

resümieren:<br />

1. Wir haben stets zu allen Strömungen,<br />

die in irgend einer Weise dem<br />

anarchistischen Ideal nahe stehen oder<br />

wenigstens dies vorschützen, unsere Stellung<br />

klar zu legen <strong>und</strong> unserem Ideal<br />

treu zu bleiben.<br />

2. Niemals aus dem Auge zu verlieren,<br />

daß es n i c h t darauf ankommt,<br />

eine große Masse Anhänger zu haben,<br />

sondern vielmehr, daß jeder einzelne sich<br />

zu einem ganzen Menschen durchgerungen<br />

hat <strong>und</strong> wo dieses noch nicht der<br />

Fall, sich doch wenigstens allen Ernstes<br />

dafür einsetzt, wozu der Ansporn bewußter<br />

Kameraden viel beizutragen vermag.<br />

3. Auf die Mittel, die zum Aufbau<br />

einer anarchistischen Lebensgemeinschaft<br />

notwendig sind, aufmerksam zu machen;<br />

diese Mittel sind: Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden<br />

sowie Produktionsmittel.<br />

4. Daß es genügt, die Notwendigkeit<br />

solcher Betätigung erkannt zu haben, um<br />

sich mit allen Menschen, die von gleicher<br />

Überzeugung durchdrungen sind, sofort<br />

ans praktische Werk zu begeben.<br />

Dieses Wenige, was ich in gedrängten<br />

Worten zum Ausdruck gebracht habe, möge<br />

dazu dienen, viele zum Nachdenken anzuspornen,<br />

damit sie nach reiflicher Überlegung<br />

mit uns den <strong>Weg</strong> betreten, der<br />

wohl nicht mit Rosen bestreut ist, auf dem<br />

mancher nur zu viele Dornen finden wird.<br />

Hier wird es sich erweisen, aus was für<br />

Holz die Unsrigen geschnitzt sind. Der<br />

wahre Anarchist wird aushalten; <strong>und</strong> so,<br />

wenn jeder sein Möglichstes leistet, um<br />

durch konstruktive Arbeit dem <strong>Ziel</strong>e näher<br />

zu kommen, werden wir diesem auch in<br />

Wirklichkeit näher kommen. H. MeHins.<br />

Ein Brief von Henrik Ibsen,<br />

dem Anarchisten.<br />

(Exzerpiert aus dem X. Bande der Ausgabe<br />

seiner Gesamtwerke).<br />

L i e b e r B r a n d e s !<br />

Ich habe mir ja wohl gedacht, daß<br />

mein langes Schweigen Sie in Harnisch<br />

bringen würde; aber ich hoffe zuversichtlich,<br />

wir stehen so zueinander, daß darum<br />

nichts in die Brüche geht. Ja, ich habe das<br />

bestimmte Gefühl, daß ein lebhaft geführter<br />

Briefwechsel zwischen uns eher eine solche<br />

Gefahr mit sich bringen könnte. Wenn wir<br />

erst einmal persönlich aneinander geraten<br />

wären, würde vieles sich anders stellen;<br />

vieles würde sich da auf beiden Seiten<br />

geklärt haben. Bis dahin laufe ich wirklich<br />

Gefahr, mich durch meine flüchtigen verstreuten<br />

Äußerungen bei Ihnen in falsches<br />

Licht zu setzen. Ihr Philosophen könnt<br />

dem Teufel ein Ohr abräsonnieren, <strong>und</strong> ich


verspüre keine Lust, mich per Korrespondenz<br />

zu einem Stein oder einem Hahn<br />

reduzieren zu lassen — selbst mit der<br />

Möglichkeit vor Augen, nach mündlicher<br />

Erklärung wieder zu einem Menschen erhoben<br />

zu werden. In Ihrem vorigen Brief<br />

bew<strong>und</strong>ern Sie ironisch das Gleichgewicht<br />

meines Gemüts unter den gegenwärtigen<br />

Verhältnissen. Da ist der Stein! Und jetzt,<br />

in Ihren letzten fre<strong>und</strong>lichen (?) Zeilen,<br />

machen Sie mich zu einem Freiheitshasser.<br />

Der Hahn!<br />

Die Sache ist die — mein Gemüt befindet<br />

sich so einigermaßen im Gleichgewicht,<br />

weil ich Frankreichs gegenwärtiges<br />

Unglück für das größte Glück halte, das<br />

dieser Nation widerfahren konnte. Und<br />

w a s d i e F r e i h e i t s f r a g e b e t r i f f t , s o<br />

b e s c h r ä n k t s i e s i c h , g l a u b e ich,<br />

a u f e i n e n S t r e i t u m W o r t e . Ich werde<br />

nie dafür zu haben sein, d i e F r e i h e i t<br />

a l s g l e i c h b e d e u t e n d mit p o l i t i -<br />

s c h e r F r e i h e i t a n z u s e h e n . Was Sie<br />

Freiheit nennen, nenne ich Freiheiten; <strong>und</strong><br />

was ich den K a m p f für die F r e i h e i t<br />

n e n n e , ist d o c h n i c h t s a n d e r e s a l s<br />

d i e s t ä n d i g e , l e b e n d i g e A n e i g n u n g<br />

d e r F r e i h e i t s i d e e . W e r d i e F r e i h e i t<br />

a n d e r s b e s i t z t d e n n a l s d a s z u E r -<br />

s t r e b e n d e , d e r b e s i t z t s i e t o t u n d<br />

g e i s t l o s , d e n n d e r F r e i h e i t s b e g r i f f<br />

h a t j a d o c h d i e E i g e n s c h a f t , s i c h<br />

w ä h r e n d d e r A n e i g n u n g s t e t i g z u<br />

e r w e i t e r n , <strong>und</strong> wenn deshalb einer während<br />

des Kampfes stehen bleibt <strong>und</strong> sagt:<br />

jetzt habe ich sie! — so zeigt er eben<br />

dadurch, d a ß er s i e v e r l o r e n hat. Aber<br />

gerade diese tote Art, einen gewissen f e s t -<br />

g e l e g t e n F r e i h e i t s s t a n d p u n k t z u<br />

haben, ist etwas f ü r d i e S t a a t s v e r -<br />

b ä n d e C h a r a k t e r i s t i s c h e s ; <strong>und</strong> eben<br />

das habe ich gemeint, als ich sagte, es sei<br />

nichts Gutes.<br />

Ja, allerdings kann es etwas Gutes<br />

sein, Wahlfreiheit, Steuerfreiheit usw. zu<br />

besitzen; aber für wen ist das gut? F ü r<br />

den B ü r g e r , nicht a b e r für das Individuum.<br />

Es liegt aber für das Individuum<br />

absolut keine Vernunftnotwendigkeit vor,<br />

Bürger zu sein. Im Gegenteil. D e r S t a a t<br />

ist der F l u c h des Individuums. Womit<br />

ist Preußens Stärke als Staat erkauft? Mit<br />

dem Aufgehen der Individuen in dem politischen<br />

<strong>und</strong> geographischen Begriff. D e r<br />

K e l l n e r ist d e r b e s t e S o l d a t . Und auf<br />

der anderen Seite das Volk der Juden, der<br />

Adel des Menschengeschlechtes. Wodurch<br />

hat es sich in Absonderung, in Poesie erhalten,<br />

trotz aller Roheit von außen? Dadurch,<br />

daß es sich nicht mit einem Staat<br />

herumzuschleppen brauchte. Wäre es in<br />

Palästina geblieben, so wäre es schon längst<br />

in seiner Konstruktion untergegangen wie<br />

alle modernen Völker. D e r S t a a t muß<br />

w e g ! Bei der Revolution tue ich auch mit!<br />

Untergrabt den Staatsbegriff, stellt die Freiwilligkeit<br />

<strong>und</strong> das geistig Verwandte als<br />

das für ein Bündnis einzig Entscheidende<br />

auf — das ist der Anfang einer Freiheit,<br />

die etwas wert ist! Ein W e c h s e l der<br />

R e g i e r u n g s f o r m e n ist w e i t e r n i c h t s<br />

als e i n e P u s s e l e i mit G r a d e n — ein<br />

bischen mehr oder ein bischen weniger —<br />

T o r h e i t alles z u s a m m e n .<br />

Ja, lieber Fre<strong>und</strong>, es gilt bloß, sich<br />

von der Ehrwürdigkeit des Besitzes nicht<br />

schrecken zu lassen. D e r S t a a t hat s e i n e<br />

W u r z e l in der Z e i t ; er wird s e i n e n<br />

G i p f e l in der Zeit h a b e n . Es werden<br />

größere Dinge fallen als er; alle Religion<br />

wird fallen. Weder die Moralbegriffe noch<br />

die Kunstformen haben eine Ewigkeit vor<br />

sich. Wie vielem gegenüber haben wir im<br />

Gr<strong>und</strong>e die Verpflichtung, es zu konservieren?<br />

Wer bürgt mir dafür, daß zwei<br />

plus zwei nicht fünf sind auf dem Jupiter<br />

oben ?<br />

Diese Andeutungen kann <strong>und</strong> will ich<br />

brieflich nicht weiter ausführen. Herzlichen<br />

Dank für Ihr Gedicht! Es wird nicht das<br />

letzte bleiben, das Sie schreiben, denn<br />

der Beruf dazu spricht aus jeder Zeile!<br />

Daß Sie mich überschätzen, setze ich auf<br />

Rechnung der Fre<strong>und</strong>schaft. Dank, Dank!<br />

Bewahren Sie ein solches Bild von mir;<br />

ich werde gewißlich der Alte bleiben.<br />

Herzliche Wünsche für Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> alles Gute!<br />

Ihr getreuer H e n r i k Ibsen.<br />

Offizielles Protokoll<br />

des Internationalen Antimilitaristischen<br />

Kongresses<br />

gehalten zu Amsterdam, am 30.—31. August<br />

1007. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />

des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />

m e r h o r n .<br />

Dokumentarischer <strong>und</strong> historischer<br />

Anhang.<br />

I.<br />

Manifest des Internationalen Antimilitaristischen<br />

Kongresses an die Arbeiter<br />

Deutschlands <strong>und</strong> Frankreichs.<br />

(Fortsetzung.)<br />

um der Ausbeuter willen werdet ihr eure<br />

Brüder verstümmeln; <strong>und</strong> doch seid ihr alle<br />

Proletarier, besitzlose Arbeiter <strong>und</strong> Untergebene,<br />

für die es gar keinen Unterschied<br />

macht, welcher Nation euere Ausbeuter<br />

<strong>und</strong> Herrscher angehören <strong>und</strong> welche<br />

Gruppe von Kapitalisten die umstrittenen<br />

Reichtümer einheimst.<br />

Euch, Bauern <strong>und</strong> Arbeitern, die ihr<br />

zufällig auf verschiedenen Seiten der Landesgrenzen<br />

wohnt, die ihr einander nie ein<br />

Leid getan, die ihr bisher vielleicht in<br />

hilfreicher Fre<strong>und</strong>schaft mit einander verkehrt<br />

habt — euch wird man befehlen,<br />

mit den Waffen gegeneinander vorzudringen,<br />

euere Heimstätten gegenseitig zu zerstören,<br />

das Zusammenarbeiten für euere gemeinsamen<br />

Interessen in wütende Feindschaft<br />

zu verwandeln. Alle die internationalen<br />

Beziehungen, all euere Organisationen, die<br />

Werke der Solidarität, welche bestimmt<br />

sind, die ganze Menschheit in eine brüderlich<br />

liebende Familie zu vereinen, welche<br />

das einzige Mittel sind, um euch selbst mit<br />

vereinten Kräften von der Lohnsklaverei<br />

zu befreien <strong>und</strong> eine Gesellschaft der Freiheit<br />

<strong>und</strong> des Wohlstandes für Alle zu<br />

schaffen — dies alles wird zerstört werden,<br />

untergehen im grauenhaften Morden <strong>und</strong><br />

Elend. Ein Krieg würde den Regierenden<br />

die gewünschte Gelegenheit geben, die<br />

revolutionäre Bewegung für lange Zeit unschädlich<br />

zu machen, indem sie Tausende<br />

von jungen Männern, deren beste Kämpfer,<br />

auf dem Schlachtfelde verbluten läßt, jede<br />

Aufklärungs- <strong>und</strong> Propagandaarbeit durch<br />

die betäubende Schaustellung von Patriotismus<br />

<strong>und</strong> kriegerischem Ruhm erstickt<br />

<strong>und</strong> die rohesten, unvernünftigsten Instinkte<br />

in den Menschen entfaltet.<br />

Wollt ihr, französische <strong>und</strong> deutsche<br />

Proletarier, all dies erdulden? Wollt ihr<br />

nichts tun, um das zu verhüten?<br />

Bedenkt, daß ihr, einzig <strong>und</strong> allein<br />

i h r es seid, die die kolonialen Raubzüge<br />

<strong>und</strong> Kriege möglich machen!<br />

Ihr, französische Soldaten, mordet <strong>und</strong><br />

läßt euch morden, marschiert durch Gefahren<br />

<strong>und</strong> Beschwerden hindurch, während<br />

euere Herfen, auf deren Befehl ihr den<br />

Krieg führt, in Sicherheit <strong>und</strong> Bequemlichkeit<br />

im Hause sitzen.<br />

Ihr, Arbeiter <strong>und</strong> Bauern schmiedet<br />

die Waffen, baut die Festungen <strong>und</strong> Kriegsschiffe,<br />

setzt die Eisenbahnen in Bewegung,<br />

liefert die Lebensmittel <strong>und</strong> Kleider <strong>und</strong><br />

zahlt die Steuern, trotzdem ohne all dem<br />

kein Krieg möglich wäre.<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur loh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />

Euer Gehorsam <strong>und</strong> eure Arbeit erhalten<br />

den Krieg!<br />

Seid ihr unvernünftige Tiere oder leblose<br />

Maschinen, mit welchen euere Herren<br />

das tun können, was sie wollen?<br />

Habt ihr keine Vernunft, kein Gewissen,<br />

keinen Willen?<br />

Und sagt euch euere Vernunft, euer<br />

Gewissen nicht, daß ihr Toren <strong>und</strong> Verbrecher<br />

seid, wenn ihr durch das Hinmorden<br />

anderer Menschen <strong>und</strong> euerer eigenen Genossen,<br />

durch das Opfer des eigenen Lebens<br />

die Macht <strong>und</strong> den Reichtum jener<br />

französischen <strong>und</strong> deutschen Kapitalisten<br />

verteidigt, die euch unterdrücken <strong>und</strong><br />

ausbeuten?<br />

Ihr könnt den Krieg verhindern, <strong>und</strong><br />

wenn ihr denkende Menschen seid, so müßt<br />

ihr ihn verhindern wollen!<br />

Nur durch euch selbst könnt ihr besiegt<br />

<strong>und</strong> geknechtet werden. Wenn nur einige<br />

Tausende <strong>und</strong> Zehntausende mit gleichem<br />

Willen zur gleichen Zeit sich ihrer Menschlichkeit<br />

erinnern, wenn die Arbeiter in den<br />

Generalstreik treten <strong>und</strong> so jeden Transport<br />

von Truppen, jede Versorgung des<br />

Heeres mit Waffen, Munition <strong>und</strong> Lebensmitteln<br />

unmöglich machen dann verfließt<br />

die Macht der Herrschenden zu Nichts,<br />

dann gibt es keinen Krieg gegen diej<br />

Hereros <strong>und</strong> keine französische oder deutsche<br />

Armee mehr, <strong>und</strong> der Wille des Volkes<br />

siegt.<br />

Es ist also kein Zweifel darüber möglich,<br />

was ihr zu tun habt. Schluß folgt.<br />

Öffentliche Erklärung.<br />

Herr Michel Deutsch! Ich halte hiermit die<br />

in Nr. 4 des „W. f. A." gegen Sie erlassene Erklärung,<br />

in der Sie als „ e r b ä r m l i c h e r Ehrabschneider<br />

<strong>und</strong> V e r l e u m d e r " gebrandmarkt wurden, vollinhaltlich<br />

aufrecht <strong>und</strong> muß mich nur darüber w<strong>und</strong>ern,<br />

daß ihre näheren Parteigenossen — vornehmlich<br />

Herr Wutschel — Sie nicht schon lange zur<br />

Erbringung des gerichtlichen Wahrheitsbeweises für<br />

Ihre Behauptungen vom 30. Jänner moralisch gezwungen<br />

haben.<br />

M o r i t z L i c k i e r , XIV., Holochergasse 33, III. 14.<br />

Briefkasten.<br />

Chicago. Dank für Geld <strong>und</strong> Brief; die gewünschten<br />

Nummern werden gesandt, vergiß nicht<br />

das in der Karte Gewünschte zu besorgen. Brudergruß!<br />

— R. K. B. 20. Raummangel verhinderte<br />

uns, Ihnen für Ihre solidarische Aufmerksamkeil<br />

anläßlich unserer Bakuninfeier schon in letztet<br />

Nummer einen Herzensgruß zu entbieten. Dies soll<br />

in dieser nachgetragen werden. Ihr Schreiben, das<br />

im Kreise der Genossen vorgetragen wurde, erregte<br />

viel Freude; wir bringen an dieser Stelle ihre, dem<br />

Herzen eines wackeren Proletariers entstammenden<br />

Reime, die ihren Gefühlen für B. Ausdruck verleihen<br />

:<br />

Schon tot <strong>und</strong> d o c h am Leben,<br />

Fre<strong>und</strong> Bakunin uns ist!<br />

Dem Manne war gegeben,<br />

Daß er für künft'ge Frist,<br />

Den Strahl der Sonn' uns sende,<br />

Auf daß sich alles wende •<br />

Den Armen <strong>und</strong> Bedrückten,<br />

Den Schwachen <strong>und</strong> Gedrückten<br />

Nur ihrem Wohle zu!<br />

Drum sendet jene Strahlen,<br />

Gleich Bakunin ins Land,<br />

Damit uns bald verbinde<br />

Ein allgemeines Band —<br />

Woran wir alle weben,<br />

Die wir nach Freiheit streben . . .<br />

Vereine <strong>und</strong> Versammlungen.<br />

Allgemeine Gewerkschafts-Föderation. V<br />

Einsiedlergasse 60. Jeden Montag 8 Uhr abends.<br />

Föderalion der Bauarbeiter. X., Eugen<br />

gasse 9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunl<br />

jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />

Unabhängige Schuhmacher-Gewerkschaft<br />

XlV.,Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds<br />

Männergesangverein „Morgenröte". XIV.<br />

Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaul<br />

nähme jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />

Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „Pokrok". XIV,<br />

Hütteldorferstraße 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />

Freie Einkaufsgenossenschaft. Jeden Donnerstag<br />

abends bei Schlor.<br />

Allgem. Gewerkschafts-Föderation, Ortsgruppe<br />

XIV. Vereinsversammlung mit Vortraj<br />

jeden Dienstag 8 Uhr abends.


Wien, 6. September 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 17.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />

I./17. — Gelder sind zu senden an<br />

W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />

5, III./27.<br />

Es kommt der Tag.<br />

Aus dem Englischen übersetzt von<br />

Lilly N a d l e r - N u e l l e n s .<br />

Kommt hierher Burschen <strong>und</strong> horchet, was man<br />

erzählen tut,<br />

Von den herrlichen Tagen die kommen, wenn<br />

alles wird besser als gut.<br />

Wenn mehr als einer in tausend, wenn die<br />

neue Zeit bricht an,<br />

Sich der alten Heimat freuen <strong>und</strong> hoffen <strong>und</strong><br />

leben kann.<br />

Denn dann — o lacht nicht, <strong>und</strong> horchet dieser<br />

seltsamen Märe mein —<br />

Werden alle Leute besser als das Vieh behauset<br />

sein.<br />

Dann wird jeder schaffen <strong>und</strong> denken <strong>und</strong> mit<br />

Stolz seine Arbeit seh'n,<br />

Und nicht am Abend helmkommen, erschöpft<br />

<strong>und</strong> zu niüd' um zu steh'n.<br />

Die Menschen in kommenden Tagen werden<br />

schaffen mit Zuversicht<br />

Und fürchten den Mangel an Arbelt <strong>und</strong> die<br />

Qual des Hungers nicht.<br />

Ich erzähl' euch dies als ein W<strong>und</strong>er, daß dann<br />

kein Mann sich freut,<br />

Daß des andern Fall <strong>und</strong> Elend ihm wieder<br />

Arbeit beut.<br />

Dann wahrlich gehört einem jeden, was aus<br />

seiner Arbelt entsteht;<br />

Noch wird die Hälfte geerntet von solchen, die<br />

nicht gesät.<br />

0 w<strong>und</strong>erbar seltsame Ordnung! doch für wen<br />

dann der Reichtum erblüht?<br />

Für uns selbst <strong>und</strong> für jeden Genossen, <strong>und</strong> keiner<br />

umsonst sich mehr müht.<br />

Alles mein, alles dein, wird dann u n s e r , <strong>und</strong><br />

kein Mensch verlangt dann noch<br />

Nach Reichtum, der nur schmiedet den Fre<strong>und</strong><br />

Ins Sklavenjoch.<br />

Und was bleibt uns denn an Werten, wenn niemand<br />

begehrt mehr nach Gold,<br />

Um den Fre<strong>und</strong> am Markte zu kaufen <strong>und</strong> zu<br />

quälen um elenden Sold?<br />

Was sonst als die herrlichen Städte <strong>und</strong> die<br />

Hütte auf Bergeshöh'n,<br />

Die Felder, die wir pflügen, die Wiesen <strong>und</strong><br />

Wälder so schön —<br />

Die Gräber der großen Toten, der Heimat<br />

Sagenland,<br />

Und die Weisen forschend nach W<strong>und</strong>ern <strong>und</strong><br />

der Maler Zauberhand.<br />

Und die Chöre <strong>und</strong> alten Lieder <strong>und</strong> der Dichter<br />

Köpfe so kühn<br />

Und die W<strong>und</strong>er des Fiedelbogens: — all jene,<br />

die freudig sich müh'n.<br />

Denn all dies wird für uns sein <strong>und</strong> a l l e ,<br />

<strong>und</strong> keinem bleibt versagt<br />

Sein Anteil an Arbeit <strong>und</strong> Freude, wenn das<br />

neue Leben tagt.<br />

Ah! das sind die Tage, die kommen! doch was<br />

ist heute geschehen,<br />

In den Tagen, in denen wir leben <strong>und</strong> elend<br />

zu Gr<strong>und</strong>e geh'n?<br />

Für was <strong>und</strong> warum denn wir warten? An<br />

zwei Worten nur gebricht's:<br />

WIR WOLLEN! Und unsre Feinde zerfließen in<br />

Traum <strong>und</strong> Nichts.<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss ; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aüer Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e Hegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />

O warum <strong>und</strong> für was denn wir warten? derweil<br />

in Kampf <strong>und</strong> Tod<br />

Unsre Brüder verbluten <strong>und</strong> fallen, in bitt'rem<br />

Elend <strong>und</strong> Not.<br />

Wie lang noch in endloser Menge, uns zum<br />

Vorwurf weilen sie hier?<br />

Arme Geister verruchter Städte, erdrückt durch<br />

des Goldes Gier.<br />

Durch trostloses Leben sie kämpften, von<br />

Kummer fortgerafft,<br />

Die besten Söhne des Volkes, die Stützen<br />

seiner Kraft.<br />

Jene können wir nicht mehr retten, noch uns<br />

vom Fluch befrei'n;<br />

Doch es kommen noch Millionen — wird ihr<br />

Los besser sein ?<br />

An uns ist es, Antwort zu geben, zu öffnen<br />

die Tore in Eil',<br />

Für das, was der Reichen Schrecken, <strong>und</strong> der<br />

Armen Hoffnung <strong>und</strong> Heil.<br />

J a , dem Groll <strong>und</strong> Haß der Bedrückten, stumm<br />

<strong>und</strong> voll Unwissenheit,<br />

Müssen Stimme <strong>und</strong> Weisheit wir geben, bis<br />

sie zu Taten bereit.<br />

So kommt! denn alles mahnt uns, das Leben<br />

<strong>und</strong> der Tod;<br />

Und über dem düster'n Wirrsal strahlt hell<br />

das Morgenrot.<br />

Kommt denn, hört auf zu tändeln, laßt Rast<br />

<strong>und</strong> Ruhe sein,<br />

Bis die guten Tage kommen, kämpft für die<br />

Sache allein.<br />

Kommt, eint euch zum einzigen Kampfe, wo<br />

keiner unterliegt,<br />

Denn, wenn viele auch, fallen <strong>und</strong> sterben,<br />

dennoch die Sache siegt.<br />

Ah! kommt, hört auf zu tändeln <strong>und</strong> laßt uns<br />

voran geh'n,<br />

Der Tag des Sieges wird kommen <strong>und</strong> hoch<br />

die Banner weh'n!<br />

William Morris.<br />

Ein brutales Attentat auf das<br />

Koalitionsrecht.<br />

Zu jenen Ungeheuerlichkeiten österreichischer<br />

Staatswillkür, die sich scheinbar<br />

vordem nur in der Zeit des Privilegienparlamentes<br />

ereignen sollten, heute aber<br />

tatsächlich noch öfter vorkommen <strong>und</strong> geradezu<br />

wie eine Ironie auf das Parlament<br />

des allgemeinen, gleichen Wahlrechtes <strong>und</strong><br />

In treffender Illustration der Wertlosigkeit<br />

dieser Institution für das Proletariat wirken,<br />

gehört die am 11. August stattgehabte, gewaltsame<br />

Auflösung der mit uns durch<br />

Bruderbande der Solidarität verbündeten<br />

» T s c h e c h i s c h e n F ö d e r a t i o n a l l e r<br />

G e w e r k s c h a f t s v e r e i n i g u n g e n « . Über<br />

70 Organisationen, die r<strong>und</strong> 7000 Arbeiter<br />

vertraten, sind von der Prager Polizeibehörde<br />

auf Gr<strong>und</strong> einer Verfügung der<br />

Statthalterei ohne weiteres aufgelöst worden.<br />

Es ist nicht das erste Mal, daß die Frucht<br />

einer mühseligen Propagandaarbeit unserer<br />

tschechischen Genossen auf diese Weise<br />

illusorisch gemacht wurde; aber wir können<br />

die böhmischen Behörden auch des einen<br />

versichern: es ist n i c h t das letzte Mal,<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2'40;<br />

halbjährig K P 2 0 . Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3-50, halbjährig F r . 1 7 5 , vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

daß sie die tschechische revolutionäre Arbeiterföderation,<br />

trotz der wieder einmal<br />

stattgehabten behördlichen Auflösung, als<br />

eine bedeutende wirtschaftliche Macht sich<br />

gegenüber finden! Im Gegenteil: in gewissem<br />

Sinne sind solche russische Methoden<br />

der Behörden ein vorzügliches Agitationsmittel<br />

für die Prinzipien des revolutionären<br />

Gewerkschaftskampfes; weist doch<br />

die »Begründung« der Auflösung durch<br />

die Statthalterei, das Wutgeheul der bürgerlichen<br />

<strong>und</strong> sozialdemokratischen Presse<br />

gegen unsere tschechischen Kameraden,<br />

die damit, freilich unfreiwillig, uns den Wert<br />

der aufgelösten Gewerkschaftsföderation<br />

für die revolutionär empfindenden <strong>und</strong> aufgeklärten<br />

Arbeiter greifbar deutlich vor<br />

Augen bringen, auf den großartigen Umstand<br />

<strong>und</strong> wahren Gr<strong>und</strong> der Auflösung<br />

hin: Die Arbeiter der tschechischen Föderation<br />

waren kampfeslustige Revolutionäre<br />

im wirtschaftlichen Klassenringen des Proletariats;<br />

durch ihren zähen Klassenkampf<br />

gelang es ihnen, ihre ökonomische Lebenshaltung<br />

auf Kosten des Kapitals im allgemeinen<br />

zu steigern, so sehr, d a ß z. B.,<br />

d i e i n d e r K o h l e n g r ä b e r g e w e r k -<br />

s c h a f t d e r F ö d e r a t i o n o r g a n i s i e r -<br />

t e n B e r g a r b e i t e r s i c h h ö h e r e L ö h n e<br />

u n d b e s s e r e A r b e i t s b e d i n g u n g e n<br />

e r k ä m p f t e n , als die Arbeiter irgend einer<br />

anderen Kohlengräberorganisation!<br />

Daher rührt die Wut der bürgerlichen<br />

<strong>und</strong> sozialdemokratischen Schmockpresse<br />

gegen unsere tüchtigen Klassengenossen;<br />

so kommt es, daß der Staat nichts gegen<br />

den Bestand der sanftmütig-schlafmützlerischen<br />

sozialdemokratischen Gewerkschaft<br />

einzuwenden hat, wohl aber sehr viel gegen<br />

unsere tschechische Föderation, d i e prinz<br />

i p i e l l antiparlamentarisch, antikapitaüstisch,<br />

antistaatlich, antimilitaristisch ist <strong>und</strong><br />

durch den direkt geführten Massenkampf<br />

organisierter Proletarier d i e B e f r e i u n g<br />

d e s g e s a m t e n P r o l e t a r i a t s a u s d e n<br />

B a n d e n d e r L o h n s k l a v e r e i a n -<br />

s t r e b t . Im Kampfe wider diesen Gewerkschaftsb<strong>und</strong><br />

fand sich der Staat unterstützt<br />

von der gesamten Bourgeoisie, was natürlich,<br />

aber auch von der gesamten österreichischen<br />

Sozialdemokratie, was denn<br />

doch nicht ganz natürlich sein sollte. Wer<br />

die Fanfaren <strong>und</strong> schmutzigen Verleumdungen<br />

der letzteren anläßlich der Auflösung<br />

der Föderation liest, kann nicht umhin,<br />

zu fühlen, wie diese Herren der Regierung<br />

einen devoten Handkuß darbringen<br />

o b des i h n e n u n d d e r K a p i t a l i s t e n<br />

geleisteten Dienstes. Und wenn die Bourgeoisfritze<br />

der Wiener »Arbeiter-Zeitung«<br />

lügnerisch behaupten, daß die Föderation<br />

sich hauptsächlich mit Verleumdungen der<br />

Sozialdemokratie abgab, so steht dem vor<br />

allem die »Begründung« der Statthalterei<br />

entgegen, wie auch folgendes merkwürdige<br />

Problem: Verleumden die Christlichsozialen<br />

die Sozialdemokratie etwa nicht; weshalb<br />

werden i h r e Gewerkschaftsorganisationen


n i c h t aufgelöst? Und weshalb jene der<br />

Deutschnationalen nicht? Und warum nicht<br />

die gelben Gewerkschaftsverbände, die doch<br />

auch die Sozialdemokratie verleumden? Und<br />

weshalb wird die sozialdemokratische Gewerkschaftsbewegung<br />

nicht aufgelöst, die<br />

doch auch die Kapitalisten <strong>und</strong> den Staat<br />

»verleumdet«? Sie alle werden nicht angetastet<br />

<strong>und</strong> dadurch, d a ß s i e d e m V o r ­<br />

g e h e n d e r S t a a t s g e w a l t w i d e r uns<br />

e r e B r ü d e r u n d K a m e r a d e n i n<br />

B ö h m e n r ü c k h a l t l o s u n d u n b e ­<br />

d i n g t z u s t i m m e n , demaskieren sie sich<br />

alle <strong>und</strong> sämtlich: Sie sind Stützen der<br />

bourgeoisen Ausbeutungsgesellschaft, sind<br />

keine Organisationen, die den Proletarier<br />

den <strong>Weg</strong> zum Sozialismus weisen, sondern<br />

Werkzeuge des Staates, der s i e dazu gebraucht,<br />

um »ordentliche«, »gesetzliche«<br />

Verhältnisse zwischen Kapital <strong>und</strong> Arbeit<br />

zu schaffen; sie vernichten den Klassenkampf<br />

<strong>und</strong> sind Stützpfosten des Kapitalismus<br />

— d e s h a l b w e r d e n s i e g e d u l -<br />

det, d i e w e i l e s für e c h t e , r e v o l u ­<br />

t i o n ä r e G e w e r k s c h a f t s p r a x i s k e i n e<br />

D u l d u n g , k e i n g e s e t z l i c h g e w ä h r ­<br />

l e i s t e t e s K o a l i t i o n s r e c h t g i b t !<br />

Wer wird in diesem Kampfe zwischen<br />

proletarische Führung des Klassenkampfes<br />

<strong>und</strong> staatlichen Despotismus siegen? Wir<br />

sagen es ohne Zögern: Das kämpfende<br />

Proletariat! Sowohl in der Gegenwart, wie<br />

in der Zukunft, die überhaupt dem herrlichen<br />

Endsiege der vollständigen wirtschaftlichen<br />

<strong>und</strong> sozialen Befreiung gehört.<br />

Schon in Kürze werden wir die Wiederauferstehung<br />

der freien Organisationsbündnisse<br />

unserer tschechischen Kameraden<br />

berichten können, dessen dürfen Fre<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> Gegner gleicherweise gewiß sein! Und<br />

mit unerbittlicher Schärfe wird das tschechische<br />

Proletariat seinen Kampf weiterführen,<br />

bis es dem tyrannischen Gegner<br />

in all seinem gleißnerischen, gemeinen Brutalitätsformen<br />

j e n e n Nackenschlag wird<br />

versetzen können, der ihm die Vernichtung<br />

aller Ausbeutung <strong>und</strong> Unterdrückung, wie<br />

auch die freie Föderation seiner befreiten, sozialistischen<br />

Kommunen der Zukunft erringt!<br />

Gerade in gegenwärtigen Zeiten bedeutet<br />

es die Ablegung eines herrlichen<br />

Brudergelübdes des Internationalismus unserer<br />

Gefühle, wenn wir deutschösterreichischen<br />

Anarchisten unseren tschechischen<br />

Vorkämpfern es zuzurufen: W i r e n t ­<br />

b i e t e n e u c h u n s e r e w ä r m s t e S o l i ­<br />

d a r i t ä t , e s l e b e a u c h f e r n e r h i n d i e<br />

g e t r e u e W a f f e n b r ü d e r s c h a f t f ü r<br />

d i e g e m e i n s a m e n I d e a l e d e r Abs<br />

c h a f f u n g d e s K a p i t a l i s m u s u n d<br />

s t a t t d e s s e n E t a b l i e r u n g d e s F r e i ­<br />

b u n d e s d e r A n a r c h i e !<br />

*<br />

Über die Auflösung der tschechischen<br />

Gewerkschaftsföderation selbst entnehmen<br />

wir die folgenden Berichte der kapitalistischen<br />

Presse, die mit jenen der sozialdemokratischen<br />

insoferne nicht ganz übereinstimmen,<br />

als der Haß letzterer Presse subjektiver<br />

gefärbt ist denn sogar jener der<br />

Bourgeoisblätter.<br />

Die »Bohemia« schreibt:<br />

Die „Ceskä federace väech odboru" ( T s c h e ­<br />

chische Föderation aller Gewerkschaften), welche<br />

in Böhmen 70 Organisationen zählt <strong>und</strong> der e t w a<br />

7000 g e n o s s e n s c h a f t l i c h o r g a n i s i e r t e<br />

A r b e i t e r angehören, ist von der Statthalterei<br />

aufgelöst <strong>und</strong> die Ausschußmitglieder sind mit B e ­<br />

scheid der Polizeidirektion von der Auflösung in<br />

Kenntnis gesetzt worden.<br />

In den Gründen, aus denen die Auflösung erfolgte,<br />

heißt es:<br />

Die ganze Tätigkeit der Föderation, die später<br />

ihren Sitz nach P r a g verlegte, verfolgt, wie durch<br />

ihre Aktion • direkt nachgewiesen ist, a n a r c h i s ­<br />

t i s c h e Z i e l e z u e i n e r g e w a l t s a m e n U m ­<br />

w ä l z u n g d e r b e s t e h e n d e n ö f f e n t l i c h e n<br />

O r d n u n g u n d z u r P r o p a g i e r u n g a n a r ­<br />

c h i s t i s c h e r I d e e n ü b e r h a u p t , s o daß dieser<br />

Verein für den Staat gefährlich erscheint. Außerdem<br />

hat der Verein eine große Anzahl von Lokalorganisationen<br />

gegründet, ohne daß von dieser Gründung<br />

die gesetzliche Anmeldung erfolgt wäre. Mit<br />

Rücksicht auf diese erwähnten Umstände erscheint<br />

es als erwiesen, daß der erwähnte Verein nicht<br />

den rechtlichen Bedingungen entspricht, <strong>und</strong> sieht<br />

sich die Statthalterei mit Erlaß vom 6. August I. J.<br />

veranlaßt, seine weitere Tätigkeit zu sistieren.<br />

Eine nächtliche Razzia.<br />

In der Nacht des 10. August erschienen zum<br />

Teile nach Mitternacht in Z i z k o w in zahlreichen<br />

Wohnungen von Ausschußmitgliedern der Föderation<br />

Polizeibeamte in Begleitung von Detektivs <strong>und</strong><br />

Wachleuten, um genaue Durchsuchungen nach verbotenen<br />

Schriften vorzunehmen. Insbesondere die<br />

Wohnungen der bekannten tschechischen Anarchistenführer<br />

V o h r y z e k <strong>und</strong> K n o t e k , des Obmannes<br />

der aufgelösten Gewerkschaftsorganisation „Tonda"<br />

(Anton) R e h o ř <strong>und</strong> hauptsächlich das Redaktionslokale<br />

der „Kommuna", des Publikationsorganes<br />

des Verbandes, wurden auf das Genaueste untersucht<br />

<strong>und</strong> eine Menge von Büchern, Broschüren,<br />

Flugblättern <strong>und</strong> anderen Druckschriften, sowie<br />

viele Schriftstücke mit Beschlag belegt.<br />

Auch i n z a h l r e i c h e n P r o v i n z s t ä d t e n<br />

wurden solche Untersuchungen angeordnet. In<br />

K o s t e n bei Teplitz erschienen ein Kommissär <strong>und</strong><br />

eine Gendarmeriepatrouille in der Wohnung des<br />

tschechischen Bergarbeiters F r ü h a u f, um dort<br />

eine Hausdurchsuchung vorzunehmen ; es wurde eine<br />

g a n z e K i s t e m i t a n a r c h i s t i s c h e n S c h r i f ­<br />

t e n k o n f i s z i e r t . Den in der Provinz bestehenden<br />

Sektionen der „Ceskä federace" wurde von<br />

den Bezirkshauptmannschaften die Mitteilung zuteil,<br />

daß sie über Auftrag der Statthalterei aufgelöst seien.<br />

Der Sitz der nunmehr aufgelösten tschechischen<br />

Gewerkschaftsorganisation ist ursprünglich<br />

in B r u c h gewesen, wo auch Tonda Rehof früher<br />

ansässig war <strong>und</strong> v o n d i e s e r F ö d e r a t i o n<br />

w u r d e n n a h e z u s ä m t l i c h e K o h l e n a r b e i ­<br />

t e r s t r e i k s i m B r ü x e r K o h l e n r e v i e r a n g e ­<br />

z e t t e l t , gewöhnlich sogar gegen den Willen der<br />

dortigen sozialdemokratischen Organisation der<br />

Bergleute, weshalb sich diese beiden Verbände ununterbrochen<br />

befehdeten.<br />

* *<br />

*<br />

Einen höchst impertinenten Lügen- <strong>und</strong><br />

Schufterleartikel leistet sich das » P r a g e r<br />

T a g b l a t t « vom 14. August. Es ist ein<br />

Artikel, der, augenscheinlich von sozialdemokratischer<br />

Seite inspiriert, in diesem<br />

bourgeoisen Blatte erscheint, um einen indirekten<br />

Einfluß auf einen Prozeß auszuüben,<br />

vor dem der Kamerad Vohryzek sich<br />

befindet. Aus der aktuellen Berichterstattung<br />

des »Tagblattes« entnehmen wir das<br />

Folgende:<br />

„Die Organisation hatte von den f r a n z ö s i ­<br />

s c h e n A n a r c h i s t e n das Prinzip der „ d i r e k ­<br />

t e n A k t i o n * ' übernommen. Wie die „Federace"<br />

dieses Prinzip befolgte, ernellt aus folgender Zuschrift<br />

aus Brüx: Die Hauptagitation der in der<br />

„Federace" organisierten Bergarbeiter galt der Anz<br />

e t t e l u n g v o n S t r e i k s , wie sie das hiesige<br />

Kohlengebiet in den letzten Jahren nach H<strong>und</strong>erten<br />

aufweisen kann. Daß diese zumeist einen kläglichen<br />

Ausgang nahmen oder im Sande verliefen, ist<br />

lediglich darauf zurückzuführen, daß die Ausstände<br />

nicht gut vorbereitet, fast stets aus den nichtigsten<br />

Gründen förmlich über Nacht vom Zaune gebrochen<br />

wurden, weil die in der sozialdemokratischen<br />

„Union" organisierten, ruhiger denkenden Elemente<br />

der Bergarbeiterschaft in den meisten Fällen ihre<br />

Mithilfe verweigerten, <strong>und</strong> die „Anarchisten" selbst<br />

sich über die jeweilig gesteckten <strong>Ziel</strong>e, als Lohnforderungen<br />

etc. nicht einigen konnten. Wie gefährlich<br />

aber ihre Organisation für den gesamten nordwestböhmischen<br />

Bergbau hätte werden können,<br />

geht daraus hervor, daß sich die tschechisch-anarchistische<br />

Organisation auf sämtliche Gruben des<br />

Revieres erstreckt <strong>und</strong> mit der gesinnungsverwandten,<br />

ebenfalls anarchistischen Tendenzen huldigenden<br />

„Hornicka federace" (Bergarbeitergewerkschaft)<br />

die große Hälfte aller Bergarbeiter des Brüx-Bruch-<br />

Duxer Kohlenbeckens vereinigt. Dadurch wären die<br />

Schachtverwaltungen unter Umständen gezwungen<br />

gewesen, die Förderung überhaupt einzustellen, da<br />

bei dem Ineinandergreifen der Arbeiten ein Betrieb<br />

mit derart reduzierten Belegschaften ausgeschlossen<br />

gewesen wäre. Die übrigen nicht oder auf sozialdemokratischer<br />

Basis organisierten Arbeiter hätten<br />

also unter Umständen ausgesperrt werden müssen,<br />

wodurch im Brüxer Bezirke allein etwa 11.000<br />

Bergleute zum Feiern <strong>und</strong> mindestens 30 von 35<br />

der größeren Schächte zur Arbeitseinstellung gezwungen<br />

worden wären. Die Duxer <strong>und</strong> Biliner<br />

Reviere vermehren diese Ziffer um mehr als die<br />

Hälfte.<br />

Eine weit ernstere Bedeutung aber muß der<br />

nunmehr aufgelösten anarchistischen Organisation<br />

deshalb beigelegt werden, weil sie die sogenannte<br />

P r o p a g a n d a der T a t i m K l e i n e n auf ihre<br />

Fahnen geschrieben hatte. Unter dem Schlagworte<br />

„Přima akze" (direkte Aktion) pflegte man sich bei<br />

vorkommenden Differenzen in einem Betriebe nicht<br />

erst in langwierige Unterhandlungen mit dem Unternehmer<br />

einzulassen, sondern man suchte durch im<br />

geheimen durchgeführte B e s c h ä d i g u n g v o n<br />

M a s c h i n e n , Z e r s t ö r u n g v o n T r a n s m i s ­<br />

s i o n e n etc. den g e s a m t e n B e t r i e b g e w a l t ­<br />

s a m z u m S t i l l s t ä n d e z u bringen. S o wurden,<br />

um aus vielen Fällen nur einige wenige herauszugreifen,<br />

bekanntlich gelegentlich des letzten T e x ­<br />

tilarbeiterausstandes i n der P i c k s c h e n S p i n ­<br />

n e r e i i n O b e r l e u t e n s d o r f , die auch anarchistische<br />

Arbeiter beschäftigte, sämtliche Antriebseile<br />

mit Salpeter- <strong>und</strong> Schwefelsäure Übergossen (der<br />

Schaden betrug 6000 K), ein anderes Mal brannte<br />

früh im Mischsaale die Wolle, die am Abende zuvor<br />

gemischt worden war, <strong>und</strong> nur dem raschen<br />

Eingreifen der Feuerwehr war es zu danken, data<br />

das Feuer gedämpft werden konnte, dann wieder<br />

fand man in einem Transmissionslager ein Quantum<br />

Schmirgel, das bezwecken sollte, daß das Lager<br />

heiß laufe, ein andermal wurde bei der elektrischen<br />

Lichtleitung ein Defekt konstatiert, von böswilliger<br />

Hand herbeigeführt, der Kurzschluß <strong>und</strong> erhöhte<br />

Feuergefahr zur Folge hatte. In der chemischen<br />

Fabrik in Aussig wieder wurden an einem Dampfkessel<br />

bübische Demolierungen vorgenommen, die<br />

dann kaum zu reparieren waren. Die Recherchen<br />

nach dem Täter blieben in allen Fällen trotz ausgesetzten<br />

hohen Belohnungen ergebnislos. Derartige<br />

Anschläge waren immer auf die Umtriebe ausländischer<br />

Anarchisten zurückzuführen. So trieb sich<br />

im Brüxer <strong>und</strong> Brucher Bezirke der A n a r c h i s t<br />

V o h r i z e k herum; im Duxer Bezirke wurde der<br />

aus allen Staaten bereits ausgewiesene russische<br />

Anarchist B e r g e r wegen gleicher Umtriebe aufgefaßt<br />

usw. Diese Art Propaganda wird natürlich<br />

nicht in Versammlungen, sondern von M<strong>und</strong> zu<br />

M<strong>und</strong> betrieben, so daß die Behörde aller Behelfe<br />

benommen ist, sie hintanzuhalten.<br />

Wie uns aus Dux berichtet wird, wurde auch<br />

bei dem Anarchisten K r e t s c h y in Haan eine<br />

Hausdurchsuchung vorgenommen <strong>und</strong> viel belastendes<br />

Material vorgef<strong>und</strong>en. Kretschy wurde durch<br />

die Gendarmen sofort in Haft genommen."<br />

Wir gratulieren den braven, »ruhiger<br />

denkenden Elementen« der sozialdemokratischen<br />

Gewerkschaft zu obigem Lobe aus<br />

bourgeoisem M<strong>und</strong>e! Echte, sozialistische<br />

Klassenkämpfer, in der Tat. -<br />

Sehr bemerkenswert ist jedoch die<br />

Konstatierung des »Prager Tagblattes«, daß<br />

die angeblich alle Streiks verlierende Gewerkschafts-Föderation<br />

— wer lacht da <strong>und</strong><br />

denkt dabei nicht an Verwechslung mit den<br />

sozialdemokratischen Gewerkschaften? —<br />

kraft ihrer Organisationstechnik fast sämtliche<br />

Grubenreviere in ihren Händen hielt<br />

<strong>und</strong> einen so machtvollen Druck auf die<br />

Kohlenbarone auszuüben imstande war,<br />

daß die » n i c h t oder auf sozialdemokratischer<br />

Basis organisierten Arbeiter« h ä t t e n<br />

a u s g e s p e r r t w e r d e n m ü s s e n , wenn<br />

unsere Föderation solches gewollt hätte.<br />

Diese Konstatierung ist ungemein wichtig:<br />

Sie läßt nämlich die uns privat zugegangene<br />

Mitteilung, die schließlich im » T s c h e c h i ­<br />

s c h e n S l a v e n « auch öffentlich ausgesprochen<br />

ward, daß nämlich die Sozialdemokraten<br />

an der Auflösung der tschechischen<br />

Gewerkschafts-Föderation »ihre<br />

H a n d m i t i m S p i e l e h a t t e n « , eine eigenartig<br />

logische Begründung finden. Wir<br />

enthalten uns vorläufig jeder weiteren Meinung,<br />

werden jedoch diese Angelegenheit<br />

genau verfolgen.<br />

*<br />

Die »Bohemia« meldet des weiteren<br />

in ihrer Nummer 222 wie folgt:<br />

In jenen Provinzstädten, in welchen Sektionen<br />

der aufgelösten „Ceská F e d e r a c e všech odborü"<br />

bestanden haben, wurden die Hausdurchsuchungen<br />

bei den Ausschußmitgliedern dieser Sektionsvereine<br />

fortgesetzt <strong>und</strong> zahlreiche Druckschriften <strong>und</strong> Korrespondenzen<br />

mit Beschlag belegt. Sie wurden sofort<br />

von den einzelnen Bezirkshauptmannschaften<br />

nach P r a g gesandt. Einige solcher sehr umfangreicher<br />

Pakete waren bereits gestern nachmittags<br />

im Präsidium der Polizeidirektion eingetroffen <strong>und</strong><br />

werden nunmehr in der staatspolizeilichen Abteilung<br />

der hiesigen Statthalterei, wohin auch die bei den<br />

nächtlichen Wohnungsdurchsuchungen in Žižkow<br />

konfiszierten Schriftstücke gebracht wurden, einer<br />

gründlichen Sichtung unterzogen werden.<br />

*<br />

Mögen die Herren nur suchen, mögen<br />

sie sogar finden — wir vergönnen ihnen<br />

dieses billige Vergnügen gerne. Aber wenn<br />

sie glauben, daß sie damit die tschechische<br />

Gewerkschafts-Föderation untergraben ha-


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Österreich.<br />

* Nr. 16 wurde wieder konfisziert.<br />

*<br />

* Rückwärts! Rückwärts! Die reformative,<br />

tarifvertragswütige Gewerkschaftsbewegung Deutschlands<br />

<strong>und</strong> Österreichs hat vernichtende Niederlagen<br />

erlitten. Es war uns ja klar, daß diese von verzopften<br />

<strong>und</strong> senilen Beamten, deren oberster Gr<strong>und</strong>satz<br />

die Ausgleichsduselei ist, für einen energischen<br />

Kampf nicht zu haben sind, doch nie hätten wir<br />

vermutet, daß derartiges möglich ist, was wir die<br />

letzten Wochen erlebten.<br />

Die Verantwortlichen — so nennen sie sich<br />

wie zum Hohn der rechtlosen Mitgliedschaft —<br />

haben gehandelt als feige, jedes proletarischen Bewußtseins<br />

entmannte Kreaturen. Doch lassen wir<br />

die Tatsachen sprechen. In Stettin entstand mit den<br />

Nietern ein Konflikt. Von denselben wurden Überst<strong>und</strong>en,<br />

Überst<strong>und</strong>en bis zur physischen Unmöglichkeit<br />

verlangt, die sie auch leisteten so lange es<br />

eben ging. Diese wurden endlich verweigert. Nach<br />

Unterhandlungen mit der Werftdirektion, die ohne<br />

Resultat verliefen, verließ ein Teil der Nieter das<br />

Werk zur normalen Zeit, worauf seitens der Werftleitung<br />

die 8000 Mann zählende Arbeiterschaft ausgesperrt<br />

wurde. Weiter drohte die Unternehmerorganisation<br />

mit der Aussperrung der gesamten<br />

Werftarbeiter Deutschlands, das sind 50000 Mann.<br />

Endlich beschäftigte sich der Gesamtverband deutscher<br />

Industrieller mit der Sache, indem der Antrag<br />

vorlag, etwa 500000 Mann in ganz Deutschland auszusperren.<br />

Die Verhandlungen der Nieter mit der Werftdirektion<br />

waren resultatlos, da diese bedingungslose<br />

Unterwerfung forderte. Die knieweichen Verbandsleiter<br />

begannen nun ihre Arbeit, um die Nieter <strong>und</strong><br />

die mit ihnen ausgesperrten Arbeiter geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

geknebelt der Unternehmerorganisation zu Füßen<br />

zu legen.<br />

Nachstehend gedruckte Stellen sind wörtlich<br />

dem österreichischen„Metallarbeiter" entnommen,<br />

was wir ausdrücklich vermerken.<br />

Die Verbandsleiter boten alles auf, um<br />

die Nieter zur Wiederaufnahme der Arbeit zu<br />

den von der Werftdirektion gestellten Bedingungen<br />

zu veranlassen. Die Vertreter sämtlicher<br />

in Betracht kommender Verbände nahmen gegen<br />

die Nieter Stellung! Der Metallarbeiterverband<br />

gab ihnen bekannt, daß sie auf weitere Unterstützung<br />

nicht zu rechnen hätten. Formell berief<br />

der Verband sich dabei auf das Statut, durch<br />

welches Aussperrungen nicht durch Forderungen<br />

beantwortet werden dürfen. Trotzdem: die<br />

Nieter beharrten auf ihren Forderungen.<br />

Nun kamen stärkere Mittel zur Anwendung.<br />

Des Metallarbeiterverbandes Hauptvorstandsmitglied,<br />

Genosse R e i c h l , der nach<br />

Stettin geeilt war, hat dort am Donnerstag eine<br />

sehr energische K<strong>und</strong>gebung gegen die Nieter<br />

veröffentlicht. Er bezeichnete ihr Verhalten als<br />

wider Treu <strong>und</strong> Glauben, als Verstoß gegen<br />

das Organisationsstatut <strong>und</strong> gegen die gewerkschaftliche<br />

Disziplin; weiter machte er ihnen<br />

den Vorwurf der Unklugheit, der Unkollegialität<br />

<strong>und</strong> Rücksichtslosigkeit. Schließlich erklärte er<br />

namens der Organisation den Nieterstreik für<br />

beendet <strong>und</strong> forderte zur Wiederaufnahme der<br />

Arbeit auf. Am 13. August fand in Hamburg<br />

eine Konferenz der Werkstattsvertrauensleute<br />

der Werften aus Hamburg, Bremerhaven, Rostock,<br />

Tönning, Bremen, Harburg, Flensburg,<br />

Elbing, Kiel, Lübeck <strong>und</strong> Emden statt, die nach<br />

längerer Besprechung der Gesamtlage eine Resolution<br />

votierte, in der zum Schluß die bestimmte<br />

Erwartung ausgesprochen wurde, daß<br />

die Nieter das Angebot der Werftdirektion akzeptieren<br />

<strong>und</strong> den Kampf dadurch beenden<br />

werden. Eine sich dieser Konferenz anschließende<br />

Sitzung der Vertretungen der Zentralvorstände<br />

nahm nachstehende Entschließung an:<br />

„Die Konferenz der Zentralvorstände ist<br />

nach reiflicher Prüfung der Angelegenheit zu<br />

der Überzeugung gekommen, daß die Wiederaufnahme<br />

der Arbeit auf dem „Vulkan" seitens<br />

aller Gewerkschaften im Interesse der gesamten<br />

beteiligten Organisationen <strong>und</strong> Arbeiter notwendig<br />

ist."<br />

Alle diese Willensk<strong>und</strong>gebungen haben<br />

aber nicht vermocht, eine Sinnesänderung der<br />

Nieter herbeizuführen. Am Donnerstag nachmittags<br />

beschlossen sie vereint, im Streik zu<br />

verharren, am Freitag nicht zur Arbeitsaufnahme<br />

sich zu melden. Und der Beschluß wurde auch<br />

durchgeführt; nur unorganisierte Nieter, 80 an<br />

der Zahl, fanden sich am Freitag früh zur Arbeit<br />

auf der „Vulkan"-Werft ein. Fast muß man<br />

sagen: merkwürdiger Weise zeigten die Ausgesperrten<br />

keine Empörung gegen die Nieter!<br />

In einer am Donnerstag abends abgehaltenen<br />

Versammlung der Ausgesperrten wurde eine<br />

Abstimmung darüber vorgenommen, ob man<br />

die Nieter für verpflichtet halte, den Streik zu<br />

beenden. Ein großer Teil der Anwesenden enthielt<br />

sich der Stimme <strong>und</strong> von den Abstimmenden<br />

erklärte die Majorität sich mit der Haltung<br />

der Nieter einverstanden.<br />

Die aufgewendeten Zwangsmittel blieben nicht<br />

wirkungslos. Zum Schlüsse beugten sich die Nieter<br />

den Machtmitteln der von ihnen geschaffenen Organisation,<br />

der Brutalität der von ihnen gewählten<br />

<strong>und</strong> besoldeten Führer <strong>und</strong> nahmen die Arbeit auf.<br />

Ein herrlicher Erfolg der Gewerkschaftsdisziplin<br />

!<br />

Achttausend Menschen müssen zu Kreuze<br />

kriechen, weil eine bürokratisch verblödete Leitung<br />

nicht weiß, daß eine Aussperrung von einer halben<br />

Million Menschen nur mit dem Generalstreik beantwortet<br />

werden kann, sollen nicht die Arbeiter<br />

dauernd der Unternehmerwillkür ausgeliefert sein.<br />

Zwei oder drei Tage Generalstreik in Deutschland<br />

hätten die Unternehmer zur Raison gebracht<br />

<strong>und</strong> ihnen die entsprechende Niederlage bereitet.<br />

Anstatt dessen ordnete die Vertretung der<br />

Arbeiter an:<br />

1. Bedingungslose Unterwerfung der<br />

Arbeiter;<br />

2. lieferte sie gegen ihre eigenen Mitglieder<br />

Streikbrecher;<br />

3. verweigerte sie die von den Arbeitern<br />

selbst gesammelten Mittel;<br />

4. heimste sie die Lobsprüche der gesamten<br />

kapitalistischen P r e s s e ein.<br />

Wenn letzterer Umstand diese Verräter von<br />

Arbeiterinteressen nicht veranlaßt, von der Bildfläche<br />

zu verschwinden, dann kann man ruhig sagen: die<br />

Scham ist zu den H<strong>und</strong>en geflohen.<br />

Als die famose Leitung nur 80 Streikbrecher<br />

gegen ihre eigene Mitgliedschaft fand, forderte die<br />

Unternehmerpresse zur Lieferung weiterer Streikbrecher<br />

auf. Wir denken, dieser eine Fall charakterisiert<br />

so recht die Wahlverwandtschaft dieser<br />

gleichwertigen Faktoren.<br />

Nun zu Österreich. In der Brünner Kammgarnspinnerei<br />

standen die Textilarbeiter im Streik, da<br />

der Vertrauensmann gemaßregelt wurde. Da die<br />

Arbeiter in die geforderte bedingungslose Aufnahme<br />

nicht einwilligten, wurde mit der Aussperrung in<br />

42 Fabriken gedroht.<br />

Sofort beeilten sich die „Verantwortlichen"<br />

dem Willen der Unternehmer zum Durchbruch zu<br />

verhelfen. Nach geschäftiger Hin- <strong>und</strong> Herrederei<br />

wurde die Wiederaufnahme der Arbeit in der Fabrik<br />

beschlossen.<br />

Nach 5 Tagen wurde das Einigungsprotokoll<br />

seitens der „Arbeiterzeitung" veröffentlicht. Nun<br />

höre <strong>und</strong> staune Arbeiterschaft Österreichs <strong>und</strong> bew<strong>und</strong>ere<br />

die herrlichen Erfolge deiner Führer. Der<br />

Spinner Bartosch — der gemaßregelte Vertrauensmann<br />

verzichtet auf die Wiederaufnahme im Betrieb.<br />

Weiteres besagt ein Protokoll:<br />

„Angesichts der vorherrschenden Erregung<br />

unter der Arbeiterschaft der Kammgarnspinnerei in<br />

Brünn über die angeblich u n g e r e c h t f e r t i g t e<br />

E n t l a s s u n g e i n e s A r b e i t e r s , welche ausschließlich<br />

wegen seiner Zugehörigkeit zur Organisation<br />

erfolgt sein soll, wird, um die Herbeiführung<br />

friedlicher Verhältnisse zu ermöglichen, nachstehendes<br />

vereinbart:<br />

1. Die Brünner Kammgarnspinnerei verpflichtet<br />

sich, vor jeder wegen schlechter Arbeit zu erfolgenden<br />

Kündigung — ausgenommen sind selbstverständlich<br />

jene Fälle, in denen ein Arbeiter auf<br />

Gr<strong>und</strong> der Gewerbeordnung <strong>und</strong> der Arbeiterordnung<br />

sofort entlassen werden kann — jeden<br />

Arbeiter durch die F a b r i k s l e i t u n g d r e i m a l<br />

i n a l l e r F o r m z u v e r w a r n e n .<br />

2. Es wird wiederholt, daß sich die Direktion<br />

der Kammgarnspinnerei <strong>und</strong> die Textilarbeiterorganisation<br />

dafür verbürgen, daß das' mit der Arbeiterschaft<br />

getroffene Übereinkommen genauestens<br />

eingehalten wird.<br />

3. Der Verband der Wollindustriellen Brünns<br />

gibt die Zusicherung, daß von seiner Seite der<br />

A u f n a h m e d e s S p i n n e r s B a r t o s c h i n e i n e<br />

a n d e r e F a b r i k k e i n e H i n d e r n i s s e i n den<br />

W e g g e l e g t w e r d e n .<br />

4. Die Kammgarnspinnerei wird der Forderung,<br />

die Klage auf Ersatz des durch Nichteinhaltung der<br />

Kündigungsfrist verursachten Schadens zurückzuziehen,<br />

entsprechen, sobald die Gegenklage auf<br />

Ersatz des durch die Nichtzulassung zur Nachtschicht<br />

entgangenen Lohnes zurückgezogen sein wird.<br />

5. Wird die Arbeit in der Kammgarnspinnerei<br />

am Donnerstag oder spätestens am Freitag dieser<br />

Woche wieder aufgenommen, so verpflichten sich<br />

die der Unternehmerorganisation angehörenden<br />

Fabrikanten, am 22. d. die Kündigung zurückzuziehen,<br />

so daß die Arbeit Montag den 24. d. unter den<br />

bisherigen Bedingungen fortgesetzt wird."<br />

Wer diese herrlichen Erfolge der Gewerkschaftsmacher<br />

nicht sieht, der ist ein Narr oder ein<br />

Organisationszerstörer. Und wer behauptet, daß die<br />

Arbeiter der Brünner Kammgarnspinnerei nun umsonst<br />

durch Wochen im Streik gestanden sind <strong>und</strong><br />

nunmehr dem Willen der Unternehmer sich beugen<br />

mußten, der begreift eben die höhere Taktik <strong>und</strong><br />

Klugheit der „Verantwortlichen" nicht.<br />

Wir hoffen, daß die Fälle, wo seitens der<br />

bezahlten Führer die Geschäfte der Unternehmer<br />

besorgt werden, den Arbeitern die Augen öffnen<br />

<strong>und</strong> dieselben endlich daran gehen, eine Reform<br />

anzubahnen, damit in den Organisationen proletarische<br />

Kampfmittel zur Anwendung kommen.<br />

Übergroß ist der Sumpf, in dem die Arbeiterbewegung<br />

dank der Tätigkeit ihrer Führer sich befindet <strong>und</strong><br />

die letzten zur Entfaltung gelangten Blüten heißen<br />

Stettin <strong>und</strong> Brünn.<br />

Sie werden aber ein Ansporn für die Entwicklung<br />

einer revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />

sein, weil die Arbeiter jeden Tag deutlicher<br />

sehen, wohin die schwächliche, jeden Kampf sorgfältig<br />

vermeidende Tätigkeit der reformistischen<br />

Gewerkschaften führt. Unternehmerbrutalität kann<br />

nie mit Harmonieduselei bekämpft werden. E. H.<br />

Deutschland.<br />

„Hammer", p a r t e i l o s e s Organ für nat<br />

i o n a l e s L e b e n nennt sich eine von Theod. Fritsch<br />

in Leipzig redigierte Zeitschrift, die trotz mancher<br />

abweichender <strong>und</strong> wichtiger Unterschiede von unserem<br />

kommunistisch-anarchistischen Standpunkte<br />

doch in so unabhängigem <strong>und</strong> in vielem so edlem<br />

Geiste geschrieben ist, daß ihre Lektüre nur empfohlen<br />

werden kann. Wir treten damit ein in jene<br />

Schichte der Mittelklasse Deutschlands, die über<br />

dem Gewinnmaß ihrer rein pekuniären Interessen<br />

sich merkwürdigerweise noch ein schönes Maß<br />

großzügiger, deutscher Ideale bewahrt hat. So tritt<br />

das Organ dieser Gemeinde, die sich aus kulturell<br />

strebenden Elementen zusammensetzt, gegenwärtig<br />

für eine Idee ein, die auch in unseren Kreisen gelegentlich<br />

<strong>und</strong> mächtig angeregt wird. Und wie<br />

eigenartig, daß die Leute, die eine „neue Lebensgemeinschaft"<br />

gründen wollen, noch nicht einsehen,<br />

daß sie in geistigem Streben so außerordentlich<br />

nahe mit dem Anarchismus verwandt sind, den sie<br />

aber, wie es heutzutage leider meistenteils der Fall<br />

ist, theoretisch nicht begreifen, da wir sonst nicht<br />

einsehen können, wie sie ihn nicht propagieren<br />

würden! Ist doch die Gr<strong>und</strong>lage ihrer zu begründenden<br />

Kolonie eine durchaus auarchistisch-freiwillige,<br />

ganz ebenso, wie wir, als kommunistische<br />

Anarchisten, sie uns vorstellen, die wir davon<br />

überzeugt sind, daß aus der natürlichen Freiheit<br />

der Mitglieder einer jeden selbstverwaltenden Vereinigung<br />

der Kommunismus sich stets als das zweckmäßigste<br />

Lebensprinzip gerade bei gleichzeitiger<br />

Betätigung anderer wirtschaftlicher Prinzipien durchringen<br />

wird <strong>und</strong> wir als Anarchisten nur in diesem<br />

Sinne auch Kommunisten sind.<br />

Auszugsweise bieten wir den Entwurf der<br />

„ E r n e u e r u n g s - G e m e i n d e " dar, die schon<br />

in einigen Wochen verwirklicht werden soll; wer<br />

sich des näheren darüber orientieren will, wende<br />

sich an die obige Adresse:<br />

„Mit der Bildung einer neuen Lebens-Gemeinschaft<br />

im Hammer-Sinne wird es Ernst. Auf die<br />

wiederholten Aufrufe hin, die im Anzeige-Teil des'<br />

Hammer erschienen, haben sich bisher 60 Personen<br />

gemeldet, die sich an dem Unternehmen beteiligen<br />

wollen. Einige davon besitzen mäßige Mittel, die<br />

sie als Genossenschafts-Kapital in das Unternehmen<br />

hinein zu geben beabsichtigen; Andere<br />

sind mittellos <strong>und</strong> stellen nur ihre Arbeitskraft zur<br />

Verfügung, erklären aber auf Vorhalt von dem<br />

Ernst <strong>und</strong> der Schwierigkeit des Schrittes, daß sie<br />

sich vor keiner Arbeit scheuen <strong>und</strong> ihre Lebensansprüche<br />

auf ein bescheidenes Maß herabstimmen<br />

wollen. Alle sind von dem Gefühl durchdrungen,<br />

daß ihnen das heutige ausartende Kulturleben keine<br />

Befriedigung mehr gewähren kann <strong>und</strong> keinerlei<br />

Sicherheit für ihre Zukunft <strong>und</strong> für das ges<strong>und</strong>e<br />

Gedeihen ihres Geschlechts bietet. Sie sind darum<br />

entschlossen, ein Leben auf neuen vernünftigeren<br />

Gr<strong>und</strong>lagen zu beginnen.<br />

Es sind nun bereits Unterhandlungen eingeleitet<br />

wegen Erwerb eines geeigneten Geländes.<br />

Einige Abgesandte der neuen Gemeinde haben in<br />

den letzten Wochen Holstein, Mecklenburg, Pommern<br />

<strong>und</strong> Westpreußen bereist, um eine Anzahl<br />

Güter zu besichtigen, die zum Kauf angeboten<br />

waren. Da die Siedelung den Charakter einer<br />

Gartenbaukolonie tragen soll, so wird es bei dem<br />

Landerwerb wesentlich auf zweierlei ankommen:<br />

erstens auf einen mindestens mittelguten, nicht zu<br />

schweren Boden <strong>und</strong> dann auf eine landschaftlich<br />

reizvolle Lage in einer nicht zu dicht bevölkerten<br />

Gegend, wo der jungen Gemeinde eine gewisse<br />

Ausdehnungsfähigkeit gesichert ist. Solchen Ansprüchen<br />

genügen nur zwei oder drei der besichtigten<br />

Güter, mit deren Besitzern Kaufverhandlungen<br />

im Gange sind.<br />

Wenn nun auch hohe ideale <strong>Ziel</strong>e das feste<br />

geistige Band für die neue Gemeinde bilden sollen,<br />

so ist doch vor allem nötig, sie auf solide w i r t -<br />

s c h a f t l i c h e Gr<strong>und</strong>lagen zu stellen. Und das<br />

kann in folgender Weise geschehen.<br />

Für die Bewirtschaftung des Bodens sollen<br />

zwei Möglichkeiten vorgesehen sein: Gemein Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Einzelwirtschaft. Diejenigen Siedler, die<br />

in Gartenbau <strong>und</strong> Landwirtschaft genügend erfahren<br />

sind <strong>und</strong> Mittel genug besitzen, um einen eigenen<br />

Betrieb ins Leben zu rufen, pachten von der Gemeinde<br />

ein Stück Gelände in beliebiger Größe <strong>und</strong><br />

bestellen es in ihrer Weise. Soweit sie überschüssige<br />

Erzeugnisse abzusetzen haben, steht es<br />

ihnen frei, sich in <strong>und</strong> außerhalb der Kolonie Absatz<br />

zu suchen. Sie treiben also völlige Privatwirtschaft,<br />

nur daß ihr Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden der Gemeinde<br />

gehört <strong>und</strong> der übliche Pachtschilling zu<br />

zahlen ist. Gedeiht diese Einzelwirtschaft <strong>und</strong> hat<br />

der Besitzer das Bedürfnis, seinen Betrieb zu vergrößern,<br />

so kann er noch weiteres Land dazu<br />

pachten. Umgekehrt: findet der Einzelunternehmer<br />

nicht seine Rechnung im selbständigen Betriebe, so<br />

kann er seinen Pachtvertrag kündigen <strong>und</strong> sein


Land ganz oder teilweise der Gemeinde zurückgeben.<br />

(Über die Verrechnungsweise für die auf<br />

dem Gelände aufgeführten Anlagen usw. bedarf es<br />

besonderer Vereinbarungen.)<br />

Diejenigen Siedler aber, die weder Mittel<br />

noch Unternehmungsgeist für einen Eigenbetrieb<br />

besitzen, beteiligen sich mit ihrer Arbeitskraft am<br />

Gemeinbetriebe <strong>und</strong> haben Anteil an dessen Ertrag.<br />

So ist ein doppelseitiges System geschaffen, das<br />

nach allen Seiten hin eine Entwicklungsmöglichkeit<br />

gestattet, sowohl dem individuellen wie dem sozialen<br />

Gedanken. Der Arbeiter im Gemeinbetriebe<br />

hat jederzeit das Recht, durch Pachtung zum Eigenbetrieb<br />

überzugehen; dem Eigenbetriebsinhaber<br />

andererseits steht die Möglichkeit offen, wenn ihm<br />

die Last <strong>und</strong> Sorge zu groß wird, die Eigenwirtschaft<br />

aufzugeben <strong>und</strong> sich dem Gemeinbetriebe<br />

anzuschließen. Es ist ihm auf jede Weise ein W e g<br />

gegeben, sich seine Zukunft zu sichern, so oder so.<br />

Er braucht nicht zum hoffnungslosen Bettler herab<br />

zu sinken, wenn er nicht mehr die Kraft besitzt,<br />

wirtschaftlich auf eigenen Füßen zu stehen.<br />

Diese Mischung von individualistischem <strong>und</strong><br />

kommunistischem Betrieb läßt die größte Mannigfaltigkeit<br />

zu <strong>und</strong> erlaubt gleichsam Jedem, „nach<br />

seiner Fasson selig zu werden". Die individuelle<br />

Anlage wird es entscheiden, ob Jemand sich bei<br />

dem individualistischen oder dem kommunistischen<br />

Prinzip glücklicher fühlt. Vielfach wird sich auch<br />

hier eine Doppelseitigkeit herausbilden: die meisten<br />

werden gern ein Stückchen Gartenland für den<br />

Eigenbetrieb besitzen wollen, im übrigen aber ihre<br />

überschüssige Arbeitskraft im Gerneinbetriebe verwerten.<br />

Es wird dies ungefähr jenes Verhältnis<br />

sein, wie heute der Kleinbauer oder Büdner sein<br />

eigenes Feld bestellt <strong>und</strong> in seiner Freizeit mit<br />

den Seinigen gegen Lohn noch auf dem Rittergut<br />

arbeiten geht. Ein großer Unterschied ist nur der,<br />

daß in der neuen Gemeinde Jeder auch an dem<br />

Ertrage der Arbeit teilnimmt, ihm somit der Mehrwert<br />

seiner Arbeit nicht verloren geht. Denn er<br />

arbeitet auch im Gemeinbetriebe nicht für andere,<br />

sondern zu seinem Teile für sich.<br />

Es müßte also merkwürdig zugehen, wenn die<br />

neue Siedelung, auf so vernünftigen Gr<strong>und</strong>lagen<br />

errichtet <strong>und</strong> von vernünftigen praktischen Männern<br />

geleitet, nicht gedeihen wollte. Die bisherigen teilweisen<br />

Fehlschläge beweisen nichts, weil einige<br />

Kolonien schon durch die Phantastik ihrer B e -<br />

gründer den Todeskeim in sich trugen <strong>und</strong> überhaupt<br />

kein ges<strong>und</strong>es Wirtschaftsprinzip zur Gr<strong>und</strong>lage<br />

hatten. Meist waren es unpraktische Köpfe,<br />

die ein bis ins Kleinste ausgearbeitetes Paragraphensystem<br />

aufstellten <strong>und</strong> dann das wirtschaftliche<br />

Leben in die so geschaffenen Zwangsformen pressen<br />

wollten, anstatt umgekehrt nach allmählich sich<br />

entwickelnden Lebensverhältnissen die genaueren<br />

geistigen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Leitsätze zu bilden.<br />

— Das Leben paßt sich keiner Formel an, sondern<br />

die Formel muß sich dem Leben anpassen.<br />

Aus der Gemeinde kann das erwachsen, was<br />

Faust in seiner Sterbest<strong>und</strong>e nur in weiter Ferne<br />

schaute: „ e i n f r e i e s V o l k a u f f r e i e m<br />

G r u n d e."<br />

* Eine außerordentlich rege Propaganda entfaltet<br />

gegenwärtig unsere deutsche Bruderorganisation,<br />

die „Anarchistische Föderation". In überraschend<br />

vielen Städten finden Massenversammlungen<br />

statt, in denen unsere Genossen Sepp<br />

Oerter, Franböse, R. Lange, S. Landauer Vorträge<br />

halten oder gehalten haben. Insbesondere erfreulich<br />

ist es, berichten zu können, daß manch neue Ortschaft,<br />

manch neues Gebiet sich dieser zähen Agitationsarbeit<br />

erschloß. Wir wünschen den Kameraden<br />

ausgezeichnete Erfolge in. ihrem ernsten Bemühen<br />

ums gemeinsame Ideal. a. p.<br />

Australien.<br />

Seit ich vor ungefähr zwei Jahren in der<br />

New-Yorker „Freiheit" es versuchte, den Genossen<br />

die Lage der Arbeiter dahier zu schildern, hat sich<br />

so manches vollzogen, was selbst für einen Optimisten<br />

kaum glaublich war.<br />

Augenblicklich ist zwischen den Lohnarbeitern<br />

in dem S.'aatenb<strong>und</strong> Australiens viel Unruhe. Bessere<br />

Löhne <strong>und</strong> menschlichere Bedingungen werden von<br />

allen arbeitenden Schichten gefordert. Kleine Streiks<br />

sind an der Tagesordnung. Manche werden gewonnen<br />

(die Bäcker von Broken Hill gewannen<br />

ohne Ausstand die Beseitigung der Nachtarbeit),<br />

andere gehen elendiglich verloren, hauptsächlich<br />

gerade diejenigen, die einer straffen Zentralleitung<br />

unterworfen sind. So balgen sich die Hafenarbeiter<br />

<strong>und</strong> Kohlenmänner von Neu Südwales schon seit<br />

Monaten mit dem Ausbeuterpack herum, ohne zu<br />

irgend welchem Resultat zu kommen. Sind es die<br />

Arbeiter, sind es ihre Führer, die eine solch lächerliche<br />

Kampfestaktik gutheißen? Schiedsgerichtliche<br />

Urteile mußten eines nach dem anderen verworfen<br />

werden, wollten die Arbeiter sich nicht eigenhändig<br />

den Strick um den Hals legen. Da man nun zu<br />

keinem Resultat kam <strong>und</strong> die jüngeren Bergleute<br />

mit direkter Aktion vorgingen, d. h. eben nicht zur<br />

Arbeit kamen, wann Ihnen ein Schiedsspruch nicht<br />

gefiel, so erließ die Bergarbeiter-Union durch ihr<br />

Zentralkomitee in dienstbereiter Fre<strong>und</strong>schaft zu<br />

den — Kapitalisten, folgende „demokratische" Resolutionen<br />

:<br />

1. Irgend ein Mitglied oder irgend welche<br />

Mitglieder, die die Arbeit niederlegen, ohne sich<br />

um die Verbandsvorschriften zu bekümmern, nach<br />

der er seine Angelegenheit seiner Gewerkschafts-<br />

zentrale vorzulegen hat, damit dieselbe konstitutionell<br />

behandelt wird — soll von nun an zur Zahlung<br />

von 2 Pf<strong>und</strong> Sterling ( 4 8 Kronen) Geldstrafe<br />

verurteilt, suspendiert, eventuell aus der Gewerkschaft<br />

ausgeschlossen werden.<br />

2. Irgend ein Mitglied (oder irgend welche<br />

unserer Mitglieder), der eine Arbeitsniederlegung<br />

verursacht, wird aus der Gewerkschaft ausgeschlossen<br />

u n d a n d e r e M i t g l i e d e r d e r s e l b e n<br />

G e w e r k s c h a f t s o l l e n o h n e Z ö g e r n d i e<br />

A r b e i t s p l ä t z e d e s A u s s t ä n d i g e n e i n -<br />

n e h m e n .<br />

3. Irgend eine Lokalgewerkschaft, die die<br />

obigen Verfügungen der Zentralexekutive nicht ausführt,<br />

soll zur Zahlung einer Strafsumme von nicht<br />

weniger als 15 Pf<strong>und</strong> Sterling (360 Kronen) <strong>und</strong><br />

nicht mehr als 50 Pf<strong>und</strong> Sterling (1200 Kronen)<br />

verurteilt werden.<br />

4. Irgend ein individuelles Mitglied, das sich<br />

den obigen Verfügungen nicht unterwirft, wird zur<br />

Strafzahlung von 5 Pf<strong>und</strong> Sterling (100 Kronen)<br />

verurteilt.<br />

Man sieht, der Despotismus der Demokratie<br />

<strong>und</strong> der zum größten Teil s o z i a l d e m o k r a t i -<br />

s c h e n Arbeiterführer Australiens will nur Geld<br />

<strong>und</strong> kennt sonst keine Grenzen; interessant ist nur,<br />

wie diese Herren Arbeiterführer sogar zum Streikbruch<br />

auffordern <strong>und</strong> ihn als Gewerkschaftsprinzip<br />

proklamieren! O du ideales Prinzip des Zentralismus,<br />

wie schön ist deine Praxis von Freiheit, Gleichheit<br />

<strong>und</strong> Brüderlichkeit!<br />

Daß diese Resolutionen die-volle Zufriedenheit<br />

der Kohlenbarone hatten, läßt sich begreifen. Die<br />

Glorie der Schiedsgerichte kam dadurch bei den<br />

Arbeitern aber noch mehr ins Schwanken. Ungefähr<br />

dasselbe ereignete sich in allen unseren Kolonien,<br />

in denen eine Harmonie zwischen Kapital <strong>und</strong><br />

Arbeit zu Stande kommen sollte.<br />

Ein weiteres Angreifungsmittel der sozialdemokratischen<br />

Politiker, das Verbesserung bringen<br />

sollte, war der g e s e t z l i c h g e s c h ü t z t e M i -<br />

nimalarbeitslohn. Es sei zugegeben, daß für<br />

manche Branchen, so auch für Unverheiratete oder<br />

Sparmichel, etwas mehr heraus springt. Für verheiratete<br />

Arbeiter oder solche, die das normale<br />

Bedürfnis haben, etwas leben zu wollen, springt<br />

jedoch dabei keinerlei Vorteil heraus, eher das<br />

Gegenteil. Und stiegen hier die Löhne um etwa<br />

5 Prozent, so die Lebensmittel bis zu 12 Prozent<br />

<strong>und</strong> noch mehr.<br />

D i e a l l e r g r ö ß t e H o f f n u n g s e t z t e d a s<br />

a u s t r a l i s c h e P r o l e t a r i a t a u f s e i n a l l -<br />

g e m e i n e s W a h l r e c h t , denn damit würde man<br />

doch die Regierungsmaschine in die Hände bekommen!<br />

Nun <strong>und</strong> endlich sollte man, nach Jahre<br />

langer, mühevoller Arbeit, erfolgreich sein. E n d l i c h<br />

h a t t e d i e A r b e i t e r p a r t e i d i e M a c h t . I m<br />

Staate W e s t - A u s t r a l i e n sowohl, wie im C o m -<br />

monwealth Parlament war man in der Mehrzahl.<br />

W a s g e s c h a h ? H i e l t m a n s e i n V e r s p r e c h e n ?<br />

N e i n — ein Programmsatz nach dem anderen<br />

wurde' über Bord geworfen. Man wollte leichter<br />

segeln <strong>und</strong> man segelte vor allen Dingen mit frischer<br />

Brise zur — E r h ö h u n g s e i n e s G e h a l t s von<br />

8000 auf 12000 Mark, die man durch „direkte Aktion",<br />

ohne die Wähler zu fragen, sich durch einen<br />

Gesetzesakt selbst zulegte.<br />

Diese <strong>und</strong> so manch andere parlamentarische<br />

Kunststücke schienen nun aber doch einzelnen Gewerkschaften<br />

<strong>und</strong> größeren Arbeitermassen zu bunt<br />

zu sein, sie schienen ihnen die Augen zu öffnen.<br />

Man fängt an, wenn auch noch langsam, sich doch<br />

wieder nur auf den direkten ökonomischen Kampf<br />

verlassen zu wollen. Dahin ist der Glaube an<br />

Schiedsgerient <strong>und</strong> Minimalarbeitslohn <strong>und</strong> — man<br />

hat keine Lust zum Wählen mehr. Politische Hochstapler<br />

auf beiden Seiten, ob der Arbeiterpartei<br />

oder der Konservativen angehörig! So ereignete<br />

es sich, daß bei den vor einigen Tagen stattgef<strong>und</strong>enen<br />

Wahlen von 29874 Wahlberechtigten n u r<br />

10068 wählten, also bloß etwas mehr wie ein Drittel!<br />

Die Arbeiterkandidaten „siegten" wieder einmal,<br />

doch es war kein freudiger Sieg, denn sie sind<br />

allgemein durchschaut als politische Geschäftsleute.<br />

In ihrer Partei ist ein völliger Stillstand eingetreten.<br />

Die besitzende Klasse fürchtet sie nicht, <strong>und</strong> die<br />

Arbeiterklasse fühlt deutlich heraus, daß sie keinen<br />

Vorteil davon hat, wer immer ins Parlament kommt.<br />

Ein Glück ist nur, daß die klarsehenden Arbeiter<br />

zu begreifen anfangen, daß der ganze Parlamentarismus<br />

nur politischer Humbug ist <strong>und</strong> darum in<br />

großer Zahl mit zugehaltener Nase ihren „Kandidaten"<br />

auf Parlamentsdiäten den Rücken kehren.<br />

Für uns australische Anarchisten ist dieses,<br />

wenn auch langsame Erwachen des Volkes eine<br />

große Befriedigung. Wir wußten, daß es so kommen<br />

würde. W a s war (um blos e i n e n zu nennen) von<br />

einem Sozialdemokraten, der als Premier von Südaustralien<br />

— der nebenbei gesagt ein jährliches<br />

Gehalt von 34000 Mark bezieht, vorläufig in England<br />

auf Besuch weilt <strong>und</strong> sich auch sonst wie ein<br />

Hanswurst beträgt, viel zu hoffen? W a s ist zu erwarten<br />

von all den anderen, deren riesige Gehälter<br />

im Vergleich zum Lohne des Arbeiters sie sofort<br />

in die Reihe der Bourgeoisie bringen? Müssen sie<br />

nicht das Liebkind der Kapitalisten werden, um<br />

ihre Stellung zu behalten ? Die logische Beantwortung<br />

all dieser Fragen überlasse ich denn getrost jeden klar<br />

denkenden Arbeiter, wie ich auch die Politiker sämtlich<br />

seiner gebührenden Verachtung überantworte.<br />

Adelaide, Mitte Juli 1908. H. Voit.<br />

Briefkasten.<br />

Schönpriesen. Die alten Nummern können<br />

zu Agitationszwecken verwendet werden. — Bukowina<br />

<strong>und</strong> Weidner in nächster Nummer.<br />

Michael Bakunins Bildnis.<br />

E i n e k ü n s t l e r i s c h e S t i f t z e i c h n u n g v o n<br />

u n s e r e m f r a n z ö s i s c h e n G e n o s s e n u n d<br />

K ü n s t l e r Grandjouan, a u f k a r t o n a r t i g e m<br />

G l a n z p a p i e r g e d r u c k t , e i g n e t s i c h v o r z ü g -<br />

l i c h z u m E i n r a h m e n .<br />

Einzelpreis 10 Heller.<br />

Wir ersuchen die Kameraden um ihre Bestellungen.<br />

Die freie Generation. Bd. 2, Heft 12. Aus<br />

dem Inhalte heben wir hervor: Die Höhlendruckerei<br />

auf dem Gute des Zaren. — Aus Pierre Joseph<br />

Proudhons Werken. Pablo Iglesias <strong>und</strong> die<br />

Anarchisten. Preis pro Einzelexemplar 25 h, durch<br />

uns zu beziehen.<br />

Empfehlenswerte Bücher <strong>und</strong> Broschüren :<br />

Der letzte Krieg, von Teranus, eleg. geb. . K 5 -<br />

—<br />

Wohlstand für Alle, von Peter Krapotkin „ 1 80<br />

Wiliam Godwin, der Theoretiker des kommunistischen<br />

Anarchismus, v. Pierre Ramus „ 2 —<br />

Die historische Entwicklung der Friedensidee<br />

<strong>und</strong> des Antimilitarismus, von Pierre<br />

Ramus „ -- -<br />

30<br />

Das anarchistische Manifest, v. P. Ramus „ — -<br />

04<br />

Kritische Beiträge zur Charakteristik von<br />

Karl Marx, von Pierre Ramus . . . . „ — 12<br />

Wie klärt man Kinder auf? „ — 1 2<br />

Das Dogma von der Vaterlandsliebe ., . . . „ —"12<br />

Liebesfreiheit <strong>und</strong> Eheprostitution, v. Fernau „ —'12<br />

Revolutionäre Regierungen, von P. Krapotkin „ — •06<br />

Gretchen <strong>und</strong> Helene, Zeitgemäße Betrachtung<br />

des Anarchismus u. d. Sozialdemokratie „ —*20<br />

Die Sintflut, von Theodor Brunnecker . . „ — -<br />

12<br />

Die Auferstehung, v. Theoder Brunnecker „ —-12<br />

Eine Reise nach dem fenseits, von Theodor<br />

Brunnecker „ — 12<br />

Die freie Generation, Monatsschrift der Weltanschauung<br />

des Anarchismus . . . . „ — -<br />

2 5<br />

Die Pariser Kommune, von P. Krapotkin . „ — -<br />

12<br />

Kultur <strong>und</strong> Eortschritt, von F. Thaumazo . „ — 0 3<br />

Kritik <strong>und</strong> Würdigung des Syndikalismus,<br />

von P. Ramus „ — 0 5<br />

Die Jahrgänge 1900, 1901, 1902 von „Neues<br />

Leben" sind zum Preise von zusammen 18 Mark zu<br />

verkaufen. Näheres in der Expedition dieses Blattes.<br />

Vereine <strong>und</strong> Versammlungen.<br />

Allgemeine Gewerkschafts-Föderation. V.,<br />

Einsiedlergasse 60. Jeden Montag 8 Uhr abends.<br />

Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />

Gasthaus, XIV., Märzstraße 33.<br />

Föderation der Bauarbeiter. X., Eugengasse<br />

9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />

jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />

Unabhängige Schuhmacher-Gewerkschaft.<br />

XlV.,Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />

Männergesangverein „Morgenröte". XIV.,<br />

Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />

jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />

Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „Pokrok". XIV.,<br />

Hütteldorferstraße 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />

Freie Einkaufsgenossenschaft. Jeden Donnerstag<br />

abends bei Schlor.<br />

Graz. A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />

versammelt sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Samstag abends<br />

im Vereinslokal in der Bahnhofstraße.<br />

Marburg. A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />

versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong> 4. Mittwoch abends<br />

im Gasthaus „Zur goldenen Birn", Franz Josefstraße<br />

2.<br />

Klagenfurt. G r u p p e d e r u n a b h ä n g i -<br />

g e n S o z i a l i s t e n , versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong><br />

4. Samstag abends im Gasthaus „Zum Buchenwalde".<br />

Weijer. S o z i a l i s t i s c h e r B u n d , versammelt<br />

sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends in<br />

Reingrubers Gasthaus.<br />

Bruch. G r u p p e B e r g a r b e i t e r k a m p f ,<br />

versammelt sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends<br />

im Gasthaus „zum blauen Stern".<br />

Neu - Pyhanken. B e r g a r b e i t e r v e r e i n ,<br />

versammelt sich jeden 4. Sonntag um 9 Uhr vormittags<br />

im Gasthause „Eintracht".


- 49 -<br />

viel Sympathie fände, daß sich keine Regierung trauen<br />

würde, Truppen ins Ausland zu schicken, weil sie befürchten<br />

müßte, daß dann in ihrem eigenen Land die<br />

Revolution ausbricht. Nehmen wir aber an, daß die<br />

Regierungen jener Länder, in denen sich das Volk<br />

noch nicht befreit hat, versuchen würden, mit ihren<br />

Armeen ein freies Volk wieder in die Knechtschaft<br />

zurück zu zwingen. Wird dieses letztere eine Regierung<br />

nötig haben, um sich verteidigen zu können?<br />

Um Krieg zu führen, dazu braucht man Menschen,<br />

die die notwendigen geographischen <strong>und</strong> technischen<br />

Kenntnisse besitzen <strong>und</strong> hauptsächlich Volksmassen,<br />

welche kämpfen wollen. Eine Regierung kann weder<br />

die Fähigkeiten der ersteren, noch den Willen <strong>und</strong> den<br />

Mut der letzteren vermehren. Die Geschichte zeigt<br />

uns wie ein Volk, welches wirklich sein eigenes Land<br />

verteidigen will, unbesiegbar ist;* wie in Italien z. B.<br />

vor den Truppen der Freiwilligen — eine s o l c h e<br />

freigebildete Truppe ist eben eine anarchistische Form<br />

— die Throne stürzten <strong>und</strong> die regelmäßigen Armeen,<br />

welche aus zum Militärdienst gezwungenen oder dafür<br />

besoldeten Menschen bestanden, sich zerstreuten.<br />

Die »Polizei«, die »Gerichtshöfe«? Viele Leute<br />

denken, daß, wenn es keine Gendarmen, keine Polizisten<br />

<strong>und</strong> Richter gäbe, ein jeder frei wäre, seinen<br />

Nächsten umzubringen, zu vergewaltigen, zu quälen,<br />

<strong>und</strong> daß die Anarchisten im Namen ihrer Prinzipien<br />

diese eigentümliche »Freiheit«, welche die Freiheit<br />

anderer vergewaltigt <strong>und</strong> zerstört, dulden wollen. Sie<br />

* Es genügt, wenn wir in Österreich auf den Kampf der<br />

Tiroler Bauern gegen die Armee Napoleons hinweisen. Anm. d. R.<br />

»ANARCHIE« von Enriko Malatesta. 7


- 5 0 —<br />

sind beinahe überzeugt, daß wir, nachdem wir die<br />

Regierung <strong>und</strong> das Privateigentum gesellschaftlich aufgehoben<br />

haben, beides wieder sich ruhig aufbauen<br />

ließen, um die »Freiheit« jener, die herrschen <strong>und</strong><br />

besitzen wollen, nicht zu verletzen. Eine seltsame Art,<br />

um unsere Ideen zu verstehen! — — — — Freilich ist<br />

es so leichter, sie mit einem Achselzucken abzutun,<br />

ohne sich die Mühe zu nehmen, sie zu widerlegen.<br />

Die Freiheit, die wir für uns <strong>und</strong> für andere<br />

verwirklichen wollen, ist nicht eine abstrakte metaphysische,<br />

»absolute« Freiheit, welche im wirklichen<br />

Leben notgedrungen zur Unterdrückung der Schwächeren<br />

führt; s o n d e r n es i s t d i e w i r k l i c h e , d i e<br />

m ö g l i c h e F r e i h e i t , w e l c h e i n d e r b e w u ß t e n<br />

G e m e i n s a m k e i t d e r I n t e r e s s e n , d e r f r e i gew<br />

o l l t e n S o l i d a r i t ä t b e s t e h t . Wir verkünden<br />

den Gr<strong>und</strong>satz: »Tue was du willst!« <strong>und</strong> darin fassen<br />

wir sozusagen unser ganzes Programm zusammen,<br />

denn — wie leicht begreiflich — sind wir überzeugt,<br />

daß in einer harmonischen Gesellschaft, in welcher<br />

es kein Privateigentum <strong>und</strong> keine Regierung gibt,<br />

»ein jeder das wollen wird, was er soll«.<br />

Wenn aber, durch die Folgen der Erziehung,<br />

welche ihm die jetzige Regierung geboten hat, oder<br />

durch eine krankhafte Veranlagung, oder aus was<br />

immer für einen Gr<strong>und</strong>, jemand uns oder anderen<br />

schaden wollte, würden wir uns auf jeden Fall aller<br />

Mittel bedienen, um uns zu verteidigen. Da wir<br />

wissen, daß der Mensch das Ergebnis seiner eigenen<br />

Beschaffenheit <strong>und</strong> seiner natürlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Umgebung ist, werden wir nicht das Recht der


— 51 —<br />

Gegenwehr mit dem unsinnigen <strong>und</strong> eingebildeten<br />

Recht der Strafen verwechseln. Wir werden im »Verbrecher«,<br />

d. h. in dem Menschen, der gegen das Interesse<br />

der Gesellschaft handelt, nicht einen sich empörenden<br />

Sklaven sehen, wie das der Richter heutzutage<br />

tut, sondern einen kranken Bruder, der Pflege<br />

braucht; <strong>und</strong> wir werden ihn nicht mit Haß zu unterdrücken<br />

trachten, wir werden bestrebt sein, die Grenze<br />

der unbedingt notwendigen Gegenwehr nicht zu überschreiten,<br />

wir werden nicht daran denken, uns zu<br />

rächen, sondern daran, den Unglücklichen mit allen<br />

Mitteln, die uns die Wissenschaft zur Verfügung stellt,<br />

zu heilen <strong>und</strong> der Gesellschaft zurück zu erobern.<br />

Wie immer sich dies übrigens die Anarchisten<br />

individuell zurechtlegen, jedenfalls wird das Volk es<br />

sich nicht gefallen lassen, daß man ungestraft seine<br />

Freiheit <strong>und</strong> sein Wohl antastet, <strong>und</strong> wenn es notwendig<br />

wäre, würde es Maßregeln treffen, um sich<br />

gegen die antisozialen Handlungen einzelner zu verteidigen.<br />

Aber was braucht man dazu Leute, deren<br />

Aufgabe es ist, Gesetze zu machen? oder solche<br />

Leute, die dafür sorgen <strong>und</strong> davon leben, daß sie<br />

diejenigen ausfindig machen — <strong>und</strong> erfinden — die<br />

diese Gesetze übertreten? Wenn das Volk wirklich<br />

etwas mißbilligt <strong>und</strong> schädlich findet, gelingt es ihm<br />

immer, diese Sache zu verhindern, besser als allen<br />

berufsmäßigen Gesetzgebern, Gendarmen <strong>und</strong> Richtern.<br />

Die Gebräuche entsprechen immer den allgemeinen<br />

Bedürfnissen <strong>und</strong> Gefühlen; sie werden umsomehr<br />

geachtet <strong>und</strong> befolgt, je weniger sie der<br />

Sanktion des Gesetzes unterworfen sind; denn ein


— 52 —<br />

jeder sieht <strong>und</strong> versteht so die Nützlichkeit derselben,<br />

<strong>und</strong> die Beteiligten verlassen sich nicht auf den Schutz<br />

einer Regierung, sondern sorgen selbst dafür, daß sie<br />

befolgt werden. Für eine Karawane in der Wüste von<br />

Afrika ist die Sparsamkeit mit dem Wasser eine Lebensfrage,<br />

<strong>und</strong> unter diesen Umständen wird das Wasser<br />

zum Heiligtum; keiner denkt daran, es zu mißbrauchen.<br />

Verschwörer haben Heimlichkeit nötig; sie bewahren<br />

das Geheimnis, oder Verachtung trifft denjenigen, der<br />

es verletzt. Die Schulden beim Hazardspiel werden<br />

vom Gesetz nicht anerkannt, <strong>und</strong> unter Spielern wird<br />

der, der sie nicht bezahlt, als ehrlos betrachtet, <strong>und</strong><br />

er hält sich selber dafür.<br />

Ist es vielleicht wegen den Gendarmen, daß sich<br />

die Menschen nicht öfter umbringen, als sie es tatsächlich<br />

tun? Die meisten Dörfer sehen nur hie <strong>und</strong><br />

da in langen Zwischenräumen einen Gendarm; Millionen<br />

gehen ihrem täglichen Leben nach, ohne von<br />

dem väterlichen Auge des Gesetzes bewacht zu werden,<br />

so daß man sie ohne jede Gefahr der Strafe anfallen<br />

könnte, <strong>und</strong> dennoch sind sie so sicher, wie in<br />

einer Gegend, die voll von Polizisten ist. Die statistischen<br />

Zahlen zeigen, daß die Anzahl der Verbrecher<br />

sehr wenig von dem Erfolg der Unterdrückungsmaßregeln<br />

abhängt, aber sich sehr sehnell je nach der<br />

Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse <strong>und</strong> der<br />

öffentlichen Meinung ändert.<br />

Die Strafgesetze beziehen sich übrigens nur auf<br />

die außergewöhnlichen, ausnahmsweise vorkommeri-<br />

Fälle. Das tägliche Leben geht außerhalb der Paragraphen<br />

des Strafgesetzb<strong>und</strong>es vor sich <strong>und</strong> wird,


— 53 —<br />

beinahe unbewußt, durch die stillschweigende <strong>und</strong><br />

freiwillige, gemeinsame Übereinkunft aller, durch eine<br />

Menge Gewohnheiten <strong>und</strong> Gebräuche geregelt, welche<br />

tausendmal wichtiger für das gesellschaftliche Leben<br />

sind, als die Vorschriften des Gesetzes; <strong>und</strong> die tausendmal<br />

besser befolgt werden, obgleich ihnen jede<br />

Sanktion fehlt, außer der einen natürlichen: der Verachtung,<br />

welche die Zuwiderhandelnden trifft <strong>und</strong><br />

den Nachteilen, die diese allgemeine Verachtung nach<br />

sich zieht.<br />

Wenn unter den Menschen Streitigkeiten entstehen<br />

— würden dann nicht freigewählte Schiedsrichter<br />

<strong>und</strong> der Dank der öffentlichen Meinung viel<br />

geeigneter sein, denen Recht zu geben, die wirklich<br />

Recht haben, als eine unverantwortliche Behörde, die<br />

das gesetzliche Recht hat, über alles <strong>und</strong> alle zu urteilen<br />

<strong>und</strong> die deswegen notwendigerweise in vielen<br />

Fällen unwissend, also ungerecht sein m u ß , weil sie<br />

n i c h t allwissend sein kann?!<br />

Ebenso wie die Regierung gewöhnlich nur zur<br />

Verteidigung der privilegierten Klassen dient, so dienen<br />

Polizei <strong>und</strong> Gerichtshöfe nur zur Unterdrückung jener<br />

»Verbrechen«, die vom Volke selbst nicht als Verbrechen<br />

angesehen werden <strong>und</strong> die nur die Vorrechte<br />

der Regierenden <strong>und</strong> Besitzenden verletzen. Für die<br />

Verteidigung der wahren Interessen der Gesellschaft<br />

der Verteidigung der Freiheit <strong>und</strong> des Wohlstandes<br />

aller, gibt es nichts Schädlicheres, als das Heranwachsen<br />

dieser Klassen, die unter d e m Vorwand ihr<br />

Leben erhalten, daß sie alle Menschen verteidigen,<br />

die sich daran gewöhnen, einen jeden als ein einzu-


— 54 —<br />

fangendes Wild anzusehen <strong>und</strong> die Menschen auf den<br />

Befehl ihrer Vorgesetzten hin ihrer Freiheit zu berauben<br />

<strong>und</strong> zu töten, ohne zu wissen, w a r u m , ganz<br />

wie bezahlte, gedungene <strong>und</strong> unverantwortliche<br />

Bösewichte.<br />

* *<br />

*<br />

Nun gut, sagt man: Die Anarchie mag eine vollkommene<br />

Form des gesellschaftlichen Lebens sein,<br />

aber wir wollen keinen Sprung ins Dunkle tun. Erklärt<br />

uns also »ausführlich«, wie euere zukünftige<br />

staatslose Gesellschaft eingerichtet sein wird. — Dann<br />

kommt eine ganze Reihe von Fragen, die sehr interessant<br />

sind, wenn man die Probleme der freien<br />

Gesellschaft studieren will, die aber überflüssig, lächerlich<br />

oder absurd werden, wenn man eine endgiltige<br />

Lösung derselben von uns verlangt.<br />

Wie wird man die Kinder erziehen? Wie wird<br />

man die Produktion <strong>und</strong> die Verteilung organisieren?<br />

Wird es noch große Städte geben oder wird sich die<br />

Bevölkerung gleichmäßig über die ganze Erde verbreiten?<br />

Was würde geschehen, wenn alle Einwohner<br />

von- Sibirien den Winter an der Riviera verbringen<br />

wollten? Wenn ein jeder Rebhühner essen <strong>und</strong> feine<br />

Weine trinken will? Wer wird die Arbeit des Seemanns<br />

<strong>und</strong> Kohlengräbers verrichten? Wer wird die<br />

Kanäle ausräumen? Wird man die Kranken zuhause<br />

oder in öffentlichen Spitälern pflegen? Wer wird den<br />

Fahrplan der Eisenbahnen feststellen? Was wird man<br />

tun, wenn der Lokomotivführer auf der Fahrt Bauchweh<br />

bekommt? . . . Und so weiter, als ob man<br />

glauben würde, daß w i r im Besitze der ganzen


— 55 —<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Erfahrung der Zukunft sind, <strong>und</strong><br />

daß wir im Namen der Anarchie den kommenden<br />

Menschen vorschreiben müssen, um wie viel Uhr sie<br />

zu Bett gehen, <strong>und</strong> an welchem Tag sie sich die<br />

Hühneraugen schneiden sollen!<br />

Wenn unsere Leser wirklich eine Antwort auf<br />

diese Fragen — wenigstens auf die ernsten <strong>und</strong> wichtigen<br />

derselben — verlangen würden, so würde das<br />

beweisen, daß es uns nicht gelungen ist zu erklären,<br />

w a s d i e A n a r c h i e ist.<br />

Wir sind ebenso wenig Propheten, wie andere<br />

Menschen! Wenn wir uns anmaßen würden, eine<br />

offizielle Lösung all jener Probleme zu bieten, welche<br />

im Leben der zukünftigen Gesellschaft auftauchen<br />

werden, so wäre das wahrlich eine eigentümliche Art,<br />

die Regierung abzuschaffen! Dann würden wir ja uns<br />

selbst als Regierung aufstellen <strong>und</strong>, nach dem Muster<br />

der religiösen Gesetzgeber, für die Gegenwart <strong>und</strong><br />

die Zukunft allgemein giltige Vorschriften dekretieren!<br />

Glücklicherweise würden uns keine Gefängnisse <strong>und</strong><br />

Scheiterhaufen zur Verfügung stehen, um unsere<br />

Bibel der Menschheit aufzuzwingen, <strong>und</strong> so könnten<br />

die Menschen uns ruhig auslachen.<br />

Wir denken viel über alle gesellschaftlichen<br />

Fragen nach, teils aus wissenschaftlichem Interesse,<br />

teils weil wir die Anarchie verwirklichen <strong>und</strong> am Ausbau<br />

der neuen Gesellschaft teilnehmen wollen. Aber<br />

daß wir heute, mit unserem jetzigen Wissen, so oder<br />

so über eine Sache denken, beweist noch nicht, daß<br />

dieselbe sich in der Zukunft auch wirklich so gestalten<br />

wird. Wer kann die Tätigkeit der Menschheit voraus-


— 56 —<br />

sehen, wenn sie sich einmal vom Elend <strong>und</strong> von der<br />

Unterdrückung befreit haben wird? Wenn alle Menschen<br />

Gelegenheit haben werden, sich zu unterrichten<br />

<strong>und</strong> zu entwickeln; wenn es weder Sklaven noch<br />

Herren geben wird <strong>und</strong> der Kampf gegen andere<br />

Menschen mit all dem Haß <strong>und</strong> aller Mißgunst, die<br />

daraus entstehen, aufhören wird eine Lebensnotwendigkeit<br />

zu sein? Wer kann die Fortschritte der Wissenschaft,<br />

der Produktions- <strong>und</strong> Verkehrsmittel vorhersagen?<br />

D a s W e s e n t l i c h e i s t d i e s : daß sich eine<br />

Gesellschaft bildet, in der die Ausbeutung <strong>und</strong> die<br />

Herrschaft des Menschen über den Menschen nicht<br />

mehr möglich ist; wo alles, was zum Leben, zur Entwicklung<br />

<strong>und</strong> zur Arbeit notwendig ist, a l l e n Menschen<br />

zugänglich sein wird; wo alle nach ihrem<br />

eigenen Wollen <strong>und</strong> Können an der Organisation des<br />

gesellschaftlichen Lebens mitwirken können. In einer<br />

solchen Gesellschaft wird natürlich alles so eingerichtet<br />

werden, wie es die Bedürfnisse aller — nach<br />

Möglichkeit der Erfahrungen <strong>und</strong> der augenblicklichen<br />

Verhältnissen — am besten befriedigen wird. Und<br />

alles wird sich immerfort zum Besseren entwickeln,<br />

je nach dem Fortschritt des Wissens <strong>und</strong> der Mittel,<br />

die uns zur Verfügung stehen.<br />

Im Gr<strong>und</strong>e genommen kann ein Programm, das<br />

die Gr<strong>und</strong>lagen der Gesellschaft berührt, nichts anderes<br />

tun, als daß es eine Methode andeutet. Und es<br />

ist hauptsächlich d i e M e t h o d e , die den Unterschied<br />

zwischen den Parteien ausmacht <strong>und</strong> ihre Wichtigkeit<br />

in der menschlichen Geschichte bestimmt. Abgesehen


en, sind sie im Irrtum. Ganz im Vertrauen,<br />

ihr Herren von der Polizei <strong>und</strong><br />

Regierung, sei's gesagt: Solche Organisationen,<br />

wie jene obiger Föderationen eine<br />

ist, bestehen nicht auf dem Papier, wie es<br />

bei sozialdemokratischen der Fall, sondern<br />

durch den revolutionären Geist der Mitglieder,<br />

der sich auch diesmal als vorzüglichster<br />

Schutzdamm <strong>und</strong> Wiederauferstehungsmittel<br />

für das wahre Prinzip des Gewerkschaftskampfes<br />

erweisen wird.<br />

Bericht vom Bergarbeiter-Kongress.<br />

In den Tagen vom 15. bis 17. August<br />

sollte der Kongreß aller Bergleute Österreichs,<br />

ohne Unterschied der Parteiangehörigkeit,<br />

in Kladno stattfinden. Jedoch, der<br />

Mensch denkt, <strong>und</strong> der Bezirkshauptmann<br />

von Kladno lenkt. Aus Gründen, die lächerlich<br />

genannt werden könnten, wurde der<br />

Kongreß untersagt. Das öffentliche Wohl<br />

könnte bedroht werden, <strong>und</strong> die Identität<br />

der Einberufer sei nicht festgestellt, so<br />

heißt es im Verbote, obwohl die Einberufer<br />

ihre volle Adresse gezeichnet hatten. Nun,<br />

im Interesse unseres Österreich also, wurde<br />

der Kongreß nicht in Kladno, sondern in<br />

der Nähe von Prag abgehalten, <strong>und</strong> zwar<br />

unter einer Form, unter welcher er nicht<br />

den Behörden brauchte angemeldet zu<br />

werden. Obwohl der Kongreß im letzten<br />

Augenblick verboten wurde, war er doch<br />

in vollem Umfange besucht <strong>und</strong> konnte<br />

zur Beratung über unsere Angelegenheiten<br />

geschritten werden.<br />

Das Programm war festgesetzt, wie folgt:<br />

1. Alters- <strong>und</strong> Invalidenversicherung<br />

in Bezug auf die Bergarbeiter. 2. Grubeninspektion.<br />

3. Krankenkassen. 4. Minimallohn.<br />

5. Organisation.<br />

Auf dem Kongresse waren vertreten<br />

die Reviere von Nordböhmen, Falkenau,<br />

Pilsen, Kladno <strong>und</strong> Mährisch-Ostrau mit<br />

Schlesien. Anwesend waren 47 Delegierte.<br />

Samstag den 15. August, gegen 6 Uhr<br />

abends wurde der Kongreß eröffnet <strong>und</strong><br />

wurde in Bezug auf Punkt 1 des Programms<br />

folgendes beschlossen:<br />

»Wie uns die Erfahrung lehrt, ist die<br />

Versicherung der Bergarbeiter eine der<br />

schlechtesten <strong>und</strong> ist eine Reform unter<br />

obwaltenden Umständen aus folgenden<br />

Gründen unmöglich:<br />

I. <strong>Weg</strong>en unpraktischen Einteilens der<br />

Bruderladenmitglieder in verschiedene Kategorien.<br />

II. Da die Bergleute bis jetzt von der<br />

Unfallversicherung ausgeschlossen sind, obwohl<br />

dieser Beruf nach dem Gesetze vom<br />

28. Dezember 1887 direkt unter dieselbe<br />

gehört, infolgedessen müssen die Mitglieder<br />

mindestens 70 Prozent Invaliden<br />

aus der Rente erhalten, welche ausschließlich<br />

nur für Invaliden wegen Altersschwäche<br />

bestimmt ist.<br />

III. <strong>Weg</strong>en schlechter Wirtschaft der<br />

Verwaltungen, welche nur darauf bedacht<br />

sind, in den Bruderladen Kapital aufzuhäufen.<br />

Das alles ist allen kompetenten<br />

Behörden bekannt, ohne aber daß eine<br />

Änderung diesbezüglich eingetreten wäre.<br />

Infolgedessen hat die Bergarbeiterschaft<br />

kein Zutrauen zu der projektierten Altersversicherung<br />

<strong>und</strong> erstens, weil die Regierung<br />

nicht für genügendes Gr<strong>und</strong>kapital bürgt,<br />

damit auch den Bergleuten gedient wäre<br />

<strong>und</strong> zweitens, da die Bergarbeiter genügend<br />

Kapital in den verschiedenen Bruderladen<br />

besitzen, verlangen sie folgende Reformen:<br />

1. Die bisherigen Bruderladen werden<br />

aufgehoben, an deren Stelle wird eine Versicherungsanstalt<br />

errichtet, welche nicht<br />

mehr wie zwei Kategorien zuläßt, für<br />

Männer <strong>und</strong> Weiber.<br />

2. Das Vermögen der Bruderladen sowie<br />

die Heilanstalten fallen der neuen Anstalt zu.<br />

3. An Stelle der bisherigen Kranken<strong>und</strong><br />

Familienkassen wird für ein ganzes<br />

Revier eine Krankenkasse errichtet, nach<br />

Zahl der Mitglieder werden Arbeiter zur<br />

Verwaltung derselben gewählt <strong>und</strong> wählen<br />

diese aus ihrer Mitte den Vorstand, welcher<br />

der Staatsaufsicht untergeordnet ist.<br />

R e n t e n . Die Altersrente wird so bemessen,<br />

daß ein Mitglied nach 20jähriger<br />

Grubenarbeit einen Anspruch auf 730 Kronen<br />

jährlich hat. Die Witwe erhält 50 Prozent<br />

der Mannesrente, Kinder bis 15 Jahren ein<br />

Drittel derselben. Dieselben Rechte hat auch<br />

die Frau, die mit ihrem Manne in freier<br />

Ehe lebt, sowie auch die einer solchen Ehe<br />

entsprossenen Kinder. Arme Eltern <strong>und</strong><br />

Großeltern erhalten 25 Prozent in dem<br />

Falle, wenn der Verstorbene der einzige<br />

Ernährer war. Bei den Krankenkassen ist<br />

zu beachten, daß das Pauschalieren der<br />

Beamten abgeschafft wird, da dieselben im<br />

Interesse der Gruben beschäftigt sind, arbeiten<br />

also nicht für die Anstalt. Die Wahl<br />

der Ärzte sei dem Arbeiter frei überlassen,<br />

je nach dem Vertrauen, welches er zu<br />

einem derselben hegt.<br />

G r u b e n i n s p e k t i o n . Zu diesem<br />

Punkte übernahm Genosse Draxl das Referat.<br />

Derselbe hat einige Jahre in den<br />

französischen Gruben gearbeitet <strong>und</strong> somit<br />

Gelegenheit gehabt, die dortigen Verhälthältnisse<br />

in bezug auf Grubeninspektion<br />

genau zu beobachten. Es wurde folgende<br />

Resolution angenommen: »Ein Grubeninspektor<br />

muß das 30. Lebensjahr vollendet<br />

haben <strong>und</strong> wird gewählt von allen<br />

Grubenarbeitern, die das 18. Lebensjahr<br />

überschritten haben. Der Wahlakt geschieht<br />

auf dem Gemeindeamte unter Aufsicht<br />

zweier zu diesem Zweck gewählter Arbeiter,<br />

eines Vertreters des Werkes, des Gemeindevorstehers<br />

<strong>und</strong> Sekretärs. Jede Grube mit<br />

100 Mann Belegschaft hat einen Inspektor<br />

zu wählen. Derselbe hat mindestens 20mal<br />

im Monate die Grube zu befahren <strong>und</strong><br />

muß er eine fünfjährige Praxis als Bergmann<br />

<strong>und</strong> eine einjährige als Kohlenhauer<br />

aufweisen können. Er kann auch auf einer<br />

solchen Grube, die er seit fünf Jahren verlassen,<br />

kandidieren <strong>und</strong> als Inspektor gewählt<br />

werden. Von der Werksleitung ist er<br />

vollkommen unabhängig <strong>und</strong> wird vom<br />

Staate bezahlt. Sein Lohn muß dem höchst<br />

verdienten Lohne der betreffenden Grube<br />

gleichen. Gewählt wird ein Grubeninspektor<br />

auf die Dauer von 3 Jahren.«<br />

M i n i m a l l o h n . Betreffs dieses Punktes<br />

wurde folgendes beschlossen: »Da es eine<br />

erwiesene Tatsache ist, daß das heutige<br />

Akkord- <strong>und</strong> Gedingesystem die häufigsten<br />

Unglücksfälle zur Folge hat, fordern die<br />

Bergleute einen Minimallohn, mit Hilfe<br />

dessen sie nicht gezwungen wären, sich in<br />

die gefährlichsten Arbeiten treiben zu lassen.<br />

Derselbe wird mit Rücksicht auf die stets<br />

steigende Lebensmittelteuerung für Nordböhmen<br />

auf 5 Kronen gesetzt <strong>und</strong> sei es<br />

den verschiedenen Revieren überlassen, den<br />

lokalen Verhältnissen angemessen einen<br />

solchen festzusetzen.«<br />

Mit Erledigung dieses Punktes wurde<br />

der Kongreß vertagt.<br />

O r g a n i s a t i o n . Sonntag den 16. August,<br />

morgens 8 Uhr, wurde die Beratung<br />

fortgesetzt <strong>und</strong> zwar schritt man zu dem<br />

wichtigsten Punkte des Programms, Organisation.<br />

Es wurden Meinungen aller Reviere<br />

gewechselt <strong>und</strong> zum Schlüsse folgendes<br />

beschlossen:<br />

»In der heutigen Zeit, wo sich die privilegierten<br />

Klassen ohne Unterschied der<br />

Nationalität <strong>und</strong> der politischen Überzeugung<br />

organisieren, um die Arbeiter nach<br />

Belieben ausbeuten zu können, ist es zur<br />

höchsten Notwendigkeit geworden, daß auch<br />

unter den Arbeitern eine Einigkeit hergestellt<br />

werde. Ein gemeinschaftliches Vor-<br />

gehen der Bergarbeiter ist aber nur unter<br />

folgenden Bedingungen möglich:<br />

I. a) Die Organisation der Berg-,<br />

Hütten- <strong>und</strong> Koksarbeiter ist eine rein wirtschaftliche.<br />

Sie steht außerhalb aller politischen<br />

Parteien <strong>und</strong> hat auch mit Repräsentanten<br />

derselben, wie bezahlten Beamten,<br />

Abgeordneten u. dgl. nichts gemeinschaftliches.<br />

Dieselben können auch nicht Mitglieder<br />

solcher Organisation werden, ihre<br />

irgendwelche Beteiligung, wie an Kongressen<br />

usw. ist somit ausgeschlossen.<br />

b) Auf Gr<strong>und</strong> dessen kann somit jedem<br />

Arbeiter verbürgt werden, daß stets nur in<br />

seinem Interesse, betreffs Lösung der wirtschaftlichen<br />

Fragen, gehandelt wird, da alle<br />

Arbeiter ohne Unterschied unter dem kapitalistischen<br />

Regime zu leiden haben.<br />

II. Um eine solche Organisation lebensfähig<br />

zu machen, damit sie die Interessen<br />

aller Arbeiter stets wahren kann, ist es<br />

nötig, daß die in jedem Reviere bestehenden<br />

Vereine <strong>und</strong> Gruppen Mitglieder e i n e r<br />

Revierorganisation werden, so daß alle im<br />

Reviere eingeleiteten Aktionen dem Vorteile<br />

aller Arbeiter dienen.<br />

III. Sowie nun einzelne Forderungen<br />

sich nicht nur auf ein Revier beschränken<br />

<strong>und</strong> solche lokale Aktionen überdies nicht<br />

viel Aussichten auf Erfolg haben, ist es von<br />

höchster Wichtigkeit, alle solchen Revierorganisationen<br />

einer Reichs-Bergarbeiterorganisation<br />

einzuverleiben, sie vereinigen<br />

sich in »Freier Föderativer Vereinigung der<br />

"Berg-, Hütten- <strong>und</strong> Koksarbeiter Oesterreichs.«<br />

Diese Vereinigung fördert ein gemeinschaftliches<br />

Vorgehen in allen Aktionen<br />

<strong>und</strong> dient zur Verständigung betreffs der<br />

verschiedenen Forderungen. Sowie ein einzelner<br />

Arbeiter, steht auch eine Revierorganisation<br />

dem Kapital machtlos gegenüber,<br />

sind diese aber alle vereint, bilden<br />

sie eine Macht, die auch ihr Feind nicht<br />

unterschätzen wird.«<br />

F r e i e A n t r ä g e . Es wurden folgende<br />

Anträge gestellt: »Jedes Revier wählt zwei<br />

Vertrauensmänner <strong>und</strong> haben dieselben<br />

Sorge zu tragen, die Beschlüsse des Kongresses<br />

auszuführen. Nach ihrer Wahl finden<br />

sich dieselben zusammen <strong>und</strong> haben diesbezügliche<br />

Schritte einzuleiten.«<br />

Ein weiterer Antrag: »Der Zentralausschuß<br />

hat sofort Verbindungen mit ausländischen<br />

Organisationen anzuknüpfen, um<br />

bei wirtschaftlichen Kämpfen deren Solidarität<br />

beanspruchen zu können.«<br />

Ein Antrag zur Einschränkung der<br />

Grubenarbeit auf 16 St<strong>und</strong>en täglich, Abschaffung<br />

der Nachtarbeit <strong>und</strong> Einführung<br />

einer Sonntagsruhe von mindestens 36<br />

St<strong>und</strong>en. Hiermit war das Programm erschöpft<br />

<strong>und</strong> der Kongreß geschlossen.<br />

* *<br />

*<br />

Die Bergarbeiter können mit Genugtuung<br />

auf ihre Arbeit zurückblicken. Sie<br />

haben trotz dem Siegesgeheul der Sozialdemokraten<br />

über das Verbot von Kladno,<br />

ihre Pflicht erfüllt. Eine einmütige Verständigung<br />

aller Bergarbeiter Österreichs<br />

ist erzielt worden. Über 100.000 Bergarbeiter<br />

entsandten ihre Vertreter, um sie<br />

über ein gemeinschaftliches Vorgehen gegen<br />

den blut- <strong>und</strong> gelddürstigen Kapitalismus<br />

beraten zu lassen. Der parlamentarische<br />

Schwindel, die glänzenden Erfolge der<br />

sozialdemokratischen Deputierten während<br />

des ersten Jahres fangen an, den breiten<br />

Massen die Augen zu öffnen. Die Arbeiter<br />

begreifen es, daß nicht die befrackten Herren<br />

sozialdemokratischen Volksvertreter sie von<br />

dem kapitalistischen Joche befreien können,<br />

weil sie nicht die Macht, <strong>und</strong> in erster Reihe<br />

nicht den Willen dazu haben. Sie fangen an,<br />

nur mit ihren Reihen zu rechnen, nur auf<br />

eigene Kräfte sich zu verlassen <strong>und</strong> dies ist<br />

der erste Schritt zur sozialen Revolution.<br />

Es lebe der Generalstreik! L. Sch.


Der Antimilitarismus<br />

als<br />

T a k t i k d e s A n a r c h i s m u s .<br />

Von Pierre R a m u s .<br />

Referat, gehalten auf dem internationalen Amsterdamer Kongreß<br />

der »Internationalen antimilitaristischen Assoziation«<br />

am 30. <strong>und</strong> 31. August 1907.<br />

I.<br />

Die Anarchisten <strong>und</strong> die allgemeinen friedensbestrebungen.<br />

Als Anarchisten, also Männer <strong>und</strong> Frauen, die einen staatslosen Z u -<br />

stand gesellschaftlichen Friedens erstreben <strong>und</strong> erst in seinem Aufgehen das<br />

Dämmern einer wahren, menschheitlichen Kulturperiode erkennen, begrüßen<br />

wir es mit Freude, daß die Erörterung der sogenannten Friedensprobleme,<br />

der Abrüstung, des Weltfriedens eine allgemeine, internationale Bedeutung<br />

gewonnen <strong>und</strong> Beachtung gef<strong>und</strong>en haben. Denn wir erblicken darin ein unfreiwilliges<br />

Zugeständnis unseren Ideen <strong>und</strong> Bestrebungen gegenüber. W ä h -<br />

rend heute im Lager der Friedensfre<strong>und</strong>e auch noch die Meinungen über<br />

die Durchführbarkeit, über die zeitliche <strong>und</strong> umständliche Möglichkeit der<br />

Entbehrung des Militarismus sehr auseinandergehen, hat es unter den Anarchisten<br />

stets <strong>und</strong> immerdar nur eines gegeben: U n b e d i n g t e s t e V e r -<br />

n e i n u n g d e s M i l i t a r i s m u s , d a s u n b e d i n g t e S t r e b e n n a c h<br />

s e i n e r g ä n z l i c h e n B e s e i t i g u n g ! Wir, die wir verachtet <strong>und</strong> verfolgt<br />

werden, geächtet als „Mörder", als „Feinde der Gesellschaft" von den Gewaltsherrschern<br />

<strong>und</strong> Unterdrückern, wir, die man stets darstellte als die<br />

einzig kriegführende Macht innerhalb der Gesellschaft — wir waren stets<br />

<strong>und</strong> werden immerdar sein, ganz im Einklänge mit unseren Idealen menschlichen<br />

Glückes, menschlicher Freiheit, die Apostel des Friedens; <strong>und</strong> wenn<br />

wir Krieg führen, einen Krieg, der uns aufgenötigt wird, so tun wir, in weit<br />

bedeutenderem Sinne nur das, was alle sogenannten Friedensfre<strong>und</strong>e tun<br />

sollten, was aber nur wir mit dem genügend energischen Nachdruck tun:<br />

Wir Anarchisten führen Krieg n i c h t wider die wahren Friedensapostel der<br />

Menschheit, wie es der Staat in seiner ganzen gleißnerischen Brutalität tut;<br />

wir führen Krieg unserer Aufklärung nur gegen die Anstifter des sozialen<br />

wie militaristischen Krieges. Diese Kriegsorganisation allein bekämpfen wir,<br />

sonst leben wir im Frieden mit allen Menschen, soweit sie nicht beteiligt<br />

sind an dem Privateigentumsraub der heutigen Gesellschaft <strong>und</strong> an der<br />

tyrannischen Institution innerhalb der Gesellschaft, d e m S t a a t e .<br />

Eines aber wollen wir nicht verschweigen: u n s e r Antimilitarismus<br />

ist ein g a n z b e s o n d e r e r Antimilitarismus <strong>und</strong> unterscheidet sich von<br />

dem der Bourgeoisie, soweit sie auch antimilitaristisch, jenem der Sozialdemokratie,<br />

dadurch, daß er eine ganz andere Auffassung, ein ganz anderes<br />

Strebensziel besitzt, als jene es haben. Wie wir im Laufe dieser Darlegung<br />

beobachten werden können, hat es bislang stets z w e i Formen antimilitaristischer<br />

Betätigung gegeben, <strong>und</strong> erst die Anarchisten sind es, die diesen<br />

gegebenen <strong>und</strong> noch heute allgemein maßgeblichen Formen eine dritte Form<br />

hinzugefügt haben, n ä m l i c h d e n a n a r c h i s t i s c h e n A n t i m i l i t a r i s m u s .<br />

Die nicht-anarchistischen Auffassungen des Antimilitarismus erblicken<br />

in dem Kriege eine für sich <strong>und</strong> durch sich allein bestehende Brutalität,<br />

Roheit <strong>und</strong> Bestialität des Menschen <strong>und</strong> der Menschen. Das Gesellschaftsbild,<br />

die Gr<strong>und</strong>lage unseres wirtschaftlichen Lebens treten zurück, werden<br />

überhaupt nicht beachtet vom bürgerlichen Friedensschwärmer. Er schwärmt<br />

für den Frieden, wie die Religionspropheten vom Hereinbruche des tausendjährigen<br />

Reiches schwärmten. Er sieht in der modernen Gesellschaft <strong>und</strong><br />

ihrer wirtschaftlichen Gr<strong>und</strong>lage nichts Kriegeerzeugendes <strong>und</strong> -Benötigendes,<br />

glaubt vielmehr, daß Kriege durch die Schlechtigkeit dieses oder jenes<br />

Individuums, dieser oder jener Kategorie von Individuen angezettelt werden.<br />

Hat er mit letzterem n i c h t d u r c h w e g s Unrecht, so bleibt noch immer<br />

die Frage bestehen, w e l c h e Motive <strong>und</strong> Veranlassungen es sind, die diese<br />

oder jene Kategorie von Individuen zu Chauvinisten, zu absichtlichen oder<br />

unabsichtlichen, zu berechnenden oder unberechnenden Kriegshetzern machen.<br />

Bei denjenigen Friedensfre<strong>und</strong>en, die zu den sogenannten radikalen<br />

Parteien des öffentlichen Lebens gezählt werden — also von den liberalisierenden<br />

Strömungen an bis zu der linksliberalen der Sozialdemokraten —<br />

treten wieder andere Momente in den Vordergr<strong>und</strong>. Kehrt sich der Bourgeois<br />

nur <strong>und</strong> ausschließlich gegen die einzelnen Individuen, in denen er Jingos<br />

<strong>und</strong> Kriegshetzer erblickt, so erkennen diese Parteien sehr wohl die heutige<br />

wirtschaftliche Bedingtheit des Krieges an. Sie begreifen auch seine Unvermeidlichkeit<br />

<strong>und</strong> durchschauen deutlich genug die Heuchelei der „friedensschwärmenden"<br />

Bourgeoisie. Allein sie gehören zu den nach Macht <strong>und</strong><br />

Gewalt irn modernen Staatsleben strebenden Tendenzen. Und so verneinen<br />

sie, den Obelstand in der bestehenden S t a a t s f o r m zu erblicken. Die<br />

Änderung dieser Staatsgewalt bedeutet stets das eine: die herrschende<br />

Klasse wird verdrängt <strong>und</strong> eine andere Klasse ergreift das Ruder der Staatsgewalt.<br />

Eine jede dieser nach Macht strebenden Parteien sieht sich gedanklich<br />

schon als die zur Herrschaft Gelangte. Dann- wollen sie, dies ihr Versprechen,<br />

durch die rechtliche Festlegung ganz besonderer Bestimmungen für<br />

den Krieg, durch die Veränderung des Heerwesens <strong>und</strong> dessen Vervollkommnung,<br />

wie auch Beschränkung auf Verteidigungskriege, als eine zur<br />

staatlichen Macht gelangte Partei den modernen Krieg aufheben.<br />

Während die bourgeoisen Friedensfre<strong>und</strong>e somit die Aufhebung des<br />

Krieges von den guten Entschlüssen mächtiger Staatsmänner, Potentaten<br />

<strong>und</strong> Persönlichkeiten erwarten — man erinnere sich nur des Jubels vonseiten<br />

dieser Kreise über die Auslassungen des russischen, verbestialisierten Zaren<br />

—, hegen die anderen, die radikalen <strong>und</strong> sozialdemokratischen Friedensfre<strong>und</strong>e<br />

<strong>und</strong> „Antimilitaristen" die Hoffnung, mittels der Staatsmaschine,<br />

mittels ihres Mechanismus, den Krieg abschaffen zu können. Sie glauben<br />

nicht an die Besserungsfähigkeit der gegenwärtigen Staatsrepräsentanten,<br />

meinen jedoch, selbst besser zu sein, anders zu handeln, sobald s i e zur<br />

Macht gelangt sind.<br />

Es ist das nur eine erweiterte Auffassung der ersteren. Tatsache ist<br />

auch, daß b e i d e Richtungen in ihren praktischen Vorschlägen sich ziemlich<br />

intim <strong>und</strong> verwandt berühren. Schiedsgerichte, internationales Recht, Abstimmungen<br />

über die Eventualität eines Krieges durch das Volk oder durch<br />

die gesetzgebende Körperschaft usw. — es sind dies samt <strong>und</strong> sonders<br />

Vorschläge, die sowohl von den einen, wie den anderen anerkannt werden.<br />

Der Bourgeois hofft nämlich auf die B e s s e r u n g s f ä h i g k e i t des S t a a t s -<br />

m a n n e s , der Sozialdemokrat — wir wollen ihn des Argumentes halber als<br />

den politisch extrem Radikalen betrachten — hofft auf die Besserungsfähigkeit<br />

des Staats systems. Logischer ist vielleicht noch der Bourgeois, denn<br />

einerseits vermag die Initiative des Einzelnen sehr viel, andererseits besteht<br />

ein Staats S y s t e m aus den es konstituierenden Menschen. Unlogisch sind<br />

sie alle beide, weil sie gemeinsam der Meinung sind, daß die Macht ihre<br />

eigene Wesensäußerung: d e n K r i e g , vernichten würde.<br />

Demgegenüber bieten die Anarchisten eine ganz eigenartige Meinungsanschauung<br />

dar. Sie betrachten den Krieg n i c h t als ein b e s o n d e r e s<br />

Schreckgespenst des gesellschaftlichen L e b e n s ; sie wissen, daß er sich in<br />

der Weltgeschichte in a l l e n gesellschaftlichen Formen der staatlichen Autorität<br />

vorfand <strong>und</strong> suchen nach dem Gr<strong>und</strong> dafür. Ihr Antimilitarismus beschäftigt<br />

sich sowohl mit dem Kriege selbst, wie mit dem System, welches<br />

den Krieg gebärt. In ihrer universalen Auffassung gelangen sie zu Konklusionen,<br />

die sich mit den Auffassungen der übrigen Friedensbestrebungen<br />

manchmal parallel laufend finden, in ihren <strong>Ziel</strong>en aber zu ganz anderen<br />

Schlüssen gelangen als diese.<br />

Um diese Schlüsse zu begreifen, ist es notwendig, zwei Probleme<br />

schärfer ins Auge zu fassen: erstens die Entstehung des Krieges, zweitens<br />

den Antimilitarismus selbst, dessen führende Ideen erst die Anarchisten zu<br />

harmonischen <strong>Ziel</strong>en <strong>und</strong> zu einer logischen Taktik gelangen lassen.<br />

II.<br />

Staat <strong>und</strong> Militarismus/<br />

Das charakteristische Moment eines Krieges findet sich darin, daß<br />

eine Gemeinschaft von Menschen die Individuen einer anderen Gemeinschaft<br />

angreift oder von diesen angegriffen wird. Es ist klar, daß wir, wollen wir<br />

überhaupt erkennen können, was der Krieg, uns zurück zu begeben haben<br />

in das Urzeitalter primitiver menschheitlicher Existenzbedingungen. Nur dann,<br />

wenn wir nicht verwirrt <strong>und</strong> befangen werden in unserem Urteil von der<br />

Mannigfaltigkeit <strong>und</strong> Vielseitigkeit moderner sozialer Einrichtungen, uns<br />

darauf beschränken können, die wenigen Momente der Veränderung, die in<br />

der primitiven Menschheitsorganisation auftreten, klar <strong>und</strong> deutlich zu beobachten,<br />

werden wir zu einer wahrheitsgemäßen Betrachtung unseres Problems<br />

gelangen.<br />

K r i e g b e d e u t e t M a s s e n g e w a l t g e g e n M a s s e n g e w a l t . U m<br />

den Krieg z u begreifen, müssen wir d a s U r s p r ü n g l i c h e d e s G e w a l t -<br />

P r i n z i p s zu erforschen suchen.<br />

Die anthropologische <strong>und</strong> biologische Wissenschaft hat uns einerseits<br />

den Kampf ums Dasein, wie auch die Entwicklungsgeschichte des Menschen<br />

gelehrt, daß der primitive Mensch in seinem bitteren Daseinskampfe wider<br />

die Naturelemente, wie auch in der Überwindung des Mangels gegen seinesgleichen<br />

Gewalt anwandte, mögen wir füglich zugeben. Obgleich wir sofort<br />

hinzufügen müssen, daß, wie Krapotkin uns so großartig weitblickend lehrt,<br />

dieser Kampf des Menschen wider den Menschen n i c h t den hauptsächlichsten<br />

Teil seiner Lebensbetätigung ausfüllt, sondern daß es weit eher<br />

g e g e n s e i t i g e H i l f e u n d V e r e i n g u n g der primitiven Menschen waren,<br />

die sie durch die verschiedenen Stadien der Wildheit bis hinauf zu den<br />

ersten Ansiedlungen kulturellen Lebens gelangen ließen. Hätte es im primitiven<br />

Menschenleben n u r den Daseinskampf wider die eigene Art gegeben,<br />

so wäre ihm letztere Hinauf- <strong>und</strong> Emporentwicklung n i e gelungen, das<br />

Menschengeschlecht wäre höchstens dazu gelangt, sich gegenseitig aufzureiben.<br />

Davor bewahrte es der Faktor der Solidarität oder richtiger: Die<br />

s o l i d a r i s c h e N o t w e n d i g k e i t .<br />

Doch es kann zugegeben werden, daß es hier <strong>und</strong> da zu Zusammenstoßen<br />

gewaltsamer Natur zwischen Mensch <strong>und</strong> Mensch kam. Wir können<br />

der Wissenschaft — ist sie auch nicht immer sehr objektiv — das Zugeständnis<br />

machen, daß es sogar vorgekommen sein mag, daß sich zuweileten<br />

einige gegen einen oder mehrere Menschen verbanden <strong>und</strong> im gegenseitigen<br />

Kampfe ihren wilden, barbarischen Instinkten freien Lauf ließen, Totschlag<br />

<strong>und</strong> Mord verübten. Aber im Ganzen <strong>und</strong> Großen wird man nicht umhin<br />

können, einzusehen, daß es sich in all diesen Fällen vornehmlich um den<br />

Einzelkampf zwischen Mensch <strong>und</strong> Mensch handelte. Es war das, was wir<br />

heute noch sehen in der Form von Duellen bei den „Feinsten <strong>und</strong> Edelsten"<br />

der Nation. Solche Einzelkämpfe bilden aber noch lange keinen Krieg, auch<br />

waren sie außerordentlich selten <strong>und</strong> wurden ziemlich vermieden im primitiven<br />

Kommunismus des Menschengeschlechtes.<br />

Allen diesen Einzelzusammenstößen fehlte das kennzeichnende Merkmal<br />

des Krieges: d e r o r g a n i s i e r t e K a m p f v o n G e m e i n s c h a f t w i d e r<br />

G e m e i n s c h a f t , o r g a n i s i e r t v o n e i n e m b e w u ß t d i r i g i e r e n d e n<br />

Z e n t r u m . Und letzteres charakteristische Merkmal taucht erst viel später<br />

auf. Es fällt zusammen mit dem Aufkommen einer organisierten Macht innerhalb<br />

der sozialen Gemeinschaft: d e s S t a a t e s . Erst mit ihm erfolgt das,<br />

was wir da nennen M i l i t a r i s m u s , <strong>und</strong> erst der Militarismus ergibt <strong>und</strong><br />

nur der Militarismus kann ergeben: d e n K r i e g .<br />

Es ist heute eine feststehende, wissenschaftlich unwiderlegbar gestützte<br />

<strong>und</strong> bewiesene Tatsache, daß der Staat erstanden ist durch die Gewalt. Die<br />

Stärksten vereinigten sich <strong>und</strong> in der Aufpflanzung der Autorität, die in<br />

letzter Instanz stets auf physische Gewalt zurückgreift, bemächtigten sie sich<br />

der Vorteile <strong>und</strong> Lebensquellen der Gemeinschaft. Diese Stärksten waren<br />

zuerst die Priester, diejenigen, die in dem unklaren Geist des primitiven<br />

Menschen den Wahnglauben der Religion pflanzten. Ihre Stärke bestand anfangs<br />

mehr in ihrer List <strong>und</strong> Schlauheit, als in ihrer physischen Übermacht.<br />

Diejenigen, die sich so aufwarfen zu Beherrschern der Gemeinschaft, vernichteten<br />

die ursprüngliche Freiheit <strong>und</strong> Gleichheit der Menschen <strong>und</strong> sie<br />

stützten ihre Herrschaft vornehmlich dadurch, daß sie die Beute unter sich<br />

verteilten. Berauscht von den Wahnideen der Metaphysik, die die Priester<br />

— die ersten Könige — sie lehrten, brachten die Menschen ihre Opfergaben<br />

dar, die sich im Laufe der Zeit zu festbestimmten Abgaben <strong>und</strong> Steuern<br />

erweiterten.<br />

In dem Wesen einer jeden Autorität liegt es begründet, daß sie nach<br />

Machterweiterung strebt, zu einer Vergrößerung ihrer Herrschaftssphäre getrieben<br />

wird. Sowohl im eigenen, selbstisch-materiellen Interesse, wie auch<br />

im Interesse der Aufrechthaltung ihrer Macht im eigenen Grenzgebiete,<br />

Letzteres ist höchst wichtig, <strong>und</strong> es kann nur geschehen, wenn der auf das<br />

Übernatürliche gerichtete Sinn der Menschen eine stets neue Nahrung dadurch<br />

findet, daß ihm die Autorität, also der Staat, in immer neuen Manifestationen<br />

des Übernatürlichen entgegentritt. Der menschliche Geist muß so gedrillt<br />

werden, daß er sich nur als Werkzeug, als Mittel höherer, überirdischer<br />

Zwecke betrachtet. Die Autorität kann sich nur erhalten, wenn sie im Stande,<br />

sich dem Menschen als eine mit überirdischen Kräften ausgestattete, von<br />

Übernatürlichem beschirmte Macht darzustellen. Um dies zu erreichen <strong>und</strong><br />

um die Menschen für ihre materiellen Interessen, deren Zwecken gsmäß zu<br />

züchten, wurde aus dem ehemaligen Führer der Jagd, der den Segen übernatürlicher<br />

Kräfte auf das Vorhaben seiner Gruppierung herabflehte, ein<br />

König, ein Kriegsführer, der die Begriffe: Vaterland, Patriotismus, Nationalismus<br />

im Laufe der historischen Entwicklung lehrte <strong>und</strong> lehren ließ. Und da<br />

ein jedes Herrschertum darnach trachtet, sich als das allein zu Recht bestehende<br />

angestaunt zu sehen, dann auch nach dem Reichtum des Nachbarn<br />

Fortsetzung folgt. .


Wien, 20. September 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. — Nr. 18.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />

I./17. — Gelder sind zu senden an<br />

W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />

5, III./27.<br />

Keinen Herrn.<br />

Aus dem Englischen übersetzt von<br />

Lilly N a d l e r - N u e l l e n s .<br />

Sagt Mensch zu Mensch, wir wissen wohl,<br />

Wir brauchen keinen Herrn,<br />

Auf unsrer Erd zu leben frei<br />

Und allem Übel fern.<br />

Das Leid der Sklaven früh'rer Zelt<br />

Jetzt uns In Ketten schlägt,<br />

Der Arbeit ewige Geduld<br />

Stets neue Fesseln prägt.<br />

Und sollen wir auch ohne Kampf<br />

Erdulden unsre Not,<br />

Hinsiechend in dem Leben schon<br />

Aus Angst vor frühem T o d ?<br />

Nein, ruft es laut, habt keine Furcht:<br />

Wir Wen'ge sind genug<br />

Der Welt zum Trotz, die Hoffnung siegt<br />

Selbst gegen diesen Fluch!<br />

Sie wächst <strong>und</strong> wächst; sind wir es noch,<br />

Die kleine Schar, zerstreut?<br />

Wer sind denn diese, kühnen Aug's<br />

Zu Kampf <strong>und</strong> Tat bereit?<br />

Das Heer ist's, dessen Losungswort:<br />

»Nicht H e r r n , n i c h t K n e c h t e m e h r ! "<br />

Ein flammend Licht, ein blitzend Schwert,<br />

Ein Sturm, der fegt daher!<br />

William Morris.<br />

Der Antimilitarismus vor<br />

Gericht.<br />

In einem düstern Schwurgerichtssaal<br />

zu Brüx stehen zwei schlichte Bergarbeiter<br />

vor den Gerichtsschranken. Zwei Arme,<br />

zwei schwache Menschen, gegen die die<br />

Macht des Staates mobil gemacht wird,<br />

denn sie sind eine Kraft, <strong>und</strong> es strahlt aus<br />

ihren Augen ein Überzeugungsidealismiis,<br />

der den Herrschenden Entsetzen einflößt.<br />

Es sind «gefährliche Menschen»; nicht weil<br />

sie Waffen tragen wie der Soldat, der sie<br />

bewacht <strong>und</strong> die Gendarmen, die das Gerichtsgebäude<br />

umzingeln; auch nicht, weil<br />

auf ihren Wink eine bewaffnete Gewalt,<br />

Tod <strong>und</strong> Verderben verursachend, sich in<br />

Bewegung setzte. Es sind keine Machthaber<br />

der Faust <strong>und</strong> der Gewalt; nur Bergarbeiter,<br />

Proletarier, die am wuchtigsten die Faust<br />

der lebenverkürzenden Ausbeutung fühlen<br />

<strong>und</strong> sind dennoch gefürchtet, sind «gefährliche<br />

Menschen». Denn sie verkörpern<br />

nicht nur das Elend des Proletariats, sie<br />

verkörpern gleichzeitig dessen reifende Erkenntnis,<br />

dessen Siegeswaffen der Befreiung,<br />

sie vertreten eine Idee — d i e I d e e d e s<br />

A n t i m i l i t a r i s m u s .<br />

Wozu all das Aufgebot an juridischer<br />

<strong>und</strong> militärischer Gewalt, wenn der Staat<br />

glaubt, daß diese Männer geschmäht haben?"<br />

Weshalb seine Empörung über ihre Mißachtung<br />

des Vaterlandes? Schließlich muß<br />

man es doch einem jeden seinem e i g e n e n<br />

Gefühl überlassen, ob er sein Vaterland<br />

lieben will oder nicht. Die Liebe läßt sich<br />

nicht zwingen, ebensowenig wie der Haß;<br />

diese Gefühlsregungen <strong>und</strong> Geistesempfindungen<br />

des Menschen müssen ganz bestimmte<br />

Anlässe haben, um auftreten,<br />

um walten zu können. Nowak <strong>und</strong><br />

Fronek, die zwei angeklagten Bergarbeiter<br />

<strong>und</strong> Antimilitaristen, haben erklärt,<br />

„ I n E r w ä g u n g , dass die E m a n z i p a t i o n d e r A r b e i t e r k l a s s e selbst e r o b e r t w e r d e n m u s s ; dass<br />

d e r K a m p f für die E m a n z i p a t i o n d e r A r b e i t e r k l a s s e kein K a m p f für K l a s s e n v o r r e c h t e <strong>und</strong><br />

M o n o p o l e ist, s o n d e r n für g l e i c h e R e c h t e <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die V e r n i c h t u n g a l l e r K l a s s e n -<br />

h e r r s c h a f t ; d a s s die ö k o n o m i s c h e U n t e r w e r f u n g d e s A r b e i t e r s u n t e r den A n e i g n e r n d e r A r b e i t s -<br />

mittel, d. h. d e r L e b e n s q u e l l e n , d e r K n e c h t s c h a f t in allen ihren F o r m e n zu O r u n d e liegt —<br />

d e m gesellschaftlichen E l e n d , d e r g e i s t i g e n V e r k ü m m e r u n g <strong>und</strong> d e r politischen A b h ä n g i g k e i t ;<br />

d a s s die ö k o n o m i s c h e E m a n z i p a t i o n d e r A r b e i t e r k l a s s e d a h e r d e r g r o s s e E n d z w e c k ist, d e m<br />

j e d e politische B e w e g u n g u n t e r z u o r d n e n ist . .<br />

daß s i e kein Vaterland haben, daß i h n e n<br />

das Vaterland nichts ist, daß s i e in ihm<br />

nur den unbeweglichen Besitzstand der<br />

reichen Kapitalistenklasse vertreten sehen,<br />

ein Besitzstand, der vom Staate mit militärischen<br />

Grenzlinien umzogen wird. Deshalb<br />

verwerfen sie den Begriff Vaterland;<br />

er ist i h n e n nichts. Schmähungen? Wo<br />

sind hier die Schmähungen, wenn man auf<br />

diesen 48 Jahre alten Mann blickt, dessen<br />

zusammengesunkene, ausgemergelte Gestalt<br />

einen Sechzigjährigen vermuten ließe; dessen<br />

Lebenstage, die ihm sein Vaterland bietet,<br />

gezählt <strong>und</strong> gewogen sind. Schmähungen?<br />

Aber weshalb es dann nicht dem Urteil<br />

der breiten Massen überlassen, ob es sich<br />

hier um Schmähungen oder um Konstatierung<br />

von Tatsachen handelt? Gewiß,<br />

wenn es dem Volke gut geht, wenn es<br />

Wohlstand <strong>und</strong> Lebensgedeihlichkeit besitzt<br />

wie wird es doch über den Toren<br />

lachen, der ihm sagen will, daß ihm das<br />

Vaterland nichts bietet, <strong>und</strong> daß nur die<br />

Reichen ein Vaterland haben, die Armen<br />

jedoch nur die internationale Welt der<br />

Knechtung <strong>und</strong> den internationalen Befreiungskampf!<br />

Weshalb läßt es der Staat<br />

nicht darauf ankommen, daß die breiten<br />

Volksmassen es selbst erkennen können,<br />

daß Nowak <strong>und</strong> Fronek nur schmähten?<br />

Weshalb ist er es, der sich da aufwirft zu<br />

der Behauptung, die beiden hätten «geschmäht»,<br />

der nicht abwartet, bis das Volk,<br />

das leidende Volk, sich wider die beiden<br />

kehrt? Wenn Nowak <strong>und</strong> Fronek geschmäht,<br />

wirklich geschmäht haben, wenn sie nicht<br />

demjenigen Ausdruck <strong>und</strong> geistige Gestaltung<br />

verliehen haben, was in der Volksseele<br />

zu dämmern beginnt <strong>und</strong> schon längst<br />

dumpf gefühl' wird, dann könnte sich der<br />

Staat mit seinen Funktionären all die Arbeit<br />

ersparen; die zwei Bergarbeiter brauchen<br />

nicht angeklagt oder verurteilt zu werden,<br />

es würde ja so wie so kein Mensch auf<br />

sie hören.<br />

Aber die Herren der Gewalt <strong>und</strong><br />

Macht w i s s e n , daß die Angeklagten n i c h t<br />

geschmäht, sondern die Wahrheit gesprochen<br />

haben. Blickt auf die Richter: ges<strong>und</strong>e,<br />

kräftige Männergestalten, die ein schönes<br />

Greisenalter vor sich haben; beseht euch<br />

die wohlgenährte Gestalt des Staatsanwaltes;<br />

bew<strong>und</strong>ert das R<strong>und</strong>bäuchlein des possierlichen<br />

Gendarmen Lorenz, der da glaubt,<br />

eine «wichtige Person» geworden zu sein<br />

— <strong>und</strong> dann schaut auf diese zwei Bergarbeiter:<br />

der eine schon halb in den Armen<br />

des Todes, der andere, der als 22 jähriger<br />

schon Runzel trägt <strong>und</strong> als 40jähriger Mann<br />

ein todessiecher Greis sein wird, wenn er<br />

nicht früher den «schlagenden Wettern»<br />

zum Opfer gefallen. Da fragen wir doch<br />

ganz entschieden: Was hat das Vaterland<br />

d i e s e n Männern anderes als blutrünstige<br />

Lebensstriemen gebracht; was hat es i h n e n<br />

jemals an Lebensfreude, Wohlfahrt <strong>und</strong><br />

Auskömmlichkeit gegeben? Nichts. Und es<br />

sind diese Männer, die als Vertreter der<br />

Welt des Proletariats dastehen; n i c h t die<br />

Vornehmen, die Politiker oder die Richter.<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2-40";<br />

halbjährig K 1-20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3 -<br />

5 0 , halbjährig Fr. l -<br />

75, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

Über vier Monate hat man diese Männer<br />

in Untersuchungshaft behalten, um sie<br />

dann mit 14, resp. 30 Tagen Arrest zu bestrafen.<br />

Wer wird ihnen diese lange Untersuchungshaft<br />

ersetzen? Wer sorgte mittlerweile<br />

für die unmündigen Kinder des einen,<br />

die betagten Eltern des anderen? Der Staat,<br />

das Vaterland vielleicht? Allerdings, wir,<br />

die wir die bangen Prozeßst<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die<br />

bedrückenden Momente der letzten Entscheidung<br />

durcherlebt haben, geben gern<br />

zu, daß das Ende der beiden Kameraden<br />

hätte strenger sein können, als es glücklicherweise<br />

ausfiel. In Wien z. B. vor<br />

christlichsozialen Geschworenen wäre es<br />

ihnen wahrscheinlich nicht so glimpflich<br />

ergangen, wie in dem, bis in breite bürgerliche<br />

Kreise hinein den Radikalismus wenigstens<br />

etwas verstehenden Böhmen. Doch<br />

was tut dies zur Sache, wenn man gerade<br />

solche Zufälle bei einer Gerichtsentscheidung<br />

berücksichtigen muß <strong>und</strong> s i e die «Gerechtigkeit»<br />

ergeben.<br />

Es ist das e r s t e Mal, daß wir in Österreich<br />

einen antimilitaristischen Prozeß haben,<br />

der sich ausschließlich <strong>und</strong> ausdrücklich<br />

um Anarchisten dreht. Und die Angeklagten<br />

haben sich freimütig zu ihrer Geistesgesinnung<br />

bekannt. Wir freuen uns aufrichtig<br />

dessen, daß auch in Österreich der Anarchismus<br />

einmal Gelegenheit besaß, sich als<br />

das vor Gericht zu erweisen, was er ist:<br />

als eine Lebensanschauung, die radikal mit<br />

allen Begriffen der heutigen Gesellschaftsordnung<br />

gebrochen hat. sich ihre eigene<br />

Humanität, ihre eigene Ethik <strong>und</strong> Aktion<br />

zurechtlegt; <strong>und</strong> noch erfreulicher ist <strong>und</strong><br />

war es, sehen zu können, daß diese spezifisch<br />

anarchistischen Anschauungen sich<br />

eins wissen <strong>und</strong> zusammenfließen mit dem<br />

großen Universalgedanken höchster Humanität,<br />

wahrsten Friedens <strong>und</strong> echtester<br />

Brüderlichkeit. Der österreichische Anarchismus<br />

hat in seiner Geschichte viel Unglück<br />

gehabt, zahlreiche seiner Prozesse<br />

<strong>und</strong> Aktionen waren für ihn selbst eine<br />

Niederlage, indem sie in seinem Namen<br />

von Nichtanarchisten, von radikalen Sozialdemokraten<br />

oderVerzweifelten unternommen<br />

wurden. Diesmal war es anders, hoffen wir,<br />

daß es nur so wieder <strong>und</strong> immer wieder<br />

kommen soll, wenn der Staat es so haben<br />

will: es müssen Jünger einer Geistesanschauung,<br />

Männer <strong>und</strong> Frauen sein, die<br />

eine neue Welt der Gewalts- <strong>und</strong> Herrschaftslosigkeit<br />

vertreten, die der Staat verfolgen<br />

soll; denn wenn er solche verfolgt,<br />

so wird deren Lehre unverrammelbar ihren<br />

<strong>Weg</strong> finden zu den Massen, dieser Gedanke<br />

der wirklichen Freiheit <strong>und</strong> Menschheitsbefreiung<br />

— der Anarchie — wird seinen<br />

<strong>Weg</strong> finden selbst durch die dicksten Gerichtsmauern<br />

<strong>und</strong> gerade aus dem Wüten<br />

der militärischen Macht des Staates heraus<br />

wird die glänzendste Beweiskraft erstehen<br />

für die leuchtende Wahrheit der Lehre des<br />

Anarchismus, die da kurz Herren <strong>und</strong><br />

Knechte abschaffen will, ihrer sozial taktischen<br />

Methode, dem anarchistischen Antimilitarismus,<br />

der die Gewalt, als die ewige


Vergewaltigung der Menschheit, völlig beseitigen<br />

will aus ihrem Bereiche.<br />

In der Herrschaftslosigkeit ist allein<br />

die Gewaltlosigkeit gegeben; sie allein kann<br />

den Boden abgeben für einen Gesellschaftszustand<br />

des Gemeinschaftseigentumes, der<br />

Abwesenheit von jeder Autorität, jedem<br />

Richter, Staatsanwalt, Soldaten, Polizisten,<br />

Scharfrichter, ohne Zwangsfabriken, Kasernen<br />

<strong>und</strong> Gefängnisse. Nur in der Erreichung<br />

dieses Zustandes ist für die<br />

Menschheit die Lösung der sozialen Frage<br />

gegeben, niemals in den Formveränderungen<br />

des bestehenden Staates, der Parlamente,<br />

des Militarismus. Alles dies muß untergehen,<br />

auf daß eine ges<strong>und</strong>ete Menschheit erstehe!<br />

Dafür haben die Antimilitaristen vor<br />

dem Brüxer Schwurgericht gekämpft; dafür<br />

wird auch der eine, Rudolf Trejbal, büßen<br />

müssen, dessen Schicksal sicherlich ein<br />

grauenvolles zu nennen ist. Wird er doch<br />

vor die moderne Inquisitionsbehörde unserer<br />

Zeit, vor ein K r i e g s g e r i c h t gestellt<br />

werden, wo ihm weder ein Rechtsanwalt,<br />

noch irgend ein milderndes Hinterpförtchen<br />

der Widersprüche des Gesetzes zu Hilfe<br />

kommen können. Dort waltet nur die Brutalität<br />

des Militarismus, der Geist eines<br />

modernen Torquemada. — Aber das eine<br />

fühlen wir alle ganz deutlich, daß das<br />

Leiden für diese Idee kein vergebliches<br />

genannt werden kann. Dieses Leiden wird<br />

es den Menschen unzweideutig einschärfen,<br />

daß das einzige Mittel wider diesen merkwürdigen<br />

Zustand des Lebens, in dem<br />

Menschen zu Mördern anderer Menschen,<br />

zu deren kaltherzigsten Folterknechten werden,<br />

nicht dadurch aufgehoben werden<br />

kann, wenn man andere Menschen an ihre<br />

Stelle setzt. Nein, es ist die Sache der Autorität<br />

selbst, der Herrschaft an <strong>und</strong> für sich,<br />

die schlecht ist, sagte der junge englische<br />

Denker Edm<strong>und</strong> Burke. Er sprach eine<br />

große Wahrheit aus, die die Menschen<br />

durch den Anblick des Leidens der Pioniere<br />

begreifen lernen werden, durch ihre tiefe<br />

Einsicht, daß die Rettung vor der Gewalt<br />

des Staates, die endgültige Befreiung von<br />

den entsetzlichen Marterwerkzeugen der<br />

Staatsgewalt einzig <strong>und</strong> allein im konsequenten<br />

Antimilitarismus gelegen ist. Dieser<br />

entwaffnet die Gewalthaber, <strong>und</strong> es beginnt<br />

der Tag der Freiheit, der Arbeit <strong>und</strong> des<br />

Genusses in Freiheit — der Anarchie.<br />

Die Schwurgerichtsverhandlung<br />

des ersten antimilitaristischen<br />

Prozesses in Österreich*.<br />

Am 5. S e p t e m b e r begann im Schwurgerichtssaal<br />

des Gerichtsgebäudes zu Brüx in Böhmen der<br />

erste antimilitaristische Prozeß, dessen sich Jungösterreich<br />

rühmen darf. Angeklagt waren die Bergarbeiter<br />

F r a n z N o w a k <strong>und</strong> J o s e f F r o n e k .<br />

Als Mitangeklagter hätte eigentlich der Kontorist<br />

R u d o l f T r e j b a l fungieren sollen, doch i n Anbetracht<br />

des Umstandes, daß der letztgenannte als<br />

Soldat seine antimilitaristische Aktion begangen<br />

haben soll, schied er aus dem Zivilverfahren aus,<br />

wird vor das Kriegsgericht gestellt werden; der<br />

nachfolgenden Verhandlung wohnte Trejbal nur<br />

als Zeuge bei.<br />

Die Verhandlung began-i um etwa 10 Uhr<br />

vormittags <strong>und</strong> fand unter vollständigstem Ausschluß<br />

der Öffentlichkeit statt. Anwesend waren nur<br />

die Vertrauensmänner der Angeklagten. Letzteren<br />

standen als Rechtsbeistände die Herren Dr. H e r z -<br />

b e r g - F r ä n k e l (Wien) <strong>und</strong> D r . V a c l a v B e n d e l<br />

(Prag) zur Seite.<br />

Der Gerichtshof bestand aus den Herren<br />

Landesgerichtsräten S t ö g e r , dessen Bruder <strong>und</strong><br />

W a n ě k. Als Staatsanwalt fungierte Herr Dr. M e y e r .<br />

Mit Rücksicht auf die Geschworenen, von<br />

denen nur einer der tschechischen S p r a c h e mächtig<br />

war, mußte die Verhandlung in deutsch <strong>und</strong> böhmisch<br />

geführt werden.<br />

Die Verhandlung wird mit dem Verhör des<br />

Angeklagten Fronek eröffnet. Auf die Fragen des<br />

Vorsitzenden gibt derselbe etwa folgendes zuProtokoll:<br />

* Die obigen Aufzeichnungen bieten nur einen<br />

generellen Überblick des P r o z e s s e s <strong>und</strong> seiner Verhandlungen,<br />

da der stattgehabte Ausschluß der<br />

Öffentlichkeit uns eine besondere Beschränkung<br />

aufnötigt. Dennoch glauben wir, das wesentliche<br />

Material zusammengetragen zu haben, um dem<br />

Leser ein objektives Urteil zu ermöglichen. Die Red.<br />

F r o n e k : Ich wurde am 1. September 1886<br />

in Dux geboren. Ich besuchte die Volks-, Bürger<strong>und</strong><br />

Fortbildungsschule, bin gegenwärtig Bergarbeiter.<br />

Mit meinen Eltern lebe ich in gemeinschaftlichem<br />

Haushalt <strong>und</strong> besitze keinerlei Vermögen.<br />

Ich wurde bereits einmal zu einer Strafe<br />

von 24 St<strong>und</strong>en oder zur Zahlung von 10 Kronen<br />

wegen Übertretung des Kolportageverbotes verurteilt.<br />

Die Strafe konnte nicht vollzogen werden,<br />

da ich anfangs Mai verhaftet wurde.<br />

N o w a k : Ich wurde am 18. November 1860<br />

geboren <strong>und</strong> bin nach Dux zuständig. Ich bin konfessionslos<br />

<strong>und</strong> habe vier Kinder im Alter von 10<br />

bis 22 Jahren. Ich bin Bergarbeiter seit meinem<br />

13. Lebensjahr, als ich die Volksschule verlassen<br />

mußte, um mir meine Existenz zu verdienen. Ich<br />

habe beim Militär nicht gedient, wurde wegen<br />

Übertretung des Kolportageverbotes einmal mit<br />

5 Kronen vorbestraft.<br />

Es werden nun die 12 Geschwornen, wie der<br />

Zeuge R. Trejbal vereidigt.<br />

Der Staatsanwalt verliest hierauf die Anklageschrift,<br />

die wir in ihren Hauptstellen wiedergeben:<br />

Anklage.<br />

Die Staatanwaltsctiaft erhebt gegen Franz<br />

Nowak <strong>und</strong> Josef Fronek die Anklage, miteinander<br />

Verabredungen getroffen <strong>und</strong> das Konzept zu einem<br />

(bestimmten) antimilitaristischen Plakat entworfen<br />

<strong>und</strong> sich zum Zwecke der Vervielfältigung desselben<br />

einen Hektographen widerrechtlich angeschafft zu<br />

haben. Am 1. Mai 1908 wurden in Osseg Schriften<br />

verbreitet, die eine Verächtlichmachung <strong>und</strong> Aufreizung<br />

zum Haß gegen den Militarismus involvieren,<br />

wie die in gewissen militärischen Verpflichtungen<br />

zum Militär stehenden Männer zur Verletzung dieser<br />

Pflichten aufforderten. An obigem Datum bemerkte<br />

die Gendarmerie von Osseg Plakate an<br />

verschiedenen Gebäuden, die folgenden Inhaltes<br />

waren :<br />

„An die jugendlichen Arbeiter!"<br />

(Es folgt nun das inkriminierte Manifest, das<br />

in scharfen Worten sich gegen die Militärinstitution<br />

der Konskription <strong>und</strong> Assentierung kehrt; eine<br />

scharfe Kritik des Militarismus <strong>und</strong> Aufzählung<br />

seiner Opfer; eine Ermahnung der Arbeiter, auch<br />

als Soldaten sich als Kinder des Volkes zu fühlen<br />

<strong>und</strong> auf die eigenen Väter, Mütter, Geschwister etc.<br />

nicht zu schießen. Das Manifest ist antipatriotisch<br />

<strong>und</strong> erkennt das Vaterland nicht an, es ist anarchistisch-antitnilitaristisch,<br />

indem es in flammenden<br />

Worten den Staat verwirft. Es nennt den Militarismus<br />

immer wieder: die Geißel, den Fluch <strong>und</strong><br />

Feind jeder wahren Kultur; er müsse beseitigt<br />

werden).<br />

„Die Verbreitung obiger Plakate fand auch in<br />

Dux statt. Es entstand sofort die Vermutung, daß<br />

die unabhängigen Sozialisten <strong>und</strong> Anarchisten, die<br />

sich um das anarchistische Bergarbeiterblatt „Hornicky<br />

Listy" gruppieren, die Urheber dieser Plakate <strong>und</strong><br />

ihrer Plakatierung seien. Im allgemeinen beweist<br />

das Plakat Bildung, was nur natürlich, da man es<br />

in Trejbal mit einem absolvierten Real- <strong>und</strong> Handelsschüler<br />

zu tun hat. Man schritt zur Verhaftung<br />

der Angeklagten, <strong>und</strong> Fronek gestand zu, daß er<br />

mit Trejbal das Plakat in etwa 55 Abzügen hergestellt<br />

hatte. Dies führte zur Verhaftung des Trejbal,<br />

der in Theresienstadt beim Militär diente.<br />

Trejbal legte ebenfalls ein freimütiges Geständnis<br />

ab, nach dem er in der Wohnung des Fronek die<br />

Plakate hergestellt hatte.<br />

„Die Aussagen des Trejbal sind kurz: Im April<br />

1908 befand er sich auf Urlaub in Dux, wo er mit<br />

den Kameraden anarchistischer Gesinnung verkehrte.<br />

Fronek forderte ihn zu einem Konzept für ein antimilitaristisches<br />

Plakat auf. Dazu brachte er eine<br />

Geldsumme von 10 Kronen auf, die er Trejbal zur<br />

Anschaffung eines Hektographen <strong>und</strong> Papier übergab.<br />

Am darauffolgenden Sonntag schrieb Fronek<br />

das Konzept ab. Auf die Idee, ein solches Plakat<br />

herauszugeben, kamen die Angeklagten durch den<br />

Umstand, daß kurz vorher die tschechischen Nationalsozialisten<br />

<strong>und</strong> Sozialdemokraten gleichfalls<br />

Plakate gegen die Assentierung herausgaben. Die<br />

Kameraden kamen zusammen <strong>und</strong> einer machte<br />

darauf aufmerksam, daß man selbst ein Plakat<br />

eigener Gesinnung herausgeben sollte.<br />

Im Vorverhör erklärte Nowak, daß er die<br />

scharfen Ausdrücke in dem Manifest nicht kenne,<br />

Trejbal erklärte seinerseits, er habe an dem Schriftstück<br />

nichts geändert, sondern es höchstens orthographisch<br />

korrigiert.<br />

Es stellte sich heraus, daß die Plakatierung<br />

in Haan, Osseg <strong>und</strong> Dux erfolgt war.<br />

„ G r ü n d e :<br />

„Über ihre besonderen Absichten sprechen sich<br />

die Angeklagten nicht aus. Die Staatsanwaltschaft<br />

erklärt, daß dieselben Mitglieder der anarchistischen<br />

Partei in Böhmen sind, die den Staat überhaupt<br />

<strong>und</strong> den Militarismus abschaffen will. Offenbar<br />

wollten die Angeklagten zur Zeit der Einrückung,<br />

wo die Gemüter der jungen Leute erregt sind, diese<br />

zur Empörung treiben. Nicht nur, daß die Plakate<br />

den Staat als Feind erklären, wird auch in glühenden<br />

Worten Propaganda für seine Beseitigung gemacht.<br />

Was kann den Lesern solcher Plakate<br />

anderes übrig bleiben als zu glauben, daß das<br />

Vaterland für den Arbeiter nichts sei <strong>und</strong> nur dem<br />

Wohlhabenden gehöre? Die Folge eines solchen,<br />

allerdings ungerechtfertigten Schlusses muß natürlich<br />

sein, daß der Staat der Hauptfeind <strong>und</strong> Organisator<br />

des Unglücks <strong>und</strong> Elends der Menschen sei. Aus<br />

diesem Gr<strong>und</strong>e sah sich die Staatsanwaltschaft<br />

veranlaßt, die Verfolgung gegen die Angeklagten<br />

einzuleiten. Es geschah dies auf Gr<strong>und</strong> der §§ 65,<br />

305 <strong>und</strong> 222.«<br />

Nach Verlesung dieser Anklageschrift erhob<br />

sich Rechtsanwalt Frankel <strong>und</strong> legte Einspruch wider<br />

das Gesamtverfahren ein; sein juridischer Standpunkt<br />

war, daß zu einer solchen, sich auf den<br />

Militarismus beziehenden, strafgerichtlichen Verfolgung,<br />

die klar spezifizierte Zustimmung des k. k.<br />

Kriegsministeriums notwendig sei. Diese sei nicht<br />

in der vom Gesetz vorgeschriebenen Form erfolgt.<br />

Er stellte daher den Antrag, das Strafverfahren<br />

gegen die Angeklagten bis auf weiteres sofort einzustellen.<br />

Der Staatsanwalt protestierte gegen den Antrag<br />

des Verteidigers, das Gericht zog sich zur Beratung<br />

zurück <strong>und</strong> beschloß, dem Antrage des Verteidigers<br />

n i c h t stattzugeben.<br />

Das Verhör des Josef Fronek wird nun<br />

wieder aufgenommen.<br />

Fr: „Ich fühle mich t e i l w e i s e schuldig der<br />

in der Anklageschrift ausgesprochenen Anklagen<br />

wider mich. Ich gestehe dies unumw<strong>und</strong>en ein. —<br />

Er gehöre dem Verein „Omladina" <strong>und</strong> einem politischen<br />

Arbeiterverein an. Er sei Anarchist <strong>und</strong><br />

Mitglied der Föderation der Bergarbeiter, die von<br />

Anarchisten begründet wurde, der aber auch Nichtanarchisten<br />

angehören, alle die willens sind, auf<br />

ökonomischer Gr<strong>und</strong>lage den Kampf gegen den<br />

Kapitalismus zu führen. Er kenne Trejbal seit seinen<br />

Schuljahren, da er mit diesem in dieselbe Schule<br />

gegangen. Von wem der Gedanke, das vorliegende<br />

Protokoll herauszugeben, ausgegangen sei, wisse<br />

er nicht mehr."<br />

P r ä s i d e n t : „Die Art <strong>und</strong> Weise des Vorgehens<br />

ist zu langsam, auf diese Weise können wir<br />

ein paar Tage hier sitzen. Ich fordere Sie auf, Ihr<br />

im Vorverhör abgelegtes Geständnis zu wiederholen."<br />

Fr.: „Ich kann nur sagen, daß ich das Geld<br />

dazu gegeben habe. Mein Zweck bestand darin,<br />

es der Jugend nahe zu legen, daß sie sich dem<br />

Volke nicht entfremde <strong>und</strong> von demselben entferne,<br />

wenn zum Militär eingerückt."<br />

Pr.: „Kannten Sie den Inhalt?"<br />

Fr.: „Ja, ich kannte flüchtig den Inhalt, aber<br />

nicht den genauen Wortlaut."<br />

Pr.: „Weshalb sind einzelne Sätze rot, die<br />

anderen blau geschrieben?"<br />

Fr: „Das weiß ich nicht, denn ich habe das<br />

Plakat auf dem Hektograph nur abgezogen, aber<br />

nicht geschrieben. Selbst fügte ich nur das Bildchen<br />

mit dem gebrochenen Gewehr <strong>und</strong> den zwei brechenden<br />

Händen, wie auch die Worte: .Keinen<br />

Mann, keinen Heller dem Militarismus', bei."<br />

Pr: „Haben Sie sich auch an der Plakatierung<br />

beteiligt?"<br />

Fr.: „Ja, ich habe insgesamt 25 Plakate angeschlagen."<br />

Pr.: „Was meinten Sie mit der Äußerung: ,Deir<br />

Feind sind die Repräsentanten des Staates' usw.?"<br />

Fr.: „Ich meinte damit, daß die Feldarbeiter<br />

<strong>und</strong> das Proletariat sich gegen den Staat organisieren<br />

sollen,"<br />

Pr.: „Was bezweckten Sie mit dem Plakat?"<br />

Fr: „Ich weiß aus den Zeitungen, daß besonders<br />

in jüngster Zeit viele Soldaten beim Militär<br />

mißhandelt werden; das Plakat sollte einem Protest<br />

dagegen Ausdruck geben."<br />

Pr.: „Was meinten Sie mit der Äußerung:<br />

.Wenn man euch befiehlt, auf eure Brüder zu schießen,<br />

dann . . . ? "<br />

Fr.: „Ich wollte damit sagen, daß die Kinder<br />

unter keinen Umständen auf die Väter schießen<br />

sollten."<br />

Dr. F r a n k e l : „Ich ersuche den hohen Gerichtshof,<br />

einen Brief des Angeklagten Fronek, der<br />

in dem Gefängnis geschrieben, doch saisiert wurde,<br />

zur Verlesung zu bringen. Derselbe wird Licht auf<br />

die Motive werfen, von denen der Angeklagte beseelt<br />

war."<br />

Pr. (liest aus dem Briefe vor): „. . . Ich bin,<br />

geliebter Vater, aus diesem Gr<strong>und</strong>e eingesperrt,<br />

weil ich die Gedanken eines anderen zu den meinen<br />

machte <strong>und</strong> öffentlich anklebte. Ich erblickte darin<br />

mein gutes Recht, nichts Ungesetzliches. Allerdings,<br />

die hohen Herren fragen nicht nach den Ursachen,<br />

werden sich um die wahren Urheber wenig bekümmern.<br />

Der wahre Urheber, das ist jener Korporal,<br />

der, als ein Soldat im Mannschaftszimmer<br />

nicht mehr alle diejenigen zwecklosen Bewegungen<br />

machen wollte <strong>und</strong> konnte, die jener von ihm<br />

forderte, auf ihn eindrang mit den Worten: ,H<strong>und</strong><br />

bete, deine letzte St<strong>und</strong>e ist gekommen!' — <strong>und</strong><br />

ihn wirklich erschoß. (Dr. Frankel ruft dazwischen:<br />

„Dies hat sich in Wien wirklich zugetragen!") Oder<br />

ein anderer Urheber: ein Vorgesetzter, der einem<br />

Soldaten Urin in den M<strong>und</strong> ließ! I s t d i e s z u r<br />

E h r e d e r A r m e e n ö t i g ? Mußte nach solchen<br />

Nachrichten mein antimilitaristisches Blut nicht in<br />

Wallung geraten ? Und wo bleibt der schöne Bibelsatz<br />

: ,Du sollst nicht töten!' Wo: ,Liebe deinen<br />

Nächsten wie dich selbst!'? Im Schacht des Bergwerks,<br />

wo ich arbeite, wird man mir von meinem<br />

Lohne abzuzwacken suchen. Und wenn ich dann<br />

streike, dann kommt das Militär — <strong>und</strong> bei dieser<br />

Gelegenheit läßt man die Arbeiter auf ihre Brüder<br />

schießen. Und weil der Reiche Geld hat, hat er<br />

alles, kann so viel Militär bekommen, wie er braucht.<br />

Befehl ist beim Militär Befehl, <strong>und</strong> so ist es wohl<br />

auch nicht angezeigt, das Gebot: ,Ehre Vater <strong>und</strong>


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Anläßlich des aktuellen, überwiegend antimilitaristischen<br />

Inhaltes dieser Mummer sehen wir uns<br />

veranlaßt, das Referat des Genossen Ramus für diesmal<br />

ausfallen zu lassen. Die Fortsetzung erfolgt in<br />

nächster Nummer. Die Redaktion.<br />

Auf Agitation.<br />

Am 13. August eine Versammlung im XII. Bez.,<br />

in der ich über „Die Wahrheit über den französischen<br />

Generalstreik" referierte <strong>und</strong> an der Hand der französischen<br />

Presse die Lügen der „Arbeiterzeitung"<br />

über diesen mutvollen Kampf des französischen<br />

Proletariats aufdeckte, auf die infamen Widersprüche<br />

in der Berichterstattung der deutschen sozialdemokratischen<br />

Presse <strong>und</strong> auf ihre herrliche Übereinstimmung<br />

mit dem christlichsozialen „Deutschen<br />

Volksblatt" in Beurteilung des Generalstreiks hinwies<br />

- <strong>und</strong> am 14. August befand ich mich schon<br />

in einem ganz anderen Milieu: bei den G r a z e r<br />

Kameraden. Endlich, nach Monate lang währender<br />

Vorbereitungsarbeit war es mir gelungen, meine<br />

Berufsgeschäfte so zu erledigen, daß eine einige<br />

Wochen dauernde Agitation in den verschiedenen<br />

Kronländern, die von den dortigen Kameraden mit<br />

Recht immer energischer gefordert wurde, mit in<br />

Kauf genommen werden konnte; aber auch auf der<br />

Reise mußte ich täglich mein Quantum geistiger<br />

Holzhackerei für meine diversen Herren Verleger<br />

liefern -- <strong>und</strong> sie ist schuld daran, daß ich den<br />

Genossen in diesen Reiseskizzen wenig melden<br />

kann von dem, was ich an landschaftlichen oder<br />

städtischen Sehenswürdigkeiten hätte sehen können.<br />

Dazu gebrach es mir meistens an Zeit. Das Leben<br />

eines reisenden anarchistischen Propagandisten ist<br />

nicht so rosig, wie das eines Sozialdemokraten oder<br />

irgend eines Agitators einer anderen Partei; bei uns<br />

gilt es, wenn wir nicht persönliche Mittel haben,<br />

gerade während einer solchen Reise den härtesten<br />

Kampf ums Dasein, ums Reisedasein, wenn ich mich<br />

so ausdrücken darf: es müssen von Stadt zu Stadt,<br />

von Station zu Station die nötigen Bahnspesen aufgetrieben<br />

werden, <strong>und</strong> dies kostet oft unsägliche<br />

Mühe. Bedenkt man ferner, daß wir keine Gratisfahrkarten<br />

haben, wie die Abgeordneten sämtlicher<br />

Parteien, unsere Aufklärungsarbeit aus unseren<br />

eigenen Taschen betrieben werden muß; bedenkt<br />

man, daß dies seit etwa zehn Jahren die erste<br />

Agitationstour war, die von anarchistischer Seite<br />

durch die Lande unternommen wurde, auf völlig<br />

unbekanntem Terrain <strong>und</strong> mit unbekannten Menschen,<br />

so wird man begreifen, wenn ich sage, daß ich, der<br />

ich sonst die Aesthetik <strong>und</strong> das Künstlerische, also<br />

Verschönernde des Lebens nicht gerne vernachlässigt<br />

sehe, diesmal wirklich kein Interesse hatte<br />

an all den natürlichen Reizen unseres Österreichs<br />

<strong>und</strong> seiner schönen Alpengegend.<br />

Dafür aber lebte ich desto intensiver in der<br />

Bewegung <strong>und</strong> mit den neuen Kameraden! Und da<br />

habe ich wahrlich viel Freude erlebt. Alte Geistesbekannte<br />

lernte ich nun persönlich kennen, wie z. B.<br />

Prisching in G r a z , der sich gerade, wie zur Feier<br />

meiner Ankunft, definitiv von der Propaganda für<br />

den Vegetarismus abgewendet <strong>und</strong> der rührigen<br />

Arbeit für das Großprinzip vollständiger s o z i a l e r<br />

Befreiung wieder zugewendet hatte. Es waren sehr<br />

fröhliche St<strong>und</strong>en, die ich mit der ziemlich starken<br />

Grazer Gruppe in ihrem traulichen Vereinslokal verlebte,<br />

dessen stattliche, gut ausgewählte Bibliothek<br />

einen achtunggebietenden Eindruck ausübt, der sich<br />

bei mir noch besonders in ein fre<strong>und</strong>schaftlich-liebevolles<br />

Gedenken auslöste, als mir mitgeteilt wurde,<br />

daß viele dieser Bücher einst Eigentum unseres, auch<br />

vielen älteren Wiener Kameraden noch in bester<br />

Erinnerung stehenden, gegenwärtig in New-York wirkenden,<br />

braven Kameraden Hippolyt Havel waren,<br />

der sie der Gruppe zuwendete, als er Graz verlassen<br />

mußte. Schon am nächsten Tage hatten wir<br />

eine Versammlung, die erfreulich gut besucht war.<br />

Ich referierte über „Sozialismus, Sozialdemokratie<br />

<strong>und</strong> Parlamentarismus". In der dann zu erfolgenden<br />

Diskussion ergriff keiner der etwa anwesenden<br />

Sozialdemokraten das Wort, wohl aber unser alter,<br />

wackerer Pionier Nozar, der in kernigen Worten<br />

seine historischen Erfahrungen aus der Zeit der<br />

Radikalen <strong>und</strong> Gemäßigten vortrug. Wir hatten alle<br />

Ursache, mit unserer Versammlung zufrieden zu<br />

sein <strong>und</strong> versprachen sämtliche der Anwesenden,<br />

Hand in Hand mit unserer tüchtigen Gruppe für das<br />

Ideal des Anarchismus einzutreten, nicht nur in<br />

Gedanken, sondern durch rührige Aufklärungsarbeit<br />

<strong>und</strong> Vertrieb unserer Literatur.<br />

Zur Grazer Versammlung hatten sich auch<br />

einige Genossen der M a r b u r g e r Gruppe eingef<strong>und</strong>en,<br />

um mich nach Marburg zu nehmen. Nachmittags<br />

verbrachten die Grazer <strong>und</strong> Marburger mit<br />

mir die Zeit in angenehmem Beisammensein, wozu<br />

auch der Umstand viel beitrug, daß gerade ein<br />

Kamerad anwesend war, der soeben von der sogenannten<br />

freiheitlichen Kolonie „ F o t o d o t e r a "<br />

bei Athen kam <strong>und</strong> seine Erfahrungen zum Besten<br />

geben konnte. Es war dies der Kamerad Hochmann,<br />

der früher ein eifriger Verteidiger Raymond Duncans<br />

in Berlin war, nun aber durch bitterste Erfahrung<br />

<strong>und</strong> als der letzte der mit so großen Hoffnungen<br />

begründeten Kolonie mit jenem brechen mußte.<br />

Duncan soll nichts als ein Abenteurer <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>eigentumsspekulant<br />

sein, der die Arbeitskraft von<br />

Anarchisten für selbstsüchtige Zwecke ausbeuten<br />

wollte. Uns allen, die wir seinen — Hochmanns —<br />

Ausführungen, die in ruhigem, leidenschaftslosem<br />

Tone vorgetragen wurden, folgten, ergriff eine tiefe<br />

Betrübnis bei dem Gedanken, daß sich gerade an<br />

solch hochfliegende Pläne, wie sie die Verwirklichung<br />

eines Lebens in echter Freiheitsgemeinschaft sind,<br />

solch unehrliche Elemente heranschlängeln <strong>und</strong> dadurch<br />

diese Pläne diskreditieren. Hoch mann aber ist<br />

überzeugt von dem Ideal des Anarchismus, er ist<br />

nicht wankelmütig geworden, <strong>und</strong> nach wie vor tritt<br />

er für eine praktische Begründung von freien Lebensgemeinschaften<br />

unter wirklichen Anarchisten ein.<br />

Ein erbärmliches H<strong>und</strong>ewetter war es, das<br />

meinen Einzug in Marburg begleitete. Die dortigen<br />

Genossen sind vornehmlich Angestellte der Südbahn,<br />

<strong>und</strong> ich hatte hier Gelegenheit zu beobachten, daß<br />

Menschen aus purem Edelsinn <strong>und</strong> oft nicht aus materiellem<br />

Interesse, aus Klasseninteresse, Anarchisten<br />

sind. Vielleicht sind dies überhaupt die besten<br />

Elemente unserer Bewegung hinsichtlich ihrer Ausdauer.<br />

— Die Südbahn, die bekanntlich recht hohe<br />

Fahrtarife hat, wird von jenen intelligent-kapitalistischen<br />

Prinzipien inspiriert, die darin bestehen,<br />

daß sie ihre Angestellten nicht auch noch in ihrer<br />

Lebenshaltung unterdrückt, sondern die Ausbeutung<br />

gerade dadurch schwungvoller betreiben kann, daß<br />

sie der Reproduktion der Arbeitskraft ihrer Arbeiter<br />

ein einigermaßen anständiges Lebensgebiet einräumt.<br />

Das ist schlau. Gleichzeitig ist es aber interessant zu<br />

erfahren, daß eine solche Lebenshaltung der relativen<br />

Annehmlichkeit in keiner Weise den ökonomischen<br />

Klassenkampf beeinträchtigt, wenn unter<br />

den Kämpfern einmal ein gewisser Grad geistiger<br />

Persönlichkeitserkenntnis um sich gegriffen hat. Es<br />

sind nämlich gerade d i e s e Arbeiter, die eine<br />

schöne, geräumige Wohnung von drei <strong>und</strong> oftmals<br />

mehr Zimmern, einen ziemlich großen Obst- <strong>und</strong><br />

Gemüsegarten samt Hühnersteige <strong>und</strong> sonstiger<br />

Haustierzüchtung haben •— es sind gerade diese<br />

Arbeiter, die vor zwei Jahren die p a s s i v e R e -<br />

s i s t e n z durchführten, teils zwecks Erzeugung von<br />

noch besseren Lebensbedingungen oder aus Solidarität<br />

zu den niedriger stehenden Arbeitern.<br />

<strong>Unser</strong>e Versammlung, in der ich über den<br />

„Kampf des Proletariats" sprach, war gut besucht<br />

<strong>und</strong> trotzdem einige griesgrämige Sozialdemokraten<br />

anwesend waren, die Unterbrechungen versuchten,<br />

haben sie sich nur blamiert <strong>und</strong> konnten die gegenseitige<br />

Verständigung zwischen Referent <strong>und</strong> Zuhörern<br />

nicht stören oder beeinträchtigen. Dieses<br />

Gefühl der gegenseitigen Sympathie habe ich besonders<br />

lebhaft bei den Marburger Kameraden<br />

empf<strong>und</strong>en; wir alle blieben nicht nur Kampfgenossen,<br />

sondern wir wurden in den paar Tagen<br />

wirklich Fre<strong>und</strong>e. Besonders lebhaft erinnere ich<br />

mich der Genossen P„ V., K., M. <strong>und</strong> des für<br />

unsere Bewegung noch so hoffnungsvollen, jungen<br />

Kameraden F.<br />

In K l a g e n f u r t haben wir sehr viele Genossen,<br />

aber weniger tätige Propagandisten. Und<br />

hier änderte sich auch so ziemlich das Bild der<br />

ökonomischen Lebensverhältnisse, das ich bisher<br />

vorgef<strong>und</strong>en hatte. Es wurde schlecht <strong>und</strong> immer<br />

schlechter. Und obwohl ich mich schon viel umgesehen<br />

habe in der Welt, so kenne ich doch keine<br />

zweite größere Stadt, die es an elenden Wohnungsverhältnissen<br />

für die proletarischen Schichten irgendwie<br />

mit Klagenfurt aufnehmen könnte. Die Arbeiter<br />

wohnen dort nicht in Häusern, sondern eher in<br />

Baracken <strong>und</strong> Erdhaufen. Diese haben ein düsteres,<br />

finsterschmutziges, klosterartiges Aussehen <strong>und</strong> in<br />

den eng aneinander gereihten Löchern — Zimmer<br />

kann man doch so etwas nicht nennen — lebt<br />

Mann, Frau samt Kindern, ganze Familien sind<br />

hineingepfercht. Was man in einer Höhle spricht,<br />

hört man im Nebenraum, es kann keine noch so<br />

private Angelegenheit vorgenommen werden, ohne<br />

daß das ganze Haus sie mit ansieht, anhört <strong>und</strong><br />

dadurch miterlebt. Tausende von Miasmen erfüllen<br />

die stickige, durch die Dutzende von Herdfeuern<br />

noch erhitzte Luft. Wer der Menschheit ganzen<br />

Jammer, die Frucht des grauenhaften Bodenwuchers<br />

<strong>und</strong> Monopoleigentums an dem, was allen Menschen<br />

gehören sollte: am Boden, beobachten will, der<br />

wird in Klagenfurt auf etwas stoßen, was er in den<br />

Großstädten wie Wien, Berlin usw., n i c h t sieht,<br />

schon aus hygienischem Selbstinteresse der Bourgeoisie<br />

nicht, die solche Zustände in den dicht<br />

bevölkerten Städten unmöglich dulden kann, will<br />

sie nicht selbst von denselben infisziert werden.<br />

Und doch, wie schön ist dieses Klagenfurt in seiner<br />

Umgebung, wie w<strong>und</strong>erherrlich waren die Spaziergänge,<br />

die ich mit einem alten Kameraden hinaus<br />

machte, draußen am See bei der Haltestelle Loretto<br />

<strong>und</strong> weiter dreben! Doch alles dies ist nur für die<br />

Besitzenden, die es da haben; die Plebs vegetieren<br />

in Klagenfurt selbst <strong>und</strong> in dessen Arbeiterviertel;<br />

da ist es wahrlich fürchterlich.<br />

Wir haben dort einen außerordentlich wackeren<br />

Kameraden; unseren K. Einer von denen, die in<br />

Armut dahinvegetieren, obwohl sie eine qualifizierte<br />

Arbeit kennen <strong>und</strong> diese in der Frohn der Lohnsklaverei<br />

leisten. Unermüdlich war er während<br />

meines Aufenthaltes für das Zustandekommen der<br />

Versammlungen tätig, gönnte sich weder Ruhe noch<br />

Essenszeit. In ihm steckt wahrlich dasjenige, was<br />

man anarchistische Initiative nennen kann, ein<br />

wackerer Mensch, ein treuer Kämpfer im Dienste<br />

der ihn beseelenden Freiheitsidee. Er arrangierte<br />

eine den besten Verlauf nehmende Versammlung<br />

der Bäcker, die von dem ihnen gehaltenen Vortrag<br />

so begeistert waren, daß sie sich alle, wie ein Mann,<br />

auf unsere Presse abonnierten. Am Abend desselben<br />

Tages fand eine größere Massenversammlung statt,<br />

die von unserer Gruppe einberufen war <strong>und</strong> in der<br />

ich über „Weltanschauung <strong>und</strong> Taktik des Proletariats"<br />

referierte. Die 2'/, stündigen Ausführungen<br />

fanden begeisterten Zuspruch <strong>und</strong> mit Ausnahme<br />

eines einzigen, sich dumm-flegelhaft benehmenden<br />

Sozialdemokraten verlief die Versammlung sehr<br />

harmonisch <strong>und</strong> zur Freude sämtlicher internen<br />

Kameraden.<br />

Einen der Ältesten aus der alten radikalen<br />

Bewegung, der sich ein jugendfrisches Herz trotz<br />

seines Greisenalters bewahrt hat, einen der Unbestechlichen<br />

der damaligen Zeit, lernte ich in<br />

Klagenfurt gleichfalls kennen. Ich brauche keinen<br />

Namen zu nennen, diejenigen, die ihn kennen (auch<br />

die Höchsten der Sozialdemokratie, die ihn fürchten!)<br />

wissen, wen ich meine, wenn ich sage, es war der<br />

„Alte mit dem Bismarckkopfe". Wenn er nur könnte,<br />

wie er wollte, unsere Bewegung würde in Klagenfurt<br />

einen riesigen Höhelauf nehmen. So aber ist<br />

sie hauptsächlich auf diejenigen Kameraden angewiesen,<br />

die die stille <strong>und</strong> schwere Organisations<strong>und</strong><br />

Aufklärungsarbeit leisten, unermüdlich, rastlos<br />

leisten. Ich meine hier vornehmlich den Genossen<br />

K., der aber hoffentlich, wenn ich das nächste Mal<br />

ihn sehe, nicht mehr so ganz allein stehen, sondern<br />

schon mitwirkende Kräfte gewonnen haben wird,<br />

deren Aufrüttelung <strong>und</strong> Einreihung in unsere Bewegung<br />

ich mir als schönsten Lohn für ineine<br />

Klagendster Tätigkeit anrechnen würde.<br />

Weiter, nach W e y e r . Ein unendlich reizender,<br />

noch im Aufstreben begriffener Kurort in Oberösterreich,<br />

in dem es eben so unendlich teuer zu<br />

leben, als der Flecken schön ist. Ich versprach mir<br />

nicht viel <strong>und</strong> war ganz überrascht, dorten eine<br />

ganze Anzahl ernster, tüchtiger Kameraden zu finden.<br />

Binnen 24 St<strong>und</strong>en wurde die Versammlung arrangiert,<br />

zu der alle „Macher" der Sozialdemokratie,<br />

die sonst immer gar energisch wider die bösen<br />

Anarchisten wettern, eingeladen wurden. Doch die<br />

Unentwegten fanden den besseren Teil des Mutes<br />

in der Vorsicht — nicht zu erscheinen. Am Tage<br />

nach der Versammlung schützt der eine Krankheit,<br />

der andere dies <strong>und</strong> jenes vor, keiner aber fand<br />

es der Mühe wert, seine Partei vor den Angriffen<br />

zu verteidigen, die auf diese gemacht wurden. In<br />

diesem Bergtal hatte sich morgens um 10 Uhr eine<br />

ganz hübsche Anzahl von Zuhörern eingef<strong>und</strong>en,<br />

die mit wahrer Andacht die Lehre des Anarchismus<br />

entgegennahm. Nicht genug damit, wurde sofort<br />

beschlossen, den Nachmittag zur Gründung einer<br />

eigenen Gruppe zu benützen; als Zusammenkunftsort<br />

wurde eine Stelle auf „steiler Bergeshöh'" bestimmt.<br />

Und obwohl ich, aufrichtig gesprochen, dem<br />

nachhaltigen Effekt meines Vortrages nicht bis zu<br />

diesem Grade traute — nachmittags hatte sich eine<br />

für den Anfang ganz stattliche Zahl eingef<strong>und</strong>en,<br />

die, nach einigem Hin- <strong>und</strong> Herreden, sofort an die<br />

Begiündung der Gruppe, der ersten Gruppe des<br />

Anarchismus, die jemals in Weyer bestanden, schritt<br />

(Fortsetzung folgt.) Pierre Ramus.<br />

Österreich.<br />

* Die Wiener Genossen setzen ihre Agitation<br />

durch die intensivste Aufklärungsarbeit fort. Im<br />

V. Bezirk sprachen abwechselnd Likier <strong>und</strong> Haidt an<br />

gut besuchten Vereinsabenden. Im XIV. Bezirk sprach<br />

Haidt über „Proletarisches Geistesleben", woran sich<br />

eine rege Diskussion schloß, an der sich auch ein<br />

Sozialdemokrat beteiligte. Am nächsten Vereinsabend<br />

sprach Likier über das Thema: „Sind Anarchisten<br />

auch Sozialisten?" In einer Versammlung<br />

im X. Bezirk sprach Haidt vor Gießern <strong>und</strong> Metallarbeitern<br />

über „Gewerkschaftsbewegung in Österreich".<br />

Eine rege Diskussion brachte reiches Material,<br />

zum Nachweis, wie durch die zentralistischreformativen<br />

Gewerkschaften die Arbeiter geschädigt<br />

werden.<br />

In einer öffentlichen Volksversammlung wurde<br />

das Thema: „Die Auflösung der Gcwcrkschaftuföderation<br />

in Böhmen" besprochen. Der Referent<br />

Haidt besprach eingehend unter lebhaftem Beifall<br />

der Anwesenden den Gewaltstreich der böhmischen<br />

Statthalterei <strong>und</strong> die niederträchtige perfide Haltung<br />

der sozialdemokratischen Partei in dieser Sache.<br />

Die vorgelegten Artikel der „Arbeiterzeitung",<br />

des „Glück auf" <strong>und</strong> „Arbeiterwille" mit ihren gemeinen<br />

Verdächtigungen <strong>und</strong> Beschimpfungen erregten<br />

den lebhaftesten Unwillen der Versammlung.<br />

An der Debatte beteiligte sich ein sonst unter M<strong>und</strong>sperre<br />

gehaltener jugendlicher Sozialdemokrat, der<br />

statt sachlicher Besprechung Verdächtigungen vorbrachte,<br />

wofür er von Likier <strong>und</strong> zwei weiteren<br />

Kameraden gründlich abgeführt wurde. Im Schlußwort<br />

besprach Haidt noch diese jesuitische Argumentation,<br />

die seitens des sozialdemokratischen<br />

Redners angewendet wurde. Die Versammlung endete<br />

nach dreistündiger Dauer.<br />

* Ketten für die organisierte Arbeiterschaft.<br />

Der Machtdünkel der reformativen Gewerkschaftsmacher<br />

nimmt immer krassere Formen an. Die „Arbeiterzeitung"<br />

berichtet vom Verbandstag der Gießer:<br />

„Der Referent schlägt auch einige Änderungen<br />

im S t r e i k r e g l e m e n t vor, in denen gesagt wird:<br />

Bei ausgebrochenen Differenzen ist es die Pflicht<br />

der Vertrauensmänner des Betriebes, möglichst aus


eigenem eine Regelung herbeizuführen. Falls dies<br />

unmöglich ist, ist eine Werkstättenversammlung einzuberufen<br />

<strong>und</strong> weiter die Organisation von den<br />

Differenzen zu verständigen. Streiks, die ohne vorherige<br />

v i e r w ö c h e n t l i c h e Anmeldung bei der Organisation<br />

ausbrechen, werden nicht anerkannt. Wenn<br />

nicht mindestens drei Viertel der in einem Betrieb<br />

Beschäftigten genußberechtigte Mitglieder sind, darf<br />

in keine Lohnbewegung eingetreten werden. Der<br />

Vorstand oder die Landesexekutiven sind auch b e -<br />

rechtigt, das Eintreten oder Abbrechen des Streiks<br />

zu bestimmen."<br />

Nach der Fassung dieser Sätze geht deutlich<br />

hervor, daß alle Streiks der Anmeldung von 4 W o -<br />

chen unterliegen. Wenn der Unternehmer also einen<br />

Vertrauensmann maßregelt, kann die Arbeiterschaft<br />

des Betriebes - sofern es dem Vorstand genehm<br />

ist - n a c h 4 Wochen ihre Solidarität bek<strong>und</strong>en.<br />

Es kommt ja mit jedem T a g schöner. Das sind<br />

klassenbewußte Arbeiter, die in dieser Weise b e -<br />

hehandelt werden ? Die Arbeiter dürfen mit Genehmigung<br />

in den Streik treten <strong>und</strong> müssen aufhören,<br />

wenn die Oberen es befehlen. Warum diese weitschweifigen<br />

Reglements? Es genügte ein Punkt, der<br />

da lautet: „Der Vorstand hat zu befehlen, die Mitglieder<br />

haben zu gehorchen, zu zahlen <strong>und</strong> zu<br />

kuschen." Das wäre kurz <strong>und</strong> bündig <strong>und</strong> den T a t -<br />

sachen entsprechend !<br />

* K o n f i s z i e r t wurde Nr. 17 des „W. f. A."<br />

* Wir entnehmen dem „Neuen Pester Journal",<br />

einem Bourgeoisblatt, die nachstehende Notiz:<br />

„Aus W i e n wird uns telegraphiert: Zum<br />

II. antimilitaristischen Kongreß, der in Wien<br />

stattfinden soll, finden allseits Vorbereitungen<br />

statt. Der Kongreß, der gegen Ende dieses<br />

Jahres stattfinden soll, dessen genaues Datum<br />

jedoch geheim gehalten wird, wird von den<br />

antimilitaristischen Organisationen <strong>und</strong> Kasernenvertrauensmännern<br />

Österreichs beschickt werden.<br />

Außerdem hätten die belgischen <strong>und</strong> französischen<br />

Antimilitaristen ihre Beteiligung zugesagt."<br />

Für uns ist die Mitteilung des Wiener Berichterstatters<br />

an das ungarische Blatt vornehmlich deshalb<br />

interessant, weil sie uns, den österreichischen<br />

Antimilitaristen, Mitteilung bringt von einer S a c h -<br />

lage <strong>und</strong> einem Kongreß, von dem w i r bisher nicht<br />

die leiseste Ahnung hatten. Aber aus eben diesem<br />

Gr<strong>und</strong>e können wir die ominöse Notiz, die ihre<br />

Vaterschaft wohl in einem berüchtigten „schwarzen<br />

Kabinett" gef<strong>und</strong>en hat, als eine ganz gemeine Lüge<br />

stigmatisieren, die vielleicht den Zweck verfolgt, der<br />

Polizei <strong>und</strong> dem Spitzeltum Gelegenheit zum B e -<br />

weise dafür zu geben, daß sie nicht umsonst b e -<br />

zahlt werden. Wenn wir Antimilitaristen g e h e i m e<br />

Besprechungen abhalten wollten, ist Österreich der<br />

letzte Ort, auf den unsere Wahl fallen würde. Im<br />

übrigen scheuen wir <strong>und</strong> unsere Gesinnungen n i c h t<br />

das Licht der Öffentlichkeit. Wenn die Kameraden<br />

der verschiedenen Länder Wien als den geeignetsten<br />

Ort für die Abhaltung eines solchen Kongresses erachten,<br />

würden wir unsere Vorbereitungen dazu<br />

ganz öffentlich betreiben, schon um die demonstrative<br />

Wirkung des Kongresses - <strong>und</strong> seines Verbotes<br />

nicht zu schmälern. Den III. Kongreß ( n i c h t<br />

den zweiten, der im August 1907 stattfand) g e h e i m<br />

abhalten zu m ü s s e n , uns in eine solche Zwangslage<br />

zu versetzen solche Arbeit überlassen wir<br />

dem Staate. Wir aber kämpfen im hellen Licht des<br />

T a g e s , <strong>und</strong> unsere Waffen sind jene des Lichtes!<br />

Bukowina.<br />

Czernowitz, Ende August.<br />

Ich weiß zwar, daß Sie besonders jetzt durch<br />

die verschiedenen Tageseinläufe sehr beschäftigt<br />

sind; dennoch werde ich Ihnen, werte Kameraden,<br />

namens der Gruppe einige Bemerkungen über unser<br />

Land <strong>und</strong> unsere Leute übermitteln.<br />

Gewöhnlich werden neue Ideen durch Fremde<br />

„importiert". Bei uns im Osten gab <strong>und</strong> gibt es<br />

nicht selten noch jetzt eine fast pessimistisch einwirkende<br />

geistige Finsternis unter den Massen.<br />

Bei der Einförmigkeit ihrer Lebensweise findet man<br />

Leute, die beispielsweise noch nicht mit der Eisenhahn<br />

gefahren sind <strong>und</strong> dies nicht selten. Es ist<br />

selbst unter den „Gebildeten" keine Seltenheit<br />

einem zu begegnen, der streng genommen, das<br />

Weichbild seiner Vaterstadt noch nicht verlassen<br />

hat <strong>und</strong> auch nicht den Drang in sich fühlt, dies<br />

einmal im Leben zu tun. Im Gebirge finden sie,<br />

wie ich mich persönlich gelegentlich eines Besuches<br />

bei den Huzulen überzeugen konnte, sogar nicht<br />

selten zehnjährige Kinder, die das Geld nicht<br />

kennen. Es kommt dies daher, weil sie noch nie<br />

in die Stadt kamen <strong>und</strong> auf ihren einsiedlerischen<br />

Wohnsitzen keine Gelegenheit haben, den Wert<br />

des Geldes auch nur augenscheinlich zu b e o b -<br />

achten; vom Lesen <strong>und</strong> Schreiben haben sie keine<br />

Ahnung. Das Gebet <strong>und</strong> den Judenhaß hat ihnen<br />

der Vater, der selbst keine bessere Erziehung genossen,<br />

schon frühzeitig eingeflößt, <strong>und</strong> der mitten<br />

im Walde lebende Knabe, auf den die Naturerscheinungen<br />

mit besonderer Stärke einwirken, ist<br />

fromm, ja überfromm. Man würde einem großen<br />

Irrtum verfallen, wenn man glauben würde, daß<br />

die durchschnittliche Bevölkerung — größtenteils<br />

noch Analphabeten mehr Lebensverständnis b e -<br />

k<strong>und</strong>et. Es ist nur eine andere Nüancierung von<br />

Dummheit, die sich bei ihr vorfindet.<br />

Es ist allenfalls wahr, daß die russischen<br />

Vorgänge, Pogroms <strong>und</strong> Revolutionen, wie auch<br />

die des rumänischen Nachbarlandes auf die Geister<br />

der Massen, wenigstens der an der S a c h e direkt<br />

Interessierten wohltuend einwirkten, indem sie<br />

irgend ein Übel einzusehen begannen <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

sich nach Abhilfe umzusehen bereit erklärten.<br />

Ich freue mich darob, daß es so gekommen ist,<br />

wenn auch nur die (im Bukowinaer Sinne) städtischen<br />

Proletarier hier gemeint sind, mögen sie den<br />

richtigen W e g oder nicht zur endgiltigen Abhilfe<br />

betreten haben.<br />

C z e r n o w i t z ist als Provinzhauptstadt das<br />

Verkehrszentrum <strong>und</strong> liegt unweit der russischen<br />

<strong>und</strong> rumänischen Grenze. Die meisten Flüchtlinge<br />

aus diesen Nachbarländern lassen sich in dieser<br />

Stadt nieder, <strong>und</strong> b e s o n d e r s d i e r u s s i s c h e n<br />

F l ü c h t l i n g e w a r e n e s , die, wie ich schon g e -<br />

sagt habe, den Anarchismus hieher importiert<br />

haben. Die Propaganda ging in jüdischer Sprache<br />

vor sich. Aber wegen des Vorurteils, dessen man<br />

besonders in der Bukowina gegenüber Fremden<br />

befangen ist, wegen der hierzulande verspotteten<br />

M<strong>und</strong>art der russischen Juden, war ihnen, den<br />

russischen Genossen, das „Werben" freilich schwer;<br />

denn vor ihrer Ankunft gab es keinen, der einen<br />

Anarchisten nicht für einen bewußten oder unbewußten<br />

Mörder ausgab, geschweige denn Anarchist<br />

war. Und gelitten hat solch ein Fremder, den<br />

man als gottlos erkannte!<br />

Allenfalls hat sich vieles gebessert, denn für<br />

eine zukünftige Bewegung ist schon der Gr<strong>und</strong><br />

gelegt. Die Regierung <strong>und</strong> Polizei würdigten das<br />

Benehmen der Russen, nahmen gnadenvoll Einsicht<br />

in dieser Sache für die Bevölkerung, <strong>und</strong> schon<br />

werden aus Czernowitz diejenigen Russen binnen<br />

48 St<strong>und</strong>en ausgewiesen, die „leider" keinen Gouverneurpaß<br />

haben. Die „kulturfre<strong>und</strong>liche" M a ß -<br />

regel geht dahin, daß, sobald einer von Czernowitz<br />

ausgewiesen wird, die Ausweisung für die ganze<br />

Bukowina Geltung hat. In nicht zu langer Zeit wird<br />

ein Ausv/eisungsgesetz für die ganze Bukowina im<br />

Landtag ausgeaibeiict werden. Die Russen werden<br />

sich hier also bis auf Weiteres nicht sicher fühlen<br />

können. Nun die Früchte des Guten, das sie für<br />

unsere Sache gestiftet! Wir haben einen kleinen<br />

Kreis Genossen <strong>und</strong> einen weniger beschränkten<br />

Kreis Sympathetiker. Erst in letzterer Zeit <strong>und</strong> b e -<br />

sonders im letzten Jahre konnten wir mit deutscher<br />

Propaganda beginnen. Die jüdischen Massen zeigen<br />

hier die Eigentümlichkeit, daß sie besser deutsch<br />

lesen, als wo anders <strong>und</strong> nur sprachlich jüdisch<br />

besser verstehen. Ich bin so ziemlich auch Neuling,<br />

<strong>und</strong> weil ich Student bin, kann ich nicht öffentlich<br />

auftreten. Es fehlen uns jetzt die russischen Arbeiter.<br />

Wir haben hier eine nicht allzu kleine<br />

jüdische Bibliothek. Aber mühsam ist es uns, die<br />

Zeitungen zu bezahlen, da wir sie größtenteils<br />

gratis verteilen müssen.<br />

Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte ich<br />

Ihnen all die Infamien der hiesigen Sozialdemokraten<br />

beschreiben. Sie haben jedenfalls ihrer genug<br />

in Wien. Aber ein Beispiel sozialdemokratischen<br />

Freisinnes muß ich doch geben. Wir pflegten zu<br />

einem hiesigen Trafikanten immer eine diverse<br />

Anzahl von Exemplaren des „Wohlstand" hinzutragen.<br />

Dieser Trafikant pflegte uns auch solche<br />

Nummern zu verkaufen, die für euch Wiener konfisziert<br />

waren. Die „revolutionären" Sozialdemokraten<br />

drohten ihm nun mit allgemeiner Boykottierung,<br />

sobald er die „revolutionäre Zeitung" in<br />

seinem Kiosk öffentlich verkaufen würde!<br />

Für uns beginnt jetzt eine rührige Agitationsperiode.<br />

Ich habe mir vorgenommen, in diesem<br />

Winter Kurse für Bildung zu veranstalten ; vielleicht<br />

wird dieser Kurs schon im September beginnen.<br />

Andererseits werden von uns aus anarchistische<br />

Unterrichts- <strong>und</strong> Lesekurse diesen Winter, b e z i e -<br />

hungsweise vom September an ins Leben gerufen.<br />

Von diesen verspreche ich mir, daß sie eine gute<br />

anarchistische Kerntruppe liefern werden.<br />

Mit anarch. kommun. Brudergruß. M.<br />

Ungarn.<br />

S z a b a d k a . Ein Kamerad <strong>und</strong> Mitkämpfer<br />

schreibt uns: „Ich bin hier angekommen <strong>und</strong> habe<br />

mich gleich in die Propaganda unserer Ideen gestürzt.<br />

Tatsächlich gelang es mir auch, viele Arbeiter<br />

<strong>und</strong> Arbeiterinnen zu gewinnen, die mir Gehör<br />

schenkten. Überall, besonders unter den Sozialdemokraten,<br />

machte sich ein Umschwung zu unseren<br />

Gunsten geltend, <strong>und</strong> viele unserer neugewonnenen<br />

Kameraden erklärten, d a ß s i e , w e n n d ie S o z i a l -<br />

d e m o k r a t e n i m H e r b s t d e n G e n e r a l s t r e i k<br />

f ü r d a s a l l g e m e i n e W a h h e c h t e r k l ä r e n ,<br />

s e l b s t n u r i n d e n A u s s t a n d t r e t e n w e r d e n<br />

für ö k o n o m i s c h e L o h n f o r d e r u n g e n , in öffentlichen<br />

Versammlungen sich d a g e g e n aussprechen würden,<br />

daß die sozialdemokratische Partei die Arbeiter in<br />

einen Kampf hineinzuzerren wünsche für bürgerliche<br />

Interessen <strong>und</strong> Forderungen. Auch gelang es<br />

mir, für unsere Blätter begeisterte Abnehmer zu<br />

finden. So ging alles seinen schönsten Gang, bis<br />

plötzlich der sozialdemokratische Staat — also die<br />

Parteileitung — sich dreinmengte, mich vor ihre Lokalschranken<br />

zitieren ließ <strong>und</strong> mir befahl, „von dieser<br />

S a c h e " (Anarchismus) nichts mehr zu reden, ansonsten<br />

ich aus dem hiesigen „Arbeiterheim" ausgewiesen<br />

werden würde. Natürlich kümmerte ich mich<br />

um dieses Schweigegesetz gar nicht, auch die Feldarbeiter,<br />

die wir gewonnen haben, ebenso zahlreiche<br />

Arbeiterinnen der Frauengewerkschaft sagten sich,<br />

daß sie genug hatten an staatlichen Beschränkungen<br />

der Redefreiheit <strong>und</strong> solche parteigenössischer Art<br />

nicht bedürfen. Mögen d i e Herren schweigen, die<br />

solche Verbote ausgeben ! Nun erfolgte, was in<br />

jedem Staat kommt: A u s w e i s u n g e n wurden von<br />

Seiten der Sozialdemokraten wider uns erlassen,<br />

wir Arbeiter <strong>und</strong> Arbeiterinnen mußten hinaus aufs<br />

freie Feld, um unsere Versammlungen abhalten zu<br />

können, das „Arbeiterheim" - schöner Name!<br />

war u n s verschlossen! Aber die Herren Machthaber<br />

hatten sich verrechnet, <strong>und</strong> es folgten uns sehr viele<br />

brave Sozialdemokraten, kurz alle diejenigen, die<br />

durch k e i n e bezahlten Stellen an die Partei gefesselt<br />

sind. Und sehr bald werden wir euch, K a -<br />

meraden von Österreich, die hiesige Gründung der<br />

ersten revolutionär-gewerkschaftlichen Vereinigung<br />

mitteilen können. Es lebe der kommunistische Anarchismus<br />

!"<br />

Er lebe hoch, <strong>und</strong> hoffen wir, daß diese Tätigkeit<br />

unserer deutsch-ungarischen Kameraden von<br />

demjenigen Erfolge begleitet sei, den sie verdient!<br />

Deutschland.<br />

Um unsern Lesern nur einen kleinen Begriff<br />

darüber zu geben, w o f ü r eigentlich die badischen,<br />

würtembergischen <strong>und</strong> bayerischen Landtagsabgeordneten<br />

der deutschen Sozialdemokratie stimmten,<br />

als sie das Budget guthießen <strong>und</strong> bejahend passieren<br />

ließen, genüge es, nur einige der Ausgaben aus dem<br />

bayerischen Finanzgesetz zu notieren:<br />

Zivilliste des Königs 4,231.044 M.<br />

Kosten der Reichsverwesung . . . 442.857 „<br />

Apanagen an Mitglieder des königl.<br />

Hauses 728.574 „<br />

insgesamt für den Hof . . . 5,402.475 M.<br />

An Kultusausgaben enthält das Finanzgesetz:<br />

für den katholischen Kultus . . . . 5,270.055 M .<br />

„ „ protestantischen Kultus . . 2,753.063 „<br />

„ israelitischen Kultus . . . . 14.000 „<br />

für sonstige kirchliche Zwecke . . . 1,682.754 „<br />

zusammen für Zwecke der Kirche . 9,719.872 M<br />

So weit hat der Parlamentarismus die deutsche<br />

Sozialdemokratie gebracht. Und es ist nichts<br />

als Verdcckung der eigenen Verspießerung, wenn<br />

nun die Bebelianer sich so sehr über diese Budgetbewilligungen<br />

empört zeigten. Als ob die süddeutschen<br />

Sozialdemokraten nicht recht haben, wenn sie<br />

sagen: W e r sich an der „Reformarbeit" des Parlamentarismus<br />

beteiligt, muß selbstredend auch die<br />

M i t t e l - Steuern - zu diesen „Reformen" b e -<br />

willigen.<br />

Nicht die Butgetbewilligung ist das Verbrechen<br />

dieser Leute; sie ist nur die Folge eines Systems,<br />

an dem sozialdemokratische Radikale wie Revisionisten<br />

als unverwüstlich gute Geschäftspolitiker<br />

gleicherweise festhalten: des taktischen Systems des<br />

Bourgeoisparlamentarismus, an den sich überhaupt<br />

zu beteiligen, ein Verbrechen für jeden Sozialisten ist.<br />

Briefkasten.<br />

Georg Weidner. Unbesorgt, Ihre Mitarbeiterschaft<br />

ist uns sehr erwünscht, wie überhaupt die<br />

eines jeden, der Gediegenes in gediegener Form<br />

vorzubringen hat. Hoffentlich bleiben Sie dem „W.<br />

f. A." auch fürderhin erhalten! — Bartl, Belg. Ich<br />

erwidere hiermit in brüderlicher Fre<strong>und</strong>schaft deinen<br />

Gruß! — Bäuml. Mensch, ärgere dich nicht!<br />

Schreibe die Sache vollständig ab <strong>und</strong> sende sie<br />

ein, wenn es so lieber. Gruß! — Australien. Wir<br />

bestätigen hiermit dankend den Empfang von 6 K<br />

vom Gen. Hönike durch den Kameraden Voit.<br />

Vereine <strong>und</strong> Versammlungen.<br />

Allgemeine Gewerkschafts-Föderation. V.,<br />

Einsiedlergasse 6 0 . Jeden Montag 8 Uhr abends.<br />

Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />

Gasthaus, XIV., Märzstraße 33.<br />

Föderation der Bauarbeiter. X . , Eugengasse<br />

9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />

jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />

Unabhängige Schuhmacher-Gewerkschaft.<br />

XIV.,Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />

Männergesangverein „Morgenröte". XIV.,<br />

Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />

jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />

Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „Pokrok". X I V ,<br />

Hütteldorferstraße 33. Jeden S a m s t a g abends D i s -<br />

kussion.<br />

Freie Einkaufsgenossenschaft. Jeden Donnerstag<br />

abends bei Schlor.<br />

Graz. A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />

versammelt sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Samstag abends<br />

im Vereinslokal in der Bahnhofstraße.<br />

Marburg. A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />

versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong> 4. Mittwoch abends<br />

im Gasthaus „Zur goldenen Birn", Franz Josefstraße<br />

2.<br />

Klagenfurt. G r u p p e d e r u n a b h ä n g i -<br />

g e n S o z i a l i s t e n , versammelt sich jeden 2 . <strong>und</strong><br />

4. Samstag abends im Gasthaus „Zum Buchenwalde".<br />

Weijer. S o z i a l i s t i s c h e r B u n d , versammelt<br />

sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends in<br />

Bachbauers Gasthaus.<br />

Bruch. G r u p p e B e r g a r b e i t e r k a m p f ,<br />

versammelt sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends<br />

im Gasthaus „zum blauen Stern".<br />

Neu - Pyhanken. B e r g a r b e i t e r v e r e i n ,<br />

versammelt sich jeden 4. Sonntag um 9 Uhr vormittags<br />

im Gasthause „Eintracht".<br />

Zieditz. D e u t s c h e B e r g a r b e i t e r v c r e i -<br />

n i g u n g , versammelt sich jeden Sonntag im G a s t -<br />

haus beim Bahnhof.


So wollen <strong>und</strong> müssen wir seiner gedenken<br />

an diesem, seinem Jubeltage des<br />

achtzigsten Geburtstagsfestes. Obwohl, wir<br />

müssen es rasch hinzufügen, es einem ziemlich<br />

schwer gemacht wird, wenn man bedenkt,<br />

wie viel armseliges Klein- <strong>und</strong> Zwergvolk,<br />

wie viele gemein-journalistische Federreißerei,<br />

wie viele gierige, parteischmutzige<br />

Hände sich an dieser hellodernden Flamme<br />

einer erhabenen Geistesanschauung wärmten.<br />

In diesen Tagen wird<br />

es einem wahrlich verleidet,<br />

an Tolstoi anders<br />

als im Gefühl des<br />

Bedauerns zu denken,<br />

darüber, daß dieser<br />

große Mensch gewissermaßen<br />

zum Opfertier<br />

für alle die Wanzeriche<br />

der Tagespresse <strong>und</strong> der<br />

interessierten Meinungsverfälschungen<br />

der Parteien<br />

gemacht wird; es<br />

wird einem verleidet,<br />

überhaupt an ihn zu<br />

denken, wenn man es<br />

fühlt, daß man gezwungen<br />

ist, in einen Chor<br />

von Ehrungen zu stimmen,<br />

mit dem wir nichts -<br />

gemein haben wollen, weil wir seine Urheber<br />

verabscheuen <strong>und</strong> verachten. Denn<br />

wir, die wir heute u n s e r e m Tolstoi uns<br />

e r e Ehrungen darbringen, haben mit jenem<br />

Chor gar nichts zu tun, unsere Ehrgefühle<br />

entstammen ganz anderem Herzen <strong>und</strong> Geiste<br />

— <strong>und</strong> wie ein Trost mutet es uns an, wenn<br />

wir bedenken, daß unsere Feier dieses Tolstoischen<br />

Geburtstages ganz außerhalb des<br />

Rahmens der übrigen Feiern gelegen ist, ja<br />

selbst verboten wurde; wir aber wollen ihn<br />

n u r so feiern, wie es dem ganzen Klüngel<strong>und</strong><br />

Kliquentum nicht genehm, wie es aber<br />

dem Manne selbst mit dem großen Menschheitsherzen<br />

wohlig berühren mag durch<br />

diese unsere Ausnahme: — wir feiern L e o<br />

T o l s t o i h e u t e n u r als A n a r c h i s t .<br />

Leo Tolstoi als Anarchist.<br />

Allerdings ist er auch ein herrlicher,<br />

ein genialer Künstler, <strong>und</strong> wir wissen das<br />

Unrecht, das er sich zufügt, wenn er seine<br />

großartige Künstlerarbeit als Produkt der<br />

Eitelkeit ausgiebt, wohl zu würdigen, können<br />

ihm darin niemals zustimmen. Aber in dieser<br />

Verhöhnung seines Genius liegt ebenfalls<br />

schon sein Wunsch, w i e aufgefaßt zu<br />

werden. Große Dichter gab es zu allen<br />

Zeiten; große Denker <strong>und</strong> Menschen nicht<br />

immer. Und Tolstoi, der<br />

ein Russe ist in jenem<br />

schönsten Sinn, den uns<br />

ein Fr. Meyer (von Waldeck)<br />

in seinen Schilderungen<br />

so überaus gewinnend<br />

<strong>und</strong> wahrheitsgetreu<br />

zugeführt hat,<br />

Tolstoi weiß als Russe,<br />

daß es nicht sein V o l k<br />

ist, das in Rußland seine<br />

Kunstwerke liest <strong>und</strong><br />

ästhetisch genießt. Rußlands<br />

Analphabetentum,<br />

der Muschik, der den<br />

Namen Tolstoi kennt,<br />

der Angehörige einer<br />

städtischen Artel (Arbeiter-Genossenschaft),<br />

der nicht lesen kann,<br />

liebt Tolstoi, verehrt den Menschen nicht<br />

wegen des herrlichen Romans »Anna Karenina«,<br />

nicht wegen der »Kreutzersonate«,<br />

»Auferstehung« <strong>und</strong> »Krieg <strong>und</strong> Frieden«<br />

oder gar wegen seiner frühesten, kristallklaren,<br />

ruhige Ideale darbietenden Novellen.<br />

Dies alles ist für uns geschrieben, die wir<br />

gewöhnt sind, die Menschen aus Büchern<br />

auferstehen zu lassen; ist für die Bourgeoisie<br />

<strong>und</strong> jenen Teil der Gesellschaft geschrieben,<br />

dem es in vielem geglückt ist, seine Lebenshaltung<br />

mit jener der Bourgeoisie annähernd<br />

konform zu gestalten. Tolstoi weiß dies<br />

ganz genau <strong>und</strong> ist viel zu streng gegen<br />

sich selbst, um dies nicht zu bekennen.<br />

D e r Tolstoi, der wirklich dem Volke bekannt,<br />

von diesem geehrt <strong>und</strong> geliebt wird,


a l s o v o m V o l k der A r b e i t , d e r E r d e <strong>und</strong><br />

Maschine, das ist der Tolstoi, dessen P r o -<br />

paganda- <strong>und</strong> Aufklärungsworte in lausenden<br />

von kaum leserlichen hektographischen<br />

Abzügen von edelmütigen Vorkämpfern aus<br />

oftmals den höchsten Gesellschaftsschichten<br />

ins russische Volk hineingetragen, dort ihm<br />

vorgelesen <strong>und</strong> unter dem Volke wieder<br />

weiter kolportiert werden. Und so wie diese<br />

Vorkämpfer, um ihrer großen, heiligen<br />

Lebensmission willen, die sie über kurz<br />

oder lang ins Gefängnis oder in den Tod<br />

führt, sich aller Freude des Lebens entledigen,<br />

ihren eleganten, weltmännischen<br />

Anzug gegen die Volkstracht, das feine<br />

Damenkleid gegen den Bäuerinnenkittel<br />

umtauschen müssen, somit das, was dem<br />

Leben des Volkes eine zukünftige Auferstehung<br />

bereiten soll, über ihr eigenes<br />

Leben stellen, so liebt Tolstoi diese seine<br />

unkünstlerische, aber sozial <strong>und</strong> geistig aufrüttelnde<br />

Propagandawirksamkeit mehr als<br />

alle seine Kunstwerke zusammen. Seine gesellschaftskritischen,<br />

seine staats- <strong>und</strong> kirchenfeindlichen,<br />

einfachen Wahrheitsgedanken,<br />

die er im Volke verbreitet sieht<br />

<strong>und</strong> die ihn bis heute wirklich <strong>und</strong> einzig<br />

mit dem Volke intim zu verbinden vermögen,<br />

sie gehen ihm mit einem gewissen<br />

Recht über alles andere <strong>und</strong> weitere. Begreift<br />

man nun, woher Tolstois herbes Urteil<br />

über seine eigene <strong>und</strong> die künstlerische<br />

Produktivität anderer weltbewegender Genialnaturen<br />

stammt? Aus seinem Herzensverständnis,<br />

aus seiner Geistestiefe, die sich<br />

über das eine große Faktum nicht hinwegtäuschen<br />

können, daß alle heutige Kunst<br />

eine Afterkunst ist, die nicht nach dem<br />

künstlerischen Gefühl des Volkes fragen<br />

kann, da sie nach Angebot <strong>und</strong> Nachfrage<br />

arbeitet <strong>und</strong> die dort, wo sie sich nicht<br />

beugt vor den unverrückbaren ökonomischen<br />

Gesetzen des heutigen Gesellschaftsu<br />

n wesens die tiefste Tragik alles künstlerischen<br />

Seins erfährt: v o m V o l k e nicht<br />

v e r s t a n d e n w e r d e n zu k ö n n e n , da<br />

diesem Volke von den Herrschaftselementen<br />

des Bestehenden der Geistesausblick in das<br />

Lichtreich hoher Gedanken <strong>und</strong> der Schönheit<br />

brutal verwehrt ist durch seine soziale<br />

Versklavung.<br />

Wenden wir uns zu Tolstois Anarchismus.<br />

Es ist ein gewaltiger Schritt nach vorwärts,<br />

den wir ihn machen sehen, diesen<br />

ehemaligen Kaukasusoffizier, der anläßlich<br />

der pfäftischen Einsegnung der Waffen zur<br />

Zeit des russisch-türkischen Krieges, der<br />

gleichzeitigen Einsegnung auf beiden Seiten<br />

<strong>und</strong> der Herabflehung des himmlischen<br />

Gottessegens zum Heile der Mordzwecke<br />

des einen wider den anderen Potentaten<br />

— der anläßlich dieser erbärmlichen Lügenkomödie<br />

unserer offiziellen Zeit s e h e n d<br />

ward. Von da an kannte Tolstoi kein<br />

Bleiben mehr beim Militär. Er nahm seinen<br />

Abschied <strong>und</strong> der bisher flott verschwendende<br />

Lebemann <strong>und</strong> Graf hielt Einkehr<br />

mit sich selbst, warf sich mit rätselhafter<br />

Energie auf das Studium der altgriechischen<br />

<strong>und</strong> hebräischen Sprachen, nur um in den<br />

wahren Geist der Bibelevangelien eindringen<br />

<strong>und</strong> die schwindelhaften Kirchenübersetzungen,<br />

mit ihren unzähligen theologischen<br />

Variationen entwirren zu können. Was<br />

Tolstoi auf diesem, für einen Russen vollständig<br />

begreiflichen Drangeswege fand,<br />

war etwas Großes: er fand, ähnlich wie<br />

Buddha, in der Entsagung sich selbst <strong>und</strong><br />

entdeckte auch ein Vorbild, das ihm bisher<br />

als Gottessohn vorgestellt geworden: er<br />

entdeckte den herrlichen Menschen Rabbi<br />

Jeschua, den die Römer Jesus nannten <strong>und</strong><br />

erst Paulus zu einem Jesus Christus stempelte.<br />

Er sah das Geistesbild eines Menschen<br />

vor sich, der im edlen Streben nach Abschüttelung<br />

des römischen Joches unendlich<br />

viel gelitten haben soll, der uns heute<br />

eine vorbildliche Idealgestalt sein könnte,<br />

wenn nicht über fünfzehn Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

pfäffischer Verdummungstheologie <strong>und</strong><br />

pfäffischen Betruges uns aus dieser Menschengestalt<br />

eine göttliche Figur gemacht<br />

hätten, damit dieselbe jeder menschlich<br />

höheren Bedeutung beraubend. Denn was<br />

ist das Leid, das Jesus ertragen haben soll,<br />

für einen Gott, wenn derselbe existiert?<br />

K e i n Leid. Nur als M e n s c h kann uns<br />

Jesus groß, verehrungswürdig erscheinen,<br />

niemals als Gott, <strong>und</strong> es gehört zur Ironie der<br />

Weltgeschichte, daß die fanatischesten Anhänger<br />

dieses Mannes ihn, im verblendeten<br />

Ringen um seine Göttlichkeit, gerade sein<br />

Größtes, sein Allmenschliches entreißen<br />

wollten <strong>und</strong> wohl auch entrissen haben.<br />

Diese Persönlichkeit lehrte Tolstoi ein<br />

einziges Gesetz: D i e L i e b e z u m N e b e n -<br />

m e n s c h e n . Und vor der grandiosen<br />

Wucht dieses Gesetzes tritt für uns, wie<br />

auch für Tolstoi, wieder die ganze große<br />

Lichtgestalt des Rabbi Jeschua in den Hintergr<strong>und</strong>.<br />

Um so mehr, als wir mit dem<br />

großen Russen es wissen, daß dieses »goldene<br />

Gesetz des Lebens« nicht von Jeschua<br />

zuerst erdacht ward, daß wir es in allen<br />

<strong>und</strong> weit älteren Religionen als das Christentum<br />

vorfinden, daß die Stoiker, besonders<br />

Seneca, es uns weit umfassender<br />

lehrten. Doch dies ist schließlich Nebensache,<br />

<strong>und</strong> Prophet bleibt dennoch nur<br />

derjenige, dem es gelang, die Heilslehre


leibend <strong>und</strong> dauernd zu machen. D a r i n<br />

ist die Gestalt des Rabbi allerdings ehern<br />

<strong>und</strong> unerschütterlich durch fast zwei Jahrtausende,<br />

ist seine Bergpredigt der Inhalt<br />

der Bibel, neben dem all die anderen, so<br />

auffallend widerspruchsvollen Evangelien<br />

ebenso hinfällig werden, wie alle die Bücher<br />

Mosis. Aber diese Bergpredigt genügt, denn<br />

sie kann eben nur in einem Sinne ihre<br />

Auslegung finden, im Sinne des humanistischen<br />

Idealismus, <strong>und</strong> selbst die Gewaltsstützen<br />

aller Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart<br />

haben es nicht anders getan.<br />

Es war somit nichts als eine geistige Konsequenz,<br />

wenn Tolstoi, der tiefinnerlich nur<br />

an die Regenerationsfähigkeit des Volkes<br />

glaubt, seinen Anarchismus an den religiösen<br />

Vorstellungen des russischen Volkes<br />

weiterbaute. Und mit großem Recht; denn<br />

die Entwicklung Rußlands hat es mit sich<br />

gebracht, daß der Geist des naturwissenschaftlichen<br />

Materialismus, der zur reinen<br />

Auffassung des Universums geleitet, nur in<br />

den höheren Schichten der Gesellschaft<br />

Einzug halten konnte. Das Volk selbst ist<br />

religiös, aber glücklicherweise n i c h t kirchlich-religiös.<br />

Das beweisen die h<strong>und</strong>erte von<br />

religiösen Sekten, die in Rußland bestehen<br />

<strong>und</strong> sich wie ein riesiges Netz miteinander<br />

vereinigen, wenn es den Widerstand gegen<br />

die griechisch-katholische Kirche gilt. Und<br />

alle diese Sekten wenden sich g e g e n die<br />

Kirche, weil sie die wesentlichsten Bestandteile<br />

des Urchristentums in sich aufgenommen<br />

haben <strong>und</strong> hochschätzen, sind g e g e n<br />

die Kirche, weil sie in ihr den Geist der<br />

Herrschaft, Autorität <strong>und</strong> Unterdrückung,<br />

den Geist des Eigennutzes <strong>und</strong> des gleisnerischen<br />

Reichtums erblicken, ihrerseits<br />

den Brudersinn der religiösen Gemeinsamkeit,<br />

des Kommunismus <strong>und</strong> das Gefühl<br />

des intimen, persönlichen In-Beziehungtretens<br />

mit »Gott«, also für sie des Guten,<br />

ein Gefühl, das alle Priester <strong>und</strong> Kirchen<br />

ausschaltet, hegen <strong>und</strong> pflegen. Mit dieser<br />

Gr<strong>und</strong>lage des Geisteslebens seines Volkes<br />

hatte Tolstoi zu rechnen, <strong>und</strong> darauf mußte<br />

er bauen, wollte er jemals Eingang finden<br />

in dessen Seele <strong>und</strong> Sehnsucht. Mögen<br />

diese notgedrungenen knappen Erklärungen<br />

uns einen klareren Begriff von der durchaus<br />

notwendigen Art des Tolstoischen Anarchismus<br />

bringen,<br />

Im Kerne seines Wesens unterscheidet<br />

sich dieser Anarchismus als einziges Strebensideal<br />

der Menschheit gar nicht von<br />

jenem anderer Vorkämpfer dieses größten<br />

Menschengedankens der Freiheit. Tolstoi<br />

ist für die Abschaffung des Staates, er ist<br />

Gegner jeder Gesetzgebung durch Men-<br />

schen über Menschen, ist Gegner des Monopoleigentums<br />

an Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden, wie<br />

überhaupt jedes Monopols im produktiven<br />

Gesellschaftsleben. Er vertritt den durchaus<br />

richtigen Standpunkt, daß unsere heutige<br />

Fabrikstechnik, unsere städtische Hyperkultur,<br />

unsere ganzen nationalökonomischen<br />

Berechnungen zu Gunsten des Profitfaktors<br />

<strong>und</strong> zu gräßlichstem Ungunsten des Menschen<br />

nichts sind als Eigennutzinteressen,<br />

die zu weichen haben gegenüber dem einfachen,<br />

natürlichen Leben des Bauern, der<br />

physischen Arbeit, die uns in intime Berührung<br />

treten läßt mit Mutter Erde, der<br />

wirklich produktiven Arbeit für die eigenen<br />

Bedürfnisse, statt der unproduktiven heutigen,<br />

für die Gelüste <strong>und</strong> Luxusbedürfnisse<br />

des Reichtums. Tolstoi haßt <strong>und</strong> verachtet<br />

die Vertreter des modernen Gesellschaftslebens,<br />

aber sein Haß ist freilich<br />

nicht der wildlodernde des alten Revolutionärs<br />

vom Typus etwa eines Karl Heinzen,<br />

sondern der Unwille über den Schaden,<br />

den unentwickelte Kinder an anderen, wehrlosen<br />

Kindern anrichten, das Leid, das<br />

sie ihnen zufügen. Denn Tolstois Anarchismus<br />

geht immer an Hand des Zauberwortes<br />

L i e b e , ist immer eine neue Bergpredigt.<br />

Sein Anarchismus besitzt aber auch<br />

etwas ungemein Konstruktives, wie wir sofort<br />

sehen werden.<br />

Leo Tolstoi ist Religion n i c h t ein<br />

bildlich wahrnehmbarer Gottesbegriff, auch<br />

nicht die Verehrung irgend einer Jesugestalt,<br />

eines Bibelwortes, einer Reliquie.<br />

Alles dies sind ihre Äußerlichkeiten, die<br />

die Kirche geschäftlich ausbreitet. Für Tolstoi<br />

ist Religion: e i n w a h r e s L e b e n im<br />

D i e n s t e d e s W o h l e s d e i n e s N e b e n -<br />

m e n s c h e n , im Dienste der Erfüllung<br />

einer höheren P f l i c h t , sich <strong>und</strong> sein ganzes<br />

einzusetzen für die Verwirklichung des<br />

Guten. Was ihm dieses ist, weiß man,<br />

wenn man das Ideal des Anarchismus<br />

kennt; es ist auch das seine, <strong>und</strong> nur in<br />

einem Sinne wird er von vielen nicht anerkannt<br />

<strong>und</strong> verkannt; im Sinne einer rein<br />

taktischen Auffassung des Werdeprozesses<br />

der neuen Gesellschaft <strong>und</strong> des neuen<br />

Lebens <strong>und</strong> des neuen Menschen.<br />

Ich habe aus Raummangel keine Gelegenheit,<br />

mich hier über Tolstois ethischsexuelle<br />

Anschauungen zu äußern; es ist<br />

im Bereiche dieser Skizze überflüssig, in<br />

bezug auf seine diesbezüglich anders gearteten<br />

Ansichten von den unseren, die geformt<br />

wurden <strong>und</strong> sich mehr oder minder<br />

im Einklang finden mit jenen eines Ibsen<br />

oder Meredith oder Morris <strong>und</strong> Carpenter,<br />

Worte zu verlieren. Was aber nicht über-


flüssig sein kann, ist die Frage, ob wir,<br />

die wir, mit Tolstoi, kommunistische Anarchisten<br />

in der heute theoretisch geläuterten<br />

Auffassung dieses Namens sind, ob wir,<br />

die wir aber auch Anhänger der sozialen<br />

Revolution, als der befreienden Humanitätsaktion<br />

der nach Freiheit ringenden <strong>und</strong> für<br />

sie geistig gereiften Massen sind — ob<br />

wir auch unter letzterem Gesichtswinkel<br />

berechtigt sind, ihn zu feiern, ihn anzuerkennen?<br />

Ist doch Tolstoi bekannt als einer,<br />

der angeblich das Nichtwiderstreben, das<br />

Böse zu ertragen lehrt <strong>und</strong> der mit seinem<br />

Hohn »auch die Freiheitsbestrebungen<br />

trifft«, wie ein gewisser Wortmacher in der<br />

»Arbeiter-Zeitung« recht unsauber-unwahr<br />

orakelt.<br />

Ob wir ihn ehren sollen? Kameraden,<br />

leset Krapotkins Buch über »Ideale <strong>und</strong><br />

Wirklichkeiten der russischen Literatur,<br />

<strong>und</strong> ihr werdet nicht mehr fragen.<br />

Ebenso wie Tolstois Christentum, das<br />

doch nichts mit dem bestehenden zu tun<br />

hat, ist Tolstois Taktik falsch aufgefaßt<br />

<strong>und</strong> beurteilt worden. Es klingt wie ein<br />

Hohn, wenn Leute, die ihn ganz wie die<br />

Repräsentanten des Bestehenden fürchten,<br />

wenn z. B. die Sozialdemokraten, diese<br />

notorischen Nichtstuer für das Volk, die<br />

von dessen instinktivem Klargefühl, daß<br />

ihm ein Unrecht durch das bestehende<br />

System geschieht <strong>und</strong> daß ein neues organisiert<br />

werden muß, recht flott <strong>und</strong><br />

angenehm leben, wenn solche Leute es<br />

einem Tolstoi vorzuwerfen wagen, er<br />

predige das Nichtstun gegenüber dem<br />

Feind des Staates <strong>und</strong> der Unterdrückung!<br />

Schluß folgt. Pierre Ramus<br />

Der neue Mensch.<br />

Aus der Tiefe ringt sich der neue<br />

Mensch empor zur lichten Sonnenhöhe.<br />

Schnell schwindet die Dämmerung, die<br />

Umnachtung unseres Lebens, verflüchtet<br />

der Nebel der Befangenheit, des Irrwahns,<br />

des falschen Glaubens. Der Mensch des<br />

zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts ist ein kühner,<br />

starker Stürmer geworden, er beginnt mit<br />

den alten überlieferten Traditionen, Sitten,<br />

Gewohnheiten, Gebräuchen <strong>und</strong> Anschauungen<br />

aufzuräumen, auch mit dem Ballast<br />

der Autorität, der Religion, der Knechtsseligkeit.<br />

So gehört ihm eine Welt <strong>und</strong> die<br />

Zukunft. Aus dem Jahrh<strong>und</strong>ert der Finsternis<br />

endlich das Erwachen zum Lichte,<br />

aus langem Schlafe zur Regsamkeit <strong>und</strong><br />

Lebendigkeit, zum Denken, Fühlen, Erfassen,<br />

<strong>und</strong> Empfinden. Wie sieht der<br />

neue Mensch alles mit anderen Augen,<br />

als die Menschen der Vergangenheit, er ist<br />

Atheist <strong>und</strong> Revolutionär, Freidenker <strong>und</strong><br />

Sozialist geworden. Vor seinem Auge,<br />

seinem kritischen Geiste fallen die Fesseln der<br />

Bevorm<strong>und</strong>ung, der Knebelung <strong>und</strong> der Entrechtung.<br />

Frei <strong>und</strong> ungehindert ist sein Wollen<br />

<strong>und</strong> Können, kühn sein Geist; so muß der<br />

neue Mensch beschaffen sein, dem eine<br />

»Welt« gehören soll. Was waren den Menschen<br />

der staatlichen, religiösen Zuchtrute<br />

Menschentum, Freiheit <strong>und</strong> Wahrheit? Dinge,<br />

die sie nicht verstehen, nicht fassen <strong>und</strong><br />

begreifen konnten. Klein an Geist <strong>und</strong> Gemüt,<br />

können sie nicht den Anforderungen<br />

Stand halten, sich anpassen einem Denken<br />

<strong>und</strong> Handeln, das Kraft <strong>und</strong> Energie, Liebe<br />

<strong>und</strong> Wahrheit voraussetzt.<br />

Alles das gehört dem Menschen des<br />

zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts. Ein moderner<br />

Ikarus, dessen Flug sich zur Sonnenhöhe<br />

richtet, so erhebt den neuen Menschen die<br />

Flutwelle der geistigen, intellektuellen Strömung<br />

unserer Zeit, <strong>und</strong> so findet man ihn<br />

wieder als Kämpfer in dem Strudel des<br />

sozialen Lebens: ein Anarchist. Pionier für<br />

Menschentum <strong>und</strong> Freiheit, tritt er ein in<br />

die Schranken gegen Ungerechtigkeit <strong>und</strong><br />

Lüge unserer Zeit. Klar <strong>und</strong> rein sind seine<br />

Anschauungen, er kennt keinen »allmächtigen,<br />

gütigen Gott« mehr, aber auch kein<br />

»Gottesgnadentum«, keine Unterdrückung<br />

der Persönlichkeit. Losgelöst ist er von der<br />

staatlichen Autorität, frei von jedem Zwange<br />

steht der neue Weltenstürmer da, eine volle,<br />

starke, mutige Persönlichkeit, dem nichts<br />

höher steht, als d i e G l e i c h h e i t j e d e s<br />

E i n z e l n e n , <strong>und</strong> d i e i n d i v i d u e l l e<br />

F r e i h e i t a l l e r M e n s c h e n . Seine Denk<strong>und</strong><br />

Handlungsweise ist die eines idealen,<br />

freien Menschen.<br />

Ein Vorkämpfer für die menschliche<br />

Kultur, für Gleichheit des Menschengeschlechts<br />

<strong>und</strong> Sozialismus ist der neue<br />

Mensch. Schon sprengt er die Schollen der<br />

alten Gesellschaft mit eiserner Kraft, er<br />

ringt mit der alten Welt den Kampf um die<br />

Krone der Wahrheit, <strong>und</strong> in diesem Kampfe<br />

der Jahrh<strong>und</strong>erte wird der neue Mensch<br />

siegen. Sein Ideal ist: k e i n G o t t , k e i n e<br />

A u t o r i t ä t , k e i n S t a a t , f r e i e B a h n<br />

d e m G e n i u s d e r F r e i h e i t u n d d e r<br />

S i e g d e r M e n s c h h e i t ist u n a u s -<br />

b l e i b l i c h . Wie der Dichter sagt: »Das<br />

Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, <strong>und</strong><br />

neues Leben blüht aus den Ruinen.« Aus<br />

den Trümmern des alten Raubbaues unseres<br />

heutigen Lebens ersteht das Erwachen zum<br />

neuen Leben.<br />

Georg Weidner.


Mutter' usw. zu achten ? Es ist die katholische<br />

Kirche, die es wagt, solche G e b o t e zu lehren, gleich<br />

darauf aber auch wieder das Dagegenhandeln gutheißt.<br />

Grüße alle meine Kameraden von mir <strong>und</strong><br />

wisse, daß ich leide, eben weil ich Dich zu hoch<br />

achtete, als um die G e s e t z e des Militarismus je<br />

achten zu können."<br />

Verhör des Angeklagten Nowak.<br />

N.: „Ich bekenne mich schuldig, wenn auch<br />

nicht in .dem Maße, wie die Anklage es behauptet.<br />

Das Plakat habe ich verfaßt, ich nehme alle Schuld<br />

auf mich; ich habe darin nichts anderes gesagt, als<br />

•was in vielen Zeitungen zu lesen stand."<br />

Pr.: „Erzählen Sie, wie das Plakat zu Stande<br />

kam."<br />

N.: „Im Monat März dieses lahres war ich<br />

in der Redaktion unseres Blattes .Hornicky Listy'.<br />

Dort traf ich Trejbal. Letzterer fragte mich, ob ich<br />

wisse, daß die Nationalsozialisten <strong>und</strong> Sozialdemokraten<br />

eine antimilitaristische Proklamation herausgegeben<br />

haben. Der Redakteur des Blattes, Kamerad<br />

T h o m a s K a s c h e , zeigte es mir, <strong>und</strong> es gefiel<br />

uns nicht. Trejbal sagte, er möchte ein solches<br />

Manifest vom anarchistischen Standpunkt aus herausgeben.<br />

Ich wollte es zuerst nicht machen, da ich<br />

fast erblindet bin, dann aber fand ich mich doch<br />

dazu bereit."<br />

Pr.: „Was meinten Sie mit den Ausdrücken:<br />

,Der Staat ist dein Feind' u. dgl. m . ? "<br />

N.: „Ich wollte damit sagen, daß der Staat<br />

sich stets auf die Seite des Kapitals stellt, zwecks<br />

Unterdrückung des wirtschaftlich Schwächeren."<br />

Pr.: „Welcher Konfession gehören Sie a n ?<br />

Wohl konfessionslos?"<br />

N.: „Eigentlich muß ich mich Atheist nennen."<br />

Pr.: „Welcher politischen Partei gehören Sie a n ? "<br />

N.: „Ich bin unabhängiger Sozialist <strong>und</strong><br />

Anarchist."<br />

R e c h t s a n w a l t D r . F r a n k e l : „Sagen Sie<br />

den Geschwornen <strong>und</strong> dem Gerichtshof, wie Sie<br />

sich die Umwandlung der bestehenden Gesellschaft<br />

vorstellen."<br />

N.: „Wir bezwecken durch Aufklärung <strong>und</strong><br />

rationelle Erziehung unserer Kinder, die natürliche<br />

Entwicklung zur Freiheit zu beschleunigen. Das<br />

bestehende Gesellschaftssystem ist schädlich <strong>und</strong><br />

unges<strong>und</strong> für Alle; wir wollen es durch ein solches<br />

der Freiheit <strong>und</strong> des Wohlergehens für Alle ersetzen.<br />

Dadurch werden für alle Menschen edlere L e b e n s -<br />

bedingungen geschaffen."<br />

Hier unterbrach der Gerichtshof die Verhandlung;<br />

es trat die Mittagspause ein.<br />

Nachmittags wurde der gleichfalls, aber von<br />

den Militärbehörden direkt <strong>und</strong> vor einem Kriegsgericht<br />

zu prozessierende Angeklagte Rudolf T r e j -<br />

b a l als Zeuge vorgeführt. Zwei Rekruten mit aufgepflanztem<br />

Bajonett führten ihn in den Gerichtsaal.<br />

Pr.: „NacheinerZuschrift vomMilitärkommando<br />

sind Sie, Rudolf Trejbal, zur St<strong>und</strong>e noch nicht<br />

verurteilt, wie es in mehreren Zeitungen fälschlich<br />

hieß. Sie stehen somit als Zeuge hier, <strong>und</strong> ich mache<br />

Sie darauf aufmerksam, daß Sie das Recht haben,<br />

sich irgend welcher Aussage zu entschlagen, wenn<br />

Sie glauben, sich selbst dadurch zu schaden. —<br />

Wann wurden Sie g e b o r e n ? "<br />

Tr.: „Ich wurde am 5. Mai 1886, als Sohn<br />

einer römisch-katholischen Familie geboren. Ich<br />

habe die Volksschule, 4 Klassen Realschule <strong>und</strong><br />

1 Klasse Handelsschule besucht. Von Beruf bin ich<br />

Komptoirist. Die Angeklagten sind meine Kameraden;<br />

mit der Tochter des Genossen N. bin ich ebenfalls<br />

bekannt."<br />

Pr.: „Was wissen Sie über das P l a k a t ? "<br />

Tr. (antwortet zuerst nicht, dann sehr langsam):<br />

„Es war gegen die Assentierung bestimmt."<br />

Pr.: „Welchen Zweck verfolgte e s ? "<br />

Tr. (gibt keine Antwort).<br />

Pr.: „Nun, antworten Sie doch, Sie haben<br />

doch studiert."<br />

Tr.: „In diesen Sachen habe ich nicht studiert."<br />

Pr.: „Hatten Sie gar nichts mit dem Plakat<br />

zu tun ? "<br />

T r : „Ich habe sprachliche Korrekturen daran<br />

vorgenommen."<br />

Pr.: „Als Soldat <strong>und</strong> als erzogener Mensch<br />

mußten Sie doch wissen, daß S i e hier etwas Ungehöriges<br />

begingen; was dachten Sie sich dabei ?"<br />

Tr. (schweigt).<br />

Auf weitere Fragen bestreitet der Zeuge ganz<br />

entschieden, die scharfen Stellen ins Plakat gestellt<br />

zu haben; er weiß nur, daß N. das Konzept des<br />

Plakates verfaßt hat.<br />

Alles weitere ist unerheblich, <strong>und</strong> der Präsident<br />

verfügt die Abführung des Zeugen.<br />

Als Zeuge tritt nun der Gendarmeriewachtmeister<br />

L o r e n z auf.<br />

L.: „Im Frühjahre dieses Jahres machte sich<br />

die antimilitaristische Bewegung in Nordböhmen<br />

ganz besonders geltend. Es wurden viele Flugschriften<br />

verteilt, sogar Redner von auswärts b e -<br />

zogen usw. Ich ersah plötzlich, daß ein Soldat viel<br />

,mit den Führern dieser Bewegung verkehrte. Es war<br />

dies Trejbal. Natürlich ließ ich ihn besonders überwachen.<br />

Ende März mochte es gewesen sein, als<br />

ich ihn einmal beobachtete, wie er mit einem unförmigen<br />

Paket unter dem Arm in ein Haus trat.<br />

Ich dachte sofort an einen Hektographen. Es verging<br />

der ganze Monat April, ohne daß ich etwas<br />

Auffälliges wahrnehmen konnte. Auf einmal erhielt<br />

ich die Meldung von verschiedenen Orten, daß<br />

antimilitaristische Plakate an Häusern <strong>und</strong> Mauern<br />

angeschlagen seien. Ich ließ, so rasch es anging,<br />

die Plakate sofort entfernen <strong>und</strong> veranlaßte auch<br />

die Vornahme von strengen Hausdurchsuchungen.<br />

Dieselben verliefen aber völlig erfolglos. Nur mit<br />

einer Ausnahme: es wurde der Hektograph bei<br />

Fronek gef<strong>und</strong>en, den ich sofort verhaftete. Es g e -<br />

lang mir auch, ihn zu einem Geständnis zu bewegen."<br />

S t a a t s a n w a l t D r . M e y e r : „Können Sie<br />

uns mit Bestimmtheit sagen, welcher politischen<br />

Richtung Fronek a n g e h ö r t ? "<br />

L . : „Fronek ist Anarchist."<br />

Dr. M e y e r : „Wann fing eigentlich die Hochflut<br />

dieser antimilitaristischen Bewegung hier a n ? "<br />

L . : „Im Frühjahr 1908."<br />

Dr. F r a n k e l : „Geschah dies in öffentlichen<br />

Versammlungen ?"<br />

L . : „Teils in öffentlichen, teils in größeren<br />

§ 2 Versammlungen."<br />

Dr. Frankel: „Bitte, möchten Sie uns nicht<br />

sagen, wieso Sie Kenntnis von dem haben, was<br />

sich in den geschlossenen § 2 Versammlungen zutrug?<br />

Ich kann doch nicht annehmen, daß Sie etwa<br />

Anarchist <strong>und</strong> Antimilitarist sind!"<br />

L . : „Dies geschieht durch meine Vertrauensleute,<br />

die auch in diese Versammlungen eindringen."<br />

Der Präsident verweigert die Erlaubnis zu<br />

jeder weiteren Fragestellung in dieser Richtung.<br />

Der Zeuge L. tritt ab.<br />

Es gelangt nun auf Antrag des Verteidigers<br />

Dr. Frankel das ä r z t l i c h e G u t a c h t e n über das<br />

Augenlicht <strong>und</strong> den sonstigen Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />

des Nowak zur Verlesung, dem wir das Wichtigste<br />

entnehmen:<br />

„. . . Objektiv beurteilt ergah die ärztliche<br />

Untersuchung folgendes Ergebnis: Nowak ist chronisch<br />

schlecht genährt, besitzt eine auffallend kränkliche<br />

Gesichtsfarbe. Beide Augen sind schwer krank<br />

<strong>und</strong> leiden zeitweise am grauen Staar . . ."<br />

Ein G e s c h w o r e n e r : „N. sagen Sie uns, was<br />

denken Sie sich eigentlich unter Antimilitarismus?"<br />

N.: „Wir stehen auf dem Standpunkt, daß der<br />

Militarismus nur den Interessen des Kapitals dient.<br />

Aus diesem Gr<strong>und</strong>e wollen wir die Menschen <strong>und</strong><br />

insbesondere die Jugend darüber aufklären, daß der<br />

Militarismus jede Möglichkeit zur Freiheit benimmt."<br />

Hier unterbricht'der Präsident den Angeklagten<br />

mit den W o r t e n : „Nun wir haben schon genug<br />

gehört."<br />

Der Gerichtshof erklärt hiermit das Verhör<br />

für geschlossen <strong>und</strong> zieht sich zurück behufs Aufstellung<br />

der besonderen Schuldfragen. Nach etwa<br />

einer Viertelst<strong>und</strong>e kehrt er wieder zurück mit<br />

folgenden Schuldfragen:<br />

1. Ist der Angeklagte N. schuldig, er habe das<br />

Konzept zu jenem antimilitaristischen Plakat geschrieben<br />

<strong>und</strong> mit anderen Mittätern am 1. Mai angeklebt,<br />

zwecks Verächtlichmachung <strong>und</strong> Aufreizung,<br />

zum Haß gegen den Militarismus?<br />

2. Ist der Angeklagte Fr. schuld'g, er habe in<br />

Verabredung mit anderen Mittätern zur Vervielfältigung<br />

des Konzepts einen Hektographen angekauft,<br />

das Plakat hergestellt <strong>und</strong> in der Nacht angeklebt,<br />

zwecks (wie o b e n ) ?<br />

3. Ist N. schuldig, daß er das Plakat mitangeklebt<br />

habe, zwecks (wie o b e n ) ?<br />

4. Ist der Angeklagte N. schuldig, er habe in<br />

Verabredung mit anderen Mittätern diverse bildliche<br />

Darstellungen gemacht, zwecks (wie oben) gegen<br />

das k. k. Militär?<br />

5. Ist der Angeklagte N. schuldig, in Vereinbarung<br />

mit anderen ein Konzept zu einem Plakat<br />

gemacht zu haben, das zur Verletzung des Eidgelöbnisses<br />

von dienstpflichtigen Militärpersonen<br />

auffordert <strong>und</strong> das als Verbrechen gegen das Leben<br />

der Angehörigen des Kaiserhauses g i l t ?<br />

6. Hat der Angeklagte N., die vom k. k. Kriegsministerium<br />

dienstlich verpflichteten Männer, nachdem<br />

er selbst zu keinem solchen Amte verpflichtet<br />

ist, zur Verletzung ihres Eidgelöbnisses aufreizen<br />

w o l l e n ?<br />

7. Hat der Angeklagte Fr. in seiner Wohnung<br />

ohne gesetzliche Zulässigkeit einen Hektographen<br />

gehalten ?<br />

Nach Verlesung dieser 7 Schuldfragen an die<br />

Geschworenen beginnen die Plaidoyers des Staatsanwaltes<br />

<strong>und</strong> Verteidigers.<br />

Staatsanwalt Dr. M e y e r : „Meine Herren G e -<br />

schworenen <strong>und</strong> hoher Gerichtshof! Als ein bemer-<br />

, kenswerter Zug unserer Zeit tritt uns eine imm r<br />

größer werdende Unzufriedenheit mit den bestehenden<br />

sozialen Zuständen entgegen. Und es ist insbesondere<br />

die Arbeiterklasse, die diesen Zug aufweist.<br />

Die Ursache dazu ist nicht recht einzusehen,<br />

denn die Lage des Arbeiters hat sich auf keinen<br />

Fall so verschlechtert, wie z. B . , die Lage des<br />

Bauern. Der Lohn des Arbeiters ist gestiegen,<br />

während das Einkommen des Bauern <strong>und</strong> Handwerkers<br />

gesunken ist. Dazu kommen noch die verschiedenen<br />

Unterstützungseinrichtungen, die für den<br />

Arbeiter geschaffen wurden; auch in seinen hygienischen<br />

Verhältnissen ist vieles reformiert worden,<br />

mehr als für den Mittelstand. Immerhin — ich lasse<br />

es gegenwärtig völlig dahingestellt, ob er nicht<br />

dennoch genug Ursache hat, weiterzukämpfen für<br />

die Verbesserung seiner Lebensverhältnisse, ich<br />

beabsichtigte nur die Berechtigung dieses Kampfes<br />

im Vergleiche mit einem anderen Stand Ihnen vorzuführen.<br />

Es sind zwei Bewegungen, die den Kampf<br />

des Proletariats organisieren <strong>und</strong> leiten: Die Sozialdemokratie<br />

<strong>und</strong> die anarchistische Bewegung. Ich<br />

beschränke mich in bezug auf letztere nur auf die<br />

geistig anarchistische Bewegung <strong>und</strong> schalte die<br />

terroristische ganz aus, da die Angeklagten n i c h t<br />

zu ihr gehören.<br />

Diese theoretisch - anarchistische Bewegung<br />

wird, dies ist nicht länger zu verkennen, immer<br />

stärker. Sie umfaßt in ihren <strong>Ziel</strong>en sowohl die<br />

Gegenwart, wie auch die Zukunft <strong>und</strong> die ganze<br />

Menschheit. Im Gegensatz zum Anarchismus will<br />

die soziale Demokratie den Staat stärken, alle P r o -<br />

duktionsmittel in seinen Händen konzentrieren <strong>und</strong><br />

dem gesellschaftlichen Leben nur eine neue staatliche<br />

Rechtsgr<strong>und</strong>lage verschaffen, die allerdings,<br />

wie es eben heute der Fall ist, auf Zwangsorganisationen<br />

sich stützt; diesem gegenüber erklärt sich<br />

der Anarchismus g e g e n j e d e n Staat, will denselben<br />

völlig beseitigen <strong>und</strong> an dessen Stelle s o -<br />

genannte freie Vereinigungen setzen, in denen die<br />

Mitglieder schalten <strong>und</strong> walten können, wie sie es<br />

für das zweckmäßigste erachten.<br />

Diesem <strong>Ziel</strong> stellen sich naturgemäß die heutigen<br />

Gewalten entgegen. Der Anarchismus erkennt<br />

dies, <strong>und</strong> er sucht deshalb die Hauptstütze des<br />

Staates, den Militarismus, geistig <strong>und</strong> praktisch zu<br />

entwurzeln, wieder ganz im Gegensatz zur D e m o -<br />

kratie, die nur dessen Formen verändern will. Der<br />

theoretische Anarchismus will wohl keine individuellen<br />

Gewaltakte, aber seine ganze Arbeit führt zu<br />

einer Untergrabung des militärischen Gefühls, der<br />

militärischen Autorität, wie es die Beschlüsse des<br />

internationalen antimilitaristischen Kongresses ganz<br />

klar aussprechen.<br />

Gegenüber solchem Beginnen kann der Staat<br />

nicht untätig bleiben, er muß sich zur Wehre setzen.<br />

Die Anarchisten werfen dem Staat vor, daß er seine<br />

Armee stets auf die Seite des Kapitals stellt. Ich<br />

behaupte, daß diese Meinung eine völlig unberechtigte<br />

ist. Der Staat ist im Kampf zwischen Kapital<br />

<strong>und</strong> Arbeit ganz neutral, er gewährt der Arbeit<br />

Koalitionsrechte, Vereinigungsrechte usw. Allerdings,<br />

die Zerstörung des privaten Eigentums, die Antastung<br />

der Sicherheit <strong>und</strong> Freiheit dar Person — dies darf<br />

der Staat nicht zulassen. Sonst aber ist er unparteiisch<br />

<strong>und</strong> die diesbezüglichen anderweitigen B e -<br />

hauptungen der Anarchisten sind ungerechtfertigt.<br />

Das eine will ich den Anarchisten gern zugestehen<br />

: Sie haben recht, wenn sie sich gegen<br />

die Subordination <strong>und</strong> Unterwerfung erklären. Nämlich<br />

von ihrem Standpunkt aus. Wir wissen, daß<br />

das Gefühl der Subordination glücklicherweise viel<br />

zu stark ist, als daß sie es jemals irgendwie erheblich<br />

schädigen könnten. Sie dürfen aber, meine<br />

hochverehrten Herren Geschworenen, nicht vergessen,<br />

daß die antimilitaristisch-anarchistische B e -<br />

wegung in Dux ziemlich stark ist <strong>und</strong> hier haben<br />

sie das antimilitaristische Knopflochabzeichen —<br />

zwei Hände, die ein Gewehr zerbrechen <strong>und</strong> die<br />

Aufschrift: .Keinen Mann, keinen Heller dem Militarismus!'<br />

— das in vielen Tausenden von E x e m -<br />

plaren verbreitet ist <strong>und</strong> gegenwärtig auch subjektiv<br />

verfolgt wird.<br />

Die beiden Angeklagten sind erklärte Anarchisten,<br />

der Anarchismus ist bestrebt, den gesamten<br />

Staat, das Heer <strong>und</strong> das Gefühl der Subordination,<br />

der Unterordnung, zu beseitigen. Ich bitte Sie darum,<br />

dies festzuhalten!<br />

W a s bezweckten die Angeklagten- mit der<br />

Plakatierung dieses Manifests? Sie wollten ihrer<br />

Idee, ihrer Bewegung dienen, deren Tendenzen<br />

lebendig erhalten. Fronek sagte, sein Zweck sei<br />

gewesen, in der Arbeiterschaft das Gefühl des<br />

Hasses gegen die Mißstände im Militarismus, so<br />

wie er sie sieht <strong>und</strong> auffaßt, zu e r w e c k e n ; also<br />

Haß gegen den Staat. Nowak wollte mit seiner<br />

Flugschrift in den jungen Leuten ein Gefühl, daß<br />

ihnen Unrecht geschehe, erwecken, vielleicht auch<br />

bestärken. Hören S i e nur den Wortlaut des Plakates.<br />

(Liest einzelne Sätze vor) Kann man einen solchen<br />

Staat noch l i e b e n ? Ich sage nein; ein solcher Staat<br />

muß von den minder Urteilsbefähigten ganz selbstredend<br />

gehaßt werden .<br />

Wann wurde das Plakat veröffentlicht? Zur<br />

Zeit der Assentierung. W a s soll nun ein Jüngling<br />

empfinden, der so informiert wird über den Milit<br />

a r i s m u s ? Er wird hingewiesen auf das Elend, eine<br />

hohe Sterbeziffer beim Militär, auf die Selbstmorde;<br />

er wird durch Schmähungen gegen den Militarismus<br />

aufgebracht, denn das Plakat nennt diesen eine<br />

.Geißel der Völker'. J a , es ist wohl war, Fälle von<br />

Soldatenmißhandlungen kommen in unserem Heer<br />

vor, wie in jedem anderen der ganzen Welt. Doch<br />

das Plakat verschweigt, daß diese Fälle ihre Sühne<br />

finden. Selbstmorde werden schließlich immer vorkommen,<br />

solange Menschen auf Erden sind; sie<br />

sind Ursachsfolgen, die in keiner Verbindung mit<br />

dem militärischen Leben stehen. I c h g e b e a u c h<br />

g e r n e zu, daß ein Fall eintreten kann, wo die<br />

Soldaten die Waffen gegen die eigene Familie zu<br />

kehren haben. Aber das Flugblatt verschweigt, daß<br />

ein solcher Fall nur dann eintreten kann, wenn<br />

diese Angehörigen sich in Kollisionen mit den<br />

bestehenden Verhältnissen bringen. Dann allerdings<br />

kann es zu dem Falle kommen, daß der Sohn gegen<br />

den eigenen Vater auftreten muß.<br />

Gerne will ich den Angeklagten zubilligen<br />

daß sie nicht mit momentaner Gewalt die gegenwärtige<br />

Regierungsform stürzen wollten. Aber dies<br />

ist ganz gleichgültig. Die Frage ist: Wollten die<br />

Angeklagten Haß <strong>und</strong> Verachtung e r w e c k e n ? D e s -<br />

halb sind sie der Störung der öffentlichen Ordnung<br />

angeklagt. Ich bitte Sie deshalb, verehrte Herren<br />

Geschworenen, sämtliche Schuldfragen zu bejahen<br />

<strong>und</strong> die Angeklagten schuldig zu sprechen."


R e c h t s a n w a l t D r . B e n d e l will nun i n<br />

böhmischer Sprache das Wort ergreifen. Doch ein<br />

Geschworener ersucht ihn, darauf Verzicht zu leisten,<br />

da nur er der böhmischen Sprache mächtig ist, die<br />

übrigen 11 Geschworenen nicht. Darauf verzichtet<br />

Dr. Bendel auf sein Plaidoyer. Es ergreift nach ihm<br />

das Wort<br />

Dr. H e r z b e r g - F r ä n k e l : „Meine hochverehrten<br />

Herren Geschworenen 1 Wenn Sie gelegentlich<br />

irgend eines der zahlreichen Amtsblätter zur Hand<br />

nehmen, mit denen unser Österreich so überaus<br />

reichlich gesegnet ist, so werden Ihnen die Konfiskationsparagraphen<br />

nur so vor den Augen schwirren.<br />

Es sind das lauter Paragraphen, die zu einer subjektiven,<br />

wirklich strafrechtlichen Verfolgung längst<br />

nicht mehr ausreichen, obwohl auf manchem von<br />

ihnen laut Gesetz die Todesstrafe steht. In Niederösterreich<br />

selbst haben wir seit einem Jahrzehnt<br />

wenigstens keine solchen Verfolgungen mehr gehabt.<br />

Dieselben sind, wie gesagt, äußerst selten. Nur hier<br />

in Böhmen, vornehmlich in Brüx, habe ich schon das<br />

zweite Mal Gelegenheit, in einem politischen Prozeß<br />

gegen die Absichten der Staatsanwaltschaft auftreten<br />

zu müssen. Überall vermeidet man es sonst, die<br />

Geschworenen aus dem Bürgerstande mit solchen<br />

Gewissensfragen zu belasten <strong>und</strong> zu behelligen, wie<br />

es eine Urteilsfällung über die politische Gesinnung<br />

<strong>und</strong> Denkart von Menschen mit sich bringt. Nur<br />

hier in Brüx scheint man sich hartnäckig an alle,<br />

selbst an die veraltetsten Paragraphen unseres so<br />

sehr reformbedürftigen Strafgesetzbuches zu halten.<br />

Meine Herren Geschworenen, bedenken Sie, daß<br />

dieses vor über 100 Jahren <strong>und</strong> zur Zeit einer<br />

großen politischen Finsternis <strong>und</strong> Reaktion entstanden<br />

ist. Und nun sollen wir, nachdem wir 1848<br />

uns eine ganze Anzahl von diesem Strafgesetzbuche<br />

verbotene, uns aber heute schon selbstverständlich<br />

gewordene Freiheiten erobert haben, auf dieselben<br />

Verzicht leisten, wir, die wir alle erklären, daß das<br />

Gewissen frei i s t ?<br />

Ach, dieser mit drei Kreuzen versehene Anarchismus!<br />

Woran denkt man, wenn man ihn im<br />

M<strong>und</strong>e führt? An Kaiser- <strong>und</strong> Königsmorde, an<br />

wüstem Raub u. dgl. m. Ich muß dem heutigen<br />

Vertreter der Anklage immerhin loyalerweise zugestehen,<br />

daß er gleich eingangs erklärte, daß<br />

Anarchismus n i c h t Terrorismus ist. Aber ich muß<br />

ihm den einen Vorwurf machen, daß er diese Einsicht<br />

schon früher hätte bek<strong>und</strong>en können, e h e er<br />

die gegenwärtige Anklage e r h o b !<br />

Vergegenwärtigen Sie sich klar die Situation<br />

meine verehrten Herren Geschworenen. Sie haben<br />

es mit Bergarbeitern zu tun, also mit Leuten, die<br />

eine Arbeit haben, die sie sechs aus sieben T a g e n<br />

dem lebenspendenden Sonnenlichte, der freien Natur<br />

<strong>und</strong> ihrer Luft entzieht. Ist es nicht geradezu rührend<br />

zu beobachten, daß diese Leute, die also einen<br />

fürchterlich harten Lebensstandpunkt einzunehmen<br />

haben, sich bei ihrem ganzen grauen Elend noch<br />

den erhebenden Idealtsmus bewahren, daß das Leben<br />

ohne Staat möglich, daß wir keine Staatsgewalt,<br />

keinen Gendarmen brauchen! Ich muß eingestehen,<br />

daß ich mich mitgerissen fühle von der Hochherzigkeit<br />

dieses Ideals, das übrigens von den auserlesensten<br />

Weltgeistern geteilt wird; <strong>und</strong> ich muß<br />

aufrichtig bekennen: W a n n dieser Standpunkt der<br />

menschlichen Entwicklung möglich ist — d a n n<br />

sage auch i c h : Nieder mit dem S t a a t e ! Allerdings,<br />

<strong>und</strong> hier scheide ich von den Anarchisten, ich kann<br />

mich nicht zu dem Glauben an das Gute in a l l e n<br />

Menschen aufschwingen <strong>und</strong> glaube nicht, daß<br />

dieses Stadium der Entwicklung möglich, somit<br />

erachte ich den Staat als eine Notwendigkeit; aber<br />

keineswegs als eine ideale, <strong>und</strong> ich kann es unmöglich<br />

zugeben, daß man das so ideale Streben<br />

von einfachen, bescheidenen Menschen, den Staat<br />

zu einer Überflüssigkeit in der menschlichen G e -<br />

sellschaft zu machen, das Streben, die Menschheit<br />

zu diesem Ideale zu erziehen, daß man dies als ein<br />

Verbrechen erklären soll.<br />

Wir haben es hier mit einer antimilitaristischen<br />

Flugschrift zu tun. Nun, ich muß gestehen, ich habe<br />

in politisch radikalen Zeitungen schon öfters zum<br />

mindesten das Gleiche gelesen, ohne daß n a n sie<br />

deshalb verfolgte. Die Angeklagten haben den Militarismus<br />

als Feind der menschlichen Gesellschaft<br />

hingestellt? Nun, ich muß es Ihnen sagen : sie haben<br />

Recht damit. Der Militarismus ist der Feind der<br />

Kultur, der Militarismus ist der Feind der Zivilisation,<br />

der Militarismus zerstört, der Militarismus ist Grausamkeit,<br />

der Militarismus ist zu verwerfen. Und<br />

das sagen nicht nur die Angeklagten, das sage<br />

nicht nur ich, das sagen alle Einsichtsvollen, das<br />

sagt die gesamte internationale Friedensbewegung,<br />

das sagen die Frauen vom Schlage einer Suttner,<br />

das hören Sie immer wieder in allen Parteien, wenn<br />

in den Parlamenten darüber geklagt wird, daß das<br />

Militärbudget alle Lösungen der sonstigen Kulturfragen<br />

einfach illusorisch macht. Und unsere Zeit<br />

geht mit Riesenschritten daran, den Militarismus,<br />

wie er heute besteht, durch Schiedsgerichte aus<br />

der Welt zu schaffen, als einen Feind, der befehdet<br />

werden muß. Und ich neige sehr zur Annahme, daß<br />

das k. k. Kriegsministerium, gerade weil es den<br />

großen Unterschied zwischen dem Militarismus <strong>und</strong><br />

der Armee an <strong>und</strong> für sich herausfühlte, seine<br />

spezielle Zustimmung zu einer Anklage wegen B e -<br />

leidigung der Armee n i c h t erteilt hat, da dieselbe<br />

nicht vorliegt.<br />

Und nehmen Sie nun die anderen Paragraphen,<br />

meine Herren Geschworenen, auf denen Jahre<br />

schweren Kerkers stehen! Lesen Sie sie durch <strong>und</strong><br />

Sie werden finden, daß sie gar nicht auf dem vorliegenden<br />

Fall passen, da sie sich vornehmlich<br />

darauf beziehen, daß gegen denjenigen vorgegangen<br />

werden soll, der zum Haß <strong>und</strong> zur Verachtung wider<br />

den Kaiser, die S t a a t s v e r w a l t u n g aufruft. B e -<br />

achten Sie dies wohl <strong>und</strong> noch besonders das eine:<br />

in dem Plakat wird die S t a a t s i d e e als solche,<br />

nicht aber irgendwie die S t a a t s v e r w a l t u n g im<br />

Besonderen angegriffen. Ich gebe Ihnen zu bedenken,<br />

daß, wenn Sie die Angeklagten schuldig sprechen,<br />

sie ohne Zweifel mit der vollen Strenge des G e -<br />

setzes betroffen werden, die auf die §§ 65 <strong>und</strong> 222<br />

steht <strong>und</strong> ich Sie dann schließlich fragen muß:<br />

Diese Angeklagten haben die in den genannten<br />

Paragraphen angeführten Verbrechen n i c h t b e -<br />

gangen; wie wollen Sie denn nachher einmal, wenn<br />

irgend jemand wirklich diese Verbrechen begehen<br />

sollte, diese Person dafür bestrafen, wenn Sie schon<br />

jetzt, wo das Verbrecuen noch nicht begangen<br />

wurde, die volle Strenge dieser Gesetze wirken<br />

lassen w o l l e n ?<br />

Der Herr Staatsanwalt hat auch gesagt: Pflicht<br />

ist Pflicht. Es ist dies nicht meine Meinung <strong>und</strong><br />

ich weiß, es ist auch nicht Ihre Meinung, denn<br />

ich möchte doch den Herrn Geschworenen sehen,<br />

der dafür, daß ein Sohn seinem Vater nicht eine<br />

Kugel durch die Brust jagen wollte, jenen Sohn<br />

dafür schuldig sprechen, somit sagen wollte, daß<br />

er im Stande wäre, so etwas zu begehen. Im übrigen<br />

bringt uns j e d e Parlamentssitzung neue K<strong>und</strong>e<br />

von Soldatenmißhandlungen, von Selbstmorden in<br />

der Armee <strong>und</strong> wenn trotz der loyalen Erklärungen<br />

des Herrn Kriegsministers, dagegen einzuschreiten,<br />

die Mißhandlungen u. dgl. m. n i c h t aufhören,<br />

müssen sie es mit in Kauf nehmen, daß strikt antimilitaristisch<br />

gesonnene Menschen die Öffentlichkeit<br />

dagegen aufrufen, dazu auffordern, sich zu wehren.<br />

Das ist kein Verbrechen.<br />

Aber ich weiß, es ist nicht nötig, Ihnen allen<br />

dies so eindringlich ans Herz zu legen. Ich weiß,<br />

ich kämpfe gegen Windmühlen in meiner Befürchtung,<br />

daß Sie diese zwei Männer verurteilen werden. Ist<br />

es denn menschenmöglich, daß sie solche zwei<br />

Menschen, von denen der eine frühem Siechtum<br />

verfallen ist, einem frühen T o d entgegenschreitet<br />

<strong>und</strong> durch seine Arbeitsart halb erblindet ist, die<br />

beide über 4 Monate in Untersuchungshaft gehalten<br />

wurden — ist es denn möglich, daß Sie solche<br />

Leute wegen ihrer Gesinnung zu langjährigen Kerkerstrafen<br />

verurteilen ? Meine Herren Geschworenen!<br />

Sie sind lauter Deutsche, die Angeklagten sind<br />

Tschechen. Bieten Sie ihnen ein leuchtendes B e i -<br />

spiel Ihrer Unparteilichkeit <strong>und</strong> Vorurteilslosigkeit,<br />

tun Sie das, was die Geschworenen hier vor 5<br />

Jahren getan, sprechen Sie die Leute, die kein<br />

Verbrechen begangen haben, frei. Ich plaidiere aus<br />

diesem Gr<strong>und</strong>e für die vollständige Freisprechung<br />

meiner Klienten."<br />

S t a a t s a n w a l t D r . M e y e r erhebt sich <strong>und</strong><br />

konstatiert, daß der oben angeführte S a t z : „Der<br />

Staat ist dein Feind" usw., im Nominativ, nicht im<br />

Genetiv verfaßt ist. — — -<br />

Um a<br />

/ 4 5 Uhr abends ziehen sich die G e -<br />

schworenen zur Beratung zurück. Um 6 Uhr abends<br />

kehren sie wieder zurück, <strong>und</strong> der Obmann überreicht<br />

folgendes Gutachten:<br />

„In der ersten Frage erklären sie die Angeklagten<br />

mit 7 Stimmen für nichtschuldig, 5 dagegen;<br />

in der zweiten 6 für nichtschtildig, 6 dagegen; in<br />

in der dritten 4 für nichtschuldig, 8 dagegen; in<br />

der vierte.. 4 für nichtschuldig, 8 dagegen; in der<br />

fünften 12 für nichtschuldig; in der sechsten 12<br />

für nichtschuldig; in der siebenten 5 für nichtschuldig,<br />

7 dagegen."<br />

Staatsanwalt Dr. Meyer plaidierte nun für B e -<br />

strafung der Angeklagten in den Punkten der<br />

Schuldfragen, in denen die Majorität der G e -<br />

schworenen sich g e g e n die Angeklagten ausgesprochen<br />

hatte.<br />

Der Gerichtshof zieht sich zurück <strong>und</strong><br />

verkündet nach einigen Minuten das folgende<br />

Urteil:<br />

Der Angeklagte Nowak wird zu 14 Tagen<br />

Arrest, verschärft durch einen Fasttag, der Angeklagte<br />

Fronek zu 4 Wochen Arrest, beide<br />

zur Tragung sämtlicher Kosten des Verfahrens<br />

gegen sie verurteilt.<br />

Ein Strafaufschub wird nicht bewilligt <strong>und</strong><br />

unter Umarmungen <strong>und</strong> Händedrücken der auf sie<br />

zudrängenden, während der Urteilsfällung zugelassenen<br />

Kameraden <strong>und</strong> Familienangehörigen, werden<br />

die Verurteilten von der W a c h e abgeführt.<br />

• •<br />

Offizielles Protokoll<br />

des Internationalen Antimilitaristischen<br />

Kongresses<br />

gehalten zu Amsterdam, am 3 0 . - 31. August<br />

1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />

des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />

m e r h o r n.<br />

Dokumentarischer <strong>und</strong> historischer<br />

Anhang.<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />

I.<br />

Manifest des Internationalen Antimili<br />

taristischen Kongresses an die Arbeitet<br />

Deutschlands <strong>und</strong> Frankreichs.<br />

(Schluß.)<br />

Französische <strong>und</strong> deutsche Proletarier,<br />

Männer <strong>und</strong> Frauen, h a u p t s ä c h l i c h ihr<br />

F r a u e n — Mütter, S c h w e s t e r n , Gef<br />

ä h r t i n n e n — müßt die euch nahe Stehenden<br />

davon zurückhalten, zu Henkersknechten<br />

<strong>und</strong> willenlosen Werkzeugen<br />

eurer gemeinsamen Bedrücker zu werden!<br />

Man wird euch sagen, daß dieses Vorgehen<br />

zwar einem A n g r i f f s k r i e g e gegenüber<br />

gerechtfertigt sein kann, daß sich aber<br />

ein Volk v e r t e i d i g e n müsse, wenn es<br />

angegriffen wird; denn sonst würden die<br />

Staaten, in denen die kapitalistische Herrschaft<br />

<strong>und</strong> die militärische Disziplin noch<br />

stark sind, die aufgeklärteren, revolutionäreren<br />

Völker besiegen <strong>und</strong> knechten.<br />

Das sind aber nur Redensarten, um<br />

die Wahrheit zu verdecken. Kein europäisches<br />

V o l k hat den Willen, ein anderes<br />

europäisches Volk anzugreifen; alle Kriege<br />

sind nur Zwistigkeiten der kapitalistischen<br />

Regierungen, <strong>und</strong> bei denen gibt es keine<br />

Angreifer <strong>und</strong> keine Verteidiger - sondern<br />

nur Geldmenschen, die sich um den Profit<br />

zanken. Von welcher Seite die Kriegserklärung<br />

zuerst erfolgt, ist reiner Zufall.<br />

D e r W u n s c h nach e i n e r freien<br />

G e s e l l s c h a f t , nach der Brüderlichkeit<br />

der M e n s c h e n <strong>und</strong> der V ö l k e r , wird<br />

in allen V ö l k e r n g l e i c h e r w e i s e immer<br />

stärker.<br />

Dieses ist das <strong>Ziel</strong> des Proletariats, für<br />

das es sich organisieren, wofür es den<br />

Kampf gegen den Krieg <strong>und</strong> den Militarismus<br />

führen muß. Von nun an müssen wir<br />

uns mit ganzer Kraft für diesen Kampf<br />

vorbereiten. Wir müssen eine unablässige<br />

Aufklärungs- <strong>und</strong> Propagandaarbeit unter<br />

den Kindern <strong>und</strong> jungen Leuten beider<br />

Geschlechterbetreiben. W i r m ü s s e n offen<br />

u n s e r e a n t i m i l i t a r i s t i s c h e Gesinnung,<br />

u n s e r e A b s i c h t zur V e r e i t l u n g eines<br />

K r i e g e s v e r k ü n d e n .<br />

Vor allem aber müssen wir die Ursache<br />

aller Kriege bekämpfen: die h e u t i g e Ges<br />

e l l s c h a f t s o r d n u n g , die Ausbeutung<br />

<strong>und</strong> die H e r r s c h a f t der Menschen<br />

ü b e r M e n s c h e n . Wir müssen den gesellschaftlichen<br />

Reichtum <strong>und</strong> die Produktionsmittel<br />

zum gemeinsamen Eigentum derer<br />

machen, die arbeiten; wir müssen uns ohne<br />

Herrschaft <strong>und</strong> Gesetze nach freier Vereinbarung<br />

vereinigen, um unsere eigenen<br />

sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Angelegenheiten<br />

zu besorgen. Wir müssen die anarc<br />

h i s t i s c h - k o m m u n i s t i s c h e Gesellschaft<br />

begründen, in welcher es keine<br />

Reichen <strong>und</strong> Armen, keine Herren <strong>und</strong><br />

Sklaven geben wird, sondern wo jedermann<br />

nach seinen Fähigkeiten, unter angenehmen<br />

Verhältnissen arbeitet <strong>und</strong> alle nach ihren<br />

Bedürfnissen, reichlich an der Frucht der<br />

gemeinsamen Arbeit teilnehmen können.<br />

Der Kampf gegen den Krieg ist für<br />

uns ein Kampf um diese neue Gesellschaft.<br />

Der Krieg, der Militarismus <strong>und</strong> Patriotismus<br />

sind die größten Hindernisse zur Verwirklichung<br />

derselben; indem wir gegen diese<br />

kämpfen, wollen wir nicht dabei stehen<br />

bleiben, den Krieg zu verhindern <strong>und</strong> dabei<br />

den Staat <strong>und</strong> den Kapitalismus, die immer<br />

wieder neue Kriege erzeugen werden, unberührt<br />

zu lassen. Wir hoffen, durch den<br />

Kampf zur Verhinderung des Krieges, das<br />

Volk sehnsüchtig zu machen nach ganzer,<br />

voller Befreiung.<br />

D a r u m w e n d e n wir uns an euch,<br />

P r o l e t a r i e r ! V o n e u c h hängt es ab,<br />

ob ihr e u e r e Kräfte zum g e g e n s e i t i -<br />

gen H i n m o r d e n b r a u c h e n wollt, um<br />

d a d u r c h die M a c h t e u e r e r Bedrücker<br />

zu f e s t i g e n ; o d e r ob ihr brüderlich<br />

vereint, den W o h l s t a n d <strong>und</strong> die Freiheit<br />

für e u c h alle e r k ä m p f e n werdet!


Wien, 4. Oktober 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 19.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />

I./17. — Gelder sind zu senden an<br />

Marie Schindelar, Wien, XII., Herthergasse<br />

12, I./17.<br />

An unsere K a m e r a d e n !<br />

Mit Bedauern müssen wir konstatieren, daß<br />

mit dieser Nummer unser altbewährter Kamerad<br />

W. Kubesch krankheitshalber gezwungen ist, seinen<br />

Posten als Kassier unseres Blattes niederzulegen.<br />

Von nun an sind alle Geldsendungen zu<br />

adressieren an die Genossin<br />

Marie Schindelar<br />

Wien, XII., Herthergasse 12, I. St. 17<br />

somit an dieselbe A d r e s s e , wo sich auch die<br />

Redaktion unseres Blattes befindet.<br />

Der Z u g der Arbeiter.<br />

Aus dem E n g l i s c h e n ü b e r s e t z t v on Lilly N a d l e r - N u e l l e n s .<br />

W a s ist dies, d a s alle h ö r e n , wie ein dumpfer<br />

D o n n e r k l a n g ,<br />

Wie wenn a u s den tiefen T ä l e r n tönt d e s n a h ' n -<br />

den S t u r m e s S a n g ,<br />

Wie am Abend M e e r e s b r a n d u n g an d e m finstren<br />

S t r a n d e n t l a n g ?<br />

's ist d a s Volk, d a s k o m m t h e r a n .<br />

Woher kommen, wohin geh'n sie, die, v o n denen<br />

ihr e r z ä h l t ?<br />

Wo das L a n d , in d e m sie weilen, ihre Heimat<br />

auf d e r W e l t ?<br />

Werden sie euch willig dienen, könnt ihr h a b e n<br />

sie um Geld ?<br />

Und d a s B r a u s e n k o m m t h e r a n .<br />

Horch des D o n n e r s dumpfes R o l l e n !<br />

Sieh die S o n n e ! — Unten g r o l l e n<br />

Zorn <strong>und</strong> Hoffnung, finst'res W o l l e n ,<br />

Und die S c h a r , sie k o m m t h e r a n .<br />

Hin sie geh'n zu L u s t <strong>und</strong> F r e u d e , a u s d e s<br />

E l e n d s bitt'rer Q u a l ;<br />

Überall ist ihre Heimat, bis ins f e r n s t e E r d e n t a l .<br />

Euch zu dienen kauft — verkauft s i e ! Ob ihr's<br />

könnt, v e r s u c h t ' s einmal,<br />

Denn die T a g e geh'n v o r a n .<br />

Diese sind's, die für euch b a u t e n , w e b t e n , s ä t e n ,<br />

T a g <strong>und</strong> N a c h t ,<br />

Alles S c h w e r e für euch t a t e n <strong>und</strong> d a s B i t t ' r e<br />

süß g e m a c h t ,<br />

Stets für e u c h , wie heut <strong>und</strong> i m m e r ; w e l c h e r<br />

Lohn wohl ihnen l a c h t ?<br />

Bis die S c h a r d a n n k o m m t h e r a n .<br />

Horch des D o n n e r s dumpfes R o l l e n !<br />

Sieh die S o n n e ! — Unten g r o l l e n<br />

Zorn <strong>und</strong> Hoffnung, finst'res W o l l e n ,<br />

Und die S c h a r , sie k o m m t h e r a n .<br />

Viele H<strong>und</strong>erte von J a h r e n mühten sie sich t a u b<br />

<strong>und</strong> blind,<br />

Nie erreichte sie die B o t s c h a f t , nie ihr Müh'n<br />

die Hoffnung lind,<br />

Endlich jetzt erklingt sie ihnen, <strong>und</strong> ihr Ruf<br />

k o m m t mit dem W i n d ,<br />

Und im Schritt geh'n sie v o r a n .<br />

0 , ihr Reichen, h ö r t <strong>und</strong> zittert, denn d a s W o r t<br />

t ö n t nah <strong>und</strong> w e i t :<br />

„Einst für euch wir dumpf uns mühten, doch<br />

v e r ä n d e r t ist die Z e i t ;<br />

Für die Menschheit <strong>und</strong> für's Leben sind zum<br />

K a m p f wir froh bereit.<br />

Uns're S c h a r , sie k o m m t h e r a n . "<br />

Horch des D o n n e r s d u m p f e s R o l l e n !<br />

Sieh die S o n n e ! — Unten grollen<br />

Zorn <strong>und</strong> Hoffnung, finst'res W o l l e n ,<br />

Und die S c h a r , sie k o m m t h e r a n .<br />

„Wollt ihr kämpfen <strong>und</strong> v e r g e h e n , wie d a s Holz<br />

von Glut v e r z e h r t ?<br />

Wollt ihr F r i e d e n ? laßt d a n n e u e r Hoffen sein,<br />

w a s wir b e g e h r t !<br />

Kommt <strong>und</strong> l e b t ! ein n e u e s L e b e n ist uns allen<br />

nicht v e r w e h r t ,<br />

Und die Hoffnung k o m m t h e r a n .<br />

„ I n E r w ä g u n g , dass die E m a n z i p a t i o n d e r A r b e i t e r k l a s s e selbst e r o b e r t w e r d e n m u s s ; dass<br />

der K a m p f für die E m a n z i p a t i o n d e r A r b e i t e r k l a s s e kein K a m p f für K l a s s e n v o r r e c h t e <strong>und</strong><br />

M o n o p o l e ist, s o n d e r n für g l e i c h e R e c h t e <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die V e r n i c h t u n g a l l e r K l a s s e n -<br />

h e r r s c h a f t ; d a s s die ö k o n o m i s c h e U n t e r w e r f u n g des A r b e i t e r s u n t e r den A n e i g n e r u d e r A r b e i t s -<br />

mittel, d. h. d e r l . e b e n s q u e l l e n . d e r K n e c h t s c h a f t in allen ihren F o r m e n zu G r u n d e liegt —<br />

d e m g e s e l l s c h a f t l i c h e n E l e n d , d e r g e i s t i g e n V e r k ü m m e r u n g <strong>und</strong> d e r politischen A b h ä n g i g k e i t ;<br />

dass die ö k o n o m i s c h e E m a n z i p a t i o n d e r A r b e i t e r k l a s s e d a h e r d e r g r o s s e E n d / w e c k ist, d e m<br />

jede politische B e w e g u n g u n t e r z u o r d n e n ist . . . "<br />

W i r , d a s Volk, die A r b e i t , k o m m e n <strong>und</strong> d a s<br />

B r a u s e n , d a s erklingt,<br />

Ist d e s Kampfs <strong>und</strong> d e r E r l ö s u n g Stimme,<br />

w e l c h e n ä h e r d r i n g t ;<br />

Denn d a s B a n n e r , d a s wir t r a g e n , allen Mens<br />

c h e n Hoffnung bringt,<br />

Und die W e l t , sie g e h t v o r a n . "<br />

H o r c h d e s D o n n e r s dumpfes R o l l e n !<br />

Sieh die S o n n e ! — Unten g r o l l e n<br />

Z o r n <strong>und</strong> Hoffnung, finst'res W o l l e n ,<br />

Und die S c h a r , sie k o m m t h e r a n .<br />

William Morris.<br />

„Es lebe der Volksbetrug!"<br />

Unter diesem Zeichen vollzieht sich<br />

gegenwärtig die Agitation aller Parteien<br />

für die k o m m e n d e n Landtagswahlen. V o r<br />

einigen Monaten willkürlich aufgelöst, hat<br />

die Regierung gütigst geruht, die Neuwahlen<br />

für den 26. O k t o b e r auszuschreiben. Und<br />

jetzt balgen sich die verschiedenen Parteien<br />

miteinander vor den Augen des Gottes<br />

D e m o s , der nun gewichtig mitzusprechen<br />

hat; n i c h t für sein Interesse, aber wohl<br />

darin, welcher Parteiführer ein fettes, politisches<br />

Ämtchen haben soll.<br />

Merkwürdig, was diese Herren den<br />

breiten Volksmassen alles v e r s p r e c h e n !<br />

Eine j e d e Partei schwört, daß n u r i h r e<br />

Kandidaten dem V o l k e das Heil zu bringen<br />

imstande sind. Eine jede nennt die anderen<br />

mit den verächtlichsten Schimpfnamen, verunglimpft<br />

die Aktionen der anderen, wirft<br />

der anderen g e w i s s e n l o s e Mandatsstreberei<br />

vor, -- d a r i n hat keine Unrecht — verspricht<br />

Verbilligung der Lebensmittel, appelliert<br />

an die verwerflichsten Leidenschaften<br />

in der M e n s c h e n b r u s t — all dies für die<br />

S t i m m e n der Wählermassen, die auf einmal<br />

die besten, die edelsten, die gerechtesten<br />

M e n s c h e n werden, w e n n sie nur das<br />

letzte Mal für diese, diesmal für j e n e<br />

Partei stimmen; nämlich immer v o m Standpunkt<br />

des besonderen Kandidaten aus, der<br />

durch diese W a h l s t i m m e n als gewählt erscheint<br />

<strong>und</strong> seinen gleichstrebenden G e g n e r<br />

aufs Haupt schlug.<br />

Ein altes Lied, ein garstig Lied ist<br />

dieses politische Gaukelspiel, bei dem a l l e<br />

die Herren G a u k l e r sind, die aus den Versprechungen,<br />

die sie dem V o l k e g e b e n ,<br />

nichts als die bare M ü n z e der Diäten <strong>und</strong><br />

des Amtseinflusses herausschlagen wollen,<br />

n a c h d e r W a h l aber gar nicht daran<br />

denken können, ihre V e r s p r e c h u n g e n wahr<br />

zu machen. H a b e n wir nicht dieselben<br />

schwindelhafteu Redensarten bei den Reichsratswahlen<br />

g e h ö r t ? W a s ist g e s c h e h e n ?<br />

V e r m e h r u n g der Steuerlast, V e r g r ö ß e r u n g<br />

des Militarismus — <strong>und</strong> Heranlassung der<br />

»proletarischen Volksvertreter« an die Staatskrippe,<br />

dadurch deren B e s t e c h u n g <strong>und</strong> Gleichstellung<br />

mit dem politischen Gauklertum<br />

aller bürgerlichen Parteien, damit auch<br />

deren G l e i c h w e r t u n g .<br />

Eine Partei schiebt der anderen die<br />

Schuld an den Elendszuständen des B e -<br />

stehenden zu. Dies ist der erste Volksbetrug.<br />

D e n n dadurch werden d i e w a h r e n<br />

S c h u l d i g e n v e r d e c k t : die Besitzenden<br />

<strong>und</strong> d i e . Herrschenden! S i e sind nicht<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2 . 4 0 ;<br />

halbjahrig K 1.20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3.5ü, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

diese nach Ämtern gierende Meute von<br />

politischen Mandatsstrebern; sie s i n d die<br />

Herrschenden, <strong>und</strong> ihre Herrschaft ist<br />

ganz u n a b h ä n g i g von dem Ausfall einer<br />

Wahl, davon, w e l c h e P a r t e i : siegt«. Die<br />

Herrschaft des G r u n d - <strong>und</strong> Kapitalbesitzes,<br />

der Staatsfunktionäre stützt sich auf die<br />

bewaffnete G e w a l t des Militarismus; sie<br />

wird durch keine Wahl berührt, die Institutionen<br />

bleiben unverändert. Und der<br />

zweite V o l k s b e t r u g ist der, w e n n die sich<br />

anpreisenden Kandidaten versprechen, falls<br />

gewählt, «etwas zu t u n . W a n n , wo, in<br />

w e l c h e m Lande hat der Landtag, sogar das<br />

Reichsparlament, je die M a c h t besessen,<br />

durch b l o ß e A b s t i m m u n g in die bestehenden<br />

Verhältnisse einzugreifen? Und was<br />

k ö n n e n sie t u n ? Im besten Falle A l m o s e n -<br />

geberei, also die Erniedrigung der Armen<br />

<strong>und</strong> Ausgebeuteten zu Bettlern, V e r e w i g u n g<br />

eines Zustandes der m e n s c h l i c h e n Unwürdigkeit<br />

<strong>und</strong> Abhängigkeit von der G ü t e<br />

staatlicher Funktionäre.<br />

Es gibt Leute, die behaupten, daß die<br />

W a h l e n für die Sozialdemokratie nur Agitationszweck<br />

haben. W o f ü r ? Vielleicht für<br />

den Kandidaten, n i e a b e r f ü r d e n S o -<br />

z i a l i s m u s . W i r fragen: W a n n <strong>und</strong> w o<br />

erwähnen die Sozialdemokraten das W o r t<br />

Sozialismus in den W ä l l l e r v e r s a m m l u n g e n ?<br />

Nirgends, hingegen wetteifern sie mit den<br />

übrigen politischen Seiltänzern im Betrüge,<br />

in lügnerischer Hoffnungserregung <strong>und</strong> unhaltbaren<br />

V e r s p r e c h u n g e n . Kein W o r t vom<br />

Klassenkampf; im Gegenteil, die Sozialdemokraten<br />

lehren uns, wie die Christlichsozialen<br />

es hätten m a c h e n sollen <strong>und</strong> versichern<br />

recht eifrig, daß sie Geschäfte des<br />

bürgerlichen Staates ehrenwert <strong>und</strong> gesetzliebend<br />

<strong>und</strong> mit echt christlicher Uneigennützigkeit<br />

erledigen werden. Ist es keine<br />

Erdrosselung des Sozialismus, wenn die<br />

Sozialdemokratie sich a l l e n W ä h l e r m a s s e n<br />

anzupassen sucht, auch denen, deren ausbeuterische<br />

Interessen j e n e m des Proletariats<br />

schnurrstracks zuwiderlaufen?<br />

A b e r auch die A n g e h ö r i g e n ein <strong>und</strong><br />

derselben Klasse werden verhetzt durch<br />

die B e u t e g i e r der Führer. Eine W a h l ist<br />

für die ärmeren Schichten nichts anderes,<br />

als daß Arbeiter g e g e n Arbeiter gehetzt<br />

<strong>und</strong> lügnerisch aufgestachelt wird durch das<br />

Eiapopeia von Trughoffnungen, auf daß die<br />

Gewählten sich hinterrücks vergnügt die<br />

Hände reiben k ö n n e n über das gute<br />

Geschäftchen.<br />

Proletarier! Die Politiker haben nur<br />

ihre leeren Hände <strong>und</strong> tönende Phrasen.<br />

W i e sollten sie, die von den H e r r s c h e n d e n<br />

durchschaut <strong>und</strong> verachtet, für euch etwas<br />

tun k ö n n e n ? W e n n ihr eure L a g e verbessern<br />

wollt, dürft ihr nicht Einzelnen ein<br />

Schmarotzerdasein ermöglichen durch Diätengewinst.<br />

Ihr müßt selbst handeln, durch<br />

euren selbstbewußten Willen, durch eure<br />

Arbeitskraft d u r c h d i e s o z i a l e ,<br />

d i r e k t e A k t i o n !<br />

Ihr sollt nicht wie Stimmvieh in die<br />

W ä h l e r v e r s a m m l u n g e n laufen, wohin Krethi<br />

<strong>und</strong> PIethi gehen. W e n d e t den politischen


Pfaffen, diesen erbärmlichen Ausbeutern<br />

eures Elends den Rücken, indem ihr ihnen<br />

eure Verachtung bek<strong>und</strong>et.<br />

Wir haben in Österreich k e i n Wahlrecht;<br />

wir haben bekanntlich den Wahlz<br />

w a n g . Schon dies beweist euch, »wie<br />

sehr« die Regierung eure Stimmen fürchtet!<br />

Da wir kein Interesse an der Bereicherung<br />

des Fiskus haben, können wir euch nicht<br />

sagen: S t i m m t n i c h t ; beteiligt euch nicht<br />

an diesem unwürdigen Oebahren!<br />

Dafür aber sagen wir:<br />

P r o l e t a r i e r ! S t i m m t für k e i n e n<br />

d e r Ä m t e r j ä g e r u n d - S t r e b e r , d i e<br />

s ä m t l i c h e P a r t e i e n a u f g e s t e l l t hab<br />

e n ! E s g i b t k e i n e p a r l a m e n t a r i s c h e<br />

F r a k t i o n , d i e e u r e w a h r e n I n t e r e s -<br />

s e n v e r t r i t t . E i n e e i n z i g e S t i m m e<br />

gegen alle W a h l d e m a g o g e n w i e g t<br />

T a u s e n d e d e r e r auf, d i e s i c h a u s<br />

d e m S t i m m v i e h d e s P a r t e i k l e p p e r -<br />

t u m s z u s a m m e n s e t z e n . D i e S t i m m e<br />

e i n e s s o l c h e n A n t i p a r l a m e n t a r i s -<br />

m u s w i r d g e h ö r t w e r d e n — e s<br />

ist d i e S t i m m e d e s K l a s s e n b e -<br />

w u ß t s e i n s , d e r e r w a c h t e n S e l b s t -<br />

a c h t u n g !<br />

W e m dient der industrielle<br />

Fortschritt?<br />

Wir haben gesagt*, daß sich immer<br />

mehr die Notwendigkeit fühlbar macht, die<br />

Theorien, die heute unter dem Namen des<br />

Sozialismus im Umlauf sind, einer Revision<br />

zu unterziehen. Es ist notwendig — für<br />

jene wenigstens, die nach der vollständigen<br />

Befreiung der ganzen Masse der Arbeiter<br />

streben — nachzusehen, wieviel vom eigentlichen<br />

Sozialismus noch in den heutzutage<br />

verkündeten Kompromißprogrammen<br />

übrig geblieben ist; <strong>und</strong> sie müssen von<br />

diesen Programmen alles zurückweisen,<br />

was sich in dieselben eingeschlichen hat;<br />

alles, was dazu beiträgt, die Ausbeutung<br />

des Menschen durch den Menschen aufrecht<br />

zu erhalten, alles, was die empörendsten<br />

Züge der Ausbeutung ein wenig<br />

mildert, aber z u r g l e i c h e n Z e i t d e n<br />

B o u r g e o i s s t a a t mit einer Macht ausstattet,<br />

von der er vor fünfzig Jahren nicht<br />

einmal zu träumen wagte.<br />

Diese Notwendigkeit wird umso dringender,<br />

als die Umstände des Kampfes,<br />

welchen das Proletariat <strong>und</strong> die besitzenden<br />

Klassen führen, sich verändern, aber<br />

nicht immer zu Gunsten des Proletariats.<br />

Im Gegenteil. Und daraus folgt, daß die<br />

Kräfte, die gegen die Befreiung des Proletariats<br />

arbeiten, sich anhäufen werden,<br />

wenn man sie nicht rechtzeitig bekämpft.<br />

Die Wahrheit ist die: Während die intellektuellen<br />

<strong>und</strong> moralischen Umstände<br />

des Kampfes für die Proletarier günstiger<br />

werden, verändern sich die materiellen Umstände,<br />

die wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen<br />

Verhältnisse in gewissen Beziehungen derart,<br />

daß sie den Kampf des Proletariats erschweren<br />

trotz all dem, was man in<br />

sogenannt sozialistischen Kreisen lehrt. Und<br />

darum wird der Erfolg des Kampfes immer<br />

mehr von der I n t e l l i g e n z , der m o r a l i -<br />

s c h e n K r a f t <strong>und</strong> der K r a f t d e s Ang<br />

r i f f e s v o n s e i t e n d e r A r b e i t e r abhängen.<br />

Wenn man den Arbeitern einredet,<br />

daß die ganze fortschreitende Entwicklung<br />

der auf Ausbeutung gegründeten Gesellschaftsordnung<br />

diese Ausbeutung abschaffen<br />

<strong>und</strong> unmöglich machen wird, so täuscht<br />

man die Arbeiter, sowie sich selbst. Die<br />

griechischen Dialektiker konnten solche<br />

Behauptungen aufstellen <strong>und</strong> damit rednerische<br />

Effekte erzielen: Aber in den wirtschaftlichen<br />

Kämpfen unserer Tage hat das<br />

keinen Sinn. Die wirtschaftliche Entwicklung<br />

der Gesellschaftsordnung, die auf der<br />

* Siehe den Artikel „Eine notwendige Revision"<br />

in Nr. 16 des „W. f. A."<br />

Ausbeutung der Armen durch die Reichen<br />

aufgebaut ist, arbeitet gerade so g e g e n<br />

die Ausgebeuteten wie für sie — gerade<br />

so f ü r den Kapitalisten wie g e g e n ihn.<br />

Es ist die intellektuelle <strong>und</strong> moralische<br />

Kraft der Ausgebeuteten, ihre Kraft im<br />

Zusammenhalten <strong>und</strong> im Angriff, die den<br />

Sieg in dem Kampf, der sich heute zwischen<br />

Kapitalisten <strong>und</strong> Ausgebeuteten abspielt,<br />

entscheiden werden.<br />

Man kann unmöglich bezweifeln, daß<br />

die intellektuelle <strong>und</strong> moralische Kraft der<br />

Ausgebeuteten von Jahr zu Jahr zunimmt.<br />

Der Arbeiter liest heute unvergleichlich<br />

mehr, als er beim Herannahen der Revolution<br />

von 1848 gelesen hat. Er weiß viel<br />

mehr, er bespricht viel mehr die Fragen,<br />

die seine Befreiung betreffen. Die Entwicklung<br />

der Kampfesorganisationen der<br />

Arbeiterschaft - der »Gruppen des Widerstandes«,<br />

wie man sie in der alten »Internationale«<br />

nannte, der Gewerkschaften, wie<br />

man sie heute bezeichnet —, welche man<br />

in allen Ländern bemerkt, <strong>und</strong> die zielbewußte<br />

Tätigkeit dieser Gruppen im<br />

Kampfe, den sie führen, beweisen es. Sogar<br />

in Rußland haben sich, trotz den Verfolgungen<br />

der jetzigen Zeit, in weniger als<br />

einem Jahre mehr als 400.000 Arbeiter in<br />

Gewerkschaften organisiert. Und diese Bewegung<br />

nimmt überall — wie man dies<br />

in der Internationale vor dem Krieg von<br />

1871 sah — denselben Charakter des d ir<br />

e k t e n K a m p f e s d e r A r b e i t e r<br />

g e g e n d i e K a p i t a l i s t e n an.<br />

Anderenteils hat der Arbeiter auch unbedingt<br />

das Vertrauen zu den guten Absichten<br />

der Bourgeoisie verloren, sowie<br />

auch den naiven Glauben, den er vor 1848<br />

in der Kraft des Christentums hatte, von<br />

dem er die Bekehrung der Bourgeoisie zu<br />

besseren Absichten erwartete. Dieser naive<br />

Glaube, den man vor 1848 bei allen französischen<br />

Sozialisten <strong>und</strong> den mystischen<br />

Kommunisten von Deutschland vorfindet,<br />

ist heute verschw<strong>und</strong>en. Und wenn während<br />

der düsteren Zeit, die auf die Niederlage<br />

Frankreichs <strong>und</strong> der Pariser Kommune<br />

folgte, sich eine neue Illusion verbreitete<br />

— j e n e d e s a l l g e m e i n e n W a h l -<br />

r e c h t e s a l s e i n M i t t e l z u r B e -<br />

f r e i u n g d e r A r b e i t e r — , s o ist<br />

dieser Wahnglaube auch im Verschwinden<br />

begriffen. Der Glaube an das allgemeine<br />

Wahlrecht fängt sogar in Deutschland,<br />

Österreich <strong>und</strong> der deutschen Schweiz an,<br />

aufzuhören,<br />

In der tatsächlichen Entwicklung der<br />

heutigen Zivilisation trägt also alles dazu<br />

bei, die Intelligenz der Ausgebeuteten <strong>und</strong><br />

das Gefühl ihrer eigenen Menschenwürde<br />

zu erwecken; alles hilft, um unter ihnen<br />

das Wissen <strong>und</strong> das Bewußtsein der sozialen<br />

Ungerechtigkeiten zu verbreiten;<br />

alles wirkt zusammen, um die Illusionen<br />

über eine Hilfe von außen zu zerstören,<br />

von welcher Hilfe die Ausgebeuteten so<br />

gern träumen, um sich im Kampfe zu<br />

stärken. Die Arbeitermorde des gegenwärtigen<br />

radikal-sozialistischen Ministeriums<br />

Clemenceau-Briand-Viviani in Frankreich<br />

werden viel dazu beitragen, diese Illusionen<br />

zu zerstören.<br />

So entwickelt sich in geistiger Beziehung<br />

alles zum Vorteil der Ausgebeuteten.<br />

Aber, im Gegensatz zu dem, was man<br />

heute noch in sozialdemokratischen Kreisen<br />

lehrt, steht die Sache in wirtschaftlicher<br />

Beziehung ganz anders. Hier gibt es verschiedene<br />

Kräfte, von denen einige allerdings<br />

darauf hinarbeiten, die Befreiung der<br />

Ausgebeuteten zu erleichtern, andere hingegen<br />

energisch d a g e g e n wirken. Das<br />

Endergebnis dieser Kräfte hängt vollkommen<br />

von den Ausgebeuteten selbst ab.<br />

Was uns am meisten auffällt, wenn<br />

wir die moderne Entwicklung der zivilisierten<br />

Gesellschaften betrachten, ist das<br />

fabelhafte Anwachsen der Produktionsfähigkeit<br />

des Menschen. Wir können was<br />

immer für einen Zweig der Industrie oder<br />

auch der Landwirtschaft <strong>und</strong> des Gartenbaues<br />

nehmen, <strong>und</strong> wir sehen, daß der<br />

Mensch heute an Stoffen, Schuhen, Gebäuden,<br />

Lebensmitteln usw. mit neun bis<br />

zehn St<strong>und</strong>en täglicher Arbeit das Zehnoder<br />

Zwanzigfache von dem produziert,<br />

was er vor dreißig Jahren mit zwölf- bis<br />

vierzehnstündiger Arbeit produzieren konnte,<br />

Und wir sehen auch, daß, wenn dieses<br />

Wachstum nicht allgemein ist, wenn sich<br />

diese riesige Produktivität der Arbeit noch<br />

nicht auf die zurückgebliebenen Zweige<br />

der Industrie, oder auf die landwirtschaftlichen<br />

Großbetriebe ausdehnt — dies nur<br />

darum ist, weil die Ausbeuter, aus irgend<br />

einem Gr<strong>und</strong>e, nicht w o l l e n oder kein<br />

Interesse daran haben, die weniger produktive<br />

Arbeit durch solche Arbeit zu ersetzen,<br />

die viel mehr produziert. Die Billigkeit<br />

der Kinderarbeit, das riesige Angebot<br />

an Arbeitskraft der Unbeschäftigten in den<br />

Berufszweigen, wo keine oder beinahe keine<br />

Lehrlingszeit notwendig ist; <strong>und</strong> endlich<br />

der Wunsch, große Strecken Landes zu<br />

besitzen <strong>und</strong> die Ehren <strong>und</strong> Vorrechte, die<br />

mit diesem Besitztum verknüpft sind, zu<br />

bewahren — all das trägt dazu bei, daß<br />

die Arbeit, die nicht genügend produziert,<br />

beibehalten wird. Aber wir können feststellen,<br />

daß, wenn die Gemeinschaft es<br />

wollte, sie die Produktivität der Arbeit in<br />

a l l e n Zweigen der Industrie <strong>und</strong> Landwirtschaft<br />

mehr als verzehnfachen könnte.<br />

Dieses riesige Anwachsen der produktiven<br />

Kräfte des Menschen ist ein riesiger<br />

Fortschritt, der heute die Ausbeutung des<br />

Menschen durch den Menschen unnötig<br />

macht. Wenn es möglich ist, daß die Menschen<br />

sich alles, was zu ihrem Leben notwendig<br />

ist, mit höchstens vier oder fünf<br />

St<strong>und</strong>en täglicher Arbeit beschaffen können,<br />

so genügt es für eine Gesellschaft von gebildeten<br />

<strong>und</strong> in den verschiedenen Arbeiten<br />

erfahrenen Leuten, sich untereinander zu<br />

verständigen, um sich frei von jeder Ausbeutung<br />

organisieren zu können.<br />

Dies ist unzweifelhaft ein großer ökonomischer<br />

Fortschritt, den wir der wissenschaftlichen<br />

Richtung verdanken, die die<br />

intellektuelle Entwicklung der Gesellschaft<br />

neuerdings genommen hat; ein Fortschritt,<br />

d e r d e n K o m m u n i s m u s a u s d e m<br />

B e r e i c h e d e r T r ä u m e e n t r ü c k t<br />

u n d i h n z u r M ö g l i c h k e i t — j a zur<br />

N o t w e n d i g k e i t m a c h t .<br />

Aber wie jede andere Tatsache der<br />

menschlichen Entwicklung hat auch diese<br />

ihre entgegengesetzte Seite. Dieses selbe<br />

märchenhafte Anwachsen der Produktivität<br />

der Arbeit, das den Kommunismus unter<br />

der Bedingung möglich macht, d a ß die<br />

M e n s c h e n d i e s e s A n w a c h s e n zum<br />

N u t z e n v o n A l l e n v e r w e n d e n woll<br />

e n — dieses selbe Anwachsen wird zum<br />

Werkzeug der Ausbeutung, eine Waffe in<br />

Händen der Ausbeuter, wenn die Gesellschaft,<br />

dank dieser Einrichtungen, erlaubt,<br />

daß der Ausbeuter a l l e i n davon Nutzen<br />

zieht.<br />

So wird in der heutigen Gesellschaftsordnung,<br />

die auf dem Individualismus der<br />

Kapitalisten <strong>und</strong> der Bourgeoisie <strong>und</strong> der<br />

Ausbeutung der Arbeiter aufgebaut ist, das<br />

Anwachsen der Ertragsfähigkeit der Arbeit<br />

ein neues Mittel, um die Ausbeutung aufrecht<br />

zu erhalten.<br />

Die Produktivkraft des Arbeiters hat<br />

sich seit fünfzig Jahren verzehnfacht; in<br />

manchen wichtigen Arbeitszweigen hat sie<br />

sich verh<strong>und</strong>ertfacht. Ein Mann erzeugt,<br />

mit guten Maschinen versehen, auf ungefähr<br />

50 Hektar nur mittelmäßigen Bodens<br />

in der Umgebung von Chicago während<br />

sechs Monaten soviel Weizen — in Form<br />

von Mehl — wie für die jährliche Nahrung<br />

von 100 Menschen genügt. Ein Arbeiter in<br />

einer Schuhfabrik stellt in einem Jahre<br />

Schuhe für tausend Personen her; <strong>und</strong> so<br />

weiter.


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Auf Agitation.<br />

(Fortsetzung.)<br />

Sehr gerne hätte ich in S a l z b u r g <strong>und</strong> I n n s -<br />

b r u c k eine Versammlung abgehalten, aber leider<br />

fanden sich die Kameraden noch nicht dazu bereit.<br />

Mit dem festen Vorsatz, es das nächste Mal unter<br />

allen Umständen zu versuchen, mußte dieser Plan<br />

für dieses Mal fallen gelassen werden. Ebenso erging<br />

es auch mit P i l s e n , wo erst jetzt die Vorbereitungen<br />

für eine demnächst einzuberufende<br />

Versammlung getroffen werden können.<br />

So wandte ich mich Nordböhmen zu, vorher<br />

jedoch in Prag absteigend. Nach längerem Suchen<br />

fand ich die Redaktion der anarchistischen Revue<br />

„Prace". Hier fand ich Kameraden, mit denen ich<br />

ernsthaft über Bewegungsangelegenheiten sprechen<br />

konnte.<br />

Der Eindruck, den ich nach dem mehrstündigen<br />

Aufenthalt in diesem kleinen Qruppenkreis mit fortnahm,<br />

war der, es mit außergewöhnlich opfertniitigen<br />

Kameraden zu tun gehabt zu haben; mit solchen,<br />

die während des T a g e s arbeiten <strong>und</strong> von ihrem<br />

Verdienst die anarchistische Literatur technischpublizistisch<br />

bereichern. Dabei bereiteten sie mir<br />

einen solch herzlichen, solidarischen Empfang, daß<br />

ich mich bald wie im eigenen Heim fühlte. Ich fand<br />

in Kacha, in der Genossin Müller, in Blaha Kameraden,<br />

wie man sie edelmütiger kaum finden kann,<br />

<strong>und</strong> ich freue mich, dies konstatieren zu können.<br />

Ich fühle es, wäre ich der tschechischen Sprache<br />

mächtig <strong>und</strong> in der tschechischen Bewegung tätig,<br />

es ist d i e s e Gruppe, der ich mich anschließen<br />

wurde. Der Genosse B. führte mich auch zum Genossen<br />

Vrbensky, der als junger Mediziner seine<br />

ganze Persönlichkeit in den Dienst unserer Idee stellt.<br />

Einige T a g e vorher hatte in Prag der Kongreß<br />

der diversen Kohlengräberföderationen Nordböhmens<br />

stattgef<strong>und</strong>en; die Genossen der Gruppe „Prace"<br />

hatten hier alles Notwendige arrangiert für eine<br />

kleine Agitationstour durch die Kohlenreviere des<br />

böhmischen Bergbaues. So fuhr ich denn geradewegs<br />

nach B r u c h , gewissermaßen das Hauptzentrum<br />

unserer Bewegung unter den Kohlengräbern. W a s<br />

sich unter dem deutsch-österreichischen Proletariat<br />

Betrübendes vorfindet, das findet sich hier reichlich<br />

aufgewogen durch das erhebend Erfreuliche unserer<br />

nordböhmischen Kohlengräberföderation- <strong>und</strong> B e -<br />

wegung, an der sich auch viele Deutschböhmen<br />

beteiligen. Ganz abgesehen davon, daß die Auflösung<br />

der tschechischen Föderation diese tausende <strong>und</strong><br />

abertausende Arbeiter nicht im mindesten berührte,<br />

weil sie s i c h d a r u m e i n f a c h n i c h t b e k ü m -<br />

m e r t e n , habe ich hier Männer der Arbeit, schlichte<br />

Pioniere unseres Ideals kennen gelernt, vor deren<br />

Arbeitstüchtigkeit, Solidaritätsgeist <strong>und</strong> Aufopferungsfähigkeit<br />

ich die größte Hochachtung bekenne. Man<br />

kann sich schon einen Begriff von der selbständigen<br />

Gesinnung dieser Bergarbeiter machen, wenn man<br />

erfährt, daß sie sich um diverse innere Streitereien<br />

überhaupt nicht bekümmerten, ruhig ihre Arbeit der<br />

Organisation <strong>und</strong> des langsamen, aber gründlichen<br />

Eindringens in den Massenkörper des Unverstandes<br />

fortsetzten <strong>und</strong>, als ihnen die Sache zu dumm wurde,<br />

durch ihre Passivität einem unheilvollen Zwist die<br />

Existenzmittel entzogen; dies geschah, ohne viel<br />

Aufheben zu machen.<br />

In Nordböhmen gibt es etwa 3500 anarchistisch<br />

organisierte Kohlengräber <strong>und</strong> 3000 sozialdemokratische<br />

<strong>und</strong> etwa 20.000 unorganisierte Indifferente.<br />

Leider handelt sich der Kampf der Sozialdemokratie<br />

gegen unsere Kameraden nicht darum, diese Indifferenten<br />

zu gewinnen. Ihr Hauptaugenmerk zielt<br />

darauf ab, a l l e Aktionen der anarchistischen Bewegung<br />

zunichte zu machen, solches zu versuchen.<br />

Dabei ist es eine Tatsache, daß es auch die S o -<br />

zialdemokraten sind, die durch die auf Gr<strong>und</strong>lage<br />

der direkten Aktion unserer Kameraden erfochtenen<br />

Siege <strong>und</strong> ökonomischen Erfolge die M i t g e -<br />

n i e ß e n d e n sind. Dies hindert sie nicht daran,<br />

unseren Bergarbeitern überall, wo es nur angeht,<br />

in den Rücken zu fallen. Aus der Position unserer<br />

Arbeiter <strong>und</strong> der Sozialdemokraten im Bergwerk<br />

selbst, läßt sich ermessen, w e r von den Kapitalisten<br />

<strong>und</strong> ihren Werkzeugen als der wahre Rebell betrachtet<br />

wird: die Sozialdemokraten sind die sogenannten<br />

„Pferde", die Arbeiter, die geduldig <strong>und</strong><br />

zufrieden mit ihrem Los sind, deren Führer stets<br />

„bremsen", in allem den gehaßten Anarchisten, die<br />

eben die Kunst der Genügsamkeit noch nicht gelernt<br />

haben, vorgezogen. Immerhin ist es den anarchistisch<br />

Organisierten gelungen, den A c h t s t u n -<br />

d e n t a g durchzusetzen, einen Minimallohn von<br />

täglich 4 Kronen zu erringen, der das Gute an sich<br />

hat, daß er im besten Sinne nicht eingehalten wird,<br />

indem die Leute per T a g r<strong>und</strong> 6 bis 7 Kronen<br />

verdienen. Worum es sich jetzt vornehmlich handeln<br />

müßte, das wäre die A b s c h a f f u n g d e r N a c h t -<br />

s c h i c h t , dieser die Menschen physisch rasch<br />

niederwürgenden Arbeitsmethode, die keinen T a g<br />

<strong>und</strong> keine Nacht kennt, sondern abwechslungsweise<br />

blos ewiges Profiterzeugen in der Hölle des Bergwerks,<br />

seines Schachtes.<br />

Überhaupt — diese Arbeit! Selbst der höchste<br />

Lohn ist hier eine kapitalistische Niederträchtigkeit,<br />

das wird sich jeder Mensch mit Verstand <strong>und</strong> Herz<br />

sagen müssen. Ich kenne die Kohlengräber Amerikas<br />

<strong>und</strong> Englands, resp. Schottlands — aber erst diesmal<br />

hatte ich Gelegenheit, die Kohlengräber meines<br />

engeren „Vaterlandes" kennen zu lernen. In meinen<br />

frühen Jünglingsjahren bin ich aus meiner Geburtsstadt<br />

Wien nie herausgekommen <strong>und</strong> nun, als Mann,<br />

konnte ich mir das Elend mit den geschärften E r -<br />

fahrungsblicken eines wissenden „Globetrotters"<br />

betrachten. Und es sei vorweg konstatiert: Solches<br />

Elend, eine solche, in der Arbeit selbst begründete<br />

Elendslage des Proletariats, wie hier bei uns, d a s<br />

h a b e ich n i r g e n d s gef<strong>und</strong>en. Da mögen mir die<br />

Sozialdemokraten h<strong>und</strong>ert Mal entgegenhalten, es<br />

sei „besser geworden". Ich wünsche ihren Führern<br />

nichts anderes, als daß sie dieses besser Gewordene<br />

am eigenen Leibe ausprobieren mögen! Wenn<br />

wir aber nun wissen, daß Zolas „Germinal" durch<br />

den zähen Klassenkampf der französischen Bergarbeiter<br />

tatsächlich überw<strong>und</strong>en ist in manchen,<br />

den schwärzesten Partien seiner Schilderung des<br />

Kohlengräberelends; wenn wir wissen, daß der<br />

englische Kohlengräber sich durch den reinen ökonomischen<br />

Kampf eine eigentlich nur fünftägige<br />

Arbeitswoche mit anständiger Behausung <strong>und</strong> angrenzendem<br />

kleinen Obst- <strong>und</strong> Gemüsegärtchen sich<br />

erobert hat — dann erst schrecken wir ganz entsetzt<br />

zurück angesichts dieser grauenhaften Notlage<br />

eines Arbeiterstandes, dessen Leben während der<br />

Arbeit jeden Tag, ja stündlich auf dem Spiele steht.<br />

Wie wäre es da erst, wenn es keine fortwährend<br />

anspornende <strong>und</strong> aufrüttelnde anarchistische Gewerkschaftsbewegung<br />

g ä b e ? Denn es ist eine<br />

merkwürdige Tatsache, daß i n d e n j e n i g e n<br />

Kohlenrevieren, wo die Bewegung n i c h t anarchistisch,<br />

sondern parlamentarisch inspiriert ist, die<br />

Lage noch eine weit schlechtere ist. Haben z. B.<br />

die Brucher Kohlengräber einen hoch über das Minimum<br />

hinausschießenden Lohn, so kommen die<br />

Bergleute des Falkenauer Bezirkes in Westböhmen<br />

nur sehr schwer dazu, ihren Lohn um r<strong>und</strong> 1 Krone<br />

über das Minimum hinaus i zu steigern. So sehr<br />

wirkt dieser parlamentarische Kretinismus auf die<br />

Arbeiter ein, der als Gr<strong>und</strong>lage ihrer Bewegung<br />

in ihren Kreisen gehegt <strong>und</strong> gepflegt wird.<br />

Fortsetzung folgt. Pierre Ramus.<br />

Österreich.<br />

* Am 22. September wurde unser Redakteur,<br />

Genosse Poddany, vom Oberlandesgerichtsrat<br />

H e i d t wegen angeblicher Außerachtlassung der<br />

pflichtgemäßen Obsorge in der Aufnahme von Artikeln<br />

in unserer Nummer 10 zur geradezu als<br />

Klassenjustiz prunkenden Arreststrafe von 20 Tagen<br />

oder 200 Kronen verurteilt; eine halbe St<strong>und</strong>e vorher<br />

verurteilte derselbe Richter einen kleinen Ges<br />

c h ä f t s m a n n wegen ganz des gleichen Deliktes<br />

zu der Strafe von 10 Kronen. Und das nennt<br />

sich Gerechtigkeitswalten! Dabei muß konstatiert<br />

werden, daß sämtliche der Artikel, um die es sich<br />

handelte, mit Ausnahme eines von einem Mitarbeiter<br />

unterzeichneten Aufsatzes, k e i n e r subjektiven<br />

Verfolgung unterlagen. Es handelte sich<br />

also um einen großen Kreuzzug wider die Finanzmittel<br />

unseres, von armen Arbeiter herausgegebenen,<br />

Blattes. Freilich sind wir noch nicht so weit, wie<br />

die Herren es für ihr Leben gerne möchten; es<br />

wurde gegen die Ungeheuerlichkeit dieses ganzen<br />

Urteils Berufung eingelegt.<br />

* Ein außerordentlich gut besuchter Festabend<br />

war jener, der am 20. September in Seniors großem<br />

Saal stattfand <strong>und</strong> der Bedeutung des greisen<br />

Denkers Leo Tolstoi gewidmet war; der Genosse<br />

Ramus sprach in 1½ stündigen Ausführungen über<br />

das Leben dieser gigantischen Persönlichkeit, ihre<br />

Stellung im modernen Sozialringen Rußlands <strong>und</strong><br />

über den internationalen Geisteseinfluß, den Tolstoi<br />

auf die .soziale Bewegung ausübt. Eine freiwillig<br />

unternommene Sammlung stärkte in erquickendem<br />

Maße unseren Preßfond.<br />

* Dienstag hielt Kamerad Haidt einen gründlichen<br />

<strong>und</strong> beifällig aufgenommenen Vortrag über<br />

den „Nürnberger Parteitag" der deutschen Sozialdemokratie,<br />

indem er deren Taktik nach Gebühr<br />

zerpflückte.<br />

* Am Sonntag fand im XII. Bezirk eine Vereinsversammlung<br />

statt, in der Ramus über „Die<br />

Aufgaben unserer Gewerkschafts-Föderation" sprach.<br />

Einige sozialdemokratische Führer hatten wahrend<br />

des Vortrages Miene gemacht, ihm in der Diskussion<br />

entgegenzutreten; leider verging ihnen angesichts<br />

der schwarz auf weiß gebotenen Beweise<br />

die Lust dazu.<br />

* An Stelle des Genossen Ramus sprach in<br />

der Dienstagversammlung des XIV. Bezirkes unser<br />

Kamerad Altmann über „Syndikalismus <strong>und</strong> deutsche<br />

Arbeiterbewegung". Seine Ausführungen bek<strong>und</strong>eten<br />

eine durch Selbstbeobachtung geschöpfte Kenntnis<br />

der verrotteten, reichsdeutschen Arbeiter- <strong>und</strong> sozialdemokratischen<br />

Parteibewegung; er enthüllte uns<br />

ein wertvolles Gemälde von der inneren Haltlosigkeit<br />

<strong>und</strong> Schwäche dieser — a u f d e m P a p i e r<br />

so starken Bewegung. Beifall lohnte seine trefflichen<br />

Ausführungen.<br />

* Samstag, um 8 Uhr abends, hält Genosse<br />

Ramus ein Referat über „Moderne Evolutionsphasen<br />

in der sozialen Bewegung". Lokal: Café<br />

„Stephanie" im II. Bezirk.<br />

Deutschland.<br />

Wir können* uns möglichst kurz über den<br />

Nürnberger Parteitag der deutschen Sozialdemokratie<br />

fassen. Aufrichtig gesagt, für uns sind seine<br />

charakteristischen Merkmale in der völligen A bl<br />

e h n u n g der Dortm<strong>und</strong>er Resolution wegen<br />

Führung einer speziellen Form der antimilitaristischen<br />

Propaganda <strong>und</strong> A n n a h m e des Antrages<br />

auf Erhöhung der Gehälter des Parteivorstandes<br />

gelegen. Sonst war dieser Parteitag völlig im Einklang<br />

mit der steten Entwicklung der Reaktion<br />

innerhalb der Partei <strong>und</strong> dieser selbst. Nur daß<br />

diesmal wieder ein altes Schmierenstück von Komödie<br />

aufgeführt wurde, das einzig für die Dummen<br />

berechnet: die Frage der Budgetverweigerung.<br />

Kein W<strong>und</strong>er, daß Bebel sehr milde mit den „Südländern"<br />

verfuhr; stellte es sich doch heraus, daß<br />

nicht nur Baden, Bayern <strong>und</strong> Württemberg, sondern<br />

auch Gotha, Sachsen (also auch Bebel!) f ü r das<br />

Budget gestimmt <strong>und</strong> daß, zwei einzige Fälle ausgenommen,<br />

die Stadtverordneten von Berlin, n i e -<br />

m a l s die namentliche Abstimmung über das Budget<br />

verlangt harten, um nicht öffentlich dagegen<br />

stimmen zu müssen! Das ist eine höchst originelle<br />

Kraftprobe des Protestes — <strong>und</strong> Timm hatte recht,<br />

wenn er sagte, daß die Süddeutschen das nächste<br />

Mal a u c h so vorsichtig verfahren würden. Schließlich<br />

drehte sich der Streit ja nur um die allzu gewagte<br />

Selbstentlarvung, die von den Süddeutschen,<br />

den Ministergästen, vorgenommen wurde, die ihnen<br />

die Norddeutschen, die allzu gerne Ministergäste<br />

werden möchten, vorwarfen. Sonst bleibt Alles<br />

beim Alten, die Lübecker Resolution ist ein Kautschukresolutiönchen<br />

unvergleichlichster Art - laut<br />

ihr brauchte eine Regierung nur mit einem<br />

„schlechteren Etat" zu d r o h e n , <strong>und</strong> sofort hätte<br />

sie die Bewilligung des Budgets durch die Sozialdemokraten!<br />

—, wozu noch die Selbständigkeitserklärung<br />

der Süddeutschen kommt, die ohnedies<br />

das Geschick der Lübeckerin besiegelt.<br />

Die Maifeierfrage ist wieder einmal glücklich<br />

abgewürgt worden, die Jugendorganisationen sind<br />

Geselligkeitsvereine geworden, die Reichsfinanzreform,<br />

die den Bankerott des deutschen Staates<br />

aufhalten soll, ist ebenfalls eine Angelegenheit der<br />

Sozialdemokratie — <strong>und</strong> damit wären wir fertig.<br />

Aber nein! So gütig <strong>und</strong> milde, wie die Norddeutschen<br />

mit den Südlern verfuhren, so ingrimmig<br />

warfen sie sich in ihre Rüstungen gegen diejenigen,<br />

die l i n k s von ihnen stehen, also revolutionärer<br />

denn sie sind. Für die revolutionärgewerkschaftliche<br />

Bewegung Deutschlands, da gab es „kein<br />

Erbarmen", gegen die wurde wirklich radikal verfahren<br />

— sie wurde außerhalb des Parteirahmens<br />

gestellt.<br />

Glücklicherweise nehmen sich echte Sozialisten<br />

so etwas schon längst nicht mehr zu Herzen;<br />

es ist eine Ehre für sie. Dies zeigte auch die, in<br />

einer von Tausenden besuchten Versammlung der<br />

revolutionären Berliner Gewerkschaftsbewegung,<br />

der „Freien Vereinigung" angenommene Resolution,<br />

die v o r dem Nürnberger Parteitag stattfand <strong>und</strong><br />

selbständig das Tischtuch zwischen sich <strong>und</strong> Partei<br />

auseinanderschnitt. Die Resolution lautet im Auszug:<br />

„. . . Die Vorgänge, die sich in den letzten<br />

Jahren innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung<br />

abgespielt haben, zeigen immer deutlicher, daß die<br />

sozialdemokratische Partei- <strong>und</strong> Gewerkschaftsbewegung<br />

Deutschlands zusehends flacher, schwächlicher<br />

<strong>und</strong> kleinbürgerlicher wird.<br />

Das gewaltige Anwachsen der Mitgliederzahlen<br />

<strong>und</strong> der Kassenbestände hat die Stoßkraft<br />

der Partei <strong>und</strong> deren Gewerkschaften nicht etwa<br />

erhöht, sondern letztere immer mehr von ihren<br />

ursprünglichen Gr<strong>und</strong>sätzen <strong>und</strong> Prinzipien — um<br />

Augenblickserfolge willen — abgehen lassen.<br />

Auf gewerkschaftlichem Gebiete: das Abkommen<br />

zwischen Parteivorstand <strong>und</strong> Generalkommission<br />

der Zentralverbände zur Abwürgung<br />

der Maifeier, das passive Verhalten von Partei <strong>und</strong><br />

deren Gewerkschaften bei Streiks <strong>und</strong> Aussperrungen,<br />

ja, das direkte Hineintreiben der Streikenden<br />

in die bestreikten Betriebe durch Verweigerung der<br />

Unterstützungen (Weberstreik in Crefeld, Nieterstreik<br />

in Stettin usw).<br />

Auf politischem Gebiete: die Gratulationen<br />

sozialdemokratischer Abgeordneter zur Geburt des<br />

hessischen Thronfolgers, die Teilnahme von Arbeitervertretern<br />

beim Leichenbegängnis des Großherzogs<br />

von Baden, — die patriotischen Vaterlandsverteidigungsreden<br />

von Sozialdemokraten im Reichstage<br />

in den Militäretatsdebatten -- die Bewilligung<br />

der Budgets in den süddeutschen Landtagen — !<br />

Alles das läßt deutlich erkennen, daß die<br />

Klassenkampfidee <strong>und</strong> ihre revolutionären <strong>Ziel</strong>e<br />

heute innerhalb der Sozialdemokratie verleugnet<br />

<strong>und</strong> systematisch ertötet werden; statt dessen be -<br />

schreiten Partei <strong>und</strong> Gewerkschaften immer mehr<br />

die Bahn des Reformismus, des Paktierens mit dem<br />

Unternehmertum durch Abschluß von Tarifverträgen<br />

<strong>und</strong> somit des Ausgleichs <strong>und</strong> der Harmonie zwischen<br />

Kapital <strong>und</strong> Arbeit!<br />

Der Absatz des Erfurter Parteiprogramms<br />

(der von der Eroberung der „politischen Macht"<br />

spricht) kann von freiheitlich <strong>und</strong> sozialistisch denkenden<br />

<strong>und</strong> empfindenden Proletariern nicht mehr<br />

anerkannt werden, weil die sozialdemokratische<br />

Partei durch ihre bisherige parlamentarische Betätigung<br />

den bestimmten Schluß zuläßt, daß der von<br />

ihr erstrebte Besitz der politischen Macht die bestehende<br />

Herrschaft n i c h t aufhebt, sondern in


sich die Ideen des Staatssozialismus <strong>und</strong> die damit<br />

verb<strong>und</strong>ene Zentralgewalt verkörpert, ohne die<br />

ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse herbeizuführen.<br />

Letzteres bildet jedoch das wesentlichste<br />

Moment unserer Gr<strong>und</strong>sätze. Nur der wirtschaftliche<br />

<strong>und</strong> politische Kampf a u f ö k o n o -<br />

m i s c h e m G e b i e t e <strong>und</strong> die dadurch errungenen<br />

Rechte vermögen das Proletariat vorwärts zu<br />

bringen, deshalb nicht Eroberung der politischen<br />

Macht, sondern ihre Beseitigung <strong>und</strong> Ersetzung<br />

durch die Organisation der produktiven Kräfte <strong>und</strong><br />

wirtschaftlichen Einrichtungen muß das <strong>Ziel</strong> der<br />

Arbeiterklasse sein!<br />

Die Schaffung <strong>und</strong> der Ausbau sozialrevolutionärer<br />

Gewerkschaften, welche alle auf dem<br />

Boden des Klassenkampfes stehenden Bewegungen<br />

zusammenfassen <strong>und</strong> ihre vornehmlichste Kraft der<br />

Propaganda <strong>und</strong> Herbeiführung des Generalstreiks<br />

widmen, ist die zur Zeit wichtigste Aufgabe des<br />

Proletariats.<br />

Die Versammelten lehnen hiermit ab, sich<br />

noch ferner parlamentarischen Hoffnungslosigkeiten<br />

hinzugeben <strong>und</strong> sich an der bürgerlichen Einrichtung<br />

des Parlamentarismus zu beteiligen!"<br />

Wir drücken den Kameraden ob solcher herzerquickender<br />

Worte freudigst die Bruderhand.<br />

Schon jetzt darf es gesagt werden: in der G e -<br />

schichte der reichsdeutschen Arbeiterbewegung<br />

wird ein jedes Wort obiger Resolution schwerer an<br />

Bedeutung wiegen, als der ganze Nürnberger K o n -<br />

greß samt Schauspielern <strong>und</strong> Statisten.<br />

F r a n k r e i c h .<br />

Die in «der Allgemeinen Arbeiterföderation<br />

(C. G. T . ) vereinigten Gewerkschaften Frankreichs<br />

halten im Oktober zu Marseille ihren X V I . nationalen<br />

Kongreß ab. Die Tagesordnung wurde durch<br />

die Abstimmung sämtlicher Organisationen festgesetzt.<br />

Von den eingereichten Vorschlägen wurden<br />

die folgenden vier zur Verhandlung ausgewählt:<br />

1. A n t i m i l i t a r i s m u s ; V e r h a l t e n d e r<br />

A r b e i t e r k l a s s e i m K r i e g s f a l l e ; 2 . W e i t e r e<br />

V e r k ü r z u n g d e r A r b e i t s s t u n d e n ; 3 .<br />

A r b e i t e r u n f ä l l e u n d s t a a t l i c h e V e r -<br />

s i c h e r u n g ; 4 . D i e A u s s p e r r u n g e n : V e r -<br />

h a l t e n u n d M i t t e l g e g e n d i e s e l b e n .<br />

Außer diesen werden natürlich die inneren<br />

Fragen der Organisation verhandelt, unter welchen<br />

die folgenden Vorschläge die bemerkenswertesten<br />

sind:<br />

Die F ö d e r a t i o n d e r H u t m a c h e r<br />

schlägt vor, daß die Mitglieder des Verwaltungsausschusses<br />

der C. G. T. nur auf vier Jahre g e -<br />

wählt werden sollen <strong>und</strong> nach Ablauf ihrer Vollmacht<br />

innerhalb der nächsten vier Jahre nicht wiedergewählt<br />

werden können. Sie begründet diesen<br />

Antrag damit, daß eine jede Arbeiterorganisation<br />

eine Organisation des Kampfes ist oder sein sollte,<br />

sowie eine Schule, in welcher alle Arbeiter lernen<br />

sollen, sich selbst zu leiten; ihr Zweck ist, die<br />

Abschaffung des Kapitalismus, der Ausbeutung des<br />

Menschen durch den Menschen. D a r u m m u ß<br />

m a n v e r h ü t e n , d a ß s i c h i n n e r h a l b d e r<br />

G e w e r k s c h a f t e n e i n e s t ä n d i g e K l a s s e<br />

v o n B e a m t e n b i l d e t , was zum Strebertum<br />

<strong>und</strong> zu inneren Kämpfen führt, die die Kraft der<br />

Organisation lähmen. Als Ergänzung dieses Antrages<br />

dient ein anderer derselben Föderation zur<br />

Errichtung von sozialistischen Konsum- <strong>und</strong> Produktivgenossenschaften<br />

durch die Gewerkschaften.<br />

In den für die Arbeiterbewegung wichtigsten<br />

Städten soll die C. G. T., im Einvernehmen mit den<br />

dortigen Organisationen, k o m m u n i s t i s c h e R e -<br />

s t a u r a n t s mit Versammlungslokalen <strong>und</strong> Bibliotheken<br />

errichten. Damit würden sich die Arbeiter<br />

vom Einfluß <strong>und</strong> der Tyrannei der Gastwirte b e -<br />

freien. Als Angestellte sollen immer jene Genossen<br />

gewählt werden, die wegen ihrer Tätigkeit für die<br />

Sache des Proletariats von den Arbeitgebern auf<br />

die „schwarze Liste" gesetzt worden sind. Dieselben<br />

dürfen nicht dem Elend preisgegeben werden,<br />

<strong>und</strong> indem ihnen auf diese W e i s e nach Jahren<br />

ermüdenden Kampfes eine Erwerbsexistenz geboten<br />

wird, wird die Gefahr der Schaffung von b ez<br />

a h I t e n G e w e r k s c h a f t s b e a m t e n p o s t e n<br />

vermieden, <strong>und</strong> die propagandistische Tätigkeit der<br />

begabten Kämpfer der Arbeiterschaft jederzeit zur<br />

Verfügung gestellt. A l l e A n g e s t e l l t e n s o l l e n ,<br />

o b s i e g e i s t i g e o d e r k ö r p e r l i c h e A r -<br />

b e i t v e r r i c h t e n , d i e g l e i c h e B e z a h l u n g<br />

e r h a l t e n .<br />

Die Föderation der französischen Metallarbeiter<br />

unterbreitet dem Kongreß eine Resolution<br />

zur Regelung der internationalen Beziehungen,<br />

welche wir wörtlich wiedergeben. Die internationale<br />

sozialdemokratische Konferenz der Gewerkschaftssekretäre<br />

in Amsterdam (1904) hatte sich geweigert,<br />

die Anträge Frankreichs über den Generalstreik,<br />

den Antimilitarismus <strong>und</strong> den Achtst<strong>und</strong>entag den<br />

Arbcitergruppierungen aller Länder zu unterbreiten.<br />

Im Gegensätze zu dem haben die Internationalen<br />

Föderationen einiger Industrien z. B. Bergarbeiter,<br />

Metallarbeiter, der Friseure, auf ihren Kongressen<br />

über den Generalstreik diskutiert. In Anbetracht<br />

dessen nahmen die Metallarbeiter folgende R e s o -<br />

lution a n :<br />

„In Anbetracht: daß d e r K o n g r e ß d e r<br />

B e r g a r b e i t e r n i c h t n u r d i e S t e l l u n g<br />

d e r A r b e i t e r k l a s s e i m K r i e g s f a l l e b e -<br />

s p r o c h e n h a t , s o n d e r n k l a r a u s g e -<br />

d r ü c k t h a t , d a ß die A r b e i t e r k l a s s e a u f d i e<br />

K r i e g s e r k l ä r u n g i n t e r n a t i o n a l m i t d e m Gen<br />

e r a l s t r e i k a n t w o r t e n m u ß ; daß somit die „Inter-<br />

nationale Föderation der Bergarbeiter", durch die<br />

Stimme ihrer Delegierten d i e g r o ß e W i c h t i g -<br />

k e i t d e r F r a g e d e s A n t i m i l i t a r i s m u s<br />

b e w i e s e n <strong>und</strong> dadurch selbst auf das bedauerliche<br />

Verhalten der Konferenz der Gewerkschaftssekretäre<br />

die gebührende Antwort gegeben hat;<br />

b e a n t r a g t d i e M e t a l l a r b e i t e r - F ö d e r a -<br />

t i o n F r a n k r e i c h s , d a ß d i e F ö d e r a t i o n e n<br />

d e r a n d e r e n I n d u s t r i e n u n d L ä n d e r<br />

d i e s e m B e i s p i e l e f o l g e n s o l l e n ! "<br />

Als Vorläufer des nationalen Kongresses halten<br />

jetzt auch die verschiedenen' Föderationen ihre<br />

Kongresse a b . Wir geben hiermit — als Illustration<br />

des Geistes dieser Gewerkschaften — wörtlich die<br />

Resolutionen von dreien dieser Kongresse wieder:<br />

I . R e s o l u t i o n d e s K o n g r e s s e s d e r<br />

H a f e n - u n d D o c k a r b e i t e r :<br />

„In Erwägung d e s s e n : daß nur durch die<br />

rührigste Propaganda in den Gewerkschaften <strong>und</strong><br />

auf den Arbeitsstätten der Antimilitarismus seine<br />

Früchte tragen kann; beschließen die auf dem<br />

Kongreß Versammelten, in ihren Organisationen die<br />

ausgedehnteste Propaganda bei den jungen Mitgliedern<br />

unserer Organisationen zu machen, damit<br />

diese, wenn sie zum Regiment kommen <strong>und</strong> ihnen<br />

befohlen wird, zur Verteidigung des Kapitals gegen<br />

das organisierte Proletariat zu marschieren, ihre<br />

Pflicht kennen <strong>und</strong> dadurch vermeiden, ihre Brüder<br />

des Kampfes <strong>und</strong> Elends aufzuopfern.<br />

In Erwägung d e s s e n : daß die Bourgeoisregierungen<br />

ohne Unterschied für die Aufrechthaltung<br />

der Armee, der einzigen Stütze der Bourgeoisklasse<br />

sind, hält der Kongreß es für wichtig,<br />

seinen antimilitaristischen Gefühlen Ausdruck zu<br />

geben:<br />

Da der Militarismus in Wirklichkeit nur die<br />

Beschützerin der verschiedenen Vorrechte der Kapitalisten<br />

ist; da es notwendig ist, daran zu erinnern,<br />

daß es die S ö h n e der Arbeiter sind, welche<br />

als Wachth<strong>und</strong>e den Kapitalisten dienen, daß es<br />

also notwendig ist, dazu Stellung zu nehmen, b e -<br />

schließt der Kongreß, daß eine antimilitaristische<br />

Propaganda notwendig i s t ; jede Organisation verpflichtet<br />

sich, dieselbe zu stärken, damit der Militarismus<br />

zu Zeiten von Streiks <strong>und</strong> im Falle eines<br />

Krieges versagt, da wir mit Recht der Überzeugung<br />

sind, daß unsere einzigen Feinde die Kapitalisten<br />

aller Länder sind."<br />

II. R e s o l u t i o n d e s K o n g r e s s e s d e r<br />

S t e i n b r u c h - u n d K a l k b r e n n e r e i a r b e i t e r .<br />

„Die Abgesandten der Gewerkschaften der<br />

Steinbruch- <strong>und</strong> Kalkbrennereiarbeiter, nachdem sie<br />

die auf der Tagesordnung befindlichen administrativen<br />

Fragen besprochen <strong>und</strong> ihre Vereinigung mit<br />

der Föderation der Bauarbeiter beschlossen haben,<br />

beschließen, daß sie in ihren Organisationen mit<br />

ganzer Seele den gewerkschaftlichen Kampf fortsetzen<br />

werden, der das Proletariat seiner Befreiung<br />

zuführt; daß sie mit der antimilitaristischen Propaganda<br />

fortfahren, da deren Notwendigßeit sich<br />

immer dringender fühlbar macht, seit dem zunehmenden<br />

Eindringen des Militärs in Streikgebiete.<br />

Sie protestieren heftig gegen die Mord- <strong>und</strong><br />

Todestaten, welche in Draveil-Vigneux <strong>und</strong> in Villeneuve<br />

St. George von einer republikanisch-sozialdemokratischgenannten<br />

Regierung vollbracht wurden.<br />

Sie senden ihre brüderlichen Grüße an die<br />

infolge dieser Morde eingekerkerten Vorkämpfer,<br />

<strong>und</strong> fassen den Entschluß, sich mit den anderen<br />

Organisationen zu verständigen, um energisch auf<br />

die gerichtlichen Verfolgungen zu antworten, denen<br />

diese Vorkämpfer zum Opfer fallen könnten."<br />

III. R e s o l u t i o n d e s K o n g r e s s e s d e r<br />

L a n d a r b e i t e r .<br />

„1. Der Kongreß ruft die Landarbeiter <strong>und</strong><br />

die Arbeiter aller anderen Produktionszweige auf,<br />

die Arbeit auf 24 oder 48 St<strong>und</strong>en in solchen<br />

ernsten Fällen einzustellen, wenn das Bestehen der<br />

gewerkschaftlichen Organisation gefährdet ist, wo<br />

die Vorkämpfer der Arbeiterschaft der Rache der<br />

Bourgeoisie <strong>und</strong> der Regierung geopfert werden<br />

oder die Forderungen der Arbeiter in Arbeiterblut<br />

ertränkt werden.<br />

2. Der Kongreß ist der Überzeugung: daß die<br />

Verteidigung des Vaterlandes (eines abstrakten B e -<br />

griffes, der gar keiner wirklichen T a t s a c h e entspricht<br />

<strong>und</strong> durchaus relativ ist) der Vorwand ist,<br />

unter welchem die Herrschenden die Völker sich<br />

gegenseitig immer hinmorden lassen; einst für die<br />

Interessen der Dynastien, heute für die wirtschaftliche<br />

Oberherrschaft einer Gruppe von Kapitalisten.<br />

Daß der Patriotismus das unsinnigste Vorurteil<br />

ist, unter dessen Deckmantel zahlreiche Verbrechen<br />

begangen werden.<br />

Daß der Krieg ein Attentat gegen die Arbeiterklasse<br />

ist, daß er ein blutiges <strong>und</strong> fürchterliches<br />

Mittel ist, die Forderung derselben aus dem <strong>Weg</strong><br />

zu räumen.<br />

Daß der Feind nicht der Mechaniker in London,<br />

der Tischler in Berlin, der landwirtschaftliche<br />

Arbeiter in Katalonien <strong>und</strong> Apulien ist, sondern der<br />

Ausbeuter, der Kapitalist unseres Landes, ebenso<br />

wie derjenige anderer Nationen.<br />

Darum rät der Kongreß den Mitgliedern der<br />

Föderation, auf jede Kriegserklärung mit dem G e -<br />

neralstreik zu antworten <strong>und</strong> fordert sie außerdem<br />

auf, die taktischen Mittel zu studieren, welche ein<br />

solcher Entschluß mit sich bringt.<br />

Der Kongreß billigt die antimilitaristische Propaganda,<br />

<strong>und</strong> fordert die Vorkämpfer auf, daran<br />

teilzunehmen, denn sie ist notwendiger denn j e . "<br />

Briefkasten.<br />

An die K a m e r a d e n j e n e r Ortschaften,<br />

d e r e n G r u p p e n in letzter N u m m e r noch nicht<br />

i n s e r i e r t w a r e n . Wir ersuchen euch um Entschuldigung,<br />

eine Aus- <strong>und</strong> Unterlassungssünde des<br />

Druckers war Schuld daran. Brudergrüße I — A. D.<br />

Auch wir haben in den letzten Tagen oft lachend<br />

daran gedacht, wie der sozialdemokratische Alleswisser<br />

dem Genossen Lickier vorgehalten, daß es<br />

„in der Türkei kein Proletariat g ä b e " — während<br />

es sich in den letzten Tagen nun wirklich praktisch<br />

regte, statt seine Kräfte für jungtürkisch-großkapitalistische<br />

Plänchen zu vergeuden.<br />

Quittung<br />

vom 24. Juli bis 20. September.<br />

Gra. Max. K 2 2 0 , Gsch. Trais. 3-67, Cerny<br />

10-50, F. Schmi. W. 1-20, Kub. W. - - 5 0 , Popen. W.<br />

1-20, Hrom. W. 1 2 0 , Rajn. 3-60, Baran 3 — , Raj. 1 - ,<br />

T a n o - c k 5 — , Kulle 6 - - , Kahan 2 - - , Wolf Gr.<br />

4 70, Noc. 4-50, Schamann 5-82, P a u . P e . 2-20, Sz.<br />

Schw. 2-60, Bre. Stü. 5-—, Gsh. Trais. 8 - , Kinzle<br />

5-75, M o s e r 2-70, T e j a 1-20, Jan. 3 8 0 , Nierens 16-20,<br />

Stei. 1—ck 1-20, Sch. Möd. 3 87, Scham. 8-34, Kön.<br />

W . - - 6 0 , Kisch. W . 1-20, Ros, War. 8 - , Dei. Hab.<br />

2-40, Wolf Gr. 4-30, Pös. Schmied. 1-20, Baran 5 — ,<br />

Nejedly 1-20, Nechvat. —-60, Reißmann 1-20, Eiching.<br />

1-20, Pachta 2-40, 2 8 0 , 3-40, 2 - , 2-—, Madia 150,<br />

Horacek 1 — , 1 - , W e j . 4-—, 3-—, Brün. - ' 6 0 ,<br />

Navrat. !•—, - - 6 0 , Hübl. - - 7 0 , 1 5 0 , Wel. 2 —, 2- -,<br />

24-—, Merten 2 4 0 , Homolek 2 4 0 , Baüml. 5 — ,<br />

W a n a 6-—, Zaja7-—, 8-—, 7 - , Schlor 3-—, Ehing. 2 - ,<br />

Fetze 5 — , P. R. 2-—. Rat. 9 — , Pucer 1---, Liker<br />

3-20, Alois 6-80, Land. 1-70, Frank. 1 - , Metall-Arb.-<br />

Verband 1-20, Kohoutek 1-90.<br />

P r e ß f o n d . Pachta K 16-04, Sammelliste Nr. 34<br />

2 50, Atzgersdorf 6-59, Pucera 1-—, Allgem. Gew.<br />

2 5 — , Pribil —-80, Tolstoiabend 8-06, ein Sozialdemokrat<br />

1-—, Sammel-Liste (Marburg) 5 T 0 , Mercher<br />

(durch Ramus) 1-—.<br />

Dem Genossen Ramus wurden auf seiner<br />

Agitationsreise folgende geschuldete Abonnementsgelder<br />

übergeben, die er ablieferte: Kren. K 5 6 0 ,<br />

Kulle 4-60, Reinacher T — , W e b e r 1 3 — . Eine völlige<br />

Abrechnung über die dem Gen. R. gegebenen Gelder<br />

folgt am Schluß seines Agitationsberichtes.<br />

Gruppen <strong>und</strong> Versammlungen.<br />

A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n . V.,<br />

Einsiedlergasse 6 0 . Jeden Montag 8 Uhr abends.<br />

Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />

Gasthaus, XIV., Märzstraße 33.<br />

F ö d e r a t i o n d e r B a u a r b e i t e r . X., Eugengasse<br />

9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />

jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />

U n a b h ä n g i g e S c h u h m a c h e r - G e w e r k s c h a f t .<br />

XlV.,Hütteldorferstraße 3 3 . Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />

M ä n n e r g e s a n g v e r e i n „ M o r g e n r ö t e " . XIV.,<br />

Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />

jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />

L e s e - <strong>und</strong> Diskutierklub „ P o k r o k " . XIV.,<br />

Hütteldorferstraße 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />

F r e i e E i n k a u f s g e n o s s e n s c h a f t . Jeden Donnerstag<br />

abends bei Schlor.<br />

G r a z . A r b e i t e r - B i l d u n g s - u n d U n -<br />

t e r s t ü t z u n g s - V e r e i n , versammelt sich jeden<br />

1. <strong>und</strong> 3. Samstag abends im Gasthaus „zur lustigen<br />

Röthelstoanerin" (v. Tiroler), Bahnhofgürtel<br />

Nr. 69.<br />

M a r b u r g . A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />

versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong> 4. Mittwoch abends<br />

im Gasthaus „Zur goldenen Birn", Franz Josefstraße<br />

2.<br />

K l a g e n f u r t . G r u p p e d e r u n a b h ä n g i -<br />

g e n S o z i a l i s t e n , versammelt sich jeden 2 . <strong>und</strong><br />

4. Samstag abends im Gasthaus „Zum Buchenwalde".<br />

W e i j e r . S o z i a l i s t i s c h e r B u n d , versammelt<br />

sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends in<br />

Bachbauers Gasthaus.<br />

B r u c h . G r u p p e B e r g a r b e i t e r k a m p f ,<br />

versammelt sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends<br />

im Gasthaus „zum blauen Stern".<br />

Neu - P y h a n k e n . B e r g a r b e i t e r v e r e i n ,<br />

versammelt sich jeden 4. Sonntag um 9 Uhr vormittags<br />

im Gasthause „Eintracht".<br />

Zieditz. D e u t s c h e B e r g a r b e i t e r v e r e i -<br />

n i g u n g , versammelt sich jeden Sonntag im Gasthaus<br />

beim Bahnhof.<br />

A u s s i g . U n a b h ä n g i g e r F a c h v e r e i n<br />

d e r S c h i f f s v e r l a d e r u n d V e r l a d e r i n n e n ,<br />

versammelt sich monatlich im Gasthaus „zum Marienberg",<br />

Töpfergasse 7.<br />

S c h ö n p r i e s e n ( b e i A u s s i g ) . G r u p p e<br />

„ F r e i h e i t " , versammelt sich jeden 2. Mittwoch<br />

in Nr. 226 (bei Giselastraße).<br />

M a l t h e u e r n ( b e i B r ü x ) . A r b e i t e r v e r -<br />

e i n „ G l e i c h h e i t " , versammelt sich jeden Sonntag<br />

beim Gastwirt j o h . Florian.<br />

K a r b i t z ( b e i A u s s i g ) . F r e i e V e r e i n i -<br />

g u n g . Sekretär J. Schmidt, Nr. 126.<br />

M a r i a s c h e i n . F r e i e V e r e i n i g u n g , versammelt<br />

sich jeden Sonntag im Gasthaus „zur<br />

Fortuna".<br />

O b e r - R o s e n t a l ( b e i R e i c h e n b e r g ) .<br />

G r u p p e „ P r o l e t a r i a t " . Sekretär B . W e b e r ,<br />

Nr. 194.


— 57 —<br />

von der Methode, behaupten alle Parteien, daß sie<br />

das Glück der Menschheit anstreben — <strong>und</strong> viele<br />

wollen dies sogar aufrichtig; aber jede meint, dies auf<br />

einem anderen <strong>Weg</strong>e zu erreichen <strong>und</strong> organisiert<br />

ihre Bestrebungen in einer bestimmten Richtung. Also<br />

müssen wir den Anarchismus — die Herrschaftslosigkeit<br />

— auch vor allem als eine Methode betrachten.<br />

Man kann alle nichtanarchistischen Parteien, je<br />

nachdem sie das Glück der Menschheit auf diesem<br />

oder jenem <strong>Weg</strong>e zu erreichen trachten oder angeblich<br />

erreichen wollen, in z w e i Hauptrichtungen einteilen:<br />

die « a u t o r i t ä r e » oder staatssozialistische <strong>und</strong> die<br />

sogenannte « l i b e r a l e » . Die erstere überträgt die<br />

Regelung des Gesellschaftslebens einigen Menschen<br />

<strong>und</strong> führt so zur Ausbeutung <strong>und</strong> Unterdrückung der<br />

Masse durch diese Wenigen. Die zweite stützt sich<br />

auf die freie Initiative der einzelnen Menschen <strong>und</strong><br />

verkündet, wenn auch noch nicht die Abschaffung,<br />

so doch die Beschränkung der Regierung auf das<br />

möglichst geringste Maß. Da sie aber das Privateigentum<br />

aufrecht erhalten will <strong>und</strong> gänzlich auf dem<br />

Gr<strong>und</strong>satz: «Jeder für sich», <strong>und</strong> in Folge dessen auf<br />

den Konkurrenzkampf unter den Menschen aufgebaut<br />

ist, so ist ihre «Freiheit» n u r die Freiheit der Starken,<br />

der Besitzenden, um die Schwachen, jene, die nichts<br />

besitzen, auszubeuten <strong>und</strong> zu unterdrücken. Nicht nur,<br />

daß sie nicht die Harmonie zwischen den Menschen<br />

begründet, sondern sie macht den Abstand zwischen<br />

Reichen <strong>und</strong> Armen immer größer, s i e f ü h r t a u c h<br />

z u r A u s b e u t u n g u n d z u r H e r r s c h a f t , also zur<br />

Autorität.<br />

« A N A R C H I E » Von E n r i k o M a l a t e s t a . 8


— 58 —<br />

In der T h e o r i e ist dieser s o g e n a n n t e Liberalismus<br />

eine Art Anarchie o h n e Sozialismus; u n d<br />

d e s h a l b ist er e i n e L ü g e . Denn die Freiheit ist<br />

ohne Gleichheit unmöglich, die wahre Anarchie kann<br />

nicht ohne die Solidarität, ohne den Sozialismus bestehen,<br />

ebensowenig wie der Sozialismus ohne Anarchie<br />

wirklich alle seine Solidaritätsprinzipien erfüllen<br />

kann. Die Einwendungen, welche die politischen Liberalen<br />

gegen den Staat erheben, bestehen nur darin,<br />

daß sie ihm einige Machtbefugnisse nehmen wollen,<br />

die den K a p i t a l i s t e n unbequem sind. Aber das<br />

wahre Wesen des Staates, seine Macht zu strafen <strong>und</strong><br />

zu unterdrücken, kann der Liberalismus nicht angreifen,<br />

denn die Besitzenden könnten ohne Polizei <strong>und</strong><br />

Gendarmerie nicht bestehen: Und diese unterdrückende<br />

Macht der Regierung muß sogar umso stärker werden,<br />

je stärker in Folge der freien Konkurrenz die Uneinigkeit,<br />

die Ungleichheit unter den Menschen wird.<br />

Die Anarchisten bieten eine neue Art der Lösung<br />

dar: D i e f r e i e I n i t i a t i v e , d i e f r e i e B e t ä t i g u n g<br />

n a c h e i g e n e m V e r n u n f t s g u t d ü n k e n u n d d i e<br />

f r e i e V e r e i n b a r u n g A l l e r z u g e m e i n s a m e n<br />

A n g e l e g e n h e i t e n . Nachdem das Privateigentum<br />

durch das revolutionäre Handeln des Volkes abgeschafft<br />

worden, werden alle Menschen unter sozial<br />

gleichen Verhältnissen in die Lage gebracht sein, sich<br />

den gesellschaftlichen Reichtum nutzbar machen zu<br />

können. Diese Lösung der Frage macht die Wiederherstellung<br />

des Privateigentums unmöglich <strong>und</strong> muß<br />

somit auf dem <strong>Weg</strong>e der freien Vereinigung zum<br />

vollständigen Triumph der Solidarität führen.


— 5Q -<br />

Wenn man die Sache so betrachtet, so sieht<br />

man, daß alle Schwierigkeiten, die man als Einwendungen<br />

vorbringt, um die anarchistische Idee zu bekämpfen,<br />

im Gegenteil n u r e i n A r g u m e n t zu<br />

G u n s t e n des Anarchismus sind. Denn nur auf dem<br />

<strong>Weg</strong>e des Anarchismus, nämlich auf dem <strong>Weg</strong>e der<br />

zwangslosen Erfahrung, der erprobten Anpassung an<br />

das Wissen, die Bedürfnisse, die Gefühle Aller lassen<br />

sich diese Fragen lösen.<br />

Nehmen wir zum Beispiel die Frage der Erziehung.<br />

Wir haben keinen festgesetzten, unabänderlichen<br />

Plan darüber; obwohl schon manche Versuche<br />

in Frankreich etc. d i e R i c h t u n g e i n e r n a t ü r -<br />

l i c h e n E r z i e h u n g des Kindes klar gemacht haben.<br />

Aber wir brauchen auch keinen festgesetzten Plan:<br />

die Eltern, die Lehrer, alle die sich für die Entwicklung<br />

der neuen Generation interessieren, werden<br />

zusammenkommen, beraten, sich einigen oder je nach<br />

verschiedenen Meinungsrichtungen teilen <strong>und</strong> jede<br />

Gruppe wird jene Ideen, die sie für die besten hält,<br />

für sich <strong>und</strong> ihr Gebiet verwirklichen. Im täglichen<br />

Leben <strong>und</strong> im geistigen Daseinskampf wird dann<br />

schließlich diejenige Art, die w i r k l i c h am besten<br />

ist, auch zur Geltung kommen. — Dasselbe gilt für<br />

a l l e Probleme, die im Leben vorkommen können.<br />

Daraus folgt, daß die Anarchie, so wie die Anarchisten<br />

selbst sie auffassen, <strong>und</strong> wie sie einzig richtig<br />

verstanden werden kann, ökonomisch auf dem Sozialismus<br />

aufgebaut ist. Und wenn es nicht sich «sozialistisch»<br />

nennende Paiteien gäbe, die die Einheit der<br />

sozialen Frage k ü n s t l i c h auseinanderreißen, um nur


60<br />

einen Teil derselben zu betrachten; wenn es nicht<br />

Wortverdrehungen gäbe, mit welchen man dem wirklichen<br />

<strong>Ziel</strong> der sozialen Revolution den <strong>Weg</strong> abschneiden<br />

möchte, s o k ö n n t e n w i r b e h a u p t e n ,<br />

d a ß S o z i a l i s m u s u n d A n a r c h i e d a s s e l b e<br />

b e d e u t e n , d a j a d o c h d i e B e d e u t u n g b e i d e r<br />

d i e A b s c h a f f u n g d e r H e r r s c h a f t <strong>und</strong> d e r<br />

A u s b e u t u n g d e s M e n s c h e n d u r c h d e n M e n -<br />

s c h e n ist, ob nun dieser Zustand der Sklaverei<br />

durch die bewaffnete Gewalt oder durch die Monopolisierung<br />

der zum Leben notwendigen Sachen aufrecht<br />

erhalten wird.<br />

Die Anarchie, ebenso wie der Sozialismus, hat<br />

als Gr<strong>und</strong>lage, als Ausgangspunkt, als notwendige<br />

Bedingung, die G l e i c h h e i t d e r V e r h ä l t n i s s e ,<br />

als Leitstern die S o l i d a r i t ä t <strong>und</strong> als Methode die<br />

F r e i h e i t . Sie ist n i c h t die Vollkommenheit, nicht<br />

ein absolutes, für ewig gleich bleibendes Ideal, sondern<br />

ein solches, das in dem Maße, wie wir vorangehen<br />

<strong>und</strong> es verwirklichen, wie der Horizont vor<br />

uns zurückweicht <strong>und</strong> uns neue Ideale bietet. A b e r<br />

d i e A n a r c h i e ist d e r W e g , über den jeder Fortschritt,<br />

jede Vervollkommnung im Interesse aller<br />

Menschen zu gehen hat.<br />

Wir haben festgestellt, daß die Anarchie jene<br />

Form des gesellschaftlichen Lebens ist, die allein den<br />

<strong>Weg</strong> zum größten Wohle für alle Menschen frei läßt,<br />

denn nur sie zerstört alle Klassen, welche ein Interesse<br />

daran haben, die große Masse der Menschen in<br />

Elend <strong>und</strong> Unterdrückung zu halten. Wir haben fest-


- 61<br />

gestellt, daß die Anarchie m ö g l i c h ist, denn in<br />

Wahrheit befreit sie die Menschheit nur von einem<br />

Hindernis, der Regierung, gegen die diese immer<br />

kämpfen mußte, um auf ihrem beschwerlichen <strong>Weg</strong><br />

voranzuschreiten. Und nachdem wir all dies festgestellt<br />

haben, sehen wir die Autoritäten sich in ihre letzte<br />

Festung zurückziehen, wo sie durch eine Anzahl Leute<br />

verstärkt werden, die, obgleich sie angeblich warme<br />

Anhänger der Freiheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit sind, dennoch<br />

Furcht vor der Freiheit haben <strong>und</strong> sich nicht entschließen<br />

können, die Idee einer Menschheit zu erfassen,<br />

die ohne Vorm<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Hirten lebt <strong>und</strong><br />

vorangeht. Durch die Wahrheit arg bedrängt, verlangen<br />

diese Leute, daß man die Sache für später, für den<br />

spätest möglichen Zeitpunkt aufschiebe. Folgendes<br />

ist der Hauptinhalt ihrer Argumente:<br />

«Diese Gesellschaft ohne Herrschaft, welche sich<br />

mittels des freien <strong>und</strong> selbstgewollten Zusammenwirkens<br />

in Ordnung hält, diese Gesellschaft, die alles<br />

dem selbständigen Handeln der Interessierten überläßt<br />

<strong>und</strong> ganz <strong>und</strong> gar auf Solidarität <strong>und</strong> Liebe aufgebaut<br />

ist — diese Gesellschaft ist gewiß ein sehr schönes<br />

Ideal; aber wie jedes Ideal, schwebt sie in den Wolken.<br />

Wir befinden uns in einer Menschheit, die immer<br />

in Unterdrücker <strong>und</strong> Unterdrückte geteilt war. Die<br />

ersteren sind voller Herrschsucht <strong>und</strong> haben alle<br />

Laster der Tyrannen; die letzteren sind an knechtischen<br />

Gehorsam gewöhnt <strong>und</strong> haben die noch ärgeren Laster,<br />

die aus der Sklaverei entspringen. Das Gefühl der<br />

Solidarität ist weit entfernt, das herrschende Gefühl<br />

unter den heutigen Menschen zu sein, <strong>und</strong> wenn


- 62 —<br />

es auch wahr ist, daß die Geschicke der Menschen<br />

mit einander solidarisch sind <strong>und</strong> immer mehr so<br />

werden, ist es ebenso wahr, daß das, was man im<br />

Leben am meisten sieht, <strong>und</strong> was die tiefsten Spuren<br />

im Menschen zurückläßt, der Kampf ums Dasein ist,<br />

den fortwährend ein jeder gegen einen jeden anderen<br />

führt. Wie können diese Menschen, die in einer Gesellschaft<br />

aufgewachsen <strong>und</strong> erzogen sind, in der der<br />

Kampf der Klassen <strong>und</strong> der Einzelnen gegen einander<br />

herrscht, sich auf einmal verändern, <strong>und</strong> wie können<br />

sie fähig werden, in einer Gesellschaft zu leben, wo<br />

jeder ohne äußeren Zwang, durch den Antrieb seiner<br />

eigenen Natur, das Wohl der anderen anstrebt? Wie<br />

könnt ihr den Erfolg der Revolution, das Los der<br />

Menschheit einer unwissenden Menge anvertrauen,<br />

die durch das Elend entkräftet, durch die Pfaffen verblödet<br />

ist? W ä r e e s n i c h t v e r n ü n f t i g e r , a u f<br />

dem W e g e e i n e r d e m o k r a t i s c h e n u n d s o z i -<br />

a l i s t i s c h e n R e p u b l i k a u f d a s a n a r c h i s t i s c h e<br />

I d e a l l o s z u s c h r e i t e n ? Würde nicht eine Regierung,<br />

gebildet aus den Tüchtigsten, notwendig sein,<br />

um die Menschen für die Ideen der Zukunft vorzubereiten?»<br />

Wir stoßen immer auf das Vorurteil, daß die<br />

Regierung eine eigene Kraft sei, die von irgendwo<br />

entsteht <strong>und</strong> aus sich selbst etwas zu den vereinten<br />

Kräften <strong>und</strong> Tätigkeiten jener Menschen hinzufügt,<br />

die sie bilden <strong>und</strong> die ihr gehorchen. D a s ist a b e r<br />

n i c h t w a h r . Im Gegenteil, alles was in der Menschheit<br />

geschieht, wird durch die Menschen selbst vollbracht<br />

<strong>und</strong> die Regierung, als solche, fügt aus eigener


- 63<br />

Kraft nichts anderes hinzu, als das Bestreben, alles<br />

zum Profit einer Partei oder einer Klasse zu monopolisieren<br />

<strong>und</strong> jede Initiative, die außerhalb ihres<br />

Kreises entsteht, unmöglich zu machen.<br />

Wenn wir sagen, daß wir die Autorität zerstören<br />

wollen, so meinen wir damit nicht die Zerstörung der<br />

individuellen <strong>und</strong> kollektiven Kräfte, die in der Menschheit<br />

tätig sind <strong>und</strong> auch nicht die Zerstörung der geistigen<br />

Einflüsse, die die Menschen gegenseitig auf einander<br />

ausüben. Das würde die Zersplitterung der Menschheit<br />

in eine Masse von losen <strong>und</strong> untätigen Atomen<br />

bedeuten, was unmöglich ist, <strong>und</strong> wenn es möglich<br />

wäre, der Zerstörung jeder Oesellschaft, dem Tod der<br />

Menschheit gleichkäme.<br />

Die Autorität zerstören, heißt soviel als das<br />

M o n o p o l d e r G e w a l t <strong>und</strong> des Einflusses zu zerstören;<br />

es bedeutet die Zerstörung jenes Zustandes,<br />

in welchem die gesellschaftlichen Kräfte, also die<br />

Kraft aller Menschen, den Gedanken, dem Willen, den<br />

Interessen einer kleinen Anzahl von Menschen dient,<br />

die vermittels der blinden Kraft aller zu Gunsten ihrer<br />

Interessen <strong>und</strong> Ideen die Freiheit aller unterdrücken.<br />

Die Autorität zerstören, heißt soviel als jene Art<br />

von Organisation zerstören, durch welche die Zukunft,<br />

von einer Revolution zur anderen, zum Profit jener<br />

beschlagnahmt wird, die im Kampfe für einen historischen<br />

Moment Sieger bleiben.<br />

Es ist sicher, daß im gegenwärtigen Zustand<br />

der Gesellschaft, wo die große Mehrzahl der Menschen<br />

von Elend erdrückt <strong>und</strong> von Aberglauben verblödet<br />

ist, das Geschick der Menschheit von der


— 64 —<br />

Tätigkeit einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von<br />

Menschen abhängt. Es ist gewiß unmöglich, daß von<br />

einem Moment zum anderen sich alle Menschen auf<br />

die Stufe erheben können, wo sie es als ihre Pflicht,<br />

geschweige denn als ein Glück empfinden, alle ihre<br />

Taten so zu vollbringen, daß daraus für die anderen<br />

das möglichst größte Wohl entsteht.<br />

Wenn aber die denkenden <strong>und</strong> ordnenden Kräfte<br />

der Menschheit heute noch wenig sind, ist das kein<br />

Gr<strong>und</strong>, daß wir selbst von diesen einen Teil lähmen,<br />

<strong>und</strong> den größten Teil einer kleinen Anzahl von ihnen<br />

unterordnen sollen. Es ist kein Gr<strong>und</strong>, um die Gesellschaft<br />

so einzurichten, daß in Folge der Untätigkeit,<br />

die die gesicherten Stellen hervorbringen, in Folge<br />

der Vererbung, der Protektion, des Korpsgeistes <strong>und</strong><br />

der ganzen Regierungsmaschinerie, die lebendigsten<br />

Kräfte <strong>und</strong> tüchtigsten Fähigkeiten sich schließlich<br />

außerhalb der Regierung <strong>und</strong> somit beinahe ohne<br />

Einfluß auf das Leben der Gesellschaft befinden. Und<br />

jene, die zur Regierung gelangen, werden aus ihrem<br />

gewohnten Wirkungskreise herausgerissen <strong>und</strong> haben<br />

ein Interesse daran, die Macht zu behalten, deshalb<br />

verlieren sie alle Fähigkeit rationell zu handeln <strong>und</strong><br />

werden nur ein Hindernis für die anderen.<br />

Wenn wir diese hindernde Gewalt, die staatliche<br />

Herrschaft abschaffen, so wird die Gesellschaft das<br />

sein, was sie ihren momentanen Kräften <strong>und</strong> Fähigkeiten<br />

gemäß, sein kann.<br />

Wenn es Menschen gibt, die Wissen besitzen<br />

<strong>und</strong> dasselbe verbreiten wollen, werden dieselben<br />

Schulen gründen <strong>und</strong> sich Mühe geben, allen Leuten


Aber die Arbeitslöhne der großen<br />

Masse der Arbeiter haben sich seitdem<br />

Weder verzehnfacht, noch auch nur verdreifacht<br />

oder verdoppelt — woraus folgt,<br />

daß der Gewinnanteil des Ausbeuters sich<br />

im Verhältnis dazu vergrößert hat. Das<br />

anwachsen der Produktivität der menschlichen<br />

Arbeitskraft, die unter bestimmten<br />

Einrichtungen eine Hilfe zur Befreiung der<br />

Bnenschheit hätte sein sollen, hat zwar<br />

auch unter den heute bestehenden Gesellfcchaftseinrichtungen<br />

dem Arbeiter ein wenig<br />

genützt, aber vor allem hat es dem Ausbeuter<br />

Nutzen gebracht.<br />

Die Macht der Ausbeutung ist beim<br />

Kapitalisten stärker geworden. Und, mit<br />

einigen Ausnahmen, kann man sagen, daß<br />

die Bereicherung des Unternehmers auf<br />

Kosten seiner Arbeiter in d e m M a ß e<br />

w ä c h s t , w i e s e i n e A r b e i t e r g e -<br />

s c h i c k t e r w e r d e n , <strong>und</strong> wie die Maschinen<br />

die menschliche Arbeit produktiver<br />

machen. Seine H e r r s c h a f t , s e i n e<br />

[ m a t e r i e l l e K r a f t werden größer,<br />

Iwenn nicht die Arbeiter diesen ihre i nt<br />

e l l e k t u e l l e K r a f t <strong>und</strong> ihren r e v o -<br />

l u t i o n ä r e n Geist entgegensetzen.<br />

Dieser wirtschaftliche Fortschritt ist<br />

also, wie alle anderen wirtschaftlichen Tatsachen,<br />

eine zweischneidige Waffe. Er besitzt<br />

k e i n e geheimnisvolle Macht, die es<br />

ihm ermöglicht » d u r c h s i c h s e l b s t «<br />

die Befreiung der Arbeiter zu vollbringen.<br />

Er wird ein Mittel zur Befreiung oder ein<br />

Mittel zur Ausbeutung sein, je nach dem,<br />

wie die Menschen in der Gesellschaft Gebrauch<br />

davon machen; je nach den Ideen,<br />

die unter ihnen vorherrschen, den G ef<br />

ü h l e n von Unabhängigkeit, dem Z u -<br />

s a m m e n h a l t e n unter den Ausgebeuteten<br />

— je nach ihrem r e v o l u t i o n ä r e n<br />

Wollen.<br />

Verringern wir diese Kräfte, <strong>und</strong> wir<br />

werden aus dem Anwachsen der menschlichen<br />

Produktivität ein Mittel zur Verstärkung<br />

der Ausbeutung machen — wie<br />

dies bis heute geschehen ist.<br />

Und das gilt von allen wirtschaftlichen<br />

Erscheinungen. Alle Tatsachen des wirtschaftlichen<br />

Fortschrittes werden entweder<br />

ein Mittel zur Befreiung oder ein Mittel<br />

zur Unterdrückung, je nachdem die Arbeiter<br />

dieselben gebrauchen <strong>und</strong> verwenden<br />

lassen. Peter Krapotkin.<br />

Die Anarchie <strong>und</strong> das allgemeine<br />

Wahlrecht.<br />

V o r b e m e r k u n g . <strong>Unser</strong>e Leser seien b e -<br />

sonders darauf aufmerksam, gemacht, daß nachfolgender<br />

Artikel eine teilweise wiedergegebene,<br />

b i s h e r u n v e r ö f f e n t l i c h t e Rede unseres<br />

vor drei Jahren dahingeschiedenen, an Geist so<br />

großen Kameraden bildet, die er im Jahre 1882 in<br />

St. Etienne hielt. Diese Rede ist für uns sehr zeitgemäß<br />

in der gegenwärtigen Periode des Landtagswahlschwindels.<br />

D. Red.<br />

Mancher wird behaupten, daß es Sozialisten<br />

<strong>und</strong> Sozialisten gebe. Dem An-<br />

schein nach gibt es deren auch verschiedene<br />

Arten, doch das ist eigentlich 1<br />

nur<br />

Täuschung. In Wahrheit bestehen nur zwei<br />

entgegengesetzte Prinzipien: das der Regierung<br />

<strong>und</strong> dasjenige der Anarchie, das<br />

der Autorität <strong>und</strong> das der Freiheit. Die<br />

Namen, die auf den verschiedenen Parteibannem<br />

geschrieben sind, haben keinen<br />

Zweck, denn wie wir unter den vermeintlichen<br />

Republikanern der Gegenwart kleine<br />

Diktatoren finden, à la Louis XIV., so sehen<br />

wir auch Anarchisten in a l l e n revolutionären<br />

Bestrebungen. Die Herrschsüchtigen,<br />

die Politiker wollen — gleichviel wer an<br />

der Spitze des Staates steht, ob König,<br />

Konsul, Kaiser oder Präsident, ob ein Rat<br />

der Drei oder ein Rat der Zehn — die<br />

Macht in die Hände bekommen, um Belohnungen,<br />

Posten, Ehrentitel <strong>und</strong> Orden<br />

austeilen zu können, sie wollen Herren<br />

sein, damit alle Initiative von oben kommt.<br />

Alle diese glauben mit einer übernatürlichen<br />

Macht begabt zu sein, um denken, wün-<br />

sehen <strong>und</strong> handeln zu können an Stelle<br />

<strong>und</strong> auf Rechnung der anderen. Sie alle<br />

verlangen Gehorsam für ihre Verfügungen<br />

<strong>und</strong> Gesetze <strong>und</strong> glauben sich unfehlbar,<br />

wie der Papst oder das antike <strong>und</strong> gottbegnadete<br />

Königtum.<br />

Seht euch doch eure Vertreter <strong>und</strong> die<br />

Vertreter eurer Vertreter, die Minister an!<br />

Lehnen sie nicht das imperative Mandat ab,<br />

als wäre es eine Beleidigung ihrer Würde?<br />

Haben sie nicht für sich selbst eine Rechtslage<br />

geschaffen, die sie außerhalb der Gesetze<br />

stellt, die für gewöhnliche Sterbliche<br />

Geltung haben? Sind sie nicht durch die<br />

Protektionen <strong>und</strong> Petitionen, durch die Ehren<strong>und</strong><br />

Postenverleihungen zu Komplizen der<br />

Mächtigen <strong>und</strong> Unterdrücker geworden?<br />

Ämter, Verwaltungen <strong>und</strong> Gesetzformen<br />

sind dieselben geblieben; der Mechanismus<br />

hat sich nicht verändert, die Mechaniker<br />

erscheinen nur in anderem Anzug.<br />

Das Wort Republik ist sicher sehr erhaben,<br />

soll doch r e s p u b l i c a die »öffentliche<br />

Sache« bedeuten <strong>und</strong> wird damit<br />

allen denen, die sich Republikaner nennen,<br />

der Schein gegeben, als seien sie vom Solidaritätsgeist<br />

erfüllt, als kämpften sie für<br />

eine allen gemeinsame Sache. Doch dieses<br />

Wort verliert seine wahre Bedeutung, sobald<br />

es von Regierungsmännern gebraucht<br />

wird, denn für diese bedeutet es nicht die<br />

Änderung eines Regimes, sondern nur den<br />

Wechsel von Regierungspersonen.<br />

Andererseits sind alle revolutionären<br />

Akte durch ihr Wesen selbst anarchistischer<br />

Natur, gleichviel wessen Zwecken sie dienen.<br />

Der Mensch, der der Ungerechtigkeit<br />

müde ist <strong>und</strong> sich in den Kampf wirft, um<br />

sein Recht zur Geltung zu bringen, wird<br />

in diesem Moment wenigstens sein eigener<br />

Herr; zu Verbündeten hat er dann Kameraden<br />

<strong>und</strong> nicht Vorgesetzte — er ist während<br />

der Kampfperiode frei. Von Zeit zu<br />

Zeit zeigt uns die Geschichte große Revolten,<br />

<strong>und</strong> wenn wir es versuchen, die<br />

verschiedenen Elemente auseinander zuscheiden,<br />

die sich darin vermengt finden,<br />

<strong>und</strong> ihren Anteil zu bestimmen, so sehen<br />

wir, daß den aktiven Anteil, also denjenigen,<br />

der allein zum Fortschritt der Menschheit<br />

beitrug, s t e t s d a s a n a r c h i s t i s c h e<br />

E l e m e n t hatte, d. h. dasjenige Element,<br />

das der persönlichen Initiative folgte <strong>und</strong><br />

nicht etwa Vorschriften von Vorgesetzten.<br />

Zu allen Zeiten hat die Autorität das Gewohnte<br />

aufrecht erhalten wollen, immer<br />

war erst die anarchistische Auflehnung dagegen<br />

nötig, um dem Volke, das zu ersticken<br />

drohte, Luft zu verschaffen. Die<br />

ganze Geschichte ist nichts weiter als eine<br />

Reihe von Revolutionen, durch die sich<br />

das Individuum nach <strong>und</strong> nach aus der<br />

Sklaverei emporrafft, um nach Zerstörung<br />

des jeweilig bestehenden Staates sein eigener<br />

Herr werden zu wollen. Was kümmert<br />

es uns, daß die Geschichtsschreiber das Leben<br />

der Könige <strong>und</strong> der Fürsten, ihre Regierungsmaßnahmen<br />

<strong>und</strong> ihre Bemühungen, sich<br />

auf Kosten des Volkes zu bereichern, beschreiben.<br />

So würde ein Arzt die Geschichte<br />

eines Menschen durch die Geschichte seiner<br />

Krankheiten darzustellen versuchen.<br />

Die antike Devise der Revolutionäre,<br />

die sich von Jahrh<strong>und</strong>ert zu Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

fortpflanzte <strong>und</strong> zu einer offiziellen Formel<br />

geworden ist, die jeglichen Sinn unter jedweder<br />

Regierung verliert, diese Formel:<br />

»Freiheit, Gleichheit <strong>und</strong> Brüderlichkeit«<br />

oder vielmehr Solidarität, beweist, daß das<br />

Ideal der vergangenen Generationen instinktiv<br />

s t e t s die Anarchie war. Kann das<br />

Wort Freiheit einen Sinn haben, wenn es<br />

nicht die vollkommene Entwicklung des<br />

Individuums einschließt, so daß dieses die<br />

ganze Kraft, die volle Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> die<br />

körperliche Schönheit seiner Rasse erlangen<br />

kann, daß ihm sämtlicher Unterricht zuteil<br />

wird, nach dem sein Geist verlangt, daß<br />

ihm die freie Wahl jeder Beschäftigung<br />

offen steht, zu der es sich hingezogen<br />

fühlt? Und gleicherweise ist das Wort<br />

Gleichheit eine Lüge, wenn das Privateigentum<br />

<strong>und</strong> das Erbrecht bestehen bleibt,<br />

so daß industrielle Spekulationen <strong>und</strong> das<br />

Anwachsen der Regierungsmacht den Kontrast<br />

zwischen Reichtum <strong>und</strong> Armut erhöhen,<br />

indem die einen zu Entbehrungen,<br />

Krankheiten, ja sogar Lastern verdammt<br />

werden, während die anderen Wohlstand,<br />

Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> alle Errungenschaften von<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Kunst genießen. Schließlich<br />

kann auch brüderliche Solidarität nur<br />

zwischen Menschen herrschen, die nach<br />

freier Vereinbarung <strong>und</strong> gemäß ihren Fähigkeiten<br />

<strong>und</strong> Ansprüchen mit einander verb<strong>und</strong>en<br />

sind. Welche Solidarität kann zwischen<br />

Wolf <strong>und</strong> Lamm herrschen, zwischen<br />

Herr <strong>und</strong> Knecht bestehen?<br />

Doch mancher wird einwenden, die<br />

Ges<strong>und</strong>ung des sozialen Organismus sei<br />

eine Utopie. Die erhabenen Worte von<br />

Freiheit, Gleichheit <strong>und</strong> Solidarität seien<br />

nur dazu gut, auf öffentlichen Gebäuden<br />

— wie in Frankreich — zu prangen, sonst<br />

aber ohne praktische Nutzanwendung. Und<br />

die Armen an Geist, wie auch die gar zu<br />

Pfiffigen, finden sich mit der gegenwärtigen<br />

Situation, so schlecht sie auch sein mag,<br />

ab, als wenn die Welt für immer so bleiben<br />

würde. Kann denn überhaupt jemand behaupten,<br />

daß diese Gesellschaft einen wirklichen<br />

Bestand habe, daß sie unverändert<br />

weiter bestehen wird? Ist eine solche Gesellschaft<br />

lebensfähig, in der mehr als neun<br />

Zehntel der Individuen zu einem vorzeitigen<br />

Tode verurteilt sind durch Mangel an Mitteln,<br />

durch Mangel an Eintracht; eine Gesellschaft,<br />

in der die Interessen so geteilt<br />

sind, daß eine gute Bodenkultur,<br />

eine wirklich wissenschaftliche Ausnützung<br />

seiner Produkte unmöglich ist, eine Gesellschaft,<br />

in der fast die Hälfte der Produktion<br />

durch die unordentliche Verteilung verloren<br />

geht; wo die Fabrikanten durch den Wettkampf<br />

der Konkurrenz gezwungen sind,<br />

ihre Produkte zu fälschen, wovon selbst<br />

Lebensmittel nicht ausgeschlossen sind; wo<br />

Tausende von Frauen nur die Wahl zwischen<br />

Selbstmord oder Prostitution offensteht; wo<br />

Kampf <strong>und</strong> Unordnung, mit dem bürgerlichen,<br />

dummen Gemeinplatz »Anarchie«<br />

bezeichnet, an der Tagesordnung sind.<br />

Glücklicherweise bringt die wahre<br />

Anarchie, das ist die Vereinigung von freien<br />

Individuen <strong>und</strong> Assoziationen, die Anfänge<br />

von Heilung <strong>und</strong> Erneuerung in diesen<br />

kranken Organismus. Gegen die göttliche<br />

Autorität, deren irdische Vertreter die<br />

Pfaffen zu sein vorgeben, gehen die freien<br />

Geister mit der Kritik vor <strong>und</strong> befreien<br />

sich von der blöden Furcht vor der Hölle<br />

<strong>und</strong> dem blinden Glauben an ein Paradies.<br />

Gegen die Heiligkeit, die das Königtum<br />

<strong>und</strong> die Regierungen in den traditionellen<br />

Glorienschein einhüllte, ist das Volk von<br />

Revolution zu Revolution geschritten <strong>und</strong><br />

hat seinen Herrschern manche Freiheit abzuringen<br />

gewußt, sowie die Anerkennung<br />

des Volkswillens. Sogar in der Familie, in<br />

der der Ehemann <strong>und</strong> Vater eine Zeit lang<br />

absolutes Oberhaupt war, haben sich Frau<br />

<strong>und</strong> Kinder /u einer persönlichen Freiheit<br />

aufzuschwingen gewußt, die von dem Gesetz<br />

noch verneint wird, die jedoch die<br />

öffentliche Meinung schon anzuerkennen<br />

beginnt. So hat sich auch die Sprache<br />

gegenüber der Pedanterie der Katedergelehrten<br />

zu entwickeln <strong>und</strong> zu erneuern<br />

verstanden, so hat sich die Wissenschaft<br />

trotz offizieller Fesseln zu freien Auffassungen<br />

<strong>und</strong> Fortschritten aufgeschwungen, so<br />

hat sich auch die Kunst immer weitere<br />

Gebiete eröffnet. Immer wieder lebt damit die<br />

antike Legende von der w<strong>und</strong>erbaren Frucht<br />

vom Baume der Erkenntnis auf, der Erkenntnis<br />

des Guten <strong>und</strong> Bösen. Die Priester lehren,<br />

daß alles Böse durch diese Frucht in die Welt<br />

gekommen sei; wir Revolutionäre behaupten<br />

dagegen, daß alles Gute die Frucht der<br />

Erkenntnis sei. Elisée Reclus.<br />

Schluß folgt.


Der Antimilitarismus<br />

als<br />

T a k t i k d e s A n a r c h i s m u s .<br />

Von Pierre Ramus.<br />

Referat, gehalten auf dem internationalen Amsterdamer Kongreß<br />

der »Internationalen antimilitaristischen Assoziation«<br />

am 30. <strong>und</strong> 31. August 1907.<br />

(Fortsetzung.)<br />

Und da ein j e d e s Herrschertum darnach trachtet, sich als das allein zu<br />

Recht bestehende angestaunt zu sehen, dann auch nach dem Reichtum der Nachbarn<br />

lüstern blickt, wurde das Volk gelehrt, sein eigenes Herrscherhaus, dessen<br />

Funktionen <strong>und</strong> Mithelfer, als die dem Willen eines übernatürlichen W e s e n s<br />

Entsprungenen zu betrachten <strong>und</strong> jene abergläubische Verehrung vor der<br />

Autorität, die auch heute noch existiert, entstand <strong>und</strong> entwickelte sich.*<br />

Es ist ein solcher Geisteszustand des Volkes, welcher dem Herrscher<br />

die Allmacht über die einzelnen Glieder der Gesellschaft verleiht. Nun erst,<br />

so entsteht das, w a s wir unter K r i e g verstehen können. Die Gemeinschaft<br />

hatte ein bewußt wirkendes Zentralorgan, den Staat, erhalten. Und eben<br />

so, wie die Bibel es versucht, im Gemüt des unwissenden Menschen das<br />

Gefühl der Ehrfurcht vor Gott dadurch zu wecken, daß sie ihn uns in seinem<br />

Zorne <strong>und</strong> Zerstörungseifer zeigt, so wußte auch die irdische Macht sehr<br />

wohl, daß das Gemüt des Menschen sich dauernd nur dadurch übermannen<br />

lasse, wenn es die Autorität in unendlich vergrößerter Machtentfaltung <strong>und</strong><br />

Gewaltsmanifestation erblickt. Nur so ist jene Fanatisierung, jener religiöse<br />

Eifer möglich <strong>und</strong> erklärlich, die wir im Chauvinismus sehen müssen, dort,<br />

wo er noch e c h t ist. Der Krieg, besonders der siegreiche Krieg <strong>und</strong> die<br />

Vorstellung, über den Feind zu siegen, umstrahlt den Staat mit sinnberückender<br />

Gloriole, <strong>und</strong> so ist das Kriegführen diejenige weltlich-religiöse Macht<br />

des Staates, die ihm zu seiner Aufrechterhaltung dient.<br />

Denn w a s ist eigentlich der S t a a t ? Eigentlich ist der Staat nichts anderes<br />

als Militarismus en miniature. Militarismus ist systematisierte Waffengewalt;<br />

der Staat existiert nicht, wenn er nicht nach Außen, wie nach Innen<br />

hin eine G e w a l t repräsentiert. Noch krasser ließe sich das Problem s o<br />

stellen: Militarismus ist die Funktionsäußerung des Gewaltprinzips; dieses<br />

ist eben der Staat, denn diese Fnnktionsäußerung kann niemals stattfinden<br />

ohne der organisatorisch primären <strong>und</strong> demonstrativ den Krieg proklamierenden<br />

Ordre des Staates. Darum ist der Militarismus als Organismus des Gesellschaftslebens<br />

nur der vergrößerte Staat, denn die Macht des Staates ist r e -<br />

präsentiert durch seine Bewaffnung. Wir sehen also, wie lächerlich, wie<br />

heimtückisch es ist, wenn die modernen Staaten das Wort „Abrüstung" im<br />

M<strong>und</strong>e führen. S i e wissen ganz gut, daß ihnen dies nur Phrase sein muß,<br />

denn eine wirkliche Abrüstung, d. h. Überwindung des militaristischen Prinzips<br />

wäre gleichbedeutend mit dem Selbstmord des Staatsprinzips. D a s<br />

Dämonische dieses letzteren Prinzips, sein Genieprodukt ist gerade die E r -<br />

zeugung des militärischen Geistes in den breitesten Schichten des V o l k e s ;<br />

<strong>und</strong> dies ist dem Staate nur möglich durch die Großzüchtung von sozialen,<br />

philosophischen <strong>und</strong> religiösen Irranschauungen, durch die allein er seine<br />

Existenz zu rechtfertigen vermag. Sie aufzugeben, bedeutet allerdings den<br />

T o d des Militarismus, bedeutete aber auch den T o d des Staates.<br />

Man sieht, wir Anarchisten betrachten die ganze Frage sehr nüchtern<br />

<strong>und</strong> klar. Deshalb haben wir auch ganz andere Meinungen über das W e s e n<br />

des Krieges als die bürgerlichen Friedensschwärmer. Für diese existiert nur<br />

e i n e Störung in einer sonst sehr trautlich von ihnen gehüteten <strong>und</strong> gehegten<br />

Weltharmonie: eben der Krieg. Und sie glauben, ihn innerhalb der Gegenwartsgesellschaft<br />

abschaffen, diese jedoch in ihren Hauptbestandteilen erhalten<br />

zu können. Dies ist eine törichte Illusion, töricht dort, wo sie ehrlich<br />

gemeint, verbrecherisch dort, wo sie demagogisch gemeint ist.<br />

Wir Anarchisten haben eine ganz andere Auffassung über das W e s e n<br />

des Krieges. Wir hassen ihn als human gesinnte Menschen, aber wir wissen<br />

zur gleichen Zeit, daß er innerhalb der heutigen Gesellschaftsunoranung<br />

nichts mehr oder minder ist als der im Großen ausgedrückte,- ununterbrochen<br />

im Kleinen tobende <strong>und</strong> wütende Kampf der Einzelindividuen <strong>und</strong> der Klasse<br />

wider einander. Dieser Konflikt wird hervorgerufen durch die juristisch-legale<br />

Ausbeutung, die der Besitzende an dem Besitzlosen verübt, durch die Niederwerfung<br />

jeden Versuches, jeden Vorstoßes vonseiten des Unterdrückten,<br />

sich sein Lebensrecht zu erobern, welche Vereitelung vom Staate herbeigeführt,<br />

durchgesetzt wird. Solange es Hunger, Elend <strong>und</strong> Not gibt, gibt es<br />

auch einen Kampf innerhalb derjenigen Gesellschaft, in der sich diese Furien<br />

befinden. Und da die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sehr<br />

oft das Leben <strong>und</strong> die Existenz von unendlich vielen Menschen opfert, ist<br />

es nur Sentimentalitätssache, sich wider den im Großen geführten Krieg aufzulehnen,<br />

den im Kleinen geführten, seinem Opferumfange gemäß aber oftmals<br />

verlustreicheren Kleinkrieg jedoch ruhig gewähren zu lassen.<br />

Der Staat führt einen ununterbrochenen Krieg gegen den Besitzlosen.<br />

Dieser Guerillakrieg ist die Keimzelle des Krieges zwischen den Nationen.<br />

Zwei Arten von Armeen sind bereit, den Arbeiter niederzuschlagen in seinen<br />

gerechten Lebensansprüchen, <strong>und</strong> sie tun es auch nur zu oft: auf industriellem<br />

Gebiet hält sich die moderne Gesellschaft ihre ökonomische R e -<br />

vervearmee zurecht,-auf politischem den offiziellen Militarismus. Auch dies<br />

ist ein Kampf zwischen zwei Gemeinschaften: auf der einen Seite steht die<br />

Welt der Arbeit, auf der anderen der Staat mit seinem Soldatentum, seinen<br />

sonstigen Elementen: Polizei, Spione, Zuchthauswächter <strong>und</strong> Henker. Und<br />

wenn wir oben sagen, der Staat führe einen ununterbrochenen Krieg gegen<br />

den Besitzlosen, weil Schwächeren, so haben wir hier wieder eine Fülle von<br />

Analogien im Kriege. Jeder Krieg ist nämlich nichts anderes als der Angriff<br />

einer Macht durch eine andere, welche sich für die Stärkere hält <strong>und</strong> da<br />

glaubt, die schwächere unterjochen zu können. W i e also im modernen<br />

Staatenleben der Militarismus immer nur herrisch ist gegen den Unbewaffneten,<br />

dem natürlicherweise Schwächeren, so ist der Krieg selbst nichts anderes,<br />

als der Fehdezug einer von brutalen, schrecklichen Instinkten <strong>und</strong><br />

* Sie, diese Verehrung, unbedingte Untertänigkeit unter den Geboten des angestammten<br />

Herrscherhauses, die Entwertung des eigenen Lebens zu Gunsten der Autorität, bildet den<br />

Hauptinhalt j e d e r Religion, <strong>und</strong> Religion im dogmatischsten Sinne ist j ed e autoritäre<br />

Lehre von der Staatsoberhoheit. Bezeichnend dafür, wie ausschließlich zweckdienlich die Religionen<br />

von den weltlichen Autoritäten zu Nutz <strong>und</strong> Frommen ihrer eigensten Interessen umgestaltet<br />

wurden, das zeigt uns der Japanei Tamenaga S c h u n s u i tot seit 1342 — in<br />

seinem Nationalroman „Treue Uber alles", in dem eine Verherrlichung der Vasallentreuc geboten<br />

wird, Treue gegen den Herrn, den angeborenen, wie den auserkorenen, ist nach der<br />

von den Japanern schon früh übernommenen Ethik des chinesischen Lehrers Confuzius die<br />

eine der fünf Tugenden, die der Mensch vor allen anderen zu üben verpflichtet sei. Diese<br />

Treue gebietet nicht nur u n b e d i n g t e n G e h o r s a m , s o n d e r n a u c h f r e u d i g e H i n -<br />

g a b e d e s e i g e n e n L e b e n s u n d d e s L e b e n s a l l e r G l i e d e r d e r e i g e n e n F a m i l i e<br />

im D i e n s t d e s H e r r n . Hier haben wir den philosophischen Gr<strong>und</strong>stein der Autoritätslehre<br />

vor uns, gleich, unverändert geblieben bis auf den heutigen Tag. Selbstverständlich schließt<br />

der unbedingte Gehorsam jede Widerrede aus. So heißt es auch : „Die T a t ist stumm, der<br />

Gehorsam blind!" Und wie nun, wenn der Herr eine Tat verlangt, die den Geboten der<br />

Moral <strong>und</strong> der Vernunft widerspricht? In diesem Dilemma, so lehrt uns die obige Autoritätsdoktrin,<br />

gibt es für den Diener nur e i n e n Ausweg: er muß s i c h selbst e n t l e i b e n !<br />

Sein stummer M<strong>und</strong> mochte dann den Herrn veranlassen, Uber das Unsittliche oder Törichte<br />

seines Ansinnens nachzudenken. Die japanische Geschichte ist reich an ergreifenden Beispielen<br />

dieser sklavischen Unterwürfigkeit <strong>und</strong> Treue.<br />

Trieben erfüllten M a s s e oder Volksmenge, angestachelt von den aus kühler<br />

Berechnung im Hintergr<strong>und</strong>e wirkenden sozialpolitischen Mächten, wider ein<br />

schwächeres Volk oder eine schwächere Herrschaftssippe. Somit d.rklariert<br />

sich der Krieg selbst als die Vergewaltigung des offenk<strong>und</strong>ig Schwächeren;<br />

der Krieg ist also die große sozialpolitische Feigheit des Staates.<br />

Gehen wir nun über zur Betrachtung des Militärismus, wie er heute<br />

ist, sich herausschälte während der letzten zwei Jahrh<strong>und</strong>erte, denn er ist in<br />

seiner modernen Form nicht viel älter.<br />

Thibaudeau teilt uns folgenden Ausruf Napoleons mit, den dieser<br />

während der Beratungen des Staatsrates machte: „Die Konskription ist das<br />

abscheulichste <strong>und</strong> für die Familien hassenswerteste Gesetz, o b s c h o n es<br />

l e i d e r n ö t i g i s t f ü r d i e S i c h e r h e i t d e s S t a a t e s " . Diese Sicherheit<br />

des Staates, die sich um das Abscheuerregende <strong>und</strong> Hassenswürdige also nicht<br />

bekümmert, sondern ruhig ihren gemein-egoistischen Selbstzweck verfolgt,<br />

können wir in der ganzen Entwicklungsgeschichte der letzten zwei Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

des Militarismus beobachten. Es ist die Geschichte der Groß-<br />

Staaten, die Geschichte der Allianz der Staaten wider, besonders im letzten<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert, das aufstrebende Bürgertum <strong>und</strong> Proletariat, eine Geschichte,<br />

deren historische Prozesse sich nur vollziehen können auf Gr<strong>und</strong>lage der<br />

Errichtung einer" immer stärkeren, immer konzentrierteren Militärmacht,<br />

welche nachgerade eine solch' polypenartige Aussaugung <strong>und</strong> Umfangung<br />

der Menschheit erreicht hat, daß sie jährlich r<strong>und</strong> 6 Milliarden Kronen zur<br />

Aufrechterhaltung ihrer militaristisch-maritimen Kräfte aus eben dieser<br />

Menschheit schlagen kann.<br />

H e u t e haben die Völker die Zechen der Kriege zu bezahlen, <strong>und</strong><br />

deshalb führt ein jeder Krieg in seinen Folgeerscheinungen einen größeren<br />

Druck <strong>und</strong> eine noch größere Steuerbelastung für die unglücklichen Volksmassen<br />

mit sich.<br />

Der moderne Militarismus ist hervorgegangen aus dem Volksheer, der<br />

sogenannten Bürgerwehr <strong>und</strong> dem Söldner- <strong>und</strong> Landsknechtwesen. Die<br />

letzteren waren die verachtetsten Volkskreise, aus ihnen rekrutierte sich der<br />

Ruhm des mittelalterlichen Krieges. Es gibt mehrfache Unterschiede zwischen<br />

dem Militarismus des Altertums, sagen wir z. B. Athens, jenem des Mittelalters<br />

<strong>und</strong> der Neuzeit. Vor allem ist das Volksheer eine demokratische Einrichtung,<br />

eben dadurch, daß ihm die e i n e , alles überragende Persönlichkeit<br />

des allein maßgebenden Tyrannen mangelt, der ausschließlich entscheidend<br />

ist über Krieg oder Frieden. Das Volksheer des Altertums, auch die Bürgerwehr<br />

des Mittelalters waren unzweifelhaft demokratische Verteidigungs- <strong>und</strong><br />

Angriffsmilitarismen, indem die Kämpfenden, besonders im Altertum, wirklich<br />

i h r e e i g e n e n , materiell-persönlichen Interessen zu verteidigen hatten<br />

oder zu fördern suchten. Sonst aber — <strong>und</strong> das muß ganz entschieden betont<br />

werden — ist das Volksheer (auch M i l i z genannt) e i n e g e n a u s o<br />

u n t e r j o c h e n d e , k u l t u r f e i n d l i c h e , a l l e S c h ä d e n d e s mod<br />

e r n e n M i l i t a r i s m u s , d e s s t e h e n d e n H e e r e s , d a r w e i s e n -<br />

de M a c h t , wie dieser selbst. Denn — <strong>und</strong> es ist ein Akt der Ehrlichkeit,<br />

den wir durch diese Entlarvung vollziehen! —, in Wahrheit besteht, wie<br />

oben ersichtlich, nur ein F o r m unterschied zwischen dem Volksheer <strong>und</strong><br />

dem modernen stehenden Heer. Dort, wo das letztere den e i n e n Maßgeblichen<br />

hat, befindet sich beim Volksheer allerdings n i c h t e i n e Persönlichkeit,<br />

sondern eine s t a a t l i c h e K ö r p e r s c h a f t v o n P e r s o n -<br />

l i c h k e i t e n . Es läuft auf dasselbe hinaus, denn der Bestand der Macht<br />

<strong>und</strong> der Waffenrüstung <strong>und</strong> der verallgemeinerten kriegerischen Erziehung<br />

allein sind schon ganz genügend, um ein Volk sehr kriegerisch werden zu<br />

lassen, w a s im gegebenen Falle dann vom Staat, dem Repräsentanten der<br />

Besitzinteressen, ausgenützt wird. Weitere bedeutende Unterschiede existieren<br />

zwischen dem Volksheer <strong>und</strong> dem stehenden Heer nicht. Wir sprechen hier<br />

stets vom Volksheer innerhalb der Monarchie oder Republik. Bezeichnend<br />

für die Kurzsichtigkeit der Sozialdemokratie in ihrem lächerlichen Enthusiasmus<br />

für das Volksheer ist allerdings, daß der moderne Militarismus entwicklungsgemäß<br />

-aus jenem hervorging, solches ganz logisch geschehen<br />

mußte, da ihm mit der Zunahme der staatlichen Zentralisation <strong>und</strong> ihrer<br />

Machtsphären einfach ein Kopf geboten wurde. Das stehende Heer des modernen<br />

Militarismus ist eigentlich nur das mit dem Haupte des Despotismus<br />

versehene Volksheer.<br />

B i s ins 17. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein brachten die Fürsten <strong>und</strong> überhaupt<br />

Herrschenden allein die Kosten der Kriege auf. Wollten sie nicht tiefer in<br />

den eigenen Säckel greifen, so verlegten sie sich eben auf das Plündern.<br />

Doch noch war der Krieg i h r e S a c h e <strong>und</strong> wurde um ihretwillen geführt<br />

<strong>und</strong> für die Führung hatten sie dem Bürgertum <strong>und</strong> den Söldnern gut zu<br />

zahlen. Man besaß noch nicht jene entsetzliche Ironie, 'in d i e s e n Dingen<br />

mit dem Volke k o m m u n i s t i s c h zu verfahren <strong>und</strong> es g e s e t z m ä ß i g<br />

zu verfügen, daß das Volk alle die Kosten bestreiten müsse, die ein Krieg<br />

verursacht. Erst die Neuzeit trat in dieser Hinsicht bahnbrechend auf. Und<br />

es war — schon damals eine düstere Vorbedeutung, ein b ö s e s Omen für<br />

die Rolle, die dieser Name in den zukünftigen Geschicken der Völker von<br />

ganz Europa spielen sollte — ein P r e u ß e n , das es sich zuerst leisten<br />

konnte, dieses Tartuffeprinzip, diese diabolische Methode, die das Leben der<br />

Völker <strong>und</strong> deren Gut <strong>und</strong> Eigentum für die Interessen der Machthaber involviert,<br />

einzuführen <strong>und</strong> zur Anwendung zu bringen. Es wird behauptet,<br />

daß Preußen in seinem Vorgehen ein edles, würdiges Vorbild in d e r<br />

T ü r k e i besaß, deren riesige Janitscharenkaserne zu Konstantinopel anspornend<br />

wirkte. Somit können wir zu den Ahnen des europäischen Militarismus<br />

sehr wohl einen solchen von asiatischer Abkunft hinzuzählen. —<br />

„ D a s G e s e t z d e s R e c h t e s a u f a l l g e m e i n e V e r g e w a l -<br />

t i g u n g " , wie der passendste Ausspruch eines bekannten Denkers die moderne<br />

Institution des Militarismus, seinen allgemeinen Dienst z w a n g , nannte,<br />

ist eine Schändung jedes ethischen <strong>und</strong> humanen Prinzips der Menschheit.<br />

Der Militarismus besitzt keinerlei rationelle Verteidigungs- <strong>und</strong> Begründungsargumente,<br />

er ist dasjenige Verbrechen der Gewaltsausübung im Großen,<br />

das uns im Kleinen als verachtungswürdig <strong>und</strong> hassenswert erscheint, das<br />

wir aber lernen müssen, auch im Großen zu bekämpfen. Kein Geringerer<br />

als Häckel hat dies ausgeführt: Junge, blühende, kräftige Männer werden, sobald<br />

sie eine gewisse Altersstufe erreicht haben, aus ihren Familien gerissen<br />

<strong>und</strong> einem Zustande willenlosester, demütigendster Unterwerfung überantwortet.<br />

Diesen Zustand nennt man Militarismus. Es wird den Menschen gezeigt,<br />

wie sie ihre Mitmenschen töten <strong>und</strong> morden können, man weist ihnen<br />

die Methoden der Zerstörung dessen, was man als die Früchte produktiver<br />

Arbeit bezeichnen kann, man lehrt sie, die Verwüstung blühender Landstrecken,<br />

die Vernichtung des Glückes von ungezählten Tausenden von Familien<br />

als eine kaltblütig hinzunehmende Selbstverständlichkeit zu betrachten,<br />

die ihre Motivierung <strong>und</strong> Apologie in dem Wörtchen „Krieg" findet. Aus<br />

Menschen werden so reißende Bestien für einen Kriegsfall gemacht, zu<br />

Friedenszeiten werden sie zu solchem Tun abgerichtet, <strong>und</strong> der Soldat darf<br />

sich nie weigern, eine ihm sittlich als schändlichste T a t geltende H a n d -<br />

l u n g zu begehen. Von dem Momente an, wo er dies täte, wäre er ein<br />

s c h l e c h t e r Soldat, <strong>und</strong> es ist Tatsache, daß das System des Waffendrilles<br />

es so weit gebracht hat, daß Millionen von Menschen an einer eigentümlichen<br />

Krankheit leiden: man nennt sie Willen- <strong>und</strong> Urteilslosigkeit;<br />

<strong>und</strong> alle diese Millionen sind k e i n e schlechten, sondern g u t e Soldaten.<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl lsda in Wien.<br />

Fortsetzung folgt.


An das arbeitende Volk, an die revolutionären Sozialisten!<br />

Die St<strong>und</strong>e der Landtagswahl rückt heran. Von allen Parteien, auch von den sogenannt sozialistischen» getäuscht <strong>und</strong><br />

betrogen, ein Opfer des unsäglich erbärmlichen, fieberhaften Mandatenfanges aller Parteien, ist es in diesem letzten Augenblicke<br />

unsere Pflicht, euch Allen, die ihr arbeitet, ausgebeutet <strong>und</strong> unterdrückt seid, die Situation möglichst klar vor Augen zu führen, euch<br />

zu beweisen, daß ihr, soweit ihr irgend welchen Kandidaten sämtlicher Parteien Glauben, euer Vertrauen schenket, ihr v o n ihnen<br />

getäuscht werdet.<br />

Eure Lage ist schlecht. Die Proletarier Österreichs haben seit über einem Jahrzehnt ihre Lage nicht nur nicht verbessert,<br />

sondern eine Arbeiterbewegung aufgebaut, die alles andere ist als eine soziale Kampfesbewegung <strong>und</strong> keinerlei Möglichkeit für die<br />

Aktion der Selbsthilfe bietet. Sie ist mit Mühe <strong>und</strong> Not errichtet worden, beruht aber heute vollkommen auf dem System der Vertretung.<br />

Die Führer, die Politiker auf gewerkschaftlichem wie sozialpolitischem Gebiete sind es, die allein aus dieser «Arbeiterbewegung»<br />

ihren Vorteil ziehen; die breiten Massen haben keinen Vorteil von ihr, diejenigen kleinen <strong>und</strong> kleinlichen «Versicherungen-, die sie<br />

ihnen bietet, sind auch durch rein bürgerliche Versicherungsinstitute zu gewährleisten.<br />

Und wie ist die soziale Situation überhaupt? Schritt für Schritt hat die Regierung durch die Gewährung sogenannter<br />

politischer Scheinrechte, die Ausbeutungsmöglichkeiten der Massen erhöht, die Besteuerungsschraube indirekt potenziert angesetzt.<br />

Hohe Lebensmittelpreise für schlechte Produkte, eine riesige Miete für Wohnungslöcher- <strong>und</strong> Höhlen, einen im Vergleiche damit<br />

positiv gesunkenen Lohn <strong>und</strong> eine verminderte Kaufkraft des Geldes das ist das Resultat der letzten zehn J a h r e österreichischer<br />

Sozialpolitik <strong>und</strong> E l e n d s l a g e des Volkes, dies sind unsere Zustände.<br />

Dabei haben wir einen riesenhaft angewachsenen Militarismus, ein riesig angewachsenes Heer von parlamentarischen<br />

Diäten- also Rentenbeziehern, eine ungeheuer vergrößerte Bürokratenschichte, kurz sämtliche Stützen <strong>und</strong> Funktionsorganismen des<br />

heutigen Systems, von der Spitze der Pyramide an bis hinab zu den kleineren Beamten, sie alle sind kolossal angewachsen, profitieren<br />

riesig durch die vermehrte Ausbeutung der Arbeitenden.<br />

Das System der Ausbeutung <strong>und</strong> Herrschaft hat sich eine stärkere Gr<strong>und</strong>lage um die andere angeschafft; die ausgebeuteten<br />

<strong>und</strong> beherrschten, also unterdrückten Volksmassen werden gräßlich übervorteilt; das Massenelend, die Arbeitslosigkeit, der Jammer<br />

des Daseins haben sich vermehrt; ihnen, den Armen, ist ein Halt nach dem anderen entrissen worden.<br />

Um diesen Zuständen zu steuern, gibt es für das Gesamtvolk nur ein einziges, untrügliches Mittel: diese Zustände müssen<br />

vollkommen, von Gr<strong>und</strong> auf g e ä n d e r t w e r d e n , die bestehenden Gr<strong>und</strong>lagen unseres Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialsystems müssen<br />

aufgehoben <strong>und</strong> durch wirklich gerechte, durch wirklich freie ersetzt werden. Sie sind nur gelegen im Gesellschaftszustand der<br />

menschlichen Freiheit <strong>und</strong> Solidarität, in der Abwesenheit jeder staatlichen Bedrückung <strong>und</strong> ökonomischen Lohnsklaverei: im k o m m u -<br />

nistischen A n a r c h i s m u s , a l s o der Vollreife des sozialistischen Gedankens.<br />

Zu diesem Zwecke wurde die österreichische Arbeiterbewegung begründet. Welchem Zweck steuert sie heute zu? Keinem<br />

revolutionären, keinem sozialistischen, keinem freiheitlichen; mehr <strong>und</strong> mehr verknöcherte sie zu einer parlamentarischen Trugspielerei,<br />

die H<strong>und</strong>erttausende von Kronen zwecklos vergeudet <strong>und</strong> verschlingt; mehr <strong>und</strong> mehr ward sie eine Bewegung ehrgeiziger Streber,<br />

die den Kampf ums bittere Gegenwartsdasein <strong>und</strong> eine freie Zukunft umzuwandeln verstanden in eine Lebenshaltung der gesicherten<br />

Existenz <strong>und</strong> wohlbezahlter, politischer Posten — für sie <strong>und</strong> sich.<br />

Wenn die bürgerlichen Parteien — sämtliche 33 Parteien in allen Kronländern, von den Christlichsozialen <strong>und</strong> Deutschnationalen<br />

an bis zu den unverhülltesten Klassengegnern des Proletariats oder kleinsten Parteien — , wenn sie alle dem Volke in der<br />

gegenwärtigen Wahlperiode das Blaue vom Himmel versprechen, so wissen die denkenden Menschen unseres Volkes, die leidenden<br />

Kameraden <strong>und</strong> Brüder im Proletariat, was von ihnen zu halten. W i r wissen, daß sie s a m t <strong>und</strong> s o n d e r s offene B o u r g e o i s -<br />

parteien sind, deren einzige Aufgabe darin besteht, die heutige Klassengesellschaft aufrecht zu erhalten <strong>und</strong> zu stützen. Sie sind<br />

im Einklang mit dem Kapitalismus der herrschenden Rücksichtslosigkeit, sind seine Vollstrecker, <strong>und</strong> für sie ist die Landtagswahl,<br />

wie der Parlamentarismus überhaupt, ein Geschäft, dessen Profit sie machen <strong>und</strong> nichts weiter. Alle ihre Versprechungen sind eitel<br />

Lügen <strong>und</strong> Stimmenfang, denn sie wissen, daß der Landtag nichts für das Volk leisten kann, was tatsächlich ein Fortschritt über<br />

die heutige Gesellschaft hinaus wäre; <strong>und</strong> nur dann, wenn sie aufrichtig gestehen würden, daß der Landtag höchstens in seiner<br />

Majorität ein Almosen-Unterstützungs- <strong>und</strong> Wohltatigkeitsgebaren dem Volke zu geben vermag, n a c h d e m er die dafür erforderlichen<br />

Mittel durch weitere Steuern aus dem Volke gepreßt, dann sprächen sie die Wahrheit.<br />

Schließlich ist dies auch die einzige F ü r s o r g e , deren das bestehende Gesellschaftssystem fähig. Alle diejenigen, die diese<br />

Fürsorge anerkennen, sie selbst <strong>und</strong> mitausüben wollen, sind Stützen der bestehenden Ausbeutung <strong>und</strong> Unterdrückung, zwecks deren<br />

scheinbarer Linderung sie ja ureigentlich besteht, diese «wohltätige Fürsorge für die besondere Rückwirkung auf das Wohl des Landes».<br />

Etwas ganz anderes ist es, wennii sich Sozialdemokraten an einer solchen Wahl beteiligen. Wir kommen nun zur Besprechung<br />

der letzten Partei, die wir haben, der 34., <strong>und</strong> wir fordern euch, Arbeiter, auf, a u c h ihr den R ü c k e n zu kehren, wie<br />

sämtlichen a n d e r e n 33 Parteien.<br />

Und warum? Aus folgendem Gr<strong>und</strong>e: Während alle anderen Parteien kapitalistische Parteien <strong>und</strong> Interessenvertretungen<br />

sind, ihr, Proletarier, also nichts mit ihnen zu tun haben könnt, ist die letztgenannte Partei, die Sozialdemokratie, die Partei des<br />

Volksbetruges, der sich annähernd ebenbürtig in dieser edlen Kunst nur die Christlichsozialen zur Seite stellen können. Ihr verlangt<br />

die Beweise, hier sind sie.<br />

Angeblich sind Sozialdemokraten auch Sozialisten. In dem wüsten, mit allseitig schwindelhaften Argumenten geführten<br />

Wahlkampf um Mandate, hört ihr freilich nichts davon. Per Begriff Sozialismus wird vollständig verdeckt, der Begriff revolutionärer<br />

Erziehung des Proletariats hat keinen Raum in dieser «Aufklärung» des Stimmviehs, das Endziel unseres sozialistischen Kampfes ist<br />

noch von keinem sozialdemokratischen Kandidaten auch nur ein einziges Mal betont worden.<br />

Aber dies wäre noch lange nicht das Ärgste. Dies beweist bloß, daß die W a h l e n keine Agitation für den Sozialismus<br />

bedeuten, s o n d e r n nur einen Z w e c k für das ehrgeizige Streber- <strong>und</strong> Politikertum aller P a r t e i e n haben.<br />

Etwas anderes ist wichtiger, es straff die Versprechungen dieser Partei — der Sozialdemokratie — Lügen. Sie versprechen,<br />

falls gewählt <strong>und</strong> falls das Unmögliche für den Augenblick als möglich angenommen — sie die Majorität erhielten, eure Verhältnisse<br />

zu verbessern, eure Lage zu heben, kurz den Landtag zu einem sozialen Werkzeug für die Volksbedürfnisse umzugestalten.<br />

Dies ist nichts a n d e r e s als eine direkte Spekulation auf die politische Unkenntnis des P r o l e t a r i a t s <strong>und</strong> des Volkes<br />

im allgemeinen. Die Wahrheit ist nämlich die: Es gibt keine Partei, die, selbst wenn sie die Majorität hätte, im Landtag anders<br />

wirken könnte, als es bisher laut den österreichischen Verfassungsgesetzen geschah, also als Stützpfosten des Kapitalismus, als ordnende<br />

Sachwalter der staatlichen Autorität im Interesse des bestehenden Staatssystems.


Eine solche Betätigung ist sehr wohl im Einklang mit den Prinzipien fettgemästeter Bourgeois, Kapitalisten <strong>und</strong> Herrscher<br />

aller Grade; ist jedoch der direkte Verrat an den Prinzipien einer sozialistischen Bewegung, die die b e s t e h e n d e n Verhältnisse<br />

aufzuheben, nicht a b e r auszubauen hat. Solange die reichsdeutsche Sozialdemokratie auch nur den Schein revolutionärer Gesinnung<br />

bewahrte, verwarf sie aus diesem Gr<strong>und</strong>e die Beteiligung an den Landtagswahlen auf das entschiedenste. Revolutionäre<br />

Sozialisten haben nichts in den Gemeinde- <strong>und</strong> Nachtwächterstuben, in den Kirchen- <strong>und</strong> Schulangelegenheiten, in den Vorspannsleistungen,<br />

mit Verpflegungs- <strong>und</strong> Einquartierungsangelegenheiten des Heeres u. dgl., Polizei- <strong>und</strong> Justiz<strong>und</strong>ingen mehr zu tun. Revolutionäre<br />

Sozialisten wissen, daß die sogenannte Autonomie der Wirkungskreise des Landtages ein Märchen ist, daß dieser völlig<br />

unter der leitenden Kontrolle der Zentralherrschaft steht. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e bekämpft der revolutionäre Sozialist alle diese Institutionen;<br />

er weiß, daß, soweit sie der Ausbeutung, dem Religionswahn <strong>und</strong> dem Patriotismus — wie die staatliche Schule•-- dienlich,<br />

sie das bourgeoise System ganz allein besorgt, daß eine Beteiligung an ihnen es verhindert, a u ß e r h a l b der Institutionen des<br />

B e s t e h e n d e n die neuen Organisationen des Sozialismus <strong>und</strong> der neuen Zukunftsgesellschaft sich zu erkämpfen <strong>und</strong> zu erbauen;<br />

wie es z. B. die französischen Gewerkschaften tun, die nun darangehen, den staatlichen Schulen ihre Kinder zu entziehen <strong>und</strong> sie<br />

in eigene, auf sozialistischen Gr<strong>und</strong>sätzen errichteten Schulen zu senden.<br />

«Eure Kritik ist ganz richtig, sie ist wahrheitsgemäß. Aber ihr vergeßt ganz, daß auch die Sozialdemokraten den Landtag<br />

kritisieren <strong>und</strong> mit seinen Leistungen unzufrieden sind. Doch gerade deshalb müssen wir eigens gewählte Vertreter im Landtagsparlament<br />

haben, damit sie die Dinge von dort aus verbessern!»<br />

So entgegnet man uns. Und hier beginnt eben der Volksbetrug, den die Sozialdemokraten mit den Volksmassen treiben.<br />

Sie reden ihnen ein, daß sie, wenn in genügender Anzahl gewählt, mehr tun könnten oder würden, als irgend eine andere Partei.<br />

Das ist es g e r a d e , w a s wir den Volksbetrug der S o z i a l d e m o k r a t i e nennen.<br />

Die Sozialdemokraten wissen, daß ebenso wie jede Gesetzesabstimmung im Reichsrat dem Veto des Herrenhauses unterliegt,<br />

auch der Landtag keinerlei selbständige exekutive Verfügungsmacht besitzt. Der Wirkungskreis des Landtages ist wie folgt<br />

eingeschränkt, existiert also als selbständige Funktionsmöglichkeit überhaupt nicht:<br />

Die zu beschließenden Gesetze in Landesangelegenheiten gelangen als Regierungsvorlagen vor den Landtag. Jedoch hat auch<br />

der Landtag das Recht, Gesetze in Landesangelegenheiten vorzuschlagen. Die Gesetze erhalten durch die Zustimmung des Landtages<br />

<strong>und</strong> die kaiserliche Genehmigung Kraft. Der Kaiser kann einem jeden vom Landtage beschlossenen Gesetze die Zustimmung verweigern.<br />

Die kaiserliche Zustimmung zu einem vom Landtag beschlossenen Gesetze erfolgt Über A n t r a g des Ministerpräsidenten (der bekanntlich<br />

vom Kaiser ernannt <strong>und</strong> entlassen wird). Es steht dem Ministerpräsidenten frei, ein solches Gesetz zur kaiserlichen Sanktion zu<br />

beantragen oder nicht. Sämtliche Gesetze, die die kaiserliche Sanktion nicht erhalten haben, können in derselben Session nicht wieder<br />

in Behandlung gezogen werden.<br />

Erkennt ihr nun, Proletarier, wie sehr es direkt unmöglich ist, auch nur das Geringste in eurem revolutionär-sozialistischen<br />

Interesse im Landtag zu unternehmen? Begreift ihr noch nicht, weshalb die Herren Parlamentarier euch alle die Rosinenversprechungen<br />

machen? Sie wollen gewählt werden, weil dies für Sie allerdings von eminentem Geldinteresse ist. Besonders wichtig ist jener Passus<br />

des Oktober-Diplomes, der den Wirkungskreis für die Landtage bestimmt <strong>und</strong> der davon handelt, daß der Ministerpräsident ganz<br />

nach eigenem Belieben ein Gesetz der kaiserlichen Sanktion unterbreiten mag oder nicht!<br />

Wer dem Proletariat unerfüllbare Versprechungen macht, wer den Wählermassen die Lüge vorplärrt, er werde, wenn gewählt,<br />

durch die bloße Majoritätsabstimmung die Lebenslage des Volkes im Gegensatz zu den Interessen der Besitzenden verbessern, ist ein<br />

Demagoge; ein solcher ist aber stets ein bewußter Volksbetrüger.<br />

Wir klagen die Sozialdemokratie des schleichenden Volksbetruges an; eben weil sie vorgibt, k e i n e Bourgeoispartei, von<br />

der ja nichts anderes zu erwarten, sondern eine Volks- <strong>und</strong> Arbeiterpartei zu sein. Nicht nur, daß sie den Sozialismus verrät — man<br />

denke: Sozialdemokraten, die doch wohl wenigstens Republikaner sein sollen, geloben (<strong>und</strong> nur wegen der Diäten!) beim Eintritt<br />

in den L a n d t a g dem L a n d m a r s c h a l l laut Gesetz, d e m Kaiser T r e u e <strong>und</strong> G e h o r s a m , B e o b a c h t u n g der Gesetze <strong>und</strong><br />

gewissenhafte Erfüllung ihrer Pflichten als L a n d t a g s w ü r d e n t r ä g e r zu b e w a h r e n ! —, sie täuscht das arme, gedrückte <strong>und</strong><br />

elende Volk über den Kampfesweg, den es zu beschreiten hat, um tatsächlich seine Lage zu verbessern.<br />

Dieser wirkliche W e g ist nicht die Schaffung von Diätenposten für A b g e o r d n e t e . Dieser wirkliche W e g ist<br />

der W e g des sozialen Klassenkampfes, der sozialen Selbsthilfe durch die P r o l e t a r i e r <strong>und</strong> die sich mit ihm verb<br />

ü n d e n d e n Volkselemente.<br />

Ihr wollt bessere Lebens- <strong>und</strong> Arbeitsbedingungen? Laßt euch nicht niederschießen für eure galizischen Landtagsstreber,<br />

sondern erringt lieber durch den sozialen Generalstreik den Achtst<strong>und</strong>entag <strong>und</strong> einen Minimallohn von wenigstens 10 Kronen<br />

täglich! — Ihr klagt über Lebensmittelteuerung, Milchverteuerung etc.? Schafft euch Einkaufsgenossenschaften, die nicht Geschäfts<strong>und</strong><br />

Angestellten-, sondern wirklichen sozialistischen Zwecken dienen. Verlangt von euren Reichsratsabgeordneten die h<strong>und</strong>erttausende<br />

Kronen zurück, die ihr zu den diversen Wahlfonds beigesteuert habt; kauft damit H<strong>und</strong>erte von Kühen <strong>und</strong> errichtet auf dem Lande<br />

sozialistische Molkereien. (Beiläufig bemerkt: ohne Diäten werden eure Abgeordneten das Parlamentspiel sehr bald von selbst satt<br />

bekommen <strong>und</strong> euch die Wahrheit über seine Nutzlosigkeit sagen!) — Ihr wollt anständige Wohnungen <strong>und</strong> niedere Mieten haben?<br />

Gründet eure eigenen Baugenossenschaften <strong>und</strong> ländlichen Ansiedlungen; lernt von den Arbeitern Neapels, die durch einen Mieterstreik<br />

die Miete um 20 Prozent reduzierten! — Man verspricht euch, eure Kinder, die sonst hungrig in die Schule gehen, mit Suppen<br />

abzufüttern? Spuckt jenen, die euch dies sagen, verachtend ins Gesicht <strong>und</strong> sagt: Wir wollen für einen solchen Arbeitslohn kämpfen,<br />

auf daß wir unseren Kindern in unseren Wohnungen zu essen geben können, eurer erbärmlichen »Wohltätigkeit« (mit unseren<br />

eigenen Steuern) nicht bedürfen! — Ihr wollt, ihr wollt . . . Alles, was ihr wollt (<strong>und</strong> eure Wünsche sind so gottesjämmerlich bescheiden!),<br />

könnt ihr, Arbeiter, durch plangemäße, zielbewußte Kampfesorganisation euch a u ß e r p a r l a m e n t a r i s c h wohl erkämpfen,<br />

dieweil ihr durch den Landtag stets genarrt, gedehmütigt <strong>und</strong> als Bettler, denen man Almosen gibt, behandelt sein werdet. Nicht für<br />

euch stimmt ihr in der Wahl eurer Kandidaten, sondern für ihre Interessen tut ihr es; ihr setzt euch selbst Herren auf den Nacken,<br />

die dadurch üppig leben können <strong>und</strong> bittet von ihnen, sie mögen euch helfen. Ist dies männlich? Ist das sozialistisch? Ist dies<br />

logisch? Seid keine vertrauensselige Stimmviehherde, vertraut keinen Führern, die euch billige Versprechungen machen; vertrauet euch<br />

selbst, vertrauet eurem Kampfe für euer Recht, für Gerechtigkeit <strong>und</strong> vollständige Befreiung.<br />

Denn um diese handelt es s i c h ! Es handelt sich wohl auch um momentane Verbesserungen. Aber dann sind sie wirklich<br />

nur durch des Volkes eigene Kraft, nicht durch Politiker <strong>und</strong> Parlamente zu erzielen. Doch die Wahrheit ist die, daß alle augenblicklichen<br />

Verbesserungen im Rahmen des bestehenden Systems keinerlei d a u e r n d e n Wert haben können. Es gilt: die Gr<strong>und</strong>lage<br />

des bestehenden menschenschändenden Systems, die Institutionen des monopolisierten Privateigentums <strong>und</strong> der zentralisierten Staatsgewalt<br />

zu entfernen erst dann sind wir frei, erst dann ist der Sozialismus eine Möglichkeit.<br />

Niemals läßt sich dieser große historische Schritt aus dem Reiche der Sklaverei <strong>und</strong> Ausbeutung in die freie Gemeinschaft<br />

solidarisch verbrüderter Menschen auf dem <strong>Weg</strong>e der Gesetzgebung vollziehen. Niemals! Die Herrschenden wären Toren <strong>und</strong> Verblendete,<br />

wenn sie sich sozial meucheln ließen; <strong>und</strong> sie sind keine Toren, sie sind weitsichtiger <strong>und</strong> klassenbewußter, als es das<br />

Proletariat bis heute ist.<br />

Nur durch ein einziges Mittel ist es möglich, den Bau der sozialen Lohnsklaverei <strong>und</strong> des Unterdrückungszwanges lahmzulegen:<br />

durch die sozialistisch prinzipielle Aufklärungsaktion <strong>und</strong> durch die von ihr erfüllte direkte A k t i o n der Selbsthilfe, die mittels<br />

der dynamischen Kraft des Massenwillens die bestehenden Verhältnisse laut ihren geistigen <strong>Ziel</strong>en, ihren sozialistischen Idealen umgestaltet!<br />

Massenorganisation auf föderalistischer Gr<strong>und</strong>lage; unaufhörliche soziale Kampfesaktion zur Erringung von augenblicklichen<br />

<strong>und</strong> durch diese weiteren Zwecken; revolutionär sozialistische Prinzipienpropaganda <strong>und</strong> dementsprechende Lebensführung der Propagandisten;<br />

ununterbrochene Begeisterung der Kämpfermassen für wirklich sozialistische Aktionen, tatsächliche Wirtschaftlich« Verbesserungen;<br />

kurzum: Generalstreik für soziale Lebensfragen der Gegenwart; direkte Aktion des Proletariats an Stelle der indirekten<br />

Vertreter* <strong>und</strong> Schachermisere der Gegenwart; Ausbau sozialistischer Lebensgemeinschaften im Gegensatz zu den Gr<strong>und</strong>prinzipien der bestehenden<br />

Weltordnung -- dies, Proletarier, sei eure Gegenwartsaktion, sie ist es, die euch nottut, nur dies allein wird uns geleiten zur<br />

großen Befreiungsperiode der beschleunigten Entwicklung: z u r sozialen Revolution!<br />

Arbeiter, Volksgenossen, Sozialisten, die ihr diese Zeilen leset: entwürdigt euch nicht zum Stimmvieh! Die obigen Ausführungen<br />

sind Wort für Wort unbestreitbare Tatsachen. Und deshalb appellieren wir an euch, beweist euren revolutionären Sinn,<br />

indem ihr jedes Vertreter-(<strong>und</strong> Zertreter-)system für euch über Bord werfet <strong>und</strong> gemeinsam sagt:<br />

Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk dieser Klasse selbst sein! Wer dies <strong>und</strong> unsere obigen Darlegungen<br />

begriffen hat, der weiß, was er zu tun. Er stimmt gegen alle Kandidaten, diese Reinschmeißer« des politischen Geschäftes, <strong>und</strong> für<br />

deren Wohlergehen die Regierung durch den Wahlzwang liebreich sorgt, gegen alle Parteien <strong>und</strong> sein Motto lautet:<br />

Gegen alle politischen Streberkliquen, gegen jeden Volksbetrug! A u f , für den wahren Kampf um den Sozialismus,<br />

für Gleichheit <strong>und</strong> Freiheit!<br />

Die Anarchisten Wiens.


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Auf Agitation.<br />

(Fortsetzung.)<br />

In Bruch selbst haben wir eine vorzügliche<br />

tschechische anarchistische Bewegung. Man stelle<br />

sich nur vor, daß dieses Landstädtchen z w e i anarchistische<br />

Lesehallen, zwei Einkaufsgenossenschaften,<br />

die in Streikzeiten Waren unentgeltlich an die Arbeiter<br />

abzugeben haben, eine Bäckerproduktivgenossenschaft<br />

hat. Die einzelnen Organisationen<br />

führen ein hohes geistiges Leben <strong>und</strong> versammeln<br />

sich wöchentlich einmal zur Abwicklung der Geschäftsangelegenheiten,<br />

weit öfter zwecks Propaganda.<br />

Direkte Aktion als Klassenkampfmittel der<br />

ökonomischen Befreiung, Antimilitarismus als Anti-<br />

Staatlichkeit <strong>und</strong> dabei ein konstruktives Gegenwartsbauen<br />

<strong>und</strong> -Streben für die Zukunft, durch<br />

Begründung sozialistischer Produktivvereinigungen<br />

ihren sozialen Machtboden zu erweitern - dies<br />

fand ich unter diesen Kohlengräbern. W a s die S o -<br />

zialdemokraten Nordböhmens anbelangt, spielen sie<br />

hier gar keine Rolle; ich habe zu ihnen gesprochen<br />

<strong>und</strong> als bemerkenswertestes Zeichen die von keiner<br />

aufklärenden Propaganda berührte Unwissenheit<br />

ihres Geistes angetroffen. Es ist überhaupt merkwürdig:<br />

auf der einen Seite die anarchistischen<br />

Gewerkschafter, die sich in allen sozialen P r o b -<br />

lemen tüchtig auskennen, auf der anderen die s o -<br />

zialdemokratischen, die, während man ihnen das<br />

ABC des Sozialismus bietet, einen anstaunen, als<br />

ob man eine Art Messias wäre. „ D a s , was Sie<br />

uns sagen, haben wir noch nie gehört, das bieten<br />

uns unsere Führer nicht; von ihnen hört man immer die<br />

alte Leier", das waren die Worte vieler dieser ehrlichen,<br />

wenn auch mißbrauchten Arbeiter, Worte,<br />

die eine treffende Illustration zu der unerhörten<br />

Geistesverdummung bilden, die einerseits Christlichsoziale,<br />

anderseits Sozialdemokraten an diesen b e -<br />

dauernswürdigen Proletariern verüben, die aber in<br />

nicht allzulanger Zeit den richtigen Boden des<br />

Klassenkampfes finden werden.<br />

An zwei Kameraden denke ich besonders,<br />

wenn ich über Bruch schreibe. Es sind dies die G e -<br />

nossen Draxl <strong>und</strong> Scheffel, beide Kohlengräber, die<br />

in Frankreich unter weit besseren Lebensbedingungen<br />

arbeiteten, die es aber zurücktrieb nach Böhmen,<br />

um den prächtigen Zug der französischen Arbeiterbewegung<br />

dem tschechischen <strong>und</strong> deutschböhmischen<br />

Proletariat vorzuführen, nach hier zu verpflanzen.<br />

Und in Nordböhmen ist es ihnen in erfreulichem<br />

Maßstabe gelungen. Es sind zwei<br />

Kameraden, die man lieben <strong>und</strong> hochschätzen muß ;<br />

vorzügliche Propagandisten <strong>und</strong> von erstaunlich<br />

hohem Wissensgrad.<br />

Von Bruch fuhr ich nach Dux, wo ich die<br />

Kameraden Krampera <strong>und</strong> den alten Pionier Kasche<br />

als Redakteure der „Hornicky Listy" antraf. Sie<br />

arrangierten die ostböhmischen Versammlungen.<br />

Ich hatte hier Gelegenheit, in das Verwaltungsgetriebe<br />

der gesamten Bergarbeiterorganisation<br />

unserer Seite Einblick zu gewinnen. Es ist so, wie<br />

es unter Revolutionäre sein muß. Keiner der zwei<br />

angestellten Kameraden, die das Wochenblatt redigieren<br />

<strong>und</strong> expedieren, erhält als Lohn auch nur<br />

so viel, wie er im Schacht verdienen könnte, gerade<br />

genug, um das Notdürftigste zu bestreiten, so „hoch"<br />

ist ihre Entlohnung. Dabei glaube man nicht, ;daß<br />

hier aus der Not eine Tugend gemacht wird; die<br />

Kohlengräberföderationen haben hinreichend Geld,<br />

um höhere Löhne bezahlen zu können, wenn sie<br />

es nur wollten. Aber sie gehen von dem sehr richtigen<br />

Gr<strong>und</strong>satz aus, daß kein Funktionär irgend<br />

einer Arbeiterorganisation mehr verdienen dürfe, als<br />

die Arbeiter selbst, notabene: durch seine Beamtenstelle<br />

bei den Arbeitern. Nicht zuletzt hat gerade<br />

das Horrende der sozialdemokratischen Beamtenlohnskalen<br />

dazu beigetragen, daß die Sozialdemokratie<br />

<strong>und</strong> ihre Gewerkschaftsführer tatsächlich<br />

nichts als Bourgeois sind, die aus der Arbeiterbewegung<br />

ein gutes Geschäftchen machen. Man<br />

bedenke, daß fast alle Reichsratsabgeordneten auch<br />

Gewerkschafts- oder Krankenkassenbeamte sind <strong>und</strong><br />

ihr Einkommen sich monatlich auf r<strong>und</strong> 800 Kronen<br />

belauft man wird es dann begreifen, woher die<br />

Wut dieser Herren gegen revolutionäre Kampfesmethoden<br />

<strong>und</strong> Antiparlamentarismus.<br />

Von Dux aus fuhr ich nach Westböhmen, wo<br />

ich in Zieditz, Zwodau <strong>und</strong> Lanz bei Falkenau<br />

sprach. Hier bieten die Versammlungen wieder<br />

einige bemerkenswerte, festzuhaltende Erscheinungen.<br />

Ich befand mich im Herzen der sogenannten<br />

freisozialistischen Bewegung, <strong>und</strong> es ist notwendig,<br />

zur Orientierung unserer Kameraden, daß wir bei<br />

ihr etwas länger verweilen.<br />

Dort draußen, in diesen kleinen Talkesseln<br />

<strong>und</strong> Dorfansiedlungen am Rücken der sogenannten<br />

Randgebirge überhaupt, ist die Sozialdemokratie fast<br />

vollständig aufgerieben <strong>und</strong> die „freisozialistische"<br />

Bewegung maßgebend. Und ich stehe keineswegs<br />

an, gleich hinzuzufügen, daß hier unbedingt etwas<br />

geleistet wurde. Aber nur, insoferne sich diese Arbeiter<br />

über den Haß gegen die Sozialdemokratie<br />

h i n a u s zu wirklich braven Anhängern einer<br />

Geistesanschauung entwickelt haben, die tatsächlicher,<br />

freiheitlicher — also anarchistischer Sozialismus<br />

ist. In dieser Entwicklung sind sie von Simon<br />

Starck n i c h t gefördert worden, gerade das Gegenteil.<br />

Es ist nämlich eine spezifisch nur österreichische<br />

Möglichkeit, ein Ausfluß der in Österreich überhaupt<br />

grassierenden Unwissenheit über das Geschichtliche<br />

des Sozialismus, daß dasjenige, w a s in der ganzen<br />

übrigen Welt als gleichbedeutend mit anarchistischem<br />

Sozialismus gilt daß der „freiheitliche Sozialismus"<br />

h i e r gleichbedeutend mit B e r n s t e i n i a n i sm<br />

u s, respektive R e v i s i o n i s m u s in bürgerlichem<br />

Sinne ist. Freilich, nicht überall, aber doch meistenteils,<br />

wie man weiter unten sehen wird. Die Ausnahmen<br />

davon sind nicht das Verdienst der B e w e -<br />

gung, sondern rein individuelle, anerkennenswerte<br />

Verdienste.<br />

Simon Starcks Persönlichkeit, die ich nun<br />

zum ersten Mal kennen lernte, besitzt in Falkenau<br />

<strong>und</strong> Umgebung ein sicheres F<strong>und</strong>ament infolge<br />

zahlreicher persönlicher Beziehungen aus seiner<br />

Vergangenheit als Arbeiter. Leider, leider. Denn es<br />

ist kein heilsamer Einfluß, den dieser Mann auf<br />

diese durchwegs ehrlichen, wenn auch teilweise<br />

arg fanatisierten Elemente ausübt. Davon, daß er<br />

in Wien überhaupt keinerlei Rolle spielen kann <strong>und</strong><br />

hier von seinen ältesten Fre<strong>und</strong>en längst über Bord<br />

geworfen, davon wissen die Arbeiter in diesen entlegenen<br />

Bergtälern nichts. Sie sind nur höchst unzureichend<br />

über seine nachgewiesenen Annäherungsv<br />

e r s u c h e an die christlichsoziale Partei informiert.<br />

Diese Arbeiter sind in ihrer Lektüre meistenteils<br />

auf die „Freien Worte" angewiesen <strong>und</strong> wer<br />

die Qualität d i e s e s Blattes nicht kennt, kann sich<br />

schon dadurch ein zutreffendes Urteil darüber bilden,<br />

wenn ich ihn versichere, daß die Herren Adler,<br />

Austerlitz usw., sich schmunzelnd die Hände reiben<br />

dürfen, wenn sie sich vorstellen, daß s o ihre Opposition<br />

beschaffen ist! Als ich mich in Zieditz aufhielt,<br />

brachte das Blatt gerade die welterschütternde<br />

Neuigkeit, daß der uralte Christlichsoziale Prinz<br />

Liechtenstein eigentlich freiheitlicher Sozialist<br />

sei oder sein könnte!! Und mit solchen Geistesprodtukten<br />

werden Arbeiter intellektuell gespeist . .<br />

Die „freisozialistische" Bewegung sollte eine<br />

Korrektur der Sozialdemokratie sein. Ein löbliches,<br />

wenn auch unausführbares Beginnen. Die Sozialdemokratie<br />

kann nämlich nur von einer höheren<br />

Gedankenwelt als ihrer eigenen überw<strong>und</strong>en werden;<br />

wird es auch. Als demokratisch-radikale Kleinbürgerpartei,<br />

die das Proletariat mit ins politische<br />

Schlepptau nehmen mußte (wie sonst Parlamentssitze<br />

erringen?), ist sie vollkommen auf ihrem Boden,<br />

<strong>und</strong> auch die marxistischen Phrasen hindern in<br />

keiner Weise ihre aktuelle, kleinbürgerliche Betätigung.<br />

Deshalb ist der Revisionismus nichts Neues<br />

in ihr, sondern nur die mit ihrem Gesamtanwachsen<br />

naturgemäß stärker werdende Tendenz der politischen<br />

Selbstbehauptung, die gerade weil sie groß<br />

geworden <strong>und</strong> nun „etwas" leisten m u ß, eine L e b e n s -<br />

frage für sie. Programmatisch tritt die „freisozialistische"<br />

Bewegung öffentlich revisionistisch auf <strong>und</strong><br />

glaubt damit, die noch immer sich marxistisch verklausulierende<br />

Partei übertreffen zu können. Ein<br />

politischer <strong>und</strong> taktischer Trugschluß, Sie wird niemals<br />

dazu gelangen, da die Sozialdemokratie i n<br />

d e r P r a x i s ganz ebenso auftritt, wie die freisozialistische<br />

Partei, dieser dadurch jedes weitere<br />

Lebensgebiet außerhalb des persönlichen Umkreises<br />

von Starck entziehend. *<br />

Fortsetzung folgt. Pierre Rannis.<br />

Österreich.<br />

Ö s t e r r e i c h i s c h e G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g !<br />

Zwei Dokumente sind es, die ein helles <strong>und</strong> unwiderlegbar<br />

deutliches Streiflicht auf sie werfen;,<br />

eine Agitationsschrift der „Gewerkschaftskommission"<br />

<strong>und</strong> der uns soeben zu Gesicht kommende<br />

Rechnungsabschluß des „Verbandes der Holzarbeiter".<br />

Beleuchtet die erstere die Gesamtheit unseres<br />

Gewerkschaftswesens, so ist letzterer wieder<br />

bezeichnend für die innere Struktur unserer einzelnen<br />

Gewerkschaften.<br />

Wenn man die Agitationsschrift von der ersten<br />

bis zur letzten Seite durchgelesen hat, wird man<br />

n i c h t e i n e i n z i g e s M a l auf das Wort „Sozialismus"<br />

stoßen. Und dies ist eine in H<strong>und</strong>erttausenden<br />

zu verbreitende Flugschrift, die unentgeltlich<br />

abgegeben wird! Wir lesen da die durchsichtigsten,<br />

zweideutigsten Demagogensprüchlein<br />

von den „großen" Gewerkschaften, ihren vielfachen<br />

Unterstützungseinrichtungen, u. a., auch von den<br />

„H<strong>und</strong>erten von Tarifverträgen", haben lange statistische<br />

Tabellen vor uns über die Finanzgebahrung,<br />

sogar den Stand der F a c h p r e s s e ; kurzum, es<br />

wird prunkend mit Zahlen umhergeworfen, wie es<br />

jede renommierte Geschäftsfirma gleichfalls tut. Nur<br />

von einem einzigen Dinge verlautbart kein Wörtchen:<br />

v o m S t r e i k . Über allen ihren statistischen<br />

Berechnungen haben die~Herren der Gewerkschaftskommission<br />

ganz an dieses Zweckmittel der ganzen<br />

Gewerkschaftsbewegung vergessen; wie im praktischen<br />

Leben auch. Oder haben sie es absichtlich<br />

ausgelassen, weil sie dann auch andere Saiten als<br />

jene der Erfolge hätten aufziehen <strong>und</strong> erklingen<br />

lassen müssen?<br />

Hin i n t e r e s s a n t e s S t ü c k i s t d e r<br />

R e c h n u n g s a b s c h l u ß (1. Jänner bis 3 1 . Dezem-<br />

1907) des obgenannten Verbandes. Unwillkürlich<br />

sagt man sich, wenn man diese Ausgabenziffern<br />

überfliegt: „Aha, d e s h a l b so begeistert für Zentralismus!"<br />

Auch hier lesen wir nichts von Streikunterstützungen,<br />

sondern nur von allen möglichen<br />

Unterstützungsfonds, um deretwillen es wirklich<br />

keine Gewerkschaftsbewegung zu geben brauchte;<br />

für derlei gibt es viele bürgerliche Versicherungsinstitute.<br />

Noch interessanter wird die Sache, wenn<br />

wir uns dem Posten „Verwaltungskosten" zuwenden.<br />

Da lesen wir: Gehalte <strong>und</strong> Entschädigungen<br />

r<strong>und</strong> 22 Tausend, für Kassierentschädigung 8½ T a u -<br />

send <strong>und</strong> dann wieder in ominöser Sprache, für<br />

„Sachliche Verwaltungsauslagen" (?) über 23½ T a u -<br />

send Kronen! Dabei ist nichts spezifiziert, einfach<br />

die Totalsumme wird gegeben, die Einzelarbeiter<br />

haben keine Möglichkeit, über das Einkommen dieses<br />

oder jenes Einzelbeamten nachzudenken <strong>und</strong><br />

zu erwägen.<br />

Das Blatt dieses Verbandes „Der Holzarbeiter",<br />

erscheint wöchentlich. Über dessen geistige Qualität<br />

maßen wir uns kein Urteil an, das steht allein<br />

dem Leser zu. Aber über etwas a n d e r e s : über den<br />

Redaktionsposten von 5205 Kronen. Dies ist ein<br />

wöchentliches Gehalt von r<strong>und</strong> 100 Kronen; daneben<br />

stehen noch andere Posten, für „Delegierungen"<br />

587, für „Honorar" (?) r<strong>und</strong> 8 5 9 Kronen. - Also<br />

der Redakteur des „Holzarbeiter" steht sich mit der<br />

Arbeiterbewegung weit besser, als viele Tausende<br />

von Journalisten an der Bourgeoispresse. Und wenn<br />

man bedenkt, daß es ein Gr<strong>und</strong>satz der französischen<br />

Gewerkschaftsbewegung ist, ihren Angestellten<br />

n i e m a l s mehr zu bezahlen, als sie in der<br />

Fabrik verdienen könnten, dann läßt sich der Haß<br />

gegen Föderalismus <strong>und</strong> das süße Kosen des Zentralismus<br />

sehr wohl begreifen.<br />

Noch eins: Aus dem „Fachblätterfonds" wurde<br />

auch ein Beitrag „An d e n W a h l f o n d s " in der<br />

Höhe von 12.750 Kronen gedeckt. Das ist sehr interessant,<br />

noch interessanter aber die Frage, ob<br />

die gewählten Parlamentarier mit der Rückzahlung<br />

dieses Beitrages schon begonnen haben ? Jedenfalls<br />

ist auch in Oesterreich die Zeit nicht mehr fern, wo<br />

man Rechenschaft fordern wird von den Gewählten,<br />

<strong>und</strong> wo man dann kategorisch erklären wird: Die<br />

Gewerkschaften sind nicht dazu da, um die Melkkuh<br />

für Leute abzugeben, die ein arbeitslosen Einkommen<br />

von 6 0 0 Kronen pro Monat anstreben!<br />

Heute ist es noch still; noch hofft <strong>und</strong> harrt<br />

das genarrte Volk. Aber sein Erwachen wird<br />

schrecklich sein für die politischen Streber, <strong>und</strong><br />

dieses Erwachen ist umso gewisser, als eine solche,<br />

total verbourgeoisierte Gewerkschaftsbewegung, wie<br />

die österreichische, dem Ansturm des vordringenden<br />

Kapitalismus schon heute nicht gewachsen ist. Wie<br />

erst in der nächsten Zukunft nicht! Dann ist die<br />

Zeit gekommen, die unsere gegenwärtige Arbeit<br />

krönen wird: U m w a n d l u n g d e r G e w e r k -<br />

s c h a f t s b e w e g u n g i n s o z i a l i s t i s c h e<br />

K a m p f e s k ö r p e r , d e r e n e i n z i g e r Z w e c k<br />

d e r r a s t l o s e , r e v o l u t i o n ä r e V o r s t o ß<br />

w i d e r S t a a t u n d K a p i t a l i s m u s s e i n m u ß !<br />

W a s die eine H a n d tut, sieht die a n d e r e<br />

nicht. In Österreich <strong>und</strong> Ungarn erklären die S o -<br />

zialdemokraten, daß das Wahlrecht, insbesondere<br />

die Wahlreform in Ungarn, Sache des Volkes,<br />

gegenwärtig sein lebendigstes Interesse sei. Meinen<br />

die Herren das wirklich ehrlich mit ihren Papierresolutionen<br />

<strong>und</strong> ihren knabenhaften Drohungen?<br />

Wir glauben es nicht. Sie haben nicht einmal den<br />

mildernden Umstand der Begeisterung für eine<br />

wertlose, aber i h r e r Ü b e r z e u g u n g n a c h<br />

bedeutende S a c h e für sich.<br />

Man lese im Berliner „Vorwärts" vom 19. S e p -<br />

tember in einem Korrespondenzbrief aus Wien die<br />

folgenden Zeilen:<br />

„ . . . A b e r s o v i e l E i n s i c h t w i r d i n<br />

d e r H o f b u r g d o c h n o c h v o r h a n d e n<br />

s e i n , u m z u e r k e n n e n , d a ß s i e d i e V e r -<br />

b e s s e r u n g i h r e r Stellung, d a ß s i e e i n e E r -<br />

h ö h u n g i h r e r d y n a s t i s c h e n M a c h t a u s s c h l i e ß -<br />

l i c h d e m W a h l r e f o r m p r o g r a m m d a n k t ,<br />

d a ß i h r d e r s c h ü c h t e r n e V e r s u c h e i n e r<br />

v o l k s t ü m l i c h e n P o l i t i k V o r t e i l e e i n g e -<br />

b r a c h t hat, a u f d i e s i e v o r d r e i J a h r e n<br />

w o h l s e l b s t n i c h t g e r e c h n e t . "<br />

W e r hat diese Zeilen g e s c h r i e b e n ? Warum<br />

wird hier in Österreich n u r von uns Anarchisten<br />

es dem Volke gesagt, daß sein ganzes Tun im Interesse<br />

des allgemeinen Parlamentarismus nur G e -<br />

schäftsausführung f ü r d i e B o u r g e o i s i e <strong>und</strong> für<br />

die Krone war <strong>und</strong> ist? Weshalb preisen hier, im<br />

Inlande, die Sozialdemokraten das allgemeine W a h l -<br />

recht im Klassenstaate als eine V o l k s e r u n g e n -<br />

schaft, während sie nur im Auslande der Wahrheit<br />

die Ehre geben <strong>und</strong> sagen, was es ist: e i n Betörungsmittel<br />

d e s V o l k e s i m I n t e r e s s e<br />

d e r M a c h t h a b e r u n d i h r e r K r i p p e n j ä g e r !<br />

Und solche Herren sollen es „ehrlich" meinen,<br />

wie manches Mal man glauben möchte? Ebenso<br />

„ehrlich" wie die Vertreter der reaktionären, bürgerlichen<br />

Parteien. Denn schon längst sind die<br />

Sozialdemokraten Fleisch <strong>und</strong> Bein von ihnen g e -<br />

worden, gleichen aufs Haar deren Beutejägern, die<br />

ihnen die Diäten streitig machen <strong>und</strong> sich mit<br />

ihnen darum balgen.<br />

* Ein geradezu glänzend zu nennender Erfolg<br />

war unsere Wählerversammlung im X. Bezirk in<br />

den großen Rosensälen, die unter dem Motto:<br />

„Gegen alle Parteien, gegen jeden Volksbetrug!"<br />

verlief. Die 1½ sündigen Ausführungen des Gen.<br />

Ramus wurden zum Schluß lebhaft applaudiert,<br />

<strong>und</strong> es entspann sich nun eine wirklich hochinteressante<br />

Debatte, die zwischen Christlichsozialen,<br />

Sozialdemokraten <strong>und</strong> Anarchisten — <strong>und</strong> stets im


Rahmen gegenseitiger Wahrung der Anständigkeit!<br />

— geführt wurde. „Die Wertlosigkeit der Landtagswahlen<br />

f ü r d a s P r o l e t a r i a t " wurde eigentlich<br />

von allen Rednern aufs vortrefflichste variiert.<br />

- Vorher hatten wir eine gute Versammlung im<br />

II. Bezirk im Café „Stephanie". Es hatte sich ein<br />

vornehmlich aus Studenten <strong>und</strong> kleineren Geschäftsleuten<br />

bestehendes Publikum eingef<strong>und</strong>en, dem<br />

Ramus seine Ansichten über die „Modernen Entwicklungsphasen<br />

in der sozialen Bewegung" vortrug.<br />

Der Vortrag fand merkwürdigerweise keine<br />

Gegnerschaft, <strong>und</strong> erklärte der Vorsitzende, unser<br />

Fre<strong>und</strong> Kaplanzky, der die Versammlung arrangiert<br />

hatte, er müsse diese zionistische Vereinigung davor<br />

bewahren, eine exklusiv marxistische genannt<br />

zu w e r d e n ; sie sei sozialistisch im Sinne einer<br />

Vereinigung a l l e r Strömungen der sozialistischen<br />

Idee. - Gut besucht war auch die Versammlung<br />

im XIV. Bezirk bei Schlor, wo Gen. Ramus über<br />

das T h e m a „Die gegenwärtige Situation in der<br />

österreichischen Gewerkschaftsbewegung" sprach.<br />

Raummangels halber kürzen wir diesen Bericht <strong>und</strong><br />

machen die Kameraden nur des weiteren auf die<br />

folgenden Wählerversammlungen aufmerksam:<br />

S o n n t a g d e n 18. O k t o b e r 1908, 10 U h r v o r -<br />

m i t t a g s , X X . , T r e u s t r a ß e 74. Montag den<br />

19. Oktober, 8 Uhr abends, XIII., Kuefsteingasse 32<br />

<strong>und</strong> Dienstag den 20. Oktober, 8 Uhr abends, XIV.,<br />

Märzstraße 33. Die anderen zwei projektierten<br />

Versammlungen müssen leider ausfallen, da keine<br />

freien Lokalitäten aufzutreiben sind.<br />

Deutschland.<br />

Einen erzinfamen Halunkenstreich leistete sich<br />

die reichsdeutsche Polizei gegen unser Bruderblatt<br />

„Revolutionär" in Berlin. Unter dem Vorwande<br />

einer Hausdurchsuchung nahm sie alles, was nicht<br />

niet- <strong>und</strong> nagelfest war, mit, vorenthielt dasselbe<br />

durchaus ungesetzlich für ganze fünf T a g e dem<br />

zuständigen Richter <strong>und</strong> verursachte damit das<br />

Nichterscheinen einer Nummer des Blattes. Das<br />

sind russische Provokationen, <strong>und</strong> sie werden eine<br />

gebührende Antwort finden. — Auch unser anderes<br />

Bruderblatt „Der freie Arbeiter" wurde wegen eines<br />

Artikels „An die Rekruten" beschlagnahmt <strong>und</strong><br />

Strafantrag wider dasselbe gestellt.<br />

Spanien.<br />

Nach einer kurzen Unterbrechung erscheint<br />

die regelmäßige Herausgabe unseres vorzüglichen<br />

Bruderblattes i n Barcelona, „ T i e r r a y L i b e r -<br />

t a d " wieder gesichert zu sein. Wir rufen den Kameraden<br />

ein freudiges Glückauf zu <strong>und</strong> glauben<br />

unseren Gefühlen über das Neuerscheinen dieser<br />

gediegenen Zeitschrift nicht besser Ausdruck verleihen<br />

zu können, als indem wir unsere vollständigste<br />

Übereinstimmung mit dem nachfolgenden<br />

Brief durch dessen Übersetzung konstatieren. Dieser<br />

Brief ist das Schreiben eines großen Pioniers der<br />

spanischen anarchistischen Bewegung, der mit<br />

Fanelli die ersten Sektionen der alten „Internationale"<br />

in Spanien begründete:<br />

„Geliebte Kameraden <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e!<br />

Ich empfing mit besonderer Freude eure<br />

Karte, den Ausdruck der Liebe, die ihr zu mir hegt.<br />

Sich geschätzt <strong>und</strong> geliebt zu sehen von Personen,<br />

die sich über die Leiden der heutigen Gesellschaft<br />

emporheben bis zur Erhabenheit des Kampfes für<br />

ein Ideal, ist eine ehrende Auszeichnung für mich.<br />

Aber mir verursacht etwas dabei Schmerzen, das<br />

was ihr mir sagt von der Zeitung. In der Tat, zu<br />

sehen, wie dieses Organ der Befreiung, des Denkens,<br />

durch die Regierung vernichtet wird, wie es so oft das<br />

Feld räumen muß, durch die Gewalt der Regierung,<br />

die Lügen der Politik, die Lügen in allen Formen<br />

<strong>und</strong> Darstellungen - das ist schmerzlich.<br />

Was mich anbelangt, erkläre ich mich als<br />

n i c h t besiegt. In meinem Inneren, in der Glut<br />

meines Herzens, im Besitze der Festigkeit meiner<br />

Wahrheit betrachte ich mich stets als Sieger, weil<br />

ich mich selbst erkenne als erhaben über alle<br />

Feinde meines Ideals <strong>und</strong> erhaben auch über die<br />

schwächlichen Fre<strong>und</strong>e, deren Seelen zittern vor<br />

der Schwierigkeit. Darum fühle ich es für so viele<br />

Unglückliche, Unterdrückte, Tyrannisierte <strong>und</strong> Ausgebeutete,<br />

für welche unsere Z e i t u n g dienen<br />

könnte als Führer, als Ratgeber <strong>und</strong> als Hoffnung.<br />

Ihr schreibt mir nachträglich, daß das Blatt<br />

nicht gestorben ist. Ich sage euch: Versuchet, es<br />

wieder groß zu machen! Ich kann euch wenig<br />

helfen; denn mit der Feder dieses alten Anarchisten,<br />

der nicht scheiden will von der Welt, ohne der<br />

Freiheit den ganzen Ausdruck seiner glühenden<br />

Liebe dargeboten zu haben, ist nicht viel getan.<br />

Zeigt eure Aktionsfähigkeit! Das war mein Glaube<br />

das ganze lange Leben hindurch!<br />

Brüderlich euer<br />

A n s e l m o L o r e n z o .<br />

*<br />

A l c a l á d e l V a l l e ! Nichts, auch nicht die<br />

Zeit, die alles verwischt, wird aus unserem G e -<br />

dächtnis die Erinnerung verschwinden machen an<br />

jenen allbekannten Zeitpunkt, der einmal bewies,<br />

daß die Solidarität der Arbeiter stärker ist als die<br />

Bosheit der jeweiligen Tyrannen, die, bezwungen<br />

durch diese Solidarität, die gefolterten Arbeiter freigeben<br />

mußten.<br />

Noch aber sind nicht alle frei! Laut der<br />

„Tierra y Libertad" befinden sich in der Festung<br />

S a n M i g u e l d e l o s R e y e s (Valencia) n o c h<br />

s e c h z e h n u n s e r e r G e n o s s e n a l s O p f e r<br />

der spanischen Henker. Die Arbeiter von Spanien,<br />

ja die Arbeiter der ganzen Welt, alle Menschen, in<br />

allen L ä n d e n <strong>und</strong> Orten, die die Gerechtigkeit<br />

würdigen <strong>und</strong> lieben, dürfen nicht eher zurückweichen,<br />

bis eine vollkommene Wiedervergeltung<br />

erreicht ist, durch die Freilassung der Betreffenden.<br />

Kameraden, auch wir in Österreich müssen<br />

uns an dem Werk der Befreiung beteiligen. Auch<br />

unsere Stimme muß sich vereinigen mit jener der<br />

spanischen Kämpfer: Die Befreiung der politischen<br />

Gefangenen des neuen Alcalá del Valle wird ein<br />

Triumph der menschlichen Gerechtigkeit sein!<br />

E n g l a n d .<br />

Wir entnehmen der Oktobernummer des Londoner<br />

„ T h e I n d u s t r i a l i s t " :<br />

Die „Industrialist-League (der englische Ausdruck<br />

für revolutionäre Gewerkschaftsbewegung) ist<br />

eine propagandistische Körperschaft, deren Zweck<br />

es ist, den W e g für eine große revolutionäre G e -<br />

werkschaftsbewegung in Großbrittanien vorzubereiten.<br />

<strong>Unser</strong>e Gr<strong>und</strong>sätze sind einfach <strong>und</strong> leicht<br />

verständlich. Wir haben die Überzeugung, daß alles<br />

Notwendige <strong>und</strong> Angenehme im Leben durch die<br />

Arbeiter geschaffen <strong>und</strong> verteilt wird, die mit ihrer<br />

körperlichen <strong>und</strong> geistigen Arbeitskraft die W e r k -<br />

zeuge <strong>und</strong> Maschinen zur Nutzbarmachung der<br />

Rohmaterialien in Bewegung setzen; <strong>und</strong> daß deshalb<br />

die Arbeiter selbst gemeinsam den Reichtum<br />

genießen sollten, den sie schaffen. Da die Arbeiter<br />

der verschiedensten Berufszweige <strong>und</strong> Industrien<br />

zusammenwirken müssen, um diese Sachen herzustellen<br />

(von welchen ungefähr 4<br />

/ 5 der Klasse<br />

der Unternehmer zufällt, welche gar nicht bei<br />

der Hervorbringung derselben mithelfen), so gibt<br />

es keinen Gr<strong>und</strong>, warum wir nicht zusammenwirken<br />

sollten, um diese Sache für u n s s e l b s t<br />

zu s c h a f f e n u n d zu v e r t e i l e n . Dies ist das<br />

<strong>Ziel</strong> unserer Bewegung: Die Errichtung einer Arbeitergemeinschaft,<br />

in welcher weder Armut noch<br />

unnützer Luxus bestehen wird; eines wirtschaftlichen<br />

Gemeinwesens, in welchem die p o l i t i s c h e<br />

M a c h t — d i e H e r r s c h a f t d e s M e n s c h e n ü b e r<br />

d e n M e n s c h e n — a u f g e h ö r t h a t , z u b e -<br />

s t e h e n , <strong>und</strong> wo die wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale<br />

Organisation der Arbeiter selbst die Gr<strong>und</strong>lage der<br />

Gesellschaftsordnung ist.<br />

Um das zu verwirklichen, ist es notwendig,<br />

daß wir uns als eine Klasse in den Fabriken, Werkstätten,<br />

Bergwerken <strong>und</strong> landwirtschaftlichen B e -<br />

trieben vereinigen, <strong>und</strong> eine wirtschaftliche Organisation<br />

schaffen. Dazu müssen wir eine industrielle<br />

Vereinigung aller Arbeiter errichten, denn die b e -<br />

stehenden 1138 verschiedenen Gewerkschaften<br />

(Trade Unions) in England haben, mit zwei oder<br />

drei Ausnahmen, alle das e i n g e s t a n d e n e B e -<br />

s t r e b e n , das bestehende System der Lohnsklaverei<br />

aufrecht zu erhalten, wenn sie nur für<br />

ihren besonderen Beruf ein paar nebensächliche<br />

Verbesserungen erreichen können. Ja, viele anerkennen<br />

die „nützliche <strong>und</strong> wichtige" Stellung der<br />

Unternehmer <strong>und</strong> den „gerechten Anteil", welchen<br />

der Arbeitgeber ihnen nehmen darf! Wenn die Mitglieder<br />

einer bestehenden Gewerkschaft den Unsinn<br />

der alten Methode — der „gemeinsamen Interessen"<br />

zwischen Kapitalisten <strong>und</strong> Arbeitern — einsehen,<br />

so müssen sie ihre Gewerkschaft bewegen, sich der<br />

industriellen Vereinigung anzuschließen, denn nur<br />

durch diese Form der Organisation ist ein einheitliches<br />

Vorgehen möglich. Die industrielle Vereinigung<br />

wird alle Waffen gebrauchen: den Streik,<br />

die p l ö t z l i c h e Arbeitseinstellung, den teilweisen<br />

sowie den Generalstreik, ganz wie es die Gelegenheit<br />

fordert; ebenso den Boykott <strong>und</strong> die T a k t i k :<br />

„ F ü r s c h l e c h t e B e z a h l u n g — s c h l e c h t e<br />

Arbeit".<br />

Das Bestreben, das Land <strong>und</strong> die Maschinen<br />

jenen abzuringen, die auf dieselben ein „Eigentumsrecht"<br />

geltend machen wollen, führt zu einem Zusammenstoß<br />

mit den Kräften der Regierung, die<br />

zum Schutze dieses Eigentumsrechtes gegründet<br />

worden sind. Die industrielle Vereinigung erkennt<br />

diese Tatsache, <strong>und</strong> sagt, daß ihre Mitglieder g e -<br />

meinsam gegen diese Kräfte Armee, Kriegsmarine<br />

<strong>und</strong> Polizei, <strong>und</strong> alle Stützen des Staates<br />

— ankämpfen müssen. <strong>Unser</strong> Erfolg bedeutet die<br />

Beseitigung des Staates. Darum fordern die Industrialisten<br />

ihre Arbeitsbrüder auf, nie freiwillig den<br />

obigen Organisationen beizutreten*, denn diese<br />

können jeden Moment gegen die Arbeiter g e -<br />

braucht werden, so wie dies in der Vergangenheit<br />

geschehen ist."<br />

Also auch in England tagt es! Und auch<br />

Ö s t e r r e i c h soll nicht lange mehr auf sich warten<br />

lassen !<br />

Australien.<br />

Vor etwa 1 ½ Monaten brach i n S y d n e y<br />

(Neu-Süd-Wales), ein Streik der Tranibahnarbeiter<br />

aus. Da die Straßenbahnen v e r s t a a t l i c h t , also<br />

Staatsmonopol sind, erweckte dieser Ausstand ungeheures<br />

Interesse in der Bevölkerung. Den letzten<br />

Anstoß zum Streik gab die Entlassung eines B e -<br />

diensteten wegen „Veruntreuung von Fahrkarten",<br />

trotzdem die Beweisumstände das Gegenteil ergaben.<br />

* W i e b e k a n n t , g i b t e s i n E n g l a n d k e i n e a l l g e m e i n e M i -<br />

l i t ä r p f l i c h t : d i e S o l d a t e n w e r d e n zum g r ö s s t e n T e i l a n g e w o r b e n .<br />

A n m . d. R e d .<br />

Die Vorbereitung für den Streik war großartig<br />

<strong>und</strong> ward mit viel Umsicht getroffen. An einem<br />

Donnerstag abends wurde der Beschluß gefaßt, die<br />

Arbeit einzustellen. Den darauffolgenden Tag, punkt<br />

12 Uhr, ließ man alle Wagen in den Straßen <strong>und</strong><br />

blieb dabei stehen, um etwaige Streikbrecher a b -<br />

zuwehren. Wie in so vielen Kämpfen zwischen<br />

Kapital <strong>und</strong> Arbeit, so auch hier. Die Ingenieure<br />

der elektrischen Filiale blieben in Arbeit <strong>und</strong> ermöglichten<br />

dadurch, die verlassenen Wagen in die<br />

Hallen zu bringen.<br />

Die Streikenden hielten nun eine Versammlung<br />

ab, zu der man Delegierte aller Gewerkschaften<br />

einlud. E i n a l l g e m e i n e r A u s s t a n d<br />

der ganzen Stadt sollte erklärt werden. So ziemlich<br />

alle Delegierten stimmten dafür. Große Hoffnung<br />

setzte man auf die Eisenbahner. Von dieser<br />

Seite aus rührte sich aber nichts. Auf eine Anfrage<br />

des Präsidenten der Trambahnangestellten, was sie<br />

zu tun gedächten, antworteten sie, daß die T r a m -<br />

bahnarbeiter k e i n e n G r u n d h ä t t e n , i n den<br />

Ausstand zu treten! Bereits am 28. konnte das<br />

Gouvernement den Betrieb, wenn auch vorerst<br />

schwach, wieder herstellen.<br />

So wurde dem Streik das Genick gebrochen.<br />

W a s ist nun der Gr<strong>und</strong>, der dies alles so rapide<br />

schnell geschehen ließ?<br />

Die Arbeiter Australiens haben leider noch<br />

kein richtiges Klassenbewußtsein. Man läuft noch<br />

viel zu viel mit der Idee umher, daß es nur die<br />

eigene Schuld ist, nicht auch Besitzer einer Goldmine,<br />

großer Ländereien oder Fabriken zu sein.<br />

Die sozialdemokratische Arbeiterpartei verhielt<br />

sich, wie wir erwarteten, furchtsam <strong>und</strong> verräterisch.<br />

Wieder einmal wurden die Arbeiter geschlagen,<br />

dadurch, daß sie von ihren Führern nicht zu<br />

Kämpfern (die ihre S a c h e selbst in die Hände<br />

nehmen können), sondern zu Stimmvieh erzogen<br />

werden. Dadurch Niederlage auf Niederlage, <strong>und</strong><br />

das in einem Lande mit „sozialistischer" G e s e t z -<br />

gebung <strong>und</strong> noch nicht festgefügtem Kapitalismus<br />

oder Staatswesen. Die Arbeiterschaft Australiens<br />

könnte ihre Forderungen leicht durchsetzen, aber<br />

— ja aber, sie müßte die Führer zum „Teufel"<br />

j a g e n ! So lange die Arbeiter in Händen politischer<br />

Hochstapler bleiben, wird jeder für ihr eigenes Interesse<br />

geführte Kampf verloren gehen.<br />

Adelaide, Anfang September. H. Voit.<br />

Gruppen <strong>und</strong> Versammlungen.<br />

A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n . V.,<br />

Einsiedlergasse 60. Jeden Montag 8 Uhr abends.<br />

Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />

Gasthaus, XIV., Märzstraße 33.<br />

F ö d e r a t i o n d e r B a u a r b e i t e r . X . , Eugengasse<br />

9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />

jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />

U n a b h ä n g i g e S c h u h m a c h e r - G e w e r k s c h a f t .<br />

XIV.,Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />

M ä n n e r g e s a n g v e r e i n „ M o r g e n r ö t e " . XIV.,<br />

Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />

jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />

L e s e - <strong>und</strong> Diskutierklub „ P o k r o k " . XIV.,<br />

Hütteldorferstraße 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />

F r e i e E i n k a u f s g e n o s s e n s c h a f t . Jeden Donnerstag<br />

abends bei Schlor.<br />

F r e i d e n k e r - V e r e i n i g . „ F r e i e r G e d a n k e " .<br />

öffentl. Vortrag jeden Freitag um 8 Uhr bei Schlor.<br />

G r a z . A r b e i t e r - B i l d u n g s - u n d U n -<br />

t e r s t ü t z u n g s - V e r e i n , versammelt sich jeden<br />

1. <strong>und</strong> 3. Samstag abends im Gasthaus „zur lustigen<br />

Röthelstoanerin" (v. Tiroler), Bahnhofgürtel<br />

Nr. 69.<br />

M a r b u r g . A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />

versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong> 4. Mittwoch abends<br />

im Gasthaus „Zur goldenen Birn", Franz Josefstraße<br />

2.<br />

K l a g e n f u r t . G r u p p e d e r u n a b h ä n g i -<br />

g e n S o z i a l i s t e n , versammelt sich jeden 2 . <strong>und</strong><br />

4. Samstag abends im Gasthaus „Zum Buchenwalde".<br />

W e i j e r . S o z i a l i s t i s c h e r B u n d , versammelt<br />

sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends in<br />

Bachbauers Gasthaus.<br />

B r u c h . G r u p p e B e r g a r b e i t e r k a m p f ,<br />

versammelt sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends<br />

im Gasthaus „zum blauen Stern".<br />

Neu - P y h a n k e n . B e r g a r b e i t e r v e r e i n ,<br />

versammelt sich jeden 4. Sonntag um 9 Uhr vormittags<br />

im Gasthause „Eintracht".<br />

Zieditz. D e u t s c h e B e r g a r b e i t e r v e r e i -<br />

n i g u n g , versammelt sich jeden Sonntag im Gasthaus<br />

beim Bahnhof.<br />

A u s s i g . U n a b h ä n g i g e r F a c h v e r e i n<br />

d e r S c h i f f s v e r l a d e r u n d V e r l a d e r i n n e n ,<br />

versammelt sich monatlich im Gasthaus „zum Marienberg",<br />

Töpfergasse 7.<br />

S c h ö n p r i e s e n ( b e i A u s s i g ) . G r u p p e<br />

„ F r e i h e i t " , versammelt sich jeden 2. Mittwoch<br />

in Nr. 226 (bei Giselastraße).<br />

M a l t h e u e r n ( b e i B r ü x ) . A r b e i t e r v e r -<br />

e i n „ G l e i c h h e i t " , versammelt sich jeden Sonntag<br />

beim Gastwirt Joh. Florian.<br />

K a r b i t z ( b e i A u s s i g ) . F r e i e V e r e i n i -<br />

g u n g . Sekretär J. Schmidt, Nr. 126.<br />

M a r i a s c h e i n . F r e i e V e r e i n i g u n g , versammelt<br />

sich jeden Sonntag im Gasthaus „zur<br />

Fortuna".<br />

O b e r - R o s e n t a l ( b e i R e i c h e n b e r g ) .<br />

G r u p p e „ P r o l e t a r i a t " . Sekretär B . W e b e r ,<br />

Nr. 194.


Alles für die Sache.<br />

Aus d e m E n g l i s c h e n ü b e r s e t z t von Lilly N a d l e r - N u e l l e n s .<br />

Hört ein W o r t , ein W o r t bei Z e i t e n , denn e s<br />

n a h t d a s M o r g e n r o t ,<br />

W e n n die S a c h e w i r d uns rufen, für d a s L e b e n ,<br />

für den T o d .<br />

E r , d e r s t i r b t , e r s t i r b t nicht e i n s a m , viele<br />

s t e r b e n J a h r für J a h r ;<br />

E r , d e r lebt, e r t r ä g t nicht s c h w e r e r , als ihm<br />

s c h o n d a s Leben w a r .<br />

Gar nicht alt ist die Geschichte, so wie g e s t e r n<br />

s t r ö m t d a s Blut<br />

U n s ' r e r Liebsten, wie sie fielen, t r e u <strong>und</strong> fest<br />

mit t a p f r e m Mut.<br />

Selbst die B o t s c h a f t , die wir künden, w a r die<br />

M ä r ' , die sie e r z ä h l t ,<br />

Selbst die Hoffnung, die wir h e g e n , w a r es<br />

a u c h , die sie beseelt.<br />

In d e m G r a b , in dem « i e r u h e n , liegt ihr Mühen<br />

<strong>und</strong> ihr Leid,<br />

Doch a u s i h r e m G r a m unsterblich, s t e i g t die<br />

Hoffnung s c h m e r z b e f r e i t .<br />

D a r u m k l a g t nicht <strong>und</strong> nicht t r a u e r t , d a ß ihr<br />

W i r k e n hier v e r g e h t ,<br />

Denn ihr Leben m a h n t zum K a m p f uns <strong>und</strong> als<br />

Vorbild v o r uns steht.<br />

M a n c h e h a t t e n Ruhm <strong>und</strong> E h r e , w a r e n w e i s e<br />

<strong>und</strong> g e l e h r t ;<br />

M a n c h e w a r e n a r m <strong>und</strong> elend, unwissend <strong>und</strong><br />

nicht g e e h r t .<br />

Doch für uns sie alle leben, uns e r m a h n e n d<br />

alle Zeit,<br />

J e d e n K u m m e r leicht z u t r a g e n , z u v e r g e s s e n<br />

alles Leid.<br />

H o r c h t ! O h o r c h t nur, wie sie r u f e n : „Glücklich<br />

ihr, d a ß ihr j e t z t lebt,<br />

In dem l e u c h t e n d Licht d e s M o r g e n s , wenn die<br />

finst're Nacht e n t s c h w e b t .<br />

In dem Dienst d e r S a c h e leben o d e r s t e r b e n ,<br />

ist es s c h ö n ,<br />

Durch den K a m p f <strong>und</strong> d a s G e w i r r e siegen o d e r<br />

u n t e r g e h ' n ! "<br />

Ah, vielleicht! mir s c h e i n e t oftmals, in den<br />

T a g e n licht <strong>und</strong> hehr,<br />

W e n n kein S k l a v e dient dem Golde, auf d e m<br />

weiten L a n d <strong>und</strong> M e e r ;<br />

Oft wenn B u r s c h e n , M ä d c h e n s c h e r z e n , eh' die<br />

Sonne g e h t zur Ruh',<br />

Und den frohen T a g sie s e g n e n , j a u c h z e n d<br />

noch e i n a n d e r zu,<br />

W e r d e n m a n c h e innehalten, d e n k e n d d e r V e r -<br />

g a n g e n h e i t ,<br />

E h e wir mit u n s ' r e m L e b e n , sie v o m F l u c h d e s<br />

Gold's befreit.<br />

B e i d e m sel'gen Kuß d e r L i e b e , w e h t sie leis'<br />

E r i n n ' r u n g a n ,<br />

W i r , die Narr'n <strong>und</strong> T r ä u m e r w a r e n , sind die<br />

W e i s e n , T a p f r e n d a n n .<br />

U n s ' r e T a t e n w e r d e n leben in der n e u e r b a u t e n<br />

W e l t ,<br />

Ob m a n a uch v e r g i ß t die N a m e n , wie wir s t a r -<br />

ben nicht e r z ä h l t .<br />

Ob zu leben, ob zu s t e r b e n , j e d e s Opfer gilt<br />

uns g l e i c h ,<br />

S c h ö n entfliegt im K a m p f d a s L e b e n , <strong>und</strong> die<br />

S a c h e w ä h l t für e u c h .<br />

H ö r t ein W o r t , ein W o r t bei Z e i t e n , denn es<br />

naht d a s M o r g e n r o t ,<br />

W e n n die S a c h e wird uns rufen, für d a s L e b e n ,<br />

für den T o d !<br />

William Morris.<br />

Leo Tolstoi als Anarchist.<br />

Schluß.<br />

Seien wir aufrichtig: es gibt keine konservativere<br />

Kraft in der Gegenwart, die mehr<br />

das Volk zur vollständigen Lethargie «entwickelt»<br />

hat, mehr zur Passivität niedergezwungen<br />

hat, als die Sozialdemokratie.<br />

Tolstoi aber lehrt nie <strong>und</strong> nirgends Tatenlosigkeit,<br />

wie diese Herren es den Anschein<br />

geben möchten. Der Mann, der Soldaten<br />

<strong>und</strong> Bauern, an ihr Menschtum appellierend,<br />

zum aktiven Widerstand aufruft; der wohl<br />

das Komödienspiel der Duma <strong>und</strong> den<br />

mordenden Schwindel geißelte, den die<br />

russische Bourgeoisie mit dem Volke aus<br />

politischem Eigennutz während der Jahre<br />

1905 bis 1907 getrieben; den Bauern in<br />

Georgia aber, die ihre Herren nach der<br />

Stadt gefahren <strong>und</strong> dann gemeinschaftlich<br />

sich Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden in freier Bestellung<br />

aneigneten, eine Glückwunschdepesche<br />

sandte — d i e s e r Mann ein Prediger der


Tatenlosigkeit? W e l c h e r Unsinn! W a s T o l -<br />

stoi w i r k l i c h lehrt, das ist: d i e V e r -<br />

m e i d u n g d e s g e w a l t s a m e n W i d e r -<br />

s t a n d e s d u r c h d i e u n m i t t e l b a r e<br />

V e r w i r k l i c h u n g d e s I d e a l s . Tolstoi<br />

ist gegen die b l u t i g e . Gewalt <strong>und</strong> erklärt<br />

als seine Waffe den p a s s i v e n W i d e r -<br />

s t a n d . Das ist der Widerstand, der darin<br />

besteht, daß, nach seiner Lehre, H<strong>und</strong>erte<br />

<strong>und</strong> Tausende von Soldaten den Dienst,<br />

die Millionen von Muschiks alle Steuern<br />

an den Staat, ihre Arbeitskraft an die Gutsbesitzer<br />

verweigern, ihre Arbeit für sich<br />

verwerten sollen. Tolstoi vertritt den Gr<strong>und</strong>satz:<br />

L e b e d a s n e u e L e b e n d e r G e -<br />

m e i n s c h a f t , g e h o r c h e n i c h t m e h r<br />

d e n S t a a t s m ä n n e r n , f ü g e d i c h n i c h t<br />

m e h r d e r H e r r s c h a f t d e r K i r c h e ,<br />

a c h t e n i c h t m e h r d a s U n r e c h t d e s<br />

B o d e n w u c h e r s u n d s e i n e s M o n o -<br />

p o l s d u r c h d e n G r u n d b e s i t z e r —<br />

kurz, l a s s e d i c h n i c h t m e h r v o n<br />

H e r r s c h e r n u n d A u s b e u t e r n g e -<br />

b r a u c h e n , w e i l d i e s s t e t s n u r M i ß -<br />

b r a u c h m i t d i r ist. Man wird ehrlicherweise<br />

zugeben, daß dies ein machtvoller<br />

Kampfesruf ist, der das <strong>Ziel</strong> immer als<br />

erstes <strong>und</strong> einziges vor Augen hat <strong>und</strong><br />

jeden Kompromiß verschmäht. Und wer<br />

vermöchte es zu leugnen, daß Tolstoi vollkommen<br />

Recht hat, wenn er sich gegen<br />

die bisherige Form der russischen Revolution<br />

kehrte? Für einen jeden Anarchisten ist das<br />

Problem so: das russische Proletariat opferte<br />

sich bisher für die Interessen der nach<br />

politischer Karriere gierenden Bourgeoisie<br />

<strong>und</strong> wurde von dieser ihren Streber- <strong>und</strong><br />

Machtinteressen geopfert, dann fallen gelassen.<br />

Wie anders wäre der Kampf ausgefallen,<br />

wenn statt den einigen h<strong>und</strong>erttausend<br />

Stadtproletariern nur ein bis zwei<br />

Millionen Bauern aus den übrigen neunzig<br />

Millionen Dienst <strong>und</strong> Gehorsam <strong>und</strong> Abgabe<br />

gegenüber dem Staate <strong>und</strong>, dem Gutsherrn<br />

einfach verweigert hätten, indem sie<br />

sich des Landes d u r c h d e n A n b a u für<br />

s i c h s e l b s t bemächtigt hätten?! Zwei<br />

Millionen Menschen kann man nicht in die<br />

Gefängnisse werfen, unmöglich töten. An<br />

dem passiven Widerstande in dieser Form<br />

wäre das russische Zarentum <strong>und</strong> ökonomische<br />

Aussaugertum bankerott geworden,<br />

unweigerlich zu Gr<strong>und</strong>e gegangen <strong>und</strong> säße<br />

heute nicht im Sattel oder mit parlamentarisch-ministeriellen<br />

Mitschmausern an reich<br />

bedeckter Tafel.<br />

Weshalb wir dennoch nicht allein an<br />

den passiven Widerstand im Sinne der<br />

endgültigen Befreiung glauben? Aus zwei<br />

Gründen: Erstens, weil Tolstoi selbst nicht<br />

an ihn als ein endgültiges Befreiungsmittel<br />

glaubt, zweitens, <strong>und</strong> dies ist das wichtigste<br />

Moment, weil wir daran verzweifeln, daß<br />

es in unserer heutigen Welt je möglich sein<br />

wird, viele Millionen zu einheitlichem, idealen<br />

Kampfe — <strong>und</strong> Millionen Menschen<br />

sind zum passiven Widerstand im Tolstoisinn<br />

nötig! — empor zu läutern. Die kapitalistische<br />

Welt ist mit ihren drückenden<br />

Verelendungstendenzen übermächtig. Der befreiende<br />

Endkampf des Volkes wird wohl nur<br />

h<strong>und</strong>erttausende Idealisten, wirklich durchdrungener<br />

Freiheitskämpfer im Todeskampfe<br />

mit den bestehenden Verhältnissen finden<br />

— niemals aber so viele, daß durch ihre<br />

bloße Passivität die Herrscher <strong>und</strong> Aus<br />

beuter an <strong>und</strong> für sich ohnmächtig <strong>und</strong><br />

überw<strong>und</strong>en wären.<br />

Doch dies sind taktische Probleme <strong>und</strong><br />

Fragen, die am entschiedensten die Zukunft<br />

lösen wird. Vielleicht trifft jener den richtigen<br />

Durchschnitt, der es mit einer Synthese<br />

des passiven Widerstandes eines Tolstois<br />

<strong>und</strong> der sozialen Revolution eines<br />

Krapotkin — zwei Idealgestalten der Menschheit<br />

— gedanklich versucht. Und die Zeitereignisse,<br />

wie sie machtvoll nach Auslösung<br />

<strong>und</strong> Erlösung drängen, scheinen die Annahme<br />

zu bestätigen, daß die soziale Revolution<br />

der Zukunft wohl eine glückliche<br />

Vereinigung von passivem <strong>und</strong> gewaltsamen<br />

Widerstand sein wird; hauptsächlich aber<br />

doch der erstere, der letztere meistens nur<br />

dorten, wo das sich etwa abermals reckende<br />

Alte der Reaktion das kaum errichtete Neue<br />

der sozialen Freiheit der Anarchie <strong>und</strong> ihres<br />

ökonomischen Gr<strong>und</strong>gebietes, die Gleichheit,<br />

wird zu erschüttern versuchen. Immerhin<br />

erzeugen beide taktischen Propagandaformen,<br />

jene des passiven <strong>und</strong> aktiven<br />

Widerstandes, zwei Kämpfertypen, von<br />

denen man keinen vermissen möchte, wenn<br />

man sie beide gekannt <strong>und</strong> beobachtet hat.<br />

Wir fühlen uns vollkommen frei von allen<br />

Übertreibungen des Tolstoischen Gedankenganges,<br />

doch dies wissen wir, daß ohne<br />

die tiefinnerst <strong>und</strong> mächtig die Menschen<br />

erfassende Überzeugungsreligion eines Tolstoi<br />

diejenige Regeneration <strong>und</strong> geistige<br />

Wiedergeburt der Menschen nicht stattfinden<br />

kann, deren gerade die Kämpen der sozialen<br />

Revolution im Krapotkinschen Sinne<br />

bedürfen, um stählerne Ausdauer <strong>und</strong> unerschütterlichen<br />

Kampfesmut- <strong>und</strong> Glauben<br />

zu haben. Innenrevolutionen im Menschen<br />

sind unerläßlich für den Anarchismus, um<br />

Wirklichkeit <strong>und</strong> Vollendung zu werden.<br />

Leo Tolstoi selbst ist uns einer der<br />

größten <strong>und</strong> edelsten Vorkämpfer des zukünftigen<br />

Menschheitsglückes. Er, der Anar-


chist <strong>und</strong> Bauernkommunist, der für das<br />

Reich des Ideals in ihm die Zukunft seines<br />

Lebensganges als Adelssprosse <strong>und</strong> Machthaber<br />

dahin gegeben, freudig dahingab für<br />

das edel Menschliche, dessen endlichen<br />

Sieg er fühlt <strong>und</strong> vorbereitet, er gehört<br />

unserer Idee, unserem großartigen Weltanschauungsbilde<br />

der Herrschaftslosigkeit<br />

an — diese Idee, die den Achtzigjährigen<br />

noch stählt im Kampf gegen die heutige<br />

Welt der Tücke, dieser erhabene Gedanke,<br />

der alles echt Lebende durchdringt <strong>und</strong><br />

dadurch immerwährend neues <strong>und</strong> reicheres<br />

Leben zeugt. Pierre Ramus.<br />

Ein Brief von Friedrich<br />

Nietzsche.<br />

Durch die Wiederveröffentlichung des<br />

nachfolgenden Briefes in der uns vorliegenden,<br />

neueren 40. Auflage von » A l s o<br />

s p r a c h Z a r a t h u s t r a « , ein Brief, der seit<br />

der 2. <strong>und</strong> 3. nun völlig vergriffenen Auflage<br />

nicht wieder erschien, hat sich der<br />

Verlag von C. G. Naumann, Leipzig, den<br />

Dank aller Nietzschefre<strong>und</strong>e erworben. Das<br />

Schreiben richtet sich an den Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

Intimus des toten Philosophen, an P e t e r<br />

G a s t , dessen glänzende Einführung in die<br />

Gedankengänge des obgenanntea Werkes<br />

wohl für jeden Kenner eine unbedingt<br />

wertvolle Geistesschulung der freiesten<br />

Form bedeutete; sehr interessant ist der<br />

Brief besonders durch seine Mitteilungen<br />

über die Fertigstellung des ersten Zarathustrateiles,<br />

wie auch darum, daß er deutlich<br />

<strong>und</strong> klar beweist, mit welchen Absichten<br />

<strong>und</strong> Gefühlen - alles andere eher'<br />

als gesellschaftsstützende — Nietzsche sein<br />

Buch verfaßte <strong>und</strong> uns schenkte als immerdar<br />

währenden Born der Lebens- <strong>und</strong><br />

Kampfesstärke.<br />

Rapallo, 1. Februar 1883.<br />

Lieber Fre<strong>und</strong>!<br />

Ich schrieb Ihnen lange nicht, <strong>und</strong> es<br />

war gut so. Meine Ges<strong>und</strong>heit hatte sich<br />

wieder an Zustände gewöhnt, welche ich<br />

hinter mir glaubte: es war eine große Leib<strong>und</strong><br />

Seelenquälerei — wobei das jetzige<br />

Europawetter seinen geringen Anteil hatte.<br />

Inzwischen gab es aber wieder reine,<br />

klare Tage, <strong>und</strong> sofort bin ich auch wieder<br />

meiner selber Herr geworden. Ein Glück<br />

bleibt es bei alledem, wenn man in der<br />

E i n s a m k e i t mit sich selber fertig werden<br />

kann: aber wie viele sind geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

müssen ihr Elend im Verkehren mit Menschen<br />

v e r d o p p e l t tragen!<br />

Gefroren habe ich übrigens wie noch<br />

niemals <strong>und</strong> ebenfalls niemals schlechter<br />

gegessen, e i n e Veränderung meines Aufenthaltsortes<br />

ist jetzt nötig: ich hatte bereits<br />

das Zimmer wieder gemietet, welches<br />

ich im letzten Winter in Genua bewohnte<br />

— aber die neueste Nachricht ist, daß der<br />

Herr, welcher jetzt darin wohnt, sich anders<br />

entschlossen hat <strong>und</strong> bleibt.<br />

Nun hat mich die alte, gute Fre<strong>und</strong>in<br />

Meysenburg nach Rom eingeladen; <strong>und</strong><br />

mir mit Bestimmtheit jemanden in Aussicht<br />

gestellt, der täglich zwei St<strong>und</strong>en mit mir<br />

s c h r e i b e n will. Da ich gerade auf das<br />

Dringendste Jemanden zum Schreiben <strong>und</strong><br />

Diktieren nötig habe, so will ich nach Rom<br />

übersiedeln — so wenig es, wie Sie wissen,<br />

der Ort meiner Wahl ist . . .<br />

Aber vielleicht haben Sie Vergnügen<br />

daran zu hören, w a s es zu schreiben <strong>und</strong><br />

druckfertig zu machen gibt. Er handelt sich<br />

um ein ganz kleines Buch — h<strong>und</strong>ert<br />

Druckseiten etwa. Aber es ist mein B e s t e s ,<br />

<strong>und</strong> ich habe einen schweren Stein mir<br />

dadurch von der Seele gewälzt. Es gibt<br />

nichts Ernsteres von mir <strong>und</strong> auch nichts<br />

Heitereres; ich wünsche von Herzen, daß<br />

diese Farbe -- welche nicht einmal eine<br />

Mischsorte zu sein braucht — immer mehr<br />

zu meiner »Natur«-farbe werde. Das Buch<br />

soll heißen:<br />

Also sprach Zarathustra.<br />

E i n B u c h f ü r A l l e u n d K e i n e n .<br />

Von<br />

F. N.<br />

Mit diesem Buch bin ich in einen<br />

neuen «Ring» eingetreten — von jetzt an<br />

werde ich wohl in Deutschland unter die<br />

Verruchten gerechnet werden. Es ist eine<br />

w<strong>und</strong>erliche Art von «Moral-Predigten».<br />

Mein Aufenthalt in Deutschland hat mich<br />

vollkommen zu dem gleichen Gesichtspunkte<br />

gebracht wie Sie, liebster Fre<strong>und</strong>,<br />

der Ihrige — nämlich, daß ich nicht mehr<br />

hineingehöre. Und j e t z t wenigstens . . .<br />

geht es mir wie Ihnen: diese Einsicht <strong>und</strong><br />

«Stellungnahme» hat mich e r m u t i g t .<br />

W o h i n wir jetzt gehören? — Seien<br />

wir glücklich, daß wir eine solche Frage<br />

überhaupt stellen d ü r f e n !<br />

<strong>Unser</strong>e Erlebnisse waren ziemlich gleich,<br />

nur haben Sie ein besseres Temperament;<br />

eine bessere, stillere, einsamere Vergangenheit<br />

— <strong>und</strong> eine bessere Ges<strong>und</strong>heit vor<br />

mir voraus.<br />

Ich bin beinahe erstickt. —<br />

Also bis zum 10. werde ich noch hier<br />

sein. Später Roma postale restante. Ihnen<br />

immer sehr in Gedanken <strong>und</strong> Wünschen<br />

nahe Friedrich Nietzsche.


Der Fremdling.*<br />

Wen liebst du am meisten, rätselhafter<br />

Mann, o sag? Deinen Vater, deine Mutter,<br />

deine Schwester oder deinen Bruder?<br />

Ich habe nicht Vater, nicht Mutter, nicht<br />

Schwester, nicht Bruder.<br />

Deine Fre<strong>und</strong>e?<br />

Du nennst da ein Wort, dessen Sinn<br />

bis auf den heutigen Tag mir unbekannt<br />

geblieben.<br />

Dein Vaterland?<br />

Wer weiß denn, unter welchem Himmelsstrich<br />

es liegen mag!<br />

Die Schönheit?<br />

Wie gern doch liebte ich sie, die unsterbliche<br />

Göttin —!<br />

Das Gold?<br />

Ich hasse es, so wie du Gott hassest.<br />

Und was dann, seltsamer Fremdling,<br />

was dann liebst du?<br />

Ich liebe die Wolken . . . die eilenden<br />

Wolken . . . dort draußen . . . die w<strong>und</strong>erbaren<br />

Wolken! Ch. Baudelaire.<br />

* Aus „Kleine Dichtungen in Prosa".<br />

Aphorismen aus dem Gefängnis.<br />

Gleichheit <strong>und</strong> Gleichheit der Bedingungen<br />

stehen in dem Verhältnis eines<br />

spinnenden Katers auf dem Schöße einer<br />

entsafteten alten Jungfer zu dem Löwen<br />

von Bengalen.<br />

Die erste konnte deshalb stets der<br />

Pöbel der Gasse <strong>und</strong> der Tribüne fassen<br />

<strong>und</strong> schreien; das andere war der Traum<br />

der einsamen Geister, der Propheten, das<br />

Ideal der Freiheitträumer.<br />

Ein Monarch, der stets gekrümmte<br />

Rücken sieht <strong>und</strong> dem aus allen Ecken die<br />

Huldigung dem »Einen«, »Einzelnen« entgegentönt,<br />

muß eine niederdrückend niedrige<br />

Meinung von sich bekommen. Was<br />

kann das für eine Gattung sein, die unter<br />

Myriaden von Erzeugten ein Edelexemplar<br />

seiner Art hervorbringt; <strong>und</strong> was soll es<br />

schließlich bedeuten, in solcher Gattung<br />

Edelexemplar zu sein.<br />

Der König gehört nach derselben Gerechtigkeit<br />

nicht unter die Guillotine, wie<br />

der Verbrecher nicht ins Zuchthaus. Beide<br />

sind Produkte ihre Verhältnisse, Opfer des<br />

Milieus.<br />

Nach derselben Gerechtigkeit natürlich,<br />

die den Einen ins Gefängnis schickt, gebührt<br />

dem Andern das Schaffot. Und geschieht<br />

das eine in des Königs Namen,<br />

wird's gerecht sein, wenn zum andern die<br />

Straße die Marseillaise singt.<br />

Ihr revolutionären Demokraten: wird<br />

der Streik Prinzip, ist drüben das Recht der<br />

Majorität. Seid revolutionär oder seid Demokraten:<br />

Gewalt kann die Masse bringen<br />

— Revolution nie. Dazu brauchts die Gesellschaft<br />

von Persönlichkeiten. s. H.<br />

Vom Büchertisch.<br />

Die Verlagsbuchhandlung L e b e n s r e f o r m<br />

(Berlin C, Stralauer Brücke 4), die auch die sehr<br />

lesenswerte Zeitschrift „ D e r M e n s c h " herausgibt,<br />

sendet uns eine Anzahl ihre Werke, die wir sämtlich<br />

als belehrend <strong>und</strong> geistig anregend gerade für<br />

Proletarier warm empfehlen können. Titel der<br />

Werke sind:<br />

M a x i m G o r k i , D e r M e n s c h . 2 5 Pfg. Eine<br />

lebenswarme Schilderung des Kämpfers in der<br />

Menschheit.<br />

E r n s t W e s t l a n d , U n i v e r s i t ä t , P o l i t i k<br />

u n d D u m m h e i t . Mk. 1.75. Das Wort „Dummheit"<br />

bietet den Schlüssel zu den vorstehenden<br />

zwei Institutionen.<br />

H a n s O h n e l a n d , W o r a u f w a r t e n w i r ,<br />

P r o l e t a r i e r ? Oder: J u n k e r , W i r t s c h a f t s -<br />

k r i s e u n d W e l t k r i e g . 3 0 Pfg. Eine geradezu<br />

vorzügliche Schrift, die für Begründung von landwirtschaftlichen<br />

Produktivassoziationen eintritt, eine<br />

glänzende Kritik der Sozialdemokratie liefert. Schade<br />

nur, daß sich der Verfasser zu einigen ganz unbegründeten<br />

Hieben auf den Kommunismus hinreißen<br />

läßt, die in keiner Weise zur sonstigen, besonders<br />

scharfen Logik zu passen scheinen. Ist doch der<br />

Kommunismus nichts anderes als die konsequente<br />

Ausarbeitung eines jeden genossenschaftlichen Prinzips!<br />

W a s aber die praktischen Fragen <strong>und</strong> deren<br />

Lösung durh „Ohneland" anbelangt, so könnten<br />

wir alle bei ihm in die Schule gehen.<br />

T h e o d o r H e e r m a n n , D i e M e r l e , e i n<br />

s c h ö n e r G e d i c h t s s t r a u ß . Mk, 1 .<br />

H e r m a n n K r e c k e , 1 . U n s e r t ä g l i c h e s<br />

B r o t i m S t u f e n r e i c h d e r L i e b e . 2 0 Pfg.;<br />

2 . D i e S c h ö p f e r k r a f t d e s M e n s c h e n<br />

u n d a n d e r e A u f s ä t z e . 5 0 Pfg. Zwei gediegene,<br />

gehaltvolle Broschüren von einem eigenartigen<br />

Mann. Krecke, der in vielem große Ähnlichkeit<br />

mit dem Auftreten Egidys hat, war ein L a n d e s -<br />

g e r i c h t s r a t . In Menschen eines solchen Berufes<br />

eine so edle, empfängliche S e e l e ? J a , es ist T a t -<br />

sache. Hier steht ein Mann vor uns, der nach Freiheit<br />

<strong>und</strong> sozialer Gerechtigkeit stritt, wie nur der<br />

Besten einer; das ist ein Mann, der den lebenden<br />

Gegensatz zu seinem Handwerk bot.<br />

P a u l S c h i r m e i s t e r , D a s R e c h t a u f A r -<br />

b e i t — e i n R e c h t a u f L a n d ! 1 0 Pfg. Eine<br />

gute Propagandaschrift.<br />

J . S p o n h e i m e r , 1 . D e r V e g e t a r i s m u s<br />

e i n e w i r t s c h a f t l i c h e N o t w e n d i g k e i t .<br />

Mk. 1.50; Z w e c k u n d Z i e l e d e r v e g e t a r i -<br />

s c h e n S i e d l u n g s g e n o s s e n s c h a f t . 5 0 Pfg.;<br />

3 . D a s W o h n u n g s e l e n d d e r G r o ß s t ä d t e<br />

u n d s e i n e A b w e n d u n g d u r c h S e l b s t h i l f e .<br />

Mk. 1.—. Der Verfasser zeichnet sich durch gründliche<br />

Sachkenntnis sehr vorteilhaft aus <strong>und</strong> können<br />

wir auch nicht unbedingt allen seinen Schlußfolgerungen<br />

zustimmen, so doch besonders dorten,<br />

wo er den Finger auf die Eiterbeule des bestehenden<br />

Zustandes legt <strong>und</strong> er, selbst ein Besitzender,<br />

doch in schönem Wahrheitseifer Front macht gegen<br />

den Privatbesitz von Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden.


Die Anarchie <strong>und</strong> das allgemeine<br />

Wahlrecht.<br />

Schluß.<br />

Ohne den Geist der Rebellion wären<br />

wir rohe Tiere geblieben, die auf die<br />

schmale Kost des irdischen Jammertals angewiesen<br />

wären. Jeder Fortschritt, alles<br />

Leben auf der Erde ist die Frucht ständiger<br />

Rebellion gewesen. Isolierte Rebellen sind<br />

dem Tode geweiht, doch geht ihr Beispiel<br />

nicht verloren, denn andere Unzufriedene<br />

erheben sich nach ihnen, verständigen sich<br />

untereinander <strong>und</strong> gehen Schritt um Schritt<br />

zum Siege weiter.<br />

Nun gibt es aber noch eine Masse<br />

Menschen, die glauben oder zu glauben<br />

vorgeben, daß das Buch der Revolutionen<br />

für immer durch das Kapitel abgeschlossen<br />

ist, d a s m a n d a s a l l g e m e i n e W a h l -<br />

r e c h t nennt. Das Sicherheitsventil sei<br />

durch dies Stimmrecht geschaffen, das die<br />

französische provisorische Regierung vor<br />

30 Jahren bewilligte.<br />

Die braven, guten Franzosen können<br />

sich auf ihr Stimmrecht etwas einbilden;<br />

haben sie ja jetzt das Recht, sich ihre<br />

Herren, diese kleinen "Zaunkönige, selbst<br />

zu wählen; haben sie ja jetzt das Recht,<br />

sich an einem Tage frei zu g l a u b e n , um<br />

sich jahrelang wieder regieren zu lassen.<br />

Trotz der Wahlen beschließt die Regierung<br />

wie früher über das Wohl <strong>und</strong> Wehe der<br />

Untertanen, über Krieg <strong>und</strong> Frieden; trotz<br />

der Wahlen bleiben Millionen von Entrechteten<br />

in den Fängen des Elends, bleiben<br />

Millionen von Arbeitern in den Fängen des<br />

Kapitals, das sie in seinen Fabriken <strong>und</strong><br />

Werkstätten niederhält; trotz der Wahlen<br />

lastet auf allen gleich schwer die Unsicherheit<br />

des morgigen Tages. Das allgemeine<br />

Wahlrecht hat es nach 30jähriger Betätigung<br />

nicht verhindern können, daß die Arbeit<br />

der großen Menge auch weiter dem Nutzen<br />

der Kapitalisten dient, daß der Mehrertrag<br />

den Drohnen der Gesellschaft zufällt. Das<br />

allgemeine Wahlrecht hat es bestehen<br />

lassen, daß Kaufleute mit falschen Gewichten<br />

handeln, daß Advokaten gleicherweise<br />

Recht <strong>und</strong> Unrecht verteidigen - solange<br />

sie bezahlt werden.<br />

Das sichtbarste Ergebnis der Reform<br />

des Wahlrechts, das aus dem beschränkten<br />

zum sogenannten allgemeinen wurde, war,<br />

daß d i e Z a h l d e r P o l i t i k e r , die sich<br />

aus dem Reden einen Beruf machen, vermehrt<br />

wurde, daß diese erst um die Gunst<br />

der Wähler buhlen, um sich dann, wenn<br />

sie gewählt sind, an die Mächtigen der<br />

Erde zu wenden <strong>und</strong> von diesen Titel,<br />

arbeitslose Einkommen <strong>und</strong> Pensionen zu<br />

erbetteln. Der Aristokratie der Geburt <strong>und</strong><br />

der Aristokratie des Geldsacks entsteht ein<br />

neuer Genosse — die A r i s t o k r a t i e der<br />

Phrase. Sicher befinden sich unter den<br />

Kandidaten auch gutgesinnte Männer, die<br />

fest entschlossen sind, von dem Programm<br />

nicht abzuweichen, das sie während der<br />

Wahlkampagne entwickelt haben; doch so<br />

gut sie auch gesinnt sein mögen, den Tag<br />

n a c h den Wahlen befinden sie sich in<br />

ganz anderen Verhältnissen. Sie bilden<br />

dann bereits eine privilegierte Klasse, txoii<br />

ihrer selbst sind sie Männer des Privilegs<br />

geworden. Von ihren Mitbürgern mit dem<br />

»Recht« betraut, alles zu wissen <strong>und</strong> über<br />

alles zu entscheiden, bilden sie sich nun<br />

wirklich ein, in allen Fragen kompetent zu<br />

sein; ihr Wissen ist, so meinen sie, universal<br />

geworden; zu gleicher Zeit sind sie<br />

Gelehrte, Techniker, Industrielle, Kaufleute,<br />

Generäle, Admiräle, Diplomaten <strong>und</strong> Administratoren,<br />

<strong>und</strong> das ganze Leben der<br />

Nation muß in ihrem Gehirn ausgearbeitet<br />

werden. Wo ist ein so starkes Individuum,<br />

das dieser Vergötterung seiner Wähler zu<br />

widerstehen vermöchte? Als Erbe des<br />

Königtums bekommt der Abgeordnete auch<br />

noch das höchste Bestimmungsrecht über<br />

alle Dinge zugewiesen, was W<strong>und</strong>er, wenn<br />

ihn nun der Schwindel der Macht über-<br />

kommt; die nötigen Verhältnisse in Betracht<br />

ziehend, legt er seine Einfälle in Gesetze<br />

fest, umgibt sich mit einem Hof von Anbetern<br />

<strong>und</strong> Schafft sich Interessen oder geratet<br />

in einen Interessenkreis, der demjenigen<br />

der Menge, die er vertritt, direkt<br />

entgegengesetzt ist.<br />

Bis jetzt hat die Aufgabe der Wähler<br />

nur darin bestanden, die Feinde auszuscheiden,<br />

die sich vor den Wahlen noch<br />

Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> sogar Verfechter der sozialen<br />

Idee nannten. Ist es notwendig, daß diese<br />

Idiotenarbeit immer <strong>und</strong> immer wieder vorgenommen<br />

wird, ein Faß ohne Boden zu<br />

füllen oder einen Stein hinaufzuwälzen, der<br />

immerfort auf uns zurückfällt? Ist es nicht<br />

besser, sich unserer e i g e n e n sozialen Arbeit<br />

hinzugeben, aus uns selbst heraus eine<br />

Gesellschaft o h n e privilegierte Vertreter<br />

zu bilden, eine Gesellschaft freier <strong>und</strong><br />

gleicher Menschen? Um ihre Anteilnahme<br />

an den Wahlen zu rechtfertigen, geben<br />

manche revolutionäre demokratische Sozialisten<br />

vor, keinen anderen Zweck zu verfolgen,<br />

als die Gelegenheit zur Propaganda<br />

der Ideen auszunützen; da die Leidenschaften<br />

während der Wahlen besonders<br />

erhitzt sind, glauben sie, auf die Geister<br />

energischer einwirken zu können, um desto<br />

mehr Anhänger für die revolutionäre Idee<br />

zu gewinnen. D o c h l e n k t d i e W a h l<br />

s e l b s t d i e s e L e i d e n s c h a f t e n n i c h t<br />

a b ? Ist das Interesse, mit dem eine Wahl<br />

verfolgt wird, nicht dem Interesse eines<br />

Spielers gleich? Das Wettlaufen der Kandidaten<br />

vor den Wahlen gleicht doch auf<br />

ein Haar dem Wettrennen der Pferde auf<br />

dem Turf. Man interessiert sich zu erfahren,<br />

wer um eine Länge, wer um eine halbe<br />

Länge gesiegt hat; <strong>und</strong> wenn sich die niedere<br />

Aufregung der Zuschauer gelegt hat,<br />

so ist auch die ganze Angelegenheit für<br />

ein Jahr oder mehrere Jahre erledigt, <strong>und</strong><br />

man legt sich auf die Bärenhaut, als wenn<br />

die wahre Sache nicht noch erst zu machen<br />

wäre. D i e W a h l e n d i e n e n somit keinem<br />

a n d e r e n Z w e c k , als die Revolutionäre<br />

auf einen falschen <strong>Weg</strong> zu leiten<br />

<strong>und</strong> ihre Kräfte nutzlos zu vergeuden.<br />

Wir Anarchisten verhalten uns dazu<br />

immer gleich, einer wie der andere. Wir<br />

wissen, daß die Autorität stets nachteilige<br />

Folgen hat für den, der sie ausübt, sowie<br />

für den, der sich ihr beugt; wir würden<br />

uns entehrt fühlen, wollten wir uns als<br />

freiempfindende Menschen dazu hergeben,<br />

in ein Joch irgend einer Macht zu gehen.<br />

Lassen wir d i e s e e n t w ü r d i g e n d e B e -<br />

s c h ä f t i g u n g den M e n s c h e n , die noch<br />

kein S e l b s t b e w u ß t s e i n h a b e n <strong>und</strong><br />

n o c h g e w o h n t sind, ihre R ü c k e n zu<br />

b e u g e n .<br />

Andererseits haben wir auch keinen<br />

Gr<strong>und</strong>, uns einer Gesellschaft zu fügen,<br />

die nicht die unsrige ist. Man mag noch<br />

so viel gegen uns reden, daß die Einrichtung<br />

einer anarchistischen Gesellschaft unmöglich<br />

sei, diese Möglichkeit einer anarchistischen<br />

Gesellschaft existiert für uns:<br />

Wir befinden uns auf dem <strong>Weg</strong>e zu ihr,<br />

i n d e m wir b e w e i s e n , daß e i n e anarc<br />

h i s t i s c h e i d e a l e B e w e g u n g m ö g l i c h<br />

ist. Trotz der feindlichen Haltung der<br />

bourgeoisen <strong>und</strong> kapitalistischen Gesellschaft<br />

bilden sich dennoch überall anarchistische<br />

Gruppen. Sie haben weder Präsidenten<br />

noch Delegierte; in ihrem Kreise<br />

ist die Frauenfrage gelöst, der Frau werden<br />

die gleichen Rechte eingeräumt wie dem<br />

Manne, dem Ausländer dieselben wie dem<br />

Mitbürger; alle diese von der Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> vom Gesetz vorgeschriebenen Beschränkungen<br />

sind für uns nicht maßgebend.<br />

Jeder nimmt an dem Leben unserer<br />

Bewegung den Anteil, der seinen<br />

Fähigkeiten entspricht, arbeitet gemäß seinen<br />

Kräften, ohne einen erhöhten Lohn für<br />

besondere Leistungen zu verlangen. Und<br />

während die herrschenden Klassen kein<br />

anderes Beispiel bieten können, als die<br />

Sucht nach möglichst hoher Ausbeutung<br />

anderer Menschen, sind in den beherrschten<br />

Klassen schon Keime jener Zukunftsgesellschaft<br />

sichtbar, die weder Thron noch<br />

Altar kennen wird. Das ist die Kraft des<br />

wahren Fortschrittes, denn da ist Arbeit<br />

<strong>und</strong> Solidarität! Doch genügt es nicht, die<br />

Kraft zu besitzen, man muß auch Vertrauen<br />

auf seine Kraft haben <strong>und</strong> sie anzuwenden<br />

wissen, denn bis jetzt sind Revolutionen<br />

größtenteils nur vom blinden<br />

Instinkt geleitet worden.<br />

Das ist es, Kameraden, was ich euch<br />

vor allem zu sagen wünschte: B e r e i t e t<br />

e u c h vor zu dem g r o ß e n K a m p f der<br />

v o l l s t ä n d i g e n B e f r e i u n g !<br />

Elisée Reclus.<br />

Öffentliche Erklärung.<br />

An Michael D a n n e k ! Am 4. Oktober referierte<br />

ich in einer öffentlichen Volksversammlung in<br />

Rains Saal, XII., Steinhauergasse Nr. 25 über den<br />

„Nürnberger sozialdemokratischen Parteitag". In<br />

der Diskussion warf mir Ihr Parteigenosse Herz<br />

vor, daß es ganz merkwürdig, wo ich überall g e -<br />

wesen sei <strong>und</strong> herumgereist wäre. Darauf entgegnete<br />

ich, daß ich dieses Verbrechen mit seinen eigenen<br />

Führern teile, nur mit dem Unterschied, daß<br />

ich meine Reisen selbst bezahlen <strong>und</strong> 3. Klasse<br />

fahren muß, während sozialdemokratische Parteioder<br />

Gewerkschaftsführer entweder Freibillete haben<br />

oder ihre resp. Organisationen ihre Reisespesen —<br />

<strong>und</strong> oft nicht 3. K l a s s e ! — decken. Darauf haben<br />

Sie, Michael Dannek, in den Saal geschrien: „Sie<br />

sind ein Gesinnungslump, ein Schuft!" Durch ihr<br />

<strong>und</strong> der Ihrigen Gebrüll veranlaßt, löste nun der<br />

Regierungsvertreter die Versammlung auf.<br />

Ich wünsche Ihnen noch nachträglich Gelegenheit<br />

zu geben, mir gerichtlich Gesinnungslumperei<br />

nachzuweisen <strong>und</strong> erkläre alle, die gleiches b e -<br />

haupten, ganz insbesondere aber Sie, hiermit öffentlich<br />

als e h r l o s e n S c h u r k e n u n d V e r -<br />

l e u m d e r , s o l a n g e S i e I h r e B e h a u p -<br />

t u n g e n n i c h t b e w e i s e n . P . Ramus.<br />

Mitteilung.<br />

Der G e n o s s e A n t o n U h l s c h m i d t , wohnhaft<br />

in Schönbach Nr. 196 (Böhmen), ersucht uns,<br />

mitzuteilen, daß er Musikinstrumentenmacher ist<br />

<strong>und</strong> sich um die K<strong>und</strong>schaft unserer Leser bewirbt.<br />

An die ä l t e r e n G e n o s s e n d e r e h e m a l i g e n<br />

r a d i k a l e n B e w e g u n g . Wir ersuchen alle diejenigen,<br />

die im Besitze alter Dokumente, Zeitschriften,<br />

Briefe <strong>und</strong> sonstiger irgend wie gearteter Materialien<br />

sind, die Bezug nehmen auf die ältere G e -<br />

schichte der österreichischen Arbeiterbewegung<br />

n i c h t g e m ä ß i g t e r Richtung, sich mit uns i n<br />

Verbindung setzen zu wollen zwecks Anlegung<br />

eines Archivs <strong>und</strong> Verarbeitung der vorhandenen<br />

historischen Fragmente.<br />

Briefkasten.<br />

A d . F. Haben den interessanten S a t z : „Parteidisziplin<br />

ist vor allem nötig, <strong>und</strong> wer sich gegen<br />

dieselbe versündigt, schädigt die Partei viel mehr<br />

als der wütendste Gegner" im Bielohlawekschen<br />

L e i b - <strong>und</strong> Unsinnsblatt gelesen; stimmen Ihnen<br />

auch bei, wenn Sie sagen, daß dies genau dieselbe<br />

Moralanschauung ist, die in der sozialdemokratischen<br />

Partei gang <strong>und</strong> gäbe. Zwischen Sozialdemokratie<br />

<strong>und</strong> Christlichsozialen besteht eben nur<br />

ein terminologischer, aber nicht realer Unterschied!<br />

— B a d , H a m b . Erst nachträglich bemerkte ich<br />

Ihren anregenden Artikel über „Kulturförderer".<br />

Mein Dank für Sendung tut's wohl auch jetzt noch.<br />

Brudergruß! — S c h w e b e r , B e l g i e n . Dafür dank<br />

ich Dir ' doppelt, daß die alte transatlantische<br />

Fre<strong>und</strong>schaft so unverbrüchlich treu gehalten ward,<br />

um meinen Angstruf zu hören <strong>und</strong> gerade zur<br />

richtigen schweren Zeit zu helfen. Handdruck!<br />

E. H. Leider mußte ihr gediegener Artikel bis<br />

nächste Nummer zurückgestellt werden. Nichts<br />

für ungut! — M a r b u r g . D a s lobe ich mir, was Ihr<br />

schreibt „Ich kann Euch mitteilen, daß der Aufenthalt<br />

unseres Gen. R. dahier, den Verhältnissen<br />

entsprechend, Früchte getragen ' hat. Sämtliche<br />

Exemplare des „W. f. A." bringen wir l e i c h t an,<br />

die Leute interessieren sich dafür, <strong>und</strong> wir hoffen,<br />

daß wir in kurzer Zeit schon Mehrbestellung werden<br />

machen können." So erfreulich Euer Bericht<br />

für R. ist, so lehnt er es doch ab, diesen Erfolg<br />

für sich zu beanspruchen; wahr ist vielmehr, daß<br />

Euch <strong>und</strong> Eurer rührigen Arbeitstätigkeit für die<br />

Idee das Verdienst dieses prächtigen Erfolges g e -<br />

bührt! Brüderliche Solidarität! - Dr. A u g . F.<br />

Dank für Abon. — B a s n e r , Stadtverordneter. Wir<br />

besitzen die gewünschten Exemplare leider nicht<br />

in Duplikaten.


Der Antimilitarismus<br />

als<br />

T a k t i k d e s A n a r c h i s m u s .<br />

Von Pierre R a m u s .<br />

Referat, gehalten auf dem internationalen Amsterdamer Kongreß<br />

der »Internationalen antimilitaristischen Assoziation«<br />

am 30. <strong>und</strong> 31. August 1907.<br />

(Fortsetzung.)<br />

Der Soldat ist eben ein anderer Mensch als der Zivilist. Eine neue<br />

Ehre entsteht für ihn aus dem Umstände verschiedener Kleidung, die, so erzählt<br />

man ihm, ein Abzeichen des Schutzes des Vaterlandes, des häuslichen<br />

Herdes, der höchsten „Güter der Nation" gegenüber dem Nachbarlande ist;<br />

<strong>und</strong> jenseits der Grenzen wird wieder das Gleiche gelehrt. So hört der Soldat<br />

auf, ein Mensch unter Menschen zu sein; er wird Soldat unter Menschen,<br />

also ein Gewaltswesen, das nur die Gewalt als regulativen Faktor in den<br />

Beziehungen zwischen Menschen anerkennt.<br />

Wozu alle die Hekatomben von Opfern an Leben, Glück, Frieden,<br />

Kulturarbeiten, die ein Krieg k o s t e t ? Man spricht uns vom Patriotismus <strong>und</strong><br />

nationalem Gefühl. Aber das sind doch nur heuchlerische Phrasen, da es ja<br />

so etwas wie eine reine Nation n i c h t gibt. Überdies können wir es jeden<br />

T a g beobachten, daß der Staat Nationalismus <strong>und</strong> Patriotismus n u r vom<br />

Volke verlangt; Staat <strong>und</strong> Kapital sind längst international <strong>und</strong> internationalistisch<br />

geworden. Der Staat ist ja ureigentlich das Prototyp internationaler<br />

Vermählung. Es gibt keinen nationalen Staat, es gibt nur die Staatenwelt,<br />

welche, die Massen als Werkzeuge ihrer Eroberungsgier betrachtend, die<br />

Erde <strong>und</strong> ihren Reichtum unter sich in entsetzlich blutigen Kämpfen aufteilt<br />

<strong>und</strong> nun bestrebt ist, die unterjochten Völker glauben zu machen, s i e<br />

müßten sich als streng gesonderte, abgegrenzte Gruppe von den übrigen<br />

Völkern <strong>und</strong> Stämmen betrachten — im gegebenen Fall wider diese<br />

kämpfen sollen!<br />

Der Krieg ist der Mord auf Kommando. Wir können den Mord verstehen<br />

<strong>und</strong> erklären, welcher der Überzeugung, der Leidenschaft, pathologischen<br />

Momenten, kurz, der all dem entfließt, was überwiegende Gefühlsmacht<br />

über den Menschen gewonnen hat. Den Mord, ausgeheckt von einigen,<br />

in sicherer Entfernung sich Befindenden, ausgeführt von Individuen, die, nur<br />

dem Zwange gehorchend, morden müssen, gerichtet gegen Individuen, die<br />

dem V o l k e der kriegführenden Nationen nie das Geringste zu Leide taten,<br />

nur der Förderung gemein-egoistischer Interessen der Herrschenden dienend<br />

diesen Mord verdammen, verurteilen die Anarchisten aufs schärfste. Sie<br />

rufen mit vereinten Kräften :<br />

G e g e n d i e U r h e b e r v o n K r i e g e n ! K r i e g d e n e n , d i e i m<br />

B l u t e d e r V ö l k e r w a t e n w o l l e n u n d d e n e n e r e i n B e r u f , e i n<br />

B e r e i c h e r u n g s z w e c k i s t ! D a r i n b e s t e h t i m a l l g e m e i n e n d e r<br />

A n t i m i l i t a r i s m u s d e r A n a r c h i s t e n !<br />

III.<br />

Die bürgerlichen friedensfre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> der sozialdemokratische<br />

Antimilitarismus.<br />

Wir haben den Kreislauf aller früheren bürgerlichen Ideengänge des<br />

Antimilitarismus <strong>und</strong> des Friedensstrebens kennen gelernt;* wir wollen in<br />

Nachstehendem die Gedankengänge der modernen bürgerlichen Friedensbestrebungen<br />

<strong>und</strong> ihres Kumpanen, der modernen Sozialdemokratie, kennen<br />

lernen.<br />

Es würde uns zu weit führen, ist auch ganz unnütz für unseren Zweck,<br />

wollten wir Ins Einzelne gehen <strong>und</strong> aus den Worten von Frau Berta von<br />

Suttner, aus den Schriften eines D'Estournelles etc., überhaupt aus der<br />

ganzen, ungeheuer großen Literatur dieser Friedensbewegung schöpfen. Für<br />

unseren Zweck genügt es vollständig, uns auf eine kleine, zusammenfassende<br />

Schrift des Herrn Alfred H. Fried zu stützen, der als Mitglied des internationalen<br />

Friedensinstitutes <strong>und</strong> als Herausgeber der „Friedenswarte"** eine<br />

publizistisch internationale Bedeutung besitzt.<br />

Der Name der kleinen Schrift lautet: „ D i e F r i e d e n s b e w e g u n g ,<br />

w a s s i e w i l l , u n d w a s s i e e r r e i c h t h a t . " (Felix Dietrich, Leipzig, 1905)-<br />

Diese Broschüre, wie auch ihr Verfasser, verfällt in diejenige irrtümliche<br />

Methode der antimilitaristischen Aktion, die die gesamte Vergangenheit des<br />

Antimilitarismus auszeichnet <strong>und</strong> erst in der Gegenwart durch die Anarchisten<br />

allmählich beseitigt wird: — sie besteht in einer fortwährenden Herumarbeiterei<br />

an <strong>und</strong> mit dem Staate. So erblickt Fried das <strong>Ziel</strong> echt kultureller<br />

Entwicklung darin, daß die Staaten sich organisieren <strong>und</strong> vereinigen sollen<br />

„ z u r s o z i a l e n E i n h e i t d e r i n t e r n a t i o n a l e n K u l t u r g e m e i n s c h a f t . "<br />

Man verlangt also etwas, das erfahrungsgemäß n i e war, nie sein kann, denn<br />

der Einzelstaat kann sich selbst nicht überflüssig machen lassen durch eine<br />

etwaige Staatengemeinschaft, die dann eventuell eine internationale Staatengilde<br />

der Volksunterjochung bedeuten würde. Dies kann n i c h t u n s e r <strong>Ziel</strong><br />

sein. Die bürgerliche Friedensbewegung sieht eben die Ursache der Kriege,<br />

wie wir schon eingangs darlegten, sehr idiologisch an <strong>und</strong> glaubt sie in der<br />

persönlichen Feindschaft der herrschenden Staatsrepräsentanten zu einander<br />

gelegen. Dies ist irrtümlich, denn die persönliche Feindschaft ist erst Folge,<br />

nicht Ursache der Kriegserklärung. Der wahre Gr<strong>und</strong> des Krieges liegt heutzutage<br />

in rein materiellen Ursachen, in den ökonomischen Wirtschaftskämpfen<br />

<strong>und</strong> Eroberungsnotwendigkeiten von Nationalsystem gegenüber N a t i o n a l s t e m .<br />

Eines ist freilich richtig: auch hier k a n n eine Harmonisierung der Interessenkonflikte<br />

zwischen Staat <strong>und</strong> Staat dadurch geschaffen werden, daß die E r -<br />

kenntnis politischer Zwangsnotwendigkeiten den diversen Staaten eine solche<br />

Harmonisierung aufzwingt. Ist dies d a n n die „ h ö c h s t e soziale Einheit<br />

der internationalen Kulturgemeinschaft?" Keineswegs! Sonst wäre z. B. der<br />

Dreib<strong>und</strong> eine s o l c h e ; auch der Zweib<strong>und</strong>; sonst wäre die heilige Allianz<br />

eine solche g e w e s e n ! ! S i e alle sind aber nur Verstärkungen der Zentralgewalt<br />

gegenüber den unterjochten Völkern — Vergrößerungen der Opferkonsequenzen<br />

eines etwa ausbrechenden Krieges.<br />

Einfügend wollen wir es präzise ausdrücken: Es besteht tatsächlich<br />

die T e n d e n z unter den Staaten, sich gegenseitig fest zu verbinden <strong>und</strong><br />

zusammenzuschließen, um Kriege nach a u ß e n zu verhindern. Es geschieht dies<br />

aber nicht etwa aus Humanität, aus Kulturgewissen; solches geschieht angesichts<br />

der bewegten sozialen oder politischen Verhältnisse im Innern fast aller<br />

Länder, angesichts der enorm steigenden Staatsschulden <strong>und</strong> hauptsächlich<br />

dank der revolutionären Nötigung, welche die Arbeiterklasse der meisten<br />

* Der Verfasser meint hier die Broschüre »Die historische Entwicklung der Friedensidee<br />

<strong>und</strong> des Antimilitarismus", ein Kapitel aus vorliegendem Referat, das im Verlag F e l i x<br />

D i e t r i c h , G a u t z s c h b e i L e i p z i g (Kregelstraße 5), erschienen <strong>und</strong> zum Preise von<br />

30 Heller erhältlich ist. Die Rai.<br />

** Wien, I., Spiege!gasse 4. Die Red.<br />

Länder den Staaten auferlegt. Es ist aber gr<strong>und</strong>falsch, nun anzunehmen, daß<br />

dies einer Schwächung des Militarismus gleichkomme; im Gegenteil: die<br />

Vermeidung äußerer Konflikte durch den Staat wird einfach deshalb besorgt<br />

um eine Verstärkung <strong>und</strong> Erhöhung des Militarismus zum Gebrauch gegen<br />

das rebellische Proletariat des eigenen Landes, des Inlandes zu ermöglichen<br />

H i e r h a b e n w i r d e n w a h r e n Z w e c k d e r H a a g e r F r i e d e n s -<br />

k o n f e r e n z u . dgl. m . z u s e h e n !<br />

W i r haben einen ganz anderen Begriff von der „ h ö c h s t e n s o z i a -<br />

l e n E i n h e i t d e r i n t e r n a t i o n a l e n K u 1 1 u r g e m e i n s c h a f t " ; w i r<br />

haben eine andere Auffassung über den Internationalismus. Für uns hebt er<br />

erst dann an, wenn die Worte „Kultur" <strong>und</strong> „Gemeinschaft" in freiheitlicher<br />

Läuterung sich internationalisieren. Eine Internationalisierung der Bestialität,<br />

gehoben aus jedem nationalen Rahmen, wäre die Internationalisierung der<br />

Staaten; mehr als es wünschenswert, haben wir sie schon . . . W i r hingegen<br />

internationalisieren die Kulturelemente <strong>und</strong> darum Volkselemente;<br />

eine solche Internationalisierung der Kulturgemeinschaft bedeutet die Überwindung<br />

des Staates auf Gr<strong>und</strong> der Vereinigung <strong>und</strong> Harmonisierung der<br />

V ö l k e r !<br />

Der beste Beweis dafür, wie heillos verworren die Auffassungen unserer<br />

modernen Friedensfre<strong>und</strong>e sogar bester Sorte sind, leuchtet aus dem<br />

einen Umstand hervor, daß Herr Fried in seinem Streben nach Frieden gegen<br />

die „Anarchie der Staaten" kämpft — als ob es nicht schon längst ein internationales<br />

Staatenrecht g ä b e ! — <strong>und</strong> in der B e s e i t i g u n g d i e s e r<br />

A n a r c h i e die beste Gewähr für den Frieden erblickt.<br />

Es ist traurig, diese ziellose Herumschweiferei des geistigen Ausblickes<br />

beobachten zu müssen; es ist traurig zu sehen, wie die Anarchie, die<br />

s t a a t e n l o s e Ordnung des Gesellschaftslebens, hier ganz unverantwortlich<br />

für das verantwortlich gemacht wird, was die A r c h i e, das Staatentum,<br />

verbricht <strong>und</strong> verübt. Wie unlogisch klingt es, wenn Fried s a g t : „Die Friedensrüstungen<br />

bestehen in der Herstellung einer Organisation der Staaten, i n n e r -<br />

h a l b w e l c h e r s i e d i e G e w a l t a u s s c h a l t e n <strong>und</strong> Vernunft <strong>und</strong> Rechl<br />

an deren Stelle treten lassen." Wir fragen: W i e kann der Staat sich seiner<br />

Gewalt entschlagen, ohne sich selbst aufzuheben? Er, der doch selbst Urheber,<br />

Anstifter <strong>und</strong> Vollstrecker aller gesellschaftlichen Gewalt ist! Dann,<br />

nach dieser eigenartigen Apotheose des Idealismus sagt Fried wieder etwas<br />

a n d e r e s : daß die Friedensbewegung n i ch t die direkte Beseitigung des<br />

Krieges, sondern die „ B e s e i t i g u n g s e i n e r U r s a c h e n " herbeiführen<br />

wolle. W e r aber ist eigentlich die Hauptursache, wenn nicht der Staat an<br />

<strong>und</strong> für s i c h ? Übrigens befindet sich Fried hier mit uns auf h a l b e m <strong>Weg</strong>e,<br />

Freilich nur auf halbem, denn wir wollen b e i d e s : die direkte Unmöglichmachung<br />

des Krieges, wie a u c h seiner Ursachen. Der Staat ist uns schon<br />

deshalb Hauptverursacher des Krieges, da alle wirtschaftlichen Ränkesüchteleien<br />

einen Krieg nicht ermöglichten, gäbe nicht d e r S t a a t seine<br />

technisch-organisatorischen Mittel dazu her.<br />

Als „ultimo ratio" wollen die bürgerlichen Friedensfre<strong>und</strong>e, die also<br />

die „Anarchie der Staaten" abschaffen wollen, ein über allen Staates thronendes,<br />

a l l e Kompetenzbefugnisse über diese besitzendes, international wirkendes<br />

S c h i e d s g e r i c h t . Also wieder der Staat über den Staaten; dies die<br />

Abschaffung der „Anarchie der Staaten."<br />

Es ist nur natürlich, daß ein ohne Machtbefugnisse wirkendes Schiedsgericht<br />

einer anarchischen Zukunft, durch seinen begütigenden Rat in Konfliktfragen<br />

viel Gutes <strong>und</strong> Schlichtendes stiften können wird. In unserer, nur<br />

auf Gewalt basierten Gesellschaftsordnung der Gegenwart spielte dasselbe<br />

dagegen die Rolle eines blut- <strong>und</strong> fleischlosen Gespenstes an der Wand. Nur<br />

die ehernste Machtvollkommenheit <strong>und</strong> weitreichender Zwang könnten ein<br />

solches Schiedsgericht zu einem gebieterischen Faktor gestalten. Diese Eigenschaften<br />

lassen sich aber nur durch eine neuerliche <strong>und</strong> eventuell noch vergrößerte<br />

Etablierung von — Militärgewalt zu Gunsten, behufs Gehorsamserzwingung<br />

der zu erlassenden Schiedssprüche in Streitfällen gewinnen. Ein<br />

wirklich idealer „Frieden", der höchstens zu Kriegskoalitionen der „rechtlich"<br />

unterliegenden Mächte wider das Schiedsgericht führte!<br />

So bildet denn ein Schiedsgericht innerhalb den heutigen Verhältnissen<br />

ein grotesk-komisches Zerrbild des Unvermögens <strong>und</strong> der Unfähigkeit. Die<br />

Erfahrung beweist das schlagend genug. Schiedsgerichte existieren seit dem<br />

Jahre 1794. Sie wurden zum ersten Mal auf Gr<strong>und</strong> eines zwischen England<br />

<strong>und</strong> Amerika abgeschlossenen Vertrages etabliert. Bis zum Jahre 1904 —<br />

also innerhalb von 110 Jahren — gelangten 241 Fälle zum Austrag vor einem<br />

Schiedsgerichte. Welch trivialer Art diese Fälle gewesen sein müssen, wird<br />

man begreifen, wenn man nur ganz flüchtig die ausgebrochenen Kriege<br />

während dieser letzten HO Jahre überfliegt! Daß sich 241 Fälle friedlich zum<br />

Austrag bringen ließen, ist erklärlich, wenn man erstens weiß, daß es sich<br />

um Kleinigkeiten oder aber um Streitfragen von i n t e r n a t i o n a l e r Bedeutung<br />

handelte, die ein jeder Staat sehr gerne einem Schiedsgericht übergibt,<br />

um den sonstigen Ausbruch eines Weltkrieges zu verhindern, der unvermeidlich<br />

so manchen scheinbar unverrückbar feststehenden Thron ins Wanken<br />

brächte.<br />

Die gesamte bürgerliche Friedensbewegung ist eine solche, die sich<br />

auch moralisch zum T o d e verurteilt hat, seitdem sie gemeinsame Sache mit<br />

dem Staatentum, den Regierungen, gemacht hat, auf das lächerlich impotente 1<br />

Demagogenzeichen gekrönter Tyrannen hin mit fliegenden Fahnen in das<br />

Lager der Staaten Uberging, mit diesen, wie ja auch erst unlängst zur Langeweile<br />

<strong>und</strong> zum Gespött der ganzen gebildeten Welt, im Haag, mitsprach<br />

<strong>und</strong> mittat.* Wie einflußlos diese ganze Bewegung ist, geht schon aus dem<br />

Umstände hervor, daß die Haager Konferenz, die ja eigentlich k e i n e<br />

Friedenskonferenz war, sondern nur über die H u m a n i s i e r u n g des.<br />

K r i e g e s (!!) beriet —- Macchiavelli nannte ihn den „Austragsweg der<br />

Bestien" — so wirklich gar keinem öffentlichen Interesse begegnete. Besonders<br />

bemerkenswert ist auch, daß sogar die Presse es verschmähte, ausr-'<br />

führliche Berichte über ihre inhaltslosen, leeren Beratungen zu bringen! So<br />

allgemein ist das Gefühl, daß die Haager Konferenz nur Komödie, das Gefühl;<br />

für ihre Impotenz <strong>und</strong> Bedeutungslosigkeit verbreitet!<br />

Die bürgerliche Friedensbewegung darf sich, Hand in Hand mit den<br />

Staaten, rühmen, für i h r e n Antimilitarismus jene geflügelten Worte in sarkastischer,<br />

blutig höhnender Ironie verwirklicht zu haben, die der ungarische<br />

Ministerpräsident Dr. Wekerle in anderem Zusammenhang vor einiger Zeit<br />

äußerte: „Der Sozialismus", so sagte er, „ist ein Ideal, dem wir d a s j e n i g e<br />

entnehmen <strong>und</strong> von dem wir a l l d a s verwirklichen müssen, w a s u n s e r e n<br />

B e s t r e b u n g e n e n t s p r i c h t u n d w a s m i t d e r B e r ü c k s i c h t i g u n g<br />

d e r w a h r e n V e r h ä l t n i s s e a u c h d u r c h g e f ü h r t w e r d e n k a n n . . . "<br />

Nicht den Frieden, nicht die Humanität <strong>und</strong> Gerechtigkeit, nicht den<br />

Antimilitarismus berücksichtigen diese Herren Bourgeois <strong>und</strong> Politiker <strong>und</strong><br />

Staatsmatadoren. Maßgebend für ihren Antimilitarismus <strong>und</strong> brauchbar ist nur 1<br />

das — — „was unseren Bestrebungen entspricht . . ."<br />

•<br />

* An was für Komödien sich die „Friedensfre<strong>und</strong>e" o h n e P r o t e s t beteiligen, geht<br />

hervor aus folgender, von der Haager Konferenz an den russischen Zaren gesandten Depesche,<br />

welche unter allgemeinem lebhaften Beifall angenommen wurde: »Die zur Schlußsitzung ver-!<br />

einigte 2. Friedenskonferenz richtet in höchster Ehrerbietung den Ausdruck ihrer tiefen Dank-.'<br />

barkeit an den erhabenen Anreger <strong>und</strong> Förderer des humanitären Friedenswerkes, an dessen'<br />

Förderung sie gearbeitet hat unter dem Vertreter Eurer Majestät." Charakteristisch für ewigst<br />

Zeiten, auch ohne Kommentar!<br />

Fortsetzung folgt.<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur W. Horatschek (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.


Wien, 1. November 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 21.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />

1-/17. — Gelder sind zu senden an<br />

Marie Schindelar, Wien, XII., Herthergasse<br />

12, I./17.<br />

Kameraden! Wir ersuchen um<br />

rascheste Begleichung der fälligen<br />

Abonnements- <strong>und</strong> Mehrbezugsgelder!<br />

Ein offener Brief.<br />

An die Redaktion der „Arbeiter-<br />

Zeitung" in Wien.<br />

Am 2 2 . O k t o b e r I. J. brachte die von<br />

Ihnen redigierte T a g e s z e i t u n g einen Bericht<br />

über eine W ä h l e r v e r s a m m l u n g im 14. B e -<br />

zirk, in dem unter anderen W o r t s c h w i n d e -<br />

leien folgendes zu lesen stand:<br />

»Man lernte hier wieder einmal die<br />

sogenannten „radikalen" Leute als V e r b ü n -<br />

dete der Christlichsozialen kennen.«<br />

D e r betreffende Redakteur wußte, als<br />

er diese B e h a u p t u n g niederschrieb, daß er<br />

log <strong>und</strong> verleumdete. Da uns nun daran<br />

gelegen ist, Ihnen die G e l e g e n h e i t dazu<br />

zu bieten, mit Ihren B e w e i s e n für o b i g e<br />

Behauptungen herauszurücken, erklären wir<br />

den Verfasser o b i g e r Zeilen <strong>und</strong>, soweit<br />

sich die g e s a m t e Redaktion der »Arbeiterzeitung«<br />

mit ihm solidarisch erklärt, auch<br />

diese, für e i n e B a n d e g e m e i n e r , e h r -<br />

a b s c h n e i d e r i s c h e r V e r l e u m d e r , solange<br />

sie nicht gerichtlich oder schriftlich<br />

irgend eine geistige o d e r materielle B e z i e -<br />

hung zwischen uns <strong>und</strong> den uns schon<br />

wegen unseres prinzipiell atheistischen<br />

Standpunktes u n m ö g l i c h wesensverwandten<br />

Christlichsozialen erbracht hat.<br />

Uns genügt es, diese geradezu unerhört<br />

schändliche B e k ä m p f u n g s m e t h o d e der<br />

anarchistischen B e w e g u n g g e g e n ü b e r durch<br />

führende Sozialdemokraten, die damit den<br />

Beweis erbringen, wie geistes- <strong>und</strong> gesinnungsverwandt<br />

gerade s i e mit der Verleumdungsmethode<br />

von Christlichsozialen<br />

sind, niedriger zu hängen.<br />

Der französische Gewerkschaftskongreß<br />

zu Marseille.<br />

Bis zu dieser St<strong>und</strong>e hat das österreichische<br />

Proletariat n o c h von keiner Seite<br />

auch nur den kleinsten Bericht über die<br />

hochwichtigen V o r g ä n g e auf diesem 10.<br />

Kongreß der revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />

Frankreichs empfangen. Allzu<br />

sehr sticht der Pulsschlag dieser Beratung,<br />

die G e d a n k e n h ö h e <strong>und</strong> der Idealismus seiner<br />

Beschlüsse, von der schläfrigen Geistlosigkeit<br />

<strong>und</strong> dem gemeinen Eigennutz dessen<br />

ab, was uns die österreichische G e w e r k -<br />

schafts«bewegung» zu bieten hat, als daß<br />

die «Arbeiterzeitung» es hätte wagen dürfen,<br />

einen objektiven Bericht über den<br />

stattgehabten K o n g r e ß der «Konföderation<br />

der Arbeit» zu erstatten. S i e konnte, um<br />

nicht abermals ihrem g e w ö h n l i c h e n S c h i c k -<br />

sal, dem Fluch der Lächerlichkeit zu verfallen,<br />

es sich diesmal nicht leisten, mit<br />

wohlfeilen V e r l e u m d u n g e n über das herzufallen,<br />

was als grandiose Kraftleistung<br />

eines revolutionär organisierten Proletariats<br />

die gesamte W e l t des Reichtums <strong>und</strong> der<br />

Macht mit A n g s t <strong>und</strong> Furcht erfüllte: die<br />

Clemenceau, Briand, Viviani, die da gehofft<br />

hatten, daß dieser K o n g r e ß ein Bild «reuiger<br />

Einkehr» bieten würde <strong>und</strong> die sich<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss ; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneigne der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist. . ."<br />

auch so bitter enttäuscht finden. Denn gerade<br />

der Umstand, daß die sonst führenden,<br />

revolutionär anspornenden d e m e n t e sich<br />

im G e f ä n g n i s befinden, gibt diesem Kongreß<br />

eine b e s o n d e r e W e i h e : zuerst deshalb,<br />

weil es die Konföderation der Arbeit als<br />

einzige proletarische Körperschaft ist, die<br />

in Frankreich überhaupt von der radikalsozialdemokratischen<br />

R e g i e r u n g verfolgt<br />

wird <strong>und</strong> somit stolz auf ihre Opfergaben<br />

auf dem Altar der Freiheit weisen kann<br />

<strong>und</strong> dann zweitens deshalb, weil sie gerade<br />

durch die A b w e s e n h e i t der gefangenen<br />

«Führer» mittels ihrer B e s c h l ü s s e den klaren<br />

B e w e i s erbrachte, daß sie eines jeden<br />

G ä n g e l b a n d e s durch Führer entwachsen<br />

<strong>und</strong> s e l b s t ä n d i g , als sozial kämpfendes<br />

Proletariat, im Stande ist, den revolutionären<br />

Geist einer echt sozialistischen Wirtschaftsb<br />

e w e g u n g der Unterdrückten zu wahren,<br />

getreulich zu behüten.<br />


daß die Bergarbeiter im Falle eines Krieges<br />

unbedingt auch in den Generalstreik treten<br />

würden, <strong>und</strong> nur deshalb nicht für die<br />

antipatriotische Resolution gestimmt hätten,<br />

weil sie durch das W o r t «revolutionär»<br />

nicht die Verfolgung der Regierung auf<br />

sich ziehen wollen. Die Tragweite dieses<br />

Entschlusses ist leicht zu ermessen, denn<br />

wenn durch einen Generalstreik der Kohlengräber<br />

auch nur für ein paar Tage die<br />

Kohle für die Fabriken, Eisenbahnen <strong>und</strong><br />

Dampfschiffe ausgeht, wird jeder Krieg<br />

durch dieses Faktum allein unmöglich. Dieser<br />

Erfolg ist nun in Frankreich gesichert.<br />

*<br />

Mit 947 Stimmen gegen 109 wird der<br />

vollständige Bericht des Konföderationskomitees<br />

angenommen, in dem besonders<br />

rühmlich die s t a r k e B e t e i l i g u n g , resp.<br />

A r b e i t s e i n s t e l l u n g in fast allen Industrien<br />

während des August-Generalstreiks<br />

hervorgehoben wird.<br />

Als wichtiger Punkt tritt uns nun die<br />

Verhandlung über die i n t e r n a t i o n a l e n<br />

B e z i e h u n g e n entgegen. Bekanntlich hatten<br />

sich die französischen Gewerkschaften, gleich<br />

allen übrigen in anderen Ländern, dem<br />

1903 gebildeten, internationalen Sekretariat<br />

angeschlossen, das seine Zusammenkünfte<br />

alle zwei Jahre hält. Da sie aber sehr bald<br />

den mehr als bloß problematischen Wert<br />

dieser Einrichtung, die sich damit begnügen<br />

wollte, ihren paar Teilnehmern - - n u r die<br />

Beamten der Gewerkschaften durften sich<br />

beteiligen — einige vergnügte St<strong>und</strong>en zu<br />

bieten <strong>und</strong> statistische Tabellen in eintöniger<br />

Wiederholung zu veröffentlichen, durchschauten,<br />

wollten nun die französischen<br />

Gewerkschaftler auch hier ihrer historischen<br />

Mission im internationalen Befreiungskämpfe<br />

treu bleiben: L e b e n u n d G e i s t i n d i e s e<br />

K o n f e r e n z e n von S e k r e t ä r e n h i n e i n -<br />

z u b r i n g e n ! Sie legten somit im Jahre<br />

1904 einen Bericht über das Wesen des<br />

Generalstreiks, Antimilitarismus <strong>und</strong> den<br />

Achtst<strong>und</strong>entag, wie all dies von den revolutionären<br />

Gewerkschaften Frankreichs<br />

aufgefaßt wurde, vor; sie ersuchten darum,<br />

daß dieser Bericht a l l e n angeschlossenen,<br />

nationalen Gruppierungen zur B e r a t u n g<br />

<strong>und</strong> B e s p r e c h u n g unterbreitet werden<br />

sollte. Diesen Bericht hat der Vorsitzende<br />

Generalsekretär, der deutsche Gewerkschaftsbeamte<br />

<strong>und</strong> sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete<br />

L e g i e n , im Verein mit einem<br />

anderen, S a s s e n b a c h , e i n f a c h u n t e r -<br />

s c h l a g e n . Darauf zog sich die französische<br />

Gewerkschaftsbewegung von den Konferenzen<br />

z u r ü c k , zahlte aber ihre internationalen<br />

Beiträge nach wie vor weiter. Indessen<br />

besaß die letzte Konferenz dieser<br />

politischen Gewerkschaftsdrahtzieher, die<br />

zu Christiania im Jahre 1907 stattfand, die<br />

freche Anmaßung, sich in die internen Angelegenheiten<br />

der französischen Gewerkschaftsbewegung<br />

zu mengen <strong>und</strong> dieser zu<br />

empfehlen, sich in ihrer Betätigung mit den<br />

politischen Strebern der Sozialdemokratie<br />

zu vereinigen.<br />

Dies ist die Kernfrage der internationalen<br />

Beziehungen gewesen, die auch zu<br />

Marseille nun behandelt wurde. Und es ist<br />

nicht zuletzt das Erfreuliche dieses großartigen<br />

Kongresses, daß hier A r b e i t e r —<br />

<strong>und</strong> nur solche waren vertreten — den<br />

Herren Legien <strong>und</strong> Konsorten, die wohl in<br />

ihrem «disziplinierten» Lande Achtung <strong>und</strong><br />

abergläubischem Emporblicken begegnen<br />

können, von jeder revolutionären Bewegung<br />

aber durchschaut werden als Einschläferer<br />

<strong>und</strong> Hintertreppendiplomaten in ihrem eigenen<br />

Beamteninteresse <strong>und</strong> ihrer eigenen<br />

Sicherheit gegenüber jeder ges<strong>und</strong>en gewerkschaftlichen<br />

Aktion — daß die französischen<br />

Arbeiter diesen Herren durch die<br />

Annahme folgender Resolution die verdiente<br />

Maulschelle verabfolgten, die mit 722 gegen<br />

444 Stimmen angenommen ward.<br />

„Der Kongreß stellt fest, daß die Beziehungen<br />

mit dem Sekretariat nie aufgehoben worden sind.<br />

Er verweist auf den Widerspruch, dessen sich die<br />

Konferenz in Kristiania schuldig gemacht hat. Da<br />

sie, den Organismus der Konföderation mißachtend<br />

<strong>und</strong> unter dem falschen Vorgeben, daß die Anträge<br />

der Konföderation ihres politischen Charakters<br />

wegen nicht auf den internationalen Gewerkschaftskonferenzen<br />

diskutiert werden könnten, die französischen<br />

Gewerkschaftsorganisationen auffordert,<br />

an der parlamentarischen Aktion teilzunehmen.<br />

In Erwägung, daß die internationalen Konferenzen,<br />

die ausschließlich aus Gewerkschaftsbeamten<br />

bestehen, n i c h t das genaue Abbild des Gedankens<br />

<strong>und</strong> der Bestrebungen der international geeinigten<br />

Arbeiter sein können, in Erwägung ferner, daß das<br />

Programm, das sie sich gegeben .haben <strong>und</strong> von<br />

dem sie unter keiner Bedingung abgehen wollen,<br />

den nationalen Gewerkschaftsgruppen kein Interesse<br />

bietet, das die mit der Teilnahme verb<strong>und</strong>enen<br />

Opfer rechtfertigen würde,<br />

betont der Kongreß nichtsdestoweniger seinen<br />

Eifer, die internationalen Beziehungen enger <strong>und</strong><br />

wirksamer zu machen. Er erinnert an den Beschluß<br />

von Amiens <strong>und</strong> ergänzt ihn, indem er dem Konföderationskomitee<br />

den Auftrag gibt, der Einladung<br />

zur nächsten Konferenz Folge zu geben <strong>und</strong> die<br />

Forderung der i n t e r n a t i o n a l e n G e w e r k -<br />

s c h a f t s k o n g r e s s e auf die Tagesordnung zu<br />

setzen, wo die Bestrebungen zugunsten der Verhandlung<br />

jener Fragen festgesetzt werden sollen, deren<br />

Zulassung bisher systematisch verweigert worden ist."<br />

*<br />

Ungleich den übrigen Föderationen<br />

bestanden unter den Gießern, Mechanikern<br />

<strong>und</strong> Metallarbeitern keine nationalen Vereinigungen.<br />

Es stellte sich nun angesichts<br />

der stattgehabten Organisation der Unternehmer<br />

in diesen Branchen, wie überhaupt<br />

im Baugewerbe, die Notwendigkeit ein,<br />

daß diese drei Gruppierungen sich einerseits<br />

national, wie auch lokal föderativ zu<br />

einem Gemeinschaftsb<strong>und</strong>, einer Industrievereinigung<br />

zusammenschließen sollten. Der<br />

Streikfonds der Unternehmerorganisation<br />

beträgt bereits 800000 Franks. Ungleich den<br />

Organisationen in Deutschland <strong>und</strong> Österreich<br />

lassen es die französischen, revolutionären<br />

Gewerkschafter nun kluger Weise<br />

nicht auf ein wahnsinniges Finanzwettrennen<br />

zwischen Kapital <strong>und</strong> Arbeit ankommen.<br />

Sie wissen wohl, daß sie nie <strong>und</strong><br />

nimmer so viele Geldmittel zusammen bekommen<br />

können wie die Unternehmer;<br />

übrigens darf man den Unterschied auch<br />

nicht überblicken: in einem jeden Streik<br />

verliert der Kapitalist bloß ausgebeutete<br />

<strong>und</strong> erbeutete Profite, die Arbeiter aber die<br />

Tausende <strong>und</strong> Abertausende von Hellern,<br />

die sie mühselig erarbeitet haben <strong>und</strong> die<br />

nun in einem durch Wochen dauernden<br />

Streik haufenweise daraufgehen — um dann<br />

oftmals erst recht den Streik zu verlieren.<br />

Zu solchem Zweck soll man sich Geld vom<br />

M<strong>und</strong>e absparen <strong>und</strong> sammeln, um es dann<br />

so zu verlieren? Die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung<br />

Frankreichs besitzt ein<br />

anderes Mittel, um die Unternehmer kirre<br />

zu machen: es wurde beschlossen, daß die<br />

obgenannten Organisationen sich industriell<br />

miteinander zu vereinigen, bei jedem Konflikt<br />

mit dem Unternehmertum n i c h t im<br />

Branchenstreik, sondern im g e m e i n - .<br />

s c h a f t l i c h e n G e n e r a l s t r e i k d e r d r e i<br />

v e r b ü n d e t e n I n d u s t r i e n gleichzeitig<br />

diesem entgegenzutreten haben. Mit 919<br />

Stimmen gegen 180 wurde der Antrag angenommen,<br />

im Laufe der nächsten 6 Monate<br />

einen Generalkongreß obiger drei<br />

Industrien einzuberufen <strong>und</strong> auf diesem die<br />

K a m p f e s e i n i g k e i t perfekt zu machen.<br />

*<br />

Die Frage des täglichen Erscheinens<br />

der bis jetzt wöchentlichen »Volksstimme«<br />

erledigte der Kongreß vorläufig so, daß er<br />

sie einem Komitee übertrug, das dem<br />

nächsten Kongreß bestimmte Vorschläge<br />

über die Durchführung des Projektes zu<br />

unterbreiten hat.<br />

Weitere Abkürzung der Arbeitszeit <strong>und</strong><br />

Herabsetzung derselben in jenem Branchen,<br />

die den Achtst<strong>und</strong>entag noch nicht haben,<br />

ist das nächste Thema der Beratungen. Der<br />

Kongreß wies auf die Resultate des Generalstreiks<br />

von 1906 hin, durch welchen<br />

11 Branchen sich den Achtst<strong>und</strong>entag erkämpt<br />

haben. Dies sei nicht genügend, es<br />

müsse nun darnach getrachtet werden, diese<br />

Arbeit fortzusetzen. Dazu hat die Bauarbeiterföderation<br />

eine Resolution eingebracht,<br />

die das Konföderationskomitee beauftragt,<br />

eine sofortige Erhebung über die<br />

Arbeitszeit an den verschiedenen Orten zu<br />

organisieren u n d d i e F r a g e d e s<br />

K a m p f e s f ü r e i n e n a l l g e m e i n e n<br />

M a x i m a l a r b e i t s t a g von 8 St<strong>und</strong>en<br />

auf die Tagesordnung des nächsten Kongresses<br />

zu stellen.<br />

Der Kongreß debattiert nun über die<br />

Unfallversicherung durch den Staat oder<br />

durch private Versicherungsgesellschaften.<br />

Bei dieser Gelegenheit wird die ganze<br />

Nichtigkeit der parlamentarischen Gesetzesmacherei<br />

von unserem Kameraden Broutchoux<br />

(Bergarbeiter) demaskiert. Wir zitieren<br />

dies nach der Jaures'schen »L'Humanite«,<br />

da der Bericht des Gewerkschaftsorganes<br />

»La Voix du Peuple« selbst zur St<strong>und</strong>e,<br />

wo wir diese Zeilen schreiben, in seiner<br />

Kongreßwiedergabe noch nicht soweit gekommen<br />

ist. Ausführlich werden wir gerade<br />

über diesen, uns Österreichern sehr wichtigen<br />

<strong>und</strong> interessierenden Punkt demnächst berichten<br />

<strong>und</strong> zeigen, w i e revolutionäre Sozialisten<br />

die Frage der Alters- <strong>und</strong> Unfallversicherung<br />

auffassen im Gegensatz zur<br />

Sozialdemokratie <strong>und</strong> den ihr angegliederten<br />

Gewerkschaften zentralistischer Diktatur.<br />

Auch über den so ungemein wichtigen<br />

Punkt der A u s s p e r r u n g e n äußerte sich<br />

der Marseiller Kongreß klipp <strong>und</strong> klar, <strong>und</strong><br />

werden wir seine Resolution schon in<br />

nächster Nummer wiedergeben können. Der<br />

Inhalt derselben geht aber auch jetzt schon<br />

deutlich genug aus der Depeschenstilberichterstattung<br />

darüber hervor, die uns vorliegt.<br />

Die von einer Aussperrung betroffenen<br />

Organisationen werden aufgefordert, für die<br />

Verhinderung der Arbeit durch Nichtausgesperrte<br />

Vorsorge zu treffen, die nicht von<br />

der Aussperrung Betroffenen, aber im selben<br />

Gewerbe Beschäftigten, haben d u r c h<br />

p a s s i v e R e s i s t e n z a k t i v s t e r A r t den<br />

Kapitalisten so eindringlich als möglich das<br />

Schändliche ihres Tuns zu demonstrieren,<br />

während die Arbeiter der anderen Gewerbe<br />

diese Aussperrung als Signal, dafür zu<br />

nehmen haben, e i n e a l l g e m e i n e öffentl<br />

i c h e B e w e g u n g r e v o l u t i o n ä r e n C h a -<br />

rakters gegen die aussperrenden Kapitalisten<br />

zu propagieren, denen die Lust zu<br />

solchen Stückchen von Unternehmerbrutalität<br />

gehörig versalzen werden muß; als<br />

Unterstützung für die Ausgesperrten <strong>und</strong><br />

deren Familien müssen die im Betrieb<br />

stehenden Arbeiter kommunistische Speisehallen<br />

einrichten, <strong>und</strong> während der Aussperrung<br />

geht die Sorge für die Kinder<br />

über an die Arbeiter anderer Berufe, die<br />

die Kinder der Ausgesperrten freiwillig zu<br />

sich nehmen.<br />

Welch hochherzige Solidarität, welch<br />

echter Geist der künftigen Befreiung, welche<br />

Kampfesentschlossenheit ruht in diesen Beschlüssen,<br />

jederzeit bereit, durch die Tat<br />

ihren beredten, sprechenden Ergebenheitsbeweis<br />

darzubringen. Das ist die Arbeiterbewegung<br />

unmittelbarer, praktischer Gegenwartsreformen;<br />

das ist aber auch die Arbeiterbewegung,<br />

die den Sturz kapitalistischer<br />

Versklavung <strong>und</strong> tyrannischer staatlicher<br />

Herrschaft: den Sozialismus herbeiführen<br />

wird. Eine s o l c h e Arbeiterbewegung<br />

in Österreich zu begründen, ist die<br />

Aufgabe der Anarchisten!<br />

*<br />

Was hat es dem Marseiller radikalen<br />

Gemeinderat geholfen, daß er dem Kongreß<br />

die Tagung in der Arbeitsbörse untersagte,<br />

falls dieser den Punkt Antimilitarismus<br />

n i c h t von seiner Tagesordnung<br />

nehmen wolle? Es war vergebens — größer,<br />

schöner hat dieser Kongreß getagt, als wie<br />

wenn das staatliche Verbot nicht ergangen<br />

wäre. Das französische Proletariat hat uns<br />

einen Kongreß geboten, der eingehen wird<br />

in die Kulturgeschichte des kämpfenden<br />

Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus als eine inter-


national ihr Echo findende Manifestation:<br />

S e h t h i e r e i n P r o l e t a r i a t , das sich<br />

befreit hat von allen Lug- <strong>und</strong> Trugvorstellungen<br />

der bürgerlichen Weltordnung,<br />

das neben der Idee auch die Kampfesmittel<br />

zur Erziehung seiner eigenen Reife<br />

gef<strong>und</strong>en hat <strong>und</strong> betätigen wird! Unaufhaltsam<br />

ist der Fortschritt dieser kämpfenden<br />

Arbeiterklasse, <strong>und</strong> schon sehen wir in<br />

absehbarer Zeitdauer die politisch-ökonomische<br />

Situation der sozialen Revolution<br />

für das französische Volk vor uns. Klarer<br />

<strong>und</strong> deutlicher als es unsere Worte vermögen,<br />

hat unser Kamerad G r a n d j o u a n ,<br />

Künstler <strong>und</strong> Mitglied der Gewerkschaft<br />

der Lithographen, ein Teilnehmer an dem<br />

Kongreß, das herrliche Lichtbild dieses<br />

revolutionären Kongresses wiedergegeben<br />

in den folgenden flüchtigen Skizzierungen:<br />

«Ah! dieser jugendliche Zorn, diese<br />

Rebellen, die von allen Ecken Frankreichs<br />

mit einem fest bestimmten Auftrag zusammenkommen<br />

<strong>und</strong> die überall um uns herum<br />

sagen: «Meine Gewerkschaften haben mich<br />

beauftragt, für den allerenergischesten Antrag<br />

zu stimmen!» Den allerenergischesten!<br />

Ohne Einschränkung! Ah! diese prächtigen<br />

Rufe, die sich da erheben, aus der Brust<br />

von Arbeitern, die beseelt sind vom Freiheitsgefühl<br />

der sozialen Revolution! Sie erfüllten<br />

unser Ohr, <strong>und</strong> brachten uns unsere Kraft<br />

zum Bewußtsein, <strong>und</strong> das ist der größte Erfolg<br />

des Marseiller Kongresses.<br />

«Da gibt es keine Schönredner, keine<br />

Logiker, Taktiker <strong>und</strong> Professoren des<br />

«sich selbst genügenden»Syndikalismus oder<br />

Parlamentarismus mehr. Da gibt es von<br />

Zorn gerötete Gesichter <strong>und</strong> von Herzen<br />

kommende nnd zu Herzen gehende Stimmen,<br />

die Kämpfer aus allen Provinzen, der<br />

gedrängte Nachwuchs der französischen<br />

Gewerkschaftsvereinigung ist auch schon<br />

da! Ah! jder Staat kann die Arbeiterkonföderation<br />

auflösen, unsere Vorkämpfer einkerkern,<br />

das Haus der Gewerkschaften<br />

niederreißen . . . Wenn er damit fertig ist,<br />

wird die Arbeiterkonföderation lebensvoller<br />

als je erstehen!<br />

«Säumen wir nicht, weiter zu gehen! Wir<br />

haben den Militarismus <strong>und</strong> den Patriotismus,<br />

diese zwei Hindernisse am <strong>Weg</strong>e zur<br />

zur vollständigen Befreiung der Arbeiterschaft<br />

in unserem Empfinden <strong>und</strong> unserer<br />

Weltanschauung zerstört. Greifen wir auch<br />

das vorletzte Hindernis, den P a r l a m e n -<br />

t a r i s m u s an <strong>und</strong> erklären wir hiermit im<br />

Bewußtsein unserer Kraft, daß wir nicht<br />

mehr bei der parlamentarischen Wahlkomödie<br />

mittun.<br />

«Wenn wir uns dann freigemacht haben<br />

von dem Militarismus: der Waffe des Kapitals;<br />

dem Vaterland: der Maske des Kapitals;<br />

dem Parlamentarismus: dem Schild<br />

des Kapitals — dann bleibt uns nur noch<br />

das blutlose Gespenst kapitalistisch-staatlicher<br />

Herrschaft <strong>und</strong> Ausbeutung, mit dem<br />

fertig zu werden es ein Leichtes sein wird;<br />

denn wir haben so tüchtig vorgearbeitet,<br />

daß dem Ungeheuer Zähne <strong>und</strong> Klauen<br />

genommen sind, aus seiner Wehrlosigkeit<br />

der Friede der Zukunft erblüht.»<br />

Der kommunistische Anarchismus<br />

als Massenbewegung.<br />

Das Leben ist doch die beste Schule,<br />

die es gibt. Mag das System der Lüge, die<br />

Organisation der Gewalt, die ausgedacht<br />

wurden, uni die Volksmassen im Bann der<br />

Machthaber zu erhalten, noch so gut ausgebaut<br />

sein, die Härte der Tatsachen macht,<br />

daß das Lügengewebe zerrissen, die Schwächen<br />

der Gewaltorganisation aufgedeckt <strong>und</strong><br />

so zum Wanken gebracht werden.<br />

Wir treten einer in Österreich neuen<br />

Erscheinung entgegen, die unsere Hoffnung,<br />

unsere Zuversicht ist, dem Anarchismus als<br />

intelligenter <strong>und</strong> werdender Massenbewegung.<br />

Je tiefsinniger ein Problem ist, je weniger<br />

es an hergebrachten Formen anknüpft<br />

<strong>und</strong> alle Tradition über den Haufen wirft,<br />

desto weniger ist darauf zu rechnen, daß<br />

die breiten Schichten der Bevölkerung es rasch<br />

begreifen werden. Ihre Alltagssorgen, der<br />

aufreibende Kampf um das bischen Leben<br />

<strong>und</strong> Lebensmöglichkeit sind nicht die einzigen<br />

Ursachen dafür. Von jeher wurde die<br />

breite Masse von herrschsüchtigen Religionspfaffen,<br />

Politikanten <strong>und</strong> Gauklern als Piedestal<br />

benützt, die sich emporzuschwingen<br />

<strong>und</strong> die alle Ursache haben zu sorgen, daß<br />

die Unwissenheit nicht schwinde, weil sonst<br />

ihre Herrlichkeit ein jähes Ende nehmen<br />

würde. Die im Volke vorhandenen Kräfte<br />

mußten geb<strong>und</strong>en werden, weil nur so das<br />

Geschäft der Politikanten blühen konnte.<br />

Seit r<strong>und</strong> sieben Jahrzehnten ist der<br />

Sozialismus die Sehnsucht der Unterdrückten.<br />

Die Tatsache, daß jedes Wollen der<br />

Massen verwirklicht werden m u ß , wurde<br />

unterb<strong>und</strong>en durch die ins Volk gepflanzte<br />

Wahnthese, daß die Entwicklung der Produktion<br />

den Sozialismus bringe, daß es<br />

somit weiter nichts bedürfe, als zuzusehen<br />

<strong>und</strong> zu warten. Das gutmütige Volk wartete<br />

<strong>und</strong> wartet, es verlernt die Aktion, die allein<br />

befreien kann. Der Staat, das Exekutivorgan<br />

der Besitzenden, wird, anstatt eine Schwächung<br />

zu erfahren, gestärkt <strong>und</strong> gekräftigt,<br />

dadurch, daß man ihn zum demokratischen<br />

«Volksstaat» umlügt <strong>und</strong> so die Massen<br />

derer, die k e i n Interesse an seinem Bestand<br />

haben, weil er sie mit Gewalt fernhält von<br />

den Produkten ihrer Arbeit, an seine<br />

Stränge spannt. «Wir müssen den Staat


— 65 —<br />

die Notwendigkeit <strong>und</strong> die Freude des Lernens zu<br />

beweisen; <strong>und</strong> wenn es keine solchen Menschen gibt,<br />

so kann sie die Regierung nicht erschaffen. Sie kann<br />

nur, wie das heute geschieht, diese Menschen für<br />

sich beanspruchen, sie aller nutzbringenden Arbeit<br />

entziehen, sie zur Ausarbeitung von Vorschriften verwenden,<br />

die man mit Polizeigewalt in Kraft setzen<br />

muß mit einem Wort, sie würde aus ihnen, die<br />

früher intelligente <strong>und</strong> begeisterte Lehrer waren, P o -<br />

litiker machen, deren einziges Bestreben wäre, ihr<br />

besonderes Steckenpferd allen aufzuzwingen <strong>und</strong> sich<br />

um jeden Preis in ihrer Stellung zu erhalten.<br />

Wenn es Ärzte <strong>und</strong> Hygieniker gibt, so werden<br />

diese das Ges<strong>und</strong>heitswesen organisieren. Und wenn<br />

es keine gibt, kann die Regierung sie nicht erschaffen.<br />

Sie könnte nur bewirken — dank des allzu gerechtfertigten<br />

Mißtrauens, das das Volk gegen alles hegt,<br />

was man ihm aufzwingt, daß man den Ärzten nicht<br />

mehr trauen würde, <strong>und</strong> daß womöglich das Volk<br />

dieselben bei einer Epidemie als Giftmischer verfolgte.<br />

Wenn es Ingenieure <strong>und</strong> Maschinisten gibt, werden<br />

diese den Eisenbahnverkehr organisieren — <strong>und</strong><br />

wenn es keine gibt, so kann sie die Regierung nicht<br />

erschaffen.<br />

Die soziale Revolution kann, indem sie die Staatsgewalt<br />

<strong>und</strong> das monopolistische Privateigentum abschafft,<br />

keine neuen Kräfte schaffen, die nicht schon bestehen;<br />

aber sie wird das Feld frei machen für die Entwicklung<br />

aller Kräfte, aller Fähigkeiten, die vorhanden<br />

sind, sie wird alle Klassen aufheben, die ein Interesse<br />

daran haben, die Massen unwissend <strong>und</strong> elend zu<br />

• ANARCHIE, von Enriko Malatesta. 9


— 66 —<br />

erhalten <strong>und</strong> wird es möglich machen, daß ein j.eder<br />

nach seinen Fähigkeiten <strong>und</strong> seinen Interessen <strong>und</strong><br />

Neigungen handeln <strong>und</strong> die anderen beeinflussen kann.<br />

Und das ist der einzige <strong>Weg</strong>, auf welchem sich die<br />

Masse des"Volkes auf eine höhere Stufe erheben kann;<br />

denn nur, wenn man frei ist, kann man lernen, die<br />

Freiheit zu gebrauchen, so wie man nur durch Arbeiten<br />

die Arbeit erlernt.<br />

Eine Regierung, wenn sie auch schon keine<br />

anderen Nachteile hätte, hätte immer den Nachteil,<br />

die Beherrschten an die Unterwerfung zu gewöhnen,<br />

sich selbst mehr <strong>und</strong> mehr unentbehrlich zu machen.<br />

Anderenteils, wenn man eine Regierung haben will,<br />

die das Volk erziehen <strong>und</strong> zur Anarchie führen soll,<br />

so muß man wissen, wie <strong>und</strong> aus was für Menschen<br />

diese Regierung gebildet werden soll.<br />

Wird es die Diktatur der «Besten» sein? Aber<br />

wer sind diese «Besten»? Und wer wird entscheiden,<br />

wer die Besten sind? Die große Mehrheit der Menschen<br />

ist gewöhnlich den alten Vorurteilen, Ideen <strong>und</strong><br />

Instinkten unterworfen, die von der intelligenteren<br />

Minderheit schon überw<strong>und</strong>en sind. Aber wer wird<br />

wählen unter den tausend Minderheiten, von denen<br />

eine jede glaubt, Recht zu haben — <strong>und</strong> von welchen<br />

jede in gewissen Punkten auch wirklich Recht haben<br />

kann? Was wird darüber entscheiden, welcher Partei<br />

man das Verfügungsrecht über die gesellschaftlichen<br />

Kräfte überlassen soll, wenn nur die Erfahrung der<br />

Zukunft zeigen kann, welche unter den sich bekämpfenden<br />

Parteien Recht hat?


— 67 —<br />

Oder wird die neue Regierung auf dem <strong>Weg</strong>e<br />

des allgemeinen Wahlrechtes gewählt werden? Und<br />

wird dieselbe so mehr oder weniger ehrlich den<br />

Willen der Mehrheit vertreten ? Aber wenn man diese<br />

guten Wähler für unfähig hält, selbst für ihre eigenen<br />

Interessen zu sorgen, wie werden sie je die richtigen Hirten<br />

wählen können, die sie führen sollen? Wie können<br />

sie das Zauberkunststück vollbringen, durch die Stimmen<br />

einer Masse von Dummköpfen ein Genie zu<br />

ihrem Vertreter zu wählen? Und was soll mit den<br />

Minderheiten geschehen, die ja doch der intelligenteste,<br />

tatkräftigste <strong>und</strong> am meisten vorgeschrittene Teil der<br />

Gesellschaft sind? * * *<br />

Um die soziale Frage zum Wohle Aller zu lösen,<br />

gibt es nur eins: B e f r e i u n g d e r M e n s c h h e i t von<br />

j e d e r S t a a t s a u t o r i t ä t <strong>und</strong> W i e d e r e r s t a t t u n g des<br />

g e s e l l s c h a f t l i c h e n R e i c h t u m s aus den Händen<br />

der e i n z e l n e n R e i c h e n in die H ä n d e des G e -<br />

s a m t v o l k e s — der A r b e i t e n d e n !<br />

Alles zum Leben Notwendige allen Menschen<br />

zugänglich zu machen <strong>und</strong> es ermöglichen, daß alle<br />

Kräfte, alle Fähigkeiten, aller gute Wille unter den<br />

Menschen zur Befriedigung der Bedürfnisse aller beitragen<br />

können — dies ist die Aufgabe des sozialen<br />

Kampfes!<br />

Wir kämpfen für die Anarchie <strong>und</strong> den Sozialismus,<br />

weil wir überzeugt sind, daß Anarchie <strong>und</strong><br />

Sozialismus diejenigen sozialen <strong>und</strong> ökonomischen<br />

Zustände sind, die in der Zeitperiode sozialen Neuaufbaues<br />

sofort in Wirksamkeit treten müssen; daß<br />

man die gesellschaftlichen Leistungen — die in diesem


— 68 —<br />

Falle das ganze soziale Leben umfassen — der selbständigen,<br />

freiwilligen, freien, nicht offiziellen, unbeherrschten<br />

Tätigkeit von all jenen anvertrauen muß,<br />

die das Interesse <strong>und</strong> den Willen haben, sich zu<br />

betätigen.<br />

Was immer Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft den Anarchisten<br />

bringen mögen, ihre Arbeit wird nie vergebens<br />

gewesen sein. Je entschlossener wir sind, unser ganze's<br />

Ideal zu verwirklichen, umso gewisser werden<br />

Staat <strong>und</strong> Privateigentum in der menschlichen Geschichte<br />

überw<strong>und</strong>en werden.<br />

Und wenn wir heute fallen, ohne unsere Fahne zu<br />

senken, so können wir morgen des Sieges sicher sein!


erobern», so rufen sie <strong>und</strong> beeilen sich, an<br />

die Krippe zu kommen, die der Staat für<br />

jene bereit hält, die ihm behilflich sind, die<br />

Massen in ihrer Unwissenheit zu erhalten,<br />

weil sie so die willfährigsten Ausbeutungsobjekte<br />

bilden.<br />

Dem Autoritätsglauben, dieser stärksten<br />

Stütze der Machthaber, wird kein Abbruch<br />

getan, <strong>und</strong> vermodert eine dieser Autoritäten,<br />

flugs werden neue geschaffen <strong>und</strong> dem<br />

Volke zur Anbetung vorgesetzt. Die schwarze<br />

Autorität der Staatsreligion findet ihr Gleichnis<br />

in der roten, die, wenn auch mit anderen<br />

Worten, das G l e i c h e fordert, nämlich:<br />

geduldiges Ertragen der Ausbeutung<br />

<strong>und</strong> statt des Himmels wird uns der «Zukunftsstaat»<br />

mit seinen Segnungen einer<br />

s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n R e g i e r u n g<br />

versprochen.<br />

Allerdings sagen diese Herren, daß sie<br />

ja die Arbeiter zum Kampfe gegen die Ausbeuter<br />

führen. Aber, fragen wir, wurde dem<br />

Kapital auch nur im Geringsten Abbruch<br />

getan in diesen Jahrzehnte langen Kämpfen?<br />

Werden nicht mehr denn je Reichtümer<br />

hervorgestampft aus dem Schweiße, den<br />

Knochen der Arbeiterlegionen. Zieht nicht<br />

die Ausbeutung immer weitere Kreise von<br />

Frauen <strong>und</strong> Kindern in ihren Bannkreis,<br />

um sie, vorzeitig verbraucht, dann ausgepreßt<br />

zur Seite zu weifen? Sind vor allem<br />

die Profite der Kapitalisten kleiner geworden?<br />

Wir denken, niemand kann auf diese<br />

Fragen anders antworten, als sie zu bekräftigen,<br />

<strong>und</strong> darauf kommt es an. Was W<strong>und</strong>er,<br />

wenn die Massen kampfmüde werden,<br />

wenn es ihnen nicht gelingt, ihrem <strong>Ziel</strong>e<br />

auch nur um einen Schritt näher zu kommen.<br />

Es bedarf immer neuer Spekulationen der<br />

Führer, um wenigstens nach außen den<br />

Schein einer Bewegung hervorzurufen, die<br />

nur mehr für jene Interesse hat, die davon<br />

ein angenehmes bürgerliches Dasein genießen.<br />

Dennoch — in den Massen beginnt<br />

die Revision ihrer Anschauungen, <strong>und</strong> sie<br />

prüfen <strong>und</strong> vergleichen. So kommt es, daß<br />

der k o m m u n i s t i s c h e A n a r c h i s m u s<br />

heute nicht mehr nur kleine Anhänger erschaffen<br />

hat, sondern mehr <strong>und</strong> mehr in<br />

den Volksmassen Boden gewinnt. Diejenigen,<br />

die sich nicht nur Sozialisten nennen, sondern<br />

es auch wirklich sind, vermissen in<br />

der Sozialdemokratie d e n Sozialismus. D i e<br />

A g i t a t i o n für d i e W a h l s t i m m e n h a t<br />

i h n e r s c h l a g e n .<br />

Mit Recht können wir sagen, daß wir,<br />

die kommunistischen Anarchisten, heute die<br />

einzigen Verfechter des Sozialismus sind.<br />

Damit ist auch die Zukunft der anarchistischen<br />

Bewegung festgesetzt <strong>und</strong> bezeichnet.<br />

Der Sozialismus setzt sich durch, weil der<br />

Hunger, das Elend der Massen ihr Ende<br />

finden müssen. Diese sind die treibende<br />

Kraft, <strong>und</strong> da die breite Masse nicht verbürgerlicht<br />

werden kann, wie sich einige<br />

Tausende von Arbeiterführern verbürgerlicht<br />

haben <strong>und</strong> nunmehr mit der übrigen Bourgeoisie<br />

parasitäre Existenzen auf Kosten<br />

der Arbeitenden bilden, so kann nur der<br />

Sozialismus die Lösung sein.<br />

Mit der Verbreiterung der Bewegung<br />

darf dieselbe aber durchaus nicht an Tiefe<br />

verlieren. Es ist vorweg klar, daß in einer<br />

Bewegung, die eine autoritäre Führerschaft<br />

nicht kennt, die keine gutbezahlten Ämtchen<br />

zu vergeben hat, jene streberischen Elemente,<br />

die jede parlamentarische Partei verunzieren,<br />

uns ferne bleiben. Und das ist<br />

gut so. D e r N i e d e r g a n g d e r S o z i a l -<br />

d e m o k r a t i e a l s s o z i a l i s t i s c h e P a r -<br />

tei ist n i c h t i n l e t z t e r L i n i e a u f<br />

d a s K o n t o d i e s e r S t r e b e r z u r ü c k -<br />

z u f ü h r e n . In ihren Wurzeln der Bour-<br />

geoisie entstammend, kennen sie nur einen<br />

Ausgleich der Gegensätze, reden dem Bürgertum<br />

ein, daß ja die Arbeiterbewegung<br />

etwas ganz Ungefährliches sei, während sie<br />

den Arbeitern predigen, daß sie auch in<br />

der heutigen Wirtschaftsordnung ganz gut<br />

ihre Forderungen durchsetzen können; das<br />

übrige, der «Zukunftsstaat», sei Sache der<br />

Entwicklung.<br />

Diese Gefahr existiert für uns vorweg<br />

nicht. Allerdings tritt ein Problem an uns<br />

heran, das seitens der Sozialdemokratie nie<br />

gelöst wurde, es ist d i e E r z i e h u n g<br />

d e r A r b e i t e r z u m t a t s ä c h l i c h e n<br />

K l a s s e n b e w u ß t s e i n , z u m e i g e n e n<br />

z i e l b e w u ß t e n H a n d e l n . Der soziale<br />

Kampf mit seinen tausendfältigen Erscheinungen<br />

erfordert Selbständigkeit der Massen,<br />

wenn er wirklich durchgekämpft werden<br />

soll. Auch hier haben wir den Vorteil, daß<br />

die Massen geistig regsam werden müssen,<br />

weil kein Führertum vorhanden ist. Seitens<br />

der sozialdemokratischen Führer wird mit<br />

Vorliebe darauf hingewiesen, daß ja die<br />

geistig tiefstehende Bevölkerung ohne Führer<br />

sich nicht betätigen könne. Wir aber sagen:<br />

gerade jüngst, angesichts der Landtagswahlkomödie,<br />

b e n ü t z t e t i h r d e n g e i s t i g e n<br />

T i e f s t a n d d e r B e v ö l k e r u n g z u r<br />

G e w i n n u n g v o n A n h ä n g e r n ( W a h l -<br />

s t i m m e n ) , o h n e z u t r a c h t e n , d a s<br />

g e i s t i g e N i v e a u d i e s e r M a s s e n z u<br />

h e b e n ! Der schlagendste Beweis dafür ist<br />

wohl der, daß die wenigsten Sozialdemokraten<br />

auch nur die bescheidensten Kenntnisse<br />

über den Sozialismus haben <strong>und</strong> daß<br />

ihnen jede Möglichkeit, die verschiedenen<br />

sozialistischen Strömungen kennen <strong>und</strong> miteinander<br />

vergleichen zu lernen, benommen<br />

wird.<br />

Wir können also einer Verbreitung der<br />

Bewegung ruhig entgegen sehen, es kann


gar nicht dahin kommen, daß sie an Tiefe<br />

verliert. Die Reinheit unseres Ideals, des<br />

Sozialismus ist dadurch gesichert, daß wir<br />

jedes Paktieren mit der bürgerlichen Gesellschaft,<br />

als unsere Feindin, r<strong>und</strong>weg ablehnen,<br />

dagegen ohne Scheu die Massen über<br />

das Wesen dieser Gesellschaft aufklären,<br />

daß wir d u r c h u n s e r e a n t i p a r l a -<br />

m e n t a r i s c h e S t e l l u n g d i e G e f a h r<br />

m e i d e n , die jeder Parteigruppierung droht,<br />

die sich auf parlamentarischen Standpunkt<br />

stellt, die Gefahr, vom Staat korumpiert zu<br />

weiden, wie es bereits jetzt mit der Sozialdemokratie<br />

geschehen.<br />

<strong>Unser</strong>e B<strong>und</strong>esgenossen sind der Hunger<br />

<strong>und</strong> das Massenelend; die heutige Gesellschaft<br />

sorgt dafür, daß diese täglich mehr<br />

werden, trotz schwindelhaft trügerischer<br />

Reförmchen <strong>und</strong> Staatsaktionen. Wer zu<br />

uns steht, der steht deshalb zu uns, weil<br />

er nichts als seine Ketten zu verlieren hat,<br />

weil er entrechtet <strong>und</strong> beraubt ist aller<br />

Güter, die er mit seiner Hände Arbeit erzeugt.<br />

So sehen wir hoffnungsfreudig in<br />

die Zukunft, wissend, daß die Zeit kommen<br />

muß, wo das Ideal des kommunistischen<br />

Anarchismus verwirklicht wird. E. H.<br />

Revolutionäre Gewerkschaftsbewegung<br />

(Syndikalismus)<br />

oder Zentralismus?<br />

Obgleich das am Kopf des Artikels<br />

angegebene Thema oft der Gegenstand<br />

heftiger Diskussionen gewesen ist, gibt es<br />

immer wieder von neuem Anlaß zu kritischen<br />

Betrachtungen. Aus einer unbestreitbaren<br />

Tatsache heraus, daß eben immer<br />

mehr der Ruf nach großen, föderativ organisierten<br />

Industrieverbänden erschallt, die<br />

aber in ihrer Form über den bisherigen<br />

Zentralverbänden hinaus organisiert sein<br />

sollen.<br />

Syndikalismus, ein Wort französischen<br />

Ursprunges, das sich für Deutschland eigentlich<br />

besser durch F ö d e r a l i s m u s ausdrücken<br />

läßt, ist der schärfste Gegensatz<br />

zum Zentralismus. Es hat diese Kampfesmethode<br />

in den romanischen Ländern schnell<br />

Anwendung <strong>und</strong> Eingang gef<strong>und</strong>en. Frankreich,<br />

Spanien, Italien, ja auch Holland <strong>und</strong><br />

das kleine, aber industrielle Böhmen sind<br />

in ihrer revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />

syndikalistisch.<br />

Es mag ein eigentümlicher Rassenzug<br />

sein, daß immer in den romanischen Ländern<br />

Strömungen gegen eine tote, starre<br />

zentralistische Organisationsform, die ihrem<br />

Wesen nach autoritär sein muß, anzutreffen<br />

sind. Schon zur Zeit Bakunins in der alten<br />

Internationale, konnte man diese Ablehnung<br />

aller Zwangsformen der Organisation beobachten.<br />

Nicht nur in wirtschaftlicher, auch<br />

in politischer Hinsicht ist dieses der Fall<br />

gewesen. Marxismus <strong>und</strong> Zentralismus sind<br />

Faktoren, die in Spanien fast gar nicht, in<br />

Frankreich <strong>und</strong> Italien in Fraktionen <strong>und</strong><br />

Parteiungen gespalten sind. Von einer solchen<br />

Dimension, wie in Deutschland, wo<br />

diese Lehre wie ein Alp auf dem geistigen<br />

Leben lastet, kann in jenen Ländern keine<br />

Rede sein. So liegt es in der Natur der<br />

Sache, daß vollständig autonome Gruppen<br />

mit einander verb<strong>und</strong>ener Gewerkschaften<br />

in Deutschland <strong>und</strong> in deren Tochterbewegung<br />

zu Österreich kaum verhanden sind.<br />

Was Syndikalismus ist, das ist in diesen Länder<br />

der «Intelligenz <strong>und</strong> der starken Faust»,<br />

dank den Verdrehungen der Führer, spanischer<br />

Pfeffer. Man kennt bei uns nur<br />

wohlgefüllte Kassen, ungeheure Mitgliederzahlen<br />

<strong>und</strong> ein Heer von Beamten, Registrierung<br />

von einer Zentralstelle aus, individuelle<br />

oder Gruppeninitiative kennt man<br />

nicht; ein freies Selbstbestimmungsrecht<br />

ebenfalls nicht; dafür aber einen ganzen<br />

Schwanz von Unterstützungseinrichtungen,<br />

die reinen Versicherungsgesellschaften, einen<br />

ganz schwerfälligen Verwaltungsapparat, wie<br />

im Reiche aller Bürokraten — das ist die<br />

große, sozialdemokratische, tonangebende<br />

Gewerkschaftsbewegung Deutschlands <strong>und</strong><br />

Österreichs.<br />

Als was wird diesen irregeführten Arbeitern<br />

nun das revolutionäre Gewerkschaftsprinzip,<br />

Syndikalismus, hingestellt? Als anarchistischer<br />

Unsinn, Utopie <strong>und</strong> Schwärmerei,<br />

die nicht vereinbar sind mit «moderner»<br />

Arbeiterbewegung. Tatsächlich aber ist der<br />

Syndikalismus eben alles das, was dem<br />

Arbeiter fehlt, ist der Zusammenschluß freier<br />

starker, selbständig denkender Persönlichkeiten.<br />

S y n d i k a l i s t s e i n , d a s h e i ß t<br />

r e v o l u t i o n ä r e r G e w e r k s c h a f t s -<br />

k ä m p f e r s e i n . Die Gewerkschaft solcher<br />

Arbeiter ist eine autonome, auf föderalistischem<br />

Solidaritätsprinzip ruhende Organisation.<br />

Der Syndikalismus faßt alle echten<br />

Kampfesmethoden der Arbeiterbewegung<br />

ganz in einem sozialen Rahmen zusammen;<br />

sie sind: Generalstreik, direkte Aktion, Antimilitarismus.<br />

Syndikalismus bedeutet wirtschaftlicher<br />

Kampf, Verneinung jeder parlamentarischen<br />

Vermittlungsaktionen, jede<br />

Ablehnung irgend eines parlamentarischpolitischen<br />

Faktors; er bedeutet Ausschaltung<br />

jedes Vertretungssystems, die Erziehung <strong>und</strong><br />

Sammlung von Kämpfern zur Führung von<br />

sozialen Kämpfen, von Pionieren der sozialen<br />

Revolution. Mit einem Worte gesagt,<br />

der Syndikalismus oder das revolutionäre<br />

Gewerkschaftsprinzip ist Tatkraft, Leben,<br />

Energie <strong>und</strong> Kampf; der Zentralismus ist<br />

Revolutionäre Gewerkschaftsbewegung 2<br />

Starrheit, schwerfällige Organisationen ohne<br />

Geist <strong>und</strong> Regsamkeit.<br />

Um Irrtümern vorzubeugen, muß ich<br />

gleich erklären, daß für mich Syndikalismus<br />

n i c h t identisch mit Anarchismus ist. Ich<br />

sehe, wie alle Anarchisten, im Syndikalismus<br />

vielmehr nur eine besondere, ganz für die<br />

Propaganda der revolutionären, sozialistischen<br />

Arbeiterbewegung geeignete Form<br />

des wirtschaftlichen Kampfes, der zur vollkommenen<br />

Befreiung des Proletariats geleitet.<br />

Georg: Weidner.<br />

Proletarier oder Parlamentarier?<br />

Jedes Vertretungssystem führt unvermeidlich<br />

zur Herrschaft der erwählten «Vertreter»<br />

über die sie erwählende Masse; dies<br />

liegt im Wesen des Parlamentarismus, <strong>und</strong><br />

nicht in den persönlichen Fehlern der Gewählten.<br />

Es wäre kindisch zu behaupten,<br />

daß die Arbeiter gerade zufällig das Unglück<br />

haben, die unehrlichsten Menschen<br />

zu ihren Abgeordneten zu wählen; es wird<br />

keinen Unterschied machen, wen immer<br />

sie ins Parlament schicken, denn wenn<br />

jemand durch die bestehende Gesellschaftsordnung<br />

monatlich 600 Kronen Einnahmen<br />

als Abgeordneter hat, so ist es ganz natürlich,<br />

daß er darum besorgt ist, jede Änderung<br />

in den sozialen Verhältnissen zu vermeiden.<br />

Die Psychologie des sozialistisch gesinnten<br />

Arbeiters, der ins Parlament gewählt<br />

wird, ist sehr einfach. Jung, tatkräftig, intelligenter<br />

als die Masse seiner Kameraden,<br />

sieht er die Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen<br />

Zustände <strong>und</strong> schließt sich der<br />

sozialdemokratischen Partei an, um für die<br />

Revolution zu kämpfen. Er hat aber durch<br />

bittere Erfahrungen gelernt, daß jener, der<br />

seine Meinung rücksichtslos heraussagt,<br />

nicht gern gesehen wird, <strong>und</strong> daß man einen<br />

versöhnlichen Ton anschlagen muß, um<br />

sich beliebt zu machen. Er hält die «goldene<br />

Mittelstraße» ein, damit er seine Gesinnung<br />

leicht mit der stärkeren Richtung<br />

in Einklang bringen kann. So erkaltet sein<br />

revolutionärer Eifer immer mehr.<br />

Wenn er einmal ins Parlament gewählt<br />

worden ist, bleibt er zwar «Sozialist», denn<br />

dem Sozialismus verdankt er ja seine Stelle.<br />

In den Versammlungen spricht er nach wie<br />

vor gegen die herrschende Gesellschaftsordnung;<br />

seine Entrüstung ist zwar nicht<br />

mehr echt, doch das Publikum merkt das<br />

nicht. A b e r s e i n e m a t e r i e l l e L a g e<br />

h a t s i c h g a n z u m g e s t a l t e t . Früher<br />

bewohnte er mit seiner Familie ein elendes<br />

Zimmer; jetzt hat er eine bequeme Wohnung<br />

<strong>und</strong> einen Dienstboten; er <strong>und</strong> seine<br />

Familie kleiden sich gut. Darum fangen<br />

viele von den alten Fre<strong>und</strong>en an, ihnen<br />

lästig zu werden; sie passen mit ihrer Armut<br />

gar nicht in seine behaglichen Verhältnisse,<br />

sind ihm fortwährend ein Vorwurf.<br />

Er fängt an, sie sich vom Leibe zu<br />

halten. Früher konnte ihn jeder wann immer<br />

besuchen, jetzt hat er einen Empfangstag.<br />

Seine engeren Bekannten stammen zwar<br />

nicht aus den höchsten Kreisen der Bourgeoisie<br />

— denen ist der ehemalige Arbeiter<br />

noch nicht «vornehm» genug, doch seinen<br />

Sohn werden sie vielleicht aufnehmen, wenn<br />

der Vater ihm durch «vernünftiges Benehmen»<br />

eine höhere Staatsanstellung oder<br />

Karriere verschafft hat — aber Abgeordnete,<br />

einige wohlgewählte Bourgeois-«Genossen»<br />

wohlbestellte Kaufleute <strong>und</strong> kleinere Beamte<br />

— dies sind die Fre<strong>und</strong>e, die sich der<br />

Arbeiterdeputierte auswählt.<br />

Damit ist dann d e r l e t z t e R e s t<br />

s e i n e s r e v o l u t i o n ä r e n G e f ü h l e s<br />

v e r s c h w u n d e n . Im Gr<strong>und</strong>e genommen<br />

wünscht er nichts anderes, als daß es noch<br />

lange ein Proletariat <strong>und</strong> eine sozialdemokratische<br />

Partei geben soll, welche ihn auch<br />

weiterhin ins Parlament sendet. Er fängt<br />

an, mit den Abgeordneten der gemäßigteren<br />

Parteien in Verbindung zu treten <strong>und</strong>, um<br />

seinen Verwandten gute Stellen, sich selbst<br />

gute Geschäfte zu verschaffen, wird er<br />

selber immer «gemäßigter». Er äußert sich<br />

nie in einer heiklen Frage; wenn er die<br />

Regierung angreift, tut er es in einem<br />

nebensächlichen Punkt; er verurteilt den<br />

Krieg, bleibt aber Patriot; oder, um es auch<br />

den Sozialisten recht zu machen, erklärt er,<br />

daß man das w a h r e V a t e r l a n d erst<br />

schaffen müsse. Er bemüht sich mit allen<br />

Kräften, seine Partei so gemäßigt wie nur<br />

möglich zu machen, was ihm gewöhnlich<br />

gelingt, denn er hat Einfluß auf die Wähler.<br />

Seine bloße Anwesenheit in der Versammlung<br />

genügt, um den Sinn der Beschlüsse<br />

nach seinem Willen zu ändern; einige beherrscht<br />

er durch die Vorteile, die sie von<br />

ihm erwarten, andere durch die Angst, die<br />

sie vor ihm haben; die übrigen durch seine<br />

Überredungskunst, seine elegante Erscheinung.<br />

Er versteht es übrigens, sich zu<br />

gleicher Zeit revolutionär <strong>und</strong> reformistisch<br />

zu erklären, so daß j e d e Partei glaubt,<br />

daß er ihr am Nächsten steht.<br />

Wenn der zum Abgeordneten gewählte<br />

Arbeiter anders handeln würde, als er es<br />

tut, so müßte er ein Mensch sein, dem<br />

sein Ideal über alle Interessen, über seinem<br />

Vorteil, seinem Behagen, seinen Fre<strong>und</strong>en,<br />

ja seiner Familie steht. Wieviel solche<br />

Menschen gibt es denn? Der Parlamentarier<br />

ist aber stets ein Durchschnittsmensch <strong>und</strong><br />

handelt nach den Ansichten <strong>und</strong> Interessen<br />

eines solchen. Das ist ganz natürlich. Und<br />

daraus folgt, daß in einer revolutionären<br />

Bewegung der Parlamentarismus nichts zu<br />

suchen hat.<br />

Gruppen <strong>und</strong> Versammlungen.<br />

Allgemeine Gewerkschafts-Föderation. V.,<br />

Einsiedlergasse 60. Jeden Sonntag 6 Uhr abends.<br />

Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />

Gasthaus, XIV., Märzstraße 33.<br />

Föderation der Bauarbeiter. X., Eugengasse<br />

9, Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />

jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />

Unabhängige Schuhmacher-Gewerkschaft.<br />

XIV., Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />

Männergesangverein „Morgenröte". XIV.,<br />

Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />

jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />

Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „Pokrok". XIV.,<br />

Hütteldorferstraße 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />

Freie Einkaufsgenossenschaft. Jeden Donnerstag<br />

abends bei Schlor.<br />

Freidenker-Vereinig. „ F r e i e r Gedanke".<br />

öffentl. Vortrag jeden Freitag um 8 Uhr bei Schlor.


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

An die anarchistische Bewegung in Österreich.<br />

Dem Beschlüsse des Amsterdamer Kongresses<br />

gemäß (24—31.. August 1907) soll im Sommer<br />

nächsten Jahres ein neuer internationaler Kongreß<br />

stattfinden, der Erste, den die Anarchistische Internationale<br />

seit ihrer Gründung einberufen wird, auf<br />

welchem die Arbeiten der letzten zwei Jahre geprüft<br />

<strong>und</strong> die Erfahrungen dieses ersten Versuchs<br />

einer internationalen anarchistischen Organisation<br />

zum allgemeinen Nutzen für die Zukunft verwertet<br />

werden sollen.<br />

Damit der Kongreß die volle Bedeutung erlange,<br />

die ihm gebührt <strong>und</strong> andererseits den Genossen<br />

ferner Länder (wie Australien, Argentinien,<br />

Chili, Japan usw.) die Möglichkeit zur Beteiligung<br />

gegeben werden kann, ist es notwendig, die Vorbereitungsarbeitcn<br />

in Angriff zu nehmen. Wir fordern<br />

daher die Genossen aller Länder auf, unverzüglich<br />

mit der Arbeit zu beginnen <strong>und</strong> dafür Sorge<br />

zu tragen, daß die Beteiligung eine möglichst große<br />

sei; auch erwarten wir, daß uns die Kameraden<br />

ihre Ansichten <strong>und</strong> Vorschläge, den Kongreß betreffend,<br />

<strong>und</strong> solche, die sie zur Diskussion zu<br />

stellen wünschen, in Bälde k<strong>und</strong>geben werden,<br />

damit dieselben im Bulletin veröffentlicht werden<br />

können.<br />

In erster Linie handelte es sich darum ein<br />

fixes Datum festzusetzen, den Ort, wo der Kongreß<br />

stattfinden soll, zu bestimmen <strong>und</strong> sich über<br />

die Zulassungsbedingungen <strong>und</strong> die zu entscheidenden<br />

Punkte klar zu werden. Das aber kann nur<br />

geschehen, nachdem wir die allgemeinen Ansichten<br />

der Genossen in Erfahrung gebracht haben.<br />

Als einfaches Verbindungsorgan kann sich das<br />

Bureau nur darauf beschränken, die Wünsche der<br />

Genossen in Empfang zu nehmen <strong>und</strong> dieselben in<br />

einer Weise zu ordnen, die dem möglichst größten<br />

Teile der Kameraden zur Zufriedenheit gereichen<br />

möge. Indem wir also den uns in Amsterdam gewordenen<br />

Auftrag zur Ausführung bringen <strong>und</strong> zur<br />

Einberufung des neuen Kongresses schreiten,<br />

glauben wir im Sinne der Amsterdamer Kongress<br />

ist en <strong>und</strong> dem Geiste unserer Vereinigung<br />

entsprechend zu handeln, wenn wir unsere Einladung<br />

nicht ausschließlich an die der Internationale<br />

angeschlossenen Gruppen <strong>und</strong> Personen, sondern<br />

an a l l e Anarchisten ergehen lassen. Wir geben<br />

daher der Hoffnung Ausdruck, daß alle Richtungen<br />

<strong>und</strong> Tendenzen, die für sich den Namen des Anarchismus<br />

in Anspruch nehmen, auf dem Kongresse<br />

vollzählig vertreten sein werden.<br />

Da es bei uns keinerlei vorher bestimmte<br />

Verbindlichkeiten gibt <strong>und</strong> die Resolutionen die<br />

von der Mehrheit der Teilnehmer angenommen<br />

werden, nur für diejenigen Geltung haben, die sie<br />

gutheißen <strong>und</strong> die selber den Grad der übernommenen<br />

Verbindlichkeiten bestimmen, so hat<br />

keiner zu fürchten, daß seiner Unabhängigkeit <strong>und</strong><br />

der Freiheit der Initiative Abbruch getan werden<br />

könne; die Diskussionen <strong>und</strong> die Übereinstimmungen,<br />

die sich möglichen Falls durch den Austausch<br />

der Meinungen <strong>und</strong> die persönlichen Beziehungen<br />

ergeben werden, können also nur von allgemeinem<br />

Nutzen sein. Für die internen Angelegenheiten der<br />

Vereinigung werden einige geschlossene Sitzungen<br />

für die Mitglieder stattfinden; auch werden diejenigen,<br />

die über gewisse praktische Fragen zu<br />

einem privaten Einverständnis gelangen, die notwendige<br />

Gelegenheit zur Nutzanwendung ihres<br />

Einvernehmens finden.<br />

Wir sind auch der Ansicht — <strong>und</strong> wir bitten<br />

die Genossen, diese Frage ernstlich in Betracht zu<br />

ziehen daß .es zweckentsprechender wäre, die<br />

Tagesordnung des Kongresses auf einige Fragen<br />

von allgemeiner Wichtigkeit zu beschränken <strong>und</strong><br />

sie nicht zu überlasten mit einer Menge Fragen,<br />

für deren gründliche Erörterung überhaupt nicht<br />

die nötige Zeit vorhanden ist <strong>und</strong> die in der Wirklichkeit<br />

nur verhindern, daß die ganze verfügbare<br />

Zeit zur Besprechung der Hauptfragen verwendet<br />

werde.<br />

Im Übrigen — die Frage des Datums <strong>und</strong><br />

Ortes ausgenommen, die auf dem schnellsten <strong>Weg</strong>e<br />

erledigt werden muß -- hat der Kongreß selbst zu<br />

bestimmen über die Zusammenstellung seiner Tagesordnung<br />

<strong>und</strong> alle anderen ihn angehenden Fragen.<br />

Wir rechnen auf die begeisternde Tätigkeit<br />

aller Anarchisten <strong>und</strong> ganz besonders auf die<br />

Tätigkeit derjenigen Genossen, die durch ihren Anschluß<br />

an die Internationale bek<strong>und</strong>et haben, daß<br />

sie von der Nützlichkeit einer permanenten Organisation<br />

unter den Anarchisten aller Länder überzeugt<br />

sind.<br />

Das Korrespondenzbureau der<br />

„Anarchistischen Internationale".<br />

Die Unterzeichneten haben das obige Zirkular<br />

einer Versammlung sämtlicher föderierten Gruppen<br />

unserer Wiener Bewegung unterbreitet. Es wurden<br />

die folgenden Beschlüsse gefaßt:<br />

1. Daß sämtliche Wiener Gruppierungen den<br />

föderativen Anschluß an die anarchistische Internationale<br />

gutheißen.<br />

2. Daß ein Jahresbeitrag von 12 Kronen entrichtet<br />

werden soll.<br />

3. Daß die anarchistische Bewegung in Wien<br />

sich gegenüber der Einberufung eines zweiten internationalen<br />

Kongresses, der schon im Sommer 1909<br />

abgehalten werden soll, a b l e h n e n d verhält. Die<br />

Genossen sind der Meinung, daß z w e i Jahre für<br />

den praktischen, föderalistischen Zusammenschluß<br />

der internationalen anarchistischen Bewegung ein<br />

zu geringer Zeitraum ist. Weitere zwei Jahre<br />

müssen wenigstens noch verfließen, ehe die Bedürfnisse<br />

unserer Bewegung die Einberufung eines<br />

zweiten Kongresses erheischen werden. Über die<br />

praktisch zu nehmenden Schritte kann ein Kongreß<br />

<strong>und</strong> möge er selbst eine wie immer beschleunigte<br />

Geschäftserledigung haben — nicht urteilen<br />

noch schlüssig werden. Zu diesem Zwecke sollte<br />

Im „Internationalen Bulletin" eine Diskussion über<br />

sämtliche schwebenden Punkte eröffnet werden, die<br />

durch resp. Übersetzungen in die gesamte anarchistische<br />

Presse überzugehen hätte <strong>und</strong> dadurch<br />

gewiß eine sowohl individuell wie kollektiv geklärte<br />

Meinung <strong>und</strong> Aktion herbeiführen würde.<br />

Solch eine Diskussion kann zwei bis drei Jahre<br />

währen - <strong>und</strong> d a n n ist die Zeit gekommen für<br />

einen zweiten Kongreß, da die resp. nationalen<br />

Föderationen bis dorthin den Kongreß mit fertigen<br />

Resultaten beschicken, wie auch auf die Erfolge<br />

oder Mißerfolge einer etwa vierjährigen Arbeit zurückblicken<br />

<strong>und</strong> berichten werden können.<br />

Wie immer die Föderationen anderer Länder<br />

über diesen Punkt entscheiden mögen, was die<br />

österreichische Bewegung in Wien anbetrifft, so<br />

wird sie auf dem zweiten Kongreß nicht vertreten<br />

sein k ö n n e n , wenn dieser schon im Sommer<br />

1909 stattfindet. Der Gr<strong>und</strong> liegt vor allem auch im<br />

Geldmangel, ein Punkt, der wohl auf sämtliche<br />

deutsche Gruppierungen in ganz Österreich zutreffen<br />

mag.<br />

J o s e f Z i n d e l l a r , P i e r r e R a m u s<br />

Internationale Sekretäre für Niederösterreich.<br />

Wien, XII, Arndtstraße 2, II/25.<br />

Österreich.<br />

Seit jeher bemüht sich die mißliche Polizeiwirtschaft,<br />

der wir hier ausgesetzt sind, Österreich zu<br />

einem Ablager preußisch - deutscher Reaktionsunkultur<br />

zu gestalten. So kommt es, daß man bei<br />

uns so hüpft, wie man in Berlin spuckt. Dieser<br />

traurigen Liebedienerei ist unser deutscher Kamerad<br />

O t t o W c i d t , ehemals verantwortlicher Redakteur<br />

des früheren „Anarchist" in Berlin zum Opfer gefallen.<br />

Tatsache ist, daß die Wiener Polizei selbst<br />

eingestehen mußte, daß W. nicht im geringsten in<br />

das öffentliche Leben eingegriffen hatte, der stereotype<br />

Ausdruck „lästiger Ausländer" auf ihn auch<br />

nicht laut Polizeibegriffen Anwendung finden konnte<br />

— immerhin, die Berliner Akten, die auf dem Amtstische<br />

lagen, sie gaben den Ausschlag, der Genosse<br />

W. wurde ausgewiesen. — Bemerken möchten wir<br />

noch, daß der Genosse W. sich während seines<br />

hiesigen Aufenthaltes in schätzenswerter Weise im<br />

Interesse der Bewegung bemühte, in allen inneren<br />

administrativen Angelegenheiten unermüdlich mithalf<br />

<strong>und</strong> mitwirkte. Wir alle rufen dem Scheidenden<br />

ein herzliches Lebewohl nach!<br />

* Konfisziert wurde - W i e n , nämlich in<br />

unserem Anti-Volksbetrugaufsatz so ziemlich alles<br />

„bis einschließlich Wiens", wie es so schön in der<br />

Beschlagnahmeverfügung heißt. Schade um das arme<br />

Wien, denn es ist von den Tausenden <strong>und</strong> Abertausenden<br />

Separatabdrücken unseres Leitartikels in<br />

Nr. 20 „ G e g e n a l l e P a r t e i e n , g e g e n j e d e n<br />

V o l k s b e t r u g ! " keineswegs verschont geblieben,<br />

Es war das erste Mal, daß in Österreich, das sich<br />

noch nicht allzu lange des generelleren Wahl „rechtes*<br />

resp. Zwanges erfreut, eine prinzipiell antiparlamentarische<br />

Bewegung betrieben wurde, die, unter der<br />

Devise der „Wertlosigkeit der Landtagswahlen für<br />

das Proletariat" weite Massen der Bevölkerung<br />

ergriff. Wie haben die Anhänger a l l e r Parteien,<br />

sowohl Christlichsoziale, als Sozialdemokraten <strong>und</strong><br />

die mit diesen liebäugelnden Deutschfreiheitlichen<br />

geflennt, als unsere Separatabdrücke Uberall eindrangen<br />

! Und auch in Versammlungen haben wir<br />

den Herren gehörig unsere, der Anarchisten Meinung<br />

gesagt.- Prächtig verlief unsere Versammlung in der<br />

Brigittenau, zu der sich sehr viele Sozialdemokraten<br />

eingef<strong>und</strong>en hatten. Schließlich, da sie mit ihrer<br />

Diskussion wider den Kameraden Ramus bloß ihre<br />

Unwissenheit <strong>und</strong> dumme Stimmviehpsyche offenbarten,<br />

blieb den Tapferen nichts anderes übrig, als<br />

Reißaus zu nehmen. Damit glaubten sie, sämtliche<br />

Zuhörer mitzuschleppen — sie hatten sich arg getäuscht.<br />

Denn erst um 2 Uhr 30 Min. konnte der<br />

Vorsitzende, Genosse Lickier, die Versammlung, die<br />

um 10 Uhr vormittags begonnen hatte, schließen,<br />

was umso bemerkenswerter ist, wenn man bedenkt,<br />

daß die anwesenden Sozialdemokraten händeringend<br />

gestanden, daß sie in ihren Wahlversammlurgen die<br />

Wähler kaum 2 St<strong>und</strong>en beisammen halten könnten!<br />

— Einen elenden Halunkenstreich, den sie gegen<br />

bürgerliche Parteien, gegen die Christlichsozialen<br />

des 14. Bezirßes niemals gewagt hätten, versuchten<br />

die Herren Sozialdemokraten sich uns gegenüber<br />

zu leisten. Seit 6 Tagen hatten wir Schlors Lokal<br />

für u n s e r e Wählerversammlung gemietet, hatten<br />

Uber 1000 u n s e r e r Flugzettel verteilt <strong>und</strong> die<br />

Arbeiter zu einer Versammlung einberufen, die um<br />

8 Uhr abeuds ihren Anfang nehmen sollte. Doch<br />

schon tags zuvor hatten die Demokraten erklärt,<br />

sie würden die Abhaltung der Versammlung vereiteln;<br />

sie taten es mit folgendem Mittel: bereits<br />

um 6 Uhr 30 Min. war der Saal voll besetzt von<br />

sozialdemokratischen Arbeitern, die, durch Telegramme,<br />

besondere Verfügungen veranlaßt, sich zu<br />

solch einer zeitlichen Versammlung eingef<strong>und</strong>en<br />

hatten! Und ohne sich zu genieren <strong>und</strong> zu bedenken,<br />

daß es u n s e r Geld war, auf dessen Kosten sie<br />

hier eine Versammlung abhalten wollten — auch<br />

das bürgerliche Gesetzbuch hat für solches Tun<br />

einen sprachlichen Begriff! — eröffneten nun die<br />

Herren Grassinger, Skaret etc. die Versammlung!<br />

Sie referierten - <strong>und</strong> glaubten nun, gewonnenes<br />

Spiel zu haben, da sie es für ganz sicher erachteten,<br />

daß der anarchistische Referent des Abends, Gen.<br />

Ramus, wenn er kommen <strong>und</strong> sehen würde, wie<br />

die Dinge standen, sich wieder diskret zurückziehen<br />

<strong>und</strong> es nicht wagen würde, ihnen entgegenzutreten.<br />

Darin hatten sich die wackeren Paladine des Zentralismus<br />

<strong>und</strong> des Wahlschwindels (nur für das<br />

Proletariat, nicht für jene, die gewählt werden<br />

wollen!) arg verrechnet. Um 8 Uhr war der Genosse<br />

Ramus an Ort <strong>und</strong> Stelle, <strong>und</strong> als der gerade in<br />

faustdicken Lügen <strong>und</strong> Entstellungen referierende<br />

Parteisekretär Skaret dies vernahm, sprach er keine<br />

10 Minuten mehr, <strong>und</strong> Genosse Ramus konnte sich<br />

zu Worte melden. Natürlich nützte er nun s e i n e<br />

Versammlung ganz gehörig aus, <strong>und</strong> über drei Viertelst<strong>und</strong>en<br />

mußten die Sozialdemokraten, trotz ihrer<br />

öfteren Radauunterbrechungen, bittere Wahrheiten<br />

hören. Dann sollte Herr Skaret „widerlegen". Er<br />

tat es so energisch, daß er eingangs gleich erklärte<br />

— die Zeit sei zu vorgerückt, er könne deshalb<br />

nur ganz flüchtig auf Einzelnes eingehen . . . Wir<br />

wollen es dem Guten — der z. B. einen Branchestreik<br />

für analog mit einem Generalstreik erklärte!!<br />

— nicht antun, seine „Argumente" anzuführen, so<br />

grausam sind wir denn doch nicht; kurz, in weniger<br />

als 10 Minuten war er mit seinen „Argumenten"<br />

zu Ende <strong>und</strong> fing nun an, ganz regelrecht zu schimpfen<br />

<strong>und</strong> zu hetz«n. Mittlerweile waren aber auch<br />

schon die anarchistischen Besucher anwesend, <strong>und</strong><br />

so entstand natürlich sehr rasch ein arger Tumult,<br />

der direkt durch die provokatorischen, verdrehenden<br />

Äußerungen Skarets veranlaßt ward. Der Heldenmut<br />

der Demokraten erwies sich nun gegenüber einer<br />

Frau, die sie prügelten; ihr brutales Vorgehen rächte<br />

sich aber auch gleich dadurch, daß ein Sozialdemokrat<br />

den anderen übel zurichtete. Auch sonst<br />

haben die Sozialdemokraten die Gelegenheit gehabt,<br />

die Derbheit solcher „geistigen Waffen" fühlen zu<br />

müssen. Sehr schlecht wäre es ihnen ergangen,<br />

wenn sie, wie einige der total besoffen gemachten<br />

Plattenbrüder — denn daß a u c h d i e s e Sozialdemokraten,<br />

können selbst wir n i c h t glauben! —<br />

es wollten, sich an den Genossen R. vergriffen<br />

hätten. Umgeben von einem halben Dutzend ihm<br />

gänzlich fremder, aber über dieses sozialdemokratische<br />

Vorgehen ehrlich empörter Menschen, bahnten<br />

diese ihm kämpfend einen <strong>Weg</strong> durch die von Skaret<br />

aufgereizte u. d veridiotisierte Menge. Und damit<br />

hatte d i e s e Wählerversammlung ihr Ende erreicht;<br />

wir bezweifeln es sehr, ob sich die Sozialdemokraten<br />

in dieser Versammlung Stimmlorbeeren errungen<br />

haben! —<br />

* Am Sonntag den 25. Oktober fand eine große<br />

Massenversammlung im 16. Bezirke statt, also in<br />

der Hochburg der Sozialdemokratie. Wir hatten uns<br />

gehörig vorbereitet <strong>und</strong> waren eines rohen Überfalles<br />

seitens Christlichsozialer oder der roten Stiefbrüder<br />

gewärtig. War es doch e i n Tag vor der<br />

Wahl, die Leidenschaft hatte einen Siedepunkt erreicht<br />

<strong>und</strong> unsere Separatabdrücke, wie Zetteleinladungen<br />

wurden zu Tausenden im Volke gelesen.<br />

Doch siehe da: wohl hatten sich sehr viele Arbeiter<br />

obiger b e i d e r Parteien eingef<strong>und</strong>en, doch es fehlten<br />

die Führer, die einen Radau hätten provozieren<br />

müssen, weil sie nicht zu polemisieren vermochten.<br />

Sie fehlten, <strong>und</strong> so hatten wir die Freude zu sehen,<br />

daß sich nach den fast zweistündigen Ausführungen<br />

von Gen. R. über die Wertlosigkeit der Landtagswahlen<br />

für d a s P r o l e t a r i a t eine Anzahl Redner<br />

zu Worte meldete. Unter anderen sprach auch<br />

unser Genosse Haidt, dessen Bruder, ein uns namentlich<br />

leider unbekannt gebliebener, tüchtiger,<br />

sozialdemokratischer Arbeiter. Diese demolierten<br />

nun selbst ganz vorzüglich die von einigen Jugendlichen<br />

(u. a. auch Herrn Matuschek) dumm-unwissend<br />

vorgebrachten Redensarten. Ruhig wurde das Schlußwort<br />

des Gen. R. hingenommen, <strong>und</strong> mit begeisterten<br />

Gefühlen gingen sämtliche Teilnehmer aus dieser<br />

Versammlung hinaus. Hier triumphierte einmal der<br />

Gedanke des revolutionären Sozialismus durch den<br />

ges<strong>und</strong>en Menschenverstand n i c h t streberischer<br />

Sozialdemokraten I<br />

* Eine ausgezeichnete Versammlung war die<br />

vom letzten Dienstag, in der Genosse Ramus, unter<br />

dem Vorsitz des Genossen Haidt, über die „Verhandlungen<br />

des französischen Gewerkschaftskongresses"<br />

referierte. Die Ausführungen des Redners<br />

fanden selbst unter den anwesenden Sozialdemokraten<br />

Anklang.<br />

* Hurrah w i r h a b e n g e s i e g t ! So darf<br />

tatsächlich die christlichsoziale Strauchritterbande<br />

der politischen Beutepolitik ausrufen, wenn sie das<br />

Terrain der am letzten Montag stattgehabten Landtagswahlen<br />

überblickt. Die Sozialdemokratie gewann<br />

wohl 5 Mandate, aber die Enttäuschung ist so allgemein<br />

unter ihren Anhängern, daß man tatsächlich<br />

von einer kolossalen Niederlage sprechen muß.<br />

Diese ist noch dadurch bemerkenswerter, daß die<br />

schwarze Pest der Sieger r<strong>und</strong> 60000 Stimmen mehr


gewann, als sie in den Wahlen von 1906 besaß.<br />

Ist dieser Stimmenzuwachs nicht der beste Beweis<br />

dafür, daß die Art, wie die Sozialdemokratie die<br />

christlichsoziale Partei des Spießertums <strong>und</strong> der<br />

Klerisei bekämpft, eine total verfehlte ist? Indem<br />

die Sozialdemokratie sich selbst völlig auf das tiefe<br />

Niveau dieses österreichischen Zentrums herabläßt,<br />

ist für eine prinzipielle Propaganda gegen die<br />

Christlichsozialen kein Raum in ihr mehr. Es gibt<br />

nur e i n e Bekämpfung der Christlichsozialen, <strong>und</strong><br />

das ist die unsrige: mit den klassischen Waffen<br />

des A t h e i s m u s einerseits, mit einem fruchtbaren<br />

Programm w i r t s c h a f t l i c h e r S e l b s t h i l f e im<br />

Gegensatz zum Bestehenden - so allein ist es<br />

möglich, die verführten Arbeitermassen der Christlichsozialen<br />

auf die Bahn des revolutionären Sozialismus<br />

zu geleiten, wie auch dem, jeden Kulturfortschritt<br />

in Österreich geradezu vernichtenden<br />

Anwachsen der schwarzen Reaktion - wie es durch<br />

obigen Stimmengewinnst deutlich genug ausgedrückt<br />

wird — Dämme zu setzen <strong>und</strong> Einhalt zu gebieten.<br />

Es ist die n i c h t sozialistische Sozialdemokratie,<br />

die den Christlichsozialen Existenzmöglichkeit bietet;<br />

ein revolutionärer Sozialismus würde diese Partei<br />

verkümmern oder wenigstens sie nicht mehr auch<br />

eine Arbeiterpartei sein lassen!<br />

* Auf ein sehr erfreuliches Moment können<br />

wir aber hinweisen bei einer Besprechung der<br />

Landtagswahlen: a u f d i e z u n e h m e n d e<br />

G l e i c h g i l t i g k e i t b r e i t e r B e V ö l k e r u n g s -<br />

sch-ichten g e g e n ü b e r dem p o l i t i s c h e n<br />

P a r t e i e n - <strong>und</strong> W a h l k l i m b i m !<br />

So haben folgende Wahlberechtigte überhaupt<br />

nicht gestimmt:<br />

Innere Stadt 1375, Leopoldstadt 2928, Landstraße<br />

3180, Wieden 1544, Margareten 1926, Mariahilf<br />

1119, Neubau 1310, Josefstadt 1050, Aisergr<strong>und</strong><br />

1832, Favoriten 3059, Simmering 469, Meidling 1676,<br />

Hietzing 2042, Rudolfsheim 1098, Fünfhaus 552,<br />

Ottakring 5099, Hernais 2160, Währing 1561, Döbling<br />

897, Brigittenau 1278, Floridsdorf 741. Zusammen<br />

36.996.<br />

Dazu kommen nach einer noch ganz unvollständigen<br />

Zählung die folgenden Bezirke, in denen<br />

leere Stimmzettel abgegeben wurden:<br />

Landstraße 1085, Aisergr<strong>und</strong> 550 (angeblich<br />

Christlichsoziale), Favoriten 514, Simmering 121,<br />

Ottakring 1190. Zusammen 3460.»<br />

Dies ergibt insgesamt über 40.000 Menschen,<br />

die es satt haben, als Werkzeuge <strong>und</strong> Staffeln für<br />

ehrgeizige Herrschsüchtlinge aller Parteien sich gebrauchen<br />

zu lassen. Was immer die Motive d i e s e r<br />

Antiparlamentarier auch gewesen sein mögen, ist<br />

ganz einerlei: sie haben den Staatsinstitutionen in<br />

dieser Hinsicht den Rücken gekehrt <strong>und</strong> es energisch<br />

abgelehnt, die Funktionäre eines Staates zu<br />

sein, dessen Prinzipien sie nicht anerkennen <strong>und</strong><br />

dessen Funktionen in den Gesetzeshäusern, wie sie<br />

wissen, ausschließlich zu Gunsten der bestehenden<br />

Gewalt sich äußern müssen, gegen diese g a r<br />

n i c h t s tun können. Das ist für den Anfang einer<br />

anarchistischen Propagandaaktion sehr viel; unsere<br />

Aufgabe als Anarchisten muß es sein, diesen Antiparlamentariern<br />

diejenigen <strong>Weg</strong>e der sozialen Entwicklung<br />

<strong>und</strong> des Kampfes zu weisen, die sie zu<br />

wandeln haben, um außerparlamentarisch das zu<br />

erreichen, was sie, wie sie sehr wohl begreifen,<br />

durch das Parlament n i e gewinnen können: Wohlstand<br />

für A l l e ! F r e i h e i t für A l l e ! Antiparlamentarismus<br />

bedeutet n i c h t Untätigkeit, vielmehr<br />

folgendes: Widerstand gegenüber der versuchten<br />

Aufdrängung der unfruchtbaren Tatenlosigkeit<br />

durch das Parlament (was werden die Sozialdemokraten<br />

mit ihren 5 Mandaten nun für volle<br />

sechs Jahre „tun"?); im Gegensatz dazu: selbständige<br />

wirtschaftliche Kampfesaktion für soziale<br />

Umwandlungen nicht Im toten Gesetzbuch, sondern<br />

im Leben der Wirklichkeit! Das ist Antiparlamentarismus,<br />

<strong>und</strong> eine solche Aktion wie Propaganda<br />

ist, wie u n s e r Stimmresultat es beweist, der einzige<br />

<strong>Weg</strong>, das einzige Mittel, um breite Schichten<br />

des Volkes, die sich nicht znm Parteienstimmvieh<br />

herabwürdigen lassen wollen, vor dem ärgsten<br />

Feind jeder Kulturentwicklung, dem soziologischen<br />

Pessimismus ob des österreichischen Parlamentswahnsinnes,<br />

zu bewahren!<br />

• Vor Redaktionsschluß erhalten wir die ungefähre Oesamtziffer<br />

derjenigen, die leere Stimmzettel abgaben: sie ist<br />

10.000, also um r<strong>und</strong> 3000 m e h r , als im Jahre 1907 wahrend<br />

der Reichsratswahlen !<br />

Italien.<br />

V e r r a t d e r R e f o r m i s t e n i m S t r e i k<br />

von P a r m a . Um verleumderische Nachrichten<br />

der bürgerlichen <strong>und</strong> sozialdemokratischen Presse<br />

richtig zu stellen <strong>und</strong> ein klares Bild der Situation<br />

zu geben, müssen wir auf den Anfang der Streikbewegung<br />

zurückgreifen.<br />

Die revolutionären Syndikalisten von Parma<br />

haben von Anfang an a l l e Verantwortlichkeit des<br />

allgemeinen Landarbeiterstreiks mutvoll auf sich genommen;<br />

mit den reformistischen Organisationen<br />

wurde - auf deren u n aufgefordertes Anerbieten<br />

hin — eine fre<strong>und</strong>schaftliche Übereinkunft geschlossen,<br />

nach welcher sich diese n i c h t in die<br />

Leitung der Bewegung hineinmischen, aber den<br />

Syndikalisten bei der Verteilung der Unterstützungen<br />

behilflich sein sollten. Diese Übereinkunft ist von<br />

Seiten der Reformisten gebrochen worden; die<br />

Selbständigkeit <strong>und</strong> revolutionäre direkte Aktion<br />

der Parmesaner Bauern, sagte ihnen nicht zu, da<br />

sie dadurch als F ü h r e r der Bewegung überflüssig<br />

werden; deshalb wollten sie den Streik mit allen<br />

Mitteln zu Falle bringen. Sie hielten einen Kongreß<br />

ab, in welchem sie die revolutionäre Taktik der<br />

Streikenden verdammten <strong>und</strong> sich anmaßten, in Zu-<br />

kunft a l l e i n über die Verteilung der, von Uberall<br />

einlaufenden Unterstützungsgelder zu verfügen! Die<br />

sozialdemokratischen Organisationen haben die für<br />

die Streikenden an sie eingesandten Gelder e i nf<br />

a c h f ü r i h r e e i g e n e n Z w e c k e v e r -<br />

w e n d e t ; a u ß e r d e m f ü h r t e n i h r e B l ä t t e r<br />

e i n e n g e m e i n e n V e r l e u m d u n g s k r i e g<br />

g e g e n d i e r e v o l u t i o n ä r e n V e r t r a u e n s.m<br />

ä n n e r d e r S t r e i k e n d e n , s o w i e d e n<br />

S t r e i k s e l b s t , den sie als beinahe besiegt <strong>und</strong><br />

tot darstellten.<br />

Um sich gegen diese Infamie zu wehren,<br />

hielten die Streikenden auch einen Kongreß, in<br />

welchem ihre Bevollmächtigten mit 160 Stimmen<br />

gegen 4 erklärt haben, daß die Landarbeiter an<br />

ihrer syndikalistischen <strong>und</strong> revolutionären Kampfesweise<br />

festhalten <strong>und</strong> jede Einmischung der Reformisten<br />

als unbefugt zurückweisen. —<br />

Kürzlich haben sowohl die reformistischen<br />

Gewerkschaften wie die sozialdemokratische Partei<br />

von Italien ihre Landeskongresse abgehalten. Die<br />

beiden sind einander würdig, während die Bourgeoispresse<br />

freudestrahlend den B<strong>und</strong> der beiden<br />

so „vernünftigen" Arbeiterbewegungen segnete;<br />

wozu sie allen Gr<strong>und</strong> hat.<br />

Auf dem Kongreß der Confederazione del Lavoro<br />

(Vereinigung der reformistischen Gewerkschaften)<br />

erlitt das revolutionäre Gewerkschaftsprinzip<br />

eine tötliche Niederlage — weil es nämlich<br />

g a r n i c h t v e r t r e t e n w a r . Die revolutionäre<br />

Arbeiterschaft der Provinzen Parma, Piacenza <strong>und</strong><br />

Ferrara hatte infolge des obigen Verrates der<br />

Confederazione keine Vertreter geschickt. Folgende<br />

Zahlen werden übrigens die Bedeutung der ganzen<br />

Confederazione klarlegen: In Italien sind von den<br />

8 Millionen Arbeitern 546.514 gewerkschaftlich organisiert;<br />

die Confederatione umfaßt davon nur<br />

216.849. die auf dem Kongreß vertreten waren. So<br />

hat die Confederazione bisher noch nicht die Hälfte<br />

der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter in sich<br />

vereinigt.<br />

Infolge der Abwesenheit der revolutionären<br />

Syndikalisten hat der Kongreß — nach heftigem<br />

Widerspruch der Eisenbahnarbeiter, die den Führern<br />

alle ihre Verrätereien vorwarfen -- den Wunsch<br />

nach einem „moralischen" Band zwischen den Gewerkschaften<br />

<strong>und</strong> der sozialdemokratischen Partei<br />

ausgesprochen. Über die Stellungnahme der Confederazione<br />

zu den von den Syndikalisten angeregten<br />

Streiks wurde beschlossen, daß der Streik<br />

n i c h t als ein Gefühlsausdruck oder eine Vorübung<br />

zur Revolution aufgefaßt werden darf, sondern b l o ß<br />

als eine proletarische Kraftentfaltung zur Erringung<br />

besserer Arbeitsbedingungen. Die Confederazione<br />

hat das Recht, in die Taktik der von ihr unterstützten<br />

Streiks einzugreifen <strong>und</strong> deren Aufhören<br />

zu befehlen. Keinerlei nationale oder provinzielle<br />

Agitation darf ohne die Erlaubnis der Confederazione<br />

begonnen werden ! Man sieht, wenn alle Gewerkschaften<br />

Mitglieder der Confederazione wären,<br />

gäbe es in Italien keinen Streik <strong>und</strong> keine revolutionäre<br />

Agitation mehr.<br />

Andererseits beschloß der Kongreß der sozialdemokratischen<br />

Partei in dem Sinne, k e i n e n<br />

Streik offiziell anzuerkennen, der nicht von der Confederazione<br />

genehmigt ist <strong>und</strong> ihr Vorgehen mit<br />

jenem der Confederazione in Einklang zu bringen,<br />

ohne deren Unabhängigkeit anzutasten. Aus diesem<br />

Gr<strong>und</strong>e hält er den Generalstreik für wertlos <strong>und</strong><br />

für eher gefährlich, weil derselbe das Proletariat<br />

von seiner einzigen wahren Aufgabe, die Verstärkung<br />

seiner Organisationen <strong>und</strong> der Eroberung<br />

der politischen Macht, abhält; worunter in Wahrheit<br />

die Herren ihre eigenen gesicherten P o s i -<br />

t i o n e n v e r s t e h e n .<br />

Auf Agitation.<br />

(Fortsetzung.)<br />

Das ganze praktische Programm der „Freisozialisten"<br />

wird auch von jedem Sozialdemokraten<br />

p r a k t i s c h anerkannt; weil eben in den Bewegungen<br />

selbst keinerlei Verschiedenheit gelegen —<br />

Starek ist, wie jeder gute Sozialdemokrat, ein Parlamentarier!<br />

—, der ganze Zwist nur herrührt von<br />

der Verschiedenheit zwischen führenden Personen.<br />

Wir haben es hier mit keiner einheitlichen<br />

Bewegung zu tun; wir finden die intelligentesten<br />

Arbeitertypen in ihr, die durchaus Anarchisten <strong>und</strong><br />

dann wieder die typisch sozialdemokratischen Radaugestalten,<br />

die soweit gingen, mir in Lanz die<br />

Fenster meines ebenerdigen Zimmers einschlagen<br />

zu wollen. In Z i e d i t z hielt ich bei der dortigen<br />

Gruppe einen Vortrag über die „Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />

des Sozialismus", der von allen Anwesenden —<br />

<strong>und</strong> ich identifizierte den w i r k l i c h e n freiheitlichen<br />

Sozialismus ausdrücklich mit dem Anarchismus —<br />

äußerst beifällig aufgenommen wurde. Diese Arbeiter<br />

sind geistig sehr .entwickelt, revolutionär in<br />

ihrem Empfinden, was sich besonders durch die<br />

Worte Siegls k<strong>und</strong>tat, den ich ohne weiteres als<br />

Kameraden bezeichnen kann. Gab er doch zu, daß<br />

durch die Lektüre des „W. f. A.", seine „Gedanken<br />

über Sozialismus eine ganz neue Wendung genommen"<br />

hatten. Solche gibt es auch noch andere<br />

dorten. Etwas anders erging es mir in Z w o d a u,<br />

wo ich über ein Gewerkschaftstema referierte. Herr<br />

Rudert, Redakteur der „Freien Worte" hatte sich<br />

eingef<strong>und</strong>en, augenscheinlich um mir entgegenzutreten.<br />

Er tat dies auch <strong>und</strong> in der denkbar unverschämtesten,<br />

sozialdemokratischen Manier, d. h.<br />

an meinem Vortrag harte er nichts auszusetzen,<br />

aber er warf mir vor — zu köstlich! —, daß ich<br />

in Wien n i e referierte ; von allen Parlamentariern<br />

hätte ich e i n e n als edle Ausnahme hinstellen<br />

sollen: Starck; u. dgl. m. Als ich ihm antwortete<br />

<strong>und</strong> ihm das Lächerliche seines Gebahrens vorhielt,<br />

zog er wutschnaubend davon. Auf mich<br />

machte der Mann den denkbar schlechtesten Eindruck;<br />

seine Argumente waren Wort für Wort den<br />

Sozialdemokraten abgelauscht, die diese wider<br />

uns kommunistische Anarchisten anwenden; auch<br />

das berühmteste Argument von der Zersplitterung<br />

<strong>und</strong> dem Keilhineintreiben blieb nicht aus. Als ob<br />

man es mit Dummköpfen zu tun hätte <strong>und</strong> nicht<br />

mit denkenden Arbeitern, die doch selbständig<br />

denken <strong>und</strong> urteilen können müssen.<br />

Meine Ausführungen hatten immerhin auf<br />

auf einen großen Teil der Anwesenden Eindruck<br />

gemacht. Und dieser Teil war es auch, der mich<br />

nach kurzer Auseinandersetzung bewog, mit nach<br />

Lanz zu gehen, wo am selben Nachmittag Herr<br />

S. Starck einen Vortrag hielt. Ich ging mit, einerseits<br />

weil ich den Mann, der wie kein zweiter das<br />

Wort freiheitlicher Sozialismus in Österreich kompromittiert<br />

hatte, sehen, anderseits weil ich ihn<br />

hören wollte. Diesem Wunsche brachte ich das<br />

Opfer, über eine St<strong>und</strong>e weit zu Fuß über Stock<br />

<strong>und</strong> Stein zu wandern; glücklicherweise nicht allein,<br />

sondern mit den übrigen Fre<strong>und</strong>en, die mir mein<br />

Gepäck tragen halfen.<br />

Nach längerem Warten kam Herr S. Starck. Sein<br />

Thema lautete kurz „Sozialpolitische R<strong>und</strong>schau".<br />

Der Mann besitzt, obwohl geistig sehr ungebildet,<br />

eine natürliche, vorzügliche Rednergabe. Doch was<br />

er sagt, ist voll von Widersprüchen. In seiner Kritik<br />

des Parlamentarismus war er ausgezeichnet; bis er,<br />

wie jeder Politiker, auf s e i n e parlamentarischen<br />

Wünsche zu sprechen kam. In der Kritik der a nd<br />

e r e n parlamentarischen Fraktionen ist nämlich<br />

jeder Politiker sehr fähig. Und während er klar<br />

<strong>und</strong> deutlich bewiesen hatte, daß im Parlament<br />

g a r n i c h t s g e g e n die Regierung durchgeführt<br />

werden kann, begeisterte er sich gleich darnach<br />

für eine — Verfassungsrevision! Ein lebhaftes<br />

Kokettieren mit dem Mittelstand <strong>und</strong> der Wunsch,<br />

d i e s e n genossenschaftlich organisiert zu sehen<br />

— in Amerika <strong>und</strong> England ist dies schon zu einem<br />

großen Teil der Fall, <strong>und</strong> das Resultat ist eine<br />

Kartellkoalition zur Emporschraubung des Preises<br />

aller Lebensmittel auch im Detailverkauf! • , ein<br />

Hin- <strong>und</strong> Herpendeln zwischen Ultraradikalismus<br />

<strong>und</strong> sanftestem Revisionismus, als Fazit das Bestreben,<br />

Produktivgenossenschaften zu gründen —<br />

was die anarchistische Bewegung aber schon mehrfach<br />

sogar erfolgreich durchgeführt hat - , darin<br />

bestand der wesentliche Inhalt seiner Rede.<br />

Fortsetzung folgt. Pierre Ramus.<br />

Briefkasten.<br />

Wandsbeck. Eine der nächsten Nummern<br />

bringt ihren Aufsatz. — Lerche. Wollte Ihren Aufsatz<br />

schon bringen, doch „Fre<strong>und</strong> A. S." bestritt<br />

mir das Recht dazu; was tun? Gruß. — Ungewiß.<br />

Das „Soldatenlied" („Ich bin Soldat, doch bin ich<br />

es nicht gerne . . ." ist nicht von Max Kegel, sondern<br />

von Karl Hirsch. Der gute Mann weiß eben<br />

manches andere ebenso miserabel ungenau. —<br />

Hamburger. Senden Sie Artikel zur Einsichtnahme;<br />

bitte um Abonnement! — Garai ut. Wird alles besorgt.<br />

— R. Bei bestem Willen k e i n Geld! --<br />

W. Schämen Sie sich als älterer Mann solch eine<br />

alberne Behauptung aufzustellen, Sie seien gegen<br />

die Propaganda für Konfessionsloserklärung glaubensloser<br />

Menschen, weil dieselben vielleicht einmal<br />

rückfällig werden könnten! Sind Sic auch gegen<br />

die Wahrheit, weil auch ein wahrer Mensch einmal<br />

ein Lügner werden kann? Oder gegen die Vernunft,<br />

weil ein Mensch einmal irrsinnig werden <strong>und</strong> dabei<br />

beweisen kann, wie gebrechlich die Gehirnkonstitution<br />

des Menschen ist? Im übrigen: seien Sie<br />

kein Patriarch <strong>und</strong> unbesorgt für die anderen; Ihre<br />

Pflicht ist es, der Wahrheit stets die Ehre zu geben<br />

<strong>und</strong> nicht ob — den anderen selbst unaufrichtig<br />

zu werden! — Land. Leider erst in nächster<br />

Nummer. — H. Krause. Schreiben Sie an V. Krampera,<br />

Dux, Telacvifná iil eis. 521, Böhmen. Über<br />

das andere siehe Nr. 22 des „W. f. A.", Gruß.


Der Antimilitarismus<br />

als<br />

T a k t i k d e s A n a r c h i s m u s .<br />

Von Pierre Ramus.<br />

Referat, gehalten auf dem internationalen Amsterdamer Kongreß<br />

der »Internationalen antimilitaristischen Assoziation«<br />

am 30. <strong>und</strong> 31. August 1907.<br />

(Fortsetzung.)<br />

„Genosse Bebel hat schon betont, daß s e l b s t v e r s t ä n d -<br />

lich im Falle eines Angriffes die Sozialdemokraten die Flinte<br />

auf den Buckel nehmen würden, <strong>und</strong> ich behaupte, daß es<br />

keinen deutschen Sozialdemokraten gibt, der eine andere Auffassung<br />

ausspricht."<br />

(Der sozialdemokratische Abgeordnete N o s k e * im<br />

deutschen Reichstag, am 25. April 1907.)<br />

„Ich akzeptiere die Versicherung des Vorredners, daß die<br />

sozialdemokratische Partei entschlossen sei, im Falle eines Angriffskrieges<br />

auf das Deutsche Reich es mit derselben Treue<br />

<strong>und</strong> Hingabe zu verteidigen, wie die anderen Parteien." (Lebhafte<br />

Zurufe bei den Sozialdemokraten: Selbstverständlich!<br />

Haben wir i m m e r gesagt.)<br />

(Kriegsminister von E i n e m im deutschen Reichstage,<br />

am 25. April 1907.)<br />

Beide Zitate sind w ö r t l i c h dem Berliner „Vorwärts" vom<br />

26. April 1907 entnommen.<br />

Haben wir uns in einer Besprechung der bürgerlichen Friedensfre<strong>und</strong>e<br />

an das unter vielen bekanntere Schriftchen von Fried gehalten, so haben<br />

wir nur e i n e s , das wir gebrauchen können, wenn wir die „antimilitaristische"<br />

Stellungnahme der Sozialdemokratie — <strong>und</strong> da gilt nur die deutsche,<br />

die Mutterpartei, wie sie sich gerne nennen hört — gebührend charakterisieren<br />

wollen.<br />

Es handelt sich um das bekannte, in Deutschland konfiszierte Werk<br />

von Dr. Karl Liebknecht über „Militarismus <strong>und</strong> Antimilitarismus" (Verlag<br />

der Leipziger Buchdruckerei-Aktiengesellschaft, Leipzig 1907).<br />

Bevor wir auf eine generelle Kritik des Buches selbst eingehen <strong>und</strong><br />

an der Hand einer solchen die falschen Urteile desselben über den Anarchismus<br />

<strong>und</strong> den von diesem beseelten Antimilitarismus richtig stellen, den<br />

anarchistischen Antimilitarismus darstellen, handelt es sich um eine einleitende<br />

Präzisierung all jener Gesichtspunkte, die für eine Beurteilung der<br />

Sozialdemokratie maßgebend sind.<br />

Belehrt durch eine über fünf Dezennien währende <strong>und</strong> hiedurch gewonnene<br />

Erfahrung, erkannte das europäische Proletariat schon seit 1848 zu<br />

einem großen Teil, daß es bislang für die Bourgeoisie nichts anderes gewesen<br />

war, als dasjenige Hilfsmittel, um für sie, für die Bourgeoisie, die ihr<br />

eigentümlichen <strong>und</strong> notwendigen Lebensbedingungen einer expansive vorgehenden<br />

Wirtschaftsmethode zu erkämpfen, die den industriellen Fortschritt<br />

bourgeoiser Technik, Industrie <strong>und</strong> des Handels beschleunigte, damit die<br />

Bourgeosie einerseits bereichernd, anderseits folglich zur politisch ausschlaggebenden<br />

Macht erhebend. Das Proletariat erkannte, daß es betrogen worden.<br />

Und so sehen wir denn, daß die alte „Internationale Arbeiterassoziation"<br />

(1864) uns ein Bild eines zum ersten Mal großzügig international organisierten,<br />

w i r t s c h a f t l i c h kämpfenden Proletariats bietet, das abseits von<br />

der Bourgeoisie seine eigenen s o z i a l e n Forderungen aufstellt <strong>und</strong> anstrebt.<br />

Den wirklich kampfestüchtigen Teil des Proletariats, seinen Geisteskern<br />

offenk<strong>und</strong>ig der Bourgeoisie zurück zu gewinnen, war seit dieser Zeit <strong>und</strong><br />

ist Sache der Unmöglichkeit. Doch auf andere Weise ist diese Unmöglichkeit<br />

zum größten Schaden des Proletariats, glänzend realisiert geworden.<br />

Ihre Verwirklichung hat die Sozialdemokratie durchgeführt.<br />

Von dem Augenblicke an, da es im Proletariat hieß: p a r l a m e n -<br />

t a r i s c h „kämpfen", behufs Erringung der „parlamentarischen Macht", hätte<br />

die Bourgeoisie, verstünde sie nur ein ganz klein wenig die Psychologie<br />

von Massenbewegungen <strong>und</strong> deren Forderungen, ruhig sein können, denn<br />

damit wurde der Klassenkampf des Volkes ein Sc he in kämpf. Die Sozialdemokratie<br />

mußte werden, was sie heute ist: die letzte Ausläuferin der bürgerlichen<br />

Demokratie, die, um das Proletariat an diese <strong>und</strong> ihre für dasselbe<br />

entweder belanglosen oder erst in zweiter Linie wichtigen Forderungen zu<br />

ketten, auch einige sozialistische Zukunftsausblicke <strong>und</strong> Brocken mit in Kauf<br />

nimmt. Von dem Moment an, da die Sozialdemokratie nach Parlamentarismus<br />

<strong>und</strong> Wahlrecht <strong>und</strong> Repräsentationssystem rief, erkannte sie nämlich die<br />

Gr<strong>und</strong>bedingungen des modern bürgerlichen Staates, als zu Recht bestehend<br />

an <strong>und</strong> horte, durch die rechtliche Anerkennung <strong>und</strong> Hochschätzung der ihr<br />

von diesem gebotenen gesetzlichen Mittel auf, eine revolutionäre Bewegung<br />

zu sein. Sie wurde damit eine demokratische Reformpartei.<br />

Nur als eine solche können wir sie verstehen; nur als eine solche<br />

begreift sie sich selbst. Dasjenige, was an idealistischen Zukunftsausblicken<br />

noch in ihr ist, besitzt eine j e d e Bewegung — auch die konservative, die<br />

ja die Etablierung oder Konsei vierung des Despotismus ebenfalls idealistisch<br />

zu verklären vermag — besitzt j e d e r Mensch, ganz gleich welcher Parteirichtung<br />

er angehört. Ihr sogenannter oberster Programmgr<strong>und</strong>satz — die<br />

Überführung sämtlicher privateigentümlich geeigneten Produktionsmittel in<br />

kollektivistischen Besitz — ist durchaus nichtig geworden, indem sie für<br />

denselben überhaupt nicht mehr kämpft. Dieser oberste Gr<strong>und</strong>satz ist in<br />

Wahrheit T h e o r i e geworden. Gekämpft wird seitens der deutschen Sozialdemokratie<br />

nur um die tristen <strong>und</strong> trockenen Notwendigkeitsbehelfe, deren<br />

sich der bürgerliche Staat bedienen muß, um das durch seine Existenz an<br />

dem Proletariat <strong>und</strong> dessen Produktivität verübte Unrecht, seine Ausbeutung<br />

<strong>und</strong> Unterdrückung tunlich zu verdecken. So etwas nennt sich dann<br />

„Sozialreform".<br />

Was die Sozialdemokratie w i r k l i c h anstrebt, drückt Karl Liebknecht<br />

(p. 118) knapp, aber außerordentlich deutlich <strong>und</strong> einmal wahrheitsgemäß in<br />

folgendem aus: Beseitigung des gesellschaftlichen H e r r s c h a f t s v e r h ä l t -<br />

n i s s e s d e r k a p i t a l i s t i s c h e n O l i g a r c h i e gegenüber dem Proletariate<br />

<strong>und</strong> seine Ersetzung durch ein d e m o k r a t i s c h - p r o l e t a r i s c h e s<br />

H e r r s c h a f t s v e r h ä l t n i s . D i e s i s t die berühmte „Eroberung der<br />

politischen Macht" <strong>und</strong> weit zutreffender, vor allen Dingen ehrlicher ausgedrückt,<br />

als es bislang geschah. Daß aber ein „demokratisch-proletarisches<br />

*Im Hinblick darauf, daß mir entgegenhalten werden könnte, daß gerade diese Rede<br />

Noskes eine „Ablehnung" durch die Partei erfahren habe, fühle ich mich genötigt, einschaltend<br />

zu bemerken, daß der ganze Sturm auf dem Parteitag zu Essen (1807) nur Bühnenregie gewesen,<br />

insoferne, als er erst n a c h t r ä g l i c h wohldurchdacht arrangiert wurde. Ist es nicht<br />

bezeichnend für die Richtigkeit meiner Behauptung, wenn Bebel auf dem Parteitag sagen<br />

konnte: „Zunächst muß ich sagen,' daß die Rede Noskes in d e r F r a k t i o n v o n k e i n e r -<br />

l e i S e i t e kritisiert worden ist <strong>und</strong> weiter, daß die Rede Noskes an einer großen Anzahl<br />

von Stellen e i n e g u t e Rede war <strong>und</strong> ihr infolgedessen nicht allein von der Fraktion im<br />

Allgemeinen, s o n d e r n s p e z i e l l a u c h v o n m i r a n einer ganzen Reihe von Stellen Zustimmung<br />

<strong>und</strong> Unterstützung zu Teil geworden ist." U n t e r s i c h waren die Herren also<br />

ganz ungeschieden <strong>und</strong> ungeteilt in ihrer Obereinstimmung mit Noskes Ausführungen.<br />

Herrschaftsverhältnis" mit dem Begriff sozialer wie individueller Freiheit<br />

e b e n s o w e n i g zu tun hat, wie ein Herrschaftsverhältnis der „kapitalistischen<br />

Oligarchie" sollte einem jeden Einsichtigen klar sein. Ein j e d e s<br />

H e r r s c h a f t s Verhältnis setzt Beherrschte, damit Unfreie, voraus.<br />

Nun erst sind wir an die Quelle der Erkenntnis gelangt, was die Haltung<br />

der Sozialdemokratie gegenüber dem Militarismus betrifft. Die Sozialdemokratie<br />

kann k e i n e gr<strong>und</strong>sätzliche Gegnerin des Militarismus sein, sie<br />

i s t G e g n e r i n d e s s e l b e n u n d s e i n e r F o r m e n n u r i n s o -<br />

f e r n e , a I s d e r M i l i t a r i s m u s e i n e S t ü t z e d e r „ k a p i t a l i s t i s c h -<br />

o l i g a r c h i s c h e n M a c h t " i s t .<br />

Damit wird uns vieles erklärlich <strong>und</strong> begreiflich.<br />

Auf der einen Seite ist die Sozialdemokratie gezwungen, dank der<br />

unablässigen Propaganda der anarchistischen Bewegung, die ihr die denkend<br />

werdenden Arbeitermassen abspenstig zu machen droht, zu erklären, daß sie<br />

„prinzipielle Gegnerin" des Militarismus sei, wie es Liebknecht in seinem<br />

Bliche auch noch, kühn genug, ausspricht, während ihm schon zwei Monate<br />

nach dem Erscheinen desselben — im April — die offiziellen Wortführer der<br />

Partei eines anderen belehrten; <strong>und</strong> dies längst nicht mehr zum ersten Mal*.<br />

Der Gr<strong>und</strong>irrtum jener, die die Sozialdemokratie als prinzipiell antimilitaristisch<br />

auffassen, beruht darin, daß sie eines nicht bemerken: die g e s a m t e<br />

Theorie der Sozialdemokratie, wie sie Marx <strong>und</strong> die marxistische Schule<br />

ausarbeiteten, ist überhaupt nicht darauf zugeschnitten, i r g e n d einer Sache,<br />

<strong>und</strong> wäre es die drangsalierendste, prinzipielle Gegnerschaft entgegenzusetzen.<br />

Dies verbietet die Hegelei, diese, „in unseren Tagen berühmt gewordene<br />

Charlatanerie", wie sich Schopenhauer so vorzüglich über sie äußert. Die<br />

Sozialdemokratie ist allen kapitalistischen <strong>und</strong> staatlichen Erscheinungen des<br />

modernen Lebens gegenüber ganz identisch mit den übrigen bürgerlichen<br />

Parteien, indem sie sie n i c h t unbedingt verneint, sondern nur nach politischer<br />

Beute giert <strong>und</strong> s i e i h r e n Z w e c k e n a n p a s s e n m ö c h t e .<br />

So ist sie n i c h t g e g e n den Militarismus, sondern ist nur gegen jene<br />

F o r m desselben, die ihren besonderen Zwecken nicht zuträglich ist. Eine<br />

besondere Erscheinung bildet die Sozialdemokratie höchstens deshalb, weil<br />

sie darnach strebt, das Proletariat von den bürgerlichen Parteien loszulösen<br />

<strong>und</strong> ihren e i g e n e n Parteizwecken, die in einer Eroberung der „demokratisch-proletarischen<br />

H e r r s c h a f t " bestehen, willfährig zu machen.<br />

Um aber letzteres zu können, dazu bedarf es des Militarismus, d. h.<br />

eines wohldisziplinierten <strong>und</strong> gedrillten Massenwahnes, der dem Befehle<br />

eines Vorgesetzten durchaus gehorcht. Ist die Hoffnung auch vollständig illusorisch,<br />

so wird sie dennoch von den offiziellen Parteigrößen systematisch<br />

genährt, daß die Sozialdemokratie eines Tages als politische Herrscherin<br />

auftreten würde <strong>und</strong> dann den Flinten, Gewehren <strong>und</strong> Kanonen im gegebenen<br />

Falle werde gebieten können, wie zuschießen . . . Dazu ist der Militarismus<br />

nötig, denn eine wie immer geartete „Diktatur des Proletariats", wie das<br />

schöne Wort von Marx lautet, Ist anders <strong>und</strong>enkbar; nur daß diese Diktatur,<br />

die eine neue Menschheitssklaverei bedeuten würde, glücklicherweise überhaupt<br />

<strong>und</strong>enkbar ist.<br />

Erst nun werden wir es begreifen, weshalb die deutsche Sozialdemokratie<br />

sich dem Antipatriotismus von Herve so hartnäckig widersetzt.<br />

Der Patriotismus ist allerdings nichts anderes als das ödeste der öden<br />

Schlagworte im Wörterbuch der Bourgeoisie, wie es Dr. Michels sehr richtig<br />

in seiner von der Sozialdemokratie totgeschwiegenen, logischen Broschüre<br />

„Patriotismus <strong>und</strong> Ethik"* darlegt, hat keinen Raum im Vorstellungsvermögen<br />

des Internationalismus, der wie alles Kulturelle allumspannend ist. Aber eine<br />

Partei, die sich aus niederer Mandatsjägerei an der Haushaltungspolitik des<br />

bestehenden Systems beteiligt, die die politische Macht gewinnen <strong>und</strong> desr<br />

halb politischen Stimmenfang betreiben muß, kann sich ihres Nationalismus<br />

<strong>und</strong> Patriotismus n i c h t entschlagen. Ein jeder Staat ist national, <strong>und</strong> wer<br />

ihn erringen will, muß selbstredend vor allem nationalistisch sein ; so kommt<br />

der Patriotismus auch in der Sozialdemokratie zu seinem Recht, muß zn<br />

demselben gelangen.<br />

Je nachdem die in der Sozialdemokratie zu Worte kommenden entweder<br />

mehr Sozialisten o d e r mehr Demokraten sind, desto mehr oder<br />

weniger sind sie Patrioten. Und indem die Sozialdemokratie vornehmlich die<br />

Demokratie unserer Tage darstellt, ist es nur logisch, wenn die Sozialdemokraten<br />

im Parlament dem Ausspruch Noskes, den wir oben zitierten,<br />

lebhaft zustimmten. So wird auch der Haß, die giftsprühende Wut über die<br />

antipatriotische Propaganda Herves begreiflich, die aus jeder Zeile des „Vorwärts"<br />

spricht, die sich damit beschäftigt. Entblödete sich dieses Blatt denn<br />

doch nicht, in seiner Ausgabe vom 16. September 1905 den Antimilitaristen<br />

<strong>und</strong> sozialistischen Antipolitikern an den Kopf zu werfen, daß sie für die<br />

„antisozialistischen Politiker" arbeiteten. Dieser verleumderische Ingrimm<br />

rührt daher, daß die Sozialdemokratie in all ihrem Vorgehen der Unterstützung<br />

der Bourgeoiselementc bedarf, die sie aber einzubüßen fürchten muß,<br />

falls sie eine direkt antipatriotisch-antimilitaristische Haltung einnähme. Aus<br />

diesem Gr<strong>und</strong>e haben die Bebel <strong>und</strong> Konsorten die These des sogenannten<br />

Abwehr- <strong>und</strong> Angriffskrieges aufgestellt, obwohl es bisher geschichtlich auch<br />

nicht ein einziges Mal unanfechtbar festzustellen ist, wer eigentlich der ursprünglich<br />

„schuldige Teil" in all den Kriegen der Weltgeschichte war. Dies<br />

gilt für alle — von Attila angefangen bis zu den Feldherren <strong>und</strong> Kriegsführern<br />

<strong>und</strong> Staatenhäuptern unserer Tage.***<br />

So lautet das Problem für jeden ehrlichen Sozialisten <strong>und</strong> Antimilitaristen,<br />

Ihr Herren Bebel, Liebknecht etc., etc., denn wir verteidigen nur<br />

das, was Yvetot vorzüglich folgendermaßen ausdrückte: „ D a s V a t e r l a n d<br />

i s t ü b e r a l l d a z u f i n d e n , w o e s M e n s c h e n g i b t , d i e Streben,<br />

D u l d e n , L e i d e n , A r b e i t e n , H o f f e n <strong>und</strong> s i c h g e g e n d a s Unr<br />

e c h t a u f l e h n e n ! "<br />

Als Vertreterin des Gewallsprinzips staatlicher Zentralisation stellt die<br />

Sozialdemokratie eine durchaus ideologische Auffassung über das Wesen des<br />

Militarismus vor, wie unter anderem auch der sehr beschränkte Satz Liebknechts<br />

„Der Besitz der Waffen ist politische Macht" es beweist. Wäre dem<br />

wirklich so, dann müßten die Soldaten aller Länder ihre Tyrannen längst<br />

aufs Haupt geschlagen haben. Nach Liebknechts Auffassung könnte eine im<br />

Parlament ans Ruder gelangte Partei die Waffen <strong>und</strong> das Heer für sich ausnützen,<br />

was zu behaupten, ein politischer Betrug ist. Denn so lange dieses<br />

Heer überhaupt einem Befehle gehorcht <strong>und</strong> nicht aus sich heraus, durch<br />

seine Geistesaufklärung gegenüber dem Bestehenden passiv wird, wird es<br />

stets denjenigen eher gehorchen, die die wirtschaftliche <strong>und</strong> e x e k u t i v e<br />

Macht im Staate besitzen <strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong> derselben herrschen. Parlamentsmajoritäten<br />

sind aber w e d e r wirtschaftliche n o c h exekutive Macht.<br />

* Im »Handbuch für sozialdemokratische Wähler" (1906) heißt es: „Daß die Völker<br />

(!! P. R.) unter gegenwältigen Verhältnissen nicht wehrlos sein können, erkennt auch die<br />

Sozialdemokratie an". Und weiter: „Daß die deutschen Soldaten ohne Unterschied des Ranges<br />

in einem Kriege ihre volle Schuldigkeit tun, bezweifelt auch kein Sozialdemokrat."<br />

** Verlag Felix Dietrich, Gautzsch bei Leipzig (Kregelstraße 5).<br />

*** Ein geradezu drastisches Beispiel für diese unsinnige Methode, die antimilitaristische<br />

Aktion des Proletariats von der Eventualität des Angriffs oder der Abwehr abhängig<br />

zu machen, bot sich erst wieder in jüngster Zeit. Die englischen Sozialdemokraten H y n dm<br />

a n (strammer Marxist) <strong>und</strong> B l a t c h f o r d erklärten in patriotischen Jingoartikeln, England<br />

müsse sich wappnen <strong>und</strong> für einen Krieg bereit sein, der ihm mit Deutschland drohe, das<br />

bereits seine Kriegsmaßregeln treffe. Demgegenüber erklärte wieder B e b e l , daß Deutschland<br />

wegen seiner .ökonomischen K r i s e * nicht daran denken könne. Man sieht, wie uneinig<br />

die Brüder in St. Marx darin sind, w e r in diesem Falle der angreifende, wer der sich verteidigende<br />

Teil wäre. Eine vorzügliche Gedankenleistung über diese Frage bietet der Roman<br />

von V. E. Teranus „Der letzte Krieg; ein Zukunftsbild", Verlag Continent, Berlin W. 50.<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur W. Horatschek (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien, XIV.<br />

Fortsetzung folgt.


Wien, 15. November 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 22.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />

I./17. — Gelder sind zu senden an<br />

Marie Schindelar, Wien, XII., Herthergasse<br />

12, I./17.<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

.dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist. . ."<br />

Der 11. November im Lichte der Geschichte.<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2-40;<br />

halbjährig K 1-20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3-50, halbjährig Fr. 175, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

„Ich habe Ihre Zeit in Anspruch genommen,<br />

um Ihnen alles, alles zu sagen, nichts verschweigend<br />

<strong>und</strong> verbergend; meinen Gedanken <strong>und</strong> meinem<br />

Herzen Luft machend, die reine Wahrheit. Ich bin<br />

dieses Verbrechens nicht schuldig. Ich hatte mit der<br />

Heumarkt-Tragödie nichts zu tun ich wußte nichts<br />

davon. Ich bin nicht verantwortlich dafür. Ich lege<br />

den Fall in Ew. Ehren Hände."<br />

(Schlußpassus aus Albert Parsons<br />

Verteidigungsrede vor Gericht.)<br />

Der 11. November 1887 ist der Tag des Abschlusses<br />

einer historischen Epoche im sozialen Befreiungskampf<br />

des amerikanischen Proletariats. Nach<br />

ihm beginnt eine ganz neue Periode, die uns im vorliegenden<br />

Zusammenhang aber wenig bekümmert; im<br />

nachfolgenden sind die durchaus objektiv gesammelten<br />

Tatsachen jener Vergangenheit, die den 11. November<br />

schufen <strong>und</strong> ihn uns heilig machen als Sterbetag unvergeßlicher<br />

Vorkämpfer des Volkes.<br />

Wenden wir uns dem Hintergr<strong>und</strong>e jener bewegten<br />

Periode zu. Das Jahr 1886 bildete den Kulminationspunkt<br />

einer schon längst geplanten, teilweise<br />

auch kräftigst realisierten Agitation zugunsten des<br />

Achtst<strong>und</strong>entages; eine Forderung, die in Amerika<br />

heutzutage fast vollständig verwirklicht <strong>und</strong> nicht zuletzt<br />

den nachfolgenden Ereignissen ihre Verwirklichung<br />

zu danken hat. Gleichwie das Proletariat stets heldenmütig, groß im Entsagen<br />

gewesen, wie es anno 1848 monatelang hungerte, wie es die Kommune zum<br />

Falle brachte durch seine naive Sorglosigkeit <strong>und</strong> prüde Ehrlichkeit, wie es stets<br />

für das Große sich opferte, war es auch zufrieden mit einer so einfachen Reform,<br />

mit einem solch unscheinbaren Zugeständnis wie jenes des Achtst<strong>und</strong>entages. Und<br />

nicht einmal dies. Schon im Jahre 1878 war der achtstündige Arbeitstag vom Kongreß<br />

der Vereinigten Staaten in begrenzter Form angenommen worden. Jedoch das Gesetz<br />

blieb ein toter Buchstabe, wie jedes andere Gesetz es ist, welches unter den bestehenden<br />

Lohn- <strong>und</strong> Produktionsverhältnissen zugunsten der Arbeiterklasse erlassen wird,<br />

wenn es die kapitalistische Klasse zu Falle bringen will. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e bildeten<br />

sich in ganz Amerika Ligas <strong>und</strong> Vereine, welche eine Agitation entfalteten, die keinen<br />

anderen Zweck besaß, als dem Achtst<strong>und</strong>entag-Gesetz Anerkennung zu verschaffen.<br />

Doch es ist das großartigste Moment in der modernen Arbeiterbewegung, daß sie.<br />

wie kein anderes organisches Gebilde es so klar <strong>und</strong> deutlich aufweist, vom Flusse der<br />

Entwicklung mitgerissen wird. Unscheinbare Ereignisse; oftmals von der produktiven<br />

Arbeitssphäre weit entfernt, nehmen riesenhafte Dimensionen an <strong>und</strong> reißen die arbeitende<br />

Welt in ihren Wirbel mit. Und einmal in der Mitte, zeigt sich der Titan Arbeit stets<br />

als vollreif. Dann werden alle Kraftelemente in ihm belebt <strong>und</strong> angewendet, überall ist Leben,<br />

eine reiche Ideenassoziation bricht sich Bahn, Ideale hehrster <strong>und</strong> schönster Art ringen<br />

sich mit Rapidität durch. Das arbeitende Volk wird sich seines Könnens bewußt, es<br />

strebt weiter, immer größer werden die Kreise seiner Tätigkeit, immer radikaler sein<br />

Vorgehen.<br />

So auch im Jahre 1886. Zuerst eine einfache, relativ gesprochen unbedeutende Bewegung,<br />

wurden in den Bannkreis der Agitation bald jene intelligentesten, fähigsten <strong>und</strong><br />

radikalsten Elemente der Arbeiterbewegung gezogen, welche allein dazu berufen sind,<br />

einer solchen Massenbewegung vorzustehen. Im Nu fanden sich unsere Märtyrer in eine<br />

Agitation verwickelt, deren Inhalt sie mit neuem Gehalt, mit jenem des Generalstreiks,<br />

erfüllten.<br />

Während sich nun alle wirtschaftlichen Kampfesgruppierungen auf einen Generalstreik<br />

vorbereiteten, welcher am 1. Mai beginnen sollte, um eben den Achtst<strong>und</strong>entag zu<br />

erzwingen, brach in der Ackerbau-Gerätschaftsfabrik von Mc Cormick zu Chicago ein<br />

Streik aus. Gleich der Wut der Elemente, die, einmal entfesselt, unbezähmbar scheint,<br />

steigerte sich die Leidenschaft zwischen den kämpfenden Teilen: Kapital <strong>und</strong> Arbeit!<br />

Das Unternehmertum mit seiner flagranten Übertretung jedweden Rechts- <strong>und</strong> Gerechtigkeitsgefühles<br />

dachte auch hier mit Hilfe der<br />

schon so oft angewandten Gewalts- <strong>und</strong> Bezwingungsmittel<br />

leicht siegen zu können. Doch es sollte sich<br />

diesmal irren. In der Arbeiterschaft hatte eine große<br />

Erbitterung die Oberhand gewonnen <strong>und</strong> zur Zeit,<br />

als durch die obige Firma Streikbrecher herangezogen<br />

wurden, da ereigneten sich Plänkeleien, die sich in<br />

ihrem Umfange fortwährend steigerten. Die sogenannten<br />

Pinkertons (amerikanische Detektives <strong>und</strong> Söldner) <strong>und</strong> andere Schweißh<strong>und</strong>e des Kapitals schossen auf die Ausständigen wie auf<br />

räudige H<strong>und</strong>e, Arbeiterblut floß in Strömen, <strong>und</strong> täglich mehr wuchsen die Empfindungen der Empörung, nach Luft <strong>und</strong> Ausdruck<br />

ringend. Wie ein Funke ins Pulverfaß schlug daher ein Zirkular, das zur Selbstverteidigung gegenüber den gedungenen Pinkertons


aufforderte <strong>und</strong> von S p i e s in den Spalten<br />

der «Chicagoer Arbeiterzeitung» veröffentlicht<br />

wurde. In bezeichnenden Worten, mit<br />

revolutionärer, der amerikanischen, angeblichen<br />

Preßfreiheit angepaßten Logik <strong>und</strong><br />

schneidenden Schärfe, die allen Schriften von<br />

Spies eigen ist, wurde in dem Aufruf die Situation<br />

gekennzeichnet <strong>und</strong> für den darauffolgenden<br />

Tag zum Besuch einer Versammlung<br />

auf dem Heumarkt, unter freiem Himmel,<br />

aufgefordert. Am4. Mai 1886 erfolgte die berühmte<br />

Heumarkt-Versammlung in Chicago,<br />

die so traurige Folgen haben sollte.<br />

Spies befand sich als erster auf dem<br />

Versammlungsplatze; er sandte um Parsons<br />

<strong>und</strong> sprach über die brutale Knüppelei <strong>und</strong><br />

Schießerei der Polizei, wie sie den Arbeitern<br />

gegenüber geübt ward. Ihm folgte Parsons,<br />

der sich in seinen Ausführungen<br />

strikt an die Achtst<strong>und</strong>enfrage hielt. Gerade<br />

als F i e l d e n , der nächste Redner, enden<br />

wollte, stürmten etwa 100 Blauröcke* einher<br />

<strong>und</strong> provozierten sowohl die Redner als<br />

auch die Versammlung dadurch, daß sie,<br />

entgegen der konstitutionell gewährleisteten<br />

Versammlungsfreiheit, die durchaus friedliche<br />

Zusammenkunft einiger h<strong>und</strong>ert Menschen<br />

zur Auflösung bringen wollten. Schon<br />

gab Kapitän Ward trotz des gütlichen Einspruches<br />

Fieldens, daß dies doch eine friedliche<br />

Versammlung sei, das Kommando zum<br />

gewalttätigen Einschreiten <strong>und</strong> Angriff —<br />

da ertönte plötzlich eine furchtbare Detonation,<br />

etwas Entsetzliches hatte sich er-<br />

Albert Parsons.<br />

eignet. Eine Bombe war geworfen worden —<br />

Spies wurde von seinem hinter ihm stehenden<br />

Bruder von der Rednertribüne gezerrt,<br />

gerade als einer der Schergen des Staates<br />

ihn meuchlings erschießen wollte. Vor der<br />

Tribüne <strong>und</strong> auf dem weiten Platze tummelte<br />

sich ein unentwirrbarer Knäuel. Polizisten<br />

schossen blindlings aufeinander los,<br />

schwangen Knüppel, Verw<strong>und</strong>ete stöhnten,<br />

Sterbende ächzten. Ein Polizist ward getötet,<br />

60 andere wurden verw<strong>und</strong>et.<br />

Was geschah nun? Wurde vor allem<br />

der Täter ermittelt? Wurde die Polizei ob<br />

ihres Vorgehens, das selbst der Polizeipräsident<br />

für verfehlt <strong>und</strong> falsch erklärte,<br />

gerügt? Nein, denn die amerikanischen<br />

Ordnungsphilister sahen ihre soziale «Ordnung»<br />

nur durch den Büttel geschützt, den<br />

Büttel, der durch Knüppel <strong>und</strong> Pistole die<br />

Achtung vor dem Gesetze erzwingen muß.<br />

Und darum kümmerte man sich nicht um<br />

die Ermittelung des wirklichen Täters, um<br />

den es sich doch naturgemäß vor allen<br />

Dingen handeln mußte, sondern man verhaftete<br />

wild <strong>und</strong> unbezähmbar darauf los<br />

<strong>und</strong> vor allen diejenigen, die als Wortführer<br />

des kämpfenden Proletariats bekannt waren,<br />

ganz insbesondere die folgenden acht Personen:<br />

S p i e s , P a r s o n s , F i e l d e n — nur<br />

diese drei waren überhaupt in der Heumarktversammlung<br />

gewesen — L i n g g ,<br />

F i s c h e r . E n g e l , N e e b e , S c h w a b , einfach<br />

darum, weil sie vornehmlich als Anarchisten<br />

bekannt waren.<br />

* Amerikanischer Ausdruck für Polizist.<br />

Und nun gelangen wir zu einer entsetzlichen<br />

Szene in der Aktaufführung vorliegender<br />

Tragödie. In diesem Augenblicke<br />

höchster Auflösung aller sozialen Bande<br />

der Menschlichkeit <strong>und</strong> des Zusammengehörigkeitsgefühls<br />

konnte sich der amerikanische<br />

Kapitalismus, dieser Mammonsgott<br />

der Ausbeutung, stolz auf den Thron der<br />

staatlichen Autorität schwingen <strong>und</strong> sich<br />

ganz offenk<strong>und</strong>ig, ohne Scheu, ohne Maskierung<br />

die amerikanische Justiz wie eine<br />

feile Dirne willfährig machen. Es gebricht<br />

uns an Raum, das ganze Begnadigungserkenntnis<br />

<strong>und</strong> dessen nachfolgende Begründung<br />

durch Gouverneur Altgeld vollständig<br />

wiederzugeben, das dieser sechs<br />

Louis Lingg.<br />

Georg Engel.<br />

Adolf Fischer.<br />

Jahre später erließ, <strong>und</strong> wodurch er die auf<br />

Lebenszeit verurteilten Kämpfer Schwab,<br />

Neebe <strong>und</strong> Fielden der Freiheit zurückgab.<br />

Tatsache ist, daß dieses sowohl für den<br />

Richter, wie für die Staatsanwaltschaft <strong>und</strong><br />

die Geschworenen, als auch <strong>und</strong> insbesondere<br />

die Polizei <strong>und</strong> Geheimpolizei einfach<br />

v e r n i c h t e n d ist; nicht nur für den<br />

juristischen Verstand, der schon 1886 <strong>und</strong><br />

1887 in zahlreichen, oftmals mutvollen Erklärungen<br />

von Advokaten, Richtern, ja auch<br />

Staatsanwälten <strong>und</strong> Geschäftsleuten sehr<br />

warnend seine Stimme erhob gegenüber<br />

dem Gebahren <strong>und</strong> Vorgehen des Staates,<br />

der sich offenk<strong>und</strong>ig mit den machthabenden<br />

Kapitalistenkreisen dazu verschworen<br />

hatte, die gefangenen Männer der Arbeit<br />

zu hängen, koste es, was es wolle, Recht<br />

oder Unrecht ganz nebensächlich. Altgeld<br />

war der erste, der auch in einer für den<br />

einfachen Durchschnittsmenschen klaren<br />

Sprache den Prozeß, der unseren gemordeten<br />

Vorkämpfern gemacht wurde, so beleuchtete,<br />

daß man deutlich erwiesen findet:<br />

Sämtliche Justizpersönlichkeiten handelten<br />

im unverantwortlich gemeinen, materiellen<br />

Selbstinteresse, als sie die Angeklagten zum<br />

Tode verurteilten. Und dabei ging man ganz<br />

öffentlich zu Werke: entblödete sich doch<br />

die Unternehmervereinigung der Citizens<br />

Alliance nicht, am Tage n a c h dem Urteilsspruch<br />

den Geschworenen ein — Geschenk<br />

im Betrage von 100.000 Dollars zu machen,<br />

dafür, daß sie Mitmenschen in durchaus<br />

justizmörderischer Weise dem Henker überantwortet<br />

hatten!<br />

Und wo blieb der Täter? Trotz allem<br />

Suchen, trotz 18 monatlicher Untersuchung<br />

wurde er nicht entdeckt. Die verschiedenartigsten<br />

Mutmaßungen wurden aufgestellt.<br />

Eines aber wurde selbst von den Behörden<br />

als klar erwiesen angenommen, <strong>und</strong> der<br />

Richter Gary erklärte in einem sieben Jahre<br />

nach dem Prozeß veröffentlichten Artikel<br />

es ganz ungeniert, daß er es gewußt hatte,<br />

d a ß k e i n e r d e r A n g e k l a g t e n d i e<br />

B o m b e g e w o r f e n o d e r i r g e n d etwas<br />

m i t d e r s e l b e n zu tun h a t t e ! Auch<br />

die Anklage wegen Mord mußte fallen gelassen<br />

werden, wurde jedoch umgewandelt<br />

in eine Anklage auf Verschwörung zur Ermordung<br />

von Polizisten.<br />

August Spies.<br />

Diese letztere Anklage des Staates<br />

konnte nun im Laufe des Prozesses gleichfalls<br />

in keiner Weise erwiesen werden. Dies,<br />

trotzdem der amerikanische Staat — alles<br />

laut Beweisen von Altgeld <strong>und</strong> anderen -<br />

nicht zurückschreckte, die Geschworenen<br />

auf ungesetzliche Art zu bestimmen, falsche<br />

Zeugen, Meineide, Drohung, Bestechung,<br />

Beeinflussung der öffentlichen Meinung<br />

aufmarschieren, ja, was noch das ärgste:<br />

die Zeugen der Angeklagten inhaftieren ließ,<br />

wenn sie ihren Willen, zu deren Gunsten<br />

auszusagen, bek<strong>und</strong>eten! Man bedenke:<br />

das Organ der Rechtsanwälte Chicagos<br />

konnte ohne einen einzigen Protest erklären,<br />

daß die «Verurteilung der angeklagten<br />

Anarchisten nur durch Ferkelstecherei herbeigeführt<br />

wurde!»<br />

Wie kontrastierte das Verhalten der<br />

Angeklagten vor Gericht von dem ihrer<br />

Richter! Wutschäumend erklärte Staatsanwalt<br />

Grinell, daß es sich in diesem Prozesse gar<br />

nicht darum handle, die wirklichen Täter<br />

zu eruieren, oder sogar die Angeklagten<br />

der Verschwörung zu überführen; es handle<br />

sich darum, «der Anarchie das Haupt abzuschlagen»;<br />

dazu bediente er sich der vor<br />

dem Richterstuhl jeder männlichen Gesinnung<br />

verwerflichsten Mittel der Bestechung,<br />

die selbst im Gerichtssaal zugestanden<br />

ward, wie im Falle Waller. Im Gegensatz<br />

hierzu sehen wir unsere Kameraden<br />

S p i e s , der beruflich nacheinander Geometer,<br />

Polsterer, Buchhalter, Agent <strong>und</strong> Schriftsteller<br />

war, P a r s o n s , ein Buchdrucker,<br />

F i s c h e r gleichfalls, E n g e 1, ein Anstreicher,


dann Besitzer eines kleinen Zigarren- <strong>und</strong><br />

Spielwarenladens, F i e l d e n , ein Weber,<br />

Taglöhner <strong>und</strong> Fuhrmann, S c h w a b , Buchbinder<strong>und</strong><br />

später Schriftsteller, L i n g g , ein<br />

Tischler, N e e b e , ein Klempner — wir<br />

sehen diese schlichten Arbeitsmänner wie<br />

Heroen vor Gericht stehen. Ewig unvergänglich<br />

bleiben die Reden, die sie gehalten<br />

haben, als das Urteil gegen sie verkündet<br />

wurde, diese Hohelieder der erhabenen<br />

Gedankenwelt der Anarchie <strong>und</strong><br />

die es am besten beweisen, daß in diesen<br />

Helden nicht etwa Verbrecher-, Brandstifter-,<br />

Mördernaturen staken, wie es der Staat darzustellen<br />

beliebte, sondern die Feuerglut<br />

einer unbezwingbaren Überzeugung, die<br />

standhielt vor allen Folterwerkzeugen der<br />

Justiz.<br />

Aber gerade in diesen Umständen erblicken<br />

wir die tieferen Ursachen der Hartherzigkeit,<br />

der Erbarmungslosigkeit der<br />

höchsten amerikanischen Instanzen, die sich<br />

nicht dazu herbeiließen, das Todesurteil umzuändern,<br />

von dessen Unrechtmäßigkeit der<br />

damalige Gouverneur Oglesby schon damals<br />

überzeugt war, wie aus einigen seiner<br />

Äußerungen hervorgeht, die den Verurteilten<br />

entgegenkamen, w e n n sie sich vor<br />

ihm demütigen würden. Er wußte, daß dies<br />

nie in dem Sinne, wie er es gewollt, geschehen<br />

würde; sämtliche höhere Instanzen<br />

erblickten in diesen herrlichen Geistern das<br />

Haupt der revolutionären Bewegung, die,<br />

wie sie in lächerlicher Unwissenheit annahmen,<br />

mit diesen Männern stand <strong>und</strong> fiel.<br />

Hätten diese Männer die Bombe geworfen,<br />

sie würden sie nicht gefürchtet haben, denn<br />

was ist ein Attentäter gegenüber der riesigen<br />

Übermacht des Staates? Aber diese<br />

Männer waren gefährlicher, als es ein sogenannter<br />

Verbrecher ist, diese Männer<br />

durchschauten die Lüge der amerikanischen<br />

Freiheit — es war ihr Heldengeist, ihr Freiheitssinn,<br />

ihr herrlicher Charakter, den die<br />

Herrschenden der plutokratischen Republik<br />

fürchteten; <strong>und</strong> dieser Feigheit mußten fünf<br />

Menschenleben zum Opfer fallen.<br />

*<br />

Das Todesurteil gelangte zur Vollstreckung.<br />

Tief ergreifend <strong>und</strong> jedes menschliche<br />

Fühlen gewaltig aufwühlend, sind die letzten<br />

Tage der verurteilten Kameraden, der<br />

fünf zum Tode Verurteilten gewesen. Sie<br />

gingen nicht vorüber, ohne daß sich ein<br />

Prolog der zu gewärtigenden Tragödie abspielte.<br />

Am Morgen des 10. November zerschmetterte<br />

Lingg sich den Kopf mit einer<br />

Patrone, die er in den M<strong>und</strong> nahm <strong>und</strong><br />

an einer Kerze anzündete. Wie war diese<br />

Patrone in seine Zelle gelangt? Die Geschichte<br />

schweigt darüber; wir haben unsere<br />

Überlieferungen, Mutmaßungen, aber nichts<br />

Bestimmtes darüber. Auf diese Art entriß<br />

sich Lingg kurz vor der Hinrichtung dem<br />

schimpflichen Tod durch den Strang, den<br />

der Staat ihm zugedacht hatte. Und während<br />

der Unglückliche in furchtbaren Qualen sich<br />

wand, erklärte der Henker Matson kaltblütig<br />

den Ärzten: «Ihr könnt davon überzeugt<br />

sein, daß der Mann hängen wird, falls er<br />

morgen lebt <strong>und</strong> der Gouverneur keinen<br />

Aufschub bewilligt.» — — —<br />

Trübe <strong>und</strong> nebelig-dunkel brach der<br />

Morgen des 11. November an.<br />

Sämtliche zum Tode Verurteilten wiesen<br />

den «religiösen Trost» des Geistlichen zurück.<br />

Dieser bemerkte zu Spies am Tage<br />

vorher: «Ich werde die ganze Nacht für<br />

Was zieht heran von West gen Ost gewendet?<br />

Und wer sind dies', marschierend ernst <strong>und</strong> schwer?<br />

Die Botschaft, von den Reichen Euch gesendet<br />

Auf Euren Mahnruf, bringen wir daher.<br />

Uns alle müßt ihr töten, e i n e n nicht,<br />

Wollt ihr verdunklen unsrer Sonne Licht.<br />

Sie beten», worauf Spies antwortete: «Beten<br />

Sie für andere, die es nötiger haben».<br />

Und plötzlich durchbrausten die Gänge<br />

des Gefängnisses die Töne eines Heineschen<br />

Liedes, gesungen von Engel:<br />

„Im düstern Auge keine Träne,<br />

Sie sitzen am Webstuhl <strong>und</strong> fletschen die Zähne:<br />

„Deutschland, wir weben dein Leichentuch,<br />

Wir weben hinein den dreifachen Fluch —<br />

Wir weben, wir weben!"<br />

Alle Todesgefährten von Engel standen<br />

an den vergitterten Gefängnistüren <strong>und</strong><br />

lauschten. Engel selbst saß wie verzückt,<br />

seiner Umgebung entrückt, da, während er<br />

die ergreifenden Strophen sang. Und auf<br />

einmal stimmte auch Parsons sein Lieblingslied<br />

an, das schottische Volkslied von<br />

«Schön Annie Laurie».<br />

„Schön sind Maxweltons Wälder, wenn der Tau<br />

liegt auf der Flur,<br />

Dort war's, wo Annie Laune mir gab den Treueschwur,<br />

Beim stillen Abendrot<br />

Ihr Lebewohl mir bot<br />

Und für schön Annie Laune ging ich willig in den<br />

Tod . . ."<br />

S e i n e Annie Laurie war der Gedanke<br />

menschlicher Befreiung, höchster Harmonie<br />

<strong>und</strong> idealen Glückes — für ihn ging er in<br />

den Tod.<br />

Die Todesst<strong>und</strong>e rückt heran, es ist<br />

1 1 ½ Uhr vormittags am 11. November.<br />

Mit bleichem Angesicht kommt der<br />

Henker Matson samt Gehilfen zu den Zellen.<br />

Die Gefangenen erheben sich. Sie wissen,<br />

daß es nun zu Ende geht. Sie drücken einander<br />

die Hände, umarmen sich in brüderlicher,<br />

unvergänglicher Solidarität <strong>und</strong> folgen<br />

dem sie Führenden mit gelassenen Schritten.<br />

Auf dem Richtplatz angelangt, umgeben<br />

von all den Neugierigen, wechseln sie noch<br />

einmal ein paar brüderliche Worte. Dann<br />

trat der Schließer Folz auf die vier unschuldig<br />

zum Tode Verurteilten zu, legte<br />

ihnen die Schlingen um den Hals <strong>und</strong> zog<br />

ihnen die Kappe über das Gesicht.<br />

Dumpfe Stille erfüllte den Raum. Plötzlich<br />

erscholl Spies helle Stimme:<br />

« D i e Z e i t w i r d k o m m e n , d a uns<br />

e r S c h w e i g e n m ä c h t i g e r s e i n w i r d<br />

a l s u n s e r e R e d e n ! »<br />

Als das Echo verklungen war, rief Engel:<br />

« H o c h d i e A n a r c h i e ! »<br />

Dann folgte Fischer:<br />

« D i e s ist d e r g l ü c k l i c h s t e Aug<br />

e n b l i c k m e i n e s L e b e n s ! »<br />

Langsam <strong>und</strong> deutlich kam es aus Parsons<br />

M<strong>und</strong>e:<br />

« W i r d m i r g e s t a t t e t s e i n , z u<br />

r e d e n ? O , I h r F r a u e n u n d M ä n n e r<br />

d e s t e u r e n A m e r i k a — »<br />

Der Scharfrichter drehte sich um, als<br />

ob er ein Zeichen geben wollte; Parsons<br />

muß dies bemerkt haben, denn er rief:<br />

« L a s s e n S i e m i c h r e d e n , S h e r i f f<br />

M a t s o n . L a s s e n S i e d i e S t i m m e d e s<br />

V o l k e s g e h ö r t w e r d e n . — »<br />

In diesem Augenblicke fiel die Klappe<br />

vier Körper hingen in minutenlanger<br />

Qual in der Luft; Unschuldige waren gemordet,<br />

man hatte die Menschheit ihres<br />

stolzesten Geblütes beraubt. — —<br />

*<br />

H<strong>und</strong>erttausende folgten einige Tage<br />

später den Särgen der Geopferten. Die<br />

Liebe des Volkes bettete sie warm <strong>und</strong> gut<br />

— o daß sie doch früher gesprochen <strong>und</strong><br />

sie gerettet hätte!<br />

Aber die Zeit kam, <strong>und</strong> es dauerte<br />

kaum sechs Jahre, da ward ihr Schweigen<br />

im Grabe mächtiger, als ihre Reden es je<br />

hätten sein können. Wie ein ewiges Ge-<br />

Ein Totenlied.<br />

Aus dem Englischen übersetzt von L i l l y N a d l e r - N u e l l e n s .<br />

richt donnerte es den Repräsentanten der<br />

herrschenden Macht entgegen, was Gouverneur<br />

Altgeld ihnen bot:<br />

«Erstens: Die Geschworenen, welche<br />

den Fall beurteilen sollten, waren nicht<br />

rechtmäßig, sondern so ernannt worden,<br />

um unter allen Umständen zu verurteilen.<br />

«Zweitens: Laut dem Gesetze des<br />

höchsten Gerichtshofes, wie es war <strong>und</strong><br />

abermals seit dem Prozeß der Chicagoer<br />

Anarchisten festgelegt ward, waren die<br />

Geschworenen, laut ihren eigenen Aussagen,<br />

nicht kompetente Geschworene<br />

<strong>und</strong> d e r P r o z e ß w a r a u s d i e s e m<br />

G r u n d e k e i n l e g a l e r P r o z e ß .<br />

«Drittens: daß die Angeklagten der<br />

Schuld an dem in der Anklage ihnen zur<br />

Last gelegten Verbrechen n i c h t ü b e r -<br />

führt wurden.<br />

«Viertens: Daß, was den Angeklagten<br />

Neebe anbetrifft, der Staatsanwalt selbst<br />

beim Schluß des Beweisverfahrens erklärte,<br />

daß er keinen Prozeß wider ihn<br />

habe, er aber dennoch alle diese Jahre<br />

im Gefängnis gehalten wurde.<br />

«Fünftens: Daß der Vorsitzende<br />

Richter des Prozesses entweder so voreingenommen<br />

gegen die Angeklagten,<br />

oder so fest entschlossen war, den Applaus<br />

einer gewissen Klasse des Gemeinwesens<br />

zu ernten, daß er ihnen einen<br />

gerechten Prozeß nicht gewähren konnte<br />

noch gewährte . . .<br />

«Sämtliche der Anklagen tragen einen<br />

persönlichen Charakterzug, was durch<br />

den Rekord des Verfahrens <strong>und</strong> die Akten<br />

vor mir erwiesen ist, die dahingehend<br />

lauten, daß der Prozeß kein gerechter<br />

war; doch ich will diese eine Seite des<br />

Falles nun nicht weiter besprechen, denn<br />

es ist durch den Justiztod der Angeklagten<br />

unnötig geworden. Ich bin jedoch<br />

überzeugt davon, daß es aus obigen dargebotenen<br />

Gründen meine Pflicht ist,<br />

im vorliegenden Fall zu handeln, <strong>und</strong><br />

ich entbiete aus diesem Gr<strong>und</strong>e Samuel<br />

Fielden, Oskar Neebe u. Michael Schwab<br />

eine absolute Amnestie an diesem 26.<br />

Juni 18Q3.<br />

John P. Altgeld<br />

Staatsgouverneur von Illinois.<br />

*<br />

Diese Auszüge aus dem ^Erkenntnis<br />

des höchsten Staatsbeamten, eines Mannes,<br />

dessen Gerechtigkeitsgefühl <strong>und</strong> Charaktergröße<br />

es ihm verboten, sich auch als Werkzeug<br />

des Klassenhasses der Machthaber gebrauchen<br />

zu lassen, sühnte auf diese Weise,<br />

was noch gesühnt werden konnte.<br />

Damit schließt die Tragödie des 11.<br />

November 1887.<br />

Diejenigen Märtyrer' aber, die ihre<br />

Hauptakteure bilden <strong>und</strong> in grauser Wirklichkeit<br />

auf der Schlachtbank einer feilen,<br />

«republikanischen Justiz» dahingemordet<br />

wurden — sie sind nicht tot, sie sind unsterblich,<br />

denn der Geist der Anarchie, der<br />

nichts zu tun hat mit Blut <strong>und</strong> Mord <strong>und</strong><br />

blutrünstigem Gemetzel, lebt in dem Leben<br />

<strong>und</strong> Sterben der gemordeten Chicagoer<br />

Anarchisten unvergänglich fort <strong>und</strong> bereitet<br />

vor den großen Zeitpunkt der Neuverjüngung<br />

für alle Menschen der großen,<br />

sieghaften Gerechtigkeit des Seins, die im<br />

Wohlstand für alle besteht.<br />

Dieser Zeitpunkt ist ein heiliger. Der<br />

11. November <strong>und</strong> die fünf Toten haben<br />

ihn geweiht, denn sie haben ihr Herzblut<br />

für die Erlösung der Menschheit aus den<br />

Banden der nachtschwarzen Not, Ausbeutung<br />

<strong>und</strong> des Jammers freudig dahingegeben!<br />

Wir forderten nur Arbeit, um zu leben,<br />

Wir sollten warten, war ihr hartes Wort;<br />

Wir wollten sprechen, unser Elend künden,<br />

Und bringen stumm zurück den Toten dort,<br />

Uns alle müßt ihr töten, e i n e n nicht,<br />

Wollt ihr verdunklen unsrer Sonne Licht.


Sie wollen uns nicht hören <strong>und</strong> nicht lernen<br />

In ihren reichen Hallen taub dafür.<br />

Und blind wie draußen sich der Himmel dunkelt.<br />

Doch sieh! Der Tote pocht an ihrer Tür.<br />

Und alle müßt ihr töten, e i n e n nicht,<br />

Wollt Ihr verdunklen unsrer Sonne Licht.<br />

Hier liegt das Zeichen, daß wir uns befreien;<br />

Inmitten von dem Sturm hat er jetzt Ruh';<br />

Und in dem Dämmerlicht der frühen Sonne<br />

Winkt uns der Tag des Sieges, der Feiheit zu.<br />

Uns alle müßt ihr töten, e i n e n nicht,<br />

Wollt ihr verdunklen unsrer Sonne Licht. William Morris.*<br />

• Obiges Gedicht wurde bei A. Linnells Begräbnis gesungen, der am 13. November 1887 in Trafalgar Square (London), aus Anlaß der Demonstration der<br />

Arbeitslosen, von der Polizei getötet wurde. Als Nachruf sprach W. Morris, der hochherzige Vorkämpfer des herrschaftslosen Sozialismus in England, am Grabe<br />

folgende einfach schönen W o r t e :<br />

„<strong>Unser</strong> Fre<strong>und</strong>, der hier liegt, hat ein hartes Leben gehabt <strong>und</strong> einen harten Tod gef<strong>und</strong>en; <strong>und</strong> wäre die Gesellschaft anders beschaffen<br />

gewesen, hätte sein Leben ein genußreiches, schönes <strong>und</strong> glückliches sein können.<br />

Es ist unsere Aufgabe, uns zu organisieren, damit solche Dinge nicht geschehen, <strong>und</strong> darnach zu streben, diese Erde zu einer schönen <strong>und</strong><br />

glücklichen Stätte zu machen."<br />

Düstere Herbstnebel breiten sich über<br />

die Erde. Es ist, als wollten sie etwas verbergen,<br />

was sich nicht verbergen läßt, denn<br />

langsam <strong>und</strong> unheimlich taucht e i n Datum<br />

aus dem dichten Grau hervor, das uns alle<br />

wie vor etwas Höherem erbeben läßt: es<br />

ist der 11. November, der vor jedem Denkenden<br />

<strong>und</strong> Wissenden aufsteigt, der symbolische<br />

Tag für die Martyriologie des<br />

Freiheitskampfes, aber auch für das grauenhafte<br />

Unrecht <strong>und</strong> Justizverbrechen, das<br />

Amerika in den Jahren 1 8 8 6 - 1 8 8 7 an fünf seiner<br />

Edelsten <strong>und</strong> Besten verübte, das nicht<br />

ruhen läßt, sondern alljährlich, wie ein Blitz<br />

alles Dunkle erhellend, wie ein Donnerschlag<br />

an unser Gewissen greifend, wiederkehrt<br />

ein ewiges, ruheloses Gespenst<br />

der bürgerlichen <strong>und</strong> staatlichen Gesellschaft!<br />

Wann werden die Herbstnebel einmal<br />

in Wahrheit den 11. November bedecken?<br />

Ihn begraben, so daß er ausgelöscht sei aus<br />

dem G e w i s s e n der Menschen <strong>und</strong> ihrer<br />

historischen Erinnerung? Man glaube nicht,<br />

daß uns Anarchisten dieser Tag freut <strong>und</strong><br />

besonderes Glücksgefühl verursacht. Nein;<br />

haben wir auch die Pflicht, unserer Bewegung<br />

gegenüber Genüge zu leisten <strong>und</strong><br />

immer wieder die gerade in diesem Falle<br />

so erhabene U n s c h u l d der Gemordeten<br />

zu betonen, so sind wir die letzten, es zu<br />

vergessen, daß es Brüder waren, die uns<br />

entrissen wurden in jenen schaurigen Novembertagen,<br />

als es nicht hieß, der strafenden<br />

Gerechtigkeit bürgerlicher Justiz Sühne zu<br />

verschaffen, sondern wo man sich einfach<br />

rächen wollte an allen Männern mit unangenehmen«!<br />

Überzeugungen <strong>und</strong> Gesinnungen,<br />

<strong>und</strong> wo man diesem Berserkerwunsche<br />

auch fröhnte. Wie hoch wir auch die ragende<br />

Kühnheit, den hohen Edelmut <strong>und</strong><br />

die freudige Opferhingabe des eigenen<br />

Lebens zur höheren Ehre unserer Idee einschätzen,<br />

wie sie sich k<strong>und</strong>taten im Sterben<br />

der fünf Männer, die als Pioniere der Humanität<br />

<strong>und</strong> der Freiheit gleich verkörperten<br />

Wiedergeburten eines Giordano Bruno starben<br />

— wie hoch wir auch all dies anschlagen,<br />

wir vergessen auch nicht für einen<br />

einzigen Augenblick, daß es eigene W<strong>und</strong>en<br />

sind, die alljährlich wieder aufbrechen <strong>und</strong><br />

nicht vernarben dürfen, daß es somit ein<br />

dauernder Schmerz <strong>und</strong> unaufhörliche Trauer<br />

sind, die wir erleiden für den Heldentod<br />

unserer Besten, verursacht durch Unmenschlichkeit<br />

<strong>und</strong> bewußte Ungerechtigkeit.<br />

Und doch können wir nicht anders.<br />

Schmerz <strong>und</strong> Liebe vereinigen sich alljährlich<br />

<strong>und</strong> feiern eine Auferstehung im erhebenden<br />

Erinnern an all die erhabene<br />

Menschengröße, an all den Edelsinn ihres<br />

Bewußtseins, von dem diese Männer erfüllt<br />

waren, die am 11. November 1887 an der<br />

Wiege der modernen internationalen anarchistischen<br />

Bewegung in ihrem ökonomischen<br />

Kampfesgebilde, in ihrer praktischen Anwendung<br />

des Generalstreiks standen <strong>und</strong><br />

starben n u r w e i l s i e A n a r c h i s t e n<br />

w a r e n , nicht für irgend ein Verbrechen,<br />

das sie begangen hätten. Denn heute, wo<br />

sowohl General M. M. Trumball, wie Staatsgouverneur<br />

John P. Altgeld, in geradezu<br />

genialen juristischen, wie auch populären<br />

Darstellungen des Tatbestandes längst bewiesen<br />

haben, daß A u g u s t S p i e s , , A l -<br />

In Memoriam — den Toten zu Waldheim.<br />

b e r t P a r s o n s , G e o r g E n g e l , A d o l f<br />

F i s c h e r u n d L o u i s L i n g g n i e m a l s<br />

eine Bombe geworfen, niemals dazu angeeifert<br />

hatten, sondern nur dafür den Tod<br />

erleiden mußten, daß sie die wirtschaftlichgewerkschaftliche<br />

Aktion der arbeitenden<br />

Massen durch rein geistige Aufklärung befruchteten,<br />

heute geht es doch nimmermehr<br />

an, behaupten zu wollen, daß unsere fünf<br />

Kameraden für irgend ein begangenes Verbrechen<br />

im juridischen Sinne mit ihrem<br />

Leben Sühne getan haben. Wäre dies der<br />

Fall, so hätten wir keine besondere Veranlassung,<br />

ihrer zu gedenken, sie zu feiern;<br />

denn wenn es je nachgewiesen worden<br />

wäre, daß die fünf Gehängten ein Verbrechen<br />

begangen <strong>und</strong> d a f ü r gehängt<br />

wurden, so wären sie einfach Männer gewesen,<br />

die die Konsequenz ihrer Aktion<br />

gegen die bürgerliche Gesellschaft zu tragen<br />

gehabt <strong>und</strong> die in ihrer Tat oder ihren<br />

Taten schon ihre geistige sowie psychische<br />

Befriedigung gef<strong>und</strong>en hätten. Solchen<br />

Männern gebührt weder Lob noch Tadel;<br />

kein Lob, weil ein jeder von uns nur d a s<br />

tut, was s e i n e m Glücksgefühl, seiner Erkenntnis<br />

zur größten Genugtuung gereicht,<br />

<strong>und</strong> was ein anderer aus eben diesem<br />

Gr<strong>und</strong>e nicht tun würde; kein Tadel, weil<br />

kein Mensch im Stande ist, alle die Motive,<br />

die oft in vererbter Vergangenheit schlummernden,<br />

geheimen Beweggründe seines<br />

Nebenmenschen, wie alle die ihn umgebenden<br />

<strong>und</strong> seine Handlung beeinflussenden Umgebungsverhältnisse<br />

zu kennen, kein Recht<br />

dazu hat, sie zu richten, eben weil er die<br />

Frucht anderer Verhältnisse als jener.<br />

Die Männer, deren wir am 11. November<br />

gedenken, sind U n s c h u l d i g e<br />

gewesen! Das ist die große Bedeutung<br />

ihres Todes, dem gegenüber alle Dreifusfälle<br />

der Welt lächerlich verblassen. Und<br />

indem sie im Bewußtsein ihrer Unschuld<br />

sich nicht dazu herbeiließen, diejenigen<br />

Hilfsmittel des Staates in Anwendung zu<br />

bringen, die er ihnen anbot, um sie dekorativ<br />

zu retten, d. h. zu begnadigen, viel<br />

lieber in den Tod gingen, unerschütterlich<br />

in ihrer Überzeugung, unbeugsam in ihrer<br />

Gesinnung, dies ist das große Moment in<br />

der Geschichte der Anarchie, das ihre Namen<br />

trägt, <strong>und</strong> lauter als alle ihre möglichen<br />

Taten hätten können sein, spricht dieser<br />

unerschütterliche Mut, diese eherne Entschlossenheit<br />

— zu s t e r b e n für i h r e<br />

I d e e , da ihnen die Metze demokratischrepublikanischer<br />

Justizkäuflichkeit nicht dies<br />

bieten wollte, was sie verlangten: die Erklärung,<br />

daß sie unschuldig waren!<br />

In diesem Wunsche: entweder als Unschuldige<br />

freigelassen, oder als fälschlich<br />

Angeschuldigte durch einen Justizmord in<br />

den Tod zu gehen - darin lag stets nur<br />

ein Gedanke: die Erhabenheit der anarchistischen<br />

Weltanschauung vor versammeltem<br />

Volke zu bek<strong>und</strong>en!<br />

Es ist vornehmlich dies, was es uns<br />

gestattet, des 11. November 1887 auch in<br />

unseren Tagen nach wie vor zu gedenken.<br />

Angesichts der russischen Revolution <strong>und</strong><br />

ihrer Hekatomben an Opfern verschwinden<br />

die sonstigen Revolutionsdaten <strong>und</strong> historischen<br />

Merksteine der Vergangenheit bis<br />

zu einem gewissen Grade, denn was immer<br />

ihre Wesenheit, die russische Revolution<br />

birgt sie zum größten Teil alle; <strong>und</strong> auch<br />

im Angesichte derer, die zu Tausenden<br />

füsiliert wurden, für die Sache der Revolution<br />

kämpfend in den Tod gingen, da<br />

könnte es vielleicht kleinlich erscheinen,<br />

wenn wir just um ein<strong>und</strong>zwanzig Jahre zurückgreifen<br />

<strong>und</strong> wieder des blutigen, aber nur<br />

eintägigen 11. Novembers gedenken. Doch<br />

dies ist nur Schein! In Wirklichkeit sind<br />

die Novembertoten bis heute die Einzigen<br />

geblieben, die als Unschuldige für den<br />

Ideengehalt einer ganzen Bewegung mit<br />

ihrem Leben büßen mußten, die mit ihrem<br />

Herzblut Zeugnis ablegten für ihr Bekennertum<br />

zur anarchistischen Weltanschauung<br />

<strong>und</strong> n u r für d i e s e s !<br />

Sie sind tot, sind dahin, soweit sie<br />

körperlich waren; längst ist alles Sterbliche<br />

an ihnen zu Staub <strong>und</strong> Asche geworden,<br />

dort draußen im Heldengrab der Fünf, auf<br />

dem Friedhof zu Waldheim. Aber rascher<br />

als sie <strong>und</strong> wohl auch die Überlebenden<br />

es dachten, hat sich ihr Sehnsuchtswunsch<br />

für den sie ihr Leben opferten, erfüllt:<br />

P h ö n i x g l e i c h sind s i e a u f e r s t a n d e n ,<br />

haben durch den M<strong>und</strong> eines großen, aufrechten<br />

Geistes — eben Gouverneur Altgeld<br />

— ihre Rechtfertigung empfangen.<br />

Doch an dieser persönlichen Rechtfertigung<br />

war ihnen ja nie etwas gelegen; <strong>und</strong> so<br />

erfüllte sich das, was sie gewollt <strong>und</strong> erstrebt:<br />

es war die Rechtfertigung der ganzen<br />

Bewegung, unserer Weltanschauung des<br />

Anarchismus, die da erteilt ward, eine Rechtfertigung<br />

derjenigen Idealgruppierung, die<br />

wohl die einzige ist, die der dahin vegetierenden<br />

Menschheit wie auch den Machthabern<br />

der Gegenwart zeigen konnte: So<br />

s t e r b e n A n a r c h i s t e n für i h r e I d e a l e ,<br />

w e n n e s s e i n m u ß !<br />

Es wird einst eine Zeit kommen, in<br />

der die 11. Novembertage dahin rauschen<br />

werden, ohne daß man ihrer historischen<br />

Träger noch in demselben Sinne gedenken<br />

wird, wie es heute geschieht. Das wird<br />

dann sein, wenn unsere herbstliche Gegenwart<br />

dem Frühling unseres Zukunftssieges<br />

gewichen ist <strong>und</strong> die Errungenschaften des<br />

befreiten Volkes all das Wüste, Entsetzliche<br />

unserer Zeit <strong>und</strong> ihrer Einrichtungen <strong>und</strong><br />

Gewaltstützen unterderen eigenen Trümmern<br />

begraben haben. Auf dem Altar der gemeinsamen<br />

Befreiung aller Menschen von den<br />

Banden der kapitalistischen Hetzjagd, den<br />

Fesseln der staatlichen Gewalt wird in jenen<br />

rosigen Zeitläufen der Versöhnung des<br />

11. November nicht mehr so gedacht werden,<br />

wie heute. Und dieses Vergessen<br />

durch das Aufblühen ihres Ideenlebens in<br />

prächtiger, allbeglückender Wirklichkeit, das<br />

war es, wofür unsere Brüder freudig in<br />

den Tod schritten, <strong>und</strong> wofür sie fielen in<br />

der Arena des sozialen Ringens um Lebensrecht<br />

<strong>und</strong> Gerechtigkeit — um Kommunismus<br />

<strong>und</strong> Anarchie!<br />

Heute aber ist es wieder 11. November<br />

- ein Novembertag der Gegenwart! Nicht<br />

ziemt es sich, müßige Tränen um die gefallenen<br />

Helden zu vergießen, noch ist es<br />

nicht Zeit, über ihre toten Leiber hinweg<br />

die immer noch gähnende Kluft der sozialen<br />

Gegensätze überbrücken zu wollen.<br />

Uns ist der 11. November leider noch nicht


ein Tag wie alle übrigen, wie er unseren<br />

Zukunftsgeschlechtern ganz gewiß <strong>und</strong><br />

hoffentlich bald werden wird. Wir stehen<br />

im Gewühl des Kampfes — <strong>und</strong> dorten,<br />

wo die Rebellenleichen <strong>und</strong> Martyrerkörper<br />

der Fünf für uns Bresche geschlagen haben,<br />

dort müssen wir stehen, ihnen wenigstens<br />

im Leben nachwirken <strong>und</strong> jenen Jubelsang<br />

des menschlichen Idealismus, unsere anarchistische<br />

Weltanschauung bek<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

verkünden. Ein solches Charfreitaggeläute<br />

ist uns heute der 11. November, ein solcher<br />

Weckruf wird er uns immer sein, bis zur<br />

völligen Befreiung aller arbeitenden Men-<br />

sehen. Und die Namen der fünf Toten, der<br />

großen Dulder <strong>und</strong> Vorkämpfer, wenn wir<br />

sie uns vorflüstern am 11. November, dann<br />

ist es uns, als gewönnen wir neue Entschlossenheit,<br />

neue Siegkraft <strong>und</strong> neuen<br />

Jugendmut; eine Sache, ein Ideal, das solche<br />

Vorkämpfer hat, das ist des Sieges gewiß.<br />

Im Trauern um die Entrissenen, um<br />

alle die Kameraden, die uns der Kampfesfortschritt<br />

der sozialen Revolution gekostet,<br />

fühlen wir dennoch, besonders in den Novembertagen,<br />

klopfenden Herzens die Wahrheit<br />

der Worte eines Dichters, Ludwig Pfau's,<br />

wenn er uns spricht:<br />

Wenn weder Mond noch Stern am Himmel scheint,<br />

Schleicht die verbannte Freiheit durch die Lande<br />

Und setzt, verhüllten Haupts, im Leidgewande,<br />

Auf ihrer Kampfer Hügel sich <strong>und</strong> weint.<br />

„Ihr Helden in der Kühle eingeschreint,<br />

Daß euer Schlummer leicht sei unter'm Sande,<br />

Bis ich euch wecke mit dem Feuerbrande<br />

Des Kampfs, der euch den Lebenden vereint.<br />

Zu Bannerträgern hab ich euch erkoren,<br />

Bald grünen eure Kränze neubelaubt:<br />

Wer für die Freiheit starb, ging nicht verloren.<br />

Geschenkt seid ihr dem Volke, nicht geraubt:<br />

Ihr zieht im Kampf gleich blut'gen Meteoren<br />

Ob deren Häuptern, die euch tot geglaubt!"<br />

Aus den Reden der verurteilten Anarchisten vor Gericht.<br />

Aus Spies Rede:<br />

Ew. Ehren! Indem ich vor diesem<br />

Gerichtshof das Wort ergreife, spreche ich<br />

als der Vertreter e i n e r Klasse zu dem einer<br />

anderen.<br />

Ich beginne mit den Worten, mit denen<br />

vor 500 Jahren Venedigs Doge Marino<br />

Falieri vor seine Henker trat: «Meine Herren,<br />

meine Verteidigung ist eure Anklage!<br />

Die Ursache meines angeblichen Verbrechens:<br />

eure Geschichte!»<br />

Ich wurde des Mordes angeklagt —<br />

als Helfershelfer oder Teilnehmer. Auf diese<br />

Anklage * hin hat man mich verurteilt . . .<br />

Beweise für meine Schuld hat «der Staat»<br />

nicht erbracht. Aus den vorgebrachten<br />

Zeugenaussagen geht nicht hervor, daß ich<br />

irgend etwas mit dem Bombenwurf zu tun<br />

hatte, noch daß ich weiß, wer das Geschoß<br />

warf — es sei denn, daß sie die Aussagen<br />

der Spießgesellen des Staatsanwaltes <strong>und</strong><br />

Bonfield, die Aussagen von Thompson <strong>und</strong><br />

Gilmer nach dem Preis wägen, der dafür<br />

bezahlt wurde. Wenn nun keine Beweise<br />

vorhanden sind, welche dartun, daß ich<br />

gesetzlich verantwortlich bin für jene Tat,<br />

dann ist eine Verurteilung oder die Vollziehung<br />

des Urteils nichts Geringeres als<br />

vorbedachter, boshafter <strong>und</strong> kaltblütiger<br />

Mord . . . Justizmorde sind in vielen Fällen<br />

begangen worden, wo die Vertreter des<br />

Staates in dem guten Glauben handelten,<br />

daß ihre Opfer schuldig seien des Verbrechens,<br />

dessen man sie anklagt. In dem<br />

vorliegenden Fall jedoch können sich die<br />

Vertreter des Staates mit dieser Ausrede<br />

nicht entschuldigen, <strong>und</strong> zwar deshalb nicht,<br />

weil sie selbst jene Zeugenaussagen fabriziert<br />

haben, welche als Vorwand für unsere<br />

Verurteilung benützt wurden — als Vorwand<br />

von einer Jury, die auserlesen wurde,<br />

uns zu verurteilen . . .<br />

Grinell hat uns zu verstehen gegeben,<br />

daß hier der Anarchismus prozessiert werde.<br />

Die Theorie des Anarchismus gehört in<br />

den Bereich der spekulativen Philosophie.<br />

In der Heumarktversammlung wurde keine<br />

Silbe über Anarchismus gesprochen. In<br />

jener Versammlung wurde das sehr populäre<br />

Thema der Verkürzung der Arbeitszeit besprochen.<br />

Aber: — «Der Anarchismus wird<br />

prozessiert!» schäumt Mr. Grinell. Falls das<br />

der Fall ist, euer Ehren, sehr wohl, dann<br />

mögen sie mich verurteilen, denn ich bin<br />

ein Anarchist. Ich glaube mit Buckle, mit<br />

Paine, mit Jefferson, Emerson, Spencer <strong>und</strong><br />

vielen anderen großen Denkern dieses Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

daß der Staat der Kasten <strong>und</strong><br />

Klassen, daß der Staat, in welchem eine<br />

Klasse die andere beherrscht <strong>und</strong> von deren<br />

Arbeit lebt, <strong>und</strong> wo man dieses Ordnung<br />

nennt — ja, ich glaube, daß diese barbarische<br />

Form sozialer Organisation mit ihrem<br />

durch Gesetze geheiligten System dem Tode<br />

geweiht ist <strong>und</strong> einer freien Gesellschaft,<br />

einer freiwilligen Assoziation Platz machen<br />

muß. Sie mögen mir das Todesurteil verkünden,<br />

aber lassen sie die Welt erfahren,<br />

daß im Jahre des Herrn 1887 im Staate<br />

Illinois Menschen zum Tode verurteilt wurden,<br />

weil sie den Glauben an eine bessere<br />

Zukunft <strong>und</strong> den endlichen Sieg von Freiheit<br />

<strong>und</strong> Gerechtigkeit nicht verloren! . . .<br />

Ich habe nicht die geringste Idee, wer<br />

die Bombe auf dem Heumarkt geworfen<br />

hat <strong>und</strong> hatte keine Kenntnis von einer<br />

Verschwörung zum Zwecke der Gewaltanwendung<br />

in jener oder einer anderen<br />

Nacht.<br />

Dies ist alles, was ich zu sagen habe.<br />

Aus Georg Engel's Rede:<br />

. . . Ich kam zu der Ansicht, daß der<br />

Arbeiter, so lange er ökonomisch unfrei,<br />

auch politisch nicht frei zu sein vermag.<br />

Es wurde mir klar, daß es dem Arbeiter<br />

mittels des Stimmkastens nie gelingen<br />

würde, solche gesellschaftliche Zustände<br />

zu schaffen, die ihm <strong>und</strong> den Seinen, Arbeit,<br />

Brot, ein glückliches Dasein garantieren.<br />

Ehe ich meinen Glauben an den<br />

Stimmkasten verlor, ereignete sich folgender<br />

Vorfall, der mir bewies, daß die Politik hier<br />

zu Lande durch <strong>und</strong> durch korrumpiert ist.<br />

Als in der 14. Ward, in welcher ich wohnte<br />

<strong>und</strong> das Recht zum Stimmen besaß, die<br />

sozialdemokratische Partei so wuchs, daß<br />

sie für die demokratische <strong>und</strong> republikanische<br />

Partei* gefährlich zu werden drohte,<br />

vereinigten sich die beiden letztgenannten<br />

Parteien sofort, um gegen die Sozialdemokratie<br />

Stellung zu nehmen. Dies war auch<br />

ganz natürlich, haben doch beide die gleichen<br />

Interessen. Und als trotzdem die Sozialdemokraten<br />

siegreich waren <strong>und</strong> ihren<br />

Kandidaten erwählten, da wurden sie durch<br />

die korruptesten Mittel seitens der alten<br />

Parteien um die Früchte ihres Sieges betrogen.<br />

Die Stimmenkästen wurden gestohlen<br />

<strong>und</strong> das Votum so «korrigiert», daß es der<br />

Opposition möglich wurde, ihre Kandidaten<br />

als erwählt zu proklamieren. Die Arbeiter<br />

versuchten dann mittels der Gerichte Gerechtigkeit<br />

zu erlangen, aber es war Alles<br />

umsonst. Der Prozeß kam sie auf 1500<br />

Dollars zu stehen, aber ihr gutes Recht<br />

bekommen sie doch nicht. Gar bald fand<br />

ich aus, daß die politische Korruption auch<br />

die Reihen der Sozialdemokraten zu durchfressen<br />

begann, <strong>und</strong> ich verließ die Partei<br />

<strong>und</strong> schloß mich der «Internationalen Arbeiterassoziation»<br />

an, die damals gerade<br />

reorganisiert wurde . . .<br />

Über meine Verurteilung, welche durch<br />

kapitalistischen Einfluß herbeigeführt wurde,<br />

habe ich kein Wort zu sagen.<br />

Aus Albert R. Parsons Rede:<br />

. . . Bei ihren Bemühungen, unsere<br />

Ansichten der Verwünschung durch alle<br />

Welt preiszugeben, haben die 'öffentlichen<br />

Ankläger die Mordanklage völlig aus dem<br />

Auge verloren. <strong>Unser</strong>e Ergebenheit an die<br />

arbeitende Klasse, unser Ruf nach Zivilisation<br />

ist in ihren Augen ein weit größeres<br />

Verbrechen als Mord. Anarchismus, so wie<br />

ihn der Staatsanwalt Grinell schildert, ist<br />

einfach ein Gemisch oon Raub, Brandstiftung<br />

<strong>und</strong> Mord. Jawohl, Euer Ehren,<br />

* Die zwei größten bürgerlich-kapitalistischen<br />

Parteien in Amerika.<br />

das ist die offizielle Behauptung des Herrn<br />

Grinell, <strong>und</strong> gegen diese Definition des<br />

Anarchismus möchte ich gerne einmal den<br />

Lexikographen Herrn Webster zitieren. Was<br />

ist also Anarchismus? Was ist die Natur<br />

dieses schrecklichen Dinges, für das wilden<br />

Tod erleiden sollen, weil wir daran<br />

glauben? In den Schlußst<strong>und</strong>en dieses Prozesses,<br />

ja seit fünf Tagen schon, suchen<br />

die Vertreter einer bevorzugten, herrschenden<br />

Klasse, der verkörperten Despoten, die<br />

Lehre, an die ich glaube, zu fälschen, zu<br />

entstellen, anzuschwärzen. Darum, Euer<br />

Ehren, lassen sie mich einen Augenblick<br />

darüber sprechen. Was ist Anarchismus ?<br />

Was bedeutet er? Was besagen seine Lehren,<br />

für welche ich zum Tod verurteilt bin?<br />

Zunächst <strong>und</strong> zuoberst ist es unsere<br />

Ansicht, ist es die Ansicht eines Anarchisten<br />

überhaupt, daß Herrschaft Despotie, eine<br />

Unterdrückungsmaßregel ist, daß das Gesetz<br />

ihr Mittel ist. Anarchismus bedeutet<br />

AntiStaatlichkeit, Diktatorenfeinde, Herrschaftsfeinde<br />

<strong>und</strong> Leithammelfeinde. A n a r -<br />

c h i s m u s ist e i n e V e r n e i n u n g a l l e r<br />

G e w a l t <strong>und</strong> eine Ausmerzung aller Autorität<br />

in sozialen Angelegenheiten, das Leugnen<br />

des Herrschaftsrechtes eines Menschen<br />

über den andern . . .<br />

Sozialismus ist ein Ausdruck, der das<br />

ganze System menschlichen Fortschrittes<br />

<strong>und</strong> Vorschreitens deckt. Webster definiert<br />

auch den Sozialismus. Ich denke, ich habe<br />

ein Recht, von diesen Sachen zu reden,<br />

weil ich hier auch als Sozialist prozessiert<br />

werde. Ich wurde verurteilt als Sozialist<br />

<strong>und</strong> auch der Sozialismus ist es, von dem<br />

mein Fre<strong>und</strong> Grinell <strong>und</strong> seine Leute so<br />

viel zu erzählen haben. Deswegen halte ich<br />

es für Recht, vor dem ganzen Lande davon<br />

zu reden <strong>und</strong> wenigstens was mich angeht,<br />

mich darüber hören zu lassen. Wenn sie<br />

mich zum Tode führen, soll das Volk<br />

wenigstens wissen, warum. Sozialismus also<br />

wird von Webster definiert als eine gesellschaftliche<br />

Theorie, welche eine harmonischere,<br />

ordnungsmäßigere <strong>und</strong> gerechtere<br />

Gestaltung der menschlichen Verhältnisse<br />

anstrebt, als zuvor. Daher ist alles, was die<br />

Zivilisation in der Tat fördert, sozialistisch.<br />

Es gibt zwei verschiedene Phasen des<br />

Sozialismus heutzutage in der Arbeiterbewegung<br />

der ganzen Welt. Die eine ist<br />

bekannt als Anarchismus, d. h. ohne politische<br />

Regierung oder Autorität; die andere<br />

ist bekannt als Staatssozialismus — die<br />

Sozialdemokratie — oder Paternalismus im<br />

Sinne allseitiger Regierungskontrolle. Der<br />

Staatssozialist sieht das Los der Lohnsklaven<br />

durch die Mittel des Gesetzes, durch legislative<br />

Maßregeln zu verbessern <strong>und</strong> zu erleichtern.<br />

Die Anarchisten suchen dieselben<br />

Zwecke durch Beseitigung aller Autorität,<br />

indem sie es dann dem Volke überlassen,<br />

sich zu vereinigen oder nicht, indem sie<br />

niemand zwingen oder mit Gewalt »führen«,<br />

d. h. leithammeln wollen.<br />

In diesem Bestreben, Euer Ehren, werden<br />

wir von einem hochberühmten Manne<br />

unterstützt, von keinem Geringeren in der<br />

Tat, als Buckle, dem Verfasser der »Geschichte<br />

der Zivilisation«. An einer Stelle


konstatiert er, daß sich dem Fortschritt<br />

menschlicher Zivilisation zwei feindliche<br />

Elemente entgegenstellen. Eines davon ist<br />

die Kirche: die Kirche, welche befiehlt,<br />

w a s ein Mensch g l a u b e n soll. Und das<br />

andere ist der Staat, welcher befiehlt, w a s<br />

man t u n soll. Buckle sagt ferner, daß die<br />

einzigen guten Gesetze, die in den letzten<br />

300—400 Jahren Gesetze wurden, diejenigen<br />

waren, welche andere Gesetze beseitigen.<br />

Genau dieselbe Ansicht haben die Anarchisten.<br />

<strong>Unser</strong>e Ansicht ist die, daß alle<br />

Gesetze aufgehoben werden sollen, da<br />

dieses die einzige, nützliche Legislatur ist,<br />

die Platz hat . . . Doch wohlgemerkt: wir<br />

sind n u r den von Menschen gemachten<br />

Gesetzen, nicht aber den Naturgesetzen<br />

feind . . .<br />

„Was er geschaffen, ist ein Edelstein,<br />

Drin blitzen Strahlen für die Ewigkeit;<br />

Doch hätt' er uns ein Leitstern sollen sein<br />

In dieser hellen, irrgewordnen Zeit,<br />

In dieser Zeit so wetterschwül <strong>und</strong> bang . . .<br />

Er hätte — aber gönnt ihm seine Ruh! . . .<br />

Die Augen fielen . . . zu;<br />

Doch hat er, funkelnd in Begeisterung,<br />

Vom Himmelslichte trunken, sie geschlossen . . .<br />

Und eine Braut nahm ihn der andern ab;<br />

Vor der verhaucht er friedlich sanft sein Leben,<br />

Die F r e i h e i t trug den Jünger in das Grab . . .<br />

(Aus Georg Herwegh's „Zum Andenken<br />

an Georg Büchner.")<br />

Ein Stern ist erloschen, ein Kampfesschwert<br />

entzwei gebrochen — »Quidam«<br />

ist nicht mehr. Er war es, den sie zu Grabe<br />

trugen am 25. Oktober <strong>und</strong> die lange<br />

Schar derer, die seiner Bahre folgte, wußte,<br />

daß nun eine klaffende Lücke gähnte in all<br />

jenen Gemeinschaften idealen Strebens <strong>und</strong><br />

Ringens gegen die Tyrannei, die dem bornierten<br />

<strong>und</strong> engherzigen Egoismus <strong>und</strong><br />

Strebertum unserer Zeit noch nicht verfallen<br />

sind, Darin ist uns Anton Markreiter<br />

ein Unvergeßlicher: er ging durch einen<br />

Sumpf, ohne in ihm zu versinken, <strong>und</strong><br />

Wenigen ist es gegeben, in einem relativ<br />

so hohem Alter, wie er es erreichte, sich<br />

bis zuletzt jene goldige Zuversicht, den<br />

Charaktermut des unbeugsamen, rechtlichen<br />

Kämpfers für Wahrheit <strong>und</strong> Freiheit zu bewahren,<br />

wie es ihm gelang. Diese, trotz<br />

Krankheit <strong>und</strong> materieller Elendsmisere <strong>und</strong><br />

grauer, trüber Sorge ums Alltagsauskommen<br />

immerdar kernige, sonnige Natur war ein<br />

Symbol ewiger Geistesjugend <strong>und</strong> eherner<br />

Geisteskonsequenz.<br />

Anton Markreiter entstammte einer<br />

Bourgeoisfamilie, Er sollte die militärische<br />

Karriere einschlagen, besuchte die Kadettenschule<br />

<strong>und</strong> war also auf dem <strong>Weg</strong>e, um<br />

»Karriere« zu machen. Aber der dumpfe<br />

<strong>und</strong> die Vernunft eines jeden natürlich denkenden<br />

Menschen gefährdende Drill des<br />

Militarismus konnte seinen Geist nicht<br />

lähmen. Leben <strong>und</strong> Schicksal <strong>und</strong> gewollte<br />

Absicht entrissen ihn dem Organismus der<br />

mordenden Gewalt, <strong>und</strong> es begann für ihn<br />

nun die Zeit des Volksmenschen, dessen<br />

Schweiß <strong>und</strong> Arbeit dazu dienen, den<br />

Staatsmenschen, also den Militarismus, der<br />

durchaus unproduktiv ist, zu erhalten, ihm<br />

sein Parasitendasein zu ermöglichen. Und<br />

Markreiter lernte die furchtbarste Strenge<br />

des Daseinskampfes in der kapitalistischen<br />

Gesellschaft kennen; diese Erfahrung ist<br />

ihm sein ganzes Leben lang treu geblieben,<br />

obwohl er es wohl anders hätte haben<br />

können . . . Er versuchte sich als alles,<br />

war Taglöhner, Erdarbeiter, kurz, hatte die<br />

ganze Grausamkeit einer aus den Geleisen<br />

vorgeschriebener Pflichtpfade geschleuderten<br />

Existenz auszukosten, die sich nicht beugen<br />

<strong>und</strong> ducken wollte, stets ihrem inneren Ich<br />

treu blieb. Bis er zuletzt auf den Beruf des<br />

materiell sehr vogelfreien, weil unabhän-<br />

gigen Schriftstellers stieß, den er allerdings,<br />

um überhaupt leben zu können, mit jenem<br />

des Photographien verbinden mußte.<br />

Markreiter war einer der ältesten Pioniere<br />

der österreichischen Arbeiterbewegung;<br />

er war ein Sozialist im besten Sinne des<br />

Wortes. Seinem weitschauenden Geiste genügten<br />

die schablonenhaften Phrasen des<br />

Parteigetriebes nicht, er gestaltete <strong>und</strong> errang<br />

sich s e i n e sozialistische Weltanschauung.<br />

Der Sozialismus muß, um Weltanschauung<br />

in einem wirklich n e u kulturellen<br />

Sinne zu sein, stets im A t h e i s m u s wurzeln.<br />

Es gibt keinen Sozialisten, der nicht Atheist<br />

ist, denn die Aufnahme Feuerbachseher<br />

Oedanken muß, ebenso wie für Marx, die<br />

Gr<strong>und</strong>lage der Geistesphilosophie eines<br />

jeden sein, der den Herrscher <strong>und</strong> dadurch<br />

Ausbeuter auf ökonomischem Gebiete verwirft.<br />

Diese klare Erkenntnis über das<br />

Wesensziel des Sozialismus besaß Anton<br />

Markreiter, dessen geistige Entwicklung<br />

aber damit nicht abschloß. Der Menschengeist,<br />

der das uralte Mysterium des Überirdischen<br />

mit dem Forscherblicke des<br />

suchenden, wissenschaftlich spürenden<br />

Geistes durchdringt <strong>und</strong>, dank seiner endlich<br />

gewonnenen Gewissensüberzeugung,<br />

es laut bekennt: »Es gibt keinen übersinnlichen<br />

Gott!« — der kann nicht Halt<br />

machen vor all den Göttern <strong>und</strong> Götzenbildern<br />

des irdischen Lebens dieser heutigen<br />

Welt. Markreiter war Sozialist, w e i l er<br />

Atheist war; aber dies genügte ihm nicht,<br />

denn er begriff sehr wohl, daß im Allgemeinbegriff<br />

des Sozialismus eigentlich nur<br />

ein vages Gemeinschaftsprinzip in ökonomischen<br />

Lebensdingen gelegen ist. Dies<br />

genügte ihm nicht, wie es keiner Vernunft,<br />

die nicht daran gewöhnt ist, mit seichten<br />

Oberflächlichkeiten sich über ernste Probleme<br />

hinwegzusetzen, jemals genügen kann;<br />

er wußte so gut wie irgend ein Beobachter<br />

des menschlichen Lebens es wissen muß:<br />

a u c h s a t t e S k l a v e n s i n d n i c h t frei!<br />

Und da die Befreiung vom übersinnlichen<br />

Gott die Befreiung der menschlichen Vernunft<br />

vom Joche der theokratischen Kirche<br />

ist, so mußte der Befreiung dieser Vernunft,<br />

logischerweise die Befreiung von allen beengenden<br />

Fesseln <strong>und</strong> Herrschaftsinstitutionen<br />

unter den Menschen selbst, die<br />

doch insgesamt vernunftbegabte Wesen<br />

sind, folgen. Markreiters Geist löste sich<br />

los von jeder Vorstellung über einen Gott;<br />

er löste sich auch los von jeder Vorstellung<br />

über einen Gott auf Erden, über die Berechtigung<br />

der Herrschaft des Menschen<br />

über den Menschen — <strong>und</strong> so w a r d er<br />

A n a r c h i s t , ein Freiheitskämpfer, der da<br />

weiß: die Freiheit ist die Hauptsache im<br />

sozialen Kampfe, denn n u r sie bietet Brot<br />

<strong>und</strong> individuelle Unabhängigkeit, Selbständigkeit<br />

<strong>und</strong> Entfaltungsmöglichkeit: sich<br />

selbst — die Freiheit!<br />

Wer sein Leben als Atheist <strong>und</strong> atheistischer<br />

Kämpfer kennen lernen will, den<br />

verweisen wir auf die Publikationen des<br />

österreichischen Freidenkerb<strong>und</strong>es, dem er<br />

redaktionell Jahzehnte lang vorstand; wir<br />

verweisen ihn auf die soeben erschienene<br />

neueste Nummer des «Freien Gedanken»,*<br />

in der die Leser einen gediegenen Nachruf,<br />

ihm gewidmet, finden. Auch wir kennen<br />

ihn als Kämpfer; Jahrzehnte lang war er<br />

in der sozialdemokratischen Bewegung tätig,<br />

doch als er fand, daß politische Streberei<br />

<strong>und</strong> warmsatte Altersfürsorge für sich<br />

selbst dorten in den führenden Kreisen<br />

eingerissen, das sozialistische Prinzip vollständig<br />

zurückgedrängt hatten, da gehörte<br />

er n i c h t zu jenen, die nun mit dem<br />

Strome schwammen, gegen besseres Wissen<br />

mit den Wölfen heulen, nur um sich zu<br />

versorgen, sondern Markreiter kehrte dieser<br />

Bewegung den Rücken <strong>und</strong> deklarierte<br />

sich offen als Anarchist. Wer einen kleinen<br />

Ausschnitt aus seiner letzten sozialpolitischen<br />

* XIV., Märzstraße 33. Preis 12 Heller pro<br />

Exemplar.<br />

Gedanken weit kennen lernen will, der lese<br />

die «Sozialdemokratischen Oedanken über<br />

die Anarchie» nochmals nach, die in Nr. 11<br />

unseres Blattes von einem «Ketzer» veröffentlicht<br />

wurden; es ist Markreiter, der<br />

sie verfaßte. Im übrigen haben sich eine<br />

Anzahl seiner Fre<strong>und</strong>e schon zusammengetan,<br />

die es als ihre Ehrenpflicht betrachtet,<br />

die zahlreichen Gedankenblitze <strong>und</strong> Perlen<br />

seiner publizistischen Tätigkeit auf atheistisch-sozialem<br />

Gebiete zu sammeln <strong>und</strong><br />

in Kürze in einem Bändchen, das wenigstens<br />

einen kleinen Teil dessen, was groß<br />

an Markreiter war, herausgeben wird; darin<br />

soll das enthalten sein, was unsterblich <strong>und</strong><br />

fortwirkend in ihm war, sein ewiger Rebellentrotz<br />

<strong>und</strong> seine kühnen, alles Menschenschändende<br />

verleugnenden Gedanken,<br />

sein Geist!<br />

Vor einem ist er verschont geblieben,<br />

davor nämlich, daß Männer an seinem<br />

offenen Grabe gesprochen, die ihn im<br />

Herzen nicht liebten, ihn fürchten gelernt<br />

haben, weil sie die Schärfe seines Wahrheitswortes<br />

fühlen mußten. Es wäre auch<br />

wirklich ein Mißklang sondergleichen gewesen,<br />

wenn Männer ihm die letzten Ehren<br />

bezeugt hätten, die in ihrem Leben einen<br />

so krassen Kontrast von dem bilden, was<br />

Markreiter gewesen <strong>und</strong> wie sein Leben<br />

war. <strong>Unser</strong> Anton hat es nie verstanden,<br />

sich durch demagogische Künste die Gunst<br />

der gedankenlosen Masse buhlerisch zu<br />

erschleichen <strong>und</strong> damit s e i n e soziale Frage<br />

zu lösen. Bis zuletzt hatte er nur das, was<br />

seiner Hände oder seines Geistes Fleiß ihm,<br />

schwer genug, eintrugen. Viele seiner besten<br />

Fre<strong>und</strong>e können es bezeugen, daß er, trotz<br />

seines Geistes, seiner Persönlichkeitsanlagen,<br />

stets Proletarier blieb, der zuletzt sogar, um<br />

sich vor dem Ärgsten zu schützen, zu dem<br />

bekannten Mittel aller- Geistesproletarier<br />

greifen <strong>und</strong> seine Bibliothek veräußern<br />

mußte. Es wäre ein allzu schneidender<br />

Hohn auf diesen edlen Lebenswandel gewesen,<br />

wenn diejenigen das Wort mündlich<br />

oder schriftlich ergriffen hätten, die weder<br />

an Wissen noch an Charakter ein Markreiter<br />

sind. Dafür gebührt ihnen gewissermaßen<br />

Anerkennung, daß sie im Innersten<br />

ihres Bewußtseins dies auch sehr wohl<br />

begriffen <strong>und</strong> nur durch achtungsvolles<br />

Schweigen die stolze Rebellenleiche ehrten,<br />

die da hinausgefahren worden zur ewigen<br />

Ruhe; allerdings, in diesem Schweigen liegt<br />

auch unsägliche Scham über ihr eigenes<br />

Selbst.<br />

Anton Markreiter ist tot. Uns, die wir<br />

ihn gekannt, geliebt, manch traute St<strong>und</strong>e<br />

mit ihm verbracht, seinen Kampfgenossen<br />

wird er stets unvergeßlich bleiben. Möge<br />

sein Geist oft unter ihnen weilen, sie aufrichten<br />

<strong>und</strong> beleben <strong>und</strong> zur Ausdauer anspornen.<br />

Das ist die Ehre, die w i r ihm<br />

<strong>und</strong> seinem Andenken weihen!<br />

Briefkasten.<br />

Platzer. Dank für Brief; alles richtig, werden<br />

nach Möglichkeit Ihren berechtigten Wunsch berücksichtigen.<br />

- T o k o d i . Wenn Ihr Reisespesen<br />

vergütet, kann der Gen. R. kommen. — Riedel.<br />

Sie haben recht, unser Irrtum! — Nemek. Holen<br />

Sie sich andere Broschüren, denn für die erste<br />

wurde zu viel gerechnet. — Karl T. Wenn die<br />

„Arbeiter-Zeitung" die Redakteure der „Neuen<br />

Freien Presse", das Blatt der liberalen Börsenjobber,<br />

„gut geölte Phrasenschmierer, oder politische Ignoranten"<br />

nennt, hat sie recht; ebenso recht wie<br />

wir, wenn wir die Redakteure der „Arbeiter-<br />

Zeitung" — gutgeölte demokratische Phrasenschmierer,<br />

aber s o z i a l i s t i s c h e Ignoranten<br />

nennen. — V. Marburg. Ging nicht Sie an, ein<br />

h i e s i g e r „Freidenker" war gemeint Gruß! —<br />

An die Kameraden. Quittung bestimmt in nächster<br />

Nummer.


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Österreich.<br />

Wien. „<strong>Unser</strong>e" Abgeordneten in den Delegationen<br />

haben wieder einen großartigen Erfolg zu<br />

verzeichnen. Für 1909 wurden dem Militärmoloch<br />

396,330.005 Kronen bewilligt. Dies ist „nur" um r<strong>und</strong><br />

20 Millionen m e h r als im Jahre 1907. Die 88 Sozialdemokraten<br />

— 1<br />

/ 5 des Parlaments — sind wirklich<br />

mächtig. Freilich, s i e können die vermehrten<br />

Steuern leichter ertragen als ihre Wähler!<br />

* Gewisse Leute behaupten kühn, das Parlament<br />

habe das sogenannte neue Handlungsgehilfengesetz<br />

„durchgeführt". Leider können wir ihnen<br />

diesen Trost nicht lassen; hätten die Handlungsgehilfen<br />

ihre durch die direkte außerparlamentarische<br />

Aktion durchgesetzten Forderungen sofort in den<br />

G e s c h ä f t e n verwirklicht, sie besäßen heute die<br />

Früchte ihre emsigen Kampfes. Wie die Sache aber<br />

jetzt steht, ist ihr ganzer Kampf sehr in Frage gestellt,<br />

denn das „neue Gesetz" ist dem Herrenhause<br />

unterbreitet worden, das es sofort in einer Kommission<br />

begrub, wo dessen Wirksamkeit bis heute<br />

<strong>und</strong> wer weiß für wie lange noch schläft. — — —<br />

Das ist der „Erfolg" parlamentarischer Aktion im<br />

Volksparlament.<br />

* Konfisziert wurde „natürlich" unsere letzte<br />

Nummer.<br />

* Pünktlich acht Tage nach unserem zweiwöchentlichen<br />

„W. f. A." brachte die „Arbeiterzeitung"<br />

wohl noch k e i n e n B e r i c h t über den<br />

französischen Gewerkschaftskongreß, hütete sich<br />

auch sehr wohl, die von ihm angenommenen Resolutionen<br />

wiederzugeben, schwang sich aber doch dazu<br />

auf, einige „Glossen" über ihn zu bringen. R<strong>und</strong><br />

4 Wochen n a c h dem Kongreß brachte sie es also<br />

endlich wenigstens zu den „Glossen". Wir wollen<br />

es bei dieser Gelegenheit ganz ununtersucht lassen,<br />

inwiefern sie sich dazu durch u n s e r e n Artikel<br />

veranlaßt wurde. Uns genügt es, die Art der Glossierung<br />

zu vermerken, denn dieselbe ist überaus<br />

bezeichnend für die Herren Sozialdemokraten Uberhaupt.<br />

— Sie <strong>und</strong> ihr Berichterstatter — wohl Herr<br />

Steiner, der in der „Voix du Peuple" es in Abrede<br />

stellte, ein Gegner der revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />

zu sein <strong>und</strong> sich nur In der „Wiener<br />

Arbeiterzeitung" als solcher geriert? — sind entsetzt<br />

über das französische Abstimmungssystem,<br />

laut dem jede Gewerkschaft e i n e Stimme hat <strong>und</strong><br />

verlangen laut nach dem Pr o p ort i o n a 1 Wahlsystem,<br />

was in Frankreich, wo Kongresse k e i n e<br />

bindenden Beschlüsse fassen können, sondern<br />

nur einen Gesinnungsausdruck der Kollektivität<br />

darstellen, ein barer Unsinn wäre. Dies geschieht<br />

in der Nummer der „Arbeiter-Zeitung" vom 8. November,<br />

auf Seite 8. Wie aber dieselbe „Arbeiter-<br />

Zeitung" w i r k l i c h über das auf der 8. Seite so<br />

sehr gepriesene Proporzsystem denkt, das zeigt sie<br />

in derselben Nummer auf Seite 2. Dort heißt es:<br />

„Durch das P r o p o r t i o n a l w a h l s y s t e m sollen<br />

die über ihr Klasseninteresse noch unklaren Arbeiter,<br />

die von den Unternehmern gegängelten g e l b e n ,<br />

c h r i s t l i c h s o z i a l e n <strong>und</strong> n a t i o n a l e n Arb<br />

e i t e r o r g a n i s a t i o n e n zu Vertretungen in den<br />

Verwaltungen der Bezirksstellen gelangen, das heißt<br />

dort die Macht der Unternehmer stärken, die der<br />

Arbeiter schwächen, das heißt sie völlig vernichten."<br />

Was soll das nun heißen? Können denn die<br />

Herren wirklich nicht achtsamer sein? Weiß in der<br />

Redaktion der „Arbeiter-Zeitung" denn die eine<br />

Hand nicht mehr, was die andere Hand tut? Sie<br />

scheint nämlich ganz vergessen zu haben, daß die<br />

französischen, revolutionären Gewerkschaftler sich<br />

gegen die Einführung des Proporzsystems mit genau<br />

denselben Argumenten wehren, wie (<strong>und</strong> mit<br />

Recht) die Sozialdemokraten in Wien.<br />

Über die übrigen Salbadereien der guten<br />

Zipfelmützen des „parlamentarischen Klassenkampfes"<br />

wider Anarchismus <strong>und</strong> Syndikalismus,<br />

da haben wir keine Worte zu verlieren. Sie erinnern<br />

zu sehr an Lessings Fuchs, dem, als die<br />

Trauben zu hoch hingen, sie zu süß waren . . .<br />

* Für die meisten ganz unbemerkt, spielt sich<br />

gegenwärtig, dank einer total falschen <strong>und</strong> verfehlten<br />

Gewerkschaftstaktik, bei uns in Wien eine<br />

entsetzliche Tragödie auf sozialer Bühne ab. Drei<br />

Monate lang befinden sich Arbeiter, die Wagner,<br />

teilweise in einer Aussperrnng, teilweise in einen<br />

dann nachher erklärten Streik. Alles, was diesen<br />

Arbeitern geboten wird, das sind einige dumme<br />

Schmockworte der Sozialdemokraten über ihre<br />

Standhaftigkeit u. dgl. m. Freilich — Charakter<br />

haben diese Männer, das geben wir gerne zu; aber<br />

wohin soll eine s o l c h e blödsinnige Gewerkschaftstaktik,<br />

die sich auf ein „Streiken" einläßt, das<br />

Monate lang dauert, führen? Ist es denn nicht klar,<br />

daß die Wagner nun Jahre lang zu arbeiten haben,<br />

ehe sie auch nur wieder die Finanzverluste der<br />

Gewerkschaft einbringen, die diese durch solche<br />

Hungerstreiks der Arbeiter hatte, geschweige denn<br />

daß die Arbeiter, im Falle eines Sieges, den wir<br />

ihnen gerne wünschen, je in den Genuß des erkämpften<br />

Mehr an Arbeitslohn treten können! Und<br />

das gesamte Wiener Proletariat hat für diese<br />

streikenden Brüder — nichts übrig, es fällt keinem<br />

Gewerkschaftsführer ein, die verwandten Gewerbe<br />

zu einem Solidaritätsstreik veranlassen, als Gesamtarbeiterschaft<br />

Wiens für die schon so entsetzlich<br />

lange leidenden Kameraden eintreten zu wollen.<br />

Und das nennt sich Gewerkschaftstaktik! Ist<br />

dies ihr ganzes Alpha <strong>und</strong> Omega parlamentarischer<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlicher Macht? Es ist der Fluch der<br />

Vernachlässigung einer Erziehung aller übrigen Arbeiterkategorien<br />

zur Kampfessolidarität, die wie ein<br />

Alp auf den Wagnern lastet. Wird es in Österreich<br />

nicht eher anders werden, als bis alle übrigen Arbeiterbranchen<br />

ihn, diesen Fluch, ebenfalls ausgekostet<br />

haben ?<br />

Böhmen.<br />

Die wüsten chauvinistischen Hetzereien, die<br />

während der letzten vier Wochen hier in unserem<br />

Kohlenrevier ihren Schauplatz hatten, haben die<br />

Gemüter der Bergarbeiter begreiflicherweise sehr<br />

aufgeregt. Sic griffen zu dem allereinfachsten Mittel,<br />

das sich bisher immer bewährt hatte <strong>und</strong> auch diesmal<br />

seinen Zweck nicht verfehlte. Es wurde beschlossen,<br />

in d e n A u s s t a n d zu t r e t e n <strong>und</strong><br />

s o d u r c h S c h ä d i g u n g d e s G e l d s a c k e s<br />

den c h a u v i n i s t i s c h e n H e t z e r e i e n ein<br />

E n d e zu i n a c h e n . Die Behörden wurden infolge<br />

dessen aus ihrer Untätigkeit aufgerüttelt <strong>und</strong> wurde<br />

so einigermaßen wieder Ruhe hergestellt. -•<br />

Auf dem Faulschachte in Bruch wurde am<br />

4. d. M. dem allgemeinen Beschlüsse gemäß, die<br />

augenblickliche Lage besprochen <strong>und</strong> die Belegschaft<br />

aufgefordert, durch Niederlegen der Arbeit<br />

auch, wie die Brüxer <strong>und</strong> Duxer Gruben, ihren<br />

Protest zu erheben. Diese Aufforderung erging an<br />

die Mannschaft seitens der Brucher Kameraden <strong>und</strong><br />

wurde jedem die freie Wahl gelassen, nach seinem<br />

Belieben zu handeln. Die Mannschaft ging nach<br />

Hause. Denselben Tag wurde in Brüx eine Meeting<br />

abgehalten, welche von vielen Tausenden Bergleuten<br />

besucht war <strong>und</strong> wurde dort seitens der Behörden<br />

die Zusicherung erteilt, für die Sicherheit der tschechischen<br />

Bevölkerung schleunigst Sorge tragen zu<br />

wollen. Es wurde infolge dessen die Wiederaufnahme<br />

der Arbeit beschlossen.<br />

Nun zu unserem Paulschachte. Auf demselben<br />

sind die Sozialdemokraten stark vertreten <strong>und</strong> haben<br />

es die Armen sehr schmerzlich empf<strong>und</strong>en, daß sie<br />

durch die Aktion der Anarchisten um einen Arbeitstag<br />

gekommen sind. Und was haben diese Volkserzieher<br />

aus ihrem natürlichsten Solidaritätsgefühl<br />

getan? Den nächsten Tag, nach Beendigung der<br />

Schicht haben sie zwei aus ihrer Mitte gewählte<br />

Delegierte als Deputation zur Betriebsleitung entsendet<br />

<strong>und</strong> ihrer gerechten Entrüstung darüber, daß<br />

sie sich wieder an einer Aktion beteiligen mußten,<br />

welche von ihrem Generalstabe nicht anbefohlen<br />

wurde, v e r l a n g t e n s i e e n e r g i s c h die E n t -<br />

l a s s u n g d e r m u t m a ß l i c h e n U r h e b e r d e r -<br />

s e l b e n ! ! Es wurden denn auch unsere Genossen<br />

Draxl, Wolf <strong>und</strong> Scheffel e n t l a s s e n . Bemerken<br />

muß ich noch, daß viele von den Herren der Aufforderung<br />

zum Ausstande n i c h t Folge leisteten<br />

<strong>und</strong> eingefahren sind; sie wurden aber seitens der<br />

Werkleitung aus der Grube hinausgejagt. Die Betriebsleitung<br />

stellte den gemaßregelten Kameraden<br />

anheim, die Delegiertenfunktion zu quittieren <strong>und</strong><br />

den Herren Sozialdemokraten die Schicht zu bezahlen<br />

oder zu gehen. Sie wählten das Letztere.<br />

Den Tag darauf wurden die drei Genossen in die<br />

Kanzlei gerufen <strong>und</strong> ihnen dort mitgeteilt, daß die<br />

Kündigung zurückgenommen sei <strong>und</strong> sie weiter<br />

arbeiten können. Solches geschah auf Intervention<br />

unserer übrigen Kameraden. —<br />

Die Grimassen der Angehörigen der „revolutionären"<br />

Partei kann sich jeder leicht vorstellen.<br />

Sie bekamen nicht nur die Schicht nicht bezahlt,<br />

sondern die verhaßten Anarchisten behielten auch<br />

ihre Funktion als Delegierte! Das ist sozialdemokratische<br />

Solidarität! Ach freilich, es ist ja viel bequemer<br />

aach ihrer Art jeden Streik ein paar Monate<br />

zuvor der Werksleitung anzukündigen, damit sich<br />

dieselbe auf denselben vorbereiten kann; dann<br />

wartet man im unerschütterlichen Vertrauen zu<br />

Hause ab, bis Streikführer <strong>und</strong> sonstige Kommandanten<br />

die Früchte ihrer Mühe nach Hause bringen.<br />

Sie kollidieren auf diese Art <strong>und</strong> Weise nicht mit<br />

den Gesetzen, auch nicht mit den Kapitalisten, <strong>und</strong><br />

was die Hauptsache ist — sie verletzen nicht die<br />

Subordination in der Partei. Und sie haben recht;<br />

aber nur für Sklavenseelen <strong>und</strong> nicht für Männer!<br />

A. Seh.<br />

Deutschland.<br />

Unter dem Titel „ W a s w i l l d e r s o z i a l i s -<br />

t i s c h e B u n d " ? sendet uns Genosse G u s t a v<br />

L a n d a u e r die erste Flugschrift dieser neuen<br />

anarchistischen Vereinigung mit dem Ersuchen zu,<br />

ihr Raum in unserem Blatte zu gewähren. Wir<br />

kommen dieser Aufforderung umso freudiger nach,<br />

als wir den in der Flugschrift .ausgesprochenen<br />

Prinzipien, die zum ersten Mal den Oppenheimerschen<br />

Standpunkt in harmonische Verbindung mit anarchistischer<br />

Idee <strong>und</strong> Praxis bringen, fast vollständig<br />

zustimmen können. Auf jeden Fall hoffen wir, daß<br />

diese neue Strömung innerhalb unserer deutschen<br />

Bruderbewegung eine ausgezeichnete E r g ä n z u n g<br />

der bisherigen Taktik des Kampfes bilden wird,<br />

eine Ergänzung, die für jeden Weitersehenden<br />

durchaus notwendig ist. Die nachfolgenden „Zwölf<br />

Artikel des sozialistischen B<strong>und</strong>es" bringen wir<br />

nur deshalb nicht, weil die Nr. 16 des „W. f. A."<br />

ohnedies einen Artikel aus der Feder des Genossen<br />

Mertins brachte, der dieselben Gr<strong>und</strong>sätze<br />

verkündete. Im übrigen regen wir die Genossen<br />

an, sich die Flugschrift anzuschaffen <strong>und</strong> sie tüchtig<br />

zu verbreiten. Sie lautet:<br />

„Der Sozialistische B<strong>und</strong> will alle die Menschen<br />

zusammenfassen, die mit dem Sozialismus<br />

ernst machen wollen.<br />

Man hat euch gesagt, die sozialistische Gesellschaft<br />

könne erst in einem bestimmten, fernliegenden<br />

Zeitpunkt an die Stelle der Ausbeutung,<br />

der Proletarisierung, des Kapitalismus treten. Man<br />

hat euch auf die Entwickelung verwiesen.<br />

Wir sagen: der Sozialismus kommt gar nicht,<br />

wenn ihr ihn nicht schaffet.<br />

Es leben welche unter euch, die sagen: erst<br />

muß die Revolution kommen, dann kann der Sozialismus<br />

beginnen.<br />

Aber wie? Von oben her eingeführt? Staatssozialismus?<br />

Wo sind die Organisationen, die Anfänge,<br />

die Keime zu sozialistischer Arbeit <strong>und</strong> gerechtem<br />

Austausch unter sozialistischen Arbeitsgemeinden?<br />

Nirgends sind auch nur Spuren, auch<br />

nur Gedanken daran, auch nur Erwägungen der<br />

Notwendigkeit zu sehen.<br />

Sollen wir in jenem Zeitpunkt auf die Advokaten,<br />

die Politikanten, die Vormünder des Volkes<br />

angewiesen sein?<br />

Die Völker haben von jeher üble Erfahrungen<br />

mit ihnen gemacht.<br />

Wir sagen: umgekehrt wird ein Schuh daraus.<br />

Wir warten nicht auf die Revolution, damit dann<br />

Sozialismus beginne; sondern wir fangen an, den<br />

Soziaiismus zur Wirklichkeit zu machen, damit dadurch<br />

der große Umschwung komme!<br />

Alle Organisationen, die sich das arbeitende<br />

Volk bisher geschaffen hat, sind Organisationen<br />

zum Kampf ums Leben innerhalb der kapitalistischen<br />

Gesellschaft. Sie sind notwendig, damit die einzelnen<br />

individúen <strong>und</strong> Branchen weiter existieren<br />

können <strong>und</strong> kleine Vorteile erringen; aber aus dem<br />

Kreis des Kapitalismus führen sie nicht heraus; in<br />

den Sozialismus führen sie nicht hinein.<br />

Der Marxismus, der eine so große <strong>und</strong> verhängnisvolle<br />

Rolle in der Arbeiterbewegung spielt,<br />

hat vorausgesagt: die Proletarisierung wird immer<br />

mehr um sich greifen, die wirtschaftlichen Krisen<br />

werden immer stärker werden, der Konkurrenzkampf<br />

der Unternehmer wird immer strenger, die<br />

Zahl der Unternehmungen immer kleiner: der Zusammenbruch<br />

des Kapitalismus müsse so kommen.<br />

So lautet die Prophezeihung der Neunmalklugen.<br />

Wie ist es gekommen? Wie kommt es immer<br />

mehr?<br />

Was tut der Staat?<br />

Er schleift dem Elend, wenn es gar zu groß<br />

wird, die Ecken ab; er sorgt durch Versicherungs-,<br />

Schutz- <strong>und</strong> Gewerbegesetze aller Art, daß der<br />

Kapitalismus nicht an seinen schlimmsten Konsequenzen<br />

zu Gr<strong>und</strong>e gehe; daß es mit unserem<br />

System der Ungerechtigkeit <strong>und</strong> der sinnlichen Produktion<br />

<strong>und</strong> Verteilung der Güter weitergehen kann.<br />

Es geht weiter mit dem Kapitalismus, das ist<br />

der Erfolg dieser gesetzgeberischen Arbeit. Es geht<br />

weiter mit dem Kapitalismus — das ist der Erfolg<br />

auch der gesetzgeberischen Arbeit der Arbeiterklasse<br />

<strong>und</strong> ihrer Vertreter.<br />

Was tun die Unternehmer?<br />

Sie sorgen durch Truste, Syndikate, gegenseitige<br />

Versicherungen <strong>und</strong> Verträge aller Art dafür,<br />

daß die Prophezeihung der marxistischen Stubengelehrten<br />

zu Schanden wird ; sie machen sich keine<br />

unnötige Konkurrenz, sie helfen einander, sie machen<br />

sich nicht durchweg einander tot, sie halten sich<br />

vielfach einander am Leben <strong>und</strong> sie schränken die<br />

Krisen ein, wie sie die Produktion einschränken.<br />

Das alles vielfach auf Kosten der Arbeiter; ganz<br />

gewiß aber auf Kosten des Sozialismus. Es geht<br />

weiter mit dem Kapitalismus.<br />

Was tun die Arbeiter in ihren wirtschaftlichen<br />

Organisationen <strong>und</strong> Kämpfen? In ihren Gewerkschaften?<br />

In ihren Gewerkschaften sind sie innerhalb<br />

des Kapitalismus organisiert; je nach den Branchen<br />

<strong>und</strong> Proletariergruppen, die der Kapitalismus<br />

braucht. Durch ihre Versicherungen <strong>und</strong> Kassen,<br />

durch die Verbesserung ihrer Verhältnisse, ihrer<br />

Lebenslage sorgt bald da, bald dort eine Branche,<br />

daß die schlimmsten Schrecken gemildert werden,<br />

daß es weitergeht — womit? Mit dem Kapitalismus!<br />

Schluß folgt.<br />

Gruppen <strong>und</strong> Versammlungen.<br />

Allgemeine Gewerkschafts-Föderation. V.,<br />

Einsiedlergasse 60. Jeden Sonntag 6 Uhr abends.<br />

Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />

Gasthaus, XIV., Märzstraße 3 3 .<br />

Föderation der Bauarbeiter. X., Eugengasse<br />

9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />

jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />

Unabhängige Schuhmacher-Gewerkschaft.<br />

XIV.,Hütteldorferstraße 3 3 . Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />

Männergesangverein „Morgenröte". XIV.,<br />

Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />

jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />

Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „Pokrok". XIV.,<br />

Hütteldorferstr. 33. Jeden Samstag abendsDiskussion.<br />

Freie Einkaufsgenossenschaft. Jeden D o n -<br />

nerstag abends bei Schlor.<br />

Freidenker-Vereinig. „ F r e i e r Gedanke",<br />

Öffentl. Vortrag jeden Freitag um 8 Uhr bei Schlor.


Der Antimilitarismus<br />

als<br />

T a k t i k d e s A n a r c h i s m u s .<br />

Von Pierre R a m u s .<br />

Referat, gehalten auf dem internationalen Amsterdamer Kongreß<br />

der »Internationalen antimilitaristischen Assoziation«<br />

am 30. <strong>und</strong> 31. August 1907.<br />

(Fortsetzung.)<br />

Rußland hat uns dies am deutlichsten gezeigt; in allen übrigen Staaten<br />

schon der Umstand allein, daß nicht das Parlament, sondern überall das<br />

„obere Haus" herrscht <strong>und</strong> das Militär befehligt. In Deutschland im B<strong>und</strong>esrat,<br />

in Österreich im Herrenhaus, hier verschmilzt sich logisch die ökonomische<br />

mit der politischen Macht, also der militärischen Macht.<br />

Der sozialdemokratische Antimilitarismus ist entstanden unter der<br />

anspornenden Betätigung des Anarchismus.; in allen seinen Wesensäußerungen,<br />

Beschlüssen <strong>und</strong> Bestrebungen knüpft er an die Vorstellungen<br />

bürgerlicher Bestrebungen an <strong>und</strong> versucht es, dieselben auch<br />

s e i n e n Zwecken nützlich zu machen; er leistet in dieser Entwicklung bourj;eoiser<br />

<strong>Ziel</strong>e, die notwendigerweise sich nur um die Erringung der Staatsgewalt<br />

oder Ausnützung derselben zu gewissen Zwecken drehen, die höchsten<br />

seiner Geistesleistungen.* Denn, indem er den Staat erobern will, .erkennt<br />

der sozialdemokratische Antimilitarismus vornehmlich eines nicht: daß es<br />

sich bei ihm n i c h t um eine Befreiung der Menschheit von einer der furchtbarsten<br />

Geißeln handelt, sondern bloß um eine Übernahme der Staatsgewalt<br />

- <strong>und</strong> sie i s t Militarismus — durch die Sozialdemokratie. Auch die Sozialdemokratie<br />

versucht es, den Individualwillen der wirkenden Persönlichkeiten<br />

zu beeinflussen, doch während der anarchistische Antimilitarismus in den<br />

Kampf des Einzelindividuums selbst die Bedingungen der Befreiung legt,<br />

versucht es die Sozialdemokratie nur, das einzelne Individuum soweit zur<br />

Aktion aufzurufen, als dieses Individuum sich n i c h t wider die Staatsgewalt<br />

auflehnt,** sondern es nur soweit bringt, einzelne Repräsentanten seiner<br />

Klasse in die gesetzgebenden Körperschaften hinein zu delegieren, woselbst<br />

diese dann mit den bestehenden Staatsgewalten unterhandeln sollen, dabei<br />

jedoch nur ihren Vorteil herauszuschlagen vermögen. Während der Anarchismus<br />

in seinem Kampfe gegen den Militarismus diesen als das Ureigene <strong>und</strong><br />

Eigentümliche des gesamten Gesellschaftssystems erkennt, ihn nur besonders<br />

bekämpft, weil er in dieser Bekämpfung einen Hauptfaktor zur Umwälzung<br />

des G e s a m t Systems erblickt, faßt die Sozialdemokratie den Militarismus<br />

als eine Erscheinung der bürgerlichen Weit auf, die ganz für sich <strong>und</strong> besonders,<br />

durch seine Umwandlung in einen M i l i z m i l i t a r i s m u s seine<br />

speziellen Übel abstreift <strong>und</strong> dann zur Verteidigung des „Vaterlandes" hinreicht.<br />

Somit faßt sie den Militarismus als eine Notwendigkeit zur Verteidigung<br />

des Vaterlandes auf, hört damit auf, sozialistisch zu sein, denn der<br />

Begriff des „Vaterlandes" fällt unbedingt zusammen mit dem staatlichen<br />

Ausdruck Nation, was allen Prinzipien des Sozialismus zuwiderläuft. Der<br />

Sozialismus ist internationalistisch, der Sozialismus hat kein Vaterland <strong>und</strong><br />

bedarf keines Militarismus.<br />

Was hat der sozialdemokratische Antimilitarismus geleistet in den<br />

letzten paar Jahren seines internationalen Bestandes? Wir wissen, daß eine<br />

jede individuelle oder kollektive Aktion des Antimilitarismus der letzten<br />

Jahre n u r der anarchistischen Propaganda, ihrem geistigen Einfluß entsprang.<br />

Was haben mittlerweile die Sozialdemokraten geleistet?<br />

Die antimilitaristische Tätigkeit der Sozialdemokratie aller Länder beschränkt<br />

sich auf die Bekämpfung <strong>und</strong> Ablehnung des Militärbudgets; oder<br />

eigentlich nicht einmal, denn Herr Bebel hat schon des öfteren erklärt, daß<br />

nur die Art der Anwendung des Budgets nicht zweckmäßig sei, er aber sehr<br />

gerne für „bessere Waffen", für „Erhöhung der Löhne der Mannschaften <strong>und</strong><br />

Unteroffiziere" — dies der deutsche sozialdemokratische Antrag für 1908,<br />

der unter andern auch die Unterstützung des Grafen Oriola gef<strong>und</strong>en —,<br />

für „warmes Abendbrot für die Soldaten", für „dunkle Knöpfe" eintreten<br />

würde. Dies ist eine direkte Konservierung des Militarismus, wie jeder Sachk<strong>und</strong>ige<br />

zugeben muß. Die Mißachtung für eine Institution erhöht man nicht,<br />

indem man sie mit Firniß überdeckt <strong>und</strong> erträglicher macht. - Doch sehen<br />

wir einmal zu, wie weit es der Sozialdemokratie überhaupt gelungen, in<br />

ihren Budgetbekämpfungen den Militarismus zu behindern, zu beschränken.<br />

Es gibt in Europa über 400 sozialdemokratische Abgeordnete, es gibt<br />

Millionen Menschen, die durch ihre Stimmabgabe bek<strong>und</strong>et haben, daß sie<br />

hinter diesen ihren Vertretern stehen. Nach einer Aufstellung, die der englische<br />

Friedensjournalist <strong>und</strong> Zarenschwärmer William Stead in seinem während<br />

der Haager Kriegskonferenz herausgegebenen „Courier de Ia Conference"<br />

darbietet, sind die Ausgaben für den Militarismus <strong>und</strong> Marinismus nur während<br />

der letzten 10 Jahre in nur den sechs Großmächten Europas — Italien,<br />

Österreich-Ungarn, England, Frankreich, Rußland, Deutschland - um r<strong>und</strong><br />

2000 Millionen Francs gestiegen! Gehen wir nun speziell zu Deutschland<br />

über <strong>und</strong> lassen wir Liebknecht selbst reden <strong>und</strong> sich -- selbst widerlegen.<br />

Er sagt (p. 43): „Von 1899 bis 1906/7 ist aber allein in Deutschland das<br />

* Kriegsminister von Einem: „. . . Der Abgeordnete Bebel hat auf dem Jenaer Parteitag<br />

von der Fähigkeit der Deutschen zur Organisation gesprochen <strong>und</strong> dabei auch das<br />

deutsehe Kriegsheer ein M e i s t e r w e r k der Organisation genannt. . . Trotzdem wollen<br />

Sie dieses Heer abschaffen! (Abgeordneter Bebel ruft: Umwandeini) Reichstagsbericht<br />

des Berliner „Vorwärts" vom 26. April 1907.<br />

** Um wie viel gemeiner in dieser Hinsicht die Sozialdemokratie als selbst eine<br />

bürgerliche Partei ist, wollen wir nur an einem Beispiel beleuchten. Während wir ohneweiters<br />

zugestehen, daß man ganz gut geteilter Meinung Uber die Zweckmäßigkeit der persönlichen<br />

Dienstverweigerung in Ländern mit despotischer oder halbdespotischer Verfassung<br />

sein mag, bedingt es doch das Prinzip der Selbstachtung, daß man einem solch selbstaufopfernden<br />

Entschluß einer Individualität gegenüber nicht in gemeine, nur selbst erniedrigende<br />

<strong>und</strong> schmachvolle Beleidigungen <strong>und</strong> Verleumdungen ausbricht. Sehen wir zu, wie die<br />

Sozialdemokratie diese Selbstverständlichkeit befolgt.<br />

Über den österreichischen Infanteristen Nemrawa berichtete ein bürgerliches Blatt,<br />

die Wiener »Zeit«, am 23. Oktober 1907, wie folgt:<br />

.Der T o l s t o i - J ü n g e r Nemrawa. Der Infanterist Nemrawa, der seit vielen Jahren<br />

die Militärgerichtsbehörden beschäftigte, da er sich trotz wiederholter empfindlicher Abstrafungen<br />

beharrlich weigerte, ein G e w e h r zu b e r ü h r e n <strong>und</strong> zuletzt im hiesigen Garuisonsspital<br />

behufs Untersuchung seines Geisteszustandes sich befand, wurde gegen Revers<br />

s e i n e n A n g e h ö r i g e n ü b e r l e b e n . "<br />

Am g l e i c h e n Tage berichtete die sozialdemokratische Wiener „Arbeiter-Zeitung"<br />

über denselben Fall, wie folgt:<br />

.Der Nazarener Infanterist N e m r a v a wurde kürzlich in das hiesige Garnisonsspital<br />

zur Prüfung seines Geisteszustandes gebracht. D a m i t hat das K r i e g s m i n i s t e r i u m<br />

den e i n z i g r i c h t i g e n W e g e i n g e s c h l a g e n , d i e s e l ä s t i g e A f f a i r e aus der<br />

W e l t zu s c h a f f e n . Vorgestern wurde der Mann aus dem Garnisonsspital entlassen<br />

<strong>und</strong> gegen Revers seinen Angehörigen übergeben. H o f f e n t l i e h ist er als zu jeder militärischen<br />

Dienstleistung vollkommen untauglich klassifiziert <strong>und</strong> demnach aus dem Heeresverband<br />

gestrichen worden. Mag auch Nemrawas Geist ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> der Schritt, welchen die<br />

Militärbehörden in dieser Sache getan haben, ein Kompromiß sein, das man schloß, um den<br />

M a n n n i c h t zum M ä r t y r e r e i n e r h i r n r i s s i g e n A n s c h a u u n g z u machen,<br />

man muß diesen Schritt klug nennen. Allerdings wäre es besser gewesen, wenn er gleich<br />

gemacht worden wäre, statt daß man Nemrawa zweimal im Kerker für seine Überzeugung<br />

leiden ließ, mag seine nazarenische Überzeugung noch so lächerlich sein."<br />

Das Urteil darüber, welches Blatt einem politischen Gegner gegenüber anständiger<br />

war, Uberlassen wir getrost dem Urteil des Lesers. Hoffentlieh vergaß das k. k. Kriegsministerium<br />

es nicht, sich bei der „Arbeiter-Zeitung* für das ihm erteilte mehrfache Lob gebührend<br />

<strong>und</strong> verständnisvoll zu bedanken!<br />

militärische Budget von r<strong>und</strong> 920 Millionen auf r<strong>und</strong> 1300 Millionen, also<br />

über 40 Prozent gewachsen".<br />

Wir fragen: W e l c h e B e d e u t u n g , w e l c h e n E i n f l u ß hat<br />

d i e S o z i a l d e m o k r a t i e D e u t s c h l a n d s i m P a r l a m e n t , w o<br />

m a c h t s i c h i h r A n t i m i l i t a r i s m u s f ü h l b a r ? Wo äußert sich der<br />

parlamentarische Antimilitarismus der Sozialdemokratie auf dum weiten<br />

Erdenr<strong>und</strong>?<br />

Die Sozialdemokratie bildet in ihrer parlamentarischen Betätigung ein<br />

direkt konservierendes Element des Militarismus, das muß jeder eingestehen,<br />

der die Reden der Bebel — <strong>und</strong> Noske sagte nichts anderes als dieser! —<br />

- <strong>und</strong> seiner internationalen Kollegen liest <strong>und</strong> begreift. Sie kämpfen gegen<br />

die „Mißbräuche" des Militarismus, während er selbst ein einzig großer<br />

Schaden ist; überdies kämpfen auch bürgerliche Parteien gegen jene, denn<br />

es ist im Interesse der herrschenden Klassen gelegen, daß der Militarismus<br />

so wenig Anstoß als möglich erregen soll. Was die Sozialdemokratie aus<strong>und</strong><br />

kennzeichnet, ist ihr Mangel an Erkenntnis <strong>und</strong> tiefer ursächlicher Auffassung<br />

des Problems, ist ihr Unverständnis für jede anders geartete individuelle<br />

Initiative, als die parlamentarische — nur dieses Spiel lassen sie als<br />

individuelle Initiative gelten, da es doch keine ist! , ist die Demagogie ihrer<br />

Führer <strong>und</strong> der vollständig bourgeoise Geist der Kleinmütigkeit <strong>und</strong> behäbigen<br />

Gesetzlichkeit, der die Partei <strong>und</strong> ihre Spitzen beseelt.<br />

Noch eines, bevor wir zum Schlüsse eilen.<br />

Es herrscht eine falsche Auffassung über die Stellung mancher sozialdemokratischer<br />

Antimilitaristen zum Problem des Antimilitarismus. Besonders<br />

trifft dies zu auf Karl Liebknecht, dessen Hochverratsprozeß, den ihm der<br />

Terrorismus des deutschen Staates aufbrannte, ganz falsche Meinungen über<br />

den Verfasser des Buches über den „Militarismus <strong>und</strong> Antimilitarismus" aufkommen<br />

ließen. Zudem hat Herr Bebel durch seine heimtückische Methode<br />

hilfreicher Beispringung dem Kriegsminister gegenüber, indem er erklärte,<br />

daß auch er g e g e n „solche Bücher" wie das Liebknechtsche war <strong>und</strong> sie<br />

auf dem Parteitag bekämpfte,* die ganz irrtümliche Meinung aufkommen<br />

lassen, als ob etwa Liebknecht ein Antimilitarist im französischen syndikalistischen,<br />

oder im Hervéschen Sinne sei. Das ist unwahr, dies zu behaupten<br />

•ist unehrlich. Zwischen Liebknecht <strong>und</strong> Bebel besteht höchstens d e r eine<br />

Unterschied, daß Liebknecht einen jüngeren, frischer denkenden Geist besitzt,<br />

als der alte, recht greisenhaft gewordene Bebel.** In der Theorie unterscheidet<br />

sich der eine vom anderen ebenso wenig wie in der Taktik; vollkommen<br />

oder fast vollständig ist er mit letzterer einverstanden. Der ganze Streit,<br />

worum es sich handelt Liebknecht ist a u c h g e g e n Kasernenagitation!<br />

dreht sich um folgendes: Er lernte vom Beispiel anderer Länder <strong>und</strong><br />

versuchte es, in Deutschland eine rege antimilitaristische Propaganda unter<br />

d e r J u g e n d in Fluß zu bringen. Das ist ohne Zweifel verdienstvoll, wenn<br />

wir auch der rein sozialdemokratisch verballhornisierten Erziehungsmethode<br />

widerstreben müssen. Aber eine solche Erziehung findet immerhin darin unsere<br />

Zustimmung, weil wir wissen, daß es gilt, Kämpfer zu schaffen; weil wir<br />

mit Liebknecht darin übereinstimmen, wenn er (p. 122) sagt: „. . . Es ist<br />

ein ganz gewaltiger Unterschied, einen sozialdemokratischen Stimmzettel abzugeben<br />

oder wirklicher Sozialdemokrat oder gar bereit zu sein, alle die<br />

persönlichen Gefahren auf sich zu nehmen, die der Antimilitarismus in der<br />

Armee mit sich bringt." S o l c h e Sozialdemokraten hören allerdings bald<br />

auf, Sozialdemokraten zu sein; ganz so, wie wir alle aufhörten, Sozialdemokraten<br />

zu sein, sobald ein tieferes Verständnis für den Sozialismus <strong>und</strong><br />

dessen <strong>Ziel</strong>e sich bei uns einstellte.<br />

Die Sozialdemokratie vertritt auf antimilitaristischem Gebiete nur rein<br />

bürgerliche Forderungen. Sie neigt in allen ihren antimilitaristischen Betätigungen<br />

mehr der Bourgeoisie zu, als dem Anarchismus.*** Aus diesem Gr<strong>und</strong>e ist<br />

ihr gesamtes antimilitaristisches Streben vollständig fruchtlos geblieben. Ganz<br />

bürgerlich ist sie in ihrem Rechten <strong>und</strong> Fordern von dem Staat, dessen historische<br />

Wesensbedingungen sie vollständig verkennt. Sie fordert von ihm<br />

Reformen solcher Art, die, wenn ausgeführt, nur eine größere Elastizität <strong>und</strong><br />

Vervollkommnung des bestehenden Systems bilden, für das Proletariat aber<br />

n i e eine vollständige Befreiung bedeuten könnten. Als einen einzigen Beweis<br />

für viele können wir hier die Gesetzentwürfe der österreichischen Sozialdemokratie<br />

in Sachen des Militarismus zitieren. (Vgl. Wiener „Arbeiter-<br />

Zeitung", vom 24. Juli 1907). Dort wird auf Umwandlung des Heeres in eine<br />

Miliz gedrungen, weil ein solches „Volksheer" es „mindestens ebenso gut<br />

vermag, eine auf demokratischer Gr<strong>und</strong>lage organisierte <strong>und</strong> durch obligatorische<br />

Vorbildung der männlichen Jugend für den Waffendienst ergänzte Volkswehr<br />

die n o t w e n d i g e S i c h e r u n g d e s S t a a t e s n a c h a u ß e n<br />

z u gewährleisten; u n d e i n e s o l c h e W e h r v e r f a s s u n g i s t es,<br />

w e l c h e d i e S o z i a l d e m o k r a t i e a n s t r e b t " . Also nicht Abschaffung<br />

des Militarismus gilt es, sondern Eindrillung der Jugend, behufs notwendiger<br />

„Sicherung des Staates nach außen". Und um zu dem Tragischen auch das<br />

Heitere zu gesellen, lassen wir nur einige Zitate aus dem von der Sozialdemokratie<br />

Österreichs propagierten Gesetzentwurf folgen. Da heißt es u. a.:<br />

D i e A b ä n d e r u n g d e s W e h r g e s e t z e s .<br />

Artikel I.<br />

Der erste Absatz des § 8 des Gesetzes vom 11. April<br />

1889 wird hiemit in seiner gegenwärtigen Fassung außer Kraft<br />

gesetzt <strong>und</strong> hat von nun an zu lauten wie folgt:<br />

Die Dienstpflicht dauert:<br />

1. Im Heere:<br />

a) z w e i J a h r e in der Linie <strong>und</strong> acht Jahre in der<br />

Reserve;<br />

b) zehn Jahre in der Ersatzreserve für die unmittelbar in<br />

diese Eingereihten.<br />

2. In der Kriegsmarine:<br />

z w e i J a h r e in der Linie, sieben Jahre in der Reserve<br />

<strong>und</strong> drei Jahre in der Seewehr.<br />

3. In der Landwehr, beziehungsweise in ihrer Ersatzreserve:<br />

a) z w e i J a h r e für jene, welche nach vollstreckter<br />

Dienstpflicht im Heere in die Landwehr übersetzt werden;<br />

b) zwölf Jahre für die unmittelbar in die Landwehr<br />

Eingereihten.<br />

* Reichstagsbericht des Berliner „Vorwärts" vom 25. April 1907.<br />

** Hat doch Liebknecht es selbst im Laufe seines Prozesses konstatiert, daß es<br />

eigentlich zwischen ihm <strong>und</strong> Vollmar nur e i n e n T e m p e r a m e n t s u n t e r s c h i e d gibt.<br />

**• Wir begnügen uns mit dieser Feststellung <strong>und</strong> übergehen, im Interesse der möglichsten<br />

Kürze dieser Abhandlung, eine weitschweifige Widerlegung all jener Angriffe, die Dr.<br />

Liebknecht auf den „anarchistischen Antimilitarismus" in seinem Buche macht. Möge überdies<br />

ein Anhänger seiner eigenen Richtung, der Sozialdemokrat Robert Michels einen Urteilsspruch<br />

fällen. Michels sagt („Le Mouvement S o c i a l i s t e " , 9. Jahrg., Nr. 189 <strong>und</strong> 190) in<br />

einer Besprechung des Buches: „Die Seiten, auf welchen Liebknecht, schwitzend aus allen<br />

Poren, sich bemüht, einen Unterschiedscharakter zwischen „Sozialismus" <strong>und</strong> „Anarchismus"<br />

zu konstruieren, sind insgesamt diejenigen, welche am w e n i g s t e n beweiserbringend sind<br />

in der Literatur über diesen Gegenstand. Sie bieten uns den bedauernswerten Anblick von<br />

h<strong>und</strong>erten, besonders konventionellen Phrasen <strong>und</strong> alle überdies wenig konklusiv. . . . Der<br />

V e r f a s s e r d i e s e r Z e i l e n , der sich schmeichelt, . . .die anarchistische Literatur genügend<br />

gut zu kennen, k e n n t n i c h t ein e i n z i g e s B e i s p . i e l , das die Behauptungen<br />

Liebknechts g e g e n d i e A n a r c h i s t e n s t ü t z e n k ö n n t e . Ähnliche Erfindungen können<br />

ja wohl diejenigen interessieren, die die Tatsachen n i c h t kennen, aber sie leisten auch<br />

nichts anderes, als die theoretische Konfusion zu vergrößern, die ohnedies schon herrscht in<br />

dem traditioneilen Sozialismus."<br />

Fortsetzung folgt.


Wien, 6. Dezember 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. — Nr. 23.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />

I./I7. — Gelder sind zu senden an<br />

Marie Schindelar, Wien, XII., Herthergasse<br />

12, I./17.<br />

Die Invaliditäts- u n d Altersv<br />

e r s i c h e r u n g .<br />

„Das Blendende des Gesetzentwurfes<br />

ist die Ausdehnung der<br />

Versicherung sowohl hinsichtlich des<br />

Kreises der Versicherten als auch in<br />

Beziehung auf die Leistungen <strong>und</strong> die<br />

Art der Versicherung."<br />

(Wiener „Arbeiter-Zeitung",<br />

4. November 1908.)<br />

Im sozialdemokratischen Blätterwald<br />

rauscht es gewaltig. Jubelhymnen, heute<br />

schon ein w e n i g gedämpft, erschallen; die<br />

Regierung der Besitzenden hat eine Vorlage<br />

eingebracht, die den Besitzlosen nach verbrauchter<br />

Arbeitskraft die Lebensmöglichkeit<br />

bieten soll.<br />

Seit mehr als einem Jahrzehnt ist die<br />

Agitation der Sozialdemokraten fast ausschließlich<br />

auf die Erreichung einer derartigen<br />

Vorlage gerichtet, in unzähligen<br />

Versammlungen <strong>und</strong> Wahlreden bildete<br />

diese Frage den ausschließlichen Inhalt; nun<br />

ist ihr <strong>Ziel</strong> erreicht, ein Hauptteil des sogenannten<br />

Minimalprogrammes ihrer Forderung<br />

an die heutige Gesellschaft ist erfüllt.<br />

Der Jubel der Führer w ä r e ein ungeteilter,<br />

wenn die Regierung nicht einen W e r m u t s -<br />

tropfen in den F r e u d e n b e c h e r gegossen<br />

hätte, der als unverdient für die braven<br />

Leutchen um so bitterer empf<strong>und</strong>en wird,<br />

als er die Frage der Verwaltung berührt.<br />

Betrachtet man nur vorerst die Sache frei<br />

von jeder Voreingenommenheit, beachten<br />

wir die Personen, die sich als G e b e r aufspielen<br />

<strong>und</strong> untersuchen wir. aus welchen<br />

Quellen sie schöpfen, so faßt uns E m p ö r u n g<br />

über die Überschwenglichkeit, mit d e r d i e Vorlage<br />

an s i c h den Arbeitern angepriesen wird,<br />

nicht nur von den bürgerlichen Parteien,<br />

sondern auch von der Partei, die sich revolutionär<br />

nennt <strong>und</strong> dadurch ihre Wurzeln<br />

in den Kreisen der Arbeiter findet. Der<br />

Staat, der n u n m e h r in der P o s e des G e b e r s<br />

agiert, kann zufrieden sein mit der Schar<br />

seiner R e k o m m a n d e u r e .<br />

Wir scheiden die Vorlage in zwei Teile:<br />

in den Teil des schon Bestehenden <strong>und</strong><br />

nunmehr zu Reformierenden <strong>und</strong> den Teil<br />

des neu zu Schaffenden. Der erstere umfaßt<br />

die Kranken- <strong>und</strong> Unfallversicherung. Hier<br />

wird eine, allerdings nicht länger zu vermeiden<br />

g e w e s e n e A u s d e h n u n g des Kreises<br />

der Versicherten angebahnt, es werden alle<br />

Arbeiter <strong>und</strong> Dienstboten einbezogen. Damit<br />

erfolgt Ü b e r w ä l z u n g der Krankenkosten auf<br />

die große Zahl der Neueinbezogenen, deren<br />

«Dienstherrn». w e n n auch in beschränktem<br />

Ausmaße, d i e s e K o s t e n b i s h e r z u<br />

tragen hatten. Die Airsdehnung des Krankengeldbezuges<br />

von 20 W o c h e n auf 52<br />

Wochen kostet die Regierung selbstverständlich<br />

k e i n e n r o t e n H e l l e r , d a die<br />

Versicherten s e l b s t die Mehrbelastung in<br />

Form von erhöhten Beiträgen zu bestreiten<br />

haben. Nicht nur das. Bei dieser Gelegenheit<br />

versucht die Regierung ein Geschäftchen<br />

zu machen, indem sie in Hinkunft für die<br />

ganze Zeit der Spitalpflege die Verpflegsgebühren<br />

einbeziehen will, statt wie bisher<br />

für 4 W o c h e n . Durch diese «Reform» soll<br />

also dem ledigen Arbeiter das Krankengeld<br />

schon nach 4 W o c h e n , dem Arbeiter mit<br />

Achtung !<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. b. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . . "<br />

Familie das halbe Krankengeld w e g g e -<br />

n o m m e n w e r d e n . Der Effekt dieser Reform<br />

der Unfallversicherung bringt außerdem das<br />

vage Versprechen, daß in Hinkunft für<br />

Hilflose (ständig pflegebedürftige Krüppel)<br />

höhere Renten g e w ä h r t w e r d e n können,<br />

was übrigens jetzt schon bei den berufsgenossenschaftlichen<br />

Anstalten geschieht;<br />

verspricht auch die Befreiung der Arbeiter<br />

von der zehnprozentigen Beitragsleistung,<br />

die auch heute viele U n t e r n e h m e r nicht<br />

einheben. W e n i g neues, wohl aber eine<br />

Belastung der Krankenkassen <strong>und</strong> damit<br />

natürlich der Mitglieder, da Unfälle, die bis<br />

dreizehn W o c h e n Heilungsdauer (bisher<br />

vier W o c h e n ) erfordern, in Hinkunft von<br />

den Krankenkassen zu tragen sind.<br />

D i e s i s t e i n z w e i t e r G r i f f i n d i e<br />

T a s c h e n d e r A r b e i t e r .<br />

Nun aber z u m anderen Teil, zur so<br />

lange ersehnten Alters-, Invaliditätsversic<br />

h e r u n g <strong>und</strong> Witwen-, W a i s e n v e r s o r g u n g .<br />

Der Staat gibt Invalidenrenten, w e n n<br />

der Versicherte n i c h t m e h r als ein Drittel<br />

seines bisherigen Verdienstes zu verdienen<br />

im Stande. Die voraussichtliche H ö h e wird<br />

4 bis 6 K wöchentlich sein nach mindestens<br />

vierjähriger Karenzzeit, sofern 200 W o c h e n<br />

Beiträge geleistet w u r d e n . Bei einer Z a h l u n g<br />

durch 20 <strong>und</strong> m e h r Jahre tritt das A u s m a ß<br />

für die Altersrente in Kraft. Die Altersrenten<br />

betragen bei einer Beitragszeit von 20 bis<br />

40 Jahren K 2 7 7 bis K 9 6 1 wöchentlich.<br />

Die W o c h e n r e n t e von K 1 0 7 3 ist eine<br />

Fiktion, nachdem es A r b e i t e r , die ihr<br />

Leben lang u n u n t e r b r o c h e n K 36 pro W o c h e<br />

verdienen, einfach nicht gibt. Voraussetzung<br />

für die Altersrente ist übrigens ein Alter<br />

von 6 5 Jahren. B e i A r b e i t s l o s i g k e i t<br />

e r l i s c h t d i e V e r s i c h e r u n g , soferne<br />

die dafür festzustellenden Arbeitslosenbeiträge<br />

nicht geleistet werden. Die Beiträge<br />

für diese Versicherung sind, von 12 Heller<br />

hinansteigend bis zu 36 Heller pro W o c h e<br />

festgesetzt, die v o m Arbeiter angeblich zur<br />

Hälfte, in Wirklichkeit aber zur G ä n z e geleistet<br />

werden.<br />

Der Hohn, der darin liegt, daß den<br />

Arbeitern, deren Durchschnittsalter kaum<br />

40 Jahre beträgt, mit 65 Jahren eine Altersversorgung<br />

in Aussicht gestellt wird, die für<br />

die g r o ß e Zahl der Arbeiter nicht viel mehr<br />

ist als das, was die heutige A r m e n v e r s o r g u n g<br />

bietet, ist geradezu schneidend. W a s ist mit<br />

den ungezählten Tausenden, die arbeitslos<br />

sind <strong>und</strong> fast jedes Jahr damit zu rechnen<br />

haben, kürzere oder längere Zeit arbeitslos<br />

zu sein? W e r d e n diese, um ihre Beiträge<br />

leisten z u können, s t e h l e n d ü r f e n ? Wahrlich<br />

eine nette Versicherung, die von den<br />

Arbeitslosen noch die letzten Heller herauspreßt<br />

<strong>und</strong> dort, wo dieses nicht möglich ist,<br />

die e r w o r b e n e n Rechte sistiert!<br />

An Hinterbliebene werden Kapitalsa<br />

b f e r t i g u n g e n i m einmaligen A u s m a ß e<br />

von K 120 bis K 440 geleistet, je nach der<br />

Kinderzahl. W e r darin nicht eine glänzende<br />

V e r s o r g u n g der W i t w e n <strong>und</strong> Waisen sieht,<br />

ist wert, von dieser Staatsfürsorge strafweise<br />

ausgeschlossen zu werden. Von der Versicherung<br />

der Selbständigen zu sprechen,<br />

ist nicht der M ü h e wert, es sei denn, daß<br />

wir hervorheben, daß die Kosten dafür den<br />

Öffentliche Vereinsversammlung am Sonntag den 6. Dezember 1908, halb 10 Uhr vormittags,<br />

im XVI. Bezirk, Gr<strong>und</strong>steingasse 25. Zahlreicher Besuch erwartet. Tagesordnung:<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2 -<br />

40;<br />

halbjährig K 1-20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3-50, halbjährig Fr. 175, vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

Arbeitern aufgewälzt werden, somit deren<br />

Lasten noch vergrößern.<br />

N u n m e h r zu den Kosten dieser Versicherung.<br />

Die U n t e r n e h m e r rechnen mit<br />

einer Belastung von 60 bis 70 Millionen<br />

pro Jahr, die sie natürlich in irgend einer<br />

Form auf die Arbeiter überwälzen. Die<br />

direkte Belastung der Arbeiter wird mindestens<br />

eine gleich g r o ß e sein, u n g e r e c h n e t<br />

der S u m m e n , die, durch die auf Kosten<br />

der Arbeiter zu erfolgende S a n i e r u n g der<br />

Krankenanstalten erforderlich sind. Der<br />

Staatszuschuß wird im 10. Jahre r<strong>und</strong> 40<br />

Millionen <strong>und</strong> im 40. Jahre 100 Millionen<br />

betragen. Nun ist aber die Frage d i e : w e r<br />

z a h l t d i e s e K o s t e n ? Die direkte Beitragsleistung<br />

der Arbeiter <strong>und</strong> die Überwälzungspraxis<br />

der U n t e r n e h m e r haben wir<br />

bereits erwähnt. Der Staat aber, so versichert<br />

uns die Regierung — <strong>und</strong> nicht nur diese<br />

allein — bringt ein außerordentliches Opfer.<br />

A u s w e s s e n T a s c h e n ? Wird e r das<br />

Futter für den Militarismus beschneiden<br />

<strong>und</strong> dort 100 Millionen w e g n e h m e n ? N e i n .<br />

W e r d e n die A b g e o r d n e t e n eine Steuer ausfindig<br />

machen, die jene trifft, die der<br />

«väterlichen Fürsorge» des Staates entbehren<br />

k ö n n e n ? N e i n . Der Staat wird e i n f a c h<br />

w i e d e r e i n e n G r i f f i n d e n S a c k<br />

d e r e r t u n , die er angeblich mit der Vorlage<br />

schützen will <strong>und</strong> wird somit die<br />

Voraussetzungen zu frühzeitigem Siechtum<br />

vermehren. Er wird damit n e u e r d i n g s dafür<br />

sorgen, daß die Zahl der Altersrentner vermindert<br />

wird, indem er die Invaliden, die<br />

Hinterbliebenen mehrt. I s t e s n i c h t e i n<br />

b e t r ü g e r i s c h e r S c h w i n d e l g e d a n k e ,<br />

v o n d e r h e u t i g e n G e s e l l s c h a f t , d i e<br />

d u r c h d i e M o n o p o l i s i e r u n g d e r<br />

P r o d u k t i o n s m i t t e l a l l e d i e s e f u r c h t -<br />

b a r e n Ü b e l s t ä n d e h e r v o r r u f t u n d<br />

t ä g l i c h m e h r t , A b h i l f e z u v e r l a n g e n ?<br />

Der heutige Gesellschaftszustand, längst<br />

reif zum Z u s a m m e n b r u c h , wird mit Gewaltmittel<br />

aufrecht erhalten. Die Kosten müssen wir<br />

Arbeiter tragen, <strong>und</strong> weil wir unter der Last<br />

z u s a m m e n b r e c h e n , wird uns «Hilfe» geboten,<br />

indem man uns n e u e L a s t e n auferlegt.<br />

Worin liegen denn eigentlich die Wurzeln<br />

dessozialen E l e n d e s ? N u r d a r i n , d a ß d i e Gesellschaft<br />

eine Unzahl parasitärer Existenzen nicht<br />

nur zu erhalten hat, sondern ihnen - a: f<br />

Kosten der Arbeitenden — ein Wohlleben<br />

sondergleichen schafft. Der Haupteffekt<br />

obiger s ogenannter «Sozialreform» wird d e r<br />

sein, daß' eine weitere Anzahl parasitärer<br />

Existenzen genährt w i r d ; Tatsache ist, daß<br />

g e g e n w ä r t i g w i r die Einzigen sind, die<br />

eine durchaus oppositionelle Haltung g e g e n -<br />

über der Vorlage einnehmen. Der Hauptstreit<br />

zwischen Sozialdemokratie <strong>und</strong> Christlichsozialen<br />

ist nur der, w e r d i e P f r ü n d n e r<br />

bestellen, die Arbeiter schuhriegeln können<br />

soll. W e r unbeeinflußt von k o m m e n d e n<br />

Verwaltungsaussichten an die Vorlage herantritt,<br />

wird zu d e m Schlüsse k o m m e n , daß<br />

der g e b o t e n e Bettel in keinem Verhältnis<br />

steht zu den auferlegten Lasten. Das «Blendende»<br />

für alle Parteien ist die Verwaltung,<br />

die allerdings, s t a a t s s o z i a l i s t i s c h g e n u g ,<br />

ein Heer von Bürokraten schafft, so daß<br />

auf r<strong>und</strong> 90 Millionen E i n k o m m e n über<br />

12 Millionen Verwaltungsgelder k o m m e n ;<br />

Die Alters- <strong>und</strong> Invalidenversicherung.


es handelt sich bei all den Parteien nicht<br />

um die neue, riesige Steuerbelastung, die<br />

die Sozialversicherung wirklich ist, um deren<br />

Vereitelung <strong>und</strong> Abwehr, sondern nur um<br />

die P f r ü n d e n f ü r i h r e v e r s o r g u n g s -<br />

b e d ü r f t i g e n S c h r e i e r .<br />

Dafür läßt man alle E r w ä g u n g e n beiseite<br />

<strong>und</strong> gleitet über die nicht w e g z u -<br />

reformierenden Schäden sachte hinweg,<br />

hoffend, daß auch die Arbeiter davon geblendet<br />

sind. Und nicht zuletzt: die parlamentarische<br />

Klappermühle braucht einen<br />

«Erfolg». Das Feuerwerk der Millionen,<br />

das da vor einer gaffenden M e n g e abgebrannt<br />

wird, soll das s c h w i n d e n d e Vertrauen<br />

an dem alleinseligmachenden parlamentarischen<br />

Gaukelspiel wieder festigen, <strong>und</strong><br />

w e n n es recht schön ist, so wird der Griff<br />

in den Sack am E n d e gar nicht beachtet.<br />

G e h t h i n , i h r V o l k s t r i b u n e n u n d<br />

V o l k s b e g l ü c k e r , s a g t d e r M e n g e<br />

f o l g e n d e s :<br />

«Arbeiter, ihr sollt jetzt jährlich 120<br />

Millionen Kronen durch 4 Jahre zahlen,<br />

das sind 4 8 0 Millionen. Von diesem Oelde<br />

n e h m e n wir 48 Millionen für Verwaltungskosten.<br />

Eure Hinterbliebenen- b e k o m m e n<br />

davon (günstigst gerechnet) innerhalb 4 Jahren<br />

32 Millionen. Die weiteren 8 Jahre<br />

versprechen wir euch dazu Invalidenrenten,<br />

sagen wir bis zu 10 Kronen wöchentlich,<br />

w e n n ihr jede W o c h e im Jahr, ob arbeitend<br />

oder nicht, eure Beiträge leistet. Nach 12<br />

Jahren erfolgt eine N e u b e r e c h n u n g , bei der<br />

im Voraus n u r e i n e s fest steht, das ist<br />

die S t e i g e r u n g d e r V e r w a l t u n g s -<br />

k o s t e n . O b eure Zahlungen erhöht, oder<br />

ob eure v e r s p r o c h e n e n Renten gekürzt<br />

w e r d e n — das wissen wir nicht.»<br />

89 Männer, die sich Sozialisten nennen,<br />

sind gewillt, für eine solche Vorlage einzutreten,<br />

w e n n ihnen nur gewisse Verwaltungszugeständnisse<br />

gemacht werden. Sie<br />

sind damit gewillt, das W o h l <strong>und</strong> W e h e<br />

der Massen mit dem Staat zu verknüpfen,<br />

mit der bürgerlichen Gesellschaft, die nichts<br />

als Qual, H u n g e r <strong>und</strong> U n t e r d r ü c k u n g für<br />

die Arbeiter übrig hat.<br />

Keinem einzigen von all den parlamentarischen<br />

Volksvertretern fällt es ein,<br />

die Vorlage a l s s o l c h e strikte zurückzuweisen,<br />

weil sie den Arbeiter n i c h t versichert,<br />

sondern ihn, den Arbeiter z w i n g t ,<br />

für eine angebliche Versicherung zu bezahlen,<br />

w ä h r e n d eine staatliche Versicherung<br />

d e n n doch nicht durch <strong>und</strong> von dem Arbeiter<br />

bezahlt, sondern aus dem Staatsb<br />

u d g e t bestritten w e r d e n sollte! Allen diesen<br />

Vertretern ist es eine Selbstverständlichkeit,<br />

daß der A r b e i t e r a u c h bezahlen <strong>und</strong><br />

der S t a a t diejenige Versicherung regeln,<br />

das Geld dafür einstreifen soll, für die der<br />

Arbeiter s e l b s t — d e n n der U n t e r n e h m e r<br />

wälzt seinen Teil wieder auf den Arbeiter<br />

a b ! — zu zahlen hat. Und d a n n : i s t d e r<br />

G l a u b e a n d i e s i e g r e i c h e K r a f t d e s<br />

S o z i a l i s m u s b e i e u c h s o s c h w a c h ,<br />

d a ß i h r G e s e t z e f ü r f a s t e i n h a l b e s<br />

J a h r h u n d e r t m a c h t , die dem Arbeiter<br />

kaum ein Stück trockenen Brotes sichern?<br />

Wir denken, die Kraft der Arbeiter ist<br />

hinreichend, in dieser Zeit sich das zu erkämpfen,<br />

was man ihnen heute gewaltsam<br />

vorenthält: d e n v o l l e n A r b e i t s e r t r a g ,<br />

d e n S o z i a l i s m u s . Mit dieser Überzeug<br />

u n g treten wir an die Vorlage heran <strong>und</strong><br />

sagen nur ein W o r t : B l e n d w e r k !<br />

W e r ist A n a r c h i s t ?<br />

Fre<strong>und</strong> A, S. schreibt mir unter a n d e r m :<br />

„. . . Sie werden ja gewiß aus meinen Worten<br />

halbwegs sehen, daß ich kein Anarchist bin; aber<br />

trotzdem bin ich ein entschiedener Gegner der<br />

gegenwärtig verwalteten sozialdemokratischen Organisation.<br />

Ich bin kein Gegner der Organisation<br />

überhaupt, sondern ein Gegner des Terrorismus,<br />

der Demagogie <strong>und</strong> Korruption, die alle in diesen<br />

Organisationen von den „Obergenossen" betrieben<br />

werden.<br />

Sie haben gar keinen Begriff, was ich alles in<br />

unserer Gewerkschaftsorganisation zu ertragen h a b e ;<br />

ich, der ich doch gewiß kein Anarchist bin, das Sie viel-<br />

leicht am besten wissen dürften, bin dort als ein solcher<br />

ausgeschrien <strong>und</strong> werde allgemein, da ich auch des<br />

öfteren anarchistische Versammlungen besucht habe,<br />

als „Anarchistenführer" bezeichnet, was ich den<br />

Leuten in punkto Naivität anrechne. Aber nichts<br />

destoweniger hat es mich sehr unangenehm berührt,<br />

daß ich, der ich doch gewiß ein guter Sozialdemokrat,<br />

wenn auch ein etwas radikaler bin, beinahe<br />

aus der Organisation ausgeschlossen worden wäre,<br />

mit der lächerlichen Motivierung „wegen anarchistischer<br />

Umtriebe", mich nur noch ineine gegebene<br />

Demission davor bewahrte.<br />

Allerdings war es mir gewissermaßen eine<br />

Genugtuung, wenn ich imstande war, in derselben<br />

Ausschußsitzung, in der ich mein Mandat niedergelegt<br />

habe, den Obmann, den Führer der Unterdrückung<br />

der freien Meinungsäußerung zu stürzen.<br />

Es ist mir in der bald nachher stattgef<strong>und</strong>enen Generalversammlung<br />

seitens des Plenums abermals<br />

das Vertrauen geschenkt worden, <strong>und</strong> ich wurde<br />

zum 1. Schriftführer gewählt. Damals war ich der<br />

Meinung, daß es, da doch der Hauptdemagog, der<br />

Obmann, gestürzt sei, nunmehr ganz anders vor<br />

sich gehen werde. Aber in der Delegiertenkonferenz<br />

der Wiener Ortsgruppen sollte ich es ganz anders<br />

erfahren; es ist dort, obwohl auf der Tagesordnung<br />

sehr wichtige Punkte verzeichnet waren, wie<br />

Organisation, Agitation, Kolportage etc. nichts als<br />

die persönliche Eitelkeit einzelner <strong>und</strong> das deutlich<br />

zu tage tretende Parteistrebertum befriedigt worden.<br />

Sic sehen also, daß man inner solchen Umständen<br />

berechtigterweise die Freude zur Arbeit<br />

verlieren muß . . ."<br />

Soweit der Brief, wie er für unsere<br />

G e n o s s e n aus manchen G r ü n d e n interessant<br />

sein dürfte. Vieles ließe sich darauf erwidern;<br />

ich will aber nur aus obigem Brief<br />

die B e a n t w o r t u n g meiner Titelfrage als<br />

Wichtigstes zu behandeln versuchen. Ich<br />

schrieb meinem Fre<strong>und</strong> also ungefähr so:<br />

»Was Sie mir von Ihren persönlichen<br />

Erfahrungen in einer Gewerkschaft sozialdemokratischer<br />

Richtung schreiben, ergänzt<br />

glücklich das Bild, das ich mir bisher von<br />

dieser gemacht habe. Es ist auch in Deutschland<br />

dieselbe Sache. Und d a r i n sind Partei<br />

<strong>und</strong> Gewerkschaften eins. Versucht irgend<br />

jemand eine eigene M e i n u n g innerhalb der<br />

Organisation zu propagieren, wird er m<strong>und</strong>tot<br />

gemacht, resp. ausgeschlossen. Sobald<br />

aber außerhalb dieser, deren Tun zu kritisieren<br />

versucht wird, hören wir immer<br />

wieder: »Kommt zu u n s ; unser <strong>Ziel</strong> ist dasselbe;<br />

wollen z u s a m m e n arbeiten; als Mitglieder<br />

habt ihr das Recht zur Kritik; weit<br />

besserer Erfolg wartet da eurer. Meint ihr's<br />

ehrlich, ist in unsern Reihen euer Platz.<br />

— Ihr tuts nicht? Gut, so seid ihr Zersplitterer,<br />

Feinde der A r b e i t e r b e w e g u n g<br />

etc. etc.« Wie weit man »recht« hat, zeigt<br />

Ihr Brief für Österreich, <strong>und</strong> um einen Fall<br />

aus Deutschland in letzter Zeit, der auch<br />

dort bekannt sein dürfte, mitanzuführen:<br />

D e r Ausschluß unseres tätigen G e n o s s e n<br />

D r e w e s aus der Buchdruckerorganisation.<br />

Nun, soweit g e h e n wir beide ja zus<br />

a m m e n : F ü r f r e i e M e i n u n g s ä u ß e r u n g<br />

i s t i n d e r P a r t e i , w i e i n d e r G e w e r k -<br />

s c h a f t k e i n P l a t z . Weiter gehen wir<br />

konform: D e n S o z i a l i s m u s h a l t e n w i r<br />

b e i d e f ü r e r s t r e b e n s w e r t ! Drittens<br />

g e h e n wir konform: D e r S o z i a l i s m u s<br />

w i r d n i e v e r w i r k l i c h t w e r d e n a u f<br />

d e n W e g e n , w i e i h n d i e S o z i a l d e m o -<br />

k r a t i e z u e r r e i c h e n s u c h t . Dazu<br />

kommt das Führertum <strong>und</strong> die daraus resultierende<br />

Autorität <strong>und</strong> Disziplin - alias<br />

Gesetzmäßigkeit — die u n s beide abstößt.<br />

W a s folgt daraus für Sie? Welche logische<br />

K o n s e q u e n z m ü s s e n Sie als denkender<br />

Mensch daraus ziehen? N i c h t , um sich<br />

die Lust an der Arbeit für Ihre Ideale vereckeln<br />

z u lassen, s o n d e r n s i c h a b s e i t s<br />

v o n d e r P a r t e i u n d i h r e n O r g a n e n<br />

z u s t e l l e n u n d d e n S o z i a l i s m u s<br />

n a c h e i g e n e m E r k e n n e n z u v e r -<br />

f e c h t e n u n d z u v e r b r e i t e n . Aus eigener<br />

Kraft, auf G r u n d bewußten Verständnisses.<br />

Das halten Sie auch für selbstverständlich?<br />

Nun wohl, ich akzeptiere das gern<br />

<strong>und</strong> habe nun nicht mehr nötig, für mein<br />

anarchistisches Ideal bei Ihnen P r o p a g a n d a<br />

z u machen. S i e s i n d d a d u r c h A n a r -<br />

c h i st, genau so gut, wie ich einer.<br />

Ü b e r die einzelnen Theorien u n d Probleme,<br />

die sie natürlich nicht alle mit einem<br />

Male in sich a u f g e n o m m e n <strong>und</strong> auf anar-<br />

chistische Weise verdaut haben, läßt sich<br />

wohl weiter diskutieren; aber klar müssen<br />

Sie sich schon jetzt darüber sein oder werden<br />

es bald w e r d e n — da Sie es heute<br />

noch abstreiten — : S i e s i n d A n a r c h i s t !<br />

Denken Sie nach, was dieses bedeutet.<br />

W a s heißt »Anarchist sein«, anderes,<br />

wie überzeugt sein, daß zur Höherkultivierung<br />

der Menschheit der heutige knechtseelige<br />

Staat kapitalistischer Interessen abgelöst<br />

werden m u ß durch eine freie harmonische<br />

Gesellschaft sozialistischer G r u p p e n ?<br />

W a s heißt Anarchist sein anders, wie diesem<br />

Ideale, dieser Ü b e r z e u g u n g entsprechend<br />

schon h e u t e handeln! Deshalb sind wir<br />

kommunistische Anarchisten auch Sozialisten;<br />

deshalb beugen wir uns auch heute nicht<br />

mehr solchen Führern <strong>und</strong> Parteien, welche<br />

glauben, dadurch, daß sie allein die berechtigte<br />

Form des Sozialismus erkannt<br />

zu haben vermeinen, alle anderen Meinungen<br />

unterdrücken zu dürfen. Die wesenlose<br />

Gottheit »Majorität«, die ihnen ihre Gesetze<br />

heiligen muß, wie es bis nun den Selbstherrschern<br />

das G o t t e s g n a d e n t u m getan hat,<br />

m u ß von allen wahren Sozialisten ebenso<br />

ü b e r w u n d e n werden, wie das Gottesgnadentum<br />

von den Demokraten. Eher ist an die<br />

Freiheit nicht zu denken. Unterwerfung,<br />

Unfreiheit bedingt j e d e s Gesetz. Untertänigkeit<br />

j e d e r Staat. Daher ist auch<br />

überall der Zwangsstaat etabliert, wo immer<br />

man sich auf das Gesetz stützt. Das aber<br />

tun die Sozialdemokraten, denen die Eierschalen<br />

ihrer Entwicklung aus staatlicher<br />

B e v o r m u n d u n g immer noch anhaften <strong>und</strong><br />

die sich nicht vorstellen können, daß eine<br />

Gesellschaft anders aufgebaut sein könnte,<br />

wie durch U n t e r o r d n u n g .<br />

Hier nun wirft der Anarchist sein Freiheitsideal<br />

in die Wagschale. Nur die »Freiheit»<br />

innerhalb der sozialistischen Gesellschaft<br />

kann die »Gleichheit« <strong>und</strong> »Brüderlichkeit«<br />

mit sich bringen. O h n e jene bleiben auch<br />

diese ein unerfüllbares Idol. Und diese<br />

Dreieinigkeit vertreten eigentlich a l l e S o z i a -<br />

l i s t e n , allerdings nicht alle Demokraten.<br />

Ist die Erfüllung aber von jenen zu erwarten,<br />

die heute nicht danach handeln?<br />

Nein, w e m es ernst ist mit seinen Idealen,<br />

der befleißigt sich, solche in die Tat umzusetzen;<br />

<strong>und</strong> nicht, sie zu verleugnen <strong>und</strong><br />

zu verleumden, wie es die Parlamentarier<br />

tagtäglich tun müssen <strong>und</strong> mit ihnen ihr<br />

verführter Anhang.<br />

Es beginnt die Erkenntnis des Anarchisten<br />

Wurzel zu fassen; e b e n s o wie jeder,<br />

der diese Wahrheiten sich zu eigen gemacht<br />

hat, mit vollem Recht als Anarchist<br />

a n g e s p r o c h e n werden kann. Doch immer<br />

wiederhole ich's: D a s H a n d e l n i n d e r<br />

L e b e n s f ü h r u n g m u ß mit der Theorie<br />

in Einklang gebracht werden. Indem sich<br />

der Anarchist im b e w u ß t e n geistigen G e g e n -<br />

satz stellt zu j e d e m Gesetz, zu j e d e r<br />

B e v o r m u n d u n g trägt er schon heute durch<br />

a n g e w a n d t e Brüderlichkeit seinen Teil Sozialismus<br />

in die G e g e n w a r t hinein. Auf<br />

diesem W e g e wird schließlich erreicht<br />

w e r d e n , was nur so erreicht werden kann<br />

u n d erreicht w e r d e n soll: die freie sozialistische<br />

Gesellschaft, das ist aber . . . d i e<br />

A n a r c h i e . Leo Lerche.<br />

Aufruf d e s K o m i t e e s d e r j u n g -<br />

slavischen Arbeiter zu Paris.<br />

V o r b e m e r k u n g . Nachfolgende Proklamation<br />

entnehmen wir unserem französischen Bruderblatt,<br />

dem H e r v e s c h e n „ S o z i a l e n K r i e g " . Dieses veröffentlicht<br />

dieselbe mit dem Hinweis auf die schändlichen<br />

Schürereien <strong>und</strong> Hetzereien von gewissen<br />

serbischen politischen Kreisen, deren Einfluß selbst<br />

tief in das serbische sozialdemokratische Parteileben<br />

dringt. Wir haben hier in Österreich eine ähnliche<br />

Haltung der Sozialdemokratie zu beobachten, die<br />

da glaubt, sich durch geistreich sein sollende, aber<br />

ziemlich patriotisch gefärbte Äußerungen über den<br />

Ernst der Situation. hinwegsetzen zu können. Die<br />

Proklamation unserer serbischen Kameraden ist der<br />

Gefühls- <strong>und</strong> Geisteszustand des serbischen Proletariats,<br />

dem auch wir vollständig im sozialistischen<br />

Brudersinn des Internationalismus gegenüberstehen<br />

müssen.


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Österreich.<br />

Wien. Konfisziert wurde an 6 oder 7 Stellen<br />

unsere letzte, dem Andenken des 11. Novembers<br />

gewidmete Nummer. — Am 9. Dezember findet in<br />

Wien die Schwurgerichtsverhandlung gegen unseren<br />

Genossen <strong>und</strong> Mitarbeiter Michael Loczynsky statt,<br />

wegen eines in Nr. 10 unseres Blattes veröffentlichten,<br />

durchaus objektiv gehaltenen Artikels über<br />

das Attentat auf Potocki.<br />

• Am 21. November fand in der Behausung<br />

des Genossen Ramus eine Hausdurchsuchung statt.<br />

Die Polizei fahndete nach dem „Offiziellen Protokoll<br />

des antimilitaristischen Kongresses". Daß die<br />

Herren eine kleine Europareise unternehmen müßten,<br />

um der Auflage habhaft zu werden, davon ahnte<br />

natürlich keiner etwas.<br />

* Am 24. November fand im Bezirksgericht III.<br />

die letzte Verhandlung über den Ehrenbeleidigungsprozeß<br />

statt, den der Gen. Haidt gegen den Sozialdemokraten<br />

Berndt angestrengt hatte. Durch allerlei<br />

Verdrehungen <strong>und</strong> Machinationen — die schon<br />

dadurch ersichtlich wurden, daß der Richter schließlich<br />

a l l e Beweisanträge der Berndtseite zurückwies<br />

- wurde Berndt freigesprochen. Gegen das Urteil<br />

wurde die Berufung eingelegt, <strong>und</strong> w i e d i e S a c h e<br />

t a t s ä c h l i c h s t e h t , das geht zur Genüge aus<br />

dem Umstand hervor, daß Rechtsanwalt Wahringer<br />

sich dem Rechtsanwalt Schäfer, Haidts Vertreter<br />

gegenüber bereits dahingehend geäußert hat, er sei<br />

zu einem Ausgleich bereit. Haidt hat in einer Zuschrift<br />

an seinen Advokaten einen solchen a b g e -<br />

l e h n t ; <strong>und</strong> schon in einigen Tagen werden die<br />

Genossen aus einem von Haidt herauszugebenden<br />

Flugblatt ersehen können, welche Ehrenmänner es<br />

sind, gegen die Haidt zu kämpfen hat. Hoffentlich<br />

werden die Herren dann nicht verfehlen, i h n zu<br />

klagen. In Kürze gesagt: Haidt ist das Opfer von<br />

Intriganten gewesen, vor dem Richterstuhl des Sozialismus<br />

haben sich seine Ankläger zu verkriechen:<br />

dies ist der Eindruck, den der Prozeß <strong>und</strong> dessen<br />

ausgebreitetes Beweismaterial auf uns gemacht haben.<br />

Deutschland.<br />

Schluß.<br />

Denn, was die Einzelnen in ihrer Rolle als<br />

Produzenten gewinnen, das verliert die Gesamtheit<br />

des Volkes, <strong>und</strong> vor allem des arbeitenden Volkes<br />

als Konsumenten. Wer zahlt alles, was der Unternehmer<br />

seinen Arbeitern zahlt? Der, der die Waren<br />

braucht: der Arbeiter als Konsument.<br />

Das alles ist nötig, solange wir im Kapitalismus<br />

tief darin sind. Aber es führt uns nicht heraus;<br />

es hält uns nur immer fester <strong>und</strong> fester darin.<br />

Was führt uns zum Sozialismus?<br />

Der Generalstreik!<br />

Aber ein Generalstreik ganz anderer Art, als<br />

er gewöhnlich im M<strong>und</strong> der Agitatoren <strong>und</strong> im<br />

Herzen der schnell hingerissenen Masse wohnt —<br />

die abends Beifall klatscht <strong>und</strong> morgens wieder<br />

zur Fabrik trottet.<br />

Der Generalstreik, der gewöhnlich gepredigt<br />

wird, heißt: mit verschränkten Armen abwarten,<br />

wer stärker ist <strong>und</strong> es Innger aushalten kann: die<br />

Arbeiter oder die Kapitalisten.<br />

Wir aber sagen offen: mehr <strong>und</strong> mehr kommt<br />

es durch die Organisationen der Unternehmer dahin,<br />

daß die Kapitalisten es aushalten können, die<br />

Arbeiter aber nicht. In den kleinen Streiks geht es<br />

so, in den großen geht es erst recht so, <strong>und</strong> im<br />

passiven Generalstreik würde es nicht anders gehen.<br />

Überlege sich's Jeder, mit offenen Augen! Es tut<br />

weh, die Augen weit aufzumachen <strong>und</strong> die Wahrheit<br />

zu sehen, wenn man sich an die Dämmerung<br />

<strong>und</strong> an die schlechte Beleuchtung gewöhnt hat,<br />

aber es tut verdammt not!<br />

Wir künden euch, ihr Arbeiter, den aktiven<br />

Generalstreik!<br />

Nicht von der Aktion ist hier die Rede, die<br />

wohl viele als notwendige Konsequenz des Generalstreiks<br />

gleich hinter oder neben ihm sehen. Wir<br />

fangen nicht mit dem Ende an, sondern mit dem<br />

Anfang. Es ist ja noch garnichts für den Sozialismus<br />

geschehen, es ist noch garnicht das geringste<br />

von ihm getan worden; wofür wollt ihr denn<br />

kämpfen <strong>und</strong> euch umbringen lassen? Für die<br />

Herrschaft irgendwelcher Führer, die dann wohl<br />

wissen werden, was sie wollen? was sie tun? wie<br />

sie eure Arbeit <strong>und</strong> die Verteilung der Güter, die<br />

ihr braucht, anordnen?<br />

Wäre es nicht besser, das alles wüßtet <strong>und</strong><br />

tätet ihr selber?<br />

Die Aktion der arbeitenden Menschen heißt<br />

Arbeit!<br />

Im aktiven Generalstreik sind die Arbeiter so<br />

weit, daß sie die Kapitalisten aushungern, weil sie<br />

nicht mehr für den Kapitalisten arbeiten, sondern<br />

für die eigenen Bedürfnisse.<br />

Ihr Kapitalisten, ihr habt Geld? ihr habt Papiere?<br />

ihr habt Maschinen, die leer stehen?<br />

Eßt sie auf, tauscht sie untereinander, verkauft<br />

sie euch gegenseitig, — macht, was ihr wollt! Oder<br />

arbeitet! arbeitet wie wir. Denn Arbeit könnt<br />

ihr von uns nicht mehr bekommen. Die brauchen<br />

wir für uns selbst. Wir haben sie nicht mehr im<br />

Rahmen eurer unsinnigen Wirtschaft, wir verwenden<br />

sie für die Organisation <strong>und</strong> Gemeinden des<br />

Sozialismus.<br />

So wird es einmal heißen. Dies <strong>und</strong> "nichts<br />

anderes kann der Anfang des Sozialismus sein.<br />

„O weh! das ist ein weiter <strong>Weg</strong>. Jetzt sollen<br />

wir erst anfangen? Und wir drehten, wir seien<br />

schon nahe am <strong>Ziel</strong>!"<br />

Wie könnt ihr nahe am <strong>Ziel</strong> sein, da ihr noch<br />

keinen einzigen Schritt getan habt?<br />

Begebt euch nur auf den <strong>Weg</strong>: <strong>und</strong> gleich<br />

sehet ihr das <strong>Ziel</strong> leibhaft vor euch.<br />

Der allererste Schritt ist: daß ihr die Wahrheit<br />

hört. Sie schmeckt bitter, wie manche Wurzel,<br />

aber wenn sie wächst, wird sie süße Früchte tragen.<br />

Dies ist unser erstes Wort an euch, aber ihr<br />

sollt mehr hören. Ganz genau soll euch gesagt<br />

werden, wie man aus dem Kapitalismus austritt,<br />

wie man ihm den Dienst verweigert, wie man den<br />

Sozialismus beginnt, wie man ihn fortführt, bis der<br />

Kapitalismus aus innerer Einsicht oder aber aus<br />

äußerer Notwendigkeit — zur Kapitulation gezwungen<br />

ist.<br />

Einstweilen habt ihr genug zu verdauen! Und<br />

wir haben kein Geld mehr, dieses erste Flugblatt<br />

noch länger zu machen.<br />

Wer mehr schon jetzt sich ausdenken will,<br />

lese die zwölf Artikel des Sozialistischen B<strong>und</strong>es.<br />

Wer mehr hören <strong>und</strong> mit Kameraden besprechen<br />

will, komme in eine Sitzung der Gruppen<br />

des Sozialistischen B<strong>und</strong>es.<br />

Wer sicher gehen will, daß er das nächste<br />

Flugblatt erhält, gebe seine Adresse an.<br />

Wer mithelfen will, beziehe Flugblätter von<br />

uns <strong>und</strong> verbreite sie.<br />

Wer ein Blatt regelmäßig lesen will, das an<br />

alle Fragen vom sozialistischen Standpunkt herantritt,<br />

der abonniere auf den „Sozialist".<br />

Wer im Zusammenhang lesen will, was uns<br />

Sozialismus heißt, wie uns die Menschengeschichte<br />

<strong>und</strong> unsere Zustände <strong>und</strong> der <strong>Weg</strong> zum Sozialismus<br />

aussieht, der lese die Broschüre, die unten angezeigt<br />

ist. Sie wird bald erscheinen.<br />

Und wer ganz <strong>und</strong> gar den <strong>Weg</strong> zum Sozialismus<br />

gehen will, der schließe sich dem Sozialistischen<br />

B<strong>und</strong>e an!" Gustav Landauer.<br />

— Im November erscheint im Verlag des<br />

Sozialistischen B<strong>und</strong>es: „Aufruf zum Sozialismus".<br />

Ein Vortrag von Gustav Landauer. Die Broschüre<br />

wird zirka 120 Seiten umfassen. Preis zirka<br />

40 Pfennig. Bestellungen an die unten folgende<br />

Adresse. — Über das Erscheinen der Zeitschrift<br />

„Der Sozialist" wird im nächsten Flugblatt Näheres<br />

bekannt gegeben. — Von diesem Flugblatt stehen<br />

kleinere Mengen unentgeltlich zur Verfügung. Bei<br />

größeren Bezügen kosten 1000 Stück 1 Mark. Näheres<br />

durch B. Burchardt, Berlin S. O. Naunvnstraße<br />

70, H. 2. Aufg.<br />

Frankreich.<br />

Der Mitte Oktober in Toulouse abgehaltene<br />

Kongreß der französischen sozialdemokratischen Partei<br />

hat für uns deshalb noch ein besonderes Interesse,<br />

weil sich in der erst seit wenigen Jahren geeinigten<br />

Partei immer mehr eine tiefgehende S p a l t u n g<br />

bemerkbar macht. Die früheren, mehr auf persönlichen<br />

Differenzen beruhenden Fraktionen fangen an,<br />

in einander zu verschmelzen <strong>und</strong> ihre Bedeutung<br />

zu verlieren; innerhalb der geeinigten Partei machen<br />

sich zwei viel wichtigere Richtungen bemerkbar: die<br />

parlamentarisch-reformistische <strong>und</strong> die revolutionäre<br />

Richtung.<br />

Für die Reformisten ist der Sozialismus vor<br />

allem ein „Ideal". Sie hoffen, daß sich derselbe einmal<br />

in einigen Jahrh<strong>und</strong>erten vielleicht verwirklichen<br />

wird. Das Wichtige für die Reformisten ist die Eroberung<br />

der politischen Macht. Sie machen das<br />

Volk auf die Fehler der heutigen Regierung aufmerksam,<br />

versuchen es von der Nützlichkeit verschiedener<br />

Reformen zu überzeugen <strong>und</strong> versichern<br />

ihm, daß sie geneigt sind, diese Reformen zu verwirklichen,<br />

wenn s i e an die Regierung kommen;<br />

aber sie hüten sich, dasselbe durch die Erziehung<br />

zur sozialen Revolution zu erschrecken <strong>und</strong> seine<br />

Vorurteile, welche noch fest eingewurzelt scheinen,<br />

wie z. B. das Gefühl des Patriotismus, der Gesetzesachtung<br />

etc., zu verletzen. Nicht nur, daß die Reformisten<br />

nicht für die kommende Empörung gegen die<br />

gegenwärtige Gesellschaftsordnung sind; nein, sie<br />

gebrauchen all ihre Autorität, welche sie als Abgeordnete<br />

oder volkstümliche Redner erobert haben,<br />

um die revolutionären Gefühle im Volke zu unterdrücken.<br />

Die revolutionäre Richtung der französischen<br />

Sozialdemokratie hingegen will aus der Partei vor<br />

allem eine Partei des unversöhnlichen Widerstandes<br />

g e g e n j e d e Regierung machen <strong>und</strong> die Massen<br />

zur Revolution vorbereiten. Sie will im Herzen des<br />

Volkes den Haß gegen die gegenwärtigen Einrichtungen,<br />

gegen die Bourgeoisie, die aus denselben<br />

ihre Existenz zieht, anfachen. Sic kümmert sich<br />

n i c h t um die Eroberung der „politischen Macht",<br />

denn sie weiß, wie in j e d e m Volksvertreter, sobald<br />

als gewählt, die Sorge um das allgemeine Wohl<br />

vor seinem persönlichen Interesse zurücktritt. Sie<br />

zieht es vor, dem Proletariat die Verbesserungen seiner<br />

Lage selber durch die direkte Aktion <strong>und</strong> sozialwirtschaftlichen<br />

Gewerkschaftskampf besorgen zu<br />

lassen; denn der Kampf, den es für dieselben<br />

k ä m p f t , wird den revolutionären Geist in ihm stärken,<br />

während es im Gegenteil zur Nachsicht <strong>und</strong><br />

sogar zur Dankbarkeit geneigt wird, wenn ihm dieselben<br />

Verbesserungen scheinbar von der Regierung<br />

geschenkt werden.<br />

Diese beiden Richtungen sind scharf geschieden,<br />

ja entgegengesetzt; leider hat auf dem Toulouser<br />

Kongresse nicht jede ihren Standpunkt festgestellt;<br />

es wurde einstimmig ein vermittelnder Antrag Jaures<br />

angenommen, in welchem dieser geschickt die<br />

Worte „Generalstreik" „Aufstand" <strong>und</strong> „direkte<br />

Aktion" unterzubringen wußte, der aber in Wahrheit<br />

ein geschmackloser, phrasenhafter, reformistischer<br />

Salat ist.<br />

Es steht zu hoffen, daß der Toulouser Kongreß<br />

den ersten Anstoß dazu geben wird, daß die revolutionären<br />

Genossen der sozialdemokratischen Partei<br />

endgültig den Rücken kehren <strong>und</strong> sich mit den<br />

kommunistischen Anarchisten <strong>und</strong> revolutionären<br />

Gewerkschaftskämpfern zum gemeinsamen Kampfe<br />

vereinigen werden. Darauf lassen wenigstens die<br />

folgenden charakteristischen Stellen aus dem Hervcschen<br />

„Guerre Soziale", dem Blatt samtlicher wirklich<br />

revolutionären Gruppierungen des Sozialismus<br />

schließen:<br />

„Es ist die Pflicht eines jeden revolutionär<br />

Empfindenden, jede Solidarität mit diesen Leuten<br />

abzubrechen. Sie sind unsere ärgsten Feinde, denn<br />

sie stehen mitten in unseren Reihen <strong>und</strong> hängen<br />

wie ein Gewicht an uns. Jene, die für die Revolution<br />

kämpfen <strong>und</strong> alles opfern wollen, können keine<br />

Zeile vom schmählichen Manifest der „geeinten"<br />

sozialistischen Partei annehmen. <strong>Unser</strong>e Genossen,<br />

die sich in diese Partei der politischen Strauchdiebe<br />

verirrt haben, müssen zum revolutionären Gedanken<br />

zurückkehren. Sie vergeuden dort ihre Kraft für den<br />

Profit von ein paar Leuten, die aus guten Abgeordnetendiäten<br />

ein herrliches Leben schlagen oder<br />

schlagen wollen. Es ist nicht genug, antiparlamentarisch<br />

gesinnt zu sein; man soll überhaupt an<br />

keiner Wahl teilnehmen. Jene, die das Zeug zum<br />

Propagandisten in sich haben, müssen den sozialen<br />

Klassenkampf in den Gewerkschaften predigen; dort<br />

ist ihr Platz. Versuchen wir nicht, neben diesen die<br />

sozialdemokratische Partei als Ansporn zu erhalten ;<br />

es wird innerhalb der Gewerkschaften selbst dann<br />

immer Leute geben, welche die Masse vorwärts<br />

treiben. Wir sagen nicht, wie es die Reformisten<br />

von uns behaupten, daß wir gegen alle Reformen<br />

sind. Die Angst der Bourgeoisie, hervorgerufen durch<br />

unsere revolutionäre Propaganda, läßt dieselben<br />

aber von selbst in unseren <strong>Weg</strong> fallen."<br />

Noch wichtiger sind die folgenden Zeilen, denn<br />

dieselben können als Ausspruch der ganzen Richtung<br />

gelten: „Jeder Revolutionär weiß, daß die allgemeine<br />

Arbeiterkonföderation die soziale Befreiung nicht<br />

durchführen kann, solange sie nur eine kleine Minderheit<br />

des Proletariats umfaßt. Aber gerade weil<br />

wir das fühlen <strong>und</strong> wissen, daß, wenn die Arbeiterkonföderation<br />

einmal nur annähernd die Mehrzahl<br />

der Arbeiter umfaßt, sie in der größten Gefahr<br />

schwebt, reformistisch zu werden, darum sind wir<br />

überzeugt, daß neben derselben eine rein revolutionäre<br />

Bewegung des Sozialismus notwendig ist,<br />

welche alle Kämpfer des Landes umfaßt. Da die<br />

sozialdemokratische Partei, d u r c h d e n P a r l a -<br />

m e n t a r i s m u s v e r g i f t e t , diese Partei nicht sein<br />

will oder nicht sein kann, so werden wir diese<br />

Bewegung schaffen, a u ß e r h a l b u n d s o g a r<br />

g e g e n d i e S o z i a l d e m o k r a t i e ! "<br />

Rumänien.<br />

Aus den bekannten europäischen Wirrnissen<br />

politischer Natur, die wir unter dem Namen der<br />

Balkanfrage zusammenfassen möchten, leuchtet uns<br />

e i n e Fackelträgerin entgegen, die in ihrer Lehre<br />

<strong>und</strong> Propaganda in der Tat die Lösung all der<br />

Probleme dieses Hexenkesselgetriebes zu bieten<br />

vermag: es ist dies die n e u g e g r ü n d e t e kommunistisch-anarchistische<br />

Zeitschrift „Vremurinoi"<br />

(„Neue Zeiten"), deren erste, in Bukarest (15Strada<br />

Elefterescu) erschienene Nummer uns vorliegt. Der<br />

aktuelle <strong>und</strong> dabei geistig hochstehende Inhalt machen<br />

das Blatt zu einer Kampfschrift erster Güte<br />

<strong>und</strong> freuen wir uns, angeben zu können, daß dasselbe,<br />

uns gemachten Mitteilungen zufolge, gleich<br />

auf den ersten Schlag eine Leserzirkulation von<br />

2000 Exemplaren erreicht hat.<br />

Glück auf, ihr wackeren Waffengefährten!<br />

Rußland.<br />

* Ein d e n k w ü r d i g e r P r o z e ß . Erst jetzt, nachdem<br />

Wochen auf Wochen verflossen sind, erfahren<br />

wir von dem am 17. September in W a r s c h a u<br />

sich abspielenden Prozeß gegen 24 unserer bestbekannten<br />

Genossen der russischen Bewegung. Für<br />

uns deutsche Anarchisten hat dieser Prozeß noch<br />

ein besonderes Interesse, denn in der Persönlichkeit<br />

des einen der Angeklagten erkennen wir einen unermüdlichen<br />

deutschen Kameraden, der durch tätige<br />

<strong>und</strong> oftmals tollkühne Kampfesgemeinschaft mit den<br />

russischen Kameraden das Solidaritätsgefühl, das<br />

internationale Band der Liebe, das sich um die<br />

idealen sozialistischen <strong>Ziel</strong>e der russischen Revolution<br />

schlingt, bekräftigt hat. Wir meinen den Berliner<br />

Kameraden Johannes Holzmann, besser bekannt unter<br />

dem Schriftstellerpseudonym S e n n a Hoy, der unter<br />

dem Namen August Waterloos in der russischen Revolution<br />

mitkämpfte <strong>und</strong> nun dem Unvermeidlichen<br />

verfiel: e r w u r d e i n z w e i g e g e n i h n g e -<br />

f ü h r t e n P r o z e s s e n z u i n s g e s a m t 1 5 J a h r e n<br />

K a t o r g a (Zwangsarbeit) v e r u r t e i l t !<br />

Bevor wir auf die Erläuterungen von diversen<br />

Einzelheiten eingehen, bieten wir die kurzgefaßten<br />

Berichte eines Warschauer Blattes, des „Przeglad P o .


anny", das sich natürlich hauptsächlich auf den Anklageakt<br />

stützt, über den Prozeß wieder. Die Berichte<br />

sind den drei Nummern vom 18, 19. <strong>und</strong> 20. September<br />

1908 entnommen.<br />

1. „Der Prozeß der Anarchisten-Kommunisten,<br />

Gestern begann vor dem Warschauer Kriegsgericht<br />

der große Prozeß der Anarchisten-Kommunisten.<br />

Vor dem Gericht erschienen 24 Personen:<br />

Jan Miakota, August Waterloos (bereits zu Zwangsarbeit<br />

verurteilt), Jeremias Rabinowicz, Benjamin<br />

Boksenbojm, Jankel Rybowski, Kolman Ostrowski,<br />

David Weitmann, Abram Frenkel, Chil Kramarz,<br />

Raphael Baranczuk (bereits zu Zwangsarbeit verurteilt),<br />

Lejb Weiner, Mordko Borkowski, Abel<br />

Kamieniecki, Wulf Ankermann, Mordko Monheid,<br />

Lejb Zuckerblatt, Hersch Turek, Schlama Mielnlk,<br />

Zyslo Kotowicz <strong>und</strong> die Frauen Ryfka Jaroszewska,<br />

Rosa Holtzniann, Beila Polak, Cipa Eisenberg, Eika<br />

Bruch."<br />

2. „Vorgestern, wie wir bereits erwähnt haben,<br />

fand sich auf der Tagesordnung des Warschauer Kriegsgerichtes<br />

der Prozeß von 14 Personen, welche der<br />

Zugehörigkeit zu den Anarchisten-Kommunisten<br />

angeklagt sind. Die Verhandlung dauerte den ganzen<br />

gestrigen Tag. Wir geben hier einige Einzelheiten,<br />

Ein Anarchist mit dem Pseudonym Seidel<br />

organisierte im Jahre 1903 in Bialystok eine Gesellschaft<br />

unter dem Namen „Anarchisten-Kommunisten".<br />

Die Gesellschaft stellte sich als <strong>Ziel</strong> den Umsturz<br />

der gegenwärtigen staatlichen <strong>und</strong> sozialen Ordnung<br />

in Rußland <strong>und</strong> deren Umwandlung in eine freie<br />

Kommune, gegründet auf den Prinzipien der Gleichheit,<br />

Brüderlichkeit <strong>und</strong> Freiheit. Die Gesellschaft<br />

hat ihre Existenz bekannt gemacht durch eine ganze<br />

Reihe von Expropriationen <strong>und</strong> Anschlägen auf<br />

hochgestellte Personen.<br />

Nachher bildeten sich in vielen Ortschaften<br />

Rußlands anarchistische Gruppen, deren Vorsteher<br />

nach dem Konstitutions-Manifeste eine Konferenz<br />

in Bialystok organisierten mit dem Zweck, ein allgemeines<br />

Freiheitsprogramm auszuarbeiten.<br />

Nach diesem Kongreß hat sich ein Teil der<br />

Anarchisten unter dem Namen „Schwarze Fahne"<br />

in Warschau niedergelassen. Von ihnen wurden Anfang<br />

Jänner 1906 elf verhaftet <strong>und</strong> für die von ihnen<br />

begangenen Verbrechen zum Tode verurteilt.<br />

Die nach diesem Pogrom gebliebenen Führer<br />

Karl, Jankel Litwak, Saschka Pariser, Saschka<br />

Schitomirer <strong>und</strong> andere organisierten wieder in<br />

Warschau eine Gruppe mit der Hilfe des aus Brüssel<br />

eingetroffenen Anarchisten Waterloos.<br />

Im Anfang des vorigen Jahres bek<strong>und</strong>eten die<br />

Anarchisten-Kommunisten ihre Tätigkeit durch einen<br />

Anfall auf den Kaufmann Steidynes, von dem sie<br />

1 000 Rubel verlangten.<br />

Der nach diesem Gelde gesendete Anarchist<br />

Aron Ratzker wurde tötlich verw<strong>und</strong>et.<br />

Nach diesem Ereignis reiste Waterloos nach<br />

Kowno, um für die Warschauer <strong>und</strong> Lodzer Gruppen<br />

Geld zu bekommen. Dieser Ausflug brachte<br />

der Organisation 500 Rubel. Den 15. Juni des vorigen<br />

Jahres überfielen vier Anarchisten das Haus<br />

des Kaufmanns Hedrych. Da Hedrych ihnen kein<br />

Geld geben wollte, haben ihn die Anarchisten getötet.<br />

Von den Teilnehmern dieses Überfalls wurden<br />

Baranczuk <strong>und</strong> Schansel Schafer vom Kriegsgericht<br />

verurteilt, der erste zu 10 Jahren Zwangsarbeit, der<br />

zweite zum Tode.<br />

Den 30. Juni des vorigen Jahres wurde bei<br />

Ozorkow (Kreis Leczyca) Waterloos verhaftet; er<br />

stand unter dem Verdacht, am Überfall auf das<br />

Haus von Rzechte teilgenommen zu haben. Er<br />

wurde dafür zu 12 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.<br />

Hierauf wurde eine ganze Reihe von Verhaftungen<br />

unternommen, deren Ergebnis der gegenwärtige<br />

Prozeß ist. Gestern wurde das Verhör geendet, das<br />

Urteil wird heute erwartet."<br />

3. „Gestern endlich, nach dreitägiger Verhandlung<br />

wurde das schwere Urteil gefällt im Prozeß<br />

der 24 Personen, welche angeklagt waren der Zugehörigkeit<br />

zur „ F ö d e r a t i o n d e r G r u p p e n<br />

d e r A n a r c h i s t e n - K o m m u n i s t e n P o l e n s<br />

u n d Li t t a u e n s " . August Waterloos (Johannes<br />

Holzmann) wurde zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.<br />

Jan Miakota, Raphael Baranczuk <strong>und</strong> Ryfka<br />

Jaroszewska zu 10 Jahren. Hersch Turek zu 8 Jahren.<br />

Kolman Ostrowski, Abram Frenkel <strong>und</strong> Eika<br />

Bruch zu 6 Jahren. Jeremias Rabinowicz, Benjamin<br />

Boksenbojm, David Weitmann, Chil Kramarz, Lejb<br />

Weiner, Mordko Borkowski, Mordko Monheid,<br />

Lejb Zuckerblatt. Schlama Mielnik, Zyslo Kotowicz,<br />

Rosa Holtzmann, Bdila Polak zu 4 Jahren Zwangs-<br />

, i : beit.<br />

Die übrigen drei Angeklagten wurden freigesprochen.<br />

Das Urteil wurde spät in der Nacht gefällt."<br />

Die obige Schilderung der Tätigkeit <strong>und</strong> <strong>Ziel</strong>e<br />

der Anarchisten ist ein Auszug aus den Anklageakten.<br />

Das ist leicht zu erkennen an dem vielen<br />

Blödsinn, der darin enthalten. Die Borniertheit dieser<br />

Kriegsrichter <strong>und</strong> Staatsanwälte ist unglaublich.<br />

Es sei noch bemerkt, daß die elf Anarchisten,<br />

von denen oben die Rede ist, nicht zum Tode verurteilt<br />

wurden, wie dort gesagt wird, sondern auf<br />

Befehl des Warschauer General-Gouverneurs, o h n e<br />

G e r i c h t s b e f e h l , in der Zitadelle erschossen<br />

wurden. Man konnte ihnen sehr wenig nachweisen<br />

<strong>und</strong> sogar das Kriegsgericht hätte sie freisprechen<br />

müssen, höchstens zu relativ kleinen Strafen verurteilen<br />

können. Dieses „administrative Verfahren"<br />

Skalons hat eine ungeheure Entrüstung hervorgerufen.<br />

Die Warschauer Rechtsanwälte haben nach<br />

Petersburg einen Protest geschickt, der aber natürlich<br />

ohne Erfolg blieb.<br />

Es ist dieser obigen Berichterstattung vor allen<br />

Dingen notwendig, etwas hinzuzufügen, was das<br />

angeführte russisch-polnische Blatt absichtlich verschweigt.<br />

Auf jener Zusammenkunft der anarchistischen<br />

Gruppen Rußlands, von der oben die Rede<br />

ist, befand sich auch ein Polizeispion namens<br />

A b r a i n G a w e n d a , auch unter dem Namen „Abrasche"<br />

bekannt. Es ist ganz gleichgültig, ob dieser<br />

Schuft schon damals ein Spitzel gewesen oder es<br />

erst nachher wurde; genug: ihm sind die Engros-<br />

Verhaftungen zu verdanken, die gleich nach der<br />

Konferenz erfolgten <strong>und</strong> denen unter anderen<br />

wackeren Kameraden auch Hoy zum Opfer fiel,<br />

gegen d e n vor Gericht dieser Gawenda auch aussagte<br />

<strong>und</strong> auf dessen Aussage hin seine <strong>und</strong> der<br />

übrigen so entsetzlich schwere Strafen erfolgten.<br />

Der Warschauer Prozeß war der e r s t e Anarchistenprozeß,<br />

der wenigstens unter Wahrung der<br />

Gerichtsformalitäten in Rußland stattgef<strong>und</strong>en hat.<br />

Sämtliche der Angeklagten haben einen bew<strong>und</strong>ernswürdigen<br />

Mut, eine hohe Charakterentschlossenheit<br />

an den Tag gelegt. Es stehen ihnen Jahre, Ewigkeiten<br />

des entsetzlichsten Jammers <strong>und</strong> Elends<br />

bevor; hoffen wir, daß sie sie er- <strong>und</strong> übertragen<br />

werden, daß sie sich von ihrem Geschick im Gefühl<br />

der hohen Sache, für die sie fielen, nicht zermalmen<br />

lassen. Sie alle sind unsere Brüder <strong>und</strong> Schwestern<br />

<strong>und</strong> um so empfindlicher wird dies, wenn man den<br />

einen oder anderen persönlich gekannt hat. Wir<br />

haben Holzmann gekannt <strong>und</strong> geliebt; es ist noch<br />

nicht die Zeit gekommen, wo man über sein ganzes<br />

Leben reden kann <strong>und</strong> bei der Spannkraft s e i n e s<br />

Geistes <strong>und</strong> seines Löwenmutes ist zu erwarten,<br />

daß er den Haß seiner Peiniger überleben <strong>und</strong> wohl<br />

auch noch einmal das Sonnenlicht der sogenannten<br />

Freiheit sehen wird. Eines aber kann <strong>und</strong> muß<br />

schon jetzt gesagt werden: mögen Jahrzehnte darüber<br />

hinwegrollen, ehe wir ihn wiedersehen werden,<br />

es ist gewiß: er wjrd sich stets treu bleiben; als<br />

einer, der in drei bis vier Jahren seiner anarchistischen<br />

Betätigung die Lebensfülle seines ganzen<br />

Seins der Idee hingab <strong>und</strong>, in rascher theoretischer<br />

Entwicklung, durch seine glänzenden Geistesgaben<br />

in den Stand gesetzt wurde, in all den paar Jahren<br />

seiner Aktivität im Kleinen wie im Großen so viel<br />

Niederes zu überdauern <strong>und</strong> zu überwinden, daß<br />

wir in fester Zuversicht erwarten dürfen, er werde<br />

auch unter diesem letzten Schlag nicht zusammenbrechen.<br />

<strong>Unser</strong>e brüderlichen Gefühle weilen in<br />

treuer Gesinnungssolidarität unwandelbar bei ihm<br />

<strong>und</strong> all den übrigen Großpersönlichkeiten, die für<br />

die Sache der russischen Revolution kämpften <strong>und</strong><br />

fielen!<br />

Vereinigte Staaten.<br />

<strong>Unser</strong>e — sozialdemokratische — Tagespresse<br />

hat es, ganz wie im Falle des französischen, revolutionären<br />

Gewerkschaftskongresses, wohl nicht für<br />

nötig, richtiger für zweckdienlich gef<strong>und</strong>en, auch<br />

nur mit einem einzigen Worte über die stattgehabten<br />

Verhandlungen des 4. Kongresses der „Industriearbeiterverbände<br />

der Welt", der einzigen, wirklich<br />

Sozialrevolutionären Gewerkschaftsbewegung Amerikas<br />

zu berichten, welcher Kongreß in Chicago<br />

stattfand.<br />

Wir können es mit freudiger Genugtuung konstatieren<br />

: N u n e r s t i s t d i e e c h t r e v o l u t i -<br />

o n ä r e G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g A m e r i k a s<br />

b e g r ü n d e t w o r d e n . Die Industrieverbände hatten<br />

bislang das gewöhnliche Unglück: sie rissen sich<br />

richtigerweise von allen Bourgeoisparteien <strong>und</strong> der<br />

verknöcherten alten Gewerkschaftsbewegung los,<br />

gründeten auf sozialistischer Gr<strong>und</strong>lage eine neue<br />

fielen a b e r nun in die Hände d e r verschiedenen<br />

sozialdemokratischen Politiker, die Wahlkapital aus<br />

der neuen Organisation zu schlagen versuchten. Oft<br />

in den letzten Jahren haben wir besorgten Blickes<br />

ihre schweren inneren Kämpfe ob dieses verhängnisvollen<br />

Umstandes verfolgt. Nun erst können wir<br />

freudig mitteilen: die 4. Konvention, die den marxistischen<br />

Sophisten Daniel de Leon endgültig abgeschüttelt<br />

hat, hat sich gleichzeitig als s o z i a l -<br />

revolutionäre Gewerkschaftsbewegung konstituiert<br />

<strong>und</strong> durch ihre neue Prinzipienerklärung als solche<br />

proklamiert.<br />

Reich <strong>und</strong> großartig an revolutionären Gedanken<br />

war dieser Kongreß, <strong>und</strong> wer die Rede des amerikanischen<br />

Kameraden V i n c e n t St. J o h n gelesen,<br />

darf wohl behaupten, ein Prachtstück revolutionärer<br />

Denkweise in sich aufgenommen zu haben. <strong>Unser</strong><br />

Raum gestattet es leider nicht, des näheren auf<br />

dieselbe einzugehen; doch es genügt, wenn wir in<br />

Nachfolgendem die neue Prinzipienerklärung im Auszug<br />

folgen lassen. Sie bildet das passendste Relief<br />

zu diesem Kongreß, auf dem r<strong>und</strong> 50000 Arbeiter<br />

Amerikas vertreten waren:<br />

„Die arbeitende <strong>und</strong> die arbeitgebende Klasse<br />

haben nichts miteinander gemein. Es kann keinen<br />

Frieden zwischen ihnen geben, so lange Hunger <strong>und</strong><br />

Not unter den Millionen des arbeitenden Volkes<br />

gef<strong>und</strong>en werden können <strong>und</strong> die Wenigen, die<br />

die Unternehmerklasse bilden, alle guten Lebensgüter<br />

eignen.<br />

Zwischen diesen beiden Klassen muß ein<br />

Kampf andauern, bis die Arbeiter sich als Klasse<br />

organisieren <strong>und</strong> Besitz ergreifen vom Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

Boden, der Produktionsmaschinerie <strong>und</strong> das Lohnsystem<br />

abschaffen . . .<br />

An die Stelle des konservativen Mottos: „Einen<br />

anständigen Lohn!" müssen d i e folgenden revolutionären<br />

Worte auf unser Banner gesetzt werden:<br />

„ A b s c h a f f u n g d e r L o h n s k l a v e r e i ! "<br />

Kein Wort mehr über die „Notwendigkeiten"<br />

der Politiker, der Arbeiterführer in dem Klassen-<br />

kampf des Proletariats! Schrecklich wie soll<br />

denn das arbeitende Volk sich jemals befreien<br />

können, wenn es nicht vorher die Führer in gut<br />

dotierte Positionen einsetzt?<br />

Über diese ihre frühere Anschauung sind die<br />

Industriearbeiterverbände nun endgültig hinweg geschritten<br />

<strong>und</strong> haben sie mit Recht als schwindelhaften<br />

Wahn überw<strong>und</strong>en. Ein großartiger Fortschritt;<br />

unsere Hoffnung hat uns also nicht betrogen :<br />

a u s s i c h h e r a u s h a t d i e s e A r b e i t e r -<br />

g r u p p i e r u n g n a c h v i e l e n i n n e r e n K ä m -<br />

p f e n d i e n ö t i g e K l a r h e i t u n d e c h t e s<br />

Z i e l b e w u ß t s e i n g e w o n n e n .<br />

Über den Ozean hinweg entbieten wir den<br />

kämpfenden Brüdern, deren <strong>Ziel</strong> vollständig das<br />

unsere ist, unsere Kampfessolidarität; wir heißen<br />

sie willkommen in der Internationale des revolutionären,<br />

sozialistischen Gewerkschaftskampfes, die<br />

nichts gemein hat mit jenen zentralistischen „Gewerkschaften",<br />

die da sind zwecks Aussöhnung<br />

zwischen Kapital <strong>und</strong> Arbeit.<br />

Schweiz.<br />

Ein gewisser W a l t e r G r s y w i n s k i machte<br />

als preußischer Polizeispion die anarchistische <strong>und</strong><br />

sozialistische Bewegung in Zürich <strong>und</strong> Deutschland<br />

unsicher. Er wurde von unseren Genossen Frick<br />

<strong>und</strong> Zorn bald entlarvt <strong>und</strong> suchte das Weite.<br />

Achtung vor diesem Schufterle, das sich gewöhnlich<br />

als besonders „radikaler" Revolutionär geriert!<br />

W e g e n Raummangel müssen die zahlreichen<br />

Versammlungsberichte, wie auch über<br />

unsere stattgehabte erhebende 11. Novemberfeier,<br />

sonstige lokale Gewerkschaftsangelegenheiten<br />

leider ausfallen.<br />

Quittung<br />

vom 21. September bis 21. November.<br />

Kaspr. K 18-79, Linke 6 - - , Marg. 1 0 - , Winitz<br />

5 - , Rajh. 4 - - , 5 - - , Nozar 3-40, 5 - , Mos. 380,<br />

4-90, 8 - - , Gschi. 807, Kohout 225, Uhls 2"40, Janat.<br />

3 80, 3 60, Hotm. 1 20, 1 32, - 78, Pan. 660, 3 20,<br />

Prok. 240, Zaj. 1 0 - , 2 - , 6 - , Pach. 680, 5 . - ,<br />

Rap. 3-20, Tret. 9 - - , Wed. 5 - - , 3 — , 3-50, 9 30,<br />

Ka$p. 2' , Schvab. 330, 2-80, 3-30, Kulle 13-—,<br />

2 0 ' - , Hör. 2-—, 4 - - , Bartols. 463, 4-73, Müller 324,<br />

Scham 814, Wana 6 - - , Petrisch 120, Wolf 6 - - ,<br />

Mitsch 120, Haiia — 50, Krase — 30, Schubert 1 0 - ,<br />

Taas 2'40, Schiel 4-27, Cerven. 1*20, Gonbos 280,<br />

Weber 6-—, Paul 4 - , Mertins 2-—, Krause -40,<br />

Dvorsch. 1-40, Schindel —'60. Schweber 14—,<br />

Müller C. 324, Borg. 240, Breuer 1755, L. Nadlei<br />

8 - - , Nemek 180, Hofer 240, Reine 120, Tokovi<br />

2 80, Smokovi P20, Tlögel 120, Nier. 14-20, Sudovsky<br />

2-40, Caris 4 - , Lederer 120, Szüs 5- ,<br />

Bader 6 — , Hamb. 3 - , Streithansl 240, DMe£ek<br />

4 - - , Duchac —-70, Ignotus 5 ' - , Bruner 2-20, Winarsky<br />

1 - , Platzer 1-70, Rihter 1-20, Tet. P40,<br />

Buchmann 370, Reisman P20, B. R. 1-70, Zelln. 120,<br />

Waldm. 1-20, Waldm. - - 5 0 , Reich 120.<br />

P r e ß f o n d . Winitz K 5 -<br />

—, Zivosk. 1-—, Sinitz.<br />

1—, Likir -20, Eje. 1—, Serbe 1 - , Sammlung V.<br />

54-—, Sammlung V. 3 — , Krajifek 1 —, Preßfond<br />

Nr. 1 14-80, Sch. 33-=-, XIV. 20- • , Liste 37 860,<br />

Friedeb. 2856, Kohoutek 26-60, P. 4 - , 1-90, 7-70,<br />

1 5 - - , Nemek N. 8 5 - - , 6-—, Streithansl 2-—, 2 — ,<br />

Chor 2 P - , 1 6 - , 11-—, 5-—, Loibl - 10, Kauka<br />

4-20, Sammlung XIV. 19-70, Duch Nr. 109 350,<br />

L. N. 301 150, Literatur 1 1 — , 8---, Rap. 1 0 " - , Magister<br />

1 0 - - , Rat. 2-—, Stein —-30, Engler - 2 0 ,<br />

Sinedio - 4 0 , M. S. P. - -20, F. B P , Michael<br />

-20^Fleischfarb -50.<br />

Gruppen <strong>und</strong> Versammlungen.<br />

Allgemeine Gewerkschafts-Föderation. V.,<br />

Einsiedlergasse 60. Jeden Sonntag 6 Uhr abends.<br />

Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />

Gasthaus, XIV., Märzstraße 33.<br />

Föderation der Bauarbeiter. X., Eugengasse<br />

9. Mitgiiederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />

jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />

Unabhängige Schuhmacher-Gewerkschaft.<br />

XiV.,Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />

M ä n n e r g e s a n g v e r e i n „Morgenröte". XIV.,<br />

Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />

jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />

Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „Pokrok". XIV.,<br />

Hütteldorferstr. 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />

Freie Einkaufsgenossenschaft. Jeden Donnerstag<br />

abends bei Senior.<br />

F r e i d e n k e r - V e r e i n i g . „ F r e i e r G e d a n k e " .<br />

Öffentl. Vortrag jeden Freitag um 8 Uhr bei Schlor.<br />

W i e n , III. Die Kameraden dieses Bezirkes<br />

treffen sich jeden 2. Dienstag um 7.30 abends in<br />

Fuchs Restaurant, Rennweg 71.<br />

Graz. A r b e i t e r - B i l d u n g s - u n d U n -<br />

t e r s t ü t z u n g s - V e r e i n , versammelt sich jeden<br />

1. <strong>und</strong> 3. Samstag abends im Gasthaus „zur lustigen<br />

Röthelstoanerin" (v. Tiroler), Bahnhofgürtel<br />

Nr. 69.<br />

Marburg. A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />

versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong> 4. Mittwoch abends<br />

im Gasthaus „Zur goldenen Birn", Franz Josefstraße<br />

2.<br />

Klagenfurt. G r u p p e d e r u n a b h ä n g i -<br />

g e n S o z i a l i s t e n , versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong><br />

4. Samstag abends im Gasthaus „Zum Buchenwalde".<br />

Weijer. S o z i a l i s t i s c h e r B u n d , versammelt<br />

sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends in<br />

Bachbauers Gasthaus.


„Aber was geschieht mit den h<strong>und</strong>ert<br />

Millionen menschlichen Wesen, welche in<br />

allen Ländern wohnen <strong>und</strong> im Elend einfach<br />

verkommen? Sind das denn keine Menschen?<br />

Welchen Wert haben ihre Bürgerrechte für<br />

sie? Die Demokratie ist im Anfang des<br />

zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts also so schwach,<br />

daß sie ihren Willen nicht k<strong>und</strong>geben kann.<br />

Sind wir alle einfach Puppen, die man gegen<br />

alle ihre eigenen Interessen in abscheulichen<br />

Verrenkungen am Draht herumzerren kann?<br />

Ich habe ein großes <strong>und</strong> wachsendes<br />

Vertrauen in die natürliche Güte der großen<br />

Volksmassen. Ich glaube, daß die Arbeiterklassen<br />

auf der ganzen Welt mehr <strong>und</strong> mehr<br />

erkennen, daß sie gemeinsame <strong>und</strong> nicht<br />

entgegengesetzte Interessen haben. Ich glaube,<br />

daß das, was man die internationale Solidarität<br />

der Arbeiter nennt, berufen ist, einen<br />

ungeheuer wohltuenden Einfluß auf alle<br />

Völker der Erde auszuüben".<br />

Verfehltes Hoffen.<br />

W. Churchill.<br />

Nicht Orden, Tand <strong>und</strong> Flitter,<br />

Nicht Gold <strong>und</strong> schimmernd G'schmeid<br />

Hat mir mein rauhes Schicksal<br />

Auf meinen Pfad gestreut.<br />

Nein, arm <strong>und</strong> ruhlos schaffen<br />

Nur um das kärgliche Brot.<br />

Und eines bleibt mir eigen,<br />

Die ewig greuliche Not.<br />

Wie schwellten einst die Träume<br />

Von Glück <strong>und</strong> froher Lust,<br />

Von sonnenhellem Ruhme<br />

Die jugendliche Brust.<br />

Daß sie sich nicht erfüllen,<br />

Wird mir nun mählich klar<br />

Und andre <strong>Ziel</strong>e winken<br />

Dem armen Proletar.<br />

Die Arbeit ist geknechtet,<br />

Sie hungert <strong>und</strong> sie weint<br />

Und aller Orten lauert<br />

Ein übermächt'gei Feind.<br />

Um dieses Joch zu brechen<br />

Stell ich mich zum Gefecht<br />

Und kämpfe mit den Brüdern<br />

Für unser Menschenrecht.<br />

Anton Uhlschmidt-Schönbach.<br />

Krapotkins «Die g e g e n s e i t i g e<br />

Hilfe».*<br />

W e n n unsere G e g n e r gar keine Arg<br />

u m e n t e mehr gegen uns aufbringen können;<br />

w e n n wir ihnen bewiesen haben, daß der<br />

Anarchismus nicht aus Bombenattentaten,<br />

Morden <strong>und</strong> blutiger Verwirrung besteht;<br />

w e n n sie endlich einsehen müssen, daß die<br />

anarchistisch-kommunistische Gesellschaft,<br />

in welcher die Menschen in freier Vereinb<br />

a r u n g <strong>und</strong> brüderlichem Zusammenarbeiten<br />

leben — wo kein Mensch den anderen<br />

unterdrücken <strong>und</strong> ausbeuten kann — der<br />

einzige Zustand ist, welcher für a l l e<br />

Menschen Wohlstand, Freiheit <strong>und</strong> Glück<br />

schaffen kann; wenn nicht einmal s i e daran<br />

glauben oder es anderen einreden können,<br />

daß all dies gräßliche Elend u n d Leiden,<br />

in welchem neun Zehntel der Menschen<br />

hinsiechen, der Wille eines unendlich weisen,<br />

unendlich gerechten <strong>und</strong> guten Gottes ist;<br />

wenn, sage ich, sie mit nichts mehr die<br />

Notwendigkeit <strong>und</strong> Gerechtigkeit ihrer<br />

Herrschaft beweisen können — dann rufen<br />

sie die «Wissenschaft» zu Hilfe.<br />

«Alles, was ihr anstrebt, ist ja schließlich<br />

recht schön <strong>und</strong> gut», sagen sie, «aber<br />

leider ist es nur ein schöner T r a u m <strong>und</strong><br />

kann nie verwirklicht werden. Der Kampf<br />

u m s Dasein ist das unerbittliche <strong>und</strong> unveränderliche<br />

G r u n d g e s e t z der Natur; wir<br />

sehen, daß in jeder G a t t u n g von Tieren<br />

<strong>und</strong> Pflanzen mehr Individuen entstehen,<br />

als wie viele leben können, deshalb müssen<br />

* Das oben besprochene Buch ist in einer<br />

prächtigen Volksausgabe vom V e r l a g T h e o d o r<br />

T h o m a s , Leipzig, Talstraße 13 zum Preise von<br />

nur K 2-40 zu beziehen. Wir sind gern bereit, Bestellungen<br />

darauf zu übernehmen; in keiner Arbeiterbibliothek<br />

sollte es fehlen. — Bei dieser Gelegenheit<br />

verweisen wir auch auf eine weitere, sehr preiswürdige<br />

Volksausgabe: auf die „ M e m o i r e n e i n e s<br />

R e v o l u t i o n ä r s " , in denen unser großer Vorkämpfer<br />

Peter Krapotkin sein ereignisreiches, opfervolles<br />

Leben in überaus anziehender Klarheit schildert.<br />

Auch den Bezug dieses Werkes vermitteln wir;<br />

der Verlag R o b e r t L u t z in S t u t t g a r t verkauft<br />

dasselbe für K 4 80; das gleiche Werk kostete<br />

früher r<strong>und</strong> drei Mal so viel.


diese immerfort untereinander um ihre<br />

Existenz kämpfen; jene, die besser für diesen<br />

Kampf ausgerüstet sind, bleiben am Leben,<br />

die übrigen müssen zu G r u n d e g e h e n : der<br />

Stärkere frißt den Schwächeren <strong>und</strong> dieser<br />

wiederum den noch Schwächern, <strong>und</strong> so<br />

geht das durch die ganze Tierwelt. Auch<br />

der Mensch macht davon keine A u s n a h m e .<br />

I m Haushalt der Natur i s t n i c h t f ü r<br />

j e d e n der Tisch gedeckt, <strong>und</strong> darum ist<br />

es eine Naturnotwendigkeit, daß ein Teil<br />

der Menschen hungern <strong>und</strong> im Elend verk<br />

o m m e n muß, u n d daß die Menschen fortwährend<br />

erbittert gegen einander kämpfen<br />

müssen, daß die Sieger in diesem Kampf<br />

die Besiegten zu ihren Sklaven machen. Es<br />

war immer so <strong>und</strong> wird immer so bleiben.»<br />

Also die Reichen, die V o r n e h m e n , die<br />

Mitglieder der herrschenden Klasse; jene,<br />

die nicht fähig sind, irgend eine nützliche<br />

Arbeit zu verrichten; die nichts von dem,<br />

was sie nötig haben, selbst schaffen können,<br />

sondern in allem auf die Hilfe anderer angewiesen<br />

sind; die die Anforderungen <strong>und</strong><br />

Kämpfe des täglichen Lebens nicht einmal<br />

kennen, <strong>und</strong> die in Folge dessen körperlich<br />

<strong>und</strong> geistig verkümmert sind — d i e s e<br />

sind nach dieser angeblich «wissenschaftlichen»<br />

Theorie die S t ä r k e r e n . Und die<br />

Proletarier, die Arbeiter <strong>und</strong> Bauern, die<br />

durch ihre Arbeit a l l e i n alles zum Leben<br />

N o t w e n d i g e hervorbringen, deren Körperkraft,<br />

Handfertigkeit <strong>und</strong> Intelligenz u n s<br />

Proletarier selbst <strong>und</strong> die herrschenden<br />

«Stärkeren» (eigentlich fast nur diese!) mit<br />

Nahrung, Kleidung, O b d a c h versieht <strong>und</strong><br />

am Leben erhält — d i e s e sind die «Schwächeren»,<br />

die Besiegten im Kampf ums<br />

Dasein, <strong>und</strong> deshalb ist es ein unabänderliches<br />

Naturgesetz, daß sie von den Siegern<br />

den schmarotzenden, verweichlichten<br />

Nichtstuern — beherrscht <strong>und</strong> unterdrückt<br />

w e r d e n ! Nach dieser herrlichen Theorie ist<br />

es eine Naturnotwendigkeit, daß Millionen<br />

von Arbeiterfamilien hungern <strong>und</strong> in Lumpen<br />

g e h e n <strong>und</strong> elende Höhlen b e w o h n e n ,<br />

während sich in ihrer nächsten Nähe mit<br />

Lebensmitteln <strong>und</strong> Kleidern gefüllte Magazine<br />

<strong>und</strong> leer stehende, g e s u n d e W o h n u n g e n<br />

befinden; es ist notwendig, daß die Menschen<br />

in den Stein- <strong>und</strong> Ziegelhaufen der<br />

Großstädte zusammengepfercht leben, dieweil<br />

sich einige h<strong>und</strong>ert Schritte weiter<br />

riesige, offene, unbenutzte Landstriche ausd<br />

e h n e n ; es ist unvermeidlich, daß ein Teil<br />

der Arbeiter sich 10 <strong>und</strong> 12 oder 14 St<strong>und</strong>en<br />

täglich m ü h e n muß, während der<br />

andere Teil nicht arbeiten darf, wo doch<br />

g e n ü g e n d fruchtbares Land, W e r k z e u g e<br />

<strong>und</strong> Maschinen vorhanden sind, um allen<br />

g e s u n d e Arbeit <strong>und</strong> reichlichen Ertrag zu<br />

g e b e n ; es ist natürlich, daß Menschen, die<br />

kein anderes Interesse haben, als in friedlicher<br />

Arbeit <strong>und</strong> gutem Einvernehmen<br />

zusammen zu leben <strong>und</strong> von selbst einander<br />

nie ein Leid antun würden, einander von<br />

Zeit zu Zeit, auf den Befehl von «Vorgesetzten»<br />

mit raffiniert ausgearbeiteten Mordinstrumenten<br />

massenhaft niedermetzeln.<br />

G e g e n diese Behauptungen einer von<br />

der Bourgeoisie ausgehaltenen oder von<br />

vorurteilsvollen Gelehrten wie Virchow,<br />

Häckel usw. verkündeten Scheinwissenschaft<br />

können wir nur mit der auf vorurteilsfreier<br />

Beobachtung der Tatsachen <strong>und</strong> des Lebens<br />

beruhenden w a h r e n W i s s e n s c h a f t<br />

kämpfen. W e n n der Kampf zwischen Mensch<br />

<strong>und</strong> Mensch, die A u s b e u t u n g <strong>und</strong> Unterd<br />

r ü c k u n g eines Menschen durch den andern<br />

wirklich ein unabänderliches Naturgesetz<br />

wäre, dann wären unsere Bestrebungen<br />

nach brüderlichem Zusammenleben, nach<br />

Wohlstand <strong>und</strong> Freiheit für alle wirklich<br />

nur ein schöner Traum. W e n n wir aber<br />

das Leben betrachten, w i e e s w i r k l i c h<br />

i s t , dann sehen wir, daß in der ganzen<br />

Natur das Z u s a m m e n h a l t e n , die g e -<br />

g e n s e i t i g e H i l f e , die S o l i d a r i t ä t jene<br />

Kraft ist, welche das Bestehen <strong>und</strong> das<br />

Wohl aller lebenden W e s e n am meisten<br />

fördert. Krapotkin, der in seinem Leben<br />

von Kämpfen ergraute Vorkämpfer unserer<br />

anarchistisch - kommunistischen Bewegung,<br />

hat in seinem Buche «Gegenseitige Hilfe»,<br />

mit unermüdlichem Fleiß alle Beobachtungen<br />

<strong>und</strong> Erfahrungen gesammelt <strong>und</strong> geordnet,<br />

welche das allgemeine Vorhandensein dieser<br />

Solidarität im gesellschaftlichen Z u s a m m e n -<br />

leben der Tiere <strong>und</strong> Menschen beweisen;<br />

d a m i t h a t e r d i e n a t u r w i s s e n s c h a f t -<br />

l i c h e n G r u n d l a g e n d e s a n a r c h i s -<br />

t i s c h e n K o m m u n i s m u s n i e d e r g e l e g t<br />

u n d d e s s e n M ö g l i c h k e i t u n d N o t -<br />

w e n d i g k e i t f e s t g e s t e l l t .<br />

Den ersten Anstoß zu dieser Erkenntnis<br />

erhielt Krapotkin auf seinen Reisen durch<br />

das östliche Asien. In diesen riesigen, fast<br />

menschenleeren Landstrichen fesselten zwei<br />

Tatsachen des Tierlebens seine Aufmerksamkeit.<br />

Erstens der harte Kampf, mit welchem<br />

alle Tiere sich g e g e n das unerbittliche<br />

Klima schützen müssen <strong>und</strong> die Verwüstungen,<br />

welche Schneestürme, Kälte usw.<br />

in ihren Reihen anrichten; <strong>und</strong> zweitens,<br />

daß trotzdem nirgends der unerbittliche<br />

Kampf z w i s c h e n T i e r e n d e r s e l b e n<br />

G a t t u n g vorhanden ist, welchen die<br />

Naturforscher der alten Schule als a l l -<br />

g e m e i n e s Gesetz aufstellten. I m Gegenteil<br />

: Überall, wo die Verhältnisse es erlauben.


versammeln sich die Tiere zu gegenseitigem<br />

Schutz <strong>und</strong> Hilfe: die Wasservögel bilden<br />

an günstigen Stellen riesige Ansiedlungen,<br />

um ihre Brut in Sicherheit aufzuziehen <strong>und</strong><br />

um vereint in w ä r m e r e G e g e n d e n zu wand<br />

e r n ; die Hirsche scharen sich — vor einem<br />

Schneesturm fliehend — an einem ausgedehnten<br />

Landstrich am Ufer des Amur<br />

zusammen, um den Fluß an seiner schmälsten<br />

Stelle zu d u r c h s c h w i m m e n ; <strong>und</strong> in all<br />

diesen A n s a m m l u n g e n von Tieren sind die<br />

Beispiele von gegenseitiger Hilfe, von Zusammenwirken<br />

<strong>und</strong> Solidarität so auffällig,<br />

daß man nicht umhin kann, in diesen das<br />

stärkste Mittel zur Erhaltung, Fortpflanzung<br />

<strong>und</strong> Weiterentwicklung des Lebens zu sehen.<br />

Indem er die Frage weiter untersuchte,<br />

fand Krapotkin, daß bei allen Tierarten,<br />

welche in Vereinigungen leben, an Stelle<br />

des Kampfes zwischen den einzelnen Individuen<br />

das Z u s a m m e n w i r k e n <strong>und</strong> die gegenseitige<br />

Hilfe z u m vereinten Kampf gegen<br />

äußere Gefahren tritt; <strong>und</strong> daß dieses Zusammenhalten<br />

diesen Tierarten ein längeres<br />

<strong>und</strong> sorgenfreieres Leben, eine größere<br />

Sicherheit im Aufziehen ihrer N a c h k o m m e n<br />

gibt, was ihnen möglich macht, Erfahrungen<br />

zu sammeln, dieselben der nächsten Generation<br />

zu übermitteln <strong>und</strong> so die Intelligenz<br />

der Rasse immerfort zu steigern. Nicht die<br />

körperlich Stärksten, nicht einmal die Schlauesten<br />

sind die Sieger im «Kampf u m s<br />

Dasein», sondern jene, die sich in innigster<br />

Solidarität mit ihren G e n o s s e n <strong>und</strong> Gefährten<br />

verbinden k ö n n e n ; diese haben die größte<br />

Chance, den Gefahren zu entgehen, ihren<br />

Feinden zu trotzen <strong>und</strong> ihre G a t t u n g fortzupflanzen.<br />

Darum lebt der größte Teil der Tiere<br />

in Gesellschaftsverbänden b e i s a m m e n ; <strong>und</strong><br />

je ausgedehnter, je fester die Solidarität in<br />

diesen Verbänden ist, desto intelligenter,<br />

desto lebensfähiger ist die betreffende Trergattung.<br />

Diese Solidarität hat den Menschen<br />

zum stärksten aller Tiere gemacht, <strong>und</strong><br />

seine geistige Entwicklung ermöglicht;<br />

diese Solidarität ist es, welche sich, t r o t z<br />

d e n B e s t r e b u n g e n E i n z e l n e r , ü b e r<br />

d i e a n d e r e n z u herrschen, a n s t a t t<br />

m i t i h n e n zusammenzuwirken, immer<br />

wieder Bahn bricht u n d so das Bestehen,<br />

die Entwicklung der Menschheit sichert.<br />

Jene, die ihr eigenes Wohl durch Schädig<br />

u n g , Unterdrückung u n d A u s b e u t u n g anderer<br />

Menschen erreichen wollen <strong>und</strong> von<br />

denen ein Teil - die Herrschenden, die<br />

Reichen — auf Kosten der Übrigen ein<br />

schmarotzendes Wohlleben erreicht hat, sie<br />

sind der Krankheitsstoff in der Menschheit;<br />

die Rettung liegt darin, daß wir, die erkannt<br />

haben, daß ein brüderliches, herrschaftsloses<br />

Z u s a m m e n l e b e n der Menschen die G r u n d -<br />

b e d i n g u n g alles Wohlstandes <strong>und</strong> Glückes<br />

ist, die großen Massen der Menschheit von<br />

dieser Wahrheit überzeugen <strong>und</strong> u n s nicht<br />

länger der Autorität <strong>und</strong> der Macht jener<br />

unterwerfen.<br />

Krapotkins Buch bietet uns eine der<br />

stärksten Waffen dar, um unsere Überz<br />

e u g u n g <strong>und</strong> unsere Fähigkeit, a n d e r e zu<br />

überzeugen, zu festigen. Jeder Arbeiter<br />

müßte das Buch lesen! Leider sind heute<br />

sogar zwei Kronen oft mehr, als ein Proletarier<br />

für ein Buch ausgeben kann. Aber<br />

hier gilt es, das Prinzip der gegenseitigen<br />

Hilfe sofort im praktischen Leben zu betätigen<br />

! W e n n sich vier bis fünf Leute<br />

z u s a m m e n t u n , um das Buch zu kaufen <strong>und</strong><br />

es g e m e i n s a m oder einer nach d e m anderen<br />

zu lesen, so beträgt das Opfer dafür für<br />

jeden nur 48 bis 60 Heller; die kann jeder<br />

erschwingen, der den Willen hat, sich zu<br />

einem tüchtigen Kämpfer für seine eigene<br />

Befreiung auszubilden. Und indem wir so<br />

handeln, verwirklichen wir jn unserem Leben<br />

schon jetzt die Gr<strong>und</strong>lage, die Verheißung<br />

einer neuen, glücklichen Gesellschaft: N i c h t<br />

j e d e r f ü r s i c h a l l e i n , s o n d e r n a l l e<br />

z u s a m m e n — z u m W o h l e e i n e s<br />

j e d e n !<br />

Du sollst nicht ehebrechen!*<br />

Von P a s t o r E r n s t B a a r s , Vegesack.<br />

Text: Matth. 5, 2 7 - 3 2 .<br />

Freilich, die Ansicht, welche Jesus <strong>und</strong><br />

unter Berufung auf ihn die christliche<br />

Kirche bis auf den heutigen T a g vertritt,<br />

k ö n n e n wir, die wir ganz anders ü b e r die<br />

Dinge des Diesseits urteilen, nicht mehr<br />

als berechtigt anerkennen. Es soll freilich<br />

nicht geleugnet werden, daß die strenge<br />

Bekämpfung der Sinnlichkeit als Unsittlichkeit,<br />

angesichts der entsetzlichen Zustände,<br />

die zur Zeit der Entstehung d e s Christentums<br />

herrschten, erklärlich <strong>und</strong> berechtigt<br />

war. So lange man in d e m W e i b e den<br />

Teufel, in der Sinnlichkeit die Quelle aller<br />

S ü n d e sah, war es natürlich, die Ehe nur<br />

als Notbehelf <strong>und</strong> die Sinnlichkeit als<br />

solche für unheilig <strong>und</strong> verderblich anzusehen.<br />

»Es ist dir besser, daß eines deiner<br />

* Obiges ist ein Teil einer in der Kirche zu<br />

Vegesack gehaltenen, außerordentlich bemerkenswerten<br />

Predigt, die ein von Kirchendogmatik freier<br />

Geist vortrug. Wir entnehmen die Reproduktion<br />

der tapfer redigierten Zeitschrift „Die neue Generation",<br />

Publikationsorgan des B<strong>und</strong>es für Mutterschutz<br />

in Berlin, Jahrg. 4, Heft 10.


Glieder verloren gehe, als daß dein ganzer<br />

Leib in die Hölle komme«. Dies Wort<br />

zeigt uns, wie völlig anders wir denken<br />

als Jesus <strong>und</strong> die Christen der Vergangenheit.<br />

M a g auch ihre strenge, asketische<br />

Lebensauffassung anfangs eine Versittlichung<br />

der Menschheit erzeugt haben, die Folg<br />

e r u n g aus ihr, das Klosterleben <strong>und</strong> die<br />

e r z w u n g e n e Ehelosigkeit der Priester, hat<br />

bald g e n u g das g e n a u e Gegenteil gezeitigt.<br />

Die Verletzung der Keuschheitsgebote war<br />

eine alltägliche Erscheinung; aber der<br />

schlimmste Schade war, daß die Sinnlichkeit<br />

als solche gebrandmarkt wurde. Die<br />

Natur läßt sich ungestraft keine Vergewaltigung<br />

gefallen, alles Naturwidrige wird<br />

z u m Fluch. Wir wissen, wie es heute noch,<br />

auch bei den ernsten Menschen, fast unmöglich<br />

ist, über das Geschlechtsleben<br />

offen zu reden. Ja! das W o r t allein erregt<br />

Anstoß. Das aber ist unnatürlich <strong>und</strong> widergöttlich.<br />

Darum stellen wir die F o r d e r u n g<br />

auf: Ihr sollt auch hier das Natürliche mit<br />

reinen A u g e n betrachten <strong>und</strong> auch die<br />

S i n n l i c h k e i t a l s e i n e G o t t e s g a b e<br />

ansehen lernen. Sagt Jesus: »Wer ein Weib<br />

ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon<br />

die Ehe gebrochen in seinem Herzen«, so<br />

sagen wir: » D i e s i n n l i c h e L i e b e i s t<br />

a n u n d f ü r s i c h n i c h t s S c h ä n d -<br />

l i c h e s . Du sollst sie kennen <strong>und</strong> werten<br />

lernen als das gewaltigste Naturgebot, das<br />

erfüllt w e r d e n m u ß um der Erhaltung des<br />

Menschengeschlechts willen. Du sollst in<br />

der Liebe der Geschlechter zueinander nichts<br />

Unreines sehen, sondern den mächtigsten<br />

Naturtrieb, der nicht umsonst Dichter, Maler,<br />

Bildner <strong>und</strong> Meister der T ö n e zu ihren<br />

herrlichsten W e r k e n begeistert hat. D u<br />

s o l l s t d i r n i c h t v o n d e r K i r c h e<br />

v o r r e d e n l a s s e n , d a ß d a s W e i b<br />

d i e V e r s u c h u n g u n d L i e b e n u r<br />

d a n n e r l a u b t s e i , w e n n s i e s i c h<br />

d e n G e s e t z e n u n d d e r S i t t e b e u g t .<br />

I m G e g e n t e i l , G e s e t z u n d S i t t e<br />

h a b e n i h r z u g e h o r c h e n . D u sollst<br />

aber deine Sinnlichkeit, wie alle deine<br />

Triebe, unter deinen Willen b e u g e n <strong>und</strong><br />

sie dadurch veredeln. Du sollst deine<br />

Kinder rechtzeitig aufklären <strong>und</strong> ihnen das<br />

Verständnis für den heiligsten Trieb des<br />

Leibes <strong>und</strong> der Seele erschließen. Und<br />

sollst dich rein erhalten, ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> kraftvoll<br />

um deiner n e u g e b o r e n e n Kinder willen.<br />

Du sollst in der Liebe nicht einen tierischen<br />

G e n u ß , sondern ein hohes, heiliges Himmelsgeschenk<br />

sehen, du sollst sie <strong>und</strong> dich<br />

nicht erniedrigen, indem du Geschlechtsg<br />

e n u ß suchst o h n e Liebe. Sei es in der<br />

Ehe o d e r außerhalb der Ehe«. D e n n wir<br />

wollen nicht die Sinnlichkeit verachten <strong>und</strong><br />

dadurch in den Schmutz zerren, wie es<br />

heute trotz Christentum <strong>und</strong> in der Christenheit<br />

geschieht, sondern wir wollen sie<br />

veredeln <strong>und</strong> vertiefen um der k o m m e n d e n<br />

Menschheit willen.<br />

Wir wandeln auf der Höhe. Entsetzlich<br />

ist die Not da unten, <strong>und</strong> unsäglich schwer<br />

ist es, zu höheren A n s c h a u u n g e n <strong>und</strong> edlerer<br />

Sitte, zu w a h r e r Sittlichkeit zu gelangen.<br />

Es wird noch lange dauern, bis die<br />

Stimmen derer, die h ö h e r e <strong>Ziel</strong>e erkannt<br />

haben <strong>und</strong> weisen, auch nur gehört werden.<br />

Aber wir glauben doch, daß auch hier<br />

die Menschheit aufwärts strebt <strong>und</strong> dem<br />

<strong>Ziel</strong>e näher kommt.<br />

»Du sollst nicht ehebrechen« — sondern<br />

eine Ehe wollen, d i e o h n e G e -<br />

s e t z u n d Z w a n g s i c h a u f b a u t a u f<br />

w a h r e r L i e b e , <strong>und</strong> Mann <strong>und</strong> Weib<br />

adelt <strong>und</strong> stärkt für den Aufstieg zu reinerer,<br />

edlerer Menschlichkeit! Amen.<br />

Vom Büchertisch.<br />

Olga Saweljeff. V o n L i e b e u n d R a s s e n -<br />

v e r b e s s e r u n g ; e i n e T e n d e n z n o v e l l e a u s<br />

d e m R u s s i s c h e n . Verlag A. Plessner, Berlin N.<br />

N. 23 Brückenalle 21. Preis 20 Pf. Der Inhalt dieser<br />

launigen Schrift ist an Tendenz ein ganz anregend<br />

verfaßter Protest gegen jede dogmatisch aufgefaßte<br />

sexuelle Zuchtwahl, weist überdies dar, daß, wie<br />

mächtig der Verstand auf diesem Gebiete auch<br />

klügeln mag, er stets überboten wird von der<br />

stärkeren Stimme des Gefühls. Ein empfehlenswertes<br />

Schriftchen.<br />

Leon Holly. K e t t e n k l i r r e n ; G e d i c h t e<br />

u n d E r z ä h l u g e n a u s d e m G e f ä n g n i s . Verlag<br />

der „Tribüne", Berlin. Das Buch eines durch<br />

reichsdeutsche Justizbarbarei ins „Totenhaus" geworfenen<br />

Menschen. Aus diesen Seiten tönt wirklich<br />

echtes Kettenklirren entgegen, <strong>und</strong> es sind für jeden<br />

Eingeweihten gekannte Klänge <strong>und</strong> Worte, die er<br />

vernimmt. Manches in dem Buche ist künstlerisch<br />

gediegen, wenig mutet höchstens der oberflächlich<br />

scherzhafte Ton an, den es ganz zuletzt anschlägt<br />

<strong>und</strong> der kaum zu der zu Herzen gehenden Sprache<br />

eines Verkünders paßt, der in dem ersten Teil des<br />

Buches zu uns spricht. Durch die Fre<strong>und</strong>lichkeit<br />

des Verlegers sind wir in den Stand gesetzt, das<br />

Buch, das im Buchhandel Mk. 2 kostet, an unsere<br />

Leser für Mk. 1 abzugeben, <strong>und</strong> wir fordern sie auf,<br />

sich dieses Angebotes eifrig zu bedienen.<br />

T . Luitjes. A n a r c h i s m u s u n d G e n e r a l -<br />

s t r e i k . Verlag G. Rijnders, Amsterdam, Van der<br />

Hoopstraat 105. Holland. Einzelpreis 15 Pf. Bei<br />

Mehrbezug von mindestens 25 Stück K 2-70 ö. VV.<br />

Eine populäre Agitationsschrift.<br />

I n e n g l i s c h e r S p r a c h e :<br />

Emma Goldman. D e r P a t r i o t i s m u s a l s<br />

G e f a h r f ü r d i e F r e i h e i t . New-York; 210 East<br />

13. Str. 10 Cent.<br />

William C . Owen. A n a r c h i e u n d S o -<br />

z i a l i s m u s . 5 Cents. Im gleichen Verlag.


G e g e n d e n K r i e g !<br />

An die serbischen, österreichischen,<br />

ungarischen, tschechischen, bulgarischen<br />

<strong>und</strong> kroatischen K a m e r a d e n !<br />

An die Arbeiter aller Nationalitäten!<br />

Kameraden!<br />

Die Arbeiter haben überall dieselben<br />

Interessen. <strong>Unser</strong>e Pflicht als Arbeiter ist<br />

es, der Kapitalistenklasse zu beweisen, daß<br />

die Vorurteile der G r e n z e n zwischen den<br />

Völkern u n d den feindseligen Rassen verschwinden,<br />

um einem g r o ß e n <strong>und</strong> offenherzigen<br />

Gefühl des Internationalismus Platz<br />

zu machen.<br />

Wir müssen u n s vereinigen, um die<br />

lügnerischen Gerüchte der tendenziösen<br />

Nachrichten zu bekämpfen, welche von den<br />

Agenten der interessierten Staaten ausgestreut<br />

<strong>und</strong> von der ganzen Presse wiedergegeben<br />

werden.<br />

Darum haben die in Paris lebenden<br />

jungslavischen Kameraden es für n o t w e n d i g<br />

gef<strong>und</strong>en, die V e r l e u m d u n g e n zurückzuweisen,<br />

welche im Z u s a m m e n h a n g mit der<br />

bosnischen Frage behaupten, daß die serbischen<br />

A r b e i t e r den österreichischen<br />

A r b e i t e r n g e g e n ü b e r eine nationalistische<br />

<strong>und</strong> feindselige Stellung einnehmen.<br />

D a s i s t n i c h t w a h r !<br />

Die serbischen Arbeiter wissen, daß<br />

die Herrschaft der Regierungen, ob österreichisch<br />

o d e r serbisch, sie immer unter<br />

das Joch d e s Kapitalismus z w i n g e n wird.<br />

Die serbischen Arbeiter hegen gegen die<br />

österreichischen Arbeiter nur die innigsten<br />

Solidaritätsgefühle.<br />

Wir serbischen Arbeiter haben kein<br />

Interesse an irgend einem äußeren Krieg;<br />

unsere Zukunft liegt auf der Bahn der<br />

wirtschaftlichen Befreiung des Proletariats,<br />

die vollständige Freiheit aller Arbeiter ist<br />

<strong>und</strong> durch die s o z i a l e R e v o l u t i o n errungen<br />

w i r d ! Wir entbieten den österreichischen<br />

Sozialisten, Anarchisten <strong>und</strong> Arbeitern<br />

unsere herzlichsten B r u d e r g r ü ß e !<br />

Die „Balkanfrage" <strong>und</strong> das Proletariat.<br />

Die Gefahr eines Krieges schwebt<br />

gegenwärtig immerfort über uns. Von heut<br />

auf morgen können wir darauf gefaßt sein,<br />

daß tausende von g e s u n d e n Arbeiter- <strong>und</strong><br />

Bauernburschen nach Bosnien, Serbien oder<br />

Mazedonien geschickt werden, um dort<br />

andere Menschen zu töten <strong>und</strong> von denen<br />

getötet zu w e r d e n . W a s haben die ihnen<br />

getan? Nichts. W a r u m müssen sie auf diese<br />

schießen <strong>und</strong> ihr eigenes Leben aufs Spiel<br />

setzen? Keiner von ihnen weiß es. Der Dienst<br />

des Vaterlandes ruft sie, <strong>und</strong> sie glauben<br />

ihre Soldatenpflicht erfüllen zu müssen . . .<br />

Wir aber müssen der Sache doch ein<br />

wenig mehr auf den G r u n d gehen.<br />

In der Türkei herrschten bis vor kurzem<br />

der Sultan Abdul Hamid <strong>und</strong> seine<br />

Höflinge mit u n u m s c h r ä n k t e r Gewalt. Dazu<br />

brauchten sie viel Geld, <strong>und</strong> es fanden sich<br />

natürlich viele ausländische Geschäftsleute,<br />

denen es sehr a n g e n e h m war, ihnen dieses<br />

Geld auf h o h e Zinsen zu leihen. Die Zinsen<br />

wurden freilich aus den grausam erpreßten<br />

Steuern des arbeitenden Volkes aufgebracht.<br />

Um den pünktlichen E i n g a n g dieser Steuern<br />

<strong>und</strong> Bezahlung der Schulden zu überwachen,<br />

bildeten die Gläubiger ein Aufsichtskomitee<br />

über den Sultan <strong>und</strong> seine<br />

Verwaltung; <strong>und</strong> da es zum größten Teil<br />

englische <strong>und</strong> französische Geschäftsleute<br />

waren, so waren die Gesandten des englischen<br />

<strong>und</strong> französischen Staates die wichtigsten<br />

Mitglieder dieses Komitees.<br />

Diese Herren b e n a h m e n sich aber<br />

immer mehr als die wahren Beherrscher<br />

des Landes, u n d das w u r d e d e m Sultan<br />

schließlich u n b e q u e m . Er b e g a n n fre<strong>und</strong>schaftliche<br />

Beziehungen mit d e m Gesandten<br />

Deutschlands anzuknüpfen, der natürlich<br />

Beschützer <strong>und</strong> Vertreter der d e u t s c h e n<br />

Unternehmer u n d Geschäftsleute ist. Von<br />

dem Augenblick an bekamen die deutschen<br />

Fabrikanten die Bestellungen auf Kanonen,<br />

Lokomotiven usw. <strong>und</strong> die Eisenbahnkon-<br />

zessionen, welche bisher von englischen<br />

<strong>und</strong> teilweise französischen Geschäftshäusern<br />

ausgeführt w u r d e n . D a g e g e n empörte sich<br />

das patriotische Gefühl der englischen <strong>und</strong><br />

französischen Kapitalisten; daß der Sultan<br />

100.000 Armenier niedermetzeln ließ, konnte<br />

man ihm schließlich verzeihen; aber a n d e re<br />

Profit einsacken zu lassen das w a r zu<br />

viel! Sie verspürten plötzlich g r o ß e Sympatie<br />

mit der jungtürkischen Partei, welche,<br />

als Partei des Gr<strong>und</strong>besitzes <strong>und</strong> der radikalen<br />

Bourgeoisie, bestrebt war, in der<br />

Türkei eine liberale Verfassung, nach d e m<br />

Muster der übrigen »zivilisierten Staaten«<br />

E u r o p a s einzuführen. Die Jungtürken entfalteten<br />

plötzlich — von englischem <strong>und</strong><br />

französischem Gelde unterstützt — eine<br />

rührige P r o p a g a n d a vermittels g e h e i m e r<br />

Flugschriften <strong>und</strong> Zeitungen, Zur selben<br />

Zeit erhielten die türkischen T r u p p e n <strong>und</strong><br />

Offiziere ihre Besoldung immer regelmäßiger<br />

— das war das W e r k der englischen<br />

<strong>und</strong> französischen Offiziere, denen<br />

der Sultan die Ausbildung seiner Armee<br />

übertragen hatte. Das Militär hörte nun<br />

gern auf die V e r s p r e c h u n g e n der Jungtürken,<br />

die »bessere Zustände« schaffen<br />

sollten, <strong>und</strong> als dieselben die Revolution<br />

ausriefen, <strong>und</strong> die Beamten des Sultans<br />

verjagten, schloß die A r m e e sich dieser<br />

»Revolution« an. Der Sultan mußte eine<br />

Verfassung g e w ä h r e n <strong>und</strong> ein Parlament<br />

zusammenrufen, die Jungtürken kamen an<br />

die Regierung, <strong>und</strong> seitdem ist die Türkei<br />

ein ebenso »freies« Land, wie die übrigen<br />

europäischen Staaten. Die Gesandten von<br />

England <strong>und</strong> Frankreich waren glücklich<br />

darüber, denn sie sind ja Fre<strong>und</strong>e der Freiheit<br />

<strong>und</strong> des Fortschrittes — i h r e s G e -<br />

s c h ä f t e s , u n d sie haben es gern, w e n n<br />

die türkischen Bestellungen in ihren vaterländischen<br />

Fabriken g e m a c h t werden, statt<br />

in den deutschen <strong>und</strong> österreichischen.<br />

Umso unzufriedener ist aber der Gesandte<br />

von Deutschland; auch er ist zwar<br />

ein Fre<strong>und</strong> der konstitutionellen »Freiheit«,<br />

aber er befürchtet, daß unter der Regierung<br />

der Jungtürken die U n t e r n e h m e r Deutschlands<br />

<strong>und</strong> des ihm befre<strong>und</strong>eten Österreichs<br />

in der Türkei nicht m e h r so gute Geschäfte<br />

machen können, wie zu Zeiten ihres Schützlinges<br />

Abdul Hamid. W a s tun, um den<br />

Jungtürken eine Ohrfeige zu versetzen <strong>und</strong><br />

sie beim Volke mißliebig zu m a c h e n ?<br />

Österreich m u ß dem reichsdeutschen<br />

Staat <strong>und</strong> Kapital diesen Dienst erweisen;<br />

es annektiert Bosnien <strong>und</strong> H e r z e g o w i n a —<br />

welche, dem Namen nach türkisch, ihm<br />

tatsächlich schon seit 30 Jahren gehören —;<br />

<strong>und</strong> mit der Einwilligung Deutschlands <strong>und</strong><br />

Österreichs proklamiert der Fürst von Bulgarien<br />

die Unabhängigkeit dieses Landes<br />

von der Türkei — welche ebenfalls in Wirklichkeit<br />

schon seit 30 Jahren besteht, gleichzeitig<br />

auch sein Zarat. All dies genügt, daß<br />

die alttürkische. Partei wieder mächtig wird<br />

<strong>und</strong> nun den Jungtürken vorwerfen kann,<br />

daß diese durch die Revolution die Verletzung<br />

der Nationalehre <strong>und</strong> der Einheit<br />

des Vaterlandes herbeigeführt haben. Dadurch<br />

w e r d e n sie ihren Einfluß auf das<br />

sehr patriotisch gesinnte Volk verlieren;<br />

man wird sie von der Regierung wegjagen<br />

<strong>und</strong> die Macht des Sultans wieder herstellen,<br />

<strong>und</strong> dann w e r d e n die Bestellungen<br />

wieder den deutschen <strong>und</strong> österreichischen<br />

Geschäftsleuten zufließen!<br />

Das ist der Kern der ganzen gegenwärtigen<br />

»Balkanfrage«. Der Krieg ist ein<br />

Mittel dazu, u m z u entscheiden, w e l c h e<br />

G r u p p e v o n K a p i t a l i s t e n diesen oder<br />

jenen Markt ausschließlich beherrschen soll.<br />

Dazu gesellen sich auch nationale<br />

Streitigkeiten, die wir ebenfalls von nnserem<br />

Standpunkt Revue passieren lassen wollen.<br />

Vor vierh<strong>und</strong>ert Jahren sind die Türken<br />

von Asien h e r ü b e r g e k o m m e n <strong>und</strong> haben<br />

die Balkanländer erobert. Sie unterwarfen<br />

sich die reichen Großgr<strong>und</strong>besitzer <strong>und</strong><br />

Regierenden, welche das arbeitende Volk<br />

jener Länder ausbeuteten. D o c h sie assimi-<br />

lierten sich nicht mit den Eroberten, sondern<br />

sie unterhielten nur G o u v e r n e u r e <strong>und</strong><br />

T r u p p e n in den unterworfenen Provinzen<br />

— auf Kosten der Bauern <strong>und</strong> Arbeiter,<br />

natürlich. Aber auch die Griechen, Bulgaren,<br />

Serben etc., behielten ihre nationale<br />

Eigenart; die Reichen unter ihnen blieben<br />

reich, <strong>und</strong> die A r m e n blieben arm; nur<br />

daß die großen, gutbezahlten Beamtenstellen<br />

aus den H ä n d e n der reichen Griechen,<br />

Serben etc., in die H ä n d e der reichen<br />

Türken übergingen. Da kam am E n d e<br />

des XVIII. J a h r h u n d e r t s die g r o ß e französische<br />

Revolution, welche verkündete, daß<br />

jedes Volk das Recht habe, sich selbst zu<br />

regieren. Alle die Prinzen, G r o ß g r u n d -<br />

besitzer <strong>und</strong> reichen Geschäftsleute der<br />

unterworfenen Völkerschaften kamen dadurch<br />

auf den G e d a n k e n , daß, wenn sie<br />

die Türken verjagten, sie dadurch wieder<br />

das ausschließliche Recht zur A u s b e u t u n g<br />

der Bauern <strong>und</strong> Arbeiter ihres Landes, sowie<br />

zu den einträglichen Stellungen erhalten<br />

können. Mit der nicht eben uneigennützigen<br />

Hilfe der herrschenden Klassen einiger<br />

europäischen Staaten fingen sie an. den<br />

armen Teufeln ihrer Länder die S e g n u n g e n<br />

der »Freiheit« u n d nationalen U n a b h ä n g i g -<br />

keit anzupreisen; sie bewaffneten sie, <strong>und</strong><br />

die Türken w u r d e n aus beinahe allen ihren<br />

europäischen Besitzungen v e r d r ä n g t ; Griechenland,<br />

Serbien, Rumänien <strong>und</strong> nun zuletzt<br />

Bulgarien, w u r d e n zu «unabhängigen»<br />

Staaten. A b e r die Türkei hatte noch eine<br />

Provinz in E u r o p a behalten; es ist dies<br />

Mazedonien, welches zwischen Serbien,<br />

Bulgarien <strong>und</strong> Griechenland liegt, von den<br />

Nationen dieser drei Länder bevölkert ist<br />

<strong>und</strong> den großen Vorteil hat, einen guten<br />

Hafen am Mittelländischen Meer Salonichi<br />

— zu besitzen. D a h e r der erbitterte<br />

W e t t b e w e r b zwischen serbischen, bulgarischen<br />

<strong>und</strong> griechischen G r o ß g r u n d b e s i t z e r n<br />

<strong>und</strong> G r o ß h ä n d l e r n , den dieselben geschickt<br />

zum nationalen H a ß zwischen den betreffenden<br />

Völkern anfachen: w e l c h e r S t a a t<br />

s o l l n a c h V e r t r e i b u n g d e r T ü r k e n<br />

M a z e d o n i e n u n d S a l o n i c h i b e s i t z e n ?<br />

Die österreichische Regierung, als Beschützerin<br />

der Geschäftsinteressen der<br />

österreichischen u n d deutschen Fabrikanten<br />

<strong>und</strong> U n t e r n e h m e r sagt: »Keiner von euch<br />

soll es haben, denn ich b r a u c h e es selber.«<br />

Indem sie das von Serben b e w o h n t e Bosnien<br />

annektierte, n a h m sie nicht nur d e m<br />

serbischen Staate einen Teil seiner erhofften<br />

Untertanen weg, sondern machte auch einen<br />

großen Schritt weiter auf dem W e g e nach<br />

Salonichi. Daher die neuliche Entrüstung<br />

<strong>und</strong> die kriegerischen Erklärungen der serbischen<br />

Regierung.<br />

Natürlich wird das griechische, serbische<br />

<strong>und</strong> bulgarische a r b e i t e n d e V o l k (nicht<br />

die herrschenden Klassen) in seinen »unabhängigen«<br />

u n d erweiterten »Vaterländern«<br />

e b e n s o elend u n d versklavt sein, als unter<br />

jeder a n d e r e n Herrschaft. Es scheint aber,<br />

daß die Völker diese Wahrheit immer auf<br />

eigene Kosten lernen müssen, u n d daß das<br />

Bestreben nach nationaler Unabhängigkeit<br />

eine Stufe ist, die überschritten w e r d e n<br />

muß, um das Geistesniveau endgiltiger Befreiung<br />

vom Staat u n d Kapitalismus, die<br />

soziale Revolution zu erreichen. Die Mehrzahl<br />

der europäischen Völker hat auch die<br />

nationalen Kämpfe glücklicherweise schon<br />

hinter sich, nur Österreich-Ungarn als rückschrittliche<br />

Staaten haben sie noch reichlich.<br />

Aber w e n n sich die Leute in ihrer<br />

Unvernunft d e m n ä c h s t auf d e m Balkan die<br />

Köpfe einhauen wollen — w a s g e h t d a s<br />

u n s a n ? W e s h a l b sollen wir z u m Profit<br />

einiger Kapitalisten unsere Haut zu Markte<br />

tragen? Denn eins haben die obigen Ausführungen<br />

gezeigt: es handelt sich in der<br />

Balkanfrage um kein Ideal irgendwelcher<br />

Autonomie, sondern einzig <strong>und</strong> allein um<br />

das Profitinteresse des Geldsacks. M ö g e n<br />

sich die Kapitalisten darob gegenseitig die<br />

Schädel einrennen — uns ließe die ganze<br />

Sache kühl bis ans Herz hinan.


Der Antimilitarismus<br />

a l s<br />

T a k t i k d e s A n a r c h i s m u s .<br />

Von Pierre R a m u s .<br />

Referat, gehalten auf d e m internationalen Amsterdamer Kongreß<br />

der »Internationalen antimilitaristischen Assoziation«<br />

am 30. <strong>und</strong> 31. August 1007.<br />

(Fortsetzung.)<br />

Ganz abgesehen davon, daß diese Demagogen es doch sehr wohl<br />

wissen, daß sie nicht einmal mit dieser Farce <strong>und</strong> Travestierung jeder antimilitaristischen<br />

Gesetzesbeeinflussung durchdringen — ganz abgesehen davon,<br />

fragen wir: I s t d i e s A n t i m i l i t a r i s m u s ? Verlohnt es sich für den<br />

Proletarier, dafür zu kämpfen, sich ins Schlepptau solch rein bürgerlicher<br />

Forderungen nehmen zu lassen? Wir müssen dies auf das entschiedenste<br />

verneinen. Es ist dies dieselbe Politik, die die Staaten- <strong>und</strong> Friedensideologen<br />

im Haag betrieben haben, eine Politik, die nichts zu tun hat mit der<br />

Befreiung des Proletariats vom Moloch des Militarismus.<br />

Resümieren wir kurz: Der Antimilitarismus der Sozialdemokratie ist<br />

die Heuchelei ehrgeiziger Politiker. Seine Verwirklichung würde n i c h t Abschaffung<br />

des Militarismus bedeuten, sondern nur V e r ä n d e r u n g seiner<br />

Formen <strong>und</strong> seiner Funktionen; heute beherrscht <strong>und</strong> geleitet von einer „kapitalistischen<br />

Oligarchie", würde der Militarismus, im Triumphesfalle der Sozialdemokratie<br />

in Milizform verwandelt, beherrscht <strong>und</strong> dirigiert werden<br />

von den demokratisch-proletarischen Herrschern des sozialdemokratischen<br />

Zukunftsstaates, die an Unduldsamkeit, Herrschsucht <strong>und</strong> Willkür in nichts<br />

den gegenwärtig Herrschenden nachgeben <strong>und</strong> in deren demagogischen<br />

Händen der Militarismus ganz ebenso eine Macht zur Niederhaltung jeder<br />

ihrer Herrschaft gefährlichen Volksbewegung wäre, wie es auch gegenwärtig<br />

der Fall ist.<br />

IV.<br />

Der Antimilitarismus als Taktik des flnardiismus.<br />

Vorstehend haben wir die Gesamtidee <strong>und</strong> Bewegung des Antimilitarismus<br />

kennen gelernt. Wir haben die Entstehung des Militarismus, wie auch<br />

der ihm widerstrebenden Tendenzen historisch verfolgt, haben die verschiedenen<br />

taktischen Mittel aller Friedensbewegungen geprüft <strong>und</strong> gelangen nun<br />

zum Ergebnis unserer Untersuchung.<br />

Auf dem Höhepunkt dieser Untersuchung handelt es sich darum, zu<br />

zeigen, in wie ferne die Anarchisten den einzig logischen Antimilitarismus<br />

vertreten.<br />

Als Anarchisten fassen wir den Militarismus nicht auf als eine gesonderte<br />

Erscheinung des kapitalistisch-staatlichen Lebens, sondern als eine<br />

Hauptäußerung der Macht dieses ganzen Lebenssystemes der staatlichen <strong>und</strong><br />

wirtschaftlichen Gewalt überhaupt.* Wohl richten wir unsere Angriffe, wenn<br />

wir von antimilitaristischer Aktion reden, vornehmlich auf den Militarismus,<br />

aber nur, weil er in eklatantester Weise das Gewaltsprinzip als den Leitfaden<br />

aller Wesensbetätigungen dieser Gesellschaft aufwirft. Sonst ist unser<br />

Antimilitarismus ein u n i v e r s a l e r , ganz wie, um Proudhon zu paraphrasieren,<br />

unser Atheismus ein universaler ist. Als anarchistische Antimilitaristen<br />

bekämpfen wir nicht nur das stehende Heer, sondern auch die G e s a m t -<br />

organisation aller Gewaltsfunktionen. Wir bekämpfen einheitlich jede bewaffnete<br />

Gewalt im bestehenden Gesellschaftslebens, also auch die Gendarmerie,<br />

das stehende Heer von Gefängnis- <strong>und</strong> Zuchthauswächtern; wir bekämpfen<br />

das Heer der Justiz: Richter, Staatsanwälte, weil alle ihre Funktionen sich<br />

auf Gewalt — wir erinnern „nur" an den Scharfrichter! — begründen. Kurz,<br />

wir bekämpfen die G e s a m t o r g a n i s a t i o n d e s S t a a t e s , der j a<br />

nichts anderes ist, als das Haupt eines in Waffen starrenden Militarismus. —<br />

In diesem direkten, unmittelbaren Aufklärungskampfe <strong>und</strong> dessen rein geistiger<br />

Führung wider den Militarismus als Staat sind wir Anarchisten. So ist der<br />

Militarismus <strong>und</strong> seine Aktionen nicht nur im Sinne der Abwehr <strong>und</strong> des<br />

Angriffes zu erwägen, wie dies die Sozialdemokratie tut; vielmehr ist der<br />

Militarismus: — die heutige Gesellschaft <strong>und</strong> alle Prinzipien, auf denen sie fußt.<br />

Wir sind Antipatrioten, weil wir dje der Macht, der kriegerischen Willkür<br />

<strong>und</strong> Vergewaltigung entsprungenen, von den Nationalstaaten gezogenen<br />

Grenzen nicht anerkennen. Die jenseits der sog. Grenzen weilen <strong>und</strong> arbeitend<br />

sich ausbeuten lassen müssen, unterdrückt sind, sie alle sind unsere Brüder<br />

<strong>und</strong> Kampfesgefährten. Zwei Welten gibt es, <strong>und</strong> die sind unverrückbar <strong>und</strong><br />

unüberbrückbar von einander getrennt: die Welt der versklavten Arbeit <strong>und</strong><br />

jene der schmachvoll handelnden Tyrannei <strong>und</strong> Ausbeutung. <strong>Unser</strong> Vaterland<br />

ist nicht zu bezeichnen durch den Boden unserer Geburt, nicht durch den<br />

Namen eines Landes, nicht durch die Sprache einer Rasse oder Nation;<br />

unser Vaterland, um Dantes Worte zu erweitern, ist die Welt der Not, des<br />

Elends, des Leides. Sie zu erlösen von all dem Schändenden das auf ihr<br />

lastet, das ist der einzige Krieg, den wir anerkennen. Die Kampfesbegeisterung<br />

für ihn, das ist unser Patriotismus.<br />

* *<br />

*<br />

Wenn wir uns den praktischen Kampfesmitteln zuwenden, welche wir,<br />

die anarchistischen Antimilitaristen besitzen, fallen uns zwei Gruppierungen von<br />

Aktionstendenzen in die Augen. Es sind dies die Kampfesmittel, die einerseits<br />

die französische revolutionäre Gewerkschaftsbewegung anerkennt, die<br />

anderseits von der „Internationalen antimilitaristischen Assoziation" aufgestellt<br />

wurden. Es sind u. a. folgende:<br />

I . D i e T a k t i k d e r f r a n z ö s i s c h e n r e v o l u t i o n ä r e n G e -<br />

w e r k s c h a f t e n . Sie besteht:<br />

a) aus dem Soldatengroschen <strong>und</strong> allgemeiner Solidarität gegenüber<br />

Soldaten <strong>und</strong> Kameraden;<br />

b) aus öffentlicher Propaganda in aufrüttelndem Sinne.<br />

II. Die Resolutionsbeschlüsse der antimilitaristischen „Internationale";<br />

dieselben zerfallen in:<br />

* In s e i n e r B e s p r e c h u n g d e s L i e b k n e c h t s c l i e n B u c h e s ä u ß e r t sich Robert Michel (»Le<br />

M o u v e m e n t S o c i a l i s t e " , P a r i s , S e p t e m b e r 1907) gegen d e s Verfassers A n n a h m e , es g ä b e<br />

zweierlei Antimilitarismen, den a n a r c h i s t i s c h e n <strong>und</strong> den s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n . Michels b e -<br />

kämpft d i e s e n S t a n d p u n k t u n d s a g t : „Der Antimilitarismus ist wesentlich eine K a t e g o r i e d e s<br />

Arbeiters, p r o l e t a r i s c h , revolutionär, <strong>und</strong> hat w e d e r mit der m a r x i s t i s c h e n Doktrin n o c h mit<br />

den T h e o r i e n von B a k u n i n o d e r J e a n G r a v e irgend e t w a s zu t u n . Der A n t i m i l i t a r i s m u s ist<br />

einheitlich u n d unteilbar, g a n z wie . . . die revolutionäre A r b e i t e r b e w e g u n g . . ."<br />

D i e s e g a n z e Auffassung ist falsch.<br />

Der Antimilitarismus ist n i c h t s als e i n e s der vielen Mittel, e i n e der t a k t i s c h e n<br />

M e t h o d e n des sozialen Kampfes wider den Staat <strong>und</strong> Kapitalismus, oftmals a u c h ihren A u s -<br />

w ü c h s e n . Inwiefern sich sein Kampf m i t d e m W e s e n s e i n e r K a m p f e s o b j e k t e befaßt,<br />

in wie ferne er sie t h e o r e t i s c h v e r n e i n t <strong>und</strong> d u r c h H e r a n z i e h u n g d i v e r s e r sozialpolitischer<br />

T h e o r i e n z u e r s e t z e n g e n e i g t ist, i n e b e n d i e s e m M a ß e k a n n d e r A n t i m i l i t a r i s -<br />

m u s b ü r g e r l i c h , s o z i a l d e m o k r a t i s c h o d e r a n a r c h i s t i s c h s e i n . Der Antimilitarismus<br />

selbst ist T a k t i k , <strong>und</strong> j e d e T a k t i k d i e n t irgend einer T h e o r i e o d e r t h e o r e t i s c h e n<br />

G r u p p i e r u n g .<br />

a) Anerkennung der obigen Taktik der französischen Gewerkschaftsbewegung;<br />

b) die Resolution Girault (Frankreich), die die Gewerkschaften zur<br />

Gründung von Jugendorganisationen zum Zwecke antimilitaristischer Propaganda<br />

auffordert;<br />

c) der Generalstreik als Mittel der Bekämpfung des Krieges (Resolution<br />

des Genossen Nieuwenhuis);<br />

d) eine holländische Resolution, die die Propaganda unter den Müttern<br />

der heranwachsenden Jugend <strong>und</strong> unter dieser selbst fordert.*<br />

e) Persönliche Initiative <strong>und</strong> persönliches Gewissen.<br />

Wir sind uns klar darüber, daß es noch lange <strong>Weg</strong>e vor sich hat,<br />

bevor die Arbeiter aller Länder die Ideen des Antimilitarismus <strong>und</strong> Antipatriotismus,<br />

also des anarchistischen Antimilitarismus klar <strong>und</strong> konsequent<br />

durchgeführt akzeptieren werden. Noch herrscht eine große Unwissenheit in<br />

den Köpfen des Proletariats <strong>und</strong> die Feinde des Proletariats, wie auch seine<br />

f a l s c h e n Fre<strong>und</strong>e — vornehmlich die politischen Ehrgeizlinge der Sozialdemokratie<br />

sind keineswegs erpicht darauf, dem Proletariat tatsächlich<br />

reinen Wein einzuschänken. Aber dies darf uns weder als Einzelne noch als<br />

Gruppen irgendwie hindern, unserer Gewissenspflicht zu genügen <strong>und</strong> überall<br />

antimilitaristische Gr<strong>und</strong>sätze des Friedens <strong>und</strong> der Freiheit zu propagieren.<br />

» *<br />

*<br />

Im Frühjahr 1907 haben wir in London im Bezirk Woolwich eine<br />

eigenartige Situation gesehen. Die dortigen Arsenalarbeiter wurden langsam<br />

<strong>und</strong> allmählich vom englischen Staate entlassen, weil derselbe zu wenig<br />

Arbeit für sie hatte. Da beriefen die Arbeiter große Versammlungen ein <strong>und</strong><br />

wandten sich gegen die englische Regierung, laut protestierend wider die<br />

Entlassungen, mehr Arbeit verlangend. Diese Situation bringt uns Angesicht<br />

zu Angesicht mit einem hochwichtigen Problem:<br />

W i e haben sich die anarchistischen Antimilitaristen gegenüber jenen<br />

Arbeitern zu verhalten, welche Munition <strong>und</strong> sonstige Gebrauchsgegenstände<br />

des Mordes für einen Krieg produzieren?<br />

Die Beantwortung dieser Frage ist schwierig. Doch wir wollen nicht<br />

vergessen, daß der Krieg im modernen, gesellschaftlichen Leben auch deshalb<br />

so unendlich fest seine Wurzeln geschlagen hat, weil weite Kreise der<br />

Bevölkerung ein materielles, ein Bereicherungsinteresse an seiner Führung<br />

haben. Der Chauvinismus ist eben eine sehr einträgliche <strong>und</strong> rentable S a c f i e . . .<br />

Im vorliegenden Fall haben wir uns prinzipiell <strong>und</strong> außerparlamentarisch<br />

gegen die Steigerung der Produktion von Mord W e r k z e u g e n auszusprechen.<br />

Eine solche Steigerung der Produktion ist indirekt eine Provokation<br />

zum Kriege. Wir müssen den Arbeitern klar machen, eine wie gräßliche<br />

Schmach es für sie ist, sich in einem Produktionszweige zu betätigen, der<br />

augenscheinlich nur zwecks Hervorbringung derjenigen Werkzeuge besteht,<br />

die ihren Brüdern den Garaus bereiten sollen. Wir müssen vor einer solphen<br />

Prostitution der menschlichen Arbeitskraft, ihrer Verwendung für solche<br />

Zwecke Abscheu <strong>und</strong> Ekel erregen.<br />

* *<br />

*<br />

Es liegt in der Natur der Sache, die wir hier behandeln, daß wir nicht<br />

gewisse, fast unbegrenzte Maximen für die Aktion eines jeden antimilitaristisch<br />

sich betätigenden Anarchisten aufstellen können. Sowohl die Freiheit<br />

der individuellen Persönlichkeit, wie auch die Betätigungsart des Antimilitarismus<br />

schließen dies völlig aus. Mehr als jede andere Taktik des Massenkampfes<br />

hängt der Antimilitarismus in seiner Manifestation von der Einzelpersönlichkeit<br />

ab. Und deshalb bezwecken wir hier n i c h t , irgend welche<br />

Methoden vorzuschreiben; unser Zweck an dieser Stelle ist es, den Lesern<br />

a l l e r Geistesrichtungen des Antimilitarismus die Auffassungen <strong>und</strong> Überzeugungsmomente<br />

des anarchistischen Antimilitarismus vorzuführen, da wir<br />

der Meinung, daß der Antimilitarismus im Anarchismus eben die Krönung<br />

seines Geistesbaues, seines Idealzieles gewinnt.<br />

Diejenigen, die die Resolution des internationalen sozialdemokratischen<br />

Kongresses von Stuttgart über den Militarismus aufmerksam <strong>und</strong> als Kenner<br />

durchlesen, wissen, daß diese Resolution vollständig nichtssagend, hin- <strong>und</strong><br />

herschwankend ist. Die Worte Vollmars auf dem Essener Parteitage, daß es<br />

nicht wahr sei zu behaupten, diese Resolution gebe der deutschen Sozialdemokratie<br />

„einen ordentlichen Stoß nach vorwärts", sind vollkommen<br />

richtig. Und es wäre in der Tat mehr als naiv, anzunehmen, daß diese oder<br />

jene Redewendung der Resolution, s c h e i n b a r den „ordentlichen Stoß<br />

nach vorwärts" gibt, Vollmar Lügen strafe. Sie tut dies schon deshalb nicht,<br />

weil die Sozialdemokratie international in allen antimilitaristischen Fragen<br />

e i n e g a n z a n d e r e G e s i n n u n g hegt als die Anarchisten.<br />

Darauf kommt es an, darauf muß Nachdruck gelegt werden I<br />

Es liegt ein Stück tragischester Wahrheit darin, wenn Bebel, Vollmar<br />

usw., sich mit dem Hinweis wider den französischen Antimilitarismus<br />

kehren, daß er, in Deutschland propagiert, den „Ruin der deutschen Sozialdemokratie"<br />

brächte. Tragisch deshalb, weil damit in nackten, nüchternen<br />

Worten ausgesprochen ist, daß der deutsche „revolutionäre" Sozialismus,<br />

nach über 40jähriger Sozialdemokratie, noch in den Kinderschuhen steckt.<br />

Anders wäre kein Gesetz der Welt im Stande, ihn zu brechen, wenn er<br />

wirklich d r e i Millionen Anhänger besäße! Ist dies auch eine Selbsterkenntnis<br />

bedauernswerter Schwäche, so soll nicht übersehen werden, daß man<br />

der Sozialdemokratie zugestehen müßte, sie habe recht, wenn sie nicht Unmögliches<br />

unternehme <strong>und</strong> nur im Rahmen p r i n z i p i e l l e r G e s i n n u n g s -<br />

p r o p a g a n d a den Antimilitarismus konsequent propagiere. Man müßte<br />

ihr w e n n l e t z t e r e s z u t r ä f e — dies zugestehen, d a auch die<br />

reichsdeutschen Anarchisten, ganz wie wir in Österreich, in öffentlicher <strong>und</strong> jeder<br />

Aktivität n i c h t in der Weise vorgehen können, wie es die französischen<br />

Genossen tun.<br />

Hier aber liegt gerade der Kern der Frage, liegt die ganze Selbstverdammung<br />

der Sozialdemokratie <strong>und</strong> der taktische Unterschied zwischen<br />

ihrem <strong>und</strong> dem anarchistischen Antimilitarismus.<br />

Trotzdem man von einer Dreimillionenpartei zu a l l e r e r s t berechtigt<br />

wäre, T a t e n zu fordern, tun wir dies nicht, verdammen wir die Sozialdemokratie<br />

n i c h t wegen dieses Ausbleibens von Aktionen. Dieselben mögen<br />

<strong>und</strong> könnten später erfolgen. Aber die Sozialdemokratie verübt e i n e n H o c h -<br />

v e r r a t an den wahren Interessen des Proletariars vornehmlich deshalb,<br />

weil sie ihrer Aufgabe, e i n e p r i n z i p i e l l e r s c h ö p f e n d e G e -<br />

s i n n u n g s p r o p a g a n d a d e s A n t i m i l i t a r i s m u s z u b e t r e i b e n ,<br />

nicht nur n i c h t nachkommt, sondern jeden Versuch dazu zu verleumden,<br />

zu belächeln, zu erdrosseln sich anmaßt. Die Lehren ihrer neueren Werke<br />

über Staat, Militarismus, Soldateska, Krieg, Soldatenpflicht usw., sind rein<br />

bürgerlich-liberale <strong>und</strong> haben nichts mit dem Gr<strong>und</strong>prinzip des Sozialismus<br />

gemein; <strong>und</strong> wie ihre Lehren, so ihre Taten.<br />

H i e r k o m m e n w i r z u m f u n d a m e n t a l s t e n G e g e n s a t z<br />

z w i s c h e n s o z i a l d e m o k r a t i s c h e m u n d a n a r c h i s t i s c h e m<br />

A n t i m i l i t a r i s m u s . Leicht möglich, daß die Sozialdemokratie einmal in<br />

die Lage kommen könnte, einzelne Aktionsmittel des anarchistischen Antimilitarismus<br />

zu gebrauchen, wie sie auch den Generalstreik der Rüstkammer<br />

des Anarchismus entlehnte, als sie es tun mußte. Dadurch würde sie aber<br />

noch immer nicht identisch sein mit dem anarchistischen Antimilitarismus.<br />

* Um j e d e r W e i t s c h w e i f i g k e i t <strong>und</strong> W i e d e r h o l u n g v o r z u b e u g e n , verweisen wir den<br />

Leser z w e c k s weiterer Information auf d a s «Offizielle Protokoll des antimilitaristischen Kong<br />

r e s s e s " im „ W o h l s t a n d für Alle", J a h r g . 1.<br />

Schluß folgt.<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur W. Horatschek (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien, XIV.


Wien, 20. Dezember 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 24.<br />

Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />

3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />

Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />

I./17. — Gelder sind zu senden an<br />

Marie Schindelar, Wien, XII., Herthergasse<br />

12, I./17.<br />

Losung.<br />

Nicht Gott, noch Herr,<br />

Noch Kindergeplärr!<br />

Nur Feuer, nur Glut<br />

Und unsterblicher Mut,<br />

Der stürmisch <strong>und</strong> dreist<br />

Sein Herz, seinen Geist<br />

Bis ans Ende verficht,<br />

Nur lebendiges Licht!<br />

Nur lebendige Kraft,<br />

Die ihr Helliges schafft,<br />

Die kein Teufel, kein Tod,<br />

Keine Hölle bedroht,<br />

Kein Himmel erkauft<br />

Und kein Wässerchen tauft,<br />

Die freiheitsbeschwingt<br />

Zur Sonne sich ringt<br />

Und der Schwächlichkeit Nacht<br />

Als das Böse verlacht!<br />

Theo Heermann-Moskau.<br />

Weihnachten.<br />

„Ehre sei Gott in der Höhe <strong>und</strong><br />

Friede auf Erden den Menschen, die<br />

eines guten Willens sind!"<br />

Von tausend Kanzeln ertönt es <strong>und</strong><br />

lieblicher Glockenton verkündet es auf Erden,<br />

das weihevolle Lied der Freude über<br />

des Erlösers Geburt. Es ist Weihnachten,<br />

die Weihenacht — Friedensengel durchrauschen<br />

die Lüfte, Glücksgefühl durchströmt<br />

alle Menschen, «die guten Willens<br />

sind».<br />

O schöner, seliger Kinderglaube glücklicher<br />

Tage, warum ließest du dich durch<br />

das garstige Leben Lügen strafen? Das<br />

ist es ja, das herrliche, das segnende Glück,<br />

der gedeihende Wohlstand für Alle, der<br />

nur Frieden kennt <strong>und</strong> Alle durch ihr Glück<br />

guten Willens sein läßt — was wir wollen,<br />

was von allen Religionen seit 2 0 0 0 Jahren<br />

verheißen <strong>und</strong> gepredigt wird, was aber<br />

gerade die Prediger immer <strong>und</strong> immer<br />

wieder zerstören.<br />

Ein Herodes lebt, der uns allen nach<br />

dem Leben trachtet. Seine Schriftgelehrten<br />

vergiften unser Leben <strong>und</strong> lehren das Unrecht<br />

als Recht, seine Hohenpriester sind<br />

die Mammonsknechte, die das Schöne, das<br />

Heil Aller mit ruchlosen Händen antasten<br />

<strong>und</strong> grausam-gierig auf den Altar der Ausbeutung<br />

schleppen. So lange Herodes, die<br />

heutige Gesellschaft der Tyrannei <strong>und</strong> der<br />

Massennot lebt, so lange ihre Priester sich<br />

sättigen dürfen an dem, was sie den Armen<br />

<strong>und</strong> Bedrückten genommen <strong>und</strong> i h r e n<br />

Einzelpalast des Glückes auf dem tausendfältigen<br />

Jammer der breiten Volksschichten<br />

errichten — gibt es <strong>und</strong> wird es keine<br />

Weihnachten geben, ist es Lüge zu behaupten,<br />

daß es je Weihnachten gab, denn<br />

noch hat Herodes die Menschen nie verlassen<br />

<strong>und</strong> von ihrer Peinigung nie Abstand<br />

genommen.<br />

Ihr Toren! Seht ihr denn nicht, wie<br />

ihr Gotteslästerung begeht, wenn ihr heute,<br />

in den Tagen, wo ganz Europa in Waffenrüstung<br />

starrt <strong>und</strong> qualmige Flammen im<br />

Balkan aufsteigen, die gierig nach dem<br />

Pulverfaß des Massenmordes, des Krieges<br />

lecken, wenn ihr in solchen Zeitepochen<br />

Weihnacht feiert? Wo weilt der Friede? Vielleicht<br />

auf der Mündung einer Kanone, oder<br />

im Luftschiff, eurer neuesten Erfindung,<br />

dessen ausgehöhlter Bauch voll ist von<br />

Handgranaten <strong>und</strong> Wurfbomben, um von<br />

«der Höhe» aus, dort wo Gott Ehre sei,<br />

„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss ; dass<br />

der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />

Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />

dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />

d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />

dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />

jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />

besser töten zu können. Wo weilt das<br />

Glück, das Wohlgedeihen Aller, das der<br />

Friede, wäre er nur da, im Gefolge hätte?<br />

Schlagen wir eine Zeitung auf: sie<br />

wimmelt von Berichten über Arbeitslosigkeit,<br />

Selbstmorde wegen unverschuldeter Not,<br />

Trauer <strong>und</strong> Wehmut über ausgestandenes<br />

Unrecht, erschütternden Klagen über hohe<br />

Preise <strong>und</strong> niedrige Löhne. Und ihr glaubt<br />

wirklich, daß wir erlöst <strong>und</strong> daß die hellleuchtenden<br />

Kerzenstümpchen auf ewig<br />

grünem Tannenbaum in dieser einen Nacht<br />

diese harten, traurigen Tatsachen des Tages<br />

überstrahlen können? Nein, täuschet euch<br />

nicht — es gibt keine weihevolle Nacht . .<br />

Blickt auf die lange Schar derer, die<br />

müde <strong>und</strong> beladen durchs Leben schreiten.<br />

Durch euch, ihr Zerstörer der wahren Weihnacht,<br />

der noch weit weihevollere Tage<br />

folgen könnten. Fühlt ihr eure Verantwortung,<br />

wenn h<strong>und</strong>erte von Männern <strong>und</strong><br />

Frauen just in der Weihnacht frostzitternd<br />

in kalten Räumen hocken <strong>und</strong> mit dem<br />

Rest entschwindender Körperwärme ihre<br />

Kleinen dürftig stillen? Ihr, nur ihr, Herodesmenschen,<br />

seid die Schuldigen! Seht die<br />

Millionen derer, die sorgen- <strong>und</strong> kummervoll<br />

durch das Leben schleichen, Nichtshaber,<br />

denen nie der Friede des Besitzes<br />

gegönnt <strong>und</strong> die Ruhe des Genusses geboten.<br />

Erkennt eure Schuld in dieser Nacht<br />

eurer Weihe!<br />

Glockengeklingel <strong>und</strong> Menschenstöhnen<br />

— welch weihevolle Musik in dieser Nacht<br />

des Erdenfriedens . . .<br />

Weihnacht! Ja, es wird einmal Weihnacht<br />

weiden. Und a l l e Menschen werden<br />

sich gegenseitig beschenken im gemeinsamen<br />

Eigentumsgefühl, daß alle Güter der<br />

Erde allen gehören <strong>und</strong> sie auf Geschenke<br />

nicht mehr angewiesen sind. Diese Welt<br />

mit all ihrem Reichtum ist erzeugt worden<br />

von der Urkraft menschlicher Arbeit, ihr<br />

muß sie wieder gehören. Und alles, was<br />

dem im <strong>Weg</strong>e steht, muß fallen laut den<br />

Jesu Worten: « S c h a f f e t d i e s e s h i n -<br />

w e g v o n h i e r u n d m a c h e t d a s<br />

H a u s m e i n e s V a t e r s n i c h t z u<br />

e i n e m H a n d e l s h a u s e .<br />

Die Trümmer des Jahrmarkts unseres<br />

Lebens, aller geheiligten Einrichtungen unseres<br />

gesellschaftlichen Heute werden, müssen<br />

untergehen, auf daß dereinst ein<br />

Morgen komme, der in gebenedeiter Erlöserliebe<br />

einer Weihenacht entstieg, jener<br />

Weihenacht, die uns gebar das Ende jeder<br />

Bevorzugung des einen Menschen vor den<br />

anderen <strong>und</strong> die heilige Erlösung des<br />

Friedens, der Gleichheit <strong>und</strong> wahren Brüderlichkeit<br />

verwirklicht.<br />

Freigesprochen.<br />

Wie ein Keulenschlag traf es die Hyäne<br />

in Menschengestalt . . . Mitten ins Herz<br />

hinein. Das hatte sie nicht erwartet, daß es<br />

in Wien noch schlichte Bürger gab, die<br />

auch Gegnern gegenüber den Sinn für<br />

Wahrheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit nicht eingebüßt<br />

haben <strong>und</strong> sich durch die Hirngespinste<br />

juristischer Schablonenverdrehung <strong>und</strong> -Entstellung<br />

in ihrem ges<strong>und</strong>en Menschenverstand<br />

nicht hintergehen lassen . . . Und<br />

Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />

beträgt ganzjährig K 2-40;<br />

halbjährig K 1-20. Für die Länder<br />

des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />

3*50, halbjährig Fr. 1 7 5 , vierteljährig<br />

90 Cent.<br />

wir sagen es laut, auf daß es alle hören<br />

mögen: Wir sind stolz darauf, daß es noch<br />

Ehrenmänner gibt, die das Prinzip aufrechter<br />

Gewissens- <strong>und</strong> Druckfreiheit achten<br />

<strong>und</strong> wenigstens in diesem einen Fall gewahrt<br />

haben. —<br />

Am 9. Dezember, dreih<strong>und</strong>ert Jahre<br />

nachdem ein Mann, John Milton, geboren<br />

wurde, der als einer der ersten Zeitgenossen<br />

der großen englischen Revolution seine<br />

ganze Persönlichkeitserkenntnis in den<br />

Dienst des Kampfes um Menschenrecht<br />

<strong>und</strong> Meinungsfreiheit stellte, gerade dreih<strong>und</strong>ert<br />

Jahre darnach stand unser Kamerad<br />

Michael Lozynskyj, ein in ruthenischen<br />

literarischen Kreisen sehr geschätzter junger<br />

Schriftsteller, vor den Schranken eines<br />

Wiener Schwurgerichtes, um d a s zu<br />

wahren, was die Bewohner unserer Stadt<br />

sich angeblich schon seit sechzig Jahren<br />

errungen: D a s R e c h t , f r e i z u d e n k e n<br />

u n d a u s z u s p r e c h e n w a s ist. Sehr<br />

bemerkenswert, daß man nur Anarchisten<br />

vor die Marterpfähle juristischer Gerechtigkeit<br />

schleppen kann, um für das zu büßen,<br />

was sie wahrheitsgemäß auszusagen wagten;<br />

denn die übrigen Parteimenschen sind<br />

gegenwärtig <strong>und</strong> seit geraumer Zeit schon<br />

so beschäftigt mit der Lösung ihrer ureigenen<br />

Angelegenheit, des großen Problems,<br />

wie zu teilen <strong>und</strong> zu herrschen, daß<br />

sie keinen Augenblick dafür übrig haben,<br />

das Recht der Meinungsfreiheit zu benützen.<br />

Wo ist unsere demokratische Presse,<br />

die den H<strong>und</strong>erttausenden Arbeitslosen<br />

Österreichs sagte, daß sie Narren sind, wenn<br />

sie gutwillig verhungern? Wo ist die radikale<br />

Presse, die da sagte, daß man im<br />

Schatten russischer Feldgerichte, wie sie in<br />

Prag errichtet wurden, mit der Regierung<br />

nicht arbeiten würde? Wo sind die liberalen<br />

Aufklärer, die das Volk aufriefen zur Wehr<br />

gegenüber der staatlichen Todesstrafe, die<br />

in den letzten zwei Wochen allein an etwa<br />

vier Menschen verübt ward? Sind Tolstois<br />

eherne Worte: »Ich kann nicht schweigen!«<br />

so rasch verhallt? Und die Friedensfre<strong>und</strong>e<br />

bürgerlicher Observanz, wo sind sie; <strong>und</strong><br />

die seit Stuttgart angeblich antimilitaristischen<br />

Sozialdemokraten, wo sind sie nun,<br />

wo es hieße, sich zu uns zu gesellen, um<br />

einzustoßen in die gemeinsame Parole:<br />

S c h a c h d e m K r i e g e ! ? Um uns ist es<br />

so kläglich still, ganz wie in einem Grabe.<br />

Denn, wozu auch sich aufregen? Droht<br />

nicht der Staatsanwalt mit dem berüchtigten<br />

Kautschukparagraphen 3 0 5 ? Angesichts seiner<br />

Macht vergißt das Recht der freien<br />

Meinung sich recht leicht, <strong>und</strong> daß ein<br />

schlauer Parteidemagoge ob selbst der edelsten<br />

Güter der Menschheit willens wäre, auch<br />

nur die Annehmlichkeit seiner Zehnerjause<br />

<strong>und</strong> seines Diätenbezuges einzubüßen, das<br />

wäre in Österreich unerhört. Kampf wollt<br />

ihr? Kampf gegen Staatsarroganz <strong>und</strong> Kapitalistentücke?<br />

Der Kampf, der bei - uns<br />

geführt wird, besteht in wüstem Parteihader<br />

im Plenum des Parlaments <strong>und</strong> brüderlicher<br />

Eintracht mit dem Gegner an festlicher<br />

Tafel. Ist es doch nur neun Monate her,<br />

daß die »radikalen« Sozialdemokraten Dr.<br />

Diamant <strong>und</strong> Seitz, e i n e n Tag nach der<br />

glorreichen 13. Märzfeier, sich auf dem<br />

Festesgelage des Freiherrn v. Bienerth gut-


lieh taten, desselben, den sie heute scheinbar<br />

bekämpfen. Zu ihrer seltsamen Ehre<br />

sei es gesagt: sie sind nicht die einzigen<br />

in der Partei, die es sich im Feindeslager,<br />

in das proletarische Augen nie hineindringen,<br />

wohl sein lassen. Herr Pernerstorfer<br />

hat es glücklich bis zum reichsrätlichen<br />

Vizepräsidenten gebracht, der nun für die<br />

ordnungsmäßige Erledigung sämtlicher Regierungsvorlagen<br />

mitsorgen darf. Ist dies<br />

nicht Kampf? . . .<br />

Und aus dieser prächtigen, behaglichen<br />

Ruhe <strong>und</strong> Stille wurde das Geflügel plötzlich<br />

aufgescheucht. Wieder, nach langer<br />

Zeit wieder, ereignete sich etwas in Österreich<br />

Unerhörtes: ein Anarchistenprozeß.<br />

Und die Wiener »Zeit« beeilte sich, hinzuzusetzen:<br />

»Kein Bombenprozeß.» Nein,<br />

wahrlich nicht, obgleich er weit kräftiger<br />

wirkte, als ein Bombenprozeß es vermocht<br />

hätte. Der Mann, der vor dem Gericht<br />

stand, warf Bomben anderer Art: die Bombe<br />

seiner Gesinnung, die Bombe seines Edelmutes.<br />

Eine Explosion dieser Art von<br />

Bomben war es, die im Gerichtssaal stattfand,<br />

weit außerhalb desselben durch die<br />

Presse ihr nachhaltiges Echo fand <strong>und</strong> die<br />

der 9. Dezember uns brachte. Was sich<br />

wohl die Mäkler der öffentlichen Meinung<br />

die Schmockjournalisten gedacht<br />

haben mögen, als sie auf die Gestalt<br />

Lozynskyjs blickten <strong>und</strong> es deutlich <strong>und</strong><br />

vernehmbar von seinen Lippen kam: »Ja,<br />

i c h b i n A n a r c h i s t ! « Er verschmähte es,<br />

seine Gesinnung zu verheimlichen, seine<br />

Überzeugung aufzugeben; solches überläßt<br />

ein Anarchist seinen Gegnern. Und der<br />

• hohe Gerichtshof«, wie mußte er, der Vertreter<br />

menschlich-künstlicher Gerechtigkeitsfabrikation,<br />

deren Kern die grausamste<br />

Rache ist. einer Betätigung, die von den<br />

Blitzstrahlen echter Wissenschaft längst<br />

getroffen <strong>und</strong> widerlegt ward was er<br />

wohl gedacht haben mag, als er einen<br />

jungen Mann vor sich sah. der kaltblütig<br />

erklären konnte, daß er unschuldig, der<br />

aber ganz gleichgiltig dem Verdikt entgegensah,<br />

das ihm zum mindesten Wochen<br />

zermürbenden Gefängnisses hätte einbringen<br />

können. Hier ein Mensch, der die ganze<br />

Fülle seines Geistesreichtums an dem Trone<br />

edelster Menschheitsliebe niederlegt, dort<br />

Männer, die »ihres Amtes* walten <strong>und</strong><br />

Recht s p r e c h e n , was noch lange nicht<br />

Recht tun bedeutet.<br />

Eine Welt- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung,<br />

die dem sozialen Untergang geweiht ist<br />

eben durch die Ertötung des reineren, edleren<br />

Empfindungszentrums in den Menschen<br />

<strong>und</strong> deren Einrichtungen, ist der Erkenntnis<br />

<strong>und</strong> Anschauung ihrer eigenen Verrottung<br />

nicht mehr fähig; anderen, helleren Augen<br />

ist es beschieden, diese rissigen, brüchigen<br />

Wände <strong>und</strong> Dachstühle, die dem Einsturz<br />

nahe, zu erkennen, dem hellsehenden, revolutionär<br />

empfindenden Proletariat ist dies<br />

gegeben. Und fürwahr: wer nicht Anarchist,<br />

aber ein human <strong>und</strong> charaktervoll fühlender<br />

M e n s c h ist, der weile im Gerichtssaal,<br />

beobachte das Tun, Treiben, die Gesichtszüge<br />

jener, die dazu berufen sind, der<br />

blinden Göttin das Schwert zu entlehnen;<br />

wir garantieren: aus diesem Menschen<br />

w i r d ein Anarchist werden.<br />

Aufgabe dieses Artikels soll es nicht<br />

sein, den Prozeß Lozynskyj irgendwie erschöpfend<br />

zu behandeln. Einen stenographischen<br />

Bericht über diesen historischen<br />

Prozeß bringt die nächste Nummer unseres<br />

Blattes. Aber die Streiflichter, die diese<br />

Zeilen auf die handelnden Menschen, beteiligt<br />

an dem Prozeß, auf die Institutionen,<br />

aus denen er hervorgeht, werfen müssen,<br />

sie wären nicht genau, wenn wir an einigem<br />

vorbeigehen wollten. Im Laufe des Prozesses<br />

— aufgebaut auf den Kautschukparagraphen<br />

der »Aufreizung zu Feindseligkeiten<br />

gegen Nationalitäten« <strong>und</strong> der<br />

»Öffentlichen Herabwürdigung der Einrichtungen<br />

der Ehe, Familie, des Eigentums<br />

oder Gutheißung von ungesetzlichen oder<br />

unsittlichen Handlungen« — ereigneten<br />

sich einige Szenen, die festgenagelt werden<br />

müssen. So z. B., wenn der Staatsanwalt,<br />

Herr Pollack, die Erklärung abgab, daß er<br />

unser Blatt stets subjektiv verfolgen würde,<br />

wenn er nur der eigentlichen Verfasser<br />

habhaft werden könnte; daß er dies getan<br />

habe, wo er es konnte. Herr Pollack scheint<br />

aus dem Material seiner Paragraphen gemacht<br />

zu sein, denn seine Äußerungen sind<br />

— sehr dehnbar. Tatsache ist es, daß von<br />

den 23 erschienenen Nummern unseres<br />

Blattes etwa 20 konfisziert wurden, daß aber<br />

nur eine einzige Anklage wegen Verletzung<br />

der pflichtgemäßen Obsorge gegen unseren<br />

Redakteur erhoben wurde, <strong>und</strong> d i e s e stützt<br />

sich auf den nun freigesprochenen Artikel<br />

Lozynskyjs; sonstige Delikte, wegen denen<br />

Bestrafung erfolgte, waren rein technischer<br />

Natur. Es ist somit klar, daß, da Herr<br />

Pollack im Schwurgerichtssaale diese Tatsachen<br />

n i c h t wahrheitsgemäß konstatierte,<br />

er s e h r w o h l w e i ß , daß seine unaufhörlichen<br />

Konfiskationen unseres Blattes im<br />

Lichte seines eigenen Rechtes r e i n w i l l -<br />

k ü r l i c h e r Natur sind, indem er eben nicht<br />

in der Lage ist, die inkriminierten Artikel<br />

strafgesetzlich zu verfolgen. Er weiß zu gut,<br />

daß es kein gerecht erwägendes Gericht<br />

der Welt gibt, das ihm in seiner Konfiskationspraxis<br />

uns gegenüber recht geben<br />

würde. Schließlich sehen es Geschworne<br />

n i c h t als das Recht eines Staatsanwaltes<br />

an, G e s i n n u n g e n zu verfolgen. Es ist<br />

fernerhin eine absolut unwahre Behauptung,<br />

zu konstatieren, daß er die wirklichen Verfasser<br />

inkriminierter Artikel nicht kenne;<br />

wahr ist vielmehr, daß die Artikel der Genossen<br />

Landau, Ramus, Haidt, Lerche, Zindelar<br />

u. a. konfisziert wurden, der Staatsanwalt<br />

aber keine Anklage gegen sie erheben<br />

k o n n t e . Wohl wissen wir, daß der<br />

Staatsanwalt laut Gesetz dies nicht zu tun<br />

braucht; aber eben dies nennen wir Willkür,<br />

<strong>und</strong> darin ist die gesamte öffentliche<br />

Meinung mit uns einig, die, soweit auch<br />

nur oppositionell angehaucht, doch einstimmig<br />

nach einer Revision unseres Preßgesetzes<br />

ruft, das, eine echt Goethesche<br />

Spottgeburt, einerseits die Preßfreiheit garantiert,<br />

anderseits jedoch einem einzigen<br />

Menschen eine unerhörte Autokratie verleiht.<br />

Noch etwas anderes muß hervorgehoben<br />

werden. Ist es Aufgabe eines<br />

Staatsanwaltes, in einer Ansprache an<br />

die Geschworenen auf das Niveau eines<br />

Effekthaschers <strong>und</strong> Komödianten herabzusinken?<br />

Ist es etwas anderes, wenn<br />

man es versucht, den Geschworenen gänzlich<br />

unbegründbares Grauen vor dem<br />

Anarchismus einzuflößen, nur um einen<br />

Mitmenschen mehr ins Gefängnis einliefern<br />

zu können? Mit welchem Recht behauptete<br />

der Staatsanwalt, daß unser Blatt v o n d e r<br />

e r s t e n N u m m e r an, der terroristischen<br />

Propaganda der Tat das Wort rede? Wir<br />

erklären dies als eine g r o b e U n w a h r -<br />

h e i t <strong>und</strong> sind bereit, aus jeder Nummer<br />

des »W. f. A.« zu beweisen, daß in derselben<br />

n i e m a l s der Terrorismus in irgend<br />

welcher Form propagiert, stets nur rein intellektuelle<br />

Strebensziele von Herrn Pollack<br />

konfisziert <strong>und</strong> somit niedergeknüppelt<br />

wurden. Weiß Herr Pollack nicht, was direkte<br />

oder soziale Aktion oder Generalstreik<br />

ist, dann möge er dafür Sorge tragen,<br />

es zu lernen. Was unser Blatt vertritt, das<br />

hat erst unlängst ein Gegner unserer Anschauung,<br />

Herr E r n s t V i k t o r Z e n k e r ,<br />

in zwei ausführlichen Artikeln in der<br />

»Reichenberger Zeitung« dargelegt, wo er<br />

in einer längeren Besprechung über »Das<br />

Wiedererwachen der anarchistischen Bewegung<br />

in Österreich«* auch die Taktik unseres<br />

Blattes berührt, über die er sagt, daß<br />

»zwischen ihr <strong>und</strong> der alten Propaganda<br />

der Tat ein Unterschied so groß liegt, wie<br />

der zwischen dem regelrechten Krieg <strong>und</strong><br />

einem ordinären Meuchelmord.« Dies ist<br />

* „Reichenberger Zeitung", Nr. 195 <strong>und</strong> 198,<br />

Jahrgang 1908.<br />

die Wahrheit; unser Kampf wird geführt<br />

mit den Mitteln des Geistes <strong>und</strong> der geistigen<br />

Überlegenheit, weil wir zu gut<br />

wissen, daß, wenn es uns gelingt, das<br />

Geistesleben' der Menschen in unserem<br />

Sinne zu adeln <strong>und</strong> es so auf die schon<br />

heute bestehenden wirtschaftlichen Möglichkeiten<br />

des Sozialismus zu richten, wie<br />

es zum Wohle Aller geschehen muß, die<br />

sozialpolitische Umwälzung zur kommunistischen<br />

Anarchie sich auf dem <strong>Weg</strong>e<br />

eines so unaufhaltsamen Menschenwillens<br />

vollziehen wird, daß uns nichts mehr zu<br />

wünschen übrig bleibt.<br />

Und wie vereinbart es Herr Pollack<br />

mit der Würde seiner Position, wie konnte,<br />

wie durfte er es wagen, die Lachnerven<br />

des Gerichtes so zu taxieren, wie es bei<br />

s e i n e r Darstellung des Anarchismus geschah?<br />

Für Zwerchfellerschütterungen ist<br />

der Gerichtshof der schlechtest gewählte<br />

Ort, so sollte man meinen. Aber so dachte<br />

dieser Staatsanwalt nicht. Anarchismus, das<br />

war ihm nichts als blutrünstiges Zerstören,<br />

Morden, Sengen <strong>und</strong> Brennen. Vor unserem<br />

Geistesauge erhob sich ein schambedecktes<br />

Antlitz: jenes des G e r i c h t s a s s e s s o r s<br />

Dr. P a u l E i t z b a c h e r , der ersehen<br />

konnte, daß sein Fachkollege wohl in allen<br />

Blättern der Welt nach konfiszierbaren <strong>und</strong><br />

unkonfiszierbaren Stellen pürscht, jedoch<br />

den <strong>Weg</strong> zum Studium seines Buches über<br />

den »Anarchismus« noch nicht fand. Kein<br />

W<strong>und</strong>er, daß Eitzbacher sich der Unwissenheit<br />

seines Fachkollegen schämte. Uns liegt<br />

es ja ferne, an den nicht mehr jugendfrischen<br />

Geist Dr. Pollacks ungeheuerliche<br />

Anforderungen in punkto Wissen <strong>und</strong> Logik<br />

zu stellen; mit Zeit <strong>und</strong> etwas Liebe wird<br />

er die Unterscheidung zwischen Aufforderung<br />

zum Mord o d e r E r s t r e b u n g e i n e r<br />

G e s e l l s c h a f t , d i e f r e i ist v o n Unterd<br />

r ü c k u n g u n d j e d e r H e r r s c h a f t ,<br />

auch von Staatsanwälten, wohl schon noch<br />

treffen lernen. Aber wenn er den »W. f. A.<<br />

so gründlich liest <strong>und</strong> es diesem, wie es<br />

scheint, bisher nicht gelungen ist, auch nur<br />

einen Funken anarchistisches Licht unter<br />

das schwarze Käppchen dringen zu lassen,<br />

das »im Berufe« Herrn Pollacks Denkerstirne<br />

ziert, darauf könnte er doch schon<br />

gestoßen sein, daß wir ein Buch ankündigten,<br />

das sich betitelt »Die Anarchie« von<br />

Professor H e k t o r Z o c c o l i . Obwohl auch<br />

von einem Gegner unserer Bestrebungen<br />

geschrieben, könnte ein Herr Pollack noch<br />

sehr viel aus diesem Buche lernen. Vielleicht<br />

gestatten ihm seine Aktenbündel <strong>und</strong><br />

- das Studium des »W. f. A.« noch die<br />

Zeit, es durchzulesen? —<br />

Der Prozeß Lozynskyj gehört zu jenen<br />

Ereignissen, die, von Feindeshand gezeugt,<br />

als Kraft, die Böses will, <strong>und</strong> dennoch<br />

stets das Gute schafft, unserer Bewegung<br />

einen mächtigen Anstoß nach vorwärts<br />

versetzten. Die hohe sittliche Kraft, die aus<br />

den Ausführungen des Kameraden Lozynskyj<br />

sprach, der einfach <strong>und</strong> natürlich<br />

seinen Standpunkt entwickelte, hat diesmal<br />

direkt oder indirekt die öffentliche Meinung<br />

erreicht; die gesamte Presse war gezwungen,<br />

kürzere oder längere, meistens anständige<br />

Berichte über die Prozeßverhandlung zu<br />

erstatten. Aber es ist ganz einerlei, ob es<br />

so kam oder anders, so lange nur dieser<br />

eine Tatbestand sich unverrückbar verhält:<br />

d a ß n ä m l i e h d e r S t a a t s e i n e H a s s e s -<br />

p f e i l e a u f M e n s c h e n s c h l e u d e r n<br />

m u ß , d i e a n C h a r a k t e r g r ö ß e , E d e l -<br />

m u t u n d Ü b e r z e u g u n g s t r e u e s o<br />

v o r n e h m d a s t e h e n , daß sie, selbst<br />

wenn verurteilt von der menschlichen<br />

Macht einer wahnbetörten, schändenden<br />

Gegenwart, doch desto gewisser <strong>und</strong> siegreicher<br />

die Geschichtsportale der Zukunft<br />

aufreißen. Lozynskyj hat dies getan, unsere<br />

Bewegung hier schuldet ihm solidarische<br />

Anerkennung dafür; sein Prozeß, der erste<br />

anarchistische Prozeß seit über 10 Jahren, in<br />

dem es sich um die Ideale der anarchistischen<br />

Weltanschauung handelte, bildet


einen Markstein im Emanzipationsstreben<br />

der Völker Österreichs, ist, da ein Ruthene<br />

mit deutschen Karneraden zusammenwirkte,<br />

die grandiose Beweisstärke für den Anarchismus,<br />

vor dessen Banner der Bruderliebe<br />

jeder nationale Haß, jede nationale oder<br />

Rassenzerklüftung zurückweichen, um Raum<br />

zu geben für den Glücks- <strong>und</strong> Freiheitsgedanken<br />

Aller, für die herrschaftslose<br />

Gesellschaft des Kommunismus, dessen<br />

F<strong>und</strong>ament die Solidarität des Internationalismus<br />

ist.<br />

Der Nationalitätenstreit in<br />

Österreich.<br />

Eine Hauptursache der politischen <strong>und</strong><br />

wirtschaftlichen Rückständigkeit des öffentlichen<br />

Lebens in Österreich ist der seit<br />

Jahrzehnten immer von neuem geschürte<br />

Nationalitäten- <strong>und</strong> Rassenkampf, der gerade<br />

in der Ära des allgemeinen gleichen direkten<br />

Wahlrechtes Dimensionen angenommen hat,<br />

welche deutlich die Unfähigkeit <strong>und</strong> den<br />

Mangel an ernstem Willen s ä m t l i c h e r<br />

parlamentarischer Parteien, das Nationalitätenproblem<br />

zu lösen, drastisch beweisen.<br />

Die vielfach verbreitete Ansicht, diese Kämpfe<br />

auf die zahlreichen Nationen zurück<br />

zuführen, welche das österreichische Territorium<br />

bewohnen, ist ganz falsch; gibt es<br />

ja andere gemischtsprachige Gemeinwesen,<br />

deren Bewohner friedlich zusammenleben,<br />

verschont von jenem lächerlichen Nationalitätenhader,<br />

der in Österreich nur dem internationalen<br />

Klerikalismus <strong>und</strong> dem internationalen<br />

Kapitalismus zum Nutzen gereicht.<br />

So mannigfaltig auch die Ursachen dieser<br />

Kämpfe sein mögen, ihren Hauptgr<strong>und</strong><br />

bildet die auf dem H e r r s c h a f t s p r i n z i p e<br />

basierende dualistische Verfassung. «Teile<br />

<strong>und</strong> herrsche!» war die Losung jener Politiker,<br />

die im Jahre 1867 nach dem Bankerotte<br />

des Zentralismus den dualistischen<br />

Doppelzentralismus schufen, dessen Zweck<br />

die Sicherung der nationalen, politischen<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlichen Hegemonie der deutschen<br />

<strong>und</strong> magyarischen Bourgeoisie über<br />

alle übrigen Völker <strong>und</strong> Klassen war. Ali<br />

die chaotischen Wirren dies- <strong>und</strong> jenseits<br />

der Leitha in Vergangenheit, Gegenwart<br />

<strong>und</strong> auch für geraume Zukunft bilden die<br />

naturgemäße Konsequenz jener reaktionären<br />

Nationalitätenpolitik, die mit der Ausgrabung<br />

des ungarischen Staatsrechtes begann <strong>und</strong><br />

zur Galvanisierung der ebenso berechtigten<br />

oder vielmehr unberechtigten böhmischen<br />

<strong>und</strong> kroatischen Staatsrechten der Forderung<br />

nach einer Sonderstellung Galiziens <strong>und</strong><br />

der Proklamation des angeblich historisch<br />

begründeten Rechtes der Deutschen in<br />

Österreich auf die Vorherrschaft in diesem<br />

Staate die Fortsetzung fand. In einer Zeitperiode,<br />

in welcher die Einzelindividuen<br />

<strong>und</strong> Nationen auf geistigem <strong>und</strong> ökonomischem<br />

Gebiete nach A u t o n o m i e <strong>und</strong><br />

freier Assoziation, nach einem neuen sozialen<br />

Rechte ringen, kann es aber keine<br />

andere Lösung des Nationalitätenproblemes<br />

des Donaureiches geben als d i e f r e i e<br />

F ö d e r a t i o n s e i n e r s ä m t l i c h e n Nat<br />

i o n e n . Allerdings Parteien, die direkt<br />

oder indirekt vom Nationalitätenkampfe<br />

leben, der ihnen das geeignete Mittel erscheint,<br />

Ministerportefeuilles <strong>und</strong> Mandate<br />

zu ergattern, respektive zu behalten, die<br />

keine Umgestaltung des gesamten Kultur<strong>und</strong><br />

Wirtschaftslebens im Sinne der Autonomie<br />

der Individuen wollen, vielmehr die<br />

Verewigung der politischen <strong>und</strong> ökonomischen<br />

Rechtung derselben, wenn auch<br />

unter anderen Formen, erstreben, huldigen<br />

naturgemäß auch dem Wahne, in dem<br />

gegenwärtigen sogenannten sozialen Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

mittels der nationalen Herrschaftspolitik<br />

oder Ingr<strong>und</strong>legung verschiedener<br />

historischer Rechte, wahnwitziger parlamentarischer<br />

Obstruktionen oder sinnloser<br />

Straßenexzesse das österreichische Nationalitätenproblem<br />

lösen zu können. Aber<br />

der auf die Spitze getriebene chauvinistische<br />

Schwindel muß sich in letzter Linie naturgemäß<br />

gegen seine Urheber wenden <strong>und</strong><br />

dem ohnedies unfruchtbaren Parlamentarismus<br />

den Todesstoß geben, sowie der Wiederkehr<br />

des § 14 <strong>und</strong> eines Beamtenministeriums<br />

- schon heute da! — die <strong>Weg</strong>e<br />

ebnen. Wer z. B. die Protokolle des letzten<br />

böhmischen Landtages <strong>und</strong> des österreichischen<br />

Reichsrates liest, der muß mehr<br />

als durch theoretische Erörterungen von der<br />

Wahrheit unserer früher ausgesprochenen<br />

Behauptungen überzeugt werden. <strong>Unser</strong>e<br />

böhmischen Landboten <strong>und</strong> übrigen Parlamentarier<br />

könnten sich übrigens ihr Geld<br />

viel besser <strong>und</strong> ehrlicher als Komödianten<br />

auf irgend einem Theater verdienen, während<br />

ihre gesetzgeberische Tätigkeit einer<br />

Tragikomödie weit eher gleicht, da das<br />

Ergebnis ihrer gesamten nationalen Politik<br />

nur zu oft — Tote, Verw<strong>und</strong>ete <strong>und</strong> zertrümmerte<br />

Fensterscheiben, last but not<br />

least: — das S t a n d r e c h t sind.<br />

Von der Erkenntnis ausgehend, daß<br />

die Lösung des Nationalitätenproblems die<br />

Vorbedingung der sozialen Umgestaltung<br />

bildet <strong>und</strong> daß d i e F ö d e r a t i o n der<br />

ö s t e r r e i c h i s c h e n N a t i o n e n d i e e r -<br />

ste E t a p p e zur freien F ö d e r a t i o n in<br />

E u r o p a b i l d e t , der einzige Damm gegen<br />

die Weltgelüste der Pickelhaube <strong>und</strong> Knute<br />

ist, haben gerade wir Anarchisten, die Vorkämpfer<br />

für wirkliche Freiheit, ein Interesse<br />

daran, daß das Nationalitätengezänke in Österreich-Ungarn<br />

ein Ende finde <strong>und</strong> nicht in einen<br />

deutsch-slavisch-romanisch-magyarisch-unitischen<br />

Rassenkampf ausarte, der leicht der<br />

Beginn eines Weltbrands werden könnte.<br />

So wünschenswert aber die Entwirrung<br />

des österreichischen Chaos im Sinne dieser<br />

Föderation der Völker wäre, so ist nicht<br />

die geringste Hoffnung vorhanden, daß die<br />

Parlamentarier dies- <strong>und</strong> jenseits der Leitha<br />

diesen W e g betreten werden. So uneinig<br />

untereinander <strong>und</strong> so unklar in ihren <strong>Ziel</strong>en<br />

auch die verschiedenen Parteien sein mögen,<br />

sie alle haben das gemeinsame Interesse,<br />

daß der Nationalitätenkampf nicht ende,<br />

denn der nationale Friede wäre der Anfang<br />

von ihrem eigenen Ende. Sie alle, die Feudalen,<br />

Klerikalen, Liberalen, Nationalen,<br />

Antisemiten <strong>und</strong> Sozialdemokraten sämtlicher<br />

Volksstämme fühlen sich in ihrem Besitzstande<br />

<strong>und</strong> in ihrer Mandatspolitik, in einem<br />

allgemeinen parlamentarischen Wirrwarr so<br />

wohl <strong>und</strong> haben daher, alle samt <strong>und</strong> sonders<br />

nicht das geringste Interesse daran,<br />

den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen.<br />

Die logische Folge davon ist: das Nationalitätenproblem<br />

des Donaureiches wird<br />

daher n i c h t parlamentarisch, nicht mit den<br />

bestehenden Parteien, sondern ohne <strong>und</strong><br />

gegen dieselben gelöst werden.<br />

Anarchistische Gewerkschaften<br />

<strong>und</strong> ihre Politik.<br />

Die von der Sozialdemokratie erzogene<br />

Arbeiterschaft träumt sich leicht <strong>und</strong> gern<br />

in den Gedanken hinein, daß eines Tages<br />

ihnen die ö k o n o m i s c h e Macht zur<br />

Beherrschung <strong>und</strong> Leitung der Produktion<br />

ohne ihr Zutun in den Schoß fällt, <strong>und</strong><br />

die soziale Revolution, wie eine überirdische<br />

Gottheit, alle W<strong>und</strong>en mit einmal heilen,<br />

alle Tränen mit einmal stillen werde. So<br />

denkende Arbeiter vergessen ganz, daß sie<br />

sich durch eigene Kraft zu selbst denkenden,<br />

selbst handelnden Menschen zu erziehen<br />

haben, daß sie sich zu dem Berufe der<br />

Verwaltung <strong>und</strong> Leitung der Produktion<br />

heranbilden müssen, denn die Sonne, die<br />

heute noch bei ihrem Untergange auf gefesselte<br />

Sklaven herabblickte, wird morgen<br />

bei ihrem Aufgange nicht auf freie Menschen<br />

niederschauen.<br />

Wenn wir auch zugeben, daß äußere<br />

unvorhergesehene Ereignisse, wie Weltkriege<br />

<strong>und</strong> politische Revolutionen uns in<br />

der Entwicklung vorwärts zu treiben vermögen,<br />

so dürfen wir ihnen dennoch keine<br />

allzu große Rolle beimessen. Der Zeitpunkt<br />

in der Arbeiterbewegung, wo man,- wie<br />

viele sozialdemokratische Führer, von einem<br />

allgemeinen gegenseitigen Abschlachten<br />

der Völker, den Ausbruch der sozialistischen<br />

Aera erwartete, ist vorbei. Wir dürfen unsere<br />

Zukunftspläne nicht auf unkontrollierbare<br />

Faktoren aufbauen, sondern müssen<br />

uns daran gewöhnen, d i e r e v o l u t i -<br />

o n ä r e F o r t e n t w i c k l u n g der Arbeiter,<br />

ihre zielbewußte Tätigkeit <strong>und</strong> Befähigung<br />

zur wirtschaftlichen Führung der Produktion,<br />

mit andern Worten: d i e K r ä f t i g u n g<br />

i h r e s s o z i a l e n M a c h t b e w u ß s e i n s ,<br />

als bestimmende, zuverlässige Größen zu<br />

nehmen, die man bei sozialpolitischen Berechnungen<br />

gebrauchen kann.<br />

Schon oben ist gesagt worden, daß<br />

wir nicht leugnen, daß große äußere Ereignisse<br />

eine wichtige Rolle in den Kämpfen<br />

der Arbeiterklasse spielen können.<br />

Aber die Geschichte hat uns gelehrt —<br />

wir denken dabei an die russische Revolution<br />

— daß sie nur dann von Nutzen<br />

für die Arbeiterklasse sind <strong>und</strong> sein können,<br />

wenn diese i n n e r e Reife erlangt hat. Als<br />

eines der wichtigsten — ja vielleicht das<br />

allerwichtigste —• Erziehungsmittel zu dieser<br />

inneren Reife b e t r a c h t e n w i r d i e<br />

G e w e r k s c h a f t e n . In den Gewerkschaften<br />

soll nicht nur über Lohnerhöhung<br />

<strong>und</strong> Arbeitszeitverkürzung gesprochen werden,<br />

sondern hier sollen dem Arbeiter die<br />

wirtschaftlichen Verhältnisse seines Produktionszweiges,<br />

die technischen Veränderungen,<br />

die Absatzverhältnisse der Branche<br />

etc. etc. gelehrt werden. Kurz, hier soll der<br />

Arbeiter eine größere Einsicht in die wirtschaftlichen<br />

Bedingungen <strong>und</strong> in die inneren<br />

Zusammenhänge der Produktion bekommen.<br />

Die Gewerkschaftsorgane — die vom<br />

Geiste des Sozialismus beseelt sind —<br />

haben die Aufgabe, die ökonomischen<br />

Kenntnisse der Arbeiter zu fördern. Wenn<br />

wir bedenken, daß dereinst die Arbeiter<br />

der Produktion selbst vorzustehen haben,<br />

so können <strong>und</strong> dürfen wir eine Erweiterung<br />

der wirtschaftlichen Kenntnisse der Arbeiter<br />

durchaus nicht gering anschlagen. Die erförderlichen<br />

Eigenschaften, die' zur Übernahme<br />

der Produktion notwendig sind,<br />

fallen uns nicht in den Schoß, wir müssen<br />

sie uns durch eigene Tätigkeit selbst erwerben.<br />

Wenn wir den Glauben an eine<br />

«erleuchtete» Zentralbehörde, die die Produktion<br />

von oben herunter leitet, abgelegt<br />

haben, so bleibt uns nur übrig, uns zur<br />

Führung <strong>und</strong> Verwaltung der Produktion<br />

selbst herauszubilden, <strong>und</strong> dazu bilden gerade<br />

die Gewerkschaften den richtigen Boden.<br />

In einer zukünftigen Gesellschaftsordnung<br />

werden frei gebildete, auf föderativer<br />

Gr<strong>und</strong>lage wirkende <strong>und</strong> sich vereinigende<br />

Gewerkschaften oder Berufsgenossenschaften<br />

die Aufgabe haben, die<br />

Leitung <strong>und</strong> Verwaltung der Produktion<br />

durchzuführen. Darum erblicken wir in den<br />

Gewerkschaften die wichtigsten ökonomischen<br />

Bestandteile einer zukünftigen<br />

Gesellschaft. Sie sind diejenigen Faktoren,<br />

aus denen sich die Gesellschaft der Zukunft<br />

zusammensetzen wird. Es ist viel <strong>und</strong> heftig<br />

darüber gestritten worden, wie wir in einer<br />

zukünftigen Gesellschaftsordnung die Produktion<br />

leiten werden. Als einzige Organisationsgebilde<br />

dieser Leitung können unserer<br />

Meinung nach nur die Gewerkschaften in<br />

Betracht kommen. So wie die Unternehmer<br />

heute durch ihre Kartelle, Trusts etc. mit<br />

einander in Verbindung stehen <strong>und</strong> durch<br />

gegenseitige Verträge die Produktion in<br />

ihrem Sinne leiten, so werden in der anarchistischen<br />

Zukunft die Gewerkschaften<br />

durch freie Verträge <strong>und</strong> Übereinkünfte die<br />

Produktion regeln. Diese Verbände der<br />

Arbeiter werden natürlich bedeutend vielgestaltiger<br />

<strong>und</strong> vielverzweigter sein, als die<br />

heutigen Gewerkschaften; indem bei den<br />

Arbeitern das gesellschaftliche Interesse<br />

mit dem persönlichen wirtschaftlichen Interesse<br />

dann gleichbedeutend ist, so werden<br />

sie sich jeweilig den Bedürfnissen der Ge-


sellschaft anpassen. Es würde uns zu weit<br />

führen, wollten wir hier ein detailliertes<br />

Bild von dem Umfang <strong>und</strong> der Gestalt<br />

dieser freien Wirtschaftsverbände <strong>und</strong> Kommunen<br />

entwerfen. Wir wollen uns hier<br />

damit begnügen, die Tendenz <strong>und</strong> die<br />

Richtung angegeben zu haben, in der sich<br />

die Betätigung der genossenschaftlichen<br />

Produktion der Zukunft vollziehen wird,<br />

die heutige Erziehung zu derselben hinwirken<br />

müßte.<br />

Aber noch eine andere Aufgabe vergessen<br />

die heutigen sozialdemokratischen<br />

Gewerkschaften zu pflegen. Die Pflege<br />

dieser Aufgabe ist von eminenter Wichtigkeit.<br />

W e r w i r d i n e i n e r z u k ü n f t i g e n<br />

G e s e l l s c h a f t d i e A r b e i t s l e i s t u n g<br />

d e r E i n z e l n e n z u b e w e r t e n u n d<br />

a b z u s c h ä t z e n h a b e n ? Nur die Gewerkschaft,<br />

nur die Produktionsgruppe selbst<br />

kann die Leistung der Einzelnen gerecht<br />

beurteilen.* Nur diese kennt aus dem Augenschein,<br />

aus den tatsächlichen Feststellungen<br />

die Leistung der einzelnen Mitglieder. In<br />

einem sozialdemokratischen Zukunftsstaat<br />

soll alles von einem demokratisch erwählten<br />

Zentralkomitee geleitet werden. Aber alles,<br />

was diese Zentralleitung über die Bewertung<br />

der Arbeit wissen kann, hat sie doch erst<br />

von den Berufsgenossenschaften erfahren;<br />

w e s h a l b also sollten die Arbeiter, da sie<br />

doch ihre Arbeiten selbst am besten bewerten<br />

können, erst den Umweg durch die<br />

Zentralleitung machen? Also wir sehen, daß<br />

daß auch in dieser Frage die Gewerkschaften<br />

eine wichtige Aufgabe zu lösen haben.<br />

Doch neben dieser, schon eminent<br />

wichtigen Aufgabe, sehen wir im Geiste<br />

eine andere empor steigen. Wie wir wissen,<br />

ist die Produktion auf den verschiedensten<br />

Gebieten nicht gleichmäßig. So wie heute,<br />

wird auch später nach einzelnen Artikeln<br />

eine stärkere Nachfrage sein. Nun kann es<br />

vorkommen, so wird man sagen, daß eine<br />

solche Produktionsgruppe, die gerade diesen<br />

oder jenen besonders begehrten Artikel<br />

anfertigt, unter den günstigsten Verhältnissen<br />

arbeitet, allen andern Arbeitern den<br />

Zutritt zur Gruppe versperrt. Ist dies aber<br />

möglich? Nein, denn in einem solchen Falle<br />

würden dann die verschiedensten Produktionsgruppen<br />

mit dieser Gruppe keine Verträge<br />

abschließen; <strong>und</strong> da nun die erste,<br />

monopolisierende Gruppe ohne Hilfe der<br />

andern Gruppen ihre Arbeit nicht verwerten<br />

könnte, so würde sie selbstredend sehr bald<br />

ihre Reihen wieder den übrigen Arbeitern<br />

öffnen. So können also die Gewerkschaften<br />

mit Hilfe ihrer wirtschaftlichen Machtmittel<br />

jeden eventuell entstehenden zünftlerischen<br />

Geist leicht unterdrücken. Wir sehen somit,<br />

daß nur die Gewerkschaften im Stande sind,<br />

für Aufrechterhaltung der sozialistischen<br />

Produktionsregelung zu sorgen; wir können<br />

also diesen großen schwerfälligen bürokratischen<br />

Zentralapparat der Sozialdemokratie,<br />

der vielleicht im Namen der Gesellschaft<br />

in einer sozialistischen Zukunft funktionieren<br />

soll, völlig entbehren.<br />

Die gewerkschaftlichen Verbände haben<br />

also nicht nur heute, sondern auch in der<br />

sozialistischen Gesellschaft große Aufgaben<br />

zu erfüllen. Sie haben durch freie Verträge<br />

die wirtschaftliche Produktion zu leiten <strong>und</strong><br />

das ökonomische Gleichgewicht aufrecht<br />

zu erhalten. Alle Gewerkschaften, die solche<br />

Aufgaben erfüllen können — <strong>und</strong> daran<br />

fehlt es den heutigen Zentralgewerkschaften<br />

durchaus —, werden die wirtschaftlichen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der neuen sozialistischen Welt<br />

abzugeben haben, in der Heranentwicklung<br />

auf diesem Gebiete, in ihren mannigfachen<br />

Formen erblicken wir Anarchisten die einzige<br />

wahre politische Aufgabe der Gewerkschaften.<br />

Otto Weidt.<br />

* Der Verfasser schreibt augenscheinlich als<br />

k o l l e k t i v i s t i s c h e r Anarchist, dessen wirtschaftlicher<br />

Gr<strong>und</strong>satz der ist: Einem jeden nach<br />

seinen L e i s t u n g e n . Zur Klarstellung sei gesagt,<br />

daß unser Blatt auf k o m m u n i s t i s c h - a n a r c h i s -<br />

tischen Prinzipien steht: Einem jeden nach seinen<br />

B e d ü r f n i s s e n . Anm. d. Red.<br />

Gustav Hervés Rede gegen<br />

Jean Jaurès.*<br />

»Wenn ich an dieser Diskussion teilnehme<br />

— sagte Hervé — so ist es, weil<br />

die Partei in Toulouse einen <strong>Weg</strong> eingeschlagen<br />

hat, welcher unvermeidlich zur<br />

Spaltung führt, <strong>und</strong> dadurch, vielleicht unbewußt,<br />

den Vertrag verletzt hat, welchen<br />

wir vor drei Jahren bei der Vereinigung<br />

der verschiedenen Fraktionen unterzeichnet<br />

haben. Meine Überzeugung hat sich seitdem<br />

nicht geändert. I c h w a r d a m a l s<br />

w i e jetzt A n t i p a r l a m e n t a r i e r <strong>und</strong> befürwortete<br />

eine Annäherung an die kommunistischen<br />

Anarchisten, welche ich als unsere<br />

Verbündete <strong>und</strong> Kampfesgenossen betrachte.<br />

Die sozialdemokratische Partei hat sich<br />

auf dem Toulouser Kongreß öffentlich als<br />

eine parlamentarische Partei hingestellt. Und<br />

das zu einer Zeit, wo die parlamentarischen<br />

Parteien überall bankrott machen — nicht<br />

nur einzelne ihrer Mitglieder, denn es gibt<br />

ja überall unehrliche Leute, auch außerhalb<br />

des Parlaments —, aber die ganze radikale<br />

Partei <strong>und</strong> ein Teil der Sozialdemokratie,<br />

zu welcher Millerand, Briand, Viviani noch<br />

gestern gehörten. » W a g t es j e m a n d zu<br />

b e h a u p t e n « sagte soeben Jaurès —<br />

d a ß w i r s o z i a l d e m o k r a t i s c h e A b -<br />

g e o r d n e t e S c h m a r o t z e r sind g l e i c h<br />

den b ü r g e r l i c h e n A b g e o r d n e t e n , daß<br />

u n s e r e A r b e i t im P a r l a m e n t unnütz<br />

ist?« Ja, wir w a g e n das zu b e h a u p t e n !<br />

Man hat uns in Toulouse vorgeworfen, daß<br />

wir die Reformen verachten. Die Sozialdemokraten,<br />

sagt ihr, haben alle Reformen,<br />

wie z. B. die Einkommensteuer, die Altersversorgung<br />

der Arbeiter, die Nationalisation<br />

der Bahnen <strong>und</strong> Bergwerke, vors Parlament<br />

gebracht, <strong>und</strong> jetzt verleugnet ein Teil von<br />

ihnen dieselben. Nur v e r g e ß t i h r , d a ß<br />

a l l e d i e s e s c h ö n e n R e f o r m e n v o n<br />

d e r r a d i k a l e n B o u r g e o i s i e erf<strong>und</strong>en<br />

w o r d e n sind, lang ehe es e i n e soziald<br />

e m o k r a t i s c h e Partei g a b . Übrigens<br />

besteht die Einkommensteuer in England<br />

<strong>und</strong> Preußen; die Altersversorgung in<br />

Deutschland <strong>und</strong> England <strong>und</strong> bald auch<br />

in Österreich; die Bahnen sind verstaatlicht<br />

in Deutschland, Belgien, sogar in Rußland.<br />

Und jetzt, wo die Radikalen in Frankreich<br />

gezwungen sind, ihre diesbezüglichen Versprechungen<br />

einzulösen, tretet ihr vor, um<br />

den Verdienst dafür einzuheimsen. D a s<br />

ist freilich b e q u e m e r , als d u r c h s<br />

g a n z e L a n d den S o z i a l i s m u s <strong>und</strong> die<br />

s o z i a l e R e v o l u t i o n zu p r e d i g e n ; als<br />

den geistig zurückgebliebenen Arbeiter- <strong>und</strong><br />

Bauernmassen darzulegen, daß die einzige<br />

Lösung, um ihr Elend abzuschaffen, die<br />

ist, die Arbeitsmittel zu ihrem gemeinsamen<br />

Eigentum zu machen.<br />

Und wenn ihr bloß unnütz wäret!<br />

Am 18. November hat unser G e n o s s e Hervé<br />

nach neunmonatlicher Haft das Gefängnis verlassen<br />

; einige T a g e darauf hat er in einer großen<br />

Versammlung die Idee des revolutionären Sozialismus<br />

aus Anlaß des Beschlusses des Toulouser<br />

sozialdemokratischen Kongresses — über den wir<br />

in letzter Nummer des „W. f. A." unsere Meinung<br />

äußerten — dargelegt. Seine Ausführungen sind für<br />

uns deshalb von besonderem Interesse, weil sie<br />

uns wiederum zeigen, daß ein Teil der französischen<br />

Sozialisten wirklich S o z i a l i s t e n — also wenn<br />

auch nicht dem Namen, so doch der Überzeugung<br />

nach A n a r c h i s t e n — sind, <strong>und</strong> daß ihr Bruch<br />

mit der parlamentarischen Sozialdemokratie <strong>und</strong> die<br />

Vereinigung sämtlicher revolutionären Kräfte Frankreichs<br />

nahe bevorsteht. Wir bringen das Referat<br />

Hervés, das dieser gegen Jaurès <strong>und</strong> in einer v o n<br />

d i e s e m einberufenen Versammlung hielt, auszüglich<br />

wieder. Nachdrücklich heben wir hiermit hervor,<br />

daß in der von Jaurès den Versammelten nachher<br />

unterbreiteten Resolution die Worte von der parlamentarischen<br />

Aktion zu Gunsten angeblicher Eroberung<br />

der Staatsgewalt v o l l s t ä n d i g a u s -<br />

g e l a s s e n wurden. Wir bringen die Rede auch<br />

deshalb, weil wir nicht fehl zu gehen glauben, wenn<br />

wir von ihr den Anfang der offenen Spaltung<br />

zwischen parlamentarischen Strebern <strong>und</strong> revolutionären<br />

Sozialisten innerhalb der französischen<br />

Sozialdemokratie datieren. In mehr als einem Satze<br />

glossiert Hervé, freilich unbewußt, auch haarscharf<br />

die Ereignisse innerhalb der ö s t e r r e i c h i s c h e n<br />

Sozialdemokratie während der letzten 14 T a g e .<br />

Anm. d. Red.<br />

Aber ihr seid eine Gefahr für den Sozialismus,<br />

d e n n aus S o r g e um e u e r e<br />

W a h l e r f o l g e — welche das einzig Wichtige<br />

für euch sind — bekämpft ihr jede<br />

Regung des revolutionären Geistes! Ihr<br />

predigt fortwährend gegen jede soziale<br />

Massenaktion des Proletariats oder verdächtigt<br />

dieselbe als das Werk der Polizei.<br />

Aber die direkte Aktion ist keineswegs so<br />

nutzlos, wie ihr behauptet. Sie ist es, welche,<br />

zielbewußt angewendet, die Kapitalisten <strong>und</strong><br />

Regierungen am meisten zum Nachgeben<br />

bewegt. Fragt nur die großen Unternehmer<br />

<strong>und</strong> Aktiengesellschaften, die ihre Arbeiter<br />

aussperren, ob es ihnen gleich ist, wenn<br />

die letzteren, ehe sie die Werkstatt verlassen<br />

<strong>und</strong> auf die Straße geworfen werden,<br />

in ihrer Arbeit passive Resistenz üben?<br />

Fragt die Maurer <strong>und</strong> Erdarbeiter von Paris,<br />

ob sie nicht durch ihre soziale Organisationskraft<br />

die Streikbrecher besiegt haben?<br />

Es ist eine Schande, wenn ihr nach den<br />

blutigen Ereignissen von Villeneuve von<br />

»unnützen Plänkeleien« redet! Die Kameraden,<br />

die dort gefallen sind, sind nicht<br />

umsonst gestorben; die man verw<strong>und</strong>et<br />

<strong>und</strong> eingekerkert hat, leiden nicht umsonst.<br />

Die herrliche Tat der Solidarität <strong>und</strong> Empörung,<br />

welche sie vollbracht, haben das<br />

französische Proletariat aus seinem Schlummer<br />

erweckt. Sie war einer jener schmerzhaften,<br />

aber notwendigen Vorkämpfe, die<br />

das Proletariat zu immer kräftigeren Vorstößen<br />

veranlassen, die Herrschenden zum<br />

Denken zwingen wird <strong>und</strong> allein es sind, die<br />

sogar jene Reformen, denen ihr so viel<br />

Wert beilegt, beschleunigen.<br />

Wohin eure '»Vernünftigkeit« führt,<br />

haben wir erst kürzlich bei Anlaß des drohenden<br />

Marokkanischen Konfliktes mit<br />

Deutschland gesehen. I h r s o z i a l d e m o -<br />

k r a t i s c h e n W ä h l e r steht mit o f f e n e m<br />

M u n d e v o r dem A b g e o r d n e t e n h a u s e<br />

<strong>und</strong> w a r t e t auf e i n e s c h ö n e Rede von<br />

J a u r è s . Wenn er gut gesprochen, glaubt<br />

ihr, daß ihr etwas getan habt. Ihr denkt ja<br />

gar nicht daran, euch dementsprechend<br />

wirtschaftlich zu organisieren, daß ihr einen<br />

Krieg zur Unmöglichkeit macht, das ist<br />

euere geringste Sorge! Dahin führt euch<br />

euer parlamentarischer Schwindel kram. Wenn<br />

der Krieg morgen ausbricht, werdet ihr<br />

ebenso ohnmächtig sein, ihn zu verhüten,<br />

wie in 1870.<br />

Darum stellen wir diesem parlamentarischen<br />

Sozialismus, welcher nichts anderes<br />

kann als Vertreter wählen, unseren revolutionären,<br />

antiparlamentarischen Sozialismus<br />

entgegen. Wir kümmern uns nicht um die<br />

Erfolge der Wahlen. Wir wollen die parlamentarischen<br />

Reformen den bürgerlichen<br />

Radikalen überlassen <strong>und</strong> unsere Kräfte<br />

einer offenen, unermüdlichen Propaganda<br />

unseres sozialistischen Ideals widmen; denn<br />

wir brauchen den Sozialismus, nicht aber<br />

Scheinreformen. Wir wollen, daß unsere<br />

Propagandisten in die entlegendsten Dörfer<br />

dringen <strong>und</strong> die Masse der Bauern <strong>und</strong><br />

kleinen Besitzer beeinflussen, welche die<br />

allgemeine Arbeiterföderation nicht beeinflussen<br />

kann, da sie nur Lohnarbeiter in<br />

ihre Organisation aufnimmt; wir wollen<br />

diesen erklären, was das kämpfende Proletariat<br />

anstrebt, damit sie, die Bauern, in<br />

ihrem eigenen Interesse diesen Bestrebungen<br />

nichts in den <strong>Weg</strong> legen. Vor allem wollen<br />

wir sie durch die antimilitaristische Propaganda,<br />

welcher sie so leicht zugänglich<br />

sind, dahingehend aufklären, daß sie sich<br />

nicht dazu hergeben, die soziale Befreiung<br />

der städtischen Arbeiter zu unterdrücken.<br />

Und endlich müssen wir unsere Agitation so<br />

betreiben, daß die Massen es begreifen sollen:<br />

E s gibt kein g r ö ß e r e s V e r b r e c h e n ,<br />

als das V e r b r e c h e n des Krieges!«<br />

GENOSSEN! Kolportiert in<br />

allen Lokalen,<br />

in denen Ihr verkehrt, den „W. f. A."<br />

Werbet unermüdlich Abnehmer<br />

für unser Blatt!


Der Mißbrauch<br />

des Generalstreiks durch die<br />

Sozialdemokratie.<br />

I.<br />

Die sozialistische Lehre ist der Oedanke<br />

des Gemeinschaftsbesitzes aller Werkzeuge,<br />

aller Naturquellen <strong>und</strong> Reichtümer durch<br />

das Volk, ist die Anfhebung des Privateigentums<br />

<strong>und</strong> des ihm unentbehrlichen<br />

Lohnsystems. Soweit wir die Bestrebungen<br />

der unterdrückten Klassen in der Gesellschaft<br />

geschichtlich zu verfolgen vermögen, sehen<br />

wir, daß dieses Ideal sich stets als eine Art Protest<br />

wider die politischen Formen des Zusammenlebens<br />

<strong>und</strong> ihre rein äußerlichen<br />

Veränderungen aufpflanzt. Immer, wenn die<br />

Formen des politisch-staatlichen Zusammenlebens<br />

ihr äußeres Aussehen änderten, alle<br />

die hungernde Not <strong>und</strong> die soziale Besitzlosigkeit<br />

der ausgebeuteten Massen notdürftig<br />

zu verdecken gesucht ward, da war<br />

es stets die Idee des Gemeinschaftsbesitzes<br />

des Gr<strong>und</strong>es <strong>und</strong> Bodens, der Maschinen<br />

<strong>und</strong> sonstigen Erzeugungsmittel, die als<br />

lebendiger Leidensprotest die folgende Erklärung<br />

abgab: Alle eure politischen Reformen<br />

<strong>und</strong> Änderungen des Staatssystems<br />

sind für das Proletariat insoferne wertlos,<br />

als sie den Kern der Frage, das soziale<br />

Ausbeutungsverhältnis zwischen Reichen<br />

<strong>und</strong> Armen, nicht berühren; die »politischen<br />

Rechte« sind erst <strong>und</strong> dann auch wirklich<br />

n u r im Sozialismus enthalten; umgekehrt<br />

aber, der Sozialismus n i c h t in den »politischen<br />

Rechten«, die nur Scheingarantien<br />

<strong>und</strong> in ihrer tieferen Bedeutung gar nichts<br />

anderes sind, als eine direkte Bestechung<br />

der Volksführer, denen die Machthaber<br />

durch das allgemeine Wahlrecht, Parlamentarismus<br />

u. dgl. m. die Möglichkeit bieten,<br />

an der allgemeinen Ausbeutung <strong>und</strong> Beherrschung<br />

des Volkes auch m i t teilzunehmen.<br />

In seiner praktischen Klassenkampfpolitik<br />

ist der Sozialismus somit diejenige<br />

Lehre, die den Ausgebeuteten <strong>und</strong> Unterdrückten<br />

die wirtschaftliche, s o z i a l e<br />

Frage als das wichtigste <strong>Ziel</strong> des Kampfes<br />

zwischen den Ausbeutern <strong>und</strong> Ausgebeuteten<br />

darweist, ist derjenige <strong>Weg</strong>weiser, der<br />

sie davon abhalten soll, aufs neue die verhängnisvollen<br />

Irrtümer der Vergangenheit<br />

zu wiederholen, ihre Kraft <strong>und</strong> revolutionäre<br />

Stoßintensität auf nationale, religiöse, kurz<br />

politische Zwecke zu verzetteln. Die letzteren<br />

berühren, wie gesagt, die Kernfrage: Aufhebung<br />

der Lohnsklaverei n i c h t ; in dieser<br />

Aufhebung selbst ist aber bereits der größte<br />

Teil aller nationalen, religiösen <strong>und</strong> politischen<br />

Probleme naturgemäß gelegen, denn<br />

der anarchistische Sozialismus - nur dieser!<br />

— bedeutet Autonomie, freie föderalistische<br />

Gruppenvereinigung, ist Solidarität<br />

<strong>und</strong> Freiheit.<br />

So fassen die Anarchisten den Sozialismus<br />

auf. Für sie handelt es sich vor allem<br />

darum, das Heraufziehen der sozialen Revolution<br />

durch die geistige Erziehung des<br />

Proletariats <strong>und</strong> dessen Schulung im praktischen,<br />

sozialen Kampfe zu beschleunigen.<br />

Aus diesem Gr<strong>und</strong>e wenden sie ihre<br />

Hauptaufmerksamkeit den wirtschaftlichen<br />

Kampfesmitteln des Proletariats zu, einfach<br />

deshalb, weil das Proletariat in seiner<br />

Massengruppierung bislang keine anderen<br />

wirklichen Kampfesmittel besitzt. Denn von<br />

der Arbeit des Proletariats hängt die ganze<br />

bürgerliche Gesellschaft ab, <strong>und</strong> wenn diese<br />

Arbeit sich ihr einmal verweigert, ist sie<br />

ohnmächtig, muß mit dem Proletariate<br />

rechten. In einer solchen Kampfesschulung<br />

für immer weitere <strong>Ziel</strong>e bis zur vollständigen<br />

Befreiung erblicken die Anarchisten<br />

die Gewähr für diese selbst.<br />

Von diesem Standpunkte ausgehend,<br />

propagierten die Anarchisten stets den wirtschaftlichen<br />

Generalstreik, d. h. denjenigen<br />

Streik der organisierten Arbeiter, der sich<br />

gewisse wirtschaftliche <strong>Ziel</strong>e als unmittelbar<br />

zu erreichende Forderung stellt, haben<br />

schon seit den Zeiten der alten »Internationale«<br />

bewiesen, daß durch den Generalstreik<br />

politische wie soziale Reformen zu<br />

erreichen sind <strong>und</strong> der endliche Generalstreik,<br />

als Vollreife Frucht vorheriger Erprobung,<br />

Erweiterung <strong>und</strong> Immensität den<br />

Beginn der sozialen Revolution die<br />

Neugestaltung aller Lebensverhältnisse auf<br />

kommunistisch-anarchistischer Gr<strong>und</strong>lage -anbahnen<br />

würde.<br />

Neben den direkt dagegen Interessierten,<br />

der Bourgeoisie <strong>und</strong> den Staatsrepräsentanten,<br />

gab es für die Anarchisten, ihre Propaganda<br />

des Generalstreiks, keine größere Feindin<br />

<strong>und</strong> willfährigere Handmaid der bürgerlichen<br />

Gesellschaft, als die Sozialdemokratie. Wem<br />

ist es nicht in Erinnerung, wie sie den<br />

Generalstreik verleumdete, verlachte <strong>und</strong><br />

verhöhnte? Wer weiß nicht, daß sie, die<br />

»Wissenschaftliche«, seit Engels <strong>und</strong> mit<br />

ihm den Generalstreik als Generalunsinn<br />

ausposaunte -- bis sie die Kampfesbetätigung<br />

des romanischen Proletariats, vornehmlich<br />

unter dem Einfluß anarchistischer<br />

Gedanken stehend, auch des slavischen<br />

Proletariats dazu z w a n g , den Generalstreik<br />

als eine nicht nur ernst zu nehmende, sondern<br />

praktisch als ihre wichtigste Waffe,<br />

oder wie sie es nannte, als »letztes Mittel«<br />

anzuerkennen. Denn, so komisch es auch<br />

wirkt, der »Generalunsinn« ward urplötzlich<br />

»das letzte Mittel«, das imstande ist,<br />

dem bankerotten Parlamentarismus, der<br />

überall nur durch Gnade der Krone oder<br />

der republikanisch Herrschenden vegetiert,<br />

seine ihm einmal entzogene Basis zurückzuerobern.<br />

So wurde der Generalstreik auch<br />

ein Mittel der Sozialdemokratie, <strong>und</strong> wie<br />

sie es mit fast allen Gedanken des Sozialismus<br />

gemacht hat, die nun erst unter dem<br />

Einfluß unserer, der anarchistischen, auf<br />

den Gr<strong>und</strong> des ganzen Problems gehenden<br />

Aufklärung wieder gereinigt werden, so<br />

korrumpierte, verfälschte <strong>und</strong> mißbrauchte<br />

sie auch den Generalstreik für die ehrgeizigen,<br />

egoistisch-eigennützigen Zwecke<br />

ihrer F ü h r e r , die eben allzugern, gleich<br />

den bürgerlichen Abgeordneten, eine Rolle<br />

im »hohen Hause« spielen, die, dies sei<br />

nie übersehen, so gut bezahlt ist, daß nicht<br />

etwa die Kleinbourgeoisie, sondern nur die<br />

Großbourgeoisie diese Bezahlung als Maßstab<br />

ihrer Einkommensverhältnisse besitzt.<br />

Der Kampf zwischen Anarchisten <strong>und</strong><br />

Sozialdemokraten um den G e n e r a l s t r e i k<br />

ist in eine ganz neue Phase eingetreten.<br />

Dem Generalstreik die gebührende Anerkennung<br />

auch von Seite der Sozialdemokraten zu<br />

verschaffen — das ist dem Anarchismus an<br />

Hand der harten Tatsachen des Lebens <strong>und</strong> der<br />

soz.-dem. Ohnmacht gelungen. Heute handelt<br />

es sich um etwas anderes. Um nicht mehr<br />

<strong>und</strong> nicht weniger als darum, ihn wieder<br />

aus ihren Händen zu befreien, einfach deshalb,<br />

weil er darin eine taube Nuß, eine<br />

ganz wert- <strong>und</strong> zwecklose Kraftverschwendung<br />

proletarischer Energie geworden <strong>und</strong><br />

wird. Während wir Anarchisten den Generalstreik<br />

als Kampfesmittel zur Erringung<br />

höherer Löhne, niederer Mietspreise, kurz<br />

zwecks Verbesserung der sozialen Lebensverhältnisse<br />

in allen Richtungen betrachten,<br />

auch als Abwehrmittel gegen politische Anschläge<br />

der Reaktion, als Angriffsmittel, um<br />

deren Machtbereich zu schmälern, wie auch<br />

um Kriegen effektvoll vorzubeugen, verwerfen<br />

die Sozialdemokraten den Generalstreik<br />

in diesem Sinne vollständig <strong>und</strong><br />

wünschen ihn nur zu verwenden für die<br />

Aufrechterhaltung <strong>und</strong> als Schutzwaffe des<br />

Parlamentarismus. Desselben Parlamentarismus,<br />

der noch in keinem Lande trotz einer<br />

fast ein halbes Jahrh<strong>und</strong>ert währenden proletarischen<br />

Betätigung auch nur im Geringsten<br />

die Lage des arbeitenden Volkes<br />

verbessert hat, der, im Gegenteil, dasjenige<br />

Feigenblatt des Absolutismus war, durch<br />

das das bestehende Herrschaftssystem die<br />

Ausbeutung u n g e s t ö r t e r <strong>und</strong> u n s i c h t -<br />

b a r e r betreiben konnte. Unterstützt wird<br />

es in diesem Tun von den gewählten Parlamentariern<br />

a l l e r Parteien, denen dabei<br />

die Aufgabe zufällt, durch weinselige Reden<br />

<strong>und</strong> hochtönende Phrasen dem Volke Sand<br />

in die Augen zu streuen <strong>und</strong> es vom<br />

Kampfe wider die wahren Schuldigen abzulenken,<br />

in einen wüsten Parteikampf<br />

wider die vorgeschobenen Helfershelfer<br />

der verschiedenen Ausbeutungs- <strong>und</strong> Herrschaftsinteressen<br />

hinein zu zerren, der natürlich<br />

sozial in keiner Weise zur Emanzipation<br />

führen kann, nur immer tiefer in das<br />

Dickicht des Parteihasses, des Scheinkampfes<br />

<strong>und</strong> der vermehrten Versklavung<br />

geleitet.<br />

W i r A n a r c h i s t e n v e r k ü n d e n :<br />

D e r G e n e r a l s t r e i k m u ß e i n K a m -<br />

p f e s m i t t e l d e s V o l k e s s e i n , u m<br />

w i r t s c h a f t l i c h e V e r b e s s e r u n g e n z u<br />

e r r i n g e n , a u f d a ß e s e n d l i c h den<br />

W e g b e t r e t e , d e r z u r v o l l s t ä n d i g e n<br />

A b s c h ü t t e l u n g der L o h n f e s s e l n führt.<br />

Darauf entgegnen die Sozialdemokraten:<br />

»Ihr seid Hetzer, Schürer! Ihr wollt das<br />

Volk in die Kanonen hinein treiben! Ihr<br />

ruft es auf zu Aktionen, denen es nicht<br />

gewachsen ist!«<br />

Niemals sind größere Lügen geäußert<br />

worden, als diese Worte sie enthalten, die<br />

auch sinnfällig die innere Verwandtschaft<br />

zwischen Sozialdemokratie <strong>und</strong> Bürgertum<br />

offenbaren. Und um ihnen einmal ganz gehörig<br />

die Spitze abzubrechen, ist es nötig,<br />

gründlich ins Gericht zu gehen mit ihren<br />

Verübern. Denn es ist nicht wahr, daß w i r<br />

das Volk »verhetzen«; wir klären es auf,<br />

weisen ihm den <strong>Weg</strong>, den es zu wandeln<br />

hat, um sich befreien zu können <strong>und</strong> verweisen<br />

es auf seine eigene Kraft, die jeder<br />

der Freiheit würdige <strong>und</strong> für sie reife<br />

Mensch zu betätigen wissen muß. Aber<br />

gerade umgekehrt wird ein Schuh daraus:<br />

Die Sozialdemokratie hat das Volk schon<br />

mehrfach in ein G e n e r a l s t r e i k a b e n t e u e r<br />

zu G u n s t e n der W a h l r e c h t s e r r i n g u n g<br />

hineingehetzt, hat es für vollständig falsche<br />

Zwecke in Bewegung gesetzt, vor allem<br />

dieses Volk dazu verführt, s e i n Leben in<br />

Gefahr zu bringen <strong>und</strong> zu opfern für die<br />

Interessen anderer, nämlich der auf Gr<strong>und</strong>lage<br />

des allgemeinen Wahlrechtes G ew<br />

ä h l t e n . Es ist dies ein eigenes Kapitel<br />

in der Geschichte des Generalstreiks, ist<br />

bis jetzt noch gar nicht gewürdigt worden,<br />

<strong>und</strong> verdient ganz insbesondere von uns<br />

Österreichern aufgerollt zu werden, die wir<br />

jetzt wieder vor der durch das ungarische<br />

Schwindelwahlrecht geschaffenen Propaganda<br />

für den Generalstreik zu Gunsten<br />

des allgemeinen, gleichen Wahlrechtes in<br />

Ungarn stehen, wie auch vor der durch<br />

die Beschränkung, Verkümmerung <strong>und</strong> Verkrüppelung<br />

des Landtagswahlrechtes in den<br />

diversen Kronländern geschaffenen Generalstreiksituation.<br />

Sozialdemokratie <strong>und</strong> Christlichsoziale<br />

sind es, die nun gemeinsam vorgehen<br />

<strong>und</strong> das Volk zur Demonstration,<br />

wie Aktion aufrufen. Nur wir sagen: Die<br />

Wahlrechtsfrage ist eine b ü r g e r l i c h e<br />

Frage, hat mit dem Sozialismus nichts zu<br />

schaffen; mögen die Bourgeoisie <strong>und</strong> diejenigen<br />

kleinbürgerlichen Elemente, die sich<br />

auch verkürzt wissen, sich dafür einsetzen,<br />

mögen sie mit Steuerverweigerung etc. antworten.<br />

Das Proletariat kann sie in diesem<br />

Kampfe sympatisch unterstützen; niemals<br />

aber soll es seine soziale Kampfeskraft <strong>und</strong><br />

seine Energie in den Dienst bürgerlicher<br />

Interessen stellen. Will man einen Generalstreik<br />

- dann ein Generalstreik für proletarische<br />

Interessen, gegen Staat, Kapital<br />

<strong>und</strong> Bourgeoisie!<br />

II.<br />

Betrachten wir des näheren die unverantwortliche<br />

Hineinhetzerei in einen Generalstreik,<br />

die die Sozialdemokratie zu<br />

Gunsten wert- <strong>und</strong> zweckloser »politischer<br />

Rechte« mit dem Volke getrieben hat.<br />

Belgien.<br />

Zwischen den 80er <strong>und</strong> 90er Jahren<br />

gab es in B e l g i e n ausgedehnte Berg-


arbeiterstreiks, die oftmals eine Viertelmillion<br />

Arbeiter erfaßten. Durch diese<br />

Streiks errangen sich die Grubensklaven<br />

ihre Koalitionsrechte, nämlich durch die<br />

Praxis des wirtschaftlichen Kampfes. Zur<br />

gleichen Zeit arbeitete die sozialdemokratische<br />

Partei Belgiens auf Abschaffung des<br />

Zensuswahlrechtes hin. Natürlich ganz vergebens,<br />

da sie keine soziale Macht bildete.<br />

Da fiel ihr Augenmerk auf die wirtschaftliche<br />

Aktion des Proletariats, der Gedanke<br />

bemächtigte sich ihrer, d i e s e für s i c h<br />

a u s z u b e u t e n . Allmählich drängte man die<br />

wirtschaftlichen Forderungen der Arbeiter<br />

z u r ü c k , verlegte sich auf die Propaganda<br />

für den Generalstreik zu Gunsten des allgemeinen<br />

Wahlrechtes. Und in der Tat —<br />

schon durch einige kleinere Proben desselben,<br />

die das belgische Proletariat abgab, willigte<br />

im Februar 1893 die Regierung schließlich<br />

ein, an eine Revision des Wahlrechtes herantreten<br />

zu wollen — froh, auf diese Weise<br />

die wirtschaftliche »Begehrlichkeit« des Proletariats<br />

eingedämmt zu haben. Aber die<br />

Regierung hielt ihr Versprechen nicht, <strong>und</strong><br />

da d e k r e t i e r t e die Sozialdemokratie den<br />

Generalstreik, an dem sich etwa 250.000 Arbeiter<br />

beteiligten <strong>und</strong> der 8 Tage dauerte.<br />

Es fanden Versammlungen, Umzüge statt,<br />

die zu Zusammenstößen mit der militärischen<br />

Macht führten, sehr zahlreiche Opfer forderten<br />

— für das Wahlrecht, das in Form<br />

des Pluralitätsmodus schließlich gewährt<br />

wurde, der Sozialdemokratie 28 Sitze eintrug.<br />

Im Jahre 1902 wiederholte die Partei<br />

das interessante Spiel — es kam zu den<br />

blutigsten Niedermetzelungen von Arbeitern.<br />

Diesmal handelte es sich um Durchführung<br />

der Parole: »Ein Mensch, eine Stimme!«<br />

Die Aktion endete mit vollständigstem Mißerfolg,<br />

unter Aufwendung der größten Opfer.<br />

Bis heute haben die belgischen Arbeiter<br />

n i c h t s durch das Parlament erreicht, ihre<br />

Opfer sind vollständig vergebens gewesen.<br />

Bis heute ist es den Herren Sozialdemokraten<br />

noch nicht eingefallen, das Experiment<br />

nun einmal nicht für Parlamentssitze,<br />

sondern z. B. für den Achtst<strong>und</strong>entag durchzuführen.<br />

Für die Streber opfert sich das<br />

Volk so lange, bis ihm keine Kraft mehr<br />

verbleibt für eine wirkliche f ü r A l l e<br />

heilsame Aktion.<br />

Schweden.<br />

Durch den Anstoß von Belgien sah<br />

sich auch die schwedische Sozialdemokratie<br />

bewogen, auf die Generalstreikaktion zu<br />

pochen. Hier aber begegnete sie einem unverhofften<br />

Widerstande. Wie der Sozialdemokrat<br />

Branting selbst eingesteht, wollten<br />

die Gewerkschaften instinktiv nicht »in<br />

diese rein p o l i t i s c h e Angelegenheit gezogen<br />

werden«. Aber es half ihnen nichts,<br />

sie wurden dazu gezwungen, <strong>und</strong> so proklamierte<br />

die Sozialdemokratie am 15. Mai<br />

1902, während der Reichstagsdebatte, ihren<br />

»politischen Demonstrationsstreik« über das<br />

ganze Land. R<strong>und</strong> 120.000 Teilnehmer fand<br />

diese Aktion. Überall wirkte der Generalstreik,<br />

das ganze soziale Leben stockte,<br />

nach zwei Tagen kehrten die Arbeiter<br />

wieder zur Arbeit zurück. Sie hatten vage<br />

Regierungsversprechungen erzwungen, die<br />

bis heute noch nicht verwirklicht sind.<br />

Die einzigen, die damals, auch nach<br />

der Nachgiebigkeit der Gewerkschaften, die<br />

wenigstens gleichzeitige Aufstellung soz<br />

i a l e r Forderungen verlangt hatten, waren<br />

die sogenannten Jungsozialisten, die anarchistischen<br />

Sozialisten, die sich um den<br />

Genossen H i n k e B e r g e g r e n schaarten.<br />

Sie wurden von Sozialdemokraten in perfidester<br />

Weise bekämpft <strong>und</strong> verleumdet. Und<br />

so streikten 120.000 Arbeiter — um nichts<br />

zu erreichen, bloß zur höheren Glorie der<br />

Herren Mandatsjäger.<br />

Österreich.<br />

Es erübrigt sich für uns, die österreichische<br />

Wahlrechtskampagne der Sozialdemokratie<br />

einer eingehenden Würdigung<br />

zu unterziehen. Sie ist noch in aller Erin-<br />

nerung. Seit der Parteitag im Jahre 1893<br />

eine Resolution über »Das allgemeine Wahlrecht<br />

<strong>und</strong> der Generalstreik« angenommen<br />

hatte, lebten in Österreich die Ideen Oberwinders<br />

wieder mächtig auf. Das Proletariat<br />

wurde vor den Karren der Bourgeoisinteressen<br />

des allgemeinen Wahlrechtes gespannt.<br />

Und der gute Gaul wurde nicht<br />

müde, zu ziehen. Er zog <strong>und</strong> zog, ließ sich<br />

für das Wahlrecht oftmals den Kopf entzweischlagen,<br />

Massendemonstrationen mit<br />

brutaler Waffengewalt auseinandersprengen,<br />

drängte jede wirklich sozialistische Agitation<br />

<strong>und</strong> Erziehung zurück, all dies zu Gunsten<br />

dieser einen liberalen Forderung. Der Parteischacher<br />

<strong>und</strong> die »Beziehungen« traten in<br />

den Vordergr<strong>und</strong>. Und mehr als einmal<br />

schien es zum Generalstreik kommen zu<br />

sollen. Hatte doch schon die »Arbeiter-<br />

Zeitung« den Aufruf für den vorerst dreitägigen<br />

Generalstreik <strong>und</strong> »vorläufig nur<br />

für Wien« (ein solcher wäre sicherlich mißglückt!)<br />

veröffentlicht. Aber eben die »Beziehungen«,<br />

die beugten all dem vor. Monate<br />

vor der aktuellen kaiserlichen Proklamation<br />

des allgemeinen Wahlrechtes — das<br />

für die zerrissenen politischen Verhältnisse<br />

der Monarchie eine Art Kitt sein sollte <strong>und</strong><br />

d e s h a l b gewährt wurde—, war es schon<br />

bekannt, daß das Wahlrecht gegeben werden<br />

würde. Allerdings nur den Führern der diversen<br />

volkstümlichen Parteien, die »Beziehungen«<br />

hatten <strong>und</strong> haben. Und so<br />

konnten die friedlichen Demonstrationen<br />

»für das allgemeine Wahlrecht« unter »behördlicher<br />

Konzession« vor sich gehen,<br />

waren direkt im Interesse der Befestigung<br />

des bestehenden Systems; eine zukünftige<br />

Kulturgeschichte des Sozialismus wird sie<br />

einst darstellen als ein Massenaufzug verführter<br />

Proletarier, die, ihnen selbst unbekannt,<br />

durch ihre nun ans <strong>Ziel</strong> ihrer Streberwünsche<br />

gelangten Führer zu einer monarchischen<br />

Huldigung mißbraucht wurden.<br />

Der Generalstreik schwebte förmlich<br />

in der Luft; die politische Konstellation<br />

Österreichs, die das Wahlrecht im bürgerlich-dynastischen<br />

Interesse förderte, hat ihn<br />

abgewendet. Seit dieser Zeit haben wir<br />

wirtschaftliche Niederschläge des Proletariats<br />

von entsetzlicher Traurigkeit gehabt,<br />

wie jene der Textilarbeiter Brünns etc.,<br />

eine riesige Lebensmittelverteuerung jagt<br />

das Land, die wirtschaftlichen Verhältnisse<br />

des österreichischen Arbeiters sinken —<br />

aber noch kein einziges Mal ist die Sozialdemokratie<br />

wieder auf den Generalstreik<br />

verfallen.<br />

Das Erfolgresultat des »allgemeinen<br />

Wahlrechtes« ist bis jetzt das folgende:<br />

N e u e S t e u e r n , v e r m e h r t e r M i l i t a -<br />

rismus, V e r s c h ä r f u n g d er A u s b e u t u n g<br />

— <strong>und</strong> brüderliche Eintracht -zwischen<br />

deutschen Chauvinisten, polnischen Schlachzizen,<br />

klerikalen Tschechen, christlichsozialen<br />

<strong>und</strong> zionistischen Demagogen mit der<br />

Sozialdemokratie, welch s ä m t l i c h e Parteien<br />

für die dringliche Lesung des Budgetprovisoriums,<br />

der w i c h t i g s t e n R e g i e -<br />

run g s vorläge stimmten, nur um ihre Diäten<br />

zu retten. So geschehen am 15. Dez. 1908.<br />

Deutschland.<br />

Auf dem Parteitag zu Jena wurde beschlossen,<br />

den Generalstreik »gegebenenfalls«<br />

in Betracht zu ziehen als Eroberungs<strong>und</strong><br />

Verteidigungsmittel zu Gunsten der<br />

»politischen Rechte« (die man in Deutschland<br />

gar nicht hat!).<br />

Das war 1906. Schon einige Monate<br />

darauf konnte unser Berliner sozialrevolutionäres<br />

Bruderblatt. »Die Einigkeit« b e -<br />

w e i s e n , daß Bebel, als echter Politiker,<br />

ein Mensch v o r <strong>und</strong> ein anderer h i n t e r<br />

den Kulissen sein kann, ein solcher ist. Auf<br />

dem Parteitag zu Jena war er begeistert<br />

für den Generalstreik, im engen Zirkel<br />

einer vertrauten Gewerkschaftsbeamtensitzung<br />

drückten sich die Auguren einmütig<br />

die Hände, vollkommen eins im Entschluß,<br />

den Generalstreik nie auch nur zu versuchen.<br />

Uns ist dies entschieden lieber. Auf<br />

jeden Fall aber charakterisiert solches Vorgehen<br />

die deutsche Sozialdemokratie, deren<br />

armselige, bedauernswürdige Spiegelfechterei<br />

nach oben hin — mit der sie aber<br />

niemanden mehr täuscht!<br />

III.<br />

Wir glauben, die obige Zusammenstellung<br />

genügt, ohne daß wir es noch<br />

nötig hätten, auf gewisse direkte Verratserscheinungen<br />

in der Betätigung der russischen<br />

Sozialdemokratie während der ersten<br />

Epoche der dortigen Revolution hinzuweisen.<br />

Für uns ist diese Darstellung doppelt aktuell,<br />

eben weil, wie gesagt, dieselbe Sozialdemokratie,<br />

die den Generalstreik für<br />

wirtschaftliche Zwecke nicht genug perhorreszieren<br />

kann, ihn für Ungarn, öffentlich<br />

<strong>und</strong> versteckt herbeizuführen bestrebt ist,<br />

weil es sich dorten um die Erringung eines<br />

«allgemeinen Wahlrechtes» handelt, das,<br />

wenn sogar gewährt, durch eine schwindelhafte<br />

Wahlgeometrie illusorisch gemacht<br />

würde. In Ungarn wird das Koalitionsrecht<br />

mit Füßen getreten, die Landarbeiter werden<br />

bis aufs Blut ausgesaugt, Preß- Rede- oder<br />

Versammlungsfreiheit existieren auf dem<br />

Papier, aber nicht in der Wirklichkeit; gegen<br />

alle d i e s e Z u s t ä n d e , deren Verbesserung<br />

wirklich zu den Lebensnotwendigkeiten der<br />

arbeitenden Klasse gehört, will die Sozialdemokratie<br />

keinen Generalstreik. Hingegen ist<br />

sie für einen Generalstreik, dessen <strong>Ziel</strong> die<br />

Ermöglichung der Erwählung recht vieler<br />

Abgeordneten wäre. Sie würden wohl das<br />

Koalitionsrecht usw. erkämpfen? Eine traurige<br />

Antwort bietet uns gerade jetzt Österreich,<br />

wo 89 Sozialdemokraten im Parlament<br />

die gleiche «Macht» haben, wie früher ein<br />

Bäckerdutzend — nämlich k e i n e !<br />

Nicht wir Anarchisten sind es, die in<br />

unverantwortlicher Weise das Volk aufhetzen.<br />

Wir erziehen das Volk zu einer<br />

neuen Geistesanschauung <strong>und</strong> Lebensauffassung.<br />

Um diese zu betätigen, dazu bieten<br />

wir ihm diejenigen Waffen, die in ihm<br />

s e l b s t wurzeln <strong>und</strong> die, falls solidarisch<br />

angewandt, ihm selbst, dem Volke, <strong>und</strong><br />

zwar s o f o r t helfen. Wir lehren das Volk<br />

auf die K u n d e d e r S e l b s t h i l f e zu<br />

horchen <strong>und</strong> zu vertrauen. Denn nur im<br />

Kampfe für seine unmittelbaren <strong>Ziel</strong>e, die<br />

ihm eine Stählung bieten für das Ringen<br />

um weitere große Zwecke, kann es sich<br />

helfen. Kein Gott, kein Staat, kein Parlament<br />

wird ihm helfen, wenn es sich nicht<br />

selbst hilft. Die praktische Betätigung dieser<br />

Selbsthilfe ist der Generalstreik — nicht<br />

zu Gunsten von einigen Dutzend gewählt<br />

sein möchtenden Leuten, sondern d u r c h<br />

das Proletariat, für das Proletariat <strong>und</strong><br />

ausschließlich für den sofort zu genießenden<br />

Vorteil des Proletariats, wenn siegreich.<br />

Ein solcher Kampf ist allerdings mühsam,<br />

die sich ihm weihen, werden nie die Annehmlichkeiten<br />

des Abgeordnetenlebens<br />

genießen, sie müssen Schulter an Schulter<br />

mit den Massen kämpfen, leiden — <strong>und</strong><br />

oft auch fallen. Aber es ist ein unumgänglicher,<br />

notwendiger, Kampf, der durchgefochten<br />

werden muß, auf daß der Sozialismus,<br />

der heute nur ein Traumgespinst, im Stande<br />

sein soll, die Bühne der Weltgeschichte zu<br />

betreten. Pierre Ramus.<br />

Empfehlenswerte Bücher <strong>und</strong> Broschüren:<br />

Der letzte Krieg, von Teranus, eleg. geb. . K 5 —<br />

Wohlstand für Alle, von Peter Krapotkin „ 1.80<br />

Wiliam Godwin, der Theoretiker des kommunistischen<br />

Anarchismus, v. Pierre Raraus „ 2.—<br />

Das anarchistische Manifest, v. P. Ramus „ —'04<br />

Kritische Beiträge zur Charakteristik von<br />

Karl Marx, von Pierre Ramus . . . . „ — 1 2<br />

Wie klärt man Kinder auf? „ —-12<br />

Das Dogma von der Vaterlandsliebe , —"12<br />

Liebesfreiheit <strong>und</strong> Elleprostitution, v. Fernau „ —-12<br />

Gretchen <strong>und</strong> Helene, Zeitgemäße Betrachtung<br />

des Anarchismus u. d. Sozialdemokratie „ —"20<br />

Die Sintflut, von T h e o d o r Brunnecker . . „ —*12<br />

Die Auferstehung, v. T h e o d e r Brunnecker „ —•¿2<br />

Eine Reise nach dem fenseits, von T h e o d o r<br />

Brunnecker „ —-12<br />

Die Pariser Kommune, von P. Krapotkin . „ —-12<br />

Kultur <strong>und</strong> Fortschritt, von F. Thaumazo . „ — "03<br />

Kritik <strong>und</strong> Würdigung des Syndikatismus,<br />

von P. Ramus „ — -05


Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />

Auf Agitation.<br />

(Fortsetzung <strong>und</strong> Schluß aus Nr. 21.)<br />

Ich trat Herrn Simon Starck entgegen, wies<br />

ihm die kolossalen Widersprüche in seiner Rede<br />

nach; zeigte dem Mann, wie der freiheitliche S o -<br />

zialismus in der alten Internationale entstanden;<br />

daß die proudhonistische Bewegung das Prinzip<br />

der Produktivassoziationen schon längst mit dem<br />

• Anarchismus verknüpft hat; wies besonders nachdrücklich<br />

auf d e n Umstand hin, wie u n a u f r i c h t i g<br />

es sei, sich so wegwerfend über den Parlamentarismus<br />

zu äußern, wie er es getan, sich aber<br />

dennoch daran zu beteiligen; <strong>und</strong> hielt ihn besonders<br />

bei seiner stereotypen Phrase fest: „ E s g i b t<br />

k e i n e v o l l s t ä n d i g e L ö s u n g d e r s o z i a l e n<br />

F r a g e " . Denn durch diesen Satz hat Herr S. Starck<br />

eigentlich zugestanden, daß er k e i n Sozialist mehr<br />

ist. Die Sozialisten sind nämlich davon überzeugt,<br />

daß dies, was man heute soziale Frage nennt, also<br />

die Totalsumme ökonomischer Ausbeutung <strong>und</strong><br />

sozialer Versklavung durch die Aufhebung sämtlicher<br />

Herrschafts- <strong>und</strong> Ausbeutungsinstitutionen behoben<br />

sein würde; wer dieser Ansicht nicht ist, mag sonst<br />

ein ganz guter Kerl sein, streicht sich aber als S o -<br />

zialist.<br />

Wie antwortete Herr Starck auf meine zahlreichen<br />

Einwendungen? Ich muß gerechter Weise<br />

konstatieren, daß es nur seinem Einspruch zu verdanken<br />

war, daß ich teilweise aussprechen konnte;<br />

seine persönlichen Anhänger wollten es durchaus<br />

nicht zulassen. Rohe Worte, Raufgelüste zeigten<br />

sich hier wie bei unseren Wiener Sozialdemokraten,<br />

obwohl ich mich durchaus im Rahmen theoretischtaktischer<br />

Diskussion hielt. Und dann, als ich g e -<br />

endigt hatte, wie antwortete Herr S t a r c k ? Kurz<br />

gesagt: Mit einer sprudelnden Fülle von persönlichen<br />

Verdächtigungen, Verdrehungen des anarchistischen<br />

Standpunktes <strong>und</strong> oftmals offenk<strong>und</strong>igen<br />

Verleumdungen à la Plechanoff! Alles dies unter<br />

dem vergnügten Johlen seiner persönlichen Anhänger.<br />

Und wie dieser Mensch polemisiert, das entnehme<br />

man dem einen B e i s p i e l : Auf meinen Hinweis, daß<br />

im Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus die Lösung der<br />

sozialen Frage gelegen sei, antwortete Starck wörtlich:<br />

„Nein, es gibt keine Lösung der sozialen Frage,<br />

denn es gibt keinen Stillstand in der Natur. Wie<br />

kann man von Lösung der sozialen Frage sprechen<br />

— u n d w i e w e n n u n s e r P l a n e t u n t e r g e h t<br />

o d e r e i n e n e u e E r f i n d u n g a l l e s ü b e r d e n<br />

H a u f e n w i r f t ? " Eine ideale Polemik, nicht wahr,<br />

diese Henimjongliererei mit unverstandenen Begriffen<br />

<strong>und</strong> Worten? Herr St. warf mir Büchergelahrsamkeit<br />

vor; er, als ehemaliger Kohlengräber, habe keine<br />

Zeit dazu. Dabei zog er, um den Anarchismus<br />

geistig zu vernichten, ein dickleibiges Buch hervor:<br />

Bernsteins „Zur Geschichte <strong>und</strong> Theorie des Sozialismus".<br />

Durch den darin enthaltenen alten<br />

Schmockartikel Bernsteins über den Anarchismus,<br />

der bei keinem ernsten Kritiker des Anarchismus<br />

auch nur die geringste Rolle mehr spielt, mit diesem<br />

Ladenhüter an Gedanken <strong>und</strong> Ideen versuchte er,<br />

den Anarchismus als „Traum, Hirngespinst" hinzustellen,<br />

zu widerlegen.<br />

Es half ihm nichts; trotz des niederschmetternden<br />

Anblicks, den der Fanatismus — auch bei<br />

diesen Leuten! — auf einen macht, gelang es Herrn<br />

Starck nicht, wieder a l l e zu betören. Eine ganze<br />

Anzahl w o l l t e mehr wissen, <strong>und</strong> diese Gelegenheit<br />

ist ihnen nun geboten. —<br />

Die weitere Entwicklung dieser Bewegung,<br />

die auf ges<strong>und</strong>em Boden Großartiges leisten könnte,<br />

ist mir schon heute klar. Die wertvollsten Elemente<br />

entwickeln sich sehr rasch zum Anarchismus, indem<br />

sie den Gedanken des freiheitlichen Sozialismus —<br />

wie würde Bernstein lachen, wenn er wüßte, daß<br />

er hier einen ,,freiheitlichen"(l) Sozialismus als Ableger<br />

fand, er, der konsequente Bourgeois-Demokrat!<br />

- logisch ausdenken. Und der Wahrheit die E h r e :<br />

es sind zum größten Teil brave Elemente, die wir<br />

hierdurch gewinnen, in jeder Hinsicht beachtenswerte<br />

Männer der T a t <strong>und</strong> des Gedankens. Die<br />

anderen werden nach einer Reihe von Jahren wieder<br />

ins sozialdemokratische Lager zurück ihren <strong>Weg</strong><br />

finden, viele auch in das bürgerliche, <strong>und</strong> nur ein<br />

kleiner Teil wird, als persönliche Anhänger, um<br />

Starck gruppiert bleiben. Über Starcks Zukunft<br />

selbst will ich mich nicht äußern, sie ist mir nur<br />

sehr problematisch. —<br />

Es gebricht mir leider an Raum, über die<br />

vorzüglichen Versammlungen in der Schiffverladergewerksch?ft<br />

von Schönpriesen, über die B e s p r e -<br />

chung in Ober-Georgental <strong>und</strong> Grottau, die ich hatte,<br />

über die Versammlungen in Mariaschein <strong>und</strong> Reichenberg<br />

ausführlicher zu berichten. Überall gewann ich<br />

das Gefühl, daß es sich nur um ernste, eifrige Arbeit<br />

handelt <strong>und</strong> unsere Bewegung darauf einer<br />

großartigen <strong>und</strong> sehr erhebenden Zukunft unaufhaltsamen<br />

Fortschrittes entgegengeht. W a s die einzelnen<br />

Kameraden anbetrifft, so sind sie fast durchwegs<br />

Männer von Selbstbewußtsein <strong>und</strong> Begeisterung.<br />

Ich bin ihnen allen sehr verpflichtet für all die<br />

Fre<strong>und</strong>schaft, Bruderliebe <strong>und</strong> Gastgenossenschaft,<br />

die mir erwiesen wurde, <strong>und</strong> ich fühle mich veranlaßt,<br />

ihnen an dieser Stelle öffentlich zu danken.<br />

Meinem Versprechen getreu, erhalten nun die<br />

Genossen von überall, die sich an dieser, meiner<br />

Agitationstour beteiligt haben, meine Abrechnung.<br />

Einnahmen f ü r L i t e r a t u r u n d R e i s e s p e s e n<br />

Graz K 4 7 - , Marburg 31 59, Klagenfurt 4 9 4 5 ,<br />

W e y e r 12-—, Bruch <strong>und</strong> Dux 11 40, Zieditz 8 — ,<br />

Zwodan 12'—, Schönpriesen 32 15, Ober-Georgental<br />

5'—, Mariaschein 9 - , Reicheiibcrg 1 5 ' - ,<br />

Grottau 5 - Total K 2 4 7 8 5<br />

A u s g a b e n f ü r R e i s e s p e s e n (Bahn) . „ 87-30<br />

K 160 55<br />

An „Wohlstand für Alle" übergeben . . „ 157'—<br />

Rest K 3 5 5<br />

Pierre Ramus.<br />

Österreich.<br />

Wien. Der Prozeß gegen unseren ruthenischen<br />

Kameraden Lozynskyj, der am 9. Dezember stattfand,<br />

endete mit dem Freispruch des Angeklagten.<br />

Einen ausführlichen Prozeßbericht finden die Leser<br />

in der 1. Nummer des 2. Jahrganges.<br />

* <strong>Unser</strong>e letzte Nummer ward natürlich abermals<br />

konfisziert.<br />

* D a s Parlament ist die politische Geschäftsführung<br />

der Besitzenden. Und dessen Präsidium?<br />

Die Vertreter der Regierungsvorlagen, die darüber<br />

zu wachen haben, daß die Bedürfnisse des Klassenstaates<br />

ordnungsgemäß befriedigt werden. Und ein<br />

Mitglied dieses Präsidiums ist der Sozialdemokrat<br />

(in Wahrheit nie Sozialist, immer nur Demokrat<br />

gewesen!) E. Pernerstorfer. Wann beginnt die Eroberung<br />

der politischen M a c h t ? — Eine Stimme<br />

aus dem Hintergr<strong>und</strong>e: „Die Geschäfte gehen gut!"<br />

* V e r r a t o d e r D u m m h e i t ? Zu dem nachstehenden<br />

Schreiben eines sozialdemokratischen<br />

Tischlers, Mitglied des H o l z a r b e i t e r - V e r -<br />

b a n d e s , können wir nicht anders, als die obige<br />

Aufschrift beizufügen. Mögen die Leser selbst<br />

urteilen:<br />

„Verehrliche Redaktion! Ich weiß nicht, ob<br />

Sie diese Zeilen aufnehmen werden, denn ich bin<br />

n i c h t Anarchist <strong>und</strong> noch Sozialdemokrat. Nie<br />

habe ich mich aber in einer ähnlichen Zwickmühle<br />

bef<strong>und</strong>en, wie jetzt, wo ich mir sagen muß, daß<br />

ich, wenn ich ein Wort der Kritik gegen unsere<br />

Verbandsleitung zu sagen wünsche, dies anonym<br />

tun m u ß , um nicht ausgeschlossen zu werden, <strong>und</strong><br />

sogar in Ihrem Fachblatte, da mein Fachorgan diese<br />

Kritik einfach nicht aufnehmen würde.<br />

Sie haben schon in einer früheren Nummer<br />

unseren Verband <strong>und</strong> Rechnungsabschluß kritisiert,<br />

<strong>und</strong> bei dieser Gelegenheit lernte ich erst Ihr Blatt<br />

kennen. Nun ist aber der neueste, der des III. Quartals<br />

vom 1. Juli bis 30. September noch viel ärger,<br />

denn der „Holzarbeiter" teilt in seiner Nummer vom<br />

20. November ganz glatt mit, daß unser Verband<br />

praktisch bankerott ist mit einem Defizit von r<strong>und</strong><br />

6 1 0 0 0 Kronen. Jetzt, wo wir quasi vor einer Aussperrung<br />

stehen! Und da redet man noch immer<br />

von den gefüllten Kassen, die notwendig sind, um<br />

Streiks zu gewinnen. Sind diese da — dann ist<br />

gewöhnlich kein Geld da, <strong>und</strong> man muß bremsen.<br />

Wenn unsere Mitglieder statt eines Rechnungsberichtes<br />

einen R e c h e n s c h a f t s b e r i c h t von ihren<br />

Beamten verlangten, würden sie diesen Abschluß<br />

nicht so ohne weiteres passieren lassen. Unter den<br />

Ausgaben befindet sich z. B. ein Posten für „Fachblätter<br />

<strong>und</strong> Abonnements", der für die verstrichenen<br />

3 Monate die Summe von 2 6 2 6 9 2 6 K beträgt. W a s<br />

soll das heißen? Für Wahlfonds w i e d e r K 5 0 0 — .<br />

Und dabei lasse ich andere Auslagen für das Blatt<br />

ganz unberührt, obwohl sie wegen ihrer Bourgeoishöhe<br />

direkt in die Augen springend sind.<br />

Aber über etwas anderes wollte ich eigentlich<br />

schreiben. Es sollte doch üblich sein, daß bei eventuellen<br />

Kollektivvertragsabschlüssen die Arbeiter<br />

einfach höhere Forderungen aufstellen <strong>und</strong> es den<br />

Meistern überlassen, ihre chikanierenden Paragraphen<br />

<strong>und</strong> Punkte aufzustellen <strong>und</strong> zu erzwingen, die<br />

wirklich eine verblüffende Ähnlichkeit mit Zuchthausparagraphen<br />

haben. Jetzt, beim Ablauf unseres<br />

alten Vertrages ist es anders geworden. Kommt da<br />

die erste Dezembernummer des „Holzarbeiter" mit<br />

einer Vorlage eines den Meistern bereits eingereichten,<br />

neuen Kollektivvertrages heraus, die sich<br />

tatsächlich gewaschen hat. Es ist einfach ein S k a n -<br />

dal, wenn man bedenkt, daß unsere Verbandsleitung,<br />

sowie auch Vertrauensleute der Arbeiter, so eine<br />

Schmutzarbeit, wie dieser neue Kollektivvertrag vom<br />

Standpunkt eines jeden Sozialisten aus ist, verübt<br />

haben.<br />

Ich will den Raum Ihres Blattes nicht zu sehr<br />

in Anspruch nehmen <strong>und</strong> deshalb nur einiges aus<br />

dem Machwerk hervorheben. Die Arbeiterführer<br />

(unter der Leitung des sozialdemokratischen Reichsratsabgeordneten<br />

Widholz) haben hier einen Kollektivvertrag<br />

f ü r d i e M e i s t e r ausgearbeitet, der<br />

letzteren innigstes Vergnügen über die Dummheit<br />

<strong>und</strong> Gefügigkeit der Arbeiter bereiten mag. So soll<br />

z. B. der zwei Jahre giltige Vertrag schon 3 M o -<br />

n a t e vor Ablauf des Termins gekündigt werden<br />

müssen! (Damit sie Zeit zur Streikbrecherbesorgung<br />

haben <strong>und</strong> gründliche Vorbereitung für die allzweijährige<br />

Aussperrung treffen können?) Anstatt einmal<br />

ein Ende zu machen mit der Entwürdigung der Arbeiter<br />

durch das Arbeitsbuch, stützt sich der Verband<br />

bei der Aufnahme des Arbeiters auf dasselbe!<br />

Sie, die Herren Gewerkschaftsführer dekretieren den<br />

Meistern, daß die Arbeiter zufrieden sein müssen<br />

mit r<strong>und</strong> 9 stündiger Arbeitszeit; kein Versuch, um<br />

den Achtst<strong>und</strong>entag zu erringen! Und diese Herren<br />

sagen uns Akkordarbeitern (sie warten nicht darauf,<br />

daß die Meister es sagen, bekämpfen es gar nicht!):<br />

„Das Fernbleiben von der Arbeit o h n e t r i f t i g e n<br />

G r u n d oder vorher beim Geschäftsinhaber eingeholter<br />

Erlaubnis . . . kann nicht erlaubt werden."<br />

Am köstlichsten sind aber die aufgestellten Arbeitsbedingungen,<br />

die v o n d e n F ü h r e r n vorgeschlagen<br />

werden: so soll ein Ansuchen um Erhöhung eines<br />

akkordierten Lohnes erst „ n a c h v o l l s t ä n d i g e r<br />

Fertigstellung der Arbeit gestellt werden"! Ist diese<br />

Arbeit schlecht ausgeführt, da der Arbeiter mit dem<br />

Lohn nicht auskommt, so kann die Fabriksleitung<br />

nur e i n e s o l c h e A k o n t o z a h l u n g g e w ä h r e n ,<br />

welche der jeweiligen Arbeitsleistung entspricht;<br />

kann aber die Arbeit nicht zur richtigen Zeit fertig<br />

werden, dann, so rät <strong>und</strong> erlaubt der Kollektivvertrag<br />

der Arbeiterführer dem Unternehmer „Hilfsarbeiter<br />

a u f K o s t e n d e s A r b e i t e r s " b e i z u -<br />

s t e l l e n . Kein Wort davon, daß der Unternehmer<br />

dem Arbeiter von seinem Akkordlohn n i c h t s in<br />

Abzug bringen darf; im Gegenteil, der Arbeiter muß<br />

eine Hilfskraft bezahlen, die dem kapitalistischen<br />

Ermessen entspricht. Will man noch m e h r ? Soll ich<br />

vielleicht den Passus zitieren, in den die Führer<br />

hineingesetzt haben, daß jeder Arbeiter verpflichtet<br />

ist, „bei seinem Ausgang etwa wegzutragende P a -<br />

kete zur Inhaltsbesichtigung vorzuweisen ?" Ach, es<br />

ist zu gemein, solche Handlangerdienste für das<br />

Unternehmertum sind zu ekelhaft; <strong>und</strong> dabei b e -<br />

schmutzen sie die Ehre anständiger Arbeiter. —<br />

E i n e n s o l c h e n S k l a v e n v e r t r a g — von<br />

dem noch lange nicht alles gesagt ist — h a b e n<br />

A r b e i t e r v e r t r e t e r f ü r A r b e i t e r a u s g e -<br />

a r b e i t e t ! Könnten die gemeinsten Unternehmer<br />

härtere, schmachvollere, ausbeuterischere Zwangsparagraphen<br />

aufstellen? Unmöglich! Widholz s a g t e :<br />

„Wir haben die redliche Absicht, auf friedlichem<br />

W e g e einen neuen Vertrag abzuschließen." S o ?<br />

Das also ist die Leistung unserer zentralistischen<br />

Gewerkschaft! Mehr Sklaverei, mehr Erniedrigung.<br />

Tischler, Kollegen, ich rufe euch allen zu:<br />

I n d i e s e r W e i s e k a n n e s n i c h t w e i t e r<br />

g e h e n ! U n s e r e F ü h r e r f ü h r e n u n s i m m e r<br />

t i e f e r i n s A u s b e u t e r J o c h h i n e i n . R a f f e n<br />

w i r u n s a u f , s t e l l e n w i r u n s e r e e i g e n e n<br />

F o r d e r u n g e n a u f , k ä m p f e n w i r f ü r d i e -<br />

s e l b e n ü b e r d e n K o p f d e r F ü h r e r h i n w e g ,<br />

w e n n e s n ö t i g s e i n s o l l t e ! " F . H .<br />

Weyer. Wir erhalten folgende Zuschrift:<br />

„, . . Am 14. November fand hier eine Holzarbeiter-Versammlung<br />

statt, in der der Sozialdemokrat<br />

Pech gegen Dich <strong>und</strong> die Anarchisten zu Felde<br />

zog. Er s a g t e : es gäbe in Wien nur 70 Anarchisten,<br />

doch diese seien lauter Diebe <strong>und</strong> Streikbrecher.<br />

An deren Spitze stehen 4 B e a m t e <strong>und</strong> einer davon<br />

heißt Ramus, eigentlich Großmann, von dem Pech<br />

behauptet, er habe ihn in Wien vollkommen m<strong>und</strong>tot<br />

gemacht. Außerdem geht dieser Ramus wie ein<br />

Gigerl jeden T a g anders gekleidet; er besuche die<br />

feinsten Hotels Und Kaffeehäuser. Wo nehme dieser<br />

Kerl das Geld h e r ? Und geheimnisvoll betonte<br />

Pech, daß die Zeit nicht mehr fern ist, wo er b e -<br />

weisen werde können, daß die anarchistische B e -<br />

wegung von Regierungs-oder Parteigeldern bestochen<br />

sei . . . Helfen tat diese S a c h e dem Manne nicht,<br />

denn als am Nachmittag Bezirksvertrauensmänner-<br />

Sitzung sein sollte, da brachte man es glücklich<br />

bis zum Besuche von 3 Mann . . . Dies geschieht<br />

schon zum 2. Mal <strong>und</strong> darum der riesige Zorn. Von<br />

der Wiener Zentrale ist bereits die Ordre ausgegeben<br />

worden, mit Ausschließungen vorzugehen."<br />

Diese feige, erbärmliche Despotenart des Vorgehens<br />

wird die Gewerkschaft in W e y e r allerdings nicht<br />

stärken, im Gegenteil, sie veranlaßt nur zum Nachdenken.<br />

A n m e r k u n g d e r R e d a k t i o n . Wir haben<br />

das obige Schreiben dem Genossen Ramus vorgelegt<br />

<strong>und</strong> dieser erklärt:<br />

„Wenn die obigen Angaben Ihres Vertrauensmannes<br />

in Weyer wahr sind <strong>und</strong> der Sozialdemokrat<br />

P e c h sich wie angegeben ausgesprochen hat, so<br />

hat e r w i e e i n S c h u r k e gehandelt <strong>und</strong> verdient,<br />

als solcher gebrandmarkt zu werden. Erstens hat<br />

es Herr Pech bis zum heutigen T a g e vorgezogen,<br />

m i r n i e u n d i n k e i n e r V e r s a m m l u n g a l s<br />

G e g e n r e d n e r e n t g e g e n z u t r e t e n , ich persönlich<br />

also gar nicht weiß, wer er ist. Leute, die<br />

mich <strong>und</strong> Pech kennen, erklären, daß er es nie<br />

wagte, polemisch gegen mich aufzutreten. W a s die<br />

sonstigen, angeblich von Herrn Pech vorgebrachten<br />

Lügen anbetrifft, so richten sie sich s e l b s t : unsere<br />

Bewegung ist blutarm; <strong>und</strong> von Regierungsgeldern<br />

leben vorläufig nur Diätenrentiers. Sollte Herr Pech<br />

die obigen verleumderischen <strong>und</strong> schuftigen B e -<br />

hauptungen wirklich gemacht haben, was natürlich<br />

erst von ihm selbst konstatiert werden müßte, dann<br />

sagte ich nur so viel zu ihm: H e r a u s m i t d e n<br />

B e w e i s e n , S c h u f t e r l e ! Herr Pech würde großes<br />

Pech haben, um sie zu beschaffen!" P. Ramus.<br />

Rußland.<br />

Die <strong>Ziel</strong>scheibe der allgemeinen Entrüstung<br />

aller Parteien, die ganz rechten natürlich ausgenommen<br />

— ist jetzt der Unterrichtsminister Schwarz,<br />

auch ein echtrussischer Deutscher. W e r nicht zum<br />

„russischen Banner" schwört, wendet sich mit Unwillen,<br />

Zorn <strong>und</strong> Verachtung von diesem Manne<br />

ab, der s. Zt. noch das Gesuch um Autonomie der<br />

Universitäten unterschrieb, aber unlängst noch als<br />

Verweser des Moskauer Lehrkreises unmöglich war<br />

<strong>und</strong> jetzt den Unterrichtsminister der indolenten


macht <strong>und</strong> das zu ersticken droht, was die letzten<br />

Jahre keimen ließen.<br />

Während alle Welt Leo Tolstois 80. Geburtstag<br />

festlich beging, wurden nach allen Seiten des<br />

Reiches Kabinettverfügungen erlassen, die Feier<br />

dieses Ketzers, Aufrührers <strong>und</strong> Empörers namentlich<br />

im Schulressort nach Kräften zu hintertreiben, höchstens<br />

die Würdigung seines rein literarischen Wirkens<br />

zuzulassen. Zwar hieß es nachträglich, weder<br />

Stolypin noch Synod habe um die Erlässe gewußt,<br />

aber das ist kaum glaubwürdig <strong>und</strong> sollte wohl<br />

nur den Eindruck abschwächen, während die Handlung<br />

widerspruchsvoll genug ihres <strong>Weg</strong>es ging.<br />

Denn obgleich einerseits die Ernennungen Tolstois<br />

zum Ehrenmitglied seitens der St. Petersburger<br />

<strong>und</strong> Kasaner Universitäten bestätigt wurden, wurde<br />

andererseits eine Zuwendung von 1000 Rubeln, die<br />

die Wilnaer Duma zu Gunsten einer auf seinen<br />

Namen gestifteten Schule machte, annulliert, wurden<br />

seine Evangelienzusammenstellung, seine Lehre<br />

Christi, für Kinder bearbeitet <strong>und</strong> der zweite Band<br />

seiner Biographie von Pawel Jwanowitsch Birjakoff<br />

wegen der Zitate aus seinem Werk „Worin besteht<br />

mein Glaube?" konfisziert. Eben jener Erlässe<br />

wegen haben aber viele Private <strong>und</strong> Korporationen<br />

bis auf heute dem greisen Rufer im Streit ostentativ<br />

ihre Glückwünsche geschickt. Waren ihm doch viele<br />

zurückgewonnen durch seine heiße Improvisation:<br />

„Ich kann nicht schweigen", die er nachträglich im<br />

engen Kreise selbst als zu improvisiert bezeichnete.<br />

Selbst aus dem Ausland kam lauter Widerhall schriftlich<br />

<strong>und</strong> mündlich <strong>und</strong> der Alte von der „Lichten<br />

Flur" war ganz gerührt <strong>und</strong> tief freudig bewegt von<br />

der Hochflut auf ihn eindringender Empfindungen,<br />

der ihm gezollten Liebe, Achtung, Hingebung <strong>und</strong><br />

Begeisterung. Viele fanden sich bei diesen Gratulationen,<br />

<strong>und</strong> Schwarz mußte den Eindruck gewinnen,<br />

daß er mit diesen, seinen Erlässen, ebenso<br />

zur Einigung der Linken beigetragen, wie durch<br />

Ausschließung der Frauen von den Universitäten,<br />

seinem neuen Entwurf der Universitätsverfassung,<br />

seinen kleinlichen <strong>und</strong> herabsetzenden Schulvorschriften<br />

<strong>und</strong> seine verletzende Forderung an die<br />

Universitätsprofessoren, sich mit ihrer Unterschrift<br />

zu verpflichten, in keiner gegen den Staat gerichteten<br />

Partei tätig zu sein.<br />

Die Mißstimmung gegen ihn wächst, namentlich<br />

infolge der Klagen der aus ihrer Entwicklungsbahn<br />

geschleuderten Frauen <strong>und</strong> der unmöglichen Schulvorschriften,<br />

<strong>und</strong> seine Tage scheinen gezählt zu sein.<br />

Dafür wirken seine Schildknappen, Johann<br />

von Kronstadt, der Bildungs- <strong>und</strong> Ketzerfeind, <strong>und</strong><br />

Illioder, der Blutmönch <strong>und</strong> Judenfresser, unfaßbar<br />

weiter <strong>und</strong> schleudern ihre Stinktöpfe gegen die ganze<br />

Welt, pathetisch-heroisch <strong>und</strong> mit Priestergrazie.<br />

Die Hinrichtungen gehen dagegen ruhig fort<br />

<strong>und</strong> wo der Belagerungszustand aufgehoben, wird<br />

der außerordentliche Zustand eingeführt <strong>und</strong> die<br />

Verfassung bleibt hinter den Kulissen. Aber auch<br />

D e r A n t i m i l i t a r i s m u s<br />

als<br />

T a k t i k d e s A n a r c h i s m u s .<br />

V o n P i e r r e R a m u s .<br />

Referat, g e h a l t e n auf d e m i n t e r n a t i o n a l e n A m s t e r d a m e r K o n g r e ß<br />

d e r » I n t e r n a t i o n a l e n a n t i m i l i t a r i s t i s c h e n A s s o z i a t i o n «<br />

a m 3 0 . u n d 3 1 . A u g u s t 1907.<br />

(Schluß.)<br />

<strong>Unser</strong> Antimilitarismus ist deshalb so außerordentlich einzig gegenüber<br />

jedem anderen, weil es sich Ihm v o r a l l e m a n d e r e n — selbst v o r allen<br />

Aktionen! — darum handelt, e i n e p r i n z i p i e l l r i c h t i g e , k l a r e ,<br />

l o g i s c h e u n d u n z w e i d e u t i g e G e s i n n u n g s p r o p a g a n d a i m<br />

S i n n e s o z i a l e r G e w a l t l o s i g k e i t z u entfalten. Der anarchistische<br />

Antimilitarismus steht in prinzipieller Hinsicht grandios einheitlich da, in allen<br />

den obgenannten Fragen über Staat, Militarismus usw., gibt es für ihn keine<br />

theoretische Zerklüftung, ist seine Propaganda identisch mit seinem Enziel:<br />

S t a a t s - , a l s o H e r r s c h a f t s l o s i g k e i t , s o m i t S e l b s t e n t l e i -<br />

b u n g j e d e r G e w a l t s o r g a n i s a t i o n .<br />

U m d i e P r o p a g a n d a d i e s e r G e s i n n u n g h a n d e l t e s s i c h<br />

d e n A n a r c h i s t e n . Denn diese anarchistisch-antimilitaristische Gesinnung<br />

schafft sich ihre eigenen Betätigungswege, taktischen Mittel, die jene, die<br />

wir weiter oben besprochen, sehr oft übertreffen <strong>und</strong> so mannigfaltig sind,<br />

daß es unmöglich, sie zu gruppieren. Sie liegen begründet in dem humanen<br />

Freiheitsgeist des Anarchismus, der d i e s e Antimilitaristen beseelt; <strong>und</strong> wie<br />

die Offenbarung eines Geheimnisses sind diese Aktionen des Friedensgeistes<br />

überall, dürfen ähnlich der Freiligrathschen Revolutionsfigur, es mit erhabener<br />

Miene von sich behaupten, trotz tausendfältiger Verfolgung, versuchter<br />

Unterdrückung <strong>und</strong> Einkerkerung: „Ich war, ich bin <strong>und</strong> werde<br />

sein! . . ." Sie sind unfaßbar; sie werden erst verschwinden mit dem Verschwinden<br />

jeder Art des staatlichen Militarismus.<br />

* . *<br />

Es verbleibt uns noch, unsere Stellungnahme gegenüber den c h r i s t -<br />

l i c h e n Antimilitaristen <strong>und</strong> Anarchisten darzulegen, bevor wir zum Schlüsse<br />

eilen. Wir beziehen uns hiermit vornehmlich auf das wie ein Programm sich<br />

ausnehmende, kondensierende Buch von H e r m a n n W e t z e l über „ D i e<br />

V e r w e i g e r u n g d e s H e e r d i e n s t e s u n d d i e V e r u r t e i l u n g<br />

d e s K r i e g e s u n d d e r W e h r p f l i c h t i n d e r G e s c h i c h t e d e r<br />

M e n s c h h e i t . " (Im Selbstverlage, Spandauerstraße 28, Potsdam, 1905).<br />

<strong>Unser</strong>e Stellung zu den christlichen Antimilitaristen <strong>und</strong> Tolstoianern<br />

unterscheidet sich in dieser Frage von diesen bloß in taktisch prinzipiellen<br />

Auffassungen, nicht aber praktisch <strong>und</strong> überhaupt in der alltäglichen Praxis.<br />

Den Hauptscheidungsgr<strong>und</strong> bildet: Die christlichen Antimilitaristen anerkennen<br />

die Obrigkeit, soweit sie ihnen „nichts Sündhaftes" befiehlt. Ihr<br />

Standpunkt zu ihr ist, wenn auch prinzipiell gegensätzlich, so in der Praxis<br />

nur passiv ablehnend, aber dennoch freudig gehorchend, soweit sie nicht in<br />

die Gegenschläge bleiben nicht aus. Freilich, in den<br />

Zentren sind die äußersten Parteien ziemlich lahmgelegt<br />

— die Aushebungen <strong>und</strong> Aderlasse waren<br />

zu stark — aber an den Peripherien wirken die<br />

Kräfte fort. Noch unlängst gelang ein Massenangriff<br />

der Kommune bei Wilna (Besdan), dem ein bedeutender<br />

Geldtransport im Postzug zum Opfer<br />

fiel. Die Regierung verkleinert natürlich wie immer<br />

die Summe <strong>und</strong> nennt die Angreifer einfache Räuber,<br />

aber vielen leuchtet das nicht so recht ein. Im Frühjahr<br />

wird wohl auch die Tätigkeit in den Zentren<br />

wieder einsetzen.<br />

Polownew, der geistige Urheber der Abgeordnetenmorde<br />

(Herzenstein <strong>und</strong> Gollos — zwei „Kadetten")<br />

ist zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilt.<br />

Von Mißernte wird wenig gesprochen — doch<br />

ist sie an vielen Stellen stark ausgeprägt <strong>und</strong> die<br />

allgemeine wirtschaftliche Lage hat kaum eine<br />

Besserung erfahren. Die Cholera mäht noch immer,<br />

wenn auch geschwächt, besonders in St. Petersburg,<br />

wo das einzige Trinkwasser, der Fluß Newa, durch<br />

rücksichtslose Nachlässigkeit verseucht wird. Darunter<br />

leiden natürlich hauptsächlich die armen<br />

Klassen, die ihr Wasser auch nicht durch Wein <strong>und</strong><br />

Kognak unschädlich machen können.<br />

In Innerasien finden große Manöver statt. Dabei<br />

wurde General Mischtschenko — der Held vor<br />

Port Arthur <strong>und</strong> neben General von Rennenkampf<br />

ein Würgengel im revolutionären Sibirien, jetzt<br />

Gouverneur <strong>und</strong> Armeeleiter — wie sein Adjutant<br />

durch merkwürdig gezielte Kugeln in die Beine<br />

verw<strong>und</strong>et.<br />

Die Bauern haben sich keineswegs beruhigt,<br />

wie die Regierung dank der neuen parlamentarischen<br />

Bauerngruppe glauben machen will, <strong>und</strong> die Mobilisierung<br />

des Bodens weckt Not, Ratlosigkeit <strong>und</strong><br />

Zorn; im Heer scheinen die Fünkchen höher zu<br />

glimmen. Und das hat die Türkei mit ihrer durch<br />

das Heer durchgesetzten Konstitution, haben die<br />

persischen Vorgänge auf dem Gewissen. Man<br />

schämt sich.<br />

Theo H—nn, Moskau.<br />

B r i e f k a s t e n .<br />

T y r o l l e r . Wir bedauern, Ihre Zusendungen<br />

nicht veröffentlichen zu können, da sie zu persönlicher<br />

Natur sind, <strong>und</strong> wir nur einen Prinzipienkampf<br />

führen wollen. — J o s . T o . Der Genosse R. beansprucht<br />

für eine auswärtige Agitationsversammlung<br />

den Ersatz der aktuellen Fahrspesen <strong>und</strong> Freiquartier<br />

während der notwendigen Aufenthaltsdauer; sämtliche<br />

sonstigen Gelder <strong>und</strong> Einnahmen fließen dem<br />

Blatte zu. Die Tintenbleizeichen haben keine weitere<br />

Bedeutung. Gruß! — Ludw. Pan—y. Wird<br />

auszüglich publiziert. Gruß! — Riedel. Dank für<br />

Bericht; kommt! — H a m b . Leider nicht druckreif.<br />

Gruß! — Robin. Die bewußten Abzeichen haben<br />

wir nicht. Gruß <strong>und</strong> hoffentlich bald persönliche<br />

Bekanntschaft! — G e r s t h . Die betreffenden Lieder<br />

sind noch nicht intoniert worden. Verbreiten Sie<br />

nach Kräften Carpenters „Stadt der Sonne", das<br />

wir Ihnen mit Noten zusenden. — Breu., F r a n k -<br />

furt. Persönliche Adresse einsenden!<br />

G r u p p e n u n d V e r s a m m l u n g e n .<br />

A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n . V.,<br />

Einsiedlergasse 60. Jeden Sonntag 6 Uhr abends.<br />

Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />

Gasthaus, XIV., Märzstraße 33.<br />

F ö d e r a t i o n d e r B a u a r b e i t e r . X., Eugengasse<br />

9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />

jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />

U n a b h ä n g i g e S c h u h m a c h e r - G e w e r k s c h a f t .<br />

XIV., Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />

M ä n n e r g e s a n g v e r e i n „ M o r g e n r ö t e " . XIV.,<br />

Märzstraße'33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />

jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />

Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „ P o k r o k " . XIV.,<br />

Hütteldorferstr. 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />

F r e i e E i n k a u f s g e n o s s e n s c h a f t . Jeden Donnerstag<br />

abends bei Schlor.<br />

F r e i d e n k e r - V e r e i n i g . „ F r e i e r G e d a n k e " .<br />

Öffentl. Vortrag jeden Freitag um 8 Uhr bei Schlor.<br />

W i e n , III. Die Kameraden dieses Bezirkes<br />

treffen sich jeden Dienstag um 7.30 abends in<br />

Fuchs Restaurant, Rennweg 71.<br />

G r a z . A r b e i t e r - B i l d u n g s - u n d U n -<br />

t e r s t ü t z u n g s - V e r e i n , versammelt sich jeden<br />

1. <strong>und</strong> 3. Samstag abends im Gasthaus „zur lustigen<br />

Röthelstoanerin" (v. Tiroler), Bahnhofgürtel<br />

Nr. 69.<br />

M a r b u r g . A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />

versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong> 4. Mittwoch abends<br />

im Gasthaus „Zur goldenen Bim", Franz Josefstraße<br />

2.<br />

Klagenfurt. G r u p p e d e r u n a b h ä n g i -<br />

g e n S o z i a l i s t e n , versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong><br />

4. Samstag abends im Gasthaus „Zum Buchenwalde".<br />

W e i j e r . S o z i a l i s t i s c h e r B u n d , versammelt<br />

sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends in<br />

Bachbauers Gasthaus.<br />

M a l t h e u e r n ( b e i B r ü x ) . A r b e i t e r v e r -<br />

e i n „ G l e i c h h e i t " , versammelt sich jeden Sonntag<br />

beim Gastwirt Joh. Florian.<br />

M a r i a s c h e i n . F r e i e V e r e i n i g u n g , versammelt<br />

sich jeden Sonntag im Gasthaus „zur<br />

Fortuna".<br />

O b e r - R o s e n t a l ( b e i R e i c h e n b e r g ) .<br />

G r u p p e „ P r o l e t a r i a t " . Sekretär B . W e b e r ,<br />

Nr. 194.<br />

Bruch. G r u p p e B e r g a r b e i t e r k a m p f ,<br />

versammelt sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends<br />

im Gasthaus „zum blauen Stern".<br />

Neu - P y h a n k e n . B e r g a r b e i t e r v e r e i n ,<br />

versammelt sich jeden 4. Sonntag um 9 Uhr vormittags<br />

im Gasthause „Eintracht".<br />

direkten Konflikt mit ihrem religiösen Bewußtsein gelangen, indem sie aus<br />

dem Martyrium die Läuterung von Mensch <strong>und</strong> Gemeinschaft hervorgehen<br />

sehen. Dagegen sind wir gr<strong>und</strong>sätzliche Gegner a l l e r Wesensäußerungen<br />

des Staates, erblicken keine einzige seiner Handlungen ohne Protest. <strong>Unser</strong><br />

Bestreben richtet sich darauf, eine sich stetig vergrößernde Menschenmenge<br />

von der zu Unrecht bestehenden Wesensart des Staates als solchen zu überzeugen,<br />

darauf hinzuwirken, daß eine sich beständig vermehrende Anzahl<br />

von Menschen seine Nutzlosigkeit <strong>und</strong> Verwerflichkeit durchschaut <strong>und</strong> ihm<br />

ihr Gefühls- <strong>und</strong> Geistesleben in allen Dingen des sozialen Lebens<br />

aufkündigt.<br />

Dies der prinzipiell-taktische Unterschied in der Theorie, wenn man<br />

will, auch gelegentlich in der Praxis zwischen uns, die wir einfach Anarchisten<br />

sind auf Gr<strong>und</strong> unserer naturwissenschaftlichen <strong>und</strong> soziologischen<br />

Erkenntnis <strong>und</strong> den christlichen Antimilitaristen <strong>und</strong> christlichen Anarchisten.<br />

Stückweise Entfernung der Staatsgewalt aus dem gesellschaftlichen<br />

Leben, stückweises Abtragen all ihrer Gewaltsfunktionen <strong>und</strong> Entziehung<br />

des Menschenmaterials ihnen gegenüber durch rationelle Aufklärung, Widerstand<br />

gegenüber allen ihren Gewaltsbetätigungen — das ist die Aufgabe des<br />

anarchistischen Antimilitaristen.<br />

Dem Anarchisten ist der Antimilitarismus somit eine politische<br />

Taktik, bedeutet e r die e d e l m ü t i g e S e l b s t e r z i e h u n g zum herrschaftslosen<br />

Individuum im sozialen Sinne, zur herrschaftslosen Gemeinschaft.<br />

Mit dem Verschwinden des Bollwerkes des staatlichen Prinzips —<br />

des Militarismus — verschwindet dieses Prinzip selbst auch aus dem<br />

Völkerleben, aus der menschlichen Gesellschaft. Die Gewalt als fest f<strong>und</strong>ierte<br />

Einrichtung ist verbannt aus dem Bereiche des .menschlichen Tun <strong>und</strong><br />

Wirkens, an ihre Stelle ist die menschliche Vernunft getreten, die in der<br />

friedlichen Schlichtung <strong>und</strong> frei sich verändernden Gruppierung, der wirtschaftlichen<br />

Ermöglichung dieser Veränderung, der Ausschaltung aller staatlich-nationalen<br />

Grenzbegriffe, die Lösung aller Streitfragen im föderativen,<br />

staatslosen, also autonomen Zusammenschluß der menschlichen Gruppierungen<br />

erblickt. Der Antimilitarismus ist somit e i n e taktische Methode des Anarchismus,<br />

weil er uns unmittelbar <strong>und</strong> direkt einführt in jene Periode des<br />

Kampfes um die freie Gesellschaft der Zukunft, deren brausender Triumphesgesang<br />

uns in den Worten des Russen Tschertkoff* entgegentönt:<br />

Hinweg die Grenzen, die uns trennen!<br />

Bei Brüdern sind wir stets zu Haus.<br />

Stoßt um die Trone der Tyrannen!<br />

Die Zeit der Knechtschaft sei uns aus!<br />

Reißt ein die düstern Kerkermauern!<br />

Des Hasses Fackel nun erlischt<br />

Im Liebes-Lenzhauch, der erfrischt<br />

Die Herzen <strong>und</strong> soll ewig dauern!<br />

Zerbrecht die Waffen all!<br />

Löst auf den Kriegerstand!<br />

Reicht euch die Hand! Die ganze Welt<br />

Sei unser Vaterland!<br />

* Zitiert nach der Übertragung von Joh. (iuttzeit, Leutnant a. D. Erschienen im<br />

Verlag des .Groden Michtl" (St. Petersgaise 89, II. Stock, Graz, Österreich).<br />

Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur W. Horatschek (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien, XIV.

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