Unser Weg und Ziel! - DIR
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Wien, 22. Dezember 1907. Einzelexemplar 10 h. J a h r g . I. — Nr. I,<br />
Der „W. f. A.“ erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition XII. Fockygasse 27. II. 17.<br />
Wien. Gelder sind zu senden an W.<br />
Kubetsch, IV. Schönburgstrasse, 5. III.<br />
Wien.<br />
<strong>Unser</strong> <strong>Weg</strong> <strong>und</strong> <strong>Ziel</strong>!<br />
Einer Welt von Feinden <strong>und</strong> Widersachern<br />
tritt unser Blatt entgegen. So unerfreulich<br />
dies sein mag, gerade damit wird<br />
seine unbedingte Existenznotwendigkeit erwiesen,<br />
unsere Aufgabe uns vorgezeichnet.<br />
Nicht der „Wohlstand für Alle“, die<br />
Zeitschrift an <strong>und</strong> für sich ist es, was diesen<br />
Hass erweckt; es sind die Prinzipien, die<br />
Ideale, die der „W. f. A.“ vertritt, die ihn<br />
verursachen. Wäre er ein Regierungsblatt,<br />
dann fände er bestehende Kreise, die ihn<br />
willkommen hiessen; wäre er ein Blatt der<br />
politischen Linken, so könnte er auch da<br />
leicht B<strong>und</strong>esgenossen finden. Allein der<br />
„W. f. A.“ ist weder das eine noch das<br />
andere; unser Blatt ist vor allem selbständig,<br />
vollständig unabhängig, sowohl von der<br />
Rechten, wie auch der Linken der politischen<br />
Partejen. Und so begegnet er ihrer g e m e i n <br />
s a m e n Feindschaft, ihm gegenüber pflanzt<br />
sich eine einheitlich verb<strong>und</strong>ene Parteienkonsolidation<br />
auf; er begegnet einem desto grimmigeren<br />
Hasse, als er das Parteiwesen alier<br />
Kliquen bekämpft, seine eigene Bewegung,<br />
jene der Armen, Bedrückten <strong>und</strong> Elenden von<br />
allem Parteiunwesen befreien will.<br />
Aber sein Name ist ein Programm, <strong>und</strong><br />
in diesem Namen <strong>und</strong> Programm bietet sich<br />
seine Weltanschauung dar. I h r e t w e g e n<br />
blicken nur feindselige Augen auf den „ W .<br />
f. A.“, denn der klaren Erkenntnis seiner<br />
Weltanschauung gegenüber müssen a l l e<br />
Parteien durchschaut verstummen.<br />
E i n Gemeinschaftliches vereinigt sie,<br />
trennt uns von ihnen, lässt sie uns hassem,<br />
weil fürchten :<br />
Sie alle sind s t a a t s g l ä u b i g , erkennen<br />
die gesellschaftliche Notwendigkeit i r g e n d<br />
e i n e r F o r m autoritärer Beherrschung für<br />
die Menschen an <strong>und</strong> sind gemeinsam beseelt<br />
von dem ihnen allen gleichen Verlangen,<br />
die herrschende Staatsgewalt zu stürzen <strong>und</strong> für<br />
ihre eigenen Parteizwecke zu ergattern. Sie<br />
alle wollen die Herrschaft, die Gewalt —<br />
den Staat. Alle ohne Ausnahme.<br />
Die Konservativen wollen den Absolutismus<br />
— den Staat!<br />
Die Konstitutionellen wollen die Beschränkung<br />
des Absolutismus — den Staat!<br />
Die Liberalen, die Christlichsocialen, die<br />
Deutschnationalen, die Freisinnigen — alle<br />
wollen den Staat!<br />
Die Demokraten <strong>und</strong> Socialdemokraten<br />
wollen den Volksstaat, den Staat!<br />
Die Republikaner wollen den Staat!<br />
Kurz, alle sind darin einig, dass das<br />
Zusammenleben der Menschen der zentralen<br />
Gewalt des Staates bedarf, darin finden sie<br />
sich als B<strong>und</strong>esgenossen: a l s s t a a t s e r <br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen i s t . . .“<br />
h a l t e n d e K r ä f t e ; ihr einziger Zankapfel<br />
ist der, dass jede einzelne Partei gegenüber<br />
allen übrigen den Staat für sich <strong>und</strong> ihre<br />
Zwecke kapern möchte.<br />
Der Hass, die blinde Wut, denen der<br />
„W. f: A.“, begegnen wird, rührt von dem<br />
einen, gewaltigen, historisch alle Vergangenheit<br />
<strong>und</strong> unmittelbare Zukunft durch reissenden<br />
Umstand her:<br />
Wir, die wir den „ W . f. A.“, herausgeben,<br />
gründen hiermit ein Blatt, das wegen<br />
des e i n e n Prinzips von a l l e n Parteien bekämpft<br />
werden wird:<br />
G e i s t i g s o w o h l a l s p r a k t i s c h e r <br />
s t r e b e n w i r e i n e s t a a t s l o s e G e s e l l <br />
s c h a f t s o r g a n i s a t i o n !<br />
<strong>Unser</strong> <strong>Ziel</strong> ist die freie Gemeinschaft<br />
der ökonomisch, politisch-social <strong>und</strong> moralisch<br />
von allen Fesseln der Autorität befreiten<br />
Individuen, die das höchste Kulturideal der<br />
Freiheit <strong>und</strong> des Friedens nur erreichen<br />
können durch die Abwesenheit jeder Herrschaft<br />
— d i e A n a r c h i e !<br />
Wir sind Anarchisten! Stolz bekennen<br />
wir es, trotz aller Vorurteile <strong>und</strong> dünkelhafter,<br />
absichtlicher Falschdeuterei, trotz aller aufrichtigen<br />
Missverständnisse, die uns bekämpfen,<br />
weil sie in uns die Verkörperung aller<br />
Brutalität, Niedertracht <strong>und</strong> Menschenschändung<br />
zu erblicken gelehrt wurden — in uns,<br />
die wir Materialisten <strong>und</strong> Idealisten in einem,<br />
die wir das höchste Glück der Menschheit,<br />
ihren Frieden, erstreben, das Glück, die Freiheit<br />
der Völker <strong>und</strong> der Einzelmenschen<br />
— d e n W o h l s t a n d f ü r A l l e !<br />
Uns gegenüber pflanzt sich eine einzige,<br />
einige Armee auf: die Parteien der Rechten<br />
<strong>und</strong> der Linken reichen sich versöhnt die<br />
Hände in ihrem Kampfe wider uns!<br />
Sie sind die A r c h i s t e n — wir sind<br />
die A n a r c h i s t e n !<br />
* *<br />
*<br />
Wir wollen an dieser Stelle rieht von<br />
unseren kapitalistischen <strong>und</strong> staatlichen Gegnern<br />
reden, denn aus dem Obigen geht<br />
schon deutlich genug hervor, dass wir gr<strong>und</strong>sätzliche<br />
Gegner der heutigen Weltordnung<br />
sind. Kurz sei es gesagt:<br />
Wir sind Gegner der kapitalistischen<br />
Produktionsweise, weil ihr privateigentümlicher<br />
Monopolbesitz das Elend <strong>und</strong> die Not der<br />
Millionen Besitzlosen verursacht, weil er die<br />
Menschheit in Klassen spaltet, in die Besitzenden<br />
<strong>und</strong> Besitzlosen, in die Herrschenden<br />
<strong>und</strong> Proletarier.<br />
Als Kommunisten treten wir diesem Zustand<br />
entgegen, erstreben die Umwandlung<br />
des Privateigentums im Gemeinschaftseigentum.<br />
Jede Aktion des Proletariats, soweit sie<br />
diesem <strong>Ziel</strong> direkt, im Interesse der Gesamtklasse,<br />
aufrichtig zustrebt, werden wir be-<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2.40;<br />
halbjährig K l.20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />
50 Cent:<br />
fürworten <strong>und</strong> unterstützen. Wir erkennen<br />
den Klassenkampf des Proletariats an in dem<br />
Sinne, dass das Proletariat als die bedrückteste<br />
Klasse, das vornehmste Interesse besitzt,<br />
sich von den Fesseln der Gegenwart<br />
zu befreien <strong>und</strong> an ihrer Stelle eine freie<br />
Gesellschaft zu errichten. Die ökonomische<br />
Gr<strong>und</strong>lage dieser Gesellschaft soll der Kommunismus<br />
sein.<br />
Für ihn wird unser Blatt kämpfen —<br />
wir sind durch <strong>und</strong> durch ein sozialistisches<br />
Organ.<br />
„Weshalb kämpft Ihr nicht in den Reihen<br />
der Socialdemokratie? Sind Sozialdemokraten<br />
nicht auch Socialisten?“<br />
Auf diese Frage müssen wir eine deutliche<br />
Erklärung geben, denn wir sind g e g e n<br />
j e d e Zersplitterung der Arbeiterbewegung<br />
aus persönlichen Ehrgeizinteressen, gegen<br />
jede, wenn es nur irgend angängig, sie zu<br />
vermeiden, zu überbrücken. Aber dort, wo<br />
e s sich u m v e r s c h i e d e n e P r i n z i p i e n<br />
handelt, um das Ergebnis einer grossen historischen<br />
Geistesentwicklung des Proletariats<br />
können wir nicht anders, als unseren eigenen<br />
W e g gehen, müssen die Fehler sämtlicher<br />
Gegner <strong>und</strong> irrenden Brüder aufdecken, da<br />
wir n u r so im Stande sind, das wahre Endziel<br />
unseres Kampfes zu fördern, es je zu<br />
erreichen.<br />
Wir kämpfen n i c h t in den Reihen der<br />
Sozialdemokraten, weil diese Partei einerseits<br />
den Kommunismus des „Kommunistischen<br />
Manifestes“ längst aufgegeben, theoretisch<br />
kollektivistisch geworden, weil sie anderseits<br />
den Socialismus prinzipiell überhaupt nicht<br />
mehr vertritt, sondern eine d e m o k r a t i s c h e<br />
k l e i n b ü r g e r l i c h e R e f o r m p a r t e i g e <br />
worden ist, im günstigsten Sinne eine Art<br />
Staatssocialismus vertritt, die jedem Kulturmoment<br />
feindlich ist.<br />
Hervorgehend aus den Kämpfen der<br />
alten „Internationale“ von 1864 bis etwa<br />
1880 haben sich, sowohl die Bewegungsprinzipien<br />
vor dieser „Internationale“, wie<br />
die in ihr selbst ruhenden zusammen fassend,<br />
zwei weltgeschichtliche Auffassungen des<br />
proletarischen Kampfes entwickelt. Die eine,<br />
theoretisch formuliert im Marxismus, vertritt<br />
die Idee, den Staat durch die Diktatur des<br />
Proletariats zu erringen <strong>und</strong> ihn dann umzuwandeln<br />
in einen socialdemokratischen Volksstaat;<br />
die andere, formuliert von den Gr<strong>und</strong>sätzen<br />
des kommunistischen Anarchismus,<br />
ist gegen jede Diktatur also auch jene<br />
des Proletariats <strong>und</strong> erblickt die ökonomische<br />
Umwälzung der Gegenwartsverhältnisse<br />
darin gegeben, dass das Herrschaftsprinzip<br />
der Staatsgewalt aus der wirt-
schaftlichen Umgebungswelt enfernt werde;<br />
dass der Socialismus nicht etabliert werde<br />
als socialdemokratischer Volkstaat, sondern<br />
als die autonome Föderation freier Gruppierungen<br />
der Produktion, des Konsums, des<br />
Geistes- <strong>und</strong> Liebeslebens, eine Föderation,<br />
die zusammengehalten wird durch das Gegenseitigkeitsband<br />
kommunistischer Solidarität<br />
<strong>und</strong> von jeder Zentralleitung <strong>und</strong> Gewalt, wie<br />
es die Socialdemokraten wollen, frei ist.<br />
So manche, die sich wer weiss wie klug<br />
dünken, werden höhnisch lächelnd meinen, dies<br />
sei ja nur Zukunftsmusik. Die armen Tröpfe,<br />
diese Betörten, die so armselig oberflächlich<br />
in die Geisteswelt des Socialismus eindrangen!<br />
Denn muss schon das von der intelligenten<br />
Willensrichtung der Individuen abhängige Streben<br />
unbedingt einen führenden Einfluss auf<br />
die Zukunft haben, so ergeben sich aus den<br />
obigen Differenzen der Auffassung auch gr<strong>und</strong>verschiedene<br />
Weltanschauungen, von diesen<br />
ausgehend — wie wichtig ist doch die Erkenntnis<br />
der Theorie! — gr<strong>und</strong>verschiedene,<br />
t a k t i s c h e M e t h o d e n , die prinzipiell,<br />
wie praktisch zu beleuchten gerade die Aufgabe<br />
unseres Blattes bilden muss.<br />
Ausgehend von ihrem Staatssocialismus<br />
verlegen die Socialdemokraten ihr ganzes<br />
Mühen <strong>und</strong> Streben darauf, an der Gesetzgebung<br />
der Bourgoisie im Parlamente —<br />
selbst eine bourgeoise Einrichtung — teilzunehmen<br />
<strong>und</strong> widmen alle Kräfte des Proletariats<br />
diesem Zweck. Ausgehend von ihrer<br />
a n t i staatlichen Überzeugung bekämpfen die<br />
kommunistischen Anarchisten jede staatliche<br />
Aktivität, somit auch die Gesetzgebung <strong>und</strong><br />
wollen alle Veränderungen des socialen Lebens<br />
sich in diesem <strong>und</strong> durch sich selbst,<br />
also durch den social geführten Klassenkampf<br />
des organisierten Proletariats erreichen. Die<br />
historische Erfahrung lehrt uns, dass die S o <br />
cialdemokraten in allen Ländern, wo sie sich<br />
lange Jahrzehnte politisch-parlamentarisch betätigten,<br />
n i c h t s , überall dort, wo die anarchistische<br />
Auffassung von dem Wesen <strong>und</strong><br />
<strong>Ziel</strong> des Kampfes Platz gegriffen hat, die<br />
Arbeiter viel erzielt haben, geistig <strong>und</strong> social<br />
gereift sind.<br />
Langsam, aber sicher scheint das internationale<br />
Proletariat, wie aus einem langen,<br />
historischen Parlamentsschlaf zu erwachen.<br />
Auch zum Teil in Österreich, obwohl es traurig<br />
genug ist, mitansehen zu müssen, dass unser<br />
Proletariat im allgemeinen noch nicht jene<br />
Lehren aus dem kläglichen Schiffbruch der<br />
parlamentarischen Aktion gewonnen hat, die<br />
sich doch besonders aufdringlich gerade in<br />
Österreich, diesem Lande des wertlosesten<br />
Parlamentarismus, aufdrängen.<br />
Wir werden in der Folge durch M o n o <br />
graphien über die sociale Bewegung in allen<br />
Ländern es beweisen, dass die Socialdemokratie<br />
überall dort, wo sie ein Stück Macht<br />
errang, das Proletariat verriet, dort, wo sie<br />
gross an Zahlen <strong>und</strong> reich an Abgeordnetensitzen<br />
ist, nichts für das Proletariat tut, jeden<br />
revolutionären Innpuls der Zukunft aufgegeben<br />
hat, nichts für das Proletariat zu tun vermag.<br />
Stellen wir dem gegenüber das Erwachen<br />
des Proletariats in Frankreich <strong>und</strong> anderen<br />
Ländern! Überall die Erkenntnis, dass der<br />
Socialismus — die Befriedigung der Magenfrage<br />
— allein n i c h t genügt; dass es ein<br />
Problem gibt, das auch die Lösung des socialistischen<br />
in sich birgt, aber darüber weit<br />
hinausgeht, nämlich die Freiheit des Einzelnen<br />
<strong>und</strong> Aller, wie sie sich in dem Freiheit <strong>und</strong><br />
Wohlstand für alle bergenden <strong>und</strong> bietenden<br />
A n a r c h i s m u s darstellt. Und darauf füssend<br />
die taktische Erkenntnis, dass das öde,<br />
politische Kannegiessern <strong>und</strong> parlamentarische<br />
Scheingefecht das Proletariat nur entnerven,<br />
geistig verblöden kann; dass es einer Taktik<br />
bedarf, die revolutionär in das Bewusstsein<br />
eines jeden Einzelnen eingreift, des Generalstreiks,<br />
der p r i n z i p i e l l e n Gegnerschaft<br />
gegenüber dem Staate <strong>und</strong> seinen Gewaltstützen<br />
des Krieges <strong>und</strong> Militarismus — kurz,<br />
dass der Socialismus, der seines Triumphes<br />
würdig sein, der Socialismus, der die Möglichkeit<br />
eines solchen Kultursieges haben will,<br />
seine geistige <strong>und</strong> praktische Repräsentanz in<br />
der Theorie des kommunistischen Anarchismus<br />
finden muss, die alles Freiheitliche <strong>und</strong> Kulturelle<br />
der Menschheit einbegreift, alles Hemmende,<br />
Beherrschende ausschaltet.<br />
Über diese grosse Kampfes- <strong>und</strong> Kulturbewegung<br />
unsere Leser eingehend zu informieren,<br />
ihnen die Überlegenheit unseres intellektuellen<br />
Standpunktes über jenen der Socialdemokratie,<br />
sämtlicher Stützen der Gegenwartsgesellschaft<br />
in würdiger, aber auch geisselnder<br />
Weise zu demonstrieren, <strong>Weg</strong> <strong>und</strong> <strong>Ziel</strong> zu<br />
weisen, wohin der proletarische Emanzipationskampf<br />
sich zu wenden hat, das ist der Zweck<br />
unseres Erscheinens; das währen möge, bis<br />
dieser Kampf einkehrt in jenes Reich freudevoller<br />
Freiheit, des Friedens <strong>und</strong> des Wohlstandes<br />
für Alle, dessen F<strong>und</strong>amente Kommunismus<br />
<strong>und</strong> Anarchie, das Gemeinschaftliche <strong>und</strong><br />
Individuelle einer geläuterten Menschheit bilden<br />
sollen :<br />
„Zu dir, o Freiheit! send' ich mein Verlangen,<br />
Die mir der Zukunft dunkle Pfade weist,<br />
Lass einen Strahl mich deines Licht's empfangen,<br />
Ström' auf mich nieder deinen heil'gen Geist!<br />
Gib, dass umwandelbar auf deinem hehren.<br />
Geweihten Stern mein trunk'nes Auge ruht — .<br />
Und lass des Glaubens nimmer mich entbehren<br />
An Lieb' <strong>und</strong> Menschheit, an ein höchstes Gut!“<br />
D i e H e r a u s g e b e r d e s „ W . f . A “ .<br />
An Österreichs Proletariat*)<br />
Nach einem alten Originale eines unbekannten<br />
Autors von J. F.<br />
Du Freiheitswunsch,der das Proletariat Uberflog,<br />
Auch mich hat er im Strudel fortgezogen;<br />
Doch w e h e ! Jene Hoffnungsstimme log,<br />
Und wieder mehr als je, sind wir betrogen!<br />
Elendes Volk, das jeder Ehre bar,<br />
Das, wie der H<strong>und</strong>, zur Knechtschaft scheint<br />
geboren,<br />
Du bist nur eine feige Sklavenschar,<br />
Zweifach jetzt, am Geist beschnitten <strong>und</strong> an<br />
Ohren! —<br />
Dich schelt' ich nicht, du dreiste Manichäerzunft,<br />
Euch nicht, Ihr verlog'nen Henkersknechte,<br />
Die ihr mit Füssen tretet die Vernunft,<br />
Die ihr verhöhnt des Volkes Wort <strong>und</strong> Rechte t<br />
Ihr habt, wie Schlächtermeister, ja das Recht,<br />
Die Herde erst zu scheren, dann zu schlachten:<br />
Die Peitsche jedem, der sich selbst zum Knecht<br />
Und Allen Schmach, die sich zur Herde machen!<br />
Proletariat, für dich mein Zürnen, dir mein<br />
Fluch,<br />
Denn wieder liessest du dich überlisten,<br />
Dem wie noch nie so nah' der Freiheit<br />
St<strong>und</strong>e schlug,<br />
Und das trotzdem im Staube liegt vor feilen<br />
Egoisten.<br />
*) Obiges Gedicht entnehmen wir einem alten,<br />
Kennern der historischen Entwicklung unseres Proletariats<br />
in Österreich wohlbekannten Blatte, nämlich<br />
der „Volkspressc“, Jahrgang 1891, No. 21. Das<br />
Gedicht passt auch auf die Gegenwartssituation,<br />
nach dem Rausch über den .grossen“ Wahlsieg. Die<br />
Red.<br />
Du bist nicht ohne Kraft, nicht ohne ci£<br />
Ein starkes Volk von vielen Millionen;<br />
Doch fehlt dir E i n s, das Sklavenketten reisst,<br />
Der kühne Trotz vor falschen Kommilitionen.<br />
Es fehlt dir noch, was Recht <strong>und</strong> Freiheit<br />
schafft,<br />
Das freie Urteil <strong>und</strong> das Zusammenhalten:<br />
Drum liegst du auf dem Block, in Kerkerhaft,<br />
Drum höhnen dich die schnöden Herrschgewalten.<br />
Ein Herkules, doch an der Spindel blos,<br />
Ein Samson bist du, mit geschor'nen Locken :<br />
Du schläfst <strong>und</strong> liegst der Delila im Schoss,<br />
Du schläfst <strong>und</strong> hörst nur der Sirene Locken !<br />
Du schläfst <strong>und</strong> hörst nicht der Philister<br />
Schar:<br />
Sie scheren dich, sie binden dich <strong>und</strong> blenden<br />
Die Augen dir, <strong>und</strong> aller Stärke bar<br />
Sollst du als Gaukler unter ihnen enden!<br />
Allein es wächst die Kraft dir mit dem Haar ;<br />
Gaukler, den höchsten Grad der Kunst erklett're!<br />
Ergreif die Pfeiler <strong>und</strong> die Heuchlerschar,<br />
Die spottend deiner lachte, nun zerschmett're !<br />
Zerschmett're sie ! — Aus Asche, Schutt <strong>und</strong><br />
Rauch<br />
Wirst du, ein Phönix, wieder dich erheben!<br />
Mit dir ersteht ein neuer Volkesbrauch,<br />
Mit dir ersteht ein neues, wahres Menschenleben!<br />
O Volk! Duld' nicht in deinen eig'nen Reihen<br />
Den Führer, der es nur aus Eitelkeit;<br />
Du sollst selbst dich deiner Sache weihen,<br />
Es ist die beste Bürgschaft einer neuen Zeit !<br />
Parlamentarier <strong>und</strong> Revolutionäre<br />
in der französischen,<br />
socialistischen Partei.*)<br />
In der socialdemokratischen Partei Frankreichs<br />
kämpfen zwei Richtungen mit einander.<br />
Ein Teil will eine einheitliche republikanische<br />
Partei, strebt nach der E n t w i c k l u n g<br />
der kapitalistischen Gesellschaft auf ausschliesslich<br />
gesetzlichem u. parlamentarischem<br />
W e g e ; befürwortet, ohne es sich selbst einzugestehen,<br />
den Eintritt der Socialdemokraten<br />
in's Ministerium <strong>und</strong> die Annahme des<br />
Budgets.<br />
Wir hingegen, die wir auf der anderen<br />
Seite stehen, haben nicht viel Vertrauen zum<br />
allgemeinen Wahlrecht ; der parlamentarische<br />
Wahlkampf hat, unserer Ansicht nach, nicht<br />
den Zweck, eine socialistische Mehrheit ins<br />
Parlament zu bringen — w a s bei den heutigen<br />
wirtschaftlichen Verhältnissen ohnedies<br />
ganz unmöglich ist — sondern ist höchstens<br />
dazu gut, um die allgemeine Meinung aufzurütteln,<br />
<strong>und</strong> um unser kollektivistisches oder<br />
kommunistisches Ideal zu verkünden. Wir<br />
sind Revolutionäre, u. die bestehende Gesetzlichkeit<br />
geht uns nichts an ; wir ertragen sie<br />
nur, weil wir nicht stark genug sind, uns<br />
ausserhalb ihrer Macht Verhältnisse zu organisieren;<br />
<strong>und</strong> wir werden sie, mit Hilfe des<br />
Generalstreiks aufheben, sobald wir den Geist<br />
der Freiheit <strong>und</strong> unser kollektivistisches<br />
Ideal genügend in den Massen des städtischen<br />
Proletariats verbreitet, <strong>und</strong> den Feind durch<br />
*) Folgendes sind Auszüge aus den Leitartikeln<br />
unseres Genossen G u s t a v H e r v é , i n seinem<br />
Blatt »La G u e r r e S o c i a l e “ (der .Sociale<br />
Krieg“).
Internationale des revolutionären Socialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
„Die anarchistische Internationale“.<br />
Das internationale K o r r e s p o n d e n z b u r e a u zu<br />
London, d a s der intern., anarchistische Kong<br />
r e s s konstituierte, t r ä g t sich mit d e r Absicht,<br />
ein internationales Bulletin zu b e g r ü n d e n . Zu<br />
diesem Zwecke w e r d e n an alle u n s e r e Publikationen<br />
<strong>und</strong> Gruppen F r a g e b o g e n a u s g e s a n d t ,<br />
deren B e a n t w o r t u n g von hoher Wichtigkeit. Die<br />
F r a g e n l a u t e n :<br />
1. Sind Sie für o d e r gegen die B e g r ü n d u n g<br />
eines solchen Bulletins? — 2. W e l c h e d i e s b e <br />
züglichen Ratschläge h a b e n Sie zu e r t e i l e n ? —<br />
3. Welche finanzielle Unterstützung können Sie<br />
d e m Plane angedeihen l a s s e n ?<br />
Sämtliche A n t w o r t e n sind zu richten an<br />
den Sekretär A. Shapiro, 163 Jubileestr., London<br />
E. England.<br />
Böhmen.<br />
Die anarchistische Bewegung steht hier auf<br />
festen Füssen; sie hat namentlich in den letzten<br />
Jahren einen gewaltigen Aufschwung genommen.<br />
Die Bewegung hat zwei Zentren. Eines in Prag,<br />
wo die „Böhmische Föderation aller Gewerkschaften“<br />
besteht, fünf periodische Zeitungen erscheinen, die<br />
gewerkschaftliche Bewegung aber geringer ist als<br />
im Norden Böhmens. Dort ist der zweite Brennpunkt,<br />
eigentlich der Kern der Bewegung. Die Arbeiter<br />
der dortigen grossen Bergwerke <strong>und</strong> der<br />
vielen Webereien sind zum grossen Teile in den<br />
Gewerkschaften der „C. F. V. O.“ vereint, <strong>und</strong> bilden<br />
ungefähr 70 Ortsgruppen. Selbstverständlich ist die<br />
Gewerkschaft-Föderation nicht ausschliesslich anarchistisch,<br />
sondern der Hort des wirtschaftlichen<br />
Kampfes; da jedoch noch vor kurzem fast sämtliche<br />
Mitglieder Anarchisten waren, kann die Gewerkschaftsbewegung<br />
in der Föderation in Böhmen<br />
zum Masstabe der anarchistischen Bewegung dienen.<br />
Die anarchistischen Zeitungen erscheinen, wie erwähnt,<br />
überwiegend in Prag. Nur die „Matice Svobody“<br />
(Mutter der Freiheit), die sich ausschliesslich<br />
mit dem Antiklerikalismus befasst, erscheint in<br />
Brünn, die „Hornické Listy“ (Bergarbeiterzeitung)<br />
<strong>und</strong> „Proletarier“ die die direkte Aktion propagieren,<br />
im Norden. Die „Komuna“, die zweimal wöchentlich<br />
erscheint, befasst sich hauptsächlich mit dem<br />
wirtschaftlichen Kampfe des Proletariats, hingegen<br />
das Wochenblatt „Práce“ (Arbeit) theoretische Literatur<br />
bringt, auch eine belletristische Beilage „Kličení“<br />
(Germinal), <strong>und</strong> eine Kinderbibliothek unter<br />
demselben Namen erscheinen lässt. Neuestens wurde<br />
vom Prager Aktionkomitee eine Halbmonatschrift,<br />
namens „Přimá Akce“ (Die direkte Aktion) gegründet,<br />
die ihre Entstehung einem bedauernswerten<br />
Zwist unter den Prager Kameraden verdankt.<br />
In einer sehr grossen Auflage erscheint in gemeinschaftlicher<br />
Redaktion mit der „Komuna“ das<br />
Kreuzerblatt „Chucd`as“ (der Arme).<br />
Die Bewegung in Böhmen wächst von Tag zu<br />
Tag, dank der eifrigen Agitation durch Presse, Broschüren,<br />
Vorträge <strong>und</strong> öffentliche Versammlungen.<br />
Von der Gründung der neuen „Eisenbahn-<br />
Gewerkschaft“ referieren wir in nächster Nummer.<br />
F.<br />
Nieder-Österreich.<br />
Seit mehreren Monaten hat die anarchistische<br />
Bewegung Wiens eine Serie rührigster Agitationsarbeit<br />
<strong>und</strong> Massenaufrüttelung, wie auch prinzipielle<br />
Propagande zu verzeichnen. Es fanden zahlreiche<br />
öffentliche, wie auch § 2.-Versammlungen statt, in<br />
denen die Genossen Ramus, Lickier, Tesar, Urban,<br />
Wagner als Referenten oder Diskussionsredner anscheinend<br />
sehr zündende Gedanken in das Gefühls<strong>und</strong><br />
Geistesleben der stets zahlzeich Anwesenden<br />
zu schleudern wussten. Um nur einige zu nennen,<br />
fanden Referate statt über „Taktik <strong>und</strong> Weltanschauung<br />
des Proletariats“, „Die historische Entwicklung<br />
der Idee der direkten Aktion“, Die Weltanschauung<br />
des Anarchismus“, „Kunst u. Anarchie“,<br />
Zentralismus oder Föderalismus“, „Michael Bakunin<br />
<strong>und</strong> Karl Marx“, „Parlamentarismus oder Generalstreik“<br />
u. s. w. Die Versammlungen verliefen<br />
stets anregend, auch gewöhnlich ruhig — bis es zur<br />
Diskussion kam. Im Laufe derselben versuchten es<br />
die Socialdemokraten stets, so oft sie sich geschlagen<br />
fühlten, durch echt christlichsoziale Manieren, durch<br />
borniertes Radauschlagen die Versammlungen zu<br />
sprengen, was ihnen denn auch zu ihrem moralischen<br />
Schaden manchmal gelang. Besonders amüsant<br />
war dieses Vorgehen, wenn man aus den Argumenten<br />
der Socialdemokraten ersah, dass sie<br />
weder ein noch aus wussten, vom Socialismus nichts,<br />
geschweige denn vom Anarchismus etwas verstanden.<br />
Auch socialdemokratische Abgeordnete <strong>und</strong><br />
Doktoren kamen; an ihrem sauren Gesicht, mit dem<br />
sie abzogen, war zu sehen, dass es ihnen keine<br />
besondere Freude bereitete, erkannt zu haben, noch<br />
viel lernen zu müssen, um den Anarchismus kritisieren<br />
zu können!<br />
* *<br />
*<br />
Es gab eine Zeit, da sprach man in Österreich<br />
von dem Fortwursteln des Absolutismus; es ist<br />
heute die Zeit, v o n d e m F o r t w u r s t e l n d e s<br />
P a r l a m e n t a r i s m u s zu sprechen. Ist es für<br />
jeden Esel möglich, mit dem Belagerungszustand zu<br />
regieren <strong>und</strong> „Ordnung“ zu machen, so ist es auch<br />
für jeden Esel möglich, Radau zu schlagen <strong>und</strong> sich<br />
am patlamentarischen Zetergeschrei lächerlichen<br />
Lärmszenen zu beteiligen oder solche zu provozieren.<br />
Wie wenig gerade dadurch für das Volk herausspringt,<br />
das beweist uns am klarsten unser erster,<br />
verfassungsgemässer Reichsrat, dieses üenieprodukt<br />
des allgemeinen Wahlrechts, Wochen u. Monate sind<br />
vergangen seit seinem Zusammentritt, a l l e Parteien<br />
haben Dringlichkeitsanträge von mehr oder<br />
minderer Wichtigkeit oder Unwichtigkeit eingebracht,<br />
haben es selbst nicht geglaubt, dass a u c h n u r<br />
e i n Antrag durchgehen <strong>und</strong> falls durchgehen ausgeführt<br />
werden wird, sondern sich nur demagogisch<br />
gegenseitig den Wind aus den Segeln holen wollen<br />
— <strong>und</strong> das Resultat ist heute gleich N u l l , das Volk<br />
ist wieder genarrt <strong>und</strong> wieder getäuscht worden<br />
<strong>und</strong> die ganze <strong>Ziel</strong>- <strong>und</strong> Zwecklosigkeit des Parlamentarismus<br />
erweist sich schon daraus klar genug,<br />
dass mehr denn einmal die Schatten des § 14 sich<br />
abermals auf uns zu senken drohten.<br />
Eine Notlage sondergleichen rüttelt das gesamte<br />
österreichische Volk in allen seinen Gliedmassen.<br />
Und das kennen die Socialdemokraten <strong>und</strong><br />
bringen papierene Dringlichkeitsvorschläge vor, die<br />
Christlichsocialen protestieren natürlich — <strong>und</strong> beide<br />
Parteien, wie auch alle übrigen, die einander würdig<br />
sind, wissen ganz genau, dass alle Majoritätsabstimmungen,<br />
wie sie auch ausfallen mögen, gar<br />
nichts helfen können. Denn es würden Monate <strong>und</strong><br />
Jahre darüber vergehen, bis sie zur Ausführung gebracht<br />
würden, d a i s wir bis dahin schon längst<br />
wieder eine Verteuerung auch des ohnedies problematischen<br />
„argentinischen Fleisches“ etc. etc., hatten.<br />
Worin ist diese ganze Teuerung gelegen, die<br />
uns das Stück Brot bereits verunmöglicht hat <strong>und</strong><br />
aus den ärmsten Schichten ihre Riesenprofite schlägt?<br />
Es sind einerseits die öffentlichen Lasten, die der<br />
Staat uns auferlegt, die sie verursachen. Nicht die<br />
Besitzenden, nicht die Kleinbürger bezahlen die indirekten<br />
Steuern, sondern das konsumierende Proletariat<br />
tut das. Und je grösser die Auslagen des<br />
Staates für budgetäre Zwecke — <strong>und</strong> auch ein Parlament<br />
kostet ungeheure Summen, leistet dabei nichts 1<br />
— desto teurer die Lebensmittel. Allerdings gibt es<br />
aber auch Teuerungen in Freihandelsländern. Dann<br />
gibt es anderseits noch einen Punkt, der nicht übersehen<br />
werden darf. Wir haben n i c h t deswegen eine<br />
Lebensmittelteuerung, weil wir Misswachs, Missernte,<br />
eine Unterproduktion haben <strong>und</strong> etwa den Bedürfnissen<br />
der Bevölkerung, nicht genügen könnten.<br />
Nein, es ist a l l e s in Überfluss vorhanden, wenn<br />
nicht die Herren Agrarier <strong>und</strong> Kapitalisten alles<br />
wohl monopolisiert hielten <strong>und</strong> durch die Institutionen<br />
des Privateigentums nach Belieben <strong>und</strong> Bedürfnis<br />
die Preise in die Höhe schrauben könnten.<br />
D a g e g e n hilft kein ödes Parlamentsgeschwätz,<br />
keine demagogenhafte Demonstration, die<br />
den Wahn aufrecht erhalten sollte, als ob die Regierung<br />
helfen würde, wenn eine Abstimmung zu<br />
Gunsten der Socialdemokratie ausfiele, als ob ein<br />
Parlament, das doch auch vom Volksreichtum zehrt<br />
<strong>und</strong> schmarotzerhaft lebt, helfen k ö n n t e . Es erhebt<br />
sich vielmehr die folgende grimme Frage, die<br />
auch das Teuerungsproblem in ein ganz anderes<br />
Licht rückt: h a b e n d i e ö s t e r r e i c h i s c h e n<br />
A r b e i t e r i h r e L ö h n e p r o p o r t i o n e l l m i t<br />
d e r T e u e r u n g s t e i g e n l a s s e n k ö n n e n ?<br />
Waren sie mächtig genug, die zu bewirken? Besässen<br />
sie diese wirtschaftliche Macht — was wäre<br />
da schliesslich an der Teuerung gelegen, die ja unvermeidlich<br />
ist innerhalb der heutigen Gesellschaft.<br />
An einzelnen Orten Österreichs, in Gablonz,<br />
im ganzen Isertal, in Nachod, Triest sind grosse<br />
wirtschaftliche Aktionen ausgebrochen, die die dortigen<br />
Arbeiter unternahmen. Würden sich die Wiener<br />
Arbeiter weniger um Parlamentsgeschwätz<br />
bekümmern, die Herren socialdemokratischen Abgeordneten<br />
in Reih <strong>und</strong> Glied mit den Arbeitern um<br />
Lohnsteigerungen kämpfen, zu diesem Zwecke ein<br />
Generalstreik erklärt werden — sowohl die reaktionären<br />
Parteien, wie auch die Regierung würden<br />
der Teuerung bald abhelfen, <strong>und</strong> die Wiener Arbeiter,<br />
die Proletarier Österreichs, würden aufhören,<br />
in dem Grade zu hungern, wie sie es jetzt tun. —<br />
Nicht nur die Teuerung, auch der Parlamentarismus<br />
<strong>und</strong> sein Wahlrecht lassen sie hungern!<br />
Mähren.<br />
Die Socialdemokraten sind rasch dabei, die<br />
Schurkereien der Christlichsocialen <strong>und</strong> anderer<br />
Parteien aufzudecken; doch vor denjenigen in den<br />
eigenen Reihen wird Halt gemacht <strong>und</strong> über sie der<br />
Mantel christlicher Nächstenliebe gebreitet.<br />
Sekanina, ein socialdemokratischer Krankenkassenbeamte<br />
in Brünn, ist, laut den „Hornické<br />
Listy“ e i n D e t e k t i v geworden; nicht ohne dass<br />
er vordem das kleine Malheur hatte, über r<strong>und</strong><br />
500 Kronen Manko keinen Aufschluss erteilen zu<br />
können. —<br />
Es wäre ejn Unrecht, von diesem Einzelfall<br />
auf die gesamte Socialdemokratie, in der sich viele<br />
ehrliche, wenn auch verführte Arbeiter befinden,<br />
schliessen zu wollen. Doch warum tun solches die<br />
Socialdemokraten uns, den Anarchisten, gegenüber?<br />
Ungarn.<br />
Vor einigen Wochen wurde gemeldet, dass<br />
man in Grosswardein in der Nähe der Kasernen<br />
a n t i m i l i t a r i s t i s c h e P l a k a t e angeschlagen<br />
hat. — —<br />
Mit Rücksicht auf die Gefahr, dass die militärfeindlichen<br />
<strong>und</strong> socialistischen Ideen Eingang in<br />
die Armee finden könnten, hat der Kriegsminister<br />
an das Grosswardeiner Stationskommando <strong>und</strong> Korpskommando<br />
in Temesvar, aller Wahrscheinlichkeit<br />
nach auch an die übrigen Kommanden, einen Erlass<br />
gerichtet, in dem er diesen Kommanden aufträgt,<br />
die Mannschaft zu beobachten <strong>und</strong> jeden Versuch,<br />
in der Armee den Socialismus zu verbreiten, im<br />
Keime zu ersticken. Die Wehrkraft der Monarchie<br />
erfordere, dass die Armee aus wohldisziplinierten<br />
<strong>und</strong> begeisterten Soldaten bestehe. Aus diesem<br />
Gr<strong>und</strong>e sei die Verbreitung des Socialismus energisch<br />
zu verhindern <strong>und</strong> von Fall zu Fall der militärischen<br />
Oberbehörde Bericht zu erstatten.<br />
Ob diese Verfügungen etwas helfen werden<br />
oder überhaupt können, ist allerdings eine Frage,<br />
deren Beantwortung strikt v e r n e i n e n d lauten<br />
muss. Denn der Antimilitarismus ensteht aus dem<br />
System der disciplinaren Knechtung, das das Gr<strong>und</strong>prinzip<br />
eines jeden Militarismus — auch jenem der<br />
Socialdemokraten, das vielgerühmte Volksheer —<br />
bildet. Jede Ursache hat ihre logische Wirkung<br />
<strong>und</strong> so wird der Antimilitarismus gerade dadurch<br />
im Heer an Boden gewinnen, dass man die<br />
propagandistischen Elemente dieser Idee als Soldaten<br />
staatlicherseits selbst dem Heere, der Kaserne<br />
zuführt. Notwendigerweise wird der Antimilitarismus<br />
um sich greifen — die Vorbedingungen für die Entwicklung<br />
dieser Idee <strong>und</strong> Propaganda bietet der<br />
Militarismus in Hülle <strong>und</strong> Fülle! Hat es sich übrigens<br />
historisch nicht längst bewährt, dass die erbittertsten<br />
Feinde der Kirche aus ihrem Schosse<br />
hervorgingen? Es wird in gewisser Beziehung ähnlich<br />
sein mit dem Antimilitarismus I<br />
Schweden.<br />
E i n a r H a k a n s s o n , einer der bravsten<br />
unserer Genossen im Jugendb<strong>und</strong> zu Stockholm, ist<br />
der Proletarierkrankheit erlegen. Obwohl erst 24<br />
Jahre alt, war er doch schon mehrfacher Alitarbeiter<br />
unserer Blätter <strong>und</strong> besonders tätig für die Ideen<br />
des Antimilitarismus unter der schwedischen Jugend.<br />
Belgien.<br />
Nach einem Aufsatz von Paul Sosset in der<br />
„Societe Nouvelle“ haben sich die belgischen Jugendorganisationen<br />
nun definitiv von der Socialdemokratie<br />
losgetrennt <strong>und</strong> in prinzipiellem Einvernehmen<br />
mit den Herveschen Prinzipien des Antimilitarismus<br />
erklärt.<br />
Wir wünschen unseren jungen Kameraden<br />
Glück zu diesem Schritt. Es ist der erste <strong>und</strong> konsequenteste,<br />
der sie zur Weltanschauung des Anarchismus<br />
bringen wird.<br />
* * *<br />
Ist auch dies „politischer Klassenkampf ?“<br />
Wir entnehmen dem Blatte „Penple“, dass der<br />
Antwerpener socialdemokratische Abgeordnete Terwagne<br />
heiss bemüht <strong>und</strong> bestrebt war, im Abgeordnetenhaus<br />
einen Vorschlag durchzubringen, der der<br />
Prinzessin Luise von Belgien eine Summe von<br />
40.000 Frc. gewähren sollte, um zu verhindern, dass<br />
der Verkauf der Juwelen der verstorbenen Königin<br />
Henriette stattfindet.<br />
Eine ideale Erringung der politischen Macht<br />
durch die Socialdemokratie . . .
Rumänien.<br />
Wenig wird im Ausland bekannt über die socialpolitischen<br />
Vorgänge dieses Landes.<br />
Bekanntlich erhob sich das niedergetretene,<br />
ausgebeutete Bauerntum <strong>und</strong> verlangte seine Existenzrechte<br />
unangetastet zu sehen. Wir wissen, wie<br />
blutig dieser Aufstand niedergemetzelt wurde.<br />
Wichtig ist es aber, den inneren Mechanismus<br />
dieser ganzen Unterdrückungspolitik kennen zu lernen,<br />
die bis heute andauert. Es war damals die<br />
konservative Partei am Ruder. Doch sie wollte das<br />
Odium des Regierungstreibens nicht auf sich lasten<br />
lassen, trat zurück <strong>und</strong> räumte der l i b e r a l e n<br />
Partei ihren Platz ein.<br />
Im Ministerium dieser Partei befanden sich<br />
neben den üblichen Liberalen z w e i Demokraten<br />
<strong>und</strong> auch ein ehemaliger Führer der rumänischen,<br />
socialdemokratischen Partei. Die Konservativen<br />
hatten staatsmännisch weise gehandelt, zurückzutreten,<br />
denn das „liberale“ Ministerium leistete eine<br />
Arbeit, die nicht allein sie, sondern die Erwartungen<br />
des gesamten Bojarentums übertraf . . . R<strong>und</strong> 11.000<br />
Bauern mit ihren Frauen <strong>und</strong> Kindern wurden entweder<br />
getötet oder total ruiniert.<br />
Auch sonst wüteten die Liberalen vortrefflich.<br />
Versammlungen wurden verboten, Zeitungen, obwohl<br />
die Zensur gesetzlich nicht mehr zulässig ist —<br />
einfach unterdrückt <strong>und</strong> H<strong>und</strong>erte Arbeiter in die<br />
Gefängnisse geworfen. Interessant ist auch zu wissen,<br />
dass die Herren der Regierung ihre eigenen Gesetze<br />
in geradezu schauderhafter Weise brachen: da man<br />
Rumänen doch nicht „ausweisen“ kann, wurden<br />
unsere rumänischen Genossen heimlich, in Nacht<br />
<strong>und</strong> Nebel über die Grenze geschafft <strong>und</strong> ihnen die<br />
Rückkehr einfach verboten.<br />
Ein Glück, dass alle diese Schläge es nicht<br />
vermochten, den Geist der Freiheit zu bannen; gerade<br />
jetzt beginnt es wieder, sich hoffnungsvoll zu<br />
regen. No.<br />
Triest.<br />
Einer idealen Pressfreiheit erfreut sich hier<br />
jnser Bruderblatt „Germinal“, das die italienischen<br />
Kameraden publizieren. Fast jede Nummer verfällt<br />
zum grössten Teil dem Stifte des gestrengen Herrn<br />
Zensoren. W a s er wohl damit bezwecken mag?<br />
Gelesen wird das Ganze doch <strong>und</strong> gerade darum —<br />
verbotene Flüchte schmecken stets besser . . .<br />
Frankreich.<br />
Die Herren Clemencean, Briand, Viviani, Pi-<br />
Huard sind die besten Vorkämpfer für den Anarchismus.<br />
Sie liefern die Lehren <strong>und</strong> Beweise über die Korrumpierung<br />
des Charakters durch die politische Machtausübung.<br />
Um dieser Korruption tatkräftig entgegentreten<br />
zu können, hat sich in Paris eine neue, schon sehr<br />
zahlreiche Liga gebildet, die Gruppe der »Meinungsfreiheit“,<br />
die in ihrem Manifest in unzweideutigen<br />
Ausdrücken k<strong>und</strong> tut, Gewaltsübergriffen der Regierung<br />
die Gerechtigkeitsprinzipien des Volkes entgegen<br />
setzen zu wollen.<br />
<strong>Unser</strong> französisches Bruderorgan „Libertaire“<br />
feierte jüngst seinen 14jährigen Geburtstag. Es war<br />
ein Tag fröhlicher Gedanken, trozdem gerade jetzt<br />
die französische Regierung, durch die unrechtmässige<br />
Inhaftierung des redaktionellen Genossen Louis Matha,<br />
zu einem mächtigen Schlage wider das Blatt ausholtl.<br />
Doch die Tatsache, dass dies n i c h t die e r s t e<br />
heimtückische Verfolgung ist, die unser Mitkämpfer<br />
„Libertaire“ überstand, lässt uns mit ihm frohgemut<br />
in die Zukunft blicken. Trotz alledem! (Nachtrag:<br />
Matha ist mittlerweile freigesprochen worden).<br />
Trotzdem diese Frechheit einen Sturm der öffentlichen<br />
Empörung hervorrief, als sie sich letztes Jahr<br />
zum ersten Male ereignete, haben die französischen<br />
Herren Abgeordneten die Frechheit wiederholt <strong>und</strong><br />
sich in den letzten Tagen abermals 15.000 Franken<br />
(1 Fr. = 94 h ö. W.) als Jahresgehalt votiert, s e l b s t<br />
votiert. Und an diesem Stück direkter Aktion des<br />
Parlamentarismus beteiligten sich auch einstimmig<br />
dafür die Herren Socialdemokraten.<br />
Bisher hatten die französischen Abgeordneten<br />
„nur“ 9000 Frks. pro Jahr. Das wurde ihnen zu<br />
wenig, <strong>und</strong> so votierten sie sich kurzerhand eine<br />
Gehaltszulage von nicht weniger als gleich 6000 Frks.<br />
auf einmal. Das haben sie nun für das kommende<br />
Jahr wieder votiert.<br />
Herve, der mutige socialistische Antimilitarist,<br />
empört sich in einem Artikel seines Blattes „Der<br />
sociale Krieg“ dagegen <strong>und</strong> protestierte ganz besonders<br />
gegen die französischen Socialdemokraten.<br />
Er vergisst, dass bei diesen Herren die Expropriation<br />
des Kapitalismus längst schon da anhebt,<br />
wo die Lösung der sozialen Frage für die Abgeordneten<br />
in Betracht kommt. Die Löhne des Proletariats<br />
können sie nicht steigern, dafür aber ihre<br />
eigenen!<br />
Die Genossen von ganz Nordfrankreich haben<br />
für den 15. Dezember einen Kongress einberufen.<br />
Derselbe stellte folgende Punkte auf die Tagesordnung<br />
U. a.: 1. Anschaffung einer eigenen,<br />
kommunistisch-anarchistischen Di uckerei <strong>und</strong> eines<br />
Verlags. 2. Über anarchistische Erziehungsmethoden.<br />
3. Begründung einer Förderativorganisation der<br />
nordfranzösischen Genossen. 4. Die Anarchisten <strong>und</strong><br />
die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung.<br />
Auf eine originelle Idee verfiel unser franzözischer<br />
Genosse Andrienx, Mitglied der Konföderation<br />
der Arbeit. Bekanntlich ist die Herstellung von Cigarien<br />
<strong>und</strong> Cigaretten Staatsmonopol in Frankreich;<br />
nicht aber — glücklicherweise — auch schon die<br />
Herstellung von P a p i e r . Um nun wenigstens i n<br />
d i e s e r m ö g l i c h e n Weise den Staat mittels<br />
der Kaufkraft des Proletariats zu bekämpfen, setzte<br />
sich obiger Genosse ins Einvernehmen mit Kameraden<br />
der Papierindustrie <strong>und</strong> sie erzeugten gemeinsam<br />
eine Qualität C i g a r e t t e n p a p i e r , das an<br />
Güte b e s s e r , aber auch b i l l i g e r als jenes des<br />
Staates ist <strong>und</strong> dessen schöne Aufschriften: „Arb<br />
e i t e r , u m e u c h z u b e f r e i e n , m ü s s t i h r<br />
e u c h o r g a n i s i e r e n ! “ „ K r a f t , S o l i d a r i <br />
t ä t , E i n i g k e i t ! “ etc., Zeugnis ablegen für den<br />
propagandistischen Eifer der Produzenten, Zudem<br />
wurde beschlossen, von allen 8 Frk., die eingenommen<br />
wurden, 2 Frk. davon der Kasse der<br />
„Konföderation“ zuzuwenden.<br />
Es ist kein Zweifel vorhanden, dass diese<br />
Boykottierung des Staates a u f d i e s e m G e b i e t e<br />
von den französischen Syndikalisten in vollem Masse<br />
durchgeführt werden, der Staat jährlich Tausende<br />
von Franks Einnahmen verlieren wird. Und handelt<br />
es sich in diesem Falle auch nur um eine, relativ<br />
gesprochen, kleinere Sache, so sagen wir doch:<br />
W i e v i e l I n t e l l i g e n z , I n i t i a t i v e u n d<br />
T a t k r a f t l i e g t i n d i e s e r „ d i r e k t e n<br />
A k t i o n “ e i n i g e r P r o l e t a r i e r !<br />
Russland.<br />
Die dritte Duma ist zusammengetreten. Und<br />
durch die Wahl von schalen Oktobristen <strong>und</strong> kräftigen<br />
Echtrussen ins Präsidium hat sie die ihr vorangegangenen<br />
Befürchtungen übertroffen <strong>und</strong> sich<br />
den <strong>Weg</strong> vorgezeichnet.<br />
An dem trüben Novembermorgen, als solches<br />
geschah — welch ein Gegensatz in allem zu den<br />
beiden ersten Dumen! — hatte die' Regierung alles<br />
aufgeboten, um Ehrungen <strong>und</strong> Auschreitungen vorzubeugen:<br />
der Platz vor dem Dumagebäude, dem<br />
Taurischen Palast <strong>und</strong> die anstossenden Strassen<br />
waren von grossen Mengen, Polizei, Gendarmerie<br />
<strong>und</strong> Spitzeln besetzt, die jede Zusammenrottung<br />
verhindern sollten. Die naive Macht, die sich selbst<br />
kontrolliert <strong>und</strong> selbst verhöhnt! Oder sollte das<br />
nur die Unschuld markieren <strong>und</strong> das bösse Gewissen<br />
maskieren? Als wenn sie nicht gewusst hätte, dass<br />
das Volk sich nicht für diese Volksererwählten ihre<br />
Auffahrt <strong>und</strong> ihr Kasperltheater oder Katz- <strong>und</strong><br />
Mausspiel in der Trödelbude interessiert?<br />
Alle die schreitenden <strong>und</strong> reitenden Truppen<br />
hatten nur einige Gymnasiasten, Sonnenbrüder <strong>und</strong><br />
zufällige neugierige Passanten zu beobachten. Auf<br />
die Echtrussen warteten keine Deputationen mit<br />
Kirchen- <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esfahnen <strong>und</strong> die wenigen Mitglieder<br />
der linken Opposition schlichen sich, wie<br />
Schatten, unbemerkt in das Heiligtum der Stagnation.<br />
Sie waren nur geduldet <strong>und</strong> machten der Ehre<br />
oder der Schande halber mit — anlocken konnte<br />
das Schauspiel niemand, am wenigsten das Volk,<br />
das diese gleissnerische Übertölpelung, dieses höhnische<br />
Schindluderspiel herausfühlte.<br />
Freilich wo nur irgend eine schmale Lücke<br />
gelassen worden war, sicherte die unverfälschte<br />
Volksstimmung — nicht die der satten Oktoberschichten<br />
— durch <strong>und</strong> wusste sich trotz aller<br />
Stopfungen, Verschalungen <strong>und</strong> Klappen zur Geltung<br />
zu bringen. Und in der Duma selbst geht unaufhörlich<br />
ein Zerfall-Process vor sich, der nicht<br />
wenig Elemente als nur vorläufig rechtsstehende<br />
ausscheidet <strong>und</strong> in die Reihen des .Umsturzes“<br />
schiebt — ganz wie bei gewissen elektrischen<br />
Strömungen, wo die Teilchen fortgerissen, auf die<br />
andere Seite hinüberfliegen.<br />
Selbst unter den „Deutschen Fahnen“ hat sich<br />
eine Regung der Kritik, ein leises Windchen des<br />
bösen Unwillens fühlbar gemacht, unter diesen<br />
würdelosen Deutschen, die in früheren Jahrh<strong>und</strong>erten<br />
jedem Tyrannen die Lanzknechte <strong>und</strong> die Schweizer<br />
— in Hessen sogar Schlachtvieh für Amerika, nicht<br />
nur Häute für den Markt lieferten <strong>und</strong> in deutscher<br />
Treue ihren angestammten Herren halfen, Deutschland<br />
zersplittert auseinanderzuhalten <strong>und</strong> hier die schwammigen<br />
Oktobristen <strong>und</strong> allen Ehrgefühls baren<br />
Echtrussen geben. Es ist grosse Nachfrage nach<br />
solcher Ware, <strong>und</strong> sie wird gut bezahlt mit mancherlei<br />
Münze.<br />
Hauptsächlich schon mit der des guten Gewissens,<br />
dem Bewusstsein erfüllter Pflicht <strong>und</strong><br />
Schuldigkeit <strong>und</strong> des Verdienstes um die Menschheil<br />
<strong>und</strong> Kultur. Ach, sie sind ja wieder alle auf ihrer<br />
alten ehrwürdigen einnehmenden Positionen aufgefahren,<br />
dem Feind zum Schreck, dem Bürger zui<br />
Beruhigung, die alten bewählten Agressiv- <strong>und</strong><br />
Defensiv - Waffen, angefangen mit dem grosser<br />
Haupt- <strong>und</strong> Zentral - Drehpanzertum, Gott, dei<br />
zugleich als Tausendpfünder wirken kann — sie sind<br />
alle da: das V a t e r l a n d , der S t a a t , das G e s e t z ,<br />
die K u l t u r , die W o h l f a h r t , der M e n s c h e n <br />
v e r s t a n d <strong>und</strong> das Gefühl, Wahrheit, Sittlichkeit,<br />
Liebe <strong>und</strong> Gerechtigkeit bis auf den Anstand dei<br />
Brauergehilfengilde in Hinterpoten, alle, in deren<br />
Namen man Menschen zwingt, als Droh-, Schutzes<br />
Lockpopanze der ehrbaren Seelen, die sich für<br />
die Heilheit ihrer Kaffeetöpfe begeistern 1 Sie alle<br />
wirken in christlichem Sinne auf etwaige Abtrünnige<br />
<strong>und</strong> Bedenkliche — linksschielende Beamte, evangeliumsfrohe<br />
Geistliche, der Disziplin entwischte Kosacken,<br />
falls die Fuchtel des väterlichen Vorgesetzten<br />
in Verbindung mit Freiwohnung <strong>und</strong> Freitisch solche<br />
unberechtigte <strong>und</strong> unberechnete Triebe nicht unterdrücken<br />
können sollte. Aber sie ist geübt <strong>und</strong> kann<br />
es meistens, denn auf etwas mehr oder weniger<br />
Druck <strong>und</strong> unverblümte Drohungen mit Massiegelungen<br />
kommt es ihnen nicht an.<br />
Sie vergessen nur, dass nur Narren stürmische<br />
Meere peitschen, <strong>und</strong> dass man kein gutes Wetter<br />
macht, wenn man den Laubfrosch im Wetterglas auf<br />
der obersten Leiterstufe festbindet. Oder nur für<br />
wirkliche Toren <strong>und</strong> angebliche Blinde. Das Volk<br />
lässt sich nichts weiss machen, es lächelt in seinen<br />
Bart. Wie viele haben nicht wählen wollen oder<br />
haben aufs Geratewohl gewählt, wie viele haben<br />
ängstlich schwache Elemente abgeschoben oder<br />
bewusst den Boykott erklärt. Diesem Mummenschanz<br />
— die Duma! T. H.<br />
B R I E F K A S T E N .<br />
Landau. Ihr Artikel ist gut; erscheint in<br />
Nr. 2. Immer we.ter so <strong>und</strong> rüstig arbeiten/<br />
Fr. Prisch, Graz. In seinem Auftrage übermittle<br />
ich Ihnen hierdurch die Grüsse des Fre<strong>und</strong>es<br />
Theo. H.<br />
Schoteten <strong>und</strong> S e r g e j e w . Famos! Deine<br />
Arbeitstüchtigkeit für die Bewegung ist unser aller<br />
Nachahmung würdig. Brüdergrüsse Euch Allen.<br />
S t e r n b e r k . Dank für Brief. Mitteilungen, werden<br />
verwendet in Nr. 2. Neuigkeiten <strong>und</strong> Berichte<br />
sind stets <strong>und</strong> auch in Zukunft willkommen. Gruss!<br />
An die Genossen in Ö s t e r r e i c h - U n g a r n <strong>und</strong><br />
im A u s l a n d ! Wir ersuchen, uns sämtliche Bewegungsereignisse<br />
von öffentlichen Interessen, die Abhaltung<br />
von Versammlungen <strong>und</strong> deren Verlauf, in<br />
knapper aber auch klarer Form, stets <strong>und</strong> unverzüglich<br />
mitzuteilen. Die R e d a k t i o n .<br />
G e n o s s e n ! Verkehrt nur in jenen<br />
Lokalen, in denen der „W. f. A.“, aufliegt.<br />
Werbt unermüdlich neue Abonnenten<br />
<strong>und</strong> verbreitet Euer Blatt!<br />
Vereinskalender.<br />
Allgemeine G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n von<br />
Niederösterreich. Versammlungen finden jeden<br />
Sonntag abends statt, um 7 Uhr im VI. Bez. Einsiedlerg.<br />
60. Adresse des Obmanns: Wenzel H o r a z e k , V.<br />
Kohlg. 21. Wien.<br />
Wir legen es allen nach Aufklärung <strong>und</strong> gewerkschaftlicher<br />
Aktivität strebenden Albeitern ans Herz,<br />
sich dieser revolutionär socialistisch empfindenden<br />
Gruppierung von Gewerkschaftlern anzuschliessen.<br />
S a m s t a g 8 U h r :<br />
Bildungsverein „POKROK“ (Fortschrift).<br />
XIV. H ü t t e l d o r f e r s t r a s se 33.<br />
M o n t a g 8 U h r :<br />
Schuhmachergewerkschaft<br />
XIV. H ü t t e l d o r f e r s t r a s s e 33.<br />
S o n n t a g 9 Uhr v o r m . : Z u s a m m e n k u n f t<br />
Föderation der Bauarbeiter<br />
X. Bezirk W i e l a n d p l a t z Nr. 1.<br />
S a m s t a g 8 Uhr A . - Z u s .<br />
Bildungsverein „ROVNOST“ (Gleichheit).<br />
X. E u g e n g a s s e 9.<br />
S o n n t a g 4 Uhr N a c h m . : Zus.<br />
Allgemeine Gewerkschafts-Föderation<br />
V. E i n s i e d l e r g a s s e 60.<br />
Diskussionen <strong>und</strong> Vorlesungen.
Wie Pantagruel einen äusserst<br />
schwierigen Rechtsstreit<br />
schlichtete.<br />
V o n F r a n c o i s R a b e l a i s .<br />
Wir entnehmen diese glänzende Satire auf<br />
unsere bis heute gänzlich unverändert gebliebenen<br />
Justiz- <strong>und</strong> Rechtsstreitigkeiten dem zur Zeit in<br />
erster wirklich einwandfreier deutscher Übersetzung<br />
erschienenen Werke „DES FRANCOIS RABELAIS<br />
PANTAGRUEL", verdeutscht von Engelbert Hegaur<br />
<strong>und</strong> Dr. Owlglass. Das, was wir ihm entnehnen,<br />
ist nur ein einziges seiner unzähligen Gedankenjuwele,<br />
<strong>und</strong> unsere Wiedergabe geschieht<br />
hauptsächlich deshalb, um unseren Leserkreis zur<br />
Anschaffunch dieses Buches anzuregen. Verlegt<br />
ist dasselbe bei Albert Langen (München 1907),<br />
der sich durch diese deutsche Wiedergabe eines<br />
der ältesten Anarchisten ein wahres Verdienst erwarb.<br />
Die Red.<br />
Pantagruel war im Herzen den Ermahnungen<br />
seines Vaters eingedenk <strong>und</strong> trachtete<br />
danach, seine Kenntnisse auf die Probe zu<br />
stellen. Liess also = eines Tages an allen<br />
Strassenecken 9764 T h e s e n anschlagen, so<br />
die tüfteligsten <strong>und</strong> zweifelhaftesten Punkte<br />
sämtlicher Wissenschaften betrafen. Erstlich<br />
disputierte er in den Strohgassen wider alle<br />
Professoren, Philosophen <strong>und</strong> Rhetoren <strong>und</strong><br />
setzte sie blankweg ärschlings. Dann hielt<br />
er seine Sentenzen in der Sorbonne gegen<br />
die ganze Theologenfakultät sieben Wochen<br />
hindurch von 4 Uhr morgens bis 6 Uhr abends<br />
mit 2 St<strong>und</strong>en Essenspause, um besorgte<br />
Sorbonnisten nicht um ihren gewohnten Mittagsschoppen<br />
zu bringen.<br />
Sie stellten sich wacker auf die Hinterfüsse,<br />
aber all ihrer Siebengescheitheit ungeachtet<br />
liess er sie weidlich abfahlen <strong>und</strong><br />
machte offenk<strong>und</strong>ig, dass der Doktorhut ihre<br />
Eselsohren nur notdürftig verhehle. Da ging<br />
der Ruf von seiner meistermässigen Weisheit<br />
in der ganzen Stadt um, dass selbst die Waschfrauen,<br />
Höckerweiber, Garköche u. Scherenschleifer<br />
mit dem Finger auf ihn deuteten u.<br />
tuschelten: „Das ist er", was ihm indes nicht<br />
unlieb war.<br />
Damals nun schwebte ein Prozess zwischen<br />
2 Edelleuten, von denen als Kläger<br />
Herr von Hintenküss auftrat <strong>und</strong> Herr von<br />
Windloch als Beklagter. Aber der Fall war<br />
dermassen verknuggelt <strong>und</strong> diffizil, dass das<br />
Tribunal nicht mehr davon verstand als eine<br />
Kuh vom Brezelbacken. Die gerühmtesten <strong>und</strong><br />
dickbäuchigsten Rechtsgelehrten von Frankreich,<br />
England <strong>und</strong> Italien hatten in 47 W o <br />
chen kein Bröselein von dem Streit aufknacken<br />
mögen, worüber sie also desparat<br />
wurden, dass sie sich aus Ärger schmählich<br />
beschissen.<br />
Als sie eines Tages ihre Hirne wieder<br />
vergeblich zermartert <strong>und</strong> verphilogrobolisiert<br />
hatten, wurden sie eins, nach Pantagruel zu<br />
schicken, der durch seine Disputation so b e <br />
rühmt worden war, damit er den Prozess<br />
kläre, entwirre <strong>und</strong> nach gutem Juristenbrauch<br />
<strong>und</strong> bestem Vermögen schlichte. Zu dem Ende<br />
überlieferten sie ihm alle Akten <strong>und</strong> Schriftstücke,<br />
wovon 4 starke Sodenesel zu schleppen<br />
hatten.<br />
Aber Pantagruel fragte: „Ihr Herren, die<br />
zwei Prozessierer leben doch noch ?" —<br />
„Jawohl." — Was, zum Teufel, soll ich also<br />
mit den Papierstössen <strong>und</strong> Schmiralien?<br />
Wär's nicht das Gescheiteste, die beiden in<br />
eigener Person zu vernehmen? Wozu die<br />
Nase in dieses Gekleckse von Kniffen, Umwegen<br />
<strong>und</strong> Rechtsbiegungen stecken? Sicherlich<br />
hat ein jeder von Euch alles erdenkliche<br />
pro <strong>und</strong> contra hineingestopft <strong>und</strong> den<br />
Fall nicht schlichter, sondern blos verzwickter<br />
gemacht, mit seinen überklugen Schlüssen<br />
<strong>und</strong> Zitaten aus allen möglichen Kommentatoren.<br />
Wie hätt' einer von diesen Glossenreissern<br />
die Pandekten lesen können, die im<br />
zierlichsten Latein abgefasst sind, da sie selber<br />
das erbärmlichste Küchen- <strong>und</strong> Kaminfegerlatein<br />
schreiben? Wie hätt' solch ein<br />
blöder Narr die vernunftgemässen Gr<strong>und</strong>lagen<br />
aller Rechtsgelehrtheit verstanden, da<br />
er so wenig von Philosophie im Leib hat<br />
als mein Maulesel? Und gründen sich doch<br />
alle Gesetze auf die Natur- <strong>und</strong> Moralphilo-
sophie! So es also euer Wille ist, dass ich<br />
mich dieses Prozesses .annehme, schmeisst<br />
mir all diese Faszikel ins Feuer, <strong>und</strong> dann<br />
lasst mir die 2 Edeln vorführen. Erst wenn<br />
ich sie vernommen habe, kann ich euch ehrlich<br />
unumw<strong>und</strong>en Bescheid geben".<br />
Also wurden die Papiere, Register,<br />
Aufnahmen, Protokolle, Repliken, Dupliken,<br />
Reserve <strong>und</strong> Kopien verbrannt <strong>und</strong> Kläger<br />
<strong>und</strong> Beklagter in Persona vorgeladen.<br />
Da fragte sie Pantagruel: „Ihr also führet<br />
diesen grossen Prozess wider einander?" —<br />
„Ja", sprachen sie. — „Wer von euch ist<br />
der Kläger?" — „Der bin ich", versetzte<br />
Herr v. Hintenküss. — Also berichtet mir<br />
Punkt für Punkt euer Gutliegen, ganz dem<br />
Sachverhalt gemäss. Denn potzsapperment,<br />
wenn ihr nur mit einem Worte flunkert, reiss<br />
ich Euch den Kopf vom Hals, damit ihr<br />
merket, dass man vor Gericht der Wahrheit<br />
die Ehre gibt; lasset nichts aus, fügt nichts<br />
hinzu <strong>und</strong> beginnet jetzo!"<br />
* *<br />
*<br />
Da tat der v. Hintenküss seinen M<strong>und</strong><br />
auf: „Werter Herr, es ist nicht gelogen, eine<br />
Frau, die bei mir bedienstet ist, trug Eier<br />
auf den M a r k t . . . "<br />
„Bedeckt Euch, Hintenküss", sprach Pantagruel.<br />
„Schönen Dank. Aber mit eins gerät sie<br />
um sechs Batzen zwischen die zwei W e n d e <br />
kreise gegen den Zenith hin, um so mehr,<br />
als die Gebirge in dem Jahr sehr karg an<br />
Vogelherden waren, zufolge eines Aufruhres<br />
bei den Firlefranzen, just am ersten Loch im<br />
Jahr, wo man den Ochsen die Suppe aufschüttet,<br />
damit die H<strong>und</strong>e ihr Heu haben.<br />
Indessen die Ärzte meinten, sie könnten an<br />
ihrem Harn nichts Bedenkliches erk<strong>und</strong>en, dafern<br />
nicht die Obrigkeit in B-moll verfügte,<br />
dass die Pocken nicht hinter den Kesselflickern<br />
herzupfen dürfen. Aber ihr Herren,<br />
der Mensch denkt, Gott lenkt, <strong>und</strong> ein Fuhrmann<br />
brach kuhfellig seinen Peitschenstiel".<br />
Da nickte Pantagruel: „Recht schön, recht<br />
schön, lieber Fre<strong>und</strong>; sprecht immerzu, aber<br />
ohne Hast <strong>und</strong> Jast. Ich verstehe den Fall.<br />
Fahret nur so fort.<br />
„Wahrlich", sprach Herr v. Hintenküss<br />
hinwieder, nicht umsonst heisst es, ein G e <br />
scheiter wiegt zweie auf. Besagte Frau, die<br />
bei mir bedienstet ist, seufzte ein Stossgebetlein<br />
<strong>und</strong> konnte sich mit der falschen Seite<br />
nicht zudecken, wonach ein eiserner Stockdegen<br />
auf sie knallte, dort wo man die alten<br />
Tücher feil hält, mit denen man die aiten<br />
Grillen beschuhnagelt . . ."<br />
Hier wollte der Herr v. Windloch einen<br />
Einwand erheben, aber Pantagruel fuhr ihm<br />
über den Schnabel: „Heiliger Kühlian, wer<br />
gibt dir Erlaubnis zu sprechen ? Ich schwitze<br />
hier vor Mühsal, den Ausführungen des Gegenparts<br />
zu folgen, <strong>und</strong> du bringst mich<br />
schön aus dem Konzepto! Halt's Maul, zum<br />
Teufel! Du redest dein Schnipfel, wenn<br />
der hier fertig ist. — Fahret fort, Herr von<br />
Hintenküss, <strong>und</strong> überstürzet Euch mit nichten."<br />
„Es bleibt zu erwägen", redete dieser<br />
weiter,<br />
„In der pragmatischen Sanktion<br />
Steht davon nicht die blaue Bohn<br />
<strong>und</strong> der Pabst gab jedweden Urlaub, nach<br />
Belieben zu furzen, wenn es die Unterlage<br />
nicht bräunte, womit auch übereinstimmt,<br />
dass besagte Frau sich das Steissbein krumm<br />
trat. Trotzdem riet ihr Hans Kalb, ihr<br />
Siebensippensuppenvetter, das Brimborium<br />
nicht zu waschen, sie hätte denn zuvor das<br />
Papier angezündet. Solches verursachte die<br />
üble Mär. Ich glaub' auch dem Gegenteil in<br />
sacer verbo dotis. Dann nach des Königs<br />
Befehl hatt' ich mich vom Scheitel zur Zeh<br />
mit einem Bauchpflaster gewappnet, um zu<br />
beobachten wie meine Herbstler die Puppen<br />
tanzen Hessen. Auf Gr<strong>und</strong> all dieser Fakta<br />
beanspruch' <strong>und</strong> heisch' ich hiemit mit Recht,<br />
dass Ihr, hochgepriesener Herr voll Überlegung<br />
sammt Kosten, Gebühren <strong>und</strong> Sportein<br />
sprechen sollt."<br />
Pantagruel fragte: „Werter Fre<strong>und</strong>, habt<br />
Ihr Euern Worten nichts mehr hinzuzufügen?"<br />
„Nein, Euer Gnaden, ich hab' den Tatbestand<br />
von A bis Z ohn' Umschweif festgelegt."<br />
— „So habet Ihr das Wort, Herr v.<br />
Windloch. Fasst Euch in Kürze, aber vergesst<br />
nichts von Belang."<br />
Herr von Windloch hub a n : Werte Anwesende,<br />
wenn das Unrecht so leicht erkannt<br />
würde als Mucken in der Milch, war' die<br />
Welt nicht so rattenzerfressen. Denn wenn<br />
auch jegliches, was mein Widerpart vorgebracht<br />
hat, in Bezug auf Silb' <strong>und</strong> Faktum<br />
von echtem Flaum ist, so sieht man doch<br />
das Knifftige <strong>und</strong> Zackige, <strong>und</strong> wo der Hase<br />
im Pfeffer liegt. Muss ich es nun hinnehmen,<br />
wenn ich meine Suppe auslöffle, (dass man<br />
mir die Ohren mit dem aiten Kindervers<br />
volldudelt:<br />
Wer zu der Suppe Wasser trinkt<br />
Spantrocken einst ins Grabloch sinkt?<br />
Aber wenn eine arme Person in die Badstube<br />
geht, um Winterschuhe zu kaufen,<br />
fleusst den Scharwächtern ein Klystier über
das Spektakulum! Allein wie Gott will, ich<br />
halt still, bei Nacht sind alle Katzen grau,<br />
<strong>und</strong> man braucht mir's nicht zu glauben, wenn<br />
ich's nicht bei T a g ans Licht zerre.<br />
Im Jahre 36 hatt' ich mir einen Stutzschwanz<br />
gekauft, der ganz echt in Garn g e <br />
färbt war, wie mir die Goldschmiede versicherten;<br />
aber trotzdem häkelte der Notar<br />
sein Etcätera daran. Ich bin nicht gewitzt<br />
genug, um den Mond bei den Hörnern zu<br />
packen, aber die Gelehrten sagen mir, es sei<br />
das Weiseste, des Sommers im Keller Tinte<br />
<strong>und</strong> Papier zu m ä h e n ; denn abgesehen davon,<br />
dass die Rüstung nach Knoblauch schmeckt,<br />
frisst der Rost die Leber an, was das Salz<br />
so teuer macht.<br />
Werte Anwesende, als besagte Frau den<br />
Vogel auf den Leim lockte, konnte man sich<br />
nicht besser vor den Kannibalen schützen,<br />
denn mit einem Band Zwiebeln als Rosenkranz<br />
in irgend einem Maulwurfsloch, wenn<br />
der Speck in Sicherheit war. Es steht ausser<br />
Zweifel, dass die vier fraglichen Ochsen ein<br />
sehr schwaches Gedächtnis hatten. Immerhin<br />
sagten meine Leute, wir kriegen den Fuchs,<br />
falls wir die Säge über die Windmühle<br />
schieben.<br />
Als er sich schriftlich mit ihm verständigt,<br />
Wurden die Kühe flugs ausgehändigt.<br />
Ward auch in einer martingalischen Akte<br />
festgesetzt, worauf ein hoher Gerichtshof<br />
Rücksicht nehmen muss. Tunc quid inris<br />
pro minoribus? Es ist Brauch nach salischem<br />
Recht, wenn man sich in der Mitternachtsmetten<br />
verkältet, die bretonischen Weissweine<br />
zu wippen, die alleweile das Bein stellen.<br />
Also schliess' ich wie mein Vorsprecher:<br />
samt Kosten Gebühren <strong>und</strong> Sportein!" Nach<br />
Beendigung dieser Rede fragte Pantagruel den<br />
Herrn v. Hintenküss: „Habt Ihr noch etwas<br />
zu erwidern?" Der aber entgegnete: „Nein,<br />
edler Herr; ich habe die Wahrheit gesagt;<br />
macht also um Gotteswillen unserm Zwiespalt<br />
ein Ende, denn es kostet uns hier ein<br />
Erkleckliches".<br />
* *<br />
*<br />
Nunmehr erhob sich Pantagruel, rief die<br />
Räte, Beisitzer <strong>und</strong> Justiziarien um sich her<br />
<strong>und</strong> sprach: „Ihr habt soeben, ehrenfeste<br />
Herren, den Fall gehört, um den wir tagen;<br />
was bedünkt euch jetzo?" Worauf sie erwiderten:<br />
„Wahrlich, wir haben ihm vernommen,<br />
aber keinen Pfifferling davon verstanden.<br />
Ersuchen Euch also una voce, dass<br />
ihr das Urteil fället, dem wir unweigerlich<br />
zustimmen <strong>und</strong> Rechtskraft verleihen wer-<br />
den". — „Wohlan denn", nickte Pantagruel;<br />
„doch befind ich den Fall nicht gar so<br />
schwierig, als ihr ihn hinstellt. Eure neu zusammengewurstelten<br />
Paragraphen, Codices,<br />
Erlässe, Gesetze, Edikte, Leges <strong>und</strong> Verfügungen<br />
wollen mir um vieles düsterer erscheinen".<br />
Mit dem Hess er sie stehen <strong>und</strong> schritt<br />
ein, zweimal in tiefem Sinnen durch den Saal,<br />
wobei er hörbar gluckste wie ein Esel, dem<br />
man den Gurt zu straff schnürt, denn er war<br />
sich wohl bewusst, dass er ohne Ansehen<br />
der Person Recht sprechen müsse. Setzte sich<br />
schliesslich wieder <strong>und</strong> verkündete folgenden<br />
Urteilsspruch:<br />
„In Anbetracht, Erwägung <strong>und</strong> Hinsicht<br />
des Rechtsstreits zwischen den Herrn von<br />
Hintenküss <strong>und</strong> von Windloch erkennt <strong>und</strong><br />
verfügt das Gericht, dass in Rechnung der<br />
Gänsehaut des stapfigen Zwerchfells, das dem<br />
Sommer-Solstitium abtrünnig ward, um für<br />
Hirngespinste zu schwärmen; in fernerer Erwägung<br />
des Eierstockes durch die männlichen<br />
Verhöhnungen seitens der lichtscheuen- Nachteulen,<br />
die im diarrömischen Klima eines reitenden<br />
Kruzifixes mit einer Armbrust am Ziegel<br />
inquilinieren: hatte der Kläger gerechten Gr<strong>und</strong>,<br />
das Schiff zu kalfatern, welches die benannte<br />
Frau halb barfuss, halb gestiefelt aufblus.<br />
Gleicherweis erkennt ihn das Gericht unschuldig<br />
an dem privilegierten Fall der Rotzklunker,<br />
die er von wegen seiner Verstopfung ergattert<br />
haben dürft infolge des Schnittes durch<br />
zwei dreckbalsamierte Fandschuhe mit einem<br />
Nusslicht, mästen er das Tau mit den Eisenkugeln<br />
loslies, weil die Spülvetteln seine Gemüse<br />
trotz der Falkenglocken auf's bestreitbarste<br />
rösteten.<br />
Allein in weiterer Erwägung, dass er dem<br />
Beklagten zuschiebt, er sei ein Bletzflicker,<br />
Käskauer <strong>und</strong> Mumienteer gewesen, was sich<br />
aber als wohlgeklüngelt verlogen erwiesen,<br />
wie es auch der genannte Beklagte mit Fug<br />
von sich abgewehrt hat: verurteilt ihn das<br />
Gericht zu 3 Mäs verstöpselter, gelbgestampfter<br />
<strong>und</strong> perlitanierter gedickter Süssmilch, die<br />
er ihm am Aschermittwoch im nächsten Mai<br />
auszahlen soll. Gegenseits ist besagter Angeklagter<br />
gehalten, Heu <strong>und</strong> Wergbündel zu<br />
schaffen, um die gutturalen Stiefelzieher zu<br />
verstopfen, so mit den wohl purgierten Kupazen<br />
rädelweis verhälftert sind. Und Fre<strong>und</strong>e<br />
sollen sie sein als ehbevor. Ohne Kosten <strong>und</strong><br />
Sportein. Von Rechts wegen!"<br />
Nach Fällung dieses Urteilsspruchs entfernten<br />
sich beide Parteien höchlichst befriedigt,<br />
was ein ganz unerhörtes Schauspiel war. Denn<br />
seit der Sintflut war es niemals vorgekommen
<strong>und</strong> wird sich in dreizehn Jubeljahren nicht<br />
wiederholen, dass zwei Prozesshänse über<br />
ein <strong>und</strong> dasselbe Urteil erfreut sind.<br />
W a s die Gerichtsräte <strong>und</strong> Doktoren anlangt,<br />
eija, so waren selbige länger denn drei<br />
St<strong>und</strong>en vor Staunen maulblöd; dann geriethen<br />
sie in Verzückungen ob Pantagruels Scharfsinnigkeit,<br />
die sie in diesem dornenvollen <strong>und</strong><br />
mühsamen Handel klärlich erschaut hatten.<br />
Sie stünden noch jetzt in ekstatischer Verw<strong>und</strong>ernis,<br />
hätte man sie nicht mit Essig gespritzt<br />
<strong>und</strong> mit Rosenwasser beträufelt <strong>und</strong><br />
dadurch ihre gewohnte Geistesnüchternheit<br />
zurückgerufen. Wofür Gott ganz besonders<br />
belobt <strong>und</strong> gepriesen sei!<br />
Revolution.<br />
„Es wird schon gehn!" ruft in den Lüften<br />
Die Lerche, die am frühsten wach;<br />
„Es wird schon gehn!" rollt in den Grüften<br />
Ein unterirdisch Wetter nach.<br />
„Es geht!" rauscht es in allen Bäumen,<br />
Und lieblich wie Schalmeienton:<br />
„Es geht schon I" hallt es in den Träumen<br />
Der fieberkranken Nation.<br />
Die Städte werden reg <strong>und</strong> munter,<br />
„Es geht!" erschallt's von Haus zu H a u s ;<br />
Schon steigt das Rufen in sie hinunter<br />
Und wählt sich seine Kinder aus.<br />
Die Morgensonne ruft: „Erwache,<br />
O Volk, <strong>und</strong> eile auf den Markt!<br />
Bring auf das Forum deine Sache!<br />
Im Freien nur ein Volk erstarkt.<br />
Trag all dein Lieben <strong>und</strong> dein Hassen<br />
Und Lust <strong>und</strong> Leid im Sturmesschritt,<br />
Dein schlagend Herz frei durch die Gassen,<br />
Ja, bring den ganzen Menschen mit!<br />
Lass strömen all dein Sein <strong>und</strong> Denken<br />
Und kehr' dein Innerstes zu Tage!<br />
Wenn du ein Kind von gutem Schlag!"<br />
Die Moigensonne ruft: „Erwache!"<br />
Klopft unterm Dach am Fenster a n ;<br />
„Steh auf <strong>und</strong> schau zu unsrer Sache,<br />
Sie geht, sie geht auf guter Bahn!<br />
Ich lege Gold auf deine Zunge!<br />
Ich lege Feuer an dein W o r t !<br />
So mach dich auf, mein lieber Junge,<br />
Und schlag' dich zu dem Volke dort!"<br />
Er eilt, <strong>und</strong> es empfängt die Menge<br />
Ihn hoffend auf dem weiten Plan;<br />
Stolz trägt sein Kind des Volk's Gedränge.<br />
Zur Rednerbühne hoch hinan,<br />
Nun geht ein Leuchten <strong>und</strong> Gewittern<br />
Aus seinem M<strong>und</strong> durch jedes Herz;<br />
Durch gold'ne Säle weht ein Zittern —<br />
Es wird schon gehn, schon fliesst das Erz.<br />
Wie eine Braut am Hochzeitstage,<br />
So ist ein Volk, das sich erkennt;<br />
Wie rosenrot vom heissen Schlage,<br />
Vom Liebespuls ihr Antlitz brennt!<br />
Zum erstenmal wird sie es inne,<br />
Wie schön sie sei <strong>und</strong> fühlt es g a n z :<br />
So stehet in der Freiheitsminne<br />
Ein Volk mit seinem Siegeskranz.<br />
•) A u s „ G e s a m m e l t e Gedichte". J. G. C o t t a ' s c h e Buchh<br />
a n d l u n g Nachfolger, S t u t t g a r t u n d Berlin.<br />
Karneval der Elenden.<br />
Eine Nacht nur! Lasst sie toben!<br />
Hat Musik sie doch erhoben<br />
Aus der Gosse düst'rem Leben,<br />
Lass't sie toben, lass't sie leben!<br />
Lass't sie toben! Morgen nieder<br />
Reisst man in den Schmutz sie wieder.<br />
Morgen werden sie sich lassen,<br />
Schlagen um den Kot der Gassen.<br />
Heute sind sie Brüder. Brüder!<br />
Lasst sie sich umarmet küssen<br />
Eine Nacht nur in Genüssen!<br />
Gottfried Keller*).<br />
Lasst sie sich zum Reigen fassen!<br />
Morgen kommt der Kot der Gassen.<br />
Lasst sie toben, lasst sie toben!<br />
Wien. Hugo Sonnenschein.<br />
Inhalt des neuesten Heftes:<br />
Pierre Ramus: 1887 — 1907. Max Nettlau:<br />
Die Begründung eines internationalen Bulletins.<br />
J. P. Proudhon: Die öffentliche Ordnung. Pierre<br />
Ramus: Aus dem Tagebuch eines Propagandidisten.<br />
Edm<strong>und</strong> Burke: Eine Rechtfertigung der<br />
natürlichen Gesellschaft. G. Landauer: Lernt<br />
nicht Esperanto! Pierre Ramus: Lernt Esperanto!<br />
Th. Heermann: Im Talnebel. Archiv des socialen<br />
Lebens.<br />
„Die freie Generation" ist eine theoretische<br />
Monatsrevue der Erkenntnisse des Socialismus<br />
<strong>und</strong> Anarchismus. Sie enthält 32 Selten <strong>und</strong><br />
kostet per Einzelnummer 25 Heller.
die antimilitaristische Propaganda zum Frieden<br />
gegenüber der Aktion der Freiheit g e <br />
zwungen haben. D a s m a c h t u n s n o t <br />
w e n d i g e r w e i s e z u B u n d e s g e n o s <br />
s e n u n d F r e u n d e n d e r a n a r c h i s t i <br />
s c h e n K o m m u n i s t e n <strong>und</strong> z u b e <br />
scheidenen, aber treuen Helfern der „Allgemeinen<br />
Arbeitsvereinigung“,*) solange dieselbe<br />
der socialen Revolution zustrebt.<br />
Wir wollen, dass die politische <strong>und</strong><br />
parlamentarische Wirksamkeit der socialistischen<br />
Partei aufhören soll. Aber w a r u m ?<br />
Deshalb, weil die Politik <strong>und</strong> der Parlamentarismus<br />
im französischen Proletariat den<br />
revolutionären Geist <strong>und</strong> die revolutionäre<br />
Handlungsweise beinahe ganz ertötet haben*);<br />
was davon übrig geblieben ist, das hat sich<br />
nur dank den Bemühungen der anarchistischen<br />
Kommunisten erhalten.<br />
Den Kämpfern der Partei hat man so<br />
lang vorgepredigt, dass die Umwandlung der<br />
kapitalistischen Gesellschaft in die kommunistische<br />
Gesellschaft nur durch die Eroberung<br />
der politischen Macht mittels der parlamentarischen<br />
Wahlen möglich ist, dass dieselben<br />
ihre ganze Tätigkeit auf diese verwendet<br />
haben. — Die Partei scheint nur zu Zeiten<br />
der Wahlen lebendig zu sein; zu anderen<br />
Zeiten verfällt sie in einen Todesschlaf, unterbrochen<br />
blos vom parlamentarischen Schwätzen<br />
nie aber durch eine Aktion.<br />
Ministerpräsident Clemenceau lässt unsere<br />
besten Kämpfer dutzendweise einsperren;<br />
unsere Versammlungen werden von Polizisten<br />
<strong>und</strong> Spitzeln überwacht; über alle Antimilitaristen<br />
werden schwarze Listen geführt;<br />
in Narbonne werden aufständische Bauern,<br />
in Raon 1' Etape streikende Arbeiter vom<br />
Militär erschossen — <strong>und</strong> all das findet die<br />
Partei ganz natürlich, <strong>und</strong> rührt sich nicht.<br />
Sie wartet bis ihr Führer Jaurès im Parlament<br />
eine schöne Rede darüber hält, <strong>und</strong> wird<br />
sagen: „Der hat's ihnen gegeben!“ <strong>und</strong><br />
glaubt dann, dass sie damit etwas getan hat.<br />
Wenn es aber gilt, die socialdemokratischen<br />
Proletarier ihre Entrüstung <strong>und</strong> ihre Forderungen<br />
auf der Strasse verkünden zu lassen,<br />
so können die Aufrufe der Revolutionäre kaum<br />
ein paar H<strong>und</strong>ert Menschen dafür zusammenbringen.<br />
Jaurès verteidigt den Parlamentarismus<br />
damit, dass er sagt: „Wenn die Verbrechen<br />
der Regierung das Proletariat zu einer Revolution<br />
trieben, dann wäre dieselbe umso<br />
wirksamer, weil der Ruf nach Gerechtigkeit<br />
vom Parlament <strong>und</strong> von der Strasse zugleich<br />
aufsteigen würde“.<br />
Welch' ein Irrtum! Die Partei selbst<br />
hat ja das Proletariat von jeder revolutionären<br />
Handlung entwöhnt. Jaurès selbst bemüht<br />
sich, von derselben abzuraten. Die Partei<br />
arbeitet so gut daran, alles, w a s keine gesetzliche,<br />
wahlrechtliche oder parlamentarische<br />
Handlung ist, zu ersticken, dass an dem Tag,<br />
wo sie das Proletariat, das Volk der Strasse<br />
zur Hilfe riefe, die Strasse verlassen, das<br />
Volk nicht zu finden sein wird.<br />
Es gibt aber einige von uns, die die<br />
Partei zu ihren alten revolutionären Traditionen<br />
zurückführen wollen.<br />
Wir predigen ihr, dass sie sich nicht<br />
im Rahmen der Gesetzlichkeit der bürgerlichen<br />
Gesellschaft betätigen darf. In allen Tonarten<br />
sagen wir ihr, dass die Parlamentswahlen<br />
höchstens dazu gut sind, eine kräftige Agitation<br />
für unsere Ideen des Internationalismus<br />
<strong>und</strong> Socialismus zu betreiben, die Gelegen-<br />
**) „Confederation Generale du Travail“; die<br />
Vereinigung der revolutionären Gewerkschaften<br />
Frankreichs.<br />
*) Auch im österreichischen <strong>und</strong> deutschländischen<br />
Proletariat! Anm. d. Red.<br />
heit benutzen zu können, da die grosse Mehrzahl<br />
der Menschen durch die Wahlen aus<br />
ihrer gewöhnlichen Gleichgiltigkeit aufgerüttelt<br />
werden kann. Aber der Parlamentarismus kann<br />
nur Parlamentsreformen schaffen, die eine<br />
radikale bürgerliche Partei ebenso verwirklichen<br />
könnte, wenn sie verspürt, dass es im<br />
Land eine starke revolutionäre Partei gibt,<br />
die das Volk über die Vernunftwidrigkeit <strong>und</strong><br />
Ungerechtigkeit der kapitalistischen Herrschaft<br />
aufklärt. Die paar Abgeordnete, die eine<br />
w i r k l i c h r e v o l u t i o n ä r e socialistische<br />
Partei vielleicht in's Parlament schicken kann,<br />
haben nur die eine Aufgabe: Das Land zu<br />
bereisen, um unser kollektivistisches <strong>und</strong><br />
kommunistisches Ideal zu verkünden; sie<br />
müssen Gruppen gründen, die der socialistischen<br />
Propaganda dienen <strong>und</strong> bei der<br />
ersten günstigen Gelegenheit die Organisierung<br />
des Generalstreiks als Vorläufer der zukünftigen<br />
Gesellschaft in die Hand zu nehmen<br />
vermögen. Die wirkliche revolutionäre P r o <br />
paganda, das ist die Propaganda des Antimilitarismus,<br />
durch die wir die heutige Gesellschaft<br />
allmählich entwaffnen können, <strong>und</strong><br />
die es uns möglich macht — wenn die Idee<br />
der allgemeinen Arbeitsvereinigung stark <strong>und</strong><br />
mutig genug geworden — den Generalstreik<br />
zu versuchen, ohne befürchten zu müssen,<br />
dass uns das Militär niederschlägt, mit der<br />
Hoffnung, die Arbeitsmittel <strong>und</strong> allen Reichtum<br />
dereinst zu Gemeinschaftseigentum umzugestalten.<br />
Freilich gefällt diese Taktik den socialistischen<br />
Politikern nicht, denen der Socialismus<br />
ein Gewerbe, ein Broterwerb oder<br />
die Quelle von grossen <strong>und</strong> kleinen Profiten<br />
ist. An der Spitze der Partei befindet sich<br />
eine Gruppe von Strebern, die sich erst kürzlich<br />
ihre parlamentarischen Diäten von 9000<br />
zu 15.000 Franken erhöht <strong>und</strong> die 6000<br />
Franken einfach in ihre eigene Tasche gesteckt<br />
hat. Aber das genügt den Herren<br />
nicht; sie beziehen ausser dem noch Bezahlungen<br />
als Journalisten, Advokaten etc. <strong>und</strong><br />
wenn wir nicht Acht geben, werden sie bald<br />
in Direktionen der grossen Banken <strong>und</strong><br />
Aktiengesellschaften eintreten. Darum sind<br />
sie Fre<strong>und</strong>e der Ordnung, der Gesetzlichkeit<br />
<strong>und</strong> des Vaterlandes!<br />
Sie wollen nichts als gesetzliche Reformen<br />
<strong>und</strong> sind die Feinde einer jeden socialen<br />
Revolution.<br />
„Die sociale Revolution? Wozu d e n n ?<br />
Haben wir denn nicht das allgemeine Wahlrecht,<br />
durch das wir auf friedlichem W e g e<br />
unser Ideal verwirklichen werden, sobald wir<br />
im Parlament die Majorität sind?^“<br />
U n d s i e w o l l e n , d a s s m a n<br />
s o l c h e s G e r e d e e r n s t n i m m t !<br />
Wenn ihr warten wollt, bis ihr die Majorität<br />
seid, um die socialistische Gesellschaft zu<br />
gründen — dann' könnt ihr lange warten,<br />
ihr armen französischen Proletarier!<br />
W a s ist denn die Majorität? Wisst ihr<br />
denn nicht, dass die allgemeine Meinung<br />
der Mehrzahl der Menschen durch die<br />
grossen Zeitungen gebildet wird, <strong>und</strong> dass<br />
die Presse in den Händen der Banken<br />
<strong>und</strong> Aktiengesellschaften ist? Wenn ein<br />
socialistisches Tageblatt wirklich revolutionär<br />
werden würde, so würde man es durch<br />
Pressprozesse umbringen!<br />
Wisst ihr denn nicht, dass wenn irgend<br />
eine tiefgehende Reform unseren Herren<br />
unbequem ist, die grossen Geld- <strong>und</strong> Kreditinstitute<br />
ihre Abgesandten zu allen Zeitungen<br />
schicken, damit diese ihren Lesern ein X<br />
für ein U vormachen? Wisst ihr nicht, dass<br />
die grossen Geldmächte, wenn sie zusammenhalten,<br />
wann immer sie wollen einen Zeitungskrieg<br />
eröffnen können, der jedes Regierungs-<br />
Ministerium wegfegen kann. Ein Ministerium<br />
kann nur so entstehen <strong>und</strong> bestehen, wenn<br />
es für die Finanzbarone vorteilhaft ist.<br />
Ob in einer Republik oder einer M o <br />
narchie, ist das Parlament, solange die kapitalistische<br />
Gesellschaftsordnung besteht, eine<br />
Puppenkomödie <strong>und</strong> die Abgeordneten sind<br />
Puppen, deren Drähte die Geldspekulanten<br />
vermittels der Presse in der Hand halten.<br />
Wenn man das weiss — <strong>und</strong> die Herren<br />
Abgeordneten wissen es recht gut — <strong>und</strong><br />
dann doch noch Loblieder auf die Segnungen<br />
der friedlichen „Entwicklung in den Zukunftsstaat<br />
hinein“ <strong>und</strong> den Parlamentarismus singt,<br />
dann verhöhnt man einfach die armen Teufel<br />
von Arbeiter, hinter deren Rücken man zu<br />
Wohlstand <strong>und</strong> oftmals Reichtum emporgeklettert<br />
ist; <strong>und</strong> die Herschenden müssen<br />
das Proletariat, <strong>und</strong> die sozialistische Partei<br />
insbesondere wirklich für eine Schafherde<br />
halten, um es zu wagen, ihnen das zu bieten!<br />
Wir wollen es bis zum Überdruss wiederholen<br />
: D i e B e f r e i u n g d é s P r o l e t a <br />
r i a t s w i r d s i c h n i c h t d u r c h d a s<br />
a l l g e m e i n e W a h l r e c h t u n d d a s<br />
P a r l a m e n t v e r w i r k l i c h e n — das<br />
höchstens Arbeiterversicherungsdekrete oder<br />
Verstaatlichungsgesetze schaffen kann, wie<br />
dieselben in Deutschland bestehen — s o n <br />
d e r n s i e w i r d s i c h v o l l z i e h e n<br />
d u r c h d i e r e v o l u t i o n ä r e w i r t <br />
s c h a f t l i c h e <strong>und</strong> s o c i a l e A k t i o n d e s<br />
P r o l e t a r i a t s .<br />
Die sociale Révolution — die n i c h t<br />
etwa tolles Blutvergiessen bedeutet, sondern<br />
die bewusste wirtschaftliche Umgestaltung<br />
der socialen Gr<strong>und</strong>formen des Lebens ist —<br />
wird unter drei Bedingungen m ö g l i c h :<br />
Die erste Bedingung ist, dass wir durch<br />
unsere Propaganda unter der Landbevölkerung<br />
die wohlwollende Neutralität der Bauern erhalten<br />
— wenn auch vorläufig nicht ihren<br />
Anschluss an den Socialismus. — Das ist<br />
leicht, denn sie hassen die herrschende Klasse,<br />
die sie auf so vielerlei Arten besteuert <strong>und</strong><br />
beraubt. Und besonders leicht ist es, wenn<br />
wir es ihnen klar machen, dass wir ihnen<br />
nicht, wie sie fälschlich meinen, ihr Stückchen<br />
Land gewaltsam wegnehmen wollen.<br />
Die zweite Bedingung ist, dass wir die<br />
besitzlosen landwirtschaftlichen <strong>und</strong> industriellen<br />
Arbeiter dazu bewegen, sich massenhaft<br />
in revolutionären Gewerkschaftsorganisationen<br />
zu gruppieren, ohne uns aber als<br />
Partei in die inneren Angelegenheiten derselben<br />
einzumischen, <strong>und</strong> wenn wir die P r o <br />
paganda derselben für den Generalstreik für<br />
wirtschaftliche Zwecke nicht hindern, sondern<br />
unterstützen.<br />
Die dritte Bedingung endlich ist, dass<br />
wir eine prinzipielle antimilitaristische Propaganda<br />
leisten, ohne die jeder Generalstreik<br />
im Blut erstickt werden kann.<br />
Nachwort der Redaktion.<br />
Die Erfahrungen der Arbeiter in Frankreich<br />
mit der Politik <strong>und</strong> dem Parlamentarismus<br />
beweisen am besten, auf welch g e <br />
fährlichen W e g die socialdemokratische Partei<br />
das Proletariat zu leiten sucht. Der eine<br />
w<strong>und</strong>e Punkt, in dem wir mit Hervé, dem<br />
Verfasser obiger Ausführungen, n i c h t übereinstimmen<br />
können, ist, dass er das Parlament<br />
<strong>und</strong> die Wahlen wenigsten als A g i <br />
tationsmittel für die Idee des Socialismus<br />
zulässt, während wir davon überzeugt sind,<br />
dass der revolutionäre Geist im Proletariat<br />
unfehlbar getötet wird, sobald dasselbe mit<br />
dem Werkzeug der Unterdrückung, den G e <br />
setzen <strong>und</strong> der Maschine zur Fabrikation von<br />
Gesetzen, in Verbindung tritt. Und wie so<br />
gar nichts der Parlamentarismus für den
Socialismus bedeutet, beweist Österreich.<br />
Spricht man in unserem Reichsrat von Socialismus?<br />
<strong>Unser</strong> Ideal ist die H e r r s c h a f t s <br />
l o s i g k e i t , d i e A n a r c h i e ; <strong>und</strong> damit, dass<br />
wir bei den Parlaments- <strong>und</strong> anderen Wahlen<br />
mit den übrigen Parteien zugleich abstimmen,<br />
anerkennen <strong>und</strong> billigen wir bis zu einem<br />
gewissen Grade die Herrschaft jener, die wir<br />
dadurch — wenn auch nur als legale Minorität<br />
— zu Gesetzgebern, zu unseren „Vertretern“<br />
machen.<br />
Wir haben blos eine Aufgabe: A n<br />
S t e l l e d i e s e r , a u f B e d r ü c k u n g , E l e n d<br />
u n d S k l a v e r e i a u f g e b a u t e n G e s e l l <br />
s c h a f t s o r d n u n g d i e w a h r e G e s e l l <br />
s c h a f t f r e i e r , g l e i c h b e r e c h t i g t e r u .<br />
b r ü d e r l i c h z u s a m m e n l e b e n d e r M e n <br />
s c h e n z u e r r i c h t e n !<br />
Die Gewerkschaftsbewegung<br />
in Österreich.<br />
Reaktionär <strong>und</strong> unentwickelt, wie das<br />
politische Leben in Österreich überhaupt ist,<br />
oftmals ähnelnd den Verhältnissen in den Balkanstaaten,<br />
so ist auch die österreichische<br />
Arbeiterbewegung <strong>und</strong> insbesondere ihre ökonomische<br />
Kampfesgestaltung. Wohl klingt<br />
es gerade in letzter Zeit, da die Beziehungen,<br />
die zwischen der politischen Socialdemokratie<br />
<strong>und</strong> den ökonomischen Gruppierungen des<br />
Proletariats obwalten, international gespannt<br />
wurden, wie eine Art Hohnlied auf socialdemokratischen<br />
Kongressen, wenn sie auf<br />
die österreichische Arbeiterbewegung, auf die,<br />
man kann e s wohl sagen, e i n h e i t l i c h e<br />
Organisation der politischen <strong>und</strong> ökonomischen<br />
„Betätigung“ hinweisen. In der T a t :<br />
in Österreich s i n d Partei <strong>und</strong> Gewerkschaften<br />
e i n s , besonders soweit sie der<br />
deutschsprachlichen Nationalität angehören.<br />
Aber diese Tatsache ist k e i n Zeichen von<br />
Stärke, von socialer Macht für die Arbeiterbewegung,<br />
sondern ein Zeichen ihrer socialen<br />
Schwäche, ein Zeichen dessen, dass weder<br />
im Princip noch in der Taktik der Gr<strong>und</strong>kern<br />
des Socialismus in Österreich begriffen wird.<br />
Der Zustand, wie er noch heute in unserem<br />
Lande vorwaltet, bestand f r ü h e r in<br />
fast allen Ländern Europas. Er musste aufhören,<br />
durchbrochen werden, um die ökonomischen<br />
Kräfte des Proletariats frei zu<br />
machen von den Fesseln politischer Ehrgeizführung,<br />
um die Arbeiterbewegung zu<br />
solch gewaltigen Möglichkeiten der Machtdemonstration<br />
heranwachsen zu lassen, wie<br />
wir sie während der letzten zwei Jahre in<br />
Frankreich, Spanien, Italien, der romanischen<br />
Schweiz, zum Teil auch in Holland bew<strong>und</strong>ern<br />
konnten.<br />
Die österreichischen Gewerkschaften<br />
ähneln sowohl in Form, als auch in Taktik,<br />
den deutschländischen. Wie diese, <strong>und</strong><br />
schliesslich alle Gewerkschaftsbewegungen<br />
unseres Kontinents, wo die Socialdemokratie<br />
über grosse Wählermassen verfügt <strong>und</strong> die<br />
Gewerkschaftsbewegung eng an sich g e <br />
schmiedet hält, e r b a r m u n g s w ü r d i g o h n -<br />
m ä c h t i g ist an socialer Kampfesenergie, an<br />
wirklichem ökonomischen Können, ist auch<br />
die österreichische Arbeiterbewegung ökonomisch<br />
ungemein schwach, <strong>und</strong> es gibt keine<br />
einzige Aktion der letzten 15 Jahre bei uns,<br />
in der diese Arbeiterbewegung, in ö k o n o -<br />
m i s c h e n M e t h o d e n u n d Z i e l e n , sich<br />
über das platteste Niveau der Alltäglichkeit,<br />
der unbedeutendsten Augenblicksforderungen<br />
erhoben hätte. Allerdings mag man einwenden,<br />
dass, falls uns nicht das so herrliche<br />
Papierrecht des Wahlrechtes gewährt worden<br />
wäre, dass die Gewerkschaftsbewegung sich<br />
zu einem Generalstreik aufgerafft hätte. Wiede<br />
das zermalmendste Gefühl von Schwäche<br />
das Kennzeichen ihrer demütigenden Unterwürfigkeit<br />
<strong>und</strong> Abhängigkeit gegenüber der<br />
parlamentarischen Drahtziehern des Reichsratsgeschwätzes!<br />
Denn das ist ja gerade das<br />
Traurige, dass die Arbeiter sich nicht zu<br />
e i g e n e n ökonomischen Zwecken mittels eines<br />
Generalstreiks wappnen <strong>und</strong> sieghaft vorwärts<br />
“drängen, sondern sich von politischen Strebern<br />
die Art ihres Kampfes, also die Forderung<br />
von zwecklosen Papierrechten vorschreiben<br />
lassen <strong>und</strong> für diese willens sind, zu kämpfen<br />
So kommt es, dass der österreichische<br />
Gewerkschaftsboden, das Ackerfeld für rein<br />
parlamentarische Zweckmittel abgibt; nicht<br />
eine rein ökonomische Klassenkampfbewegung<br />
für <strong>und</strong> um socialer Zwecke willen haben wir<br />
vielmehr eine Gewerkschaftsbewegung, die<br />
die finanzielle <strong>und</strong> sociale Melkkuh der politischen<br />
Partei bildet, deren Führer den Socialismus<br />
längst ins Antiquariat für schöne<br />
ehrwürdige Dinge wandern liessen, parlamentarisches<br />
Geschätz <strong>und</strong> Stimmzettel-Abzählerei,<br />
als das wahre Wesen des Klassenkampfes<br />
hinstellen. Alle ökonomischen Hilfsquellen<br />
der ökonomischen Bewegung wurden<br />
<strong>und</strong> werden für eine in a l l e n L ä n d e r n<br />
Bankerott erleidende parlamentarische Wahltaktik<br />
verwendet, <strong>und</strong> so kommt es, dass ein<br />
jeder Gewerkschaftler in Österreich auch ein<br />
Mitglied der Socialdemokratie ist. Die Folge<br />
ist, dass man den Arbeitern einredet, ihre<br />
Gewerkschaften seien nur dazu da, alltägliche<br />
Lohnstreitigkeiten <strong>und</strong> Augenblickforderungen<br />
zwischen den respektiven Arbeitern eines Gewerkes<br />
<strong>und</strong> dem Unternehmer desselben zu<br />
lösen. Dies ist natürlich nicht wahr; daran aber<br />
krankt die gesamte Gewerkschaftsbewegung<br />
Österreichs, dass sie in allen grossen socialen<br />
Fragen vertrauensvoll nach den socialdemokratischen<br />
Parlamentariern blickt <strong>und</strong> vom Reichsrat<br />
die Lösung socialer Probleme erheischt.<br />
Dass es so sei, dies fackelt die Socialdemokratie<br />
den Arbeitern vor!<br />
Niemals war es so, dass ein Parlament<br />
sociale Fragen löste. Kleine wie grosse Probleme,<br />
sie wurden stets ausserhalb des Parlaments<br />
durch die Volkskraft, Volksmacht<br />
gelöst. Und die Gewerkschaften haben n i c h t<br />
n u r die Aufgabe, den kleinen Alltagskampf<br />
um geringfügige Lohnerhöhungen oder gegen<br />
Verschlechterung ihrer Lage zu führen. N e i n ,<br />
i h r e h o h e A u f g a b e b e s t e h t d a r i n ,<br />
d i e T r ä g e r d e r G r u n d i d e e n d e s s o <br />
c i a l i s t i s c h e n K l a s s e n k a m p f e s z u<br />
s e i n u n d d e n K a m p f a u c h i n a l l e n<br />
j e n e n s o c i a l e n F r a g e n z u f ü h r e n ,<br />
d e r e n L ö s u n g e n m a n b i s h e r f ä l s c h <br />
l i c h v o n d e r S o c i a l d e m o k r a t i e<br />
e r w a r t e t e , ö k o n o m i s c h , a u f d e m<br />
u r e i g e n e n F e l d e d e s P r o l e t a r i a t s ,<br />
m u s s d i e s e r K a m p f g e f ü h r t w e r d e n ,<br />
d e s s e n W e s e n s k e r n d e r i s t : d e r<br />
K a m p f d e r E i n z e l g e w e r k s c h a f t g e <br />
g e n d e n E i n z e l u n t e r n e h m e r b i l d e t<br />
n i c h t m e h r d e n C h a r a k t e r d e s ö k o <br />
n o m i s c h e n K a m p f e s d e r G e w e r k <br />
s c h a f t s b e w e g u n g ; d i e s e r K a m p f<br />
m u s s e r g ä n z t u n d e r w e i t e r t w e r d e n<br />
z u m K l a s s e n k a m p f d e s ö k o n o m i s c h -<br />
o r g a n i s i e r t e n P r o l e t a r i a t s d e r g e <br />
s a m t e n G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g<br />
w i d e r d a s g e s a m t e U n t e r n e h m e r t u m<br />
— d e n K a p i t a l i s m u s u n d d e n d i e s e n<br />
s c h ü t z e n d e n S t a a t !<br />
Dagegen sträubts ich die Socialdemokratie.<br />
Denn ein so kämpfendes Proletariat würde<br />
s i e überflüssig machen, was für ihre Führer<br />
den Verlust tausender von politischen Ämtern<br />
bedeutete, die alle eine sehr einträgliche Sache<br />
bilden, ihre Inhaber der Notwendigkeit entziehen,<br />
nach wie vor den Kampf ums Dasein<br />
in der Fabrik, im Bergwerk, in der Schreibstube,<br />
kurz an den Orten kapitalistischer Ausbeutung<br />
physischer <strong>und</strong> geistiger Arbeitskraft,<br />
führen zu müssen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e verwertet<br />
die Socialdemokratie lieber die Kraft<br />
der ökonomischen Organisation für ihre eigenen<br />
Parteizwecke, ein jeder revolutionärer<br />
Kampf der Gewerkschaften wird unterb<strong>und</strong>en,<br />
es wird den Arbeitern vorgeschwätzt, socialdemokratische<br />
Stimmen abzugeben, das sei<br />
ein Klassenkampf <strong>und</strong> würde zu ihrem <strong>Ziel</strong>e,<br />
zur Befreiung des Proletariats von Lohnsklaverei<br />
<strong>und</strong> Unterdrückung in ökonomischen<br />
wie socialen Dingen, führen.<br />
Eine arge Täuschung!<br />
Nicht Wahlrecht, Stimmzettel, Abgeordneten<br />
geschwätz sind Klassenkampf. Seit 40<br />
Jahren haben' die deutschen Socialdemokraten<br />
nicht nur keinen Acht- nein, n i c h t e i n m a l<br />
e i n e n Z e h n s t u n d e n t a g e r r u n g e n . Hingegen<br />
haben ihn die französischen <strong>und</strong> spanischen<br />
Proletarier mittels des Generalstreikes<br />
<strong>und</strong> der direkten Aktion sich bereits vielfach<br />
erkämpft. —<br />
Noch der Parlamentarismus darf für die<br />
österreichischen Arbeiter ihr hauptsächlicher<br />
Stückpunkt sein. Das Gegenteil: Befreiung<br />
ihrer Organisationen von ihm <strong>und</strong> seinem<br />
Torwahn, revolutionärer Ausbau <strong>und</strong> Entwicklung<br />
der Gewerkschaftsbewegung auf<br />
ökonomischer Gr<strong>und</strong>lage: statt des Parlamentarismus,<br />
der Alles verspricht <strong>und</strong> Nichts<br />
hält, den G e n e r a l s t r e i k , welcher Alles<br />
von der direkten, selbständigen Aktion der<br />
ökonomischen Macht der organisierten Arbeiter<br />
abhängig macht, die zielbewusste Persönlichkeit<br />
eines jeden Einzelnen in den Klassenkampf<br />
führt — kurz, n i c h t Parteireste, <strong>und</strong><br />
Kliquentum <strong>und</strong> parlamentarisches Tändeln,<br />
sondern ernster Kampf um die Macht mittels<br />
der ökonomischen Solidarität — <strong>und</strong> nichts<br />
anderes i s t der Generalstreik! — bedeutet,<br />
dies muss Methode <strong>und</strong> Taktik der österreichischen<br />
Gewerkschafsbewegung werden!<br />
Wohl wissen wir, dass die Führer b e i <br />
d e r Bewegungen, jene der Socialdemokratie,<br />
wie der Gewerkschaften, die so ziemlich dieselben<br />
Persönlichkeiten sind, sich mit Händen<br />
<strong>und</strong> Füssen dagegen sträuben, ja, schon<br />
jedem Versuche in der Richtung einer solchen<br />
revolutionären Entwicklung hinderlich im<br />
<strong>Weg</strong>e stehen werden. Intoleranz <strong>und</strong> Fanatismus,<br />
gefährdete materielle Interessen werden<br />
sich mit Hass, gemeiner Verleumdung<br />
<strong>und</strong> niederträchtiger Borniertheit wider uns<br />
kehren. Wie immer dem aber auch sein möge,<br />
wir werden unbeirrbar unseren <strong>Weg</strong> fortsetzen,<br />
dessen mühseliger, opferreicher Aufstieg<br />
uns ein leuchtendes <strong>Ziel</strong> verheisst:<br />
Entweder gelingt es uns, die österreichische<br />
Gewerkschaftsbewegung zu vers<br />
e l b s t ä n d l i c h e n , sie auf ihre eigene<br />
wirtschaftliche Gr<strong>und</strong>lage zu stellen, von Parlamentarismus<br />
zu bekehren <strong>und</strong> für die ökonomische<br />
Aktion des Generalstreiks zu gewinnen<br />
— o d e r unsere Genossen werden<br />
sich derselben Aufgabe zu widmen haben,<br />
die in fast allen Ländern zum Segen der Arbeiterbewegung<br />
schon getan wurde: d i e Beg<br />
r ü n d u n g e i n e r e i g e n e n , r e v o l u t i o <br />
n ä r e n G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g , d i e<br />
k e i n e S o c i a l d e m o k r a t i e m ä s t e t , d e <br />
r e n K a m p f e s r u f d e r l a u t e t : A u s e i <br />
g e n e r K r a f t — d i e B e f r e i u n g d e s<br />
P r o l e t a r i a t s m u s s d a s W e r k d e s A r -<br />
b e i t e r s e l b s t s e i n !<br />
V e r a n t w o r t l i c h e r R e d a k t e u r Jos. Sindelar ( W i e n ) . — H e r a u s g e b e r Jul. E h i n g e r (Wien). — Erste Genossenschafts-Buchruckerei in Budweis.
Wien, 9. J ä n n e r 1908. Einzelexemplar 10 h. J a h r g . I. — N r . 2.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition XII. Fockygasse 27. II./17.<br />
Wien. Gelder sind zu senden an W.<br />
Kubetsch, IV. Schönburgstrasse, 5. III.<br />
Wien.<br />
Beschlagnahmeverfügung.<br />
Die k. k. Staatsanwaltschaft verfügt gemäss<br />
§ 487 St.-P.-O. die Beschlagnahme der periodischen<br />
Druckschrift des Druckwerkes „Wohlstand für Alle"<br />
Nr. 1 vom 22. Dezember 1907 wegen der Artikel:<br />
I. »<strong>Unser</strong> <strong>Weg</strong> <strong>und</strong> <strong>Ziel</strong>" in den Stellen<br />
1 . von „ G e i s t i g s o w o h l " bis „ d i e<br />
A n a r c h i e " (S. 1, Sp. 2);<br />
2 . von „ S i e s i n d " bis „ d i e A n a r c h i s t e n "<br />
(S. 1, Sp. n .<br />
II. „Nachwort der Redaktion" in den Stellen von<br />
„ W ä h r e n d w i r " bis „ M e n s c h e n z u e r -<br />
r i c h t e n" (S. 3 <strong>und</strong> 4).<br />
Diese Mitteilung macht die Verfolgung wegen<br />
anderer nicht bekannt gegebener Gründe nicht unzulässig.<br />
(§ 5, Ges. v. 9. Juli 1894, Nr. 161 R.-G.-Bl.)<br />
22. Dezember 1907.<br />
*<br />
*<br />
Unterschrift unleserlich.<br />
*<br />
Zu dieser, durch keinerlei im natürlichen<br />
Rechtsbewusstsein eines Kulturmenschen begründet<br />
liegenden Beschlagnahmeverfügung,<br />
die sich ausdrücklich n i c h t gegen irgend<br />
welche Taten oder „Aufreizung zu denselben",<br />
sondern einzig <strong>und</strong> allein wider d i e k l a r e<br />
u n d t h e o r e t i s c h e P r ä z i s i e r u n g u n -<br />
s e r e r I d e a l a n s c h a u u n g kehrt, wollen<br />
wir nur konstatieren, dass sie ganz im Einklang<br />
ist mit jener herrlichen Ära der „Freiheiten",<br />
wie sie uns von gewisser Seite versprochen<br />
ward.<br />
Proletarier! Lernt daraus, wie man Euer<br />
Blatt, das die Wahrheit auszusprechen n i c h t<br />
scheut, behandelt, eigentlich misshandelt!<br />
Beschlagnahmt wurden — die allgütige<br />
Vorsehung des bewussten Finger Gottes sorgte<br />
dafür! — 2 Exemplare.<br />
Gegen die Beschlagnahmeverfügung wird<br />
Rekurs eingelegt werden.<br />
Mit desto grösserem Eifer an die Arbeit<br />
der Propaganda, Kameraden! Die Reaktion<br />
lässt den wahren Freiheitsaposteln egenüber<br />
die Maske sinken — sie wird uns unbeugsam<br />
<strong>und</strong> darum unüberwindlich finden!<br />
Redaktion <strong>und</strong> Verlag des „ W. f. A."<br />
Die Stimme der Arbeit.<br />
(Aus dem Englischen übersetzt von Lilly Nadler-<br />
Nuellens).<br />
Ich hörte sagen: „Lasst hoffen <strong>und</strong> klagen,<br />
Es bleibt doch ewig, wie's ewig war,<br />
Das Heut' <strong>und</strong> Morgen bringt Angst <strong>und</strong> Sorgen<br />
Und Müh' <strong>und</strong> Arbelt immerdar.<br />
Als die Erde noch jünger, zwischen Arbeit <strong>und</strong><br />
Hunger,<br />
Mit Hoffnung wir strebten <strong>und</strong> starker Hand;<br />
Grosse Männer uns lenkten, <strong>und</strong> Worte uns<br />
schenkten<br />
Zu rechten der Erde Unrecht <strong>und</strong> Schand'.<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeits»<br />
mitttl, d. h. der. Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen i s t . . ."<br />
Oeht, les't die Märe ihrer T a t e n <strong>und</strong> Ehre,<br />
Ihren Rnhm, w o a n d ' r e u n g e n a n n t ;<br />
Lasst dann ab zu belügen, die s t e r b e n d wir<br />
l i e g e n ;<br />
Wo uns j e n e geführt im g e l o b t e n Land.<br />
Wo mit eiserner Kraft, w a s wir selbst uns<br />
geschafft,<br />
<strong>Unser</strong> Herrscher h a r t , uns e w i g treibt,<br />
Schätze zu heben <strong>und</strong> F r e u d e zu g e b e n ,<br />
Die für a n d ' r e r Hoffen <strong>und</strong> Leben bleibt.<br />
Wo d a s Helm ohne Anmut, w i r in Kummer <strong>und</strong><br />
Armut<br />
V e r g e s s e n , d a s s die W e l t so schön —<br />
Wo kein Kind gedeiht, weil die Seele e n t w e i h t ,<br />
Wo Frohsinn <strong>und</strong> Liebe in S ü n d e v e r g e h ' n .<br />
W e r wird uns j e t z t führen, welchen Gott wird<br />
es rühren,<br />
W i e w i r selbst uns geschaffen die Hölle d e r N o t ?<br />
Für uns keine Führer, nur Narr'n <strong>und</strong> Verführer —<br />
Gefallen die Orossen, die W e l s e n sind tot".<br />
Ich h ö r t e s a g e n : „Lasst b e t e n <strong>und</strong> k l a g e n ,<br />
Das Messer hat kein E r b a r m e n für's Schaf;<br />
Sie m ü s s e n uns weichen, die B e d r ü c k e r <strong>und</strong><br />
Reichen,<br />
W e n n d e r T a g bricht a n ü b e r T r ä u m e <strong>und</strong> Schlaf.<br />
Schulter an Schulter steht, eh' noch mehr Zeit<br />
v e r g e h t ,<br />
In uns nur Hegt Hilfe, in dir <strong>und</strong> m i r ;<br />
Vor uns ist Rettung, der J a h r e V e r k e t t u n g<br />
G e b a r uns mehr F ü h r e r als g u t für uns hier.<br />
T o t e Herzen lasst s ä u m e n <strong>und</strong> lieben <strong>und</strong> träumen,<br />
Und zitternd h e g e n ihren T r a u m von Glück —<br />
W ä h r e n d wir, die wir leben, unser Leben hing<br />
e b e n<br />
Zu b r i n g e n d e r W e l t den Frohsinn zurück.<br />
Schulter an Schulter steht, eh` die Zeit w e i t e r<br />
g e h t !<br />
Auf Meer <strong>und</strong> Land u n s ' r e S a c h e s i e g t ;<br />
Die E r d e kracht, <strong>und</strong> die Furcht e r w a c h t ,<br />
Und vor dir <strong>und</strong> mir die F r e u d e liegt!"<br />
William Morris.<br />
Nachträgliche Weihnachts<strong>und</strong><br />
Neujahrsgedanken.<br />
Glockengeläute <strong>und</strong> andächtige Lieder<br />
verkündeten überall Weihnachten, das grosse<br />
Fest der Christen.<br />
Der Tradition nach wurde vor neunzehnh<strong>und</strong>ert<br />
Jahren an diesem Tage in Bethlehem<br />
Jesus geboren, der Sohn Gottes, der Erlösung<br />
<strong>und</strong> Friede auf die Erde brachte. —<br />
Die Reichen <strong>und</strong> Wohlhabenden feiern<br />
die Jahreswende bei fröhlichem Schmaus im<br />
gemütlichen Familienkreis. — Die Armen <strong>und</strong><br />
die Arbeiter aber, die all den Glanz <strong>und</strong><br />
Wohlstand, den jene geniessen, schufen,<br />
freuen sich, wenn sie vom Überfluss ein<br />
kleines Almosen erhalten. — Neun Zehntel<br />
der Menschheit arbeiten angestrengt von T a g<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2.40;<br />
halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />
50 Cent.<br />
zu Tag, das ganze Jahr hindurch, <strong>und</strong> darben<br />
dafür. Ein Zehntel arbeitet nicht <strong>und</strong> lebt in<br />
Überfluss. Am Weihnachtsabend sind tausende<br />
von Menschen, die ohne Heim draussen in<br />
der Kälte frieren <strong>und</strong> hungern, unterdessen<br />
sich andere mehr als satt essen <strong>und</strong> fröhlich<br />
sind. Gewalt <strong>und</strong> Ausnützung sind Herr auf<br />
Erden.<br />
Ist das die Erlösung <strong>und</strong> der Friede, den<br />
Jesus, der Sohn Gottes, b r a c h t e ? !<br />
Nein, d i e s e s Weihnachten ist nicht<br />
unser Fest! <strong>Unser</strong> ges<strong>und</strong>er Verstand, unser<br />
ehrliches Fühlen empören sich gegen diese<br />
Lüge. Freude, Glück <strong>und</strong> Friede sind nicht<br />
auf Erden <strong>und</strong> können nicht sein, bis nicht<br />
j e d e r M e n s c h gleichmässig seinen Anteil<br />
aus dem Reichtum der Natur <strong>und</strong> dem Segen<br />
des Lebens erhält — bis nicht a l l e Menschen<br />
in geschwisterlicher Liebe <strong>und</strong> gemeinsamer<br />
freudevoller Arbeit zusammen leben.<br />
Um dies zu erreichen, müssen wir all<br />
die alten unklaren Traditionen bei Seite tun;<br />
allein nur auf Gr<strong>und</strong> unseres eigeneu Wissens<br />
<strong>und</strong> Denkens müssen wir die Wahrheit suchen;<br />
dann finden wir einen tieferen, edleren<br />
Sinn des Weihnachtsfestes. —<br />
Wie ein endloser, ewig funktionierender<br />
Mechanismus, dessen jeder kleinste Teil g e -<br />
genseitig in ewigem Gleichgewicht <strong>und</strong> ewiger<br />
Bewegung ist, so kreisen die Sterne im Weltenraum;<br />
zwischen ihnen wie ein kleiner<br />
Funke die Sonne; um sie herum wie winzige<br />
Staubkörnchen die Planeten, unter diesen die<br />
Erde, jene Erde, auf der wir leben. Der<br />
Sonne Anziehungskraft bestimmt ihre Laufbahn,<br />
der Sonne Licht <strong>und</strong> Wärme gibt ihr<br />
Leben.<br />
Der Sonne Kraft wärmt die Luft <strong>und</strong> das<br />
Wasser. Das Wasser verdunstet <strong>und</strong> fällt als<br />
Regen wieder herab, macht die Gesteine zerbröckeln<br />
<strong>und</strong> löst sie auf, <strong>und</strong> so entsteht<br />
der fruchtbare Boden. Den in die Erde g e -<br />
fallenen Samen machen die Wärme der Sonne<br />
<strong>und</strong> der Regen keimen, entwickeln die Pflanze,<br />
die Blüte, die Frucht — von Pflanzen nähren<br />
sich die Tiere — <strong>und</strong> auch nur die Sonne<br />
ermöglicht das Leben der Menschen.<br />
Doch die Sonne strahlt ihr Licht <strong>und</strong><br />
ihre Wärme nicht immer gleichmässig auf<br />
die Erde. E i n J a h r braucht die Erde um<br />
ihre Laufbahn um die Sonne zu vollenden;<br />
auf diesem <strong>Weg</strong>e ist einmal die eine <strong>und</strong><br />
einmal die andere Seite den Strahlen der<br />
Sonne mehr ausgesetzt. Auf den Teil, der<br />
sich von der Sonne abwendet, fallen die<br />
Strahlen schiefer auf die Erde, die T a g e sind<br />
kürzer, die Luft kühlt ab, die Blätter der<br />
Pflanzen welken <strong>und</strong> fallen, die Tiere verkriechen<br />
sich in ihre Höhlen, der Landmann<br />
hat seine Ernte eingespeichert, den Samen<br />
gesäet, <strong>und</strong> beendigt seine Arbeit. — Die
Natur ruht, <strong>und</strong> sammelt neue Kräfte für das<br />
kommende Jahr. Dann werden die Tage wieder<br />
allmählich länger — wärmer — die gefrorene<br />
Erde taut auf, der Saft in den Pflanzen kommt<br />
in Bewegung, der angebaute Samen keimt,<br />
Mensch <strong>und</strong> Tier lebt auf <strong>und</strong> fühlt neue<br />
Kraft in sich — das Leben fängt von neuem an.<br />
Der Sterne Lauf, die Rotation der Erde,<br />
der Sonne Wärme bestimmen <strong>und</strong> leiten von<br />
Jahr zu Jahr der Menschheit tägliches Leben.<br />
Die selben ewigen Gesetze regieren den<br />
Grössten wie den Kleinsten: d e s M e n s c h e n<br />
L e b e n i s t e i n s m i t d e m L e b e n d e s<br />
W e l t a l l s . —<br />
Dies ist die Bedeutung des Weihnachtsfestes.<br />
Der 2 1 . Dezember ist der kürzeste T a g<br />
des Jahres — in den darauf folgenden Tagen<br />
feierten die alten Völker das Fest der Wiedergeburt<br />
der Natur <strong>und</strong> den Anfang des neuen<br />
Jahres. Ihr Leben war in noch engerem Zusammenhange<br />
mit dem Wechsel der Jahreszeiten<br />
<strong>und</strong> der Witterung; für sie begann mit<br />
den längeren Tagen <strong>und</strong> der keimenden Saat<br />
tatsächlich ein neues Leben, <strong>und</strong> aus Freude<br />
darüber schmückten sie ihre Häuser mit<br />
immergrünen Zweigen <strong>und</strong> begrüssten durch<br />
gemeinsame Fröhlichkeit das Neue Jahr.<br />
Dieser uralte Brauch vererbte sich von<br />
Geschlecht auf Geschlecht, <strong>und</strong> ist noch heute<br />
im Grossen derselbe geblieben, doch die<br />
Menschen sind anders geworden. In uralten<br />
Zeiten lebten sie ohne Denken <strong>und</strong> Sorgen<br />
gemeinsam mit einander <strong>und</strong> der Natur; sie<br />
fanden es ganz natürlich, dass Verwandte<br />
<strong>und</strong> Nachbarn Fre<strong>und</strong>e, alle anderen Menschen<br />
jedoch ihnen Feinde sind; doch im Laufe<br />
der Entwicklung lösten grössere Erfahrung<br />
<strong>und</strong> regeres Denken diese u n b e w u s s t e<br />
Einheit ab. An ihrer Stelle begann — nach<br />
langem Kämpfen <strong>und</strong> Leiden — das bewusste<br />
Gefühl der menschlichen Zusammengehörigkeit<br />
Wurzel zu fassen, das alle Menschen<br />
für gleich <strong>und</strong> für Geschwister hält, das<br />
höchste Gesetz des Zusammenlebens in der<br />
Liebe <strong>und</strong> dem Zusammenhalten erkennt <strong>und</strong><br />
einsieht, dass d e s M e n s c h e n L e b e n<br />
e i n s i s t m i t d e r M e n s c h h e i t .<br />
Wie die länger werdenden Tage das<br />
erwachende Leben <strong>und</strong> die Verjüngung der<br />
Natur ankündigen, ebenso bedeutet diese<br />
Wahrheit die Wiedergeburt der Gesellschaft.<br />
Für die ersten Christen war Jesus — an<br />
dessen Namen sich die grosse Idee der<br />
Brüderlichkeit knüpfte — die S o n n e , deren<br />
wachsende Kraft die Welt zu neuem Leben<br />
weckt; seinen Geburtstag verlegten sie auf<br />
den 24. December, den durch alte Traditionen<br />
geheiligten Tag, an dem die Sonne ihr<br />
Licht <strong>und</strong> ihre Wärme mit wachsender Kraft<br />
auf die Erde zu ergiessen beginnt.<br />
D i e s e r T a g m i t s e i n e r i h m<br />
f o l g e n d e n N e u j a h r s w e n d e s i n d<br />
a u c h f ü r u n s d a s S i n n b i l d d e r Z u -<br />
k u n f t l<br />
So rauh auch der Winter — der Sonne<br />
Strahlen besiegen ihn doch <strong>und</strong> bringen den<br />
Frühling; der angebaute Samen liegt Monate<br />
lang in der gefrorenen Erde, <strong>und</strong> keimt doch<br />
endlich auf <strong>und</strong> wird zu wehender grüner<br />
Saat, zur samenschwangeren Ähre <strong>und</strong> zum<br />
lebengebenden Brod. Es kommt die Zeit, in<br />
der das Herz <strong>und</strong> der Verstand der Menschen,<br />
wie im Frühling die Muttererde, auftauen <strong>und</strong><br />
erblühen; in der die Menschen in brüderlicher<br />
Liebe zusammen leben, <strong>und</strong> aller Hass, Unterdrückung<br />
<strong>und</strong> Ausnützung aufhören werden.<br />
Der Samen der Wahrheit ist in die Herzen<br />
gesäet. Der winterliche Sturm mag wüten,<br />
sie können diejenigen, welche die Wahrheit<br />
verkünden, in's Gefängnis werfen <strong>und</strong> verstummen<br />
machen, der Samen wird doch<br />
aufgehen! Die Sonnenstrahlen wecken ihn<br />
zum Leben sogar in Jenen, die jetzt noch<br />
keine Ahnung davon haben. Und wie gar<br />
nichts das Erwachen der Natur aufhalten<br />
kann, so wird auch die Kämpfer der Zukunft<br />
niemand aufhalten, die die Gesellschaft der<br />
freien <strong>und</strong> glücklichen Menschen aufbauen.<br />
Dann können wir mit Recht unsere<br />
Häuser mit immergrünen Zweigen schmücken,<br />
denn sie werden nicht mehr durch abgemarterte<br />
Arbeit unserer Mitmenschen aufgebaut<br />
sein, <strong>und</strong> Freude wird in ihnen wohnen.<br />
Dann können wir alle, im Übermut der<br />
Sylvesternacht, uns leichten Herzens <strong>und</strong><br />
guter Laune zu fröhlichem Fre<strong>und</strong>esschmaus<br />
setzen, im Bewusstsein, dass es niemanden<br />
mehr gibt, der hungert, während wir uns<br />
satt essen können!<br />
D e n k e n w i r d a r a n , u n d k ä m -<br />
p f e n w i r d a f ü r , d a m i t d i e s bald<br />
s o s e i !<br />
Die „Arbeiterzeitung"<br />
im Dienste des Kapitalismus.<br />
„Non olet", Geld stinkt nicht! Es ist ein<br />
geflügeltes Wort, aber in unserer Zeit der infamsten<br />
Heuchelei <strong>und</strong> verlogensten Demagogie<br />
ist dieses Wort wahrer, als es sonst<br />
je sein könnte. Angeblich ist die Wiener<br />
„Arbeiterzeitung" das offizielle Organ der<br />
österreichischen Socialdemokratie, ein Organ<br />
der Arbeiterschaft Österreichs, das für den<br />
Sieg <strong>und</strong> die Zukunft des Socialismus kämpft,<br />
usw. usw. Angeblich! Denn in Wahrheit hat<br />
dieses Blatt mit den idealen Gr<strong>und</strong>sätzen des<br />
Socialismus ebenso wenig zu tun, wie mit<br />
dem Socialismus überhaupt, dessen Gr<strong>und</strong>sätze<br />
ja auch nicht in den Spalten der „Arbeiterzeitung"<br />
zu finden sind, die in aller<br />
Monotonie ihres Inhalts es sich niemals gestattet,<br />
die socialistischen Lehren prinzipiell<br />
zu entwickeln, des Socialismus fast nie Erwähnung<br />
tut. Statt dessen ist die „Arbeiterzeitung"<br />
mit einem Material gefüllt, das ganz<br />
gut in ein bourgeoises, etwas radikal angehauchtes<br />
Blatt passte, das von Blättern<br />
dieser Genre sehr oft weit informativer g e -<br />
bracht wird, wie ja überhaupt der Neuigkeitsdienst<br />
der „Arbeiterzeitung" unter aller Kritik<br />
ist, ihre geistigen <strong>und</strong> sonstig literarischen<br />
Leistungen aller ernsteren Würdigung Hohn<br />
sprechen. Und mit diesen Tendenzen, mit<br />
den Gewohnheiten im Jargon bourgeoiser<br />
Pressmacherei ein Blatt herauszugeben, hat<br />
die „Arbeiterzeitung" auch die „ P r i n z i p i e n "<br />
die sehr fadenscheinige „Ehre" dieser Art<br />
Presse, übernommen. Ein angeblich socialdemokratisches<br />
Blatt gibt sich dazu her, in<br />
seiner Ausgabe vom 10. Dezember 1907 folgenden<br />
Erguss zu bringen, den wir im Auszug<br />
— Wozu zu viel des grausamen Spieles ? —<br />
folgen lassen:<br />
„75 J a h r e B a n k h a u s . Jubiläum d e s Bankh<br />
a u s e s Sch. <strong>und</strong> Sch. 1832 bis 1907. Gestein<br />
beging das unseren Lesern wohlbekannte Bankhaus<br />
. . eine ebenso schöne <strong>und</strong> stolze als<br />
auch seltene Feier: die Feier seines dreiviertelh<strong>und</strong>ertlangen<br />
Bestehens, die zwanzigjährige Firmazugehörigkeitsfeier<br />
eines seiner beiden Chefs, des<br />
Herrn . . . , <strong>und</strong> schliesslich die Feier des dreissigjährigen<br />
Bestandes des bedeutendsten Finanzblattes<br />
der Monarchie, . . . , welchem der nimmermüde<br />
<strong>und</strong> für die Grösse seines Hauses immer<br />
tätige Chef, Herr . . . , als Chefredakteur vorsteht.<br />
Fünf<strong>und</strong>siebzig Jahre sind gewiss eine stattliche<br />
Zahl, sie sind ein Menschenalter, aber achtunggebietend<br />
beim Bestand, eines auf reeller<br />
G r u n d l a g e e m p o r g e b l ü h t e n Unternehmens,<br />
w e l c h e s heute nicht nur zu den v o r n e h m s t e n<br />
B a n k h ä u s e r n W i e n s zählt, sondern — wie wir<br />
wohl unbestritten behaupten dürfen — sich eines<br />
Weltrufes erfreut. S t r e n g s t e Reellität <strong>und</strong> Ehrenhaftigkeit<br />
seiner Firmenchefs, gepaart mit deren<br />
nie ermüdender Tätigkeit <strong>und</strong> einer sorgfältigen<br />
Zusammenstellung ihres Beamtenkörpers sowie<br />
der sonstigen Arbeitskräfte, waren von Anbeginn<br />
das F<strong>und</strong>ament, auf dem das Haus, das zur Zeit<br />
nicht nur in kaufmännischen Kreisen eine dominierende<br />
Stellung einnimmt, sondern auch das<br />
Vertrauen des Publikums in hohem Grade besitzt,<br />
sich zu seiner jetzigen stolzen Höhe aufbauen<br />
musste <strong>und</strong> aufgebaut hat. Das Bankhaus, welches<br />
im Jahre 1832 . . . gegründet wurde, ging im<br />
Laufe der Zeit an dessen ältesten Hauptkassier,<br />
. . . , über, später an Herrn . . . <strong>und</strong> die<br />
jetzigen Firmenchefs, die Herten . . . , welch<br />
letztere durch Jahrzehnte die oberste Führung des<br />
Hauses als Einzelprokuristen innehatten <strong>und</strong> d e r e n<br />
unermüdlichem W i r k e n hauptsächlich d e r in<br />
den letzten z w a n z i g J a h r e n vor sich g e g a n g e n e<br />
A u f s c h w u n g zu v e r d a n k e n ist".<br />
Um solch lyrischen Erguss den Wiener<br />
Proletariern darzubieten — dazu bedarf es<br />
einer „Arbeiterzeitung"! Eine solche Verhöhnung<br />
jedes wirklich socialistischen Empfindens<br />
kann wahrlich nicht leicht übertrumpft<br />
werden von den politischen Ehrgeizlingen<br />
<strong>und</strong> Bannerträgern der internationalen<br />
Socialdemokratie. Bekanntlich gibt es keine<br />
Institution der kapitalistischen Wirtschaftsweise,<br />
die sich klarer, merkbarer <strong>und</strong> unverhüllter<br />
auf die Ausbeutung des Proletariats,<br />
der Produzenten durch die Saugrüssel des<br />
Gesamtsystems f<strong>und</strong>iert, als es ein Bankinstitut<br />
ist. Jedes Prozent Zinsen, jeder Zinsfuss <strong>und</strong><br />
jede Dividende, die ein Bankhaus seinen<br />
Aktionären <strong>und</strong> Deponenten auszahlt, ist die<br />
Frucht unbezahlter, menschlicher Arbeitskraft,<br />
der Raubbau, der auf dem Felde menschlicher<br />
Arbeitskraft betrieben wird. Ein Bankinstitut<br />
ist zudem auch noch das finanzielle Nervenzentrum<br />
der staatlichen Herrschaft <strong>und</strong> in<br />
seinen letzten Ausläufen vollständig identisch<br />
mit dem Staate <strong>und</strong> dem Kapitalismus, welch<br />
letzteren zu bekämpfen, ein socialdemokratisches<br />
Blatt doch wenigstens vorgibt!<br />
Solch einem Institut öffnet eine „Arbeiterzeitung"<br />
ihre Spalten! An ihm rühmt sie die<br />
„ r e e l l e G r u n d l a g e " , die „ s t r e n g s t e<br />
R e e l l i t ä t u n d E h r e n h a f t i g k e i t d e r<br />
F i r m e n c h e f s " usw. Es ist ein Verrat<br />
schnödester Art an den Interessen des<br />
schmählich getäuschten österreichischen Proletariats,<br />
der hier betrieben wird.<br />
Die „Arbeiterzeitung" hat sich wieder<br />
einmal selbst demaskiert. „Non ölet!" Ist es<br />
glaublich, dass sie das obige Reklameartikelchen<br />
o h n e B e z a h l u n g veröffentlichte?<br />
Wir glauben es nicht. Und damit hat die<br />
„Arbeiterzeitung" wieder einmal bestätigt, dass<br />
sie k e i n sozialistisches Organ, sondern eine<br />
verkappte Handlangerin des Kapitalismus ist.<br />
Parlamentarische Tätigkeit<br />
<strong>und</strong> politischer „Klassenkampf".<br />
Die österreichische Socialdemokratie ist<br />
bislang nicht im Stande gewesen, auf dem<br />
<strong>Weg</strong>e der parlamentarischen Aktion auch nur<br />
die geringste Verbesserung der elenden Lebenslage<br />
unseres Proletariates <strong>und</strong> Bauernstandes<br />
durchzuführen. Dafür aber ist ihr ein<br />
Triumph geglückt, der in den Annalen einer<br />
socialistischen Chronik eine unvergängliche<br />
Würdigung verdient.<br />
Wir sind Socialisten, weil wir Gegner<br />
des Privateigentums sind. Das Privateigentum<br />
erhält sich im gesellschaftlichen Leben nur<br />
durch die bewaffnete Militär- <strong>und</strong> Justizgewalt<br />
des Staates. Da der Proletarier kein Privateigentum<br />
besitzt, bedürfen nur die herrschenden<br />
<strong>und</strong> besitzenden Klassen des Schutzes ihres<br />
Privateigentums. Der Socialismus strebt einen<br />
Zustand gesellschaftlichen Gemeineigentums
Internationale des revolutionären Socialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Österreich.<br />
„An die Herren Julius Ehinger <strong>und</strong> Josef Sindelar<br />
in Wien . . .<br />
Die von Ihnen laut anher erstatteten Anzeige<br />
. . einberufene Volksversammlung, mit dem<br />
Zwecke einer internationalen Sympathie- <strong>und</strong> Protestk<strong>und</strong>gebung<br />
für E d u a r d J o r i s , wird gemäss<br />
§ 6 des Gesetzes vom 15. November 1867, R.-G.-Bl.<br />
Nr. 135 b e h ö r d l i c h u n t e r s a g t . . . "<br />
Gerade im Lichte der nun erfolgten Freilassung<br />
des Genossen Joris durch den sultanischen Halbmond<br />
erscheint dieses Versammlungsverbot umso interessanter.<br />
In Österreich ist also „behördlich untersagt",<br />
für einen nun e r w e i s l i c h u n s c h u l d i g e n<br />
M e n s c h e n das Interesse der Öffentlichkeit in<br />
Bewegung zu setzen, nachdem dieser über 2 Jahre<br />
in dunkelster Kerkergruft schmachtete! Dabei soll<br />
nicht ausser Acht gelassen werden, dass diese plötzliche<br />
Freilassung des Genossen Joris nur dem Umstände<br />
zuzuschreiben ist, dass das sultanisch-asiatische<br />
Regime befürchtete, die von den Anarchisten<br />
international begonnene Befreiungspropaganda würde<br />
auch sehr bald auf anständige bürgerliche Kreise<br />
übergreifen, die ihre liberalen Ideale noch nicht im<br />
Geldschrank hermetisch verschlossen halten.<br />
Angesichts eines solchen Verbotes wirft sich<br />
wie von selbst die Frage auf: Was eigentlich ist<br />
den österreichischen B e h ö r d e n , d i e doch nun auch<br />
im Zeichen des allgemeinen Wahlrechtes stehen,<br />
„behördlich untersagt"?! U. A. w. g.<br />
Nicht vergessen zu konstatieren, wollen wir<br />
auch, dass die Wiener „Arbeiterzeitung", trotzdem<br />
ihr Versammlungsanzeige <strong>und</strong> Appell für Joris rechtzeitig<br />
zugingen, sich gehörig — a u s s c h w i e g .<br />
Ein im Kerker für die Sache des Proletariats<br />
Schmachtender bedeutet eben keine Wahlstimme . . .<br />
• *<br />
Eine rege agitatorische Tüchtigkeit entfalten<br />
die Wiener Gruppen <strong>und</strong> die einzelnen Kameraden<br />
für die Idee des Anarchismus. Von der Intensität<br />
dieser Propaganda kann man sich leicht einen Begriff<br />
machen, wenn man nur einige der während<br />
der letzten drei Wochen stattgehabten Unternehmungen<br />
ins Auge fasst. Anlässlich der bejammerungswürdigen,<br />
durch die herrschende Teuerung<br />
noch im schlechtesten Sinne verschärften Zustände<br />
<strong>und</strong> der auf diese bezugnehmenden demagogischen<br />
Agitation der Socialdemokraten, beriefen unsere Kameraden<br />
des X. Bezirkes eine öffentliche Versammlung<br />
ein, über das Thema „ L e b e n s m i t t e l v e r -<br />
t e u e r u n g u n d P a r l a m e n t a r i s m u s " . —<br />
Die nächste sehr gut besuchte Versammlung im<br />
XIV. Bezirk behandelte das Thema „ A u g e n -<br />
b l i c k s f o r d e r u n g e n u n d E n d z i e l e " . —<br />
Trotz des Verbotes der Jorisversammlung fand eine<br />
solche im Rahmen des § 2 statt, in der über den<br />
„ K l a s s e n k a m p f z w i s c h e n B o u r g e o i s i e<br />
u n d s o c i a l e r l d e e " referiert wurde, i n welchem<br />
Vortrag auch Joris nicht zu kurz kam. — Sehr anregend<br />
<strong>und</strong> wertvoll sind die „ I n t e r n e n Disk<br />
u s s i o n s a b e n d e " , die von den Föderationsgruppierungen<br />
in Wien für jeden Sonntag Abends<br />
in der Einsiedlergasse anberaumt wurden. Es sind<br />
dies Abende, in denen die Genossen nicht als Propagandisten,<br />
sondern als lerneifrige Forscher <strong>und</strong><br />
Wahrheitssucher auftreten <strong>und</strong>, durch Diskussionen<br />
gegenseitig belehrend, sich erst so recht zu tüchtigen<br />
<strong>und</strong> geistig schlagfertigen Progagandisten <strong>und</strong><br />
Anarchisten ausbilden. Als erstes Thema diente eine<br />
halbstündige Einleitungsrede vom Genossen Pierre<br />
Ramus über „Syndikalismus <strong>und</strong> Anarchismus". An<br />
der Diskussion beteiligten sich u. A. die Genossen<br />
Pletka, Gahlberg, Wollner, Sahorni, Brünner. Die<br />
überwiegende Mehrheit der stattlich vertretenen<br />
Genossen stand auf dem Standpunkt, dass der Syndikalismus<br />
nichts weiter als eine taktische Methode<br />
des Anarchismus werden könne, nie aber die Weltanschauung<br />
des Anarchismus ersetzen kann, sondern<br />
dort, wo er gross, eben von dieser zehre. — Ausserordentlich<br />
<strong>und</strong> enthusiasmierend war der Empfang,<br />
den die Wiener Kameraden der ersten Nummer des<br />
„W. f. A." bereiteten; dank dieses Enthusiasmus<br />
<strong>und</strong> edlen Wollens wird unsere Auflage in Wien<br />
unerwartet gross gewesen sein; darüber mehr in<br />
Wr. 3. — In der Diskussionsversammlung vom 22.<br />
Dezember fand eine Vorlesung jenes vom J u s t i z -<br />
r a t Dr. E r n s t M a m r o t h verfassten Protestaufsatzes<br />
über das unzweifelhaft einen Justizirrtum,<br />
einen Justizmord bergende Todesurteil über das<br />
deutschländische Ehepaar Klein statt. — Einen durchschlagenden<br />
Erfolg haben die unermüdlichen Genossen<br />
der „Morgenröte" mit der von ihnen arrangierten<br />
Weihnachtsfeier zu verzeichnen. Neben<br />
vortrefflichen gesanglichen Leistungen, wurde auch<br />
der Propaganda Genüge getan durch einen Festesvortrag<br />
über „ P h a n t a s i e n e i n e s W e i h -<br />
n a c h t s a b e n d s " . — Noch hesser wurde aber<br />
der nächste Morgen ausgenützt, wo der soc. dem.<br />
Reichsratsabgeordnete <strong>und</strong> Gemeinderat R e u m a n n<br />
über die „ L e b e n s m i t t e l v e r t e u e r u n g u n d<br />
d i e A b s t i m m u n g d e s 28. N o v e m b e r "<br />
sprach. Der Genosse Pierre Ramus — der übrigens<br />
das Referat in all den obigen Versammlungen etc.,<br />
hielt — trat ihm entgegen <strong>und</strong> widerlegte ihn<br />
Punkt auf Punkt so sehr, dass Herr Reumann „ang<br />
e s i c h t s d e r v o r g e r ü c k t e n S t u n d e " —<br />
wer lacht d a ? — eine Antwort weit von sich wies.<br />
Es war ein durchschlagender Erfolg, da viele Socialdemokraten<br />
auf uns zukamen <strong>und</strong>, uns die Hände<br />
schüttelnd, uns Recht gaben. — Sehr interessant,<br />
anregend <strong>und</strong> erhebend war auch der „Rezitationsabend",<br />
den die vereinigten anarch. Klubs in Wien<br />
in interner Zusammenkunft, aber vorzüglichem Besuch<br />
am 29. Dezember abhalten wollten. Der Genosse<br />
Pierre Ramus sollte das von ihm verfasste „<strong>Unser</strong>e<br />
Heimat" (antimilitaristische Szenen <strong>und</strong> Dialoge)<br />
vorlesen, während der czechische Genosse J u l i u s<br />
Polacek, ein Künstler in seinem Fach, den czechischen<br />
Teil der Anwesenden durch den Vortrag der<br />
freiheitlichen Gedichte von Bezruc, Sova, Machar,<br />
Neumann, Srámek entzücken wollte. Leider v e r -<br />
b o t d i e P o l i z e i s ä m t l i c h e G e i s t e s<br />
d a r b i e t u n g e n ! — Überall fanden unsere<br />
Ideen einen zur Aufnahme bereiten Boden, es<br />
bedarf nur des Sämannes. Kameraden von überall,<br />
lasst Euch diese Pionierarbeit nicht verdriessen!<br />
Sie wird schöne <strong>und</strong> reife Früchte tragen!<br />
* *<br />
*<br />
Ein wackerer Vorkämpfer „Der Freidenker"<br />
(Wien), ein Vorkämpfer für die erste Stufe jeder<br />
Geistesbefreiung, nämlich jene der Befreiung vom<br />
Glauben an irgend ein übersinnliches Wesen, wird<br />
mit seinem soeben begonnenen neuen Jahrgang<br />
z w e i Mal im Monat, statt wie bisher nur ein Mal<br />
zu erscheinen anheben. Wir wünschen dem Mitkämpfer,<br />
der nun doppelt schweres Geschütz auffahren<br />
lassen kann, Glück zur Vermehrung seiner<br />
Tätigkeit, zum Ansturm wider die Burg finstersten<br />
Unverstandes, genannt Klerikalismus <strong>und</strong> der von<br />
ihm ausgestreuten Lehren.<br />
Ungarn.<br />
In den 80 Jahren erschien in Budapest ein socialistisch-anarchistisches<br />
Organ „Volkswille". Eben<br />
daselbst gab 1896. der bekannte Tolstoyanische<br />
Philosoph E u g e n H e i n r i c h - S c h m i t t seine<br />
„ideal-anarchistische" Monatsschrift: „Ohne Staat"<br />
heraus, die besonders auf die Bauernbevölkerung<br />
der ungarischen Ebene nicht ohne Einfluss blieb;<br />
es bildeten sich an manchen Orten „Brudergemeinden*.<br />
Die Propaganda Schmitts bewegte sich von<br />
Anfang an im Sinne der Gewaltlosigkeit, des Nichtwiderstrebens<br />
<strong>und</strong> des evangelischen Urchristentums<br />
<strong>und</strong> kann keine revolutionäre „Bewegung" genannt<br />
werden; sie löste sich schliesslich in eine neudogmatische<br />
<strong>und</strong> mystische R e l i g i o n auf. —<br />
Seit Februar 1907 erscheint in Ungarn das erste<br />
r e v o l u t i o n ä r e a n a r c h i s t i s c h e B l a t t<br />
„ D i e S o c i a l e R e v o l u t i o n " . Anfänglich Privatunternehmen,<br />
wird dasselbe seit Juli von der „Budapester<br />
Gruppe der ungarländischen Revolutionären<br />
Socialisten" herausgegeben. Dass der Boden in<br />
Ungarn für die Ideen des anarchistischen Kommunismus<br />
reif ist, beweisen die zahlreichen begeisterten<br />
Zuschriften, die fortwährend von allen Teilen<br />
des Landes aus den Reihen der Arbeiter an die<br />
Redaktion gelangen. Das Blatt erscheint in c. 3000<br />
Exemplaren (zweimal monatlich). Es führt einen<br />
starken Kampf gegen den Parlamentarismus (die<br />
ungarische Arbeiterbewegung besteht jetzt, unter<br />
der Führung der Socialdemokratie, ausschliesslich<br />
in der Forderung des allgemeinen Wahlrechtes!)<br />
<strong>und</strong> hat aus Anlass der grossen Arbeiterdemonstration<br />
<strong>und</strong> des eintägigen Massenstreikes bei Wiedereröffnung<br />
der Parlamentssitzungen (10. Oktober (ein<br />
Flugblatt in 10.000 Exemplaren herausgegeben, in<br />
welchem die Nutzlosigkeit <strong>und</strong> Schädlichkeit der<br />
Gesetze <strong>und</strong> die Notwendigkeit des revolutionären<br />
Generalstreikes <strong>und</strong> der direkten Aktion klargelegt<br />
wurden. Das Flugblatt wurde von der Polizei konfisciert,<br />
aber erst nachdem der grösste Teil der<br />
Exemplare unter die Arbeiter verteilt worden war.<br />
Auch die Anfänge einer vielversprechenden antimilitaristischen<br />
Propaganda wurden in's Leben gerufen.<br />
Zur Zeit der Assentierung (März) <strong>und</strong> dem Einrücken<br />
der Rekruten (1. Oktober) werden spezielie illustrierte<br />
antimilitaristische Nummern herausgegeben<br />
<strong>und</strong> in je 6000 Exemplaren unter den Rekruten <strong>und</strong><br />
jugendlichen Proletariern verteilt. Zum 1. Oktober<br />
erschien auch ein Aufruf an die Rekruten, von fünf<br />
jungen Mitgliedern der budapester Gruppe unter-<br />
zeichnet, der die Soldaten auffordert, ihr Gewissen<br />
<strong>und</strong> ihr proletarisches Klassenbewustsein in jedem<br />
Falle höher zu stellen als die Befehle ihrer Vorgesetzten.<br />
Dieser Autruf wurde in Budapest <strong>und</strong> anderen<br />
grösseren Städten in grosser Menge an die<br />
Mauern geklebt <strong>und</strong> verteilt. Die Polizei Hess denselben<br />
— w<strong>und</strong>erbarer Weise — unbehelligt, wohl<br />
aber stimmte die socialdemokratische Presse ein<br />
Zetergeschrei über diese „ V e r f ü h r u n g d e r<br />
A r b e i t e r" (I) an <strong>und</strong> erklärte feierlichst, dass sie<br />
nichts mit dem Aufruf zu tun habe, den Antimilitarismus<br />
im höchsten Grade missbillige <strong>und</strong> dass die<br />
Socialdemokraten immer gute Patrioten waren <strong>und</strong><br />
bleiben w e r d e n ! ! — Überhaupt hat von Anfang an<br />
die Socialdemokratie mit der grössten Erbitterung<br />
gegen uns gekämpft; es kann sich ihr nur die Staatsanwaltschaft<br />
würdig zur Seite stellen, die von den<br />
bis jetzt erschienenen 21 Nummern 8 confisciert <strong>und</strong><br />
insgesamt gegen c. 20 Artikel Pressprocesse angestrengt<br />
hat.<br />
Die Zahl der bisher in ungarischer Sprache<br />
herausgegebenen anarchistischen Broschüren ist noch<br />
gering. Erschienen sind in früheren Jahren: „ D i e<br />
A n a r c h i e " von E . Reclus <strong>und</strong> „ A n d i e j u n g e n<br />
L e u t e " von Kropotkin; in neuerer Zeit: „Bericht<br />
der Confederation General du Travail über G e -<br />
n e r a l s t r e i k <strong>und</strong> A n t i m i l i t a r i s m u s " ; <strong>und</strong><br />
als Heft 1. der „Bibliotek der Socialen Revolution"<br />
„ D i e G e w e r k s c h a f t e n <strong>und</strong> d i e R e v o l u -<br />
t i o n " von M. Pierrot. Andere Broschüren (Malatesta's<br />
„ G e s p r ä c h z w i s c h e n z w e i L a n d -<br />
a r b e i t e r n " ; Friedebergs: „ P a r l a m e n t a r i s -<br />
m u s <strong>und</strong> G e n e r a l s t r e i k " ) die in der „Socialen<br />
Revolution" in Fortsetzungen erschienen, sind in<br />
Vorbereitung.<br />
Ausser der „Budapester Gruppe der revolutionären<br />
Socialisten", die regelmässig ihre wöchentlichen<br />
Vorträge <strong>und</strong> Discussionen veranstaltet, bilden<br />
sich auch anderswo Propagandagruppen in wachsender<br />
Zahl. So die syndikalistische Tischgesellschaft<br />
der budapester Kellner: „Brüderlichkeit", die Gruppen<br />
in den Provinzstädten u. s. w.<br />
Eine starke Verstärkung hat unsere Bewegung<br />
erfahren durch den — im August erfolgten — Anschluss<br />
der bisherigen sogenannten „Unabhängigen<br />
Socialisten". Diese bestehen in Organisationen von<br />
Bauern <strong>und</strong> Landarbeitern, die sich vor ungefähr<br />
10 Jahren von der socialdemokratischen Partei losgelöst<br />
hatten, aber unter der Führung eines verworrenen<br />
Menschen ohne klares <strong>Ziel</strong> oder Programm<br />
hinvegetierten. Nach dem Eingehen ihres Blattes,<br />
des „Landarbeiters", wurden die in vielen Gruppen<br />
organisierten Mitglieder dieser Fraktion Leser<br />
der „Socialen Revolution", <strong>und</strong> es ist zu hoffen,<br />
dass sie sich dadurch bald zu überzeugten Kämpfern<br />
des anarchistischen Kommunismus heranbilden werden.<br />
— Überhaupt ist es Hauptbestreben der ungarischen<br />
Genossen, eine kräftige, revolutionäre Landarbeiter-<br />
<strong>und</strong> Bauernbewegung in's Leben zu rufen,<br />
in der sie — besonders in einem Agrarland wie<br />
Ungarn — den Hauptfaktor der socialen Revolution<br />
erblicken.<br />
Galizien.<br />
Demokratismus <strong>und</strong> das ihm verbrüderte<br />
Politikantenwesen lasten wie ein Fluch auf der<br />
gesamten Arbeiterbewegung Galiziens, sie sind auch<br />
die ausgesprochensten Feinde des revolutionären<br />
Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus. Die Sozialdemokratie,<br />
deren Alleinherrschaft, gegründet auf der Finsternis<br />
der Massen, ihr Dasein den erwähnten} B<strong>und</strong>esgenossen<br />
verdankt, hat die grosse Bedeutung des<br />
demokratischen Elements für die Parteityrannei<br />
verstanden, sie hat auf ihrer Fahne die Losung der<br />
„Diktatur des Proletariats" angebracht <strong>und</strong> alle intellektuellen<br />
<strong>und</strong> idealistischen Faktoren in der<br />
Bewegung dem gemeinen Materialismus untergeordnet.<br />
Darin sehe ich die Hauptquelle <strong>und</strong> den<br />
unaufhörlich tätigen s p i r r t u s m o v e n s des<br />
inneren Rückschrittes des revolutionären Geistes in<br />
der soc. dem. Arbeiterbewegung, ihrer Abschwächung<br />
in ausschliesslichen bürgerlichen Augenblicksforderungen<br />
<strong>und</strong> spiessbürgerlicher Versicherungshascherei.<br />
Denn es ist eine unbestreitbare Tatsache,<br />
dass nur der heilige Enthusiasmus für die Ideale des<br />
Socialismus der grosse Urheber revolutionärer Taten<br />
gewesen <strong>und</strong> diesen „Ütopismus" hat die „Vorsteherin<br />
des kämpfenden Proletariats" aus der proletarischen<br />
Massenbewegung hinausgejagt.<br />
Dafür hat schon die schreckliche Lage der<br />
proletarischen Massen Galiziens gesorgt, dass diese<br />
sg. Träger des proletarischen Klassenkampfes von<br />
dem Volke meist gutmütig aufgenommen <strong>und</strong> mit<br />
dem Repräsentationsmonopol beschenkt wurde. Tief<br />
gesunken ist der Proletarier in Galizien, wenn er<br />
die Mandatenjägerbande, die auf den Rücken der
eiten Massen sich stützend, die schändlichste<br />
Schacherpolitik treibt, die brutalste Autokratie ausübt,<br />
wenn er von derselben das revolutionäre Ideal der<br />
Zukunft begründet zu sehen hofft, wenn er die niederträchtigsten<br />
<strong>und</strong> von keckem Ignorantismus überfüllten<br />
Antianarchistenpamphlete als den heiligsten, idealsten<br />
Streit für „das höchste Glück der Menschenkinder"<br />
betrachtet <strong>und</strong> in dieser Verblendung den<br />
„demokratischen" Heuchlern <strong>und</strong> Possenspielern<br />
applaudirt. Dieser vom demokratischen Geiste<br />
durchdrungene Massentypus leistet hier dem Anarchismus<br />
Widerstand; der demokratische Sozialismus<br />
konnte <strong>und</strong> musste sich notwendigerweise auf dieser<br />
Basis gründen, es ist auch das unbestreitbare Verdienst<br />
der socialdemokratischen Pfaffen, diesen Sieg<br />
der gemeinsten, finsteren Elemente in der Natur<br />
der Masse durchgeführt zu haben. Und es ist —<br />
um Schillers Worte zu gebrauchen — „das ganz<br />
Gemeine, das ewig Gestrige, was immer war <strong>und</strong><br />
immer wiederkehrt <strong>und</strong> morgen gilt, weil's heute<br />
hat gegolten", das den Charaktergr<strong>und</strong>zug der sg.<br />
Proletariermasse aus der sozialdemokratischen Schule<br />
Galiziens bildet.<br />
Von einer wahren revolutionären Arbeiterbewegung<br />
kann unter solchen Umständen keine<br />
Rede sein. Die sozialdemokratischen Mandatenjäger<br />
erinnere ich nur an die letzte Wahlreform- <strong>und</strong><br />
Wahlbewegung, an jenen Schwindel <strong>und</strong> die Korrumpierung<br />
der Masse durch öffentliche Profanation der<br />
Ideale des Sozialismus, d u r c h K o m p r o m i s s e<br />
m i t d e n b ü r g e r l i c h e n P a r t e i e n u n d<br />
m i t d e r R e g i e r u n g . Auf den Volksversammlungen<br />
waren die Sozialdemokraten die „V o rk<br />
ä m p f e r d e r R e l i g i o n " , energischesten<br />
Protestanten gegen den „coup d' etat" seitens der<br />
„Atheisten", wider das religiöse Gewissen der<br />
Proletarier.'Verteidiger der gesamten Nation (jenseits<br />
von jeder Klassenscheidung I) „legale Reformisten",<br />
die nicht gegen den Staat kämpfen; i h r k o s c h e -<br />
r e n „ w i s s e n s c h a f t l i c h e n " . M a r x i s m u s -<br />
o r t h o d o x e n l — Ihr verdammtet damals die<br />
„phantastischen", Revolutionäre, euch selbst reklamierend<br />
als Erlöser des Volkes, <strong>und</strong> das will ich<br />
Euch zugeben: Ihr habt den galizianischen Proletarier<br />
„erlöst", beruhigt, mit eitler Hoffnung auf das<br />
parlamentarische „panaceum" erfüllt; ihr habt Euer<br />
<strong>Ziel</strong> erreicht: für die Arbeiter wertlose Abgeordnetensitze<br />
im ganzen Land I Unter solchen Umständen<br />
treten die galizianischen Anarchisten in die praktische<br />
Arbeit ein.<br />
Wir Anarchisten sind nicht mehr ganz vereinzelt<br />
in unseren Ansichten, wissen, dass wir unter den Arbeitern<br />
viele enthusiastische Mitkämpfer finden<br />
werden. Aus reiner „Utopie" strömt ihr Anarchismus,<br />
sie wollen die Masse ihrem Massentum entfremden,<br />
die Einzelnen entwickeln, in ihrer Brust<br />
die heilige Flamme des Enthusiasmus für die volle<br />
Freiheit, für die <strong>Ziel</strong>e der Anarchie entzünden, eine<br />
Gemeinschaft gründen, die aus Dichtern, Träumern,<br />
Arbeitern bestehen soll, die gemeinsam Revolutionäre<br />
werden müssen. Diese grosse Aufgabe schleudern<br />
unsere Genossen in den Lebensstrom; ihre<br />
Losung ist: Proletarier, werdet stark, ringt nach<br />
Befreiung! Nur auf diesem <strong>Weg</strong>e kann der Proletarier<br />
die Überwindung der schmarotzerischen Instinkte<br />
der Politiker aller Parteien durchsetzen. In<br />
diesem Sinne führe ich die philosophische <strong>und</strong> theoretische<br />
Propaganda zu Gunsten der Idee der Anarchie<br />
in meiner „Utopja". Es besteht noch eine zweite<br />
kameradschaftliche Richtuig, eine viel stärkere, auf<br />
den Prinzipien der syndikalistisch-revolutionären<br />
Bewegung des Auslandes ruhend, die sich um die<br />
neue Zeitschrift „Nowa Epoka" gruppiert. Ihre Aufgabe<br />
ist, die breiten Arbeitermasserr über das bourgeoise<br />
Schwindelwesen des Parlamentarismus aufzuklären,<br />
sie für die Taktik der Generalstrikesidee<br />
zu gewinnen <strong>und</strong> so dem Anarchismus <strong>und</strong> Socialismus<br />
zuzuführen! Arnold Gahlhorg.<br />
Russland.<br />
(Schluss.)<br />
Kaum hatte es sich herausgestellt, dass die<br />
neuen Manipulationen <strong>und</strong> Prestigationen mit dem<br />
Wahlgesetz eine recht rechtsstehende Mehrheit zu<br />
Tage fördern — wurden alle liberalen Zeitungen<br />
unterdrückt <strong>und</strong> eine Menge Bücher — auch Theaterstücke<br />
aus dem Verkehr genommen; alles, was<br />
links von den Kadetten stand, verlor in wachsendem<br />
Masse Anhänger <strong>und</strong> Stimmen aber auch die Kadetten<br />
mussten büssen. Es wurde ganz ungeniert vorgegangen<br />
<strong>und</strong> das Volk blieb ohne Sprachrohr <strong>und</strong><br />
Herold, die es sich in früherer geheimer oder in<br />
neuer Weise wird suchen müssen. Wohin man sich<br />
auch umsah, auf feste organisierte Hilfe war nicht<br />
zu rechnen. Und nun kam die Einsicht, nicht<br />
nur bei der Intelligenz, auch beim Volke, dass Aufklärung<br />
not tut, um Bewusstsein, Selbständigkeit<br />
<strong>und</strong> Beständigkeit zu zeitigen, da das wildflackernde<br />
Strohfeuer nicht für die Dauer vorhält, weder<br />
wärmt noch schmutzt, wohl aber täuscht. So hat<br />
denn ein Bildungsfieber alle Kreise ergriffen, Schu-<br />
len, Lesezirkel, Volksuniversitäten, Zeitschriften<br />
werden geschaffen <strong>und</strong> besucht, selbst der Bauer<br />
saugt wie ein Schwamm das Wissen in sich ein<br />
<strong>und</strong> schafft sich Blätter — das ist eine der<br />
Waffen, der sichersten, von innen heraus wirkenden<br />
Waffen gegen Unterdrücker <strong>und</strong> Verdummer,<br />
Unterdrückung <strong>und</strong> Verdummung.<br />
Freilich, die breiten Schichten der materiell<br />
gesicherten Intelligenz sind etwas müde — Tschechow<br />
steckt ihnen noch zu sehr im Blut, Gorkij<br />
<strong>und</strong> Andrejew noch zu wenig — <strong>und</strong> sie möchten<br />
ihre mageren Lorbeeren für sich behalten. D o c h<br />
d e r B a u e r n s t a n d w i r d s i e v o r s i c h h e r -<br />
s c h i e b e n !<br />
Er muss es tun! Er hat zu viel zum Sterben,<br />
zu wenig zum Leben, er muss der Qual Schach bieten,<br />
er muss sich aus der Schlinge ziehen, wenn er<br />
nicht mit dem Lande eines elenden Todes sterben<br />
will. Da ist schon ein blutiger besser, weil kürzer,<br />
sicherer! Die Cholera ist noch nicht erloschen, <strong>und</strong><br />
Teuerung zieht schon langsam von Südosten auf.<br />
K o m m t k e i n e H i l f e , s o k o m m t n o c h v o r<br />
d e m F r ü h l i n g d i e H u n g e r s n o t u n d<br />
b r e i t e t s i c h ü b e r d e n S ü d e n a u s , o h n e<br />
v o r D e k r e t e n H a l t z u m a c h e n .<br />
Doch wen soll die Existenz einer so zusammengesetzten<br />
Duma täuschen, welche Gegensätze mildern,<br />
ausgleichen? Dient sie so nicht vielmehr zur Aufreizung<br />
aller Leidenschaften, zur Empörung, in dem<br />
sie die Teile überspannt, den Schraubstock zu stark<br />
anzieht, <strong>und</strong> unmögliche Bedingungen auf den<br />
Kulminationspunkt treibt, indem sie schon durch<br />
ihre Existenz evident nachweist, dass in ihr kein<br />
Heil, keine Rettung sein kann, wenigstens nicht<br />
für den aussterbenden Bauer, den geknebelten<br />
Arbeiter? Fördert sie nicht die Desperation <strong>und</strong><br />
lässt nach anderen Hilfsmitteln ausschauen —<br />
besser als alle Lehren <strong>und</strong> Reden der Revolutionäre<br />
— sie, die als lebendige Tatsache Propaganda<br />
durch gegenteilige Demonstration treibt?<br />
Die Gewalt in zweifelhaften Handschuhen hat<br />
noch niemand für Recht gehalten, wenigstens nicht<br />
in so grober Form, dass die Krallen selbst durch<br />
das Leder kratzen! Und gleissnerisches Augenverdrehen<br />
<strong>und</strong> Beteuerungen, dass man das Volkswohl<br />
wolle, sind ein so altes Stück, dass sie nicht<br />
viele von den Leuten mehr täuschen, denen es um<br />
ein Volkswohl wirklich brennend zu tun ist, nicht<br />
von denen, die es immer nur als hübsche Fechtparade<br />
im M<strong>und</strong>e führen, um in die Duma gewählt<br />
zu werden!<br />
Die rechtgläubige Kirche, die lange die Rolle<br />
eines Bollwerks gegen Freiheit <strong>und</strong> Selbstbestimmung<br />
spielte <strong>und</strong> deshalb ihr Innenleben einbüsste,<br />
ist haltlos leer, achselträgerisch <strong>und</strong> liebedienerisch,<br />
verliert täglich an Achtung, Anhang <strong>und</strong> Kraft —<br />
ganze Gemeinden <strong>und</strong> einzelne Häupter verlassen<br />
sie; <strong>und</strong> was fest zu ihr steht, ist indifferent oder<br />
ungebildet, so dass es sie auch, falls keine Reformation<br />
erfolgt, mit der Zeit verlassen muss.<br />
Die „freie Gewalt* tritt wieder unverbrämt in<br />
Tätigkeit — auch wenn die Gleissner schreien:<br />
„Ja Bauer, das ist etwas Anderes* — <strong>und</strong> beweist,<br />
dass im Volk noch Tüchtigkeit <strong>und</strong> Tatkraft, Furchtlosigkeit<br />
<strong>und</strong> Entschlossenheit, Wille <strong>und</strong> Empfindung<br />
quellen, die es wert wären, in andere Fassung<br />
gebracht zu werden.<br />
Und die die nächste Zakunft auch wohl in<br />
andere Fassung bringen wird. Wo die Menschen<br />
noch nicht ausgestorben sind, können auch die Zeiten<br />
nicht ewig schlecht bleiben. Wo Kraft ist, da ist<br />
auch Leben, <strong>und</strong> da müssen sich <strong>Weg</strong>e öffnen<br />
allen Hindernissen zum Trotz — w i e e i n B a u m<br />
s e i n e W u r z e l n s e l b s t d u r c h F e l s e n<br />
t r e i b t I Th. H., Moskau.<br />
Briefe unserer Leser.<br />
Wien, 29. Dezember 1907.<br />
Werte Genossen! <strong>Unser</strong>e Zeitschrift scheint<br />
einigen „Arbeiterführern" <strong>und</strong> solchen, die es gerne<br />
werden möchten, recht unangenehm zu sein. Besonders<br />
„gebildeten" Ausdruck gab dieser Stimmung<br />
ein gewisser „Herr" Marianek, zweiter Obmann<br />
des Verbandes jugendl. Arbeiter <strong>und</strong> Obmann der<br />
Favoritner Ortsgruppe dieses Verbandes. Dieser<br />
„feine" Herr fuhr auf einen Genossen, der unsere<br />
Zeitung im Arbeiterheime verbreitete, in höchster<br />
Wut los <strong>und</strong> schrie: „Euch sollt' ma olle obfotznen.<br />
Die Dreckbubenzeitung! Jedem ane aufn Schädelt"<br />
u. s. f. Beinahe wäre er gegen unseren Genossen<br />
tätlich geworden. Der gute Mann — etwa ein verkappter<br />
Christlichsocialer, da ja nur die sich so<br />
benehmen können?! — mag wohl alle Ursache haben,<br />
tu fürchten, dass die Jugendlichen Favoritens selbständig<br />
zu denken beginnen.<br />
An die Favoritner Jugendlichen aber stellen<br />
wir die Frage: Wollt Ihr Euch wirklich befehlen<br />
lassen, was Ihr zu denken, was ihr zu lesen habt?<br />
Habt Ihr deswegen das geistige Joch der schwar-<br />
zen Pfaffen abgeschüttelt, um Euch unter das<br />
roter Pfaffen beugen zu lassen ? Binder.<br />
Innsbruck, 20. Dezember 1907.<br />
Werte Genossen! Ich hege gleichzeitig die<br />
Hoffnung; dass Ihr Euer Blatt so halten werdet, um<br />
dem allgemeinen Bedürfnisse des Proletariates nach<br />
Brot <strong>und</strong> Bildung Rechnung zu tragen <strong>und</strong> im „W.<br />
f. A." besonders den wirtschaftlichen, sozialen<br />
Kampf .vertretet, sowie in leicht verständlicher<br />
Schreibart dem Individuum seine Sklaverei <strong>und</strong><br />
Ausbeutung in dieser barbarischen Gesellschaft<br />
vor Augen hält. Wodurch Ihr im Menschen die Selbsterkenntnis<br />
<strong>und</strong> das Selbstbewusstsein erwecken<br />
werdet, woraus jene erste Entschlossenheit gegen<br />
diese unnatürliche Gesellschaft <strong>und</strong> ihre Institutionen<br />
hervorgeht, die die jetzige Gesellschaft überwinden<br />
wird, platzschaffend für eine freie, in der jeder<br />
nach seinen Anlagen frei <strong>und</strong> glücklich leben kann.<br />
Eure Aufgabe ist es auch, die deutsch-österreichische<br />
Arbeiterschaft von der unfruchtbaren,<br />
politischen Aktion der direkten, wirtschaftlichen<br />
Aktion zu zuführen.<br />
Die politische Macht ist ohne die wirtschaftliche<br />
nur eine Scheinmacht, eine glänzende Seifenblase,<br />
die beim ersten Donner der Kanonen in Nichts<br />
zerstieben wird, <strong>und</strong> es gehört eine ziemliche Portion<br />
Verblendung dazu, anzunehmen, dass eine, sich im<br />
Besitze der ganzen Produktion befindliche, Jahrtausende<br />
alte, best organisierte, bewaffnete Machtjdurch<br />
Stimmzettel <strong>und</strong> moralische Predigten bekämpfen<br />
lässt. Oder wurde vielleicht das allgemeine Wahlrecht<br />
in Österreich durch die parlamentarische Aktio«<br />
erreicht? Nein I die Arbeiter haben es sich durch die<br />
direkte Aktion, durch die Strasse, erzwungen.<br />
Ich schliesse mit dem Wunsche, dass Euer<br />
mühevolles Werk durch Hervorspriessung neuer<br />
Keime, aus dem bereits von Most bearbeiteten Boden,<br />
gekrönt werde.<br />
Mit Brudergruss stets Euer<br />
Arnold.<br />
A n m e r k u n g d e r Redaktion. Weitere<br />
Briefe müssen diesmal wegen Raummangel ausfallen<br />
<strong>und</strong> erscheinen in den nächsten Nummern.<br />
B r i e f k a s t e n .<br />
Der Genosse Heinrich Albert ersucht den<br />
Genossen J o h a n n F r i s c h e r (Ostrau) seine Adresse<br />
anzugeben, um sich mit ihm in Verbindung zu setzen.<br />
S t u t t g a r t - O a b l e n b e r g . Dank für fre<strong>und</strong>liche<br />
Worte, Ihr braven Höhenbewohner. Wacker kämpfen<br />
<strong>und</strong> nicht entmutigen lassen. Euch allen meinen<br />
BrudergrussI —<br />
M a r k s . Entschuldigen Sie, kommt in Nr. 3<br />
ganz bestimmt; Raummangel.<br />
Sergius, lbid!<br />
D. Nieux. Beginnt mit nächster Nummer; wird<br />
zu Ihrer Zufriedenheit erledigt. Solidaritätsgruss.<br />
Rudolf Hammer, Dänemark. Was soll ich mit<br />
gesandten „Gratis Postbeweis" machen? Behalten<br />
Sie <strong>und</strong> verteilen Sie die übrig gebliebenen Exemplare.<br />
Bitte um Mitteilung <strong>und</strong> genaue Adressenangaben.<br />
Grussl<br />
B o u r e y . Dank für fre<strong>und</strong>l. Zeilen. Der Betreffende<br />
ist ein braver Kamerad, ein anständiger Charakter,<br />
darf dies aber nicht öffentlich zur Schau<br />
tragen, um desto wirksamer für die Sache tätig sein<br />
zukönnen. Gruss 1<br />
===== Das =====<br />
anarchistische Manifest.<br />
Von Pierre R a m u s .<br />
Wir empfehlen den Genossen aller Städte, diese<br />
neue populäre Propagandaschrift von 16 Seiten, die<br />
wir zu dem billigen Preis von<br />
2 H e l l e r p r o E x e m p l a r<br />
oder — um die M a s s e n p r o p a g a n d a zu fördern —<br />
für<br />
I K 6 0 h p r o H u n d e r l<br />
abgeben.<br />
Kameraden, hier ist eine glänzende Gelegenheit, um<br />
eine nachdrückliche Propaganda entfalten zu können.<br />
Wier ersuchen um umgehende Bestellung, kein Ge-<br />
nosse sollte ohne eines Dutzend Exemplare in der<br />
Tasche sein!<br />
An die Leser!<br />
Anlässlich der Feiertage verzögerte sich das<br />
Erscheinen vorliegender Nummer um 3—4 Tage;<br />
die 3. N u m m e r erscheint am 19. J ä n n e r .<br />
Redaktion <strong>und</strong> Verlag.
ANARCHIE.<br />
VON<br />
E N R I K O M A L A T E S T A .<br />
A n a r c h i e ist ein griechisches Wort <strong>und</strong> bedeutet:<br />
O h n e H e r r s c h a f t . E s bezeichnet also den Zustand,<br />
in welchem ein Volk ohne festgesetzte Obrigkeit, ohne<br />
Regierung seine Angelegenheiten selbst besorgt.<br />
Ehe denkende Menschen diesen Zustand als möglich<br />
<strong>und</strong> wünschenswert erkannt haben, ehe derselbe das <strong>Ziel</strong><br />
einer Bewegung wurde, die seitdem einer der wichtigsten<br />
Faktoren im socialen Kampfe ist, fasste man das Wort<br />
„Anarchie" allgemein als U n o r d n u n g , K o n f u s i o n<br />
auf; <strong>und</strong> es wird noch heute so aufgefasst von den<br />
unwissenden Massen, <strong>und</strong> von unseren Gegnern, in deren<br />
Interesse es liegt, die Wahrheit zu verheimlichen.<br />
Wir wollen hier nicht in das Gebiet der Sprachwissenschaft<br />
abschweifen, denn die Frage ist keine<br />
sprachwissenschaftliche, sondern eine geschichtliche. —<br />
Die allgemein angenommene Bedeutung des Wortes fasst<br />
den wirklichen, sprachlich begründeten Sinn desselben<br />
ganz richtig auf; das Missverständniss entsteht aus<br />
dem V o r u r t e i l e , dass die Regierung, die Herrschaft<br />
notwendig zum Bestehen des gesellschaftlichen Lebens<br />
ist, <strong>und</strong> dass in Folge dessen eine Gesellschaft ohne
- 2 -<br />
Herrschaft der Unordnung anheimfallen muss, <strong>und</strong> zwischen<br />
der Allgewalt der Einen <strong>und</strong> der blinden Rache der Anderen<br />
hin <strong>und</strong> herschwanken wird.<br />
Es ist leicht erklärlich, wie dieses Vorurteil entstanden<br />
ist, <strong>und</strong> wie dasselbe die Bedeutung des Wortes Anarchie<br />
in der Auffassung der Massen beeinflusst hat.<br />
Wie alle Tiere, passt sich der Mensch an <strong>und</strong><br />
gewöhnt sich an die Verhältnisse, in denen er lebt; <strong>und</strong><br />
die angenommenen Gewohnheiten vererbt er auf seine<br />
Nachkommen.<br />
Der Mensch, der in Sklaverei geboren <strong>und</strong> aufgewachsen<br />
ist, <strong>und</strong> von einer langen Reihe von Sklaven<br />
abstammt, glaubte, als er anfing zu denken, dass die<br />
Sklaverei ein unvermeidlicher Zustand des Lebens sei;<br />
die Freiheit erschien ihm unmöglich. So geht es auch<br />
dem Arbeiter; seit Jahrh<strong>und</strong>erten ist er gezwungen, die<br />
Arbeit, das heisst das Brot, von der Laune eines Herren<br />
zu erwarten; er ist daran gewöhnt, dass er fortwährend<br />
von der Gnade dessen abhängt, der den Boden <strong>und</strong><br />
das Kapital besitzt; <strong>und</strong> am Ende glaubt er, dass es<br />
der Arbeitgeber ist, der ihm zu essen gibt. In seiner<br />
Leichtgläubigkeit sagt er: „Wie würde ich denn leben<br />
können, wenn es keine Herren g ä b e ? "<br />
So würde es einem Menschen ergehen, dessen Füsse<br />
seit seiner Geburt gefesselt wären, aber so dass er doch<br />
ein wenig gehen könnte; er würde vielleicht sagen, dass<br />
er sich darum bewegen kann, weil er Fesseln anhat,<br />
obgleich im Gegenteil die Fesseln ihn am freien Bewegen<br />
hindern. —<br />
Ausser der Macht der Gewohnheit müssen wirnoch
- 3 —<br />
die Erziehung der Arbeiter durch die Arbeitgeber, die<br />
Priester, die Lehrer erwähnen, die alle ein Interesse<br />
daran haben, die Notwendigkeit der Obrigkeit <strong>und</strong> der<br />
Herren zu predigen; wir müssen den Einfluss der<br />
Richter <strong>und</strong> Polizisten in Betracht ziehen, die bestrebt<br />
sind, jeden, der anders denkt, wie sie, <strong>und</strong> seine G e -<br />
danken verbreiten will, zum Schweigen zu bringen. Dann<br />
ist es leicht verständlich, wie in den ungebildeten Köpfen<br />
der Masse das Vorurteil über die Nützlichkeit <strong>und</strong> Notwendigkeit<br />
der Arbeitgeber <strong>und</strong> der Regierung Wurzel<br />
gefasst hat. —<br />
Denken wir uns, dass dem Menschen mit gefesselten<br />
Füssen, den wir erwähnt haben, der Arzt eine<br />
ganze Theorie entwickelt <strong>und</strong> tausend geschickt erf<strong>und</strong>ene<br />
Beispiele erzählt, um ihn zu überzeugen, dass er<br />
mit freien Füssen weder gehen noch leben könnte, so<br />
würde dieser Mensch wütend seine Fesseln verteidigen<br />
<strong>und</strong> jeden als seinen Feind betrachten, der dieselben<br />
zerschneiden wollte.<br />
Es ist also natürlich, dass, wenn man die Regierung<br />
für notwendig hält, <strong>und</strong> zugibt, dass ohne Obrigkeit<br />
alles nur Unordnung <strong>und</strong> Verwirrung wäre, das<br />
Wort Anarchie, das die Abwesenheit jeder Regierung<br />
bedeutet, auch das Fehlen der Ordnung bedeuten wird.<br />
Ändert die Ansichten, überzeugt die Massen, dass<br />
die Institution der Regierung nicht nur nicht notwendig,<br />
sondern äusserst gefährlich <strong>und</strong> schädlich ist für das<br />
sociale Leben, <strong>und</strong> dann bedeutet das Wort Anarchie,<br />
gerade weil es das N i c h t v o r h a n d e n s e i n einer Regierung<br />
ausdrückt, für alle Menschen die n a t ü r l i c h e
M i<br />
- 4 -<br />
O r d n u n g , H a r m o n i e d e r B e d ü r f n i s s e u n d I n -<br />
t e r e s s e n v o n A l l e n , v o l l k o m m e n e F r e i h e i t<br />
u n d v o l l k o m m e n e S o l i d a r i t ä t .<br />
Es ist unrichtig zu sagen, dass die Anarchisten<br />
ihren Namen schlecht gewählt haben, weil die Massen<br />
diesen Namen missverstehen <strong>und</strong> falsch auslegen. Der<br />
Irrtum hängt nicht vom Wort, sondern von der Sache<br />
ab, <strong>und</strong> die Schwierigkeiten, mit denen die Anarchisten<br />
bei ihrer Propaganda zu kämpfen haben, ist nicht die<br />
Folge des Namens, den sie sich beilegen, sondern der<br />
Tatsache, dass unsere Anschauungen alle von Alters<br />
hergebrachten Vorurteile verletzen, die das Volk über<br />
die Tätigkeit der Regierung oder, wie man gewöhnlich<br />
sagt, des Staates, hegt.<br />
Ehe wir fortfahren, müssen wir die Bedeutung dieses<br />
Wortes, d e r S t a a t , recht klar machen, denn aus der<br />
falschen Auffassung desselben entstehen viele Missverständnisse.<br />
—<br />
Die Anarchisten gebrauchen das Wort S t a a t , um<br />
die Gesamtheit aller politischen, gesetzgeberischen, g e -<br />
richtlichen, militärischen Institutionen zu bezeichnen,<br />
durch die dem Volke die Führung seiner eigenen Angelegenheiten,<br />
die Bestimmung seiner eigenen Handlungen,<br />
die Sorge um seine eigene Wohlfahrt entzogen wird, um<br />
dieselben einigen Menschen zu übertragen, welche durch<br />
Gewaltsanmassung oder die Wahl des Volkes das Recht<br />
erhalten, Gesetze über alles <strong>und</strong> für Alle zu'machen, sich<br />
zu diesem Zwecke der Kraft des ganzen Volkes bedienen.<br />
In diesem Falle bedeutet das Wort S t a a t die R e -<br />
g i e r u n g , oder das Prinzip der Herrschaft, dessen Aus-
- 5 -<br />
druck die Regierung ist. Aufhebung des Staates, Gesellschaft<br />
ohne Staat, bezeichnet also genau das, was die<br />
Anarchisten anstreben, wenn sie eine jede, auf das Herrschen<br />
gegründete politische Organisation bekämpfen <strong>und</strong><br />
eine Gesellschaft von freien <strong>und</strong> gleichberechtigten Menschen<br />
gründen vollen, die aufgebaut ist auf der Harmonie<br />
der Interessen <strong>und</strong> dem f r e i w i l l i g e n Z u s a m -<br />
m e n w i r k e n Aller für die Befriedigung der gesellschaftichen<br />
Bedürfnisse.<br />
Aber das Wort Staat wird auch noch in manch<br />
anderem Sinne gebraucht, von denen einige Missverständnisse<br />
hervorrufen können, besonders wenn man mit<br />
Leuten zu tun hat, die leider nicht Gelegenheit hatten,<br />
sich an die feineren Unterscheidungen der wissenschaftlichen<br />
Sprache zu gewöhnen, oder — was schlimmer<br />
ist — wenn es sich um solche Gegner handelt, die ein<br />
Interesse daran haben, unsere Ansichten zu verdrehen<br />
<strong>und</strong> nicht verstehen zu w o l l e n .<br />
Man gebraucht z. B. das Wort Staat, um eine<br />
Gesellschaft, eine Gesamtheit von Menschen zu bezeichnen,<br />
die innerhalb der Grenzen eines bestimmten<br />
Landes wohnt; oder man gebraucht es einfach als gleichbedeutend<br />
mit Gesellschaft überhaupt. Darum glauben<br />
unsere Gegner — oder geben vor, es zu glauben —<br />
dass die Anarchisten alle gesellschaftlichen Verbindungen,<br />
jede gemeinschaftliche Arbeit abschaffen wollen <strong>und</strong> bestrebt<br />
sind, die Menschen von einander abzusondern,<br />
das heisst, sie auf eine tiefere Stufe herabziehen wollen,<br />
als jene der niedrigst stehenden Wilden es ist.<br />
Unter Staat versteht man auch die oberste Ver-
- 6 -<br />
waltung eines Landes, die zentrale Regierung im Gegensatz<br />
zur provinzialen oder kommunalen Verwaltung; <strong>und</strong><br />
darum glauben andere, dass die Anarchisten einfach eine<br />
Dezentralisation der Landesteile wollen, das P r i n z i p<br />
der Herrschaft, der Regierung aber nicht bekämpfen. Sie<br />
verwechseln den Anarchismus mit der Autonomie <strong>und</strong><br />
nationalen Unabhängigkeit der einzelnen Landesteile.<br />
Darum glauben wir, dass es besser ist, von der<br />
v o l l s t ä n d i g e n E n t f e r n u n g d e r R e g i e r u n g e n<br />
zu sprechen.<br />
Wir haben schon gesagt, dass Anarchie eine Gesellschaft<br />
ohne Regierung ist.<br />
Aber ist die Entfernug der Regierungen möglich?<br />
Ist sie wünschenswert? Und ist sie vorauszusehen?<br />
Untersuchen wir es.<br />
W a s i s t d i e R e g i e r u n g ?<br />
Viele sehen in der Regierung ein moralisches<br />
Prinzip, das gewisse Eigenschaften: Weisheit, Gerechtigkeit,<br />
Unparteilichkeit besitzt, unabhängig von den Personen,<br />
die an der Regierung sind.<br />
Für diese ist die Regierung, oder besser gesagt der<br />
Staat, die abstrakte gesellschaftliche Macht. Er repräsentiert<br />
die allgemeinen Interessen; er ist der Ausdruck<br />
vom Rechte Aller, der als die Grenze der Rechte eines jeden<br />
Einzelnen aufgefasst wird. Diese Auffassung Uber die<br />
Regierung wird von den Regierenden selbst unterstützt,<br />
für die es wichtig ist, das Prinzip der Herrschaft zu<br />
retten, <strong>und</strong> dasselbe über die Fehler <strong>und</strong> Irrtümer der<br />
einander folgenden Machthaber zu erheben.<br />
Für uns ist die Regierung die Gesamtheit der Re-
- 7 —<br />
gierenden; <strong>und</strong> die Regierenden, Monarchen, Präsidenten,<br />
Minister, Abgeordnete u. s. w. sind diejenigen, die die<br />
Macht haben, Gesetze zu schaffen, um die Beziehungen<br />
der Menschen zu einander zu regeln, <strong>und</strong> die Macht<br />
haben, diese Gesetze vollziehen zu lassen; z. B . : Steuern<br />
auszuwerfen <strong>und</strong> einzutreiben; die Menschen zum Militärdienst<br />
zu zwingen; diejenigen, die gegen die Gesetze<br />
handeln, zu verurteilen <strong>und</strong> zu bestrafen; die privaten<br />
Vereinbarungen zu überwachen <strong>und</strong> gut zu heissen;<br />
einzelne Zweige der Produktion <strong>und</strong> der öffentlichen<br />
Dienstleistungen zu monopolisieren (z. B. Tabak, Salz;<br />
Eisenbahnen, Post <strong>und</strong> Telegraf u. s. w.) oder wenn<br />
sie wollen, die ganze Produktion <strong>und</strong> alle öffentlichen<br />
Dienste zu verstaatlichen, in die Hand zu nehmen; den<br />
Austausch der Produkte (den Handel) zu fördern oder<br />
zu beschränken; mit den Regierungen anderer Länder<br />
Krieg anzufangen oder Frieden zu schliessen; dem Volke<br />
das Wahlrecht zu gewähren oder zu entziehen — <strong>und</strong><br />
dergleichen Dinge mehr. Die Regierenden sind also, mit<br />
einem Wort, diejenigen Menschen, die mehr oder weniger<br />
die Macht haben, die Kräfte der Gesellschaft, d.<br />
h. die körperlichen, geistigen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Kräfte<br />
aller andern Menschen in ihre Dienste zu z w i n g e n .<br />
In dieser Macht besteht das Prinzip der Regierung, das<br />
Prinzip der Herrschaft.<br />
W a s ist der Zweck der Regierung? Warum sollen<br />
wir zu Gunsten einiger Menschen unsere eigene Freiheit,<br />
unsere eigene Initiative aufgeben? Warum müssen wir<br />
ihnen die Möglichkeit geben, sich — mit oder ohne<br />
Willen der übrigen Menschen — der Kraft aller Ande-
- 8 -<br />
ren zu bemächtigen <strong>und</strong> über dieselbe nach eigenem<br />
Gutdünken zu verfügen? Sind sie denn so aussergewöhnlich<br />
begabt, dass sie, mit einigem Rechte, sich an<br />
die Stelle des ganzen Volkes setzen, <strong>und</strong> für die Interessen<br />
der übrigen Menschen besser sorgen könnten?<br />
Sind sie unfehlbar <strong>und</strong> moralisch nicht zu verderben, so<br />
dass man vernünftigerweise das Los eines Jeden ihrer<br />
Güte anvertrauen k a n n ?<br />
Und wenn es auch solche allwissende <strong>und</strong> unendlich<br />
gute Menschen gäbe, wenn auch die Regierung in den<br />
Händen der Fähigsten <strong>und</strong> Besten wäre (eine Annahme,<br />
die die Geschichte nie bestätigt hat <strong>und</strong>, so glauben<br />
wir, nie bestätigen kann) — auch dann würde der<br />
Besitz der Herrschaft ihre wohltätige Macht nicht vermehren.<br />
Im Gegenteil, er würde dieselbe lahmlegen <strong>und</strong><br />
zerstören, denn die Herrschenden wären gezwungen,<br />
sich mit allerlei Sachen zu befassen, die sie nicht verstehen;<br />
<strong>und</strong> den besten Teil ihrer Kraft müssten sie<br />
darauf verschwenden, um sich an der Regierung zu erhalten,<br />
um ihre Fre<strong>und</strong>e zu befriedigen, die Unzufriedenen<br />
im Zaume zu halten <strong>und</strong> die Rebellen zu vernichten.<br />
Übrigens, was sind die Regierungen, seien sie gut<br />
oder schlecht, weise oder unwissend ? W e r stellt sie an<br />
ihren hohen Posten? Drängen sie sich selbst auf durch<br />
das Recht des Krieges, oer Eroberung, der Revolution?<br />
Aber welche Garantie hat dann das Volk, dass sie wirklich<br />
das allgemeine Wohl im Auge h a b e n ? Es ist einfach<br />
die Frage, wer der Stärkere ist; <strong>und</strong> wenn die<br />
Untertanen mit ihrer Regierung nicht zufrieden sind, bleibt<br />
ihnen nichts anderes übrig als sich an die eigene Kraft<br />
zu wenden, um sich vom Joche zu befreien.
an, in dem es kein Privateigentum <strong>und</strong> keine<br />
Schutzgarde des Privateigentums gibt; so<br />
wird er Anarchismus <strong>und</strong> ist deshalb ein natürlicher<br />
Gegner jeder bewaffneten Gewalt<br />
zur Aufrechterhaltung des Privateigentums.<br />
Dies ist aber unseren Socialdemokraten<br />
zu — s o c i a l i s t i s c h gedacht! Und nicht<br />
genug damit, dass schon die herrschenden<br />
Klassen sehr wohl darauf bedacht sind, P o -<br />
lizei, Militär <strong>und</strong> überhaupt die öffentliche<br />
Gewalt im Schutzinteresse des Privateigentums<br />
zu verstärken, müssen sich auch noch<br />
die Herren „Socialisten", die Socialdemokraten<br />
dazu hergeben, die „Interessen des Proletariats"<br />
so zu vertreten, dass sie im Wiener<br />
Gemeinderat vor allem — für die Wiener<br />
Polizei ihr menschlich fühlendes Herz entdecken.<br />
Diese Polizeiseelen brachten durch den<br />
socialdemokratischen Reichsratsabg., <strong>und</strong> G e -<br />
meinderat R e u m a n n folgenden Antrag*) ein:<br />
Die Überbürdung der Sicherheitswache, die<br />
sich durch die gros"se Entwicklung, welche d a s<br />
Veikehrswesen In Wien genommen hat, erklärt,<br />
muss endlich im Interesse der öffentlichen Sicherheit<br />
beseitigt werden. Das Polizeipräsidium ist<br />
daher zu veranlassen, zu prüfen, ob etwa eine<br />
Teilung der Dienstleistung in einen verkehrspolizeilichen<br />
<strong>und</strong> einen solchen Dienst, der ausschliesslich<br />
der Sicherheit der Person <strong>und</strong> d e s<br />
Eigentums gilt, die gegenwärtigen beklagenswerten<br />
Zustände beseitigen könnte. Die Vermehrung<br />
der Wache zur Beschränkung der Dienstzeit<br />
jedes einzelnen Wachorganes ist für die Abwicklung<br />
des Dienstes von der allergrössten Bedeutung<br />
<strong>und</strong> es wird daher auf diesen Umstand<br />
das Polizeipräsidium besonders aufmerksam gemacht.<br />
Der Gemeinderat erkennt aber auch, dass<br />
die Tüchtigkeit der Sicherheitswache vielfach durch<br />
die elenden Lohnverhältnisse beeinträchtigt wird,<br />
<strong>und</strong> er spricht in öffentlicher Sitzung den Wunsch<br />
aus, die Regierung möge endlich die finanziellen<br />
Mittel bewilligen, die eine entsprechende Entlohnung,<br />
welche der Dienstleistung entspricht,<br />
möglich macht. Die Regierung wird schliesslich<br />
an ihre Pflicht erinnert, für die Wachoigane eine<br />
Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsversicherung <strong>und</strong> eine<br />
Witwen- <strong>und</strong> Waisenversorgung einzurichten.<br />
Socialdemokraten — so weit ihr echte<br />
Socialisten seid, die da wissen, was Klassenstaat<br />
<strong>und</strong> Klassenkampf: w i r r u f e n e u c h<br />
z u r S c h a m a u f ! Geschieht es mit eurer<br />
Einwilligung, dass eure „Vertreter" solche,<br />
die Prinzipien des Socialismus mit Füssen<br />
tretende Vorschläge <strong>und</strong> Anträge einbringen,<br />
die eine B e f e s t i g u n g der heutigen Gesellschaftsf<strong>und</strong>amente<br />
<strong>und</strong> eine Vermehrung<br />
der staatlichen Ausgaben für unproduktive<br />
Militärzwecke — <strong>und</strong> damit Steigerung der<br />
hergehenden Teuerung! — bedeuten?<br />
Als Socialisten schämen wir uns, es konstatieren<br />
z u müssen: D e r g e s a m t e W i e -<br />
n e r G e m e i n d e r a t , d i e s e s K o n s o r -<br />
t i u m a l l e r r e a k t i o n ä r e n P a r t e i e n ,<br />
s t i m m t e a k k l a m a t o r i s c h d e m A n -<br />
t r a g e d e s — S o c i a l d e m o k r a t e n R e u -<br />
m a n n b e i . Nicht eine einzige reaktionäre<br />
Stimme fand sich, der der Antrag nicht weit<br />
genug gegangen wäre!<br />
Socialdemokraten, eure Wortführer sind<br />
Verräter an den wahrsten <strong>und</strong> einfachsten<br />
Gr<strong>und</strong>sätzen des Socialismus geworden! Sie<br />
wollen ihre Staatstüchtigkeit, ihre Regierungsfähigkeit<br />
erweisen. Es ist der Parlamentarismus,<br />
der diese Erdrosselung des Socialismus<br />
durch die politischen Ehrgeizlinge <strong>und</strong> D e -<br />
magogen herbeiführt. Wollt ihr dies dulden;<br />
<strong>und</strong> wie lange n o c h ? !<br />
*) Vergl. „Wiener Arbeiterzeitung" vom 14.<br />
Dezember 1907.<br />
Die Revolte des ges<strong>und</strong>en<br />
Menschenverstandes.<br />
Die passive Resistenz an den Privatbahnen<br />
Österreichs hat den Arbeitern, denen<br />
die Disziplin der soc.-demokratischen Partei<br />
noch nicht den ges<strong>und</strong>en Menschenverstand<br />
zu rauben vermochte, gezeigt, welche <strong>Weg</strong>e<br />
es sind, die den Proletarier zum Siege führen.<br />
Diese Aktion lehrte, dass es weder der W e g<br />
der blinden Masse zur Wahlurne noch der<br />
W e g der socialdemokratischen Dringlichkeitsanträge,<br />
die in den Papierkorb des Ministers<br />
wandern, ist, sondern einzig jener <strong>Weg</strong>, den<br />
der Proletarier selbst betritt, den nicht das<br />
Interesse einer politischen Partei hemmt. Es<br />
ist dies ein Pfad der Selbständigkeit auf dem<br />
er seine Kraft im tatsächlichen Klassenkampf<br />
der wirtschaftlichen Aktion zeigt, dieser W e g<br />
wendet sich ab von der Phrase des Parlamentarismus,<br />
sein Name ist: D i r e k t e s e l b -<br />
s t ä n d i g e A k t i o n . * )<br />
Nach beendetem passiven Widerstand<br />
während des jüngsten Kampfes vor einigen<br />
Wochen traten vor etwa 14 Tagen die Denkenden<br />
unter den Eisenbahnern Böhmens<br />
zusammen <strong>und</strong> gründeten eine neue Eisenbahner<br />
Gewerkschaft. Beschlossen wurde,<br />
diese der „Böhmischen Föderation aller G e -<br />
werkschaften" anzuschliessen, die von rein<br />
wirtschaftlichen Prinzipien inspiriert ist. Es<br />
liefen gruppenweise Beitrittsmeldungen von<br />
vielen auswärtigen Stationen, namentlich aus<br />
Königgrätz, Chotzen, B ö h m . - T r ü b a u , ein.<br />
Weiter wurde beschlossen, ein deutsches <strong>und</strong><br />
Cechisches Blatt als Organ der Gewerkschaft<br />
zu gründen, namens „ V o r s i g n a l " <strong>und</strong><br />
„PfedzvSst."<br />
Ein Flugblatt, das die Gewerkschaft<br />
herausgab <strong>und</strong> verbreitete, lautet im Auszug:<br />
„ K o l l e g e n ! — Die „Erfolge" der<br />
passiven Resistenz haben uns zu einem wichtigen<br />
Schritte bewogen, von dem wir Euch<br />
hiemit Nachricht geben. Die Eifersüchteleien<br />
der politischen Parteien, die sich in sämtlichen<br />
unserer böhmischen Gewerkschafsgruppen<br />
spiegeln, hat sich auch in der Zeit der<br />
pass. Resistenz als ein die Arbeiterbewegung<br />
Unheil stiftender Faktor betätigt. Denn diese<br />
Eifersüchteleien zwischen Koalition <strong>und</strong> Kartei<br />
verursachten, dass die Erfolge, die im Verhandeln<br />
erzielt wurden, nicht nur unsere<br />
Hoffnungen getäuscht haben, <strong>und</strong> unsere b e -<br />
rechtigten Erwartungen nicht nur nicht erfüllt<br />
haben, sondern auch, dass sie der Bedeutung<br />
unserer Aktion, <strong>und</strong> der zur Aktion verwendeten<br />
Energie bei weitem nicht entsprachen.<br />
Denn, was uns die Kapitalisten einerseits<br />
gaben, nahmen sie uns anderseits. W a s war<br />
also der Erfolg der „Verhandlungen" für<br />
u n s ? Erbitterung <strong>und</strong> Zwietracht zwischen<br />
den einzelnen Kategorien <strong>und</strong> Lähmung der<br />
ganzen B e w e g u n g !<br />
U n d a l l e s d a s v e r s c h u l d e t e e b e n<br />
d a s R i v a l i s i e r e n d e r p o l i t i s c h e n<br />
P a r t e i e n , d i e K o a l i t i o n u n d K a r t e i<br />
b i l d e t e n . Diese rangen unter einander um<br />
den Ruhm des Sieges <strong>und</strong> ihren Vertretern lag<br />
viel mehr an dem Interesse der Partei, als<br />
dem Interesse <strong>und</strong> wahren Wohl der Arbeiter,<br />
die in den beiden genannten Organisationen<br />
vereint waren. Gewerkschaftsorganisationen,<br />
d i e z u m T a n z b o d e n d e r p o l i t i s c h e n<br />
P a r t e i e n d i e n e n , G e w e r k s c h a f t e n ,<br />
d i e v o n P o l i t i k a n t e n a u f d e n I r r -<br />
w e g e n „ h ö h e r e r " P o l i t i k u m h e r -<br />
g e s c h i e p p t w e r d e n , erweisen sich untauglich,<br />
als Instrument des wirtschaftlichen<br />
Kampfes zu wirken. Diese Überzeugung, so<br />
wie auch der nachdrückliche Wunsch der<br />
auswärtigen Gruppen bewogen uns, die wohlerprobte<br />
Taktik der besten, revolutionären G e -<br />
werkschaftsorganisationen der Welt zu ergreifen,<br />
(der übrigens die pass. Resistenz auch<br />
*) Eine solche führten soeben auch die Postbediensteten<br />
durch; wir werden über diese Aktion<br />
in nächster Nummer berichten.<br />
amgehört) u n d w i r g r ü n d e t e n e i n e<br />
s e l b s t ä n d i g e , v o n a l l e n p o l i t i s c h e n<br />
P a r t e i e n v o l k o m m e n u n a b h ä n g i g e ,<br />
f o l g l i c h a u c h g ä n z l i c h n e u t r a l e<br />
O r g a n i s a t i o n , w i e e s d i e f r a n z ö -<br />
s i s c h e „Confederation du Travail" (C. der<br />
Arbeit) ist.<br />
Wir traten dann der „Böhmischen Föderation<br />
aller Gewerkschaften" (C. F. V. O.)<br />
bei <strong>und</strong> gliederten ihr unsere selbständige<br />
„Eisenbahner Gewerkschaft" an. Die C. F.<br />
V. O. obzwar sie erst vor wenigen Jahren g e -<br />
gründet wurde, <strong>und</strong> der öfentlichkeit noch<br />
wenig bekannt ist, hat dennoch bereits T a u -<br />
sende von Mitglieder, namentlich unter den<br />
Bergarbeitern <strong>und</strong> Webern. Sie bewies dank<br />
der modernen Taktik <strong>und</strong> politischen Parteilosigkeit,<br />
dass sie im Stande, das Proletariat<br />
Böhmens aus dem verhängnissvollen Labyrinth<br />
des politischen Rivalisierens herauszuführen,<br />
<strong>und</strong> den Boden zu bilden, auf dem sich die<br />
gesammte Arbeiterschaft, trotz verschiedener<br />
Weltanschauung, in wirtschaftlichen Fragen<br />
einigen kann; im Kampfe um gemeinschaftliche<br />
<strong>und</strong> einträchtige <strong>und</strong> nur wirtschaftliche<br />
Interessen.<br />
Die Organisationsprinzipien der „Eisenbahnergewerkschaft"<br />
auferlegen einem jedem<br />
Mitglied die Pflicht, sich aktiv zu betätigen,<br />
so dass es nicht genügt, bloss Beiträge zu<br />
zahlen, Funktionären alles zu überlassen, die<br />
ohne unser Wissen über unser Geschick verfügen.<br />
Die „E.-G." steht auf dem Gr<strong>und</strong>satz,<br />
dass jedes Unterhandeln mit den Arbeitsgebern<br />
direkt von den Arbeitern ausgehen muss,<br />
ohne jegliche Vermittlung <strong>und</strong> zwar so, dass<br />
jeder Kategorie, auf Gr<strong>und</strong> eigener Forderungen,<br />
nicht aber nach Belieben der Vermittler,<br />
vollkommen Genüge geleistet werde.<br />
*<br />
Wir stellen Forderungen, damit sie erfüllt<br />
werden; <strong>und</strong> sie werden erfüllt werden,<br />
wenn wir genug Kraft haben, den Arbeitsgebern<br />
zu zeigen, dass ein schlecht bezahlter<br />
Arbeiter keine oder nur schlechte Arbeit<br />
leisten kann. Haben wir die dazu nötige<br />
Kraft? Wir bewiesen es zur Genüge als durch<br />
die gesetzlichen Vorschriften der Verkehr <strong>und</strong><br />
alles, was von diesem abhängt, sich zur<br />
Katastrophe zu entwickeln drohte. . . .<br />
In unserem oben erwähnten Organ<br />
werden unsere Prinzipien <strong>und</strong> unsere Taktik<br />
ausführlich behandelt werden. Bis dahin<br />
bemerken wir nur, dass die „E. G." anstatt<br />
Sectionen selbständige Gruppen mit beliebiger<br />
Mitgliederzahl in den verschiedenen Stationen<br />
bilden wird. Zur Bildung einer solchen Gruppe<br />
genügt die blosse Anmeldung der Mitglieder<br />
<strong>und</strong> die Bestimmung des Ausschusses, der<br />
in steter Verbindung mit dem Zentralkomitee<br />
sein wird. Rechtlichen Schutz bietet die C.<br />
F. V. O. für den geringen Monatsbeitrag von<br />
10 Hellern, ein weiterer Teil der Beiträge<br />
wird auf die Kosten der Gewerkschaftspresse<br />
verwendet werden, <strong>und</strong> der Rest bleibt in<br />
den Ortsgruppen bis auf weitere Bestimmung<br />
der ersten Plenarversammlung der „E.-G.",<br />
die den Betrag, der an das Zentralkomitee<br />
abzugeben ist, bestimmen wird.<br />
Der Beitrag des einzelnen Mitgliedes<br />
wurde also auf 40 Heller monatlich bestimmt,<br />
von dem alle Auslagen bestritten werden<br />
können.<br />
Beitretende mögen die Anmeldung an die<br />
folgende Adresse senden Heinrich Karpišek,<br />
Prag - Žižkov Stitnehogasse 5 9 1 ; Blankette<br />
hiezu werden auf Wunsch geliefert. Auch ein<br />
Redner wird überall, wohin er verlangt wird,<br />
gesandt, damit unser Programm, unsere Taktik<br />
<strong>und</strong> Organisation ausführlich erörtert werden<br />
können.
Wohlan Kameraden! Wir sind parteilos;<br />
unsere Organisationen besitzen Autonomie.<br />
Und fordert man uns zum Kampfe heraus,<br />
dann — die Vorschriften genau erfüllen,<br />
gerade dadurch den Sieg erringen!<br />
(Übersetzt aus unserem böhmischen<br />
Bruderblatt „Komuna", Prag-Žižkov<br />
von F.)<br />
Anarchismus.<br />
(Wir entnehmen diese kurze, philosophisch programmatisch<br />
scharf gegliederte Darstellung unserer Weltanschauung<br />
im Auszuge unserem italienischen Bruderorgane<br />
„ V i r " ) .<br />
Der Anarchismus ist die Verneinung jeder<br />
dogmatisch vorherbestimmten oder zwangsweise<br />
aufrechterhaltenen Gesellschaftsform;<br />
er verneint jede dogmatisch absolute Idee:<br />
also wie Vaterland, Staat, Religion, Moral,<br />
Eigentum, Justiz.<br />
Der Anarchist verwirft somit jeden künstlichen,<br />
von aussen oder oben forcierten Aufbau<br />
der zukünftigen Gesellschaftsform; er<br />
vertritt die Anschauung, dass dieselbe aus<br />
dem individuellen <strong>und</strong> socialen Element der<br />
menschlichen Natur ganz von selbst, natürlich<br />
erstehen wird im Zustand der Freiheit.<br />
Der Anarchismus bildet keine dogmatische<br />
Lehre; er ist eine philosophische T e n -<br />
denz <strong>und</strong> Geistesrichtung.<br />
In der Philosophie nennt er den neuheidnischen<br />
Geistesaufschwung sein eigen.<br />
In der Kunst ist er die Behauptung der<br />
Genialität <strong>und</strong> jeder individuellen Geisteskraft ;<br />
er ist die Verherrlichung der Schönheit auf<br />
allen Gebieten des Lebens.<br />
In der Politik ist der Anarchismus die<br />
Erhebung des Einzelnen <strong>und</strong> der unterdrückten<br />
Klasse gegen den mittelalterlich kirchlich-feudalen,<br />
aristokratischen oder modern demokratischen<br />
Zwang.<br />
Auf socialem Gebiet ist der Anarchismus<br />
der Vertreter des freien <strong>und</strong> befreiten Arbeiters,<br />
des industriellen Kollektivismus <strong>und</strong> agrarischen<br />
Kommunismus.<br />
In der Moral ist er das harmonische<br />
Zusammenströmen des ges<strong>und</strong>en Solidarismus<br />
(Krapotkin) <strong>und</strong> des ernsten Individualismus<br />
(Stirner).<br />
Der Anarchismus verachtet jeden Kompromis,<br />
jede Halbheit. Wohl weiss er aber,<br />
das Extreme zu würdigen. Deshalb stellt er<br />
dem S t a a t s s o c i a l i s m u s — d. h. der Übertreibung<br />
des Gesellschaftlichen zum Nachteil<br />
der Freiheit des Einzelmenschen — den Individualismus<br />
e n t g e g e n , ist aber sonst<br />
nichts als der Individualismus innerhalb des<br />
staatslosen Socialismus.<br />
Der Anarchismus ist Anhänger der Evolutionstheorie.<br />
Er erkennt die sociale Entwicklung<br />
an. Doch ist ihm die sociale Revolution<br />
die notwendige Folge jeder Evolution,<br />
wie diese erst wieder die Folge der Revolution<br />
ist.<br />
Der Anarchismus ist eine gesellschaftliche,<br />
er ist eine Sitten- <strong>und</strong> Charakterreform.<br />
Er verteidigt die Errungenschaften der W i s -<br />
senschaften <strong>und</strong> Künste gegen jene schwarze<br />
Reaktion, die die moderne Kultur verleugnet,<br />
das Zeitalter der Industrie <strong>und</strong> Technik zerstören<br />
<strong>und</strong> uns wieder in die Periode einstmaliger<br />
Geistesnacht zurückschleudern möchte.<br />
Der Anarchismus ist die Bekräftigung<br />
individueller Willenskraft <strong>und</strong> socialer Kultur<br />
gegen diejenigen Fanatiker des öden Glaubens,<br />
die sich gegen den Geist <strong>und</strong> dessen<br />
freie Forschung kehren.<br />
Der Anarchismus leugnet jede übersinnliche<br />
Offenbarung der Moral, Pflicht usw.<br />
Er predigt k e i n e irdische Aufopferung zu<br />
Gunsten eines jenseitigen Glückes. Sein W e -<br />
sensinhalt ist die Erziehung zum edlen Verständnis<br />
für das Vergnügen der Geselligkeit.<br />
Der Anarchismus wendet sich vorzugsweise<br />
an den Verstand, die intellektuelle Persönlichkeit<br />
<strong>und</strong> Selbständigkeit des Menschen.<br />
Der Unwissende wird sich nie befreien, die<br />
Unwissenden werden ewig unterdrückt sein.<br />
Jeder trachte nach Wissen.<br />
Und in all dem, im Vollbesitze all dieser<br />
Wesensbestandteile ist er die Erhebung des<br />
Geistes <strong>und</strong> der Persönlichkeit des Menschen<br />
zum Leben, zur Schönheit <strong>und</strong> Freiheit!<br />
Oberdan Gigli.<br />
Der staatliche Kollektivismus<br />
<strong>und</strong> die Freiheit.<br />
Von M a u r i c e B o u r g u i n .<br />
(Auszug aus dem Werke des Verfassers, Professor<br />
der Nationalökonomie an der Universität von Paris,<br />
über „ D i e s o c i a l i s t i s c h e n S y s t e m e u n d<br />
d i e w i r t s c h a f t l i c h e E n t w i c k l u n g . " Ins<br />
Deutsche übertragen von Dr. Louis Katzenstein.<br />
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, 1906<br />
Der radikale Kollektivismus (der Socialdemokratie),<br />
der die Produktion s t a a t l i c h<br />
regelt, <strong>und</strong> die Werte nach der Dauer durchschnittlicher<br />
Arbeitsintensität festsetzt, verleiht<br />
dem Staat eine ungeheuere Gewalt, welche<br />
alle Gebiete der individuellen Tätigkeit umfasst.<br />
Er stellt der Verwaltung, die aus zahllosen,<br />
durch öffentliche Mittel erhaltenen Organen<br />
zusammengesetzt ist, eine übermenschliche<br />
Aufgabe, die ihr eine erdrückende<br />
Verantwortlichkeit auferlegt.<br />
Er betraut sie mit allen wirtschaftlichen<br />
Verrichtungen der Nation, mit dem g e -<br />
samten Betriebe der Produktion, des Verkehrswesens,<br />
der Lagerung <strong>und</strong> der Verteilung,<br />
mit der Vermietung der Wohnung,<br />
wie mit dem Vertrieb der Lebensmittel <strong>und</strong><br />
anderer Gegenstände. Er gibt ihr die ausschliessliche<br />
Befugnis, die Dienstleistung <strong>und</strong><br />
die Güter auf Gr<strong>und</strong> unentwirrbarer Berechnungen<br />
socialer Durchschnitte zu bewerten<br />
<strong>und</strong> erwartet von ihr eine überaus verwickelte<br />
Rechnungsführung, in welcher jeder Fehler<br />
die nationale Existenz in Frage stellen kann.<br />
Die Staatsgewalt, welche die Verantwortung<br />
für jeden Fall der Arbeitslosigkeit trägt, muss<br />
jedem einzelnen eine seinen Fähigkeiten entsprechende<br />
Beschäftigung besorgen. Der Staat<br />
trägt als alleiniger Arbeitgeber von Millionen<br />
Arbeitern die ganze Last der verkehrten <strong>und</strong><br />
der ungerechten Handlungen, welche in der<br />
Verteilung der Aufgaben, in der Berechnung<br />
der Tarife <strong>und</strong> in der Zuweisung der Güter<br />
begangen werden. Die wirtschaftliche Verwaltung,<br />
welche über die Bürger, zugleich in<br />
ihrer Eigenschaft als Konsumenten <strong>und</strong> als<br />
Produzenten, verfügt, schwebt beständig in der<br />
Gefahr, unter der Wucht der auf ihr ruhenden<br />
Verantwortlichkeit zusammenzubrechen.<br />
Für die Entwicklung der Produktivkräfte<br />
<strong>und</strong> den wirtschaftlichen Fortschritt gibt es<br />
keine andere Bürgschaft als den Eifer der<br />
erwählten Beamten <strong>und</strong> die selbstlose Hingabe<br />
der Arbeiter. In Ermanglung jedes persönlichen<br />
Vorteils der Produzenten muss man<br />
bei ihnen ein ausgeprägtes Pflichtgefühl voraussetzen,<br />
um sie zur Annahme neuer M a -<br />
schinen <strong>und</strong> verbesserter Methoden selbst<br />
dann zu veranlassen, wenn diese Neuerungen<br />
sie aus den von ihnen erworbenen <strong>und</strong> liebgewonnenen<br />
Gewohnheiten <strong>und</strong> Stellungen<br />
vertreiben. Die Verminderung der Unkosten,<br />
die sparsame Behandlung der Rohstoffe <strong>und</strong><br />
die Erhaltung der Arbeitsmittel hängen von<br />
dem Zwange ab, den die einen auf ihre<br />
Untergebenen <strong>und</strong> die andern auf sich selbst<br />
auszuüben bereit sind. In Betreff der Siche-<br />
rung der Amortisierung des Produktivkapitals<br />
<strong>und</strong> seiner Erweiterung mittels Abgaben, die<br />
von der Vergütung, welche für die einzelnen<br />
Arbeiten gewährt wird, vorher abgezogen<br />
werden, muss man sich auf die unerschütterliche<br />
Festigkeit der erwählten Behörden verlassen.<br />
—<br />
Will man mit J a u r è s die kollektivistische<br />
Organisation dezentralisieren, indem<br />
man den Berufsgenossenschaften eine relative<br />
Autonomie gestattet <strong>und</strong> indem man ihnen<br />
mit einem gewissen Vorbehalt das Eigentum<br />
an ihren Werkzeugen lässt; will man mit ihm<br />
den energielosen Organen der kollektivistischen<br />
Produktion dadurch Leben <strong>und</strong> Initiative<br />
einflössen, dass man als Werteinheit die<br />
St<strong>und</strong>e durchschnittlicher Arbeitsproduktivität<br />
annimmt, um dadurch der aussergewöhnlichen<br />
Arbeitsproduktivität, die sich aus der Anwendung<br />
vervollkommneter Werkzeugen ergibt,<br />
eine Prämie zu verschaffen; so scheitert man<br />
an einer zweifachen Klippe: einmal an der<br />
ausserordentlich verwickelten Berechnung der<br />
Durchschnitte, die für jeden einzelnen Betrieb<br />
gemäss der Produktivität der Naturfaktoren<br />
angestellt werden muss <strong>und</strong> ein anderes Mal<br />
an dem Fehlen eines automatischen Regulators<br />
der Produktion, an der unvermeidlichen<br />
Fesselung <strong>und</strong> Erdrückung der genossenschaftlichen<br />
Betriebe durch die Willkür der Anordnungen,<br />
die von der Zentralgewalt ausgehen.<br />
Der staatliche Kollektivismus aber versagt<br />
besonders dann, wenn es sich um die Sicherung<br />
des wirtschaftlichen Gleichgewichts handelt.<br />
Die Lebenskraft des socialen Körpers, die<br />
sich in der Anpassung der Produktion an die<br />
Bedürfnisse betätigt, verwandelt sich in eine<br />
Funktion der staatlichen Verwaltung. Die<br />
öffentliche Gewalt wird beauftragt, die Organisation<br />
der Nachrichten zu zentralisieren, die<br />
Nachfrage vorher zu bestimmen <strong>und</strong> dementsprechend<br />
den Umfang der Produktionsmittel<br />
vorzuschreiben; zu ermitteln, welche Waren<br />
im Auslande gekauft <strong>und</strong> welche zum Zweck<br />
der Ausfuhr hervorgebracht werden sollen.<br />
Auf ihr ruht die Aufgabe, die ganze Bewegung<br />
der Güter zu regeln <strong>und</strong> die Art <strong>und</strong><br />
Menge derjenigen vorzuschreiben, welche die<br />
gesuchtesten Luxusbedürfnisse befriedigen<br />
sollen, ohne dass sich dabei ein Mangel oder<br />
ein Ueberschuss herausstellt. Es müssen Beamte<br />
vorhanden sein, die sich dem veränderlichen<br />
Geschmack <strong>und</strong> den Launen der Bevölkerung<br />
fügen, die sich ohne Rücksicht auf<br />
die Erschwerung ihres Dienstes unaufhörlich<br />
bemühen, den leisesten Wünschen der Konsumenten<br />
in derselben Weise entgegenzukommen<br />
wie die Produzenten <strong>und</strong> die Geschäftsleute<br />
der individualistischen Gesellschaft.<br />
In dem Betriebe, der für die Beschaffung<br />
der Lebensmittel sorgt, darf kein Irrtum,<br />
kein Fehler <strong>und</strong> kein Uebersehen vorkommen.<br />
Die Existenz eines ganzen Volkes hängt von<br />
der wachsamen Fürsorge einer alles umfassenden<br />
Regierung ab.<br />
Und nicht einmal in einer rein theoretischen<br />
Weise vermag solcher Kollektivismus<br />
das Gleichgewicht zu sichern. Er verfügt über<br />
kein Mittel, die überschüssigen Güter, die<br />
unmodern oder beschädigt worden sind, a b -<br />
zusetzen. Sie häufen sich in den Magazinen<br />
an, ohne einen Abnehmer zum Kostenpreise<br />
zu finden. Es gelingt ihm auch nicht, die<br />
Zuweisung derjenigen Gegenstände in befriedigender<br />
Weise zu regeln, die in unzureichender<br />
Menge vorhanden sind. Auch für die<br />
Verteilung der Arbeiter auf die einzelnem<br />
Beschäftigungen sind feste Principien nicht<br />
vorhanden. In Ermangelung des spontanen<br />
Gleichgewichts muss der Staat Gewalt anwenden,<br />
um die Arbeiter den weniger begehrten<br />
Gewerben zuzuführen.<br />
Verantwortlicher R e d a k t e u r Jos. Sindelar ( W i e n ) . — H e r a u s g e b e r Jul. E h i n g e r (Wien). — Erste Genossenschafts-Buchruckerei in Budweis.
Wien, 2 6 . J ä n n e r 1 9 0 8 . Einzelexemplar 10 h. J a h r g . I. — N r . 3.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden I. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition XII. Fockygasse 27. II./17.<br />
Wien. Gelder sind zu senden an W.<br />
Kubesch, IV. Schönburgstrasse, 5. III. 27<br />
Wien.<br />
Ideale Pressfreiheit.<br />
Beschlagnahmeverfügung.<br />
Die k. k. Staatsanwaltschaft verfügt gemäss<br />
§ 487 St.-P.-O. die Beschlagnahme der periodischen<br />
Druckschrift „Wohlstand für Alle" Nr. 2, vom 9.<br />
Jänner 1908, wegen nachstehender Stellen:<br />
1. „Wir sind Socialisten" bis einschliesslich „zu<br />
verstärken*.<br />
2. Artikel „Anarchismus" in seiner Gänze, beginnend<br />
mit „Der Anarchismus" bis einschliesslich<br />
„<strong>und</strong> Freiheit".<br />
3. Die Überschrift „Internationale" beginnend <strong>und</strong><br />
einschliesslich „Anarchismus".<br />
4. „in welchem die Nutzlosigkeit" bis einschliesslich<br />
„<strong>und</strong> bleiben werden".<br />
5. Von „Darin sehe ich" bis einschliesslich „hinausjagt".<br />
6. Von „Wir Anarchisten" bis einschliesslich „zuzuführen!"<br />
7. Von „Wodurch Ihr im Menschen" bis einschliesslich<br />
„Aktion zuzuführen".<br />
8. Beilage „Broschürenverlag des Wohlstand für<br />
Alle" Nr. 1, in den Stellen: a) „Ändert die<br />
Anarchisten" bis „Solidarität"; b) „Aufhebung<br />
des" bis „Bedürfnisse"; c) von „Darum glauben"<br />
bis „die Regierung" <strong>und</strong> d) von „Es ist einfach"<br />
bis einschliesslich „zu befreien".<br />
Diese Mitteilung macht die Verfolgung wegen<br />
anderer nicht bekannt gegebener Gründe nicht unzulässig.<br />
(§ 5, Ges. v. 9. Juli 1894, Nr. 161 R.-G.-Bl.)<br />
K. k. S t a a t s a n w a l t s c h a f t Wien,<br />
am 13. Jänner 1908.<br />
Unterschrift unleserlich.<br />
* *<br />
*<br />
Ihr w a c k e r e n G ö n n e r d e s freien G e d a n -<br />
k e n s — S t a a t s a n w a l t s c h a f t u n d Z e n s u r b e -<br />
h ö r d e — wir g r ü s s e n E u c h !<br />
W i e a u s o b i g e n V e r f ü g u n g e n deutlich<br />
hervorleuchtet, fürchtet Ihr z w e i G e d a n k e n -<br />
signale d e s k ä m p f e n d e n , r e v o l u t i o n ä r e n P r o -<br />
letariats a m m e i s t e n : D a s s t r a h l e n d e L i c h t<br />
d e r W e l t a n s c h a u u n g d e s A n a r c h i s m u s , a l s o<br />
die V e r n e i n u n g E u r e r W e s e n s g e w a l t e n u n d<br />
d a s Abschweifen d e s P r o l e t a r i a t s v o m W e g e<br />
d e s p r a k t i s c h l ä h m e n d e n , g e i s t i g z w e c k l o s e n<br />
P a r l a m e n t a r i s m u s .<br />
W i r w e r d e n d e n K a m p f w e i t e r fortsetzen<br />
— trotz a l l e d e m , geleitet v o n d e r<br />
Klarheit u n s e r e s idealen Z i e l e s , erfüllt v o n d e n<br />
hehren A u f g a b e n d e s S o c i a l i s m u s u n d A n a r -<br />
c h i s m u s .<br />
A n u n s e r e K a m e r a d e n richten w i r a b e r<br />
a u c h die Aufforderung, u n s b e i z u s t e h e n in<br />
u n s e r e m R i n g e n mit d e n M ä c h t e n d e r A u t o -<br />
rität <strong>und</strong> G e i s t e s u n t e r d r ü c k u n g . F r e u n d e u n d<br />
L e s e r ! Verbreitet u n s e r Blatt, w e r b e t n e u e<br />
A b o n n e n t e n , s e n d e t Geldmittel als A b r e c h n u n g<br />
für g e s a n d t e Blätter u n d a l s B e i t r ä g e zu<br />
u n s e r e m P r e s s f o n d .<br />
D i e g e s a m t e Auflage d e r Nr. 2 d e s „ W .<br />
f. A . " w u r d e e x p e d i e r t , e h e die H ä s c h e r<br />
ihrer habhaft w e r d e n k o n n t e n .<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse seil st erobert werden muss; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Kl issenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen i s t . . . "<br />
Genossen! Erweist Euch als Anarchisten,<br />
als Kämpfer für Freiheit, ökonomische Gleichheit,<br />
Brüderlichkeit!<br />
Mit Solidarität<br />
Redaktion <strong>und</strong> Verlag des „ W. f. A.'<br />
Reform <strong>und</strong> direkte Aktion.<br />
„Arbeiterschutz <strong>und</strong> Arbeiterversicherung<br />
ergaben sich somit als wirtschaftliche<br />
Notwendigkeiten d e r k a p i -<br />
t a l i s t i s c h e n Gesellschaftsordnung<br />
als ein Bedürfnis des Kapitalismus<br />
selbt . . ."<br />
„Das ist der Gr<strong>und</strong>, warum wir als<br />
die a l l e r e r s t e <strong>und</strong> a l l e r w i c h -<br />
tigste Aufgabe des österreichischen<br />
Abgeordnetenhauses im Jahre 1908 die<br />
Durchsetzung <strong>und</strong> das Inkrafttreten der<br />
I n v a l i d i t ä t s v e r s i c h e r u n g hinstellen<br />
müssen".<br />
(Aus „Die Aufgaben des Jahres" in der „Arbeiterzeitung",<br />
1. Jänner 1908).<br />
Ein Haus ist baufällig geworden; die<br />
Mauern <strong>und</strong> Wände sind geborsten, der Giebel<br />
gebrochen. Türen <strong>und</strong> Stiegen morsch<br />
<strong>und</strong> gebrechlich <strong>und</strong> bis in das F<strong>und</strong>ament<br />
hinein frisst der Schaden weiter, so dass man<br />
die Gefahr des Einsturzes in immer unmittelbarerer<br />
Nähe gerückt sieht. W a s ist da zu tun,<br />
was ist am logischesten zu t u n ? Gewiss das<br />
eine: die Hausbewohner müssen zusammentreten<br />
<strong>und</strong> diejenigen von ihnen, die im<br />
Schweisse ihres Angesichtes als Bauarbeiter,<br />
Maurer usw. arbeiten, werden Stück auf Stück<br />
des Hauses durch neue, bessere Teile ersetzen.<br />
Das Alte wird hinweg geschafft, a b -<br />
getragen, <strong>und</strong> bald steht ein neues, starkes<br />
Gebäude vor uns, ein Zeuge der Kraft sachverständiger,<br />
menschlicher Arbeit, ein Produkt<br />
des einigen Willens der werktätigen Produzenten.<br />
Doch bevor es so kam, bevor sie das<br />
Vernünftigste selbst tun <strong>und</strong> anwenden konnten,<br />
hatten sie sich erst der falschen Ratgeber<br />
zu erwehren gehabt. Da kamen einige<br />
Gesellen, die nicht in dem Hause wohnten;<br />
Politiker nannten sie sich, sprachen ein Langes<br />
<strong>und</strong> Breites über die Baufälligkeit des<br />
Hauses, dass es auch wirklich baufällig wäre<br />
<strong>und</strong> kamen endlich zu der löblichen Erkenntnis,<br />
dass es nicht angehe, die alten Teile des<br />
Hauses abzutragen <strong>und</strong> durch neue zu ersetzen.<br />
Nein, etwas anderes müsste geschehen.<br />
Und diese Philosophen über den Stein der<br />
Weisen d e k r e t i e r t e n — da sie selbst<br />
nicht a r b e i t e n konnten, wollten sie immer<br />
dekretieren, darin allein bestand ihre Stärke!<br />
— dass man nichts einreissen dürfe, sondern<br />
nur Pfeiler <strong>und</strong> Pfosten anbringen müsse. Dies<br />
genüge, dann würde das Haus nicht mehr<br />
einstürzen. Nur nichts einreissen, nur flicken,<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2.40;<br />
halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
ausbessern <strong>und</strong> pfuschen. Das nannten sie<br />
dann Reform — <strong>und</strong> befahlen den anderen,<br />
es zu machen . . .<br />
Es gibt eine Reform, <strong>und</strong> es gibt eine<br />
„Reform". Wir sehen sie beide im täglichen<br />
Leben, <strong>und</strong> sie bauen sich auf auf falschen<br />
oder richtigen Vorstellungen von den Zukunftsaufgaben<br />
der Gesellschaft <strong>und</strong> der Richtungslinie<br />
ihres Werdens. Sowohl der Kapitalismus<br />
wie auch der Socialismus benützen die Reform<br />
als ein Mittel, als eine Methode ihrer<br />
Existenzbetätigung. Aber beide hegen verschiedene<br />
Absichten, verschiedene <strong>Ziel</strong>e in<br />
ihrer reformistischen Betätigung.<br />
Die kapitalistische Reformmethode ist<br />
konservativ. Sie entsteht, wenn die Wirkungen<br />
des Kapitalismus auf socialem, wie auf<br />
ökonomischem Felde mit solch erschreckend<br />
verheerender Wucht auftreten, dass sie die<br />
Quelle des kapitalistischen Profits, die unverwüstete,<br />
kräftige Arbeitsfähigkeit des Proletariers<br />
<strong>und</strong> des Volkes im allgemeinen vollständig<br />
zu brechen <strong>und</strong> zu vernichten drohen.<br />
Die Ausbeutung des Kapitals muss dann eine<br />
andere Richtung annehmen, die die nun<br />
krankhaft gewordene Stelle wenigstens zeitweise<br />
unberührt belässt, bis sie wieder einen<br />
gewissen Grad der Genesung erlangt hat.<br />
Darin <strong>und</strong> in nichts anderem besteht das<br />
Wesen der kapitalistischen Reform, die rein<br />
äusserliche Verbesserungen ganz oberflächlich<br />
mittels ihres Gesetzgebungsapparates dekretiert,<br />
eine Reform, die den Mechanismus der<br />
Ausbeutung n i c h t berührt, den Druck nur<br />
auf eine andere Stelle verlegt <strong>und</strong> für diese<br />
Druckverlegung niemand anderen als wieder<br />
das ausgebeutete Proletariat bezahlen lässt.<br />
Auch der Socialismus benützt die Reform,<br />
auch ihm ist sie e i n e seiner Betätigungsmethoden.<br />
Doch überall, wo der Socialismus<br />
eine socialistische Reform durchführt, ist er<br />
revolutionär. Nur w e n n - d i e Reform revolutionär,<br />
ist sie socialistisch; nur wenn sie s o -<br />
cialistisch, kann sie revolutionär sein. Denn<br />
in letzterem Sinne, kehrt sie sich dann stets<br />
wider z w e i Gr<strong>und</strong>pfeiler des Bestehenden:<br />
sie wirkt einschränkend auf den Ausbeutungsgrad<br />
des Kapitalisten, <strong>und</strong> sie wirkt beeinträchtigend<br />
auf die diktatorische Verfügungsautorität<br />
des Staales über das Volk. Für den<br />
Socialismus ist somit jede Reform, die s o -<br />
cialistisch <strong>und</strong> auf diese Weise durchgeführt<br />
wird, eine revolutionäre Tat, indem sie das<br />
Schwergewicht des historischen Geschehens<br />
aus den Händen der Herrschenden nimmt, den<br />
Funktionären der bestehenden Institutionen —<br />
Gesetzgebung, Staatsmacht etc., — e n t z i e h t<br />
<strong>und</strong> es in den Bereich des Volkes dadurch<br />
verlegt, dass dieses durch selbständige Aktionen<br />
in verbesserndem, das Lebensniveau
tatsächlich erhebendem Sinne neue sociale<br />
Verhältnisse schafft, die ihren Abschluss im<br />
Socialismus finden werden. In dieser Aktion<br />
<strong>und</strong> Methode ist die Gesamttheorie des S o -<br />
cialismus über Evolution (Entwicklung) <strong>und</strong><br />
Revolution enthalten; die revolutionären Teilvorstösse<br />
der Evolution ergeben die universale<br />
sociale Revolution, d. h. die vollständige<br />
Umwandlung des Gesellschaftsganzen im<br />
Sinne des Neuen, für uns des kommunistischen<br />
Anarchismus: — Socialismus <strong>und</strong> Freiheit.<br />
Noch heute gibt es Menschen — die<br />
Politiker aller Schattierungen —, die den Massen<br />
das Lügenmärchen vorgaukeln, die Anarchisten<br />
seien Gegner aller <strong>und</strong> jeder Reformen. Dies<br />
ist eine Lüge. Die Anarchisten sind Gegner<br />
aller S c h e i n r e f o r m e n , <strong>und</strong> sie bekämpfen<br />
die Socialdemokraten vornehmlich deshalb,<br />
weil diese Partei sich an dem Gauklerspiel<br />
der Bourgeoisparteien beteiligt <strong>und</strong> in Gemeinschaft<br />
mit diesen, im Schmieden an<br />
Scheinreformen, ihr socialistisches Endziel<br />
vollständig preisgegeben hat, wie es mit jeder<br />
revolutionären Partei, die sich dem Parlamentarismus<br />
ergibt, stets der Fall sein m u s s .<br />
Wir Anarchisten sind nicht Gegner aller Reformen;<br />
im Gegenteil, es gibt keine sociale<br />
Bewegung, die auf den Gebieten der Socialökonomie,<br />
des gewerblichen Lebens, des<br />
Konsums, der Gewerkschafts- <strong>und</strong> Genossenschaftsbewegung,<br />
der Erziehung, der geistigen<br />
Aufklärung, der direkten, reformistischen Auflehnung<br />
auf allen Gebieten der Moral, Tradition,<br />
Sitte <strong>und</strong> des religiösen Zwangsglaubens<br />
so r e f o r m i s t i s c h <strong>und</strong> klarsehend ist,<br />
in die Verhältnisse eingreifend <strong>und</strong> das individuelle<br />
Leben umwälzend <strong>und</strong> umformend<br />
wirkt, wie es jene der Anarchisten tut.<br />
Aber überall, wo sie auftreten, als Reformatoren<br />
sich betätigen, sind sie a n t i -<br />
s t a a t l i c h , a n t i k a p i t a l i s t i s c h <strong>und</strong> a n t i -<br />
r e l i g i ö s , die Religion als kirchliche Formel<strong>und</strong><br />
Dogmenlehre aufgefasst. Und die Reform<br />
des Anarchismus ist eine solche, dass sie das<br />
Selbsttätigkeitsfeld des Volkes erweitert <strong>und</strong><br />
dieses allein alles das tun, aus eigener Initiative<br />
heraus ausführen lässt, was die G e -<br />
setzgeber nur zum Schein befehlen. Nur der<br />
Anarchismus, also die direkte Einsetzung der<br />
Einzelpersönlichkeit oder der als Gruppe verb<strong>und</strong>enen<br />
Individuen, die von diesen aus<br />
eigener Kraft durchgesetzte Machtäusserung<br />
im socialen Leben — nur solche revolutionäre<br />
Wirksamkeit ist es, die das Proletariat<br />
dem Endziel des Socialismus näher bringt.<br />
Wohlgemerkt: nicht ein Gesetz ist es, was<br />
dies zu leisten vermag. Ein Gesetz ist stets<br />
eine Befestigung des bestehenden Zustandes;<br />
die Eroberung des Socialismus <strong>und</strong> der Freiheit<br />
kann, um das Wort des Kulturhistorikers<br />
Buckle anzuwenden, nur geschehen, indem<br />
man die Gesetze aufhebt <strong>und</strong> das Beste, w a s<br />
die Gesetzgeber leisten könnten, wäre, wenn<br />
sie die erlassenen Gesetze widerriefen, der<br />
sociale Zustand der ökonomischen Gleichheit<br />
<strong>und</strong> Freiheit dadurch etabliert würde.<br />
Nach einer Periode vollständigen, parlamentarischen<br />
Bankerotts, den die österreichische<br />
Socialdemokratie in der ersten Session<br />
des neuen Reichsrates erlitten — denn die<br />
Verringerung der Zuckersteuer, die ausgerechnetermassen<br />
im Jahre etwa vier (4) Kronen<br />
für eine fünfköpfige Arbeiterfamilie, Millionen<br />
von Profiten in den Taschen der<br />
Zuckerbarone bedeutet, kann nur ein kleinbürgerlicher<br />
„Reformer", kein Socialist eine<br />
Reform n e n n e n ; dies ist nur eine der vielen<br />
„Reformen" —, will die Socialdemokratie nun<br />
im Jahre 1908 die I n v a l i d i t ä t s v e r s i c h e -<br />
r u n g durchführen, ganz ungeachtet der Tatsache,<br />
dass das, was die deutschländischen<br />
Arbeiter staatlich in dieser Richtung besitzen<br />
<strong>und</strong> im Gegenwartsstaat erreichbar ist, ein<br />
wahrer Hohn auf das Proletarierelend ist, das<br />
einen Proletarier durchschnittlich höchstens<br />
40 aber nicht 70 Jahre alt werden lässt, im<br />
Unglücksfalle ihn sehr oft um das, was er<br />
selbst bezahlen musste, betrügt. Nun glaube<br />
man aber nicht, dass wir Anarchisten uns<br />
etwa der Erkenntnis der Notwendigkeit verschliessen,<br />
dass der Arbeiter auch schon innerhalb<br />
der Gegenwartsgesellschaft mit ihrer<br />
schmachvollen Ungerechtigkeit es durchsetzen<br />
soll, im Unglücksfalle sich wenigstens relativ<br />
versorgt, bei respektiver höherer Altersstufe<br />
mit resultierender Arbeitslosigkeit sich w e -<br />
nigstens vor dem ärgsten Elend geschützt zu<br />
wissen. Wir treten nur deshalb der Socialdemokratie<br />
entgegen, weil hier wieder etwas<br />
geschaffen werden soll, was seinen Zweck<br />
gar nicht erfüllen wird, wodurch nur der<br />
Staat die Möglichkeit gewinnt, sich noch<br />
besser über dem Volke zu behaupten. Es ist<br />
nämlich die Eigenart aller solcher parlamentarischer<br />
Scheinreformen, dass sie als wahrhaft<br />
aktuelles Ergebnis nur das eine haben:<br />
sie vermehren die staatliche Macht <strong>und</strong> n i c h t<br />
zu Gunsten des Proletariats. Wohl ist es eine<br />
Schande, dass der österreichische Arbeiter<br />
es sich von seinem Ausbeutertum so ohne<br />
weiteres gefallen lässt, sich bei jeder Lebenseventualität<br />
buchstäblich an den Bettelstab<br />
bringen oder in den Selbstmord treiben zu<br />
lassen; aber will die Socialdemokratie vielleicht<br />
behaupten, dass der gute Staat bei<br />
Einführung eines Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsgesetzes<br />
dessen finanzielle Erfordernisse aus<br />
dem Budget des Militarismus oder sonstiger<br />
Staatseinnahmen decken w i r d ? Nein, der<br />
Staat tut dies nicht, sondern die Arbeiter<br />
werden dazu angehalten werden, eine neue<br />
direkte oder indirekte Steuer zu entrichten,<br />
aus deren Ertrag dann die Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsansprüche<br />
befriedigt werden sollen,<br />
d. h. so, wie der Staat es für recht <strong>und</strong><br />
billig hält.<br />
Hier haben wir die Scheinreform in unverhülltester<br />
Nacktheit <strong>und</strong> gemeinster Heuchelei.<br />
So ist jede politische Socialreform beschaffen.<br />
Sie ist eine neue Bürde für den<br />
Arbeiter <strong>und</strong> wird durch ihre speziellen Verfügungen<br />
immerdar nichts anderes als eine<br />
i Segnung für eine ganz bestimmte A r b e i t e r -<br />
a r i s t o k r a t i e , das Proletariat a l s K l a s s e<br />
vollständig unberührt lassend; zur Aufbringung<br />
des nötigen Budgets aber das gesamte<br />
Volk zwingend, worauf die ganze kolossale<br />
Summe unter der ausschliesslichen Kontrolle<br />
des Staates zu stehen kommt, der somit Verwalter,<br />
Eigentümer <strong>und</strong> Revisor in einer<br />
Person ist!<br />
Ganz abgesehen davon, dass, wenn die<br />
Socialdemokratie ihre diesbezüglichen Anträge<br />
sogar durchbringen sollte, das dann geschaffene<br />
Gesetz eine Persiflage auf die wahren<br />
Interessen <strong>und</strong> Bedürfnisse des Proletariats<br />
bilden wird, da sie ja nur nach der von den<br />
diversen bürgerlichen Parteien vorgenommenen<br />
Verslümmelungen der Anträge mit diesen<br />
durchzudringen hoffen darf, also wieder<br />
Schacher <strong>und</strong> Arbeit f ü r das Bourgeoisregime,<br />
nicht aber für das revolutionäre Prinzip des<br />
Socialismus — ganz abgesehen davon, stellen<br />
wir Anarchisten uns ein Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsgesetz<br />
ganz anders, ganz anders durchgeführt<br />
vor. Dort wo der Staat sich in solchen<br />
Angelegenheiten dreinmengt, kann er nicht<br />
anders, als wie als herrschende <strong>und</strong> unterwerfende<br />
Gewalt auftreten; <strong>und</strong> deshalb<br />
wendet sich ein jedes selbst im Sinne der<br />
arbeitenden Klasse erlassenes Gesetz in seiner<br />
Ausführung wider diese Klasse. Darin besteht<br />
eben das Trügerische des Parlamentarismus.<br />
Und da das von der Socialdemokratie m i t<br />
H i l f e d e r v e r s c h i e d e n e n b ü r g e r l i -<br />
c h e n Parteien durchzusetzende Gesetz ein<br />
für alle Arbeiterkategorien e i n h e i t l i c h e s ,<br />
die diversen mannigfachen Unterschiede zwischen<br />
diesen n i c h t berücksichtigendes G e -<br />
setz sein wird, nein: n u r sein kann <strong>und</strong><br />
darf, wird es von vornherein nur ganz bestimmten<br />
<strong>und</strong> ganz gewiss nur den ohnedies<br />
meist begünstigten Kategorien zu Gute kommen.<br />
Es wird sich hier das wiederholen, w a s<br />
wir bei a l l e n Gesetzen erleben, <strong>und</strong> was<br />
ein ausserordentlich scharfsinniger Jurist des<br />
neunzehnten Jahrh<strong>und</strong>erts, Thibaut, sehr richtig<br />
andeutete, wenn er klarlegte, dass ein jedes<br />
Gesetz, sobald es einmal aus dem Stadium<br />
der theoretischen Beratung ausgetreten <strong>und</strong><br />
wirklich Gesetz geworden, eine ganz selbständige<br />
Existenz beginne <strong>und</strong> ein von den Absichten<br />
seiner Urheber ganz unabhängiges,<br />
verschiedenes Leben führe.<br />
Wir Anarchisten sind für eine Alters<strong>und</strong><br />
Invaliditätsversicherung, die sich das<br />
Proletariat aus eigener Kraft, nach Massgabe<br />
eigener ökonomischer Einsicht erkämpf; als<br />
Anarchisten sind wir g e g e n ein diesbezügliches<br />
G e s e t z , weil es erstens den Arbeiter<br />
finanziell ausbeutet, zweitens nur für eine<br />
Arbeiteraristokratie Sorge trägt, für die Gesamtklasse<br />
des Proletariats wirkungs- <strong>und</strong><br />
wertlos ist.<br />
Ja, wir wollen es den Arbeitern sagen,<br />
wie sie sich ihr Alter <strong>und</strong> gegen einen Unfall<br />
versichern können. Am logischesten <strong>und</strong><br />
definitivsten wäre es natürlich durch die Einführung<br />
eines kommunistischen Gemeinwesens<br />
erreichbar. Sind die Arbeiter geistig<br />
aber noch nicht reif dazu, dann müssen sie<br />
sich ihre Forderungen auf direktem <strong>Weg</strong>e,<br />
mit eigener, direkter Aktion, kurz durch ihre<br />
eigene Kraft erkämpfen. Und es gäbe dazu<br />
mehrfache W e g e :<br />
1. Durch einen allgemeinen Generalstreik<br />
für die Erhöhung der Arbeitslöhne im ganzen<br />
Land könnten die Arbeiter einen ökonomischen<br />
Sieg erringen, den ihnen kein Parlament der<br />
Welt bereiten kann.<br />
2. Das österreichische Proletariat muss,<br />
um eine wahre Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsversicherung<br />
zu haben, dieselbe selbst in seinen<br />
Gewerkschaften <strong>und</strong> Genossenschaften besitzen<br />
<strong>und</strong> die kapitalistische Klasse dazu zwingen,<br />
für dieselbe zu zahlen. Dazu ist nötig ein<br />
Generalstreik, der die Forderung aufstellt:<br />
Die organisierten Proletarier Österreichs verlangen<br />
von dem Unternehmertum die von<br />
jenen zu bestimmende Zahlung zu einem vom<br />
Proletariat zu errichtenden Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsfonds.<br />
3. An den Staat müsste der Generalstreik<br />
die folgende Forderung richten: Statt, wie es<br />
jetzt zu unser aller, der Arbeitenden Schmach<br />
<strong>und</strong> Hohn geschieht, die Erhöhung der Offiziersgehälter<br />
durchzuführen, soll der Staat<br />
die für diesen Zweck bestimmte Summe alljährlich<br />
den Gewerkschaften für besagte Versicherung<br />
zuführen.<br />
4. Die Forderungen des generalstreikenden<br />
Proletariats an kapital <strong>und</strong> Staat richten<br />
sich ganz nach den lokalen <strong>und</strong> örtlichen<br />
Bedürfnissen der Arbeiterklasse.<br />
5. Der von den Gewerkschaften zu entrichtende<br />
Fonds darf den Kampfescharakter<br />
des Proletariats nicht lähmen. Eine Gewerkschaft<br />
muss revolutionär sein <strong>und</strong> besteht nur<br />
zwecks Führung ökonomischer Klassenkämpfe,<br />
was aber allerdings die gegenseitige Solidarität<br />
innerhalb der Gewerkschaft nur steigern<br />
soll <strong>und</strong> muss.
Aus der Internationale des revolutionären Socialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
A n u n s e r e M i t k ä m p f e r u n d<br />
K a m p f e s b r ü d e r !<br />
Mit freudiger G e n u g t u u n g dürfen wir es<br />
verzeichnen, d a s s d a s Erscheinen d e s „W. f. A."<br />
in fast alten europäischen Ländern von unseren<br />
wackersten K a m e r a d e n mit g r ö s s t e r S y m p a t h i e<br />
begrüsst wurde. Es erübrigt sich für uns, angesichts<br />
der g r o s s e n Zahl d i e s e r brieflichen o d e r<br />
veröffentlichten K u n d g e b u n g e n , einzeln auf dieselben<br />
antworten zu können.<br />
Diesen F r e u n d s c h a f t s b e z e u g u n g e n g e g e n -<br />
über d r ä n g t es uns zu konstatieren, d a s s wir<br />
österreichische Genossen von u n s e r e n Kameraden<br />
des internationalen Auslandes unendlich viel<br />
lernen <strong>und</strong> g e l e r n t h a b e n ; d a s s u n s e r Dank für<br />
ihre Solidarität darin b e s t e h e n soll, ihnen nachzueifern<br />
im W i r k e n für d a s g e m e i n s a m e a n a r -<br />
chistische Ideal — mit Energie, mit A u s d a u e r<br />
<strong>und</strong> mit Ernst!<br />
Wir treten ein in Reih' <strong>und</strong> Glied d e s internationalen<br />
Kampfes für die Befreiung d e r Menschheit.<br />
Trotz t a u s e n d f a c h e r Schwierigkeiten in<br />
Österreich w e r d e n wir uns e u r e r w ü r d i g zeigen<br />
im gemeinsamen, brüderlichen, heiligen Streit<br />
wider Staat, Kapitalismus <strong>und</strong> j e d e Schmach!<br />
Die Gruppe „Wohlstand für Alle".<br />
Österreich.<br />
Veranlasst durch die mannigfachen Verbote der<br />
Polizei haben etwa 25 Wiener Genossen einen<br />
" A n a r c h i s t i s c h e n K u n s t - n n d L i t e r a -<br />
t u r v e r e i n " begründet, dessen Abende allmontaglich<br />
stattfinden. Die Zusammenkünfte sind bei<br />
Schlor XIV., Märzstr. 33 anberaumt <strong>und</strong> haben nur<br />
reguläre Mitglieder Zutritt. Nach der ersten Konstituierungsversammlung<br />
rezitierte der Genosse Pierre<br />
Ramus diverse selbst verfasste Szenen <strong>und</strong> Dialoge,<br />
die einstimmige Begeisterung hervorriefen. —<br />
Allen Interessenten diene zur Nachricht, dass unsere<br />
öffentlichen Versammlungen allwöchentlich, Dienstag<br />
Abend um 8 Uhr in Schlor's (obige Adresse) grossem<br />
Saale stattfinden. Jedermann willkommen! — Eine<br />
glänzend besuchte Sylvesterfeier haben die Wiener<br />
Genossen hinter sich. Sowohl in gesanglicher, als<br />
auch geistiger Hinsicht — „Streiflichter über das<br />
Jahr 1907" wurden gegeben — war der Abend eine<br />
Meisterleistung der Organisation <strong>und</strong> Ausführung.<br />
Der Reinertrag wurde unserem Blatte zur Verfügung<br />
gestellt. Bis zum frühen Morgen währte das frohgemute<br />
Treiben, an dem sich auch einige auswärtige<br />
Kameraden beteiligten. — Denselben Erfolg<br />
hatte der Rezitationsabend, den der Genosse Polacek<br />
abhielt. — Über die „Internationalen Kongresse<br />
von Stuttgart <strong>und</strong> Amsterdam" referierte der Genosse<br />
Ramus. — Am nächsten Abend fanden sich<br />
einzelne Genossen in der grossen Massenversammlung<br />
der Sozialdemokratie im III. Bezirk ein, in der<br />
Dr. Kappelmacher das Referat führte über „Das<br />
Wesen der Staatsverfassung". Seinen sehr durchschnittlichen<br />
Leistungen trat der Genosse Ramus<br />
entgegen, der trotz fortwährender Unterbrechung<br />
durch den Vorsitzenden dennoch das Wesen der<br />
sozialistisch-anarchistischen Auffassungstheorie über<br />
Staatsverfassungen darlegte. Der Referent antwortete<br />
nur dahingehend, dass er verblüfft konstatierte,<br />
Socialdemokrat zu sein <strong>und</strong> der Versammlungsleitung<br />
den Rat erteilte, das nächste Mal k e i n e D i s -<br />
k u s s i o n zu g e s t a t t e n ; nach einigen versöhnlich-schmeichelhaften<br />
Bemerkungen über die Darlegungen<br />
R.'s endete er mit folgender geistreicher<br />
Juristenphrase: „ W i r s i n d e i n e s t a a t s e r h a l -<br />
t e n d e , k e i n e s t a a t s z e r s t ö r e n d e P a r -<br />
t e i ! " (Das allerdings; aber damit k e i n e s o c i a -<br />
l i s t i s c h e Partei). Zum Schlüsse entschuldigte<br />
sich der Vorsitzende, einem Anarchisten das Wort<br />
erteilt zu haben; mit dem Erfolge, dass viele der<br />
Anwesenden gegen solche Äusserung laut Protest<br />
erhoben <strong>und</strong> unsere Zeitschrift eifrig kauften. W i r<br />
a p p e l l i e r e n a n d i e K a m e r a d e n , s i c h j e d e n<br />
Donnerstag Abend in Fuchs Restauration, III., Rennweg<br />
71, einzufinden <strong>und</strong> dort das gefährdete Prinzip<br />
der Redefreiheit wider die Socialdemokratie zu<br />
wahren! — Die vereinigten Gruppen der allgemeinen<br />
Gewerkschaftsföderation haben für den 8. Februar<br />
eine glanzvolle Ballfestlichkeit arrangiert, deren Reinertrag<br />
für den „W. f. A." bestimmt ist. Sie wird<br />
in Holub's Saallokalitäten, XIV., Huglgasse 15, stattfindet.<br />
* •<br />
Vorigen Sonntag hielten die Genossen des<br />
V. Bezirkes ihre interne Versammlung statt, die<br />
eine interessante Auseinandersetzung über ökonomische<br />
Aktionen <strong>und</strong> ihre Ausführungsmöglichkeiten<br />
ergab. — Ein prächtiges Stiftungsfest war jenes der<br />
Freidenker des XIV. Bez., an dem viele unserer<br />
Genossen teilnahmen. — Die öffentliche Versammlung<br />
der „Gewerkschaftsföderation" behandelte das<br />
spannende Thema über „Verbrecher <strong>und</strong> Verbrechen"<br />
durch den Referenten Ramus. — Am darauffolgenden<br />
Tage fand im III. Bezirk eine mehr oder minder bürgerliche<br />
Versammlung statt, in der über das Thema<br />
„Schulreform" diskutiert wurde, an welcher Debatte<br />
sich einige Kameraden eifrigst beteiligten. — Während<br />
in dieser Versammlung dem Gen. Ramus das Wort erteilt<br />
wurde, gestattete dies die socialdemokratische<br />
Versammlung im gleichen Bezirk n i c h t ! Dr. Braun<br />
sprach über „Staatsverwaltung", durchaus bürgerlich.<br />
Dann erklärte der Vorsitzende, unter dem rohen<br />
Brüllen der Vertrauensmänner, dass eine Diskussion<br />
n i c h t gestattet wäre! „Sie werden als Anarchist<br />
hier nicht mehr sprechen!" erklärte der würdige<br />
Herr. Eine ideale Redefreiheit, diese socialdemokratische<br />
Auffassung; <strong>und</strong> d a s will die bestehenden<br />
Zustände im Sinne der Demokratie umändern! —<br />
Die Versammlung über das „Wesen des Parlamentaris",<br />
das Ramus eingehend darlegte, war sehr gut<br />
besucht, wie auch von hohem Interesse. Eine Diskussion<br />
mit einigen lerneifrigen Socialdeinokraten<br />
entspann sich, die bis lange nach Mitternacht währte.<br />
— Alles in allem ersehen die Kameraden, dass die<br />
Wiener Bewegung n i c h t untätig ist.<br />
*<br />
Im Wiener Gemeinderat schlossen die christlichsocialen<br />
Reaktionäre den Socialdemokraten<br />
S k a r e t für geraume Zeit von ihren Beratungen<br />
aus. Die übrigen soc.-dem. Gemeinderäte Hessen<br />
sich diese für Skaret ohne Zweifel ehrende Handlungsweise<br />
tatenlos gefallen. Nun aber halten sie<br />
nachträglich öffentliche Protestversammlungen wider<br />
dieses ungesetzliche <strong>und</strong> ungehörige Verfahren ab.<br />
Sie vergessen dabei vollständig, dass der, der den<br />
Schaden hat <strong>und</strong> gutwillig hinnimmt, für den Spott<br />
nicht zu sorgen braucht.<br />
*<br />
Zwei - Ehrenmänner, der soc.-dem. Redakteur<br />
Oswald Hillebrand <strong>und</strong> der „Freisozialist" —<br />
welch schändliche Verunglimpfung eines herrlichen<br />
Namens I — Simon Stark liegen einander in den<br />
Haaren, indem ersterer den letzteren wegen Verleumdung<br />
v e r k l a g t e . Wir enthalten uns jeder<br />
meritorischen Wertung des Falles; uns sind beide<br />
Herren einander gleich würdig. Fragen müssen wir<br />
allerdings nach dem einen: W a s ist das eigentlich<br />
für eine socialistische Ehre, die sich ihr Recht von<br />
der bourgeoisen Justiz holt, durch diese hergestellt<br />
oder vernichtet glaubt? Wenn zwei Bourgeois so<br />
etwas tun, ist es selbstverständlich, es sind die<br />
Vertreter der von ihnen anerkannten Weltanschauung,<br />
die über das sociale <strong>und</strong> persönliche Wertmoment<br />
des Einen oder Anderen urteilen sollen;<br />
wenden sich aber Socialisten an bürgerliche Gerichte,<br />
um von diesen Ehrenerklärungen zu erlangen, so ist<br />
dies v e r ä c h t l i c h für die Socialisten, die sich<br />
damit als Männer von bourgeoiser Gedankenart<br />
<strong>und</strong> von all jenen Racheinstinkten beseelt, deklarieren,<br />
die ein Rechtsspruch involviert. Dies ins<br />
Stammbuch der Hillebrand <strong>und</strong> Stark — <strong>und</strong> anderer!<br />
Frankreich.<br />
Ein neues Stück französischer Klassenjustiz!<br />
Der verhandelte Prozess ist ein Erstickungsversuch<br />
des unerschrockenen Blattes „ L a g u e r r e s o -<br />
c i a l e " , an dessen Spitze unsere Fre<strong>und</strong>e Hervé,<br />
Miguel Almereyda <strong>und</strong> Eugene Merle stehen <strong>und</strong><br />
das kürzlich sein einjähriges Bestehen feierte. Der<br />
stets von der allgemeinen Meinung abweichende<br />
scharf kritische Standpunkt dieses Blattes in Sachen<br />
des Marokokrieges war Herrn Clemenceau <strong>und</strong><br />
Genossen seit langem ein Dorn im Auge. Das<br />
Blatt sollte fallen, <strong>und</strong> ein Vorwand war schnell<br />
gef<strong>und</strong>en, unseren obigen 3 Genossen einen Prozess<br />
anzuhängen, der obgleich aus verschiedenen Gründen<br />
hergeleitet, doch in einer einzigen Verhandlung<br />
zur Erledigung gelangen sollte. — Hervé hatte in<br />
einem Artikel über den Krieg der Kapitalisten in<br />
Marokko die französischen Soldaten „ u n b e w u s s t e<br />
B a n d i t e n " genannt <strong>und</strong> sie mit zwei <strong>Weg</strong>elagerern<br />
verglichen, die kürzlich bei Etampes einen<br />
Zug plünderten. Das war eine Beleidigung der Armee.<br />
Die Regierung Hess sich die Gelegenheit nicht entgehen<br />
<strong>und</strong> stellte Hervé unter Anklage.<br />
Almereyda <strong>und</strong> Merle dagegen hatten gelegentlich<br />
des Winzeraufstandes in Südfrankreich <strong>und</strong><br />
der dabei erfolgten Meuterei des 17. Regiment in<br />
einem Artikel diese Geste der Soldaten begeistert<br />
begrüsst <strong>und</strong> zur Nachahmung empfohlen. Die bürgerliche<br />
Gerechtigkeit empfand das als eine „Aufr<br />
e i z u n g z u m U n g e h o r s a m <strong>und</strong> zur Meuterei<br />
<strong>und</strong> stellte Beide gleichfalls unter Anklage.<br />
Wie man sieht, hatte das eine Vergehen mit dem<br />
andern nichts zu tun. Aber die Justiz der 3. Republik,<br />
von dem Wunsche beseelt, einen Hauptschlag<br />
zu führen, verband alle 3 Anschuldigungen<br />
in eine einzige grosse Anklage <strong>und</strong> setzte einen<br />
einzigen Verhandlungstermin fest, um schnell <strong>und</strong><br />
ohne viel Geräusch damit fertig zu werden.<br />
Die Herren in den roten Roben der bürgerlichen<br />
Rache hatten sich getäuscht. Trotz aller Versuche,<br />
eine eingehende Aussprache zu ersticken,<br />
mussten sie Farbe bekennen <strong>und</strong> sich zu einer<br />
umständlichen Verhandlung herbeilassen, wenn auch<br />
mit vielem Missbehagen.<br />
Als der Prozess am 23. Dezember eröffnet<br />
wurde, stellte sich nur Fre<strong>und</strong> Hervé von seinem<br />
mutigen Verteidiger Bonzon begleitet zur Verhandlung<br />
ein. Die Mitangeklagten Almereyda <strong>und</strong> Merle<br />
dagegen hatten einen Brief gesandt, in dem sie<br />
gegen die gemeinsame Verhandlung protestierten<br />
<strong>und</strong> vom Gerichtshof die Trennung ihrer Angelegenheiten<br />
von der ihres Fre<strong>und</strong>es Hervé verlangten<br />
Entsetzen <strong>und</strong> verdutzte Gesichter der Herren<br />
Richter <strong>und</strong> Geschworenen über diese respektlose.<br />
Kühnheit! Es wird beschlossen, gegen die beiden.<br />
Fehlenden im Versäumnisverfahren vorzugehen<br />
Aber der Zweck jenes Briefes ist erreicht. Während<br />
man vorher die feste Absicht hatte, unangenehme<br />
Erklärungen des gefürchteten Hervé zu vermeiden<br />
<strong>und</strong> zu unterbinden, muss man jetzt zusehen, wie<br />
Hervé als alleiniger Angeklagter die neugeschaffene<br />
Situation dazu benützt, um nach Herzenslust über<br />
die Schandtaten der französischen Kapitalisten <strong>und</strong><br />
der Regierung loszulegen <strong>und</strong> die ganze marokkanische<br />
Unternehmung immer aufs neue als ein<br />
widerwärtiges Ausbeutungsmanöver französischer<br />
Habsucht zu brandmarken. Das ist den roten Roben<br />
ersichtlich unangenehm. Der Vorsitzende bietet seinen<br />
gesamten Einfluss auf, den Angeklagten <strong>und</strong> seinen<br />
Verteidiger am Reden zu verhindern. Aber es<br />
scheint nicht leicht zu sein. Hervé, selbst Advokat,<br />
kennt alle Schliche seiner Gegner. Der Vorsitzende<br />
sagt zu ihm : „Hervé" <strong>und</strong> der Angeredete erwidert<br />
ebenso kurz: „Vorsitzender". Wütend stellt ihn jener<br />
zur Rede : „Sie haben Herr Vorsitzender zu sagen".<br />
Hervé blinzelt <strong>und</strong> lacht ihn an : „Und Sie haben<br />
Herr Hervé zu sagen". Wozu sein Verteidiger bekräftigend<br />
bemerkt: „Hervé ist kein Angeklagter<br />
des Zivilrechts, e r i s t p o l i t i s c h a n g e k l a g t .<br />
A b e r e r i s t a u c h g l e i c h z e i t i g e i n A n -<br />
k l ä g e r " . Die Rolle der bürgerlichen Gerechtigkeit<br />
erscheint in diesem Prozess so klein, so feig <strong>und</strong><br />
erbärmlich, als wäre das Richteramt nur noch ein<br />
jammervoll auf den Beinen gehaltener Popanz einer<br />
sterbenden Gesellschaft.<br />
Die Zeugenvernehmung vollzieht sich gleichfalls<br />
nicht ohne bezeichnende Zwischenfälle. Hervé<br />
hat das Zeugnis mehrerer Minister (darunter sein<br />
ehemaliger Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Verteidiger Briand) sowie<br />
einiger Grossindustrieller verlangt. Weil aber die<br />
vorzulegenden Fragen etwas kitzlicher Natur sind,<br />
weil man die beissende Beredsamkeit Hervés fürchtet,<br />
deswegen hat die Mehrzahl dieser Herren es vorgezogen,<br />
nicht zu erscheinen, der Eine ist angeblich<br />
krank, der Zweite auf Reisen, der Dritte erklärt,<br />
nichts mitteilen zu können <strong>und</strong> so fort. Eine längere<br />
Debatte entspinnt sich darüber, ob Hervé auf<br />
der Vernehmung der Exzellenzen Briand, Schneider,<br />
Clemenceau etc. besteht. Er verzichtet schliesslich,<br />
verlangt aber unbedingt das Zeugnis des Industriellen<br />
Schneider (der französische Krupp), was der Gerichtshof<br />
nach längerer Beratung verweigert. Zu<br />
Gunsten Hervels sagen aus G o h i e r, S e m b a t,<br />
V a i l l a n t <strong>und</strong> J a u r è s (durch Brief, da von Paris<br />
abwesend).<br />
Am zweiten Tage nach Beendigung der Zeugenvernehmung<br />
grosses Plaidoyer des Herrn Staatsanwalts.<br />
Seine Anklagerede gegen die Scheusslichkeiten<br />
der Antimilitaristen bringt nicht viel Neues.<br />
In politischen Prozessen gegen Revolutionäre gleichen<br />
die Plaidoyers der Herren Staatsanwälte wie ein<br />
Ei den andern. Er malt auch hier wieder vor den<br />
entsetzten Augen der Biedermänner-Geschworenen<br />
das Schreckbild der einstürzenden Gesellschaft. Er<br />
hat, wie viele seiner Kollegen ein weites Gewissen,<br />
der Herr Staatsanwalt. Mit Zorn in der Stimme<br />
<strong>und</strong> Hass in den Augen behauptet e r : „Die Antimilitaristen<br />
predigen den Raub <strong>und</strong> den Mord <strong>und</strong><br />
noch andere Scheusslichkeiten. — Vorausgesetzt<br />
selbst, dass die Russen, Deutschen <strong>und</strong> Franzosen in<br />
Peking Schandtaten verübt haben, muss man denn<br />
immer wieder darauf zurückkommen ? (Wie hässlich<br />
das ist! D. V.) Der Krieg ist eine Notwendigkeit,<br />
wir können seine Auswüchse bedauern, müssen aber<br />
in ihn den patriotischen Zweck, den er verfolgt,<br />
allein gelten lassen". Es handle sich darum, alle<br />
mildernden Umstände beiseite zu lassen, denn die<br />
Haltung des Angeklagten verdiene keine Milde.<br />
Beim Worte, „mildernde Umstände" haben Hervé
<strong>und</strong> sein Verteidiger eine abwehrende Handbewegung<br />
gemacht <strong>und</strong> rufen fast gleichzeitig: „Aber<br />
wir verlangen ja keine mildernden Umstände".<br />
Die Geschworenen ziehen sich 45 Minuten zur<br />
Beratung zurück. Und weil sie dabei sehr menschenfre<strong>und</strong>lich<br />
waren <strong>und</strong> dachten, man müsse den<br />
Angeklagten auch ein Weihnachtsgeschenk machen,<br />
so kommen sie zu folgender Liebesgabe für unsere<br />
wackeren Kameraden: Hervé 1 Jahr Gefängnis <strong>und</strong><br />
3000 Frc. Geldstrafe, Almereyda 5 Jahr Gefängnis<br />
<strong>und</strong> 3000 Frc. Geldstrafe, Merle 5 Jahr Gefängnis<br />
<strong>und</strong> 3000 Frc. Geldstrafe.<br />
Die bedrohte Gesellschaft ist wieder einmal<br />
gerettet. Aber wir glauben, dass jene Weihnachtsbescheerung<br />
trotz <strong>und</strong> gerade wegen ihrer Reichlichkeit<br />
total ihren Zwek verfehlen dürfte. Sie wird<br />
neuen Hass säen. Und dieser Hass wird eines Tages<br />
aufgehen <strong>und</strong> Ernte halten. Wie? weil einige Männer<br />
den Mut besessen haben, laut zu sagen, was tausende<br />
nur leise zu denken wagten, deswegen schickt<br />
man sie 11 Jahre ins Gefängnis? Wir haben nur<br />
ein kopfschüttelndes Bedauern für die Blindheit der<br />
roten Roben <strong>und</strong> die Philisterangst der Geschworenen.<br />
Wann werden sie endlich begriffen haben,<br />
dass Druck immer Gegendruck erzeugen m u s s ?<br />
Eine erste Enttäuschung der Machthabenden<br />
von h e u t e : „La guerre sociale" hat seine Auflage<br />
vergrössern müssen; in den Tagen des Prozesses<br />
ist dieses Wochenblatt sogar täglich erschienen.<br />
Die Reklame durch den Prozess war gratis <strong>und</strong><br />
einträglich. Und es ist dafür gesorgt, dass jenes<br />
kühne Blatt, von Parteienhass <strong>und</strong> persönlichem<br />
Hader ungeschwächt, nach wie vor den Kampf<br />
gegen menschliche Dummheit <strong>und</strong> Kriegslust führen<br />
wird. Nicht mit Gott für König <strong>und</strong> Vaterland, sondern<br />
mit freiem Geiste für Abrüstung <strong>und</strong> Frieden<br />
<strong>und</strong> Wohlstand für Alle.<br />
Armand Fernau.<br />
Briefe unserer Leser.<br />
l.<br />
E i n P r o t e s t .<br />
Werte Kameraden! Vor mir liegt die e r s t e<br />
Publikation des internationalen, anarchistischen Bureaus,<br />
betitelt „ R e s o l u t i o n e n d e s a n a r c h i -<br />
s t i s c h e n K o n g r e s s e s i n A m s t e r d a m " ,<br />
<strong>und</strong> ich bedauere lebhaft, konstatieren zu müssen,<br />
dass dieser e r s t e Akt des Bureaus bereits einen<br />
Akt a u t o r i t ä r e r E x e k u t i v m a c h t in sich<br />
schliesst, wider welchen jeder Anarchist, der die<br />
Meinungsfreiheit innerhalb unserer Bewegung gewahrt<br />
sehen will, Protest einlegen muss.<br />
Ich habe auf dem Kongress die folgenden<br />
zwei Resolutionen eingebracht:<br />
1. Der vom 24. bis 30. August tagende, internationale<br />
anarchistische Kongress zu Amsterdam<br />
schlägt den Gruppen aller Länder vor, sich zusammenzuschliessen<br />
zu ländlich-lokalen <strong>und</strong> geographischen<br />
Föderationen.<br />
Wir erklären, dass wir diesen Vorschlag machen<br />
in Uebereinstimmung mit den Prinzipien des<br />
Anarchismus, indem wir die Betätigung <strong>und</strong> Initiative<br />
des Individuums nur im socialen Verbände begreifen<br />
können <strong>und</strong> in den so gearteten Vereinigungen<br />
die Gr<strong>und</strong>möglichkeiten für die freie Entfaltung<br />
des Individuums erblicken.<br />
Die föderative Organisation ist die organische<br />
Kampfesform des anarchistischen Proletariats <strong>und</strong><br />
dieser Bewegung. Sie vereinigt die schon bestehenden<br />
Gruppen zu einem Organisationsgan/en <strong>und</strong><br />
gliedert die neu gegründeten dem Ganzen an. Sie<br />
ist an ti autoritär, indem sie keine legislative Macht<br />
annerkennt, die bindend für die einzelnen Mitglieder<br />
oder die Gruppen wäre; indem sie — die Föderation<br />
— das Recht eines jeden einzelnen Individuums,<br />
wie jeder Gruppe innerhalb unserer gemeinschaftlichen<br />
Bewegung anerkennt, sich im Sinne des<br />
Anarchismus <strong>und</strong> seiner wirtschaftlichen Systeme<br />
zu betätigen, ohne gegenseitige Beherrschung oder<br />
Störung. Die Föderation schliesst keine anarchistische<br />
Gruppe aus, jeder Gruppe ist es hingegen<br />
gestattet, mit Rückziehung ihres kollektiven Eigentums,<br />
aus der Föderation auszuscheiden.<br />
Wir empfehlen den Genossen, sich nach<br />
ihren nationalen Bedürfnissen oder Bewegungsnotwendigkeiten<br />
zu vereinigen, doch stets dessen eingedenk<br />
zu sein, dass die Macht der nationalen Bewegung<br />
des Anarchismus von seinem internationalen<br />
Zusammenschluss abhängig ist, denn die Befreiungsmethoden<br />
des Anarchismus müssen i n t e r n a t i o n a l<br />
zusammenwirken.<br />
Kameraden aller Länder, organisiert Euch in<br />
autonomen Gruppen, vereinigt Euch zur autonomen<br />
Föderation der anarchistischen Internationale!"<br />
Diese Resolution ist vom anarchistischen Bureau<br />
unterdrückt <strong>und</strong> in seiner Broschüre nicht<br />
gebracht worden, trotzdem dass sie 17 Stimmen auf<br />
sich vereinigte, welch letzterer Umstand für Anarchisten,<br />
die kein Majoritäts- oder Minoritätsvotum<br />
als bindend betrachten, ja nur relative Bedeutung<br />
besitzt. Angeführt sei, dass der „Vrije Communist"<br />
in seiner Ausgabe vom 5 Oktober das Obige als<br />
eine „Prinzipienerklärung" der neuen Internationale<br />
hinstellt.<br />
Weit schädlicher für die geistige <strong>und</strong> praktische<br />
Harmonie unserer Bewegung ist jedoch die<br />
Unterdrückung der zweiten Resolution, die eingebracht<br />
wurde von den Genossen Baginski, Emma<br />
Goldmann <strong>und</strong> mir Sie lautet:<br />
2. „Der internationale Kongress beschliesst die<br />
Begründung der anarchistischen Internationale.<br />
Die anarchistische Internationale ist eine Föderation<br />
autonomer Gruppen, die jedes zentrale<br />
Bureau ausschaltet <strong>und</strong> deren internationale Beziehungen<br />
geschaffen werden durch die Ernennung<br />
zweier Korrespondenzsekretäre durch jedes Land,<br />
die sich, gemäss den Bestimmungen ihrer resp.<br />
Gruppen oder Föderationen, gegenseitig In internationale,<br />
regelmässige Verbindung zu setzen haben,<br />
Die Internationale ist vollkommen öffentlich,<br />
<strong>und</strong> die Namen sämtlicher internationalen Sekretäre<br />
müssen fortlaufend in allen anarchistischen Zeitungen<br />
erscheinen mit Angabe der Adressen.<br />
Beschlossen, ein internationales Bulletin herauszugeben."<br />
Diese Resolution stellt die gegensätzliche<br />
Richtung innerhalb des Kongresses einem internationalen<br />
Bureau gegenüber dar. Ob sie im Rechte<br />
oder nicht, ist hier bedeutungslos; auf keinen Fall<br />
hat ein anarchistisches Bureau das Recht, sie zu<br />
unterdrücken.<br />
Ich erachte es für durchaus notwendig, den<br />
Genossen diese erste Unterdrückung des Gr<strong>und</strong>prinzips<br />
jeder anarchistischen Auschauung durch<br />
das Bureau zur Kenntnis zu bringen. Wenn wir<br />
Anarchisten sein wollen, müssen wir auch die nötige<br />
Energie haben, gegenüber den Methoden der<br />
heutigen Bourgeoismoral innerhalb unserer eigenen<br />
Bewegung Front zu machen.<br />
Pierre Ramus.<br />
P. S. Ich ersuche die Bruderblatter, Obige?<br />
zum Abdruck zu bringen.<br />
2.<br />
Geehrte Kameraden I . . . Wir in Klagenfurt<br />
begrüssen Euer Blatt mit brüderlicher Solidarität<br />
<strong>und</strong> werden Alles, was in unseren Kräften steht,<br />
für dasselbe tun. Wir haben schon eine Zusammenkunft<br />
betreffs des gründlichen Vertriebes unseres<br />
„W. F. A" gehabt; beschlossen wurde, eine grössere<br />
Anzahl von Exemplaren kommen zu lassen <strong>und</strong><br />
gleich in voraus zu bezahlen.<br />
Endlich wird es möglich sein, unseren Ideen<br />
auch in Deutsi hösterreich Verbreitung zu bieten.<br />
Wohl haben wir das Blatt des Genossen Prisching,<br />
den „G'roden Michl", aber dasselbe widmet sich<br />
mehr ausschliesslich ethischen u. hygienischenSpezialfragen<br />
des fr ien Gedankens <strong>und</strong> nicht so sehr dei<br />
Propaganda der ökonomischen <strong>und</strong> politischen<br />
Gr<strong>und</strong>lehren des Anarchismus. Gegenseitige Hilfe<br />
<strong>und</strong> Unterstützung können hier viel z u s t a n d e bringen.<br />
Wie gesagt, mit Liebe schliessen wir uns dem<br />
„W. F. A." an. Gleichzeitig senden wir Euch die<br />
folgenden Bezugsadressen von guten Abonnenten . . .<br />
Mit Brudergiuss J. N.<br />
3.<br />
W. K.! . . . Vor Weihnachten erhielt ich die<br />
erste Nummer des „W. F. A." <strong>und</strong> habe mich sehr<br />
über denselben gefreut. Ich gratuliere Ihnen allen<br />
zu dem Blatte . . . Veranlassen Sie, bitte, nochmalige<br />
Übersendung der ersten Nummer; die mir<br />
Gesandte hat sich nämlich mein Vater a n g e e i g n e t . . .<br />
Ich werde mein Mäglichstes für das Blatt tun <strong>und</strong><br />
darauf los agitieren, um demselben Abonnenten zuzuführen.<br />
Mit Fre<strong>und</strong>schaftsgruss.<br />
B . . . . in Ungarn. H.<br />
4.<br />
Prag .. . 1908.<br />
W. G . ! Teile Euch mit, dass W. F. A", unter<br />
den Prager Genossen grösster Sympathie begegnet..<br />
Der Eurige O. F.<br />
5.<br />
Prossnitz (Mähren).<br />
W. G.! Alles erhalten. Was ich für die Verbreitung<br />
des Blattes „W. f. A." tun werde können,<br />
wird geschehen, die erhaltenen Blätter habe ich teilweise<br />
verkauft. Ende dieser Woche sende Euch<br />
Geld. Ich bin es hier allein, der anarchistische Literatur<br />
studiert <strong>und</strong> kolportiert. Welchen schweren<br />
Stand ich unter den Sozialdemokraten habe, dies<br />
werdet Ihr begreifen. Ich trage mich mit den Gedanken,<br />
mir auf eigene Kosten billige Schiften, darunter<br />
auch freidenkerische schicken zu lassen, die<br />
ich vorerst zum Lesen ausborge <strong>und</strong> dann verkaufe.<br />
Wenn ihr mir dieselben billig verschaffen könnt,<br />
schreibet mir, damit ich Euch Geld für derartige<br />
Sendungen im vorhinein einschicken kann. Dass der<br />
Anarchismus nicht so leicht <strong>und</strong> bald viele ehrliche<br />
Vertreter finden wird, ist ja begreiflich. Nur auf<br />
Gr<strong>und</strong> der Unwissenheit der Arbeiter, die nicht selbständig<br />
handeln <strong>und</strong> denken, können so viele sozial.-dem.<br />
Führei schön leben. Es ist klar, dass ein<br />
Mensch, der in der Partei seine Existenz hat, niemals<br />
wollen wird, dass ihm seine getreuen Schafe<br />
durch die anarchistische Propaganda untreu werden,<br />
i h m <strong>und</strong> seiner Partei den Rücken kehren sollen.<br />
Da Anarchisten selbständig handelnd Menschen<br />
sind, wollen sie, dass die Menschen so erzogen,<br />
gebildet werden, dass sie keinen Leithammel (Führer)<br />
brauchen. Die Schreibweise des „W. f. A." ist gut<br />
<strong>und</strong> leicht verständlich. Sendet mir mehr Blätter;<br />
die ineisten anderen Leser sind Textilarbeiter <strong>und</strong><br />
sind organisiert. Die Weberverhältnisse sind hier<br />
unter'm H<strong>und</strong>. Ich wünsche unserem Blatt so wie<br />
Euch allen Kameraden, ein glückliches 1908! Mit<br />
solid. Gruss R.<br />
6.<br />
Oppenbach a. Main.<br />
W. G.! Bitte mir als Abonnent des „W. f. A."<br />
einige Freiexemplare zu senden. Bin gerne bereit,<br />
unter hiesigen Landsleuten Abonnenten zu werben.<br />
Als Österreicher hocherfreut, auch in meinem Vaterlande<br />
ein Blatt wie den „W." erstehen zu sehen, mit<br />
dessen Hilfe meine Volksgenossen aus ihrem socialen<br />
Schlafe gerüttelt werden können. Bin auch<br />
gerne für manchen literarischen Beitrag zu haben.<br />
Glück auf! P.<br />
7.<br />
W. G.! Ein herzliches Neujahr Eurem „W. f.<br />
A.", um dessen Zusendung ich bitte. Leider fehlt der<br />
deutschsprachigen Bewegung gegenwärtig ein Blatt<br />
wie der frühere „Arme Temfel" des Genossen<br />
Albert Weidner. Mit revol. Gruss Carl Holtmann,<br />
Biendorf.<br />
Vereinskalender.<br />
Allgemeine G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n von<br />
Niederösterreich. Versammlungen finden jeden<br />
Sonntag abends statt, um 6 Uhr im VI. Bez. Einsiedlerg.<br />
60. Adresse des Obmanns: Wenzel H o r a z e k , V.<br />
Kohlg. 21. Wien.<br />
S a m s t a g 8 U h r :<br />
Bildungsverein „POKROK" (Fortschrift).<br />
XIV. H ü t t e l d o r f e r s t r a s s e 33.<br />
M o n t a g 8 U h r :<br />
Schuhmachergewerkschaft<br />
XIV. H ü t t e l d o r f e r s t r a s s e 33.<br />
S o n n t a g 9 Uhr vorm.: Zusammenkunft.<br />
Föderation der Bauarbeiter<br />
X. Bezirk W i e l a n d p l a t z Nr. 1.<br />
S a m s t a g 8 Uhr A . - Z u s .<br />
Bildungsverein „ROVNOST" (Gleichheit).<br />
X. Euger.gasse 9.<br />
S o n n t a g 4 Uhr N a c h m . : Zus.<br />
Allgemeine Gewerkschafts-Föderation<br />
V. E i n s i e d l e r g a s s e 60.<br />
Diskussionen <strong>und</strong> Vorlesungen.<br />
B r i e f k a s t e n .<br />
S c h w e b e r . Dank für Brief. An „Vrije Socialist"<br />
gesandt. Verkaufe viel <strong>und</strong> sende Geld dafür! Brudergruss!<br />
— Lorenz Gross. Der „W. f. A." ist das<br />
Eigentum der Kameraden <strong>und</strong> diese haben selbstredend<br />
jederzeit das Recht, ihre prinzipielle <strong>und</strong><br />
taktische Meinung in demselben zum Ausdruck zu<br />
bringen. Gruss! — H. Bauer. N. Y. Adresse konnte<br />
nicht früher angegeben werden. Bedauere! — Zeit<br />
W . Die Worte vom „ T r e i b e n d e r r e g i e r e n -<br />
d e n E x a n a r c h i s t e n " in Frankreich, sind natürlich<br />
eine grobe Fälschung der „Arbeiterzeitung",<br />
die b e w u s s t vorgenommen wurde. Briand war<br />
u n d i s t Socialdemokrat, desgleichen Viviani; Clemenceau<br />
war niemals mehr als ein radikaler Liberaler.<br />
— B u d a p e s t . Was soll das bedeuten: „H. P.<br />
rein wie Sonnenlicht?" Uns unverständlich. —<br />
S t e r n b e r g . Wir empfehlen vornehmlich den Massenbezug<br />
des „Anarchistischen Manifests". Gruss! —<br />
Otto N. Bezugsbedingungen aus dem Unterteil des<br />
Kopftitels des Blattes zu ersehen! — Krakau, Ibid.<br />
— Bourey. Wenden Sie sich selbst an den Verlag<br />
des „Fr. Gen." — Herbert. Herzensgruss Dir, Du<br />
tapferer Urwaldfäller des Geistes <strong>und</strong> der Natur<br />
<strong>und</strong> Dank von uns allen für prächtigen Abonnentenstrauss!
Zarenlos.<br />
Aus dem Russischen des Sokoloffskl*).<br />
Es nahm der Imperator<br />
Ins Jenseits seinen Lauf,<br />
Weil ihm sein Operator<br />
Das Bäuchlein schlitzte auf.<br />
Das Reich, es weint nicht wenig,<br />
Es weint das Volk um ihn.<br />
Schon kommt der neue König,<br />
Das Scheusal Konstantin.<br />
Der tote Zar erbleichte,<br />
Er bebt an Mark <strong>und</strong> Bein<br />
Und eine Denkschrift reichte<br />
Er^Gott, dem Herren ein.<br />
Gott zog sie zu Gemüte,<br />
Er hat kein Herz von Stein<br />
Und schenkt in seiner Güte<br />
Uns Nikolaus das Schw...<br />
*) Aus Alexander Herzen's „Erinnerungen".<br />
Übersetzt von Dr. Bueck. Verlag Wiegandt <strong>und</strong><br />
Grieben (G. K. Sarasin), Berlin 1907.<br />
Die Frau der Zukunft<br />
Von Ellen Key.<br />
.. . Mein ideales Bild des Zukunftsweibes<br />
ist, dass sie ein Wesen tiefer Gegensätze<br />
sein werde, welche Harmonie erreicht haben;<br />
dass sie sich als eine grosse Mannigfaltigkeit<br />
<strong>und</strong> eine festgeschlossene Einheit darstellen<br />
w e r d e ; eine reiche Fülle <strong>und</strong> eine vollkommene<br />
Einfachheit; ein durchgebildetes Kulturgeschöpf<br />
<strong>und</strong> eine ursprüngliche Natur; eine<br />
stark ausgeprägte menschliche Individualität<br />
<strong>und</strong> eine volle Offenbarung des tiefst Weiblichen.<br />
Diese Frau wird den Ernst einer wissenschaftlichen<br />
Arbeit, eines strengen Wahrheitsuchens,<br />
des freien Denkens, des künstlerischen<br />
Schaffens verstehen. Sie wird die Notwendigkeit<br />
der Gesetze der Natur <strong>und</strong> des Verlaufs<br />
der Entwicklung begreifen; sie wird Solidaritätsgefühl<br />
<strong>und</strong> Gesellschaftsinteressen besitzen<br />
Weil sie mehr weiss <strong>und</strong> klarer denkt als die<br />
Frau der Gegenwart, ist sie auch gerechter;<br />
weil sie stärker ist, ist sie besser; weil weiser,<br />
auch milder. Sie kann im Grossen sehen, <strong>und</strong><br />
sie kann im Zusammenhang sehen; dabei<br />
verliert sie gewisse Vorurteile, die noch T u -<br />
genden genannt werden. Sie verbleibt stets<br />
diejenige, die die Sitte modelt. Aber sie sucht<br />
dabei nicht ihre Stütze in der socialen Konvention,<br />
sondern in den Gesetzen ihres eigenen<br />
Wesens. Sie hat den Mut, eigene Gedanken<br />
zu denken <strong>und</strong> die neuen Gedanken<br />
ihrer Zeit zu prüfen. Sie wagt, Gefühle zu<br />
empfinden <strong>und</strong> zu bekennen, die sie jetzt<br />
unterdrückt <strong>und</strong> verhehlt. Ihre volle Bewegungsfreiheit<br />
<strong>und</strong> allseitige persönliche Entwicklur.gsfreiheit<br />
ermöglichen kühne Lebensversuche,<br />
ein energisches Streben nach einem<br />
Dasein, das mit ihrem eigenen Ich auf gleicher<br />
Stufe steht; <strong>und</strong> ein solches Dasein wird sie<br />
auch mit sichererem Instinkt als jetzt zu finden'<br />
wissen. Sie versteht es, intensiver zu arbeiten,<br />
intensiver zu ruhen <strong>und</strong> sich intensiver aller<br />
naheliegenden, einfachen Freudequellen zu<br />
freuen, als die Frau der Gegenwart es vermag.<br />
So wird das Lebensgefühl des neuen Weibes<br />
steigen, ihre Erfahrung sich vertiefen, ihr<br />
Seelenleben, ihre Schönheitsforderungen, ihre<br />
Sinne sich entwickeln <strong>und</strong> verfeinern. Sie ist<br />
sehr sensitiv, sehr rasch vibrierend, <strong>und</strong> sie<br />
wird darum viel mehr geniessen <strong>und</strong> auch<br />
viel mehr leiden können, als die Menschen<br />
der Gegenwart es vermögen . . .<br />
Die Frau des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wird nicht<br />
nur viel gelernt, sie wird auch viel vergessen<br />
haben — besonders von den sowohl femininen,<br />
wie antifemininen Torheiten der Gegenwart.<br />
—<br />
Sie wird mit ihrem ganzen Wesen das<br />
Glück der Liebe wollen. Sie ist keusch, nicht<br />
aus Kälte, sondern aus Leidenschaft. Sie ist<br />
vornehm, nicht weil sie bleichsüchtig, sondern<br />
weil sie vollblütig ist. Sie ist sinnlich, weil<br />
sie seelenvoll, <strong>und</strong> wahr, weil sie stolz ist.<br />
Sie fordert eine grosse Liebe, weil sie selbst<br />
mit noch grösserer zu lieben vermag. Das<br />
erotische Problem wird durch ihren verfeinerten<br />
Idealismus sehr zusammengesetzt <strong>und</strong><br />
oft schwer lösbar sein. Dafür ist das Glück,
d a s sie schenken <strong>und</strong> empfinden wird, reicher,<br />
tiefer <strong>und</strong> dauernder als irgend etwas,<br />
d a s bis nun Glück genannt ward. Viele Züge,<br />
die der heutigen Gattin <strong>und</strong> Mutter eigen sind,<br />
werden wahrscheinlich der Frau des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
fehlen. Diese wird stets Geliebte<br />
bleiben, <strong>und</strong> nur so wird sie Mutter werden.<br />
Der schweren <strong>und</strong> schönen Kunst, Geliebte<br />
<strong>und</strong> Mutter zugleich zu sein, wird sie ihre<br />
vornehmsten <strong>und</strong> stärksten Kräfte widmen: ihr<br />
religiöser Kult wird sein, des Lebens Seligkeit<br />
zu schaffen. Weil sie die physischen <strong>und</strong><br />
die psychischen Voraussetzungen der Ges<strong>und</strong>heit<br />
<strong>und</strong> der Schönheit kennt <strong>und</strong> würdigt,<br />
wird sie mit klarerem Blick <strong>und</strong> tieferem<br />
Verantwoitlichkeitsgefühl als jetzt den Vater<br />
ihrer Kinder wählen; sie wird ges<strong>und</strong>e <strong>und</strong><br />
schöne Menschen gebären <strong>und</strong> erziehen, <strong>und</strong><br />
sie selber wird grösseren Reiz <strong>und</strong> längere<br />
Jugend besitzen als die Frauen der Gegenwart.<br />
Sie wird ihr ganzes Leben gefallen,<br />
weil sie immer das Dasein verschönern wird.<br />
Aber sie wird nur dadurch gefallen, dass sie<br />
in jedem Alter ganz sie selbst ist; <strong>und</strong> ihre<br />
uuvergängliche Jugend, ihre höchste Schönheit<br />
offenbait sie einzig <strong>und</strong> allein an dem, den<br />
sie liebt. Sie weiss, dass der seelische Zauber<br />
der tiefste ist; <strong>und</strong> aus ihres Wesens Fülle<br />
schöpft sie die ewige Erneuerung dieses Zaubers,<br />
stets unerwartete <strong>und</strong> ins Unendliche<br />
nuancierte Äusserungen ihrer individuellen<br />
Grazie. Durch ihre blosse Gegenwart hebt<br />
sie den Zwang der Form <strong>und</strong> der Gewohnheit<br />
auf <strong>und</strong> schafft wechselnde durch ihre<br />
eigene Vornehmheit geadelte Formen des Zusammenlebens<br />
in der Familie, in der Öffentlichkeit<br />
<strong>und</strong> in der Gesellschaft. Sie wird<br />
wahrscheinlich weniger sprechen als die Frau<br />
der Gegenwart, aber ihr Schweigen <strong>und</strong> ihr<br />
Lächeln werden beredter sein. Sie teilt sich<br />
immer unmittelbar <strong>und</strong> immer massvoll mit,<br />
differenziert <strong>und</strong> unveränderlich, spontan <strong>und</strong><br />
auserlesen. Ihr Wesen strömt frei <strong>und</strong> sprudelnd<br />
frisch hervor, wie der Schwall des<br />
Giessbaches, aber gleich diesem von einem<br />
festen, inneren Rhytmus geb<strong>und</strong>en. Wie weit<br />
sie sich auch gehen lässt — im Taumel der<br />
Freude, in der Leidenschaft der Zärtlichkeit,<br />
im Rausch des Glückes oder in der Raserei<br />
des Schmerzes —, sie verliert doch niemals<br />
sich selbst. Sie ist eine Vielheit von Frauen<br />
<strong>und</strong> doch immer eine, mag sie spielen <strong>und</strong><br />
lächeln; mag sie in Ges<strong>und</strong>heit strahlen oder<br />
aus tödlichen W<strong>und</strong>en verbluten; mag Ruhe<br />
<strong>und</strong> Nervenspannung, Jubel oder Tränen, Sonne<br />
oder Nacht, Kühlung oder Glut sie erfüllen<br />
<strong>und</strong> von ihr ausstrahlen.<br />
Die Reiter.<br />
Von L o u i s B e r t r a n d .<br />
(Aus dem Französischen von Clara Hepner).<br />
Drei dunkle Reiter, jeder eine junge Dirne<br />
vor sich im Sattel, klopften an die Klosterpforte.<br />
„Holla! Holla!"<br />
Einer hebt sich im Bügel.<br />
„Holla! Gebt ein Obdach im Sturm!<br />
W a s fürchtet Ihr? Blickt durchs Guckloch.<br />
Sind diese Kleinen, die uns am Halse hängen,<br />
nicht lieblich anzuschauen, die Kleinfüsschen<br />
an unseren Satteln nicht wert, geküsst zu<br />
w e r d e n ? "<br />
Der Pförtner scheint zu schlafen.<br />
„Holla! Holla!"<br />
Der Eine rufts, zitternd vor Frost.<br />
„Gebt uns ein Lager, im Namen der<br />
Mutter Gottes. Wir sind verirrte Pilger. <strong>Unser</strong>e<br />
Reliquien sind durchnässt; vom Rand unserer<br />
Hüte, aus den Fellen unserer Mäntel rieselt<br />
das Wasser. <strong>Unser</strong>e Rosse haben die Eisen<br />
verloren <strong>und</strong> straucheln vor Müdigkeit!"<br />
Eine Helligkeit schimmerte durch die<br />
Ritzen der Pforte:<br />
„Zurück, Geister der Hölle!"<br />
Der Prior ist's <strong>und</strong> seine Mönche in<br />
Prozession, mit Kerzen in den Händen.<br />
„Zurück, Töchter der Lüge! Und seid<br />
ihr Fleisch <strong>und</strong> Bein, so verhüte Gott, dass<br />
wir Heidinnen aufnehmen oder Abtrünnige in<br />
den Frieden unseres Klosters!"<br />
„Hiss!" rufen die kühnen Reiter, „hiss,<br />
hiss!" <strong>und</strong> wirbeln hinweg in den Sturm,<br />
über den Fluss, in den Wald.<br />
* *<br />
*<br />
„Konnten wir nicht die jungen Sünderinnen<br />
zu Reue <strong>und</strong> Gnade führen?" murmelt<br />
ein junger Mönch, blond <strong>und</strong> r<strong>und</strong> wie ein<br />
Cherubin.<br />
„Bruder", flüstert der Abt ihm ins Ohr<br />
„Ihr vergesst Madame Aliénor <strong>und</strong> ihre Nichte,<br />
die uns oben zur Beichte erwarten!"
Alexander Herzen, Erinnerungen.<br />
Aus dem Russischen überfragen <strong>und</strong> eingeleitet von<br />
Dr. Otto Buek. 2 Bde. Mit 3 Bildern. Verlag von<br />
Wiegandt & Grieben (G. R. Sarasin) in Berlin. Mk.<br />
10 — ; geb. Mk. 12 50.<br />
Die Erinnerungen Alexander Herzens stellen<br />
eins der hervorragendsten Memoirenwerke ans dem<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>ert dar, das an Bedeutung der berühmten<br />
<strong>und</strong> mit so viel Beifall aufgenommenen Autobiographie<br />
eines anderen russischen Freiheitsvorkämpfers,<br />
des Genossen Peter Krapotkin, gleich kommt.<br />
Das ganze, an Ereignissen <strong>und</strong> inneren Erlebnissen<br />
so reiche Leben des Verfassers zieht an dem Blicke<br />
des Lesers vorüber: die Kindheit <strong>und</strong> Jugend dieses<br />
Repräsentanten des Moskauer Hochadels, die politischen<br />
Verfolgungen unter Nikolaus I., seine Auswanderung<br />
aus Russland <strong>und</strong> sein bewegtes Leben<br />
im persönlichen Verkehr mit den grossen Politikern,<br />
Publizisten <strong>und</strong> Dichtern der 48er Periode: Garibaldi,<br />
Mazzini, Orsini, Kossuth, Ledru Rollin, Fazy,<br />
Herwegh, Karl Vogt, Heinzen, Struve, Bakunin u.<br />
a. m. Alle diese Persönlichkeiten treten in geistvoller<br />
Charakteristik hervor <strong>und</strong> werden vor unseren<br />
Augen lebendig. Zu diesem ausseien historischen<br />
Interesse kommt noch ein inneres psychologisches<br />
hinzu. Das Buch spiegelt das seelische Drama eines<br />
Mannes, der seinen revolutionären GMuben fast<br />
völlig eingebüsst hat — besonders nach den furchtbaren<br />
Vorgängen des Jahres 1848 —, die Tiagik<br />
einer Persönlichkeit, die viel zu viel nachgedacht<br />
hat <strong>und</strong> zu fein fühlte, um sich bei der Phraseologie<br />
politischer Doktrinäre zu beruhigen <strong>und</strong> in<br />
ihr eine wirkliche Lösung jener sozialen <strong>und</strong> moralischen<br />
Probleme zu sehen, welche sie schon<br />
seit den Studienjahren unter dem Einfluss der russischen<br />
Lebenswirklichkeit <strong>und</strong> dem mächtigen Eindruck<br />
der deutschen idealistischen Philosophie beschäftigten<br />
<strong>und</strong> beunruhigten. Der Autor gilt in<br />
Russland nicht ohne Gr<strong>und</strong> für einen der hervorragendsten<br />
Schriftsteller <strong>und</strong> Stilisten. Die Lebhaftigkeit<br />
<strong>und</strong> Plastik seiner Sprache, die Kühnheit<br />
seiner Assoziationen reissen den Leser mit sich<br />
fort <strong>und</strong> bilden die Eigentümlichkeit dieses Stiles,<br />
den schon ein solcher Kenner wie Friedrich Nietzsche<br />
lebhaft bew<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> anerkannt hat. Herzen ist<br />
bisher von deutschen Lesern noch lange nicht genügend<br />
gewürdigt. Es rührt da- hauptsächlich daher,<br />
dass seine Werke bisher in Russland verboten<br />
waren; erst die Springflut der russischen Revolution<br />
hat seinen Namen wieder emporgetragen<br />
<strong>und</strong> die wissenschaftliche Forschung auf ihn hingelenkt.<br />
Man kann überzeugt sein, dass bei uns<br />
Herzens Erinnerungen nicht nur in den weiteren<br />
Schichten des lesenden Publikums, sondern auch<br />
unter den Literarhistorikern ein lebhaftes Interesse<br />
wecken werden, denen sie manche bedeutsame<br />
Anregung geben dürften. Einen guten Anfang dafür<br />
bietet die orientierende Einleitung, die der Herausgeber<br />
dem Werke vorangeschickt hat, <strong>und</strong> die der<br />
Ausgabe noch einen erhöhten Wert verleiht.<br />
Indem wir das Werk auf das Wärmste empfehlen,<br />
verweisen wir auf eine gründlichere, ein-<br />
gehende Rezension, die demnächst erscheine n<br />
wird <strong>und</strong> diesen „Erinnerungen" erst wirklich Wilr -<br />
digung zuteil werden lassen soll.<br />
E i n e S e l b s t a n k ü n d i g u n g .<br />
„Utopja." Eine unperiodische, polnische Zeit -<br />
schrift, gewidmet der Kunst <strong>und</strong> dem Leben: re -<br />
digiert <strong>und</strong> herausgegeben von Arnold Gahlberg<br />
Nr. 1., Przemysl, Qalizien 1908.<br />
„Ich suche meine Welt im Himmel <strong>und</strong> schaffe<br />
mir erträumte Paradiese auf der E r d e : ich liebe<br />
meine Phantasmagorien <strong>und</strong> sehe im unbeständigen<br />
Streben nach ihrer Verwirklichung die einzige, meine<br />
Wirklichkeit. Mein Wille ist das naive Ewig-Menschliche<br />
<strong>und</strong> er ist zugleich der grosse gottesähnliche<br />
Dichter <strong>und</strong> plastische Bildner meiner irdischen<br />
Himmel, meiner Walhalla."<br />
Also spricht zu uns die unsterbliche Tradition<br />
vom Ikarusflug des menschlichen Gedankens, eine<br />
der weltenschaffenden Ideen des Kampfes um Befreiung<br />
der Kunst im frohlachenden Leben, des Lebens<br />
durch die himmlische Ekstase der hellenischen<br />
Kunst: „Utopie-" Meister Peter Hille's Lebens Offenbarung<br />
auf der Seele hochgebirgigen W e g e n ;<br />
ich verkünde diesen Namen als die höchste Losung<br />
der ewig revoltirenden Idee der Anarchie. Darin<br />
liegt meines Lebens tiefstes Weh <strong>und</strong> höchste Leidenslust.<br />
Und wer darin ein Mittel zur Konfessionsoder<br />
sonstigen Parteiprogrammlosigkeit findet,<br />
der hat mich mehr als verstanden. Ich führe als<br />
Mitarbeiter nur die treffliche Probe Gustav Landauers,<br />
eines der Minneritter der „Utopie" an, diese<br />
als einen <strong>Weg</strong> zu bezeichnen, der nicht nur der<br />
Freiheit, sondern in erster Reihe dem freien Geiste<br />
dienen soll, in dem wir schon heute Freiheit <strong>und</strong><br />
soziale Auferstehung finden werden. Ich weiss, dass<br />
man dagegen seitens der „Viel-zu-Vielen" energisch<br />
protestieren wird. Aber wir Zigeuner, wir Einzelne,<br />
die wir „unsere Sache auf Nichts gestellt" <strong>und</strong><br />
uns des sg. Ansehens beim alleinherrschenden in-,<br />
telligenten Mob längst entschlagen haben, werden<br />
ja darauf nicht achten, vielmehr uns an alle geistig<br />
ewig jungen, unverbesserlichen „Utopisten" wenden,<br />
die der Lebensträume goldene Morgenröten noch<br />
nicht durchgeträumt <strong>und</strong> ihr Herzblut dem Dienste<br />
des „intelligenten* Pöbels nicht verkauft h a b e n ;<br />
an Euch, Ringende, werden wir lauten Kampfesruf<br />
ergehen lassen!<br />
Des freien Menschen Eigentum verkündend,<br />
Wort <strong>und</strong> Tat, Kunst <strong>und</strong> Leben in ein unsterbliches<br />
Auferstehungssinnbild zusammenflechtend,<br />
rufen wir Euch an die Tafel heran, teilzunehmen<br />
an dem Ikarusfluge der Seele, einzutreten in das<br />
Land der „Utopie". Wir, Utopiens Träumer, treten,<br />
in das Heiligste ein <strong>und</strong> während des Gastmahls<br />
unserer Seele <strong>und</strong> unseres Herzens wird Er, Meister<br />
Peter, uns Jüngern, jenes unerforschliche Daseinsgeheimnis<br />
verkünden: „Ich bin — also ist die<br />
Schönheit." J. Machar (A. G)<br />
Ammerk. d. Red. Aus dem Inhalt des ersten<br />
Heftes heben wir hervor: Erich Mühsam: Peter<br />
Hille. Gustav Landauer: Durch Absonderung zur<br />
Gemeinschaft, brich Mühsam: Die Boheme. A. G.:<br />
Ein Wort über Utopia. Die Nr. ist dem Andenken<br />
Peter Hille's gewidmet <strong>und</strong> bietet uns die Gr<strong>und</strong>gedanken<br />
des anarchistischen Idealismus, der Synthese<br />
von Kunst <strong>und</strong> Leben. Die Redaktion verspricht<br />
uns, die nächsten Nummern der Utopja den<br />
hervorragendsten Repräsentanten der Anarchie zu<br />
widmen. Verwertet sollen unter and., die Arbeiten<br />
werden von Wilhelm Spohr, Dr. H. H. Ewers, Gu-
stav Landauer, Dr. Ben. Friedländer. Pierre Ramus,<br />
Dr. Max Nettlau, J. H. Mackay.)<br />
Ein interessantes Schriftchen, das wir allen<br />
unseren Lesern schon deshalb angelegentlichst empfehlen,<br />
weil es ein in unserer Bewegung arg vernachlässigtes<br />
<strong>und</strong> deshalb meist unverstandenes<br />
Thema behandelt, ist jenes von P a u l R o b i n über<br />
„Liebesfreiheit oder Eheprostitution", das der<br />
Genosse A r m a n d F e r n a u aus dem Französischen<br />
übersetzte <strong>und</strong> vom Verlag A. Plessner, Berlin<br />
N. W. 87, Wullenweberstr., 7, herausgegeben<br />
wurde. Preis 10 Pfg.<br />
Im Verlag von J. H. W. D i e t z N a c h f. in<br />
S t u t t g a r t ist soeben erschienen: Die Anfänge<br />
der deutschen Arbeiterbewegung in Amerika,<br />
von H e r r m a n n S c h l ü t e r . XII. <strong>und</strong> 216 Seiten<br />
Grossoktav. Preis broschiert 3 Mk., geb<strong>und</strong>en 4 Mk.<br />
Der Verfasser, seit langen Jahren Redakteur<br />
der „New Yorker Volkszeitung", beginnt mit dem<br />
vorliegenden Bande eine Geschichte der deutschen<br />
Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten an<br />
der Hand eines grossen Quellenmaterials, das er<br />
sich durch eifrige Sammelarbeit zugänglich gemacht<br />
hat. Aus dem reichen Inhalt heben wir hervor:<br />
W i l h e l m W e i t l i n g u n d s e i n e A g i t a t i o n<br />
i n A m e r i k a . — N e g e r s k l a v e r e i u n d A r -<br />
b e i t e r b e w e g u n g . D e r s o z i a l i s t i s c h e<br />
T u r n e r b u n d . Ganz besonders ist der Teil des<br />
Buches, der Weitling <strong>und</strong> seine Agitation behandelt,<br />
von grossem Interesse. Obwohl das Buch durch<br />
seine sozialdemokratische T e n d e n z v i e l e s<br />
zu wünschen übrig lässt, verdient es dennoch, um<br />
seines reichen dokumentarischen Materials willen,<br />
die eifrigste Förderung.<br />
Cabet, Das Weib, sein unglückliches Schicksal<br />
in der gegenwärtigen Gesellschaft, sein Glück in<br />
der zukünftigen Gemeinschaft. Vorwort von Dr.<br />
Hugo Lindemann. Sammlung gesellschaftswissenschaftlicher<br />
Aufsätze. 18. Heft. Verlag von M. Ernst,<br />
München. 8°, XI <strong>und</strong> 20 Seiten, Preis 40 Pfg.<br />
Hermann Huth, Soziale <strong>und</strong> individualistische<br />
Auffassung im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert, vornehmlich bei A d a m<br />
S m i t h <strong>und</strong> A d a m F e r g u s o n . Verlag von<br />
Duncker & Humblot, Leipzig. Preis Mk. 4 4 0 .<br />
Publication des intern, anarch. Bureaus.,<br />
Resolutionen des anarchistischen Kongresses von<br />
Amsterdam.<br />
Eugen Wolfsdorf, Wie klärt man die Kindel<br />
auf? — Das Dogma von der Vaterlandsliebe u. d.<br />
Völkerrecht. Verlag beider Broschüren „Die Einigkeit",<br />
Berlin, C 54. ä 10 Pfg.<br />
In e n g l i s c h e r S p r a c h e .<br />
Guy A. Aldred, 1. Die Möglichkeiten <strong>und</strong> Philosophie<br />
des kommunistischen Anarchismus. 2. Das<br />
historische <strong>und</strong> traditionelle Christentum. 3. Religion<br />
<strong>und</strong> ökonomische Grandsätze der geschlechtlichen<br />
Bedrückung. Verlag der „Bakunin-Presse",<br />
133 Goswell Rd., London E. C. England.<br />
Hutchins Hapgood, Der Geist der Arbeit.<br />
Verlag Duffleld & Co., 36 East 21. Str., New York,<br />
Ver. Staaten. Eine aus Skizzen bestehende Schilderung<br />
der Arbeiter- <strong>und</strong> anarchistischen Bewegung<br />
Chicago's.<br />
In f r a n z ö s i s c h e r S p r a c h e .<br />
J e a n Grave, Freie Erde. Ein vorzüglicher Erziehungsroman<br />
für Kinder <strong>und</strong> Erwachsene. Verlag<br />
„Temps Nouveanx", 4 Rue Broca, Paris V. Frankreich.<br />
In h o l l ä n d i s c h e r S p r a c h e .<br />
Der S o l d a t e n a l m a n a c h d e s J a h r e s 1908. Herausgegeben<br />
von der „Internationalen antimilitaristischen<br />
Vereinigung der Niederlande." C. Ten<br />
Wolde, Sekretär., Maschienenstraat A. 165, Koog a.<br />
d. Zaan, Holland.<br />
Lieder des Elends.<br />
Handwerksburschenpenne.<br />
Das Geld ist aus, die Flasche leer,<br />
Und einer nach dem andern<br />
Legt sich zu Boden müde sehr<br />
Und ruht vom langen Wandern.<br />
Der eine träumt noch vom Gendarm<br />
Dem er mit Not entronnen,<br />
Dem andern ist, er liege Warm<br />
Im Felde an der Sonnen.<br />
Der dritte „K<strong>und</strong>e" schaut ins Licht,<br />
Als ob er Geister sehe,<br />
Er stützt den Kopf <strong>und</strong> schlummert nicht.<br />
Er hat ein heimlich Wehe.<br />
Das Licht verlischt <strong>und</strong> alles ruht,<br />
Nur noch die Scheiben funkeln,<br />
Da nimmt er leise Stock <strong>und</strong> Hut<br />
Und wandert fort im Dunkeln.<br />
Herrmann Hesse.<br />
Vagab<strong>und</strong>.<br />
Es haben sich die Nächte<br />
Gar plötzlich abgekühlt,<br />
Ich steh' vertieft am Flusse,<br />
In dem die Windsbraut wühlt.<br />
Ich starre in die Wellen,<br />
Umweht vom frost'gen Wind.<br />
Es kommt ein leichtes Mädchen.<br />
„Ich hab' kein Geld, mein Kind".<br />
Sie streichelt mich so fre<strong>und</strong>lich,<br />
Ich tu ihr gar wohl leid:<br />
Mir nagt im Leib der Hunger,<br />
Im Kopfe Müdigkeit.<br />
Du bist wohl satt, Geliebte?<br />
Sie geht — ich wünsche nur,<br />
Dass ich ein Mädchen wäre:<br />
Ich würde eine Hur'.<br />
Hugo Sonnenschein-Wien*).<br />
*) Verfasser dieses ist Anarchist <strong>und</strong> hat erst<br />
neulich im Verlag E. Pierson, Dresden ein Gedichtbändchen<br />
gleicher Tendenz wie obiges Original unter<br />
dem Titel: „Ad s o l e m ; e i n e g r e l l e J u g e n d "<br />
herausgegeben.
Ihr superklugen Auguren der Politik <strong>und</strong><br />
der Übervorteilung — seht ihr nun, wie sehr<br />
die Anarchisten gegen jede Reform s i n d ?<br />
Proletarier urteilt selbst: W e r sind die w a h -<br />
ren Reformisten — wir oder die Socialdemokratie<br />
?<br />
Antwort: J e d e w a h r e R e f o r m i s t<br />
r e v o l u t i o n ä r , j e d e S c h e i n r e f o r m , a u f<br />
d e m W e g e u n d m i t t e l s d e s P a r l a -<br />
m e n t a r i s m u s d u r c h g e f ü h r t , i s t<br />
S c h w i n d e l u n d T ä u s c h u n g , bewusst<br />
oder unbewusst. Wir revolutionären Anarchisten<br />
sind für wahre Reformen, hervorgehend<br />
aus der Kraft des Volkes selbst; die<br />
Socialdemokraten lassen sich von den betrügerischen<br />
Versprechungen der Bourgeoispolitiker<br />
abspeisen <strong>und</strong> nehmen teil an diesem<br />
Betrug. Wir wollen k e i n e Reformen, die<br />
sich „als wirtschaftliche Notwendigkeiten der<br />
kapitalistischen Gesellschaft" ergeben; der<br />
Kapitalismus gibt sie uns ganz ohne unser<br />
Zutun oder unter dem Antrieb unserer r e -<br />
v o l u t i o n ä r e n Forderungen. Wir wollen<br />
die Reform, die ein Stück Befreiung, die<br />
wirklich eine Last vom Rücken des Proletariers<br />
abwälzt, uns näher bringt der socialen<br />
Revolution, der erwachten socialen <strong>und</strong> ökonomischen<br />
Gerechtigkeit des Volkes.<br />
Es ist bezeichnend, dass keine einzige<br />
bürgerliche Partei mit uns übereinstimmt, mit<br />
der Socialdemokratie so manche; es ist bezeichnend,<br />
dass eine so reaktionäre Partei,<br />
wie jene der österreichischen Christlichsocialen<br />
ebenfalls für die s t a a t l i c h e Alters<strong>und</strong><br />
Invaliditätsversicherung eintritt. Weil die<br />
Herren wohl wissen, dass es hier wieder<br />
gilt, den Pelz zu waschen, ohne ihn nass zu<br />
machen.<br />
Wir wenden uns gegen jede Reform des<br />
Staates, denn der Klassenstaat kann die Klassengegensätze<br />
nur befestigen <strong>und</strong> alles, was<br />
er gibt, isf ein Danaergeschenk, das wir als<br />
revolutionäre Proletarier von uns weisen<br />
müssen. S e i n e Reformen sind Schein <strong>und</strong><br />
Täuschung, ganz ebenso wie die Versprechungen<br />
aller politischen Parteien. Wir allein<br />
bieten dem Volke die Wahrheit; wir weisen<br />
ihm den direkten W e g der Selbstbetätigung.<br />
Reformen, die bürokratische Vermittler brauchen,<br />
sind keine Reformen; unsere Reform<br />
ist die Erfüllung des proletarischen Lebensinhaltes<br />
mit Neuem, die Heranentwicklung<br />
seiner organisatorischen <strong>und</strong> socialen Macht<br />
zur selbständigen wirtschaftlichen Aktion,<br />
unsere Reform ist die Steigerung der Macht<br />
des Proletariats <strong>und</strong> indem sie sich abwendet<br />
von dem p a p i e r e n e n gesetzlichen Ausdruck,<br />
den realen, social <strong>und</strong> praktisch durchgeführten<br />
Verwirklichungsweg beschreitet, ist<br />
unsere revolutionäre Reform eine Bahnbrecherin<br />
für die Zukunft, für den Socialismus,<br />
für die Freiheit.<br />
Weshalb wir Anarchisten sind.<br />
Von Elisee Reclus.<br />
Wir sind „Revolutionäre", weil wir die<br />
frei waltende sociale Gerechtigkeit erstreben,<br />
anstatt dieser nichts anderes um uns erblicken<br />
als Unrecht <strong>und</strong> Ungerechtigkeit.<br />
Die Verteilung der Arbeitserzeugnisse<br />
findet in der modernen Gesellschaft in einer<br />
verkehrten Weise statt; dadurch wird die<br />
Arbeit selbst schwieriger <strong>und</strong> mühsamer. Der<br />
Nichtproduzent, der Reiche, besitzt alle Rechte,<br />
selbst dieses: s e i n e n M i t m e n s c h e n v e r -<br />
h u n g e r n z u l a s s e n . Dem Armen gesteht<br />
man bisweilen nicht einmal das Recht zu,<br />
in Stille <strong>und</strong> nach Bedürfnis zu sterben. Man<br />
sperrt den Arbeiter ein, sobald er kein Auskommen<br />
findet <strong>und</strong> Vagab<strong>und</strong> wird. Leute,<br />
die sich Priester, Seelsorger, nennen, trachten<br />
darnach, den Einfältigen einen Wahnglauben<br />
einzuflössen; den, dass ihrer priesterlichen<br />
Einsicht die Resultate der Wissenschaft unterworfen<br />
sind. Wiederum gibt es Leute, die<br />
sich Könige nennen <strong>und</strong> vorgehen, von einem<br />
einzigen, ganz besonderen Ahnen abzustammen,<br />
um ihrerseits wieder Übernatürliches<br />
<strong>und</strong> Herrschaftliches darstellen zu können.<br />
Sie setzen das Volk in Bewegung <strong>und</strong> dieses<br />
hackt, säbelt <strong>und</strong> schiesst alles nieder, das<br />
als Feind zu betrachten es gelehrt wurde.<br />
Dann kommen wieder Männer, angetan in<br />
schwarzen Röcken, die sich die vollkommene<br />
Gerechtigkeit dünken, <strong>und</strong> sie verurteilen den<br />
Armen, sprechen den Reichen frei, in Republiken<br />
verkaufen sie oftmals die Verurteilungen<br />
<strong>und</strong> Freisprüche. Kaufleute verteilen Gift an<br />
Stelle von reiner, guter Nahrung; sie morden<br />
im Kleinen, nicht im Grossen, <strong>und</strong> so werden<br />
sie geachtete Kapitalisten. Der Geldsack ist<br />
der Herrscher <strong>und</strong> der ihn besitzt, hält das<br />
Lebenslos des anderen Menschen in Händen.<br />
Alles das erklären wir Anarchisten für<br />
verwerflich, wollen solches verändern. Gegenüber<br />
diesem Unrecht erschallt unser Ruf nach<br />
der socialen Revolution.<br />
Doch halt: — „Recht, Gerechtigkeit,<br />
das sind blos Worte, die wir laut gewöhnlicher<br />
Übereinkunft gebrauchen", ruft man<br />
uns zu. „ W a s in Wahrheit besteht ist die<br />
M a c h t : das Recht des Stärkeren . . . "<br />
Wohlan, wir akzeptieren es. Aber deshalb<br />
sind wir nicht weniger R e v o l u t i o n ä r ! Von<br />
zwei Dingen eines: Entweder die Gerechtigkeit<br />
ist ein menschheitliches Ideal, <strong>und</strong> dann<br />
beanspruchen wir dieses für einen jeden,<br />
oder aber sie ist ein Ausdruck der Macht,<br />
der die Gesellschaft beherrscht, <strong>und</strong> dann gibt<br />
es kein moralisches Recht, das uns davon<br />
abhalten könnte, u n s e r e Macht gegen nusere<br />
Feinde zu gebrauchen.<br />
Man missverstehe uns nicht: Die Freiheit<br />
für Alle — oder das Gesetz der Vergeltung<br />
für Alle!<br />
„Doch weshalb sich übereilen?" sagen<br />
diejenigen, die alles von der Zeit, der „Entwicklung"<br />
erwarten, um — selbst n i c h t s<br />
tun zu müssen. Die allmähliche Entwicklung,<br />
die angeblich alles besorgt, ist ihnen genüg<br />
e n d ; die sociale Umwälzung flösst ihnen<br />
Schrecken ein, sie verschmähen sie.<br />
*<br />
Über diese Entwicklungstheoretiker <strong>und</strong><br />
uns hat die Geschichte der Erfahrung ihren<br />
Urteilsspruch gefällt.<br />
Weder teilweise noch in seinem Ganzen<br />
hat sich jemals ein historischer Vorgang ausschliesslich<br />
<strong>und</strong> allein auf dem <strong>Weg</strong>e der<br />
Evolution abgewickelt; in seiner Ganzheit<br />
ist er stets durch plötzliche Revolutionen entstanden.<br />
Die vorbereitenden Eindrücke <strong>und</strong><br />
die geistige Arbeit finden zuerst statt, dies<br />
ist richtig; der Gedanke selbst, die Idee <strong>und</strong><br />
ihre Verwirklichung aber, das entsteht urplötzlich.<br />
Die Evolution muss in den Köpfen<br />
sich vollziehen, die Arme aber machen die<br />
Revolution.<br />
Und wie können wir dieser Revolution<br />
helfen, die wir allmählich in der Gesellschaft<br />
ihren Lauf nehmen s e h e n ? Wie können wir<br />
sie fördern, wir, die wir mit aller Kraft an<br />
ihrer Verwirklichung tätig sein sollen? Ist es<br />
unsere Aufgabe, uns einzurichten, wie die<br />
Bourgeois oder wie Politiker, also wie bourgeoise<br />
Elemente, die wir bekämpfen; sollen<br />
wir weiter fortfahren, uns „verantwortliche"<br />
Führer zu schaffen <strong>und</strong> unverantwortliche<br />
Untertanen zu bleiben, Werkzeuge in Händen<br />
eines einzigen Leiters?<br />
*<br />
Nein. Denn wir müssen uns als Anarchisten<br />
fühlen, also als Menschen, die die<br />
volle Verantwortlichkeit für ihre Aktionen<br />
tragen, die durch das Gefühl ihres Rechtes<br />
<strong>und</strong> aus ihrer persönlichen Pflichterkenntnis<br />
heraus handeln, die einem jeden Wesen seine<br />
natürliche, selbständige Entwicklung überlassen,<br />
keinen beherrschen <strong>und</strong> keinen als<br />
Herrscher über sich anerkennen.<br />
*<br />
Wir wollen uns vom staatlichen Zwange<br />
befreien; wir missachten die Befehle der M a -<br />
jorität ebenso wie jene der Minorität, die<br />
ihren Willen an die Stelle unseres eigenen,<br />
unserer Empfindungen <strong>und</strong> Neigungen zu<br />
stellen wünscht.<br />
Wir streben die Beseitigung a l l e r ä u -<br />
s s e r l i c h e n Gesetze an <strong>und</strong> halten fest an<br />
dem I n n e n g e s e t z e der menschlichen Natur,<br />
eines jeden Geschöpfes, wünschen die<br />
bewusste, geistige Entwicklung dieses inneren<br />
Gesetzes. Indem wir den Staat abgeschafft<br />
sehen wollen, beseitigen wir auch die offizielle<br />
Moral, in der wohlbegründeten Erkenntnis,<br />
dass keine Ethik in der gehorsamen<br />
Beugung vor unbegriffenen Geboten begründet<br />
sein kann; vor Dingen, über deren W e -<br />
sensart man sich meistens keine Rechenschaft<br />
zu geben vermag. Ohne Freiheit keine echte<br />
Moral, <strong>und</strong> es ist einzig in der Freiheit, dass<br />
diese einer ges<strong>und</strong>en Erneuerung fähig.<br />
*<br />
F r e i m ü t i g w o l l e n w i r b l e i b e n ,<br />
u n s u n s e r e n G e i s t v o r u r t e i l s l o s b e -<br />
w a h r e n u n d i h n v o r b e r e i t e n , e m -<br />
p f ä n g l i c h m a c h e n f ü r j e d e s G e -<br />
s c h e h n i s , f ü r j e d e n n e u e n G e -<br />
d a n k e n , f ü r j e d e n e d e l m ü t i g e n<br />
E n t s c h l u s s !<br />
Doch indem wir Anarchisten sind, Gegner<br />
j e d e r Herrschaft, sind wir gleichzeitig auch<br />
internationale Kommunisten. Wir begreifen,<br />
dass das individuelle Leben ohne gesellschaftliche<br />
Vereinigung unmöglich ist. Vereinzelt<br />
können wir nichts, kraft inniger, solidarischer<br />
Vereinigung können wir die Welt erobern.<br />
Wir vereinigen uns als freie, gleiche M e n -<br />
schen, in gemeinsamer Arbeit arbeitend <strong>und</strong><br />
<strong>und</strong> regeln unsere gegenseitigen Beziehungen<br />
durch Wohlwollen <strong>und</strong> Gerechtigkeit, durch<br />
die Vernunft. Nicht mehr kann uns der Hass<br />
der Religionen oder Nationen oder Rassen<br />
entzweien; das Studium <strong>und</strong> Erforschen der<br />
Natur wird unser e i n z i g e r Gottesdienst<br />
sein, denn als Anarchisten <strong>und</strong> Kommunisten<br />
ist die ganze Welt unser Vaterland. Die grosse<br />
U r s a c h e des Tierischen <strong>und</strong> der Niedrigkeit<br />
in uns wird aufhören zu bestehen. Die<br />
Erde wird gemeinschaftliches Eigentum, die<br />
Grenzen verschwinden, Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden,<br />
allen gehörend, wird zum Genüsse <strong>und</strong><br />
Wohlbefinden Aller bearbeitet. Die Erzeugnisse<br />
werden die besten Früchte der Natur <strong>und</strong><br />
Arbeit sein, <strong>und</strong> es wird sich nur darum<br />
handeln, wie sie verbessert <strong>und</strong> mit noch<br />
grösserer Arbeitsersparnis hervorgebracht werden<br />
können, als es heute mit unserer verworrenen<br />
<strong>und</strong> verkrüppelnden Arbeitsmethode<br />
geht. Und auch die Verteilung der Reichtümer<br />
des gesellschaftlichen Lebens unter den M e n -<br />
schen wird nicht mehr geleitet werden von<br />
einem oder vielen Unternehmern oder vom<br />
Staate, sondern durch die freien Vereinba
ungen der Menschen selbst, die in normaler<br />
Weise erzeugen <strong>und</strong> frei geniessen.<br />
Für uns ist die Zukunft n i c h t eine<br />
künstlich aufgebaute Form, die unabänderlich<br />
ist oder bleiben muss. Nein, die freie G e <br />
sellschaft der Zukunft wird sein das Werk<br />
spontan wirkender Individualitäten, die ihre<br />
Formen bilden <strong>und</strong> schaffen, die sich aber<br />
unaufhaltsam verändern <strong>und</strong> weiter entwickeln<br />
werden, wie alles Aussprüche des Lebens es<br />
tut. Doch was wir wissen, für uns als Lebenspostulat<br />
aufstellen, ist d i e s :<br />
Solange die ökonomische- Gleichheit für<br />
alle Menschen n i c h t etabliert ist — bleiben<br />
wir: i n t e r n a t i o n a l e A n a r c h i s t e n ,<br />
K o m m u n i s t e n , d i e d i e U n v e r m e i d <br />
l i c h k e i t d e r s o c i a l e n R e v o l u t i o n<br />
v e r k ü n d e n !<br />
(Übersetzt aus den; Französischen von J u s t<br />
S e r g e j e v).<br />
Syndikalismus*) <strong>und</strong> Parlamentarismus.<br />
Die Gegner des anarchistischen Generalstreiks<br />
stehen auf einem falschen Standpunkt,<br />
verstehen nicht die geschichtliche Rolle <strong>und</strong><br />
die historische Mission der gewerkschaftlichen<br />
Arbeiterorganisationen. In ihrer Beurteilung<br />
des anarchistischen Generalstreiks sehen sie<br />
blos, dass er den Einfluss des Parlamentarismus<br />
abschwächt. Darum sagte die hollandische<br />
Socialdemokratin Roland Holst in<br />
ihrer Broschüre „Generalstreik <strong>und</strong> Socialdemokratie"<br />
auch, dass der Gr<strong>und</strong>stein der<br />
Gewerkschaften, im Gerensatz zu der politischen<br />
Organisation, die angeblich auf den<br />
gemeinsamen Interessen der ganzen Arbeiterklasse<br />
beruht, die Gemeinschaft der engen<br />
Fachinteressen der Arbeiter eines bestimmten<br />
Faches sei. Aufgabe der Gewerkschaften solle<br />
aber nur sein, der Kampf gegen einzelne<br />
Kapitalisten oder gegen Gruppen der Kapitalisten.<br />
Dieser Gesichtspunkt ist falsch. Die<br />
Gegner des Generalstreiks, die Socialdemokraten,<br />
indem sie somit den Gewerkschaften<br />
keine tiefere Bedeutung beilegen, tun es aus<br />
folgenden Gründen. Sie behaupten, dass n u r<br />
d i e p o l i t i s c h e O r g a n i s a t i o n , die bei<br />
ihnen nichts ist, als die parlamentarische<br />
Fraktion, die Gemeinschaftlichkeit der Interessen<br />
d e r g a n z e n Arbeiterklasse vertrete;<br />
alle übrigen Erscheinungen des proletarischen<br />
Kampfes haben bei ihnen nur soviel Bedeutung,<br />
als sie zum Forlschrift des Parlamentarismus<br />
mitwirken. Damit zeigen sie, dass<br />
sie nur politische Parlamentarier sind, ihr<br />
Unverständnis für die sociale Kraft der Arbeiterbewegung.<br />
Es wäre Unwissenheit, wenn ich behaupten<br />
möchte, dass die Arbeitervereine<br />
nur die Früchte der Neuzeit seien. Arbeiter-<br />
*) Das französische Wort „Syndikalismus" bedeutet<br />
in deutscher Übertragung etwa dasselbe wie<br />
Gewerkschaft oder Berufsgenossenschaft. In Frankreich<br />
wiici dieses Wotf für die gesamte Gewerkschaftsbewegung<br />
angewandt. Das bedeutendste revolutionäre<br />
Gewerkschaftsorgan Frankreichs „La<br />
voix du peuple" („Volksstimme") redigiert von<br />
unseren Genossen E m i l e Pouget, Griffclhuis usw.,<br />
spricht deshalb immer auch in unterschiedlichem<br />
Sinne von einem „r e v o l u t i o n ä r e n Syndikalismus",<br />
„gelben Syndikalismus" (Streikbrecherorganisationen),<br />
„ r e f o r m i s t i s c h e n Syndikalismus"<br />
(socialdemokratische Gewerkschaftsorganisationen).<br />
Die für uns massgebende Gewerkschaftsorganisation<br />
Frankreichs ist jene der r e v o l u t i o n ä r e n Gewerkschaftsbewegung,<br />
die den Generaltitel „Arb<br />
e i t s k o n f ö d e r a t i o n " führt, <strong>und</strong> diese bezeichnen<br />
wir auch stets, wenn wir der Kürze halber<br />
nur das Wort Syndikalismus — also für uns die<br />
r e v o l u t i o n ä r e G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g —<br />
gebrauchen. (Anmerkung der Redaktion).<br />
vereine existierten schon bei den mittelalterlichen<br />
Handwerkern. Die modernen Gewerkschaften<br />
aber haben ihre eigene Form der<br />
Entwicklung angenommen. Sie entstanden als<br />
Waffe des Kampfes für unmittelbare Verbesserung<br />
der Lage des Proletariats. So lange<br />
die socialistischen Führer — die künftigen<br />
Parlamentarier — nicht die Absicht hatten,<br />
ins Parlament einzudringen, beschäftigten sie<br />
sich ausschliesslich mit der Agitation unter<br />
den Unterdrückten, auch unter der Bauernschaft<br />
<strong>und</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage des Kampfes<br />
für momentane Interessen organisierten sie<br />
das Proletariat für sein Endziel — für die<br />
Abschaffung des Kapitalismus <strong>und</strong> dessen<br />
Ersetzung durch den Socialismus. Damals<br />
sangen sie andere Liedchen als heutzutage.<br />
Der deutsche Socialdemokrat Liebknecht führte<br />
seinerzeit deutlich aus, dass der Parlamentarismus<br />
eine nutzlose Plauderei <strong>und</strong> eine Beschäftigung<br />
für „socialistische Phantasiepolitiker"<br />
sei.<br />
So propagierten auch die russischen Socialisten,<br />
die jetzigen Socialdemokraten in den<br />
70er Jahren. In der Zeitung „ C z e r n i j P e <br />
r e d e l " i n einem „ B r i e f e a n d e n e h e <br />
m a l i g e n G e n o s s e n " schrieb der Autor:<br />
„Die historische Erfahrung lehrt uns, dass<br />
die Reorganisierung der Gesellschaft auf gerechteren<br />
Gr<strong>und</strong>lagen nur mit Hilfe der ö k o <br />
n o m i s c h e n s o c i a l e n R e v o l u t i o n möglich<br />
ist, dass die politischen Umwälzungen<br />
n i r g e n d s <strong>und</strong> n i e m a l s die ökonomische<br />
<strong>und</strong> politische Freiheit garantieren konnten.<br />
Die Ideen uer politischen Freiheit — sowie<br />
die Souveränität des Volkes, das allgemeine<br />
Wahlrecht — in deren Namen die politischen<br />
Revolutionen vollbracht worden waren, verloren<br />
jede Macht <strong>und</strong> Bedeutung".<br />
Plechanow, der russische Marxist <strong>und</strong><br />
Socialdemokrat, schrieb in Nr. 1 „Czerneij<br />
Peredel" im Leitartikel: „jede social-revolutionäre<br />
Partei muss das Volk dazu bewegen,<br />
dass es, statt des passiven Versprechens auf<br />
die Verteilung des Bodens, die von „ o b e n " , von<br />
der Regierung vollbracht werden soll, zu<br />
aktiven Forderungen zu greifen, Boden <strong>und</strong><br />
Freiheit zu verlangen, von „unten", vom<br />
Volke selber, erkämpft werden muss. Nur<br />
darin besteht die Aufgabe <strong>und</strong> sind die möglichen<br />
Grenzen ihrer revolutionären Beeinflussung<br />
des Volkes gegeben. Alle anderen<br />
Handlungen, wie radikal sie auch scheinen<br />
mögen, wie viel sie auch dem Volke versprechen<br />
mögen, werden in ihrem Wesen<br />
reaktionär sein, weil sie — die Handlungen —<br />
nicht nur die U n v e r l e t z l i c h k e i t des<br />
Staates bedingen, s o n d e r n a u c h s e i n e n<br />
B e i s t a n d v o r a u s s e t z e n " .<br />
Doch diesen Herrn fing das Parlament<br />
zu lächeln an, <strong>und</strong> sie änderten ihre Meinungen.<br />
Je mehr diese Herren sich hinreissen<br />
Hessen, mit, nach dem Ausdruck Liebknechts,<br />
den „socialistischen Phantasiepolitikern" zu<br />
buhlen, desto mehr vernichteten sie die wichtige<br />
Bedeutung der Arbeiterbewegung <strong>und</strong><br />
ordneten diese dem Parlamentarismus unter.<br />
Alles, was nicht dem Nutzen des Parlamentarismus<br />
dienen konnte, verstümmelten sie<br />
oder kämpften leidenschaftlich dagegen. D e s <br />
halb ist es, dass die Gewerkschaften Deutschlands<br />
<strong>und</strong> Österreichs, wo die Socialdemokraten<br />
grösseren Einfluss besitzen, ihre richtige<br />
Bedeutung verloren <strong>und</strong> allmählich sich<br />
aus einer Waffe des Proletariats in eine Waffe<br />
für die Parlamentarier umgewandelt haben.<br />
Die proletarische Bewegung stösst sie<br />
aber überall dort zurück, wo sie selbstbewusst<br />
ist. Der Parlamentarismus verliert<br />
immer mehr an Einfluss. Die Arbeiter fühlen<br />
<strong>und</strong> begreifen, dass sie damit ihre Herr-<br />
schende <strong>und</strong> Schmarotzer unterstützen, der<br />
Parlamentarismus sie von ihrem unmittelbaren<br />
Kampfe, von ihrer echten parlamentarischen<br />
Bewegung, der direkten Aktion abhält. Und<br />
je mehr sie dies fühlen <strong>und</strong> begreifen, desto<br />
mehr überzeugen sie sich von der Notwendigkeit<br />
des von anarchistischen Ideen inspirierten<br />
Generalstreiks.<br />
Auf dem italienischen socialistischen<br />
Parteitag von 7. — 10. Oktober 1907 trugen<br />
die revolutionären Syndikalisten einen moralischen<br />
Sieg davon, durch die Propagierung<br />
des Antimilitarismus <strong>und</strong> der Generalstreiksidee.<br />
Auf dem Gewerkschaftskongress in Amiens<br />
vom 9. — 12. Oktober 1906, errang die Idee<br />
des Generalstreiks <strong>und</strong> des Antiparlamentarismus,<br />
die die revolutionären Gewerkschaftler<br />
predigten, den vollsten Sieg. Die Resolution,<br />
die Griffuelhes vorgeschlagen <strong>und</strong> die alle<br />
Syndikalisten unterzeichneten, wurde angenommen<br />
mit 830 Stimmen gegen 8. Unter<br />
anderem wird in dieser Resolution gesagt:<br />
„Er (der Syndikalismus) b e r e i t e t d i e v o l l <br />
s t ä n d i g e B e f r e i u n g v o r , die sich nur<br />
durch die E x p r o p r i a t i o n des Kapitals<br />
vollziehen kann. Er erklärt als Kampfesmittel<br />
den Generalstreik".<br />
In Deutschland, wo die Agitation der<br />
Idee des Generalstreiks erst durch Dr. Friedeberg<br />
einen einigermassen anspornenden Einfluss<br />
gewann, hat sie auch ihre Anhänger.<br />
15.000 Arbeiter, die Mitglieder der Freien<br />
Vereinigung deutscher Gewerkschaften, schlossen<br />
sich prinzipiell dieser Idee an. Obzwar<br />
diese Anzahl im Vergleich zu der Million<br />
in den zentraustischen Gewerkschaften klein<br />
ist, ist dennoch mit ihr das F<strong>und</strong>ament einer<br />
revolutionär-syndikalistischen Bewegung gelegt<br />
worden.<br />
Gruppieren wir die Unterschiede zwischen<br />
Parlamentarismus <strong>und</strong> Syndikalismus.<br />
Der Parlamentarismus konstatiert, dass<br />
die Eroberung der poetischen Macht der<br />
socialökonomischen Umwälzung vorausgehen,<br />
die Socialisten die politische Macht erobern,<br />
durch ihre Vermittlung diese Umwälzung sich<br />
vollziehen soll. Die parlamentarischen Sozialisten<br />
versuchen darum, durch die Ausnützung des<br />
Wahlrechtes, die politische Macht zu erobern.<br />
Der Syndikalismus (also das revolutionäre<br />
Gewerkschaftsprinzip) sagen im Gegenteil, dass<br />
die Befreiung der Arbeiter die Sache der<br />
Arbeiter selbst sein muss. Der Syndikalismus<br />
hat die Aufgabe, die Arbeiter mittels der direkten<br />
Aktion revolutionär zu erziehen, um<br />
dann durch den socialrevolutionären Generalstreik<br />
die sociale Revolution vorzubereiten,<br />
die das kapitalistische Wirtschaftssystem <strong>und</strong><br />
den Staat abchaffen, die freie Produktion <strong>und</strong><br />
den Austausch durch freie Vereinigungen, wie<br />
sie das Ideal des Anarchismus bilden, einführen<br />
soll.<br />
Da der Syndikalismus erkennt, dass die<br />
Befreiung des Proletariats von dem Proletariate<br />
selbst <strong>und</strong> durch seine Organisationen<br />
entstehen muss, nicht aber durch eine revolutionäre<br />
Regierung, darum bezeichnet er den<br />
Parlamentarismus als nutzlos für das P r o <br />
letariat. J. L a n d a u .<br />
G e n o s s e n ! Kolportiert in allen<br />
Lokalen, in denen Ihr verkehrt, den<br />
„W. f. A." W e r b t unermüdlich neue<br />
Abonnenten <strong>und</strong> verbreitet Euer Blatt!<br />
V e r a n t w o r t l i c h e r R e d a k t e u r J o s . Šindelář ( W i e n ) . — H e r a u s g e b e r Jul. E h i n g e r ( W i e n ) . — Erste G e n o s s e n s c h a f t s - B u c h r u c k e r e i in Budweis.
Wien, 19. F e b r u a r 1908. Einzelexemplar 10 h. J a h r g . I. — Nr. 4<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition XII. Fockygasse 27. IL/17.<br />
Wien. Gelder sind zu senden an W.<br />
Kubesch, IV. Schönburgstrasse, 5. III. 27<br />
Wien.<br />
Z u r B e a c h t u n g ! Moralische Desertion<br />
eines Wiener D r u c k e r s kurz vor d e m Publikationstage<br />
v e r u r s a c h t e d a s v e r s p ä t e t e Erscheinen<br />
vorliegender Nummer. Der W i e d e r h o l u n g eines<br />
solchen Zwischenfalles ist für die Zukunft vorgebeugt.<br />
Mit solidarischem Gruss<br />
Redaktion <strong>und</strong> V erlag.<br />
Das Attentat von Lissabon.<br />
„Wir haben kein G e s e t z mehr. W i r sind<br />
der Willkür eines Einzelnen a n h e i m g e g e b e n .<br />
Wir, die wir ein zivilisiertes . . . ein ruhiges<br />
Volk sind, w e r d e n behandelt wie eine Herde<br />
Schafe, w i e unvernünftige T i e r e . . . h s gibt<br />
keinen A u s w e g mehr, wir haben keine G e m e i n -<br />
schaft mehr mit diesen Leuten, k ö n n e n keine<br />
Gemeinschaft mehr mit ihnen haben: Z w i s c h e n<br />
ihnen u n d u n s k a n n es nur noch eins g e b e n :<br />
K r i e g ! K r i e g b i s a u f s ä u s s e r s t e l T a u -<br />
s e n d m a l lieber wolleu wir sterben als freie M a n -<br />
ner, denn leben als Knechte . . ,"<br />
( A u g u s t o J o s é d a C u n h a , 70jähriger portugiesischer<br />
Monarchist, der kürzlich Republikaner<br />
ward).<br />
Durchbohrt von den Kugeln republikanischer<br />
Verschwörer <strong>und</strong> Rebellen sind der<br />
portugiesische König <strong>und</strong> Infant — ihre Namen<br />
übergehen wir mit demselben Stillschweigen,<br />
mit dem die Geschichte der Kultur es<br />
tun wird denjenigen socialen <strong>und</strong> politischen<br />
Unterjochungszuständen zum Opfer g e -<br />
fallen, als deren Repräsentanz sie sich fühlten<br />
oder deren repräsentative Verantwortung der<br />
Kronprinz zu übernehmen bereit war.<br />
Worte des Mitleids <strong>und</strong> des Bedauerns,<br />
die wir selbst dem gehassten, aber doch zu<br />
achtenden Gegner in ähnlichem Falle widmen<br />
würden, werden von uns nicht erwartet werden.<br />
Dieser König, ein geistloser Prasser,<br />
ein moralisch total entwerteter <strong>und</strong> unterwertiger<br />
Wicht, dessen persönliches Ansehen im<br />
Volke total erloschen war, hat dies nicht verdient.<br />
Selbst vom rein menschlichen Standpunkt<br />
lässt uns, die wir den Mord in jeder<br />
Form aufheben wollen, die wir eine Gesellschaftsorganisation<br />
des freiheitlichen Friedens<br />
erstreben, das gelungene Attentat teils gleichgültig,<br />
teils aber erblicken wir in ihm eine<br />
rächende Nemesis der Geschichte, die stets<br />
dann sich dem dunklen Gewühl der Volksmasse<br />
entringt, wenn die Schuldigen sie zuletzt<br />
vermuten. Und in diesem besonderen<br />
Fall, da vernimmt die gesamte zivilisierte<br />
Welt eher e i n Stöhnen <strong>und</strong> Jammern, das<br />
weit erschütternder an das Herz <strong>und</strong> das<br />
Menschheitsgefühl Aller greift, denn der Tod<br />
dieses Königs <strong>und</strong> seines Geblüts es vermögen<br />
: ein Stöhnen <strong>und</strong> Jammern, das von<br />
dem armen, gequälten portugiesischen Volke<br />
ausgeht, das, ausgesogen <strong>und</strong> ausgesäckelt<br />
vom rücksichtslosesten Steuerdruck bis aufs<br />
Blut, bedrückt <strong>und</strong> behemmt in jeder freieren<br />
Geistesrichtung, sich vor uns windet, als ein<br />
Kollektivopfer auf dem Molochaltar des Despotismus;<br />
einer Autokratie, die verschärft wird<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck Ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen i s t . . . "<br />
von einem Menschen, in dem die Bestie<br />
Orgien feierte, desjenigen, dessen Name stets<br />
sein wird das Schmachdenkmal unserer Zeit,<br />
der H<strong>und</strong>erte von Liberalen, Anarchisten, Republikanern<br />
den Lebensgeist ausblasen oder<br />
sie in der Verbannung elendiglich verenden<br />
liess, der Mann, der Portugal zur St<strong>und</strong>e<br />
bereits feig verlassen hat: Joao Franco, Expremierminister<br />
des toten Königs, für uns ein<br />
Jaguar in Menschengestalt.<br />
Trauern? Nein! Auch nur ein Bedauern<br />
aussprechen ob des Attentates? W i r ? —<br />
<strong>Unser</strong>e Gefühle gehören dem Volke <strong>und</strong> die,<br />
die um den König trauern, trauern nicht für<br />
dieses. <strong>Unser</strong> Herz aber gehört ihm, dem<br />
geknechteten Volke, <strong>und</strong> für dieses krampft<br />
es sich zusammen.<br />
Denn es ist ein tragischer Irrtum, sich<br />
dem schönen Glauben hinzugeben, dass für<br />
dieses arme, unglückliche Volk, spinnengewebeartig<br />
umrankt vom Netz des Klerus,<br />
der meist englischen Latif<strong>und</strong>ienbesitzer <strong>und</strong><br />
dem politischen Druck, nun, nach dem Tode<br />
der Staatsrepräsentanten ein neuer Morgen<br />
anbrechen würde! Noch nicht. Dieses Attentat<br />
war in der Tat kein anarchistisches, wie<br />
es ja für Kenner schon deshalb ziemlich<br />
selbstverständlich, da Portugal im Gegensatz<br />
zu Spanien keine starke anarchistische Bewegung<br />
besitzt. Es war ein Attentat von Republikanern<br />
<strong>und</strong> sogar sehr bürgerlichen Elementen,<br />
was schliesslich auch die mehrfachen<br />
Entschuldigungsargumente begreiflich macht,<br />
die die bürgerliche Presse ihnen elogenartig<br />
darbrachte. Nicht wegen einer total entmenschenden<br />
Kolonialpolitik, nicht wegen der<br />
socialen Notlage, die im Lande wütet, wurden<br />
das Staatshaupt <strong>und</strong> der präsumtive Nachfolger<br />
hingerichtet. Wer tiefer blickt, erkennt,<br />
dass es sich hier nur um bourgeois-politische<br />
Rechte handelte, wie sie das Bürgertum eben<br />
in allen konstitutionellen Staaten gesichert<br />
sehen w i l l , weil dieselbe eine Gr<strong>und</strong>lage<br />
für die ökonomische Ausbeutungsmethode des<br />
Kapitalismus <strong>und</strong> seiner frei wuchernden Elemente<br />
bilden. Und weil der portugiesische<br />
Despotismus i h n e n im <strong>Weg</strong>e stand, damit<br />
auch das Geistesleben der Bourgeoisie traf,<br />
den Pakt zwischen wirtschaftlicher <strong>und</strong> politischer<br />
Herrschaft v e r l e t z t e , deshalb die<br />
Empörung der bürgerlichen Liberalen <strong>und</strong> Republikaner,<br />
die sonst stets gegen die „anarchistischen<br />
Attentäter" wettern oder, wie es<br />
im republikanischen Frankreich geschah, vor<br />
den konservativen <strong>und</strong> dynastischen Repräsentanten<br />
Portugals ihre Pflichtbücklinge machten<br />
<strong>und</strong> die Republikaner jenseits der Grenze<br />
ächteten. Republik oder Monarchie bedeutet<br />
in Portugal genau dasselbe Joch der Unterdrückung<br />
für die arbeitende Klasse der Stadt<br />
<strong>und</strong> des Landes. Und wer da weiss, in wel-<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2.40;<br />
halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
cher Weise sociale <strong>und</strong> politische Veränderungen<br />
sich wirklich vollziehen oder wenigstens<br />
indirekt herbeigeführt werden können, der<br />
kann sich der Erkenntnis nicht verschliessen<br />
— <strong>und</strong> schon w e i l dies nicht erfolgte, ist<br />
das Attentat unzweifelhaft k e i n anarchistisches<br />
gewesen — dass die Beseitigung<br />
des Exdiktators Franco von einer weit grösseren<br />
Wirkung begleitet gewesen wäre, als<br />
es so der Fall ist oder sein kann.<br />
In diesem Sinne wissen wir Anarchisten<br />
nur allzu wohl, dass mit diesem Attentat die<br />
Leidensperiode des geknechteten portugiesischen<br />
Arbeiters oder Bauern auch nicht um<br />
die kürzeste Spanne Zeit vermindert wird.<br />
Darob trauern wir! Freilich wäre es anders<br />
gewesen, wenn wir in Portugal ein socialistisch<br />
<strong>und</strong> anarchistisch gereiftes Empfinden<br />
besässen, was unglücklicherweise, dank verschiedener<br />
historisch - wirtschaftlicher M o -<br />
mente, nicht der Fall ist.<br />
Dies unsere Würdigung des Attentates<br />
vom Standpunkt der Geistesphilosophie des<br />
Anarchismus <strong>und</strong> ihrer Zukunftsperspektiven,<br />
Vom rein persönlichen Standpunkt sind die<br />
Namenlosen, die ihr Leben für ihr, wenn<br />
auch nur bürgerliches Ideal in die Schanze<br />
schlugen, bei weitem höher zu stellen, als der<br />
Prasser <strong>und</strong> sein Sohn, die gefallen, als der<br />
katzenartig feige, wenn auch reissende Franco.<br />
H<strong>und</strong>erte von Verhaftungen <strong>und</strong> Justizmorde<br />
haben stattgef<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> die Unglücklichen, die<br />
gegenwärtig das Staatsruder in Händen halten,<br />
begreifen es gar nicht, dass sie damit die<br />
Saat des Hasses nur weiterstreuen <strong>und</strong> diese<br />
aufgehen muss. Gäbe es eine vernünftige<br />
Gerechtigkeit des Staates, d. h. die logische<br />
Konsequenz s e i n e r Rache- <strong>und</strong> Kriminalphilosophie<br />
— ein Franco müsste als Hochverräter<br />
an die Garotte! Aber wir wissen es<br />
ja schon: die Verblendeten sehen in den<br />
Kämpfern für Licht <strong>und</strong> Wahrheit die Feinde,<br />
begreifen nicht, dass sie in einem u n g e -<br />
h e m m t e n Laufe der Entwicklung selbst<br />
entweder den Triumpf ihrer Herrschaftssache<br />
oder aber ihre Einheit mit allen Übrigen der<br />
Menschheit finden würden, dass es die Reaktion<br />
ist, die allein ihnen ihr Grab gräbt, ihnen<br />
persönliche Vernichtung angedeihen lässt.<br />
Sie sind blind! Und so wird das letztwöchentliche<br />
Blutereignis nicht das letzte auf der<br />
Bahn der Wirrnisse <strong>und</strong> des Machtchaos<br />
sein — bis endlich jener Morgen des Lichtes<br />
anbricht, an dem die Konsequenz der Geistesvernunft<br />
ihr definitives Wort spricht, es<br />
sich nicht mehr darum handelt, e i n e Staatskoterie<br />
abzutun, um einer anderen zur Herrschaft<br />
zu verhelfen, sondern wo, entweder<br />
durch Gewitterwolken oder Sonnenlächeln,<br />
der Frieden allgemeiner Freiheit von den<br />
Völkern errungen wird.
Parlamentarismus, Syndikalismus<br />
<strong>und</strong> Generalstreik.<br />
Schon dadurch fügt der Parlamentarismus<br />
dem Proletariate einen grossen Schaden bei:<br />
An Stelle von Selbsttätigkeit gibt er den<br />
Massen nur die Möglichkeit, alle zwei, drei<br />
oder mehr Jahre zur Wahlurne zu gehen,<br />
um durch verschiedenartige Papierchen <strong>und</strong><br />
Wahlzeichen einen Parlamentären Mischmasch<br />
zu kochen, der mit dem Namen „sociale<br />
Reformen" bezeichnet wird! In allem übrigen<br />
muss die Masse sich auf ihre Abgeordnete<br />
v e r l a s s e n . Auf solche Art <strong>und</strong> Weise erscheinen<br />
diese eifrigen Gegner der Theorie<br />
von der „Rolle des Individuums in der Geschichte",<br />
in der Praxis als die eifrigsten<br />
Gegner der „Rolle der Massen in der G e -<br />
schichte".<br />
W a s i s t s o m i t d e r P a r l a m e n -<br />
t a r i s m u s ?<br />
Der Parlamentarismus ist die Einschläferung<br />
der Arbeiter, die Unterdrückung jeder<br />
revolutionären Bewegung des Proletariats, das<br />
Vorausbestimmen der Massen zur socialen<br />
Untätigkeit.<br />
Parlamentarismus bedeutet, die Sache<br />
des Proletariats in die Hände der politischen<br />
Gaukler zu legen, die heuchlerisch sich Revolutionäre<br />
nennen, aber jeder revolutionären<br />
Bewegung feindselig sind.<br />
Der Parlamentarismus ist der hinterlistige<br />
schlaue Mechanismus der Bourgeoisie, das<br />
Proletariat in politische Tändeleien hineinzuziehen,<br />
damit sie gegenüber seinen Versuchen,<br />
sich zu befreien, leicht siegen kann.<br />
Der Parlamentarismus bedeutet, das<br />
Klassenbewusstsein des Proletariats zu verdunkeln,<br />
die Klassengegensätze gegenüber<br />
der Bourgeoisie zu verwischen; was erreicht<br />
wird durch die von Fall zu Fall in den Abstimmungen<br />
herbeigeführte Vereinigung mit<br />
den liberalen usw. Bourgeoisieparteien, ohne<br />
die der Parlamentarismus nicht bestehen kann.<br />
W a s i s t d e r S y n d i k a l i s m u s ?<br />
Der Syndikalismus ist die Anfeuerung<br />
der Arbeiter zur Selbstätigkeit. Letzterer wird<br />
dargestellt durch die revolutionären Organisationen<br />
des Proletariats; durch deren Anerkennung<br />
der anarchistischen Ideen des Antimilitarismus<br />
<strong>und</strong> Antipatriotismus.<br />
Der Syndikalismus ist die Wiederbelebung<br />
des Prinzips der alten Internationale:<br />
„Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das<br />
Werk der Arbeiter selbst sein".<br />
Der Syndikalismus ist ein echt proletarisches<br />
Kampfesmittel, das aus dem Innern<br />
der Arbeiterklasse entstanden <strong>und</strong> sich entwickelt<br />
hat zum proletarischen Klassenkampfmittel;<br />
als solches kann es nicht für bourgeoise<br />
<strong>Ziel</strong>e des Parlamentarismus dienen,<br />
weil das Mittel dem <strong>Ziel</strong>e <strong>und</strong> umgekehrt<br />
widerspricht.<br />
Der Syndikalismus, der den revolutionären<br />
Generalstreik als Mittel zur Befreiung<br />
des Proletariats anerkennt, drückt damit die<br />
Klassengegensätze des Proletariats gegenüber<br />
allen übrigen herrschenden Klassen deutlich<br />
aus <strong>und</strong> entwickelt folglich das Klassenbewusstsein<br />
des Proletariats im eminentesten<br />
Masse.<br />
Wie ist unsere, der kommunistischen<br />
Anarchisten, Stellung zu dem revolutionären<br />
Gewerkschaftskampf?<br />
Überall, wo es nur möglich, wenn auch<br />
schon zentralistische Gewerkschaften vorhanden<br />
sind, müssen wir von revolutionären<br />
Ideen getragene Syndikate gründen. Ausserdem<br />
müssen wir jede Gelegenheit ausnützen,<br />
unsere Agitatoren <strong>und</strong> Propagandisten in<br />
Versammlungen der sozialdemokratisch beeinflussten<br />
Gewerkschaften auftreten zu lassen,<br />
um den Schaden des zentralistischen Prinzips<br />
in der Arbeiterorganisation <strong>und</strong> den Schaden<br />
des Parlamentarismus aufzudecken.<br />
Wo es schon neutrale d. h. unparteiische<br />
Gewerkschaften gibt <strong>und</strong> wo es noch unmöglich<br />
ist, eigene zu gründen, dort müssen<br />
wir in die schon existierenden Gewerkschaften<br />
eintreten; es wird uns so leichter sein, unsere<br />
Ideen zu propagieren <strong>und</strong> Einfluss zu gewinnen.<br />
In jedem alltaglichen Kampfe zwischen<br />
Kapital <strong>und</strong> Arbeit müssen die Anarchisten<br />
in den ersten Reihen stehen <strong>und</strong> damit beweisen,<br />
wie man kämpfen muss. Aber indem<br />
wir an dem täglichen Klassenkampfe Anteil<br />
nehmen, dürfen wir nicht den Arbeitern die<br />
kleinen Forderungen vor Augen steilen, sondern,<br />
den Enthusiasmus des Kampfes ausnützend,<br />
ihnen verstehen zu geben, dass nicht<br />
diese kleinen Verbesserungen sie befreien<br />
können, dass nur durch die Abschaffung des<br />
Kapitalismus <strong>und</strong> des Staates die Menschheit<br />
sich befreien kann.<br />
Sollten aber die in den Kampf eintretenden<br />
Proletarier zu diesem noch nicht reif<br />
genug sein, so müssen wir als Anarchisten<br />
uns hauptsächlich der geistig revolutionierenden<br />
Erziehung der Arbeiter widmen.<br />
Kurz, im alltäglichen Kampfe des Proletariats<br />
für die Verbesserung seiner ökonomischen<br />
Lage müssen die Anarchisten den<br />
revolutionären Geist erwecken.<br />
Obzwar die Socialdemokratie uns dafür,<br />
unter dem wohlwollenden Schweigen ihres<br />
ganzen Parteitages, „Feinde des Proletariats"<br />
nennen wird, wollen wir dennoch lieber solche<br />
„Feinde" sein, als solche kühne Socialisten"<br />
wie die Bebel, die Adler; solche ordentliche<br />
Bürger, wie der deutsche Socialdemokrat<br />
David, der als Verteidiger das Proletariats,<br />
einem Fürsten zur Geburt eines Sohnes Glück<br />
wünschte, eines Sohnes der vielleicht ein<br />
ausgesprochener Feind der Arbeiter sein wird.<br />
Keine theoretische oder praktische Frage<br />
wurde in letzter Zeit soviel behandelt <strong>und</strong><br />
rief so viele Meinungsverschiedenheiten hervor,<br />
als diejenigen des Generalstreiks. Alle socialistischen<br />
Parteien behandelten ihn in ihren<br />
Zeitungen, eine ganze Reihe socialistischer<br />
Kongresse aller Länder widmeten ihm Zeit.<br />
Warum erregt der Generalstreik ein solches<br />
Interesse? Weil er nicht nur eine praktische<br />
Bedeutung hat, sondern auch ein theoretisches<br />
Problem ist. Dies beweist der Umstand,<br />
dass nicht nur verschiedene Parteien<br />
ganz gemäss ihren Weltanschauungen, den<br />
Generalstreik verschiendenartig betrachten;<br />
nein, sogar innerhalb der socialistischen Parteien<br />
selbst existieren auch verschiedene Richtungen<br />
gegenüber dieser idee, abhängig von<br />
ihren besonderen Anschauungen über die<br />
Entwicklung der Arbeiterbewegung <strong>und</strong> des<br />
Klassenkampfes.<br />
Die Auffassung des Generalstreiks ist so<br />
mannigfaltig, dass man viele Begriffe mit<br />
ihm verbindet. Ich werde hier nicht die einzelnen<br />
Formen des Generalstreiks erläutern,<br />
wie ihn verschiedene Theoretiker der verschiedenen<br />
Parteien verstehen. Mich interessiert<br />
hier nur e i n e Form des Generalstreiks<br />
nämlich der revolutionäre, auf wirtschaftliche<br />
<strong>Ziel</strong>e gerichtete Generalstreik, <strong>und</strong> inwieferne<br />
es das auserwählte Thema betrifft, werde ich<br />
auch andere Formen des Generalstreiks betrachten.<br />
Rolland-Holst*) bietet vier Arten von<br />
Generalstreik: I. den „Solidaritätsstreik", der<br />
*) „Der Generalstreik <strong>und</strong> die Socialdemokratie"<br />
in Italien, Frankreich <strong>und</strong> Spanien sehr populär<br />
ist; 2. den revolutionären socialen Generalstreik,<br />
der von den Anarchisten <strong>und</strong><br />
revolutionären Socialisten propagiert wird ;<br />
3. den ökonomischen Streik mit politischer<br />
Bedeutung <strong>und</strong> 4. den politischen Massenstreik,<br />
der von den linksstehenden Socialdemokraten<br />
propagiert wird.<br />
In ihrer Analyse macht sie dadurch einen<br />
unverzeihlichen theoretischen Fehler, dass sie<br />
den „Solidaritätsstreik" von dem wirtschaftlichen<br />
Generalstreik trennnt. Dieser Generalstreik<br />
ist nur die weitere Entwicklung des<br />
Solidaritätsstreiks <strong>und</strong> dieser ist ein durchaus<br />
notwendiges Attribut des sich auf sociale<br />
<strong>Ziel</strong>e stützenden Generalstreiks. Dieselben<br />
antiparlamentarischen Gewerkschaften <strong>und</strong><br />
revolutionäre Syndikate, die sich unter dem<br />
Einfluss der Anarchisten befinden <strong>und</strong> Anhänger<br />
des social-wirtschaftlichen Generalstreiks<br />
sind, gebrauchen in allen möglichen<br />
Fällen den kleineren Solidaritätsstreik <strong>und</strong><br />
zwar aus folgenden Gründen : Sie sehen in<br />
ihm eine erzieherische <strong>und</strong> agitatorische Bedeutung<br />
für den revolutionären Generalstreik<br />
<strong>und</strong> die Möglichkeit, ihn zum Bahnbrecher<br />
der socialen Revolution zu entwickeln.<br />
Die Arbeiter greifen gewöhnlich zum<br />
Streik, als zu derjenigen Waffe gegen die<br />
Unternehmer, um die Verbesserung ihrer Lage<br />
herbeizuführen oder um die Verschlechterung<br />
derselben zu verhindern. Instinktiv fühlten sie<br />
es stets, dass einzig <strong>und</strong> allein von ihnen<br />
die Produktion abhängt. Sie wissen, dass sie<br />
nur zu w o l l e n brauchen <strong>und</strong> nur mit der<br />
V e r w e i g e r u n g der Erfüllung ihrer<br />
Pflichten, die das moderne Gesellschaftssystem<br />
ihnen auferlegt, können sie das ökonomische<br />
<strong>und</strong> sociale Getriebe der Gesellsch;ii";<br />
desorganisieren <strong>und</strong> vieles erreichen.<br />
Die fatalistische Anschauung, dass der<br />
Kapitaiismus sich s e l b e r zu seiner Verneinung<br />
entwickelt, dass er in einem gewissen<br />
historischen Moment der kapitalistischen Entwicklung<br />
s e l b e r den Socialismus gebären<br />
muss; diese fatalistische Theorie, die der<br />
Freiheit, dem Wollen <strong>und</strong> d e r initiative der<br />
Persönlichkeit <strong>und</strong> Klassen nur einen unbedeutenden,<br />
wiederum von ökonomischen Verhältnissen<br />
abhängenden Raum gewährt, diese<br />
fatalistische Theorie verliert allmählich ihren<br />
Reiz <strong>und</strong> kommt immer mehr in Gegensatz<br />
zu den lebendigen Interessen des Proletariats.<br />
Die Lehre von der „Eroberung der politischen<br />
Macht" auf g e s e t z l i c h e m B o -<br />
d e n verliert immer mehr Anhängerschaft<br />
unter den bewussten Arbeitern; nicht etwa<br />
darum, weil, wie A. Roller sagte*), „es zu<br />
lang dauert" sondern darum, weil diese Lehre<br />
zu u t o p i s t i s c h ist. Keine Regierung, kein<br />
Staat werden sich je zurückhalten, um ihre<br />
„Gleichheit" mit Füssen zu treten, wenn sie<br />
es für sich für vorteilhaft erachten. Niemals<br />
wird sich eine Regierung zurückhalten, das<br />
Parlament zu „verjagen", wenn die Abgeordneten<br />
ihr nicht passen, wie es vor etwas über<br />
Jahresfrist die Junkerbande in Deutschland<br />
tat. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e schwindet unsere<br />
Zeit immer mehr, in der der Proletarier ohne<br />
Nachdenken, jedem Politiker nachläuft. W ä h -<br />
rend verschiedene „socialistische" Politikanten<br />
im Parlamente sich scheinbar damit beschäftigen,<br />
Reförmchen zu drechseln, fängt das Proletariat<br />
zu verstehen an, dass es eine stärkere<br />
<strong>und</strong> revolutionäre Waffe hat, dass es durch<br />
diese sich von der ganzen kapitalistischen<br />
Gesellschaft befreien <strong>und</strong> die Produktionsmittel<br />
wie auch die Produktion selbst ge-<br />
*) „Der Generalstreik <strong>und</strong> die sociale Revolution"<br />
von A. Roller.
Österreich.<br />
Wien. An 14 Stellen in unserer Nr. 3 stiess<br />
sich die k. k. Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> verhängte die<br />
Beschlagnahme derselben. Letzteies konnte natürlich<br />
nicht zur Ausführung gebracht werden, weil die<br />
Exemplare nicht mehr vorhanden waren. Glückliches<br />
Österreich, du <strong>und</strong> deine Pressfreiheit <strong>und</strong> deine<br />
staatliche Fürsorge <strong>und</strong> — <strong>und</strong> deine Zopfwirtschaft,<br />
sie sind ideal, idealer, am idealsten . . .<br />
*<br />
In hoher Auflage haben die Wiener Genossen<br />
einen Separatabdruck des herrlichen, unseren Lesern<br />
bereits bekannten Artikels von Elisee Reclus „W e sh<br />
a I b w i r A n a r c h i s t e n s i n d " herstellen lassen.<br />
Der Aufsatz umfasste eine handliche vierseitige Flugschrift.<br />
Aber auch da ereilte uns die Erleuchtung<br />
der Staatsanwaltschaft, die die theoretische <strong>und</strong> socialistische<br />
Meinung eines glänzenden, international<br />
<strong>und</strong> mit Recht berühmten Gelehrten <strong>und</strong> Anarchisten<br />
i n i h r e r G ä n z e mit Beschlag belegen liess. Allerdings<br />
blieb auch dieses Urteil nur platonische Liebe ...<br />
*<br />
Einen sehr angenehmen Abend verbrachten<br />
unsere Kameraden am Samstag, den 25. v. M. im<br />
II. Bezirk mit den russischen Anarchisten, die in<br />
Gemeinschaft mit den socialrevolut>onären Maximalisten<br />
einen freiheitlich-tendenziösen Theaterabend<br />
veranstaltet hatten. Charakteristisch ist diese B<strong>und</strong>esgenossenschaft<br />
der beiden Gruppierungen <strong>und</strong> auch<br />
ebenso logisch wie natürlich; wie es auch sehr vernünftig,<br />
dass die russischen Socialdemokraten, diese<br />
Verräter der russischen Revolution, von den Socialrevolutionären<br />
konsequenter Denkungsart gemieden<br />
<strong>und</strong> verachtet werden! — Im XIV. hielt der Genosse<br />
Ramus einen Vortrag über „Strassendemonstrationen<br />
<strong>und</strong> Machtdemonstrationen", an den sich eine bis<br />
1 Uhr 15 Min. währende Diskussion schloss. — Die<br />
Rührigkeit <strong>und</strong> energische Ausdauer der Wiener<br />
Genossen lässt uns mit den grössten Hoffnungen<br />
in die Zukunft blicken, umso mehr, als immer neue<br />
<strong>und</strong> weitere Kreise sich unserer Propagandatätigkeit<br />
anschliessen!<br />
*<br />
„Wenn in dem ehemaligen Bergarbeiter nicht<br />
die letzte Empfindung für Pflicht <strong>und</strong> Ehre des Proletariats<br />
erloschen i s t . . . dann bleibt ihm nur eines<br />
übrig, <strong>und</strong> das ist: sein unheilvolles Wirken zu<br />
lassen <strong>und</strong> von der politischen Bildfläche zu verschwinden,<br />
auf der er die systematische Schädigung<br />
der Arbeiter betreibt <strong>und</strong> wo er sich für alle Zeiten<br />
mit dem Verräternamen befleckt hat". Mit diesem<br />
Urteile der Wiener „Arbeiterzeitung" Uber Herrn<br />
S i m o n S t a r c k stimmen wir, wenn auch von<br />
ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus, v o l l -<br />
s t ä n d i g ü b e r e i n . Der Prozess, der sich da vor<br />
den Schranken des hiesigen Gerichtes abspielte,<br />
war die Tragödie dieses Mannes, seines Lebenswandels,<br />
enthüllte ihn als das, wofür wir ihn stets<br />
gehalten hatten, als einen e h r l o s e n Socialdemokraten,<br />
der „frei" im Ehrgeizstreben, „frei" in der<br />
gemeinen Geldsuchtrafferei, „frei" nur in dem verworfenen<br />
<strong>und</strong> verwerflichen Sinne ist, dass Herr<br />
Simon Starck die Socialdemokratie deshalb, einzig<br />
<strong>und</strong> allein deshalb bekämpfte, weil ihm diese Bekämpfung<br />
ein gutes Geschäft war, mit der sich noch<br />
viele, einträglicne Geschäftchen machen Hessen. Die<br />
Redaktion der „Arbeiterzeitung" hat Simon Starck<br />
durch teils unumstössliche, dokumentarische Beweise<br />
dessen überfühlt, dass er sich um 10.000 K an die<br />
Christlichsocialen, an diese borniert kleinbürgerlichreaktionäre<br />
Paitei wandte; dass er von Streikbrecherbeschaffung<br />
für einen "Kapitalisten durch seine Parteiorganisation<br />
wusste; dass er private, vertrauliche<br />
Geschäftszusammenkünfte mit den ärgsten Feinden<br />
des Proletariats pflog <strong>und</strong> in seinen Parlamentsreden<br />
Männer pries, die er darnach um Geldunterstützung<br />
für die „Freisocialisten" anging. Das ist erbärmlichster<br />
Prinzipienverrat, der gewiss nicht schöner wird durch<br />
die Personalverbrämung mit solchen Elementen w i e<br />
es die Leitner, Schober, Heimann sind, die nun<br />
gegen ihren ehemaligen Kumpan als Verräter von<br />
Parteigeheimnissen auftraten. Selten ist ein ekelhafterer<br />
Sumpf, eine totalere Charaktet Verderbnis<br />
innerhalb der ganzen geistig so w e n i g geklärten<br />
proletarischen Bewegung Österreichs zum Vorschein<br />
gekommen, wie hier, wo oppositionelle Socialdemokraten,<br />
die sich Freisocialisten titulieren, als Verräter<br />
der proletarischen Interessen gebührend charakterisiert<br />
wurden.<br />
Das Eine wollen wir unzweideutig konstatiert<br />
wissen: Diejenige „freisocialistische" Bewegung, die<br />
Herr Starck vertritt, hat nichts, aber niemals etwas<br />
mit demjenigen zu tun gehabt, was theoretisch in<br />
aller Welt als freiheitlicher Socialismus bekannt ist.<br />
Freiheitlicher Socialismus ist Anarchismus, genauer<br />
der anarchistische Socialismus. Stark <strong>und</strong> seine ganze<br />
Organisation hatten mit dieser Idee nichts gemein,<br />
was schon aus dem einen Umstand hervorgeht, dass<br />
ja Stark, ganz ebenso wie die Socialdemokialic, an<br />
der parlamentarischen Taktik teilnahm, diese ausübte,<br />
wiewohl wir doch wissen, dass der freiheitliche<br />
Socialismus den Parlamentarismus g r u n d -<br />
s ä t z l i c h verwirft. In Stark <strong>und</strong> den „Freisocialisten"<br />
haben wir u n z u f r i e d e n e S o c i a l d e -<br />
m o k r a t e n zu erblicken, die gegen die führenden<br />
Persönlichkeiten einen nur gehässigen, persönlichen,<br />
nicht aber prinzipiellen Kampf führten, weil ihre<br />
materiellen Streberinteressen mit jenen der in ihrer<br />
Position bereits gefestigten offiziellen Führer kollidierten.<br />
Darin haben diese in der Tat ein grosses<br />
Glück, dass ihre Gegnerschaft sich meistens aus<br />
persönlich ehrenrührigen Elementen zusammensetzt,<br />
die k e i n e Weltanschauung, sondern nur krasses<br />
Selbstinteresse wider das ebenfalls egoistische<br />
Machtintesse des offiziellen Führertums aufmarschieren<br />
lassen. Es muss aus diesem Gr<strong>und</strong>e ausdrücklich<br />
festgestellt werden — <strong>und</strong> hier unterscheiden wir<br />
uns in der Beurteilung dieses Falles von der „Arbeiterzeitung"<br />
—, dass wir es in Simon Starck, der<br />
nun ein für alle Male seine politische Ehre eingebüsst<br />
hat, mit einem S o c i a l d e m o k r a t e n in<br />
punkto prinzipieller Taktik <strong>und</strong> Theorie zu tun haben,<br />
der als P o l i t i k e r , als ein mit parlamentarischer<br />
„Würde" bekleideter Proletarier seiner Ehre verlustig<br />
ging. Als Proletarier mag Simon Starck einstmals<br />
ein Ehrenmann, in seiner Opposition gegen das<br />
innere Parteigetriebe des socialdemokratischen Führertums<br />
ehrlich gewesen sein; als Politiker aber<br />
wurde er das, was im Wesen der parlamentarischen<br />
Politik gelegen ist, die stets <strong>und</strong> immerdar ein<br />
garstig Lied sein <strong>und</strong> im Maelstrom ihrer Charakterkorrumpierung<br />
noch manchen ehemaligen Idealisten,<br />
der an ihr teilnimmt, verschlingen wird!<br />
Proletarier, Kameraden allerorts — lassen wir<br />
uns nicht täuschen, nicht beirren oder abbringen<br />
von dem wahren Wesensinhalt dieser für die gesamte<br />
sociale Bewegung niederschmetternd beschämenden<br />
Episode! Wir begreifen sehr wohl, dass die<br />
„Arbeiterzeitung" im Gefühle ihres Triumphes über<br />
einen verhassten Gegner hoch aufjubelt. Wir aber,<br />
die wir das Prinzipielle dieser ganzen Frage vom<br />
rein persönlichen Element scheiden, wir wissen,<br />
dass der Vorwurf, der Starck trifft: d i e i d e a l e n<br />
Z i e l e d e s p r o l e t a r i s c h e n E m a n z i p a -<br />
t i o n s k a m p f e s u m m o m e n t a n e r p e r s ö n -<br />
l i c h e r I n t e r e s s e n w i l l e n v e r s c h a c h e r t<br />
zu h a b e n — auf die gesamte parlamentarische<br />
Taktik der Socialdemokratie zurückfällt. Sind die<br />
deutschen Zentrumsleute etwas anderes als unsere<br />
Christlichsocialen? Nein; <strong>und</strong> dennoch gingen die<br />
deutschen Socialdemokraten ihren berüchtigten „Kuhhandel"<br />
ein, gehen ihn jederzeit wieder ein. Und<br />
eine jede Abstimmung im Parlament, bei der die<br />
Socialdemokratie sich der Stimmen bürgerlicher<br />
Parlamentarier zu versichern hat, ist eine Abmachung,<br />
die ganz derselbe Verrat, wie Starck ihn verübte.<br />
Wenn die „Arbeiterzeitung" sich für diese vorliegende<br />
Gelegenheit mit solch schoflen Gesellen, wie<br />
die Leitner. Schober usw. es sind, verband — ist<br />
dies nicht ebenfalls eine grauenhafte Bettgenossenschaft?<br />
Es ist ein S y s t e m , das wir in dem Falle<br />
Starck, dieses Mannes, der noch kurz vor den<br />
Wahlen in seinem Schmutzblatte schreiben konnte:<br />
„Hoch die revolutionäre Sociaildemokratie!" bekämpfen,<br />
<strong>und</strong> als System wollen wir diese ganze<br />
Affäre auf das Piedestal der objektiven Würdigung<br />
gehoben sehen.<br />
Nur wir Anarchisten sind ihrer fähig! Denn<br />
der Fall Starck ist n i c h t n u r ein Beispiel aus<br />
dem „Freisocialistischen" Sumpf. Er ist auch dies,<br />
doch noch weit mehr! Euch, Proletarier, rufen wir<br />
es zu: Beherzigt die Lehre! Der Fall Starck ist eine<br />
Illustration des p a r l a m e n t a r i s c h e n Sumpfes,<br />
der Art <strong>und</strong> Weise, wie in ihm gearbeitet wird!<br />
Mit dem Falle Starck ist nicht nur er allein, mit<br />
ihm ist der gesamte Parlamentarismus als proletarische<br />
Taktik gerichtet!<br />
+<br />
Ein Langes <strong>und</strong> Breites hat uns die socialdemokratische<br />
Presse über die Auführungen des<br />
soc.-dem. Landtagsabgeordneten S e i t z über das<br />
Kapitel „Unterrichtswesen" <strong>und</strong> gegen den christlichsocialen<br />
Minister <strong>und</strong> Reaktionär Gessmann gebracht.<br />
Sowohl der Minister als auch der Abgeordnete sind<br />
uns in dieser Fra^e gleich k o m p e t e n ; nämlich i n -<br />
k o m p e t e n t , da jeder von ihnen nur die agitatorisch-demagogischen<br />
<strong>Ziel</strong>e seiner Partei ausnützte,<br />
die ethischen Prinzipien <strong>und</strong> Forderungen eines<br />
Lehr- <strong>und</strong> Unterrichtssystems wahrer Kultur von<br />
beiden in gleicher Weise unberücksichtigt gelassen<br />
wurden.<br />
In derselben Sitzung des Landtages — am 15.<br />
Jänner — wurde der L a n d e s v o r a n s c h l a g<br />
für das Jahr 1908 vollständig erledigt. Die „Arbeiterzeitung"<br />
sagt, nachdem sie die spaltenlangen Ausführungen<br />
Seitz's <strong>und</strong> jene von Gessniann wiedergibt,<br />
wörtlich das folgende:<br />
„Hierauf wurden nach u n w e s e n t l i c h e n<br />
Debatten auch die ü b r i g e n K a p i t e l des<br />
Voranschlages angenommen <strong>und</strong> ebenso auch der<br />
Rechnungsabschluss für 1906. Den Schluss bildete<br />
natürlich eine Dankesk<strong>und</strong>gebung f ü r den<br />
Landesfinanzreferenten".<br />
Das ist alles! Kein Wort darüber, w o r a u s<br />
die übrigen Kapitel bestanden <strong>und</strong> in w i e f e r n<br />
sie unwesentlich waren, somit eine Debatte seitens<br />
der socialdemokratischen Abgeordneten nicht herausforderten.<br />
Wie „unwesentlich" diese weiteren Punkte des<br />
Voranschlages waren <strong>und</strong> weshalb die „Arbeiterzeitung"<br />
sie mit Stillschweigen übergeht, darüber<br />
belehrt uns die — bürgerliche Presse. Wir entnehmen<br />
ihr das folgende:<br />
„Die Kapitel M i l i t ä r w e s e n <strong>und</strong> Verschiedene<br />
Ausgaben w e r d e n o h n e D e b a t t e<br />
a n g e n o m m e n u n d s o d a n n d a s B u d -<br />
g e t a l s g a n z e s s a m t d e m v o m F i n a n z -<br />
a u s s c h ü s s e b e a n t r a g t e n L a n d e s -<br />
f o n d s z u s c h I a g b e i d e n d i r e k t e n<br />
S t e u e r n f ü r d a s J a h r 1908 a n g e n o m -<br />
m e n " .<br />
Begreifen wir nun, warum die „Arbeiterzeitung<br />
ihren Lesern die Mitteilung über die „übrigen Kapitel<br />
des Voranschlages" u n t e r s c h l ä g t ? Es ist<br />
klar <strong>und</strong> deutlich genug: Der soc.-dem. Landtagsabgeordnete<br />
hat, gemeinsam mit den übrigen bürgerlichen<br />
Parteien, o h n e j e d w e d e D e b a t t e<br />
für die Annahme der Ausgaben für das M i l i t ä r -<br />
w e s e n <strong>und</strong> überhaupt für die Annahme des<br />
„Budget als Ganzes" einmütig mit den reaktionären<br />
Abgeordneten gestimmt!<br />
Wer als Socialist die Ausgaben für das Militärwesen<br />
<strong>und</strong> den Militarismus überhaupt k r i -<br />
t i k l o s hinnimmt, ist ein Verräter an den Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />
des Socialismus. Die Regierung hat es<br />
da nicht mehr mit einem geschworenen Feind der<br />
bürgerlichen Gesellschaft zu tun, sondern mit einem<br />
direkten Förderer derselben. Socialist sein, bedeutet<br />
A n t i militarist sein; <strong>und</strong> will man für die Socialdemokratie<br />
<strong>und</strong> ihre bewusste Hinterslichtführung<br />
der Arbeitermassen — siehe obiges Beispiel! —<br />
nicht den Milderungsgr<strong>und</strong> der Unwissenheit gelten<br />
lassen, dann muss ihr immer <strong>und</strong> immer wieder<br />
das Schandmal schmählichsten V e r r a t e s gegenüber<br />
dem Socialismus auf die Stirne gebrannt werden.<br />
Böhmen.<br />
Brüx. Ausgewiesen aus den Bezirkshauptmannschaften<br />
von Brüx, Komotau <strong>und</strong> Dux wurde<br />
der Genosse <strong>und</strong> Bergarbeiter A d o l f C h a r v a t h ,<br />
nachdem er eine Strafhaft von sechs Wochen Arrest<br />
abgebüsst hatte. Sein Delikt bestand darin, dass er<br />
sich erlaubte, an der humanen Institution des Militarismus<br />
— vgl. den jüngsten Fall des Dragoners<br />
Franz Walcher, der sich wegen Misshandlungen<br />
durch den . . . Leutnant Kaiser selbst entleibte!<br />
— Kritik zu üben. Selbst das Ministerium des Innern<br />
musste eingestehen, dass es sich hier nur um<br />
die Bek<strong>und</strong>ung einer Geistesanschauung handelte,<br />
aber das Inquisilions-Mittelalterliche des Reichsgerichtes<br />
trug den Sieg davon, da es ja für einen als<br />
Agitator bekannten Anarchisten nur das Recht einer<br />
mit geistigen Waffen n i c h t kampfesfähigen Justiz<br />
gibt! Anerkennend muss hervorgehoben werden,<br />
dass, mit wenigen Ausnahmen, die gesamte bürgerliche<br />
<strong>und</strong> socialdemokralische Presse ihre Empörung<br />
über das Urteil in kräftigen, erfrischend deutlichen<br />
Worten aussprach. Freilich — denn dieses Urteil<br />
predigt in tausendzüngiger Sprache die Wahrheitsbeweise<br />
des, Anarchismus, denen sich kein ehrlicher<br />
Gegner verschliessen kann. Auch dafür trug das<br />
Re chsgericht Sorge <strong>und</strong> für letzteres sind wir ihm<br />
eigentlich zu Dank verpflichtet. —<br />
Ungarn.<br />
Die ungarländische soc.-dem. Partei hat soeben<br />
das von Erwin S z a b o, Arnold D a n i e l <strong>und</strong> Julius<br />
R a c z entworfene, neue „Agrarprogramm" veröffentlicht.<br />
Dasselbe enthält so viele wichtige <strong>und</strong>,<br />
mit geringer Ausnahme, leider ausgesprochene unzweckmässige<br />
Massnahmen in punkto Agrarfrage<br />
<strong>und</strong> Bauernstand, dass wir dasselbe einer eingehenden<br />
Würdigung unterwerfen werden.<br />
Frankreich.<br />
Am 15. Jänner wurde vor dem Pariser G e -<br />
schworenengerichte der Prozess gegen die „Volks-
stimme", Wochenblatt der französischen revolutionären<br />
Gewerkschaftler verhandelt. Wie jedesmal zur<br />
Zeit der Assentierungen <strong>und</strong> dem Einrücken der<br />
Rekruten hatte das Blatt im Oktober vorigen Jahres<br />
eine illustrierte antimilitaristische Nummer herausgegeben,<br />
die wegen drei Zeichnungen <strong>und</strong> einem<br />
Artikel beschlagnahmt wurde. Für diese wurden nun<br />
der Zeichner, unser Genosse G r a n d j o u a n <strong>und</strong><br />
der verantwortliche Redakteur des Blattes V i g n a u d ,<br />
wegen Beleidigung der Armee <strong>und</strong> Aufreizung zum<br />
Ungehorsam vor Gericht gestellt.<br />
Jenes erste inkriminierte Bild bezieht sich auf<br />
die Ereignisse in Südfrankreich im Juli 1907, wo in<br />
Narbonne ein Kürassierregiment mit barbarischer<br />
Wut das friedlich demonstrierende Volk niederritt<br />
<strong>und</strong> mit Revolvern beschoss. Ein Soldat dieses Regimentes<br />
wird bei seiner Heimkehr mit Schimpf <strong>und</strong><br />
Fluch von seinen proletarischen Angehörigen aus<br />
dem Hause gejagt. In den zwei anderen Zeichnungen<br />
sehen wir die Armee einerseits im Kriege, um<br />
den Kapitalisten in „uncivilisierten" Ländern neue<br />
Märkte — neue Ausbeutungsobjekte — zu erwerben;<br />
<strong>und</strong> im Streik als Wächter des Eigentums der besitzenden<br />
<strong>und</strong> herrschenden Klasse.<br />
Es ist sehr interessant, dass dies in Frankreich<br />
der e r s t e F a l l ist, dass eine bildliche Darstellung<br />
wegen Aufreizung verfolgt wird. Unter dem Königtum<br />
<strong>und</strong> der zweiten Republik (wo das Volk nun<br />
keinerlei „politische Rechte" hatte!) unter der Diktatur<br />
<strong>und</strong> dem Kaiserreich Napoleons III., unter der<br />
Herrschaft der Besieger der Kommune — nie ist<br />
dieser Fall vorgekommen! Wir mussten erleben,<br />
dass die „ s o c i a l i s t i s c h - r a d i k a l e n R e p u -<br />
b l i k a n e r " ans Ruder kamen, dass der einstige<br />
radikale Liberale Clemenceau Ministerpräsident<br />
wurde, in dessen Kabinet zwei Mitglieder der „französischen<br />
socialistischen Arbeiterpartei" (Viviani<br />
<strong>und</strong> Aristide Briand, einst"der stärkste Vorkämpfer<br />
für Generalstreik, militärische Dienstverweigerung<br />
<strong>und</strong> bewaffneten Aufstand) Platz nehmen — damit,<br />
nebst der massenhaften Einkerkerung der Vorkämpfer<br />
der Arbeiter, die Zensur auch über die Kunst<br />
verhängt werde. Das ist doch der schönste Beweis<br />
für die Notwendigkeit <strong>und</strong> die Segnungen der „Eroberung<br />
der politischen Macht!"<br />
Der inkriminierte Artikel „An die jungen Soldaten"<br />
ist ebenfalls sehr harmlos <strong>und</strong> lautet in seinen<br />
Hauptteilen wie folgt:<br />
„Junger Soldat, diese Höhle, die sich Kaserne<br />
nennt, verlangt nach dir. Sie will dich für<br />
zwei Jahre haben. Die St<strong>und</strong>e ist für dich gekommen,<br />
wo du die Blutsteuer bezahlen musst.<br />
Du wirst also einen neuen Menschen anziehen;<br />
deine Arbeiterkleider wirst du mit dem<br />
Soidatenputz vertauschen, <strong>und</strong> statt den Hammer,<br />
die Hacke oder die Schaufel zu handhaben, wirst<br />
du das Gewehr in die Hand bekommen.<br />
Wird dein Herz, dein Verstand auch einen<br />
neuen Menschen anziehen?<br />
Wir glauben es nicht.<br />
Warum solltest du dich ändern, junger Sold<br />
a t ? Wirst du in der Kaserne nicht dasselbe<br />
sein, was du in der Werkstatt der Fabrik, auf<br />
dem Felde gewesen bist — der Sklave des<br />
Kapitals?<br />
Man wird dir sagen, junger Soldat, dass<br />
du deshalb in der Armee dienst, um die Grenze<br />
des Vaterlandes zu verteidigen. Aber wer ist<br />
denn an der anderen Seite dieser Grenze?<br />
Siehe, was in Marokko vorgeht: französische<br />
Soldaten brechen ins Land ein, einzig <strong>und</strong><br />
allein zum Profit der Kapitalisten".<br />
In diesen <strong>und</strong> ähnlichen, rein humanistischen<br />
Ausführungen wollte der Staatsanwalt „Aufreizung<br />
zum militärischen Ungehorsam" finden. Er gab sich<br />
redlich Mühe, um den Geschworenen durch das<br />
„rote Gespenst" des revolutionären Antimilitarismus<br />
<strong>und</strong> Antipatriotismus bange zu machen <strong>und</strong> sie so<br />
zur Verurteilung der Angeklagten, zu bewegen.<br />
Unter anderem sagte er, als Beweis, dass die französischen<br />
Antimilitaristen nur ihr eigenes „Vaterland"<br />
dem Verderben weihen: „Auf dem Stuttgarter<br />
Kongress haben sich die deutschen Socialdemokraten<br />
gegen die Ideen des Antimilitarismus <strong>und</strong> Antipatriotismus<br />
ausgesprochen <strong>und</strong> uns zu verstehen<br />
gegeben, dass im Kriegsfalle kein Socialist seine<br />
Militärpflicht versäumen würde <strong>und</strong> dass alle gegen<br />
den „Erbfeind" zu Felde ziehen werden". Die deutsche<br />
Socialdemokratie kann stolz auf dieses Lob sein!<br />
Das Schwurgericht hat Grandjouan freigesprochen<br />
<strong>und</strong> Vigneaud — wegen der Veröffentlichung<br />
der freigesprocheen Zeichnungen Grandjouans!<br />
— zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt.<br />
Die „Voix du Peuple" gibt dieser Tage wieder<br />
eine illustrierte antimilitaristische Nummer heraus.<br />
Deutschland.<br />
Fast wie eine Ironie klingt es, wenn man in<br />
Bernsteins vorliegendem, zweiten Band über die<br />
„Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung" von<br />
dem v e r g a n g e n e n Wüten des bekannten deutschen<br />
Socialistengesetzes liest <strong>und</strong> daran die Verfolgungen<br />
denen unsere deutschen Kameraden ausgesetzt<br />
sind, misst. Allerdings, für die Socialdemokraten<br />
finden dieselben nicht mehr in dem Grade<br />
statt wie ehedem; sie sind zu zahm geworden. Anders<br />
ist es mit den Anarchisten; aus allen Teilen Deutschlands<br />
laufen unaufhörlich Nachrichten ein, die von<br />
den entsetzlichsten Verfolgungen, von den empörendsten<br />
Justizübergriffen gegenüber unserer Bewegung<br />
berichten, wie erst letzthin die Verurteilung<br />
Kielmeyer zu 1 Jahr, usw. Was bezwecken die deutschen<br />
Polizei- <strong>und</strong> Richtermatadoren eigentlich damit?<br />
Wollen sie mit aller Gewalt die Propaganda der<br />
Aufklärung u n m ö g l i c h machen <strong>und</strong> eine terroristische<br />
Bewegung förmlich aus dem Boden stampfen?<br />
Den Anarchismus auszurotten, das wird ihnen<br />
nie gelingen; den Kampf zwischen Autorität <strong>und</strong><br />
Antiautorität zu verschärfen, gewaltsamere Formen<br />
annehmen zu lassen — das allein wird die Frucht<br />
ihres Wirkens sein.<br />
Angesichts solch wackeren Kampfes unserer<br />
Kameraden — was ist dagegen die lumpige Wahlrechtsdemonstration<br />
der Socialdemokratie? — ist es<br />
interessant zu beobachten, dass die Wiener „A rb<br />
e i t e r z e i t u n g " gerade in Bezug auf Deutschland<br />
von einer „ n a h e n V e r w a n d s c h a f t v o n<br />
A n a r c h i s m u s u n d P o l i z e i s p i t z e l "<br />
spricht. (Vgl. Besprechung des Bernsteinschen Buches).<br />
Der elende Pressbandit, der diese Ausdrücke<br />
prägte <strong>und</strong> dank ihnen, ein gut nährendes Gehalt<br />
bezieht, steht unter aller Kritik <strong>und</strong> ist des Fusstrittes<br />
selbst unseres einfachsten Kameraden Deutschlands,<br />
der trotz aller Verfolgungen seinem I d e a l<br />
treu bleibt, unwürdig!<br />
Briefe unserer Leser.<br />
I.<br />
Wien. Schamröte bedeckt mein Gesicht, wenn<br />
ich mir das Vorgefallene vor Augen führe, das ich<br />
berichten will, denn ich schäme mich für meine<br />
Mitmenschen, für meine Klassengenossen, die sich<br />
durch Verhetzungen seitens ihrer Führer zu Handlungen<br />
verleiten lassen, die schmachvoll sind. Ich<br />
kolportiere den „W. f. A." im Arbeiterheim, da<br />
kommen zwei „Ordner" an mich heran mit der barschen<br />
Aufforderung, das Lokal sofort zu verlassen.<br />
Ich hatte keine Zeit etwas zu erwidern; einer packte<br />
mich beim Rockkragen <strong>und</strong> unter Püffen <strong>und</strong> Stössen<br />
wurde ich hinausgeworfen. Aufgehetzt von dieser<br />
Polizeiseele, verfolgte mich eine Horde dieser verblendeten<br />
Fanatiker, mich stossend <strong>und</strong> beschimpfend.<br />
Auf der Strasse umringten sie mich; ein<br />
Subjekt mit der Physiognomie eines Mastbürgers,<br />
es war wahrscheinlich der Wirt, trat an mich mit<br />
den Worten heran: „Machen Sie, dass sie fortkommen,<br />
sonst hau' ich Ihnen a paar runter". Dieser<br />
Eibärmliche hätte dies ganz wahrscheinlich zur<br />
Ausführung gebracht, wenn ich ihn nicht in ruhiger<br />
<strong>und</strong> bestimmter Weise in die gebührenden Schranken<br />
des Anstands verwiesen hätte. So sieht es aus<br />
in den Reihen derjenigen, die sich dreist Socialisten<br />
nennen <strong>und</strong> dem Volke die „Freiheit" zu bringen<br />
versprechen. Genossen! Es ist höchste Zeit, den<br />
Kampf zu führen gegen solche Dummheit <strong>und</strong><br />
Niedertracht. B. B.<br />
II.<br />
Beifolgende Schriftstücke, sowohl im Jargon als<br />
auch im Gebahren eine blöde <strong>und</strong> niederträchtige<br />
Nachäffung des bestehenden Staates, bringen wir<br />
auf Wunsch des Adressaten, eines ergrauten Socialdemokraten<br />
zum Abdruck. David Jeglitschs Verbrechen<br />
besteht darin, dass er die Prinzipien des<br />
wirtschaftlichen Kampfes im Gegensatz zum Schmarotzerinteresse<br />
der soc.-dem. Politikanten <strong>und</strong> der<br />
Gewerkschaftsbureaukratie entwickelte <strong>und</strong> propagierte.<br />
Wehe jedem Prinzip der Toleranz, der Geistesfreiheit,<br />
wenn die Socialdemokratie je zur Herrschaft<br />
gelangen sollte. Die Parvenüs, die Emporkömmlinge<br />
sind stets ärger als die früheren Despoten!<br />
Hier der Wortlaut der beiden Briefe:<br />
Herrn David Jeglitsch, Wien X. Mit Gegenwärtigem<br />
teile ich Ihnen im Auftrage des Verbandsvorstandes<br />
mit, dass Sie wegen grober Beleidigung<br />
von Funktionären der politischen Organisation,<br />
welche das Ansehen der Metallarbeiter herabwürdigt,<br />
aus dem Verbände ausgeschlossen wurden.<br />
Gegen die Ausschliessung steht Ihnen das<br />
Recht der Berufung an dem nächsten Parteitag zu.<br />
Dies zur geil. Kenntnis bringend, zeichnet für<br />
das „Niederösterreichische Sekretariat des österreichischen<br />
Metallarbeiterverbandes", Wien V,2,<br />
Kohlgasse 27, Telefon Nr. 8643 Hans Drechsler m. p.<br />
Herrn David Jeglitsch bringt Unterfertigter<br />
folgendes zur Kenntnis: Der Vorstand des Vereines<br />
„Arbeiterheim" als Besitzer der Konzession <strong>und</strong><br />
Herr Karl Lob als Pächter derselben, untersagen<br />
Ihnen von nun ab den Zutritt in das Heim <strong>und</strong><br />
wird Ihnen eröffnet, dass Sie weder bedient noch<br />
dort geduldet werden <strong>und</strong> zwar aus Gründen der<br />
im Hause notwendigen Ordnung <strong>und</strong> Ruhe. Sollten<br />
Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, so haben<br />
alle Funktionäre, Wirt <strong>und</strong> Ordner den Auftrag,<br />
Sie sowohl m i t Z u h i l f e n a h m e d e r P o l i z e i<br />
als auch mittelst Brachialgewalt zu entfernen <strong>und</strong><br />
wird in jedem einzelnen Falle die Anzeige wegen<br />
Hausfriedensbruch gegen Sie angestrengt weiden,<br />
sowie Sie alle für Sie unangeneh nen Konsequenzen<br />
aus einem Dawiderhandeln ziehen müssten.<br />
Wir geben uns der Hoffnung hin, dass Sie<br />
vernünftig genug sein werden, da wir mit aller<br />
Entschiedenheit entschlossen sind, allem Vorhergesagten<br />
den nötigen Nachdruck zu verleihen <strong>und</strong> ein<br />
Dawiderhandeln Ihrerseits nur für Ihre Person von<br />
schlechten Folgen begleitet sein würde. Verein „Arbeiterheim",<br />
Wien X, Luxenburgerstr. 8—10. Für<br />
den Vorstand Franz Feilnzeiter, Obmann.<br />
III.<br />
Marburg a. d. Drau.<br />
Liebwerte Fre<strong>und</strong>e! Im Auftrage hierorfiger<br />
Kameraden überbringe ich Euch die herzlichsten<br />
Glückwünsche zu den bisherigen Nummern des<br />
„W. f. A." Wir wissen unsere Pflicht, das Blatt zu<br />
unterstützen, vollauf zu würdigen. Seit dem Jahre<br />
1893, als der Prozess Rismann-Hertschal stattfand,<br />
sind die meisten Alten eingenickt, wir bedürfen der<br />
frischen Kräfte. Wir machen Euch deshalb den Vorschlag,<br />
Euch mit den Kameraden von Graz, Klagenfurt<br />
usw. in Verbindung zu setzen über den Plan<br />
einer A g i t a t i o n s t o u r, die wir hier sehr gerne<br />
unterstützen werden. Des weiteren ersuchen wir,<br />
uns neben den festen Abonnementsexemplaren auch<br />
noch Agitationsnummern des „W. f. A." zur Verfügung<br />
zu stellen. Mit Bewegungsgruss F. P.<br />
(Anmerkung der Redaktion. Mit Freuden greifen<br />
wir die prächtige Anregung unserer Genossen bezüglich<br />
der mündlichen Propaganda <strong>und</strong> Agitationstour<br />
auf <strong>und</strong> ersuchen die Genossen aller Kronländer<br />
— <strong>und</strong> die Zirkulation unseres Blattes erstreckt<br />
sich bereits über alle! — sich über diesen<br />
Plan auszusprechen <strong>und</strong> uns Mitteilungen über ihre<br />
Meinung zugehen zu lassen. Alles weitere werden<br />
wir hier besorgen!)<br />
V e r e i n s k a l e n d e r .<br />
Dienstag, den 18. Februar. Versammlung der<br />
Allg. Gewerkschaftsföderation des XIV. Bezirkes in<br />
Schlor's Lokalitäten, Märzstr. 33, um 8 Uhr abends.<br />
Tagesordnung: Philosophie <strong>und</strong> Ideal des Anarchismus.<br />
Sonntag, den 23. Februar. Öffentl. Volksversammlung<br />
des X. Bez. Vormittags 9 Uhr. Tagesordnung:<br />
Die Prinzipien der Socialdemokratie unc<br />
ihre praktische Betätigung.<br />
Sonntag, den 23. Februar. Vereinsversammlung<br />
der „Allgemeinen Gewerkschaftsföderation"<br />
V. Einsfedlerg. öO, um 6 Uhr abends. Tagesordnung<br />
Generalstreik <strong>und</strong> politische Aktion.<br />
Montag, den 24. Februar. Vereinsversammlung<br />
des II. <strong>und</strong> XX. Bez. Tagesordnung: Marxis<br />
mus <strong>und</strong> Bodenreform. (Näheres postalisch).<br />
Dienstag, den 25. Februar. Vereinsversammlung<br />
des XIV. Bez. in Schlor's Lokalitäten, März<br />
Strasse 33, um 8 Uhr abends. Tagesordnung: Ale<br />
xander Herzen's Memoiren; seine Beziehungen zun<br />
Marxismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Ö f f e n t l i c h e E r k l ä r u n g .<br />
Herr Michel Deutsch! Am 30. Jänner erklärte<br />
Sie, als Zentralobmannstellvertreter des Freidenker<br />
Vereines für Niederösterreich, laut Aussage der Delegierten<br />
der gewesenen Ortsgruppe XIV. obige<br />
Vereines, dass wir Anarchisten eine „Starckbande<br />
<strong>und</strong> „Streikbrecher" seien, .starckische Broschüre<br />
<strong>und</strong> Zeitungen" feilbieten <strong>und</strong> uns „unter dem Deckmantel<br />
des Freidenkertums eingeschlichen" hätten<br />
Solange Sie, Herr Deutsch, diese Behauptungen<br />
nicht durch Beweise öffentlich erhärten, erkläre ich<br />
Sie für einen erbärmlichen Ehrabchneider <strong>und</strong> Verleumder.<br />
Moritz Lickier, Holocherg. 33, III/1<br />
Wien XIV.
- 9 -<br />
Wird die Regierung durch eine Klasse, eine Partei<br />
bestimmt? Dann sind es ja doch nur die Interessen <strong>und</strong><br />
Ideen d i e s e r K l a s s e , die siegen werden, <strong>und</strong> die<br />
Interessen der übrigen Menschen werden denen geopfert.<br />
Oder endlich: wird die Regierung durch das allgemeine<br />
Wahlrecht erwählt? Dann ist das einzig Ausschlaggebende<br />
die Zahl der Wähler, <strong>und</strong> diese beweist doch<br />
keineswegs die Gerechtigkeit, die Weisheit, die Fähigkeiten<br />
der Erwählten. Diejenigen werden oftmals gewählt<br />
werden, die das Volk am besten betrugen können, <strong>und</strong><br />
die Minorität, die möglicherweise die Hälfte der Wähler<br />
ausmacht einen einzigen Menschen abgerechnet —<br />
die wird geopfert. Dazu kommt noch, dass man bisher<br />
kein Wahlsystem hat finden können, durch das gesichert<br />
wäre, dass die Gewählten wenigstens wirklich die Mehrzahl<br />
der Wähler verträten?<br />
Es gibt viele verschiedene Theorien, mit welchen<br />
man das Dasein der Regierung zu erklären <strong>und</strong> zu<br />
rechtfertigen sucht. Im Gr<strong>und</strong>e genommen sind alle auf<br />
der — eingestandenen oder nicht eingestandenen —<br />
Voraussetzung aufgebaut, dass die Interessen der verschiedenen<br />
Menschen einander entgegengesetzt sind <strong>und</strong><br />
dass eine äussere, oberste Gewalt notwendig ist, um die<br />
Einen zu zwingen, die Rechte der Anderen zu achten,<br />
<strong>und</strong> um für sie alle solche Regeln aufzustellen, die, so<br />
weit es geht, die sich bekämpfenden Interessen versöhnen,<br />
<strong>und</strong> jedem so viel Befriedigung <strong>und</strong> so wenig Nachteil<br />
bringen wie nur möglich,<br />
Die Verteidiger der Herrschaft sprechen folgendermassen:<br />
„Wenn die Interessen, die Bestrebungen, die<br />
„ANARCHIE" von Enriko M a l a t e s t a . 2
- 10 -<br />
Wünsche eines Menschen im Gegensatze zu jenen eines<br />
anderen Menschen oder der ganzen Gesellschaft stehen,<br />
wer wird dann das Recht <strong>und</strong> die Macht haben, den<br />
Einen zu zwingen, die Interessen des Anderen zu achten ?<br />
W e r könnte es verhüten, dass ein Mensch den allgemeinen<br />
Willen verletzt? Die Freiheit eines jeden — so<br />
sagen sie — ist begrenzt durch die Freiheit der übrigen<br />
Menschen; aber wer wird diese Grenzen festsetzen <strong>und</strong><br />
beschützen? Die natürlichen Gegensätze der Interessen<br />
<strong>und</strong> Leidenschaften machen die Regierung notwendig<br />
<strong>und</strong> rechtfertigen die Herrschaft, die den gesellschaftlichen<br />
Kampf milder <strong>und</strong> einem jeden die Grenzen seiner<br />
Rechte <strong>und</strong> Pflichten anweist."<br />
Das ist die Theorie. Aber die Theorien müssen<br />
sich, um wahr zu sein, auf den Tatsachen aufbauen <strong>und</strong><br />
dieselben erklären können; <strong>und</strong> man weiss, dass besonders<br />
in den socialen Fragen die Theorien meistens dazu<br />
erf<strong>und</strong>en werden, um die Vorrechte der Herrschenden zu<br />
verteidigen <strong>und</strong> die Unterdrückten zur geduldigen Ertragung<br />
dieser Bedrückung zu zwingen.<br />
Sehen wir also lieber die Tatsachen an.<br />
In der ganzen Geschichte der Menschheit, eben so<br />
wie heute, ist die Regierung e n t w e d e r die gewaltsame,<br />
brutale, willkürliche Herrschaft einiger Menschen<br />
über die Masse des Volkes, o d e r sie ist ein Werkzeug<br />
um die Macht <strong>und</strong> die Vorrechte derer zu bewahren,<br />
die durch Kraft, List oder Erbschaft alles, was zum Leben<br />
notwendig ist — besonders den Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden — in ihre<br />
eigenen Hände gebracht haben <strong>und</strong> durch diesen Reichtum<br />
das Volk in Knechtschaft halten <strong>und</strong> für sich arbeiten lassen.
— 11 —<br />
Man unterjocht die Menschen auf zweierlei Art;<br />
entweder unmittelbar durch die rohe Kraft, die körperliche<br />
Gewalt; oder auf Umwegen, indem man ihnen<br />
alles wegnimmt, was sie zum Leben brauchen <strong>und</strong> sie<br />
so zur Ohnmacht verdammt. Die erste Art ist der Ursprung<br />
der R e g i e r u n g , der p o l i t i s c h e n Macht<br />
überhaupt; die andera Art ist der Ursprung des R e i c h -<br />
t u m s , der wirtschaftlichen Vorrechte.<br />
Es gibt zwar noch eine dritte Art, um die Menschen<br />
zu bedrücken; nämlich indem man ihren Verstand<br />
<strong>und</strong> ihre Gefühle unterdrückt. Das ist die religiöse, die<br />
priesterliche Herrschaft. Aber so wie der sogenannte<br />
„Geist" ein Ergebniss der materiellen Kräfte ist, so ist<br />
die Lüge, <strong>und</strong> die Institutionen die den Zweck haben,<br />
die Lüge zu verbreiten, nur eine Folge der wirtschaftlichen<br />
Vorrechte, <strong>und</strong> ihr Zweck ist nur diese Vorrechte<br />
zu schützen <strong>und</strong> zu befestigen.<br />
In den ursprünglichen Gesellschaftsgruppen, die<br />
nur aus wenigen Menschen bestehen, <strong>und</strong> wo die Beziehungen<br />
der Mitglieder zu einander einfach sind, sind<br />
die b f<br />
iden Gewalten, die politische <strong>und</strong> die wirtschaftliche,<br />
in denselben Händen, oft in der Hand eines einzigen<br />
Menschen, vereinigt. Dieses ist der Fall, wenn<br />
irgend ein Umstand die Entwickelung der Solidarität,<br />
der gegenseitigen Hilfe verhindert oder zerstört hat, <strong>und</strong><br />
in Folge dessen die Herrschaft des Menschen über den<br />
Menschen zustande gekommen ist. — In diesen Gesellschaften<br />
haben die Herrschenden durch ihre Kraft die<br />
übrigen Menschen besiegt <strong>und</strong> eingeschüchtert; <strong>und</strong> so<br />
verfügen sie über die Person <strong>und</strong>.die Besitztümer der
- 12 —<br />
Besiegten, zwingen dieselben, ihnen zu dienen, für sie<br />
zu arbeiten <strong>und</strong> ihnen in allem den Willen zu tun. Sie<br />
sind Besitzer, Gesetzgeber, Könige, Richter <strong>und</strong> Henker<br />
in einem. —<br />
Aber dieser Despotismus wird unmöglich, sobald<br />
die Gesellschaft grösser wird, die Bedürfnisse sich vermehren<br />
<strong>und</strong> die Beziehungen der Menschen zu einander<br />
verwickelter werden. Entweder müssen die Herrschenden,<br />
um ihre Macht zu sichern, oder aus Bequemlichkeit,<br />
oder weil sie nicht anders können, sich auf eine bevorzugte<br />
Klasse stützen — das heisst, auf eine Gruppe von<br />
Menschen, die dieselben Interessen haben wie sie — ;<br />
oder sie müssen dulden, dass ein jeder sein Leben so<br />
einrichtet, wie er kann ; <strong>und</strong> sie behalten nur die Oberaufsicht<br />
für sich, das heisst, das Recht, einen jeden so<br />
weit wie möglich auszubeuten <strong>und</strong> die Befriedigung ihrer<br />
Eitelkeit des Kommandierens. So wächst unter dem<br />
Schutze der Regierung, mit ihrer Mithülfe — <strong>und</strong> oft<br />
ohne dass sie etwas darüber weiss — das Privateigentum,<br />
die besitzende Klasse empor. Mit der Zeit vereinigt<br />
diese in ihren Händen die Produktionsmittel (Boden,<br />
Maschinen, Werkzeuge u. s. w.), die wahren Quellen<br />
des Lebens: Landwirtschaft, Industrie, Handel etc. Sie<br />
bildet schliesslich eine Macht, der es, durch die vielfachen<br />
Interessen die dieselbe umfasst, schliesslich immer<br />
gelingt, die politische Macht, mehr oder weniger offenk<strong>und</strong>ig<br />
zu ihren Diensten zu zwingen <strong>und</strong> aus der Regierung<br />
den Gendarm der besitzenden Klassen zn machen.<br />
Diese Erscheinung hat sich mehrmals in der G e -<br />
schichte wiederholt. Ein jedes Mal, wenn durch eine
— 13 -<br />
Eroberung oder ein kriegerisches Unternehmen die rohe<br />
Gewalt in der Gesellschaft gesiegt hat, haben die Sieger<br />
versucht, in ihren Händen die Regierung <strong>und</strong> den Besitz<br />
zu vereinigen. Aber die Regierung musste sich immer<br />
wieder mit der herrschenden Klasse in's Einvernehmen<br />
setzen; sie war nicht im Stande, die ausgedehntere Produktion<br />
zu überwachen <strong>und</strong> zu leiten; <strong>und</strong> so entwickelte<br />
sich wieder das Privateigentum, die zwei Gewalten (politische<br />
<strong>und</strong> wirtschaftliche) trennten sich von einander,<br />
<strong>und</strong> die Machthaber, die Regierenden, wurden abhängig<br />
von denen, die die Quelle der Macht, den Reichtum,<br />
besitzen. Die Regierung wird immer, unvermeidlich, zum<br />
Wächter des Eigentums.<br />
Aber diese Erscheinung ist nie so stark zu Tage<br />
getreten wie heutzutage. Die Steigerung der Produktions<br />
fähigkeit, der riesige Aufschwung des Handels, die unverhältnissmässig<br />
grosse Macht des Geldes, <strong>und</strong> die<br />
ganze wirtschaftliche Entwicklung, die durch die Entdeckung<br />
Amerika's, die Erfindung der Maschinen etc.<br />
entstanden ist — all das hat die kapitalistische Klasse<br />
so mächtig gemacht, dass sie sich nicht mit der Unterstützung<br />
begnügt, die die Regierung ihr bietet; sie will,<br />
dass die Regierung aus ihren eigenen Reihen hervorgehen<br />
soll. Eine Regierung, die im Recht der Eroberung<br />
ihren Ursprung hatte (im „göttlichen Recht" sagen die<br />
Könige <strong>und</strong> Priester), benimmt sich — wenn auch die<br />
Umstände sie zum Diener der kapitalistischen Klasse<br />
gemacht hatten — doch immer hochmütig <strong>und</strong> verächtlich<br />
gegen ihre früheren reich gewordenen Sklaven,<br />
<strong>und</strong> gegen ihre Gelüste nach Freiheit <strong>und</strong> Macht. Diese
- 14 —<br />
Regierungen waren wohl die Verteidiger, die Gendarmen<br />
der Besitzenden, aber sie waren von der Art Gendarmen,<br />
die eine hohe Meinung von sich haben <strong>und</strong> sich<br />
frech gegen die Leute benehmen, die sie begleiten <strong>und</strong><br />
beschützen müssen — wenn sie dieselben nicht an<br />
einer einsamen Stelle des <strong>Weg</strong>es umbringen <strong>und</strong> berauben.<br />
Die kapitalistische Klasse ist immer bestrebt, sich<br />
von diesem „Schutz" freizumachen <strong>und</strong> durch mehr oder<br />
weniger gewalttätige Mittel ist es ihr (in den „konstitutionellen<br />
Staaten") gelungen, an Stelle dieser Regierung<br />
eine Regierung zu setzen, die sie selbst wählt, die aus<br />
ihren eigenen Mitgliedern besteht, über die sie eine<br />
fortwährende Aufsicht ausübt, <strong>und</strong> die eigens dafür organisiert<br />
ist, um die Besitzenden, die Reichen gegen die<br />
Forderungen der Enterbten, der Armen zu schützen.<br />
D i e s e s i s t d e r U r s p r u n g d e s h e u t i g e n<br />
P a r l a m e n t a r i s m u s .<br />
Die Regierung besteht heute vollständig aus Besitzenden<br />
<strong>und</strong> aus solchen Leuten, die ihnen dienen;<br />
<strong>und</strong> darum steht sie volkommen zu Diensten der Besitzenden;<br />
so sehr, dass die Allerreichsten unter ihnen<br />
sich nicht einmal die Mühe nehmen, selbst an der Regierung<br />
teilzunehmen. Ein Rothschild hat es nicht nötig,<br />
Abgeordneter oder Minister zu sein; es genügt ihm, dass<br />
die Abgeordneten <strong>und</strong> Minister ihm zur Verfügung stehen.<br />
In manchen Ländern hat das Proletariat, dem N a -<br />
men nach, das Recht, mehr oder weniger an der W a h<br />
der Regierung mitzuwirken. Es ist dies ein Zugeständnie<br />
der Bourgeoisie an das Volk; entweder um seine<br />
Hilfe im Kampf gegen die Macht des Königtums oder
- 15 -<br />
der Aristokratie zu erkaufen; oder um die Gedanken<br />
der Unterdrückten von ihrer tatsächlichen Befreiung abzuwenden,<br />
indem sie ihnen e i n e n S c h e i n von Freiheit<br />
<strong>und</strong> Selbstbestimmungsrecht gibt.<br />
Ob nun die Bourgeoisie diese Wirkung des allgemeinen<br />
Wahlrechtes vorausgesehen hat oder nicht:<br />
j e d e n f a l l s i s t e s e i n e T a t s a c h e , d a s s s i c h<br />
d i e s e s „ R e c h t " a l s g a n z n u t z l o s e r w i e s e n<br />
h a t . Es dient nur dazu, um die Macht der Bourgeoisie<br />
zu befestigen, indem es dem tatkräftigsten Teil des Proletariats<br />
die f a l s c h e H o f f n u n g vorspiegelt, dass<br />
es einst selbst zur Herrschaft gelangen wird.<br />
Die Regierung ist auch beim allgemeinen Wahlrecht<br />
— oder besser gesagt, gerade beim allgemeinen<br />
Wahlrecht — der Diener <strong>und</strong> der Gendarm der Bourgeoisie.<br />
Wenn es anders sein könnte, wenn die Regierung<br />
den Reichen je feindlich werden könnte, wenn die D em<br />
o k r a t i e etwas anderes wäre, als ein Mittel, um das<br />
Volk zu betrügen — dann würde die Bourgeoisie, in<br />
ihren Interessen gefährdet, eine Empörung ins Werk<br />
setzen, <strong>und</strong> sich aller Macht <strong>und</strong> allen Einflusses bedienen,<br />
den ihr der Besitz des Reichtums gibt, um die<br />
Regierung zu ihrer einfachen Pflicht, zu ihrem Gendarmendienst<br />
zurückzuführen. Immer <strong>und</strong> überall war die<br />
Bedrückung <strong>und</strong> Ausbeutung des Volkes, das Beschützen<br />
der Bedrücker <strong>und</strong> Ausbeuter die eigentliche Aufgabe<br />
der Regierung, was immer für einen Namen sich dieselbe<br />
beilegen mochte, wie immer auch ihr Ursprung<br />
<strong>und</strong> ihre Organisation ist. Ihre wichtigsten, bezeichnendsten<br />
Werkzeuge sind der Gendarm u n d ' d e r Steuerein-
- 16 -<br />
Ireiber, der Soldat <strong>und</strong> der Gefängniswächter, denen sich<br />
unvermeidlich der Verbreiter von unbewiesenen Behauptungen,<br />
der Priester oder zünftige Professor, zugesellt,<br />
die die Regierung bezahlt <strong>und</strong> beschützt, damit sie den<br />
Geist der Unterdrückten zur Knechtschaft <strong>und</strong> zum g e -<br />
duldigen Ertragen ihres Joches erziehen.<br />
Freilich haben sich diesen wesentlichen Aufgaben,<br />
diesen Hauptwerkzeugen der Regierung, im Laufe der<br />
Zeit andere Aufgaben angeschlossen. Geben wir also<br />
zu, dass es — in einem einigermassen civilisierten Land —<br />
nie oder beinahe nie eine Regierung gegeben hat, die<br />
ausser ihrer Tätigkeit zur Bedrückung <strong>und</strong> Ausbeutung<br />
des Volkes, sich nicht auch anderen Aufgaben zugewandt<br />
hätte, die für das gesellschaftliche Leben nützlich oder<br />
unentbehrlich sind. Aber das W e s e n der Regierung,<br />
die Bedrückung <strong>und</strong> Ausbeutung ist, dass sie durch ihren<br />
Ursprung <strong>und</strong> ihre gegenwärtige Stellung unvermeidlich<br />
dazu bestimmt ist, die herrschende Klasse zu beschützen<br />
<strong>und</strong> aufrechtzuerhalten; die Tatsache, dass sie ihr Wesen<br />
unter dem Deckmantel der allgemeinen Nützlichkeit zu<br />
verbergen sucht, bekräftigt <strong>und</strong> erschwert also nur noch<br />
die Anklagen, die wir gegen dieselbe vorgebracht haben.<br />
Die Regierung übernimmt es, das Leben der Staatsbürger<br />
mehr oder weniger gegen unmittelbare brutale<br />
Angriffe zu verteidigen. Sie anerkennt <strong>und</strong> legalisiert<br />
eine Anzahl von gr<strong>und</strong>legenden Rechten <strong>und</strong> Pflichten,<br />
von Gewohnheiten <strong>und</strong> Gebräuchen, ohne welche ein<br />
gesellschaftliches Leben unmöglich ist. Sie organisiert<br />
<strong>und</strong> leitet einige öffentliche Dienstleistungen, wie z. B.<br />
die Post, die Landstrassen, die öffentliche Ges<strong>und</strong>heit,
meinsam übernehmen kann. Die Waffe dieser<br />
Methode ist — der Generalstreik!<br />
Immer öfter wendet sich das internationale<br />
Proletariat dieser Waffe des Klassenkampfes<br />
zu, trotz allen Bemühungen dagegen<br />
seitens der Politiker.<br />
Davor zittern die Politiker aller Schattierungen<br />
<strong>und</strong> fürchten, ihren früheren Einfluss<br />
zu verlieren. Darum sind sie gezwungen,<br />
sich dem Streben des Proletariats nach Selbsttätigkeit<br />
anzupassen. Sie bemühen sich aber,<br />
die proletarische Waffe f ü r i h r e e i g e n e n<br />
p a r l a m e n t a r i s c h e n <strong>Ziel</strong>e auszunützen.<br />
Durch die wachsende Unzufriedenheit der<br />
Arbeiter mit ihren Führern sahen sich die<br />
Politiker genötigt, etwas Künstliches zu erfinden,<br />
das ihnen ein revolutionäres Aussehen<br />
verleihen <strong>und</strong> sie zugleich nicht zwingen<br />
würde, von ihrem Prinzip der „Gesetzlichkeit"<br />
abzulassen. Deshalb verzerren sie die<br />
Bedeutung des Generalstreiks <strong>und</strong> wollen ihn<br />
aus einer Waffe für die wirtschaftliche Befreiung<br />
des Proletariats in eine politische<br />
Demonstration, zur Erreichung zweckloser,<br />
politischer P a p i e r rechte verwandeln*).<br />
Für uns revolutionäre Anarchisten hat<br />
der Generalstreik eine andere Bedeutung.<br />
Er hat auch seine philosophische Begründung.<br />
D e r G e n e r a l s t r e i k i s t d e r<br />
m ä c h t i g s t e p a s s i v e A n f a n g d e r<br />
k r ä f t i g s t e n a k t i v e n T a t . E r führt<br />
den von den Verhältnissen trotz allem nicht<br />
gebrochenen Proletar, die Verhältnisse zu<br />
brechen. Er bringt den durch die Monopolisierung<br />
der Produktionsmittel ausgebeuteten<br />
Arbeiter dahin, von wo aus er durch ihre<br />
Expropriation den Produktionsprozess, dem<br />
er bisher nur gedient hat, übernehmen kann.<br />
J. Landau.<br />
Offizielles Protokoll<br />
des Internationalen Antimilitaristischen<br />
Kongresses,<br />
gehalten zu Amsterdam, am 30.— 31. August<br />
1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />
des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />
m e r h o r n .<br />
Eröffnungsrede d e s Gen. Domela Nieuwenhuis.<br />
W e r t e G e n o s s e n !<br />
Erlauben sie mir zur Eröffnung des Internationalen<br />
Antimilitaristischen Kongresses<br />
eine kurze Geschichte unserer Vereinigung,<br />
<strong>und</strong> gleichzeitig der antimilitaristischen Bewegung<br />
zu geben, wie ich diese seit drei<br />
jähren ihres Bestehens als Sekretär kenne.<br />
Sie erinnern sich, dass unsere Vereinigung<br />
im Jahre 1904 zu Amsterdam gegründet wurde,<br />
wo sich verschiedene Delegierte aus mehreren<br />
Ländern versammelt hatten. W a s wir da gemacht<br />
haben, war provisorisch, denn wir hauen<br />
von Anfang an die Absiebt, unseren Kongress<br />
bald in Oxford zu wiederholen, um dort unsere<br />
Vereinigung zu befestigen.<br />
Aber die antimilitaristische Bewegung<br />
konnte nicht die nötige Unterstützung in England<br />
finden, <strong>und</strong> bald bemerkten wir, dass es<br />
unmöglich sei, dort einen Kongress abzuhalten,<br />
der gut gelingen würde. Wir setzten uns in<br />
Verbindung mit unseren Kameraden in der<br />
*) Das tat die österreichische Socialdemokratie,<br />
als sie das Proletariat für das Nichts des Wahlrechtszwangesauf<br />
die Strasse treiben wollte, zum Teil<br />
sogar trieb; dies tut erst jetzt wieder die deutsche<br />
Socialdemokratie, die gewissenlos genug ist, die revolutionäre<br />
Demonstrationskraft des Proletariats für<br />
ein durchaus prinzipienwidriges Wahlrecht für den<br />
preussischen Landtag sich betätigen zu lassen: —<br />
für rein bürgerliche <strong>Ziel</strong>e wird Pioletarierblut vergössen!<br />
Anni. d. Red.<br />
Schweiz, wo die antimilitaristische Bewegung<br />
gut aufgenommen ist. Die Kameraden fanden<br />
es ausgezeichnet, dass wir dahin kommen<br />
wollten <strong>und</strong> fingen mit Freude die Vorbereitungen<br />
des Kongresses in Genf an. Aber die<br />
Antimilitaristen denken — <strong>und</strong> die Regierungen<br />
lenken. Kaum hatte die Presse bekannt<br />
gemacht, dass der Kongress in Genf tagen<br />
würde, als die gastfreie Regierung einer freien<br />
Republik allen Fremden gesetzlich verbot, in<br />
der Schweiz für den Antimilitarismus Propaganda<br />
zu machen. Das war ein deutliches<br />
Verbot unseres Kongresses, denn die Delegierten<br />
sollten, sobald sie ankamen, vom heiligen<br />
Schweizer Boden ausgewiesen werden.<br />
Dann wollten wir nach Mailand gehen,<br />
wo eine grosse Ausstellung stattfand; aber<br />
unsere italienischen Kameraden sagten, dass<br />
sie wegen der Wahrscheinlichkeit eines Verbotes<br />
nicht in der Lage sind, einen solchen<br />
Kongress vorzubereiten, <strong>und</strong> derselbe deshalb<br />
beinahe sicher misslingen würde.<br />
Nach vielen harten Schwierigkeiten ist<br />
es uns nun endlich gelungen, unseren Kongress<br />
hier in Amsterdam zu versammeln.<br />
Und jetzt noch ein Wort über die allgemeine<br />
antimilitaris.tische B e w e g u n g ; später<br />
werden wir mehr über dieselbe aus den interessanten<br />
Berichten der verschiedenen Länder<br />
hören. Die Bewegung hat einen w<strong>und</strong>erbaren<br />
Erfolg gehabt, <strong>und</strong> wir können sagen,<br />
dass w i r d i e a m m e i s t e n v e r p ö n t e<br />
<strong>und</strong> am meisten verfolgte Partei in der ganzen<br />
Welt sind. Es wäre unmöglich, aufzuzählen,<br />
wie viele Prozesse unsere Kameraden hier<br />
<strong>und</strong> dort <strong>und</strong> überall gehabt haben, wie viele<br />
Jahre Gefängnis schon auf Rechnung unserer<br />
Bewegung stehen. Aber es ist hier am Platz,<br />
allen jungen Leuten einen Brudergruss zu senden,<br />
die den Mut hatten, den Dienst zu verweigern.<br />
Die jungen Helden, die in ihrer Jugend<br />
leiden, in der Zeit, in der die Meisten<br />
so viel wie möglich gemessen, haben das<br />
volle Recht auf unsere Hochachtung <strong>und</strong><br />
unsere Bew<strong>und</strong>erung, wie geteilt dieselbe<br />
auch sein möge.<br />
Auch einen grossen Verlust hat unsere<br />
Bewegung erlitten durch den Tod unseres<br />
amerikanischen Fre<strong>und</strong>es E r n e s t C r o s b y ,<br />
der, wenn er noch lebte, gewiss hier wäre.<br />
Er war mit Heiz <strong>und</strong> Seele vollständig mit<br />
uns. <strong>Unser</strong> edler, toter Fre<strong>und</strong> EI y s e e<br />
R e c 1 u s, der noch in seinem letzten Briefe<br />
erklärte, dass er im Geiste ganz mit uns ist,<br />
fehlt ebenfalls hier.<br />
<strong>Unser</strong>e Bewegung betätigt sich überall<br />
auf's beste im Geiste der Menschlichkeit; man<br />
kann sogar behaupten, dass der Geist des<br />
Heeres sich in verschiedenen Ländern sehr<br />
verändert hat, weil man unsere Ideen fürchtet.<br />
Wollen sie die Früchte unserer Bewegung<br />
s e h e n ? Mögen einzelne Tatsachen genügen.<br />
Die Fälle der Dienstverweigerung, die<br />
Vermehrung der Desertionen, die grossen <strong>und</strong><br />
kleinen Meutereien im Heere <strong>und</strong> in der Flotte<br />
— all dies allein schon erfüllt die Bewegung<br />
mit Hoffnung für die Zukunft; dies<br />
sind die fühlbaren Ergebnisse unserer Bewegung.<br />
—<br />
Während des Konfliktes zwischen den<br />
Hafenarbeitern <strong>und</strong> den Reedern in Rotterdam<br />
hatte die Regierung ein Kriegsschiff dahin<br />
geschickt, um „die Ordnung aufrecht zu erhalten",<br />
das heisst, um die Reeder zu schützen<br />
<strong>und</strong> die Arbeiter zu unterdrücken. Der Kommandant<br />
hielt eine kleine Ansprache an die<br />
Matrosen <strong>und</strong> fragte sie pathetisch, ob das<br />
Vaterland in jedem Falle auf sie rechnen könne ?<br />
Und die allgemeine Antwort w a r : „Nein!<br />
Nein!" — Das Kriegsschiff ist bald wieder<br />
abgefahren, „der Reparatur w e g e n " ; aber<br />
nicht das Schiff brauchte die Reparatur, sondern<br />
nur der Geist der Matrosen!<br />
Und wer denkt nicht an die prachtvolle<br />
Episode des Knjas Potemkin, dieses russischen<br />
Kriegschiffes, das — zum ersten Mal in der G e -<br />
schichte — elf Tage lang in den Händen der<br />
Malrosen selbst war, zum Schrecken der<br />
russischen Regierung <strong>und</strong> der ganzen russischen<br />
Flotte, die es nicht anzugreifen wagten ?<br />
Freilich ging die Sache verloren, aber nur<br />
durch die Schwäche, die Meinungsverschiedenheiten<br />
<strong>und</strong> Streitigkeiten unter einem meist<br />
socialdemokratischen Teil der Matrosen selbst.<br />
Und wer denkt nicht an die Meuterei des 17ten<br />
Regimentes in Frankreich,, das sich weigerte,<br />
auf seine aufständischen Brüder zu schiessen?<br />
<strong>Unser</strong> Herz schlägt höher, wenn wir von<br />
solchen Taten hören, <strong>und</strong> wir sagen mit Stolz :<br />
lasst unsere Propaganda so weiter gehen, <strong>und</strong><br />
wir werden noch viel grossartigere Sachen<br />
erleben. —<br />
Keine sentimentalen Deklamationen, keine<br />
langen Resolutionen, keine platonischen Erklärungen!<br />
Der Sieg gehört den Mutigen!<br />
Ein einzelner Prinzipienakt des Antimilitarismus<br />
tut mehr für die Sache des Friedens als<br />
zehn Friedenskonferenzen, <strong>und</strong> nebenbei zehn<br />
socialdemokratische Kongresse.<br />
Überall haben wir viele Feinde; nicht<br />
nur in den Reihen der Bourgeoisie, sondern<br />
auch unter den Socialdemokraten. Es ist traurig<br />
zu sehen, dass die Führer einer so mächtigen<br />
Partei, wie es die socialdemokratische<br />
ist, auf ihrem internationalen Kongress in Stuttgard<br />
das Übel nicht an der Wurzel anzugreifen<br />
wagten. Sie sind so „praktisch" geworden,<br />
dass sie sich lieber zur grösseren Ehre ihrer<br />
lieben Vaterländer gegenseitig ermorden, anstatt<br />
in ihrem „Vaterland" in revolutionärer<br />
Weise die Regierungen zu zwingen, von einem<br />
Kriege abzulassen. Die Socialdemokraten b e -<br />
kämpfen den Krieg mit papierenen Resolutionen,<br />
kämpfen ihn aber mit.<br />
Wir sind nicht hergekommen, um einem<br />
Publikum glänzende Reden zu halten. Wir<br />
sind hiehergekommen, um zu arbeiten, <strong>und</strong><br />
wir müssen die kurze Zeit benützen, die uns<br />
zur Verfügung steht, um unsere Gedanken<br />
auszutauschen <strong>und</strong> festzustellen, ob unsere<br />
Auffassung ungefähr dieselbe ist; um die<br />
Richtung zu bestimmen, die unsere direkte<br />
Propaganda — m i t d e n n o t w e n d i g e n<br />
U n t e r s c h i e d e n i n d e n v e r s c h i e d e n e n<br />
L ä n d e r n — nehmen soll.<br />
Ich hoffe, dass wir zufrieden auseinander<br />
gehen werden, im Bewusstsein, nicht umsonst<br />
hier gewesen zu sein <strong>und</strong> die Kosten des<br />
Kongresses nicht umsonst ausgegeben zu halten<br />
— die zwar ein bischen weniger sein werden,<br />
als die der Haager Friedenskonferenz. Damit wir<br />
die Genugtuung haben mögen, unsere Bewegung<br />
durch diesen Kongress befestigt zu haben,<br />
darum tue jeder das Seinige: — seine hohe<br />
Pflicht! — (Fortsetzung folgt).<br />
Ein offener Brief.<br />
An Herrn Di. Adolf Braun, Mitredakteur<br />
der Wiener „Arbeiterzeitung".<br />
„. Kein Schmerz <strong>und</strong> keine Langeweile<br />
Soll mich entmutigen. Gut Ding will seine Zeit.<br />
lch wollt' die Wahrheit in den Herzen wecken,<br />
Die Fre<strong>und</strong>e floh'n in kindisch bleichem Schrecken.<br />
Auch er entfloh — den ich wie einen Bruder.<br />
Den ich wie eine Schwester einst geliebt!<br />
Und einsam gehen wir den trüben Pfad,<br />
Die Wahrheit kündend unter Müh' <strong>und</strong> Leiden<br />
Und mögen Toren uns <strong>und</strong> Menschen meiden .. ."<br />
(N. P. Ogareff.<br />
Nicht so sehr Hass, als eher jenes<br />
drückende Gefühl der Betrübnis <strong>und</strong> Trauer,<br />
nicht so sehr Empörung, als eher jenes<br />
dumpfe quälende Empfinden über diese ganze
grausam deutlich zu Tage tretende Festigkeit<br />
aller F<strong>und</strong>amente des heutigen Gesellschaftssystems<br />
in Österreich, sie sind es, die mich<br />
dazu veranlassen, diesen offenen Brief an Sie<br />
zu richten. Es ist all das Rohe, das geistig<br />
Gehalt- <strong>und</strong> Inhaltslose, das ich in jener<br />
Versammlung erlebte, in der Sie über „Die<br />
Staatsverwaltung" sprachen, jene künstliche<br />
Nährung <strong>und</strong> beständig erneuerte Züchtung<br />
der kleinbürgerlich konservativen Gesinnung,<br />
die Sie in jener Versammlung des soc.-dem.<br />
Wahlvereines auf der Landstrasse betrieben<br />
<strong>und</strong> die bei Ihren Zuhörern, diesen armen,<br />
verführten Proleten so ausnehmend stark <strong>und</strong><br />
kräftig Wurzel geschlagen hat — wissen Sie,<br />
Doktor, dies ist der Gr<strong>und</strong>, weshalb ich mit<br />
Ihnen rechten m u s s . Und noch etwas a n d e r e s !<br />
Sie wussten <strong>und</strong> wissen sehr wohl, dass der<br />
Kahlenberg noch lange kein Himalaya ist,<br />
<strong>und</strong> dass Ihr Vortrag davon weit entfernt<br />
war, auch nur der geringen Würdigungsfähigkeit<br />
von Seiten der Zuhörer Genüge zu tun.<br />
Das bewies der matte Applaus, der ja schliesslich<br />
nur von der Claque herrührte, dieweil<br />
die Übrigen genug damit zu tun hatten, die<br />
lähmende Langweile <strong>und</strong> Schlafsucht abzuschütteln,<br />
die ihnen Ihre Darlegungen gebracht<br />
hatten. Aber d a s , was S i e nachher taten,<br />
hätte selbst ich nicht vermutet. Sie geben<br />
doch wahrlich vor, ein Volkstribun, k e i n<br />
Pfaffe zn sein. Des Pfaffen Ausführungen<br />
müssen unwidersprochen hingenommen werden,<br />
des socialistischen Referenten n i e m a l s .<br />
Seine Ausführungen unterliegen — <strong>und</strong> gar<br />
vom demokratischen Standpunkt! — der<br />
schärfsten Kritik, zumal da Ihnen jeder<br />
Stümper der Pädagogik sagen kann, dass<br />
eine Diskussion geistig weit erspriesslicher<br />
ist, als selbst der wertvollste Vortrag, der<br />
Zöglingen gehalten wird. W a s aber taten<br />
S i e ? — Ich schäme mich für S i e ! — Sie<br />
taten, w a s jeder reaktionäre, christlichsociale<br />
Feigling vor dem Socialdemokraten tut; Sie<br />
rissen einfach aus vor uns, vor den Anarchisten.<br />
Und Sie traten dem Vorsitzenden,<br />
der die Diskussion Ihres Vortrages v e r b o t ,<br />
nicht entgegen, sondern suchten das Weite; wohl<br />
im Gefühle der geistigen Warte, die Sie den<br />
Arbeitern geboten hatten . . .<br />
Ich will Ihnen an dieser Stelle in Kürze<br />
sagen, was ich Ihnen auch dort gesagt hätte<br />
— falls die Demokratie nicht feige vor der<br />
Diskussion ausgekniffen wäre, falls Ihre<br />
„Demokratie" nicht das beliebte Mittelchen<br />
a l l e r Bourgeoisparteien angewandt hätte:<br />
S t r a n g u l i e r u n g d e r f r e i e n M e i n u n g s -<br />
ä u s s e r u n g , U n t e r d r ü c k u n g d e r<br />
R e d e f r e i h e i t .<br />
Wissen Sie, Doktor, Ihr Vortrag war ja<br />
ganz gut; wäre noch viel besser gewesen,<br />
wenn ihn ein — Deutschnationaler, Liberaler,<br />
irgend ein bürgerlicher Acht<strong>und</strong>vierziger, n u r<br />
k e i n Socialdemokrat gehalten hätte, welch<br />
letzterer unglücklicherweise vorgibt, ein S o <br />
c i a l i s t zu sein. Ein Socialist? O bewahre;<br />
das Wort Socialismus kam kein einziges<br />
Mal über Ihre Lippen. Die paar öden Mätzchen,<br />
die die sonstige Geistlosigkeit der<br />
Redebrühe verdecken sollten, waren spiessbürgerlich-demokratisch.<br />
D a s allerdings; aber<br />
mit Socialismus hatten Sie e b e n s o w e n i g<br />
g e m e i n , wie I h r e demagogischen Parteisprösslinge,<br />
Simon Starck <strong>und</strong> seine Anhänger,<br />
etwas mit freiheitlichem Socialismus — der<br />
ja in Wahrheit Anarchismus — zu tun haben,<br />
ebensowenig wie die Christlichsocialen mit<br />
ethischem Christentum oder socialen Zukunftsproblemen<br />
etwas gemein haben. Sie, Herr<br />
Starck, irgend ein Matador der Christlichsocialen<br />
sind miteinander i d e n t i s c h ; Wahlköderer,<br />
Stimmenköderer, die gemeinsam dem<br />
Volke die Lüge vorschwatzen, sie, jeder einzelne<br />
von ihnen, könnte ihm, dem getäuschten<br />
Volke, im Parlament sein Heil erkämpfen,<br />
Sie alle drei sind in e i n e m Falle auch<br />
gemeinsam D e m o k r a t e n : nämlich in der D e <br />
magogie, mit der sie des Volkes Stimmen<br />
<strong>und</strong> damit 20 Kronen per T a g — jetzt soll's<br />
gar ein jährlicher P a u s c h a l b e t r a g w e r d e n ! —<br />
für die Abgeordneten ergattern wollen.<br />
Nur eine Redeblüte: „ D a s P a r l a m e n t<br />
i s t d e r ä u s s e r e A u s d r u c k d e s V o l <br />
k e s " . Wissen Sie nicht, dass dies n i c h t<br />
wahr ist; dass dies in den politisch „freiesten"<br />
Ländern n i c h t der Fall ist? Wissen Sie<br />
nicht, dass selbst in letzteren die Wählermassen<br />
nur eine geringe Minorität — ganz<br />
zu schweigen von den nicht wahlberechtigten<br />
Frauen — bilden? Haben Sie nie etwas davon<br />
gehört, dass das Parlament der Ausgleich,<br />
das Kompromis zwischen Krone <strong>und</strong> Bourgeoisie<br />
ist <strong>und</strong> die einzige Aufgabe h a t . die<br />
wirtschaftlichen <strong>und</strong> ökonomischen Zwistigkeiten<br />
zwischen diesen beiden Machtsphären<br />
auf das Gebiet der Legalität zu verlegen <strong>und</strong><br />
die widerstreitenden Interessen friedlich <strong>und</strong><br />
harmonisch auf Kosten des ausgebeuteten<br />
Dritten — des Proletariats — zu versöhnen!<br />
Davon haben Sie nie etwas g e h ö r t ? Aber<br />
ich, der ich mich ein Bischen mit der Geschichte<br />
<strong>und</strong> Gegenwart des Parlamentarismus<br />
beschäftigte <strong>und</strong> darum weiss, dass das<br />
Parlament, ebenso wie die Staatsverwaltung<br />
nichts anderes sind als die H a u s h a l t u n <br />
g e n d e s k a p i t a l i s t i s c h e n S t a a t e s ,<br />
die wohl sehr „gerecht" <strong>und</strong> „vernünftig"<br />
die gegenseitigen Interessen der Bourgeoisie<br />
<strong>und</strong> des Staates schützen, mit denen aber<br />
der Socialismus n u r i n v e r n e i n e n d e r<br />
W e i s e sich beschäftigen kann. Über all dies<br />
haben Sie kein Wort geäussert; uns dafür<br />
erzählt, wie müssig die Minister sind <strong>und</strong><br />
dabei total vergessen, dass zwei Ihrer G e <br />
nossen — Briand <strong>und</strong> Viviani — ihr französisches<br />
süsses Nichtstun nur noch damit<br />
verkürzen, dass sie bourgeoise J u s t i z u r t e i l e<br />
unterschreiben, sich organisierende Lehrer<br />
brodlos machen, Arbeiterorganisationen zu<br />
sprengen versuchen oder aus ihrem Heim,<br />
den Arbeitsbörsen, hinauswerfen lassen. Sie<br />
haben, wertester Doktor, kein Wort darüber<br />
verloren, dass es eines Socialisten u n w ü r d i g<br />
ist, Ministerportefeulles anzunehmen, sondern<br />
nur bedauert, dass keiner der Ihrigen sie<br />
inne hat. Sie sind also gegen die Menschen,<br />
nicht aber gegen die Institutionen an <strong>und</strong><br />
für sich, wie ich, der Anarchist, der allerdings<br />
nie Aussicht auf Abgeordnetendiäten oder<br />
eine Ministerialwürde besitzt, wie Sie, Beneidenswerter<br />
. , . Freilich, wenn man<br />
s o l c h e Aussichten hegt, da kann man über<br />
die Verwaltung des Staates nur so sprechen,<br />
wie Sie es taten. Darf nicht sagen, dass Verwaltung<br />
des Staates nichts Förderliches ist<br />
für die individuelle oder kollektive Betätigung<br />
des G e m e i n w e s e n s ; dass diese ganze Staatsverwaltung<br />
nur stattfindet im Interesse der<br />
Bourgeoisie, die socialen Gruppen der Menschen<br />
ihrer nicht bedürfen, sich nicht vom<br />
Staate zu verwalten lassen brauchen, sondern<br />
sehr wohl sich <strong>und</strong> ihre Angelegenheiten in<br />
freier socialer Vereinigung s e l b s t — ohne<br />
Staat — verwalten könnten; dass die Verwaltung<br />
des Staates stets <strong>und</strong> nur eine Verwaltung<br />
s e i n e r Herrschaft <strong>und</strong> ihrer Lebensbedingungen<br />
— die kapitalistische Ausbeutung<br />
<strong>und</strong> Lohnsklaverei — sein muss <strong>und</strong><br />
dass der Socialismus gerade dasjenige sociale<br />
Zusammenleben ist, das darnach strebt, alle<br />
jene Faktoren, die das Produktive, Sociale<br />
oder Geistige aus den Händen der Menschen<br />
nehmen <strong>und</strong> sich selber als Regulativ auf-<br />
pflanzen, aus dem Gesellschaftsverbande des<br />
geistigen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Lebens a u s <br />
z u s c h a l t e n , sie wieder den Menschen<br />
zurückzuerstatten: die Erde den Bauern, die<br />
Maschinen <strong>und</strong> Werkzeuge den Industriearbeitern<br />
; die Verwaltung aller Angelegenheiten<br />
sei denen überlassen, die im eigensten, solidarischen<br />
Interesse davon betroffen w e r d e n ;<br />
<strong>und</strong> dies unter Ausschaltung aller schmarotzerischen<br />
Elemente — aber auch der Politiker,<br />
der staatlichen Verwalter <strong>und</strong> Verweser, der<br />
Gesetzesmacher, <strong>und</strong> wie alle die Quälgeister<br />
der Menschheit überhaupt heissen mögen.<br />
Über all dies haben Sie nichts gesagt,<br />
Herr Doktor. Dafür hätte ich Ihnen noch viel,<br />
viel mehr zu s a g e n ; aber es würde den zulässigen<br />
Raum dieses Briefes überschreiten.<br />
Nur einen Rat <strong>und</strong> etwa eine Bitte zugleich<br />
im Interesse des Zukunftssieges des Socialismus,<br />
wenn derselbe je möglich werden soll:<br />
E r z i e h e n S i e d i e M a s s e n a n d e r s a l s<br />
e s b i s h e r g e s c h a h , n i c h t z u g e d a n <br />
k e n l o s e m S t i m m v i e h , n i c h t z u f a n a <br />
t i s c h e n N a c h l ä u f e r n , d e n e n A l l e s<br />
v e r s p r o c h e n u n d n i c h t s g e h a l t e n z u<br />
w e r d e n b r a u c h t ; sondern z u freien selbstständigen<br />
<strong>und</strong> selbstbewusst denkenden S o -<br />
c i a l i s t e n , die nicht mit christlichsocialem<br />
Wutgebrüll die Stimme des Gegners, der ihren<br />
Führern gewachsen, ersticken, vielmehr bestrebt<br />
sind, den Socialismus kennen zu lernen;<br />
d e n S o c i a l i s m u s , sage ich, nicht kleinbürgerlich-demokratische<br />
Phrasen. Immerhin,<br />
einer Vorbedingung bedarf es d a z u : Dass<br />
Sie <strong>und</strong> Männer wie Sie versuchen, m e h r<br />
Socialfsten zu werden, w e n i g e r Politiker<br />
<strong>und</strong> Demagogen zu sein I<br />
Wien, 20. Jänner 1908.<br />
Quittungen<br />
Pierre Ramus.<br />
vom 22. Dezember bis 24. Jänner.<br />
Bezahlungen tür verkaufte Exemplare: PI.<br />
K 3 — , Hör. K P — , L. K 3 3 0 , R. K 1 1 — ,<br />
B. K 1 - , W. K 4 - , XX. Bez. K 4 - , X.<br />
Bez. K 4-80, R. K 1 — , Dw. K 1-—, Ba.<br />
K 1-20, H. K 1 — , Pisch. K 1 —, Wol. K P — ,<br />
L. K 2 - - , Na. K P — , H. K 150, Sp. K P50,<br />
K. K 120, S - r K 1 — , L. K 1 — , Na. K<br />
2 ' — , Fr. K 1-30, L. K —-40, Cer. K 1 — ,<br />
W. K 2 — , B. K 1 — , Seh. K 1*—, Weber<br />
K 2 - - , W. K 4 - , W. K 1 2 - , Süss K<br />
2-40, Maria K 3*10, N. K 150, Pels. K 2 4 0 ,<br />
Kul. K 10-—, Dr. K—n K 3-32, Kromaier<br />
K P90, Sehr. (Wien) K 2'42, Alfred K —-50,<br />
Albanesi K 1 -90. — Für Nr. 2: Kovar K 1 -20,<br />
Skata K 3-—, Emil Sonnenb. K 1 2 0 , Mar. K<br />
3-11, W. K 6 9 0 , R. K 1 — , Ra. K 1 — , Wie.<br />
K 1 — , Br. K 1 - , Pu. K 1 — , K. W. K<br />
1 — , Ho. K 1 — , Dr. K 1'—, Kr. K 1 — ,<br />
L. K 6 50, Ha. K 2-10, Wo. K 1 — , Na. K<br />
1—, Ku. K 1 —, Res. K 1 2 — , Proletar K<br />
7 3 7 , Sammlung bei Schi. K 2 8 0 , Morgenröte<br />
K 10-—, Sch. K 2-—, Schantl <strong>und</strong> Weissl.<br />
K 2 —, Pokrok K 110, Literaturkl. K 5 - ,<br />
Schuhmachergew. K 6 ' — , B. M. London K<br />
5-—, Klagenf. K 5-—, Leipzig K 3-—, Giovanni<br />
K 2-—, Gabriel K 5-—, Mül. Ungarn<br />
K 1 — , Weitmann K P20, Janad. K 3 6 0 ,<br />
Nov. K 2 — , Gottw. K - -50, Plet. K 2 —,<br />
Jeliz. K P — , Samml. b. Sch. K 140, Frank<br />
K —-80, Ejem K 1 — , X. Bez. K 2 — , Lisk.<br />
K P , Lick. d . Block K 2 — , Janata K 5 1 0 ,<br />
Fischer K 4 — , Lick. K — 90, Nav. K —-26.<br />
(Obige Quittierungen erfolgen auf Wunsch der<br />
Kolporteure <strong>und</strong> Genossen).<br />
V e r a n t w o r t l i c h e r R e d a k t e u r Jos. Šindelář ( W i e n ) . — H e r a u s g e b e r Jul. E h i n g e r (Wien). — E r s t e G e n o s s e n s c h a f t s - B u c h d r u c k e r e i in Budweis.
Wien,1. März 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 5.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Fockygasse 27,<br />
11/17. — Gelder sind zu senden an<br />
W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />
5, I1I./27.<br />
An die G e n o s s e n ! Wir ersuchen<br />
alle unsere Leser <strong>und</strong> Mehrabnehmer<br />
um schleunigste Abrechnung ihrer<br />
Zeitungsbezüge. Mit solidarischem<br />
Gruß Redaktion <strong>und</strong> Verlag.<br />
Vereinskalender.<br />
Gewerkschaft der Schuhmacher Wiens.<br />
E i n . v o r z ü g l i c h a r r a n g i e r t e r B a l l findet<br />
am Fasching-Samstag, den 29. Februar 1908 in<br />
Holubs Saallokalitäten, XIV. Huglgasse 15 statt,<br />
Anfang 8 Uhr. Wir fordern unsere Kameraden zum<br />
Massenbesuch dieses Balles einer wackeren Kampfesorganisation<br />
auf!<br />
Allgemeine Gewerkschaftsföderation des XIV.<br />
Bezirkes in Schlors Lokalitäten, Märzstraße 33.<br />
Versammlung mit freier Diskussion j e d e n D i e n s t a g<br />
8 Uhr abends.<br />
Jeden S o n n t a g vormittags 9 Uhr Vereinsversammlung<br />
X. Wieland-Platz. Referat <strong>und</strong> Diskussion.<br />
Jeden S o n n t a g um 6 Uhr abends Vereinsversammlung<br />
mit Referat <strong>und</strong> Diskussion. V. Einsiedlergasse<br />
60.<br />
Sonntag den 8. März 1908 um 9 Uhr vorm.<br />
in Hambergers Saal, V., S c h l o ß g a s s e 5, öffentl.<br />
Vereins-Versammlung der Allgemeinen Gewerkschafts-Föderation.<br />
Jeden F r e i t a g um 8 Uhr abends Vereinsversammlung<br />
mit Referat <strong>und</strong> Diskussion II. Cafe<br />
Stephanie.<br />
Jeden F r e i t a g um 8 Uhr abends Vereinsversammlung<br />
der Freidenker des XIV. Bezirkes in<br />
Schlors Lokalitäten. _<br />
Die Prinzipien unseres<br />
Kampfes.<br />
Es ist klar, daß wir niemals, solange<br />
wir auf G e s c h e n k e angewiesen sind, uns<br />
sicher, geschweige mächtig fühlen können.<br />
Ich sage dies in Bezug auf unser<br />
heutiges Staatsleben. Wir sind alle Staatsbürger,<br />
d. h. A n g e h ö r i g e einer Gewaltsgilde,<br />
solange wir u n s nicht selbst dienen,<br />
sondern ihr. Jeder, der dawider handeltest wie<br />
ein Ausreißer <strong>und</strong> wird als solcher behandelt.<br />
Zur Erhaltung des Staates sind im<br />
Laufe der Zeit M ä n n e r von Verstand <strong>und</strong><br />
Übersicht n o t w e n d i g g e w o r d e n . Durch ihre<br />
Übersicht haben sie sich natürlicherweise<br />
eine persönliche Macht verschafft, die nun<br />
von ihnen mit Recht ausgenützt wird, d. h.<br />
mit Rechten, die sie durch Gesetze, die sie<br />
wieder geben, bekräftigen, heiligen.<br />
Im Staate m u ß man von zwei Klassen<br />
sprechen: von den Mächtigen <strong>und</strong> den<br />
Ohnmächtigen, <strong>und</strong> die g a b es, gibt es <strong>und</strong><br />
wird es in jedem Staate geben. Die Mächtigen<br />
lassen sich nicht gern auf die Finger<br />
sehen <strong>und</strong> haben sich, zwecks Aufrechterhaltung<br />
ihrer »Ordnung« <strong>und</strong> »Rechte« mit<br />
ihrer größten Macht ausgestattet: d n<br />
Militarismus. Er bildet sich durch die Unterdrückten<br />
selbst <strong>und</strong> schützt den Staat, d. h.<br />
die Mächtigen im Staate vor jeglichen Angriffen<br />
von seiten der Volksgenossen, der<br />
Machtlosen, die in der Mehrheit sind, da<br />
sie das Militär stellen; trotzdem sind sie<br />
die Rechtlosen, mithin die Unfreien, weil<br />
Unwissenden.<br />
Diesen Zustand n e h m e n sich M ä n n e r<br />
aus ihrer Mitte »zu Herzen« u n d lassen sich<br />
von den Übrigen zu Vertretern ihrer In-<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignem der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Or<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck Ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />
teressen wählen. Es entstehen Parlamente.<br />
Ruhig legt das Volk sein Schicksal in die<br />
Hände dieser Führer, um wieder zufrieden<br />
<strong>und</strong> hoffnungsvoll in seine Bergwerke <strong>und</strong><br />
Fabriken zurückzukehren.<br />
W a s diese Parlamente erringen können,<br />
sind nur geschenkte Rechte. Das Volk<br />
zeigt, daß es selbst nicht mächtig ist, sondern<br />
seine Vertreter mächtig gemacht hat.<br />
Diese wissen auch hier die Macht für<br />
sich auszunützen, <strong>und</strong> der bestehende Zustand<br />
bleibt der alte. Das Staatsgebäude<br />
bleibt s t e h e n ; es hat höchstens ein anderes<br />
Gesicht b e k o m m e n . Die G r u n d l a g e ist die<br />
Macht <strong>und</strong> die mit ihr v e r b u n d e n e Gewalt,<br />
Im Parlamente w e r d e n überdies meistens<br />
parteiliche Zwistigkeiten ausgetragen. Die<br />
Lage des arbeitenden Volkes kann durch<br />
dieses höchstens scheinbar verbessert werden,<br />
niemals die G r e n z e zwischen Herr<br />
<strong>und</strong> Diener schwinden. Das Parlament kann<br />
der Regierung Gesetze vorlegen, <strong>und</strong> diese<br />
nimmt sie erst an, falls sie von ihr für<br />
»rechtlich« bef<strong>und</strong>en w e r d e n . Der Einzelne<br />
<strong>und</strong> die Allgemeinheit b e w e g e n sich also<br />
im Staatsrahmen von Staatsgesetzen. W e r<br />
sich über diese G r e n z e hinausbegibt, wird<br />
vom Staate entweder als Narr o d e r Verbrecher<br />
hingestellt <strong>und</strong> behandelt.<br />
Eine mächtige Stütze des Staates sind<br />
auch die Religionen, welche, ob sie katholisch,<br />
protestantisch, oder jüdisch sind, seine<br />
Institutionen für gottgefällig erklären <strong>und</strong><br />
in diesem Sinne in Schulen <strong>und</strong> Gotteshäusern<br />
auf die Massen einwirken.<br />
Der Einzelne k o m m t im Staate niemals<br />
zur G e l t u ng <strong>und</strong> richtet auch nichts gegen<br />
ihn aus. Er kann nur durch Beispiele<br />
Zweifel an der G ü t e der bestehenden Einrichtungen<br />
in den Massen erwecken. Erfolgreich<br />
bekämpft kann der Staat nur dann<br />
werden, w e n n viele Gleichgesinnte sich<br />
gleichzeitig wider ihn w e n d e n , dem Staate<br />
geistig <strong>und</strong> materiell nicht mehr huldigen.<br />
Die wirksamste Aktion ist jene des<br />
wirtschaftlichen Kampfes, des Generalstreikes.<br />
Er darf nur nicht von »Führern< erst sorgfältig<br />
»vorbereitet« werden, sondern die<br />
Streikenden müssen aus sich heraus streiken,<br />
jeder Einzelne als b e w u ß t e Persönlichkeit<br />
seinen Mann stellen. Die raschen Z u g e -<br />
ständnisse der Machthaber <strong>und</strong> Bourgeoisie,<br />
überall dort, wo diese Massenaktion erprobt<br />
w u r d e — vornehmlich bei den Romanen<br />
<strong>und</strong> Slaven — zeigten recht deutlich, wie<br />
leicht sie zur Nachgiebigkeit gebracht werden<br />
könnten, w e n n nur die Kampfesmethoden<br />
des Proletariers direkte <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />
sind.<br />
Eine zweckmäßige Erziehung des Kindes<br />
ist vor allem not. Schon in den Schulen<br />
m u ß Abscheu vor dem Kriege <strong>und</strong> dafür<br />
revolutionärerOeist den Schülern beigebracht<br />
werden. Jeder m u ß für den endlichen<br />
sozialen Orkan gerüstet, darf nicht geistlos<br />
oder betäubt von ihm mitgerissen werden.<br />
Der Mensch m u ß lernen, für seine Freiheit<br />
zu kämpfen. Sie erscheint ihm nicht von<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2.40;<br />
halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
selbst; die Freiheit will erkämpft werden.<br />
Nur auf diesen letzten Kampf kann die<br />
i m m e r w ä h r e n d e Freiheit folgen!<br />
Josef Mark.<br />
Zwei Klopffechter.<br />
Ein ergötzlicheres Intermezzo als es die<br />
Rede des Sozialdemokraten <strong>und</strong> internationalen<br />
»Österreich über alles«-Österreichers<br />
S c h u h m e i e r über den Militarismus, dann<br />
wieder dieselbe Klopffechterei des christl.sozial.<br />
»Denkers« D r e x e l wider ihn war,<br />
kann es wohl kaum mehr geben. Herr Schuhmeier<br />
bekämpft eingangs seiner Rede den<br />
Militarismus a n s i c h , das System des Militarismus<br />
— um am Schlüsse mit der rrrevolutionären<br />
F o r d e r u n g nach einer Miliz zu<br />
endigen. Nur eine F r a g e : Hat sich die Miliz<br />
in Ländern wie die Schweiz, die Ver.<br />
Staaten, England a u c h n u r e i n m a l<br />
weniger g e g e n den inneren oder äußeren<br />
»Feind« g e b r a u c h e n lassen als das stehende<br />
Heer? Nein, sie w a r ebenso schlimm wie<br />
dieses. Ein ähnlicher wissenschaftlicher Logiker<br />
wie der gute Schuhmeier ist auch Herr<br />
Drexel, der ja auch ein Reformer h u m a n e r<br />
Sorte ist, weil er die zweijährige Dienstzeit<br />
eingeführt, aber — g a n z wie der Sozialdemokrat<br />
— den Militarismus an sich durchaus<br />
aufrecht erhalten sehen will. D a ß der<br />
Christlichsoziale wie der Sozialdemokrat so<br />
ganz dasselbe wollen, geht aus dem berühmten<br />
Satz Schulimeiers h e r v o r : » A u c h<br />
d e r K l a s s e n s t a a t u n d d i e A r m e e -<br />
v e r w a l t u n g w e r d e n d e r S o z i a l -<br />
d e m o k r a t i e i n u m s o h ö h e r e m<br />
M a ß e s i c h e r s e i n , a l s d e r S t a a t i m -<br />
s t a n d e i s t , d e m a r b e i t e n d e n V o l k e<br />
L i e b e u n d I n t e r e s s e a m V a t e r l a n d e<br />
b e i z u b r i n g e n . « Recht h ü b s c h ; u n d daß<br />
der gute »Klassenstaat« dazu imstande sein<br />
soll, daran arbeiten die Schuhmeier <strong>und</strong><br />
Drexel recht e i n m ü t i g ; auch z w e i Antimilitaristen<br />
nach d e m Stuttgarter internationalen<br />
K o n g r e ß !<br />
Noch amüsanter w a r der kurze Prolog,<br />
den beide Redner ihrer rhetorisch - demagogischen<br />
Klopffechterei gaben. D e r Christlichsoziale<br />
Drexel hatte mit Recht darauf<br />
hingewiesen, daß die Anarchisten absolute<br />
G e g n e r der heutigen Klassengesellschaft sind,<br />
da gelte es denn, mit d e m Säbel zu rasseln.<br />
Herr Schuhmeier wieder rühmte — wohl<br />
sehr mit Unrecht' — s e i n e P a r t e i , der<br />
e s angeblich g e l u n g e n wäre, daß » h e u t e<br />
i n Ö s t e r r e i c h d i e a n a r c h i s t i s c h e<br />
G e f a h r g e b a n n t i s t « . Ein wirklich<br />
schönes Verdienst einer soi-disant revolutionären<br />
Sozialdemokratie: diejenigen vernichtet<br />
zu haben, die von der bürgerlichen<br />
Gesellschaft gefürchtet w e r d e n . . . Ein<br />
hohes, ehrenvolles Verdienst; o b w o h l die<br />
»Gebannten« noch immer l e b e n !<br />
Wir können den Herrn Drexel beruhigen.<br />
V o m Sozialdemokraten z u m Anarchisten<br />
ist derselbe weite Schritt wie vom<br />
Gottesgläubigen zum Atheisten; hingegen<br />
ist es vom Sozialdemokraten bis z u m Christ-
lichsozialen o d e r umgekehrt nur ein kleiner<br />
Schritt, denn die Herren sind im Wesen<br />
eins, verschieden nur in der Form. Beide<br />
sind, wie alle übrigen politischen Parteien<br />
schließlich auch, in ihren reformativen oder<br />
weiterliegenden Forderungen nichts als Dem<br />
a g o g e n . Beide reichen sich" einmütig <strong>und</strong><br />
versöhnt die H ä n d e in ihrem Kampf gegen<br />
den Anarchismus <strong>und</strong> wollen die D u m m e n<br />
glauben machen, daß Anarchismus nichts<br />
als Gewalt sei, w ä h r e n d der Anarchismus<br />
gerade die Lehre des Friedens, der Gewaltlosigkeit<br />
ist, selbst die soziale Revolution<br />
nur im Sinne der Verteidigung <strong>und</strong> Abw<br />
e h r auffaßt, nie im Sinne des Angriffes.<br />
Dem Anarchismus ist die soziale Revolution<br />
n i c h t die Diktatur des Proletariats<br />
(Marx) oder die Gewalt die Geburtshelferin<br />
jeder neuen Gesellschaft (Marx), sondern<br />
sie ist ihm diejenige soziale Verteidigung<br />
der Gesellschaftsgruppierungen, die die von<br />
ihnen vollzogene <strong>und</strong> aus ihrer gemeinschaftlichen<br />
Tätigkeit erwachsene U m w a n d -<br />
lung der Lebensverhältnisse gewahrt <strong>und</strong><br />
von den Mächten der Reaktion unberührt<br />
sehen will.<br />
G e r a d e letzterer Standpunkt ist denn<br />
auch der p r i n z i p i e l l e Unterschied zwischen<br />
uns <strong>und</strong> der Sozialdemokratie in<br />
Sachen des Antimilitarismus. Herr Schuhmeier<br />
<strong>und</strong> die Seinen wollen die Erringung<br />
der Staatsgewalt, dazu bedarf es eines Militärsystems,<br />
darum die Miliz, die a l l e , selbst<br />
die Jugend, zum Soldatenideal erziehen will<br />
<strong>und</strong> soll. Die Anarchisten hingegen bekämpfen<br />
den Staat, w e i l er die organisierte<br />
Militärgewalt, sie wollen volle Freiheit für sich<br />
<strong>und</strong> alle gesellschaftlichen G r u p p e n auf<br />
G r u n d l a g e sozialistischer Harmonie. D a r u m<br />
treten sie ein für die Aufhebung des Militarismus<br />
— k e i n e r sei Soldat, alle freie Menschen:<br />
die Gesellschaft der Autoritätslosigkeit.<br />
Funken vom Amboß der<br />
Anarchie.<br />
Die wissenschaftliche G r u n d l a g e der<br />
Philosophie <strong>und</strong> Lehre des Anarchismus<br />
findet sich im selbständigen Denken <strong>und</strong><br />
allgemeinen Kulturstreben des Individuums<br />
nach Entfaltung seiner Persönlichkeit <strong>und</strong><br />
Befreiung von den diese b e e n g e n d e n<br />
Hemmnissen des Staates <strong>und</strong> der wirtschaftlichen<br />
A u s b e u t u n g gegeben. In der Heranbildung<br />
eines Menschengeschlechtes, dessen<br />
individuelle Eigenschaften sich in dieser<br />
historischen, sozialen <strong>und</strong> ethischen Richt<br />
u n g äußern <strong>und</strong> dem E m p o r k o m m e n einer<br />
Menschheitsgeneration, die des bestehenden<br />
Druckes in jeder Hinsicht überdrüssig gew<br />
o r d e n <strong>und</strong> ihn dann auf G r u n d höchster<br />
geistiger Erkenntnis abschüttelt, ist die<br />
Zukunft unserer Zeit, ist die g r o ß e Kulturmöglichkeit<br />
der Zukunft gelegen. Der<br />
Anarchismus betrachtet somit das Erziehungswesen,<br />
die pädagogische Unterweisung der<br />
Jugend als ein H a u p t m o m e n t jener Bew<br />
e g u n g , die sich der A n b a h n u n g eines<br />
gesellschaftlichen Zustandes widmet, in dem<br />
die einzelnen Individuen geistig, politisch<br />
<strong>und</strong> ökonomisch frei sind. Freie Menschen<br />
werden nur gebildet durch die Befreiung<br />
ihres Geistes von allen W a h n i d e e n der<br />
Autorität <strong>und</strong> des Aberglaubens.<br />
Darin hat vornehmlich unsere m o d e r n e<br />
Erziehung — <strong>und</strong> die allgemein obligatorische<br />
Erziehung ist sozusagen erst Sache<br />
der Modernität — gesündigt. Und so ist es<br />
denn etwas ungemein Eigenartiges, eine<br />
Erscheinung beobachten zu können, die,<br />
a u s g e h e n d von einer rein akademischphilologischen<br />
Diskussion über den Wert<br />
oder U n w e r t des klassischen Sprachenunterrichtes,<br />
bei u n s in Österreich allmählich<br />
die Dimensionen eines großen Kulturp<br />
r o b l e m s a n g e n o m m e n hat, das da lautet:<br />
W e l c h e E r z i e h u n g ist d i e g e e i g n e t s t e ,<br />
u m e i n e M e n s c h h e i t z u T a g e z u f ö r -<br />
d e r n , d i e i n g e i s t i g e r w i e a u c h<br />
p h y s i s c h e r H i n s i c h t i m S t a n d e ist,<br />
d e n g r o ß e n L e b e n s f r a g e n d e s Einz<br />
e l m e n s c h e n u n d d e r G e s e l l s c h a f t<br />
i n s A n t l i t z z u b l i c k e n u n d i h n e n<br />
e i n e z u f r i e d e n s t e l l e n d e L ö s u n g z u<br />
b r i n g e n ?<br />
Wie es gewöhnlich geht in der bürgerlichen<br />
Welt — sie tastet am Äußerlichen,<br />
Oberflächlichen herum, <strong>und</strong> es mangelt ihr<br />
an jenem tieferen Blick, der auf den G r u n d<br />
der D inge zu dringen vermag. Und so hat<br />
die Gesamtdiskussion, die sich über dieses<br />
T h e m a in den Hörsälen der Universitäten,<br />
in der Presse <strong>und</strong> von der Kanzel der Öffentlichkeit<br />
herab überhaupt erhob, eigentlich<br />
ein recht dürftiges Resultat ergeben. D e n n<br />
die Diskussion verrammelte sich in lauter<br />
leeren <strong>und</strong> höchst relativen W ü r d i g u n g e n der<br />
einzelnen Lehrfächer, die in den Hochschulen<br />
gelehrt werden, wollte durchaus<br />
nicht die eine gewichtige Frage beantworten,<br />
die sich förmlich gewaltsam aufdrängt: was<br />
soll denn eigentlich der Z w e c k der Erz<br />
i e h u n g sein oder w e r d e n ? Kein W u n d e r ,<br />
daß das g a n z e g r o ß e Geistesringen in nichts<br />
a n d e r e m auslief, als in den Vorbereitungen<br />
für eine E n q u e t e auf diesem Gebiete, die<br />
aber e b e n s o wenig wie sonst etwas Klärung<br />
<strong>und</strong> Klarheit zu bringen vermag, das sich<br />
an den toten Buchstaben klammert <strong>und</strong><br />
d a r o b den lebenden Geist — Gemüt, Vernunft<br />
<strong>und</strong> Charaktereigenschaften des werd<br />
e n d e n Menschen — total vergißt.<br />
Glücklicherweise gibt es weiße R a b e n ;<br />
M ä n n e r der Bourgeoisie <strong>und</strong> sogenannte<br />
höhere Kreise, die, vielleicht auch nur instinktiv,<br />
aber d e n n o c h mit großem Verständnis,<br />
eine eminente A u s n a h m e von ihren Klassen-<br />
<strong>und</strong> Gesinnungsgenossen, wenigstens<br />
in solchen Spezialfragen der Wissenschaft<br />
— w e r weiß, ob auch des Lebens? — bilden.<br />
Sie begreifen das Problem <strong>und</strong><br />
kennen dessen Beantwortung. Wissen, daß<br />
e s gilt, M ä n n e r <strong>und</strong> M e n s c h e n d . h .<br />
Charaktertypen des männlichen <strong>und</strong> weiblichen<br />
Geschlechtes zu erziehen, nicht nur<br />
Zunftgelehrte <strong>und</strong> gute Schacherer. Und das<br />
Merkwürdigste ist dies: Sobald sie einmal<br />
ihr geistiges Leben von den Scheuklappen<br />
der Voreingenommenheit, des Vorurteiles<br />
befreit <strong>und</strong> eingesehen haben, daß es gilt,<br />
Individuen heranreifen zu lassen, die auch<br />
außermateriellen, nicht nur tierischmateriellen<br />
Interessen <strong>und</strong> Zwecken, also jenen des<br />
G e l d e r w e r b e s gewachsen sein sollen, in<br />
denen die Geistesflamme von harmonisch<br />
d e n k e n d e n <strong>und</strong> empfindenden Vollpersönlichkeiten<br />
lodern müßte <strong>und</strong> die somit<br />
einen Wiederauferstehungstypus der Antike<br />
darbieten w ü r d e n — am merkwürdigsten<br />
ist d i e s : dann m ü s s e n jene Männer, um so<br />
g r o ß <strong>und</strong> w a h r <strong>und</strong> frei denken zu können,<br />
ihre Gedankenfunken aus dem A m b o ß<br />
der anarchistischen Ideenwelt schlagen! Ist's<br />
ein Fatum, ist's neckische Ironie? Wie<br />
immer d e m auch sein m ö g e : Es ist einmal so!<br />
Und für u n s Anarchisten, die wir den ganzen<br />
Glutidealismus unserer Gedankenwelt kennen<br />
; die wir wissen, daß in ihr das Edelwerdende,<br />
das Erhabenste <strong>und</strong> das Zukunftssichere<br />
einer höheren Kulturstufe sich befindet,<br />
ist solche seltsame Erscheinung<br />
nichts anderes als der erneuerte <strong>und</strong> ewig<br />
wiederkehrende Beweis dafür, daß das<br />
Geistesleben der Menschen, soweit es in<br />
Wahrheit der Freiheit dienstbar, sich mit<br />
unaufhaltsamer Kraft von einem auf ihm<br />
liegenden Banne befreit <strong>und</strong> die Ideale der<br />
Anarchie in einer krystallklaren Form erkannt,<br />
im oftmals u n b e w u ß t e n Streben nach<br />
ihr die Vorbereitungsstufen für ihre Verwirklichungsmöglichkeit<br />
erklimmt. Immer<br />
deutlicher erkennt der vorurteilslos forschende<br />
Menschengeist, daß das Freiheitliche das<br />
Individuelle ist, <strong>und</strong> daß das soziale, gesell-<br />
schaftliche Element des wirtschaftlichen Verbandes<br />
sich aus dem Z u s a m m e n s c h l u s s e<br />
solch freier <strong>und</strong> vertiefter Persönlichkeiten<br />
wie von selbst ergibt, das soziale Element,<br />
das uns Anarchisten die kommunistische<br />
G r u n d l a g e des produktiven <strong>und</strong> verbrauchenden<br />
Gesellschaftsprinzips ist.<br />
Um dieses g r o ß e Ideal realisieren zu<br />
können, dazu bedarf es der Vollmenschen.<br />
Mit ihrer Geburt stirbt die bürgerliche<br />
Welt <strong>und</strong> zwar an ihnen! G e w i ß ist es somit<br />
seltsam, zu beobachten, wie es Männer<br />
sind, die sonst zu den eifrigsten Förderern<br />
der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gezählt<br />
werden, die aus d e m A m b o ß des Anarchismus<br />
diejenigen Gedankenfunken schlagen,<br />
die Feuer fangen werden, müssen <strong>und</strong><br />
ein Menschenmaterial ergeben, dem die<br />
bourgeoise W e l t o r d n u n g z u e n g <strong>und</strong> die<br />
es deshalb zu überwinden hat. Einer von<br />
den wenigen, die, ich weiß nicht, ob bew<br />
u ß t oder u n b e w u ß t , in den strittigen Fragen<br />
über Schulreform, Mittelschule oder Gymnasium<br />
sich von d e m Troß der Oberflächlichen<br />
unterscheiden, ist der bekannte H o f -<br />
r a t T h e o d o r F u c h s , Professor der P a -<br />
l ä o n t o l o g i e a n der Wiener Universität,<br />
der uns in einem demnächst zu erscheinenden<br />
Werke, aus dem uns ein Abriß vorliegt,<br />
den Entwurf zur Organisation einer<br />
einheitlichen h u m a n i s t i s c h e n Schule<br />
bietet, dessen Gr<strong>und</strong>prinzipien von der Ans<br />
c h a u u n g des Anarchismus sich nicht nur<br />
n i c h t unterscheiden, sondern die bereits<br />
von unserem französischen F r e u n d e Paul<br />
Robin in der alten »Internationale« vertreten<br />
wurden, gegenwärtig einzig <strong>und</strong> allein<br />
in den von anarchistischen Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />
inspirierten Schulen Frankreichs, Spaniens,<br />
Hollands, jener Tolstois in Rußland u. s. w.,<br />
sich betätigen.<br />
Betrachten wir nur einmal die leitenden<br />
Gr<strong>und</strong>sätze, die Hofrat T h e o d o r Fuchs<br />
befolgt sehen will. Er sagt:<br />
„Das gemeinsame <strong>Ziel</strong> aller physischen <strong>und</strong><br />
geistigen Arbeit des (Menschengeschlechtes ist die<br />
Erhebung des Menschen zu immer höherer<br />
geistiger <strong>und</strong> sittlicher Freiheit.<br />
Die Gr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> Quelle aller sittlicher <strong>und</strong><br />
geistiger Freiheit ist die S e l b s t e r k e n n t n i s , die<br />
Erkenntnis seiner physischen <strong>und</strong> psychischen Natur,<br />
die Erkenntnis seiner Stellung in der Natur <strong>und</strong> in<br />
der Gesellschaft, die Erkenntnis seiner Rechte <strong>und</strong><br />
seiner Pflichten.<br />
Die Erhebung zu höherer geistiger <strong>und</strong> sittlicher<br />
Freiheit ist nur möglich innerhalb einer auf sittlichen<br />
Gr<strong>und</strong>lagen aufgebauten gesellschaftlichen Ordnung.<br />
Jeder Mensch hat ein unveräußerliches Recht<br />
auf seine Persönlichkeit. Jeder Mensch hat aber<br />
auch die Pflicht, seine Fähigkeiten <strong>und</strong> Kräfte zum<br />
besten seiner Mitmenschen zu verwenden <strong>und</strong> an<br />
der Erweiterung <strong>und</strong> Hebung der sittlichen Gr<strong>und</strong>lage<br />
der Gesellschaft tätigen Anteil zu nehmen."<br />
W a s ist dies anderes als die Ethik des<br />
Anarchismus, die sich hier vernehmbar<br />
macht, o b w o h l man sie gerade aus solchem<br />
M u n d e zuletzt vermutet hätte?<br />
Und daß es sich mir nicht etwa um eine<br />
willkürliche Verzerrung von Begriffen handelt,<br />
sondern um die B e h a u p t u n g eines unleugbaren<br />
Tatbestandes, das geht daraus<br />
hervor, daß ich kühn behaupten kann: Es<br />
gibt keinen einzigen der W e l t a n s c h a u u n g<br />
des Anarchismus huldigenden Menschen,<br />
der diese »leitenden G r u n d s ä t z e " des Professors<br />
nicht freudig unterschriebe!<br />
N e h m e n wir etwas anderes, was uns<br />
hauptsächlich interessiert. Die sittliche Charakterbildung<br />
will Professor Fuchs auf<br />
folgende Strebensziele richten:<br />
„Durch Weckung, Belebung <strong>und</strong> Erhaltung der<br />
L e b e n s f r e u d i g k e i t als der einzigen natürlichen<br />
Quelle alles menschlichen Wirkens <strong>und</strong> Strebens,<br />
als der Urquelle alles Guten <strong>und</strong> Schönen.<br />
Durch Weckung des E h r g e f ü h l s .<br />
Durch Weckung des P f l i c h t g e f ü h l s .<br />
Durch Anleitung zur W a h r h a f t i g k e i t .<br />
Durch Anleitung zur S e l b s t b e h e r r s c h u n g .<br />
Durch Weckung <strong>und</strong> Erhaltung eines die ganz<br />
e Schule umfassenden k o l l e g i a l e n G e i s t e s .<br />
Durch Herstellung <strong>und</strong> Pflege eines v e r -<br />
t r a u e n s v o l l e n E i n v e r n e h m e n s zwischen<br />
Lehrkörper <strong>und</strong> Schüler."
Österreich.<br />
Wien. Seitdem dahier die anarchistische Bewegung<br />
eine eifrige Tätigkeit entfaltet, hat sich<br />
der sozialdemokratischen „Obern" große Unruhe<br />
bemächtigt. Die Disziplin, d. h. das Kuschen der<br />
Massen, ist in Gefahr. Und nun galt es, sie mit<br />
allen Mitteln zu retten. In edlem Eifer ging da der<br />
sozialdemokratische Bezirksausschuß von Favoriten<br />
voran. Diese hochweise Körperschaft dekretierte<br />
zuerst, es sei allen Vertrauensmännern, Funktionären<br />
it. s. w. verboten, unsere Versammlungen zu besuchen.<br />
Fürwahr, ein Heldenstück! Wenn wir<br />
Anarchisten wirklich so verrückte Kerle sind, wenn<br />
die sozialdemokratische Taktik die allein richtige<br />
<strong>und</strong> allein seligmachende ist, dann wäre es ja den<br />
Herren ein Leichtes, mit uns zu diskutieren! Wer<br />
denkt da nicht an das Vorgehen fanatischer Pfaffen,<br />
die ihren treuen Schäflein den Besuch freidenkerischer<br />
Versammlungen verbieten, aus Sorge für<br />
deren Seelenheil natürlich.<br />
Doch dieser Beschluß nützte wenig, <strong>und</strong> so<br />
griff man zu einem radikaleren Mittel. In einer<br />
neuerlichen Sitzung faßte der hohe Senat den Beschluß,<br />
a l l e A r b e i t e r , d i e s i c h m i t d e m a n -<br />
a r c h i s t i s c h e n S o z i a l i s m u s a b ge b e n, a u s<br />
d e n O r g a n i s a t i o n e n a u s z u s c h l i e ß e n , i h n e n<br />
d a s B e t r e t e n d e s A r b e i t e r h e i m e s z u v e r -<br />
b i e t e n u . s . w . Eine Ironie des Schicksals wollte<br />
es, daß dieser Beschluß an demselben Tage gefaßt<br />
wurde, an dem unser Gen. P. Ramus den Abgeordneten<br />
Reumann derart in die Enge trieb, daß er<br />
erklärte, auf eine Diskussion könne er sich nicht<br />
einlassen. Soll das jetzt die Diskussion s e i n ? Meine<br />
Herren, Ausschließungen sind keine Argumente.<br />
Nun könnte vielleicht jemand sagen: Das ist<br />
zwar nicht sehr edel gehandelt von den Sozialdemokraten,<br />
aber sie haben das Recht dazu. Wer<br />
nicht mit ihnen einverstanden ist, der gehört nicht<br />
in ihre Reihen. Gemach; das gilt von der politischen<br />
Organisation, die erwähnten Ausschließungen<br />
beziehen sich aber a u f G e w e r k s c h a f t e n , also<br />
auf u n p o l i t i s c h e Organisationen, die nicht nur<br />
Sozialdemokraten umfassen. Auf dem letzten Parteitage<br />
der deutsch-österr. Sozialdemokratie hat<br />
Abg. Pernerstorfer ausdrücklich anerkannt: „Wenn<br />
ein gewerkschaftlich organisierter Arbeiter sich bei<br />
den Klerikalen, Nationalen u. s. w. behaglicher fühlt<br />
als bei uns, können wir nichts machen". Also klerikal,<br />
national oder indifferent darf man sein; aber<br />
wehe, wenn jemand Anarchist ist. Dann arbeitet<br />
das Ketzergericht <strong>und</strong> stößt ihn aus aus den Reihen<br />
der Gerechten.<br />
Noch interessanter wird die Sache, wenn man<br />
die Art <strong>und</strong> Weise betrachtet, in der so eine Ausschließung<br />
vor sich geht. Da findet eine vertrauliche<br />
Sitzung statt, in der beschlossen wird, diesen <strong>und</strong><br />
jenen auszuschließen. Der Betreffende ist nicht anwesend,<br />
kann sich nicht verteidigen, es wird ihm<br />
dann bloß der fertige Beschluß mitgeteilt. Dem Beschlüsse<br />
wird noch die hübsche Bemerkung hinzugefügt,<br />
wenn der Ausgeschlossene es sich einfallen<br />
lassen sollte, trotz des Verbotes das Arbeiterheim<br />
zu betreten <strong>und</strong> wenn er den Ordnern nicht folgt<br />
<strong>und</strong> hinausgeht, s o w i r d d i e P o l i z e i g e h o l t ,<br />
um den Widerspenstigen aus den heiligen Hallen<br />
zu entfernen! Die „revolutionäre" Sozialdemokratie<br />
Arm in Arm mit der Polizei gegen die Anarchisten!<br />
Ein Schauspiel für Götter!<br />
Ein solches Vorgehen könnte uns wohl empören,<br />
wenn wir sehen, wie diese Leute, die von<br />
Freiheit, Gleichheit <strong>und</strong> Brüderlichkeit, von Freiheit<br />
der Meinungsäußerung u. s. w. nur so triefen, alle<br />
Phrasen vergessen <strong>und</strong> skrupellos die Statuten ihrer<br />
Organisationen übertreten, wenn es gilt, eine selbstständige<br />
Meinung m<strong>und</strong>tot zu machen. Doch wir<br />
sehen daran, daß die Herren „Obergenossen" uns<br />
fürchten. Man hat uns bis jetzt höchstenorts zu<br />
ignorieren geruht. Aber diese Ignorierung war nur<br />
äußerlich; heimlich wurde gearbeitet <strong>und</strong> beschlossen.<br />
Die Herren wissen eben ganz genau: wenn<br />
das Proletariat zur Einsicht kommt, daß es nicht<br />
durch das parlamentarische Geschwätz seiner Führer,<br />
sondern einzig <strong>und</strong> allein durch seine direkte,<br />
revolutionäre ökonomische Aktion etwas erreichen<br />
kann, dann sind die Führer überflüssig, dann ist<br />
ihre Existenz bedroht. Und dieses Erwachen des<br />
Proletariats wird kommen. Weder die Verfolgungen<br />
seitens des Staates, noch die seitens der Sozialdemokratie<br />
werden es verhindern. — — —<br />
Wenn wir nun die sonstige Tätigkeit der Wiener<br />
anarchistischen Bewegung ins Auge fassen, können<br />
wir auf eine große Anzahl von öffentlichen Unternehmungen<br />
hinweisen. Außerordentlich gut besucht<br />
war die Versammlung in der Einsiedlergasse, in der<br />
der Fall S t a r c k nach Gebühr gewürdigt wurde, indem<br />
man sowohl diesen politischen Gaukler wie<br />
aber auch die Herren sozialdemokratischen Gaukler<br />
ins gebührende Licht rückte. — Die Versammlung<br />
des XIV. Bezirkes über „Die Prinzipien des kommu-<br />
nistischen Anarchismus" erfreute sich einer lebhaften<br />
Beteiligung von Seiten ganz neuer Besucher. — Daß<br />
die sozialdemokratische Versammlung im III. Bezirk,<br />
in der Dr. Renner einen geistig öden, wertlosen Vortrag<br />
über das „Wesen des Staates" hielt, die theoretische<br />
Wertlosigkeit dieser ganzen, sich behäbig<br />
spreizenden Nichtswisserei sehr wohl begriff, geht<br />
aus dem Umstand hervor, daß sie jede Diskussion<br />
u n t e r d r ü c k t e , der g e l a h r t e Herr Renner das<br />
Weite suchte. — Bei dieser Gelegenheit sei auf den<br />
glänzenden Verlauf des Balles der „Allgemeinen<br />
revolutionären Gewerkschaftsföderation" hingewiesen,<br />
der von weit über 500 Personen besucht war<br />
<strong>und</strong> auf dem es bis zum Morgengrauen fidel zuging.<br />
Einen geradezu großartigen Erfolg hatte unser<br />
Genosse R a m u s in der Gewerkschaft der Stukkateure<br />
zu verzeichnen, wo er über „Sozialismus <strong>und</strong>.<br />
Gewerkschaftsbewegung" referierte <strong>und</strong> selbst sozialdemokratische<br />
Mitglieder ein solch lebhaftes Interesse<br />
für seine Ausführungen an den Tag legten,<br />
daß der Antrag gestellt <strong>und</strong> einstimmig angenommen<br />
wurde, den Genossen Ramus für eine ganze Serie<br />
von Vorträgen einzuladen. — Ein weiterer Vortrag<br />
fand statt über „Kulturtendenzen des Anarchismus".<br />
Von bemerkenswerter Wichtigkeit ist auch ein<br />
von Dr. Math. R a k o w s k y im II. Bez. gehaltener<br />
Vortrag über „Vergangene <strong>und</strong> zukünftige Gesellschaftsordnungen",<br />
in dem der Referent eine Reformmethode<br />
durch Niederdrückung des Zinsfußes des<br />
Kapitals auf ein „gerechtes Maß" befürwortete. Einige<br />
unserer Genossen traten dem Redner, der übrigens<br />
mit beachtenswerter Geistesschärfe seine Ansichten<br />
vertrat, debattierend entgegen. — Eine erfreuliche<br />
Überraschung wurde den Wiener Kameraden zuteil<br />
durch den unerwarteten Besuch eines kameradschaftlichen<br />
Delegierten der Marburger, Klagenfurter<br />
<strong>und</strong> Grazer Gruppen, den diese behufs Besprechung<br />
propagandistischer Pläne an uns entsandten, welche<br />
mündliche Aussprache auch sehr reiche Propagandaresultate<br />
zeitigen wird. - Seit Jahr <strong>und</strong> Tag kann<br />
die Wiener Bewegung auf eine s o l c h e Versammlung<br />
nicht zurückblicken, wie jene des V. Bez. es<br />
war, in der Genosse R a m u s über die „Arbeitslosenarmee<br />
<strong>und</strong> der Generalstreik" referierte. Ober<br />
400 Männer füllten die geräumige Halle <strong>und</strong> mit<br />
Ausnahme eines einzigen betrunkenen Sozialdemokraten,<br />
der an die Luft befördert werden mußte,<br />
lauschten, abgesehen von einigen, rasch vorübergehenden<br />
Wutausbrüchen sozialdemokratischen Fanatismus,<br />
die von den eigenen, vernünftigeren Elementen<br />
gedämpft wurden, sämtliche der Anwesenden<br />
mit gespanntester Aufmerksamkeit den fast zweistündigen<br />
Ausführungen des Redners. Eine nachfolgende<br />
Diskussion, die bis halb 12 Uhr dauerte,<br />
besiegelte den Erfolg, ob dessen Herbeiführung man<br />
der „Gewerkschaftsföderation" gratulieren darf. -<br />
Regstes Interesse erregte auch der auf Wunsch a b -<br />
gehaltene Vortrag über „Moderne Wissenschaft <strong>und</strong><br />
Anarchismus", nach dessen Beendigung vornehmlich<br />
der Kamerad Sch. an den Genossen Ramus mit der<br />
Aufforderung herantrat, ihm das Manuskript des<br />
Vortrags zu übergeben <strong>und</strong> daß er die Drucklegungskosten<br />
bestreiten würde. - Hervorgehoben muß<br />
werden, daß unsere Kameraden den Vertrieb des<br />
„W. f. A." mit vieler Lebhaftigkeit betreiben <strong>und</strong><br />
überhaupt diejenigen sind, die es bewerkstelligen,<br />
daß eine propagandistische Unternehmung die andere<br />
förmlich jagt!<br />
T r i e s t . Da die allgütige Polizei auch uns<br />
Triester Anarchisten mit ihren Verfolgungen beehrt<br />
<strong>und</strong> Legionen von Schergen, Polizisten <strong>und</strong> Pfaffen<br />
aufbietet, um den Geist der Rebellion im Schutt<br />
<strong>und</strong> Moder des Bestehenden zu ersticken darf<br />
es nicht W<strong>und</strong>er nehmen, daß unsere Propaganda<br />
hier Riesenfortschritte zu verzeichnen hat. Es wird<br />
dies den Hütern der modern-sozialen Unordnung<br />
paradox erscheinen; — warum vergessen sie auch<br />
die Worte des blassen Nazareners: „Ihr könnt den<br />
Körper töten, d e n G e i s t t ö t e t i h r n i c h t ! "<br />
Und tatsächlich: Je mehr die herrschenden<br />
Gewalten uns verfolgten, um so mehr junge, tatkräftige<br />
Elemente fanden sich vor. Als vor ungefähr<br />
5 Jahren das Triester Anarchistenblatt: „ L ' l n t e r -<br />
n a z i o n a l e " einging, glaubten jene Herren, es sei<br />
nun aus mit dem Idealgedanken der Anarchie .. ,<br />
Bald darauf erschien aber „La P l e b e " . Nach<br />
19 Nummern (von denen eine jede konfisziert<br />
wurde) gelanges der juristischen Paragraphenallianz,<br />
dem mutigen Vorkämpfer der Freiheit ein jähes<br />
Ende zu bereiten.<br />
Doch siehe da! Es währte nicht lange <strong>und</strong><br />
die Genossen schleuderten das „Germinal" in die<br />
Massen. Um das schwarz-rote Banner hatten sich<br />
in dieser Aufeinanderfolge von pfäffisch-reaktionären<br />
Gewaltstreichen schon so viele Genossen gesammelt,<br />
daß es möglich wurde, unser Blatt wöchentlich erscheinen<br />
zu lassen. Die Herren der Autorität<br />
schlugen drein. Mit j e d e r Waffe! Vor lauter Dreinhauen<br />
wurden aber ihre Geisteswaffen ganz stumpf.<br />
Nur so können wir es uns erklären, daß sich unser<br />
Blatt 32 Wochen lang hielt, ehe es der rot-schwarzgelben<br />
Koalition abermals gelang, uns m<strong>und</strong>tot zu<br />
machen. Von der Nummer 30 an begannen die<br />
Razzias en gros. Die Postdirektion ließ sich bei<br />
dieser Gelegenheit der Polizei morganatisch antrauen<br />
<strong>und</strong> konfiszierte uns alle Sendungen in die Provinz<br />
<strong>und</strong> ins Ausland; ganze Heere von tapfer-feigen<br />
Spitzeln belagerten die Druckerei unseres Blattes,<br />
häufig unternahmen unter dem allerhöchsten Protektorat<br />
der „Politischen", Häscherbanden Exkursionen<br />
nach unserer Redaktion, Scharen von Genossen<br />
wurden in Staatspension gebracht.<br />
Die Genossen aber lachten <strong>und</strong> arbeiteten<br />
rüstig weiter.<br />
Da, einsehend daß all der Terrorismus unser<br />
Arbeitsfeld nur frisch befruchtete <strong>und</strong> befürchtend,<br />
daß unser Blatt dem eben ausgebrochenen Streik<br />
der Platzarbeiter <strong>und</strong> „Facchini" eine revolutionäre<br />
Wendung geben könnte, entschloß sich die löbliche<br />
Polizei zu einem „coup final". Einige Minuten,<br />
nachdem das Pflichtexemplar der Nummer 32 der<br />
p. t. Zensur überreicht worden, stürzte eine besäbelte<br />
Meute in die Druckerei, begaffte alles, schnüffelte<br />
in jedem Winkel <strong>und</strong> . . . verhaftete endlich die<br />
ganze Anzahl von Genossen <strong>und</strong> Nichtgenossen.<br />
In übereifrigem Pflichterfüllungsdrange schössen die<br />
Wachmänner <strong>und</strong> Spitzel mittlerweile wie Donnerkeile<br />
durch alle Gassen, um auch unseren Redakteur<br />
zu packen. Die Polizei war schon so sicher, ihn<br />
zu fassen, daß in den meisten Triester Zeitungen<br />
der Bericht einging, M a r c e l l o A n d r i a n i , Redakteur<br />
des „Germinal" sei bereits verhaftet <strong>und</strong><br />
in Gewahrsam gebracht. Dies zu einer Zeit, als<br />
unser Marcello wohlgemut die Grenze überschritt!<br />
Wenn die staatlichen Würdenträger nun aber<br />
glauben sollten, sie hätten das Gespenst der Anarchie<br />
für immer aus Triest gebannt, werden sie nur zu<br />
bald ein solennes Fiasko erleben. Die Siegkraft<br />
unserer Idee bewährt sich auch hier wieder <strong>und</strong><br />
trotz der Zerstörungswut der Herrschenden uns<br />
gegenüber, findet schon jetzt, wo ich dies niederschreibe,<br />
eine Neuvereinigung der Kräfte statt, die<br />
den Kampf wieder aufnehmen <strong>und</strong> bis zur völligen<br />
Emanzipation führen wird. J. O.<br />
England.<br />
Die revolutionäre <strong>und</strong> nichtautoritäre Bewegung<br />
des Soziallsmus beginnt große Fortschritte zu<br />
machen; <strong>und</strong> durch die dunklen Wolken des Staates<br />
<strong>und</strong> der kapitalistischen Ausbeutung brechen<br />
allmählich einige kräftige Strahlen der Freiheitssonne.<br />
Eine bedeutende Arbeit wird von der neugegründeten<br />
„Anarchistischen Föderation" geleistet, die die<br />
Propaganda in der Provinz leitet. Neben der energischen<br />
Arbeit <strong>und</strong> den Resultaten, die im Ostende<br />
von London aufzuweisen wären, gibt es deren erfolgreiche<br />
auch innerhalb der englischen Bevölkerung,<br />
Resultate, die ich ins Leben rief. Regelmäßige<br />
Versammlungen wurden während des Sommers,<br />
Herbst <strong>und</strong> Winters verflossenen Jahres von<br />
mir abgehalten. Meine Propaganda erstreckte sich<br />
auch auf die Straßenversammlungen <strong>und</strong> mehr denn<br />
eine sehr erfolgreiche Versammlung fand im international<br />
bekannten Hyde-Park Londons statt. Gegenwärtig<br />
bin ich mit den Vorbereitungen für eine<br />
Agitationstour durch die Hauptstädte des vereinigten<br />
Königreiches beschäftigt. Dank der großen<br />
Kolportage unserer Literatur, ist eine sehr bedeutsame<br />
Regung zu uns herüber in vielen Freidenkervereinen,<br />
wie auch innerhalb mancher sozialdemokratischen<br />
Gruppe bemerkbar <strong>und</strong> ist der Staatssozialismus<br />
deutlich genug im Verfall begriffen. Die<br />
von mir organisierte „Bakuniii"-Verlagsgesellschaft<br />
hat bereits eine Anzahl anarchistischer Schriften herausgegeben<br />
(vgl. „Ohne Herrschaft" Nr. 2. Anm. cl.<br />
Red.) <strong>und</strong> weitere befinden sich im Druck. Der<br />
beste Beweis dafür, was Kampfesfreude <strong>und</strong> ernstes<br />
Wollen trotz aller finanziellen Schwierigkeiten zu<br />
leisten vermögen ! Guy A. Aldred.<br />
Frankreich.<br />
Im französischen Kriegshafen T o u l o n sollte<br />
sich eine Abteilung Marinesoldaten einschiffen, um<br />
sich auf den Kriegsschauplatz in Marokko zu begeben<br />
— wo gegenwärtig die französische Armee<br />
daran ist, die europäische Zivilisation einzuführen,<br />
d. h. ein freies <strong>und</strong> friedfertiges Volk im Interesseeiniger<br />
Kapitalisten <strong>und</strong> Spekulanten hinzumorden<br />
<strong>und</strong> zu knechten. — Unter diesen Matrosen befand<br />
sich einer, der sich weigerte, den Zug mit seinen<br />
Kameraden zu besteigen, welcher sie zum Hafen<br />
bringen sollte. Er erklärte, daß der Krieg in Marokko<br />
eine Scheußlichkeit ist, <strong>und</strong> daß er nicht an so einer<br />
Räuberei teilnehmen wolle.<br />
Der Kommandant der Kaserne hat diesen<br />
Matrosen zwischen vier bewaffneten Soldaten zum<br />
Bahnhof bringen lassen, <strong>und</strong> er wurde mit Gewalt<br />
eingeschifft.<br />
Zur Tat dieses einfachen unbekannten Matrosen<br />
gehört wahrlich mehr Mut als jene Soldaten
<strong>und</strong> Seeleute bewiesen haben, die wohlgeschützt<br />
hinter den Eisenplatten der Panzerschiffe die wehrlosen<br />
marokkanischen Städte <strong>und</strong> Dörfer in Trümmer<br />
geschossen haben, <strong>und</strong> die man als Helden<br />
verherrlicht!<br />
Internationales anarchistisches<br />
Bureau.<br />
1. Werte Genossen! Erlaubt uns eine kurze<br />
Erklärung als Antwort auf den vom Genossen Pierre<br />
Ramus unterzeichneten Protest, der in Nr. 3 des<br />
„W. f. A." zum Abdruck gelangte:<br />
In einem Briefe, datiert vom September 1907,<br />
in dem Pierre Ramus dem Bureau seinen Beitritt<br />
zur Internationale mitteilte, sandte er uns gleichzeitig<br />
einige Dokumente, die er dem Protokolle, dessen<br />
Herausgabe damals von verschiedenen Seiten angeregt<br />
wurde, einzuverleiben wünschte. Unter diesen<br />
Schriftstücken befanden sich auch z w e i Resolutionen,<br />
von denen die eine auf den Antimilitarismus<br />
Bezug nahm, während die andere sich gegen die<br />
Gründung eines Bureaus erklärte.<br />
Was die Resolution über „Organisation" anbetrifft,<br />
die P. R. in seinem Protest erwähnt, ist<br />
uns eine solche weder von dem Vorsitzenden des<br />
Kongresses noch v o n P. R. s e l b s t jemals übergeben<br />
worden!<br />
Was die Resolution über die anarchistische Internationale<br />
anbetrifft, handelt es sich hier ausschließlich<br />
um eine Frage der Technik <strong>und</strong> Methode, nicht<br />
aber um eine solche der prinzipiellen Meinung. Sic<br />
gehört ins Protokoll des Kongresses, sicher nicht<br />
in eine Broschüre, in der die vom Kongresse angenommenen*)<br />
Resolutionen zum Abdruck gelangen<br />
sollten. Von einer Veröffentlichung der Resolution<br />
Pierre Ramus, E. Goldmann, M. Baginsky konnte<br />
umsoweniger die Rede sein, da dieselbe von den<br />
Delegierten verworfen, eine andere Resolution aber<br />
angenommen wurde, die die anarchistische Internationale<br />
für o r g a n i s i e r t erklärte, der sich die<br />
drei Unterzeichneten der ersten Resolution später<br />
auch anschlossen. Die Resolution von P. R. würde<br />
sicher im „Bulletin" ihren Platz gef<strong>und</strong>en haben, in<br />
dem ein Protokoll des Kongresses zuerst veröffentlicht<br />
werden sollte; aber, wiederholen wir es nochmals,<br />
eine Resolution, die nur Bezug hatte auf die<br />
Methode <strong>und</strong> die technische Form der Organisation,<br />
konnte schon deswegen unter den vom<br />
Kongresse angenommenen Resolutionen keine Aufnahme<br />
finden, da eine andere Resolution, die sich<br />
auch nur auf die technische Form der Organisation<br />
bezog, den Teilnehmern des Kongresses praktischer<br />
erschien <strong>und</strong> durch dies allein der anderen Form<br />
schon Leben gegeben wurde.<br />
Endlich haben wir noch zu bemerken, d a ß ,<br />
w e n n e s s i c h u m e i n M i ß v e r s t ä n d n i s<br />
h a n d e l t e , e s v o n R a m u s s i c h e r k a m e r a d -<br />
s c h a f t l i c h e r g e w e s e n w ä r e , w e n n e r s i c h<br />
m i t s e i n e r B e s c h w e r d e d i r e k t a n d a s<br />
B u r e a u g e w e n d e t h ä t t e , a n s t a t t d e n V e r -<br />
s u c h z u m a c h e n , e i n e n L ä r m z u p r o v o z i e r e n .<br />
Mit brüderlichem Gruß<br />
Das Korrespondenz-Bureau der A. I. (London).<br />
2. Z u r E r w i d e r u n g ! Aus obiger Antwort<br />
der Kameraden des „I. B." geht meiner Meinung nach<br />
unzweideutig hervor, daß sie eine unhaltbare<br />
Situation aufrecht erhalten wollen, was eben nicht<br />
angeht. Es tut nichts zur Sache, ob ich die Resolutionen<br />
an das Bureau sandte oder nicht;<br />
ebensowenig kann ich für die Fehler des Vorsitzenden<br />
verantwortlich gemacht werden. Tatsache ist,<br />
daß die Septembernummer der „Freien Generation"<br />
meine Resolutionen vollinhaltlich brachte, welche<br />
Nummer einzelnen deutschlesenden Kameraden des<br />
Bureaus unzweifelhaft bekannt war. Zudem ist es<br />
eine, wie ich glaube, nicht anarchistische Auffassung,<br />
von angenommenen oder nicht angenommenen Resolutionen<br />
zu sprechen. Wenn es deren letztere<br />
gab, dann fragt es sich, w e l c h e Resolution über<br />
den Syndikalismus — eine erhielt etwa- 48, die<br />
andere nur 27 Stimmen (ohne das Gegenvotum zu<br />
nennen) — als „die angenommene" gilt? So weit<br />
ich in Betracht komme, fasse ich die Abstimmung<br />
unter Anarchisten nicht auf im Sinne der Zurmachtgelangung<br />
irgend welcher Fraktion, sondern nur<br />
als resp. I d e e n a u s d r u c k , der in seiner Gänze<br />
<strong>und</strong> Verschiedenartigkeit in vollster Ausführlichkeit<br />
allen Kameraden überantwortet werden muß, die<br />
dann ihrerseits nach eigenem Verständnis handeln.<br />
Gerade deshalb bin ich Mitglied der „Internat.",<br />
obwohl ich den prinzipiellen Gr<strong>und</strong>sätzen, die zu<br />
ihrer Begründung verwendet wurden, nicht beistimmen<br />
kann: als Werk einer genössischen Gruppierung<br />
aber ist sie der experimentalen Unterstützung<br />
eines jeden, wenn auch in Bezug auf ihren Organisationsbau<br />
anders denkenden <strong>und</strong> mit ihr nicht<br />
übereinstimmenden Genossen würdig. Daß es sich<br />
in dieser Polemik nicht nur um technische, sondern<br />
um p r i n z i p i e l l e Fragen handelt, beweist der<br />
Aufsatz des Genossen Grave, den ich folgen lasse<br />
<strong>und</strong> der sich zu meiner Genugtuung völlig auf die<br />
Gr<strong>und</strong>züge meiner Resolution stützt. Allerdings tut<br />
es mir leid, in der wenig angenehmen Lage zu sein,<br />
* D u r c h ein Versehen d e s Ü b e r s e t z e r s fehlt auf dem<br />
Titelblatt der d e u t s c h e n Ausgabe d a s W o r t „ a n g e n o m m e n e "<br />
in d e r e n g l i s c h e n <strong>und</strong> französischen A u s g a b e findet es sich.<br />
Lärm schlagen zu müssen; wenn aber die Kameraden<br />
mir entgegenhalten, ich hätte mich v o r e r s t an sie<br />
wenden sollen, dann vergessen sie, daß dies n a c h<br />
der Publikation der fraglichen Resolutionsbroschüre<br />
nicht mehr gut anging <strong>und</strong> ich sehr wohl ihnen<br />
entgegenhalten kann, s i e hätten wohl daran getan,<br />
sich v o r der fraglichen Publikation mit der Anfrage<br />
an mich zu wenden, ob ich der Auslassung meiner<br />
Resolutionen beistimme.<br />
Mit solidarischem Gruße Pierre Ramus, Wien.<br />
3 . <strong>Unser</strong> französischer Genosse J e a n G r a v e<br />
veröffentlicht in unserem Pariser Bruderblatt „Les<br />
temps nouveaux" folgende beherzigenswerte Betrachtungen<br />
zu obiger Polemik <strong>und</strong> über den G e -<br />
genstand anarchistischer Organisationen:<br />
„Ich habe vom Genossen Ramus aus Wien einen<br />
Protest gegen das Londoner „Internationale Anarchistische<br />
Bureau" erhalten, das in seiner ersten<br />
Veröffentlichung: „Die Resolutionen des Amsterdamer<br />
Kongresses" zwei Vorschläge verschwiegen<br />
haben soll, die Ramus mit anderen Genossen vorgebracht<br />
hat.<br />
Da die „Temps nouveaux" es abgelehnt hat,<br />
sich am Kongreß <strong>und</strong> an der Organisation des<br />
Bureaus zu beteiligen, haben wir uns nicht in diese<br />
inneren Uneinigkeiten zu mischen.<br />
Man wollte, um die anarchistischen Kräfte zu<br />
vereinigen, das alte zentralistische System anwenden,<br />
das von oben wirken sollte; man wollte die<br />
Vereinigung dekretieren <strong>und</strong> die Gruppen auffordern,<br />
sich an dieselbe anzuschließen, indem sie dazu die<br />
Vermittlung einer eigens dafür geschaffenen Gruppe<br />
in Anspruch nehmen; die Förderer dieses Beschlusses<br />
genießen jetzt die Früchte von dem, was sie<br />
geschaffen haben, wenn die Anschuldigungen des<br />
Genossen Ramus exakt sind.<br />
Für mich, in meinem Sinne, hätte die anarchistische<br />
Methode verlangt, daß diese Vereinigung<br />
sich von unten aufbaut, das heißt durch die Gruppen<br />
selber, die sich gegenseitig aufsuchen <strong>und</strong> unmittelbar<br />
ihre Ansichten austauschen.<br />
Von einer oder der anderen würde natürlich<br />
die Initiative ausgehen. Diejenigen Genossen oder<br />
Gruppen, von deren Seite irgend eine Idee ausging,<br />
hätten damit anfangen sollen, daß sie die<br />
Aufgabe der Propaganda, die sie einleiten wollen,<br />
klar darlegen; denn dazu, daß etwas getan wird,<br />
genügt es nicht, in alle Winde zu verkünden, daß<br />
man genug von der Theorie hat, daß man zur<br />
Aktion übergehen wolle.<br />
Wenn einmal dieser Punkt aufgeklärt ist, hätte<br />
derjenige, der den Vorschlag macht, jenen Gruppen<br />
geschrieben, deren Adresse er sich verschaffen<br />
kann — es ist immer leicht, einige solche zu finden;<br />
— er würde ihnen erklären, was er tun möchte<br />
<strong>und</strong> sie bitten, ihm zu helfen <strong>und</strong> ihn mit den<br />
Gruppen in Verbindung zu setzen, welche sie kennen<br />
— indem er gleichzeitig ihnen die Adressen<br />
mitteilt, in deren Besitz er ist.<br />
Die befragten Gruppen hätten wohl zugesagt,<br />
sich der vorgeschlagenen Propaganda anzuschließen;<br />
oder sie hätten es zurückgewiesen, dies zu tun,<br />
wenn sie eine andere Art von Propaganda für<br />
zweckmäßiger hielten. Aber das Verhältnis zwischen<br />
den Gruppen hätte so oder so weiter bestehen<br />
können; denn wenn man auch nicht an einer Art<br />
Propaganda teil nimmt, weil unsere Tätigkeit durch<br />
eine andere in Anspruch genommen ist, so kann<br />
man doch immer durch indirekte Hilfe an derselben<br />
teilnehmen, durch Aufschlüsse u. s. w.<br />
Und der Kreis der Verbindungen hätte sich<br />
so Schritt für Schritt ausgedehnt; indem, wenn hier<br />
eine Gruppe verschwindet, andere sich anderswo<br />
bilden. Der Mittelpunkt hätte überall sein können,<br />
da jede Gruppe die Adressen der anderen besäße.<br />
Man hätte es nicht mehr nötig gehabt, sich an<br />
einen Vermittler zu wenden.<br />
Jedenfalls würde dies Zeit gebraucht haben ;<br />
viel Zeit. Feste, internationale Verbindungen können<br />
nicht auf einen Schlag entstehen. Aber die Vereinigung<br />
hätte sich durch sich selbst aufgebaut, durch<br />
aufeinanderfolgende Anschlüsse <strong>und</strong> innerhalb dieser<br />
allgemeinen Vereinigung hätten die Gruppen mit gemeinsamen<br />
<strong>Ziel</strong>en auf Gr<strong>und</strong> von innerer Verwandschaft<br />
kleinere oder größere Vereinigungen gebildet.<br />
Es ist wahr, daß das nicht so stattlich ausgeschaut<br />
<strong>und</strong> so imposant geklungen hätte, wie ein<br />
„Internationales Bureau". Und dann wäre dazu<br />
viel mehr Arbeit nötig, als um einfach zu dekretieren,<br />
daß die Vereinigung gegründet ist. Aber<br />
meiner Meinung nach hätte man dadurch etwas<br />
viel Gediegeneres, viel Lebensfähigeres <strong>und</strong> viel<br />
mehr Anarchistisches geschaffen."<br />
4. Der Genosse Ramus sendet uns eine briefliche<br />
Mitteilung unseres holländischen Genossen<br />
Nieuwenhuis, die wir ebenfalls in Kürze folgen<br />
lassen:<br />
„Lieber Kamerad! . . . Ja, auch ich habe es<br />
mit Bedauern bemerkt, daß der Zentralisationsbacillus<br />
im „Internationalen Bureau" schon zu wirken<br />
begann, nämlich in Ihrem Falle. Doch habe ich das<br />
nicht von allem Anfang an vorausgesagt? Doch auf<br />
die einzelnen Genossen fällt keine Schuld; wissen<br />
wir es denn noch nicht, sagen wir es denn nicht<br />
immer, daß die Schuld vornehmlich an den Institutionen<br />
<strong>und</strong> n i c h t an den Einzelpersonen gelegen<br />
i s t ? ! Leider vergessen wir dies noch immer<br />
sehr oft . . . Ihr Fre<strong>und</strong> Domela Nieuwenhuis.<br />
Briefe unserer Leser.<br />
1. An die Redaktion! Ich bin Mitglied der<br />
„Unabhängigen Schuhmachergenossenschaft" des<br />
XV. Bezirkes, Hütteldorferstraße 33 <strong>und</strong> ersuche um<br />
das Recht, den nachfolgenden Fall der Öffentlichkeit<br />
bekanntgeben zu können. Vor längerer Zeit arbeitete<br />
ich in der Fabrik des Herrn Neider <strong>und</strong> war somit<br />
dem Werkführer Kujgyza wohlbekannt. Als in dieser<br />
Fabrik ein Platz frei wurde, sandte ich meinen<br />
Wochengesellen, um nach Arbeit zu fragen, die<br />
dieser auch wirklich erhielt. Doch bald verlangte<br />
der Werkführer den Meldezettel zu sehen, aus dem<br />
er ersah, daß der Geselle bei mir — den der Werkführer<br />
prinzipiell haßt — wohnt. Damit war es mit<br />
der Arbeit zu Ende, denn der Werkführer erklärte,<br />
er würde ihm deshalb keine Arbeit mehr geben,<br />
weil er bei mir wohne. „Der Bauer muß in jeder<br />
Hinsicht boykottiert werden" sagte der würdige<br />
Mann. Ich <strong>und</strong> meine Frau wandten uns an den<br />
Fabrikanten Herrn Neider, der nach Anhörung des<br />
Falles erklärte, wir sollten den Wochengesellen nur<br />
senden <strong>und</strong> würden Arbeit bekommen. Wir taten<br />
es, aber da der Werkführer nur ungarisch <strong>und</strong><br />
deutsch, der Wochengeselle nur böhmisch spricht,<br />
hatte der Werkführer es leicht, mit ihm ein Hühnchen<br />
zu pflücken <strong>und</strong> wies ihm die Tür.<br />
Es handelt sich hier um einen Willkürsakt<br />
sondergleichen, den öffentlich niedriger zu hängen<br />
ich für nötig finde. Peter Bauer, Wien.<br />
Stadlau.<br />
2. Werte Genossen! Iis ist mir nicht angenehm<br />
in der Zeit, wo Sie in Wien an die Gründung eines<br />
Blattes gegangen sind, das meines Wissens h i e r<br />
noch ungebahnte <strong>Weg</strong>e betritt, in Ihre Ideenwelt<br />
nicht in dem Maße eingeführt zu sein, um in Ihrem<br />
Blatte mitarbeiten <strong>und</strong> auf diese Weise Sie in der<br />
schweren Arbeit, die Ihnen bevorsteht, unterstützen<br />
zu können. Wir stehen „einer Welt von Feinden<br />
gegenüber", der wir die Ketten abzunehmen haben,<br />
die sie zum Teile unbewußt, zum Teile mit Liebe<br />
trägt. Gerade das ist das Schwierige, was wir zu<br />
leisten haben. Es müssen alle Kräfte in Anstrengung<br />
gebracht werden, in diesem Kampfe um die vollständige<br />
Freiheit. Frei von jedem künstlich erzeugten<br />
Gewissen. Frei von allem, was den Geist, unsere<br />
Weltanschauung, trüben könnte. Physische Freiheit!<br />
Frei von allem, was dem Individuum eine Schranke<br />
ist. Frei von allem, was es unangenehm empfindet<br />
<strong>und</strong> ihm Nachteil bringt. Es ist dies ein schwerer<br />
Kulturkampf. Doch es regt sich bereits! Wir haben<br />
daher nur eine Arbeit zu leisten: D i e s e R e g u n g<br />
r i c h t i g z u e r k e n n e n u n d i n i h r e m S i n n e<br />
z u h a n d e l n .<br />
Ich würde mich besonders freuen, wenn ich<br />
Gelegenheit hätte, mit den Ideenfre<strong>und</strong>en in nähere<br />
Berührung zu treten. Ich selbst bin, nachdem ich<br />
meine Studien im Lehrerseminar aufgeben mußte,<br />
nunmehr bei . . . . angestellt. Ich begrüße Sie als<br />
Gesinnungsfre<strong>und</strong> E. F.<br />
Graz.<br />
3. Verständige Euch davon, werte Genossen, daß<br />
das Blatt hier ausgezeichneten Anklang findet. Die<br />
besten Grüße senden die hiesigen Genossen. K.<br />
Sternberg.<br />
4. Werte Genossen! Sende Euch Abonnements.<br />
Was meine Arbeitsverhältnisse anbelangt, sind sie<br />
elend genug. Verdiene als Seidenweber wegen<br />
schlechten Materials bei der c h r i s t l i c h e n Firma<br />
Hrubij I. W. kaum 7 Kronen. Das Arbeitsmaterial<br />
ist bei diesem Christen nicht zu verarbeiten. Man<br />
könnte darob verzweifeln. Der Herr Chef hat vergessen,<br />
daß er selbst einst ein armer Teufel war.<br />
Euer . . .<br />
Glück auf!<br />
Das Erscheinen der ersten Nummer eines<br />
internationalen anarchistischen Bulletins — „Bulletin<br />
de l'Internationale anarchiste" — verwirklicht einen<br />
langgehegten Plan der rührigsten Elemente unserer<br />
Bewegung <strong>und</strong> füllt im wahrsten Sinne eine längst<br />
schmerzlich gefühlte Lücke aus. Hoffen wir, daß die<br />
Kameraden der Hauptländer den Wert dieses<br />
internationalen Geistesbandes würdigen <strong>und</strong> die<br />
Herausgeber des Bulletins dadurch bald in die Lage<br />
versetzen werden, dieses notwendige Verbindungs<strong>und</strong><br />
Vereinigungsmittel einer geistigen Bewegungseinheitlichkeit<br />
<strong>und</strong> -Information auch in deutscher<br />
Sprache erscheinen zu lassen. Das Abonnement<br />
des französischen Bulletins kostet jährlich K 1.90<br />
<strong>und</strong> ist zu beziehen von L. Schapiro, 163 Jubilee<br />
Str., London E. England.<br />
Die freie G e n e r a t i o n . D o k u m e n t e d e r<br />
W e l t a n s c h a u u n g d e s A n a r c h i s m u s . Inhalt<br />
des Februarheftes: Die Geschäftskomrrission: An<br />
unsere Leser. — Edward Carpenter: Moral <strong>und</strong><br />
freiheitlicher Sozialismus. — N. J. C. Schermershorn:<br />
Der Zweck des Lebens. — Pierre Ramus: Antimilitarismus<br />
<strong>und</strong> Hochverrat. - Julius Skall: Philosophie<br />
<strong>und</strong> Kultur.<br />
Preis jedes Einzelheftes 25 h., zu beziehen<br />
durch unseren Verlag. Wir empfehlen den Genossen<br />
diese theoretische Monatsschrift zur geistigen<br />
Weiterentwicklung.
Glossen über ein Buch, die<br />
in diesem Buche nicht enthalten<br />
sind . . .<br />
Es ist jetzt in der anarchistischen Gedankenwelt<br />
g a n g <strong>und</strong> g ä b e g e w o r d e n ,<br />
leichtsinnig, so von oben herab, über die<br />
materialistische Geschichtsauffassung den<br />
Stab zu brechen. Mit Spott <strong>und</strong> Ironie verfolgt<br />
man da das P h a n t o m der dialektischen<br />
M e t h o d e <strong>und</strong> durch das begeisterte<br />
Anrufen des induktiven G e d a n k e n g a n g e s<br />
sucht man sehr oft die eigene Geistesimpotenz<br />
zu verhüllen. Man verkennt unb<br />
e w u ß t dabei die Bedeutung der dialektischen<br />
Methode als eine der besten heuristischen<br />
Versuche, eine soziologische G r u n d l a g e der<br />
geschichtlichen W a n d l u n g e n zu finden.<br />
Nicht das D o g m a , trotzdem es in prägnanter,<br />
herausfordernder Fassung formuliert<br />
wurde, bildet hier das Wichtigste, sondern<br />
der G e d a n k e der ewigen W a n d l u n g e n , des<br />
beständigen Flusses der sozialen P h ä n o m e n e .<br />
Das alte, heraklitische »Alles fließt« erlitt<br />
hier eine soziologische U m w a n d l u n g . Es<br />
w ü r d e heißen, Eulen nach Athen tragen,<br />
w e n n ich mich darüber des Näheren auseinandersetze.<br />
Eben darum hat dieser gewaltige<br />
G e d a n k e n b a u für die Kultur eine<br />
große Bedeutung, weil durch denselben<br />
zuerst das Bewußtsein <strong>und</strong> der Wille des<br />
Menschen als geschichtlicher Faktor ins<br />
Auge gefaßt wurde. Eine Idee kann man<br />
erst dann richtig be- <strong>und</strong> verurteilen, w e n n<br />
man dieselbe bis in die letzten K o n s e q u e n z e n<br />
ausdenkt, d e n n erst dann fühlt man die<br />
Grenzen derselben, erst dann kann man<br />
die schwächsten Punkte bemerken. Die<br />
materialistische Geschichtsauffassung war<br />
ein Produkt der damals vorherrschenden<br />
Methode der Übertragung der naturwissenschaftlichen<br />
Beobachtungsweisen in das<br />
Gebiet der Geisteswissenschaft. Die menschliche<br />
Schöpferkraft war auf ein Minimum<br />
reduziert, bis sie endlich aus der D o m ä n e<br />
der Geschichte gänzlich ausgemerzt wurde.<br />
Und darum bemerken wir eine tiefe Ver-<br />
wandtschaft der spencerischen Soziologie<br />
mit dem dogmatischen Marxismus, was den<br />
methodischen Ausgangspunkt anbetrifft. Die<br />
Philosophie hat aber schon längst aufgehört,<br />
ein Aschenbrödel zu sein, sie ist jetzt im<br />
vollen Gange, wieder die Vorherrschaft zu<br />
gewinnen. Eine Einschränkung w u r d e nach<br />
der anderen notwendig, bis endlich wieder<br />
der Mensch sich seine früheren Rechte erobert<br />
hat. Kein Produkt des Milieus ist der<br />
Mensch, sondern das Milieu ist sein Produkt.<br />
Bis jetzt hat die Wirklichkeit <strong>und</strong> die<br />
historische Überlieferung einer außerhalb<br />
des Menschen stehenden Macht, m a g sie<br />
auch die sublimste Form annehmen, auf<br />
den Menschen wie eine schwere Last geruht<br />
<strong>und</strong> die helle, zuversichtliche Schaffensfreude<br />
geraubt, seine Initiative gewaltsam<br />
in den Rahmen eines Weltganzen oder<br />
irgend eines andern abstrakten Undings<br />
gefügt. Indem sich zuerst der Mensch von<br />
der Wirklichkeit des äußeren Daseins als<br />
der einzigen Realität befreit hat — dieses<br />
tollkühne Werk hat kein Geringerer als<br />
Kant selbst vollzogen hat er den zweiten<br />
Schritt gemacht <strong>und</strong> schüttelte von sich den<br />
W u s t jedweden historischen Dogmatismus<br />
ab. Der Mensch w u r d e wieder an seine<br />
Freiheit erinnert. Im G r u n d e g e n o m m e n<br />
war er immer frei, sehr oft hat er aber an<br />
seine Freiheit nicht gedacht. Brauche ich<br />
mich erst d a g e g e n zu verwahren, daß ich<br />
hier nicht die transzedente Freiheit des Menschen<br />
meine? Der Apostel <strong>und</strong> Verkünder dieser<br />
Fre'iheit war Friedrich Nietzsche, auf dessen<br />
Verwandtschaft mit Kant hier kurz hingewiesen<br />
wird. Nietzsche's mächtige Gestalt<br />
hat allmählich alles überschattet. Aber da<br />
sehen wir andere k o m m e n , die durch ihre<br />
Unabhängigkeit des Schaffens den Beweis<br />
liefern, daß man den Menschen nicht restlos<br />
auf die Zeitumstände reduzieren kann. Die<br />
Dogmatiker des historischen Materialismus<br />
stehen überhaupt jeder anderen Ideologie<br />
g e g e n ü b e r ; sie sehen in derselben nur eine<br />
sek<strong>und</strong>äre Erscheinung, die von der ökonomischen<br />
Struktur der Gesellschaft bedingt<br />
wird. Wie oftmals hat man z. B. Rousseaus
Theorie, eigentlich die Widersprüche derselben<br />
durch die damaligen Umstände »erklärt«<br />
<strong>und</strong> bewiesen, daß die sozialistische<br />
Gedankenwelt nur einen Reflex der kapitalistischen<br />
Wirtschaftsordnung bildet. Aber<br />
daß fast gleichzeitig mit R o u s s e a u ein<br />
B u r k e seine »Rechtfertigung der natürlichen<br />
Gesellschaft« schreibt, die »in nuce« schon<br />
den kritischen Teil des Anarchismus enthält,<br />
daß einige Jahrzehnte später W i l l i a m<br />
G o d w i n den positiven <strong>und</strong> konstruktiven,<br />
Anarchismus begründet, ist eine Tatsache,<br />
mit der sich die A n h ä n g e r des materialistischgeschichtlichen<br />
D o g m a s auseinandersetzen<br />
müssen, <strong>und</strong> es ist schon eine g r o ß e Jongleurkunst"notwendig,<br />
um mit dieser harten<br />
N u ß fertig zu werden, was man bis jetzt<br />
nur von einem Dr. Max Adler sagen kann,<br />
der sich dessen rühmt, aus Max Stirner<br />
einen Vorläufer von — Karl Marx zu m a c h e n !<br />
W a r u m waren also die Zeitumstände einmal<br />
so barsch, daß sie Rousseau den W e g<br />
zur Erkenntnis lahm legten, aber das andere<br />
Mal wieder so gnädig, daß sie erlaubten,<br />
in den ganzen Mechanismus der Gesellschaft<br />
einen tiefen Blick zu t u n ? W e n n<br />
Englands soziale Verhältnisse ganz anders<br />
geartet waren als Frankreichs in ein <strong>und</strong> ganz<br />
derselben Zeit was aber immer die<br />
Antwort aller geschichtlich-materialistischen<br />
Dogmatiker bildet — w a r u m war es eben<br />
William G o d w i n <strong>und</strong> keinem Anderen vergönnt,<br />
den mystischen Schleier, der in<br />
der Form historischer Gesetze die menschliche<br />
Tatkraft umgarnt, mit einem grellen<br />
Blitz der genialen Intuition zu zerreißen?<br />
G o d w i n hat sein glänzendes Werk schon<br />
im Jahre 1793 geschrieben, <strong>und</strong> seit diesem<br />
Jahre sind Jahrzehnte verflossen, in denen<br />
sogar der N a m e G o d w i n fast gänzlich verschollen<br />
war! Wie sollen wir das verstehen?<br />
W a r u m also die historischen Gesetze stärker<br />
als der Wille d e s einzelnen M e n s c h e n ?<br />
W e n n wir diese »Gesetze« richtig verstehen<br />
wollen, so müssen wir, wie ein bekannter<br />
polnischer Schriftsteller, St. Brzozowsky, sagt,<br />
ein Werk der gedanklichen Dissoziation<br />
vollziehen, wir müssen die schon so gangbaren<br />
Pfade der F o r s c h u n g verlassen <strong>und</strong><br />
uns gewissermaßen außerhalb derselben<br />
stellen. Die Massen sind noch vollkommen<br />
im Banne der Autorität, denn die menschliche<br />
Geschichte ist das Werk eines starken<br />
Willens einer herrschenden Klique, die ihre<br />
egoistischen <strong>Ziel</strong>e in ideologischer Verkleidung<br />
den Massen suggeriert. Hier ist<br />
aber gewissermaßen eine Einschränkung<br />
der voluntaristisch-idealistischen Geschichtsauffassung<br />
notwendig. Der einzelne Mensch,<br />
die starke Persönlichkeit, d i e I n d i v i d u -<br />
a l i t ä t ist nicht von den Zeitumständen<br />
abhängig, im Gegenteil, sie bekämpft dieselben<br />
nicht nur vom Standpunkte der<br />
e p h e m ä r e n Tageserscheinungen, sondern<br />
unter dem Winkel der Ewigkeit, von der<br />
hohen Warte ihres geistigen Kastells. Aber<br />
ihre Ideen, ihre Geistesprodukte unterliegen<br />
wie die übrigen objektiven Tatsachen dem<br />
Gesetze der gedanklichen Faulheit der<br />
Massen, die doch nur die einzige Ursache<br />
ihrer sozialen <strong>und</strong> politischen Versklavung<br />
bildet. In Europa ist es schon heller gew<br />
o r d e n , die G ö t z e n d ä m m e r u n g ist in der<br />
Wirklichkeit nicht für Menschen, deren<br />
Macht im starken Willen <strong>und</strong> im scharfen<br />
Intellekt beruht. Darum erinnert man sich<br />
mehr an Godwin, der wie ein Meteor auf<br />
d e m Firmament erschienen ist, um bald<br />
wieder gänzlich zu verschwinden. Ein<br />
Zeichen dieser Erinnerung bildet eben Pierre<br />
Ramus' Buch über Godwin,* das mich zu<br />
diesen G e d a n k e n angeregt hat, trotzdem<br />
oder weil es sich eben nicht in diesen<br />
Bahnen bewegt. Denn Pierre Ramus gehört,<br />
meiner Meinung nach, noch zu derjenigen<br />
zahlreichen Gemeinde, die sich von dem<br />
D o g m a der historischen Gesetze noch nicht<br />
gänzlich befreit hat. Daher ist es ganz<br />
natürlich, daß für Ramus G o d w i n eine<br />
größere Bedeutung als Stirner hat, denn<br />
Ramus ist noch trotz seiner geistigen Schärfe<br />
ein »Unfreier«, ein »Uneigener«, der sein<br />
Ich von einem heiligen Geiste historischer<br />
Gesetze sanktionieren möchte. Charakteristisch<br />
dafür ist die Methode, mit der er<br />
G o d w i n s abstrakten A u s g a n g s p u n k t zu vertuschen<br />
sucht. »Die Gerechtigkeit ist diejenige<br />
Basis unseres Verhaltens, welche d e m<br />
W o h l e der Gesamtheit in jeder Beziehung<br />
das Maximum beisteuert«. W e n n das kein<br />
Glatteis der Spekulation ist, so soll man<br />
überhaupt das W o r t »Spekulation« aus d e m<br />
W ö r t e r b u c h e streichen! Welche Gesamtheit<br />
ist damit gemeint, bildet denn die Gesellschaft<br />
einen konkreten Begriff? Wie wird er<br />
die a u t o n o m e Ethik des freien Menschen, dieses<br />
Geschenk eines abgr<strong>und</strong>tiefen Max Stirner,<br />
der fast in jeder Beziehung viel höher als<br />
G o d w i n steht, mit diesem abstrakten Gerechtigkeitsprinzip<br />
im Einklang o h n e Vergewaltigung<br />
bringen? Hat Pierre Ramus<br />
denn von diesen kritischen Hieben, die die<br />
utilitaristische Ethik zu G r u n d e gerichtet<br />
haben, nichts v e r n o m m e n ? Es ist bei Pierre<br />
'„William Godwin, der Theoretiker des kommunistischen<br />
Anarchismus. Eine biographische Studie<br />
mit Auszügen aus seinen Schriften <strong>und</strong> eine Skizze<br />
über die sozialpolitische Literatur des Anarcho-<br />
Sozialismus seiner Zeit." Von Pierre Ramus. Mit<br />
Geleitwort von Dr. W. Borgius. Verlag Felix Dietrich,<br />
Leipzig, 1907.
Kamus, der doch ein vielwissender Mensch<br />
ist, ausgeschlossen, <strong>und</strong> daher kann man<br />
von ihm verlangen, daß er nicht in der<br />
Mitte des W e g e s stehen bleibe. Der Anarchismus<br />
ist doch im G r u n d e g e n o m m e n<br />
nur eine Ethik, die die Gr<strong>und</strong>lage des freiheitlichen,<br />
revolutionären Sozialismus bildet,<br />
während der rechte Flügel des Sozialismus<br />
die reformistische Sozialdemokratie auf der<br />
Ethik des deterministischen Materialismus<br />
beruht.<br />
Aber das sind nur Einzelheiten, über<br />
die man gewöhnlich unvorsichtigerweise zur<br />
T a g e s o r d n u n g ü b e r g e h t ; aber von einem<br />
Buch, das einen großen Fleiß <strong>und</strong> tiefe<br />
Liebe zum Gegenstand an den T a g legt,<br />
kann man schon mehr philosophische Vorbereitung<br />
verlangen. Ich habe mich deshalb<br />
länger über dieselbe aufgehalten <strong>und</strong> kann<br />
nur zum Schlüsse diejenigen auffordern,<br />
die dieses Buch gelesen — <strong>und</strong> recht viele<br />
Leser w ü n s c h e ich demselben — es mit<br />
Eugen Dührings glänzender Biographie<br />
Rousseaus (»Die Größen der m o d e r n e n<br />
Literatur«) zu vergleichen. Einerseits der<br />
Vertreter der kleinlichen bürgerlichen Taktik,<br />
ein Mensch, der sich nicht vollkommen<br />
befreit hat <strong>und</strong> der vor den Heiligtümern<br />
der Genfer Republik halt macht, andererseits<br />
G o d w i n ein Mann, der die Fackel des menschlichen<br />
G e d a n k e n s hochhält <strong>und</strong> alle Schlupfwinkel<br />
mit derselben beleuchtet. Dieser<br />
Vergleich kann sehr lehrreich sein, wenn<br />
man eben das richtige Verständnis für solche<br />
Sachen hat . . . M. Käufer.<br />
Nietzsche über den Staat.<br />
Der Geisteskämpfer, der den großen<br />
Kampf gegen die christliche Kirche, gegen<br />
die alten sittlichen Wertungen <strong>und</strong> D o g m e n<br />
führte, wußte auch die G r u n d s ä t z e des<br />
Staates, dieser äußeren Machtorganisation<br />
anzugreifen. Es gehörte in den Kreis der<br />
Kulturmission Nietzsches, die Geheimnisse<br />
dieses Banalsten <strong>und</strong> Alltäglichsten aller<br />
menschlichen Institutionen zu enthüllen,<br />
denn hatte Nietzsche die prinzipielle Lüge<br />
des »Mörders von Anfang an« ans Tageslicht<br />
gezogen, das phantastische Gotteswesen<br />
bekämpft <strong>und</strong> die herrschende Moral<br />
der Winkeltugendhaften verdammt, so konnte<br />
man als richtige Konsequenz auf sozialem<br />
Gebiete nichts anderes erwarten, als daß er<br />
den Repräsentanten dieses Moralisierens<br />
<strong>und</strong> aller Sittenrichterei, den juridischen<br />
Figuranten des Staates selbst das Prinzip<br />
des Verbrechens der Räuberei <strong>und</strong> Betrügerei<br />
zumutete. Und in der Tat beweisen<br />
die Untersuchungen des historischen Ur-<br />
sprungs <strong>und</strong>- der Entwicklungsgeschichte<br />
des Staates, daß die innersten Triebfedern<br />
seines Daseins: Gewalttaten sind, die uns<br />
zunächst überall als die Vergewaltigung der<br />
Schwächeren durch die herrschende Klasse<br />
entgegentreten. Es war das Bestreben aller<br />
bisherigen Machthaber, das schreckliche G e -<br />
waltsprinzip zynisch mit jeder Infamie als<br />
eine natürliche Gesetzmäßigkeit hinzustellen<br />
<strong>und</strong> die gesellschaftlichen Produktionsmittel<br />
unter allen Umständen anzueignen.<br />
Mit der zügel- <strong>und</strong> schrankenlos sich<br />
durchsetzenden mechanischen Gewalt gelang<br />
es ihnen zu allen Zeiten alle Vorteile<br />
der Kultur <strong>und</strong> des sozialen Lebens zu<br />
usurpieren <strong>und</strong> zu monopolisieren, ja die<br />
Masse dem Elend, H u n g e r t o d e , Drucke <strong>und</strong><br />
der Knechtschaft auszusetzen!<br />
Heute weiß alle Welt, daß die Übermacht<br />
des Staates alle Gewaltmaßregeln<br />
anwendet, sogar den, die Individuen tötenden<br />
Schematismus nicht verabscheut, w e n n<br />
von Enteignung des Eigentums die Rede<br />
ist. Im Objektum Staat verschwindet der<br />
letzte Funke des Freiheitsgefühls des Staatsbürgers<br />
<strong>und</strong> der Einzelne wird zum unbedingten<br />
Sklaven herabgesetzt. W a s uns<br />
zunächst überall in dieser Zwangsjacke entgegentritt,<br />
ist die Scheinheiligkeit, mit welcher<br />
die Macht der Finsternis den sich als<br />
verknechtetes Wesen w ä h n e n d e n Menschen<br />
beherrscht; sind die Liebesphrasen, durch<br />
welche das kulturelle Leben der Massen<br />
zu Schanden w i r d ; ist das System der ungeheueren<br />
Gewalttaten, welche als Gerechtigkeit,<br />
Gesetzmäßigkeit, Notwendigkeit <strong>und</strong><br />
Humanität gelten. So wird das Boshafte<br />
des Tierischen als glorreich gepriesen, » d i e<br />
S c h l a n g e u n d d e r g r ä u l i c h e R i n g e l -<br />
w u r m « der geregelten Staatshierarchie verherrlicht.<br />
Rationalistehherrscher sind Despoten,<br />
die mit dem Volke willkürlich schalten<br />
<strong>und</strong> die zentrale Gewaltherrschaft, die<br />
e l e n d e Weltaktion besorgen.<br />
Diesen Vampyrismus will nun Nietzsche<br />
beseitigen <strong>und</strong> durch das System des Erkennens<br />
ersetzen. An die Stelle der Staatsautorität<br />
tritt die Herrlichkeit der f r e i e n<br />
I n d i v i d u a l i t ä t : d e s Ü b e r m e n s c h e n .<br />
Nietzsche sieht im Überwinden des Menschen<br />
Keime der freien Vereinbarung, der<br />
Fre<strong>und</strong>schaftsliebe, bei welcher die Regierung<br />
sich absolut nicht einmischt. In dieser<br />
Kulturepoche wird nun das Solidaritätsgefühl<br />
triumphieren, der Horizont » e r -<br />
s c h e i n t w i e d e r f r e i , g e s e t z t s e l b s t ,<br />
d a ß e r n i c h t h e l l ist, e n d l i c h d ü r f e n<br />
u n s e r e S c h i f f e w i e d e r a u s l a u f e n ,<br />
a u f j e d e G e f a h r h i n a u s l a u f e n , j e -<br />
d e s W a g n i s d e s E i -<br />
k e n n e n d e n i s t
w i e d e r e r l a u b t , d a s M e e r , unser<br />
M e e r l i e g t w i e d e r o f f e n d a , v i e l -<br />
l e i c h t g a b e s n o c h n i e m a l s e i n s o<br />
o f f e n e s M e e r « . Dieser Ozean ist das<br />
Licht der neuen aufdämmernden Kultur<br />
der freien Individualitätsvereinbarung, welche<br />
den p r u n k e n d e n christlichen Staat: die<br />
Staatskirche ersetzen wird.<br />
»Staat? W a s ist d a s ? W o h l a n ! Jetzt tut<br />
n u r die O h r e n auf, denn jetzt sage ich euch<br />
mein W o r t v o m T o d e der Völker.«<br />
Der T o d ! Hört, meine Brüder, der T o d<br />
ist u n s der Staat, die E n t w ü r d i g u n g unseres<br />
Selbst. Vergebens wendet das Christentum<br />
seine Lehren des Mitleids vor allem an.<br />
Vergebens predigen die pfäffischen Sophisten,<br />
die H ä n d e bittend e r h o b e n : »Friede! Alle<br />
Menschen sind gleich <strong>und</strong> der Staat der<br />
goldene Mittelweg«. Aus ihrer tiefsten Selbstheit<br />
heraus lugen sie, denn » S t a a t h e i ß t<br />
d a s k ä l t e s t e a l l e r k a l t e n U n g e h e u e r .<br />
K a l t l ü g t e r a u c h ; u n d d i e s e L ü g e<br />
k r i e c h t a u s s e i n e m M u n d e : »Ich,<br />
d e r S t a a t , b i n d a s V o l k « . Mir gehört<br />
alles, mir: der herrschend-prassenden Minorität.<br />
Ich allein bin das O u t e <strong>und</strong> das<br />
Gegenteil v o m Bösen. — » A b e r d e r<br />
S t a a t l ü g t i n a l l e n Z u n g e n d e s<br />
G u t e n u n d B ö s e n ; u n d w a s e r a u c h<br />
r e d e t , e r l ü g t — u n d w a s e r a u c h<br />
h a t , g e s t o h l e n h a t ers.« Das ganze<br />
System d e s Privateigentums beruht auf<br />
E n t e i g n u n g der Bevölkerung vom gemeinschaftlichen<br />
Besitze des G r u n d e s <strong>und</strong> Bodens;<br />
auf Gewalt, auf Erschwindelung <strong>und</strong> Erhandelung.<br />
Die Enteignung der Produktionsmittel,<br />
die der ganzen primitiven Stammesgemeinschaft<br />
gehörten, tritt in der Geschichte<br />
als Ergebnis der Gewalt auf, die ihre<br />
G r u n d l a g e n in der Allverherrlichung des<br />
nur sinnlichen Lebens findet. Jene konventionellen<br />
Lügner <strong>und</strong> Despoten, die<br />
u n g e h e u e r e Reiche gründeten, wollten alle<br />
Herrlichkeit in ihrem engen Selbst finden,<br />
wendeten daher alle rohe Gewalt an, um<br />
blutige Spuren über die ächzenden Untertanen<br />
zu ziehen. Selbst der ganze Warenaustausch<br />
beruht insbesondere auf Gewalt.<br />
Immer sind diese Knechtschafts-, Rechts<strong>und</strong><br />
ö k o n o m i s c h e n Verhältnisse im u n b e -<br />
schreiblichen Geisteselend der Menschheit<br />
zu suchen, dessen naturmäßige K o n s e q u e n z :<br />
Bosheit, Rache <strong>und</strong> Herrschsucht ist. Darum<br />
ruft Nietzsche a u s : » S e h t m i r d o c h<br />
d i e s e Ü b e r f l ü s s i g e n ! K r a n k s i n d<br />
s i e i m m e r , s i e e r b r e c h e n i h r e G a l l e<br />
u n d n e n n e n e s Z e i t u n g . S i e v e r -<br />
s c h l i n g e n e i n a n d e r u n d k ö n n e n<br />
s i c h n i c h t e i n m a l v e r d a u e n « .<br />
Und weiter:<br />
» S e h t m i r d o c h d i e Ü b e r f l ü s -<br />
s i g e n : R e i c h t ü m e r e r w e r b e n s i e<br />
u n d w e r d e n ä r m e r d a m i t . M a c h t<br />
w o l l e n s i e u n d z u e r s t d a s B r e c h -<br />
e i s e n d e r M a c h t , v i e l G e l d — d i e s e<br />
U n v e r m ö g e n d e n ! «<br />
» S e h t s i e k l e t t e r n , d i e s e g e -<br />
s c h w i n d e n A f f e n ! S i e k l e t t e r n ü b e r<br />
e i n a n d e r h i n w e g u n d z e r r e n s i c h<br />
a l s o i n d e n S c h l a m m u n d d i e T i e f e . «<br />
Erst nachdem der Mensch zur höheren<br />
Bewußtseinsform sich besinnt, wird die<br />
G e b u n d e n h e i t an das Feuer der Unterwelt<br />
gelöst <strong>und</strong> zerfallen die starken Säulen der<br />
Herrschsüchtigen, so beginnt die geistige<br />
Eruption <strong>und</strong> eine neue ätherische Lebensweise.<br />
» D o r t w o d e r S t a a t a u f h ö r t , d a<br />
b e g i n n t e r s t d e r M e n s c h , d e r n i c h t<br />
ü b e r f l ü s s i g i s t : D a b e g i n n t d a s L i e d<br />
d e s N o t w e n d i g e n , d i e e i n m a l i g e<br />
u n e r s e t z l i c h e W e i s e . «<br />
» D o r t , w o d e r S t a a t a u f h ö r t , -<br />
s o s e h t n u n d o c h h i n , m e i n e B r ü -<br />
d e r ! S e h t i h r i h n n i c h t , d e n R e g e n -<br />
b o g e n u n d d i e B r ü c k e n d e s Ü b e r -<br />
m e n s c h e n ? « —<br />
Der Staat, nun ja diese Machtsphäre<br />
ist der W e g zum Verbrechen, ist der Fluch<br />
des Einzelnen. Der Staat m u ß abgestreift,<br />
überflügelt w e r d e n ! Er m u ß fort! Allein<br />
diese U m w ä l z u n g bedingt auch die Ausrottung<br />
der erbärmlichen Brut des Kreaturwesens<br />
<strong>und</strong> der kapitalistischen Produktionsweise,<br />
damit G r u n d <strong>und</strong> Boden, alles Mobile<br />
<strong>und</strong> Immobile den Schöpfern <strong>und</strong> Erhaltern<br />
des Kultur- <strong>und</strong> Soziallebens verbleibe. So<br />
wird der einzelne Herr seines selbst, Herr<br />
<strong>und</strong> freier Träger seiner intellektuellen Innenwelt.<br />
Also ist der Mensch aus dem<br />
Joche der Sklavengesinnung nicht nur, sondern<br />
zugleich aus jenem der herrschenden<br />
Kasten erlöst. Das Individuum wird vollk<br />
o m m e n <strong>und</strong> liebenswert. Der freie Einzelne,<br />
der Erlöser ist aber nicht die Verneinung<br />
des Lebens im Staate, sondern der faktische<br />
Eigner aller Bürden der Innerlichkeit; ist<br />
selbst ein ganzes Leben, das über die<br />
Grenzen des konventionell-staatlichen Lebens<br />
weit, sehr weit hinausgeht.<br />
» F l i e h e , m e i n F r e u n d , i n d e i n e<br />
E i n s a m k e i t ! I c h s e h e d i c h b e t ä u b t<br />
v o m L ä r m d e r g r o ß e n M ä n n e r , « v o m<br />
S c h l a m m e d e s T h r o n e s u n d » v o n<br />
d e n S t a c h e l n d e r k l e i n e n « .<br />
» F l i e h e , m e i n F r e u n d , i n d e i n e<br />
E i n s a m k e i t u n d d o r t h i n , w o e i n e<br />
r a u h e s t a r k e L u f t w e h t . N i c h t i s t<br />
e s d e i n L o s . F l i e g e n w e d e l z u s e i n . « —<br />
Julius Skatl.
Wieder das m e r k w ü r d i g e Charakteristikum,<br />
daß wir hier diejenigen Charakterelemente<br />
aufgezählt erhalten, deren Propaganda<br />
gerade wir Anarchisten u n s besonders<br />
widmen, indem wir sie als die wesentlichen<br />
Vorbedingungen für d e n A u f b a u<br />
u n d d i e F o r t d a u e r einer anarchistischen<br />
Oesellschaft — also ein sozialer Verband,<br />
der herrschaftslos ist — ansehen. Freilich<br />
erblicken wir die Unmöglichkeit, innerhalb<br />
der staatlich-kapitalistischen Gesellschaftsorganisation<br />
diese Charaktereigenschaften<br />
in fruchtbarer Weise zu verwerten, da ja<br />
das heutige System der W e l t o r d n u n g gerade<br />
diese Eigenschaften tagtäglich mit<br />
Füßen tritt. Doch g e r a d e wir sind es, die<br />
in den Menschen immer aufs neue diese<br />
Gr<strong>und</strong>sätze beleben, da wir den Menschen<br />
reif für die Zukunft machen wollen.<br />
Sonderbar, auch in diesem letzteren<br />
Strebensziel können wir, die Anarchisten,<br />
getrost dem Herrn Professor die H ä n d e<br />
reichen — in inniger B e g l ü c k w ü n s c h u n g<br />
zur geistigen Erkenntnisreife, die ihn mit<br />
den Kulturelementen des wahrsten Fortschrittes<br />
verbindet, w e n n er sagt:<br />
„Das ganze menschliche Wissen bildet eine<br />
innerlich zusammenhängende, untrennbare Einheit.<br />
Aus dieser Gesamtheit des menschlichen Wissens<br />
werden jene Partien ausgehoben, welche zur Erreichung<br />
des angestrebten <strong>Ziel</strong>es am geeignetsten<br />
erscheinen, <strong>und</strong> diese werden in jenem Ausmaße<br />
behandelt, als die zu Gebote stehende Zeit dies<br />
gestattet.<br />
Das oberste <strong>Ziel</strong> aber, der Mittelpunkt des<br />
gesamten wissenschaftlichen Unterrichtes, ist der<br />
Mensch selbst, der Mensch von seiner physischen<br />
<strong>und</strong> von seiner psychischen Seite, der Mensch als<br />
höchstes <strong>und</strong> edelstes Glied der organischen Welt<br />
<strong>und</strong> der Mensch als Träger des göttlichen Geistes,<br />
der Mensch in seinem Verhältnisse zur Natur <strong>und</strong><br />
zur Menschheit, der Mensch als Persönlichkeit <strong>und</strong><br />
als Glied der menschlichen Gesellschaft, der Mensch<br />
in seinem Verhältnis zu seinen Rechten <strong>und</strong> zu<br />
seinen Pflichten."<br />
Diese schönen Worte verdienen es,<br />
einem jeden Arbeitssohn, jeder Arbeitstochter<br />
näher gebracht zu werden. D a s i s t<br />
A n a r c h i s m u s , s e i n e e r z i e h e r i s c h e<br />
B e t ä t i g u n g , w i e j a d i e P h i l o s o p h i e<br />
d i e s e r h e r r l i c h e n M e n s c h h e i t s i d e e<br />
j e d e s L e b e n s g e b i e t d e r M e n s c h -<br />
h e i t u m f a ß t , e s ' n e u w e i t e n d , i h m<br />
e r s t s o r e c h t O d e m e i n h a u c h t .<br />
Doch eines ist es, w o r ü b e r wir mit<br />
dem Hofrat rechten m ü s s e n ! Glaubt er, daß<br />
die Verwirklichung solcher Kulturmöglichkeiten<br />
der Pädagogik von der heutigen Gesellschaft<br />
geschaffen werden k ö n n e n ? Ich<br />
glaube es nicht. Wohl wirkt es versöhnend<br />
zu sehen, daß Professor Fuchs dort, wo<br />
andere das W o r t »Staat« a n w e n d e n , das<br />
richtigere W o r t »Gesellschaft« gebraucht.<br />
Diese A n w e n d u n g ist kein Zufall, sondern<br />
klare Unterscheidung, <strong>und</strong> wieder wie wir<br />
Anarchisten es tun. Aber um G r o ß e s zu erreichen,<br />
darf man sich nicht damit begnügen,<br />
bloß große Wahrheiten auszusprechen,<br />
da tut vor allem not, daß man G r o ß e s schafft<br />
<strong>und</strong> wirkt. Ich kann es nicht glauben, daß<br />
ein so sehr tiefer Blick, wie jener des obigen<br />
Verfassers es ist, nicht die traurige Tatsache<br />
erkannt hat, daß all dieses humanistische, edle<br />
<strong>und</strong> ethische Streben nach individuell <strong>und</strong><br />
gesellschaftlich U m w ä l z e n d e m nicht nur<br />
aufgehalten, sondern oft direkt unmöglich<br />
gemacht wird v o m Staate selbst. Ehrgefühl,<br />
Pflichtgefühl, Wahrhaftigkeit, Selbstbeherrschung<br />
— im Rahmen der Umschreibungen<br />
des Hofrates sind sie keine leere Phrasen<br />
mehr, sondern logische Begriffe für ganz<br />
exakte, konkrete Vorstellungen. Doch gerade<br />
sie sehen wir heute in ihr direktes<br />
Gegenteil verkehrt, verachtet, geschmäht,<br />
unterdrückt.<br />
Universitätsprofessor Fuchs hat uns die<br />
Anleitung geboten, wie dies zu überwinden.<br />
Allerdings nur e i n e dürftige Andeutung.<br />
Doch wie wir Anarchisten nun schon einmal<br />
stets diejenigen sind, die die Halbwahr-<br />
heiten des Lebens zu realen Betätigungsm<br />
e t h o d e n u m w a n d e l n , so auch in diesem<br />
Fall. Wir brauchen ein Menschengeschlecht<br />
nach den v o m Hofrat gelieferten G r u n d -<br />
sätzen, die der Philosophie des Anarchism<br />
u s entliehen sind; wir müssen in den<br />
Menschen das Edle, G r o ß e <strong>und</strong> G u t e erwecken.<br />
Dazu wird u n s w e d e r der Staat<br />
noch das Zunftgelehrtentum, das sich in<br />
seinen sichersten Schlupfwinkeln bedroht<br />
fühlt, behilflich sein. Dazu bedarf es anderer<br />
Mittel, Methoden, W e g e . Die Schule<br />
m u ß befreit werden n i c h t n u r von der<br />
Kirche, nein, auch v o m Staate. Sie m u ß<br />
der freien Initiative edel gesinnter, vom<br />
Erziehungsgeist zum W o h l e der k o m m e n -<br />
den Generationen erfüllter M ä n n e r <strong>und</strong> Frauen<br />
überlassen sein, diese müssen sich ihrer<br />
bemächtigen, sie den Mächten der finsteren<br />
Geistesautorität <strong>und</strong> Disziplin, des f o r m eil<br />
e n Kirchenwahnes entreißen. W e n n die<br />
Männer vom Schlage des Hofrates Fuchs<br />
<strong>und</strong> die Frauen derselben Gesinnungsart<br />
zusammenträten, das täten, w a s wir Anarchisten<br />
schon längst <strong>und</strong> dorten tun, wo<br />
die materiellen B e w e g u n g s b e d i n g u n g e n dafür<br />
bereits erobert w u r d e n ; w e n n die Männer<br />
<strong>und</strong> Frauen, die von den v o m Hofrat<br />
Fuchs aufgestellten Idealbestrebungen <strong>und</strong><br />
Gr<strong>und</strong>sätzen der Persönlichkeitsfreiheit <strong>und</strong><br />
des Edelmutes erfüllt sind, sich die H ä n d e<br />
reichten zum g e m e i n s a m e n Einheitswerk:<br />
E r r i c h t u n g v o n f r e i e n G e i s t e s -<br />
a d e l s s t ä t t e n , v o n S c h u l e n , d i e u n -<br />
a b h ä n g i g v o m S t a a t u n d d e r K i r c h e<br />
s i n d , dann fänden die Ideale einer freiheitlichen<br />
Geistesbeeinflussung der heranwachsenden<br />
Generationen ihre lebendige Verwirklichung,<br />
T a u s e n d e von kleinen <strong>und</strong><br />
großen Menschenkindern wären der Tretmühle<br />
langjähriger Geistesdressur entrückt;<br />
der Samen w ü r d e aufgehen für eine Gesellschaftsordnung,<br />
in der das soziale Walten in<br />
Allem der individuellen <strong>und</strong> gemeinsamen<br />
Initiative gehörte, Schönheit <strong>und</strong> Freiheit,<br />
die beflügelten Entwicklungsgefährten der<br />
Menschheit bildeten <strong>und</strong> diese die G r o ß w e r -<br />
ke ihrer neuen Kultur auf d e m F u n d a m e n t e<br />
jenes erhabenen Gedankenfluges der Herrschaftslosigkeit<br />
errichtete, dessen s o z i a l e n<br />
Ausdruck wir im W o r t e Anarchie erblicken!<br />
Pierre Ramus.<br />
Offizielles Protokoll<br />
des Internationalen Antimilitaristischen<br />
Kongresses<br />
gehalten zu Amsterdam, am 30.—31. August<br />
1907. — Übersetzt aus d e m Holländischen<br />
des freireligiösen Pastor N . J . C . S c h e r -<br />
m e r h o r n .<br />
(Fortsetzung.)<br />
D i e T a g e s o r d n u n g d e s K o n g r e s s e s<br />
1 a ii t e t :<br />
1. Das antimilitaristische Komitee von<br />
Schweden schlägt vor, das Gr<strong>und</strong>prinzip<br />
der antimilitaristischen B e w e g u n g klar darin<br />
auszudrücken, daß jede Arbeit zur Unterhaltung<br />
<strong>und</strong> Entwicklung des Militarismus<br />
absolut unzulässig ist.<br />
2. Die Kameraden Stargards schlagen<br />
vor, eine gute antimilitaristische Broschüre<br />
zu verfassen <strong>und</strong> hauptsächlich unter den<br />
jungen Leuten, die zum Militärdienst eing<br />
e z o g e n werden, zu verbreiten.<br />
3. Die revolutionären Sozialisten von<br />
Budapest wollen, daß eine internationale<br />
antimilitaristische Demonstration in allen<br />
Ländern vorbereitet u n d ein Manifest für<br />
die jungen zum Militärdienst einberufenen<br />
Leute h e r a u s g e g e b e n werde, in welchem<br />
ihnen auseinandergesetzt wird, daß sie im<br />
Falle eines Krieges oder Streiks den Gehorsam<br />
verweigern sollen.<br />
4 . Vorschläge von E r i c h M ü h s a m ,<br />
M ü n c h e n :<br />
A. Die antimilitaristische Agitation im<br />
Frieden :<br />
a) unter den Arbeitern;<br />
b) unter den S o l d a t e n ;<br />
c) unter der akademischen J u g e n d .<br />
B. Die antimilitaristische Agitation im<br />
Kriege:<br />
a) Verweigerung des Militärdienstes, Desertion<br />
usw.<br />
b) Generalstreik.<br />
C. Der Militarismus <strong>und</strong> der Individualismus.<br />
Das Sekretariat der A. I. A. (Antimilitaristische<br />
internationale Assoziation) Frankreichs<br />
wirft folgende Fragen auf:<br />
1. Welche Stellung h a b e n die Antimilitaristen<br />
in Zeiten des sozialen Friedens<br />
einzunehmen ?<br />
2. W ä h r e n d partieller Streiks?<br />
3. Im Falle eines Generalstreiks in dem<br />
Lande, wo sie l e b e n ?<br />
4. Im Falle eines Generalstreiks im<br />
benachbarten L a n d e ?<br />
5. Im Falle eines Krieges, geführt v o m<br />
eigenen L a n d e ?<br />
6. Im Falle eines Krieges zwischen<br />
zwei benachbarten L ä n d e r n ?<br />
7. Die absolute Notwendigkeit einer<br />
einheitlichen Sprache unter hauptsächlichster<br />
Berücksichtigung des Esperanto.<br />
8. Die Leitung der A. I. A.<br />
Vorschläge der antimilitaristischen Föderation<br />
H o l l a n d s :<br />
1. Notwendigkeit einer internationalen<br />
Sprache.<br />
2. O r t <strong>und</strong> Zeit des nächsten Kongresses.<br />
3. Der internationale Boykott.<br />
4. <strong>Unser</strong>e Haltung im Falle der P r o -<br />
klamierung der Gewalt.<br />
5. Innere Organisation der internationalen<br />
antimilitaristischen Föderation.<br />
Erster Tag.<br />
Domela Nieuwenhuis ersucht den b ö h -<br />
mischen Delegierten Vohryzeck das Präsidium<br />
führen zu wollen. Dieser ü b e r n i m m t<br />
es. Hierauf werden die Berichte aus den<br />
verschiedenen Ländern erstattet.<br />
Rogdaeff (Rußland) richtet im N a m e n<br />
der russischen Anarchisten einige W o r t e<br />
an den Kongreß. Die russischen Revolutionäre<br />
haben in den letzten Jahren die<br />
Macht des Militarismus eingesehen <strong>und</strong><br />
seitdem haben sich zwei S t r ö m u n g e n entwickelt:<br />
die eine will die Demokratisierung<br />
des Heeres (ein Volksheer), die a n d e r e<br />
nimmt den antimilitaristischen S t a n d p u n k t<br />
ein. Die Antimilitaristen verfügen über<br />
geringe Literatur, es sind fast ausschließlich<br />
die Schriften von Tolstoi, u. a. die Broschüre<br />
von Domela N i e u w e n h u i s : »Krieg dem<br />
Kriege«, welche verbreitet w u r d e n . D a d u r c h<br />
hat man viel P r o p a g a n d a gemacht. Es gibt<br />
Gruppen, die vorwiegend unter den Soldaten<br />
arbeiten. Als Folgen dieser P r o p a g a n d a<br />
sind die Revolten auf den Schiffen zu betrachten.<br />
In Petersburg <strong>und</strong> auch s o n s t w o<br />
haben sich antimilitaristische G r u p p e n gebildet.<br />
— Rogdaeff weist darauf hin, daß<br />
die Gefahr nicht aus d e m Osten, sondern<br />
aus dem Westen k o m m e , aus dem reaktionären<br />
Deutschland. Die deutschen Soldaten<br />
standen bereit, der russischen Regierung<br />
wo nötig, gegen das Volk beizustehen. Die<br />
antimilitaristische Agitation ist in Rußland<br />
sehr n o t w e n d i g . W a s die Anarchisten betrifft,<br />
so verbreiten sie die antimilitaristische<br />
Literatur <strong>und</strong> übersetzen zu dem Z w e c k<br />
viele Schriften aus anderen Sprachen.<br />
In Abwesenheit des Budapester Delegierten<br />
nimmt Dr. med. Friedeberg (Schweiz)<br />
das W o r t :<br />
»Der A u s g a n g s p u n k t der antimilitaristischen<br />
B e w e g u n g in der Schweiz sind die<br />
französischen Kantone, wo sich auch zuerst<br />
die freiheitlich-sozialistische B e w e g u n g regte.<br />
Die Organisationen, aus d e n e n der antimilitaristische<br />
Geist entstanden, sind: die anarchistischen<br />
G r u p p e n , die Gewerkschaften,
aber a u c h die sozialdemokratischen Vereine.<br />
D e r erste Dienstverweigerer w a r C h a r l e s<br />
N a i n e , ein Sozialdemokrat. N a c h ihm<br />
kamen eine ganze M e n g e Dienstverweigerer,<br />
etwa 7 0 ; a u ß e r d e m fand unter d e n italienischen<br />
G e n o s s e n w ä h r e n d des G e n e r a l <br />
streiks in Genf im Jahre 1903, ein allgem<br />
e i n e r Streik beim Militär statt. Naines<br />
p r o p a g a n d i s t i s c h e Arbeit in der s o z i a l d e m o <br />
kratischen Z e i t u n g »Le P e u p l e « , in der<br />
antimilitaristischen Rubrik der in L a u s a n n e<br />
e r s c h e i n e n d e n »La Voix du P e u p l e « u n d<br />
in d e m Blatte »Réveil« m u ß l o b e n d e r w ä h n t<br />
w e r d e n . Mit den französisch-schweizerischen<br />
K a m e r a d e n steht die antimilitaristische Bew<br />
e g u n g in der deutschen Schweiz auf<br />
g u t e m Fuße, obgleich sie organisatorisch<br />
nicht v e r b ü n d e t sind.<br />
Seit 1905 hat die antimilitaristische Bew<br />
e g u n g in d e r deutschen Schweiz stark<br />
z u g e n o m m e n . Das Auftreten des Militärs<br />
bei Streiks w a r die V e r a n l a s s u n g dazu.<br />
Binnen ein paar Jahren haben die Regierungen<br />
der Schweizer K a n t o n e es s o n a c h für<br />
n o t w e n d i g erachtet, bei Streiks das Miliz-<br />
Militär aufzubieten: in Genf, la C h a u x de<br />
F o n d s , Basel, Simplon, Ricken bei Rohrschach,<br />
Zürich, M o n t r e u x , St. Moritz u n d Hochdorf.<br />
Dieser U m s t a n d öffnete den Arbeitern die<br />
A u g e n <strong>und</strong> erweckte antimilitaristische, antistaatliche<br />
u n d antipatriotische G e d a n k e n<br />
bei den A n h ä n g e r n jeder politischen Richt<br />
u n g u n d s c h l a n g ein Band um alle. Darauf<br />
entstand auch die revolutionäre Agitation<br />
bei den G e w e r k v e r e i n e n . Im Herbst 1905<br />
w u r d e in Zürich ein antimilitaristischer<br />
Verein g e g r ü n d e t . Dies geschah, weil die<br />
B e s p r e c h u n g d e r direkten Aktion viele auf<br />
die N o t w e n d i g k e i t aufmerksam machte, den<br />
b e s t e h e n d e n militärischen Geist zu bekämpfen<br />
— auch im Volksheer, welches<br />
die Arbeiter endlich auch als den Hüter<br />
des Kapitals zu betrachten lernten.<br />
Gleich nach d e . - G r ü n d u n g d ;<br />
e s e s Vereins<br />
in Zürich w u r d e auch der Schweizer antimilitaristische<br />
Verein g e g r ü n d e t . Die französischen<br />
u n d die italienisch-schweizerischen<br />
K a m e r a d e n hatten die Initiative dazu s c h o n<br />
ergriffen u n d die F ü h r u n g hatten C h a r l e s<br />
N a i n e u n d L u i g i B e r t o n i . I m O k t o b e r<br />
1905 kam die Organisation in Luzern zustande,<br />
mit der Absicht: »das Bestreben<br />
zur Abschaffung d e s Heeres mit allen zweckdienlichen<br />
Mitteln«. D e r Verein w u r d e sow<br />
o h l von der Bourgeoispresse wie auch<br />
von den Sozialdemokraten bekämpft.<br />
D e r B u n d e s r a t verordnete, d a ß alle<br />
F r e m d e n , die sich an der antimilitaristischen<br />
P r o p a g a n d a beteiligten, a u s d e m Lande<br />
a u s g e w i e s e n w e r d e n sollten. M e h r e r e wurden<br />
das Opfer dieser V e r o r d n u n g . Deshalb<br />
w u r d e aus d e m Vereine eine g e h e i m e Organisation<br />
gemacht, u n d die Verzeichnisse<br />
der Mitglieder w u r d e n vernichtet.<br />
F o l g e n d e P r o p a g a n d a b r o s c h ü r e n wurden<br />
verbreitet:<br />
»Ch. Naines Verteidigungsrede« (10.000<br />
Exemplare).<br />
»Das Volksheer (Miliz) als W a c h t h u n d<br />
des Kapitals« (6.000 Exemplare).<br />
»Heer u n d Streiks«.<br />
»Das E n d e rückt heran«, von Tolstoi.<br />
»Verteidigungsrede d e s g e w e s e n e n Korporals<br />
J a q u e s Schmid«.<br />
Antimilitaristische Lieder.<br />
Auf d e m sozialdemokratischen Parteitag<br />
in der Schweiz im Jahre 1906 w u r d e<br />
z w a r die N o t w e n d i g k e i t der Landesverteid<br />
i g u n g a n g e n o m m e n , a b e r d e n n o c h von<br />
den Antimilitaristen ein halber Sieg erfochten,<br />
i n d e m der Parteitag erklärte, d a ß man d u r c h<br />
n i c h t p a r l a m e n t a r i s t i s c h e Agitation<br />
g e g e n den Militarismus v o r g e h e n müsse.<br />
D e n n o c h setzte der antimilitaristische<br />
Verein die antipatriotische P r o p a g a n d a eifrig<br />
fort. Das v o n Arbeitern redigierte antimilitaristische<br />
O r g a n »Vorposten«, wird viel<br />
u n d gern gelesen (monatlich 3000 — 6000<br />
E x e m p l a r e ) u n d bespricht auch Fragen der<br />
G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g .<br />
Der antimilitaristische Verein empfängt<br />
regelmäßig G e l d b e i t r ä g e von den besten<br />
Gewerkschaften u n d a u c h von einigen extrem<br />
links s t e h e n d e n , n o c h revolutionären<br />
sozialdemokratischen O r g a n i s a t i o n e n .<br />
Im S o m m e r 1906 w u r d e n gelegentlich<br />
eines Streiks der Metallarbeiter viele M ä n n e r<br />
<strong>und</strong> F r a u e n v o m Militär gemißhandelt. Damals<br />
forderte H a n s S i g g die Soldaten<br />
auf, zu streiken. Er bekam dafür 8 M o n a t e<br />
Gefängnisstrafe. — Vor kurzem w u r d e das<br />
Buch v o n H e r v é u n t e r d e m Titel »Das<br />
Vaterland der Reichen« in 5000 Exemplaren<br />
h e r a u s g e g e b e n . F r i e d e b e r g war der Übersetzer<br />
u n d w u r d e deshalb des H o c h v e r r a t s<br />
beschuldigt*. Die sozialdemokratische Parteileitung<br />
sucht stets der antimilitaristischen<br />
P r o p a g a n d a e n t g e g e n zuarbeiten. Auf dem<br />
letzten Kantonparteitag machte sie den Antrag,<br />
den Verkauf antimilitaristischer Schriften<br />
in ihren O r g a n i s a t i o n e n zu verbieten.<br />
(Mit einer S t i m m e n m e h r h e i t von 80 gegen<br />
60 a n g e n o m m e n ) . D e n n o c h wird der Verkauf<br />
g e h e i m u n d öffentlich fortgesetzt.<br />
F ü r w a s wir P r o p a g a n d a m a c h e n ?<br />
Dafür, d a ß die A r m e e der W ä c h t e r des<br />
Kapitals ist; daß die Kriege aus G e w i n n s u c h t<br />
u n t e r n o m m e n w e r d e n ; daß ein w a h r e r<br />
M e n s c h sich nicht g e g e n seine Arbeiterk<br />
a m e r a d e n w e n d e n darf. Es liegt ein Reg<br />
i e r u n g s a n t r a g bereit, um die antimilitaristische<br />
P r o p a g a n d a zu bestrafen. D e n n o c h<br />
fürchten wir nicht für die antimilitaristische<br />
Agitation, die in der Schweiz s c h o n sehr<br />
b e d e u t e n d ist!<br />
Nach Verlesung dieses Berichtes bittet Pierre<br />
Ramus zur Geschäftsordnung um das Wort <strong>und</strong><br />
stellt den Antrag, daß das Protokoll des Kongresses<br />
in 4 Sprachen, Französisch, Deutsch, Englisch <strong>und</strong><br />
Esperanto aufgenommen <strong>und</strong> herausgegeben werden<br />
soll. Der Antrag wird durch Akklamation angenommen.<br />
C . t e n W o l d e ( H o l l a n d ) : »Als die<br />
Kongreßmitglieder im Jahre 1906 n a c h h a u s e<br />
gingen, taten sie dies n u r unter der L o s u n g :<br />
Kein M a n n u n d kein Pfennig d e m Militar<br />
i s m u s ! Es bestand der Vorsatz, unter den<br />
revolutionären Arbeitern antimilitaristische<br />
G r u p p e n zu bilden. D e r holländische Verein<br />
w u r d e im N o v e m b e r 1903 zu Zwolle gegründet.<br />
Es w u r d e festgesetzt, d a ß derselbe<br />
aus G r u p p e n bestehen sollte u n d daß auch<br />
a n d e r e Vereine sich anschließen k ö n n t e n .<br />
Später w u r d e in Arnhain ein nationaler<br />
K o n g r e ß abgehalten <strong>und</strong> darauf einer in<br />
Utrecht, w o hauptsächlich Vorschläge über<br />
die P r o p a g a n d a behandelt w u r d e n . D e r antimilitaristische<br />
Verein in Holland hat auch<br />
an d e m internationalen Protest g e g e n den<br />
russisch-japanischen Krieg mit voller Kraft<br />
t e i l g e n o m m e n . Es w u r d e s o w o h l mit Worten,<br />
als mit Schriften eine kräftige Propag<br />
a n d a geführt. Die B e w e g u n g w u r d e stark<br />
angefeindet, s o w o h l von der sozialdemokratischen<br />
Arbeiterpartei, als von d e r Bourgeoisie.<br />
Die sozialdemokratische Arbeiterpartei<br />
schloß alle die, die Mitglieder eines<br />
antimilitaristischen Vereines w u r d e n , aus<br />
ihren Reihen aus. D e r antimilitaristische<br />
Verein zählt unter seinen propagandistischen<br />
A u s g a b e n ein Manifest g e g e n den russischjapanischen<br />
Krieg (100.000 Exemplare), einen<br />
Protest g e g e n den Krieg ü b e r h a u p t u n d<br />
speziell d e n Atjehkrieg (50.000 Exemplare)<br />
u n d eine B r o s c h ü r e »An die Mütter« infolge<br />
eines Beschlusses im internationalen Kong<br />
r e ß h e r a u s g e g e b e n (10.000 Exemplare).<br />
In Holland h a b e n sich m e h r e r e Dienstverweigerungsfälle<br />
ereignet, w e l c h e den<br />
Anlaß z u r H e r a u s g a b e einiger Schriften<br />
boten (zweimal in je 10.000 Exemplaren).<br />
N e b e n der Miliz besteht in Holland auch<br />
eine f r e i w i l l i g e Heeresorganisation. U m<br />
die Eltern v o r derselben zu w a r n e n u n d<br />
* Bekanntlich wurde erfreulicherweise die<br />
Anklage fallen gelassen. Anm. d. Red.<br />
um a b e r ihren w a h r e n Z w e c k aufzudecken,<br />
h a b e n die Antimilitaristen eine Broschüre<br />
h e r a u s g e g e b e n : »Die holländische Regierung<br />
als Seelenverkäuferin« (20.000 Exemplarei<br />
— (später mit a n d e r e m Titel: »Ein Hurrah<br />
für die königliche Marine« (25.000 Exemplare).<br />
Weiter g a b der Verein die B r o s c h ü r e :<br />
»Antimilitarismus u n d Gewerkschaftsagitation«<br />
heraus (5.000 E x e m p l a r e ) ; auch eine<br />
Broschüre, w o r i n die G r u n d s ä t z e des Vereines<br />
a u s e i n a n d e r g e s e t z t w u r d e n (selbe fand<br />
nur geringen Abgang) u n d ein Soldatenalmanach<br />
(jährlich 5.000 Exemplare). Es<br />
w u r d e n auch noch a n d e r e antimilitaristische<br />
Schriften h e r a u s g e g e b e n , wie die Monatsschrift<br />
»Die Waffen n i e d e r « ! (in 4 — 5.000<br />
E x e m p l a r e n u n d in Sonderfällen in g r ö ß e r e r<br />
Anzahl).<br />
D e r antimilitaristische Verein beschloß<br />
auch zu einem Protest g e g en die Athjeh-<br />
Greuel Stellung zu n e h m e n . Hieraus w u r d e<br />
a b e r nicht viel. Der Protest g e g e n die<br />
Friedenskonferenz der Regierungen hatte<br />
hingegen einen s c h ö n e n Erfolg zu verzeichnen.<br />
Die Agitation g e g e n die Greueltaten in<br />
Atjeh wird w i e d e r a u f g e n o m m e n w e r d e n .<br />
So entsteht in Holland eine prinzipielle<br />
Antipathie g e g e n das Heer. Im Jahre 1903<br />
b e g r ü ß t e n die Matrosen eines Kriegsschiffes<br />
das v o r ü b e r f a h r e n d e Boot der Streikkommission<br />
mit einem H u r r a h . Und vor kurzem<br />
bei e i n e m Streik im Rotterdamer Hafen<br />
fragte der Kapitän des »Piet Nein« die<br />
Matrosen, ob sie auf Streiker feuern w ü r d e n .<br />
Einstimmig lautete die A n t w o r t : » N e i n « !<br />
Auch die Dienstverweigerer haben eine<br />
kräftige P r o p a g a n d a g e m a c h t (zwei sind<br />
n o c h im Gefängnis).<br />
Eine Folge der antimilitaristischen Propag<br />
a n d a ist es auch, d a ß bei einem kleinen Feste<br />
ein Unteroffizier bei A b w e s e n h e i t der Vorgesetzten<br />
eine Rede hielt g e g e n die Gefangenh<br />
a l t u n g d e s Dienstverweigerers Garter.<br />
Die Ansicht bricht sich Bahn, daß die<br />
Arbeiter im Arbeitskittel <strong>und</strong> die in der<br />
Uniform solidarisch v e r b r ü d e r t n e b e n einander<br />
einherziehen m ü s s e n .<br />
A u ß e r d e m m u ß auch noch der christliche<br />
A n a r c h i s m u s e r w ä h n t w e r d e n , der<br />
auch Dienstverweigerer lieferte <strong>und</strong> kräftig<br />
mitwirkte an der Verbreitung des Antimilitarismus.<br />
K o l t h e k , Redakteur von »Recht vor<br />
Allem« (Holland) fügt n o c h hinzu, d a ß<br />
auf d e m Arnheimer K o n g r e ß beschlossen<br />
w u r d e , den Verein rein revolutionär zu<br />
führen; deshalb w u r d e der Beschluß des<br />
Zwoller K o n g r e s s e s annulliert, w o b e i G e <br />
werkvereine zugelassen w u r d e n . Dies geschah,<br />
weil in d e n Gewerkschaften auch<br />
nichtrevolutionäre Leute sind.<br />
D a ß der antimilitaristische Verein Erfolge<br />
zu verzeichnen hat, erhellt wohl am<br />
besten aus d e n militärischen Blättern Hollands,<br />
die ihn e i n g e h e n d besprachen. Der<br />
Antimilitarismus wirkt s c h o n bis in das<br />
Heer. Es ist bei u n s um die u n b e d i n g t e<br />
U n t e r w e r f u n g g e s c h e h e n . W e n n man die<br />
Zügel zu straff anzieht, entsteht Widerstand.<br />
Hat m a n d o c h in Zütfen das Desertieren<br />
von 50 H u s a r e n zu verzeichnen. Als sie<br />
zurückkehrten, jauchzte man ihnen zu.<br />
Von einem Schiffe der königlich-holländischen<br />
Marine desertierten auf einer Reise<br />
nach Amerika 25 Matrosen. Z u m a l der Sold<br />
a t e n a l m a n a c h ist in h ö h e r e n Militärkreisen<br />
sehr verhaßt. W e n n ein Soldat einen Almanach<br />
bei sich hat, wird gleich eine allgemeine<br />
U n t e r s u c h u n g g e h a l t e n . Der antimilitaristische<br />
Verein ist der revolutionärste Verein in<br />
Holland, welcher am wenigsten bourgeoise<br />
E l e m e n t e umfaßt.<br />
Auf Antrag von C. ten W o l d e <strong>und</strong> Friedeb<br />
e r g spricht der K o n g r e ß d u r c h Aufstehen<br />
seine Sympathie mit allen, sich im Gefängnis<br />
befindenden Dienstverweigerern aller Länder<br />
aus. (Fortsetzung folgt.)<br />
Verantwortlicher Redakteur Jos. Šindelář (Wien). — Herausgeber Jul. Ehinger (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.
Wien, 15. März 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 6.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Fockygasse 27,<br />
Ii/17. — Gelder sind zu senden an<br />
W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />
5, HL/27.<br />
Pr. XXXV 59/8<br />
3<br />
Im Namen Sr. Majestät des Kaisers!<br />
Das k. k. Landesgericht Wien als Preßgericht<br />
hat auf Antrag der k. k. Staatsanwaltschaft erkannt,<br />
daß der Inhalt der Nummer 5 der periodischen<br />
Druckschrift „Wohlstand für Alle", Jahrgang I, vom<br />
1. März 1908 durch die Stellen:<br />
1. in dem Artikel „Die Prinzipien unseres Kampfes"<br />
auf Seite 1<br />
a) von „Erfolgreich bekämpft'' bis „mehr huldigen"<br />
;<br />
b) von „Schon in den" bis „Freiheit folgen!"<br />
2. in dem Artikel „Zwei Klopffechter" auf Seite<br />
1 <strong>und</strong> 2<br />
a) von „<strong>und</strong> wollen" bis „sehen will";<br />
b) von „Die Anarchisten" bis „Autoritätslosigkeit".<br />
3. in dem Artikel „Funken vom Amboß der<br />
Anarchie" auf Seite 2 <strong>und</strong> 3<br />
Schön jetzt ist d e r F r ü h l i n g , die E r d e blickt<br />
s e h n e n d<br />
Mit Augen d e r Liebe z u r S o n n e e m p o r ;<br />
Lang w ä h r e t d a s T a g l i c h t , von Hoffen umhüllet<br />
Grünt k e i m e n d e S a a t a u s d e m A c k e r h e r v o r .<br />
Süß, süß ist es jetzt d u r c h d i e L a n d e zu streifen,<br />
Zwischen Blumen u n d T i e r e n im F e l d e so w e i t ;<br />
Liebe eint sich mit Liebe, <strong>und</strong> B ö s e s b e l a s t e t<br />
W e d e r dein Herz noch m e i n e s von Kummer<br />
befreit.<br />
Von Ortschaft zu Ortschaft, ü b e r Hügel <strong>und</strong><br />
W i e s e n ,<br />
Sind weit wir g e w a n d e r t , <strong>und</strong> l a n g w a r<br />
d e r W e g ,<br />
Doch jetzt kommt d e r A b e n d am E n d e<br />
d e s Dorfes,<br />
Wo die Kirche h e r v o r r a g t a u s g r a u e m<br />
G e h e g .<br />
Es ist W i n d in dem Zwielicht, in d e r<br />
S t r a ß e d o r t vor u n s<br />
Weht w i r b e l n d d a s Stroh a u s d e n Ställen<br />
d a h e r ;<br />
Der Mond ist im Aufgeh'n, ein Stern<br />
g l i t z e r t d r o b e n ,<br />
Und am T u r m e die F a h n e s c h w a n k t l a n g -<br />
sam <strong>und</strong> s c h w e r .<br />
Dort senkt sich die S t r a ß e z u r B r ü c k e<br />
h i n u n t e r ,<br />
Der T h e m s ' <strong>und</strong> dem Meer fließt d e r<br />
kleine Bach z u ;<br />
Komm' n ä h e r mein Lieb, h e u t e A b e n d , du<br />
S ü ß e !<br />
Mir <strong>und</strong> der F r e u d e g e g e b e n bist du.<br />
W e r d e n immer wir froh s e i n ? Komm' n ä h e r<br />
<strong>und</strong> h o r c h e :<br />
Drei Felder noch weiter, v e r s c h w o m m e n<br />
<strong>und</strong> matt,<br />
Wenn d e r Neumond nicht scheint, <strong>und</strong><br />
d e r Märzhimmel dunkelt,<br />
Erblickt man vom Hügel die Lichter d e r<br />
S t a d t .<br />
Horch! d e r W i n d in den Ulmen! von<br />
London her w e h e t ,<br />
Von Gold <strong>und</strong> von U n r a s t <strong>und</strong> Hoffnung<br />
er spricht,<br />
Von Macht, die nicht hilft, von W e i s h e i t<br />
<strong>und</strong> W i s s e n ,<br />
Doch w a s g u t <strong>und</strong> w a s b ö s e , d a s lehren<br />
sie nicht.<br />
Von den Reichen er s p r i c h t , die s e l t s a m e<br />
K<strong>und</strong>e,<br />
Wie sie h a b e n <strong>und</strong> g e i t z e n <strong>und</strong> greifen<br />
nach m e h r ;<br />
Und sie leben <strong>und</strong> s t e r b e n , u n d die S c h ö n -<br />
heit d e r E r d e<br />
W a r nur eine B ü r d e , die lastete! s c h w e r .<br />
,,In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />
a) von „Der Anarchismus" bis „des Aberglaubens"<br />
;<br />
b) von „Und für uns" bis „Gesellschaftsprinzips<br />
ist";<br />
c) von „indem wir sie" bis „Füßen tritt";<br />
d) von „Das ist" bis „Odem einhaucht";<br />
e) von „auf dem F<strong>und</strong>amente" bis „Anarchie<br />
erblicken".<br />
4. in dem Artikel „Aus der Internationale des<br />
revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus"<br />
im Beiblatt des „Wohlstand für Alle"<br />
a) von „Die Herren" bis „es verhindern"<br />
b) von „Da die allgütige" bis „führen wird";<br />
c) von „Zur Tat" bis „Helden verherrlicht!".<br />
5. in dem Artikel „Nietzsche über den Staat"<br />
in demselben Beiblatte<br />
a) von „denn hatte" bis „Erkennens versetzen";<br />
b) von „Der T o d " bis „Herrschsucht ist";<br />
c) von „Der Staat" bis „Kasten erlöst"<br />
das Vergehen nach §§ 300, 302 <strong>und</strong> 305 St.-G.<br />
begründe, <strong>und</strong> es wird nach § 493 St.-P.-O. das<br />
Die Botschaft des Märzwindes.<br />
(Übersetzt aus dem Englischen von L i l l y N a d l e r - N u e l l e n s . )<br />
H o r c h ! d e r Märzwind w i e d e r von Menschen<br />
e r z ä h l e t ,<br />
Wie sie d o r t leben in Elend u n d Not,<br />
D a ß w e n n wir, u n s ' r e Lieb, z w i s c h e n ihnen<br />
g e w e i l e t ,<br />
War* verblüht d e i n e Schönheit, mein Lieben<br />
w a r ' tot.<br />
Dies Land, d a s wir Hebten, in Liebe <strong>und</strong><br />
Muße,<br />
Für sie h ä n g t im Himmel, sie e r r e i c h e n es nie,<br />
Die Hügel am Meer sind für sie o h n e<br />
F r e u d e ,<br />
D a s Heim i h r e r Väter o h n ' E r i n n e r u n g für sie.<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2'40;<br />
halbjährig K 1-20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3-50, halbjährig Fr. 175, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
Verbot der Weiterverbreitung dieser Druckschrif<br />
ausgesprochen, die von der k. k. Staatsanwaltschaft<br />
verfügte Beschlagnahme nach § 489 St.-P.-O. bestätigt<br />
<strong>und</strong> nach § 37 Pr.-G. auf die Vernichtung<br />
der saisierten Exemplare erkannt.<br />
G r ü n d e :<br />
In den beanständeten Stellen der obzitierten<br />
Artikel wird durch Schmähungen, unwahre Angaben<br />
<strong>und</strong> Entstellung von Tatsachen zum Hasse <strong>und</strong> zur<br />
Verachtung gegen Staatsbehörden herabzuwürdigen<br />
gesucht, zu durch die Gesetze verbotene Handlungen<br />
aufgefordert <strong>und</strong> werden dieselben angepriesen;<br />
weiters werden Andere zu Feindseligkeiten<br />
wider einzelne Klassen <strong>und</strong> Stände der bürgerlichen<br />
Gesellschaft aufgefordert, angeeifert oder zu verleiten<br />
gesucht <strong>und</strong> es erscheint demnach der Inhalt<br />
dieser Stellen geeignet, den Tatbestand des Vergehens<br />
nach §§ 300 <strong>und</strong> 305 St.-G. zu begründen.<br />
Wien, am 3. März 1908.<br />
Unterschrift unleserlich.<br />
W o h l h a b e n die S ä n g e r g e s u n g e n , die Meister<br />
Und Maler d e r S c h ö n h e i t Gebilde e r d a c h t ;<br />
Doch für w a s <strong>und</strong> für w e n ist d a s W e l t e n b u c h<br />
s t r a h l e n d ,<br />
W e n n für j e n e ist alles n u r Dunkel d e r N a c h t ?<br />
W i e l a n g , u n d für w a s noch g e d u l d i g sie w a r t e n ?<br />
W i e oft <strong>und</strong> wie oft noch e r z ä h l t m a n ihr Leid,<br />
W ä h r e n d Hoffnung, v e r b o r g e n , in Dunkel sich<br />
hüllet,<br />
Und in Gram <strong>und</strong> in K u m m e r v e r g e h e t die Z e i t ?<br />
Komm* zur H e r b e r g ' zurück, Lieb, zum T a n z e n<br />
<strong>und</strong> G e i g e n ,<br />
Zum Licht u n d d e s F e u e r s h e l l e u c h t e n d e m<br />
S c h e i n ;<br />
"~~ D o r t in e i n e r W e i l e k o m m t R u h ' d a n n u n d<br />
S e h n e n ,<br />
Und s ü ß d a s E r w a c h e n a m M o r g e n w i r d sein.<br />
D e n n o c h Lieb, wie wir g e h ' n , w e h t d e r<br />
W i n d u n s im R ü c k e n ,<br />
Und zum letztenmal jetzt von d e r Zukunft<br />
er s p r i c h t ,<br />
W i e hier einst im F r ü h l i n g die Botschaft<br />
u n s f i n d e t ;<br />
Denn die Hoffnung, v e r b o r g e n , e r s t e h e t<br />
zum Licht.<br />
W i e im W i n t e r d a s Korn, u n b e m e r k t , doch<br />
voll L e b e n ,<br />
Wie d e s H e r b s t e s S a a t g r ü n t u n t e r S c h n e e -<br />
s t ü r m e W e h ' n ,<br />
W i e die Lieb u n s ereilt', nicht g e h e g t ,<br />
u n v e r m u t e t ,<br />
Wie u n t e r d e m Herzen w ä c h s t d e i n Kind<br />
u n g e s e h ' n .<br />
So die Hoffnung d e s Volkes j e t z t k n o s p e t<br />
u n d w a c h s e t ,<br />
Vor ihr s c h w i n d e t Angst, d u m p f e Blindheit<br />
<strong>und</strong> Ruh',<br />
Sie e r m a h n e t u n s all i h r e W e i s h e i t zu<br />
l e r n e n ,<br />
Sie fand uns <strong>und</strong> hält u n s <strong>und</strong> rufet u n s z u :<br />
Denn sie b r i n g t u n s die Botschaft: „ E r h e b t<br />
euch am M o r g e n<br />
Und g e h t e u ' r e W e g e d u r c h Zweifel <strong>und</strong><br />
S t r e i t ;<br />
E u e r Hoffen u n d Leiden mit u n s r e m v e r -<br />
einet,<br />
Sucht Liebe der M e n s c h e n in d e r flüchtigen<br />
Zeit".<br />
Doch s i e h e ! die H e r b e r g ´ u n d d a s T a n z e n<br />
<strong>und</strong> G e i g e n ,<br />
D a s Licht <strong>und</strong> d e s F e u e r s h e l l e u c h t e n d e n<br />
S c h e i n ;<br />
Dort in einer W e i l e kommt Ruh' d a n n <strong>und</strong><br />
S e h n e n ,<br />
Und s ü ß d a s E r w a c h e n z u T a t e n w i r d sein.<br />
William Morris.
Märzstürme der Revolution.<br />
„Raum! Raum! brich Bahnen, wilde Brust!<br />
Ich fühl's <strong>und</strong> staune jede Nacht,<br />
Daß nicht blos Eine Sonne lacht;<br />
Das Leben ist des Lebens Lust!<br />
Hinein, hinein mit blinden Händen,<br />
Du hast noch nie das <strong>Ziel</strong> gewußt;<br />
Zehntausend Sterne aller Enden,<br />
Zehntausend Sonnen steh'n <strong>und</strong> spenden<br />
Uns ihre Strahlen in die Brust!"<br />
(Richard Dehmel „Drei Ringe.")<br />
Wie ein Jubelruf des Lebens, ausgestoßen<br />
von höchster <strong>und</strong> erhabenster W a r t e ;<br />
wie ein klingendes Echo, das von Berggipfeln<br />
zu Bergesgipfeln überspringt; wie die<br />
g r o ß e Offenbarung der ersten Liebestat des<br />
physisch <strong>und</strong> geistig vollentwickelten Menschen<br />
— so tritt die Revolution im Leben<br />
der Völker, der Oesamtmenschheit auf. In<br />
ihr lebt die Freude des erwachten Selbstgefühls,<br />
lodert die Begeisterung ob klarster<br />
Erkenntnis <strong>und</strong> u n g e s t ü m - b e s o n n e n e r G e -<br />
staltungskraft, <strong>und</strong> in der Revolution erblicken<br />
wir die Übereinstimmung, das Ineinanderaufgehen<br />
<strong>und</strong> Überklingen aller G e -<br />
fühle, Leidenschaftstriebe, Geistesträume <strong>und</strong><br />
des ahnungsvollen, idealistischen Strebens<br />
der Menschheit. Sie stellt das Erwachen<br />
dar, ist eine E p o c h e der Reife der individuellen<br />
wie gesellschaftlichen Konstitution.<br />
Solange uns die Geschichte ein Bild<br />
der Versklavung des Menschen durch den<br />
Menschen <strong>und</strong> der Unterjochung ganzer<br />
Völker durch die Unwissenheit, den Knechtessinn<br />
eines Teiles dieser Völker aufweist,<br />
die sich als willfährige W e r k z e u g e der G e -<br />
lüste eines vergewaltigenden militärischen<br />
Despotismus gebrauchen ließen, wird die<br />
Revolution im Geistesleben der nach Freiheit<br />
ringenden Menschen nie anders auftreten<br />
denn als B e f r e i e r i n . Trotz ihrer<br />
Fehler, die sie beging, trotz ihres Schuldregisters-<br />
<strong>und</strong> Verbrechens, das an ihr haftet<br />
<strong>und</strong> ihre bisherige U n z u l ä n g l i c h k e i t<br />
ist, trotz alledem, was die neunmal Weisen<br />
<strong>und</strong> Gelehrten wider sie vorbringen m ö g e n :<br />
lasset die Menschheit unfrei sein; knechtet<br />
d e n Sklaven nach wie vor, <strong>und</strong> k o m m e n<br />
wird der Tag, da er zu seines M e n s c h t u m s<br />
W ü r d e erwacht. D a s a b e r u n d n i c h t s<br />
a n d e r e s i s t d a n n d i e R e v o l u t i o n .<br />
Sie ist der klare Ausdruck des sozialen<br />
Gefühls der Massen <strong>und</strong> — ungleich anderen<br />
historischen Epochen — des ehernen<br />
Entschlusses, dieser Erkenntnis <strong>und</strong> Empfind<br />
u n g zum D u r c h b r u c h zu verhelfen.<br />
W e n n die Herrschenden es stets begriffen<br />
hätten, w a n n ihres Herrschtums Totenglöcklein<br />
erklang, die Revolutionen der Vergangenheit<br />
hätten einen ganz anderen Verlauf gen<br />
o m m e n , als es der Fall für beide Kämpfer<br />
gewesen, für die Unterdrückten <strong>und</strong> die<br />
Unterdrücker. Es ist für den in ganz anderen<br />
sozialen Regionen Lebenden schwer,<br />
es zu begreifen, w e n n die da unten, im Schöße<br />
der Gesellschaft, dort wo das Leben wirklich<br />
lebt <strong>und</strong> vergeht, wo die Lohe einer<br />
Feuerglut des Schaffens <strong>und</strong> Vernichtens<br />
mit prasselndem Lärm das ganze Tun <strong>und</strong><br />
Treiben der M e n s c h e n bedeckt, für die all<br />
diesem Entrückten <strong>und</strong> im G e w o h n h e i t s -<br />
schlendrian Lebenden ist es immer schwer,<br />
zu begreifen, daß diese w i m m e l n d e Masse<br />
da unten, nach langem Tasten <strong>und</strong> Fühlen,<br />
sich zu neuen L e b e n s a n s c h a u u n g e n durchgerungen,<br />
d e m Bann des Religionsglaubens,<br />
der Gesetzesvorschrift, d e m Z w a n g e auf<br />
diesem oder j e n e m Gebiet entwachsen ist,<br />
<strong>und</strong> es nun gilt, sich dieser k o n s e q u e n t<br />
herbeigeführten Umgestaltung zu fügen.<br />
Die Herrschaft ist an das Gebieten gewöhnt,<br />
nicht an das G e h o r c h e n . Und sie begreift<br />
nicht, daß sie dann mit ihrem einsetzenden<br />
Widerstande sich g e g e n ein Naturgesetz<br />
des Lebens vergeht, daß sie den freien<br />
Entwicklungsgang vielmillionenfachen Lebens<br />
hemmt, <strong>und</strong> unmöglich siegreich sein<br />
kann in diesen verblendeten Versuchen.<br />
Weil d a n n auf einmal alles bisher Friedliche<br />
das Kampfgerüstete <strong>und</strong> Kämpfende,<br />
Wehrhafte aus sich herausgebärt — die<br />
Revolution tritt auf, sie, die Göttin der Befreiung,<br />
die w e h e n d e n Lockenhaares zur<br />
Freiheit geleitet;die Herrschaft hat noch niemals<br />
verstanden, daß es ein völliges Niederwerfen<br />
dieser erwachten Volkskraft- <strong>und</strong><br />
Macht eben das ist die Revolution —<br />
nicht gibt, nicht g e b e n kann.<br />
Keine Revolution war noch vollständig<br />
vergebens, jede Revolution hat noch stets<br />
g e w i s s e Fortschritte erzielt, einige Hindernisse<br />
für das weitere W e r d e n der sozialen<br />
Institutionen ü b e r w u n d e n . Gewiß, gerade<br />
die Revolutionen des Februars in Paris,<br />
des 13. März in Wien, des 18. März in<br />
Berlin haben uns, den anarchistischen Sozialisten<br />
gelehrt, wie die Revolution nicht<br />
kämpfen soll, w e n n sie in Wahrheit siegen<br />
<strong>und</strong> nicht wie eine schöne Maid von dem<br />
alles versprechenden, unaufrichtigen, bourgeoisen<br />
Verführer vergewaltigt u n d in ihren<br />
Hoffnungen nachträglich getäuscht, werden<br />
will. Allerdings: sowohl die Strategie des<br />
Kampfes, wie auch die <strong>Ziel</strong>e dieses machtvollen<br />
gigantischen Ringens — beide haben<br />
sich verändert. Aber sich gleich ist d e n n o c h<br />
eines geblieben: Das g r o ß e geschichtliche<br />
Moment, daß jedes Stück Befreiung e r -<br />
k ä m p f t w e r d e n muß, daß die Revolution<br />
es noch stets war, die die Nabelschnur<br />
durchschnitt, die das organisch G e w o r d e n e<br />
noch mit d e m verwesenden alten Gesellschaftskörper<br />
verband <strong>und</strong> daß nur die Revolution<br />
es g e w e s e n , die das, was die<br />
Menschheit längst an innerster Ü b e r z e u g u n g<br />
mit sich herumtrug, mit blitzesrascher<br />
Plötzlichkeit zur Reife, zur Vollendung <strong>und</strong><br />
trefflicher Verwirklichung gelangen ließ.<br />
Und in all den Niederschlägen, die die<br />
Revolution erlitt, in all den kolossalen<br />
Opfern, die für der Menschheit weitere<br />
Kulturschritte gebracht werden mußten, ist<br />
gerade das unverkennbar deutlich, daß auch<br />
die Revolution n e b e n vielen Verlusten <strong>und</strong><br />
Rückschlägen sich d e n n o c h immer klarer<br />
gestaltete <strong>und</strong> in ihren sozialen Bestrebungen<br />
immer weiter vordrang, bis knapp vor<br />
eine e r h a b e n e Etappe im Emanzipationskampf<br />
des Proletariats, die Etappe d e s 18.<br />
März 1871, der uns die Proklamation der<br />
unvergänglichen P a r i s e r K o m m u n e<br />
brachte.<br />
Die meisten, die vor uns gingen, die<br />
des »tollen Jahres« Achtzehnh<strong>und</strong>ertvierzig<strong>und</strong>acht<br />
aber fast durch die Bank, waren<br />
Schwärmer, soweit sie w a h r e Idealisten<br />
o d e r aber Reaktionäre, sobald sie den echten<br />
W e g der ganzen Revolutionstätigkeit<br />
voraussahen <strong>und</strong> deshalb fürchteten. Wir<br />
sind heute keine S c h w ä r m e r mehr, sondern<br />
M ä n n e r u n d Frauen, ein Proletariat, das<br />
da getragen wird von der Begeisterung<br />
für ein klar g e s c h a u t e s <strong>Ziel</strong>. Schwärmerei<br />
<strong>und</strong> Begeisterung sind gr<strong>und</strong>verschiedene<br />
Sachen. W a s zählten ein einzelner Blanqui,<br />
ein Bakunin, ein P r o u d h o n , diese aktiven Mitkämpfer<br />
der Revolution g e g e n ü b e r der riesigen<br />
Masse eines u n w i s s e n d e n Proletariats,<br />
das s e m e Haut zu Markte trug für rein<br />
bürgerliche Z w e c k e , weit strenger als selbst<br />
die Machthaber die Heiligkeit des Eigentums<br />
verkündete <strong>und</strong> das glaubte, w e n n<br />
es die Person Metternichs stürzte, es damit<br />
ein System g e ä n d e r t hatte; einen Irrtum,<br />
den Windischgrätz allerdings durch blutige<br />
Reaktionsmaßregel noch vor E n d e desselben<br />
Jahres korrigierte. Darin ist ja g e r a d e der<br />
g r o ß e Unterschied zwischen uns <strong>und</strong> den<br />
ganzen Acht<strong>und</strong>vierzigern gelegen, der uns<br />
auch so sehr von ihnen trennt, daß w e n n<br />
L ö h n er, einer der ihren in der medizinischen<br />
Fakultät a n n o 1848 erklärte, »daß es<br />
sich darum handelt, eine p o l i t i s c h e Revolution<br />
durchzuführen, d a m i t m a n d e r<br />
s o z i a l e n v o r b e u g t « , wir dann laut ver-<br />
k ü n d e n : G e r a d e darum handelt es sich nicht<br />
für uns, d e n n für u n s entfließt nur der<br />
s o z i a l e n Revolution die wahre politische<br />
Freiheit! Und w e n n wir dies heute sagen,<br />
sind <strong>und</strong> stehen wir nicht m e h r allein. Die<br />
Revolution ist auf ein h ö h e r e s Niveau gestiegen,<br />
h u n d e r t t a u s e n d e starke Arme tragen<br />
sie in allen Ländern d e r Pseudokultur<br />
unserer Zeit, kurz, die Erkenntnis, daß es<br />
sich vor allem um die s o z i a l e Befreiung<br />
handelt, sie die politische g a n z selbstverständlich<br />
ergibt, wird mit j e d e m T a g e mehr<br />
das geistige G e m e i n g u t d e s Proletariats internationaler<br />
R<strong>und</strong>e.<br />
Der Monat März leitet das Frühjahr<br />
ein, dieses ist der Vorläufer des Sommers.<br />
Auch in den gesellschaftlichen Kämpfen<br />
haben wir bislang nur Märzstürme gehabt,<br />
Märzstürme der Revolution <strong>und</strong> noch kein<br />
einziges Mal die ganze Revolution selbst,<br />
d. h. die vollständig erlösende Erkenntnistat<br />
der Massen, die darin bestände, das soziale<br />
Leben zu befreien von jeder Herrschaft<br />
auf geistigem, ö k o n o m i s c h e m , politischem<br />
Gebiete. Dazu bedarf es der kämpfenden<br />
Proletarier, die durchglüht sind<br />
v o m edelsten u n d vollständigsten Freiheitsidealismus,<br />
von j e n e m b e s t i m m e n d e n W o l -<br />
l e n , das die Frucht ist eines klar geschauten<br />
<strong>Ziel</strong>es. Die Revolutionäre der Zukunft,<br />
erst sie w e r d e n die Frühzeit der bisherigen<br />
Revolutionen überragen <strong>und</strong> die Revolution<br />
zur Fruchtreife des S o m m e r s geleiten; gestählt<br />
durch die Erkenntnis des G r u n d ü b e l s<br />
der gesellschaftlichen Sklaverei — die ökonomische<br />
Unterjochung durch die M o n o p o l -<br />
besitzenden u n d Privilegierten schreiten<br />
sie voran mit der Fackel strahlender Aufklärung,<br />
sich stets es vor Augen haltend,<br />
daß es vor allem einer prinzipiellen Revolutionierung<br />
der Köpfe <strong>und</strong> der Geistesans<br />
c h a u u n g bedarf, erst a u s ihr die Revolutionierung<br />
der Verhältnisse hervorgeht. Ihren<br />
G e g n e r n , i n s b e s o n d e r e den Sozialdemokraten,<br />
rufen sie die ewig d e n k w ü r d i g e n W o r -<br />
t e R o b e r t B l u m s entgegen, die d a lauten:<br />
» K e i n e h a l b e R e v o l u t i o n m e h r !<br />
F o r t s c h r e i t e n . . . a u f d e r e i n g e -<br />
s c h l a g e n e n B a h n , v o r a l l e m k e i n e<br />
S c h o n u n g g e g e n d i e A n h ä n g e r d e s<br />
a l t e n S y s t e m s , d i e R u h e a u s s e l b s t -<br />
s ü c h t i g e n A b s i c h t e n b e g e h r e n . . . «<br />
Die Märzrevolution in Wien.<br />
„Das Licht sei unsere Fahne! Vernichtet<br />
sei das Reich der Finsternis!"<br />
Dr. Köck am 13. März 1848.<br />
Es ist nun einmal s o : die Geschichte<br />
scheint dazu da zu sein, um u m g e l o g e n<br />
zu werden. Keinmal tritt dies deutlicher zu<br />
T a g e als dann, w e n n die Menschen Gedächtnistage<br />
begehen, w e n n sie sich an<br />
angeblich große Gestalten der Kulturgeschichte<br />
erinnern <strong>und</strong> ihnen in sklavischer<br />
Autoritätsanbetung huldigen nicht weil<br />
sie sie kennen oder ihre Taten würdigen<br />
können, sondern z u m größten Teil deshalb,<br />
weil es ihnen suggeriert wurde, daß man<br />
die huldigen müsse. So ist es auch, v o m<br />
Standpunkt des Proletariats aus, z u m größten<br />
Teil mit den Märzstürmen des Jahres 1848<br />
der Fall, für uns ganz insbesondere mit<br />
der Wiener Revolution.<br />
Zwei Faktoren sind es gewesen, welche<br />
den 13. März in Wien g e b a r e n : es war<br />
erstens das heroische Vorbild der Pariser<br />
Februarrevolution, die ihren gekrönten Bürgerkönig<br />
v o m T h r o n e jagte <strong>und</strong> zweitens<br />
<strong>und</strong> vornehmlich w a r es das herrschende<br />
Elend, die soziale Not. Diesen b e i d e n<br />
Erzeugern ist die W i e n e r Revolution n i c h t<br />
gerecht g e w o r d e n ; d e m letzteren nur insoferne,<br />
als sie das schon ohnedies fast gänzlich<br />
unhaltbar g e w o r d e n e Robotsystem unter<br />
den Bauern endgültig aufhob. Die Elendsverhältnisse<br />
in der Stadt selbst hat sie nicht<br />
b e h o b e n <strong>und</strong> ihr Stückchen Staatssozialismus
mit den Erdarbeiten im Wiener Prater hat<br />
kläglichen Bankerott erlitten, wie ja der<br />
Staat niemals im Stande sein kann, der<br />
sozialen Not Abhilfe angedeihen zu lassen,<br />
eben weil er die bestehenden G r u n d u r s a c h e n<br />
des sozialen Elends, die ausbeuterischen<br />
Gesellschaftszustände, aufrechterhalten muß.<br />
Wie dringend n o t w e n d i g aber g e r a d e die<br />
Aufhebung des sozialen Elendszustandes<br />
gewesen wäre, darüber stimmen alle Historiker<br />
der Revolution überein, die einstimmig<br />
von einem so schaudervollen<br />
Jammerwinter zu erzählen wissen, daß h<strong>und</strong>erte<br />
von Menschen sich T a g <strong>und</strong> Nacht<br />
hindurch in Unratskanälen aufhielten, einfach<br />
weil sie weder Arbeit noch O b d a c h<br />
finden konnten.<br />
So hochherzig der 13. März 1848 für<br />
Wien auch verlief, es darf nie übersehen<br />
werden, daß wir es mit einer d u r c h a u s<br />
bürgerlichen Affaire zu tun haben, die uns<br />
modernen sozialistischen Kämpfern wie eine<br />
längst abgestorbene Sache erklingen muß.<br />
Sie ging von zwei sozialen Schienten a u s :<br />
von dem mächtig emporgestrebten Bürgertum<br />
<strong>und</strong> dem Intellektualismus, d e m Studententum.<br />
Darin ist ihre ganze S c h w ä c h e<br />
gelegen, denn sobald das Wiener Proletariat<br />
in einzelnen seiner Teile an die Erringung<br />
von ökonomischen Rechten <strong>und</strong> ö k o n o -<br />
mischen Freiheiten gehen, kurz gesagt,<br />
seinen Hunger stillen wollte, da war es mit<br />
der Einigkeit <strong>und</strong> Einheit der B e w e g u n g<br />
— <strong>und</strong> dies ist ein charakteristisches, besonders<br />
festzuhaltendes M o m e n t des 13. März<br />
- vollständig vorbei. Und es gelang der<br />
Bourgeoisie auch wirklich, den heraufziehenden<br />
sozialen Gewittersturm zu bannen,<br />
in der Folge w u r d e das W i e n e r Proletariat<br />
der bewährteste Schutz des Privateigentums,<br />
von dem es nicht wußte, daß es in seiner<br />
monopolistischen Form g e r a d e diejenige<br />
soziale Institution ist, die seine Not verursachte.<br />
Es ist etwas sehr Merkwürdiges<br />
daran, daß die W i e n e r Revolution, ganz ungleich<br />
der Februarrevolution, k e i n e r l e i sozialistische<br />
Elemente aufzuweisen hat.<br />
Wir achten die heldenmütigen M ä n n e r<br />
des Bürgertums, die für ihre Ü b e r z e u g u n g<br />
am 13. März gestritten haben. Sie kämpften<br />
für ihre idealen Interessenprinzipien, haßten<br />
den vormärzlichen Absolutismus <strong>und</strong> wollten<br />
von ihm nichts mehr als die A n e r k e n n u n g<br />
ihrer schon längst erworbenen, sozialen<br />
Position. I h r e n Kampf begreifen wir, <strong>und</strong><br />
ihr Fallen für i h r e Sache gehört zu jenen<br />
Idealblättern, deren die Geschichte viel zu<br />
wenige aufzuweisen vermag. Anders ist es<br />
für uns allerdings, w e n n wir das Auftreten<br />
des Wiener Proletariats am 13. März <strong>und</strong><br />
in der Folge des Jahres 1848 beobachten.<br />
Da wird es wahrlich höchste Zeit, daß wir<br />
den verherrlichenden Reden der d e m a g o -<br />
gischen Parteien der G e g e n w a r t entgegentreten<br />
<strong>und</strong> die Tatsachen in ungeschminkter<br />
Form charakterisieren. Und w e n n man sagt,<br />
daß H<strong>und</strong>erte <strong>und</strong> T a u s e n d e von Proletarierleichen<br />
die Barrikaden höher türmten, auf<br />
denen sich die W i e n e r Revolution abspielte,<br />
so darf uns dies von der Feststellung der<br />
historischen Wahrheit nicht abhalten. Und<br />
sie besteht darin: W e n n Proletarier auf<br />
dem Schlachtfelde eines m e n s c h e n m o r d e n -<br />
den Krieges fallen o d e r in den Kämpfen<br />
einer Revolution sinken, in denen es<br />
in keiner Weise ihre Interessen galt, in<br />
diesen Kämpfen für die Interessen anderer<br />
Klassen fielen — darf dies für uns nur Ursache<br />
des Bedauerns, nie aber Ursache zur historischen<br />
Fälschung sein; <strong>und</strong> die W i e n e r<br />
Proletarier haben in den Märztagen des<br />
Jahres 1848 wohl gegen die herrschenden<br />
Gewalten gekämpft, in ihren <strong>Ziel</strong>en aber<br />
für eine für sie t o t a l w e r t l o s e Sache<br />
ihr Leben eingebüßt.<br />
Betrachten wir nur ganz oberflächlich<br />
die Forderungen der damaligen radikalen<br />
Elemente wie sie i n dem M a n i f e s t d e r<br />
ö s t e r r e i c h i s c h e n F o r t s c h r i t t s p a r t e i<br />
vom 4. März 1848 zum präzisierten Ausdruck<br />
gelangen. Wir finden d a :<br />
1. 'Ministerien mit bestimmten Portefeuilles.<br />
2. Selbstverwaltung der G e m e i n d e n<br />
<strong>und</strong> Kreise durch freie Wahl der G e m e i n d e -<br />
vorstände <strong>und</strong> Kreisbehörden.<br />
3. a) Erweiterung der ständischen Verfassung<br />
durch Z u z i e h u n g des Bürger- <strong>und</strong><br />
Bauernstandes zur Vertretung ihrer Interessen;<br />
b) Wiedererstattung <strong>und</strong> A u s d e h n u n g<br />
der ständischen Rechte etc.<br />
4. Ein vereinigter Landtag mit jährlicher<br />
Einberufung.<br />
5. Öffentliches <strong>und</strong> mündliches Gerichtsverfahren.<br />
6. Aufhebung der Zensur.<br />
7. Religiöse D u l d u n g <strong>und</strong> Aufhebung<br />
aller, die einzelnen Konfessionen bedrückenden<br />
Dekrete.<br />
8. Beschränkung der Polizeiwillkür.<br />
( A b s c h a f f u n g d e s p o l i t i s c h e n S p i -<br />
o n i e r s y s t e m s . )<br />
Q. Verbesserung in der Volkserziehung<br />
<strong>und</strong> im öffentlichen Unterrichte.<br />
10. Allgemeine Volksbewaffnung.<br />
11. Allgemeines Petitionsrecht.<br />
Dies sind so ungefähr sämtliche der<br />
aufgestellten F o r d e r u n g e n ; m a n c h e von<br />
ihnen sind errungen, m a n c h e sind bis heute<br />
noch nicht verwirklicht w o r d e n ; alle aber<br />
sind sie samt <strong>und</strong> sonders rein bürgerlicher<br />
Natur <strong>und</strong> w e n n es ihnen gelang, das P r o -<br />
letariat für sich ins Schlepptau zu n e h m e n ,<br />
v i e l f a c h a u c h n o c h h e u t e g e l i n g t ,<br />
so ist dies nur dem U m s t ä n d e zu verdanken,<br />
daß das Proletariat es nicht begriff, oftmals<br />
noch immer nicht begreift, daß die u n b e -<br />
dingte Verwirklichung des Sozialismus die<br />
einzige proletarische H a u p t s a c h e ist, daß<br />
diese Verwirklichung sich selbst in freiester<br />
Form alle notwendigen politischen<br />
Gestaltungen schaffen wird, viele, ja die<br />
meisten der obigen F o r d e r u n g e n mit der<br />
Herbeiführung d e s proletarischen T r i u m p h e s<br />
sozialer Gerechtigkeit gar nichts zu tun<br />
haben, Ballast sind, ja sogar den Sieg zum<br />
Sozialismus direkt verrammeln.<br />
Wie armselig, gering <strong>und</strong> bettlerhaft<br />
sind doch diese Forderungen g e w e s e n , mit<br />
denen es der Bourgeoisie gelang, das Proletariat<br />
zu u m g a r n e n ! Es war eben wirklich<br />
nichts als ein toller Taumel, der überhaupt<br />
nicht wußte, was er wollte, nämlich auf<br />
Seite des Proletariats. W i e sattsam zufrieden<br />
<strong>und</strong> g e n ü g s a m ist doch das G a n z e g e w e s e n .<br />
Und d a f ü r v e r g o ß man sein Blut; wie es<br />
bisher das Proletariat stets getan hat: für<br />
die Interessen anderer Klassen. Und man<br />
rede auch nur nicht so viel v o m politischen<br />
Freiheitsinteresse, vom politischen Freiheitserkennen,<br />
das angeblich den Sturz des<br />
damaligen Absolutismus herbeiführte, der<br />
sich trotz der O k t o b e r t a g e nicht wieder<br />
wie früher aufrichten konnte. Nur Leute,<br />
die D e m a g o g e n sind <strong>und</strong> d e m Proletariat<br />
den w e i t e r e n A u s b l i c k verwehren<br />
wollen oder die damalige »Freiheitsliteratur«<br />
Österreichs überhaupt nicht kennen, können<br />
solches behaupten. W e r erinnert sich<br />
da nicht des bekannten Langer'schen<br />
»Barrikadenliedes«, das tatsächlich die<br />
S t i m m u n g jener Zeit am klarsten zum Ausdruck<br />
bringt:<br />
Mit Gott für Freiheit, Recht <strong>und</strong> Licht!<br />
Auf, Brüder, laßt uns laden;<br />
Ein Schuft, der heut sein Wort uns bricht,<br />
Nicht ehrlich für die Freiheit ficht<br />
Hoch auf den Barrikaden.<br />
Es will das Volk sein gutes Recht<br />
Erbetteln nicht als Gnaden,<br />
Das Volk versteht zu betteln schlecht,<br />
Es holt sein Recht sich im Gefecht<br />
Hoch auf den Barrikaden.<br />
Du Natterbrut, die Österreich<br />
Gebracht zu Schimpf <strong>und</strong> Schaden,<br />
Fort Adeltrotz <strong>und</strong> Pfaffenreich,<br />
Wir halten heut Gericht mit Euch<br />
Hoch auf den Barrikaden.<br />
Ihr nahmt uns unsern Kaiser; doch<br />
Dem Kaiser soll's nicht schaden;<br />
Der Kaiser ist uns alles noch,<br />
Der Kaiser hoch, der Kaiser hoch,<br />
Selbst auf den Barrikaden.<br />
Mit Gott für Freiheit, Recht <strong>und</strong> Licht!<br />
Auf, Brüder, laßt uns laden;<br />
Wir wanken nicht <strong>und</strong> weichen nicht,<br />
Bis unser Aug' im Tode bricht<br />
Hoch auf den Barrikaden.<br />
Es kann nicht leicht etwas Charakteristischeres<br />
geben, als dieses, damals allgemein<br />
verbreitete <strong>und</strong> g e s u n g e n e Gedicht,<br />
das u n s die ganze Unklarheit jener Zeit<br />
deutlich g e n u g vor A u g e n führt.<br />
So ist uns denn der 13. März nicht<br />
ein T a g e r h e b e n d e n G e d e n k e n s , sondern<br />
ein T a g der Erkenntnis: wir erkennen das<br />
viele nutzlos vergossene Blut, wir erkennen<br />
die hohlen Phrasen, wir erkennen das unerreicht<br />
Gebliebene weit schärfer <strong>und</strong> deutlicher<br />
als es noch vor wenigen Jahrzehnten<br />
möglich war. Aber nicht um die Kämpfe<br />
der Vergangenheit zu h ö h n e n , stellen wir<br />
all dies fest; nur um zu verhüten, daß<br />
über der Vergangenheit die G e g e n w a r t <strong>und</strong><br />
Zukunft vergessen werde, wie es ja tatsächlich<br />
heute geschieht, wie ein Blick auf<br />
die Tätigkeit der Sozialdemokratie es beweist,<br />
die noch immer in den F o r d e r u n g e n<br />
der Vergangenheit herumkramt. Eines steht<br />
unerschütterlich fest für uns, die neue<br />
Generation der Revolution:<br />
W i r m ü s s e n ü b e r d i e M ä r z -<br />
k ä m p f e d e r V e r g a n g e n h e i t h i n w e g<br />
u n d h i n a u s g e h e n , w e i t g e w a l t i g e r e<br />
A u f g a b e n l ö s e n a l s s i e e s t a t e n<br />
d e r Z u k u n f t m i t i h r e r E r l ö s u n g<br />
d u r c h d i e g a n z e , w a h r e F r e i h e i t<br />
u n d d e m S o z i a l i s m u s e n t g e g e n !<br />
Die Februarrevolution<br />
von Paris.<br />
Mögen die Arbeiter die folgenden Worte bebeherzigen,<br />
sie bilden einen <strong>Weg</strong>weiser für die Zukunft,<br />
sind ein historisches Verdammungsurteil für<br />
die ganze gegenwärtige parlamentarische Taktik,<br />
denn es war jene <strong>und</strong> mit ihr das marxistische<br />
Schlagwort von der politischen, staatlichen „Diktatur<br />
des Proletariats", die durch den gräßlichen Verlauf<br />
der Februarrevolution den kläglichsten Schiffbruch<br />
erlitten, es einem Abenteurer ermöglichten, durch<br />
einen Staatsstreich die Republik der Arbeiter zu<br />
stürzen, das Kaiserreich der Napoleoniden wieder<br />
zu errichten.<br />
Dr. G o t t s c h a l k , dessen Rede wir, gewissermaßen<br />
als eine photographisch treue Aufnahme der<br />
gesamten Februarrevolution folgen lassen, war einer<br />
der charaktervollsten, geistig bedeutendsten Vorkämpfer<br />
der deutschen Revolution jener Tage. Edel<br />
an Gesinnung verstand er unter dem Ideale der<br />
Demokratie die ganze, volle Freiheit <strong>und</strong> war er<br />
während des Kölner Aufstandes am 3. März 1848<br />
in den ersten Reihen. Wenige Monate, nein Wochen<br />
vor Abhaltung des folgenden Referats war er noch<br />
im Gefängnis gewesen; noch vor Ablauf von 1849<br />
starb er <strong>und</strong> keine schöneren Worte können ihm<br />
nachgerufen werden, als es jene sind, die Herwegh<br />
ihm widmete, da er u. a. schrieb: „Er war eine der<br />
edelsten <strong>und</strong> energischesten Naturen, denen ich<br />
b e g e g n e t . . . Ich bin erschüttert von dieser Nachricht;<br />
es war soviel Zukunft in ihm, aber es scheint,<br />
daß in Deutschland keine mehr ist, weil d i e s e<br />
Menschen sich aus dem Staube machen, indes so<br />
viel Gesindel übrig bleibt . . ."<br />
* *<br />
A u s z u g a u s e i n e r a m 20. M ä r z 1849<br />
v o n D r . G o t t s c h a l k i n B o n n g e h a l -<br />
t e n e n R e d e :<br />
G e w o h n t , mich nur an den Besten <strong>und</strong><br />
Edelsten zu messen, w e n d e t e ich mich zunächst<br />
nach Paris, zu jener Stadt, die in<br />
zweien Revolutionen West- <strong>und</strong> Mitteleuropa<br />
erschüttert, <strong>und</strong> von der ich eine<br />
dritte Revolution erwartete, die auch Rußland<br />
eine andere Gestaltung g e b e n wird.
Ich wollte aber auch die Republik in der<br />
N ä h e sehen, die das Arbeitervolk im Februar<br />
des vorigen Jahres mit seinem Heldenmute<br />
gegründet, <strong>und</strong> die ihm bis jetzt nur<br />
Armut <strong>und</strong> Elend, Kerker <strong>und</strong> V e r b a n n u n g<br />
<strong>und</strong> die Metzeleien des Juni gebracht hat.<br />
Ja, wissen m ö g e n Sie, daß T a u s e n d e von<br />
Arbeitern meuchlings geschlachtet, einzelne<br />
sogar halb lebend verbrannt w o r d e n sind<br />
<strong>und</strong> daß Leute ihre h u n g e r n d e n Verwandten<br />
auf Straßen <strong>und</strong> an Häusern die Pfennige<br />
des Mitleids betteln sahen. Jawohl, die<br />
Frucht ihres in Strömen vergossenen Blutes<br />
w u r d e den Arbeitern durch die Unfähigkeit<br />
ihrer damaligen Leiter entrissen. Ich<br />
gehöre nicht zu jenen, die sich einen kleinen<br />
Ruhmestempel aus den T r ü m m e r n gefallener<br />
G r ö ß e m ü h s a m zusammenstellen;<br />
ich verkenne auch nicht die Schwierigkeiten,<br />
mit welchen die provisorische Regierung<br />
Frankreichs einer, w e n n auch besiegten,<br />
aber noch nicht vernichteten Partei<br />
g e g e n ü b e r zu kämpfen hatte. — Die Reaktion<br />
b e g a n n aber schon an dem ersten<br />
Tage nach der Revolution, am 25. Februar,<br />
mit der Unfähigkeit, mit der Feigheit derjenigen,<br />
die die siegreichen Arbeiter an<br />
ihre Spitze gerufen; sie wird steigend fortgehen,<br />
bis auch der letzte Schatten der<br />
Freiheit dahin ist. In diesem Saale sehe ich<br />
noch die Zeichen der Freiheit; jn Paris,<br />
der Hauptstadt der französischen Republik,<br />
sind sie verpönt; <strong>und</strong> doch waren im Februar<br />
die Arbeiter die Meister <strong>und</strong> Gebieter<br />
dieser Stadt u n d ganz Frankreichs. Die Vera<br />
n t w o r t u n g haftet an der übelverstandenen<br />
G r o ß m u t , die vor dem Siege geübt wird<br />
u n d a n d e r U n f ä h i g k e i t j e n e r ,<br />
w e l c h e d i e A r b e i t e r a u f i h r e n<br />
A r m e n z u r M a c h t g e t r a g e n .<br />
M a g L a m a r t i n e ein Verräter gewesen<br />
sein — er ist bereits von der öffentlichen<br />
M e i n u n g gerichtet — das entschuldigt<br />
aber nicht L e d r u - R o l l i n , der mit ihm<br />
eine mehrmonatliche Diktatur geführt, der,<br />
von ihm betrogen, die Republik in den<br />
eifrigen Republikanern verfolgte <strong>und</strong> der<br />
sich heute noch für eine zweite Revolution<br />
möglich glaubt, wenngleich es zweifelhaft<br />
ist, ob man mit der Unfähigkeit des Kopfes<br />
oder des Herzens seine bedauernswerten<br />
Mißgriffe entschuldigen solle. Ich tadle<br />
nicht M a r r a s t <strong>und</strong> M a r i e , daß sie i n<br />
der Revolution nur ein Mittel gesehen, womit<br />
Bälle <strong>und</strong> Assembleen zu bezahlen<br />
denn e s hat noch immer J u d a s s e gegeben,<br />
die für eitles Silber das Heil der Völker<br />
geopfert — ich tadle L o u i s B l a n c , weil<br />
es ihm an Mut gebrach, seinen aufrichtigen<br />
Willen zur G e l t u n g zu bringen. Hätte er<br />
sich im rechten Augenblicke von der p r o -<br />
visorischen Regierung getrennt, er w ü r d e<br />
zu jener Zeit die Revolution in Paris <strong>und</strong><br />
vielleicht in Europa gerettet haben. G e -<br />
stehen wir, die Reaktion ist <strong>und</strong> war die<br />
einzig b e w e g e n d e Partei in Frankreich, wie<br />
bei u n s ; sie geht rasch, sie wird auch die<br />
letzten Reste der revolutionären Errungenschaften<br />
in den freien Vereinigungen der<br />
Arbeiter vernichten, sie wird vielleicht die<br />
politische Form des Landes noch einmal<br />
v e r ä n d e r n ; aber sie geht rasch, <strong>und</strong> mit<br />
jedem Akte der Brutalität, mit dem sie ihre<br />
Unfähigkeit zu verhüllen sucht, drängt sie<br />
zur endlich entscheidenden Revolution.<br />
Hoffen wir, daß die Arbeiter alsdann, der<br />
traurigen Lehren eingedenk, die sie empfangen,<br />
nicht mehr Schönrednern, sondern<br />
Männern wie B l a n q u i , P r o u d h o n <strong>und</strong><br />
R a s p a i l ihre Geschicke anvertrauen werden,<br />
die einzigen, von denen ich glaube,<br />
daß sie nicht mit schwachen N a c h a h m u n g e n<br />
einer großen Vergangenheit, sondern daß<br />
sie mit eigener schöpferischer Kraft den<br />
A u f s c h w u n g des Volkes zu erhalten verstehen<br />
werden, der allein eine unterdrückte<br />
Klasse zum Siege führt.<br />
Der 18. März in Berlin.<br />
„Der proletarischen oder wirklich<br />
revolutionären Partei gelang es nur<br />
sehr allmählich, die Masse der Arbeiter<br />
dem Einfluß der Demokraten zu entziehen,<br />
deren Schwanz sie zu Beginn<br />
der Revolution gebildet. Aber zur richtigen<br />
Zeit tat die Unentschlossenheit,<br />
Schwäche <strong>und</strong> Feigheit der demokratischen<br />
Führer das Übrige, <strong>und</strong> man<br />
kann heute sagen, daß eines der Hauptergebnisse<br />
der Umwälzungen der letzten<br />
Jahre darin besteht, daß die Arbeiterklasse,<br />
wo immer man sie in einigermaßen<br />
ansehnlichen Massen konzentriert<br />
findet, v o l l k o m m e n b e f r e i t<br />
i s t v o n j e n e m d e m o k r a t i s c h e n<br />
E i n f l u ß , der sie 1848 <strong>und</strong> 1849 zu<br />
e i n e r u n e n d l i c h e n R e i h e v o n<br />
F e h l e r n u n d U n f ä l l e n f ü h r t e . "<br />
(Karl Marx: „Revolution <strong>und</strong> Konire-<br />
Revolution in Deutschland").<br />
Leider treffen diese W o r t e Marx' in<br />
keiner Weise auf Deutschland zu, <strong>und</strong> niemals<br />
hat ein sozialistischer Theoretiker<br />
durch seine eigenen A n h ä n g e r eine ärgere<br />
W i d e r l e g u n g gef<strong>und</strong>en, als es dem T h e o -<br />
retiker der Sozialdemokratie <strong>und</strong> dem Altmeister<br />
des sozialdemokratischen D o g m a s<br />
widerfährt. Unglücklicherweise sind die<br />
Arbeiter auch heute noch nicht befreit v o m<br />
demokratischen Einfluß, <strong>und</strong> ist dieser<br />
bis zu jener Machtfülle gediehen, daß er<br />
den Sozialismus fast erstickt. Nur wir<br />
Anarchisten dürfen das historische Recht<br />
in Anspruch nehmen, den Sozialismus vor<br />
einem vorläufigen, vollständigen Untergang<br />
bewahrt zu h a b e n ; unter den Händen der<br />
Sozialdemokraten sind die Arbeiter fast<br />
vollständig dem Einfluß der bürgerlichen<br />
Demokratie erlegen, die, unter der Umw<br />
a n d l u n g der Sozialisten in sozialdemokratische<br />
P o l i t i k e r — also Glücksjäger<br />
auf d e m Gebiete der D e m a g o g i e ! — d e m<br />
Ideengange des Sozialismus so aufoktroiert<br />
wurde, daß sie den letzteren vollständig<br />
verdrängte.<br />
Doch lassen wir dies; es steht auf<br />
einem anderen Blatte, <strong>und</strong> wir führen es<br />
nur an, um dadurch die w a h r e Ursache des<br />
totalen Fehlschlagens der Märzrevolution in<br />
Berlin deutlicher ins Licht der Betrachtung<br />
zu rücken.<br />
Jenes »köstliche Mißverständnis«, das<br />
zur Erschießung von Volksgenossen führte,<br />
ist eigentlich das einzige b e w e g e n d e Moment<br />
der Berliner »Revolution«. Schon der<br />
angekündigte Entschluß, am 18. März im<br />
Schlosse Friedrich Wilhelm IV. vorsprechen<br />
<strong>und</strong> die F o r d e r u n g e n d e s Volkes zum Ausdruck<br />
bringen zu wollen, genügte, um den<br />
König zu einem »freiwilligen« Zugeständnis<br />
zu b e w e g e n . Und dann kam die Folge<br />
jenes »Mißverständnisses«, jenes g r o ß e<br />
menschliche Nähertreten des Volkes <strong>und</strong><br />
des Königs, bei dem sich dieser samt G e -<br />
mahlin seiner Majestät entkleidete <strong>und</strong> als<br />
Mensch, nicht g a n z gewissensreiner Mensch,<br />
das entblößte Haupt beugte vor den Leiterw<br />
a g e n mit den Leichen der Gefallenen, die<br />
an d e m Schlosse vorbeifuhren. U n d schon<br />
zwei W o c h e n später, am 2. April, schloß<br />
das Bürgertum wieder seinen Pakt mit den<br />
herrschenden Gewalten, die nun ihrerseits<br />
mit d e m Rest der proletarischen D e m o -<br />
kratie spielend fertig w u r d e n . Eine erhöhte<br />
Ironie auf alle revolutionäre Aktionen bildete<br />
das armselige G e s p e n s t der Frankfurter<br />
Nationalversammlung die das für revolutionäre<br />
Begriffe geradezu grauenhafte Resultat<br />
hatte, daß sich die Blutlehre jeder<br />
autoritären E r h e b u n g abermals Bahn brach:<br />
Der 18. März in Berlin gipfelte in der<br />
Etablierung des Erbkaisertums. Das elende<br />
Bürgervolk hatte seinen Verrat an dem ge-,<br />
täuschten Proletariat gekrönt.<br />
Rückblickend verdienen diese Tage die<br />
schärfste Geißelung. U n d wir glauben, sie<br />
wird ihnen zuteil in einem Brief, den einer<br />
der größten Vorkämpfer des internationalen<br />
Proletariats <strong>und</strong> des Anarchismus-Sozialismus<br />
an den Freiheitsdichter H e r w e g h<br />
schrieb: M i c h a e l B a k u n i n . Sein Brief<br />
wirft ein helles Streiflicht auf die Situation;<br />
so m ö g e er denn folgen als ihre beste<br />
Charakteristik <strong>und</strong> g e b ü h r e n d e historische<br />
W ü r d i g u n g .<br />
Michael Bakunin s c h r e i b t :<br />
Göthen, 8. D e z e m b e r 1848.<br />
Mein Lieber! Schon lange h a b e ich<br />
an Dich kein W o r t gerichtet; auf meinen<br />
letzten Brief hast Du mir nicht geantwortet,<br />
aber ich n e h m e es Dir nicht übel,<br />
denn in dieser Hinsicht haben wir uns<br />
gar nichts vorzuwerfen. — Hier mein<br />
Aufruf an die Slaven; Du wirst aus demselben<br />
ersehen, daß ich den Mut nicht<br />
im geringsten verloren habe. W ä h r e n d<br />
diesen neun Monaten habe ich mich an<br />
Geduld, an Warten <strong>und</strong> an Ausdauer gew<br />
ö h n t . — »J'attendrai Monseugneur!« —<br />
das ist meine Antwort auf die triumphierende<br />
Reaktion, — u n d die Anarchie,<br />
— die Z e r s t ö r u n g der Staaten wird doch<br />
bald k o m m e n müssen. — A b e r sehr oft<br />
habe ich an Dich g e d a c h t <strong>und</strong> Dir recht<br />
g e g e b e n , als ich die Verhältnisse <strong>und</strong><br />
die V o r g ä n g e in Deutschland näher sah.<br />
Ich erinnerte mich an die Worte, die Du<br />
mir in Paris, vor der Revolution, so oft<br />
wiederholt hast: »Die erste Revolution<br />
in Deutschland wird für uns nichts Tröstliches<br />
haben, da sie der Sieg der bourgeoisen<br />
Niederträchtigkeit sein wird.« —<br />
Wie g r o ß die Niederträchtigkeit des<br />
deutschen Philisters ist, das habe ich erst<br />
jetzt im vollen Maße gesehen.<br />
N i r g e n d s ist der Bourgeois ein lieb<br />
e n s w ü r d i g e r Mensch, aber der deutsche<br />
Bourgeois ist niederträchtig mit Gemütlichkeit.<br />
Selbst die Art dieser Leute sich<br />
zu e m p ö r e n u n d ihre E m p ö r u n g auszudrücken,<br />
ist e m p ö r e n d . Neulich ist<br />
hier der A b g e o r d n e t e Hildenträger, Sekretär<br />
der Berliner Nationalversammlung,<br />
d u r c h g e g a n g e n . Er erzählte uns, wie das<br />
Militär sein H a u s gestürmt, alle Schlösser<br />
zerbrochen, <strong>und</strong> alle Papiere samt 30.000<br />
Taler w e g g e n o m m e n ; — da schreien<br />
viele, mit sichtbarer Entrüstung: »Und<br />
das Geld auch!« — <strong>und</strong> a n d e r e : »Man<br />
wird Ihnen das Geld wohl z u r ü c k g e b e n !<br />
. . .« Mit einem Worte, Fre<strong>und</strong>, das ist<br />
mein letztes <strong>und</strong> wahrlich ein sehr begründetes<br />
Urteil: W e n n die deutsche<br />
Nation bloß aus der großen, leider zu<br />
großen Masse der Spießbürger, der<br />
Bourgeoisie bestünde, aus dem, w a s man<br />
heute das offizielle, sichtbare Deutschland<br />
n e n n e n könnte, — w e n n unter<br />
dieser offiziellen deutschen Nation es<br />
nicht Stadtproletarier, b e s o n d e r s aber<br />
einegroße Bauernmasse gäbe, dann w ü r d e<br />
ich sagen m ü s s e n : es gibt keine deutsche<br />
Nation mehr, Deutschland wird erobert<br />
<strong>und</strong> zu G r u n d e gerichtet werden. —<br />
Nur ein anarchischer Bauernkrieg einerseits<br />
u n d die V e r b e s s e r u n g der Bourgeoisie<br />
durch die Bankerotte andrerseits<br />
kann Deutschland retten. — Für das<br />
Zweite w e r d e n die Verhältnisse selbst<br />
<strong>und</strong> eine eiserne Notwendigkeit sorgen.<br />
Für das Erste hat man bis jetzt so gut<br />
wie gar nichts gesorgt. — Ich finde<br />
keinen Ausdruck, um Dir die Stupidität,<br />
den Leichtsinn <strong>und</strong> die abstrakte Prinzipienreiterei<br />
der sogenannten demokratischen<br />
Führer in Deutschland zu bezeichnen.<br />
— Mit abstrakten, politischen,<br />
konstitutionellen oder republikanischen<br />
Phrasen glaubten sie, die Bauern in Bew<br />
e g u n g setzen zu k ö n n e n ; — sie wollten<br />
die s o g e n a n n t e n »schlechten Leidenschaften«<br />
nicht im Volke wecken, sie<br />
haben das Volk nicht von T a g zu T a g<br />
empört <strong>und</strong> bearbeitet, sondern bruchweise<br />
durch illusorische <strong>und</strong> Illusion her-
vorbringende Volksversammlungen auf<br />
das Volk wirken wollen, sie haben<br />
mit ihrer ganzen renommistischen Schreierei<br />
nichts gemacht, — heute ist das<br />
also geworden — aber das Volk nicht<br />
parceque aber quoique dieser Führer ist<br />
doch gegenwärtig ein anderes. Es will<br />
alles haben, Alles nehmen, <strong>und</strong> wird sich<br />
durch nichts befriedigen lassen; es ist so<br />
weit, daß es glaubt, allein berechtigt zu<br />
sein, <strong>und</strong> ist in diesem G l a u b e n durch<br />
den Hof <strong>und</strong> die Komplimente, die beide<br />
Parteien ihm machen, bestätigt. —<br />
Schlechte Leidenschaften w e r d e n einen<br />
Bauernkrieg hervorbringen, <strong>und</strong> das freut<br />
mich, da ich nicht die Anarchie fürchte,<br />
sondern sie von ganzer Seele w ü n s c h e<br />
— sie allein kann uns aus dieser verfluchten<br />
Mitte, in der wir seit so lange<br />
vegetieren müssen, mit Gewalt herausreißen.<br />
— Die b e s o n n e n e n , vernünftigen,<br />
energischen Demokraten, die, welche<br />
wahrhaft revolutionär sind, verlieren,<br />
ebenso wie ich, den Mut nicht.<br />
Sie freuen sich selbst, daß jetzt das<br />
unbeschränkte Recht des Schwatzens <strong>und</strong><br />
der öffentlichen Konspiration den Deutschen<br />
wieder g e n o m m e n wird. — Der<br />
Deutsche m u ß sich etwas konzentrieren,<br />
um gescheit zu werden. — Die politische<br />
Liederlichkeit war zu groß. Jetzt fängt<br />
man an, was man eigentlich schon vom<br />
Frühjahr an tun mußte, aber die betrunkenen<br />
Menschen waren dazu nicht zu<br />
bringen. — Jetzt fängt man an, Gott sei<br />
Dank, sich so ziemlich zu organisieren<br />
<strong>und</strong> geheime Gesellschaften zu g r ü n d e n ;<br />
— man will sich für den Kampf, den<br />
man allgemein hier im Frühling erwartet,<br />
gründlich vorbereiten.* — Unterdessen<br />
wird die siegende Reaktion g r o ß e D u m m -<br />
heiten begehen; diese Dummheiten sind<br />
unausbleiblich; man spricht jetzt allgemein<br />
von einer Intrigue, die der edle<br />
Gagern führt <strong>und</strong> die folgendes bezwecken<br />
soll: Der Reichsverweser wird<br />
abdanken, — es wird sich an seine Stelle<br />
ein Triumvirat setzen, dessen Mitglied<br />
Gagern selbst <strong>und</strong> zwei a n d e r e aus der<br />
Frankfurter V e r s a m m l u n g sein sollen, —<br />
<strong>und</strong> dieses Triumvirat soll als Ü b e r g a n g<br />
zur preußischen H e g e m o n i e dienen. —<br />
Man erzählt noch, daß Bayern,<br />
Hannover, Braunschweig <strong>und</strong> einige andere<br />
gegen diesen Plan <strong>und</strong> gegen<br />
Preußen überhaupt eine Sonder-Allianz<br />
zu Stande gebracht haben — übrigens<br />
ist das ein bloßes G e r ü c h t <strong>und</strong> ich g e b e<br />
es Dir nur als ein solches. — Der Winter<br />
wird traurig sein aber interessant. — W a s<br />
mich betrifft, Lieber, so bleibe ich hier<br />
wahrscheinlich noch einen M o n a t ; ich<br />
habe noch m a n c h e s zu b e s o r g e n ; dann<br />
aber ist es sehr möglich, daß ich für<br />
zwei Monate nach Paris gehe. — Ich<br />
brauche Dir gar nicht zu sagen, mit was<br />
für einer Freude ich Euch alle, Dich,<br />
Deine Frau <strong>und</strong> alle unsere Fre<strong>und</strong>e<br />
wiedersehen werde. — Wir werden uns<br />
so vieles zu erzählen <strong>und</strong> zu sagen haben.<br />
— Briefe kann ich nicht schreiben, das<br />
ist einmal abgemacht.<br />
Sei so gut, schreibe mir Deine<br />
Adresse <strong>und</strong> antworte mir, sei es auch<br />
nur mit wenigen Worten. —<br />
* Um hier allen möglichen kleinlichen <strong>und</strong><br />
denkfaulen Verleumdungen als auch der Entstellung<br />
tatsächlicher Dinge von Seite der Sozialdemokraten<br />
von vornherein die Spitze abzubrechen, stellen wir<br />
fest, daß auch Marx bis März 1850 an den Wiederausbruch<br />
der Revolution <strong>und</strong> bis 1851 an den<br />
siegreichen Verlauf dieses Wiederausbruches glaubte.<br />
Was nun ganz insbesondere die Frage der Konspirationen<br />
anbetrifft, so ist die oben ausgedrückte<br />
Meinung Bakunins schließlich auch von Marx geteilt<br />
worden, der in seinem Korrespondenzbericht<br />
an die New-Yorker „Tribüne" vom 1. Dezember<br />
1852 diese geheimen Revolutionsgesellschaften ausdrücklich<br />
guthieß. Anm. d. Red.<br />
Meine A d r e s s e :<br />
Cöthen-Principauté d'Anhalt.<br />
Monsieur Charles.<br />
U n d auf d e m zweiten Kuvert pour<br />
Mr. Jules.<br />
O r ü ß e alle die von unseren Bekannten<br />
<strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en, welche mich<br />
nicht vergessen haben.<br />
Dein Jules Elysard.*<br />
„Es lebe die Kommune!"<br />
In t r e u e r E r i n n e r u n g an den 18. März 1871 u n d an<br />
den h e l d e n m ü t i g e n Kampf d e s P a r i s e r Volkes.<br />
„Mit Blut befleckt, doch lehenstark,<br />
so wurdest du geboren:<br />
Das jüngste Kind der Mutter Zeit zum<br />
letzten Kampf erkoren,<br />
Gezeugt in einer Nacht voll Finsternis<br />
<strong>und</strong> Glut.<br />
Der Lärm der Revolutionen klang in<br />
deinen Ohren.<br />
Und nie hast das Erinnern du an diesen<br />
Klang verloren:<br />
Er zuckt in deinem Hirn <strong>und</strong> er durchpulst<br />
dein Blut."<br />
(John Henry Mackay „Am Ausgang des<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts").<br />
Z u m 37. Male feiern wir diesmal die<br />
Wiederkehr eines Tages, nein, einer Epoche<br />
in der Geschichte des großen, proletarischen<br />
Befreiungskampfes, deren Ereignisse<br />
u n s nicht wie jene der acht<strong>und</strong>vierziger<br />
T a g e so ganz entrückt sind, daß wir<br />
sie nur im Sinne historischer Pietät begehen;<br />
der 18. März 1871 ist ein Datum, das<br />
mit unverwischbarer Runenschrift in unseren<br />
Geist, in unser Gefühl eingeritzt w u r d e ,<br />
denn er war ein Vorsignal der sozialen<br />
Revolution der Zukunft. Er ist der T a g<br />
einer grandiosen Volkserhebung, in der der<br />
Internationalismus kühn <strong>und</strong> stolz seine<br />
Standarte erhob, d e n n Männer <strong>und</strong> Frauen<br />
a l l e r Nationalitäten begründeten die Pariser<br />
K o m m u n e . Er bildete die erste g r o ß e Vora<br />
h n u n g von der strategischen Form des<br />
Kampfplatzes <strong>und</strong> der Kampfesstrategie in<br />
dem endlich unvermeidlichen Ausringen<br />
zwischen Bourgeosie <strong>und</strong> Proletariat, denn<br />
zum ersten Mal seit fast einem Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
erhob am 18. März in Paris der Geist des<br />
Föderalismus wieder sein Haupt gegenüber<br />
d e m seit der französischen Revolution<br />
unumschränkt waltenden Prinzip des jakobinistischen<br />
Centraiismus. Der 18. März 1871<br />
ist die Besitzergreifung einer Stadt durch<br />
das gesamte geistig <strong>und</strong> physisch herangereifte<br />
Volk von Paris gewesen, denn dieses<br />
begriff, daß es sich nur so einer französischen<br />
Regierungsbande von Royalisten<br />
<strong>und</strong> Pseudorepublikaner, politischen Abenteurern<br />
<strong>und</strong> militärischen Betrügern erwehren,<br />
von ihr befreien konnte. Und 73<br />
Tage lang bestand die Pariser K o m m u n e<br />
— o h n e Z e n t r a l g e w a l t , o h n e P o l i -<br />
z e i s c h u t z , o h n e G e r i c h t s h ö f e , o h n e<br />
K a p i t a l i s t e n g i l d e , o h n e P r o s t i t u i r t e<br />
u n d m ä n n l i c h e C h a r l a t a n e a l l e r<br />
S o r t e n . Alles dies hatte sich geflüchtet,<br />
übrig war nur das Paris des heldenmütigen<br />
Sinnens, des schöpferischen Gestaltens, des<br />
kühnen Wollens geblieben, das im Begriffe<br />
stand, eine neue W e l t o r d n u n g zu zeugen.<br />
Ist der H a ß aller Autoritäten auf allen<br />
Gebieten des Lebens gegen die K o m m u n e<br />
irgendwie unerklärlich? Nein; kein soziales<br />
Gebilde der G e g e n w a r t z o g das Prinzip<br />
der herrschenden Autorität so tief hinab<br />
in das abgr<strong>und</strong>tiefste Nichts, wie gerade die<br />
K o m m u n e . Ist die V e r l e u m d u n g des Thiers<br />
<strong>und</strong> seiner Manen eine erstaunliche Sache?<br />
Keineswegs; keine soziale E m p ö r u n g bewies<br />
es klarer, als es die K o m m u n e tat,<br />
daß die republikanischen Tyrannen, nachdem<br />
sie das ehemalige G o t t e s g n a d e n t u m des<br />
Absolutismus gestürzt, sogleich — Renegaten<br />
der Revolution w e r d e n d — dieselbe<br />
* Elysard war Bakunin's literarisches Pseudonym.<br />
ökonomische <strong>und</strong> politische Unterjochung<br />
etablieren, wie es ihre ehemaligen G e g n e r<br />
getan. Und die K o m m u n e bewies, wie<br />
spielend leicht es für ein Volk ist, o h n e<br />
diese »republikanischen« Herrscher auszuk<br />
o m m e n , daß die Wohlfahrt eines Volkes<br />
sich blühender ausgestalten kann, w e n n<br />
dasselbe sich v o m D r u c k e dieser Gewalten<br />
befreit hat, wie Paris es w ä h r e n d den Kommunetagen<br />
sehr klar u n d deutlich erfuhr.<br />
Alle die tausendfache L ü g e <strong>und</strong> Verleumd<br />
u n g <strong>und</strong> Niedertracht, die g e g e n die Komm<br />
u n e <strong>und</strong> K o m m u n a r d e n beiden Geschlechtes<br />
ausgespielt w u r d e n — sie alle werden<br />
begreiflich, w e n n man das Eine w e i ß : Die<br />
K o m m u n e jagte ihre Regierung d a v o n ; die<br />
Pariser K o m m u n e wollte für Paris die<br />
Rechte unabhängigster Selbstverwaltung,<br />
dadurch für sich den zentralen Staat entsetzend<br />
<strong>und</strong> seines »wohltätigen Berufes«<br />
entkleidend; die Pariser K o m m u n e erklärte,<br />
die ö k o n o m i s c h e G r u n d l a g e des bestehenden<br />
Systems in Frankreich antasten zu<br />
wollen, u n d mit Waffengewalt verteidigten<br />
die Pariser Bürger ihre wirkliche Heimat<br />
— Paris — gegen die Söldner <strong>und</strong> Zuavenheere<br />
eines Thiers <strong>und</strong> M a c - M a h o n s —<br />
d i e K o m m u n e w a r d i e P r o k l a m a -<br />
t i o n d e r U n a b h ä n g i g k e i t , S e l b s t -<br />
s t ä n d i g k e i t u n d A u t o n o m i e e i n e s<br />
V o l k e s g e g e n ü b e r d e m S t a a t e , d e r<br />
g e s e l l s c h a f t l i c h e n Z e n t r a l g e w a l t !<br />
Heldenmütiges Paris, ihr Männer, Frauen,<br />
Kinder der K o m m u n e — wir denken<br />
euer! Ein leuchtendes Vorbild der Geistesklarheit,<br />
ein edles Standbild für großmütiges<br />
Opferwerk um eines Prinzips willen,<br />
verklärt vom Ruhmesstrahle einigen Wollens<br />
— so steht ihr März-Kämpfer von 1871<br />
vor u n s ! Es war der letzte Kampf, der da<br />
ausgefochten werden sollte; die Geschichte<br />
hat ihn noch nicht gewollt, aber ihr, die<br />
ihr mit euren Leichen den Boden Paris gedüngt<br />
<strong>und</strong> besät habt, ihr wäret die Bahnbrecher,<br />
die Pioniere von G e d a n k e n , die<br />
die Zeit reifen <strong>und</strong> siegen lassen wird.<br />
Das Paris von 1871 wollte Freiheit,<br />
wollte ö k o n o m i s c h e Gleichheit, wollte Selbstständigkeit<br />
<strong>und</strong> Brüderlichkeit. D a ß es nicht<br />
zur Ausführung all dieser Ideale gelangte,<br />
noch schreiten konnte, ist nicht seine, sondern<br />
seiner G e g n e r Schuld gewesen, die<br />
es umzingelten <strong>und</strong> im ewigen Kriegszustand<br />
erhielten. Aber zahlreich sind die<br />
Anzeichen, welchen W e g die K o m m u n a r d e n<br />
geschritten wären, welchen W e g sie hätten<br />
schreiten müssen, w e n n man der Entwickl<br />
u n g der K o m m u n e freien Lauf gelassen<br />
hätte, der Entwicklung z u m Sozialismus<br />
u n d zur k o n s e q u e n t e n A u t o n o m i e — Anarchie.<br />
W e n n wir der heroischen K o m m u n a r -<br />
den g e d e n k e n , dann steht vor u n s der 18. März;<br />
die Tage, die ihm folgten, erheben sich in gewaltiger<br />
G r ö ß e , w e n n auch ihre B e deutung<br />
vertieft aufgefaßt w e r d e n m u ß ; <strong>und</strong> endlich<br />
erheben sich vor unseren A u g e n die blutigen<br />
Maitage — das E n d e der K o m m u n e . . . .<br />
Kampfessichere Entschlossenheit <strong>und</strong><br />
herrliche Einmütigkeit des W o l l e n s — das<br />
ist uns der 18. März 1871. Verwirklichung<br />
eines Gr<strong>und</strong>prinzips des Sozialismus der<br />
anarchistischen Schule: die G e d a n k e n g ä n g e<br />
des Föderalismus <strong>und</strong> der Autonomie, das<br />
ist u n s die D a u e r der K o m m u n e . U n d ein<br />
Erbe, so s c h w e r <strong>und</strong> traurig anzusehn,<br />
weil es unheilverkündend in die Zukunft<br />
deutet, uns lehrt, daß das siegreiche Proletariat<br />
vor allem stets sich seinen Sieg bewahren,<br />
nicht wieder aus den H ä n d e n<br />
reißen lassen darf, bei Strafe des Unterg<br />
a n g e s nicht — das ist u n s das E n d e der<br />
K o m m u n e von 1871.<br />
* *<br />
*<br />
Die K o m m u n e w a r das Kind eines<br />
Krieges, der geführt w u r d e zwischen Deutschland<br />
<strong>und</strong> Frankreich. Zwei Völker waren
mutwillig aufgepeitscht w o r d e n zu einem<br />
m e n s c h e n s c h ä n d e n d e n , tausendfaches Unglück<br />
herbeiführenden Krieg, in d e m sie sich<br />
gegenseitig zerfleischten. D e r Krieg s o l l t e<br />
sein, so wollte es ein Bismarck, der zu diesem<br />
Z w e c k e selbst vor einer Fälschung der<br />
b e r ü h m t e n Emser D e p e s c h e nicht zurückscheute.<br />
Heute, wo Jahrzehnte der gereiften<br />
Entwicklungseinsicht hinter uns liegen,<br />
wissen wir es g e n a u g e n u g : D e r Krieg,<br />
der a n n o 1871 geführt w u r d e , drehte sich<br />
nicht etwa so sehr um Machterweiterung<br />
durch gewaltsame Aneignung, sondern vornehmlich<br />
darum, in Europa eine nicht mehr<br />
n e u e politische Geistesvorherrschaft abermals<br />
zu b e g r ü n d e n . Es w a r der Rachekrieg wider<br />
Frankreich; aber nicht wider den dritten<br />
Napoleon o d e r seinen erbärmlichen Nachtretern.<br />
Es war der Krieg g e g e n den stets<br />
von Frankreich aus über ganz E u r o p a<br />
flatternden Freiheitsgeist, der hier Rache<br />
nahm, dieses Frankreich der Revolutionen<br />
endgültig demütigen, zu Boden schleudern<br />
<strong>und</strong> abermals das Prinzip des zentralistischabsolutistischen<br />
G e d a n k e n s in g a n z E u r o p a<br />
aufpflanzen wollte. Dies gelang: unter der militärischen<br />
Übergewalt- <strong>und</strong> Macht Deutschlands<br />
brach Frankreich — innerlich uneinig<br />
durch soziale T e n d e n z e n — z u s a m m e n ,<br />
das militärische Prinzip des zentralisierten<br />
Großstaates Deutschland erhob triumphirend<br />
das blutige B a n n e r ; auf Jahrzehnte hinaus<br />
w a r jede b e d e u t e n d e revolutionäre Erheb<br />
u n g in E u r o p a tot, jede echt sozialistische<br />
B e w e g u n g zerfiel o d e r mußte direkt von<br />
n e u e m beginnen, es brach an die s o g e n a n n -<br />
te Iegalistisch-legitime Reaktionsperiode,<br />
die, a u s g e h e n d <strong>und</strong> gestützt von Deutschland,<br />
sich wie ein Todeskeim über den<br />
revolutionären G e d a n k e n von ganz Europa<br />
legte u n d erst gegenwärtig überall im Schwinden<br />
begriffen ist.<br />
Eine unfähige, korrumpierte Militär- <strong>und</strong><br />
Kriegsführung bereitete Frankreich Niederlage<br />
auf Niederlage. Unter ihrem Einflüsse<br />
drängten sich die Ereignisse, die z u m Sturze<br />
des Staatsstreichlers Napoleon III. führten<br />
<strong>und</strong> eine provisorische republikanische<br />
Regierung w u r d e eingesetzt. Aber sie w a r<br />
nur scheinbar republikanisch <strong>und</strong> stützte<br />
sich vornehmlich auf die Provinz, die das<br />
revolutionäre, nach Freiheit ringende Paris<br />
.nicht begriff. Zahlreiche royalistische Intrigen<br />
b e g a n n e n sich zu spinnen, insgeheim<br />
w u r d e Paris gelästert, beschimpft für das, was<br />
es getan hatte. U n d dann ging diese s o g e n a n n -<br />
te republikanische Regierung zur offenen, unverhüllten<br />
Herausforderung u n d Beschimpfu<br />
n g ü b e r : Sie verlegte ihren Sitz zuerst nach<br />
Bordeaux, dann nach Versailles, da ihr<br />
die leidenschaftlich erregte Stimmung in Paris<br />
w e n i g z u s a g t e ; dann wieder w a g t e n es diese<br />
zur Herrschaft gelangten Krautjunker, g e g e n<br />
positive soziale Erleichterungen für die<br />
weitesten Kreise der Bevölkerung, wie z. B.<br />
die S t u n d u n g der Mietszahlungstermine,<br />
aller Kreditpapiere, u. dgl. m., ihr V e t o<br />
einzulegen, dadurch die Aufregung nur<br />
steigernd, die sich nun zur höchsten sozialen<br />
N o t nicht nur für die Arbeiter, sondern<br />
auch <strong>und</strong> g a n z b e s o n d e r s für die<br />
minderbegüterten Klassen gestaltete <strong>und</strong><br />
aus dieser ihre N a h r u n g sog.<br />
Mittlerweile erlitt Frankreich unter<br />
der verräterischen, zweideutigen Haltung<br />
Trochu's Schlappe auf Schlappe. Und anstatt<br />
sich zur energischesten Aktion aufzuraffen,<br />
Frankreich g e g e n ü b e r d e m immer<br />
näher heranrückenden Feind zu verteidigen,<br />
wenigstens einmal g e h ö r i g zurückzuschlagen<br />
— vertrödelte die Nationalversammlung<br />
der neugeschaffenen Bourgeoisrepublik die<br />
kostbare Zeit mit den lächerlichsten Bedenken<br />
<strong>und</strong> gemeinsten Taten, zu d e n e n u. a.<br />
die Inhaftierung des großen Sozialisten<br />
B l a n q u i samt zahlreichen G e n o s s e n gehörte,<br />
nur weil sie diese, die konsequente-<br />
sten Vertreter des revolutionären Prinzips<br />
des damaligen Sozialismus, am meisten<br />
fürchtete <strong>und</strong> sie ihr im W e g e standen in<br />
ihren reaktionären Anschlägen, die auf die<br />
Wiedererrichtung des dritten Kaiserreiches<br />
hinaus liefen.<br />
Da, plötzlich, holte sie zu einem neuen<br />
Anschlage aus. — Es war der Funken,<br />
der ins Pulverfaß fallen sollte! — Allen<br />
ihren infamen Plänen stand eines hindernd<br />
g e g e n ü b e r : P a r i s ! Die Landbevölkerung<br />
konnte leicht g e n u g betört w e r d e n , nicht<br />
aber diese eine Stadt, die nun schon eine Tradition<br />
der Revolution besaß, <strong>und</strong> von dem<br />
man leicht a n n e h m e n durfte, daß es zur<br />
Etablierung einer d r i t t e n K o m m u n e schreiten<br />
könnte — schon im Mittelalter unter<br />
Marcel Stephan, dann wieder ihm Jahre<br />
1792 konstituierte sich Paris als selbständige<br />
Gemeinschaft, w e n n man nach der<br />
gereizten S t i m m u n g <strong>und</strong> dem ernsten Mißmut<br />
der ganzen Bevölkerung über das Regime<br />
der Nationalversammlung, die Kriegsführung<br />
usw., urteilen sollte. W a s g a b es<br />
d a z u tun? N u r eines: Die E n t w a f f n u n g<br />
von Paris — die W e g n a h m e der Kanonen<br />
u n d womöglich der G e w e h r e , die Aufheb<br />
u n g der Nationalgardisten, d e n e n man<br />
die Waffen z u m Kriegführen g e g e n den<br />
äußeren Feind g e g e b e n hatte, aber nicht<br />
zwecks Verteidigung ihrer eigenen Interessen.<br />
Es war dieser wahnwitzige Plan, der<br />
in d e m finsteren T y r a n n e n g e h i r n eines<br />
Thiers ausgebrütet w u r d e , der das Pariser<br />
Volk in einmütigster Selbstverteidigung zur<br />
k o m m u n a l e n Revolution schreiten ließ.<br />
D e n n alle: Männer, Weiber, ja sogar Kinder<br />
begriffen hier eines sehr w o h l : O h n e<br />
Bewaffnung waren sie verloren — war die<br />
Republik verloren — w a r e n alle Mühen,<br />
Sorgen, Kämpfe v e r g e b e n s g e w e s e n — ja,<br />
waren sie wehrlos, sowohl d e m inneren<br />
Feinde der n e u g e b a c k e n e n Regierungsmacht<br />
als auch d e m äußeren, den immer mehr<br />
umzingelnden deutschen Soldatenwerkzeugen<br />
ausgeliefert.<br />
Am 18. März 1871 sollte die Schandtat<br />
Thiers, des neuen Präsidenten der Republik,<br />
des größten Schurken, den u n s je<br />
die Weltgeschichte, in diesem Sinne wirklich<br />
ein Weltgericht, überantwortet hat, zur<br />
Ausführung gebracht w e r d e n .<br />
Früh morgens, als wie w e n n sie sich<br />
ob ihres T u n s schämten, drangen die<br />
Häscher <strong>und</strong> Räuber über den Montmartre<br />
vor. Aber siehe da — o h n e irgend welche<br />
Vorbereitung oder Verabredung, o h n e irg<br />
e n d welches Signal erhebt die Revolution<br />
ihr stolzes H a u p t . . . W e r waren die Ersten,<br />
die sich um ihre Kanonen stellten, ihre<br />
Waffen verteidigten? Wie hießen sie? W e r<br />
sagte ihnen, w a s b e v o r s t a n d ?<br />
Niemals hat es die Revolution glänzender<br />
bewiesen, daß sie nicht Werk von<br />
V e r s c h w ö r u n g e n o d e r einzelnen Agitatoren,<br />
sondern ein W e r k der Namenlosen, der<br />
vulkanische A u s b r u c h aller Gefühlselemente,<br />
die in den getretenen <strong>und</strong> verachteten<br />
Namenlosen schlummern, ist, als die Pariser<br />
K o m m u n e es lehrte <strong>und</strong> zeigte. W e r es<br />
gewesen, der den 18. März 1871 zu einem<br />
glorreichen Volkstage gestaltete, fragt ihr?<br />
— Keiner weiß es. Vielleicht irgend ein<br />
W e i b des Volkes, vielleicht irgend ein<br />
Kind, das sich in unbestimmter M o r g e n -<br />
d ä m m e r u n g im Freien befand <strong>und</strong> die<br />
dunklen Soldatengestalten beobachtete, wie<br />
sie ihr schändliches W e r k zur Ausführung<br />
bringen wollten. G e n u g — im Nu war es<br />
überall lebendig, aus allen Häusern <strong>und</strong><br />
Kellern strömte das Volk, scharte sich um<br />
seine Verteidigungsmittel, redete gütlich auf<br />
die Soldaten ein, b e s c h w o r sie, von ihrem<br />
volksverräterischen T u n abzustehen, ihre<br />
Väter, Mütter, Geschwister nicht wehrlos<br />
zu machen. Und urplötzlich verwandelte<br />
sich das Bild auf dieser Szene welthistori-<br />
sehen G e s c h e h e n s : — in den Armen lagen<br />
sich die Arbeiter im Soldatenrock <strong>und</strong> die<br />
Arbeiter im Arbeitskittel, die Soldaten <strong>und</strong><br />
das Volk fraternisierten. Die Menschen hatten<br />
sich als Menschen wiedergef<strong>und</strong>en . . .<br />
Aber es gab auch solche, denen das<br />
rein Menschliche fremd <strong>und</strong> die keiner<br />
menschlichen R e g u n g zugänglich waren.<br />
T h o m a s <strong>und</strong> Lecomte, die ihren Soldaten<br />
auf das Volk zu schießen befahlen — <strong>und</strong><br />
die diesen entsetzlichen Befehl mit ihrem<br />
Leben b ü ß e n mußten. —<br />
Und als die M o r g e n s o n n e sich in<br />
strahlender Pracht über Paris erhob, da<br />
waren nicht nur die Schatten der Nacht<br />
verscheucht, d a war auch e i n T a g der<br />
Freiheit a n g e b r o c h e n , ein T a g des Lichtes<br />
<strong>und</strong> der Freude. Die funkelnden Strahlen<br />
der S o n n e beleuchteten das Paris der<br />
Freiheit, das verlassen w u r d e von allen<br />
reaktionären Elementen. Eines aber stand<br />
stolzer da als je, das Haupt noch kühner<br />
i n den Nacken g e w o r f e n : D a s V o l k v o n<br />
P a r i s , d a s h e l d e n m ü t i g e , w a c k e r e<br />
V o l k d e s F r e i h e i t s k a m p f e s , d a s<br />
P a r i s d e r R e v o l u t i o n u n d G e -<br />
r e c h t i g k e i t . . .<br />
* *<br />
*<br />
Das ist es, w a s wir an dem 18. März<br />
des Jahres 1871 in begeisterten W o r t e n<br />
feiern.<br />
W a s nun folgt, ist der heldenmütigste<br />
F r i e d e n s k a m p f eines Volkes, den es je<br />
g e g e b e n . Denn Paris wollte Frieden mit<br />
dem übrigen Frankreich, wollte in Wahrheit<br />
das Prinzip der Brüderlichkeit walten<br />
lassen, wollte gemeinsam die Verteidigung<br />
Frankreichs g e g e n den Ansturm der Militärreaktion<br />
Deutschlands durchführen. Dieses<br />
ernste Streben nach Frieden ist ein<br />
Ruhmesblatt der Pariser K o m m u n e , die sich<br />
nun konstituierte in einer vom Volke mit<br />
überwältigender Majorität siegreich durchgeführten<br />
Abstimmung, aber dieses Streben<br />
der Pariser K o m m u n e nach Frieden, w ä h -<br />
rend alle Reaktionsgewalten sich zum Krieg<br />
g e g e n sie konzentrierten, sollte auch ihr<br />
U n g l ü c k w e r d e n .<br />
Es w ü r d e uns zu weit führen, wollten<br />
wir den G a n g der Ereignisse auch nur<br />
flüchtig skizzieren. Es genügt, w e n n wir<br />
die Situation in einigen markanten Strichen<br />
kennzeichnen, d e n n diese Periode gehört<br />
ja schon eigentlich den g r u n d l e g e n d e n Ursachen,<br />
die zur blutigen M a i w o c h e <strong>und</strong><br />
dem U n t e r g a n g e der K o m m u n e führten,<br />
an, <strong>und</strong> wir w e r d e n ohnedies nochmals<br />
auf dieselben z u r ü c k k o m m e n .<br />
Dort w o die K o m m u n e a n a r c h i s -<br />
t i s c h , das heißt, aus dem Innersten des<br />
Volkes, aus seiner eigenen Kraft <strong>und</strong> Erkenntnis<br />
heraus gehandelt hatte, dort ist<br />
sie siegreich g e w e s e n . Der 18. März g e -<br />
hört d e m Siegesgedanken des Anarchismus,<br />
instinktiv verwirklichte ihn das Pariser Proletariat.<br />
W a s nun anhebt, das ist noch immer<br />
großartig <strong>und</strong> gewaltig, aber es ist nicht<br />
mehr die Aktion des Volkes selbst, sondern<br />
eines g e f ü h r t e n Volkes, das sich selbst<br />
erwählte Volksführer auferlegte <strong>und</strong> die<br />
konstituierte Kraft der Revolution dadurch<br />
ihrer fähigsten Elemente beraubte, diese<br />
auf das abschüssige Gebiet des parlamentarischen<br />
G e s c h w ä t z e s , der Komiteediskussion<br />
verweisend, das in einer Zeit, die förmlich<br />
nach Taten schrie.<br />
In der Aktivität der K o m m u n e selbst,<br />
mit ihrem Zentralkomitee, ihren Beschlüssen<br />
<strong>und</strong> der Art ihrer Durchführung können<br />
wir etwas d u r c h a u s S o z i a l d e m o k r a t i -<br />
s c h e s erblicken. So ist denn auch die<br />
W e s e n s a r t der K o m m u n e die große praktische<br />
Lehre von der Unfähigkeit irgend<br />
einer Regierung, eine Revolution im Volkssinne<br />
der Befreiung glücklich zu E n d e führen<br />
zu können, ist der beste, praktisch erprobte<br />
Beweis für die totale Lahmlegung
der besten revolutionären Kräfte im Volke,<br />
w e n n dieses in b e w e g t e n Zeitläufen sich<br />
Autoritäten erkürt, die es leiten sollen,<br />
statt im stolzen Selbstvertrauen seine Sache<br />
durch- <strong>und</strong> zu E n d e zu führen. An<br />
dieser Zentralregierung, ihrer Unfähigkeit<br />
<strong>und</strong> oftmals Feigheit ging die K o m m u n e<br />
zu G r u n d e — <strong>und</strong> in diesem traurigen<br />
Ende sehen wir das Aufgehen der revolutionären<br />
Erkenntnis des Anarchismus von<br />
der h e r r s c h a f t s l o s durchzuführenden<br />
U m w ä l z u n g der sozialen Lebensverhältnisse:<br />
eine Revolution, die mit d e m möglichen<br />
Minimum an Gewalt- <strong>und</strong> Opferverlusten<br />
an Leben das M a x i m u m des m ö g -<br />
lichen Glückes für Alle erreicht u n d dies<br />
in einer lebendigen Periode beschleunigtester<br />
Evolution, an der alle Kräfte des G e -<br />
sellschaftswesens mitwirken, fortschreitend<br />
das N e u e gebärend.<br />
Wie dem aber auch sein m ö g e , lassen<br />
wir die Fehler der K o m m u n e , <strong>und</strong> w e n d e n<br />
wir uns vor allem i h r e m e r n s t e n W o l -<br />
l e n zu. Und da sehen wir viel. Man bed<br />
e n k e : von allen Seiten u m g e b e n von<br />
wuterfüllten Hassern, v e r m o c h t e die Komm<br />
u n e noch an eine g a n z e Anzahl soziale,<br />
tiefgreifende Reformen zu denken, <strong>und</strong><br />
was das Wichtigste: versuchte sie den langsamen,<br />
allmählichen Ü b e r g a n g zur sozialistischen<br />
Produktion u n d Verteilung durch<br />
Einsetzung einer Kommission, die die durch<br />
die Flucht ihrer Eigentümer nun leerstehenden<br />
Werkstätten <strong>und</strong> kleineren Fabriken<br />
wieder in genossenschaftlichen Betrieb setzen<br />
lassen sollte. Es obliegt bei allen Kennern<br />
gar keinem Zweifel, daß sie naturnotwendig<br />
zum Sozialismus gelangt wäre. Die Komm<br />
u n e proklamierte das Prinzip d e s internationalen<br />
Völkerfriedens <strong>und</strong> stieß das<br />
Symbol d e s m o r d e n d e n Krieges, Napoleon I.<br />
Monument, um. Im übrigen ist es Tatsache,<br />
daß alle die infamen Lügen der Versailler<br />
Regierungsbanditen, der Thiers, Gallifets,<br />
Mac Mahons, Vinoys u. s. w., ü b e r den<br />
Und auch ihr, Sklavinnen der Sklaven <strong>und</strong><br />
weibliche Hörige der Geldmächtigen unserer <strong>und</strong><br />
jeder Zeit der Geldherrschaft, sollt nicht vergessen<br />
werden in diesen Märzblättern der Revolution. Denn<br />
ihr gehört zu uns, die Arbeiterin zum Arbeiter, gemeinsam<br />
strebend <strong>und</strong> kämpfend für die glorreiche<br />
Sache der Freiheit <strong>und</strong> Gleichheit für beide Geschlechter<br />
<strong>und</strong> alle Welt. Arbeiterfrauen <strong>und</strong> Mädchen<br />
des Proletariats — ihr gehört zu uns, in allen großen<br />
Auferstehungsepochen der Menschheit habt ihr<br />
Schulter an Schulter mit dem Manne für die unvergänglichen<br />
<strong>Ziel</strong>e sozialer Humanität gestritten,<br />
ihr habt uns Kinder geschenkt, die in den vordersten<br />
Reihen des Emanzipationskampfes standen, habt<br />
uns eine Louise Michel gegeben! Sie sei das Symbol<br />
der ewigen Gleichheit zwischen Mann <strong>und</strong> Weib<br />
in allen Gegenseitigkeitsbeziehungen, so wie sie im<br />
Kampfe der Kommune das Symbol des einmütigen<br />
Trachtens von Mann <strong>und</strong> Weib für das gleiche<br />
Ideal der Befreiung gewesen!<br />
Als Kind freier Liebe ward „die gute Louise",<br />
als die Louise Michel jedes Pariser Kind kannte,<br />
am 20. April 1833 in einem herrschaftlichen Schloß<br />
geboren. Wie der Monat, in dem sie das Licht der<br />
Welt erblickte, stürmisch <strong>und</strong> unruhevoll ist, so<br />
war auch ihr Leben: stets erfüllt von Kämpfen,<br />
vom Ringen gegen die bestehenden Gewalten <strong>und</strong><br />
heiligenartiger Ergebung in das ihr auferlegte Leid.<br />
Nach einer guten Erziehung verließ Louise Michel<br />
als junges Ding das Palais ihrer Geburt. Sie war<br />
eine Lehrerin <strong>und</strong> der gewöhnliche <strong>Weg</strong>, der Staatsdienst,<br />
stand ihr offen. Doch schon damals regte<br />
sich in dem bereits zur glühenden Republikanerin<br />
herangereiften Mädchen ein ungewisses Etwas der<br />
Abneigung gegen jedes Karrieremachen. Und um<br />
dem verhaßten Staatsdienste zu entgehen, begründete<br />
sie eine eigene Schule <strong>und</strong> schlug sich damit kümmerlich<br />
genug durchs Leben. An der Agitation gegen<br />
das dritte- Kaiserreich nahm sie den tätigsten Anteil<br />
<strong>und</strong> als dieses am 4. September 1870 gestürzt wurde,<br />
ruhte sie nicht; sie setzte den Kampf fort, diesmal<br />
gegen die heuchlerische Scheinrepublik. Während<br />
der Kommune stand der ganze 18 Arrondissement<br />
unter ihrer umsichtigen Fürsorge. Gekleidet wie<br />
ein Soldat der Nationalgarde, gelang es ihr, die<br />
Raub, die Plünderung, das Petroleusentum<br />
der K o m m u n e sehr s c h ö n e Phantasiemärchen<br />
waren, an d e n e n auch nicht der<br />
Schatten einer Wahrheit. Die Rotschild'sche<br />
Bank von Paris kann ein Stückchen Lebenstatsache<br />
darüber berichten; daß nämlich die<br />
K o m m u n a r d e n die Bank durch Wachtposten<br />
beschützen ließen <strong>und</strong> in ganz ehrbarer<br />
Weise eine sehr u n b e d e u t e n d e Anleihe von<br />
ihr aufnahmen, von ihr, die die K o m m u n e<br />
sofort anerkannte — wie konziliant ist doch<br />
das Kapital! — hinter ihrem Rücken aber<br />
auch der republikanischen Versailler Mörderklique<br />
eine unendlich b e d e u t e n d e r e Geldanleihe<br />
als der K o m m u n e g e w ä h r t e .<br />
U n d Paris selbst, die Stadt, wie befand<br />
sie sich? Es war das ewig junge, s c h ö n e<br />
Paris, das Paris, das im sorglosesten Freudenjubel<br />
dahinlebte. N u n aber nicht m e h r<br />
im Orgientaumel der reichen Prasser <strong>und</strong><br />
V o r n e h m e n , sondern das Volksparis mit<br />
seinen nun allen zugänglichen Volksbelustigungen,<br />
der A b w e s e n h e i t jedes Diebstahls<br />
<strong>und</strong> sogenannten Verbrechens an L e b e n <strong>und</strong><br />
Sicherheit, der A b w e s e n h e i t jeder Prostitution,<br />
kurz der bürgerlichen W e l t o r d n u n g s -<br />
schablone. Dieses Paris konnte selbst seine<br />
grimmsten, gemeinsten G e g n e r nicht hassen.<br />
In seinem friedlichen Glück <strong>und</strong> freien Leben,<br />
in der unter den U m s t ä n d e n b e w u n -<br />
d e r u n g s w ü r d i g e n O r d n u n g , der Selbstlosigkeit<br />
der meisten seiner führenden Persönlichkeiten<br />
— wir n e n n e n nur Varlin, Duvai,<br />
Delescluze, Arnould etc., — glaubte es,<br />
der Welt ein herrliches Beispiel der selbste<br />
r r u n g e n e n Freiheit zu g e b e n <strong>und</strong> seine<br />
Feinde zu b e k e h r e n . Es hat sich arg g e -<br />
täuscht; aber dies gereicht nicht Paris, sondern<br />
den Kabylenschlächtern <strong>und</strong> der republikanischen<br />
Bourgeoisie zur ewigen<br />
S c h a n d e <strong>und</strong> Schmach.<br />
Die Pariser K o m m u n e hat mit ihren<br />
Fehlern den nachfolgenden Geschlechtern<br />
diejenigen Lehren g e g e b e n , die ihnen über<br />
vieles hinweghelfen werden, was sich sonst<br />
Eine Heldin der Kommune.<br />
Frauen dieses Bezirkes zu organisieren; dazu gesellte<br />
sich ihre eifrige Mitarbeit bei der Begründung<br />
des sogenannten Wachsamkeitskomitees. Nicht nur<br />
als friedliche Kulturpionierin stand sie mit ihrer<br />
ganzen Person ein, nein, auch als Kämpferin; <strong>und</strong><br />
in den blutigen Straßenkämpfen der grauenhaften<br />
Maiwoche erblicken wir sie als heldenmütige Barri-<br />
kadenkämpferin, die bereit ist zu sterben, die sich<br />
niemals ergibt . . . Gefangen genommen, wird sie<br />
am 16. Dezember 1871 vor die berüchtigten Kriegsgerichte<br />
der Versailler gestellt. Ihre Verteidigung<br />
besteht in einer begeisterten K<strong>und</strong>gebung für die<br />
Kommune <strong>und</strong> als Kommunardin, ist der vorauskündende<br />
Hohn der Zukunft, der den Richtern, die<br />
wie Xerxes glauben, das schäumende <strong>und</strong> sturm-<br />
wie Ballast an ihren Fersen <strong>und</strong> A r m e n<br />
g e h ä n g t hätte. W ä r e n die K o m m u n a r d e n<br />
sofort ü b e r g e g a n g e n zum freien K o m m u n i s -<br />
mus, wie sie es t e i l w e i s e s o w o h l politisch<br />
als auch ökonomisch ja taten — vieles,<br />
vieles w ä r e wahrscheinlich anders gek<br />
o m m e n . D e n n diese Ü b e r e i n s t i m m u n g der<br />
ö k o n o m i s c h e n Gemeinschaftsprinzipien mit<br />
den sozialpolitischen hätte u n g e a h n t e Elementarkräfte<br />
erstehen lassen, die unweigerlich<br />
zum Siegesverlaufe d e r e r h a b e n e n Zukunftssache<br />
geführt hätten.<br />
* *<br />
Es hat noch nicht sein sollen — <strong>und</strong><br />
so n e h m e n wir die K o m m u n e als das, was<br />
sie war, als das, was sie uns b o t<br />
Die A s t r o n o m i e lehrt uns, daß es Sterne<br />
gibt, die erst im Sinken hell erstrahlen<br />
<strong>und</strong> ein fast überirdisch leuchtendes Licht<br />
verbreiten. E i n s o l c h e r S t e r n a m F i r -<br />
m a m e n t d e s s o z i a l e n R i n g e n s w a r<br />
u n d i s t d i e P a r i s e r K o m m u n e . Ein<br />
Heldendenkmal d e s Volksmutes, die große<br />
Gemeinschaftstat eines geeinten Volkes,<br />
das Z e r b r e c h e n von Ketten, die bislang unzerbrechlich<br />
schienen u n d eine leuchtende<br />
Fackel in die Z u k u n f t Und w e n n wir uns<br />
auch der Hoffnung hingeben wollen, daß<br />
das strahlende Licht d e r menschlichen Vernunft<br />
u n d Humanität u n s vieles von der<br />
tiefschwarzen Trauer jener T a g e erübrigen,<br />
ersparen wird, so neigen wir d o c h dankend<br />
u n s e r H a u p t in treuer Erinnerung<br />
an die erhabenen T a g e der K o m m u n e ; am<br />
18. März, da wollen auch wir in G e d a n -<br />
ken hinaus z u m Pere Lachaise, zur historischen<br />
Friedhofsmauer, dort, wo die Komm<br />
u n a r d e n den letzten Befreiungskampf<br />
kämpften, in ihrer Niederlage den Zukunftssieg<br />
der Freiheit verbürgten <strong>und</strong> ihrer<br />
d e n k e n : der Pioniere, u n s e r e r Vorkämpfer<br />
<strong>und</strong> Pioniere, die da lebten <strong>und</strong> starben<br />
mit einem Ruf auf den Lippen, der ertönen<br />
wird, bis er Wirklichkeit w a r d :<br />
» E s l e b e d i e K o m m u n e ! «<br />
bewegte Meer durch Peitschenhiebe bändigen zu<br />
können, in die Ohren gellt. Damals entrann Louise<br />
Michel nur wie durch ein W<strong>und</strong>er der Todesstrafe.<br />
Grausam genug lautete indeß das Urteil: lebenslängliche<br />
Verbannung nach Neu-Kaledonien. Neun<br />
Jahre hat sie dort verbracht — ungebeugt <strong>und</strong><br />
mittlerweile vollends zur Anarchistin geworden,<br />
kehrte sie zurück. Kaum drei Jahre des Friedens<br />
sind ihr vergönnt, da wird sie wieder zu sechs<br />
Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie hungernde<br />
Arbeitslose in vollgepfropfte Bäckerläden geführt<br />
<strong>und</strong> das dort befindliche Brot unter ihnen verteilt<br />
hatte. —<br />
Als Louise Michel, begünstigt durch eine<br />
Amnestie, nach drei Jahren wieder „in die Freiheit"<br />
rückkehrte, war vorläufig ihres Bleibens in Frankreich<br />
nicht länger, da der französische Staat nun<br />
einen definitiven Anschlag auf ihr Leben plante.<br />
Kurz gesagt: Er, der grausame Heuchler, wollte<br />
diesen herrlich freien Geist für wahnsinnig erklären<br />
lassen . . . Und so sehen wir denn Louise Michel<br />
auch das bittere Brot des Exils essend, in kümmerlichsten<br />
Existenzkämpfen sich aufreibend, doch unermüdlich<br />
in der Propaganda des kommunistischen<br />
Anarchismus <strong>und</strong> der Idealprinzipien einer neuen<br />
Lebensethik. Dieser stählerne Frauencharakter <strong>und</strong><br />
dieses weichste aller gütigen Herzen gegenüber dem<br />
Elend des Volkes hat seine soziale Frage niemals<br />
zu lösen verstanden — wie die meisten Pseudorevolutionäre.<br />
Sie blieb stets die arme, nur i n n e r -<br />
l i c h reiche <strong>und</strong> im Geben unerschöpflich reiche<br />
Propagandistin. Der Tod ereilte sie auf einer Agitationstour<br />
durch Frankreich für die internationale<br />
antimilitaristische Assoziation; es war in den Jännertagen<br />
von 1905. Keine Königin hat je solch ein<br />
Leichenbegängnis erhalten, wie diese schlichte<br />
Volkstribunin, der ganz Frankreich ein Geleite gab<br />
Louise Michel lernt man am besten aus ihrer<br />
selbstverfaßten Memoiren kennen: als Mensch,<br />
als Denkerin <strong>und</strong> als Kämpferini So nur wird man<br />
es begreifen, wenn wir sagen: Und ist sie auch<br />
tot, so weilt sie doch unter uns, denn der Geist<br />
dieser heldenmütigen Kommunardin ist eingeschreint<br />
in unseren Herzen mit allen Hoffnungen <strong>und</strong> Id»*<br />
unseres Kampfes!
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Österreich.<br />
W i e n . Achtzehnh<strong>und</strong>ertvierzig<strong>und</strong>acht, Jahr der<br />
Revolution des bürgerlichen Freiheitssinnes, erhebe<br />
dein greisenhaftes Haupt, um unseren gegenwärtigen<br />
Kampf zu beobachten — <strong>und</strong> neige es wieder tief<br />
beschämt . . . Das, wofür du gestritten hast, für<br />
die Geistesfreiheit, die Abschaffung der Zensur, die<br />
Preßfreiheit, noch lange, lange haben wir es nicht<br />
erreicht. Oder doch: es gibt Preßfreiheit, aber<br />
wohlgemerkt: nur für die, die ihrer nicht bedürfen,<br />
da die Gedanken, die sie predigen, so harmlos <strong>und</strong><br />
für das Bestehende so wenig belästigend sind, daß<br />
sie der Preßfreiheit, die für sie allerdings besteht,<br />
wirklich nicht bedürfen. D i e s e Männer der<br />
Dunkelheit <strong>und</strong> des Schattens haben die Abschaffung<br />
der Zensur <strong>und</strong> der Preßfreiheit schon durchgeführt;<br />
aber nur für sich, nicht für Alle, nicht für<br />
die unbequemen Gedanken des Lichtes <strong>und</strong> der<br />
Freiheit <strong>und</strong> der sozialen Gerechtigkeit, die das<br />
Althergebrachte <strong>und</strong> Allerheiligste antasten. Für<br />
diese letzteren besteht die Zensur in vollster<br />
Schärfe, ist die Preßfreiheit illusorisch, denn stets<br />
dräut über ihr der ruchlose Arm staatlicher Ahndung.<br />
<strong>Unser</strong>e Nummer 4 wurde nicht beschlagnahmt.<br />
Schon glaubten selbst wir an eine mögliche Selbstbesinnung<br />
der Zensurbehörde <strong>und</strong> meinten, des<br />
an anderer Stelle befindlichen Dokumentes für diese<br />
vorliegende Nummer entbehren zu müssen. Es hat<br />
aber nicht sein dürfen! Und so sind wir denn in<br />
der charakteristischen Lage, nun einmal das bekannte<br />
Freiligrathsche Gedicht mit einer kostbaren Variante<br />
anzuwenden <strong>und</strong> als Lebende zu den Toten des<br />
„tollen Jahres" sprechen zu müssen . . . Wir können<br />
ihnen schwarz auf weiß es beweisen, wie sie so<br />
gar nichts erzielt haben, <strong>und</strong> wir auch heute noch<br />
unter denselben Bedrückungen leiden wie ehedem.<br />
In punkto Geistesfreiheit sind wir stehen geblieben,<br />
nach wie vor kostet es Kampf, erbitterten Kampf,<br />
so denken <strong>und</strong> d a s Gedachte aussprechen zu<br />
dürfen, wie man es für gut <strong>und</strong> richtig hält. Lauschet,<br />
Ihr toten Rebellen — <strong>und</strong> erstaunt nur höchstens<br />
darüber, daß die lebende Generation so ganz ruhig<br />
darüber hinweggeht, ohne viel Aufhebens über<br />
diesen Kampf gegen Geistes- <strong>und</strong> Gewissensfreiheit<br />
zu machen. Ihr Toten schläft den Todesschlaf, wir<br />
aber, die Lebenden, den Winterschlaf unseres<br />
Geistes, <strong>und</strong> dies ist weit ärger als der Tod.<br />
Wie ist es doch merkwürdig eingerichtet bei<br />
uns in Österreich! Weil wir den Anarchismus so<br />
verkünden, wie er es benötigt, seine Prinzipien klar<br />
<strong>und</strong> deutlich darlegen <strong>und</strong> es wahrheitsgemäß konstatieren,<br />
daß wir uns als Anarchisten fühlen, weil<br />
wir die bestehende Staatsgewaltsgesellschaft nicht<br />
lieben — deshalb wurde unser Blatt Nummer<br />
für Nummer konfisziert. Es ist nun einmal s o : in<br />
Österreich muß man ein Revolverblatt herausgeben,<br />
erklären, daß Anarchismus Raub, Mord, Niedertracht,<br />
Gaunerei, Ausbeutung, Menschenversklavung,<br />
Vergewaltigung der Individualität, Verursacher alles<br />
sozialen Elends sei — also lauter Lügen, deren<br />
Wahrheitskern ganz wo anders zu suchen! — um<br />
von der hohen Behörde der zensurierten Preßfreiheit<br />
unseres Vaterlandes nicht konfisziert zu werden.<br />
Eine Prämie auf Wahrheit bieten wir, andere eine<br />
Prämie auf Unverstand!<br />
W i e n e r - N e u s t a d t . Die schmählichen Niederlagen<br />
der Arbeiterbewegung Deutschlands auf ökonomischem<br />
Gebiete, die von den berufsmäßigen<br />
Führern als „Siege" dargestellt werden — häufen<br />
sich in letzter Zeit auch bei uns, in Österreich-<br />
Ungarn. Und auch hier lügen die Führer den<br />
Massen die Verluste in herrliche Triumphe um.<br />
Obigen Ortes verhängte die Lokomotivfabriksdirektion<br />
eine A u s s p e r r u n g über ihre 2500 Arbeiter.<br />
W e s h a l b ? Weil die Arbeiter nur leise Unmutsäußerungen<br />
über die unbegründete, gewissenlose<br />
Entlassung von z e h n Berufskollegen von sich gegeben<br />
hatten. Aber sie murrten nur <strong>und</strong> so ging<br />
die Firma zum Angriff über; die tausende von<br />
Arbeitern lagen auf der Straße. Sie hatten die<br />
f r e i w i l l i g e Kampfessolidarität nicht gewollt, nun<br />
hatten sie die demütigende Verachtung von oben.<br />
Auch das wäre noch nicht das Ärgste gewesen.<br />
Aber was taten die Arbeiter n u n ? Alarmierten sie<br />
alle übrigen Arbeiter der Lokomotiv- <strong>und</strong> Maschinenbauindustrie?<br />
Mit nichten. Sie — „streikten" halt;<br />
das bedeutet: sie arbeiteten nicht, weil sie nicht<br />
durften, weil das Unternehmertum mit ihnen streikte.<br />
Und endlich nach zweiwöchentlichem „Kampfe" —<br />
woraus bestand dieser? — krochen die Arbeiter<br />
zu Kreuze. Die zehn Gemaßregelten erklärten „ f r e i <br />
w i l l i g " auf die Wiederaufnahme in die Fabrik zu<br />
verzichten, die übrigen Arbeiter nahmen diese<br />
„freiwillige" Verzichtleistung mit größter Begeisterung<br />
auf — <strong>und</strong> wen glauben die Herren sozialdemokratischen<br />
Leiter, Müller, Schmerz, Domes usw.,<br />
eigentlich zu täuschen, wenn sie da von einem —<br />
Siege der Arbeiter r e d e n ? Es ist zum Lachen, wenn<br />
es nicht allzu traurig wäre.<br />
Die österreichischen Arbeiter müssen den<br />
ernsten, Sozialrevolutionären Gewerkschaftskampf<br />
erst <strong>und</strong> noch lernen, bevor sie Siege, wirkliche<br />
Siege zu verzeichnen haben werden. Solange sie<br />
sich zu Stimmnarren für die Sozialdemokratie oder<br />
irgend eine andere politische Schwindelbande hergeben,<br />
gibt es für die Arbeiter nur Niederlagen,<br />
Für die Führer <strong>und</strong> Erwählten fette Bissen <strong>und</strong><br />
Lebensrenten.<br />
Portugal.<br />
L i s s a b o n . „Der König ist tot — es lebe der<br />
König!" So hieß es ehedem am Bourboneuhofe,<br />
so heißt es jetzt auch am Braganzathron. „Don<br />
Carlos ist tot — es lebe Don Manuel!" . . . D o n !<br />
D o n ! . . .<br />
Ein Schuß Pulver als pereat, einer als viveat,<br />
<strong>und</strong> das Rad der Weltgeschichte dreht mit Knarren<br />
eine Speiche weiter, es knarrt trotz Fürstenblutes,<br />
denn der Wagen rückt nicht von der Stelle —<br />
„Status quo antes" nennt das die Diplomatie. Und<br />
das monarchische Prinzip jubiliert.<br />
Wieder einmal bewahrheitet sich Axel Oxenstjernas<br />
Ausspruch, wie wenig Verstand dazu gehöre,<br />
ein Volk zu regieren.<br />
Don Manuel verzichtete auf die selbstwillige<br />
Erhöhung der Zivilliste seines hochseligen Erzeugers,<br />
um für dies Geld <strong>und</strong> darüber hinweg den Sicherheitsdienst<br />
zu reorganisieren, wirft rasch ein paar<br />
liberale Gesetzhappen dem großen Haufen vor, ein<br />
paar Hoflakaistellen für die führenden Geister <strong>und</strong><br />
dem Rest die H<strong>und</strong>epeitsche <strong>und</strong> den Maulkorb —<br />
<strong>und</strong> jubelnd jauchzt das Volk am Tajo: „Es lebe<br />
Don Manuel!"<br />
Alles dies trägt viel dazu bei, in der anarchistischen<br />
Bewegung Portugals Klärung zu schaffen,<br />
denn bis jetzt waren alle oppositionellen Elemente<br />
durch den Diktatordruck Francos zu einem verworrenen<br />
Knäuel zusammengeballt, bis jetzt wurden<br />
die Anarchistengesetze gegen alles Regierungsfeindliche<br />
ohne Unterschied angewandt; nun soll das<br />
aufhören, die Ausnahmegesetze sollen nur gegen<br />
Anarchisten Geltung haben — — <strong>und</strong> in heilloser<br />
Flucht verlassen die Ratten das gefährliche Schiff.<br />
Republikaner, Progressisten, Liberale, Regeneratoren<br />
etc. etc. wehren sich entschieden, mit den<br />
Anarchisten etwas gemeinsam zu haben <strong>und</strong> nur in<br />
den allerseltensten Fällen lassen sie sich zn einer,<br />
wenn auch nur indirekten Verteidigung ihrer einstigen<br />
Leidensgenossen herab. Als vereinzeltes Beispiel<br />
dieser Art verdient ein H o m e n C r i s t o<br />
gezeichneter Artikel der republikanischen Wochenschrift<br />
„ 0 P o v o d e A v e i r o " zitiert z u werden<br />
<strong>und</strong> soll deshalb sein Hauptteil hier wiedergegeben<br />
w e r d e n :<br />
„Wir haben mit Antipatrioten <strong>und</strong> Anarchisten<br />
nichts gemein", fängt der Artikel an,<br />
um wie folgt weiterzufahren.<br />
„Doch zwischen Anarchist sein <strong>und</strong> den<br />
Anarchismus verabscheuen, besteht ein großer<br />
Unterschied, so wie es einen großen Unterschied<br />
zwischen einem Menschen gibt, der<br />
natürliche Anhänglichkeit zu seiner Heimat empfindet<br />
<strong>und</strong> einem solchen, der im Namen des<br />
Patriotismus jedes Verbrechen, jede Vergewaltigung<br />
für zulässig erachtet.<br />
Wir müssen es für Barbarei, für ein Verbrechen<br />
erklären, wenn man Leute vogelfrei<br />
erklärt, weil sie eine Lehre vertreten, die sich<br />
morgen vielleicht schon verwirklichen könnte.<br />
Wir können heute den Anarchismus für<br />
eine Schwärmerei halten. Doch für gleiche<br />
Schwärmerei hielten die Absolutesten den Konstitutionalismus.<br />
Für gleiche Schwärmerei hielten<br />
die konstitutionellen Monarchisten den republikanischen<br />
Gedanken.<br />
Wir können heute den Anarchismus für<br />
eine Unmöglichkeit halten. Doch unmöglich<br />
hielten es auch die feudalen Ritter, daß der<br />
Feudalismus fallen könne. Unmöglich hielten<br />
es die Anhänger einer konstitutionellen Monarchie,<br />
daß diese eines Tages fallen könne.<br />
Für unmöglich galt es, eine konservative Republik<br />
zu stürzen. Unmöglich erscheint der<br />
anarchistische Sozialismus für staatliche Sozialisten.<br />
Für unmöglich wird alles erklärt, was<br />
der Gewohnheit <strong>und</strong> der Routine störend vorkommt.<br />
Unmöglich ist alles, w a s vom ausgetretenen<br />
<strong>Weg</strong> ab will, dem die Menschheit<br />
in ihrem Herdensinne folgt.<br />
Für unmöglich hielt man den Gedankenflug<br />
eines Kopernikus. Unmöglich die Ideen<br />
Galileis. Unmöglich alle Schöpfer der Wahrheit,<br />
alle Freiheitskämpfer, alle Morallehrer.<br />
Unmöglich war der Seeweg nach Indien, unmöglich<br />
die Entdeckung der Neuen Welt. Unmöglich<br />
ist die Existenz der Gestirne, die noch<br />
nicht bekannt sind, unmöglich ist auch das<br />
Licht, das noch nicht sichtbar wurde.<br />
Wir können den Anarchisten zurufen: „Es<br />
ist noch zu früh, um an einen Triumph Eurer<br />
Ideale denken zu können. Beachtet den wilden<br />
Zustand, in dem sich die Menschheit noch befindet.<br />
Mäßigt also Euren Eifer."<br />
Wir würden sogar die Behauptung aufstellen,<br />
daß wir es nicht für wahrscheinlich<br />
halten, daß die Spezies „Mensch" jemals ihre<br />
tierische Natur aufgebe.<br />
Doch wer vermag zu behaupten, daß die<br />
Gerechtigkeit, die von Anarchisten verlangt<br />
wird, <strong>und</strong> die menschliche Vollkommenheit, die<br />
sie lehren, zum Unmöglichen gehören. Nur<br />
Schwachsinn oder große Unwissenheit vermag<br />
die Lehren aus dem Wind zu schlagen, die<br />
uns die Geschichte der Vergangenheit liefert,<br />
denn grenzenlos anmaßendes Unterfangen wäre<br />
es, den Bereich der Möglichkeit feststellen zu<br />
wollen.<br />
Dazu kommt noch, daß kein vernünftig<br />
denkender Mensch den Vorteil bestreiten kann,<br />
der für die Menschheit aus dem Triumph der<br />
anarchistischen Ideen erwachsen würde. Es<br />
wird nur die Möglichkeit bestritten. Und wenn<br />
nur einen Augenblick, nur bedingt die Möglichlichkeit<br />
zugegeben würde, so könnte niemand<br />
behaupten, daß die Verwirklichung des anarchistischen<br />
Ideals für die Menschheit von<br />
Schaden wäre.<br />
Woher kommt es dann aber, daß man<br />
diese Leute mißachtet, verstößt, verfolgt, wenn<br />
ihre Ideale nur den einen Nachteil haben, nicht<br />
realisierbar zu sein?<br />
Ein Ideal bleibt hoch <strong>und</strong> edel, selbst<br />
wenn es nicht verwirklicht werden k a n n !<br />
Und statt nun an der Verwirklichung<br />
eines Ideals zu arbeiten, das, wenn es nicht<br />
unmöglich wäre, unsere größte Bew<strong>und</strong>erung<br />
verdiente, sehen wir es verachtet, bekämpft,<br />
zurückgestoßen, als wenn es die verworfenste,<br />
schlimmste Gemeinheit wäre.<br />
Ein seltsam sonderbares Schauspiel, die<br />
Menschheit im wütendsten Kampfe mit einer<br />
Idee zu sehen, die doch anerkanntermaßen dazu<br />
beitragen soll, die Menschheit zu beglücken!<br />
Und so trachtet stets die Spezies „Mensch"<br />
das unmöglich zu machen, was ohne ihre<br />
Stupidität zu den einfachsten der Möglichkeiten<br />
gehören könnte. So sind viele Jahrh<strong>und</strong>erte im<br />
Kampfe mit der menschlichen Dummheit vergangen,<br />
jede positive Errungenschaft wurde<br />
von der Ignoranz bekämpft, jede wertvolle<br />
Vervollkommnung stieß auf ein Heer von<br />
Zweiflern . . ."<br />
Diese K<strong>und</strong>gebung ist umsomehr zu schätzen,<br />
als sie nicht die Frucht einer Polemik unter vier<br />
Augen ist, wo so oft von unseren Gegnern manches<br />
zugegeben wird, was tagsdarauf in öffentlichen<br />
Versammlungen wegen der sogenannten Parteidisziplin<br />
bekämpft oder totgeschwiegen wird —<br />
sondern das spontane Bekenntnis eines ehrlichdenkenden<br />
Menschen ist, der sich nicht scheut,<br />
seine Meinung offen zur Schau zu tragen, selbst<br />
wenn es bei seinen Parteigenerälen Anstoß erregen<br />
sollte.<br />
Wenn nun auch die Ratten fliehen, so führt<br />
das noch nicht den Untergang des Schiffes herbei;<br />
die anarchistische Idee hat schon soviel Unwetter<br />
bestanden, daß sie auch dem jetzt bevorstehenden<br />
liberalen Ansturm Stand halten wird, <strong>und</strong> kein noch<br />
so drakonisches Ausnahmegesetz wird es verhüten<br />
können, daß der denkende Teil der Bevölkerung<br />
den politischen Aberglauben ablegt, der, gepaart<br />
mit dem religiösen Mummenschanz, die portugiesische<br />
Nation von der einstigen Höhe zum jetzigen Tiefstand<br />
hinabgedrückt hat. Zur Ehre der hiesigen<br />
anarchistischen Kameraden mag festgestellt werden,<br />
daß sie sich nicht zu Handlangerdiensten von den<br />
reformistischen Parteien ausnutzen ließen, sondern<br />
bei jeder Aktion das eigene Ideal im Auge behielten<br />
; so sehen wir denn auch keinen Anarchisten<br />
am völlig nutzlosen Königsmorde von Lissabon beteiligt<br />
— nutzlos, weil er dazu dienen sollte, ein<br />
paar politische Drahtzieher wieder an die Staatskrippe<br />
zu bringen, von der sie seit längerer Zeit<br />
verdrängt waren. Wenn nun trotzdem Presse <strong>und</strong><br />
Telegraph für die mutmaßlichen Täter Anarchisten<br />
hielt, so liegt dem eine tiefere Ursache zugr<strong>und</strong>e<br />
— die öffentliche Meinung Europas sollte wieder<br />
einmal gegen den Anarchismus mobil gemacht<br />
werden. Obgleich nun dieser Bluff nur von kurzer<br />
Dauer war, soll er doch zu internationalen Maßnahmen<br />
gegen Anarchisten herhalten, so wird es<br />
wenigstens portugiesischerseits gewünscht. Die portugiesische<br />
Regierung tritt in dieser Beziehung trotz<br />
ihrer nichtssagenden Größe im europäischen Konzert<br />
sehr sicher auf, da sie sich von anderen Staaten<br />
sek<strong>und</strong>iert weiß, an deren Spitze der Polizeistaat<br />
Preußen marschiert. Es ist jedoch mehr als wahrscheinlich,<br />
daß sich Portugal dieselbe Nase holen wird,<br />
wie Preußen, das sich mit demselben Anliegen schon<br />
vor mehreren Jahren an die Weltmächte g e s a n d t<br />
hatte <strong>und</strong> ein klägliches Fiasko erlitt. Damals hatte<br />
Wilhelm IL vorgeschlagen, in Berlin ein internationales<br />
Bureau zur Anarchistenüberwachung einzurichten,<br />
das besonders die umherreisenden Kameraden<br />
bewachen sollte, deren geringe Seßhaftigkeit ein<br />
plötzliches Auftauchen <strong>und</strong> Verschwinden ermöglicht<br />
<strong>und</strong> dem Sicherheitsdienst gekrönter Häupter<br />
nicht geringe Unbequemlichkeiten verursacht. Daraus<br />
ist nichts geworden <strong>und</strong> wird wohl auch diesmal<br />
etwas werden, denn gegen berufliche Unfälle<br />
schützen schließlich auch die peinlichsten Maßregeln<br />
nicht, <strong>und</strong> verhindert die Polizei den Anarchisten<br />
das Reisen, so behält sie sie doch auf dem<br />
Halse.<br />
Das wäre in knappen Strichen das Bild Portugals<br />
von heute, soweit es den anarchistischen<br />
Leser interessiert. Einzelheiten aus der hiesigen<br />
anarchistischen Bewegung mitzuteilen, ist aus Vorsichtsgründen<br />
vermieden worden, doch eins darf<br />
alle Welt wissen — daß der Anarchismus in Portugal<br />
stetig an Terrain gewinnt <strong>und</strong> seinen internationalen<br />
Brüdern jederzeit bereit ist, die Hand<br />
zu reichen, wenn es heißen wird, für den internationalen<br />
Völkerfrühling zu kämpfen!<br />
Verantwortlicher Redakteur Jos. Šindelář (Wien). — Herausgeber Jul. Ehinger (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />
Globetrotter.
Wien, 5. April 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 7.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Fockygasse 27,<br />
II./17. — Gelder sind zu senden an<br />
W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />
5, III./27.<br />
Fünf<strong>und</strong>zwanzig Jahre nach<br />
Karl Marx.<br />
Das befruchtende Wirken großer Geister,<br />
länger andauernd als das kurzfristige<br />
menschliche Leben, verdient der E r w ä h n u n g<br />
<strong>und</strong> Erinnerung im Gedächtnis späterer<br />
Generationen. Und je lebendiger dieses<br />
Nachwirkende <strong>und</strong> auch nachmalig Bahnbrechende<br />
sich im sozialen Leben erweist<br />
durch die greifbar deutlichen Tatsachen, je<br />
mehr es seine Bestätigung fand durch die<br />
Geschehnisse im gesellschaftlichen Walten<br />
<strong>und</strong> d a d u r c h näher kam <strong>und</strong> verwandt<br />
wurde mit dem Bewußtsein der Massen,<br />
das, was vordem nur Einzelnen gehörte, —<br />
desto lauter tönt der Massenchor der W ü r -<br />
digung, den ein solch g r o ß e r Geist empfängt,<br />
desto lebendiger ist er im Gefühl,<br />
im täglichen Tun der Massenwelt- <strong>und</strong><br />
Massenaktion. Aber dieser C h o r der festlichen<br />
Würdigung äußert sich dann nicht<br />
mehr durch das Wort allein, denn dieses ist<br />
ja stets der Beweis für das noch nicht Erreichte;<br />
diese W ü r d i g u n g äußert sich dann<br />
im praktischen Tun, im geistigen Streben<br />
der Massen, denen das D e n k e n <strong>und</strong> Gefühl<br />
des von ihnen verehrten Geistes so in<br />
alle Interessenfasern ihres Seins übergegangen<br />
ist, daß er für sie zur Selbstverständlichkeit<br />
wurde.<br />
Wenn wir heute, 25 Jahre nach Karl<br />
Marx Hingang über ihn schreiben <strong>und</strong> ihn<br />
im Lichte dieser Betrachtungsmethode beurteilen,<br />
so können wir es ruhig konstatieren:<br />
das, was vor noch einem Jahrzehnt<br />
seine ganze Bedeutung bildete, das System,<br />
das seinem Namen die Gloriole des beweihräuchernden<br />
Ruhmes verlieh, d e r M a r x i s -<br />
m u s i s t h e u t e t o t u n d ü b e r w u n d e n .<br />
Allerdings, wenn man sich an die phrasenreichen<br />
<strong>und</strong> geistig inhaltslosen Ausspinnungen<br />
in der sozialdemokratischen Presse<br />
Österreichs <strong>und</strong> Deutschlands — <strong>und</strong> charakteristischer<br />
Weise existiert der ruhmselige<br />
Marxkultus n u r in diesen beiden p o -<br />
litisch rückständigen Großstaaten in irgendwie<br />
gefährlichem Maße! — halten wollte,<br />
dann lebten Marx Theorie <strong>und</strong> die marxistische<br />
Praxis noch sehr, fänden T a g auf<br />
Tag ihre Bestätigung <strong>und</strong> A n s c h a u u n g in<br />
der modernen Sozialdemokratie. Leider —<br />
für die letztere — sind wir aber nicht genug<br />
Auguren, um uns gegenseitig in dieser<br />
Weise auf Kosten der genarrten u n d genasführten<br />
Dritten, auf Kosten der proletarischen<br />
Massen zu unterhalten. U n d so kann<br />
uns, die wir die internationale Arbeiterbewegung<br />
kennen <strong>und</strong> miterleben, n i c h t s<br />
vorgefackelt werden, wie die Marxisten es<br />
mit dem Arbeiter tun, der eben durch die<br />
moderne Lohnsklaverei w e d e r die Zeit noch<br />
die geistige Ausbildung besitzt, um die Behauptungen<br />
solch theoretischer Falschmünzer<br />
kontrollieren zu können. Auch wissen<br />
wir nur allzu gut, w e s h a l b die Führer<br />
der Sozialdemokratie sich gerade so sehr<br />
an Marx halten <strong>und</strong> ihn e m p o r h e b e n zwecks<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst eroberl werden muss ; dass<br />
der, Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu ür<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist . ,<br />
staunender B e w u n d e r u n g seitens der Arbeiter,<br />
die ihn größtenteils w e d e r lesen<br />
können noch überhaupt lesen: — stets haben<br />
die Priester jeder Kirche, jedes D o g m a s<br />
dem Volke irgend welche Götter <strong>und</strong> Götzen<br />
geboten, vor d e n e n es ehrfurchtsvoll<br />
in die Kniee sank, eben weil es sie n i c h t<br />
verstand <strong>und</strong> die Pfaffen mittlerweile des<br />
Volkes Ketten desto ungestörter schmieden<br />
k o n n t e n ! Im Falle der Sozialdemokratie<br />
verhält es sich g a n z e b e n s o : Je weiter sich<br />
ihre Praxis von der Theorie Marxens entfernt,<br />
je mehr sie das wirtschaftlich-ökonomische<br />
M o m e n t der Lehre Marxens auf<br />
Kosten des politischen hintansetzt, je mehr<br />
sie aus einer sozialistischen Partei eine<br />
kleinbürgerliche, mittelmäßig-demokratische<br />
Partei wird, desto g r ö ß e r <strong>und</strong> lauter die<br />
Sucht, als M a r x n a r h t r e t e r i n zu posieren,<br />
sich mit Pfauenfedern zu schmücken,<br />
schließlich alles Volksverräterische, was man<br />
tut, als marxistisch auszugeben — o b w o h l<br />
Marx sich im G r a b e zu Highgate u m d r e h e n<br />
müßte, w e n n er, der unerbittliche Ingr<strong>und</strong>u<br />
n d b o d e n w e t t e r e r des Gotha'schen Einig<br />
u n g s p r o g r a m m e s der deutschen Sozialdemokratie,<br />
die Praxis der internationalen,<br />
heutigen Sozialdemokratie sehen könnte;<br />
die s o weit geht, daß ein V i k t o r A d l e r<br />
im parlamentarischen Ausschuß den »vulgärökonomischen«<br />
Blödsinn aufstellen kann,<br />
die Sozialdemokratie hätte nichts g e g e n die<br />
V e r m e h r u n g <strong>und</strong> Verstärkung der Sicherheitsbehörden<br />
einzuwenden, nur dürften<br />
diese nicht g e g e n streikende Arbeiter verw<br />
e n d e t werden. Und dies 60 Jahre nach<br />
dem Erscheinen des Kommunistischen Manifestes,<br />
in d e m zu lesen steht: » D i e m o -<br />
d e r n e S t a a t s g e w a l t i s t n u r e i n<br />
A u s s c h u ß , d e r d i e g e m e i n s c h a f t -<br />
l i c h e n G e s c h ä f t e d e r g a n z e n B o u r -<br />
g e o i s k l a s s e v e r w a l t e t «<br />
An Karl Marx hat sich die Ironie der<br />
Geschichte vollzogen. Die historische Entwicklung<br />
des m o d e r n e n Sozialismus kennt<br />
keinen zweiten, der die Geistesprodukte<br />
der französischen <strong>und</strong> englischen Schulen<br />
der sozialistischen B e w e g u n g so ausgiebig<br />
verwertete, so plagiatorisch sich aneignete, wie<br />
Karl Marx es tat; aber auch keinen, der in<br />
ähnlich perfider Weise g e g e n sämtliche<br />
seiner Lehrer v o r g e g a n g e n wäre, sie ähnlich<br />
g e s c h m ä h t hätte, wie Marx es mit P r o u d h o n ,<br />
Sismondi, Mill, Grün usw. getan. Und dies<br />
stets mit dem wohl ausgeklügelten Plan, eine<br />
dogmatische Schule zu b e g r ü n d e n , die diese<br />
historischen Fälschungen, S c h m ä h u n g e n <strong>und</strong><br />
Verleumdungen k o m m e n t a r m ä ß i g fortsetzen<br />
würde. So vermeinte er, sie alle, einschließlich<br />
der g r o ß e n Utopisten <strong>und</strong> ihrer Schüler,<br />
totgeschlagen zu haben. U n d doch hatte er<br />
sich ganz gründlich verrechnet. D e n n trotz<br />
alledem war Marx ein Sozialist, w e n n auch<br />
nur Staatssozialist nach Louis Blanc'schem<br />
Muster. Er w o l l t e den Sozialismus <strong>und</strong><br />
hoffte, daß die von ihm g e g r ü n d e t e Schule<br />
seine Theorie des revolutionären Staatssozialismus<br />
zum Siege geleiten w ü r d e . Das<br />
wird niemals geschehen, so viel ist schon<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2.40;<br />
halbjährig K P1.20. Pur die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
heute ersichtlich. Die m o d e r n e Sozialdemokratie<br />
hat Stück auf Stück seiner theoretischen<br />
Lehren aufgegeben <strong>und</strong> wird in der<br />
Praxis — <strong>und</strong> nur diese ist der G r a d m e s -<br />
ser der Theorie! — beherrscht von der<br />
kleinbürgerlich-radikalen Demokratie, deren<br />
Führertum die Revisionisten nicht nur sind,<br />
sondern stets waren, selbst dann schon,<br />
als es diesen N a m e n noch gar nicht gab.<br />
Und während so die Sozialdemokratie einzig<br />
<strong>und</strong> allein darin das Erbe Marx' angetreten<br />
hat, daß sie — darin hat sie freilich unübertrefflich<br />
Schule g e m a c h t ! die Anhänger<br />
des n i c h t marxistischen Sozialismus<br />
mit derselben Flut von u n w i s s e n d e r G e -<br />
meinheit überhäuft, wie es ihr quasi-Abgott<br />
getan, hat sie auf der anderen Seite den<br />
revolutionären Standpunkt des Marxismus<br />
vollständig aufgegeben, damit ihn selbst,<br />
der ja theoretisch durchaus unhaltbar, abgetan,<br />
sich ausschließlich zur Linken der<br />
bürgerlich-demokratischen Opposition entwickelt.<br />
Damit ist der Marxismus kläglich<br />
zu E n d e ; das Ende des Marxismus b e d e u -<br />
tet aber auch das E n d e des R u h m e s n a m e n s<br />
Karl Marx, der damit reichlich S ü h n e tut<br />
für alle die V e r l e u m d u n g s s ü n d e n seinen<br />
sozialistischen G e g n e r n g e g e n ü b e r , die<br />
seiner H e g e m o n i e widerstritten.<br />
Aber ganz abgesehen von der modernen<br />
Sozialdemokratie ist Marx hauptsächlich<br />
auch durch das Leben u n d die historische<br />
F o r s c h u n g des Sozialismus erledigt<br />
worden. Bei u n s in Österreich, wo man<br />
doch so gar keine theoretische Tradition<br />
des Sozialismus hat, wo Lassalle u n d Marx<br />
das uns ideal leitende Dioskurenpaar sein<br />
sollen, an dessen Genialität der Arbeiter zu<br />
g l a u b e n — denn in der österreichischen<br />
Arbeiterklasse ist die K e n n t n i s des Sozialismus<br />
grauenhaft gering! — gelehrt wird,<br />
können sie freilich noch die erste G e i g e<br />
spielen. Doch nur, weil man hier gemeinhin<br />
n i c h t s anderes kennt, von n i c h t s<br />
a n d e r e m w e i ß ! Wie sehr abgetan der Marxismus<br />
als theoretisches L e h r g e b ä u d e ist,<br />
das wissen n u r diejenigen, welche die ü b -<br />
rige europäische A r b e i t e r b e w e g u n g kennen<br />
<strong>und</strong> da sehen, daß er in den industriell<br />
wie sozialistisch geistig höchst entwickeltesten<br />
Ländern, wie Frankreich, England,<br />
nach ü b e r 4 0 jähriger Pflanzung so absolut gar<br />
keine Ernte einzuheimsen hat, an B e d e u t u n g<br />
höchst u n b e d e u t e n d ist. Und man glaube<br />
nicht, daß diese Länder, wie alle die übrigen<br />
mit A u s n a h m e Österreichs u n d Deutschlands,<br />
sich jemals z u m Marxismus entwickeln<br />
werden. Niemals; denn weil sie an<br />
Kenntnis <strong>und</strong> Aktionsfrische der sozialistischen<br />
B e w e g u n g weit ü b e r ihm stehen,<br />
ihn innerlich, wie auch teilweise historisch<br />
längst ü b e r w u n d e n haben, aus diesem<br />
G r u n d e sind sie n i c h t marxistisch. W o h l<br />
bedürfen auch sie noch der sozialistischprinzipiellen<br />
Entwicklung; doch niemals<br />
nach der Richtung z u m Marxismus hin.<br />
Ist es nur ein Zufall, daß mit Ausnahme<br />
gerade einiger Broschüren, deren Inhalt<br />
ebenfalls höchst anfechtbar ist, die Gesamt
arbeit von Marx auf literarischem Gebiet<br />
mit dem Sozialismus nichts Tieferes gemein<br />
hatte, sondern rein nationalökonomisch war?<br />
W e n n ihn die Nationalökonomen feierten,<br />
dann hätten sie recht. Aber der historische<br />
Schiedsspruch des Sozialismus wird Marx<br />
niemals in b e d e u t e n d e m Maßstabe für sich<br />
beanspruchen. Man darf dabei nicht vergessen,<br />
daß w e n n schon die gesamte Sozialwissenschaft<br />
heute zum größten Teil<br />
noch Experiment <strong>und</strong> das Tatsächliche ihrer<br />
Erkenntnisse noch lächerlich minimal ist, die<br />
politische Ö k o n o m i e in Wahrheit nichts ist, als<br />
pureste Metaphysik <strong>und</strong> Spekulation. Gerade<br />
darin aber war Marx groß, nämlich in der<br />
Nationalökonomie. Und es geht ziemlich<br />
schwer an, ihn so für den Sozialismus zu<br />
retten, wie man es n i c h t laut seinem<br />
»Kapital«, w o h l a b e r laut diversen anderen<br />
Schriften tun darf, zu sagen, Marx habe<br />
die Metaphysik der Nationalökonomie in<br />
sozialistischem Sinne ausgelegt, a n g e w a n d t<br />
<strong>und</strong> verwertet. Man k a n n dies sagen, doch<br />
man sagt damit blutwenig für <strong>und</strong> zu G u n -<br />
sten von Marx. D e n n man vergißt dabei<br />
ganz, daß ja eben der Sozialismus gar nichts<br />
anderes ist als die aller Metaphysik entkleidete<br />
Gesellschaftsökonomie. Von letzterem<br />
hat u n s Marx außerordentlich wenig, nur<br />
in ganz flüchtigen Strichen geboten. Seine<br />
Stärke bestand darin, in den Produktionsp<br />
r o z e ß der bürgerlichen Gesellschaft e i n -<br />
d r i n g e n z u wollen; seine Schwäche, diesen<br />
Produktionsprozeß als eine für sich<br />
b e s t e h e n d e historische Kategorie anzusehen,<br />
die durch eigene, ihr i n n e w o h n e n d e , ökonomische<br />
Gesetze geleitet <strong>und</strong> fortentwickelt<br />
wird. So konnte er dazu gelangen, zu glauben,<br />
er besäße die Erkenntnis der bürgerlichen<br />
Produktionsweise, w e n n er die Bew<br />
e g u n g s g e s e t z e der Waren, der Kapitalien,<br />
den Zirkulationsprozeß des verschiedenen<br />
Geldkapitals verfolge <strong>und</strong> konstatiere. Ein<br />
arger Irrtum, d e n n die m o d e r n e Produktionsform<br />
wird nicht geleitet o d e r beherrscht<br />
durch den den W a r e n etc. i n n e w o h n e n -<br />
den Charakter, den sie in unveränderlicher<br />
Form ü b e r h a u p t nicht haben, sondern durch<br />
das, was Marx in seinem »Kapital« vollständig<br />
vergaß, durch den staatlich aufrechterhaltenen<br />
<strong>und</strong> je nach den sich durchsetzenden,<br />
verschiedenartigen sozial-ökonomischen<br />
Bedürfnissen der mächtigsten Kapitals-<br />
<strong>und</strong> Herrschaftskliquen. Dort wo das<br />
»Kapital« recht hat, hat nicht Marx recht,<br />
sondern einfach der S o z i a l i s m u s <strong>und</strong><br />
dessen Kritik an der b e s t e h e n d e n Gesellschaft,<br />
wie sie ein Fourier schon so glanzvoll<br />
<strong>und</strong> umfassend durchführte, daß Marx<br />
ihm vieles entlehnen konnte. W i e total wertlos<br />
aber die theoretische Lebensarbeit von<br />
Marx für das Proletariat ist, das weiß jeder,<br />
der das »Kapital« aus eigenem Studium<br />
kennt <strong>und</strong> die Ehrenhaftigkeit besitzt, das<br />
zu konstatieren, was ist.<br />
D a s »Kapital« ist das metaphysischeste<br />
W e r k des m o d e r n e n Sozialismus, das je<br />
geschrieben w u r d e ; <strong>und</strong> g e r a d e weil es<br />
sich ausschließlich mit ö k o n o m i s c h e n Kategorien<br />
beschäftigt. Relativen W e r t haben<br />
nur die A u s z ü g e aus den Blaubüchern<br />
der englischen Regierung, die historischen<br />
Partien, die aber absolut nichts Originales<br />
sind. Dort wo es sich auf das ö k o n o m i s c h e<br />
Gebiet begibt, ist es die ökonomisch verzerrte<br />
Grimasse eines konservativen Hegels<br />
<strong>und</strong> b e w e g t sich in lauter Abstraktionen,<br />
so sehr, daß g a n z e Seiten den eigenen Anhängern<br />
unverständlich bleiben. Für Marx<br />
haben die W a r e n , das Geld, die Profitraten<br />
u . dgl. e i g e n e B e w e g u n g s g e s e t z e , Terminologien<br />
wie Arbeit <strong>und</strong> Arbeitskraft ersetzen<br />
den Arbeitenden, kurz man b e w e g t<br />
sich selbst nicht m e h r unter sinnlich<br />
w a h r n e h m b a r e n G e g e n s t ä n d e n : will man<br />
sie u n d wieder realen Boden unter den<br />
F ü ß e n gewinnen, so m u ß man alle diese<br />
B e g r i f f e — <strong>und</strong> damit experimentierte<br />
die scholastische Dialektik der mittelalterlichen<br />
M ö n c h e ganz ebenso wie es Marx<br />
tut — zurück in reale Dinge verwandeln.<br />
Marx glaubte, wer weiß wie klug zu<br />
handeln, w e n n er in seiner Analyse des<br />
»Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktion«<br />
mit der Darstellung der W a r e<br />
b e g a n n <strong>und</strong> mit der höchst flüchtigen Analyse<br />
der G r u n d r e n t e <strong>und</strong> überhaupt G r u n d -<br />
<strong>und</strong> Bodenfrage endete. H e u t e wissen<br />
wir alle, daß es g e r a d e umgekehrt ist, daß<br />
jeder Mehrwert, j e d e A u s b e u t u n g erst eine<br />
Formabart der ursprünglichsten A u s b e u t u n g<br />
durch den Monopolbesitz des G r u n d <strong>und</strong> Bodens<br />
u n d daß die gesamte Warenwirtschaft<br />
<strong>und</strong> Staatsbelastung erst seine Folge ist.<br />
Dabei, <strong>und</strong> dies ist die Hauptsache, ist das<br />
»Kapital« so geschrieben, in einer solchen<br />
Sprache verfaßt, daß die eigenen Anhänger,<br />
so weit sie aus Proletariern bestehen, den<br />
Ausführungen des Meisters nicht folgen<br />
k ö n n e n , sie einfach nicht verstehen.<br />
Aus diesem Unglück resultiert nur e i n<br />
Glück: es schadet nämlich dem sozialistisch<br />
d e n k e n d e n Arbeiter gar nicht, w e n n er<br />
Marx nicht versteht, da er, w e n n er ihn<br />
verstehen gelernt hat, um nichts klüger in<br />
p u n k t o Sozialismus, um manche ganz falsche<br />
Schrullen reicher g e w o r d e n ist. Und<br />
g e r a d e als Marx sich mit dem Sozialismus<br />
beschäftigen anfangen wollte, bricht das<br />
dreibändige Manuskript ab.<br />
So ähnlich verhält es sich mit allen<br />
anderen Thesen des Marxismus. Keine einzige<br />
hat das ihr gestellte Prognostikon erfüllt<br />
<strong>und</strong> erreicht. W e r belächelt heute nicht<br />
den G e d a n k e n an die totale Vernichtung<br />
der Mittelklasse; wer glaubt noch an die<br />
Konzentration des Kapitals i n i m m e r w e -<br />
n i g e r u n d w e n i g e r H ä n d e n ; was kümmert<br />
uns, die wir den Sozialismus wollen,<br />
die Wert- o d e r M e h r w e r t t h e o r i e ; wer ist<br />
noch der M e i n u n g , daß man auf d e m W e -<br />
ge der parlamentarischen Betätigung einen<br />
K l a s s e n k a m p f führt <strong>und</strong> realisiert; wer<br />
kann sich nach B e o b a c h t u n g der 40 jährigen<br />
parlamentarischen Taktik der deutschen<br />
Sozialdemokratie noch der Hoffnung hing<br />
e b e n , je auf diese Weise die »Diktatur<br />
des Proletariats« zu erreichen; <strong>und</strong> wen,<br />
der wirklich für die Freiheit sich interessiert<br />
<strong>und</strong> nach ihr strebt, k ü m m e r n heute noch<br />
die schabionisierten Begriffe, die Marx aufstellte?<br />
Niemanden, <strong>und</strong> nur jene halten all<br />
dies aufrecht, die sich über das Trügerische<br />
des G a n z e n sehr wohl im Klaren, sich aber<br />
materiell <strong>und</strong> sozial sehr wohl befinden bei<br />
diesem unfruchtbaren W a h n g l a u b e n der<br />
Massen, dem deren Untätigkeit <strong>und</strong> soziale<br />
Aktionslosigkeit entspringt.<br />
U n d nun auch das Letzte! Herr Dr. Max<br />
Adler stellt u n s »Marx als Denker« vor, als<br />
einen E n t d e c k e r u n d E r o b e r e r . Daß<br />
doch selbst die schäbigsten, in Deutschland<br />
längst abgetanen Phrasen bei uns noch<br />
g a n g b a r sind. Und welche Gesichtsblendung<br />
des Proletariats setzt dies voraus. Man denke:<br />
heute, wo wir wissen, daß ein P r o u d -<br />
hon schon 1842 ein W e r k lieferte (»Was<br />
ist das Eigentum?«), von d e m Marx selbst<br />
konstatierte, daß e s das » e r s t e w i s s e n -<br />
s c h a f t l i c h e Manifest« des französischen<br />
Proletariats; daß das »Kommunistische Manifest«<br />
eine oftmals wörtliche Abschrift von<br />
V i k t o r C o n s i d é r a n t ; daß Engels selbst<br />
in seinem V o r w o r t zum 2. Band des »Kapital«<br />
es zaghaft zugestehen muß, daß ein<br />
T h o m p s o n lange vor Marx nicht nur<br />
den Mehrwert enthüllte — jeder sozialistische<br />
Proletar kann dasselbe Kunststück<br />
liefern! —, sondern auch die Schablone der<br />
bürgerlichen Nationalökonomie sozialistisch<br />
verwertete; daß die Lehren v o m Klassenkampf,<br />
von der Konzentration des Kapitals, d e m<br />
Verschwinden der Mittelklasse, der Verelendungstheorie<br />
etc., zu den gebräuch-<br />
lichsten Schlagworten der französischen<br />
B e w e g u n g a n n o 1848 g e h ö r t e n ; daß die gesamte<br />
politisch-parlamentarische Betätigung<br />
der sozialdemokratischen B e w e g u n g seit<br />
Lassalle von Louis Blanc abgeguckt ward<br />
— heute kann kein wissenschaftlich denkender<br />
Mensch mehr Marx als Entdecker<br />
<strong>und</strong> Eroberer darstellen. W e n n man ihn<br />
auffaßt als einen Vorkämpfer des Staatssozialismus,<br />
ähnlich wie es Blanc, Pequeur,<br />
Vidal, etc., waren, lassen wir dies gerne<br />
gelten, konstatieren sogar, daß er sie in<br />
vielem überragte; w e n n man seine Bedeut<br />
u n g a b e r fälschlich vergrößert, so wie es<br />
die Bourgeoisie mit ihren H e r o e n tut <strong>und</strong><br />
eben so u n g e r e c h t e r Weise, dann bleibt<br />
natürlich nichts anderes übrig, als der Wahrheit<br />
o h n e G n a d e die Ehre g e b e n <strong>und</strong> Marx<br />
als das darzustellen, was vornehmlich in<br />
ihm stak: als ehrabschneiderischen Plagiator,<br />
ü b e r dessen Wirken innerhalb der Arb<br />
e i t e r b e w e g u n g sich einige höchst bedauernswerte,<br />
seine Schädlichkeit krasse herv<br />
o r h e b e n d e Kapitel schreiben lassen!<br />
Wir müssen uns daran g e w ö h n e n , den<br />
Sozialismus gesondert v o m Marxismus zu<br />
betrachten <strong>und</strong> zu vertreten. N u r s o können<br />
wir den ersteren vor d e m Untergange<br />
b e w a h r e n . Die dialektische Sophisterei des<br />
Marxismus hat den Sozialismus dorthin gebracht,<br />
wo er heute steht; daß er verknüpft<br />
wird mit unmöglichen Vorstellungen, sich<br />
bläht als eine »Wissenschaft« <strong>und</strong> dabei<br />
sein Gr<strong>und</strong>element, den wirklichen sozial<br />
geführten Klassenkampf für seine Verwirklichung,<br />
vollständig a u ß e r Acht läßt. Marx<br />
hat es schon einmal versucht, die Arbeiterb<br />
e w e g u n g in unheilvollster Weise zu beeinflussen<br />
<strong>und</strong> zu spalten, zu brechen, als er<br />
die »Internationale« gewaltsam sprengte.<br />
Es soll diesmal dem Marxismus nicht ganz<br />
gelingen, was ihm schon f a s t g e l u n g e n :<br />
die totale Einlenkung der A r b e i t e r b e w e g u n g<br />
auf rein bürgerliche B a h n e n ; der immer<br />
kräftiger einsetzende, w e n n auch längst totgesagte<br />
Anarchismus verhindert dies. Er<br />
ist der klarste Ausdruck, den der Sozialism<br />
u s gef<strong>und</strong>en, nämlich im kommunistischen<br />
Anarchismus. U n d so ist uns denn Marx<br />
heute ein Ü b e r w u n d e n e r ; ein Beigelegter,<br />
durch die Taktik seiner eigenen Partei, die<br />
den Gr<strong>und</strong>satz, daß die ö k o n o m i s c h e n<br />
Veränderungen die politischen bedingen<br />
<strong>und</strong> herbeiführen, längst ad acta gelegt <strong>und</strong><br />
den W a g e n vor das Pferd gespannt hat;<br />
ist ein Erledigter in Sachen w i s s e n s c h a f t -<br />
l i c h er Theorie des Sozialismus, denn<br />
k e i n e e i n z i g e seiner Thesen hat sich im<br />
Laufe der letzten 40 Jahre auch nur annähernd<br />
erfüllt, ist irgendwie Tatsache oder<br />
etwa gesellschaftlich gültige Erscheinung gew<br />
o r d e n . In d e m C h o r von Sykophanten <strong>und</strong><br />
marxistischen Parlamentshöflingen, die -<br />
welche Ironie, d e n n es sind g a n z <strong>und</strong> gar<br />
k e i n e A r b e i t e r ! — Marx anläßlich seines<br />
25. Todesjahres gedenken, tönt schrill,<br />
aber der Wahrheit g e m ä ß unsere Stimme, die<br />
für Marx einen Grabstein errichtefsehen will,<br />
auf d e m als passendste Inschrift diejenigen<br />
W o r t e zu lesen sind, die E n g e l s in seiner<br />
Polemik gegen Dr. Conr. Schmidt gebrauchte,<br />
als e r d a sagte: » D i e K o n s t i t u t i o n i s t<br />
ä u ß e r s t s i n n r e i c h , s i e i s t g a n z n a c h<br />
H e g e l s c h e m M u s t e r , a b e r s i e t e i l t<br />
d a s m i t d e r M e h r z a h l d e r H e g e l -<br />
s c h e n , d a ß s i e n i c h t r i c h t i g ist!«<br />
Die freie G e n e r a t i o n . D o k u m e n t e z u r<br />
W e l t a n s c h a u u n g d e s A n a r c h i s m u s . (März<br />
<strong>und</strong> April.) Theo Heermann, Die Kommune; Saul,<br />
Der Anfang der sozialrevolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />
in Deutschland; Pierre Ramus, Zur<br />
Kritik <strong>und</strong> Würdigung des Syndikalismus; Berthold<br />
Cahn, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft; F. Thaumazo,<br />
Kultur <strong>und</strong> Fortschritt; N. J. C. Schermershorn,<br />
Der Zweck des Lebens. Archiv des sozialen Lebens.<br />
Preis jedes Einzelheftes 25 Heller, durch uns zu<br />
beziehen.
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Österreich.<br />
Wien. Auf Gr<strong>und</strong> des herrschenden W a h l <br />
z w a n g e s — kein W a h l r e c h t , sondern den<br />
Wahl z w a n g haben wir Oesterreicher — fanden<br />
dieser Tage im III. Wahlkörper die Wahlen für den<br />
Wiener Gemeinderat statt. Auch die Sozialdemokraten<br />
haben „Siege" zu verzeichnen. Welcher Art<br />
diese letzteren aber sind, geht daraus hervor, daß<br />
im Laufe der ganzen Wahlbewegung von den<br />
Sozialdemokraten k e i n e i n z i g e s M a l das<br />
Wort Sozialismus auszusprechen gewagt wurde.<br />
Sonst ergattert man auch nicht die Stimmen des<br />
behäbigen Spießertums! Auf welche ideale Art von<br />
unseren Sozialdemokraten die Wahlzeit für die<br />
Propaganda des Sozialismus ausgenützt wird, liest<br />
man aus folgendem Wahlmanifestzitat, das wohl<br />
auch die Notwendigkeit sozialdemokratischer Stimmenabgabe<br />
begründen soll:<br />
„Wähler Wiens! Wählet Montag die Sozialdemokraten<br />
<strong>und</strong> gebt dem Gemeinderat <strong>und</strong>,<br />
den Bezirksausschüssen damit die so dringend<br />
notwendige Kontrolle!"<br />
Sehr schön! Also durch diese „dringend notwendige<br />
Kontrolle" wird der Sozialismus verwirklicht<br />
werden. Großartiger Klassenkampf! Vorzüglich<br />
revolutionär! Ganz ausgezeichnet!<br />
Wir geben gerne zu, daß das arbeitende Volk<br />
triftige Gründe dafür hat, darüber Kontrolle zu üben,<br />
was mit den aus seiner Arbeitskraft ausgebeuteten<br />
Reichtumswerten geschieht. Doch gründlich kann<br />
dies nur geschehen durch die mittels sozialer<br />
Streikaktion verkürzte Profitrate der Unternehmerklasse.<br />
Niemals durch den Staat <strong>und</strong> die Politiker,<br />
die ja selbst leben, ohne produktiv zu arbeiten.<br />
Kontrolle ist dringend notwendig; allerdings, aber<br />
nicht durch Politiker irgend welchen Kulörs, denn<br />
noch wichtiger wird es da, eine gründliche Kontrolle<br />
über diese „politischen Kontrolleure" zu üben. Recht<br />
schöne Sachen kommen da stets zum Vorschein —<br />
bei a l l e n politischen Parteien, die Sozialdemokratie<br />
mitinbegriffen.<br />
* *<br />
*<br />
Einberufen von der A l l g e m e i n e n G e <br />
w e r k s c h a f t s f ö d e r a t i o n fand im V. Bezirk<br />
eine vorzüglich gut besuchte Versammlung statt,<br />
in der unser Fre<strong>und</strong>, der bekannte Freidenker<br />
Brunnecker über das T h e m a : „Krieg dem Kriege!"<br />
referierte. Der Vortrag umfaßte eine reiche Tatsachenfülle<br />
<strong>und</strong> rief derselbe auch eine anregende<br />
Diskussion hervor, an der sich u. a. diverse Sozialdemokraten<br />
<strong>und</strong> die Genossen L i c k i e r <strong>und</strong><br />
R a m u s beteiligten, die das Prinzipielle des von<br />
anarchistischer Geistesanschauung belebten <strong>und</strong><br />
geführten Antimilitarismus zergliederten. Hervorgehoben<br />
darf werden, daß ein Sozialdemokrat die<br />
Ausführungen wesentlich bekräftigte <strong>und</strong> die Haltung<br />
<strong>und</strong> Handlungsweise Schuhmeiers in Sachen des<br />
Militarismus gebührend brandmarkte. — Eine ähnliche<br />
Versammlung mit dem gleichen Thema fand<br />
auch im III. Bezirk statt <strong>und</strong> knüpfte sich abermals<br />
eine interessante Diskussion an dasselbe. Rühmend<br />
können wir es hervorheben, daß es diesmal auch<br />
Sozialdemokraten waren, die sich mit unseren Genossen<br />
in der Einberufung dieser Versammlung<br />
verbanden. Das Auftreten des Genossen Ramus in<br />
den Versammlungen des sozialdemokratischen Wahlvereines<br />
im III. Bezirk <strong>und</strong> die heimtückisch-feige<br />
Art der Hintertreibung der Diskussion hat für uns<br />
die besten Früchte gezeitigt <strong>und</strong> in den Köpfen<br />
vieler eine Art neuer Erkenntnis — nämlich die,<br />
wie gefürchtet die Anarchisten von den Sozialdemokraten<br />
werden, wegen der Wahrheit des<br />
Anarchismus, die sie predigen — aufgehen lassen.<br />
— Wir dürfen es wohl als das charakteristische<br />
Moment der Verschiedenheit zwischen sozialdemokratischen<br />
<strong>und</strong> anarchistischen Versammlungen<br />
hervorheben, daß sich in den letzteren alle Gegner<br />
unumschränkter Redefreiheit erfreuen; i n d e n<br />
s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n i s t d a s G e g e n <br />
t e i l d e r F a l l ! Berief d a die G e w e r k s c h a f t<br />
d e r S t u k k a t e u r e eine öffentliche Vereinsversammlung<br />
ein, in der unser Genosse Ramus über<br />
„Sozialreform <strong>und</strong> direkte Aktion" referierte. Wohl<br />
organisiert waren auch zahlreiche Sozialdemokraten<br />
erschienen, von denen einer — Drexler heißt das<br />
Subjekt — gleich anfangs den Versuch machte, die<br />
Versammlung zu sprengen. Es gelang ihm nicht<br />
<strong>und</strong> nach Beendigung des Referats erhielt der von<br />
den Sozialdemokraten speziell deswegen herbeigebrachte<br />
Gegenredner D a n n e b e r g — Redakteur<br />
des „Jugendl. Arbeiters" — das Wort. Brauchen<br />
wir einen besseren Beweis für die Toleranz, die<br />
die Einberufer der Versammluug beseelte, ein<br />
besseres Zeugnis für die unbeugsame — G e d u l d ,<br />
die die Genossen anarchistischer Richtung besaßen,<br />
zu erbringen, als wenn wir konstatieren, daß dem<br />
Redner 55 Minuten Redezeit gewährt w u r d e n ? In<br />
welcher sozialdemokratischen Versammlung hätte<br />
ein Anarchist dies je erhalten? Über die Qualität<br />
des Konterreferates können wir nur eines s a g e n:<br />
e r s t a u n l i c h u n t e r a l l e r K r i t i k s c h l e c h t !<br />
Und die Sozialdemokraten mußten dies gefühlt<br />
haben, denn gerade als Ramus nun antworten<br />
wollte, erhob sich obgenannter Drexler <strong>und</strong> schrie<br />
in den Saal: „Genoss'n, mir wöll'n nix mehr heren<br />
<strong>und</strong> gengan jetzta außi zua die Märzg'fallenen".<br />
Es war der 15. März <strong>und</strong> 12 Uhr mittags. Das<br />
verabredete Signal wirkte — <strong>und</strong> mit lautem Halloh<br />
erhoben sich diese „Klassenbewußten", die in echt<br />
christlichsozialer Weise nun einerseits n i c h t<br />
gingen, andererseits den Fortgang der Versammlung<br />
unter allen Umständen nicht zulassen wollten.<br />
Einer drohte sogar mit der Polizei — o edles<br />
klassenbewußtes- sozialdemokratisch-revolutionäres<br />
G e m ü t ! Und auch Herr Danneberg schien plötzlich<br />
seinen Parlamentarismus gänzlich eingebüßt zu<br />
haben; es fiel ihm nicht ein, den Seinigen — wir<br />
gönnen sie I h m ! — zuzurufen, doch in Anerkennung<br />
des Umstandes, daß ihm eine St<strong>und</strong>e gewährt ward,<br />
dem Referenten wenigstens 15 Minuten für das<br />
Schlußwort zu gewähren. — Herr Danneberg schien<br />
diesen „parlamentarischen Anstand" vergessen zu<br />
haben, hat ihn auch bis heute vergessen, denn er<br />
lud, entgegen seinem ausdrücklich erteilten Versprechen,<br />
den Genossen Ramus bis heute noch<br />
nicht in seine Versammlung ein, in der dieser ihm<br />
entgegnen sollte. Sie sind alle Ehrenmänner, diese<br />
sozialdemokratischen Parlamentarier <strong>und</strong> solche,<br />
die es werden wollen; <strong>und</strong> kühn, mutig sind sie,<br />
daß selbst ein Hase sich verstecken m ü ß t e ! — Eine<br />
interessante Antimarxversammlung fand Im XIV.<br />
Bezirk statt, der eine zweite über das T h e m a<br />
„Marx <strong>und</strong> die Arbeiterbewegung" folgte <strong>und</strong> eine<br />
dritte in den unteren Bezirken stattfand, über die<br />
wir demnächst erst berichten können. Es referierte<br />
Ramus <strong>und</strong> die anwesenden Sozialdemokraten vernahmen<br />
mit Erstaunen <strong>und</strong> Empörung, daß es noch<br />
Menschen gibt, die Marx kennen, auch v e r s t e h e n<br />
k ö n n e n <strong>und</strong> ihn dennoch n i c h t verehren.<br />
Eine ausgezeichnete Leistung waren die Arrangements<br />
unserer G r u p p e „ M o r g e n r ö t e " , die die<br />
K o m m u n e f e i e r einberief. Neben gesanglichen<br />
<strong>und</strong> revolutionär-poetischen Leistungen, schlug die<br />
Gedächtnisrede von Ramus augenscheinlich ein <strong>und</strong><br />
steht zu hoffen, daß die Begeisterung der Genossen<br />
eine andauernde sein wird. Wenn wir dabei noch<br />
konstatieren, daß mit ungebeugter Energie stets <strong>und</strong><br />
überall große Partien unserer Literatur abgesetzt<br />
werden, haben wir wohl allen Gr<strong>und</strong>, mit unserer<br />
Arbeit zufrieden zu sein. Kameraden, mit frischer<br />
Kraft ans Werk der Propaganda <strong>und</strong> Agitation!<br />
In einer für unsere österreichischen Verhältnisse<br />
unvergleichlich hohen Auflage ist unsere letzte<br />
Märznummer erschienen. In allen wahrhaft revolutionären<br />
Kreisen fand sie reißenden Absatz, w a s<br />
es auch zur Genüge erklärlich macht, daß die bekannte<br />
Anstalt für die Unterdrückung des freien<br />
Wortes <strong>und</strong> Gedankens, die hochwohlgeborne<br />
Zensur, sie fast vollständig berotstiftete, d a s heißt<br />
k o n f i s z i e r t e !<br />
Graz. Wenn der Parlamentarismus auch nur<br />
die geringste Einflußsphäre des Proletariats erobern<br />
könnte, dann sollte es doch gerade jetzt der Fall<br />
sein, wo wir über 80 Sozialdemokraten im Reichsrat<br />
sitzen haben. Die ökonomischen Kämpfe des<br />
Proletariats müßten erleichtert werden. Wer aber<br />
ein Bild der absoluten Unfähigkeit, Wertlosigkeit<br />
der offiziellen parlamentarischen Taktik <strong>und</strong> der<br />
in ihrem Gefolge befindlichen taktischen Verknöcherung<br />
der Arbeiterklasse haben will — der<br />
begebe sich nur nach Graz. Fast zwei Monate lang<br />
hielt das Fahrrad-Fabriksunternehmen „Styria" über<br />
800 Arbeiter ausgesperrt, <strong>und</strong> nur, weil diese einen<br />
neuen Vertrag, der ihre Lage wesentlich vers<br />
c h l e c h t e r t e , nicht rasch genug akzeptierten.<br />
Die Tollheit des Unternehmerübermutes griff zum<br />
beliebtesten Mittel gegenüber einer nicht wehrtüchtigen<br />
Arbeiterklasse: zum Hinauswurf. Und in<br />
der Tat — wochenlang ließen sich die Arbeiter<br />
dies ganz ruhig gefallen, bezogen ihre Streikunterstützungen,<br />
bis eben die Situation denn doch zu<br />
ungemütlich wurde, indem diese Aktionslosigkeit<br />
zur Folge hatte, daß die Firma fortlaufend neue<br />
Streikbrecher hinzuziehen konnte. W a s t u n ? Und<br />
als die Arbeiter von dem für sie unerläßlichen<br />
Existenzrecht, Streikbrecher eines Besseren zu belehren,<br />
Gebrauch machten, da wandte sich der<br />
Leiter des Kapitalsunternehmens, ein gewisser<br />
R u m p f , a n die m i l i t ä r i s c h e M a c h t d e s<br />
S t a a t e s , der sie ihm denn auch bereitwilligst<br />
zur Verfügung stellte. W a s dies bedeutet, wird man<br />
begreifen, sobald wir erfahren, daß einige Regimenter<br />
herbeikonsigniert, jedem einzelnen Soldaten<br />
125 Patronen eingehändigt wurden <strong>und</strong> die Weisung<br />
erteilt ward, sobald als der Befehl erging, i n s<br />
V o l k z u s c h i e ß e n , n i e m a n d e n z u<br />
s c h o n e n . S o b e f a h l e s d e r H e r r H a u p t <br />
m a n n ; G e r s i n i c h h e i ß t d i e s e r h e l d e n <br />
m ü t i g e V e r t e i d i g e r d e s k a p i t a l i s t i <br />
s c h e n V a t e r l a n d e s . Daß diesem Befehle<br />
nicht Folge geleistet zu werden brauchte — wir<br />
fragen: würden sich die Soldaten wirklich einer<br />
solchen Untat schuldig gemacht h a b e n ? ! — ist<br />
wahrlich nicht das Verdienst des würdigen Hauptmannes.<br />
Dafür leistete nun der Staat in Form seiner<br />
Justiz erwünschten Ersatz. Ein Richter, der sieh laut<br />
seinen eigenen Aussprüchen in unzweideutigster<br />
Weise auf Seite des Unternehmertums stellte, verhängte<br />
über Dutzende von Verhafteten Insgesamt<br />
jahrelanges Gefängnis, Arrest, Kerker etc.<br />
Das ist so ein hübsches Schulbeispiel für die<br />
Arbeiter, um recht gründlich über die Aufgaben des<br />
Militarismus <strong>und</strong> das Wesen des Staates nachzudenken!<br />
Was aber wird mit den ausgesperrten Arbeitern<br />
geschehen? Zur St<strong>und</strong>e stehen sie, so viel<br />
wir wissen, noch immer draußen, <strong>und</strong> wir sind ehrlich<br />
genug zu konstatieren, daß mit den Mitteln<br />
ihrer sozialdemokratischen Verbändlertaktik der<br />
Streik verloren ist oder verloren gehen mußte.<br />
Denn so lange als sich die Solidarität des P r o <br />
letariats nicht im werktätigen Mitkämpfen mit den<br />
streikenden Brüdern ausdrückt, muß jede größere<br />
oder kleinere Aktion des Proletariats verloren gehen.<br />
Wenn die Grazer Arbeiter wirklich sich solidarisch<br />
verb<strong>und</strong>en mit den Streikenden fühlen, dann müssen<br />
sie in einen Solidaritätsstreik für dieselben treten<br />
<strong>und</strong> dabei eigene Forderungen aufstellen. Dies gäbe<br />
dem Unternehmerpack eine solche heilsame Lehre,<br />
"daß nicht nur die streikenden Fahrradarbeiter gewinnen<br />
würden, sondern es auch endgiltig vorbei<br />
wäre mit den sich immer zahlreicher häufenden<br />
Aussperrungen. Allerdings wer den Generals<br />
t r e i k n i c h t will, muß die G e n e r a l a u s s p e r r u n g<br />
resigniert ertragen!<br />
Böhmen.<br />
Vor mehreren Wochen brach ein großer Streik<br />
der Textilarbeiter in den Fabriken der Herren<br />
P i c k <strong>und</strong> S c h i c k i n O b e r l e u t e n s d o r f<br />
bei B r ü x aus, <strong>und</strong> dauert noch immer an. Plötzlich<br />
ereignete sich ein seltsamer Unglücksfall. In<br />
der Fabrik entstand ein Feuer, das große Massen<br />
von Rohmaterial vernichtete, Riemen der Maschinenleitung,<br />
die mit ätzender Säure beschmiert sind,<br />
zerrissen <strong>und</strong> die Beleuchtungsapparate versagten.<br />
Dadurch wurden zahlreiche — diesmal sozialdemokratische!<br />
— Streikbrecher in ihrer „Arbeit"<br />
behindert. Der Fabrikant Pick schrieb eine Prämie<br />
von 500 Kronen für Denjenigen aus, der den Missetäter<br />
angeben würde. Auch wurde schon ein G e <br />
nosse verhaftet, obwohl nicht der Schatten eines<br />
Verdachtsbeweises gegen ihn vorliegt. Doch Herr<br />
Pick täuscht sich, wenn er solche Minen springen<br />
lassen wird. Der Streik wird nicht eher beendet<br />
sein, bis alle ihres „aufrührerischen" Wesens wegen<br />
Entlassenen (18 an der Zahl) wieder aufgenommen<br />
<strong>und</strong> alle bei dieser Gelegenheit gestellten Lohn-<br />
Forderungen erfüllt werden.<br />
<strong>Unser</strong>e tschechische Bruderorganisation, die<br />
Allgem. böhm. Föderation, stand seit Anfang des<br />
Streiks den noch zumeist jugendlichen Streikenden<br />
— von denen weit über h<strong>und</strong>ert der Föderation<br />
beigetreten sind — mit ausgiebigem Rat <strong>und</strong> mit<br />
Tat bei. Wir werden nicht verfehlen, über den<br />
Ausgang dieses mit so großem Kampfesmute geführten<br />
Streiks zu berichten.<br />
Am 23. Februar d. J. stab der hervorragender<br />
tschechische Dichter S v a t o p l u c h Č e c t i i m<br />
62. Lebensjahre. — Das tschechische Proletariat<br />
ehrt den Entschlafenen als großen Verkünder der<br />
sozialen Revolution <strong>und</strong> als Sänger der „Lieder<br />
eines Sklaven". Cech, der schon zu Lebzeiten der<br />
populärste Dichter unserer Nation war, lebte a b <br />
seits vom öffentlichen Leben; ein Abgeordnetenmandat,<br />
das ihm angeboten wurde, wies er ab,<br />
sowie alle anderen Ehrungen. In vielen seinen<br />
Dichtungen befaßte er sich mit dem Problem der<br />
sozialen Revolution, die ihn seine dichterische<br />
Phantasie intuitiv vorausfühlen ließ. In den allegorischen<br />
Dichtungen: „Lieder eines Sklaven",<br />
„Europa", „Slavie", löste er dieses Problem unter<br />
dem Eindrucke der Pariser Kommune; er baute in<br />
seinen Hoffnungen auf das junge Rußland, von dem<br />
er erwartete, daß es Westeuropa die Revolution<br />
bringen würde. In seinen historischen Epen versuchte<br />
er es das Problem seiner unterdrückten<br />
Nation mit dem Sozialen zu vereinigen <strong>und</strong> dieses<br />
gemeinschaftlich zu lösen. - (Demnächst bringen<br />
wir in der literarischen Beilage „Ohne Herrschaft"<br />
einige Auszüge aus den „Sklaven-Liedern". Anm.<br />
d. Red.) O. F.<br />
G e r s d o r f bei G r o t t a u . Am Sonntag den<br />
15. März wurde im Gasthause des Herrn Volkert<br />
in Gersdorf eine „Allgemeine Gewerkschaftsföderation"<br />
gegründet. Zwei Kameraden referierten über<br />
wirtschaftliche <strong>und</strong> populär-wissenschaftliche Themata.<br />
Die Vorträge wurden mit großem Beifall aufgenommen.<br />
Es wurde beschlossen, einen Monatsbeitrag<br />
von 60 Hellern pro Mitglied zu leisten.<br />
Jeden zweiten Sonntag im Monat, nachmittags halb<br />
3 Uhr, wird von nun an die Vereinsversammlung<br />
abgehalten werden. Als offiziell zu verbreitende<br />
Zeitschrift wurde einstimmig der „Wohlstand für<br />
Alle" angenommen. Wir ersuchen unsere Bruderorganisationen,<br />
die der Föderation angehören, uns<br />
ihre Adressen zukommen zu lassen. Zugereiste<br />
Mitglieder, Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Kameraden werden ersucht,<br />
sich sofort mit uns in Verbindung zu setzen.<br />
Die sozialdemokratischen, hochgeborenen Kritikaster<br />
verspotten uns als „Gelbe Gewerkschaft". Es ist
eine empörende Lüge, doch - wir beneiden dieselben<br />
nicht um ihr „Schwarz-Gelb".<br />
Anton Duchek, Korrespondent-Sekretär<br />
der „Allgemeinen Gewerkschaftsföderation",<br />
Grottau, Zittauerstr. 15, Böhmen.<br />
N a c h s c h r i f t d e r R e d a k t i o n . Wir<br />
beglückwünschen die obigen Kameraden zu ihrem<br />
energischen, konsequenten Schritte <strong>und</strong> hoffen, da3<br />
sie mit Ausdauer <strong>und</strong> unbeugsamer Festigkeit an<br />
ihrem einmal gefaßten Plan festhalten werden : Aufbau<br />
einer ges<strong>und</strong>en, politisch absolut neutralen<br />
Gewerkschaft mit sozialistisch-revolutionären Tendenzen<br />
<strong>und</strong> Front gegen das arrogante Bonzen<strong>und</strong><br />
Bürokratentum der Sozialdemokratie allüberall.<br />
Eine uns von dem Genossen Duchek über letzteres<br />
gesandte Darstellung des schändlichen, für jede<br />
Gewerkschaftsbewegung direkt ruinösen Vorgehens<br />
dieser Obmänner (lies eigentlich: U n t e r m ä n n e r ! )<br />
bringen wir in unserer nächsten Nummer. Mögen<br />
sich die Kameraden aller Städte <strong>und</strong> Ortschaften<br />
ein Muster nehmen an den Kameraden von Gersdorf<br />
<strong>und</strong> Grottau! Vorwärts, an die Arbeit der Organisation!<br />
Republik Chile.<br />
Die südamerikanischen Republiken mit Argentinien<br />
an der Spitze boten schon so oft ein<br />
Schauspiel demokratischer Willkürherrschaft, daß<br />
die Verfechter des autoritären republikanischen<br />
Prinzips nicht warnend genug darauf hingewiesen<br />
werden können; doch bieten die Nachrichten, die<br />
jetzt aus der Republik Chile einlaufen, eine so<br />
bestialische Schändung elementaren Menschenrechts,<br />
eine so neronische Verhöhnung des Menschheitsfortschrittes,<br />
daß man sich wahrlich in die wildesten<br />
Zeiten tiefster Barbarei zurück versetzt glaubt,<br />
einer Barbarei, die mit den modernsten Errungenschaften<br />
der Mordwissenschaft ausgerüstet ist . . .<br />
Mit lakonischer Kürze berichtete der Telegraph<br />
schon vor geraumer Zeit über ein unerhört<br />
gräßliches Blutbad in den Salpeterwerken von Chile.<br />
Den Vorwand hierzu gab der Streik der Salpeterarbeiter,<br />
die unfer anderen Forderungen eine<br />
Erhöhung des Lohnes, Verkürzung der Arbeitszeit<br />
<strong>und</strong> Hergabe von Lokalen zur Einrichtung von<br />
Abendschulen verlangt <strong>und</strong> auf Widerstand bei den<br />
Unternehmern stoßend, die Arbeit eingestellt hatten.<br />
Nach Erklärung des Streiks zogen sich die Arbeiter,<br />
die in den salpeterhaltigen Pampas weit von einander<br />
zerstreut sind, in der Stadt I q u i q u e zur<br />
Beratung zusammen. Friedlich zogen sie in die<br />
Stadt ein, doch genügte schon ihre bloße Anwesenheit,<br />
den Bourgeois <strong>und</strong> den Behörden panischen<br />
Schrecken einzujagen. Letztere bewilligten ihnen zu<br />
Versammlungszwecken ein geräumiges Lokal am<br />
Platze Santa Maria. In wenigen Tagen hatte Iquique<br />
schon über 12.000 Salpeterarbeiter zu beherbergen,<br />
da alle Tage neue Karawanen zuzogen, die die<br />
Zahl der Streikenden vermehrten. Am 20. Dezember<br />
kam das Gerücht in Umlauf, daß in Buenaventura<br />
das Militär auf die Streikenden geschossen, wobei<br />
es 9 Tote <strong>und</strong> 18 Verw<strong>und</strong>ete gegeben habe. Diese<br />
Nachricht, verb<strong>und</strong>en mit der hochmütigen Haltung<br />
der Unternehmer, die sich zu nichts verständigen<br />
wollten, genügte, um die Gemüter auf das Höchste<br />
zu erregen.<br />
So kam der Tag der Schlächterei von<br />
Iquique heran.<br />
Die Arbeiter versammelten sich wie gewöhnlich<br />
im Schullokal von Santa Maria, ermahnten einander<br />
zum Ausharren im Streik <strong>und</strong> protestierten<br />
gegen die Metzelei in Buenaventura. Während nun<br />
im Innern des Gebäudes die Versammlung vor sich<br />
ging, stellten sich auf dem Platze 1500 Soldaten<br />
m i t z w e i M i t r a i l l e u s e n auf, <strong>und</strong> der General Silva<br />
Renard richtete an seine Truppen eine militärischpatriotische<br />
Ansprache, sie zur Erfüllung der Soldatenpflicht<br />
mahnend. Darauf näherte sich der<br />
General mit seinem Offiziersstabe dem Schulgebäude<br />
<strong>und</strong> forderte die Streikenden auf, das<br />
Lokal sofort zu verlassen. Als er einen negativen<br />
Bescheid erhielt, kommandierte er den Mitgliedern<br />
des Streikkomitees: „Falls nicht sofortige Räumung<br />
erfolgt, lasse ich schießen!" Da das Komitee die<br />
Drohung nicht ernst aufnahm, ließ der General ein<br />
Pikett Marinesoldaten <strong>und</strong> ein Pikett vom Regiment<br />
O. Higgins vorrücken <strong>und</strong> aus nächster Nähe in die<br />
Versammlung hineinschießen. Die Streikenden<br />
retteten sich nur in wilder Flucht durch Fenster<br />
<strong>und</strong> Türen <strong>und</strong> fanden sich auf dem Schulplatze<br />
vor der aufgebotenen Truppenmacht. Es heißt, daß<br />
die Streikenden das Feuer erwidert, den General<br />
<strong>und</strong> sein Pferd verw<strong>und</strong>et <strong>und</strong> mehrere Soldaten<br />
außer Gefecht gesetzt hätten. Der General ließ nun<br />
in seiner Berserkerwut die Mitrailleusen auf das<br />
Schulgebäude richten <strong>und</strong> das durch Kartätschenfeuer<br />
zerstörte Lokal durch die Truppen stürmen,<br />
die den dort befindlichen verw<strong>und</strong>eten <strong>und</strong> sterbenden<br />
Kameraden im Proletarierwams noch den<br />
Todesstoß gaben.<br />
Die offizielle K<strong>und</strong>gabe dieser Schlächterei<br />
schließt der General mit den Worten:<br />
„Der Unterzeichnete beklagt dies schmerzliche<br />
Ereignis, doch sind dessen einzige Schuldige<br />
die Agitatoren, die, nach Herrschaft <strong>und</strong><br />
Popularität strebend, das Volk in schwierige, der<br />
sozialen Ordnung widersprechende Situationen<br />
bringen, welchen die öffentliche Macht im Namen<br />
des Gesetzes entgegentreten muß".<br />
Denselben Abend wurden die Mitglieder des<br />
Streikkomitees standrechtlich erschossen. Es sind<br />
dies: der Präsident J o s e B r i g g , der Vizepräsident<br />
M a n u e l A l t a m i r a n o , der Kassier J . S a n t o s<br />
M o r a l e s , der Schriftführer N i c a n o v R o d r i -<br />
g u e z , die Delegierten: J . S a n t o s P a z , J g n a c i o<br />
M o n a r d e s , P e d r o S o t o m a y o r , J u a n O s o -<br />
r i o , J u a n O r d o n e z , F r a n c i s c o S ä n c h e z ,<br />
L u i s M u n o z , J . M . C a c e r e s , V i c t o r F .<br />
C e r p a , S a m u e l T o r o , M a n u e l G o n z a l e z<br />
<strong>und</strong> L u i s C ó r d o v a .<br />
Eine Anzahl Soldaten, die sich geweigert<br />
harte, auf die Versammlung zu schießen, ließ<br />
der General sofort über die Klinge springen. Dieser<br />
eine Tag brachte über 200 Tote <strong>und</strong> zwischen 500<br />
<strong>und</strong> 600 Verw<strong>und</strong>ete. Den nächsten Tag ging das<br />
Militär von neuem gegen die Streikenden vor, w o -<br />
bei es zahlreiche Verluste auf beiden Seiten g a b ;<br />
die Streikenden wurden gezwungen, in die Pampas<br />
zu fliehen <strong>und</strong> setzten in ihrer Ohnmacht die<br />
Salinengebäude „Alianza", „Esmeralda" <strong>und</strong> andere<br />
im Süden der Pampas gelegene Bauten der Unternehmer<br />
in Brand. Es gab gleichfalls erbitterte<br />
Kämpfe in den Ortschaften Negreiros <strong>und</strong> Zapiga,<br />
doch sind die Verluste noch nicht bekannt. Gegenüber<br />
dieser neuen Infamie der republikanischen Demokratie<br />
<strong>und</strong> des Kapitalismus kann nicht laut genug<br />
in alle Welt hineingerufen werden:<br />
S c h m a c h d e n S c h l ä c h t e r n !<br />
F l u c h d e n A u s b e u t e r n !<br />
W e h e d e n W e h r l o s e n !<br />
Spanien.<br />
Die s p a n i s c h e Inquisition.<br />
Aus der zweiten Nummer des „Internationalen<br />
anarchistischen Bulletin" entnehmen wir, dem<br />
Wunsche der Redaktion zufolge, nachstehenden<br />
Schmerzensruf unserer spanischen Genossen, den<br />
wir im Auszug folgen lassen:<br />
„An d i e K a m e r a d e n d e r g a n z e n<br />
W e l t ! Die tyrannische <strong>und</strong> inquisitorische Regierung<br />
von Spanien nimmt, gleich einem blutdürstigen<br />
Tiger, mit aller Macht ihrer Grausamkeit<br />
die tragischen Ereignisse von M o n t j u i c h ,<br />
X e r e x , S e v i l l a , C o r u n a , A l k a l a d e l<br />
Valle wieder auf . . . In ihrem Blutdurst, den<br />
Freiheitsgeist <strong>und</strong> die Brüderlichkeit des spanischen<br />
Proletariats zu vernichten, schreckt sie vor<br />
nichts zurück, um ihr schändliches <strong>Ziel</strong> zu erreichen,<br />
in dessen Verfolgung.<br />
Seit den letzten Reaktionsjahren in B a r -<br />
c e l o n a ist es gang <strong>und</strong> gäbe geworden, eine<br />
unzählige Anzahl Bomben „zu entdecken", die<br />
oftmals aufs Geradewohl geworfen wurden, ohne<br />
Gemeinschaftssinn, ohne logisches Ideal, mit dem<br />
einzigen Zweck, Angst <strong>und</strong> Schrecken in den<br />
einzelnen Städten zu verbreiten <strong>und</strong> um den<br />
Haß gegen diejenigen zu provozieren, die für die<br />
Freiheit kämpfen, die Gerechtigkeit <strong>und</strong> den allgemeinen<br />
Wohlstand. Ja, Kameraden, diese<br />
Bomben hatten kein anderes <strong>Ziel</strong>, als das edle<br />
menschliche Emanzipationsideal, für das wir<br />
streiten, zu vernichten.<br />
Und indem sie nun den Vorwand gef<strong>und</strong>en<br />
— an den Haaren herbeigezogen — hatten, war<br />
es ihnen ein Leichtes, alle konstitutionellen Staatsgarantien,<br />
die dem Treiben der Polizei eine<br />
Grenze steckten, aufzuheben. Die Willkür der<br />
Polizei schaltete nun ungehemmt, man brach in<br />
unsere Wohnungen ein, las alle unsere Privatbriefe,<br />
stöberte in unserem Privateigentum herum,<br />
vieles mittragend, entriß uns den Armen unserer<br />
Familien <strong>und</strong> warf uns in die Gefängnisse. Dort<br />
werden wir nun schon viele Tage gehalten, gepeinigt<br />
von Ungeziefer, auf der Erde schlafend,<br />
eine Nahrung erhaltend, die ekelerregend <strong>und</strong><br />
auch ungenügend ist, um uns vor dem quälenden<br />
Hunger zu retten; dazu kommt noch eine bittere<br />
Kälte, wie auch die ewigen, unablässigen Ärgernisse,<br />
die uns die grausamen Sbirren des heutigen<br />
Systemes bereiten. Ohne uns auch nur das G e -<br />
ringste zu sagen, was mit uns geschehen würde,<br />
brachte man uns ins Gefängnis.<br />
Gibt es irgend welche Anzeichen, die das<br />
gegen uns eingeschlagene Verfahren irgendwie<br />
rechtfertigen können? Keinerlei. Man legt uns<br />
das Werfen oder gewollte Werfen von Bomben<br />
zur Last <strong>und</strong> verhaftete uns auch unter dieser<br />
„Anklage". Aber trotz all ihrer Untersuchungen,<br />
die die Regierungsbeamten zu machen v o r -<br />
g e b e n , , konnten sie keinerlei Beweise gegen<br />
uns aufbringen, was sie aber nicht davon abhält,<br />
uns n i c h t in Freiheit zu versetzen. Tatsache ist<br />
z. B., daß der für den Bombenprozeß ernannte<br />
Untersuchungsrichter sich mit unserer Angelegenheit<br />
nicht beschäftigt; wir bleiben dem Gutdünken<br />
des Gouverneurs Don A n g e l O s s o r i o y<br />
G a l l a r d o überlassen. Daß die herrschende<br />
Reaktion es ist, die selbst die Bomben gelegt<br />
<strong>und</strong> geworfen hatte, um einen scheinbaren Rechtsgr<strong>und</strong>satz<br />
für das Vorgehen gegen unsere G e -<br />
nossen zu besitzen, geht auch aus dem Umstand<br />
hervor, daß ein gewisser M a r g a r i d a in der<br />
Madrider <strong>und</strong> Barcelonaer Presse ganz frank <strong>und</strong><br />
frei erzählte, ja es sogar vor einigen Mitgliedern<br />
des höchsten Gerichtshofes persönlich erklärte,<br />
daß die Bombe, die in Barcelona in der Fernandostraße<br />
im Jahre 1904 platzte, von ihm in einem<br />
Palast Barcelonas aufbewahrt wurde — doch<br />
niemand hat ihn deshalb beunruhigt, im Gegenteil,<br />
sogar einer seiner Vettern ist in Diensten<br />
der Polizei. Es ist auch bekannt, daß J u a n<br />
R u l l , der sich jetzt zusammen mit anderen im<br />
Gefängnis befindet <strong>und</strong> unter Anklage steht,<br />
Bombenexplosionen verursacht zu haben, zur<br />
Zeit dieser Explosionen Polizeispitzel <strong>und</strong> dem<br />
Gouverneur direkt untergeordnet war. Die Staatsanwaltschaft<br />
hält jetzt den Rull in fünf Fällen der<br />
Todesstrafe schuldig <strong>und</strong> verlangt für seine Mithelfer<br />
Gefängnisstrafen von 10 zu 15 Jahren. Diese<br />
Subjekte unterhielten mehr oder weniger intime<br />
Bekanntschaften in bourgeoisen Kreisen <strong>und</strong><br />
droht Rull mit kompromittierenden Enthüllungen,<br />
falls man ihm zu scharf zusetze.<br />
T r o t z d e m n u n d i e ö f f e n t l i c h e<br />
M e i n u n g v o n u n s e r e r U n s c h u l d ü b e r -<br />
z e u g t i s t u n d d i e B o m b e n f ü r e i n<br />
W e r k d e r R e a k t i o n h ä l t , d i e s i c h<br />
d u r c h s o l c h e M i t t e l u n s e r e r e n t l e d i -<br />
g e n w i l l , b l e i b e n w i r d o c h i m G e -<br />
f ä n g n i s , j e d e r G e r e c h t i g k e i t , j a<br />
s e l b s t j e d e m G e s e t z z u m T r o t z ! *<br />
Der zu so trauriger Berühmtheit gelangte<br />
Minister Maurä hat dem Parlament einen Gesetzentwurf<br />
unterbreitet, der der Regierung das Recht<br />
zugestehen soll, solche Personen aus Spanien zu<br />
verbannen, welche dem jetzigen Regime widersprechende<br />
Ideen hegen. Falls solche Personen<br />
auf spanisches Territorium zurückkehren, sollen<br />
sie auf drei Jahre deportiert werden. Es soll also<br />
das Verbleiben im Lande für alle diejenigen unmöglich<br />
gemacht werden, die nicht Monarchisten<br />
<strong>und</strong> Katholiken sind.<br />
Wir stehen vor einem Riesenkampf. Wie<br />
ein H<strong>und</strong> den Befehlen seines Herrn parierend,<br />
spielt sich der Gouverneur von Barcelona zu<br />
einem Torquemada gegen die Arbeiter im allgemeinen<br />
<strong>und</strong> gegen uns im besonderen auf. Sobald<br />
einer von uns eine kranke Mutter hat oder eine<br />
Genossin, die der Niederkunft entgegensieht, oder<br />
eine Familie besitzt, in der die Not eingekehrt<br />
ist, so wird er sofort verhaftet, denn auf diese<br />
Weise glaubt man, ihn mürbe machen zu können.<br />
Die Angst um die Seinen, die dem Hunger preisgegeben<br />
sind, die Anhänglichkeit an seine Familie<br />
sollen ihn zwingen, seinem Willen <strong>und</strong> seinen<br />
Ideen zu entsagen.<br />
Doch wenn man uns in Spanien knebelt,<br />
damit die Welt nicht erfahre, welche Martern die<br />
blutrünstige Regierung uns erdulden läßt, so<br />
findet die Stimme der Bedrückten doch ihren<br />
<strong>Weg</strong> über die Landesgrenze <strong>und</strong> ruft tausendfachen<br />
Fluch gegen das U n g e h e u e r M a u r a<br />
<strong>und</strong> seinen würdigen S a t e l l i t e n O s s o r i o<br />
y G a l l a r d o .<br />
Kameraden! Das einzige Mittel, das Maura<br />
<strong>und</strong> seinen Henkern in ihrem entsetzlichen<br />
Treiben Einhalt gebieten könnte — die öffentliche<br />
Bekanntmachung ihrer Schurkereien — ist uns genommen.<br />
Doch was w i r n i c h t machen können,<br />
d a s b i t t e n w i r E u c h z u u n t e r n e h m e n ,<br />
u m u n s v o r T o d u n d V e r n i c h t u n g z u<br />
b e w a h r e n ! "<br />
Gefängnis von Barcelona, 10. Jänner 1908.<br />
N a c h s c h r i f t d e r R e d a k t i o n . Dieser<br />
Brief, der auf Umwegen an das „Intern. Bulletin"<br />
gelangte, enthält auch die Namensunterzeichnungen,<br />
die aber aus leicht begreiflichen Gründen noch nicht<br />
veröffentlicht werden können.<br />
Allgemeine Gewerkschafts-Föderation.<br />
S o n n t a g d e n 12. April 1908, pünktlich 7 Uhr a b e n d s<br />
Halbjährliche Generalyersammlung<br />
mit Vortrag (böhmisch <strong>und</strong> deutsch)<br />
im V e r e i n s l o k a l , V. Bez., E i n s i e d l e r g a s s e 60.<br />
Quittungen<br />
v o m 26. Jänner bis 1. März.<br />
Col. M. K 2 - - , K. Klag. K 3 - , P. Off. K 3 - ,<br />
Pod. K 5-04, P. R. K 6-20, K. Egg. K 5.60, N. Münch.<br />
K - . 9 4 , Kalv. Ob. Georg K 480, B. Buda. K 120,<br />
Sch. Mariasch. K 332, L. Zürich K 5 - - , Sehr.<br />
Hamb. K. 2 40, M. Marb. K 2-60, B. Skal. K 1-40,<br />
San. Innsbr. K 5 — , Grabenw. Andr. K 2-40, Van.<br />
Wien K 6 - , Miksch. H. K 4 - - , Br. Stürb. K 2 - ,<br />
Krp. Brod K 125, N. Münch. K 2-—. Jan. Machend<br />
K 4 — , Sor. Judenb. K 120, Schi. Berlin K 175.<br />
Cernoäak K P40, Friedb. Asc. K 2856, A.<br />
Gew. Fed. K 2 0 - , Schw. K 164, Rosenf. K 10-- ,<br />
Fisch. K 6 - , Schi. K 10 - X. Bez. K 2 - - .<br />
M. Klost. K 240, Nesch. Br. K 5 - , Ru. Wey.<br />
K 3-20, Lu. Chot. K 2-40, PI. Milwaukee K 980,<br />
A. Zur. K P75, Kubesch K 1 - , Loevius (N. Y.)<br />
K 1235, Eh. Wien K 150, Lik. 2 - - . Wojt. K —.60,<br />
Lik. K 2 . - , Haj. K 1 ' - , Lechk. K 1 . - , Resn. K 4-50,<br />
Kub. K 2-40, Lik. K 8 - , Vel. K 5—, Pek. K 1 - ,<br />
Hör. K 1 - , Nav. K 1—, Haj K 1—, Vojt. K 1 - ,<br />
Eh. K 1 - , Lechtz. K Ir. K 1 - , Korm. K<br />
Kuba. K 1-— Kube. K - . 2 0 , Einz. K - - 8 0 , Läse.<br />
K - . 6 0 .<br />
Res. K 1-60, Res. K 350, Wag. K - . 5 5 , Redout.<br />
K —'90, Vel. K 10-95, Lik. K 5 - , Navr. K 2 - ,<br />
Resn. K 1-52, Resn. K 2 03, Tarn. K V—, Ra. K - - 9 0 ,<br />
Vel. K 1 60, Lakn. K — 78, Mül. I. K 120, Petsch<br />
Zur. K 2 — , H. Bodenb. K 1—, Ra. K - 60, Rosenbl.<br />
K 1— Gabr. K 1 3 - , Tuma Lond. K 5-—,<br />
Botthande K 8-50, Lind. Kadi. K 1-20, Kasp. Leipz.<br />
K 4-60, C. Schönpr. K 2-30.<br />
* Der Tagespresse zufolge hat der Prozeß wider unsere<br />
Genossen bereits vor über einer Woche begonnen; über das<br />
Urteil verlautbart noch nichts. Anm. d. Red.)
— 17 —<br />
die Wasserregulierung, den Forstsclnitz usw.; sie<br />
gründet Waisenhäuser <strong>und</strong> Spitäler <strong>und</strong> gibt sich gern<br />
den Anschein, daß sie die Beschützerin <strong>und</strong> W o h l -<br />
täterin der Armen <strong>und</strong> Schwachen ist. W e n n wir es<br />
aber g e n a u e r betrachten, wie <strong>und</strong> w a r u m sie diese<br />
Aufgaben erledigt, so beweisen die Tatsachen, daß<br />
alles was die Regierung tut, nur darum <strong>und</strong> d e s w e g e n<br />
getan wird, um zu herrschen, um die Vorrechte -<br />
ihre eigenen <strong>und</strong> diejenigen der Klasse, die sie vertritt<br />
<strong>und</strong> verteidigt — aufrecht zu erhalten, zu vermehren<br />
<strong>und</strong> zu verewigen.<br />
Keine Regierung kann lange bestehen, o h n e ihre<br />
wahre Natur unter dem Vorwand der allgemeinen<br />
Nützlichkeit zu verstecken; sie kann nicht das Leben<br />
der Bevorzugten beschützen, o h n e daß sie sich den<br />
Anschein gibt, das Leben Aller beschützen zu wollen;<br />
sie kann nicht den Vorrechten Einzelner G e l t u n g<br />
verschaffen, o h n e Miene zu machen, das Recht von<br />
allen Menschen aufrecht zu erhalten. »Das Gesetz«<br />
sagt Kropotkin — das heißt diejenigen, welche die<br />
Gesetze machen, nämlich die Regierung — »das G e -<br />
setz hat von den gesellschaftlichen Gefühlen des<br />
Menschen Gebrauch gemacht, um mit den allgemein<br />
anerkannten moralischen Vorschriften eine Gesellschaftsordnung<br />
durchzusetzen, welche der kleineu<br />
Anzahl von Ausbeutern nützlich ist, g e g e n welche<br />
die Menschheit sich sonst empört hätte.«<br />
Eine Regierung kann nicht wollen, daß die G e -<br />
sellschaft sich auflöst, denn dann w ü r d e n ja sie <strong>und</strong><br />
die herrschende Klasse keine Menschen mehr finden,<br />
die sie ausbeuten können. Sie kann auch nicht zu-<br />
. A N A R C H I E , von Etiriko Malatesta. 3
— 18 —<br />
g e b e n , daß die Gesellschaft sich selbst regiert, o h n e<br />
offizielle Eingriffe, denn dann w ü r d e das Volk sehr<br />
bald merken, daß die Regierung zu gar nichts nötig<br />
ist — a u ß e r dazu, um die Besitzenden, die das Volk<br />
aushungern, zu beschützen — u n d es w ü r d e anfangen,<br />
sich von der Regierung <strong>und</strong> den Besitzenden zu<br />
befreien.<br />
Heutzutage, wo die F o r d e r u n g e n des Proletariats<br />
immer d r i n g e n d e r <strong>und</strong> d r o h e n d e r werden, zeigen die<br />
Regierungen die Absicht, sich in das Verhältnis zwischen<br />
Arbeitgebern <strong>und</strong> Arbeitern zu mischen. Sie versuchen<br />
auf diese Art, die A r b e i t e r b e w e g u n g auf falsche Bahnen<br />
zu lenken, u n d durch einige irreführende, Reformen<br />
zu verhüten, daß die A r m e n sich selbst alles dies erkämpfen,<br />
w a s sie nötig haben, nämlich ebensoviel<br />
Wohlstand als die anderen Menschen genießen.<br />
A u ß e r d e m m u ß man in Betracht ziehen, daß die<br />
Bourgeoisie, also die Besitzenden, selber immerfort<br />
daran sind, einander gegenseitig zu bekämpfen <strong>und</strong><br />
zu vernichten; <strong>und</strong> daß anderenteils die m o d e r n e<br />
Regierung, obgleich sie der Sprößling, der Sklave<br />
<strong>und</strong> der Beschützer der Bourgeoisie ist, sich doch<br />
immer, wie jeder Sklave, zu befreien sucht <strong>und</strong>, wie<br />
jeder Beschützer, darnach strebt, ihren Schützling zu<br />
beherrschen. D a h e r dieses Hin- <strong>und</strong> Herschwanken,<br />
diese Winkelzüge, dieses G e w ä h r e n <strong>und</strong> Z u r ü c k n e h m e n<br />
von Vergünstigungen, dieses Suchen nach Verbündeten<br />
im Volke g e g e n die Konservativen, dieses ganze Spiel,<br />
das die Wissenschaft der Regierenden ausmacht <strong>und</strong><br />
welches den Leichtgläubigen <strong>und</strong> Faulen, die ihr W o h l<br />
immer von O b e n erwarten, Sand in die Augen streut.
— 19 -<br />
Mit all d e m ändert die Regierung ihre Natur<br />
nicht. W e n n sie die Regelung <strong>und</strong> Aufrechterhaltung<br />
der Rechte u n d Pflichten eines J e d e n übernimmt, so<br />
verdreht sie das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen.<br />
Jede Tat, welche die Vorrechte der Regierenden <strong>und</strong><br />
Besitzenden verletzt oder gefährdet, bezeichnet sie als<br />
»Verbrechen« <strong>und</strong> bestraft dieselbe; die u n b a r m h e r -<br />
zigste A u s b e u t u n g der Elenden, das fortwährende langsame,<br />
seelische <strong>und</strong> körperliche H i n m o r d e n der Besitzlosen<br />
durch die Besitzenden erklärt sie für »gerecht«<br />
<strong>und</strong> »gesetzlich«.<br />
W e n n sie die Leitung der öffentlichen Dienstleistungen<br />
in die Hand nimmt — also eine Art Staatssozialismus<br />
— so hat sie wiederum nur die Interessen<br />
der Regierenden u n d Besitzenden im A u g e . Sie kümmert<br />
sich nur soweit um die Interessen des arbeitenden<br />
Volkes, soweit es n o t w e n d i g ist, damit das Volk willig<br />
seine Steuern zahlt. W e n n sie Schulen g r ü n d e t <strong>und</strong><br />
erhält, so tut sie dies auch nur darum, um die Verbreitung<br />
der u n a b h ä n g i g gelehrten W a h r h e i t zu verhindern<br />
<strong>und</strong> den Geist der jungen Leute so zu erziehen,<br />
daß sie zu m ü ß i g e n Tyrannen u n d g e h o r s a m e n Sklaven<br />
h e r a n w a c h s e n — je nach der Klasse, aus der sie<br />
stammen. In der Hand der Regierung wird alles zu<br />
einem W e r k z e u g der A u s b e u t u n g , alles wird zu einer<br />
Polizei-Institution, um das Volk in Fesseln zu halten.<br />
Es kann nicht anders s e i a W e n n d a s menschliche<br />
Leben ein Kampf zwischen den M e n s c h e n ist,<br />
so gibt es natürlich Sieger <strong>und</strong> Besiegte u n d die<br />
Regierung — welche der Preis des Kampfes ist, oder<br />
als Mittel dient, um den Siegern die Früchte ihres
— 20 —<br />
Sieges zu sichern <strong>und</strong> zu erhalten — wird selbstverständlich<br />
nie in den Händen der Besiegten sein,<br />
ob nun der Kampf durch körperliche oder geistige<br />
Kraft oder auf wissenschaftlichem Felde gefochten<br />
wird. Diejenigen, die gekämpft haben, um zu siegen,<br />
um sich die besten Verhältnisse, die Vorrechte, die<br />
Herrschaft <strong>und</strong> die Macht zu erobern, w e r d e n den<br />
erfochtenen Sieg g e w i ß nicht dazu benützen, um das<br />
Recht der Besiegten zu schützen oder um ihrem<br />
eigenen Willen — oder d e m Willen ihrer Fre<strong>und</strong>e<br />
<strong>und</strong> Verbündeten — Schranken zu setzen.<br />
Die Regierung, oder wie man sie nennt, der<br />
»Staat«, ist als Vollstrecker der Gerechtigkeit, als<br />
Milderer der gesellschaftlichen Streitigkeiten, als unparteiischer<br />
Verwalter der Interessen Aller eine Täuschung,<br />
ein Trugbild, eine nie verwirklichte <strong>und</strong> nie<br />
zu verwirklichende Utopie.<br />
W e n n die Interessen der Menschen mit einander<br />
im G e g e n s a t z stünden, w e n n der Kampf zwischen<br />
den Menschen ein n o t w e n d i g e s Gesetz der m e n s c h -<br />
lichen Gesellschaft wäre, w e n n die Freiheit von<br />
Einigen der Freiheit der Anderen eine Grenze setzen<br />
w ü r d e ; dann w ü r d e ein jeder immer darnach trachten,<br />
seinen eigenen Interessen ü b e r die Interessen der<br />
Anderen zum Siege zu verhelfen; ein jeder w ü r d e<br />
seine Freiheit auf Kosten der Freiheit anderer vergrößern<br />
wollen. W e n n es eine Regierung g e b e n<br />
m ü ß t e , nicht weil dieselbe mehr o d e r weniger allen<br />
Mitgliedern einer Gesellschaft nützlich ist, sondern<br />
weil die Sieger sich die Früchte ihres Sieges sichern<br />
wollen, indem sie die Besiegten sich fest unterwerfen
— 21 —<br />
<strong>und</strong> um sich nicht immerfort zur Verteidigung bereit<br />
halten zu müssen, eigens zum Polizeidienst abgerichtete<br />
Menschen mit ihrer Verteidigung betrauen — d a n n<br />
wäre die Menschheit d e m U n t e r g a n g geweiht, oder<br />
sie wäre dazu verdammt, sich immerfort zwischen<br />
der Tyrannei der Sieger <strong>und</strong> den E m p ö r u n g e n der<br />
Besiegten herumzuschlagen.<br />
Glücklicherweise ist die Zukunft der Menschheit<br />
glückverheißender, denn dieselbe wird durch ein<br />
sanfteres Prinzip geleitet:<br />
D i e s e s w a h r h a f t m e n s c h l i c h e u n d g e -<br />
s e l l s c h a f t l i c h e P r i n z i p i s t d i e S o l i d a r i t ä t .<br />
Die notwendigsten Gr<strong>und</strong>eigenschaften des Menschen<br />
sind erstens das Streben nach der Erhaltung<br />
seines Lebens, o h n e welches nichts L e b e n d e s bestehen<br />
w ü r d e ; <strong>und</strong> zweitens das Streben nach der Erhaltung<br />
seiner Art, o h n e welche keine Art sich entwickeln<br />
oder erhalten könnte. D e r Mensch strebt natürlicherweise<br />
darnach, sein eigenes Leben, sowie jenes seiner<br />
Nachkommenschaft g e g e n Alle <strong>und</strong> Alles zu verteidigen.<br />
Die lebenden W e s e n haben in der Natur zwei<br />
Methoden, um ihr Leben sicherer <strong>und</strong> a n g e n e h m e r<br />
zu gestalten. Einerseits den K a m p f der einzelnen<br />
Individuen gegen die Elemente <strong>und</strong> auch gegen die<br />
anderen Individuen derselben Art o d e r einer anderen<br />
Art; andererseits die g e g e n s e i t i g e H i l f e , d a s Z u -<br />
s a m m e n w i r k e n , welches wir die »Vereinigung zum<br />
Kampfe« n e n n e n können, g e g e n alle Naturgewalten,<br />
die das Dasein, die Entwickelung <strong>und</strong> das Wohlbefinden<br />
der vereinigten Lebewesen gefährden.
— 22 —<br />
In diesen kurzen Zeilen k ö n n e n wir die Rolle<br />
dieser zwei Gr<strong>und</strong>prinzipien in der Entwickelung d e s<br />
Lebens, des K a m p f e s u n d des Z u s a m m e n w i r k e n s<br />
<strong>und</strong> ihr Verhältnis zu einander nicht ausführlicher<br />
behandeln.<br />
Es genügt, festzustellen, daß in der Menschheit<br />
das — freiwillige o d e r unfreiwillige — Z u s a m m e n -<br />
wirken das einzige Mittel für den Fortschritt, zur Vervollkommnung,<br />
zur Sicherheit g e w o r d e n ist; der Kampf<br />
hingegen — als ein Überbleibsel der Urzeiten - ist<br />
ganz unfähig, das Wohlsein der Menschen zu fördern,<br />
im Gegenteil, der Kampf bringt allen Siegern wie<br />
Besiegten nur Schaden.<br />
Die Erfahrung, welche die aufeinanderfolgenden<br />
Menschengeschlechter e r w o r b e n <strong>und</strong> einander überliefert<br />
haben, haben d e m Menschen gezeigt, daß<br />
wenn er sich mit anderen M e n s c h e n vereinigt, sein<br />
Bestehen gesichert, seine Wohlfahrt g r ö ß e r ist. So<br />
hat sich aus d e m Kampf u m s Dasein, welchen die<br />
Menschen g e g e n die Unbilden der Natur u n d die<br />
eigenen Artgenossen führen mußten, der G e s e l l -<br />
s c h a f t s t r i e b entwickelt, der die D a s e i n s b e d i n g u n g e n<br />
der Menschen vollkommen verändert hat. Durch diesen<br />
Trieb konnte sich der Mensch aus d e m tierischen<br />
Zustand emporarbeiten, eine g r o ß e Macht über die<br />
Natur erhalten <strong>und</strong> sich so hoch über die übrigen<br />
Tiere erheben, daß die spiritualistischen Philosophen<br />
es für nötig fanden, eine übernatürliche <strong>und</strong> unsterbliche<br />
Seele für ihn zu erfinden.<br />
Viele Ursachen haben bei der Bildung dieses<br />
Gesellschaftstriebes mitgewirkt. Derselbe hat seinen
— 23 —<br />
U r s p r u n g in d e m Bestreben aller Lebewesen, ihre<br />
Art zu erhalten — welches Bestreben nichts anderes<br />
ist, als wie der auf die natürliche Familie beschränkte<br />
Gesellschaftstrieb — <strong>und</strong> er hat sich in solch einer<br />
H ö h e u n d Stärke entwickelt, daß er von nun an die<br />
eigentliche G r u n d l a g e der moralischen Natur des<br />
Menschen bildet.<br />
Als der Mensch sich a u s den niedriger stehenden<br />
Tierarten entwickelte, war er schwach <strong>und</strong> wehrlos,<br />
um einzeln den Kampf mit den Raubtieren aufnehmen<br />
zu können. A b e r er hatte ein Gehirn, das einer großen<br />
Entwicklung fähig war, ein Stimmorgan (Kehle <strong>und</strong><br />
Zunge), das fähig war, die verschiedenen Regungen<br />
dieses G e h i r n s durch verschiedene Laute auszudrücken;<br />
H ä n d e , mit d e n e n er Stein u n d Holz u n d andere<br />
Stoffe nach seinem Willen formen konnte — <strong>und</strong> so<br />
erkannte er gar bald die Notwendigkeit <strong>und</strong> die Vorteile<br />
der Vereinigung. Man kann sogar sagen, daß er<br />
er erst dann anfing, M e n s c h zu sein, als er sich in<br />
Gesellschaften vereinigte <strong>und</strong> den Gebrauch der<br />
Sprache erlangt hatte, die zugleich eine wichtige Errungenschaft<br />
u n d ein mächtiger F ö r d e r e r der gesellschaftlichen<br />
Gefühle ist.<br />
Da im Anfang die Anzahl der Menschen verhältnismäßig<br />
gering war, so war der Kampf ums<br />
Dasein zwischen M e n s c h u n d M e n s c h weniger erbittert,<br />
nicht so ununterbrochen, sogar weniger notwendig,<br />
was jedenfalls sehr viel zur Entwicklung der<br />
fre<strong>und</strong>schaftlichen Gefühle beitrug <strong>und</strong> die Erkenntnis<br />
<strong>und</strong> W ü r d i g u n g der gegenseitigen Hilfe ermöglichte.
2 4<br />
Der Mensch kann durch die A n w e n d u n g seiner<br />
ursprünglichen Fähigkeiten, im Z u s a m m e n w i r k e n mit<br />
mehr oder weniger seiner G e n o s s e n die Verhältnisse,<br />
in d e n e n er lebt, verändern <strong>und</strong> sie seinen eigenen<br />
Bedürfnissen anpassen. Seine Begierden vermehren<br />
sich <strong>und</strong> wachsen in dem Maße, als es ihm leichter<br />
wird, dieselben zu befriedigen; sie w e r d e n schließlich<br />
zu Bedürfnissen. Die A r b e i t s t e i l u n g entsteht als<br />
Folge der methodischen A u s n ü t z u n g der Naturkräfte<br />
zu Gunsten des Menschen. Und durch all dies wird<br />
das gesellschaftliche Leben zur n o t w e n d i g e n B e d i n g u n g<br />
des menschlichen Daseins, o h n e das der Mensch in<br />
die Tierheit zurückfallen würde.<br />
Durch die Verfeinerung des Gefühles in Folge<br />
der häufigen Beziehungen unter den M e n s c h e n <strong>und</strong><br />
durch die G e w o h n h e i t , die sich w ä h r e n d der Jahrtausende<br />
vererbt hat, ist dieses Bedürfnis nach gesellschaftlichem<br />
Leben, nach Austausch der G e d a n k e n<br />
<strong>und</strong> Gefühle unter den Menschen zu einem notwendigen<br />
Teil des menschlichen Daseins g e w o r d e n .<br />
Es hat sich in Zuneigung, in Fre<strong>und</strong>schaft, in Liebe<br />
verwandelt, <strong>und</strong> besteht u n a b h ä n g i g von den materiellen<br />
Vorteilen, die die Vereinigung bietet, so weit<br />
daß, um es zu befriedigen, man Leiden aller Art <strong>und</strong><br />
sogar dem Tod entgegentritt.<br />
Die Vereinigung bringt dem Menschen riesige<br />
Vorteile. W e n n er vereinzelt bleibt, ist er trotz seiner<br />
geistigen Überlegenheit viel schwächer als die übrigen<br />
Tiere; aber er besitzt die Möglichkeit, sich mit immer<br />
mehr <strong>und</strong> anderen Menschen zu vereinigen, immerfort<br />
engere <strong>und</strong> verwickeitere Beziehungen mit ihnen
Offizielles Protokoll<br />
des Internationalen Antimilitaristischen<br />
Kongresses<br />
gehalten zu Amsterdam, am 30. — 31. August<br />
1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />
des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />
m e r h o r n .<br />
(Fortsetzung.)<br />
M a r m a n d e (Frankreich) ergreift das<br />
Wort als Anarchist, auch als der Delegierte<br />
des anarchistischen Kongresses. In Frankreich<br />
tritt der Antimilitarismus in dreierlei<br />
Gestalten auf: 1. greift man in aufklärender<br />
Weise das Heer <strong>und</strong> die Gewalttaten des<br />
Staates an; 2. erörtert man die Rolle, welche<br />
das Heer, die G e n d a r m e r i e <strong>und</strong> die Polizei<br />
im sozialen Z u s a m m e n h a n g spielen <strong>und</strong><br />
wie sie während Streiks verfahren ; 3. bespricht<br />
man das Verhältnis der Revolutionäre,<br />
der Anarchisten <strong>und</strong> der Arbeiter g e g e n ü b e r<br />
dem Krieg <strong>und</strong> dem Patriotismus.<br />
Schon 1887 w u r d e eine »Ligue antipatriotique«<br />
g e g r ü n d e t ; die Führer dieser<br />
Bewegung, Anarchisten, w u r d e n bestraft.<br />
In dieser Zeit w u r d e auch »Le Revolte«<br />
(später <strong>und</strong> heute »Le T e m p s Nouveaux*),<br />
deren Redakteur Jean Grave gerichtlich<br />
verfolgt. J. Grave selbst bekam zwei Jahre<br />
Gefängnisstrafe, weil er in seinem Buche<br />
»Die sterbende Gesellschaft u n d die Anarchie«<br />
den Soldaten ihre vielfach entwürdigende<br />
Stellung vor A u g e n hielt u n d ihnen<br />
riet, sich männlich g e g e n die Soldatenmißhandlungen<br />
zu kehren.<br />
Für seinen »Catéchisme du soldat« erhielt<br />
Maurice Charnet sechs Monate G e -<br />
fängnis. — Als den Soldaten der Rat erteilt<br />
wurde, das Feuern auf streikende Arbeiter<br />
zu verweigern, fanden massenhafte Verurteilungen<br />
statt.<br />
Trotzdem wird die antimilitaristische<br />
Propaganda immer kräftiger. Die P r o p a g a n d a<br />
wird jetzt auch auf der Bühne geführt.<br />
Man denke an »Le Calvaire« von Octave<br />
Mirbeau, an »Biribi« von Darien etc. Eins<br />
der wirksamsten Propagandamittel w a r aber<br />
die Dreifusaffaire in den Jahren 1899—1901.<br />
Damals haben unsere Feinde, die Bourgeoisie,<br />
viel für den Antimilitarismus getan.<br />
Damals ward auf die Offiziere in schärfster<br />
Weise geschimpft. Die Dreifusaffaire hat<br />
aus bürgerlichen Journalisten Antimilitaristen<br />
gemacht, z. B. Urbaine Gohier, Gustav Hervé,<br />
Aristide Briand (der augenblicklich mitschuldig<br />
ist an den Greueltaten der Regierung).<br />
Gohier w u r d e zwanzigmal verurteilt<br />
<strong>und</strong> freigesprochen. Die antimilitaristische<br />
Idee drang durch. Das Schwurgericht hat<br />
viele Antimilitaristen freigesprochen.<br />
Ein würdigerer Vertreter des Antimilitarismus<br />
als die bürgerlichen Vertreter<br />
desselben ist Yvetot. Dieser, der sich jetzt<br />
für 4 Jahre im Gefängnis befindet, schrieb<br />
»Le manuel du soldat«. Er w u r d e d e s w e g e n<br />
angeklagt <strong>und</strong> freigesprochen.<br />
Ein bekannter Antimilitarist ist Gustave<br />
Hervé. <strong>Weg</strong>en Unterschreibung eines antimilitaristischen<br />
Manifestes w u r d e er zu<br />
4 Jahren verurteilt. Er fing mit der Errichtung<br />
des »Travailleur de l'Yonne« an, g a b später<br />
»Le piou, piou de l'Yonne« heraus, 1905<br />
hielt er im Tivolisaal eine Rede gegen die<br />
Vaterlandsliebe. Damals staunten die bürgerlichen<br />
Delegierten ihn an, aber die Arbeiter<br />
jauchzten ihm zu.<br />
Seitdem hat er eine P r o p a g a n d a in<br />
großem Stile entfaltet. Nach der G r ü n d u n g<br />
der internationalen antimilitaristischen Assoziation<br />
habe man in Frankreich Tüchtiges<br />
geleistet. Überall w u r d e n G r u p p i e r u n g e n<br />
errichtet. Von ihrer Form ist nicht viel übrig<br />
geblieben, dennoch w u r d e desto mehr in<br />
ihrem Geiste <strong>und</strong> viel gearbeitet. Man<br />
denke nur an die bekannten Zettel, in denen<br />
ohne Umschweife gesagt w u r d e , wie man<br />
verfahren müsse, w e n n der Befehl erteilt<br />
werde, auf Streiker zu schießen. Die 24<br />
Unterzeichneten w u r d e n angeklagt. Der geführte<br />
Prozeß n a h m sich wie ein echter<br />
antimilitaristischer K o n g r e ß aus, schöner<br />
als je einer, der gehalten w u r d e . Die Bourgeoisie<br />
fürchtete sich daher, viele Verfolgungen<br />
einzuleiten; aber der Zustand hat sich geändert,<br />
die Zeit der sentimentalen Literatur ist dahin.<br />
Augenblicklich sitzen Almereyda, Yvetot,<br />
Bourquet, Lomlot, Coupaise, Barthes Denac<br />
gefangen. Überall sind die republikanischen<br />
Gefängnisse bereit, die Antimilitaristen aufz<br />
u n e h m e n .<br />
Wieviel Offiziere gibt es in der Kaserne,<br />
die mit uns sind? Wir wissen es nicht;<br />
aber das eine wissen wir: Am 1. Mai 1906 hat<br />
es Soldaten <strong>und</strong> Korporale g e g e b e n , die<br />
sich weigerten, g e g e n das Volk auszuziehen<br />
<strong>und</strong> die »Internationale« sangen. Die Zeitungen<br />
schweigen diese Tatsachen planmäßig tot.<br />
Der Redner schließt mit dem Ausspruch,<br />
daß die antimilitaristische P r o p a g a n d a nur<br />
so einen Erfolg haben kann, w e n n der<br />
Geist des Anarchismus die Arbeiter durchdringt.<br />
Die Sitzung wird vertagt <strong>und</strong> am Abend<br />
fortgesetzt.<br />
N o r b e c k ( S c h w e d e n ) :<br />
Die antimilitaristische Agitation wird<br />
vorwiegend von den J u g e n d v e r b ä n d e n betrieben.<br />
Der sozialistische J u g e n d v e r b a n d<br />
ist immer antimilitaristisch g e w e s e n . Früher<br />
b e g n ü g t e man sich mit einem Protest gegen<br />
das bestehende System des Militarismus,<br />
gegen die Disziplin etc., aber man brachte<br />
der Milizform keinen Widerstand entgegen,<br />
1903 beschloß unser Kongreß, den Kampf<br />
g e g e n den Militarismus überhaupt zu führen,<br />
also auch gegen Miliz <strong>und</strong> Landwehr.<br />
Dieser Beschluß, das E i n n e h m e n dieses<br />
Standpunktes, veranlaßte eine Spaltung in<br />
unserer Organisation, die gemäßigten Mitglieder<br />
bildeten eine selbständige G r u p p e<br />
<strong>und</strong> nannten sich »Sozialdemokratischerj<br />
u g e n d v e r b a n d « . Es darf mit Recht angen<br />
o m m e n werden, daß die Sozialdemokraten<br />
diese Spaltung längst vorbereitet hatten.<br />
Die sozialdemokratischen Blätter haben den<br />
J u g e n d v e r b a n d immerfort bekämpft — <strong>und</strong><br />
tun es noch. D e n n o c h macht man Fortschritte,<br />
wenn auch langsam. Man durfte<br />
zur A n n a h m e geneigt sein, daß infolge der<br />
Spaltung ein Rückgang eintreten sollte.<br />
Dies ist aber nicht geschehen. Im G e g e n -<br />
teil, die Agitation wird noch kräftiger betrieben.<br />
Die zwei Abteilungen arbeiten um<br />
die Wette. Die sozialdemokratische Jugend<br />
kam allmählich zur Einsicht, daß sie auch<br />
antimilitaristisch auftreten mußte, wollte sie<br />
die Jugend heranziehen <strong>und</strong> auf ihrem<br />
letzten Kongreß hat sie einen Standpunkt<br />
a n g e n o m m e n , mit d e m wir zufrieden sein<br />
k ö n n e n . Auf diesem Gebiete sind die beiden<br />
V e r b ä n d e einander wieder näher getreten<br />
<strong>und</strong> arbeiten nun gemeinschaftlich in mehreren<br />
Städten <strong>und</strong> Dörfern von S c h w e d e n .<br />
In diesem Punkte sind wir nun einig, daß<br />
wir antimilitaristisch auftreten müssen, es<br />
fragt sich nur noch, mit welchen Mitteln<br />
<strong>und</strong> welcher Taktik.<br />
Die Erfolge unserer Agitation sind<br />
noch nicht sehr groß, aber wir können<br />
jedenfalls sehen, daß in S c h w e d e n ein<br />
tiefer Haß g e g e n den Militarismus entsteht.<br />
Jedes Jahr weigern mehrere der Unsrigen<br />
sich, Soldat zu werden. Dieses Jahr (1907)<br />
war die Anzahl derselben 14, <strong>und</strong> «die<br />
meisten befinden sich augenblicklich im<br />
Gefängnis.<br />
Daß unsere Agitation Erfolge aufzuweisen<br />
hat, kann man aus dem U m s t ä n d e<br />
schließen, daß auf dem letzten sozialdemokratischen<br />
Parteitag 75 Antimilitaristen zugegen<br />
w a r e n ; die Zahl der G e g n e r war 90.<br />
Wir dürfen also a n n e h m e n , daß wir nächstes<br />
Jahr die Majorität auf d e m Parteikongresse<br />
h a b e n w e r d e n .<br />
Die Anzahl unserer Mitglieder ist nicht<br />
groß. N u r etwa 2000, in kleinen G r u p p e n<br />
ü b e r ganz S c h w e d e n verteilt. Das O r g a n<br />
unseres B<strong>und</strong>es ist »Brand«, das monatlich<br />
in etwa 10.000 Exemplaren in Stockholm<br />
erscheint. Der Verein läßt alljährlich kleine<br />
Schriften unter den Soldaten verteilen. Drei<br />
dieser Schriften w u r d e n beschlagnahmt <strong>und</strong><br />
die Verfasser zu Gefängnisstrafe verurteilt.<br />
Jedes Jahr w e r d e n mit den neueinberufenen<br />
Soldaten V e r s a m m l u n g e n abgehalten.<br />
Der Antimilitarismus hat in dem schwedischen<br />
Proletariat tiefe Wurzeln geschlagen.<br />
Die Regierung hat dies auch eingesehen<br />
<strong>und</strong> sucht sich durch A u s n a h m e g e s e t z e<br />
<strong>und</strong> Verfolgungen zu w e h r e n . Augenblicklich<br />
sind unser Redakteur u n d Expedient<br />
gefangen w e g e n antimilitaristischer Reden,<br />
die sie im Volkshause zu Stockholm gehalten.<br />
Wir sind der Regierung dafür nur<br />
verb<strong>und</strong>en, denn jeder Monat Gefängnisstrafe<br />
ist uns ein n e u e s Agitationsmittel,<br />
das wir zu benutzen wissen w e r d e n .<br />
Dann spricht P i e r r e R a m u s , d e r<br />
mit der Mitteilung anfängt, daß nicht er<br />
der eigentliche Berichterstatter für Ungarn<br />
sei, sondern H a n s Peter; dieser k ö n n e aber<br />
krankheitshalber nicht erscheinen.<br />
Über die B e w e g u n g in Ungarn teilt<br />
er in Kürze das ihm übermittelte Material<br />
mit; daß sie, o b w o h l noch jung, so doch<br />
rasch stärker w e r d e . Das Blatt »Die soziale<br />
Revolution«, das mit der anarchistischen<br />
die antimilitaristische P r o p a g a n d a führt,<br />
w u r d e wiederholt konfisziert. Zumal unter<br />
den Bauern breitet sich die B e w e g u n g<br />
immer mehr aus. Die Budapester G e n o s s e n<br />
betreiben auch eine rege Flugblattpropaganda.<br />
Der Redner hält nun sein eigentliches<br />
Referat über die »Historische Entwicklung<br />
der Idee des Antimilitarismus u n d als Taktik<br />
des Anarchismus.«*<br />
Nach der Rede Ramus wird die A b e n d -<br />
versammlung geschlossen.<br />
(Fortsetzung folgt.)<br />
Der »Zweck« des Staates.<br />
In N u m m e r 9 der W i e n e r »Wage« veröffentlichte<br />
Professor L. G u m p l o w i c z in<br />
Graz eine interessante Studie über »Weltzweck,<br />
Staatszweck u. Lebenszweck«, deren<br />
philosophischer Gehalt ein tiefer <strong>und</strong> g r ü n d -<br />
licher ist. Am interessantesten sind für uns<br />
die Betrachtungen, die G u m p l o w i c z<br />
nicht zu verwechseln mit seinem revisionistisch-sozialdemokratischen<br />
S o h n — an den<br />
Zweck des Staates knüpft <strong>und</strong> die sich von<br />
früheren von ihm geäußerten Ansichten<br />
nicht unterscheiden. Wir lassen hiermit einzelne<br />
der durchaus anarchistischen im Auszuge<br />
folgen:<br />
» . . . D a nun der M e n s c h ein Heerdentier<br />
ist, so w i d m e n sich je einzelne<br />
G r u p p e n von M e n s c h e n jeder einzelnen<br />
Tätigkeiten. Dabei kann es nicht<br />
ausbleiben, daß einzelne G r u p p e n , getrieben<br />
v o m Drange nach leichterem <strong>und</strong><br />
höherem L e b e n s g e n u ß , die Früchte der<br />
Tätigkeit anderer G r u p p e n sich anzueignen<br />
trachten. Das führt zur Unterwerfung<br />
schwächerer G r u p p e n durch mächtigere,<br />
das ist zur Staatenbildung. . . . Tatsächlich<br />
liegt diese S t a a t e n g r ü n d u n g in derselben<br />
Linie menschlicher Tätigkeit, wie<br />
alle andere Befriedigung primärer Bedürfnisse,<br />
d e n n Staatenbildung ist nichts anderes<br />
als ein Mittel, dessen sich eine<br />
G r u p p e bedient, um sich Lebens- <strong>und</strong><br />
Unterhaltungsmittel zu verschaffen, indem<br />
sie sich eine andere G r u p p e unterwirft,<br />
die nun für sie arbeiten m u ß . . . Nun<br />
ist es selbstverständlich leichter, sich die<br />
schwere Arbeit, zum Beispiel d e s Acker-<br />
* Siehe den dokumentarischen Anhang zum<br />
Protokoll.
aues, d u r c h a n d e r e b e s o r g e n zu lassen<br />
u n d sich selbst, um seinen Tätigkeitsd<br />
r a n g zu befriedigen, mit Krieg, R a u b<br />
u n d J a g d zu beschäftigen . . .<br />
E b e n s o verhält sich die Sache mit<br />
den a n d e r e n d e m Staate imputierten<br />
Z w e c k e n : d e m Wohlfahrts-Kultur-Machtz<br />
w e c k usw. . . .<br />
Viel richtiger ist es, w e n n m a n v o n<br />
e i n e m M a c h t z w e c k des Staates spricht<br />
— d e n n einen solchen kann man ja aus<br />
d e m b e w u ß t e n Willen w e n n auch nicht<br />
des Staates, wohl a b e r seiner herrschenden<br />
Kreise ableiten. D e n n v o m ersten<br />
Augenblick der Existenz des Staates d u r c h<br />
die g a n z e aufsteigende E n t w i c k l u n g desselben<br />
sind ja diese Kreise offensichtlich<br />
v o m Streben nach M e h r u n g<br />
ihrer Macht erfüllt, b e h e r r s c h t also alle<br />
Tätigkeit d e s Staates der »Machtzweck«.<br />
Allerdings k ö n n e n Ethiker mit solchem<br />
Streben sich nicht einverstanden erklären,<br />
<strong>und</strong> Sozialisten wie Anarchisten v e r d a m <br />
m e n dasselbe g e r a d e z u ; aber von all den<br />
»Zwecken«, die m a n d e m Staate andichtet,<br />
kann man d o c h h ö c h s t e n s n u r d e n<br />
M a c h t z w e c k als einen real g e g e b e n e n<br />
gelten lassen, da er vom b e w u ß t e n Willen<br />
d e r m a ß g e b e n d e n Vertreter d e s Staates<br />
ins A u g e gefaßt u n d mit voller Klarheit<br />
verfolgt wird. Allerdings hindert es<br />
d e r »Machtzweck« des Staates nicht, d a ß<br />
in der n i e d e r g e h e n d e n Phase der Staatse<br />
n t w i c k l u n g d e r subjektive M a c h t z w e c k<br />
sich zu einem objektiven O h n m a c h t s <br />
z w e c k wandelt, das heißt, d a ß der Staat<br />
trotz seines M a c h t z w e c k e s seinem Unt<br />
e r g a n g entgegeneilt.« —<br />
Sozialdemokratische Aphorismen<br />
über den Staat.<br />
N a c h f o l g e n d e Zitate sind w ä h r e n d d e r<br />
R e d e d e s sozialdemokratischen Reichsratsa<br />
b g e o r d n e t e n Dr. Renner, eine Rede, die<br />
eigentlich ein »Lehrvortrag« sein sollte (!)<br />
n i e d e r g e s c h r i e b e n w o r d e n u n d k ö n n e n von<br />
O h r e n z e u g e n bestätigt w e r d e n . D e r Vortrag<br />
w u r d e in einer V e r s a m m l u n g d e s III. Bezirkes<br />
gehalten, i n d e r k e i n e D i s k u s s i o n zugelassen<br />
w u r d e ! Die ö d e U n w i s s e n h e i t<br />
u n d g e m e i n e D e m a g o g i e , mit der die<br />
Sozialdemokratie vollständig falsche Ans<br />
c h a u u n g e n ü b e r d a s » W e s e n des Staates«<br />
— dies d e r V o r t r a g s n a m e — lehrt, deckt<br />
sich somit g a n z mit der brutalsten Geistesu<br />
n t e r d r ü c k u n g , dort, wo sie die Herrschaft<br />
ausübt.<br />
1. „Auch der Anarchist Max Stirner betrachtete<br />
den Staat als bloße Idee <strong>und</strong> nichts anderes."<br />
D a s ist nicht wahr. Max Stirner betrachtete<br />
d i e a b e r g l ä u b i s c h e V e r e h <br />
r u n g d e s Staates u n d d e r gesellschaftlichen<br />
Institutionen d e s Privateigentums, des G e <br />
setzes usw. als Spuk, als fixe Idee.<br />
2. „In jeder menschlichen Gemeinschaft ist es<br />
nötig, daß Regeln aufgestellt werden."<br />
N u r d a n n , H e r r Doktor, w e n n m a n<br />
die G e m e i n s c h a f t auf Z w a n g basieren will,<br />
wie Sie, d e r Sozialdemokrat, in r ü h r e n d e r<br />
Ü b e r e i n s t i m m u n g mit d e n kältesten der<br />
kalten Konservativen es tun wollen. Um<br />
aufgestellte Regeln z u e r z w i n g e n , dazu<br />
ist G e w a l t im militärischen S i n n e nötig.<br />
Ihr »Zukunftsstaat« ist somit das getreueste<br />
Ebenbild d e s b e s t e h e n d e n Staates. Die Anarchisten<br />
b e h a u p t e n d a g e g e n , d a ß j e d e allg<br />
e m e i n gültige Regel, die d o c h stets der<br />
Vernunft oftmals s e h r unvernünftiger Machth<br />
a b e r entspringt, g e g e n den freien Entw<br />
i c k l u n g s g a n g des gesellschaftlichen L e b e n s<br />
verstößt u n d j e n e n h e m m t . Die Gesellschaft<br />
d e r Zukunft ist n u r d a n n frei, also anarchistisch,<br />
w e n n sie k e i n e Regeln aufstellt,<br />
s o n d e r n das W a l t e n u n d Schaffen des G e <br />
sellschaftslebens den freien, u n g e b u n d e n e n ,<br />
ewig w e c h s e l n d e n V e r e i n b a r u n g e n u n d<br />
V e r e i n i g u n g e n d e r gesellschaftlichen Ele-<br />
m e n t e u n t e r s i c h — nicht von irgend e i n e m<br />
sich allweise d ü n k e n d e n d e m o k r a t i s c h e n<br />
Konzil v o n o b e n diktiert! — überläßt.<br />
3. „Ein Mensch ist frei im Verein, wenn er<br />
wählen, stimmen <strong>und</strong> reden darf; so ist es auch<br />
mit dem Menschen im Staat."<br />
U n s i n n ! Ein M e n s c h ist nicht d e s h a l b<br />
frei im Verein, s o n d e r n deshalb, weil ihm<br />
die freieste A u s t r i t t s - u n d E i n t r i t t s <br />
m ö g l i c h k e i t i n einen a n d e r e n g e b o t e n ,<br />
w a s ihm im Staate total v e r w e h r t ist. D e r<br />
Staat ist eine Z w a n g s o r g a n i s a t i o n , t r o t z <br />
d e m wir »wählen, s t i m m e n u n d reden«<br />
dürfen; a b e r w e h e uns, w e n n wir es versuchten,<br />
ihm d e n Rücken zu kehren, d. h.<br />
seine G e s e t z e zu mißachten. Ein Verein<br />
ist also n i c h t dasselbe wie ein Staat, H e r r<br />
Doktor, der Sie in Logik »kaum g e n ü g e n d «<br />
v e r d i e n e n .<br />
4. „Es gibt folgende Rangstufen im S t a a t e :<br />
Untertan, Staatsbürger, Gesetzesorgan <strong>und</strong> Mensch.<br />
E s handelt sich also d a r u m : n i c h t etwa n i c h t<br />
Untertan sein wollen, sondern auch Staatsbürger<br />
<strong>und</strong> Gesetzesorgan zu werden; dann sind wir frei.<br />
Und nur weil uns der Staat nicht die Staatsbürgerrechte<br />
gibt, deshalb bekämpfen wir ihn."<br />
Das <strong>Ziel</strong> der anarchistischen Weltans<br />
c h a u u n g ist die E n t k l e i d u n g d e s M e n s c h e n<br />
als Untertan, als S t a a t s b ü r g e r u n d als G e <br />
setzesorgan. In allen diesen drei Eigenschaften<br />
ist d e r M e n s c h nicht Mensch,<br />
vielmehr Bedrücker u n d Bedrückter. W i e<br />
klar tritt hier d e r Unterschied zwischen anarchistisch-sozialistischer<br />
Auffassung u n d<br />
sozialdemokratisch-bürgerlicher Ideologie zu"<br />
T a g e !<br />
5. „Ein Gesetz ist dasselbe, was Statuten im<br />
Verein sind."<br />
Unsinn, H e r r Doktor, blanker U n s i n n !<br />
Die Statuten eines Vereines schaffe ich mit<br />
d e n übrigen Mittgliedern, ich h a b e jederzeit<br />
das Recht des Bei- u n d Rücktrittes.<br />
Die Statuten eines z w a n g l o s e n Vereines<br />
sind nicht zu e r z w i n g e n , b e r u h e n auf freier<br />
Z u s t i m m u n g d e r Mitglieder. Das G e s e t z ist<br />
d a s v o n d e r G e w a l t d e s Staates — Militarismus,<br />
Polizei, Justiz, Kerker, etc., — erz<br />
w u n g e n e M a c h t g e b o t .<br />
6 . „ N u r M e n s c h sein das ist eine<br />
schöne Sache, aber praktisch unmöglich. Sobald<br />
Menschen miteinander in Berührung treten, m ü s s e n<br />
sie entweder Untertanen oder Staatsbürger oder<br />
Gesetzesorgane sein."<br />
J e d e r reaktionäre Staatsrechtler lehrt u n s<br />
dasselbe. D e r russische Staatsmann Pobjedonoffsky<br />
ist in seinen »Betrachtungen eines<br />
russischen Staatsmannes« ganz derselben<br />
Ansicht. Allerdings w ü r d e n Sie sich sehr<br />
rasch zu einer a n d e r e n Ansicht b e k e h r e n ,<br />
w e n n e s hieße, d a ß S i e stets Untertan u n d<br />
wir übrigen G e s e t z e s o r g a n e sein u n d bleiben<br />
m ü ß t e n . . .<br />
7. „Aristoteles hat die anarchistische Freiheit<br />
entwickelt."<br />
Ist dies keine gewollte Lüge, die Sie,<br />
sich stützend auf die leider tatsächliche<br />
U n k e n n t n i s von Arbeitern ü b e r Aristoteles<br />
b e w u ß t a u s s p r a c h e n ? Bekanntlich verfocht<br />
Aristoteles die Institution der Sklaverei u n d<br />
verteidigte sie. W i e k o n n t e n Sie Proletariern<br />
dieses L ü g e n m ä r c h e n aufbinden, d a ß ein<br />
A p o l o g e t der Sklaverei die Anarchie — Herrschaftslosigkeit<br />
- vertrat; ist dies e h r l i c h ? !<br />
8. „Es muß immer B e f e h l e n <strong>und</strong> Geh<br />
o r c h e n geben. Auch ein König muß gehorchen.<br />
Nehmen Sie an, verehrte Zuhörer, er wolle über<br />
ein Geleise. Da tritt ihm der Bahnwächter entgegen<br />
<strong>und</strong> sagt: „Halt — hier darfst du nicht hinübergehen,<br />
denn der Zug mag herangebraust k o m m e n ! "<br />
Der König wird g e h o r c h e n m ü s s e n . Man<br />
sieht also, daß es stets Befehlen <strong>und</strong> Gehorchen<br />
geben wird."<br />
Nicht H e r r Bielohlawek, nein, d e r Sozialdemokrat<br />
D o k t o r R e n n e r g a b dieses<br />
Prachtbeispiel seines G e i s t e s r e i c h t u m s z u m<br />
Besten . . . Ein K o m m e n t a r ist g a n z überflüssig.<br />
G e s a g t sei n u r : E s wird n i c h t<br />
i m m e r ein Befehlen o d e r G e h o r c h e n<br />
g e b e n . Einfach deshalb nicht, weil in allen<br />
rein t e c h n i s c h - ö k o n o m i s c h e n Fragen die<br />
Arbeiter einer freien Gesellschaft sich jede<br />
E i n m e n g u n g v o n N i c h t f a c h l e u t e n in ihre<br />
A n g e l e g e n h e i t e n verbieten w e r d e n . Im Rahm<br />
e n dieser Arbeiten gibt es a b e r kein Befehlen,<br />
s o n d e r n n u r ein der Z w e c k e r k e n n t <br />
nis j e d e s Einzelnen e n t s p r i n g e n d e s Z u s a m <br />
m e n w i r k e n nach M a ß g a b e des K ö n n e n s<br />
u n d d e r Kräfte. In allen nicht technischen,<br />
das rein m e n s c h l i c h e Leben betreffenden<br />
F r a g e n w e r d e n die Individualitäten einer<br />
freien Gesellschaft es w o h l wissen, wie<br />
einem aufdringlichen Machtfrechling zu beg<br />
e g n e n , der i h n e n etwas befehlen oder<br />
G e h o r s a m heischen wollte. Ja, H e r r Dr.<br />
Renner, diese M e n s c h e n w e r d e n sich sogar<br />
d i e s e Freiheit a n m a ß e n — nach ihrer Façon<br />
zu l e b e n !<br />
9. „Der Staat ist eine Organisation; keine<br />
Organisation ohne Disziplin. Auch im Zukunftsstaat<br />
wird man gehorchen müssen."<br />
Letzteres g l a u b e n wir s e h r wohl, bes<br />
o n d e r s da ja den Sozialdemokraten der<br />
Staat als Ideal d e r Disziplinorganisation<br />
v o r s c h w e b t ! Glücklicherweise hat es noch<br />
lange W e g e bis dorthin. Wir Anarchisten sind<br />
der M e i n u n g , H e r r R e n n e r hätte sagen m ü s s e n :<br />
Keine S k l a v e n o r g a n i s a t i o n o h n e Disziplin!<br />
Da hätte er die W a h r h e i t g e s p r o <br />
chen. Das ist eben d e r Unterschied zwischen<br />
sozialdemokratischer u n d anarchistischer<br />
A n s c h a u u n g ü b e r Organisation. J e n e ist<br />
der Staat, es gibt w i e d e r Untertanen, Bürokraten,<br />
das »demokratische« Staatsoberhaupt.<br />
Die anarchistische O r g a n i s a t i o n — u n d die<br />
Anarchisten s i n d Befürworter von Organisation<br />
— ist die freie G r u p p i e r u n g von<br />
Gleichen u n d Gleichgesinnten, i n n e r h a l b<br />
der e s k e i n e r l e i Zentralorgan, das M a c h t<br />
besitzt, gibt u n d alle A n g e l e g e n h e i t e n geregelt<br />
w e r d e n nicht d u r c h das G e b o t der<br />
Einen u n d unterwürfige Ausführung von<br />
Seiten d e r Anderen, s o n d e r n auf d e m W e <br />
ge freier B e r a t u n g u n d Z u s a m m e n a r b e i t<br />
aller u n d d e r für die b e s t i m m t e Angelegenheit<br />
Fähigsten. D a n n k ä m e auch n o c h d i e<br />
heikle F r a g e in Betracht: w e r soll befehlen,<br />
w e r g e h o r c h e n ? W e n n schon befohlen<br />
w e r d e n m u ß , d a n n w ä r e n z. B. wir der<br />
Ansicht, d a ß d e r N e u l i n g in d e r sozialistischen<br />
B e w e g u n g u n d k. k. Archivbeamte<br />
Dr. R e n n e r k e i n e s w e g s der für Befehlerteilung<br />
g e e i g n e t e Mann ist, n o c h viel zu lernen<br />
hat u. s. w. Man sieht, aus d e m P r o b <br />
lem wird eine sehr strittige Frage, die die<br />
M a c h t h a b e r bisher einfach so beantworteten,<br />
d a ß sie sich die A n e r k e n n u n g ihres<br />
Herrschaftsrechtes d u r c h G e w a l t erzwangen.<br />
A n d e r s k ö n n t e u n s auch ein Dr. R e n n e r<br />
sein Recht auf Befehlserteilung n i c h t klar<br />
m a c h e n !<br />
10. „Es laufen da einige Menschen herum,<br />
die andere Ideen verbreiten, Ideen, die uns von<br />
einer absoluten, unbegrenzten Freiheit erzählen.<br />
Aber diese Leute sind nur Narren <strong>und</strong> Träumer<br />
oder Unwissende. Ich bin dessen gewiß, daß Sie,<br />
meine Fre<strong>und</strong>e, sich auf Gr<strong>und</strong> des Vernommenen<br />
nicht von diesen Leuten werden beirren lassen."<br />
Sprach's, n a h m H u t u n d Rock u n d vers<br />
c h w a n d , w ä h r e n d d e r Vorsitzende, in brutaler<br />
U n t e r d r ü c k u n g jeder Diskussion, die<br />
V e r s a m m l u n g schloß.<br />
Sie sind ein recht armseliger Philister,<br />
H e r r Dr. R e n n e r ; ein Nietzsche w ü r d e Sie<br />
auch einen »Giftmischer« d e r geistigen Aufklärung<br />
n e n n e n . . . Allerdings darf man<br />
kein N a r r u n d T r ä u m e r sein, um es bis<br />
z u m k. k. B e a m t e n u n d Reichsratsabgeordneten<br />
g e b r a c h t zu h a b e n ! »Narren u n d<br />
T r ä u m e r « — so n e n n t d e r Reaktionär<br />
j e d e n Sozialisten; »Unwissende« also<br />
G e l e h r t e wie Krapotkin <strong>und</strong> Reclus,<br />
D e n k e r wie Tolstoi sind I h n e n »Unwissende«,<br />
Sie u n w i s s e n d e r M ö c h t e g e r n ! G e <br />
h en Sie erst in die S c h u l e dieser Leute,<br />
b e w e i s e n Sie, d a ß Sie d e n A n a r c h i s m u s<br />
o h n e b e w u ß t e F ä l s c h u n g u n d Entstellung<br />
darzustellen v e r m ö g e n , d a n n allerdings<br />
w ü r d e n Sie sich I h r e r Unwissenheit —<br />
die die freie Diskussion feige fürchtet —<br />
entkleidet h a b e n ! M. L.<br />
Verantwortlicher Redakteur Jos. Šindelář (Wien). — Herausgeber Joh. Podany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.
Wien, 19. April 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 8.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herrhergasse 12,<br />
t/17. — Gelder sind zu senden an<br />
W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />
5, III./27.<br />
Kameraden!<br />
Auf zur wahren Würdigung<br />
d e s 1. Mai !<br />
Eine große Versammlung<br />
findet statt am<br />
1. Mai 1908, 9 Uhr vormittags<br />
in Holubs Saal, XIV., Huglgassc 15.<br />
Thema: „Die Bedeutung des 1. Mai<br />
für das Proletariat".<br />
Redner: Karel Vohryczek (Prag), F. Pletka<br />
(Tschechisch), Ernst Haidt, P. Ramus (Deutsch).<br />
Kameraden <strong>und</strong> Mitkämpfer erscheint In<br />
Massen 1<br />
Achtung, Leser <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e des X. Bezirkes!<br />
Eine öffentliche Vereinsversammlung der<br />
„Föderation der Bauarbeiter Wiens" findet am<br />
Sonntag den 3. Mai 1908, um 9 Uhr vormittags<br />
in den Rosensälen, X., Favoritenstraße 89, statt.<br />
Referent: Karel Vohryczek (Prag) in tschechischer<br />
Sprache über: „Die böhmischen Bruderschaften<br />
des Mittelalters <strong>und</strong> der moderne<br />
Anarchismus".<br />
Wir erwarten die regste Beteiligung seitens unserer<br />
Kameraden <strong>und</strong> eines jeden Freiheitskämpfers.<br />
Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft.*<br />
Wir w e b e n das Tuch<br />
Den Protzen zur Freude<br />
Und uns zum Leide —<br />
Das ist der Arbeit Fluch.<br />
Wir holen die Kohle aus finsterem Schacht,<br />
Wir hämmern, wir feilen bei T a g <strong>und</strong> bei Nacht.<br />
Wir füllen mit Schätzen der Erde Reich,<br />
Uns färbt der Hunger die W a n g e n bleich.<br />
Denn frechen Blickes Gott Mammon tront<br />
Und in der Tiefe d a s Elend wohnt.<br />
Das Elend kennt nicht Friede noch Lust,<br />
Es tötet das Kind an der Mutter Brust.<br />
Ach, die ihr auf s o n n i g e n Plätzen weilt<br />
Von prunkendem Glänze umflossen —<br />
Euch stört nicht das Elend, nicht die Not,<br />
Denn die Armen, sie schaffen für Euch das<br />
Brot —<br />
So emsig <strong>und</strong> unverdrossen.<br />
Das ist der Fluch, der die Armen trifft,<br />
Weil sie im Dienst der Schlemmer frohnen<br />
Und weil sie wähnen, ein düst'res Geschick<br />
Hieß sie entblößt <strong>und</strong> verlassen vom Glück<br />
In dumpfen Höhlen wohnen.<br />
Doch seh' ich im Geiste die Anarchie,<br />
Die sich entledigt von Herren <strong>und</strong> Knechte;<br />
Frei blickt der Mensch zum Menschen empor,<br />
Es schwindet der Priester heiliger Chor<br />
Mit ihrem geschriebenen Rechte!<br />
Berthold Cahn.<br />
' Aus der Märznummer der »Freien Generation«.<br />
Wir gehen!*<br />
Es wird uns von unseren Kritikern oft<br />
vorgehalten, daß wir zuviel Vertrauen in<br />
die Menschen <strong>und</strong> ihre Natur setzen, daß<br />
wir sie für gut halten, während sie schlecht<br />
sei, daß wir fanatisch an unsere Sache<br />
g l a u b e n , daß wir fanatisch von der G e -<br />
w i ß h e i t unseres Erfolges überzeugt seien.<br />
Doch wie irren sich jene Leute! Wir<br />
haben keinen dogmatischen Glauben, wir<br />
haben keine Gewißheit von unserem absoluten<br />
Erfolge; dagegen haben wir wohl<br />
die Überzeugung, nichts versäumt zu haben,<br />
alle unsere Kräfte dazu angewandt zu haben,<br />
* Aus unserem französischen Bruderblatt<br />
„ L ' A n a r c h i e " .<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss ; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Or<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />
um auf dem rechten <strong>Weg</strong>e zum Siege<br />
zu sein.<br />
Wir haben nicht die Gewißheit zu<br />
siegen; doch dessen sind wir uns gewiß:<br />
R e c h t zu h a b e n . . . Wir wissen nicht,<br />
ja wir können es gar nicht wissen, ob der<br />
Erfolg unsere Bemühungen krönen <strong>und</strong><br />
belohnen wird; dafür bemühen wir uns aber,<br />
eben so zu l e b e n <strong>und</strong> nur so zu handeln,<br />
daß wir vernünftigerweise zu dem Resultat<br />
kommen müßten, das unser Interesse gewann.<br />
Wer beim ersten Schritt schon den<br />
letzten getan haben will, wer die Gewißheit<br />
haben will, an das Endziel zu gelangen,<br />
noch ehe er sich auf den <strong>Weg</strong> begibt, der<br />
wird niemals anlangen.<br />
Welcher Art Arbeit man auch unternehmen<br />
möge, <strong>und</strong> wie nahe man auch<br />
ihrer Fertigstellung sei, wer kann behaupten,<br />
daß er ihr Ende absehen kann? Wer vermag<br />
zu behaupten: »Ich werde reichlich<br />
ernten, was ich säe; ich werde das Haus<br />
bewohnen, das ich zu erbauen im Begriffe<br />
stehe; ich werde die Früchte des Baumes<br />
essen, den ich pflanze?« —<br />
Und doch vertraut man die Saat dem<br />
Acker an! Und doch fügt man die Steine<br />
zum Bau zusammen! Und doch läßt man<br />
der Baumpflanze Pflege angedeihen!<br />
Soll man denn von Mühen, die möglicherweise<br />
zum Guten führen, nur aus<br />
dem Gr<strong>und</strong>e Abstand nehmen, weil man<br />
nicht ganz gewiß, nicht ganz sicher weiß,<br />
w e m , w i e <strong>und</strong> w a n n das Resultat zu<br />
Gute kommen werde? Soll man deshalb<br />
die Saat auf steinigen Felsen oder auf<br />
sumpfiges Moor streuen? Soll man deshalb<br />
die Steine ohne Wage <strong>und</strong> Lot fügen? Soll<br />
man deshalb die Pflanze allen vier Winden<br />
aussetzen?<br />
Die Freude am Erfolg ist schon in<br />
der Freude an der Arbeit enthalten. Wer<br />
seine ersten Schritte in einer Richtung tut,<br />
die er vernunftgemäß für gut halten muß,<br />
der langt schon am <strong>Ziel</strong>e an, das heißt,<br />
fühlt sich schon sofort für diese Mühe<br />
belohnt.<br />
Wir brauchen es nicht zu wissen, ob<br />
wir durchdringen werden, ob die Menschheit<br />
zu einer genügend großen Harmonie<br />
gelangen wird, daß die Individualität im<br />
Gesellchaftsverbande zu freier <strong>und</strong> voller<br />
Entfaltung kommen kann — wir müssen<br />
nur unser Leben darnach einrichten, daß<br />
dem nichts im <strong>Weg</strong>e stehe, wir müssen<br />
in der Richtung gehen, die uns von Erfahrung<br />
<strong>und</strong> Vernunft geboten wird.<br />
Wir behaupten nicht, die Menschheit<br />
sei von Natur aus gut veranlagt <strong>und</strong> m ü s s e<br />
zur Harmonie gelangen können, doch sagen<br />
wir: »Vernunftgemäß ist es Interesse der<br />
Menschheit, den größtmöglichen Wohlstand<br />
mit geringster Kraftanstrengung zu erreichen;<br />
nicht um die Arbeit zu beseitigen, sondern<br />
um sie auf das weitestgehende <strong>und</strong> auch für<br />
Alle auszunützen. Man muß also die<br />
Menschheit auf ihr Interesse hinweisen,<br />
man muß ihr zeigen, daß gegenseitige Ver-<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2.40;<br />
halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
ständigung das beste. Mittel ist, um Menschenglück<br />
zu sichern«<br />
Versuchen wir denn, es ihr begreiflich<br />
zu machen.<br />
Der Gedanke, daß ein Zusammenstoß<br />
der Erde mit einem Meteor, daß ein vulkanisches<br />
Ereignis oder ein sonstiges Naturphänomen<br />
unsere Beweisführung unterbrechen<br />
oder unser Beispiel zerstören könne,<br />
darf uns von keinem der beiden abhalten.<br />
Gleicherweise darf für uns die Unwissenheit<br />
oder die Mißratenheit der großen Masse,<br />
die Lügen <strong>und</strong> Verleumdungen ihrer Führer<br />
kein Gr<strong>und</strong> sein, uns in unserem idealen<br />
Streben <strong>und</strong> Kampf zu beirren.<br />
Jede Arbeit, die man in Angriff nimmt,<br />
befindet sich dadurch schon auf dem <strong>Weg</strong>e<br />
zu ihrer Vollendung, gleichviel welcher<br />
Widerstand dem entgegengesetzt wird. Keiner<br />
Selbsttäuschung über die Herrlichkeit<br />
<strong>und</strong> die Nähe des zu erreichenden <strong>Ziel</strong>es,<br />
sondern einer stets wachen Kritik bedürfen<br />
wir, einer Kritik, die fortwährend untersucht,<br />
ob wir auch in der richtigen Weise vorgehen,<br />
ob wir noch immer des richtigen<br />
<strong>Weg</strong>es entlang schreiten.<br />
Und in dieser bestimmten Richtung<br />
gehen wir mit Eifer, mit Kraft <strong>und</strong> mit<br />
Freude vor, weil wir überzeugt sind, alles<br />
getan zu haben, um richtigen <strong>Weg</strong>es zu<br />
sein, weil wir überzeugt sind, auch fürderhin<br />
zu Allem bereit zu sein, um vom<br />
richtigen <strong>Weg</strong>e nicht abzukommen. Deshalb<br />
bringen wir unseren kritischen Untersuchungen<br />
die größte Sorgfalt entgegen, deshalb<br />
schenken wir auch unserer Tätigkeit die<br />
höchste Aufmerksamkeit <strong>und</strong> all unsere Kraft.<br />
Wenn man uns zuruft: »Euer Unterfangen<br />
ist zu mühselig, die staatliche, kapitalistische<br />
Gesellschaft ist zu solid organisiert,<br />
die Dummheit der Menschheit ist zu groß«,<br />
— so kann <strong>und</strong> darf uns das nicht aufhalten;<br />
nur wenn man uns beweisen würde, daß<br />
wir auf falschem <strong>Weg</strong>e seien, würden wir<br />
uns ändern, dann aber auch nur in der<br />
Richtung unserer neuen Erkenntnis, welch<br />
neuer Richtung wir wiederum all unsere<br />
Kraft, all unsere Energie zuwenden würden;<br />
denn nicht der blinde Glaube an ein bestimmtes<br />
Endziel, nicht die Illusion eines<br />
bestimmten Paradieses, sondern die Gewißheit,<br />
unsere Kraft auf das Beste angewandt<br />
zu haben, gibt uns Mut <strong>und</strong> Ausdauer in.<br />
unserem Handeln.<br />
Greifbare sofortige Resultate, Reformen<br />
durch den Staat, wie sie von der großen<br />
Menge verlangt werden, gehen uns nichts<br />
an, denn wir wissen, daß sie uns bloß<br />
aufhalten, daß sie uns vom geraden <strong>Weg</strong>e<br />
ablenken würden, ohne uns auch nur eine<br />
tatsächliche Verbesserung unserer Lebenslage<br />
geboten zu haben.<br />
Wir benötigen nicht der Trugbilder,<br />
um das <strong>Ziel</strong> näher vor Augen, um den<br />
<strong>Weg</strong> kürzer zu glauben. Uns genügt es,<br />
zu wissen, d a ß w i r v o r w ä r t s schreiten,<br />
<strong>und</strong> daß selbst wenn wir manchmal nicht<br />
so recht vom Fleck zu kommen scheinen,<br />
wir uns deshalb doch nicht verirrt haben.
Ein Trugbild kann nur einen Irrglauben<br />
erzeugen; ein Trugbild kann nur vom geraden<br />
<strong>Weg</strong>e ablenken; <strong>und</strong> gelingt es dann<br />
später, sich auf den rechten <strong>Weg</strong> wieder<br />
zurückzufinden, so geschieht es auf Kosten<br />
unserer Kraft, auf Kosten unserer durch<br />
eine verlorene Illusion geschwächten Energie.<br />
Demagogische politische Phrasen <strong>und</strong><br />
Illusionen berauschen wie Alkohol, sie vermögen<br />
die große Masse leidenschaftlich<br />
auf ein nahes <strong>Ziel</strong> hin zu bewegen; doch<br />
wenn der Haltepunkt da <strong>und</strong> der Rausch<br />
vorüber ist, dann greift die Entmutigung<br />
um sich, dann tritt die Leere des Resultats<br />
zum Vorschein*. Wir aber brauchen diese<br />
Gaukelbilder nicht, denn wir schöpfen<br />
unsere Energie nicht aus dem Glauben,<br />
daß wir ankommen werden, sondern aus<br />
der Gewißheit, daß wir Recht haben.<br />
Wir brauchen keine <strong>Weg</strong>weiser, die<br />
anzeigen, daß das Drittel, das Viertel, das<br />
H<strong>und</strong>ertstel des <strong>Weg</strong>es zurückgelegt sei;<br />
wir sprechen keinem das Recht zu, die<br />
Menge unserer Leistungen oder ihr Verhältnis<br />
zu der Gesamtleistung aller zu<br />
messen. Wir fühlen uns stark, weil wir<br />
wissen, daß wir unsere Kraft, unsere ganze<br />
Kraft in der Richtung anwenden, die wir<br />
für die beste halten.<br />
Wir wissen, daß es kein Endziel geben<br />
kann, weil Leben <strong>und</strong> Wirken einer ständigen<br />
Evolution unterworfen sind. Es genügt<br />
uns, daß wir immer voraus gehen, daß wir<br />
immer auf dem rechten <strong>Weg</strong>e bleiben. Und<br />
wenn die H<strong>und</strong>emeute nach uns kläfft,<br />
daß wir verworfen, daß wir verrückt seien;<br />
wenn sich die große Masse uns in den<br />
<strong>Weg</strong> legt; wenn Herkommen <strong>und</strong> Blödsinn<br />
uns ihre Gesetze als unfehlbar bezeichnen<br />
<strong>und</strong> wenn sich der Staat <strong>und</strong> seine Stützen<br />
auch noch so bitter gegen uns kehren,<br />
möge das <strong>Ziel</strong> noch so weit erscheinen<br />
— was ficht uns das an?<br />
Wir gehen immer voraus . . . alle<br />
Mittel des revolutionären <strong>und</strong> geistig revolutionierenden<br />
Kampfes gebrauchend. Wir<br />
sind bereit, uns zu verteidigen, wenn angegriffen,<br />
gleichviel wieviel Opfer es koste.<br />
Wir sind bereit, uns jedem <strong>und</strong> allem anzuschließen,<br />
wenn es in Wahrheit den<br />
Wohlstand für Alle <strong>und</strong> die Freiheit der<br />
menschlichen Individualität gilt.<br />
Wir gehen immerwährend weiter . . .<br />
Und jeder unserer Schritte birgt seine<br />
Freude in sich, <strong>und</strong> jeder Tag bildet eine<br />
neue Etappe, so gering sie auch sein mag.<br />
Wir gehen <strong>und</strong> haben wohl nicht die<br />
»Gewißheit«, anzulangen, doch sind wir<br />
uns dessen gewiß, Alles getan zu haben<br />
<strong>und</strong> zu allem bereit zu sein, um unserem<br />
Ideal gemäß zu handeln, um also rechten<br />
<strong>Weg</strong>es zu sein.<br />
U n d d a s m a c h t , d a ß w i r u n s<br />
ü b e r l e g e n f ü h l e n , d a ß w i r n i m m e r<br />
v e r z a g e n , d a ß w i r i m m e r w ä h r e n d<br />
w e i t e r v o r w ä r t s g e h e n ! Albert Libertad.<br />
Wandlungen,<br />
i.<br />
Es war im Jahre 1893.<br />
Im Schwurgerichtssaale des Kreisgerichtes<br />
R i e d steht ein sozialdemokratischer<br />
Agitator unter der Anklage der Armee- <strong>und</strong><br />
Majestätsbeleidigung.<br />
In einer Volksversammlung im Städtchen<br />
hatte er der verpönten Meinung Ausdruck<br />
gegeben, daß die jungen Menschen<br />
beim Militär zu Faulenzern <strong>und</strong> Nichtstuern<br />
erzogen würden <strong>und</strong> daß das Volk an<br />
Kriegen keinerlei Interesse habe; wenn sich<br />
zwei Könige stritten, so mögen sie es<br />
untereinander ausmachen, eventuell ein in<br />
* Mögen die österreichischen Arbeiter diese<br />
Worte beherzigen <strong>und</strong> der verlorenen Hoffnungen,<br />
die sie auf die Erlangung des Wahlrechtes setzten,<br />
gedenken! Anm. d. Red.<br />
Wien sehr verbreitetes Spiel zu Hilfe<br />
nehmen . . .<br />
Die Rede des Staatsanwaltes war verklungen,<br />
der Verteidiger hatte gesprochen,<br />
<strong>und</strong> nun nahm der Angeklagte das Wort.<br />
In feuriger Rede schilderte er die<br />
Schäden, die der Militarismus der Bevölkerung<br />
zufügt, besprach die Lasten, die<br />
der arbeitenden Bevölkerung dadurch aufgehalst<br />
werden <strong>und</strong> betonte insbesondere,<br />
wie weitaus besser die Summen, die der<br />
Militarismus verschlingt, für Kulturzwecke<br />
verwendet werden könnten. Bei einer Zusammenfassung<br />
der Stimmen, die sich gegen<br />
die Armeen ausgesprochen, kam er auch<br />
auf einen Dichter zu sprechen, der früher<br />
Minister war <strong>und</strong> führte als Gedichtstelle an:<br />
„— — — — — — — — — — — — — — —<br />
so steh'n sie da, geschlossene Mörderketten I"<br />
Scharf unterbrach ihn die Stimme des<br />
Präsidenten, die damit die Rede des feurigen<br />
antimilitaristischen Agitators beendete.<br />
Der Angeklagte wurde in beiden<br />
Punkten f r e i g e s p r o c h e n .<br />
II.<br />
Vierzehn Jahre später.<br />
Im größten Saale eines Wiener Vorortebezirkes<br />
stellte sich der sozialdemokratische<br />
Kandidat für den Reichsrat seinen<br />
Wählern vor, die den großen Saal bis auf<br />
das letzte Plätzchen füllten. Es waren zumeist<br />
Gestalten, denen man Not <strong>und</strong> Entbehrung<br />
vom Gesicht herablesen konnte.<br />
In drastischen Beispielen führte der Redner<br />
die enormen Summen an, die dem Moloch<br />
Militarismus in den Rachen geworfen werden.<br />
»Wozu brauchen wir die Armee?« so<br />
rief der Redner aus. »Gegen den äußeren<br />
Feind? Wir wollen doch mit allen Nationen<br />
in Frieden leben! Wir haben diese ungeheure<br />
Belastung deshalb zu tragen, weil<br />
sie der Kapitalismus als seine Stütze bedarf,<br />
wenn die Arbeitssklaven einmal unbotmäßig<br />
werden sollten. Der Staat, der<br />
gleichmütig zusieht, wenn wir hungern, hat<br />
dann — zur Stillung unseres Hungers —<br />
blaue Bohnen! <strong>Unser</strong>e Gegner sind Leute,<br />
die immer noch jeder Forderung nach Erhöhung<br />
der Militärlasten zugestimmt haben.<br />
Diese Leute wollen nun von Ihnen gewählt<br />
werden. <strong>Unser</strong>e Parole dagegen<br />
lautet: Keinen Mann <strong>und</strong> keinen Heller!«<br />
Tosender Beifallssturm der Versammlung<br />
lohnte den Redner. Der Mühe redlicher<br />
Lohn blieb nicht aus, unser antimilitaristischer<br />
Agitator wurde Reichsratsabgeordneter.<br />
III.<br />
Ein Jahr später.<br />
In den Räumen des sonst so stillen<br />
Herrenhauses ging es geschäftig zu. Es<br />
tagte die Delegation; Kriegsminister <strong>und</strong><br />
Marinekommandant bemühten sich, den<br />
Delegierten die riesige Summe der Militärlasten<br />
m<strong>und</strong>gerecht zu machen.<br />
Unter den Delegierten ist auch unser<br />
antimilitaristischer Agitator aus dem Schwurgerichtssaal<br />
<strong>und</strong> aus der Wählerversammlung.<br />
Jetzt wird man wohl eine ähnliche<br />
Rede hören, wie seinerzeit vor den Geschworenen,<br />
<strong>und</strong>, was das Beste ist, kein<br />
schneidiger Gerichtspräsident wird sie vorzeitig<br />
enden können.<br />
Ach nein, welcher Irrtum!<br />
Eine recht zahme Rede für die zweijährige<br />
Dienstzeit, die der Kriegsminister<br />
— zum wievieltenmale? — verspricht;<br />
einige Anfragen an den Kriegsminister<br />
wegen Soldatenschindereien, die der Minister<br />
dadurch beantwortet, daß er einen<br />
nicht einzuhaltenden Befehl verliest, dann<br />
die gewohnheitsmäßige Leier wegen der<br />
Miliz im Kapitalistensystem <strong>und</strong> dann ist<br />
Schluß.<br />
<strong>Unser</strong> Antimilitarist ist doch recht<br />
zahm geworden.<br />
Doch das ist wohl ein Trugschluß!<br />
Als ein Vertreter des Kleinbürgertums<br />
auf den Plan tritt <strong>und</strong> gleichfalls die zweijährige<br />
Dienstzeit fordert, kommt unser<br />
Antimilitarist in die Rage.<br />
Das ist unlauterer Wettbewerb, <strong>und</strong> er<br />
muß den Kriegsminister überzeugen, daß<br />
er nicht so schlimm ist als sein Leum<strong>und</strong><br />
es besagt.<br />
»Wir s i n d g e g e n d e n M i l i t a r i s -<br />
m u s , w e i l w i r d i e M i l i z w o l l e n « ,<br />
<strong>und</strong> weiter: » A u c h d e r K l a s s e n s t a a t<br />
u n d d i e A r m e e v e r w a l t u n g w e r d e n<br />
d e r S o z i a l d e m o k r a t i e i n u m s o höh<br />
e r e m M a ß e s i c h e r s e i n , a l s d e r<br />
S t a a t i m S t a n d e ist, d e m a r b e i t e n -<br />
d e n V o l k e L i e b e u n d I n t e r e s s e a m<br />
V a t e r l a n d e b e i z u b r i n g e n « .<br />
D u r c h V e r a b r e i c h u n g v o n<br />
b l a u e n B o h n e n ?<br />
IV.<br />
Ein Eilzug, bestehend aus einer Reihe<br />
von Salonwagen, braust durch das Land,<br />
der von den Delegationsmitgliedern besetzt<br />
ist.<br />
Sie fahren zur blauen Adria, um zur<br />
Abwechslung die schwimmenden Mordvorrichtungen<br />
einer Besichtigung zu unterziehen.<br />
In Triest werden sie von den<br />
Spitzen der Behörden empfangen <strong>und</strong> zu<br />
dem reich eingerichteten <strong>und</strong> reichlich verproviantierten<br />
Schiff geleitet.<br />
Bald geht es hinaus ins Meer, die<br />
Herren Delegierten werden auf einzelne<br />
Kriegsschiffe verteilt <strong>und</strong> verfolgen von<br />
dort aus mit gespannter Aufmerksamkeit<br />
die Manöver.<br />
An den Kesseln glühen die Leiber der<br />
gepreßten Sklaven des Militarismus, die<br />
Mannschaft zittert unter dem Blick der<br />
Offiziere; heute würde jeder Mißgriff<br />
doppelt geahndet werden, es s i n d ja<br />
d i e A u s e r w ä h l t e s t e n u n t e r d e n<br />
A u s e r w ä h l t e n z u G a s t e .<br />
Kanonendonner rollt über die Wogen<br />
dahin <strong>und</strong> das sich bietende Schauspiel<br />
wird von allen Delegierten bew<strong>und</strong>ert.<br />
Sie sind doch herrlich, die Mordeinrichtungen<br />
zu Wasser <strong>und</strong> zu Lande, fest<br />
steht der Besitz <strong>und</strong> der innere Feind mag<br />
sich freuen . . .<br />
Man kann nicht wissen, in Rußland<br />
— — — — die Champagnerpfropfen knallen,<br />
die Tafel ist üppig besetzt— — — — — <strong>und</strong><br />
die Kosten? Ach, pah, die werden zu den<br />
Milliarden geschlagen, die dem Volke für<br />
diese Einrichtungen erpreßt werden. Die<br />
liebe Mühe der Marineverwaltung wird<br />
nicht umsonst bleiben, für den Marinismus<br />
kann sie nun getrost neue Forderungen<br />
stellen.<br />
Nachdem alles besichtigt, geht es ans<br />
Abschiednehmen. Jeder Delegierte, auch<br />
unser Antimilitarist samt seinen drei Fre<strong>und</strong>en,<br />
gleichfalls stramme »Antimilitaristen«,<br />
erhält als Andenken an diesen Ausflug ein<br />
Mützenband; schwarz ist es <strong>und</strong> mit Golddruck<br />
steht darauf der Name des Schiffes.<br />
S c h w a r z g e l b ! * *<br />
*<br />
<strong>Unser</strong> Antimilitarist, der Angeklagte<br />
vor dem Schwurgericht, der Redner in der<br />
Wählerversammlung, der Redner in der<br />
Delegation, der Gast des Marinekommandanten,<br />
ist, so unglaublich es klingt, ein<br />
<strong>und</strong> dieselbe Person. Es liegt nur ein Zeitraum<br />
von knapp 15 Jahren dazwischen.<br />
Wie er heißt?<br />
Ach, das ist doch gleichgiltig; zufällig<br />
F r a n z S c h u h m e i e r , er könnte auch auf<br />
einen anderen unter 87 Namen hören.<br />
Wir hoffen, als treue Berichterstatter<br />
dieser vier Kapitel, auf eine Gegenleistung<br />
<strong>und</strong> stellen deshalb eine Bitte: Herr Franz<br />
Schuhmeier möge, ach nur ein einzigesmal,<br />
seinen Hut mit dem schwargelben Erinnerungszeichen<br />
schmücken, möge so in<br />
eine Wählerversammlung kommen, den
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchist.<br />
Lied der Ausgesperrten!<br />
Noch sind wir kräftig, noch sind wir stark,<br />
Noch wirkt in unsern Knochen das Mark,<br />
Noch w o l l e n , noch können die Arbeit wir schaffen;<br />
Noch sind wir bereit, für Andre zu raffen,<br />
D'rum gebt uns Arbeit! <strong>und</strong> gebt uns Brot,<br />
Damit wir stillen können die Not —<br />
Des Magens Notdurft, den Hunger der Kleinen,<br />
Die sonst an dem Elend zu Tode sich weinen.<br />
Gebt Arbeit uns! Doch gebt uns auch Zeit!<br />
Denn unser Himmel ist gar so weit<br />
Und Ihr werdet uns gönnen, i h n uns zu suchen .. .<br />
In Euern Höllen da lernen wir fluchen.<br />
Da lernen wir fluchen: Euch, Euerm Gott,<br />
Die niemals bekümmert all unsere Not;<br />
Da lernen verfluchen wir Eure Sitten<br />
Und lernen, zu n e h m e n , an Stelle zu bitten . . .<br />
Ihr schlaget Euch nur die eigene Brust —<br />
„Zerstören ist auch eine schaffende Lust!"<br />
Und drängt es Euch, dies uns vorzumachen . . .<br />
— schon recht; wir wissen, bald werden w i r lachen.<br />
Wir trugen zu längst schon Mühe <strong>und</strong> Last;<br />
Jetzt fehlt uns nur noch der Hunger zu Gast.<br />
Nur weiter, Ihr Henker, auf Euern Routen,<br />
Bevor wir verhungern, werdet Ihr noch verbluten.<br />
B-d-r.<br />
B ö h m e n .<br />
Die Angestellten der elektrischen Straßenbahn<br />
in P r a g , die der national-sozialen Partei angehören,<br />
hatten sich nach langem Zaudern, gepeitscht<br />
durch unerträgliche Verhältnisse, zum Streik aufgerafft.<br />
Doch schon nach einigen Tagen wurde der<br />
Streik beendigt — fast erfolglos. Die Führer erzielten<br />
in den Verhandlungen nur eine unbedeutend<br />
geringe Lohnerhöhung, auf alle anderen Forderungen,<br />
wie z. B. auf die eminent wichtige F o r d e r u n g<br />
d e r D i e n s t z e i t r e g e l u n g — wurde mit<br />
leeren Versprechungen geantwortet; dafür jedoch<br />
mußten sich die Angestellten verpflichten, zwei<br />
Jahre lang, das heißt, über die Dauer der in Prag<br />
stattfindenden Jubiläumsausstellung, also zur günstigsten<br />
Kampfeszeit, mit den bestehenden Bedingungen<br />
zufrieden zu sein <strong>und</strong> nicht zu streiken. —<br />
Das Tragische ist, daß die Führer in begeisternden<br />
Worten den Streikenden zureden mußten, diese von<br />
ihnen ausgemachten Bedingungen anzunehmen. Der<br />
Abgeordnete Burival erteilte ihnen sogar einen sehr<br />
wertvollen Zukunftswechsel: er werde im Landtag<br />
schon alles für sie richten! — Die Armen!<br />
Galizien.<br />
Von einem geradezu unglaublich schauderhaften<br />
Fall macht uns unser Genosse, der Elektromonteur<br />
D. W i s c h n j i t s c h , Mitteilung. Vor einigen<br />
Wochen stieg er in der galizischen Station Przemysl<br />
um 10 Uhr 30 Min. abends in den Personenzug<br />
Nr. 20. Er war in ein Rauchercoupe gestiegen <strong>und</strong><br />
als er, ein Nichtraucher, den Rauch nicht vertragen<br />
konnte, beschloß er, beim Einfahren des Zuges in<br />
die Station Sedziszow in ein anderes Coupé zu<br />
steigen. Leider aber waren die Türen sämtlicher<br />
Nichtraucherwaggons geschlossen, als er seinen<br />
Plan zur Ausführung bringen wollte. Er wollte also<br />
zurück — doch zu spät, der Zug setzte sich schon<br />
in Bewegung. Nun blieb ihm nichts anderes übrig,<br />
als auf das Trittbrett zu springen. Er hielt sich fest<br />
<strong>und</strong> raste mit dem Zuge davon. Als derselbe sich<br />
etwa 400 bis 500 Meter von der Station entfernt<br />
hatte, bemerkte er, daß ein Kondukteur den Waggon<br />
passierte, an dessen Tür er sich festhielt. Er klopfte<br />
an das Fenster. Der Kondukteur erblickte ihn.<br />
Wischnjitsch glaubte nun, er würde ihm die Coupetüre<br />
öffnen <strong>und</strong> hineingehen lassen. S t a t t d e s s e n<br />
öffnete d e r U n h o l d d i e T ü r e m i t e i n e m unv<br />
e r k e n n b a r b e a b s i c h t i g t e n , p l ö t z l i c h e n<br />
Ruck, v e r s e t z t e d e m G e n o s s e n e i n e n S t o ß<br />
<strong>und</strong> s t i e ß ihn v o m Z u g e h i n a b . 10 bis 15 Meter<br />
fühlte sich der Bedauernswerte mitgerissen, dann<br />
zur Seite geschleudert, <strong>und</strong> da lag er nun auf<br />
freiem Felde, schwer beschädigt für die Dauer von<br />
zwei Wochen.<br />
Es ist etwas unsäglich Trauriges in diesem<br />
Falle gelegen. Ein Proletarier — <strong>und</strong> was sind die<br />
hungernden Kondukteure anderes? — gegen einen<br />
Proletarier, einen Anarchisten, der um die Befreiung<br />
des Proletariats ringt. Aber es ist auch<br />
nicht die Schuld des verbestialisierten Kondukteurs<br />
allein. Es sind andere Leute, die die Schuld an<br />
dieser Verbestialisierung tragen, <strong>und</strong> wir raten<br />
ihnen, die Übelstände auf den Eisenbahnen zu<br />
beheben, da sie nicht immer solche gutmütige<br />
Dulder, wie deren einer unser Genosse ist, antreffen<br />
mögen.<br />
Frankreich.<br />
Nicht mehr die internationale S o z i a l - , sondern<br />
die internationale P o l i ze i demokratie sollte<br />
es heißen. Dem berühmten Fall des deutschländischen<br />
Sozialdemokraten Klinke, jenem des österreichischen<br />
Reumann-Adler, schließt sich nun neuerlich<br />
der Fall des französischen Jaurès an, der im Par-<br />
lament erklärte, daß er gegen die dem Sultan Abdul<br />
Asis von der französischen Regierung vorgeschossene<br />
Geldsumme b e h u f s O r g a n i s a t i o n d e r P o -<br />
l i z e i i n d e n m a r o k k a n i s c h e n H ä f e n<br />
n i c h t s einzuwenden habe, sich sogar über das<br />
dadurch offenbarte internationale Einvernehmen —<br />
welch herrlicher Internationalismus! — sehr freue<br />
<strong>und</strong> nur die eine Frage aufwerfen könne, ob die<br />
Geldanleihe a u c h w i r k l i c h r i c h t i g v e r -<br />
w e n d e t werden .würde.<br />
Die staatlichen Gewalten können sich international<br />
beglückwünschen zu dieser prächtigsten<br />
„sozialreformatorischen" Erfindung, genannt Sozialdemokratie;<br />
denn diese Erfindung beginnt mit der<br />
zweckmäßigsten Konservierung des Bestehenden,<br />
der Eröffnung günstiger politischer Ämter für die<br />
Führer <strong>und</strong> endet mit der Vernichtung jeder sozialrevolutionären,<br />
sozialistischen Bewegung.<br />
*<br />
*<br />
*<br />
Die „La Voix du Peuple", Organ der revolutionären<br />
Syndikate bringt einen Aufruf <strong>und</strong> Artikel,<br />
in dem sich das Blatt gegen mehrfache Versuche<br />
der Sozialdemokraten wendet, die darauf abzielen,<br />
diese kräftige Gewerkschaftsorganisation zu<br />
sprengen durch Hereinzerrung der Stuttgarter internationalen<br />
sozialdemokratischen Kongreßresolution.<br />
Die Redaktion obigen Blattes warnt die Zerstörer<br />
<strong>und</strong> versichert, daß für sie nur der syndikalistische<br />
Kongreß von Amiens maßgebend ist, der die vollständige<br />
Autonomie der französischen Gewerkschaftsbewegung<br />
aussprach.<br />
von a l l e n politischen Parteien<br />
Für uns österreichische Anarchisten, denen<br />
doch so oft Zersplitterungsversuche vorgeworfen<br />
werden, ist dies sehr interessant. Es ist wahr —<br />
wir sind Ze'rsplitterer alles Philiströsen <strong>und</strong> des<br />
Konservativismus von oben wie von unten; die<br />
Sozialdemokraten sehen wir hier aber in einer<br />
allerliebsten, wenn auch nicht mehr ganz neuen<br />
R o l l e : H a n d i n H a n d m i t d e r f r a n z ö s i s c h e n<br />
R e g i e r u n g g e g e n d i e v o n d i e s e r g e h a ß -<br />
t e n r e v o l u t i o n ä r e n G e w e r k s c h a f t s b e -<br />
w e g u n g !<br />
Rom.<br />
Italien.<br />
Glühend rot zeichneten sich die ersten<br />
Tage dieses Monats auf dem Firmament des italienischen<br />
Bruderproletariats, auf dem Firmament<br />
der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung<br />
ab. Wieder einmal hat es sich gezeigt, daß, ungleich<br />
der Arbeiterbewegung Österreichs <strong>und</strong><br />
Deutschlands, das Wort S o l i d a r i t ä t unter den<br />
romanischen, den von den Sozialdemokraten <strong>und</strong><br />
Kapitalisten vielgeschmähten Arbeitern kein leerer<br />
Schall ist, sondern eine praktische Kampfesparole,<br />
die Begeisterung entzündet im Gefühl aller Revolutionäre.<br />
Die italienische Regierungsgemeinheit hat eine<br />
tüchtige Lektion erhalten. Anläßlich eines letzten<br />
Ehrengeleites, das die römischen Arbeiter einem<br />
der ihren, einem von kapitalistischer Profitwut vorzeitig<br />
ins Grab getriebenen Anarchisten gaben,<br />
schössen die Polizei <strong>und</strong> die Karabinieri ins Volk,<br />
verw<strong>und</strong>eten <strong>und</strong> töteten viele. Da, ohne sich erst an<br />
Zentralleitungen <strong>und</strong> Instanzen zu wenden, ohne<br />
deren Befehle abzuwarten, empfand es das römische<br />
Proletariat als E h r e n s a c h e , diesen Schlag den<br />
Herrschenden zurückzugeben. Tags darauf wurde in<br />
Rom der Generalstreik erklärt, <strong>und</strong> zwei Tage lang<br />
stand der ewig spendende Strom der ausgebeuteten<br />
Arbeit still, wurde das Industrie- <strong>und</strong> Finanzsystem<br />
des Kapitalismus in arge Verwirrung gebracht. Der<br />
Generalstreik lehrte so recht deutlich, wie abhängig<br />
alles, was da ist, vom Proletariat <strong>und</strong> daß alle die<br />
wahnwitzigen Schwindelspekulationen des Kapita-<br />
Iismus in sich selbst zusammenbrechen, wenn dein<br />
starker Arm, Proletarier, es will!<br />
Aber warum breitete sich der Streik nicht<br />
a u s ? Waren doch anno 1904 die Arbeiter von<br />
34 Ortschaften Italiens an den Generalstreik getreten.<br />
Weshalb diesmal nicht? Es ist ein trauriges<br />
Kapitel in der Geschichte der Arbeiterbewegung,<br />
dem wir uns nun zuzuwenden haben, wenn auch<br />
keineswegs mehr neu.<br />
D i e s o z i a l d e m o k r a t i s c h e P a r l a -<br />
m e n t s f r a k t i o n e r k l ä r t e , i n h e r r l i c h -<br />
s t e r Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t d e r R e c h t e n<br />
d e s H a u s e s , d u r c h i h r e n W o r t f ü h r e r<br />
T u r a t i , d a ß s i e s i c h g e g e n d e n G e -<br />
n e r a l s t r e i k k e h r e , a l l e s i h r z u G e b o t e<br />
S t e h e n d e a n w e n d e n w ü r d e , u m d e s s e n<br />
A u s b r e i t u n g z u v e r h i n d e r n u n d d e n<br />
G e n e r a l s t r e i k i n R o m r a s c h e s t z u<br />
E n d e z u b r i n g e n . Dieser traurige Verräter<br />
hatte noch die erbärmliche Frechheit zu konstatieren,<br />
jetzt, im Augenblicke des Generalstreiks,<br />
sei n i c h t der richtige Moment gekommen, um<br />
sich gegen die Regierung wegen deren Ermordung<br />
von Arbeitern zu wenden; jetzt, in diesem Augenblicke<br />
müsse vor allen Dingen der Generalstreik<br />
abgebrochen werden!!!<br />
Unter diesen Umständen, da ihnen die Sozialdemokraten<br />
in heimtückischer Weise in den Rücken<br />
fielen, mißlang die versuchte Ausbreitung des G e -<br />
neralstreiks. Angesichts dieser Handlungsweise<br />
kann man nicht anders als zu fragen: W i e v i e l<br />
haben diese sozialdemokratischen Parlamentarier<br />
für diesen Dienst erhalten, den sie der Regierung<br />
leisteten ? S o l c h e Dinge pflegt man nicht gratis<br />
zu tun . . .<br />
Wehe den sozialdemokratischen Gauklern,<br />
wenn einmal ihr Register aller Verrätereien am<br />
Volke aller Länder enthüllt wird! Als niederträchtige<br />
Handlanger der Reaktion werden sie in die<br />
Geschichte des Sozialismus übergehen.<br />
Über den italienischen Arbeitern flattert das<br />
Ehrenbanner des revolutionären Klassenkampfes,<br />
<strong>und</strong> begeisterten Herzens jauchzen wir ihnen z u !<br />
In Deutschland wird die kleinste Wahldemonstration<br />
von Polizei <strong>und</strong> Soldateska gesprengt. Was geschieht?<br />
N i c h t s ! In Österreich wird das Militär<br />
nach Graz zitiert um einen Streik zu brechen; die<br />
Lebensmittelpreise steigen, Aussperrungen sind an<br />
der Tagesordnung. Was geschieht? N i c h t s !<br />
Kein W<strong>und</strong>er, daß die Arbeiterbewegung dieser<br />
Länder ein einzig großes Nichts ist, so weit revolutionärer<br />
Klassenkampf in Betracht kommt. Die<br />
italienischen Arbeiter haben uns wieder gelehrt,<br />
wie die Arbeiterbewegung zur bedeutenden politischen<br />
<strong>und</strong> ökonomischen Klassenbewegung zu gestalten<br />
ist. Denn was kann die Arbeiterbewegung<br />
sein, wenn sie zu kämpfen versteht? A l l e s , wenn<br />
sie es nur will, sich auf ihre eigenen Kräfte verläßt<br />
<strong>und</strong> die politisch-parlamentarischen Vampyre<br />
abschüttelt!<br />
Russisch-Polen.<br />
Um die Entwicklung des Anarchismus in Polen<br />
verständlich zu machen, muß hier vorausgeschickt<br />
werden, in welcher Verfassung sich die polnische<br />
Arbeiterbewegung befindet.<br />
Das polnische Proletariat führt schon längst<br />
in den Zentren der Textilindustrie (Warschau,<br />
Lodz.Pabianice etc.) <strong>und</strong> im Steinkohlengebiet (Dombrowo,<br />
Sosnowice) einen hartnäckigen Kampf gegen<br />
die Kapitalisten; in diesem Kampfe hat es gelernt,<br />
den ökonomischen Widerstand <strong>und</strong> individuelle T a -<br />
ten zur Geltendmachung seiner Forderungen anzuwenden,<br />
doch wurde dieser Klassenkampf beständig<br />
durch verschiedene nationale Bestrebungen paralysiert.<br />
Die zynische Politik des Zarentums, die mit besonderem<br />
Nachdruck gerade in Polen durchgeführt<br />
wird, fällt mit voller Wucht vornehmlich auf die<br />
Arbeiterklasse nieder <strong>und</strong> diesen Umstand machten<br />
sich die verschiedenen national-demokratischen<br />
Parteien zunutze. Die „Volksdemokraten" schwatzten<br />
den Arbeitern immerfort vor, daß es ein verbrecherisches<br />
Beginnen sei, einen Klassenkampf<br />
innerhalb der polnischen Nation zu führen, wenn<br />
die ganze Nation einen gemeinsamen Feind — d a s<br />
Zarentum — habe; sogar ein Teil der Sozialdemokraten<br />
war in dieser Hinsicht befangen, zwar formulierten<br />
diese ihre Auffassung anders, indem sie<br />
den republikanischen Gedanken propagandierten,<br />
doch sollte es eine p o l n i s c h e Republik sein,<br />
eine nationale Republik, die die polnische N a t i o n<br />
in ihrer Gesamtheit erlösen sollte. Eine Ausnahme<br />
machte der andere Teil der Sozialdemokraten, der<br />
zum Kampfe für die a l l r u s s i s c h e Demokratie,<br />
anfänglich wenigstens, aufrief.<br />
In diesen Prinzipiengegensatz suchten die<br />
Wortführer der Parteien die Arbeiter mit allen nur<br />
erdenklichen Redekünsten hineinzuziehen; wir<br />
wollen diesen d u n k l e n P u n k t der Arbeiterbewegung<br />
übergehen, doch sei erwähnt, daß nach<br />
den Feststellungen der Zeitung „Towarisch" infolge<br />
Parteihaders zwischen Volksdemokraten <strong>und</strong> Sozialdemokraten<br />
in einer einzigen Stadt (Lodz) in einem<br />
Zeitraum von sechs Monaten bei knappster Berechnung<br />
127 Arbeiter <strong>und</strong> 6 Arbeiterinnen getötet<br />
wurden, während die Polizeischergen des Zarentums,<br />
also nach Auffassung der Herren Nationaltheoretiker<br />
— die eigentlichen Gegner der Nation<br />
— während dieser ganzen Periode nur 15 Tote<br />
<strong>und</strong> 6 Verw<strong>und</strong>ete zu beklagen hatten.<br />
Wie schon oben erwähnt, gibt die polnische<br />
Bewegung im Lohnkampfe äußerst radikalen Methoden<br />
sehr oft den Vorzug. Der polnische Arbeiter<br />
boykottierte die Dumawahlen <strong>und</strong> verließ sich auf<br />
die d i r e k t e A k t i o n in ihren revolutionären Anwendungen,<br />
was unumgänglich zu einem Konflikt<br />
mit den sozialdemokratischen <strong>und</strong> anderen Führern<br />
führen mußte. Dieser Konflikt kam nun vollends<br />
durch den Londoner Kongreß der russischen Sozialdemokraten<br />
zum Ausbruch, der bestimmt hatte,<br />
daß: 1. ein parteiloser Arbeiterkongreß nicht stattfinden<br />
dürfe, daß 2. jedwede individuelle oder kollektive<br />
Gewaltaktion vom wirtschaftlichen Kampfe<br />
fernzuhalten sei, da dadurch angeblich der p o l i -<br />
t i s c h e n Revolution Abbruch geschähe, <strong>und</strong> 3. daß<br />
„Expropriationen" zu verdammen seien, weil das<br />
ein demoralisierendes Kampfmittel sei, das alle G e -<br />
sellschaftsklassen gegen die Revolutionäre erbittere.<br />
Gleichzeitig war verfügt worden, daß nunmehr<br />
sämtliche terroristischen Organisationen der Partei<br />
aufzulösen <strong>und</strong> die Waffen an die Parteileitung a b -<br />
zuführen seien, was einen Sturm von Entrüstung<br />
hervorrief; öl ins Feuer goß die gleichzeitig erfolgte<br />
Erklärung der revolutionärsten Fraktionen<br />
der P. P. S. (Polnische Sozialistische Partei) von
Lodz <strong>und</strong> Warschau, daß sie vom ökonomischen<br />
Terror n i c h t s mehr wissen wollen <strong>und</strong> die jüngst<br />
erfolgten Ermordungen von Fabrikanten <strong>und</strong> Fabriksdirektoren<br />
nicht verantworten können. Dazu kam<br />
noch, daß die gesamten sozialdemokratischen Fraktionen<br />
ihren Ton bedeutend mäßigten <strong>und</strong> zu den<br />
Wahlen in die dritte Duma eine so offenk<strong>und</strong>ig<br />
rückschrittliche Richtung einschlugen, daß die an<br />
„anarchische" Methoden gewöhnten polnischen<br />
Arbeiter in schärfste Opposition dazu traten. Das<br />
ergab einen unüberbrückbaren Gegensatz. Einerseits<br />
trug der politische Terror des Zarentums <strong>und</strong><br />
das Aussperrungssystem der Arbeitgeber dazu bei,<br />
die gewohnten radikalen Aktionsmittel der Arbeiterschaft<br />
zu entwickeln — während andererseits die<br />
staatlichen Sozialisten zur Zentralisation, zum engpolitischen<br />
Kampf <strong>und</strong> zur Wahlagitation aneiferten.<br />
Viele Arbeiter blieben ihrem Klasseninstinkt<br />
treu <strong>und</strong> opponierten gegen diese Schwenkung der<br />
Parteiführer nach rechts, die dem vollkommenen<br />
Verrat an der revolutionären Parteivergangenheit<br />
gleichkam; viele revolutionär gestimmte Arbeiter<br />
traten nun zum Anarchismus über <strong>und</strong> die sozialdemokratischen<br />
Organisationen aller Abarten mußten<br />
von nun an mit einer Menge „anarchistelnder"<br />
Elemente in ihrer eigenen Mitte rechnen. Die<br />
Stimmung der großen Masse wurde dadurch sehr<br />
revolutionär.<br />
Bis vor kurzer Zeit spielte die Propaganda<br />
des Anarchismus in Polen eine unbedeutende<br />
Rolle, da es fast gar keine polnische Literatur gab.<br />
In Warschau begann die Propaganda nach<br />
den Jännerereignissen von 1905. Die erste Gruppe<br />
„International" bestand aus 40 Mann, die Redner<br />
zu Versammlungen stellten, die jüdische Arbeiterschaft<br />
organisierten <strong>und</strong> den ökonomischen Kampf<br />
der Arbeiter unterstützten. Es ereignete sich auch,<br />
daß z. B. beim Bäckerstreik mehrere Backöfen in die<br />
Luft flogen, während der Teig untauglich wurde, weil<br />
er einen starken Petroleumbeigeschmack aufwies, etc.<br />
Die erschreckten Unternehmer gaben sofort klein<br />
bei — der Streik war glänzend gewonnen. Die<br />
Panik der Arbeitgeber war so groß, daß die Bekanntgabe<br />
genügte, daß Anarchisten in irgend einen<br />
Streik eingreifen wollen, um den Widerstand der<br />
Fabrikanten zu brechen.<br />
Die ganze Zeit über hatten die Anarchisten<br />
einen energischen Kampf mit den Sozialdemokraten<br />
zu führen, die über den Terrorismus mit der<br />
bürgerlichen Presse um die Wette geiferten. Gleichzeitig<br />
mußte auch gegen die Banditen gekämpft<br />
werden, die sich den durch die anarchistische<br />
Aktion hervorgerufenen Schrecken zu nutze zogen,<br />
um nun vom Raub <strong>und</strong> Erpressungen zu leben.<br />
Als nun im Oktober nach Veröffentlichung des<br />
ersten Freiheitsmanifestes ein paar Freiheitstage<br />
eintraten, riefen die Anarchisten große öffentliche<br />
Versammlungen ein. Doch bald setzte wieder die<br />
alte Reaktion ein, <strong>und</strong> die Polizei begann alle<br />
des Anarchismus verdächtigen Personen zu verhaften.<br />
Als erster fiel der Polizei der Kamerad V i kt o r<br />
R i v k i n d in die Hände, der zu vier Jahren<br />
Zwangsarbeit verurteilt <strong>und</strong> später hingerichtet<br />
wurde. Daraufhin wurden noch 15 Mitglieder der<br />
Gruppe „International" mit einer Menge Waffen,<br />
Bomben, Dynamit, einer Höllenmaschine <strong>und</strong> einer<br />
geheimen Druckerei verhaftet <strong>und</strong> im Jänner nach<br />
entsetzlicher Folterung in der Zitadelle von Warschau<br />
erschossen. Der Folterknecht Grün ist jetzt<br />
bereits von rächender Hand hingerichtet, der Oberhenker<br />
Skalon, Generalgouverneur von Warschau,<br />
lebt aber noch bis heute, weil er sich überhaupt<br />
nicht mehr aus der Warschauer Festungszitadelle<br />
hervortraut. Die erschossenen Anarchisten hießen:<br />
S a l o m o n R o s e n z w e i g , J a k o b G o l d -<br />
s t e i n , V i k t o r R i v k i n d , L e i b F u r z e i g ,<br />
J a k o b C r i s t a l , J a k o b P f e f f e r , K u b a<br />
l g o l s o n , S . M e n d z e l e w s k i , K a r l S k u f a ,<br />
I g n a z K o r n b a u m , I s a a k S c h a p i r o , M .<br />
P u g a e , F . G r a u m a n n , I s r a e l B l u m e n -<br />
f e l d , S a l o m o n S c h a e r <strong>und</strong> A b r a h a m<br />
R o t k o p f. Diese Hinrichtung fand ohne kriegsgerichtliche<br />
Komödie, auf bloßen Befehl Skalotis statt,<br />
<strong>und</strong> die liberale Presse, die gegen die bevorstehende<br />
Hinrichtung des Leutnants Schmidt (Aufruhr<br />
der Schwarzen Meer-Flotte) protestierte, hatte<br />
nicht nur gegen das gesetzlose Vorgehen Skalons<br />
nicht protestiert, sondern diese Anarchistenhinrichtung<br />
ausdrücklich verlangt.<br />
So endete die erste anarchistische Gruppe<br />
von Warschau. Die Leichen der Erschossenen<br />
wurden nachher in der Weichsel von Fischern aufgef<strong>und</strong>en.<br />
Sämtliche Gesichter waren von den<br />
Henkern durch eine Harzmaske unkenntlich gemacht<br />
worden.<br />
D e r l e t z t e S c h w a n e n s a n g .<br />
Am 4. Jänner 1906 wurden im Hofe derWarschauer<br />
Zitadelle 5 Schafotte errichtet — 5 Mitglieder der<br />
Gruppe „International" sollten hier erschossen werden.<br />
Vom Schafott herab spricht J a k o b G o l d -<br />
s t e i n , ein 22jähriger Arbeiter, noch zum letztenmal<br />
zu seinen Henkern: „Soldaten! Brüder! Ihr<br />
seid hierher befohlen, um Feinde des Vaterlandes<br />
zu töten; man sagte euch, wir seien Rebellen —<br />
Anarchisten. Doch man sagte euch nicht, wofür wir<br />
kämpften, wofür wir den Tod erleiden. Man sagte<br />
euch nicht, daß wir Söhne jener großen russischen<br />
Proletariermasse sind, jenes Jahrh<strong>und</strong>ertelang von<br />
Henkern <strong>und</strong> Tyrannen gepeinigten Proletariats,<br />
unseres Vaterlandes sind, daß wir nicht länger<br />
Sklaven bleiben wollten, da wir begriffen, daß unser<br />
zaristisches Sklavenjoch nur mit bewaffneter Hand a b -<br />
gestreift <strong>und</strong> eine neue, freie Gesellschaft begründet<br />
werden könnte. Seht, Brüder! Für dies Ideal<br />
suchten wir die Arbeiterscharen zu begeistern, für<br />
diese Ideen sollt ihr, die ihr Söhne desselben unglücklichen,<br />
gemarterten Volkes seid, uns töten.<br />
Brüder! Weigert euch, diesen Mord zu vollführen,<br />
wir kämpften ja für Glück <strong>und</strong> Freiheit unseres<br />
Volkes. Stimmt ein in den Ruf: Es lebe die<br />
Anarchie". . . Zehn Gewehrläufe sanken n i e d e r . . .<br />
„Bravo, Brüder!" riefen die Kameraden <strong>und</strong> stimmten<br />
die Carmagnole an. Ein unordentliches Pelotonfeuer<br />
machte ein Ende mit ihnen.<br />
Am nächsten Morgen, den 5. Jänner, wurden<br />
weitere sechs von ihnen auf den Hof der Zitadelle<br />
geführt. Unter ihnen befand sich V i k t o r<br />
R i v k i n d , der wegen Verbreitung revolutionärer<br />
Soldatenlieder <strong>und</strong> Agitation in den Kasernen verhaftet<br />
war. Auf die Frage, wie er heiße, hatte er<br />
geantwortet: „Anarchist — Kommunist". Seine letzten<br />
Worte waren: „Tod der russischen Tyrannei. Es<br />
lebe die Anarchie!"<br />
Am 28. Jänner 1906 fand der Schluß dieses<br />
Todesdramas statt es wurden die letzten fünf<br />
Kameraden erschossen. Unter ihnen befand sich<br />
unser aller Liebling, K u b a l g o l s o n , Schüler der<br />
siebenten Gymnasialklasse. Zwei Monate war er<br />
Mitglied der Gruppe „International" gewesen <strong>und</strong><br />
hatte sich als glänzender Propagandist erwiesen.<br />
Obgleich selbst keiner Arbeiterfamilie entstammend,<br />
verstand er es, zu den Arbeitern in ihrer eigenen<br />
Sprache zu reden, sich voll in die Seele des Arbeiters<br />
zu versenken <strong>und</strong> seine Zuhörer enthusiastisch<br />
fortzureißen. Von der Kugel eines Spitzels<br />
verw<strong>und</strong>et, wurde er bei einer Expropriation verhaftet.<br />
Sein Advokat drang wiederholt in ihn, doch<br />
anzugeben, daß er das Geld für sich stehlen wollte,<br />
daß er gemeiner Dieb sei. Doch stolz erwiederte<br />
er jedesmal: „Ich bin Anarchist". Am Schaffot angelangt,<br />
rief er den anwesenden Ärzten z u : „Meine<br />
Herren! Arbeitergeld ermöglichte es Ihnen, Karriere<br />
zu machen. Sie sind jetzt Vertreter der Wissenschaft.<br />
Wenn noch ein Funke der Menschlichkeit<br />
in Ihnen wohnt, so müssen sie sich weigern, diesem<br />
empörenden Schauspiel beizuwohnen!" . . . Drei<br />
Ärzte gingen sofort weg, <strong>und</strong> sterbend rief lgolson<br />
noch: „Ihr könnt den Körper töten, doch nicht<br />
unseren ewigen Geist I"<br />
(Aus „Burewestnik" Nr. 5 u. 9).<br />
Südamerika.<br />
Bolivia. Einen mächtigen Anschlag vermeinte<br />
die hiesige republikanische Regierung gegen die<br />
revolutionär emporstrebende Arbeiterbewegung durch<br />
die Verhaftung ihrer Geistesführer getan zu haben.<br />
Sie verhaftete den Genossen Federico Martinez,<br />
einen Argentiner <strong>und</strong> unseren in Südamerika wacker<br />
kämpfenden österreichischen Kameraden Matthias<br />
Skarnie. Beide sind Redakteure der revolutionärgewerkschaftlichen<br />
Zeitschrift „La Aurora Sozial",<br />
offizielles Organ der dortigen Arbeiterföderation,<br />
<strong>und</strong> wurden — auch in demokratischen Republiken<br />
bestehen solche schöne Einrichtungen — ausgewiesen,<br />
richtiger an Chile ausgeliefert.<br />
Es sind die stets hoffnungslosesten Methoden,<br />
zu denen jede im Sinken begriffene Autorität ihre<br />
Zuflucht nimmt!<br />
Briefe unserer Leser.<br />
Sozialdemokratische Schurkenstreiche in<br />
der Ortsgruppe Grottau d e s österr. Holzarbeiterv<br />
e r b a n d e s .<br />
Werte Genossen! Ich will den beschränkten<br />
Raum Ihres Blattes nicht ungebührlich in Anspruch<br />
nehmen mit der Brandmarkung einer der vielen<br />
Schurkentaten der österreichischen Sozialdemokratie,<br />
sondern mich darauf beschränken, Ihnen nur das<br />
Wesentliche mitzuteilen.<br />
Ich bin Anarchist <strong>und</strong> Sozialist, <strong>und</strong> als solcher<br />
war ich den Bürokraten <strong>und</strong> Parteimenschen<br />
schon seit langem ein Dorn im Auge. Es ereigneten<br />
sich mehrfache Streitigkeiten, weil ich z. B. das<br />
Andenken eines unserer ehrenwertesten Vorkämpfer,<br />
Josef Schillers, nicht schmähen lassen wollte; auch<br />
sonstige Reibungen kamen vor, die ich aber übergehe,<br />
obwohl sie hinlänglich sind, um zu beweisen,<br />
wie infam <strong>und</strong> gemein die Sozialdemokraten <strong>und</strong><br />
die ihnen angehörenden Verbandsherrscher gegen<br />
die Anarchisten verfahren.<br />
Erst seit dem Erscheinen des „Wohlstand für<br />
Alle", den ich natürlich sofort <strong>und</strong> mit Vergnügen<br />
kolportierte, nahmen die Reibungen wieder an<br />
Schärfe zu. Diese steigerten sich so sehr, daß die<br />
Sozialdemokraten mir es verboten, unsere Blätter<br />
z u verteilen. M i t H i l f e " d e r P o l i z e i wurde e s<br />
versucht, nachdem ein improvisierter Hinauswurf<br />
aus dem Lokal an dem Widerstand verschiedener<br />
meiner Fre<strong>und</strong>e gescheitert, dies zu hintertreiben;<br />
in letzterer Aktivität tat sich besonders der Vertrauensmann<br />
der Bezirksverbände hervor. Überhaupt<br />
scheinen die Vertrauensleute eine seltsame Sorte<br />
Menschen zu sein, insoferne nämlich als man nicht<br />
weiß, ob sie Vertrauensleute der Unternehmer oder<br />
der Arbeiter sind?! Bedenken Sie: Als ich ihn einmal<br />
in der Fabrik ansprach, hatte der Mensch nichts<br />
anderes zu tun, als mich böswillig wegzustoßen, um<br />
nur die Aufmerksamkeit des Werkführers auf mich<br />
zu lenken 11 Von der geistigen Aufklärung, die die<br />
Sozialdemokraten sich erworben haben, werden Sie<br />
einen Begriff erhalten, wenn ich Ihnen sage, daß<br />
mein Nebenmann, ein Sozialdemokrat, mir sagte,<br />
daß er, wenn ich nochmals anarchistische Zeitschriften<br />
zur Kolportage mitbrächte, m i c h d e n u n -<br />
z i e r e n würde, was er denn auch direkt oder indirekt<br />
tat. Bei obiger Gelegenheit mit dem Vertrauensmann<br />
<strong>und</strong> Werkführer wurde mir auch mitgeteilt,<br />
daß ersterer die Verpflichtung habe, die<br />
Arbeiter in der Fabrik zu bewachen, damit sie nicht<br />
mit einander sprechen sollen u. dgl. mehr. Und so<br />
etwas nennt sich „Sozialist" — dient dabei dem<br />
Interesse des Kapitalismus in gleicher Weise wie<br />
jeder Werkführer, <strong>und</strong> ist auch noch ein Vertrauensmann<br />
! !<br />
In Folge dessen w<strong>und</strong>erte es mich gar nicht,<br />
wenn mir in einer der jüngsten Fabriksversammlungen<br />
gewaltsam das Wort entzogen ward <strong>und</strong> der<br />
Vorsitzende, auf die erste Nummer des „W. f. A."<br />
weisend, sagte: „Du brauchst keine Beiträge mehr<br />
zu zahlen!" Etwa zwei Wochen später meinte er:<br />
„Nun, wir haben es doch soweit gebracht, daß du<br />
aus dem Verbände ausgeschlossen bist." Ich schrieb<br />
sofort an den Zentralausschuß nach Wien, fragte<br />
an, ob dies wahr wäre, weshalb u. s. w., doch bis<br />
heute kam keinerlei Antwort. Erst Wochen darnach,<br />
als ich im Zittauer Gewerkschaftshause den österr.<br />
Holzarbeiter" las, ersah ich: „ D a s M i t g l i e d<br />
D u c h e k , B u c h Nr. 3 0 9 7 0 , i s t w e g e n a n -<br />
a r c h i s t i s c h - s o z i a l i s t i s c h e r U m t r i e b e a u s<br />
d e m V e r b ä n d e a u s g e s c h l o s s e n w o r d e n . "<br />
So. Was hatte ich getan? War ich jemals<br />
ein Streikbrecher? N e i n . Hatte ich jemals irgend<br />
einem Unternehmer Handlangerdienste geleistet,<br />
wie jener Vertrauensmann? Nein. Nur weil ich revolutionärer<br />
Sozialist bin, haben diese Gaukler es<br />
gewagt, mich aus dem Verbände auszuschließen.<br />
Wäre ich ein reaktionärer Dummkopf, dann hätte mir<br />
so etwas n i e zustoßen können! —<br />
Aber damit nicht genug, haben diese Volksverführer<br />
es auch fertig gebracht, mich b r o t -<br />
l o s z u machen, indem sie m e i n e E n t l a s s u n g<br />
herbeiführten!<br />
Es ist nur einige Monate her, seitdem ein Streikbrecher<br />
aus derselben .Ortsgruppe ausgeschlossen<br />
wurde. Der Halunke verlangte seine geleisteten<br />
Beiträge zurück - <strong>und</strong> dieselben wurden ihm ausgefolgt.<br />
Nun, ich bin vom Verbände w e g e n m e i -<br />
n e r G e s i n n u n g gern a ß r e g e l t worden, wegen<br />
„anarchistisch-sozialistischer Umtriebe" — so drückt<br />
sich auch ein Staatsanwalt a u s ! — bin Vater einer<br />
fünfköpfigen Familie u n d v e r l a n g e a u s d i e s e m<br />
G r u n d e a u f d i e s e m ö f f e n t l i c h e n W e g e<br />
d i e R ü c k z a h l u n g m e i n e r 176 B e i t r ä g e a n<br />
m i c h , w i d r i g e n f a l l s i c h m e i n e A r b e i t s -<br />
l o s e n u n t e r s t ü t z u n g f o r d e r n w e r d e !<br />
Das sind die Männer, die sich immer als<br />
Volksbefreier, als Vorkämpfer für Freiheit <strong>und</strong><br />
Recht darstellen. Wahrlich, die Christlichsozialen<br />
sind arge Halunken, doch ärgere als diese Sozialdemokraten<br />
parteiischer <strong>und</strong> gewerkschaftlicher Richtung<br />
können sie nicht mehr sein. Aber sie werden<br />
uns gewappnet finden auf der ganzen Linie! Kampf<br />
wider das reaktionäre staatssozialistelnde Gesindel<br />
auf der ganzen Linie — dies soll unsere Befreiung<br />
sein! Anton Duchek, Tischler (Grottau).<br />
Grottau <strong>und</strong> Umgebung.<br />
Die Ortsgruppe der hiesigen F r e i d e n k e r<br />
hält am Ostersonntag den 19. April 1908, 3 Uhr<br />
nachmittags, im Lokal „Zur blauen Donau" ihre<br />
Monatsversammlung ab, die mit einem Vortrag vom<br />
Gen. D u c h e k über „ E i n e R e i s e n a c h t r o -<br />
p i s c h e n Z o n e n u n d d e r e n K u l t u r " eröffnet<br />
wird. Gäste willkommen.<br />
Reichenberg. Sämtliche der böhm. Bruderföderation<br />
angehörenden M ü 11 e r g e h i 1 f e n, die<br />
nach hier reisen, werden aufmerksam gemacht, sich<br />
im Gasthause „Central-Herberg", Friedlandg., Reichenberg,<br />
einzufinden.<br />
Achtung! Die nächste Versammlung der<br />
„Allgemeinen Gewerkschaftsföderation" findet<br />
Ostermontag den 20. April 1908, 6 Uhr a b e n d s ,<br />
V., Einsledlergasse 60, statt.<br />
Das Attentat auf den Statthalter<br />
Galiziens.<br />
Sonntag den 12. d. M. wurde der Statthalter<br />
Galiziens, Graf Andreas Potocki, während der Audienz<br />
von einem Ruthenen, namens M i r o s l a w<br />
S i c z y n s k y , Hörer der Philosophie an der Universität<br />
in Lemberg,, durch drei Browningschüsse<br />
tötlich verw<strong>und</strong>et. Über die politischen Ursachen<br />
<strong>und</strong> politische Bedeutung des Aktes werden wir<br />
in der nächsten Nummer einen besonderen Artikel<br />
bringen. L.
Frederik van Eeden.<br />
Autobiographische Skizze des Dichters.<br />
Ich bin im Jahre 1860 in Haarlem<br />
geboren. Mein Vater besaß zu jener Zeit<br />
unweit Haarlem eine große Gärtnerei, die<br />
er indessen verkaufte, als ich fünf Jahre alt<br />
war, weil kaufmännischer Geist ihm völlig<br />
abging. Er wurde darauf Schriftsteller,<br />
Botaniker <strong>und</strong> Philosoph <strong>und</strong> begründete<br />
in Haarlem das Kolonialmuseum. Meine<br />
Mutter war eine Pfarrerstochter aus Gouda.<br />
Beide von rein holländischer Herkunft.<br />
Im Jahre 1878 begann ich in Amsterdam<br />
Medizin zu studieren. Zwar hatte ich<br />
schon zu jener Zeit starke literarische<br />
Neigungen, namentlich lyrische <strong>und</strong> dramatische,<br />
aber das Naturstudium lockte mich<br />
mehr als die Philologie, <strong>und</strong> die Karriere<br />
des Arztes bot in Holland mehr Chancen<br />
als die des Künstlers. Auch erstrebten meine<br />
Eltern für mich den Doktortitel. Diese<br />
Richtung entsprach meinem innerlichsten<br />
Wunsch, mich wirtschaftlich nützlich zu<br />
machen <strong>und</strong> helfen zu können.<br />
Als Knabe schrieb ich kleine Komödien,<br />
die im Familienkreise aufgeführt wurden.<br />
Das erste bedeutendere Werk war ein<br />
phantastisches Spiel in Versen, das ich als<br />
kaum Zwanzigjähriger verfaßte, <strong>und</strong> in dem<br />
ich die materialistische Wissenschaft verspottete.<br />
Das Stück hieß: » Das R e i c h<br />
d e r W e i s e n « .<br />
Im Jahre 1883 gelangte mein erstes<br />
Bühnenwerk » D a s S o n e t t « in Amsterdam<br />
zur Aufführung. Ich war damals Präses<br />
des Studentenkorps, <strong>und</strong> es wurden mir<br />
warme Ovationen dargebracht. Eine zweite<br />
größere Komödie, ein bedeutenderes Werk<br />
» D a s k l e i n e T o r « wurde seitens der<br />
Direktion zurückgewiesen. Erst dreizehn<br />
Jahre später ist es mit Erfolg aufgeführt<br />
worden. Im Jahre 1886 spielte man ein<br />
zweites Stück »Der S t u d e n t d a h e i m « ,<br />
ein frisches Lustspiel ohne viel Tiefe. Im<br />
Frühjahr desselben Jahres promovierte ich<br />
mit einer Dissertation über »Die künstliche<br />
Ernährung bei der Tuberkulose«. Ich selbst<br />
hatte mir das Thema »Hypnose <strong>und</strong> Sug-<br />
gestion« erwählt, das indessen von meinem<br />
Professor nicht gebilligt wurde.<br />
Ich ließ mich als Arzt in Bussun nieder.<br />
Kurz zuvor hatte ich den ersten Teil<br />
meines Romans : » D e r K l e i n e J o h a n n e s «<br />
vollendet, <strong>und</strong> dieser erschien in der ersten<br />
Nummer des »Nieuwe Gids«, einer Zeitschrift,<br />
die ich mit mehreren anderen jungen<br />
Schriftstellern begründet hatte.<br />
Im Jahre 1887 ging ich nach Nancy<br />
<strong>und</strong> Paris, um mich dort dem Spezialstudium<br />
der Hypnose <strong>und</strong> der Suggestion zu<br />
widmen, <strong>und</strong> noch im nämlichen Jahre richtete<br />
ich mit einem Kollegen, Dr. van Renterghem,<br />
eine Klinik für Psycho-Therapie ein.<br />
Im Jahre 1885 schrieb ich wiederum<br />
eine größere Komödie » D o n T o r r i b i o « ,<br />
in der das Königstum <strong>und</strong> der Sozialismus<br />
einander gegenübergestellt <strong>und</strong> die Volksführer,<br />
die die Wucht von Erfolg <strong>und</strong><br />
Macht nicht zu tragen vermögen, geschildert<br />
werden. Auch diese Komödie wurde<br />
nicht sogleich zur Aufführung angenommen,<br />
sondern erst vierzehn Jahre später<br />
mit Erfolg gespielt.<br />
Im Jahre 1890 erschien der lyrische<br />
Zyklus »Ellen, ein L i e d v o n S c h m e r z « ,<br />
darnach das lyrische Prosawerk » J o h a n -<br />
n e s V i a t o r « (deutsch: » J o h a n n e s d e r<br />
W a n d e r e r « , Blätter der Liebe), das zu<br />
Unrecht als Fortsetzung des »Kleinen Johannes«<br />
angesehen wurde <strong>und</strong> in der Tat<br />
mit dem vorgenannten Werk nur lockere<br />
Zusammenhänge aufweist. Es enthält eine<br />
Reihe von Stimmungsbildern <strong>und</strong> Gedanken,<br />
die das innerlichsteSeelenleben des»Kleinen<br />
Johannes« mit lyrischer Prosa umkleiden.<br />
Die eigentliche Fortsetzung der Erzählung<br />
vom »Kleinen Johannes« erschien in<br />
den Jahren 1904 <strong>und</strong> 1906.<br />
Im Jahre 1895 zog ich ich mich aus<br />
der Amsterdamer Klinik zurück, da diese<br />
meine Kräfte <strong>und</strong> meine Zeit allzusehr<br />
in Anspruch nahm <strong>und</strong> meine dortige<br />
Tätigkeit mich nicht befriedigte. Ich vollendete<br />
in jener Zeit ein großes episch-dramatisches<br />
Werk in Versen: »Die Brüder«<br />
(deutsch: »Der B r u d e r k a m p f « ) . Nachdem<br />
die Theaterdirektionen sich dauernd
geweigert hatten, meine wertvolleren Werke<br />
aufzuführen, verzichtete ich auf jeglichen<br />
Versuch einer Aufführung <strong>und</strong> begnügte<br />
mich damit, die Bühne durch epische, beschreibende<br />
Poesie zu ersetzen. Später<br />
habe ich dann die »Brüder« dennoch für<br />
die Bühne umgearbeitet. Dieses Werk, das<br />
die höchsten Fragen über Gott, Satan <strong>und</strong><br />
die Gerechtigkeit behandelt, erachte ich<br />
selbst als eines meiner bedeutendsten.<br />
Darnach erschien »Lioba«, ein romantisches<br />
Versdrama, das zur Zeit des Mittelalters<br />
spielt, <strong>und</strong> in dem die epischen Intermezzo<br />
der »Brüder« nicht vorkommen.<br />
Beide Werke habe ich zu wiederholten<br />
Malen selbst in Holland vorgetragen.<br />
Zu jener Zeit wurde der Kreis des<br />
»Nieuwe Gids« gesprengt, <strong>und</strong> ich habe<br />
wohl von allen, die ihm seinerzeit angehörten,<br />
am einsamsten weitergearbeitet <strong>und</strong><br />
bin von meinen früheren Mitarbeitern am<br />
heftigsten angefeindet worden.<br />
Gegen Ende des vorigen Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
begann ich mich theoretisch <strong>und</strong> praktisch<br />
mit sozialen Fragen zu befassen. Ich machte<br />
einen Vorschlag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit<br />
vermittelst rationeller Durchführung<br />
des staatlichen Landbaues. Von<br />
der Sozialdemokratie, die damals verschiedene<br />
junge Autoren an sich zog, hielt mich<br />
der dogmatische Marxismus stets zurück.<br />
1898 gründete sich bei Bussum ein Unternehmen,<br />
durch welches die Möglichkeit<br />
eines sozialen Zusammenarbeitens praktisch<br />
erprobt werden sollte. Ich selbst zog mich<br />
völlig von der medizinischen Praxis zurück<br />
<strong>und</strong> beteiligte mich soviel wie möglich an<br />
allen dort vorkommenden Arbeiten.<br />
Im Jahre 1902 gründete ich den Verein<br />
»Gemeinschaftlicher Gr<strong>und</strong>besitz«, der auch<br />
heutigentags noch besteht <strong>und</strong> dauernd<br />
Versuche anstellt, um die Praxis mit den<br />
sozialistischen Theorien in Einklang zu<br />
bringen. Der Verein gibt eine Wochenschrift<br />
»Der Pionier« heraus, die sicherlich viel<br />
dazu beigetragen hat, übertriebene fanatische<br />
Begriffe <strong>und</strong> unpraktische Volksredner-<br />
Theorien in den Kreisen holländischer Arbeiter<br />
zu bekämpfen. Während dieser Periode<br />
soziologischer Arbeit schrieb ich den<br />
Roman »Von den kühlen Wassern des<br />
Todes« (in Deutschland unter dem Titel<br />
»Wie S t ü r m e s e g n e n « erschienen),<br />
einen Band Gedichte »Die l e i d e n s c h a f t s -<br />
l o s e Lilie« <strong>und</strong> mehrere Broschüren <strong>und</strong><br />
Artikel. Auch hielt ich zur Zeit der Arbeiterbewegung<br />
viele Reden <strong>und</strong> Vorträge.<br />
Im Jahre 1903 beteiligte ich mich an<br />
dem großen Eisenbahnerstreik. Um den<br />
Streikenden nach ihrer Niederlage beizu-<br />
stehen, gründete ich in Amsterdam eine<br />
Konsumgenossenschaft »Die Eintracht«, die<br />
anfangs eine gewisse Blüte versprach <strong>und</strong><br />
sechzigtausend Mitglieder zählte, die indessen<br />
nach zwei Jahren durch allzu rasches<br />
Wachstum, Mangel an guten Kräften <strong>und</strong><br />
unbrauchbares Persona! zu einem finanziellen<br />
Ruin führte, der mein ganzes Vermögen<br />
verschlang <strong>und</strong> auch den Sturz der<br />
in Bussum gegründeten Kolonie W a i d e n<br />
nach sich zu ziehen drohte. — Was sich<br />
daraus ergeben wird, läßt sich heutigentages<br />
noch nicht klar übersehen.<br />
Damals hielt ich in Amsterdam <strong>und</strong><br />
Hilversum zehn Vorträge, die ich als »Betrachtungen<br />
über die Menschheit <strong>und</strong> die<br />
Gesamtheit Aller« bezeichnete <strong>und</strong> an die<br />
sich stets eine freie Diskussion anzuschließen<br />
pflegte. Mein Auditorium gehörte den verschiedensten<br />
politischen <strong>und</strong> religiösen<br />
Richtungen an. Aus diesen Vorträgen ist<br />
denn nachträglich das Buch » D i e f r e u -<br />
d i g e W e l t « entstanden.<br />
Zu jener Zeit schrieb ich auch den<br />
zweiten <strong>und</strong> dritten Teil des » K l e i n e n<br />
J o h a n n e s « , während ich mich später,<br />
nachdem sich mir im Winter des Jahres<br />
1905 gelegentlich eines ersten Aufenthaltes<br />
in Berlin die Möglichkeit vollendeter Theateraufführungen<br />
offenbart hatte, vornehmlich<br />
auf dramatische Arbeiten verlegte. Nach<br />
jenem Winter schrieb ich fünf Bühnenwerke,<br />
von denen eines, » M i n n e s t r a h l « , ein<br />
Versdrama in Buchform erschien, während<br />
ein zweites, » Y s b r a n d « , eine Tragikomödie,<br />
vom »Neederlandsch Tooneel«<br />
in Amsterdam zur Aufführung angenommen<br />
wurde. Die übrigen sind noch ungedruckt.<br />
Alle diese Werke sind Dramen oder Tragikomödien,<br />
die im modernen Leben spielen<br />
<strong>und</strong> die aktuellsten Lebensfragen umfassen.<br />
Außer den genannten Werken schrieb ich<br />
noch, abgesehen von einigen medizinischen<br />
<strong>und</strong> psychologischen Aufsätzen vier Bände<br />
S t u d i e n über Kunst, Literatur, Psychologie<br />
<strong>und</strong> Soziologie. Darunter auch eine philosophische<br />
Abhandlung »Die G r u n d l a g e<br />
d e r w e c h s e l s e i t i g e n B e z i e h u n g e n «<br />
in streng logisch-dialektischer Form.<br />
Ferner erschienen aus meiner Feder:<br />
ein didaktisch - philosophisches Gedicht<br />
» Das L i e d v o n S c h e i n u n d W e s e n « ,<br />
an dessen zweitem Teil ich noch arbeite.<br />
Bis zum Eintritt der oben genannten<br />
finanziellen Katastrophe wohnte ich selbst in<br />
Waiden bei Bussum. Ob ich mein Domizil<br />
dort werde erhalten können, ist noch fraglich.<br />
Auf Wunsch meiner deutschen Verehrer<br />
geschrieben im Januar 1908.<br />
Frederik van Eeden.
Humanität im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />
Aus „Die T a g e von Casablanca" von M. Bourdon.<br />
(5. <strong>und</strong> 6. August 1907.)<br />
. . . Die Einwohnerschaft von C a s a -<br />
b I a n k a hatte sich nach dem Osten der<br />
Stadt, in das Araberviertel, auf einen großen<br />
Platz geflüchtet. Die Araberstämme, die<br />
gleichzeitig mit den Franzosen in die Stadt<br />
eingebrochen waren, um sich an der Plünderung<br />
zu beteiligen, suchten sich nunmehr<br />
aus dem Bereiche der französischen Marinegeschütze<br />
zu bringen <strong>und</strong> zogen sich auch<br />
in das Araberviertel zurück. Doch von dem<br />
Kriegsschiff »Gloire« aus wurden die Flüchtlinge<br />
auf dem Platze bald bemerkt <strong>und</strong><br />
sofort begannen die Schiffsgeschütze zu<br />
spielen. Die Dynamitgeschosse hagelten in<br />
die zusammengedrängte Volksmenge hinein<br />
<strong>und</strong> richteten ein so grausames Blutbad an,<br />
daß sich die Feder sträubt, eine Beschreibung<br />
davon zu geben. . . .<br />
Ich sehe noch diesen Araber vor mir,<br />
dem vom Gesicht nur noch die verstümmelte<br />
verzerrte M<strong>und</strong>öffnung übrig blieb,<br />
da ein Geschoßsplitter dreiviertel des<br />
Kopfes abriß. Ich sehe noch die schwangere<br />
Frau, die hier im Todesschrecken gebärt<br />
<strong>und</strong> mit dem Kopf vornüber gestürzt, mit<br />
zusammengekrümmten Knieen, dem entsetzten<br />
Zuschauer einen entblößten, klaffenden<br />
Rücken zuwendet, während sie in den Todeszuckungen<br />
das zum Tode geborene<br />
Kind an die gequälte Brust drückt. Ich sehe<br />
die aufgerissenen Pferdeleiber, die im Todessturze<br />
ihre Reiter unter ihre Eingeweide<br />
begruben. Alles das in einem so grausigen,<br />
unentwirrbaren Knäuel, daß die dämonischesten<br />
Kompositionen eines Schlachtenmalers<br />
die gräßlichsten Bilder der Apokalypse nicht<br />
annähernd der Wirklichkeit gleichen. Tiere,<br />
Männer, Frauen im gräßlichsten Durcheinander,<br />
mit den greulichsten Todesmasken,<br />
mit Riesenleibern, die durch die Leichengase<br />
in der Sonnenglut aufgedunsen <strong>und</strong><br />
unförmig aufgespannt einen pestilenzialischen<br />
Aasgestank verbreiten <strong>und</strong> Wolken<br />
von Aasfliegen erzeugen.<br />
Hier war ich noch gestern hinausgegangen,<br />
um dem melodischen Spielen der<br />
Wellen am Felsengestade zu lauschen —<br />
welch ein Gegensatz heute!<br />
Schamlos entblößt liegt vor mir eine<br />
junge Frau mit halbzurückgeschlagenem<br />
Schleier vor einem Gesicht, das mir halb<br />
zugewandt ist. Es ist kaum noch Leben in<br />
diesen feingemeißelten, nun blutleeren Gesichtszügen,<br />
die dem Tode schon sichtlich<br />
anheimgefallen sind. Die zarte Samthaut<br />
braun abgetönt, wie altes Elfenbein glänzend;<br />
zwei große dunkle Augen unter hochgewölbten<br />
Brauen noch im letzten Funken<br />
des Lebens erzitternd <strong>und</strong> scheinbar auf<br />
mich gerichtet — so liegt sie vor mir auf<br />
dem einen Arm, während der andere auf<br />
dem Ellbogen gestützt, vor dem Gesicht<br />
automatisch die starrgewordene Hand bewegt.<br />
Ob sie mich sieht? Ob die Augen<br />
zu mir reden wollen? Denn der M<strong>und</strong><br />
bleibt stumm, obwohl er offen, starr offen<br />
steht <strong>und</strong> von den schmalen zart-rosa gefärbten<br />
Lippen besäumt, ein blendend weißes<br />
prächtiges Gebiß bloßlegt. Schön, begehrenswert<br />
muß diese junge Marokkanerin<br />
gewesen sein, wie zur Liebe war sie<br />
geschaffen!<br />
Nun liegt sie da, ein mageres Skelett,<br />
dessen Haut allmählich zu Pergament zusammenschrumpft<br />
<strong>und</strong> dessen letzte Lebenszeichen<br />
die langsame Bewegung einer<br />
schon verknöcherten Hand <strong>und</strong> das<br />
dunkle Leuchten hinter halbgeschlossenem<br />
Lide sind.<br />
Und das Entsetzlichste bleibt mir noch<br />
zu sagen.<br />
Auf diesen hilflosen Körper haben sich<br />
die Fliegen gestürzt, die widerlichen Aasfliegen,<br />
die sich auf dem Leichenfelde an<br />
dem Eiter der Verwesung satt saugen, die<br />
keine Stelle, keine Falte, keine noch so<br />
zarte Stelle des entblößten Körpers in ihrer<br />
ekelhaften Suche verschonen. Sie füllen die<br />
Augenhöhlen aus, sie kriechen, die Lippen<br />
entlang <strong>und</strong> in die dunkle Öffnung des<br />
grausig offenen M<strong>und</strong>es hinein; sie suchen<br />
Leicheneiter, sie suchen Kadavergeruch, sie<br />
spüren den Tod, der in diesen Körper einzieht.<br />
Und die Unglückliche hat schon keine<br />
Kraft mehr, sie fortzuscheuchen. . . .<br />
Sie ist auch verw<strong>und</strong>et. Wohl ist die<br />
Todesw<strong>und</strong>e nicht sichtbar, doch weist darauf<br />
ein Blutstreifen am Stoff, der über die<br />
Schulter hängt — eine Kugel oder ein<br />
Schrapnell ist hier eingedrungen — <strong>und</strong><br />
langsam stirbt hier unter dem majestätischen<br />
Sonnenfirmament ein liebreizendes Wesen<br />
hin, des Obdachs, des Gatten, des Lebens<br />
beraubt. — — — — — — — — — — — —<br />
Zwei Jahrtausende sind es bald her,<br />
daß ein Galliläer wegen seiner fanatischen<br />
Nächstenliebe gekreuzigt worden sein soll.<br />
Das war eine rohe Zeit. Jetzt tauft man moderne<br />
Kriegsschiffe nach diesem Namen,<br />
»Le G a l l i l e e « heißt das Schiff, das am<br />
5. August 1907 Casablanca beschoß <strong>und</strong><br />
Frankreich — der vorgeschrittensten Nation<br />
der Welt — gehört dieser traurige Ruhm.<br />
Das ist die moderne Zivilisation.
Eine Reminiscenz an Gaetano<br />
Bresci.<br />
Die Ermordung des Königs <strong>und</strong> des<br />
Kronprinzen von Portugal ruft mir einen<br />
dramatischen Vorfall ins Gedächtnis, der<br />
hier in New-York vor acht Jahren stattfand<br />
<strong>und</strong> dem Tode Umbertos von Italien vorauseilte.<br />
Ich war ersucht worden, in einem italienischen<br />
Befreiungsverein eine Rede zu<br />
halten. Es war schon Ende Juni oder Anfang<br />
Juli <strong>und</strong> ein Gedenktag italienischer<br />
Patrioten, doch wem der Tag galt, dessen<br />
kann ich mich nicht mehr erinnern.* Nachmittags<br />
fuhr ich mit einem Komitee nach<br />
dem Washington-Platz, um vor dem Garibaldidenkmal<br />
einen Kranz niederzulegen,<br />
<strong>und</strong> dann nach dem Centrai-Park, um<br />
gleicherweise die Statue Mazzini's zu<br />
schmücken.<br />
Dann begaben wir uns nach dem Lokal,<br />
wo das Festmahl <strong>und</strong> die Reden stattfinden<br />
sollten, einem bescheidenen, kleinen<br />
Restaurant in der West Houston Straße,<br />
mitten im Italienerviertel gelegen.<br />
Vorn war der Weinausschank, im Hintergr<strong>und</strong>e<br />
eine Anzahl kleiner Tische für<br />
die Besucher <strong>und</strong> ein einzelner langer für<br />
das Komitee.<br />
Alle Anwesenden außer mir waren<br />
Italiener <strong>und</strong> als beim Nachtisch die Reden<br />
anfingen, war ich der einzige, der englisch<br />
sprach.<br />
Das Programm wickelte sich ordnungsmäßig<br />
ab, <strong>und</strong> es hatten schon mehrere Reden<br />
stattgef<strong>und</strong>en, als sich ein junger Mann,<br />
der an einem der r<strong>und</strong>en Tische saß, erhob<br />
<strong>und</strong> höflich sich zum Worte meldete.<br />
Er war schlank — fast mager zu nennen,<br />
von mittlerem Wüchse, in seinem Antlitz<br />
leuchteten dunkle, lebhafte, scharfe<br />
Augen. Er hatte vorher, wie mir schien,<br />
seinen Zigaretten mehr Aufmerksamkeit geschenkt<br />
als unseren Reden. Doch jetzt war<br />
er vollkommen verwandelt.<br />
Als der Vorsitzende zögerte <strong>und</strong> ihn<br />
nach seinem Namen fragte, antwortete der<br />
junge Mann: »Bresci.« Scheinbar widerstrebend<br />
gab ihm der Vorsitzende das Wort.<br />
Was darauf geschah, kann ich zu meinen<br />
dramatischesten Erlebnissen zählen.<br />
Die üblichen einleitenden Worte übergehend,<br />
begann Bresci in einer Weise zu<br />
reden, die alle Anwesende faszinierte;<br />
selbst ich, der ich nicht verstehen konnte,<br />
* Es war der hochpatriotische Festtag der<br />
Wiedervereinigung Italiens, der Einsetzung des Savoyschen<br />
Herrscherhauses zu Rom durch den<br />
„General" Garibaldi. A. d. Ü.<br />
w a s er sprach, fühlte mich mitgezogen durch<br />
das gedämpfte Feuer, das aus seinen Worten<br />
sprach, durch seine sprühenden Blicke,<br />
durch das heftige Mienenspiel <strong>und</strong> den<br />
Klang seiner Worte, die ihm wie einem<br />
heißen Quell entsprudelten.<br />
Was er sprach, brachte alles auf die<br />
Beine. Zwischenrufe wurden wiederholt<br />
laut; der Vorsitzende sprang auf <strong>und</strong> klopfte<br />
auf den Tisch, um Bresci am Weitersprechen<br />
zu hindern.<br />
Doch Bresci wollte oder konnte nicht<br />
einhalten. Seine Stimme wurde schriller.<br />
Noch einen Augenblick, <strong>und</strong> ein allgemeiner<br />
Entrüstungssturm brach los. Mit unglaublicher<br />
Geschwindigkeit wurde die Versammlung<br />
aufgehoben, <strong>und</strong> ich fand mich<br />
draußen mit dem Hut in der Hand <strong>und</strong><br />
einem Komiteemitglied neben mir, das mir<br />
in einem Gemisch von Englisch <strong>und</strong> Italienisch<br />
zu verstehen gab, was vorgefallen war.<br />
Mit Mühe gelang es mir, herauszubringen,<br />
daß Bresci gesagt habe, für die italienische<br />
Freiheit sei nichts zu erwarten ohne<br />
die Darbringung persönlicher Opfer; daß<br />
derjenige, der Italien Freiheit bringen wolle,<br />
bereit sein müsse, dabei zu sterben; daß<br />
der <strong>Weg</strong> zur Freiheit nur über den Körper<br />
des Tyrannen zu Rom führe.<br />
Bresci kam nicht weiter. Man hielt ihn<br />
für einen Spion im Solde der italienischen<br />
Regierung, der die wildesten Reden halte,<br />
um das Vertrauen revolutionärer Kreise zu<br />
gewinnen <strong>und</strong> deren Geheimnisse zu erfahren.<br />
Die Anwesenden waren entsetzt<br />
<strong>und</strong> empört. Sie hielten sich nunmehr für<br />
verdächtige Leute <strong>und</strong> flohen den Platz.—<br />
Wenige Wochen nach diesem Vorfall —<br />
am 29. Juli 1900 — flog die Nachricht<br />
durch die Welt, daß König Umberto von<br />
Italien in Monza erschossen wäre. Es<br />
war die Tat eines Revolutionärs. Es war<br />
die Tat Bresci's.<br />
Es war jener Bresci aus dem kleinen<br />
Weinlokal von Houston Street. Er hatte gehandelt,<br />
so wie er gesprochen hatte —<br />
ganz allein, ohne Beifall, verdächtigt <strong>und</strong><br />
gemieden. So wie er sich den <strong>Weg</strong> der<br />
italienischen Freiheit gedacht hatte, so war<br />
er ihn gegangen — trotz Henker <strong>und</strong><br />
Blutgerüst!<br />
Henry Georgejun*<br />
Aus der „Cincinnati Post" v. 15./2. 1908.<br />
* Verfasser obigen Aufsatzes ist der Sohn des<br />
berühmten Bodenreformers Henry George sen., dessen<br />
Werk „Fortschritt <strong>und</strong> Armut" zu den wertvollen<br />
Büchern der sozialen Frage gehört; ganz abgesehen<br />
von dessen religiösen Verschnörkelungen.<br />
D. R.
Hut dort schwenken <strong>und</strong> den begeisterten<br />
Toast ausbringen: » H o c h l e b e d i e rev<br />
o l u t i o n ä r e S o z i a l d e m o k r a t i e ! «<br />
E. H.<br />
Licht <strong>und</strong> Schatten.<br />
Wäre das bloße Aussprechen der Wahrheit<br />
schon an <strong>und</strong> für sich ein Akt der<br />
Besserung, so würden uns die nachfolgenden<br />
Zeilen hoch erfreuen. Leider aber ist<br />
Aussprechen der Wahrheit noch lange<br />
nicht gleich mit Betätigung der Wahrheit,<br />
<strong>und</strong> so ist wohl mit Recht anzunehmen,<br />
daß die Lehre, die aus nachfolgendem<br />
Zitat zu ziehen ist, an den meisten derjenigen,<br />
die sie hauptsächlich angeht <strong>und</strong><br />
angehen sollte, spurlos vorübergehen wird.<br />
Sagt da der R e c h e n s c h a f t s b e r i c h t der<br />
österreichischen Gewerkschaftskommission<br />
für das Jahr 1907 das Folgende:<br />
„Im ersten Halbjahr war das gesamte Denken<br />
<strong>und</strong> Fühlen der Massen auf die Wahlbewegung<br />
gerichtet. Alle Kräfte der politischen <strong>und</strong> gewerkschaftlichen<br />
Organisationen wurden absorbiert <strong>und</strong><br />
für den W a h l k a m p f k o n z e n t r i e r t . Und als der<br />
herrliche Sieg der Sozialdemokratie in Österreich<br />
erfochten war, trat naturgemäß eine Erschlaffung<br />
der Agitationskräfte ein, wodurch die gewerkschaftliche<br />
Arbeit zurückblieb. Sie setzte erst wieder<br />
fühlbar ein, als die Krise bereits ihre Schatten<br />
vorauswarf."<br />
Dieses Neueinsetzen der »gewerkschaftlichen<br />
Arbeit« hat nur relative Früchte gezeitigt.<br />
Österreich hat angeblich r<strong>und</strong> 500.000<br />
organisierte Proletarier. Leider aber wird<br />
bei uns die Organisation hauptsächlich als<br />
eine Mitgliedsbeitragsfrage aufgefaßt. Sämtliche<br />
Führer wissen es, daß diese ganzen<br />
Organisationen keiner einzigen brutalen<br />
Machtprobe des Unternehmertums gewachsen<br />
wären, dieses sich nur deshalb eine<br />
solche nicht leistet, weil die Gewerkschaften<br />
genug zahm von ihren sozialdemokratischen<br />
Führern im Zaume gehalten werden.<br />
Unlängst fragte die hiesige »Arbeiterzeitung«<br />
einen Christlichsozialen ganz verw<strong>und</strong>ert,<br />
was denn das eigentlich sei, e i n e<br />
nur w i r t s c h a f t l i c h e O r g a n i s a t i o n ?<br />
Ein Christlichsozialer kann ihr natürlich<br />
darauf keine Antwort geben. Wir aber<br />
wollen ihr eine unzweideutige Antwort<br />
erteilen:<br />
Eine nur wirtschaftliche Organisation<br />
ist eine solche, bei der ob der »herrlichen<br />
Siege« einer offiziellen Sozialdemokratie<br />
oder einer nichtoffiziellen, segelnd unter<br />
der Fahne des »Freisozialismus«, k e i n e<br />
»Erschlaffung der Agitationskräfte« eintreten<br />
kann, da das auf nur wirtschaftlichem Boden<br />
organisierte Proletariat allen politischen<br />
Parteien ohne Ausnahme den Rücken gekehrt,<br />
die Politiker verächtlich abgeschüttelt<br />
hat <strong>und</strong>, sich stützend auf seine eigene<br />
wirtschaftliche Organisationskraft, seine momentan<br />
dringlichen <strong>und</strong> weiteren sozialen<br />
Kulturaufgaben bis zur endgültigen wirtschaftlichen<br />
Emanzipation löst <strong>und</strong> erkämpft!<br />
*<br />
In der vorliegenden Nummer der sozialdemokratischen<br />
Monatsschrift »Der Kampf«<br />
unternimmt es Herr Dr. Renner, u. a. auch<br />
beruflicher Diätenempfänger, also Parlamentarier,<br />
den Anarchismus zu demolieren.<br />
Wie weit ihm dies gelungen ist, wird man<br />
am besten aus der Zerknirschung ersehen<br />
können, die aus unseren Zeilen spricht.<br />
Bis zu einem gewissen Grade ist uns die<br />
Darlegung des Herrn Renner's, die den<br />
Anarchismus mit demselben Verständnis<br />
behandelt, wie etwa Herr Bielohlawek unlängst<br />
den sozialdemokratischen Zukunftsstaat,<br />
sehr angenehm. Abgesehen von der<br />
bedauerlichen Verwirrung, die sie in manchen<br />
Köpfen sozialdemokratischer Arbeiter<br />
anrichtet oder aufrecht erhält, gibt sie<br />
wenigstens definitiv d e n Standpunkt auf,<br />
den die ältere sozialistische Literatur v o r<br />
der Broschüre des Charlatans Plechanow<br />
stets strikt gewahrt wissen wollte: nämlich<br />
die Auffassung, daß auch Demokratie nichts<br />
als Freiheit sei <strong>und</strong> in logischer Entwicklung<br />
aus sich heraus zum Föderalismus,<br />
somit zum Anarchismus geleiten müsse.<br />
Für Herrn Renner ist das Ideal — die<br />
D i s z i p l i n , die Autorität, wobei er von<br />
der ja allerdings nur für ein Juristengehirn<br />
begreiflichen Vorstellung ausgeht, daß es<br />
in jedem Arbeitsverband eine Herrschaftsinstitution<br />
geben müsse, der sich die übrigen,<br />
weil nicht so fähig wie die Befehlenden,<br />
unterwerfen m ü s s e n ! Dies setzt voraus,<br />
daß mit Ausnahme der »Verbandsorgane«<br />
alle übrigen Mitglieder des Verbandes Automaten<br />
sind. Bemerken wollen wir auch<br />
noch, daß der Artikel von Entstellungen,<br />
Verdrehungen <strong>und</strong> oftmals direkten Fälschungen<br />
wimmelt, die freilich durch die<br />
generelle, anmaßende Unwissenheit des<br />
Verfassers auf dem Gebiete, das er behandelt,<br />
verzeihlich werden. Köstlich ist nur,<br />
wenn Renner an die Arbeiterschaft appelliert,<br />
»die v o m A r b e i t e n e t w a s w e i ß « ; z u<br />
dieser gehört er doch sicherlich nicht. Aus<br />
dem ganzen Artikel spricht die Herrschsucht<br />
der bürgerlichen Impotenz, der bourgeoisen<br />
Gemeinheit, die sich zum Herrschen berufen<br />
fühlt. Zum Schlüsse widmen wir<br />
diesem Parlamentsgaukler diejenigen Worte,<br />
die er selbst geschrieben hat <strong>und</strong> die ihn,<br />
wie seine Logik <strong>und</strong> Denkungsart am<br />
besten charakterisieren: » U n d a l s k l u g e r<br />
M a n n z i e h t e r z u m S c h l ü s s e d i e<br />
B i l a n z : h ä l t d e r A n t e i l , d e n i c h<br />
b e k o m m e n , d e r M ü h e , d i e i c h g e -<br />
h a b t , d i e W a g e ? «<br />
*<br />
Ein weiterer Artikel in derselben Nummer<br />
behandelt die syndikalistische <strong>und</strong> Gewerkschaftstaktik;<br />
er hat Herrn Adolf Braun,<br />
der ganz wie Renner es nicht wagt, mit<br />
einem Anarchisten öffentlich zu diskutieren,<br />
zum Verfasser. Wenigstens eines hat d i e s e r<br />
Artikel für sich, das Anerkennung verdient:<br />
mit Ausnahme einiger unerheblicher Unrichtigkeiten<br />
ist der Standpunkt des Syndikalismus<br />
nicht gefälscht gegeben.<br />
Was nun die Entwicklung der eigenen<br />
Anschauung anbetrifft, so wird Braun<br />
schwerlich auch nur einem revolutionären<br />
Sozialisten aus der Seele gesprochen haben.<br />
Aber wenn es zur revolutionären Taktik<br />
des Proletariats kommt, dann werden selbst<br />
die frommsten Marxisten Bernsteinianer <strong>und</strong><br />
Revisionisten. Interessant ist jedenfalls, daß<br />
in Frankreich die geeinte Partei <strong>und</strong> diverse<br />
hervorragende Sozialdemokraten u. a. Lagardelle<br />
— ein begeisterter Anhänger Marx'<br />
— sich für den Syndikalismus erklärt haben,<br />
weil sie den Bankerott der parlamentarischen<br />
Taktik erkannten, weil sie sahen, daß wenn<br />
sie nicht m i t den Syndikalisten gehen, der<br />
revolutionäre Sozialismus sie zur Seite<br />
schleudern würde.<br />
Wenn der Parlamentarismus für das<br />
Proletariat auch nur den geringsten d e r<br />
Vorteile erzielt haben wird, den die revolutionäre<br />
Gewerkschaftsbewegung — d i e s<br />
ist d e r S y n d i k a l i s m u s u n d gegen diese<br />
r e v o l u t i o n ä r e Gewerkschaftsbewegung<br />
erklären sich die Sozialdemokraten ä la<br />
Braun! — für das Proletariat bereits errungen<br />
hat, dann wird es ihm vielleicht<br />
möglich sein, mit logischen Argumenten<br />
gegen den Syndikalismus anzukämpfen.<br />
Früher nicht — <strong>und</strong> Brauns Artikel ist<br />
eigentlich nichts anderes als die blasse<br />
Furcht, die aus den Politikern spricht, wenn<br />
sie den wahren Klassenkampf des Proletariats<br />
vor sich aufsteigen sehen: »Um<br />
H i m m e l s W i l l e n , w a s s o l l a u s u n s<br />
P o l i t i k e r n w e r d e n , w e n n d a s P r o -<br />
l e t a r i a t s e i n e n K a m p f s e l b s t ä n d i g<br />
u n d k l a s s e n b e w u ß t , o h n e p o l i t i s c h e<br />
K o m p r o m i s s e , f ü h r e n will!«<br />
Staat, Religion <strong>und</strong> Lämmerherden.<br />
Daß Gott im Deutschen Reiche<br />
sehr viel verhöhnt wird, ist zwar gewiß,<br />
aber die Sozialdemokratie tut es<br />
nicht. S i e l ä ß t j e d e n n a c h s e i n e r<br />
F a s s o n s e l i g w e r d e n , w i e i h r<br />
P r i n z i p : R e l i g i o n ist P r i v a t s a c h e ,<br />
b e w e i s t . Jene, die Gott verhöhnen, sind<br />
nur in den Reihen der Gutgesinnten zu<br />
suchen.<br />
(Berliner Vorwärts, 4. April 1908.)<br />
Wir gehören nicht zu jenen, denen<br />
die Broschüre des bekannten Innsbrucker<br />
Professors Dr. Ludwig Wahrm<strong>und</strong> über<br />
katholische Weltanschauung <strong>und</strong> freie<br />
Wissenschaft, die in den letzten Wochen<br />
in klerikalen wie halbfreiheitlichen Kreisen<br />
so großen Staub aufgewirbelt hat, besonders<br />
zusagt. Einfach deshalb nicht, weil<br />
sie, entgegen zu dem, was die idiotisierende<br />
christlichsoziale <strong>und</strong> klerikal-reaktionäre<br />
Presse über sie sagt, nicht nur k e i n e Profanation<br />
der Religion <strong>und</strong> des Gottesglaubens<br />
ist, nicht nur k e i n e Herabwürdigung<br />
der katholischen Kirche bildet,<br />
sondern in der Tat eine R e t t u n g der<br />
beiden, eine Reinigung von mit allem Rost<br />
des Unsinns bedeckten Irranschauungen<br />
anstrebt <strong>und</strong> somit der Versuch ist, die<br />
katholische Religion, den Kirchenglauben<br />
überhaupt mit dem Geiste der Modernität<br />
zu versöhnen, etwa in Einklang zu bringen.<br />
In diesem Sinne ist der Versuch des<br />
Professor Wahrm<strong>und</strong> etwas durchaus Reaktionäres<br />
für jeden Atheisten, für jeden, der,<br />
um mit Laplace zu sprechen, in seinem<br />
Weltanschauungsbilde den Gottesbegriff<br />
einfach nicht mehr benötigt. Dies ist der<br />
Fall mit jedem Anarchisten, der, um sich<br />
überhaupt eine herrschaftslose Gesellschaft<br />
gedanklich vorstellen zu können, sich vom<br />
Glauben an jede übermenschliche, übersinnliche<br />
Macht <strong>und</strong> Gottheit irgend einer<br />
Theologie befreit haben muß.<br />
Was nun insbesondere die Methode<br />
Wahrm<strong>und</strong>s anlangt, so wissen wir, daß<br />
sie nicht neu ist <strong>und</strong> stets u n f r u c h t b a r<br />
blieb in der Bekämpfung der Religion, da<br />
sie den Zentralpunkt des Ganzen — das<br />
Wesen eines übersinnlichen Gottes —<br />
n i c h t leugnete, sondern nur die um dieses<br />
Wesen sich gruppierenden Anschauungen<br />
in ihren lächerlichen Auswüchsen kritisierte,<br />
auf diese Weise ein g e l ä u t e r t e s K i r -<br />
chen christentum darbieten wollend. So<br />
etwas kann es aber niemals geben, das hat<br />
der große englische Religionskritiker <strong>und</strong><br />
Gelehrte J o h n W i l l i a m D r a p e r in seinem<br />
Werke über die » G e s c h i c h t e d e r<br />
K o n f l i k t e z w i s c h e n R e l i g i o n u n d<br />
W i s s e n s c h a f t « unleugbar bewiesen. Wir<br />
glauben sehr wohl, daß es ein geläutertes<br />
Christentum im Sinne des Anarchisten L e o<br />
T o l s t o i , oder im Sinne eines seiner<br />
begabtesten Jünger, des Philosophen E u g e n<br />
H e i n r i c h S c h m i t t , der gleichfalls erklärter<br />
Anarchist, geben kann; aber in der<br />
Auffassung d i e s e s Christentums haben<br />
die Begriffe einer vergeltenden <strong>und</strong> herrschenden,<br />
persönlichen <strong>und</strong> sinnlich dennoch<br />
nicht wahrnehmbaren Gottheit, sämtliche<br />
theologische Gr<strong>und</strong>sätze der Kirche,<br />
wie diese selbst, k e i n e n R a u m mehr.<br />
Ein geläutertes, mit dem ethischen Geiste<br />
des modernen Strebens nach Selbstbefreiung<br />
<strong>und</strong> Befreiung von allen gesellschaftlichen<br />
Gewalts- <strong>und</strong> Ausbeutungsinstitutionen in<br />
Einklang befindliches K i r c h e n c h r i s t e n t u m<br />
kann es aber n i e m a l s geben, <strong>und</strong> das ist<br />
der große Irrtum Wahrm<strong>und</strong>s, dies versucht<br />
zu haben, <strong>und</strong> darin ist auch die große<br />
Oberflächlichkeit seiner n u r rationalistischen<br />
Kritik gelegen, die eben nicht vom Atheismus<br />
ausgeht <strong>und</strong> in ihm gipfelt, sein müßte.<br />
Dennoch freut uns der geistige Sieg,<br />
den Wahrm<strong>und</strong> zum Teil über die Konfis-
kation der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> über diese<br />
selbst erfocht, als die Verhandlung über<br />
seinen Einspruch wider jene stattfand. Und<br />
da äußerte er in seiner Verteidigung einige<br />
Worte, die dem sonstigen Inhalt seiner<br />
Broschüre wesentlich überlegen waren <strong>und</strong><br />
unzweifelhaft der tiefen Gefühlsleidenschaft<br />
des Gelehrten vor Gericht entsprangen.<br />
Den Arbeitern können diese Worte gar<br />
nicht genügend eingeschärft werden; sie<br />
präzisieren in einzelnen Punkten den Standpunkt,<br />
den das revolutionär empfindende<br />
Proletariat der Religion gegenüber einnimmt.<br />
Wahrm<strong>und</strong> äußerte sich u. a., wie folgt:<br />
„Die großen Massen sind für den Staat <strong>und</strong><br />
die Kirche das Entscheidende. Der Staat wird deshalb<br />
darauf verwiesen, daß L ä m m e r h e r d e n am<br />
leichtesten zu führen sind, <strong>und</strong> den Gebildeten sagt<br />
man, daß man dem Volke die Religion nicht nehmen<br />
dürfe. Man vergißt dabei, daß sich der Staat heute<br />
nicht mehr gegen die anderen Staaten hermetisch<br />
abschließen kann; daß jeder Staat, der sich durch<br />
Verringerung des Bildungsniveaus aus dem Kulturleben<br />
ausschließt, rettungslos verloren ist. Und von<br />
welchem Egoismus zeugt es, die Enterbten auf die<br />
Religion zu verweisen <strong>und</strong> zu sagen: „Ich halt'<br />
mich nicht daran, für d i e a r m e n T e u f e l ist es<br />
a b e r g u t ! " Nun gibt es aber Menschen, die nicht<br />
heucheln wollen, dann solche, die es nicht dürfen,<br />
in allen Kreisen, auch in der Kirche, die Modernisten.<br />
Diesen Konflikt will Rom nicht Uberzeugend lösen,<br />
sondern gewaltsam niederschlagen. So bilden Ultramontanismus<br />
<strong>und</strong> moderne Universitäten die denkbar<br />
schärfsten Gegensätze, deren Aneinanderprallen<br />
auch oft im tiefsten Frieden nicht zu vermeiden ist."<br />
Mit Gewalt will die Kirche den Gedankenflug<br />
freien Denkens niederhalten.<br />
Es soll ihr dies nicht gelingen. Ihrer brutalen,<br />
mit Staatsanwälten arbeitenden Gewalt<br />
setzen wir die überzeugendste <strong>und</strong><br />
unerschütterliche Gewalt der Aufklärung<br />
entgegen, die dem sozialistischen <strong>und</strong> gereift<br />
denkenden Proletarier entgegenruft:<br />
»Die Religion ist k e i n e Privatsache; nur<br />
mit dem Sturze jeder Kirchendogmatik bricht<br />
der Tag des Lichtes <strong>und</strong> der Freiheit an.<br />
Wir revolutionäre Sozialisten haben den<br />
Anfang zu machen <strong>und</strong> zu sagen: Der<br />
Gr<strong>und</strong>stein unserer Weltanschauung beruht<br />
auf der geistigen Befreiung des Individuums<br />
von jedwedem religiösen Mystizismus!<br />
Offizielles Protokoll<br />
des Internationalen Antimilitaristischen<br />
Kongresses<br />
gehalten zu Amsterdam, am 30.— 31. August<br />
1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />
des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />
m e r h o r n .<br />
(Fortsetzung.)<br />
Z w e i t e r T a g .<br />
In der öffentlichen Vormittags-Sitzung<br />
wird zuerst die innere Organisation der<br />
Internationalen Antimilitaristischen Vereinigung<br />
erörtert.<br />
Einige Redner weisen darauf hin, daß<br />
die Internationale Antimilitaristische Vereinigung<br />
eigentlich nur dem Namen nach besteht,<br />
da außer Holland, Frankreich <strong>und</strong><br />
Schweden nirgends eine kräftige besondere<br />
antimilitaristische Organisation existiert.<br />
Die Delegierten von Schweden, Italien<br />
<strong>und</strong> Frankreich erklären sich gegen eine<br />
s e l b s t s t ä n d i g e antimilitaristische Bewegung,<br />
da in ihren Ländern der Kampf gegen<br />
den Militarismus nur im Zusammenhang<br />
mit der allgemeinen revolutionären<br />
Bewegung gegen die bestehende Gesellschaftsordnung<br />
geführt wird <strong>und</strong> nur so<br />
geführt werden kann.<br />
Nach einer lebhaften Diskussion wird<br />
beschlossen, daß das Internationale Komitee<br />
der Internationalen Antimilitaristischen Vereinigung<br />
aus zwei Mitgliedern, einem aus<br />
Holland <strong>und</strong> einem aus Frankreich, bestehen<br />
soll, <strong>und</strong> daß die übrigen Länder je einen<br />
Korrespondenten wählen, die mit dem Internationalen<br />
Komitee in ständiger Verbindung<br />
stehen.—<br />
Auf den Antrag von D e v e n t e r (Holland)<br />
beschließt der Kongreß, daß die ein-<br />
zelnen Gruppen einen den Umständen angemessenen<br />
monatlichen Betrag an die internationale<br />
Kommission für die Zwecke<br />
der Propaganda zahlen sollen, statt den bisbisher<br />
festgesetzten monatlichen: 5 Heller<br />
per Mitglied. —<br />
Die Anträge von S t a r g a r d , zur Herausgabe<br />
einer guten kurzgefaßten antimilitaristischen<br />
Broschüre in verschiedenen<br />
Sprachen, sowie der von B u d a p e s t , zur<br />
Vorbereitung einer internationalen antimilitaristischen<br />
K<strong>und</strong>gebung <strong>und</strong> Herausgabe<br />
eines Manifestes bei Anlaß der Rekrutenaushebungen<br />
— werden dem Internationalen<br />
Komitee zur Verwirklichung überwiesen.<br />
Hiernach werden in g e s c h l o s s e n e r<br />
S i t z u n g diejenigen Fragen behandelt, welche<br />
man nicht öffentlich besprechen kann.<br />
Beschlossen, den Bericht über diese<br />
Verhandlungen nicht zu veröffentlichen.<br />
Die öffentliche Nachmittagssitzung wird<br />
mit der Besprechung des folgenden Antrages<br />
von S c h w e d e n eröffnet:<br />
»Vom internationalen sozialistischen Standpunkt<br />
gesehen ist jede auf die Fortdauer<br />
<strong>und</strong> die Entwicklung des Militarismus<br />
bezügliche Arbeit entschieden verwerflich.<br />
Dies sei das F<strong>und</strong>ament der internationalen<br />
Gewerkschaftsbewegung, die<br />
in dem Kampf gegen den Militarismus<br />
folgende Prinzipien als Leitsätze zu beobachten<br />
hat:<br />
Alle nach Arbeit suchenden <strong>und</strong> der<br />
»Internationalen antimilitaristischen Assoziation«<br />
neu beitretenden Arbeiter der<br />
ganzen Welt, welche die Wahl haben<br />
zwischen allgemein nützlicher Arbeit <strong>und</strong><br />
solcher im Dienst des Militarismus, also<br />
in Waffen- <strong>und</strong> Pulverfabriken, bei Festungs-<br />
oder Kasernenbauten oder auf<br />
Marinewerften sollen unbedingt die allgemein<br />
nützliche Arbeit vorziehen <strong>und</strong><br />
sich jeder Teilnahme an der Fortdauer,<br />
an dem Ausbau <strong>und</strong> der Entwicklung<br />
des Militarismus enthalten.<br />
Alle Arbeiter, die schon bei solchen<br />
Militärarbeiten tätig sind, müssen es als<br />
Ehrenpflicht betrachten, diese ihre Arbeitsmitwirkung<br />
einzustellen, sobald sie allgemein<br />
nützliche, wenn auch weniger lohnende<br />
Arbeit bekommen können.«<br />
S c h w e d e n hält jede nähere Erklärung für<br />
überflüßig;der Antrag spreche für sich selbst.<br />
H a a r l e m schlägt folgendeÄnderung vor:<br />
»Alle Arbeiter <strong>und</strong> neuhinzutretenden<br />
Arbeiter nehmen keine andere als allgemein<br />
nützliche Arbeit an; sie arbeiten<br />
nicht für den Militarismus, weder bei der<br />
Herstellung von Waffen oder Pulver,<br />
noch beim Festungs- oder Kasernenbau<br />
oder auf Marinewerften. Sie enthalten<br />
sich jeder Teilnahme an der Entwicklung<br />
des Militarismus.<br />
Alle schon in dieser Richtung tätigen<br />
Arbeiter müssen die Arbeit einstellen<br />
<strong>und</strong> allgemein nützliche Arbeit vornehmen.«<br />
D u q u e s n e weist auf die schwierige<br />
Ausführbarkeit dieses Vorschlages hin;<br />
wenn man etwas vorschlägt, müsse man<br />
bedenken, was ausführbar sei.<br />
H a a r l e m will keinen bindenden Artikel<br />
daraus machen, dem sich die Arbeiter<br />
unterwerfen müssen; es soll nur die notwendige<br />
Richtung angegeben werden.<br />
Dann kommt es auf dasselbe hinaus<br />
wie der Antrag Schweden — sagt D u q u e s n e<br />
— <strong>und</strong> dieser kann unverändert angenommen<br />
werden.<br />
A l k m o o r meint, ein Arbeiter hätte<br />
keine Wahl bei seiner Arbeit; er müsse<br />
diejenige Arbeit verrichten, die man ihm auferlegt.<br />
Er muß seine Arbeit verkaufen.<br />
Will Haarlem k e i n e n Z w a n g ausüben,<br />
dann kann der Antrag Schweden aber unverändert<br />
bleiben.<br />
S c h w e d e n erörtert seinen Antrag<br />
nochmals. Wenn wir so weit wären, daß<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />
alle Arbeiter diese Arbeit ablehnen — um<br />
so besser. Wir können aber schon jetzt viel<br />
erreichen. Wir wünschen die Arbeiter ja<br />
auch nicht in eine Revolution hineinzuhetzen,<br />
wie uns fälschlich nachgesagt wird<br />
Die Arbeiter müssen selbst ihren Reifegrad<br />
zur Ausführung einer Revolution erkannt<br />
haben, kein Führer darf sie für eigene<br />
Zwecke benützen. Das befreite Denken ist<br />
für die Arbeiter wie für uns, die Revolutionäre,<br />
die Hauptsache; die Arbeiter müssen<br />
sich dadurch vorbereiten auf die Taten, die sie<br />
zu verrichten haben, um ihren sozialen<br />
Willen durchzusetzen.<br />
F r a u S o r g u e sagt, daß mehrere Arbeiter<br />
in den französischen Arsenalen Antimilitaristen<br />
<strong>und</strong> Anarchisten sind. Gerade<br />
dort können wir nützlich wirken. Wenn sie ersetzt<br />
würden durch Arbeiter, die anderen Ideen<br />
anhängen, wäre es in Zeiten des Kampfes<br />
schwer, das zu erreichen, was jetzt möglich<br />
ist.<br />
D o m e l a N i e u w e n h u i s fügt hinzu,<br />
wie taktisch wertvoll es wäre, alle Arsenalarbeiter<br />
auf unsere Seite zu bringen. In<br />
Kriegszeiten wäre ein Streik in den Arsenalen<br />
<strong>und</strong> auf den Marinewerften von<br />
höchstem Interesse. Wenn man tun wollte,<br />
was Haarlem verlangt, was bleibt denn<br />
schließlich übrig für die Arbeiter, wenn sie<br />
nicht in den Arsenalen, nicht auf den Werften,<br />
nicht in den Gefängnissen, an Justizgebäuden<br />
<strong>und</strong> derartigem arbeiten sollen?<br />
D e u t s c h l a n d hält diese Bemerkung<br />
für sehr richtig <strong>und</strong> weist auf die Unmöglichkeit<br />
hin, das von Haarlem Vorgeschlagene<br />
prinzipiell festzusetzen.<br />
A m s t e r d a m fragt, ob die Frage der passiven<br />
Resistenz nicht behandelt werden soll.<br />
Beim Bau von Polizeibauten <strong>und</strong> derartigem<br />
kann das von Wichtigkeit sein. Aber in einer<br />
öffentlichen Sitzung kann darüber nicht gesprochen<br />
werden.<br />
U t r e c h t will das Gegenteil vorschlagen.<br />
Die Arbeiter müssen sich nämlich<br />
nicht zurückziehen aus den genannten Arbeiten,<br />
sondern dorten nach dem Gr<strong>und</strong>satz<br />
verfahren: Nur für gute Bezahlung<br />
eine gute Arbeit!<br />
D e u t s c h l a n d begreift die Diskussionen<br />
nicht; wer Antimilitarist ist, muß wissen,<br />
was er will.<br />
K o e t h e k stellt folgenden Antrag:<br />
»Der Antimilitaristische Kongreß konstatiert,<br />
daß die durch die produktiven Arbeiter<br />
zu Gunsten des Militarismus verrichtete<br />
Arbeit schädliche Arbeit ist;<br />
zieht aber in Betracht, daß die Notwendigkeit<br />
zu leben, die Arbeiter zwingt,<br />
solche Arbeit zu verrichten;<br />
urteilt, daß die passive Resistenz für die<br />
industriellen Arbeiter ein Kampfmittel ist,<br />
das allen Arbeitern zur Beachtung <strong>und</strong><br />
Erwägung sehr empfohlen werden kann.«<br />
E m m a G o l d m a n n (Amerika) begreift<br />
nicht, wie ein Antimilitarist nicht gegen<br />
die Kanonen- <strong>und</strong> Gewehrfabrikation<br />
sein könne. Wenn es als notwendig für die<br />
Propaganda erachtet wird in den Arsenalen<br />
zu arbeiten, muß zugleich daran festgehalten<br />
werden, daß die Arbeiter n i c h t die<br />
Anfertiger ihrer eigenen Mordwaffen sein<br />
dürfen. D e r K r i e g k a n n n u r d a d u r c h<br />
b e s e i t i g t w e r d e n , d a ß m a n d i e Arb<br />
e i t e r e t h i s c h e r z i e h t ! Dafür muß<br />
man die Arbeiter aller Länder soweit bringen,<br />
daß sie die Herstellung von Kriegsmaterial<br />
verweigern.<br />
S c h w e d e n meint, man könne höchstens<br />
von allgemein nützlicher Arbeit in<br />
den Fabriken sprechen. Es wird darüber<br />
gesprochen, daß man in die Arsenale gehen<br />
muß, wie in die Fabriken, um die Propaganda<br />
zu fördern. Redner sagt: »Ich habe<br />
nie eine Kanone gegossen, aber ich weiß<br />
doch aus Erfahrung, daß in den Arsenalen<br />
keine Propaganda gemacht werden kann.«<br />
(Fortsetzung folgt.)
Der „W. f. A." erscheint jeden I. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaiction <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />
I./17. — Gelder sind zu senden an<br />
W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />
5, III./27.<br />
Die Entwicklungsgeschichte der menschlichen<br />
Sklaverei — <strong>und</strong> letztere ist es, die<br />
zum größten Teile die Weltgeschichte erfüllt<br />
— wird zeitweise unterbrochen von<br />
jenen sonnigen Frühlingstagen einer zur<br />
Tat erwachten Menschheit, die der weiteren<br />
Gestaltung der sozialen <strong>und</strong> politischen<br />
Beziehungen zwischen den Menschen eine<br />
neue Richtung weisen.<br />
Nur insoferne als die Menschen der<br />
unterdrückten Klassen ihre ökonomische<br />
<strong>und</strong> daraus resultierende soziale Unterjochung<br />
e i n s a h e n , sich ihres momentan<br />
schmerzhaftesten Druckes entledigten, haben<br />
wir als Kommunisten <strong>und</strong> Anarchisten einen<br />
<strong>Weg</strong> des Fortschrittes zu verzeichnen.<br />
Das Erwachen der Menschheit gegenüber<br />
den diese in Elend <strong>und</strong> Not haltenden<br />
Herrschern <strong>und</strong> Reichen bestand stets<br />
in einem großen, oftmals kürzeren, oftmals<br />
länger hinausgezogenen Akte von welthistorischer<br />
Bedeutung:<br />
Die U n t e r d r ü c k t e n e r h o b e n sich,<br />
i n d e m sie d i e A r b e i t s w e r k z e u g e<br />
von sich w a r f e n , d e m S t r o m e i h r e r<br />
u n e n d l i c h e n R e i c h t u m z e u g e n d e n<br />
Arbeit E i n h a l t g e b o t e n , i h r e Pers<br />
ö n l i c h k e i t d e m A r b e i t s s y s t e m d e r<br />
b e s t e h e n d e n A u s b e u t u n g s a r b e i t<br />
e n t z o g e n !<br />
Dies ist die Anfangsgeschichte jeder<br />
Revolution, die die Geschichte kennt. Ohne<br />
dieses ersten Kapitels hätte sie niemals<br />
werden können, in ihr war die Einleitung<br />
zu den späteren Ereignissen enthalten.<br />
An der Wiege jeder großen Menschheitstat<br />
der Unterdrückten <strong>und</strong> Ausgebeuteten,<br />
um sich mehr oder minder viel Freiheit<br />
zu erringen, s t a n d d e r G e n e r a l -<br />
s t r e i k !<br />
Ausgehend von den Sklavenkriegen<br />
des Altertums bis in die modernste Neuzeit<br />
hinein, bis zur ersten Etappe der unvergänglichen<br />
russischen Revolution, haben<br />
wir stets gesehen, wie diejenigen sozialen<br />
Schichten, die vom bestehenden Unrecht<br />
überzeugt, vom tiefsten Abneigungsgefühl<br />
wider dieses durchdrungen waren, zur Erkenntnis<br />
heranreiften, daß die Arbeit, die<br />
sie leisteten, nur zur Bereicherung ihrer<br />
Tyrannen diente, sich zuerst <strong>und</strong> vor allem<br />
wider diese wandten. Die Arbeit ihrer<br />
Sklaverei, die sie leisteten, fast immer zum<br />
Zweck gegenseitiger Versklavung, wurde<br />
ihnen zum Ekel. Sie warfen sie weit von<br />
sich, ihre persönlichen Ehrgefühle, ihr<br />
Selbstempfinden <strong>und</strong> ihre Selbstachtung<br />
wuchsen über sie hinaus, sie schämten sich<br />
der getanen Arbeitsverrichtung für die Anderen<br />
— <strong>und</strong> sie wandten ihr den Rücken.<br />
D a m i t war die wesentliche Gr<strong>und</strong>lage<br />
des jeweilig bestehenden Systemes<br />
— der Glaube an seine Gottgefälligkeit, an<br />
seine Zweckmäßigkeit, an dem unveränderlichen<br />
Bestand der herrschenden Weltordnung<br />
— erschüttert, die Ü b e r w i n -<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft<br />
; dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gründe liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist. .<br />
Es lebe der Maitag der Kämpfenden!<br />
d u n g des Systems folgte unvermeidlich<br />
nach. *<br />
Und wieder ist der Tag gekommen,<br />
der in dem Herzen eines jeden revolutionären<br />
Proletariers die Flamme glühender<br />
Kampfesbegeisterung hochauf schlagen<br />
lassen sollte — der 1. Mai!<br />
In ihm haben wir den Tag eines Gedankens<br />
zu erblicken, der die Wiederauferstehung<br />
der Tage der historischen Vergangenheit<br />
bedeutet, die stets eine soziale<br />
Weltenwende für die unterdrückten Massen<br />
waren.<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2.40;<br />
halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
Nicht deshalb, weil er auch sonst gewöhnlich<br />
ein w<strong>und</strong>erschöner Frühlingstag<br />
ist. In diesem Sinne ward <strong>und</strong> wird der erste<br />
Maientag immer von den Vornehmen gefeiert.<br />
Aber mit dieser Bedeutung hat jene<br />
der sozialökonomisch Geknechteten nichts<br />
zu tun, denn die haben in den Tagen der<br />
Lohnsklaverei keine Zeit, keine Muße, das<br />
Aufspringen der holden Maiknospen zu<br />
beobachten.<br />
Nein, nicht dies ist seine Bedeutung<br />
für uns. Der 1. Mai ist deshalb heilig, deshalb<br />
historisch geworden zum Sammeltage<br />
des revolutionären Proletariats aller Länder,<br />
weil sich das Proletariat i h n s e l b s t g e -<br />
g e b e n , s e l b s t g e n o m m e n h a t !<br />
D e r 1 . Mai i s t d e r e i n t ä g i g e<br />
G e n e r a l s t r e i k wider Kapital, Unterdrückung,<br />
Ausbeutung, Militarismus <strong>und</strong><br />
jedwede Erniedrigung der Menschheit durch<br />
die Machthaber.<br />
Der 1. Mai ist der Tag der Demonstration<br />
<strong>und</strong> Kampfesparole wider die gesamte<br />
Bourgeoiswirtschaft, an dem das<br />
klassenbewußte Proletariat die Arbeit ruhen<br />
läßt, weil es die versklavte <strong>und</strong> ausgebeutete<br />
Arbeit haßt <strong>und</strong> sich da sehnt nach jener<br />
sozialen Neugestaltung, die ihm Befreiung<br />
der Arbeit von der Notwendigkeit der Lohnsklaverei<br />
<strong>und</strong> gesellschaftliche Herrschaftslosigkeit<br />
verheißt!<br />
Der 1. Mai ist der Tag, an dem das<br />
Proletariat sich wider die bestehende Gesellschaftsordnung,<br />
die ihm Hunger, Elend,<br />
Entbehrung, frühzeitigen Tod im Frieden<br />
<strong>und</strong> Schlachtentod im Kriege für seinen<br />
bienenhaften Arbeitseifer bietet, aufpflanzt,<br />
sie prüfenden Auges mißt — <strong>und</strong> über die<br />
Verkürzung seiner Arbeitssklaverei nachsinnt!<br />
Proletariat, dort wo du kampfesmutig<br />
bist, dort hast du dir diesen e i n e n Tag<br />
deiner Befreiung errungen!1 Nütze ihn,<br />
nütze ihn, laß' ihm die weiteren Tage des<br />
Jahres baldigst folgen!<br />
*<br />
Wie ist der 1. Mai entstanden!<br />
Wer da glaubt, daß der 1. Mai erst<br />
mit dem »Internationalen Sozialistenkongreß«<br />
von Paris (1889) ins Leben trat, glaubt<br />
einen Irrtum, der glaubt, daß ein Beschluß,<br />
ein Gesetz, eine Bestimmung v o r dem<br />
Menschen, f r ü h e r als selbst die sozialen<br />
Verhältnisse sind. Dies ist falsch; erst diese<br />
letzteren erzeugen das Wesentliche der<br />
ersteren.<br />
Von jenseits des »großen Wassers«,<br />
von Amerika ist uns zuerst die revolutionäre<br />
Bedeutung des Tages gegeben worden.<br />
Der 1. Mai ist aus der revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />
hervorgegangen, sein<br />
Anfang ist von den grimmigsten Kämpfen<br />
zwischen Proletariat <strong>und</strong> staatlich begünstigtem<br />
Kapitalismus begleitet.<br />
Der 1. Mai geht hervor aus den<br />
direkten Kämpfen der amerikanischen »Arbeitsritter«-<br />
<strong>und</strong> »Arbeitsföderations«-Ge-
werkschaften für die tatsächliche Durchsetzung<br />
des Achtst<strong>und</strong>entages. Und dieser<br />
Kampf der direkten Aktion, der o h n e<br />
parlamentarische Hintertreibung vor sich<br />
ging, war intim verbündten mit der Idee<br />
des Generalstreiks.<br />
Es war die amerikanische »Arbeitsföderation«,<br />
die laut einem kurz vorher<br />
auf ihrem Kongreß gefaßten Beschluß für<br />
den 1. Mai 1886 an die Proklamation des<br />
Generalstreiks für die Durchführung des<br />
Achtst<strong>und</strong>entages schritt. Sie führte diesen<br />
Beschluß auch wirklich aus. Über<br />
200.000 Proletarier streikten <strong>und</strong> setzten<br />
— vornehmlich in Chicago — ihre Forderung<br />
zum größten Teile durch.<br />
Allein, es scheint das Geschick jeder<br />
großen Bewegung <strong>und</strong> Machtentfaitung der<br />
Unterdrückten zu sein, daß sie ihre Siege<br />
nicht -<br />
' ohne herbe Verluste an edelstem<br />
Menschenmaterial <strong>und</strong> dem Blute großartiger<br />
Pioniere zu erreichen vermag.<br />
So war es auch mit jenem e r s t e n<br />
1. Maitag des sozialen Kampfes. Die Arbeiter<br />
triumphierten vielfach — aber auch<br />
die Rache der Herrschenden raste, <strong>und</strong> sie<br />
erkor sich die beredtesten Wortführer, die<br />
größten Geister der Bewegung als ihre<br />
Opfer.<br />
An der Wiege der ersten Maibewegung<br />
<strong>und</strong> Idee stehen die Anarchisten S p i e s ,<br />
P a r s o n s , E n g e l s , F i s c h e r , L i n g g ,<br />
die von den amerikanischen Justizplutokraten<br />
<strong>und</strong> demokratisch-demagogischen Staatsmatadoren<br />
dieser kapitalistisch-despotischen<br />
Republik unschuldig hingemordet wurden,<br />
als Unschuldige todesmutig den Galgen<br />
bestiegen, wie es der nachmalige Staatsgouverneur<br />
Altgeld juristisch bewies.<br />
Anarchisten haben ihr Leben hingeopfert<br />
für diesen großen Gedanken des<br />
1. Mai, der damit erst ins wahre Relief<br />
seiner Bedeutung gerückt wird. Die Bluttaufe<br />
dieses Tages wurde von den Herrschenden<br />
durch die Hinopferung von unschuldigen<br />
Anarchisten vollzogen, die freudig<br />
in den Tod gingen für die Sache der<br />
Arbeiterklasse.<br />
F E U I L L E T O N .<br />
Die roten Tränen.<br />
Ein Maimärchen von O s w a l d T e l l h e i m.*<br />
Es war einmal ein Schloß, das stand in der<br />
tiefen, tiefen Erde drin. Es hatte schneeweiße Marmorwände,<br />
goldne Säulen <strong>und</strong> ein Dach aus Diamant.<br />
Die Fenster waren aus Krystall, <strong>und</strong> so klar <strong>und</strong><br />
rein, daß die ganze, tiefe Erde sich in ihnen a b -<br />
spiegelte. Um das Schloß war ein Garten. In diesem<br />
Garten bluten viele, viele Bliimelein. Sie hatten<br />
schneeweiße Stengel, silberne Blätter <strong>und</strong> diamantene<br />
Bliitenkronen. Diese Blümlein wuchsen aus<br />
Tröpflein, welche in den Garten herniederrannen,<br />
immerzu, immerzu. Diese Tröpflein kamen aus den<br />
Augen der Menschenkinder, die die Erde bewohnten,<br />
<strong>und</strong> wurden als Kindlein in ihren Herzen geboren.<br />
Die Eltern dieser Tropfenkindlein hießen<br />
K u m m e r <strong>und</strong> N o t , deren Eltern hießen Z w a n g<br />
<strong>und</strong> B e d r ü c k u n g , <strong>und</strong> die Eltern dieser waren<br />
H e r r s c h w i l l e <strong>und</strong> Ü b e r h e b u n g . Auch sie<br />
wurden in den Herzen von Menschenkindern geboren.<br />
Wenn nun diese Tröpflein in den Garten des<br />
Schlosses herniederrannen, so sangen sie mit hellen,<br />
reinen Stimmen. Es klang:<br />
„Tinke tunk, tinke tunk,<br />
Tränlein sind wir!<br />
Erinnerung, Erinnerung,<br />
Säen wir hier!<br />
Kommen aus Menschenherz,<br />
Sahen sein Leid <strong>und</strong> Schmerz.<br />
Tinke tunk, tinke tunk,<br />
Tränlein sind wir!"<br />
Im Schloß drinnen wohnte eine Königin. Sie<br />
saß auf einem schneeweißen Marmortron; der hatte<br />
Silberseiten <strong>und</strong> eine goldene Lehne. Darüber war<br />
ein Himmeldach aus Blau-Edelstein, darinnen funkelten<br />
Sternlein: das waren Diamantsteine. Die<br />
Königin trug ein schneeweiß Kleid, besäet mit Silberblumen.<br />
Ihre Krone war aus Krystall, mit einem<br />
Silberring <strong>und</strong> goldenen Zacken. Um den Tron her<br />
• D e r Verfasser, ein tüchtiger Schriftsteller auf dem Gebiete<br />
freiheitlich aufklärender Jugendliteratur, hat uns das obige, bisher<br />
unveröffentlichte Mainlärchen zur Verfügung gestellt. Wir<br />
verweisen an dieser Stelle angelegentlichst auf sein wertvolles<br />
Werkchen über .Jugendliteratur; ein Versuch in Skizze., das<br />
im Verlag E. Kempe, Leipzig, erschienen. Die Red.<br />
So sind es denn auch wir Anarchisten,<br />
die einzig <strong>und</strong> allein mit wahrer Würdigung<br />
diesen Tag zu feiern vermögen, somit jene,<br />
die willens sind, ihm die echte, verdiente<br />
Würdigung angedeihen zu lassen.<br />
Denn, wie eine sieghafte Kampfesparole,<br />
so flattert überall, wo am 1. Mai<br />
die Fahnen unserer Kampfesbegeisterung<br />
gehißt werden, die eine große Losung auf<br />
ihnen:<br />
Der 1. Mai ist der Tag selbständiger<br />
Aktion des Proletariats — der Gedanke der<br />
Befreiung von allem staatlichen <strong>und</strong><br />
sonstigen Führertum, der Tag des Selbstvertrauens,<br />
der Tag der Erkenntnis von<br />
der ungeheuren Macht der durch den<br />
Willen des Proletariats aufgehobenen, unterbrochenen<br />
Arbeit.<br />
Der 1. Mai ist die Idee von der eintägigen<br />
Aussperrung der Kapitalistenklasse<br />
durch das Proletariat. Sobald das Proletariat<br />
zu demjenigen Erkenntnisgrad herangereift<br />
ist, diese Aussperrung der kapitalistischen<br />
Klasse a l s s o l c h e K l a s s e in<br />
Permanenz zu erklären, hat die St<strong>und</strong>e der<br />
Befreiung aus der düsteren Nacht der<br />
Lohnsklaverei geschlagen.<br />
Und kommen wird dieser Tag, denn<br />
der kräftig pulsierende Lebensdrang der<br />
Menschheit nach vorwärts, garantiert sein<br />
Kommen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e drängt es<br />
sich jubelnd über unsere Lippen:<br />
E s l e b e d e r s o z i a l e K a m p f d e s<br />
P r o l e t a r i a t s !<br />
E s l e b e d i e I d e e d e r S o l i d a r i t ä t<br />
u n d i h r K a m p f e s a u s d r u c k — G e n e -<br />
r a l s t r e i k !<br />
E s l e b e d e r H e r o l d d e r s o l i d a -<br />
r i s c h e n G e m e i n s c h a f t s b e f r e i u n g<br />
i n d e r Z u k u n f t : D e r e r s t e M a i !<br />
Der 1. Mai als Tag der direkten<br />
Aktion.<br />
„Der Kongreß beschließt ferner:<br />
Die K<strong>und</strong>gebung des 1. Mai für den<br />
Achtst<strong>und</strong>entag soll zugleich eine K<strong>und</strong>gebung<br />
des festen Willens der Arbeiter-<br />
st<strong>und</strong>en viele Edelknaben <strong>und</strong> Edelmägdlein, alle<br />
in schneeweiß Kleidern <strong>und</strong> mit Silberreiflein auf<br />
ihren Köpfen.<br />
Nun war es, daß die Königin in den Garten<br />
ging <strong>und</strong> alle Edelknaben <strong>und</strong> Mägdlein folgten ihr,<br />
einmal jeden Tag, jeden Tag. Und jedesmal st<strong>und</strong><br />
sie <strong>und</strong> schaute auf die Tröpflein <strong>und</strong> auf die Blümelein.<br />
Ihr Antlitz war wie der stille Morgenhimmel,<br />
<strong>und</strong> ihre Augen glänzten wie die Strahlen der Sonne<br />
des Ostens. Die Edelknaben <strong>und</strong> Mägdlein st<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> blickten sie an jedesmal. Und jedesmal<br />
traten solche Tröpflein in ihre Augen, als jene die<br />
herniederflossen von der Menschenerde. Sie wußten<br />
nicht, warum die Tröpflein in ihre Augen kamen,<br />
noch wußten sie, woher sie kamen. Doch fühlten<br />
sie, daß in ihren Herzen es klang <strong>und</strong> sang, weh,<br />
weh, <strong>und</strong> doch so süß <strong>und</strong> lieblich, wenn sie ihre<br />
Königin anblickten, jedesmal, jedesmal. So ging sie<br />
in den Garten mit ihrer Schar, einmal jeden Tag.<br />
Einmal in jedem Jahr aber, an einem Tage,<br />
st<strong>und</strong> sie nicht schauend auf die Tröpflein <strong>und</strong> die<br />
Blümlein; aber sie streckte ihre Hand aus über sie,<br />
<strong>und</strong> sieh da! sie wurden zu Edelkindlein, Knaben<br />
<strong>und</strong> Mägdlein. Auch sie trugen schneeweiße Kleider<br />
<strong>und</strong> silberne Reiflein, doch hielten die Mägdlein<br />
Weißblumensträuße in den Händen <strong>und</strong> die Knaben<br />
silberne Stäbe mit goldenen Spitzen.<br />
Nun schlug die Königin an eine silberne Glocke,<br />
<strong>und</strong> zwölf Edelknaben kamen eilends herbei.<br />
Sie gingen <strong>und</strong> brachten der Königin Gefährt; es<br />
war aus Krystall <strong>und</strong> hatte silberne Räder. Zwölf<br />
schneeweiße Rosse zogen e s ; sie hatten silberne<br />
Hufe <strong>und</strong> goldene Mähnen. Die Königin bestieg<br />
das Gefährt <strong>und</strong> fuhr empor in ihm zur Menschenerde,<br />
<strong>und</strong> alle Edelknaben <strong>und</strong> Mägdlein folgten ihr.<br />
Viele zogen einher vor dem Gefährt, andere zu<br />
beiden Seiten, <strong>und</strong> alle die anderen folgten nach.<br />
So zogen sie dahin, durch das ganze, weite Menschenkinder-Land.<br />
Dabei streuten die Mägdlein die<br />
weißen Blumen aus, <strong>und</strong> die Knaben steckten ihre<br />
silbernen Stäbe mit den goldenen Spitzen tief in<br />
die Erde hinein, dicht an den Häusern der Menschenkinder.<br />
Doch diese sahen nichts von all diesem,<br />
denn es war Nacht jedesmal, <strong>und</strong> sie schliefen in<br />
ihren Kammern. Sie wußten aber von der Königin<br />
<strong>und</strong> ihrem Zuge jedes Jahr, denn sie hatten ihr<br />
einen Namen gegeben. Sie nannten sie Maikönigin;<br />
denn jedesmal, wenn sie das Erdenland durchzog,<br />
war es Mai, die erste Maiennacht.<br />
klasse sein, durch soziale Umgestaltung<br />
die Klassenunterschiede zu beseitigen<br />
<strong>und</strong> so den einzigen <strong>Weg</strong> zu beschreiten,<br />
der zum Frieden innerhalb<br />
jedes Volkes, wie zum internationalen<br />
Frieden führt."<br />
(Aus der Maifeierresolution des<br />
internationalen Kongresses in Zürich,<br />
1893).<br />
Es gehört leider zu den üblichen Gepflogenheiten<br />
einer jeden, auf falschen<br />
<strong>Weg</strong>en befindlichen Bewegung oder Partei,<br />
die offenk<strong>und</strong>ige Nichtübereinstimmung<br />
zwischen ihrer Theorie <strong>und</strong> Praxis durch<br />
hochtönende Resolutionen <strong>und</strong> rhetorisches<br />
Floskeltum verdecken <strong>und</strong> verbergen zu<br />
wollen. Besonders trifft dies auf die Sozialdemokratie<br />
<strong>und</strong> ihre Stellung zur Maifeierfrage<br />
zu. Die Gegensätzlichkeit zwischen<br />
dieser Idee des selbstbewußt geführten<br />
Kampfes, der persönlichen Mitwirkung<br />
eines jeden einzelnen Proletariers behufs<br />
Erreichung seiner momentanen materiellen<br />
<strong>Ziel</strong>e, wie auch der vollständigen Befreiung<br />
diese Idee <strong>und</strong> Taktik befindet sich in<br />
einem heillosen Widerspruch mit der parlamentarischen<br />
Vertretungstätigkeit der Sozialdemokratie,<br />
die aus eben diesem Gr<strong>und</strong>e<br />
den 1. Mai entweder ganz sinnlos begeht<br />
<strong>und</strong> dabei bekämpft — wie es die<br />
d e u t s c h e Sozialdemokratie tut — oder<br />
aber sich nicht recht in Einklang mit dieser<br />
Idee <strong>und</strong> Taktik des 1. Mai zu versetzen<br />
weiß, wie im Falle der österreichischen<br />
Sozialdemokratie.<br />
Bekanntlich entspringt die Idee des<br />
1. Mai dem selbständig geführten ökonomischen<br />
Kampf des Proletariats; waren es<br />
Anarchisten, die Schulter an Schulter mit<br />
dem Proletariat dessen ökonomische Kämpfe<br />
wider Ausbeutertum <strong>und</strong> Staatsautorität<br />
führten. Ein Funke dieser Kämpfe war es,<br />
das in den ersten Maitagen des Jahres<br />
188Ö vergossene Arbeiterblut zu Chicago<br />
ist es gewesen, welches die Idee des<br />
1. Mai in den Delegierten zum Pariser<br />
Kongreß (1889) aufsteigen ließ. Wohl wurde<br />
die Idee dort nicht in ihrer ganzen Reinheit<br />
als direkte Aktion des Proletariats auf-<br />
So zog die Maikönigin dahin, durch das Land.<br />
Dann, wann schon der Morgenstern verblaßt <strong>und</strong><br />
die Sonne aufstieg im Osten, dann nahm sie Abschied<br />
vom Erdenland der Menschenkinder <strong>und</strong><br />
winkte den Rosselenkern, daß sie hinabführen zum<br />
Schloß in der tiefen, tiefen Erde. Sie fuhren hinab<br />
<strong>und</strong> alle Edelknaben <strong>und</strong> Mägdlein folgten nach.<br />
Unten im Schloßgarten streckte die Königin die<br />
Hand aus über ihnen, <strong>und</strong> jene, die einst Blumen<br />
waren, wurden wieder zu Blumen im Garten. Die<br />
anderen aber st<strong>und</strong>en wieder um den Tron her.<br />
Oben auf der Erde aber, wenn die Menschenkinder<br />
am Morgen des ersten Mai erwachten,<br />
waren sie voll neuen Leben, neuer Lust <strong>und</strong> neuer<br />
Kraft. Das war der Duft, der aus den weißen Blumen<br />
strömte, die die Edelmägdlein der Königin gestreut<br />
hatten. Und sie waren voll neuer Hoffnung.<br />
Das war der Glanz, der aus den Silberstäben mit<br />
den goldenen Spitzen strahlte, die die Edelknaben<br />
der Königin in die Erde gesteckt hatten, dicht an<br />
ihren Häusern. Und die Menschenkinder — an diesem<br />
einen Tage in jedem Jahr rannen keine Tröpflein<br />
aus ihren Augen, da die Eltern dieser Tropfenkindlein,<br />
Kummer <strong>und</strong> Not, an diesem Tage nicht<br />
in ihren Herzen blieben. Denn die Menschenkinder<br />
waren voll Glück an diesem Tage. S i e f e i e r t e n<br />
e i n g r o ß e s F e s t . E s h i e ß d a s M a i e n f e s t ,<br />
d a s F r ü h l i n g s f e s t , d a s F e s t d e r H o f f n u n g .<br />
Nun begab es sich eines Tages, im Schloß<br />
in der tiefen, tiefen Erde drin, daß ein Edelknabe<br />
kam im Lauf zum Tron <strong>und</strong> rief:<br />
„Frau Königin, o kommet, o kommet zum Garten her!<br />
Die Tröpflein, die Tröpflein, wie sind sie so trüb'<br />
<strong>und</strong> schwer!"<br />
Da erhob sich die Königin <strong>und</strong> eilte zum<br />
Garten <strong>und</strong> alle Knaben <strong>und</strong> Mägdlein folgten ihr.<br />
Als sie hinkamen, sahen sie wie die Tröpflein, die<br />
herniederannen immerzu, immerzu, wie sie nicht<br />
hell <strong>und</strong> rein wie einst, wie sie aber jetzt trüb <strong>und</strong><br />
schwer waren <strong>und</strong> ganz rot. Dazu sangen sie mit<br />
tiefen, schweren Stimmen. Es klang:<br />
„Tinke tunk, tinke tunk,<br />
Rot' Blut sind wir!<br />
Sühnung, Sühnung,<br />
Säen wir hier!<br />
Kommen aus Menschenherz,<br />
Sahen sein' Todesschinerz.<br />
Tinke tunk, tinke tunk,<br />
Rot' Blut sind wir!"
gefaßt, wie es füglich durch ihren Ursprung<br />
hätte geschehen müssen. Aber es war<br />
dennoch der erste V o r s t o ß in die rechte<br />
Richtung d e r b e d e u t s a m e , i n t e r -<br />
n a t i o n a l z u f ü h r e n d e V o r s t o ß d e s<br />
P r o l e t a r i a t s w i d e r d i e i n t e r n a t i o -<br />
n a l e K a p i t a l i s t e n k l a s s e d u r c h Entzug<br />
s e i n e r A r b e i t s k r a f t u n d Pers<br />
ö n l i c h k e i t .<br />
Diese Taktik hat naturgemäß n i c h t s<br />
mit der Sozialdemokratie als politischer<br />
Partei gemein. Sie ist <strong>und</strong> m u ß ihr feindselig<br />
gegenüberstehen, denn dort wo die<br />
Arbeiterklasse selbständig auftritt, bedarf<br />
sie der Politiker nicht mehr, <strong>und</strong> die Führer<br />
der Sozialdemokratie betätigen sich in der<br />
Politik nur zu dem ausgesprochenen Zweck,<br />
ins Parlament gewählt zu werden. Hier ist<br />
der e i n e Gegensatz zur Idee des 1. Mai.<br />
Der z w e i t e <strong>und</strong> noch klaffendere ist darin<br />
gelegen, daß diese revolutionäre Bek<strong>und</strong>ung,<br />
für wenigstens e i n e n Tag der<br />
kapitalistischen Klasse u n b o t m ä ß i g zu<br />
sein, das Kennzeichen für die Vorstellung<br />
bildet, w i e die kapitalistische Gesellschaft<br />
überw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> durch eine kommunistischanarchistische<br />
ersetzt werden kann. Während<br />
die kommunistischen Anarchisten dies durch<br />
die selbständig vor sich gehende revolutionäre<br />
Aktion der Volksmassen <strong>und</strong> Individuen<br />
sich vollziehen lassen wollen, erstreben<br />
die Sozialdemokraten den Stimmzettelsieg<br />
in- <strong>und</strong> außerhalb des Parlaments,<br />
wollen die Gesellschaft dann durch die<br />
Parlamentsmajorität sozialdemokratisch <strong>und</strong><br />
•gesetzlich« umformen. Nur im Hinblick<br />
auf letzteres Streben kann der Parlamentarismus<br />
überhaupt einen Sinn haben für<br />
die Sozialdemokraten.<br />
Ist es ein W<strong>und</strong>er, daß darunter, unter<br />
dieser gr<strong>und</strong>falschen Auffassung der Sozialdemokraten,<br />
die praktische Ausführung der<br />
1. Maiidee litt, leiden mußte? Nein, wahrlich<br />
nicht. Ist es doch eine Tatsache, daß<br />
die deutsche Sozialdemokratie heute, 18<br />
Jahre nach der ersten Maifeier noch immer<br />
keine bestimmte Stellung zum 1. Mai einnimmt,<br />
als Dreimillionenpartei es nicht<br />
Und sie rannen hernieder, immerzu, immerzu;<br />
ein jedes wurde eine Blume. Doch sie hatten keine<br />
schneeweißen Stengel, keine Silberblätter <strong>und</strong> keine<br />
Blütenkronen von Diamant, sondern sie waren rot<br />
wie Blut <strong>und</strong> jede hatte einen scharfen, spitzen<br />
Stachel. Wieder st<strong>und</strong> die Königin <strong>und</strong> schaute auf<br />
Üie Tröpflein <strong>und</strong> auf die Blümlein. Ihr Antlitz war<br />
nicht wie der stille Morgenhimmel, noch glänzten<br />
ihre Augen wie die Strahlen der Sonne des Osten.<br />
Sondern ihr Antlitz glühte wie der Himmel in Mittagsglut<br />
<strong>und</strong> ihre Augen blitzten gleich dem Strahl, der<br />
aus dichtem Hitzgewölk' fährt <strong>und</strong> dahinsprüht, daß<br />
Himmel <strong>und</strong> Erde erbeben unter seiner Allgewalt.<br />
Wieder blickten die Edelknaben <strong>und</strong> Mägdlein sie<br />
an, doch kamen keine Tröpflein in ihre Augen diesesmal.<br />
Denn in ihren Herzen klang <strong>und</strong> sang es<br />
nicht so weh <strong>und</strong> doch so süß, wie einst <strong>und</strong> immer,<br />
sondern sie erbebten diesesmal <strong>und</strong> sie wußten nicht<br />
warum <strong>und</strong> was zu tun. Einer der Knaben aber<br />
faßte sich ein Herz <strong>und</strong> frug:<br />
„Frau Königin, o saget, woher die Tröpflein rot?<br />
Frau Königin, wo schlug man die W<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
den T o d ? "<br />
Da nahm die Königin ihre Krone vom Haupt<br />
<strong>und</strong> hielt sie dar wie einen Spiegel. Dabei sprach sie:<br />
„Was droben im Menschenland geschieht,<br />
Das man in diesem Spieglein sieht 1"<br />
Da schauten die Knaben <strong>und</strong> Mägdlein in die<br />
Krone <strong>und</strong> sahen wie ein Bild eines Königs Schloß,<br />
umgeben von Schnee <strong>und</strong> Eis <strong>und</strong> starren Eisengittern.<br />
Schnee <strong>und</strong> Eis bedeckte auch die Erde<br />
ringsumher.<br />
Vor dem Schloß st<strong>und</strong> viel Volk in dichten<br />
Haufen, <strong>und</strong> alle riefen nach ihrem König. Der aber<br />
zeigte sich nicht seinem Volk, sondern st<strong>und</strong> versteckt<br />
hinter dem Vorhang eines Fensters. „Lieber<br />
Vater", rief das Volk, „Väterchen sieh her! Wir<br />
sind gekommen, um von dir selbst Hülfe zu erflehn!<br />
Lange schon flehten wir bei deinen Dienern vergeblich.<br />
Hilf uns, lieber Vater, hilf uns! G i b F r e i -<br />
heit, gib B r o t ! " „Macht, daß Ihr von hinnen<br />
kommt!" schrie ihnen der Hauptmann der Schloßwache<br />
zu. „Der König hat kein Brot für Euch!"<br />
„Dann gebt uns Freiheit, daß wir selber Brot uns<br />
schaffen können!" „Nun ist's genug!" schrie wieder<br />
der Schloßhauptmann. „Dies sich zu erdreisten!<br />
Frech' Gesindel!"<br />
Er winkte hinter sich in den Schloßhof, die<br />
Tore öffneten sich <strong>und</strong> spien wie Ungeheuer mäch-<br />
w a g t , ihren Anhängern die Arbeitsruhe<br />
zu empfehlen <strong>und</strong> zu ermöglichen, worüber<br />
gerade jetzt wieder in Deutschland ein heftiger<br />
Kampf gegen den Parteivorstand in<br />
den Reihen der Partei ausgebrochen ist.<br />
Man wende nicht ein, daß es bei uns in<br />
Österreich besser sei. Es w a r besser, es<br />
g a b eine revolutionäre K<strong>und</strong>gebung, als<br />
der 1. Mai noch gegen <strong>und</strong> trotz den<br />
Willen der Herrschenden gefeiert wurde,<br />
darüber das Militär auf unbewaffnete Arbeiter<br />
kommandiert wurde; als es noch<br />
kein Wahlrecht gab. Doch heute hat dieser<br />
1. Mai durch die politisch-parlamentarische<br />
Tätigkeit der Sozialdemokratie jede revolutionäre<br />
Bedeutung eingebüßt. Er ist<br />
nichts als das, was er im Sinne von Politikern<br />
sein s o l l t e : ein F o r d e r n von den<br />
öffentlichen Gewalten, ihnen, den Proletariern,<br />
den Achtst<strong>und</strong>enarbeitstag zu g e b e n ;<br />
er ist nicht das, was er im Sinne der amerikanischen<br />
Arbeiterbewegung, ja sogar<br />
was er im Sinne obigen Mottos sein m u ß<br />
<strong>und</strong> i s t : Die Kampfesproklamation des<br />
Proletariats wider die bürgerliche Gesellschaft<br />
<strong>und</strong> die Erklärung, sich den Achtst<strong>und</strong>entag<br />
zu e r k ä m p f e n , indem man<br />
nicht länger als acht St<strong>und</strong>en arbeitet.<br />
Nur wir kommunistische Anarchisten<br />
sind es, die diesen ursprünglichen <strong>und</strong><br />
wahren Charakter des 1. Mai gewahrt<br />
wissen wollen! Die Sozialdemokraten verwenden<br />
den 1. Mai dazu, damit er ihrer<br />
parlamentarischen Tätigkeit — die schon<br />
eigentlich dadurch allein ihren Bankerott<br />
erklärt! — einigen Nachdruck verleihe;<br />
sonst ist ihnen der 1. Mai kein Tag der<br />
direkten Aktion zur Erkämpfung bestimmter<br />
ökonomischer Forderungen, sondern höchstens<br />
ein sehr unfruchtbarer Demonstrationstag<br />
für ihre politische »Macht«, die sie<br />
aufmarschieren lassen, ohne sie sich selbst<br />
gebrauchen zu lassen, ohne die Massen dazu<br />
zu e r z i e h e n , w i e ihre ökonomische<br />
Massenmacht für ökonomische Zwecke zu<br />
verwerten ist.<br />
An dieser inneren »Unfähigkeit zu<br />
wollen« geht der 1. Maigedanke, soweit<br />
tige Knäuelschlangen von dichtgedrängten Kriegsgesellen<br />
aus. Wie Stacheln blitzten scharfe Schwerter<br />
<strong>und</strong> Federbüchsen. Schlünde rings herum. Ein ander<br />
Zeichen, <strong>und</strong> die Knäuel lösten sich. Die Greuelschlangen<br />
wanden sich ums ganze Schloß <strong>und</strong><br />
drohten gierig dem Volkshaufen. Der wogte nun<br />
<strong>und</strong> wallte, man rief, man schrie, man schwenkte<br />
Bannerzeichen, darunter auch das noch mit Lieb'<br />
umkränzte Bildnis des Königs. Der st<strong>und</strong>, sah alles,<br />
aber rührte sich nicht. Nun winkte er dem Schloßhauptmann.<br />
Der schwenkte seinen Degen, Ruh'<br />
gebietend in der Luft. Nun ward es still.<br />
„So höret denn, Ihr elend Gassengesindel!"<br />
So schrie, so brüllte nun der allgewaltige Herrscherknecht.<br />
„Von hinnen, hört Ihr? Von hinnen! Räumt<br />
den Platz!"<br />
„Wir wollen ungehört nicht heim!" So rief<br />
<strong>und</strong> schrie das Volk <strong>und</strong> wurde ungeduldig, erregt<br />
hier <strong>und</strong> da, doch Viele drängten nun mit Macht<br />
zurück. Jedoch der Haufe war zu groß. Es war ein<br />
Meer, das einmal aufgerührt, nun rührte in sich<br />
selbst, <strong>und</strong> wellenartig wallte es hin <strong>und</strong> her.<br />
„ W i r w o l l e n F r e i h e i t , B r o t ! "<br />
So schallt es wieder. Bejochte Nacken reckten<br />
sich, gekettete Arme streckten sich <strong>und</strong> Antlitze,<br />
auf die der Hunger <strong>und</strong> die Not mit schwerer Hand<br />
geschrieben, hoben sich sonnbeschienen aus dem Häuf.<br />
„Ein letztes Mal — von hinnen! Räumt den<br />
Platz!"<br />
Der Hauptmann brüllte es <strong>und</strong> lugte nach<br />
dem Fenster. Von da ein Wink, er hob den Degen<br />
blitzend — ein Rühren bei den aufgereihten Kriegsgesellen<br />
— ein Krachen, einmal, wieder, wieder.<br />
Die Feuerbüchsen hatten dröhnend, blitzend gesprochen<br />
ihr Schreckenswort. Es ist geschehen!<br />
Dort liegen sie, in dem Haufen des Volkes, das<br />
wirr im Schrecken durcheinander wogt. Und die<br />
Getroffenen schleppen sich dahin, die andern liegen<br />
wie dahingemähet <strong>und</strong> ächzen, stöhnen, klagen laut<br />
<strong>und</strong> kreischend. Noch andere aber liegen still <strong>und</strong><br />
stumm, kalt wie der Schnee, auf dessen weichem<br />
Kissen sie kosend nun gebettet.<br />
So blinkt das Bild im Kristallspiegel: weiß<br />
<strong>und</strong> rot, dies sind die Farben, die nun alles überschimmern.<br />
Der weiße, reine Schnee, das rote, rote<br />
Blutl Hier rinnt's als wie ein Bächlein, schäumend,<br />
murmelnd, denn eine leise Stimme geht mit ihm.<br />
Dort stehts in einem Tümpel, ein kleiner, stiller<br />
See — nicht ganz still. Es redet, predigt auch in<br />
ihn die Sozialdemokratie verwirklichen soll,<br />
leider schmählich zu Gr<strong>und</strong>e. Schöne<br />
Phrasen, aber keinerlei Erziehung zur Tat,<br />
zur direkten ökonomischen Kampfesaktion.<br />
In vielen Ländern von der Sozialdemokratie<br />
nur lahm zur Ausführung gebracht, kommt<br />
es so, daß der 1. Mai heute in keinem von<br />
sozialdemokratischen Parlamentariern beherrschten<br />
Land irgend einer sozialistischen<br />
Bewegung der Bourgeoisie noch irgend<br />
welchen Schrecken einjagt. Sie hat sich<br />
größtenteils an ihn gewöhnt, hat sich, da<br />
sie einsah, daß er ihr ja gar nichts antat,<br />
mit ihm abgef<strong>und</strong>en; wie sie sich auch abgef<strong>und</strong>en<br />
hat mit der n u r reformativen<br />
Gewerkschaftsbewegung, mit der legalen<br />
Sozialdemokratie <strong>und</strong> vielen anderen, anfangs<br />
so schön <strong>und</strong> ideal gewesenen<br />
Dingen. Und noch vor erst zwei Jahren<br />
schien es, daß die Idee des 1. Mai langsam<br />
aber sicher. den unvermeidlichen Tod<br />
der Unfruchtbarkeit sterben würde, höchstens<br />
d i e Länder ausgenommen, in denen<br />
es noch kein Wahlrecht gab <strong>und</strong> die eine<br />
sozialistische Bewegung hatten; aber auch<br />
in ihnen artete die Begehung des 1. Mai<br />
vielfach aus in ein ganz demagogisches<br />
Propagieren für rein politische Zwecke,<br />
statt auf die ökonomischen Gr<strong>und</strong>gedanken<br />
des Tages einzugehen.<br />
Es war die in Frankreich von den<br />
kommunistischen Anarchisten begründete<br />
r e v o l u t i o n ä r e Gewerkschaftsbewegung,<br />
die als die rettende Macht auftrat <strong>und</strong> den<br />
1. Maigedanken dem sonst sicheren Tode<br />
entriß, ihn zu seinem ursprünglichen Wesensgehalt<br />
— zum Tage der Proklamierung des<br />
ökonomischen Kampfes! — zurückführte.<br />
Durch den in Frankreich allenthalben am<br />
1. Mai 1906 ausbrechenden Generalstreik,<br />
d e r d e n f r a n z ö s i s c h e n A r b e i t e r n<br />
i n 1 1 G e w e r b e n d e n A c h t s t u n d e n -<br />
t a g d u r c h s e t z t e , dadurch hat der 1. Mai<br />
seine internationale Bedeutung wieder gewonnen.<br />
A b e r n u r i n l e t z t e r e m S i n n e ,<br />
i m S i n n e d e r a k t u e l l e n , a k t i v e n<br />
K a m p f e s b e t ä t i g u n g !<br />
ihm. — So rinnt <strong>und</strong> fließt das Blut, so rot, so<br />
prangend, im weißen, weichen Schnee. Der nimmt<br />
es auf — als ob er mit ihm fühlte, um was es litt,<br />
um was es hier herkam! Der Schnee erbarmt sich,<br />
der kalte Schnee — wie kalt mußt' da wohl jenes<br />
Herze sein! — er nimmt es auf, das Blut, <strong>und</strong> sachte<br />
läßt ers gleiten <strong>und</strong> sinken in der Erde Schoß hinab.<br />
Und sie, die Erde, kalt fast wie der Schnee, sie<br />
nimmt es auf. Sie nimmt ja alles, was da oben nicht<br />
Zutritt, nicht Gewähr gef<strong>und</strong>en. — So kommt das<br />
Menschenblut zum Erdenleib, das Kind zum Mutterschoß,<br />
zum Busen warm <strong>und</strong> voller Lieb, zurück.<br />
So tropft es nun, hier klingend, singend nieder,<br />
im Garten dieses Schlosses in der tiefen Erde. Hier<br />
st<strong>und</strong>en nun die Edelknaben <strong>und</strong> Mägdlein <strong>und</strong><br />
schauten, was sich oben im Menschenlande zugetragen.<br />
Und die Mägdlein blickten gar traurig, denn<br />
ihre Herzen waren voller Weh. Die Knaben aber<br />
umdrängten die Königin mit glühenden Wangen <strong>und</strong><br />
blitzenden Augen <strong>und</strong> riefen:<br />
„Frau Königin, unsern Harnisch, die Schilde, unser<br />
Schwert!<br />
Gebt's uns, damit wir ziehen hinauf zum Land" der<br />
Erd'!<br />
Zu rächen diese Bluttat, zu sühnen diese Schmach,<br />
An diesem Greuelkönig, noch heute, diesen Tag!"<br />
Die Königin aber st<strong>und</strong> still <strong>und</strong> ruhig. Sie<br />
streckte ihre Hand aus über die roten Blumen, da<br />
wurden sie zu starken, mächtigen Gesellen. Sie<br />
trugen rote Kleider, darüber einen Harnisch aus<br />
Eisen. In ihren Händen trugen sie ein Schild <strong>und</strong><br />
mächtiges Schwert, das war scharf <strong>und</strong> spitz wie<br />
der Stachel der Blumen. Sie waren gar stattlich zu<br />
schauen <strong>und</strong> machten wohl des Feindes Herz erzittern<br />
in Furcht <strong>und</strong> Grauen. Und die Königin<br />
sprach:<br />
„Dies sind die roten Tropfen, die Tränen sind<br />
genannt!<br />
Dies sind die roten Sühner fürs Erdenmenschen-<br />
Land!<br />
So rinnet denn, Ihr Tröpflein, so trüb, so schwer,<br />
so rot!<br />
So singet denn Euer Liedlein, von schmerzend'<br />
W<strong>und</strong>' <strong>und</strong> T o d !<br />
Bis diese Schaar der Sühner zum Heer geschwollen<br />
sei.<br />
Dann lauschet! Wehe, wehe! Der roten Tränen<br />
Schrei!"
Vor mehreren Wochen begab sich<br />
eine sozialdemokratische Deputation der<br />
französischen Bäckergewerkschaft zum sozialdemokratischen<br />
Arbeitsminister Frankreichs,<br />
V i v i a n i , legte ihm verschiedene<br />
Mißstände in ihren Details vor <strong>und</strong> verlangte<br />
um Abhilfe, anderseits um* gesetzliche<br />
Verfolgung der Unternehmer, die ja<br />
ganz offenk<strong>und</strong>ig das Gesetz verletzten,<br />
sich über dessen Wortlaut hinwegsetzten.<br />
Herr Viviani ist ein »Ehrenmann«, er zuckte<br />
mit den Achseln <strong>und</strong> antwortete kühl:<br />
» W e n n S i e n i c h t d u r c h I h r e G e -<br />
w e r k s c h a f t e n d i e s e Ü b e l s t ä n d e<br />
b e h e b e n k ö n n e n , ich k a n n e s n i c h t ,<br />
d e n n d a s G e s e t z g e s t a t t e t s t e t s<br />
v i e l f a c h e A u s l e g u n g e n « .<br />
Als sozialdemokratischer Abgeordnetenkandidat<br />
hat Viviani wohl nicht so frank<br />
<strong>und</strong> frei gesprochen; damals v e r s p r a c h<br />
er vieles <strong>und</strong> alles, heute, wo er es halten<br />
soll, als Minister streift er sein Gehalt ein<br />
— seine ehemaligen Versprechungen sind<br />
unausführbar geworden . . .<br />
Und sie sind in der Tat unausführbar<br />
vom Standpunkte des Beobachters <strong>und</strong><br />
Kenners des Staates aus geurteilt. Man vergesse<br />
niemals: Der Staat ist die Regierungsmaschinerie<br />
der Besitzenden, <strong>und</strong> diese<br />
geben den Lohnsklaven nicht etwa d a z u<br />
das Recht zu stimmen, zu wählen, um sich<br />
diese Regierungsmaschine von ihnen nehmen<br />
zu lassen — was auf parlamentarischem<br />
<strong>Weg</strong>e unmöglich, wie alle wissen — sondern<br />
um die Wortführer des Proletariats<br />
durch die Anteilnahme am bürgerlichen<br />
Parlamentarismus in den Lebenskreis der<br />
bürgerlichen Welt hineinzuziehen, sie dem<br />
Proletariat <strong>und</strong> seinen Klassenkämpfen zu<br />
entziehen, kurz, den Sozialismus dadurch<br />
zu vernichten, wie es ihnen wesentlich, soweit<br />
die Sozialdemokratie maßgeblich, auch<br />
schon gelang.<br />
Als kommunistische Anarchisten fordern<br />
wir das Proletariat auf zur Begehung <strong>und</strong><br />
Vorbereitung des 1. Mai in dem Sinne,<br />
daß er der erste Tag einer durch den<br />
Generalstreik einzuleitenden allgemeinen<br />
ökonomischen Aktion sei. Der 1. Mai darf<br />
nicht sein ein entwürdigendes Petitionieren<br />
<strong>und</strong> Bitten um den Achtst<strong>und</strong>entag — wie<br />
lange, wie lange bittet <strong>und</strong> bettelt schon<br />
die deutsche Sozialdemokratie vergebens<br />
auf diesem <strong>Weg</strong>e? — sondern das geschlossene<br />
Vorgehen der österreichischen<br />
organisierten Gewerkschaftsbewegung in<br />
den Kampf für den Achtst<strong>und</strong>entag. Das<br />
Proletariat hat am 1. Mai die Arbeit niederzulegen,<br />
am 2. <strong>und</strong> folgenden Mai aber<br />
n i c h t zur Arbeit zurückzukehren, solange<br />
die aufgestellte Forderung des Achtst<strong>und</strong>entages<br />
oder eine andere nicht zugestanden<br />
wurde. H<strong>und</strong>erte von Unternehmer in<br />
Frankreich haben in ihren Fabriken bloß<br />
auf die Drohung hin, den Kampf in obigem<br />
Sinne zu führen, gleich von vornherein die<br />
Forderung des Achtst<strong>und</strong>entages zugestanden.<br />
Uns ist der 1. Mai ein Tag der direkten<br />
Aktion. Um sie durchzuführen, dazu bedarf<br />
es keiner Politiker, sie sind dem Proletariat<br />
nur schädlich in seinem Kampfesringen,<br />
denn sie erringen durch die Arbeiterklasse<br />
d i e j e n i g e höhere Lebenslage, die sie dem<br />
Proletariat n i c h t zu verschaffen vermögen.<br />
Aber als kommunistische Anarchisten<br />
wissen wir auch, daß der Achtst<strong>und</strong>entag,<br />
wie eine ganze Anzahl ähnlicher Palliativmittel,<br />
die Frage des sozialen Elends, das<br />
Problem des Reichtums auf Kosten der<br />
Armut, die Herrschaft des Menschen über<br />
den Menschen nicht zu lösen vermag. Aus<br />
diesem Gr<strong>und</strong>e ist uns der 1. Mai ein noch<br />
höheres Zweckmittel. Er ist uns die Geburt<br />
des » f e s t e n W i l l e n s d e r Arb<br />
e i t e r k l a s s e « , » d u r c h d i e s o z i a l e<br />
U m g e s t a l t u n g d i e K l a s s e n u n t e r -<br />
s c h i e d e « u n d j e d e H e r r s c h a f t z u<br />
beseitigen. Der 1. Mai lehrt den Proletarier,<br />
die Kraft, die erhabene, gewaltige<br />
Größe seiner Solidarität <strong>und</strong> vereinten<br />
Aktion endlich zu würdigen. Er erweckt in<br />
ihm den Tatenmenschen, jenes geistige<br />
Etwas der Persönlichkeit, das in den<br />
Worten: » S e l b s t i s t d e r M a n n ! « gelegen,<br />
das aber durch den 1. Mai die unabsehbar<br />
riesenhaftere Bedeutung, den<br />
tieferen Wortsinn gewinnt: Im g e m e i n -<br />
s a m e n , s e l b s t ä n d i g e n K a m p f e s i n d<br />
w i r A l l e M ä n n e r !<br />
Uns kommunistischen Anarchisten gebührt<br />
das Verdienst, die Entwicklung der<br />
1. Maiidee so beeinflußt zu haben, daß sie<br />
die Möglichkeit in sich trägt, alle in ihr<br />
ruhenden Zukunftselemente frei entfalten<br />
<strong>und</strong> betätigen zu können. Was Unentwickeltes<br />
an ihr ist, das ward ihr durch die<br />
Verführung des Proletariats auf parlamentarische<br />
Abwege; was sie aber sein wird,<br />
das soll das Proletariat aus ihr machen,<br />
das im Zeichen der direkten Aktion ihr<br />
lebendigste Wirkung bieten <strong>und</strong> den<br />
Kampfesgedanken des 1. Mai zu einem<br />
Lichtgedanken des kommunistischen Anarchismus<br />
wird werden lassen !<br />
Der 1. Mai als Tag des<br />
Generalstreiks.<br />
„Die F r a g e d e r A r b e i t s r u h e<br />
am 1. M a i f ä l l t - d a s s a g t e ich<br />
s c h o n — u n t e r d e n o b w a l t e n d e n<br />
V e r h ä l t n i s s e n m i t d e r F r a g e d e s<br />
G e n e r a l s t r e i k s t a t s ä c h l i c h z u -<br />
s a m m e n . . . Der Generalstreik für<br />
ein Land oder gar der Weltstreik aber<br />
ist ein U n s i n n . . . Der Gedanke des<br />
allgemeinen Streiks muß als unsinnig<br />
verworfen w e r d e n . . . Mögen diejenigen,<br />
die die Arbeitsruhe durchführen können,<br />
es tun — für s i c h ; aber keine Aufmunterung<br />
zu tollen Versuchen darf<br />
erfolgen, für welche die Partei, um<br />
nicht geschädigt zu werden, die Verantwortung<br />
ablehnen müßte . .<br />
(Wilhelm Liebknecht auf dem Parteitage<br />
in Köln, 1893).<br />
Fünfzehn Jahre sind über die obigen<br />
Worte Liebknechts, des Mannes, der in<br />
seinem ganzen Denken weit mehr bürgerlicher<br />
Demokrat, als proletarischer Sozialist<br />
gewesen, dahin gegangen. Wer vermöchte<br />
sie heute zu lesen ohne zu lächeln? Wo<br />
hat die Erfahrung der letzten fünf bis sechs<br />
Jahre, die uns eine Fülle von Aktionen<br />
brachte, die in ihrer ganzen Machtimposanz<br />
Generalstreiks waren <strong>und</strong> die F<strong>und</strong>amente<br />
der kapitalistischen Wirtschaftsordnung erschütterten,<br />
diese obigen, behaglich-satten<br />
Spießerworte eines Liebknechts gelassen?<br />
Als tote <strong>und</strong> längst überw<strong>und</strong>ene Ladenhüter<br />
historischer Schanddokumente des<br />
reaktionären Geistes der Sozialdemokratie<br />
existieren sie noch; auch noch in den Reden<br />
der Politiker, die um ihre parlamentarischen<br />
Würden bangen; aber als lebensspendende<br />
Weisheit der Praxis <strong>und</strong> Theorie der internationalen<br />
Arbeiterbewegung sind sie längst<br />
abgetan <strong>und</strong> beigelegt. Selbst die Gegner<br />
haben sich zum verschämten demagogischen<br />
Zugeständnis mit dem »Massenstreik« herbeigelassen,<br />
den sie allerdings n u r d a n n<br />
angewendet sehen wollen, wenn i h r e Existenz,<br />
ihre Parlamentswürden in Gefahr<br />
sind, oder es gilt, solche zu erwerben.<br />
Heutzutage ist der Generalstreik, diese<br />
kräftigste Aktionsidee der alten »Internationale«,<br />
zu einer praktischen Methode der<br />
internationalen Arbeiterbewegung geworden,<br />
die, soweit sie sich bessere Lebensverhältnisse<br />
ernstlich erringen will, sich nur auf<br />
den Generalstreik für ökonomische Zwecke<br />
stützen kann.<br />
So borniert lächerlich heute die Worte<br />
Liebknechts für jedes im sozialen Kampf<br />
geschärfte Proletariergehör klingen, in einem<br />
aber hat er recht <strong>und</strong> stimmen wir ihm<br />
aus vollstem Herzen bei: D i e F r a g e d e s<br />
1. M a i fällt t a t s ä c h l i c h m i t d e r<br />
F r a g e d e s ö k o n o m i s c h e n G e n e r a l -<br />
s t r e i k s z u s a m m e n . Wir finden dies so<br />
selbstverständlich, daß wir auch die haßerfüllte<br />
Gegnerschaft Liebknechts wider die<br />
Arbeitsruhe am 1. Mai — <strong>und</strong> die Wörtlein<br />
»für sich« gemahnen in ihrem weiteren<br />
Zusammenhang direkt an die Aufforderung<br />
zum Streikbruch! — gleichfalls als eine<br />
konsequente Verfolgung des ersthin eingenommenen<br />
Standpunktes betrachten.<br />
Wer den Generalstreik n i c h t will,<br />
kann die vorbereitende Einübung für ihn,<br />
sozusagen das Manöver zum Generalstreik,<br />
das Präludium zum ganzen, großen Massenchor<br />
a u c h n i c h t wollen. Er begegnet<br />
sich hier mit unseren konservativen großkapitalistischen<br />
oder kleinbürgerlich-christlichsozialen<br />
Reaktionskreisen — auch sie<br />
wollen weder den Generalstreik noch den<br />
1. Mai als Kampfestag des Proletariats. Die<br />
Gegner des Generalstreiks sind sich alle<br />
gleich: haßerfüllter Widerwillen jeder selbständigen<br />
Massenregung des Proletariats<br />
gegenüber.<br />
Vor uns liegt ein erst kürzlich erschienenes<br />
Werk über » G e s c h i c h t l i c h e s<br />
z u r M a i f e i e r i n D e u t s c h l a n d ; n a c h<br />
T a t s a c h e n m a t e r i a l z u s a m m e n g e s t e l l t<br />
v o m V o r s t a n d d e s D e u t s c h e n M e -<br />
t a l l a r b e i t e r v e r b a n d e s . « Es ist ein<br />
Buch, das ein trübes Licht auf die gesamte<br />
deutsche Arbeiterbewegung wirft <strong>und</strong> uns<br />
Österreichern, deren eigene Sozialdemokratie<br />
ja nichts anderes ist als eine geistige<br />
wie taktische Ablagerung der deutschen<br />
Partei, wohl im Stande sein sollte, ein<br />
warnendes Halt! zuzurufen auf der unheilvollen<br />
parlamentarischen Irrlichterbahn, auf<br />
der sich die österreichische Arbeiterbewegung<br />
»bewegt« oder eigentlich stagniert. Denn<br />
so unglaublich es klingen mag, das Buch<br />
ist ein vom Geiste wildesten Ingrimmes<br />
gegen die Maifeier durchdrungenes Werk,<br />
obwohl es sozialdemokratische Gewerkschaftsgrößen<br />
als Verfasser, resp. Kompilatoren<br />
hat. Dieses Gefühl der Gegnerschaft<br />
ringt sich überall durch <strong>und</strong> äußert sich<br />
im niedersten Verzerren des andersgesinnten<br />
prinzipiellen Standpunktes, verschont die<br />
eigenen Parteigenossen nicht, wie auch<br />
unser Viktor Adler <strong>und</strong> Schumeier — die<br />
damals die »Radikalen« spielten — nicht<br />
übersehen werden <strong>und</strong> mit einigen hämischen<br />
Bemerkungen gerügt werden für ihre<br />
vor über ein<strong>und</strong>einhalb Jahrzehnt wesentlich<br />
korrekte Haltung in Sachen der Maifeier.<br />
Der Metallarbeiterverband Deutschlands<br />
gehört zu den größten Gewerkschaftsverbänden<br />
der Welt <strong>und</strong> eine Manifestation dieser<br />
Art von seiner Seite ist äußerst bemerkenswert.<br />
Die Gegnerschaft d i e s e r wie auch anderer<br />
deutscher Gewerkschaften ist schon seit<br />
Jahren besonders grimmig <strong>und</strong> immer stärker<br />
anwachsend. Daß die Partei mit diesen<br />
Umständen zu rechnen hat, geht dadurch<br />
hervor, daß sie alljährlich die Feier des<br />
1. Mai auf die eine oder andere Art hinterrücks<br />
<strong>und</strong> heimtückisch abzutun versucht,<br />
zum großen Teil darin erfolgreich ist.<br />
Als Gr<strong>und</strong> für die Bekämpfung der<br />
Arbeitsruhe am 1. Mai geben die Herausgeber<br />
des obgenannten Werkes an, daß<br />
diese zu zahlreichen Aussperrungen von<br />
Seite der Unternehmer wider die Arbeiter<br />
führe, die finanziellen Verhältnisse der Gewerkschaften<br />
schwer schädige <strong>und</strong> viele<br />
Gemaßregelte hinterlasse, die noch Wochen<br />
<strong>und</strong> Monate darnach brotlos sind.<br />
So ist es um die deutsche Arbeiterbewegung<br />
bestellt! Und aus allen diesen<br />
Gründen gelangt sie zu dem beruhigenden<br />
Ergebnisse, man brauche den 1. Mai nicht,<br />
denn dieser koste zu viele Opfer, wobei<br />
die Herren vornehmlich an die Kassenverhältnisse<br />
denken, da es doch nicht ihre
Sache ist, sich sonst um Arbeiter zu bekümmern,<br />
die mutig <strong>und</strong> selbstbewußt den<br />
Kampf wider den Kapitalismus aufnehmen.<br />
Es ist eine interessante Erscheinung,<br />
daß die sozialdemokratischen Parteien aller<br />
Länder stets* den 1. Mai votieren — aber<br />
immer n u r als Demonstrationstag für rein<br />
bürgerliche parlamentarische Zwecke <strong>und</strong><br />
Methoden. Daß eine s o l c h e A r t d e s<br />
V o r g e h e n s die Arbeiter wirklich der<br />
Gnade oder Ungnade des Kapitalismus<br />
ausliefert, kümmert sie wenig <strong>und</strong> sie trachten<br />
gar nicht darnach, Mittel <strong>und</strong> Methoden<br />
anzuwenden, die, bei gleichzeitiger, konsequenter<br />
Durchführung der Maifeier, doch<br />
immerhin die Macht des Proletariats über<br />
die kapitalistische Klasse e r h ö h e n <strong>und</strong><br />
s t e i g e r n , nicht aber schwächen könnten.<br />
Am 1. Mai soll <strong>und</strong> darf nicht verschwiegen<br />
werden, daß die Art <strong>und</strong> Weise,<br />
wie er gegenwärtig begangen wird, für<br />
das Proletariat dort, wo er wirklich durchgeführt<br />
wird, wohl ein leuchtendes Beispiel<br />
edelster Solidarität bietet, aber in seinen<br />
ökonomischen Errungenschaften gleich Null<br />
ist. Und warum dies?<br />
Weil die Politiker die Bewegung für<br />
sich, für i h r e Zwecke ausnützen, sie als<br />
Hebel für ihre parlamentarischen Schachereien<br />
verwerten, trotzdem sie auch da nichts<br />
für die Arbeiterklasse erzielen können. Ein<br />
Zusammenkommen, in dem an den Staat<br />
die Forderung auf Gewährung des Achtst<strong>und</strong>entages<br />
<strong>und</strong> sonstige Wünsche in<br />
bezug auf Arbeitergesetzgebung u. dgl.,<br />
gerichtet werden, ist total wertlos. Dieses<br />
Bitten ist für den Klassenkampf des Proletariats<br />
entwürdigend, <strong>und</strong> ein Fordern an<br />
unrechter Stelle ist stets nur Toren Vergnügen.<br />
Freilich — dies sei zugestanden: Für<br />
solches eitles selbstgefälliges Sichhinstellen<br />
der Politiker, die sich dann als die einzigen<br />
Rettungsengel für das Volk anpreisen, verlohnt<br />
es sich nicht, auch nur eine Minute<br />
Arbeitslohn <strong>und</strong> Verdienst zu verlieren, geschweige<br />
denn einen Tag. Und wenn nach<br />
der Maifeier Aussperrungen <strong>und</strong> sonstige<br />
terroristische Akte |der kapitalistischen<br />
Klasse wider das Proletariat folgen, so<br />
hat es sich wahrlich nicht verlohnt,<br />
all dieses durchzumachen — nur um<br />
am 1. Mai an den Staat die untertänigste<br />
Forderung für den Achtst<strong>und</strong>entag richten<br />
zu können . . . Für zwecklosen Unsinn<br />
seine Lebensenergie vergeuden, ist selbst<br />
ein Unding <strong>und</strong> Unsinn. Und da die deutschen<br />
Gewerkschaften es bereits längst<br />
gefühlt haben, daß die parlamentarische<br />
Sozialdemokratie auch nicht einmal das<br />
Geringste für sie durchzusetzen oder gegen<br />
sie abzuwehren vermag, haben sie natürlich<br />
keine Lust, sich als Beute für politische<br />
Ehrgeizeleien benützen zu lassen. Für einen<br />
Augenblick ganz abgesehen von ihrer sonstigen<br />
zünftlerisch-kleinlichen Art <strong>und</strong> Auffassung.<br />
Was ist die Ursache dieses Verfalls<br />
der Maifeier?<br />
Die Antwort ist sehr einfach: D i e<br />
Maifeier ist e n t w e d e r d e r P r o k l a -<br />
m a t i o n s b e g i n n e i n e s a l l j ä h r l i c h e n<br />
G e n e r a l s t r e i k e s für b e s t i m m t e ö k o -<br />
n o m i s c h e F o r d e r u n g e n , o d e r s i e<br />
ist s e l b s t r e d e n d n i c h t s a l s ein<br />
A d e r l a ß für d i e A r b e i t e r k l a s s e .<br />
In ersterem Falle ist sie der Kampf um<br />
bessere Lebensbedingungen, Hebung des<br />
Existenzniveaus der ganzen Klasse, Vermehrung<br />
ihrer Macht — was alles noch<br />
begünstigt wird durch die vielen H<strong>und</strong>erttausende<br />
im Kampfe feiernden <strong>und</strong> stehenden<br />
Generalstreiker des 1. Mai. Ein s o l c h e r .<br />
1. Mai hört nicht auf mit dem Abend des<br />
Tages, sondern er ist die weihevolle Rüstung<strong>und</strong><br />
die freudevolle Instimmungbringung<br />
zum großen Kampf, der mit einem Siege<br />
enden muß <strong>und</strong> damit der Maiidee einen<br />
p o s i t i v e n ö k o n o m i s c h e n I n h a l t<br />
bietet, der für den Arbeiter mehr Brot <strong>und</strong><br />
mehr Lebenszeit bedeutet<br />
In jedem anderen Falle ist die Maifeier<br />
nichts als eine nur sehr bedingte wertvolle<br />
Demonstration, die nur in dem Maße wirkungsvoll<br />
zu sein vermag, als sie die herrschende<br />
kapitalistische Produktionsweise<br />
schädigt.<br />
Wir stehen aus diesem Gr<strong>und</strong>e nicht<br />
an, die Behauptung Liebknechts, daß die<br />
Frage der Arbeitsruhe am 1. Mai eine Frage<br />
des Generalstreiks ist, ausdrücklich für<br />
r i c h t i g zu erklären. Uns Anarchisten ist<br />
der 1. Mai stets nur ein Solidaritätsflammen<br />
zur Vorbereitung des Generalstreikes <strong>und</strong><br />
wir müssen darauf hinarbeiten, daß er es<br />
wirklich werde, daß der 1. Mai der Eröffnungstag<br />
eines Generalstreikkampfes für die<br />
Verbesserung unserer ökonomischen Verhältnisse<br />
sei!<br />
Der Gedanke des 1. Mai ist entstanden<br />
aus den großen Generalstreikkämpfen der<br />
amerikanischen Arbeiter in den 80 Jahren<br />
des verflossenen Jahrh<strong>und</strong>erts. Heute wissen<br />
wir, die russische Revolution, wie auch<br />
Frankreich, Spanien, Italien, Holland, die<br />
romanische Schweiz, um nur europäische<br />
Länder zu nennen, haben es uns wiederholt<br />
bewiesen, welche ökonomischen Vorteile<br />
das Proletariat durch den Generalstreik zu<br />
erzielen vermag; heute erscheinen die<br />
Worte Liebknechts von dem »Unsinn« des<br />
Generalstreiks albern <strong>und</strong> durch die Tatsachen<br />
widerlegt. Was 1889 der französische<br />
Allemanist T r e s s a u d befürwortete, als er<br />
die Idee des 1. Mai mit dem Generalstreik<br />
vereinigte, das muß heute, auf ungleich<br />
klarerer Erkenntnis- <strong>und</strong> Erfahrungsstufe,<br />
als es damals geschehen konnte, wieder<br />
ausgesprochen werden:<br />
D i e A r b e i t s r u h e a m 1 . Mai s o l l<br />
s e i n d i e V e r k ü n d i g u n g d e s G e -<br />
n e r a l s t r e i k s !<br />
D e r G e n e r a l s t r e i k i s t d i e S e e l e<br />
d e s 1. M a i g e d a n k e n s !<br />
D e r 1 . Mai a l s A n f a n g d e s G e -<br />
n e r a l s t r e i k s m u ß s c h o n i n n a h e r<br />
Z u k u n f t a u c h f ü r u n s m i n d e s t e n s<br />
d i e E r k ä m p f u n g d e s A c h t s t u n d e n -<br />
t a g e s b e d e u t e n !<br />
Der 1. Mai als Tag des Antimilitarismus.<br />
Kampfesruf <strong>und</strong> Friedensliebe in einem<br />
ist der 1. Mai, ist der Solidaritätstag des<br />
Proletariats. Als Kämpfer tritt der Lohnsklave<br />
der modernen Welt entgegen, als<br />
einer, der einsehen muß, daß es für ihn<br />
keine Erlösung aus ewiger irdischer Qual<br />
geben kann, ohne daß die heutige Gesellschaft<br />
ersetzt wird durch eine Brudergemeinschaft<br />
von Freien <strong>und</strong> Gleichen.<br />
Die ganze bürgerliche Gesellschaft ist<br />
e i n Waffenarsenal. Ihre technischen, ihre<br />
industriellen Betätigungen sind nur möglich<br />
durch die Auspowerung der in gefügigen<br />
Gehorsam gepreßten menschlichen Arbeitskraft.<br />
Aber über ihr, über den ganzen<br />
Schwindel unseres kapitalistischen wie<br />
bürgerlichen Lebens lauert ein Gespenst,<br />
das dieser bestehenden Gesellschaft mehr<br />
denn ein Alpdrücken verursacht: D a s Erw<br />
a c h e n d e r S k l a v e n , die Möglichkeit,<br />
daß dieses Erwachen <strong>und</strong> Recken des<br />
Riesen Arbeit bald kommt!<br />
Dagegen will sie geschützt sein, <strong>und</strong><br />
um sich zu schützen, ist es notwendig, daß<br />
die große Masse mit Blindheit geschlagen<br />
werde.<br />
Was ist der Militarismus anderes als<br />
eine in ein geniales System der Selbstzerstörung<br />
<strong>und</strong> gegenseitiger Zerfleischung<br />
gebrachte Massenblindheit? Die Massen<br />
sehen <strong>und</strong> fühlen nicht das Grauenhafte<br />
ihrer Sklavenexistenz <strong>und</strong> wie Sklaven ihr<br />
Leben stets gering schätzen, so auch die<br />
Masse der Lohnarbeiter, die gerade deshalb<br />
die individuelle Unterwerfung <strong>und</strong><br />
Untertänigkeit gegenüber dem soldatischen<br />
Wort des Vorgesetzten höher stellt, denn<br />
die Wahrheit des tiefen Satzes, der da<br />
spricht: A c h t e i m L e b e n d e s A n d e r e n<br />
d e i n e i g e n L e b e n !<br />
Die heutige Gesellschaft hat zweierlei<br />
Menschenkategorien geschaffen: die Bewaffneten<br />
<strong>und</strong> die Unbewaffneten. In allen<br />
Regionen des Daseinskampfes stoßen wir<br />
auf sie, auf die beiden. Der Unterdrückte ist<br />
stets der Unbewaffnete, selbst dann, wenn<br />
er eine Waffe in Händen hält, der Herrscher<br />
ist stets der Bewaffnete. Nicht durch<br />
die Waffe, die er trägt, sondern durch die<br />
Blindheit des Unbewaffneten, der es nicht<br />
sieht, daß er ihn erst bewaffnet durch seine<br />
eigene Blindheit <strong>und</strong> Unwissenheit<br />
Die einen sind dazu da, um Reichtümer<br />
<strong>und</strong> immer mehr Güter zu erzeugen,<br />
die anderen, um sie sich bewachen, sich<br />
zuführen zu lassen. Und dabei haben diese<br />
Genußsüchtlinge eine betörende komplizierte<br />
Theorie erf<strong>und</strong>en, die sie Nationalismus<br />
oder Patriotismus oder Vaterlandsliebe<br />
u. dgl. m. nannten, so daß sich die Erzeuger<br />
aller gesellschaftlichen Nutzgüter<br />
darob glücklich fühlen, ihre eigenen Produkte<br />
für die anderen bewachen zu dürfen.<br />
Manchmal wird dieser schöne Akkord<br />
durch eine häßliche Dissonanz aufgehoben,<br />
gestört. Da fangen die Menschen an, die<br />
W o r t e genauer zu studieren <strong>und</strong> finden,<br />
daß hinter all den schönen Worten, wie<br />
Nationalismus, Patriotismus usw. nichts ist,<br />
als der grause Eigennutz jener, die sie<br />
lehrten <strong>und</strong> predigen. Das sind dann die<br />
Erkenntnisfrüchte, deren Genuß uns geistig<br />
reif <strong>und</strong> fähig machen wird, uns aus dem<br />
Wortdickicht des Unverstandes <strong>und</strong> der<br />
herrschenden Gewalt zu befreien, bis alle<br />
die obigen Worte vergessen <strong>und</strong> begraben<br />
sind . . .<br />
Denn wehe, wenn über diese Worte<br />
selbst ein Kampf entbrennt! Schon als<br />
Schuljungen lernten wir das »Du s o l l s t<br />
n i c h t t ö t e n!« Der Staat nahm uns später<br />
in die Lehre <strong>und</strong> sprach, unser Wissen erweiternd,<br />
also zu uns: »Du darfst nicht<br />
töten; doch auf meinen Befehl darfst du<br />
es tun, denn ich werde dich nicht dafür<br />
strafen!« Und dann kam ein gestrenger<br />
Herr, der uns mit blutiger Ironie die folgende<br />
Lehre erteilte: »Töte so viel du<br />
kannst, je mehr, desto besser, ein desto<br />
größerer Held bist du!« Dieser Herr war<br />
der Bruder des Staates — d e r K r i e g .<br />
Und die Blinden waren blind <strong>und</strong> betört.<br />
Sie h a ß t e n den Mord, begingen ihn<br />
aber; sie f ü h l t e n , daß der Mord ein<br />
Übel, verübten ihn aber; <strong>und</strong> wenn sie<br />
gar zum Großmord griffen, dann erteilten<br />
sie sich selbst Absolution durch die Worte<br />
eines titanenhaften Massenschlächters, der<br />
einmal gesprochen hatte: »So i s t d e r<br />
K r i e g ! «<br />
Soll es immer also bleiben? Sollen<br />
wir selbst den Militarismus bauen, errichten<br />
<strong>und</strong> aufrechterhalten? Wird niemals der<br />
Geist des Friedens sich in tatsächliches,<br />
praktisches Lebenswirken <strong>und</strong> befruchtendes<br />
Gedeihen, in eine neue, gewaltlose,<br />
herrschaftslose Ordnung umsetzen?<br />
Nicht, so lange wir selbst unsere<br />
Ketten schmieden; nicht, solange wir selbst<br />
an den Militarismus g l a u b e n ; nicht, so<br />
lange wir noch den Hirngespinsten des<br />
Nationalismus, Patriotismus nachhängen;<br />
nicht, so lange es einen Militarismus gibt.<br />
Der 1. Mai verkörpert den großartigsten<br />
Glutgedanken der Bahnbrecher der<br />
Menschheit: N u r i n d e m i h r s e l b s t
a n d e r s w e r d e t , w e r d e n a u c h d i e<br />
E i n r i c h t u n g e n s i c h ä n d e r n ! Solange<br />
sich die Menschheit nicht selbst vom Kriege<br />
abwendet, solange nicht H<strong>und</strong>erttausende<br />
sich verständnisvoll lächelnd betrachten, während<br />
man die Frage stellt: Wer will kämpfen,<br />
wer will in den Krieg? <strong>und</strong> gar nicht in<br />
Eile sind, sie zu beantworten, wird das<br />
grausige Massenmorden, Krieg genannt,<br />
weiterwüten <strong>und</strong> verheeren.<br />
Denn so will es der Staat, j e d e r<br />
Staat, auch der sozialdemokratische Milizstaat!<br />
Doch auf dem ganzen Erdenr<strong>und</strong> ist<br />
ein helles Jauchzen vernehmbar! Es ist die<br />
Solidarität alles Menschlichen, die ihren<br />
R<strong>und</strong>lauf nimmt <strong>und</strong> Nationen, Rassen,<br />
Völker zu einander führt <strong>und</strong> sie im gegenseitigen<br />
Verständnis sich brüderlich in die<br />
Arme sinken läßt. Sie alle werfen ihre<br />
Waffen weg <strong>und</strong> kehren den Kriegsorganisationen<br />
den Rücken — es entsteht die<br />
freie Vereinigung alles menschlich Gemeinschaftlichen,<br />
es entsteht der große internationale<br />
Bruderb<strong>und</strong> der Völkergruppen,<br />
die jeden politischen Nationalismus überw<strong>und</strong>en,<br />
weil sie alle Herrschaft des Menschen<br />
über den Menschen abgestreift haben!<br />
Dafür, als das erste Morgenglühen<br />
eines aufsteigenden, neuen, besseren <strong>und</strong><br />
schöneren Tages, steht der 1. Mai ein;<br />
das ist er.<br />
Solidarität bedeutet Brüderlichkeit; die<br />
Brüderlichkeit ist die Vernichtung aller<br />
Gewaltsmacht; die bestehende Gewaltsmacht<br />
ist der Militarismus, <strong>und</strong> der 1. Mai<br />
ist deshalb die K<strong>und</strong>gebung des Willens<br />
aller geistig Freien, psychisch tief Empfindenden,<br />
ihre Gemeinschaft der Brüderlichkeit<br />
<strong>und</strong> Interessensolidarität jener der Gewaltsherrschaft<br />
entgegenzustellen. Je größer<br />
jene wird, desto unhaltbarer diese. Die Zukunft<br />
wird den 1. Mai zum Maienmond<br />
der Völkerbefreiung gestalten, durch Überwindung<br />
der Eiskruste jeder militärischen<br />
Gewaltsdisziplin, jeder Beherrschung, Bedrückung<br />
<strong>und</strong> Unfreiheit.<br />
Männer <strong>und</strong> Frauen aller Länder! Der<br />
1. Mai verkündet die Lehre der Solidarität<br />
<strong>und</strong> widerhallt bloß von einer Losung:<br />
D i e W a f f e n n i e d e r , v e r n i c h t e n , mit<br />
d e m P f l u g u n d W e r k z e u g d e s f r e i e n<br />
M e n s c h e n v e r t a u s c h e n !<br />
W e l t f r i e d e , d u b i s t k e i n e Illus<br />
i o n , d e i n e M u t t e r h e i ß t — W e l t e n -<br />
m a i !<br />
Die Maifeier in Österreich.<br />
Zum 19. Male begeht die Arbeiterschaft<br />
Österreichs die Maifeier. Wer die<br />
erste Maifeier im Jahre 1890 miterlebt <strong>und</strong><br />
mitbegangen hat <strong>und</strong> sie mit den folgenden<br />
vergleicht, der wird den enormen<br />
Unterschied zwischen ehedem <strong>und</strong> heute<br />
fühlen, vorausgesetzt, daß er überhaupt<br />
denkgewohnt ist.<br />
Welch enorme Kraftäußerung lag in<br />
dieser ersten Maifeier!, « Die Arbeiterschaft<br />
war durch die brutalsten Polizeimaßregeln<br />
niedergehalten, ein Teil stand unter dem<br />
berüchtigten Ausnahmszustand; aber auch<br />
dort, wo er nicht verhängt ward, wurde er<br />
praktiziert. Da kam die Botschaft des 1. Mai.<br />
Die Arbeitsruhe derjenigen, die das ganze<br />
Jahr für Andere schaffen, die alle Schätze<br />
erzeugen <strong>und</strong> trotzdem darben. Gleich<br />
einem Orkan stand die Arbeiterschaft auf<br />
<strong>und</strong> warf jeden Widerstand vor sich nieder.<br />
Die Feier war eine würdige, weil<br />
keine erlaubte, sondern eine durch den<br />
Willen der Arbeiter hervorgerufene. Lachend<br />
hörten die Proletarier die Warnungen <strong>und</strong><br />
Verbote der Unternehmer, lachend lasen<br />
sie die Verkündigungen der Ordnungsstützen<br />
<strong>und</strong> gingen darüber hinweg.<br />
Diese Maifeier war nicht das Werk<br />
der sozialdemokratischen Partei, die ja da-<br />
mals verschwindend klein war, sie war der<br />
instinktive Ausdruck des Willens der<br />
Massen, die an ihren Ketten rüttelten; e s<br />
w a r e i n e l e m e n t a r e r M a s s e n s t r e i k .<br />
Die Frage des Achtst<strong>und</strong>entages wurde<br />
besprochen, <strong>und</strong> in den Massen flammte<br />
höher das Maclitgefühl, angesichts der geschlossenen<br />
Fabriken, der verlassenen<br />
Werkstätten.<br />
Das war ein herrlicher Tag; wie ganz<br />
anders die folgenden Jahre bis heute! An<br />
Stelle des kühnen Wagemutes trat das<br />
Wiegen <strong>und</strong> Abwiegeln der sozialdemokratischen<br />
Führer. Wo die Unternehmer<br />
den Tag nicht auf Ersuchen freigaben,<br />
wurde eben fast ausnahmslos gearbeitet,<br />
um Konflikte <strong>und</strong> Maßregelungen zu vermeiden<br />
<strong>und</strong> mancher Arbeiter mußte, wenn<br />
er diesem »klugen Abwägen« nicht Folge<br />
leistete, zur Maßregelung noch die Vorwürfe<br />
der Führer hören. Schließlich setzten die<br />
meisten Unternehmer dem höflichen Ersuchen<br />
keinen Widerstand entgegen, die<br />
Zahl der Feiernden wurde nicht geringer,<br />
aber der revolutionäre Charakter der Maifeier<br />
war dahin.<br />
Was war die Maifeier der sozialdemokratischen<br />
Partei seit 1891, <strong>und</strong> was ist<br />
sie heute?<br />
Versammlungen zu Gunsten des Wahlrechtes<br />
bildeten ihren Inhalt <strong>und</strong> der Gegenstand<br />
selbst wurde Schacher zwischen<br />
zünftlerischen Meistern <strong>und</strong> zünfllerischen<br />
Gehilfenvertretern. Es ist wahr, wir sind<br />
seit den letzten zwanzig Jahren dem Achtst<strong>und</strong>entag<br />
näher gekommen, aber nicht<br />
durch die sozialdemokratische Maifeier.<br />
Was wir errungen haben ist reichlich wieder<br />
durch intensivere Arbeit wettgemacht.<br />
Daß der Achtst<strong>und</strong>entag noch nicht allgemeine<br />
Geltung hat, ist der Bindung der<br />
Arbeiter durch Lohnverträge <strong>und</strong> dem<br />
steten Hinweis auf die parlamentarische<br />
»Aktion« zu verdanken. Der Eigenwille der<br />
Arbeiterschaft ist geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> damit jede<br />
Betätigung im Sinne einer revolutionären<br />
Entwicklung.<br />
Darum die inhaltlose Maifeier der Sozialdemokraten<br />
Österreichs.<br />
Ihr prunkt mit Kampforganisationen;<br />
mit Zehntausenden von Mitgliedern? Wo<br />
sind diese am 1. Mai? Wo sind die Eisenbahner,<br />
Tabakarbeiter, Salinenarbeiter, Arsenalarbeiter,<br />
Handelsangestellte usw. Dürfen<br />
diese es nicht wagen, auch nur e i n e n<br />
Tag frei zu sein? Ist ihre Organisation<br />
nicht stark genug, sich diesen zu erzwingen?<br />
So lange dieses der Fall ist, so lange kann<br />
von einer Maifeier auch nur im Sinne des<br />
Pariser Kongresses nicht gesprochen werden.<br />
Man hat die Massen die ganze Reihe<br />
von Jahren mit bürgerlichen Wahlrechtsfragen<br />
traktiert — bei der heurigen Maifeier<br />
kommt das Frauenwahlrecht daran!<br />
— statt sie mit sozialistisch-schöpferischem<br />
Geist zu erfüllen. Deshalb die B e d e u -<br />
t u n g s l o s i g k e i t der sozialdemokratischen<br />
Maifeier! Wären die verflossenen Maifeiern<br />
von dem Geiste der ersten erfüllt gewesen,<br />
wir wären heute weiter. Wir könnten den<br />
Tag als einen Tag des G e n e r a l s t r e i k s<br />
bezeichnen <strong>und</strong> die Unternehmer samt<br />
ihrer Exekutive, der Regierung, wären nicht<br />
die höhnisch lächelnden Zuschauer, wie sie<br />
es heute tatsächlich sind. —<br />
Wir aber wollen den Tag feiern als<br />
Kampftag; wir wollen ihn feiern in dem<br />
Sinne, daß Alles, was die Arbeiterschaft<br />
erringen muß, nur im schärfsten Kampfe<br />
gewonnen werden kann. Für uns ist er<br />
kein Tag des Forderns von den Machthabern,<br />
sondern ein Tag, an dem wir sagen:<br />
W i r t r a c h t e n , s t a r k g e n u g z u w e r -<br />
d e n , u m u n s d a s z u n e h m e n , w a s<br />
m a n u n s m i t G e w a l t v o r e n t h ä l t :<br />
D e n W o h l s t a n d f ü r A l l e .<br />
E. H.<br />
Was ist Anarchismus?<br />
Der Anarchismus erstrebt ein Zusammenleben<br />
der Menschen ohne Herrschaft.<br />
Sein <strong>Ziel</strong> ist eine Gesellschaft, die<br />
jedem ihrer Mitglieder vollkommene Befriedigung<br />
aller seiner Bedürfnisse nach<br />
Wohlstand <strong>und</strong> Freiheit möglich macht,<br />
welche also durch den freiwilligen Entschluß<br />
der sie bildenden Menschen besteht.<br />
Der Anarchismus will alles beseitigen,<br />
durch was Menschen gezwungen werden<br />
können, nach dem Willen anderer zu leben<br />
<strong>und</strong> als Werkzeuge zur Befriedigung fremder<br />
Bedürfnisse zu dienen: Allen Glauben<br />
an irgendwelche göttliche oder menschliche<br />
höhere Gewalten, alle Furcht, Verehrung<br />
<strong>und</strong> Gehorsam vor denselben, alle<br />
religiöse <strong>und</strong> politische Autorität <strong>und</strong> deren<br />
Verehrung; alle wirtschaftliche <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />
Ungleichheit, alle Vorrechte <strong>und</strong><br />
Regierungsformen, alle geschriebenen Gesetze,<br />
Vorschriften <strong>und</strong> Befehle. Er trachtet<br />
danach, den Menschen die große Wahrheit<br />
zum Bewußtsein zu bringen, daß ihr<br />
Leben nicht von einer äußeren Gewalt<br />
oder einem Zufall abhängt, sondern eins<br />
ist mit dem Naturganzen, <strong>und</strong> aus eigener<br />
innerer Naturnotwendigkeit auf dem <strong>Weg</strong>e<br />
des gesellschaftlichen Zusammenwirkens<br />
emporwächst <strong>und</strong> besteht. Der Wohlstand,<br />
die Freiheit <strong>und</strong> das Glück eines j e d e n<br />
hängt ab von dem Wohlstand, der Freiheit<br />
<strong>und</strong> dem Glück A l l e r , die mit ihm<br />
zusammen unter den gleichen Bedingungen<br />
mit ihm leben — <strong>und</strong> so, im weitesten<br />
Sinne genommen, vom Leben der ganzen<br />
Menschheit. Der Mensch kann nur durch<br />
einträchtiges Zusammenwirken, gemeinschaftliche<br />
Arbeit <strong>und</strong> gegenseitige Hilfe;<br />
mit einem Wort: durch die S o l i d a r i t ä t<br />
mit seinen Gefährten, bestehen; <strong>und</strong> ein<br />
Jeder der durch Bekämpfung, Schädigung<br />
<strong>und</strong> Unterdrückung derselben für sich<br />
allein Vorteile zu verschaffen versucht, gefährdet<br />
dadurch das Bestehen der Gesellschaft<br />
<strong>und</strong> so sein eigenes Wohl.<br />
Dieses Bestreben nach Solidarität <strong>und</strong><br />
Herrschaftslosigkeit bedeutet eine vollständige<br />
Umwälzung aller bestehenden gesellschaftlichen<br />
Einrichtungen.<br />
Der Anarchismus will an Stelle des<br />
Privateigentums den gemeinsamen Besitz<br />
<strong>und</strong> gemeinsamen Genuß alles gesellschaftlichen<br />
Reichtums; an Stelle des Kapitalismus<br />
<strong>und</strong> der Lohnarbeit will er freie Arbeitsgruppen,<br />
welche nach eigener Initiative<br />
<strong>und</strong> nach eigenen Bedürfnissen alles zum<br />
Leben Notwendige hervorbringen, <strong>und</strong> in<br />
freier Vereinbarung <strong>und</strong> Vereinigung miteinander<br />
die Produktion <strong>und</strong> die Verteilung<br />
<strong>und</strong> den Austausch der Produkte regeln;<br />
an Stelle des Staates <strong>und</strong> seiner Regierung,<br />
Administration <strong>und</strong> Gerichtsbarkeit strebt<br />
er die freiwillige Vereinigung der Menschen<br />
in autonom föderierte Gemeindeverbände an,<br />
deren Mitglieder ohne Obrigkeit, ohne Gesetze,<br />
ohne Beamten <strong>und</strong> Gerichtshöfe alle<br />
ihre eigenen Angelegenheiten nach ihrem<br />
gemeinsamen Willen <strong>und</strong> Interessen selbst<br />
erledigen, <strong>und</strong> welche sich zur Durchführung<br />
gemeinsamer Angelegenheiten nach<br />
den Bedürfnissen der betreffenden Aufgabe<br />
in Freiheit verständigen <strong>und</strong> verbünden;<br />
an Stelle der jetzigen staatlich beherrschten<br />
<strong>und</strong> dementsprechend begrenzten Länder<br />
<strong>und</strong> politischen Nationen ein brüderliches<br />
Bündnis zwischen den unabhängigen Gemeinden<br />
<strong>und</strong> Föderationen über die ganze<br />
Erde; an Stelle der Religionen <strong>und</strong> feststehender<br />
Moralvorschriften <strong>und</strong> -Gebräuche<br />
das selbständige Denken <strong>und</strong> das Suchen<br />
nach Wahrheitserkenntnis, das Handeln<br />
nach eigenem besten Einsehen <strong>und</strong> Willen<br />
<strong>und</strong> den Anforderungen des Augenblicks,<br />
wie das Erziehen des eigenen Selbst <strong>und</strong><br />
der Kinder zu dieser individuellen <strong>und</strong> so-
zialen Freiheit; an Stelle von Prostitution<br />
<strong>und</strong> Zwangsehe <strong>und</strong> der auf die Autorität des<br />
Oberhauptes gegründeten Familie den freien<br />
geschlechtlichen Verkehr zwischen Männern<br />
<strong>und</strong> Frauen, die sich nur aus gegenseitiger<br />
Liebe <strong>und</strong> Leidenschaft einander hingeben;<br />
<strong>und</strong> eine Lebensgemeinschaft von Mann<br />
<strong>und</strong> Weib, Eltern <strong>und</strong> Kindern, die durch<br />
Bedürfnis <strong>und</strong> Liebe zusammengehalten<br />
werden <strong>und</strong> frei ihren eigenen Lebensweg<br />
gehen können, sobald diese aufhören.<br />
Kurzum: An Stelle von jeglichem Herrschen,<br />
von Zwang <strong>und</strong> Gewalt will der Anarchismus<br />
in allem die Solidarität, die freie<br />
Vereinbarung <strong>und</strong> das freie Zusammenwirken<br />
der Menschen setzen.<br />
Diese vollständige Änderung des gesamten<br />
Lebens der Menschheit erscheint<br />
dem Anarchismus nur durch die vollständige<br />
Änderung der Weltanschauung<br />
<strong>und</strong> der daraus folgenden Handlungsweise<br />
der Menschen selbst möglich. Der Zustand<br />
einer Gesellschaft ist der Ausdruck <strong>und</strong> das<br />
Ergebnis des geistigen Niveaus der Menschen,<br />
die sie bilden, <strong>und</strong> kann nicht von<br />
außen her, durch Taten <strong>und</strong> Verfügungen<br />
Einzelner oder einer kleinen Minderheit,<br />
ohne das selbstbewußte Mittun der großen<br />
Masse des Volkes, geändert werden. Der<br />
Anarchismus ist eben nichts anderes, als<br />
das aus der eigenen Vernunft entspringende<br />
selbständige Handeln aller Gesellschaftsmitglieder,<br />
<strong>und</strong> die aus dem Zusammenwirken<br />
dieser Handlungen naturgemäß<br />
entstandene soziale Ordnung <strong>und</strong> Harmonie.<br />
Nur wenn ein ausschlaggebender Teil<br />
der Menschen — in einer bestimmten Gesellschaft<br />
— durch vorurteilsfreies Denken<br />
zur klaren Erkenntnis der anarchistischen<br />
Idee gelangt <strong>und</strong> fähig ist, aus eigener<br />
Kraft, ohne sich auf Andere zu verlassen<br />
<strong>und</strong> Anderen zu folgen, das zu tun, was<br />
ein Jeder für sich selber im gegebenen<br />
Falle für richtig <strong>und</strong> zweckmäßig hält —<br />
erst dann kann sich die anarchistische Gesellschaft<br />
— das einzige Zukunftsheil der<br />
Menschheit — verwirklichen.<br />
Der Anarchismus erkennt aber, daß<br />
diese neue Gesellschaft nicht glatt <strong>und</strong> allmählich<br />
aus der alten Gesellschaft hervorwachsen<br />
kann. Er ist in Allem ein Gegensatz<br />
<strong>und</strong> nicht eine Fortsetzung derselben.<br />
Diejenigen, die herrschen, streben notwendigerweise<br />
immer danach, ihre Macht<br />
zu erhalten <strong>und</strong> trachten mit allen Mitteln,<br />
es zu verhüten, daß die Beherrschten vernünftig<br />
<strong>und</strong> selbständig denken <strong>und</strong> handeln<br />
sollen; denn dadurch wird die Existenz<br />
der Machthaber, welche einzig auf dem<br />
Gehorsam <strong>und</strong> den Arbeitsdiensten der<br />
Beherrschten ruht, unmöglich gemacht.<br />
Deshalb ist es ebenso unvermeidlich, daß<br />
das Streben der Beherrschten nach Befreiung,<br />
welches gewaltsam zurückgehalten<br />
werden konnte, so lange der überwiegende<br />
Teil derselben noch in Unwissenheit <strong>und</strong><br />
Respekt vor der Autorität befangen war,<br />
sich bis zur sozialen Revolution steigert,<br />
sobald eine genügend zahlreiche <strong>und</strong> starke<br />
Masse der Unterdrückten die Ursache ihres<br />
Elendes <strong>und</strong> die Mittel zur Beseitigung desselben<br />
erkennt. Die soziale Revolution ist<br />
die gesellschaftliche Neugestaltung der gemeinsamen<br />
Lebensformen <strong>und</strong>-Institutionen.<br />
Die Herrschaftsformen der alten Gesellschaft<br />
werden aufgehoben, <strong>und</strong> die anarchistische<br />
Organisation-tritt an deren Stelle.<br />
Die Befreiten werden sich in freien Arbeitsgruppen<br />
<strong>und</strong> Kommunen vereinigen <strong>und</strong><br />
die Befreiung all ihrer Bedürfnisse <strong>und</strong> die<br />
Erledigung ihrer eigenen Angelegenheiten<br />
selbst in die Hand nehmen, ohne sich um<br />
die ihnen aufgezwungenen Beschränkungen<br />
durch Vorrechte, Gesetze <strong>und</strong> staatliche<br />
Institutionen zu kümmern.<br />
Die s o z i a l e R e v o l u t i o n ist der<br />
<strong>Weg</strong> zur Verwirklichung des Anarchismus;<br />
<strong>und</strong> diese soziale Revolution muß vornehmlich<br />
von Jenen durchgeführt weiden,<br />
die am meisten unter den Folgen des gegenwärtigen<br />
Gesellschaftssystems leiden:<br />
von den p r o l e t a r i s c h e n A r b e i t e r n .<br />
Die anarchistische Bewegung stellt sich zur<br />
Aufgabe, durch Aufklärung, Beispiel <strong>und</strong><br />
fortwährende Übung im selbständigen<br />
Handeln (bei Streiks, Massenbewegungen,<br />
freien Vereinigungen auf allen Gebieten des<br />
Lebens etc.) immer größere Massen der<br />
Arbeiterschaft für dieselbe vorzubereiten.<br />
Diese paar Zeilen werden vielleicht<br />
genügen, um ein allgemeines Bild von der<br />
Idee des Anarchismus zu geben, <strong>und</strong><br />
wenigstens soviel klarzulegen, daß derselbe<br />
etwas anderes ist als ein Geheimb<strong>und</strong> von<br />
Königsmördern <strong>und</strong> Bombenwerfern — für<br />
was ihn noch viele heute halten.<br />
Wir Anarchisten bilden uns aber nicht<br />
ein, daß diese Ausführungen auch nur<br />
einen einzigen zur Macht gelangten Gegner<br />
des Anarchismus überzeugt haben, oder<br />
die Verfolgung desselben durch seine<br />
mannigfachen Feinde im geringsten mildern<br />
zu können. Diejenigen, welche ihre bestehende<br />
Herrschaft <strong>und</strong> bevorzugte Lebensstellung<br />
aus Interesse oder auch aus Überzeugung<br />
aufrechterhalten wollen, sowie<br />
diejenigen, welche danach trachten, mit<br />
Hilfe des Volkes ein neues, für sie vorteilhaftes<br />
Herrschaftssystem zu begründen,<br />
haben den Anarchismus mit Recht zu<br />
fürchten. Die Machthaber des gegenwärtigen<br />
Staates — Kapitalisten, Parlament, Regierung,<br />
Polizei — <strong>und</strong> die Streber nach Macht in<br />
einem Zukunftsstaat — die Politiker <strong>und</strong><br />
Volksführer, insbesondere die sozialdemokratischen<br />
— werden den Anarchismus<br />
immer <strong>und</strong> überall aufs Schärfste verfolgen,<br />
<strong>und</strong> die Verbreitung <strong>und</strong> Betätigung<br />
der anarchistischen Idee mit allen ihnen zu<br />
Gebote stehenden Mitteln zu verhindern<br />
trachten.<br />
Denjenigen aber, die sich nicht nach<br />
Macht <strong>und</strong> Vorrechten, sondern nach Freiheit<br />
<strong>und</strong> brüderlichem Zusammenleben der<br />
Menschen sehnen, die sich aber von den<br />
ererbten <strong>und</strong> anerzogenen Ideen über<br />
Religion, die Notwendigkeit der Herrschaft<br />
<strong>und</strong> den Respekt <strong>und</strong> Gehorsam vor der<br />
Autorität noch nicht haben befreien können,<br />
wird es eine Hilfe sein, ein klares Bild von<br />
den Ideen des Anarchismus zu gewinnen,<br />
welchen man ihnen bisher totgeschwiegen,<br />
oder als lächerlichen Wahn oder blutiges<br />
Schreckgespenst dargestellt hat. Vielleicht<br />
wird dies dazu beitragen, daß die österreichischen<br />
Arbeiter den <strong>Weg</strong> finden aus<br />
dem Elend <strong>und</strong> der Unvernunft der heutigen<br />
Zustände zu einer schöneren, besseren,<br />
glücklicheren Zukunft.<br />
Empfehlenswerte Bücher <strong>und</strong> Broschüren :<br />
Der letzte Krieg, von Teräffus, eleg. geb. . K<br />
Wohlstand für Alle, von Peter Krapotkin „<br />
Wiliam Godwin, der Theoretiker des kommunistischen<br />
Anarchismus, v. Pierre Ramus „<br />
Die historische Entwicklung der Friedensidee<br />
<strong>und</strong> des Antimilitarismus, von Pierre<br />
Ramus ,<br />
Das anarchistische Manifest, v. P. Ramus „<br />
Kritische Beiträge zur Charakteristik von<br />
Karl Marx, von Pierre Ramus<br />
Wie klärt man Kinder auf? „<br />
Das Dogma von der Vaterlandsliebe . . . . „ •<br />
Liebesfreiheit <strong>und</strong> Eheprostitution, v. Fernau „<br />
Revolutionäre Regierungen, von P. Krapotkin „<br />
Gretchen <strong>und</strong> Helene, Zeitgemäße Betrachtung<br />
des Anarchismus u. d. Sozialdemokratie „<br />
Die Sintflut, von Theodor Brunnecker . . „<br />
Die Auferstehung, v. Theoder Brunnecker „<br />
Eine Reise nach dem Jenseits, von Theodor<br />
Brunnecker „<br />
Die freie Generation, Monatsschrift der Weltanschauung<br />
des Anarchismus . . . . „<br />
Die Pariser Kommune, von P. Krapotkin . „<br />
5 —<br />
1-80<br />
2 -<br />
•30<br />
•06<br />
12<br />
12<br />
•12<br />
12<br />
•0(3<br />
•20<br />
•12<br />
•12<br />
•12<br />
•2f)<br />
12<br />
GENOSSEN! allen Lokalen,<br />
in denen Ihr verkehrt, den „W. f. A."<br />
In unserem Parlament,<br />
Das Reden nimmt kein End'. . .<br />
Nach G e o r g H e r w e g h , mit Variationen.<br />
1908.<br />
Zu Wien am Donaustrand —<br />
Am Franzensring seins beianand,<br />
Proletariervertreter<br />
Und alle Volkserretter;<br />
Die streiten hin <strong>und</strong> herr,<br />
Wie's Volk zu retten war' —<br />
Im Paria—Paria—Parlament,<br />
Das Reden nimmt kein End'!<br />
Versm.iss : Reim dich, oder ich friss dich !<br />
Zu Wien am Donaustrand<br />
Am Franzensring — soso — benannt,<br />
Da ist kein Parlament — aha —<br />
Der Privilegien mehr — nana —<br />
Nui'mehr ein Volksparlament — a ja<br />
D'rum geht's dem Volk so gut — oha —<br />
Im Paria—Paria—Parlament,<br />
Das Reden nimmt kein End'!<br />
Zu Wien am Donaustrand<br />
Kommen d' Minister g'rannt,<br />
Die werd'n scharf interpelliert,<br />
Dann untertänigst petitioniert,<br />
Daß das Volk hat nichts zu kochen —<br />
D'rauf wird ihnen was versprochen<br />
Im Paria—Paria—Parlament,<br />
Das Reden nimmt kein End'!<br />
Zu Wien am Donaustrand<br />
Sind's außer Rand <strong>und</strong> Band,<br />
Die einen woll'n per T a g der Gulden zehn,<br />
Auch wenn's in die Ferien gehn<br />
Und die Proletariergcnossen — naja —<br />
Die nehmens net? — A ja — die nehmens a 1<br />
Im Paria—Paria—Parlament,<br />
Das Reden nimmt kein End!<br />
Zu Wien am Donaustrand<br />
Das Volkshaus ist ja wohlbekannt,<br />
Da wird der Volksstaat gezimmert,<br />
Wobei das Volk vor Hunger wimmert;<br />
Aber die Volksstaatbaumeister<br />
Werd'n mit zehn Guld'n Taglohn immer feister.<br />
Im Paria—Paria—Parlament,<br />
Das Reden nimmt kein End'!<br />
Zu Wien am Donaustrand<br />
Hols der Teufel mitanandl<br />
Es steht die Welt in Flammen,<br />
Die tratschen noch zusammen;<br />
Wie lange soll das dauern?<br />
Auf was wollt ihr noch lauern?<br />
Dein Paria—Paria—Parlament,<br />
O Volk, mach ihm ein End'! M.<br />
Proletariat, e r w a c h e !<br />
Eingeschlafen ist das Proletariat <strong>und</strong> träumt<br />
entzückt von unschuldigen Abenteuern. Neben ihm<br />
befindet sich das Opium, das die pfiffige Bourgeoisie<br />
als herrschende Klasse dem Volke eingibt, um es<br />
vom Realen <strong>und</strong> vom mißlichen Zustand seines<br />
Lebens abzulenken. So hat es seine positive Lage<br />
vergessen, sich vom wahrhaften Standpunkte des<br />
Exploitierten entfernt <strong>und</strong> sich vor dem Altar beruhigender<br />
Glaubensformeln <strong>und</strong> unschuldiger „Ideale,,<br />
niedergelassen, wo es sich zwischen Versprechungen<br />
<strong>und</strong> Visionen dem Schlafe der Gerechten hingibt<br />
. . .<br />
Armes Proletariat! Während du, betäubt<br />
durch das Opium, von deinem menschlichen Wesen<br />
getrennt lebst, saugt dir die Bourgeoisie mit ihrem<br />
Natterinstinkt das Blut aus deinen Adern <strong>und</strong><br />
träufelt Anemie <strong>und</strong> Ohnmacht in deinen Körper ein.<br />
Wie leicht ist es so, das Volk zu beherrschen!<br />
Doch zum Glücke sind noch Keimlinge jener<br />
Legion bewußter Arbeiter übrig geblieben, deren<br />
Entsagung <strong>und</strong> Beharrlichkeit erhabene Seiten in<br />
der Geschichte des Proletariats ausfüllen <strong>und</strong> deren<br />
Genius jenes herrliche Sternbild — die Solidarität<br />
— entsprang, die der Arbeiterwelt den wahren <strong>Weg</strong><br />
zur Besserung <strong>und</strong> zur sozialen Emanzipation<br />
leuchtet. Und das sind diejenigen, welche, von<br />
Tür zu Tür gehend, ihren Genossen mit der mutigen<br />
<strong>und</strong> hohen Idee der Arbeitersolidarität zurufen:<br />
P r o l e t a r i a t e r w a c h e I !<br />
Übersetzt aus dem Spanischen.<br />
Aufruf!<br />
A n a l l e d i e j e n i g e n , d i e s i c h f ü r d i e<br />
a n a r c h i s t i s c h e B e w e g u n g i n R u ß l a n d<br />
i n t e r e s s i e r e n , ergeht hiermit das Ersuchen,<br />
kleinere <strong>und</strong> größere Geldgaben zu einem bereits<br />
bestehenden Publikationsfonds beizusteuern, aus<br />
dem die Herausgabe des deutschen Manuskriptes<br />
„ G e s c h i c h t e d e r a n a r c h i s t i s c h e n B e -<br />
w e g u n g R u ß l a n d s w ä h r e n d d e r j a h r e<br />
1904—1907" bestritten werden soll. Beiträge sind<br />
zu richten an W. K u b e s c h, Wien, IV., Schönburgstraße<br />
5, 111/27.
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Österreich.<br />
W i e n . Nur Raummangel verursachte es, wenn<br />
wir in letzter Nummer den gewohnten Bericht über<br />
die Tätigkeit unserer Genossen ausfallen lassen<br />
mußten. Es genüge, wenn wir konstatieren, daß<br />
seit Anfang April bis zur letzten Woche über zwölf<br />
Versammlungen stattfanden, in denen die Ideen des<br />
Anarchismus vertreten wurden. Besonders interessant<br />
waren überdies noch die Versammlungen unserer<br />
sozialdemokratischen Gegner, in denen die<br />
Genossen kritisierend das Wort ergriffen. Die geaichten<br />
Partei- oder Gewerkschaftsreferenten wurden<br />
grün <strong>und</strong> blau vor Ärger, daß man es wagte,<br />
ihnen zu widersprechen I Oft sprengten sie lieber<br />
die Versammlung, als einem Anarchisten das Wort<br />
zu erteilen. Bemerken möchten wir, daß solches<br />
Vorgehen des Agitationsleiters des Tonarbeiterverbandes,<br />
Alex. Da Rin, uns einen prächtigen Sieg<br />
verschaffte. <strong>Unser</strong> neugewonnener Kamerad Weijda<br />
berief daraufhin eine § 2-Versammlung ein, die<br />
massenhaft besucht war <strong>und</strong> in der die Ausführungen<br />
des Gen. Ramus auf fruchtbarsten Boden fielen.<br />
Hervorheben möchten wir, daß uns in Weijda ein<br />
trefflicher Agitationsredner gewonnen ist. — Ähnlich<br />
erging es Herrn Exner in dem Metallarbeiterverband,<br />
wo er sich als Retter des ökonomischen<br />
Despotismus, lies: Zentralismus, aufspielte. Seine<br />
Entgegnungen auf den föderalistischen Standpunkt<br />
Ramus, waren alles eher als überzeugend. — Von<br />
besonderem Wert war die Versammlung des „Allg.<br />
Bildungs- <strong>und</strong> Diskussionsklubs", in der Dr.<br />
Weisengrün, der bekannte Marxkritiker, einen Vortrag<br />
über Marx hielt. Die sich entspinnende Diskussion<br />
war höchst anregend. Sehr gut besucht<br />
waren stets die Versammlungen, in denen von<br />
Ramus über den „Römischen Generalstreik <strong>und</strong><br />
die Sozialdemokratie", über „Direkte Aktion <strong>und</strong><br />
Parlamentarismus", über „Kritiker des Anarchismus",<br />
die „Histor. Entwicklung der Friedensidee" referiert<br />
wurde. Besonderes Interesse erregte die Versammlung<br />
der „Allg. Gewerkschafts-Föderation", in der<br />
der Gen. Haidt über „Die moderne Gewerkschaftsbewegung"<br />
sprach. Auch die Schuhmachergewerkschaft,<br />
die in den letzten Wochen an Rührigkeit<br />
erlahmte, begibt sich wieder an ihre Arbeit der<br />
Agitation <strong>und</strong> feierte den Ostersonntag durch eine<br />
Massenversammlung, in der Ramus über die „<strong>Ziel</strong>e<br />
der Gewerkschaftsbewegung" referierte. Alles dies<br />
ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus der geleisteten<br />
Arbeitsfülle, die besonders nachhaltig<br />
wirken muß, durch die gleichzeitige massenhafte<br />
Verbreitung unserer Aufklärungsschriften. Einen besonders<br />
schönen Verlauf nahm der literarische<br />
Kunstabend der Gruppe „Morgenröte", der trefflich<br />
besucht war <strong>und</strong> wo Ramus über „Leo Tolstoi<br />
als Mensch <strong>und</strong> Denker" sprach. Eine reiche Geldsammlung<br />
für unseren Preßfond lohnte die von<br />
Allen mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgten<br />
Ausführungen des Referenten.<br />
*<br />
Z u r B e a c h t u n g ! Zur Charakteristik der<br />
österreichischen Sozialdemokratie <strong>und</strong> ihrer Identität<br />
mit den Christlichsozialen in punkto Ethik<br />
nur zwei Fälle:<br />
1. Eine Bande gemeiner Strolche — <strong>und</strong> die<br />
Burschen nennen sich Sozialdemokraten! — überfiel,<br />
während er Flugzettel für die Versammlung<br />
des III. Bezirkes verteilte, unseren Genossen<br />
Brunner, entriß ihm über 500 Zettel <strong>und</strong> übergab<br />
ihn unter derben Rippenstößen der Polizei!<br />
2. Mitglieder des Transportarbeiterverbandes<br />
— unter ihnen befand sich der im XIV. Bezirke<br />
berüchtigte Wonka — verfolgten drei unserer Genossen<br />
bis zwei Uhr morgens auf der Straße <strong>und</strong><br />
denunzierten schließlich den einen von ihnen, daß<br />
er angeblich konfiszierte Broschüren verkaufe, bei<br />
einem Wachmann, der die vor der gewaltigen<br />
Übermacht sich Flüchtenden zum Stillstand brachte.<br />
Schon vorher hatten die Helden den besagten G e -<br />
nossen, einen kranken <strong>und</strong> schwächlichen Menschen,<br />
geschlagen, nachdem sie ihn um eine kleine Geldsumme<br />
übervorteilt hatten! Solche Menschen sind<br />
Schurken, die Partei weiß sehr wohl, wer sie sind,<br />
<strong>und</strong> wir fragen hiermit an, ob solches Naderertum<br />
von ihr gezüchtet wird?<br />
Wir aber werden wissen, was in Zukunft zu<br />
tun ; so sehr daß wir, wenn es notwendig sein<br />
wird, vor der Öffentlichkeit beweisen werden, w a s<br />
die Sozialdemokraten unter Toleranz <strong>und</strong> Heldenmut<br />
verstehen. Die ärgsten Kriecher in der Fabrik<br />
sind wahrscheinlich die Vertreter d i e s e r Kampfesart<br />
„mit geistigen Waffen!"<br />
*<br />
Konfisziert wurde die letzte Nummer des<br />
„W. f. A." an sechs Stellen, u. a. auch beide in<br />
derselben veröffentlichten Gedichte, von denen das<br />
eine nur Nachdruck w a r !<br />
*<br />
G e n o s s e n ! Keiner verfehle, am 1. Mai,<br />
um 9 Uhr vormittags, unserer Versammlung in<br />
Holubs Saal, XIV., Huglgasse 15 b e i z u w o h n e n ,<br />
wo die Genossen Vohryczek (Prag), Pletka,<br />
Haidt <strong>und</strong> Ramus über die wahre Bedeutung<br />
d e s 1. M a i g e d a n k e n s referieren w e r d e n .<br />
An die tschechischen G e n o s s e n ! Der Kamerad<br />
K. Vohryczek spricht am S o n n t a g den<br />
3. Mai, um 9 Uhr vormittags, in den Rosens<br />
ä i e n , X., Favoritenstraße 89, über „Die böhmischen<br />
Bruderschaften d e s Mittelalters <strong>und</strong><br />
der m o d e r n e Anarchismus". Erscheint in<br />
M a s s e n ! *<br />
Haben wir es nicht stets behauptet, daß die<br />
sozialdemokratischen Proletarier, die sich auf Kosten<br />
ihrer Klassengenossen zur zweifelhaften Würde des<br />
Parlamentariers emporschwangen, natürlicher Weise<br />
jedes Verständnis <strong>und</strong> Gefühl für das Empfinden<br />
ihrer ehemaligen Klasse verlieren müssen? Nur so<br />
ist es möglich, daß die Herren mit einer Unverblümtheit<br />
sondergleichen Anträge einbringen können,<br />
die speziell i h r Los verbessern sollen, jenes der<br />
von dem gleichen Los betroffenen Arbeiter aber<br />
gänzlich unberücksichtigt lassen. Stellt da unlängst<br />
der Sozialdemokrat Tomaschek an den Präsidenten<br />
die Anfrage, ob er es „mit der Ehre des Abgeordnetenhauses<br />
vereinbar findet, daß die Freizügigkeit<br />
der Abgeordneten von Polizei Gnaden abhängig<br />
ist <strong>und</strong> ob er die notwendigen Schritte beim Ministerium<br />
des Innern einleiten will, damit diese Ausweisungen<br />
endlich einmal auch rechtlich aufgehoben<br />
werden". Es handelt sich nämlich um die schmachvollen<br />
Ausweisungen der 80er Jahre, in denen das<br />
Polizeiregime glaubte, der Arbeiterbewegung durch<br />
administrative Verfügungen den Lebensgeist ausblasen<br />
zu können. H u n d e r t e von wackeren Revolutionären<br />
wurden damals von den Ausweisungsmaßregeln<br />
betroffen. Wer kennt nicht die Ausweisungen<br />
Taaffes, der in einer einzigen Nacht<br />
300 Arbeiter auswies! Glaubt man, daß Tomaschek<br />
ihrer a u c h n u r m i t e i n e m W o r t erwähnte,<br />
auch die Aufhebung der seinerzeit gegen sie — <strong>und</strong><br />
eine ganze Reihe von ihnen leben noch — erlassenen<br />
Ausweisungen befürwortete, überhaupt gegen das<br />
A u s w e i s u n g s s y s r e m Front machte? Keineswegs;<br />
der gute Mann begnügte sich damit, für die „Herren<br />
Abgeordneten" ein P r i v i l e g i u m zu fordern, an<br />
die H<strong>und</strong>erte <strong>und</strong> H<strong>und</strong>erte von Arbeitern, die in<br />
ungleich schlechteren Umständen demselben Los<br />
verfielen, dachte er überhaupt nicht, verschwendete<br />
kein Wort auf sie.<br />
Die sozialdemokratischen Führer müssen der<br />
Schafsgeduld ihrer Anhänger ziemlich sicher sein,<br />
um ihnen solch starken Tabak bieten zu können.<br />
Jedenfalls ist die Sache ein beredtes Beispiel für<br />
die maßlose Frechheit des Parvenü!<br />
Vereinigte Staaten.<br />
Einem Korrespondenzbrief eines unserer amerikanischen<br />
Kameraden an die Gruppe „W. f. A.",<br />
entnehmen wir die nachfolgenden Einzelheiten, die<br />
ein grelles Licht auf die Verfolgungen werfen, denen<br />
unsere amerikanischen Genossen ausgesetzt<br />
sind, auch in gebührender Weise die Handlungen<br />
der dortigen Sozialdemokraten/gegen unsere Bewegung<br />
geißeln.<br />
Werte Kameraden! Zweck dieses Schreibens<br />
soll es sein, euch, österreichische Genossen <strong>und</strong><br />
sonstige rechtdenkende Menschen über die nichtswürdige<br />
Taktik der politischen Gaukler in der<br />
schlechten Maskierung eines geflickten Staatssozialismus<br />
während der jüngsten Verfolgungen unserer<br />
hiesigen Bewegung durch den demokratischen<br />
Staat zu informieren.<br />
Was ich auch hier behaupte, die Belege für<br />
meine Abführung sozialdemokratischen Mists entnehme<br />
ich der „New-Yorker Volkszeitung", die angeblich<br />
„den Interessen des arbeitenden Volkes",<br />
tatsächlich aber den kleinlichsten Interessen der<br />
gewerkschaftlichen <strong>und</strong> sozialdemokratischen Krippenschacherern<br />
gewidmet ist.<br />
Was diese „Vettel", wie der Genosse Max Baginski<br />
sie in der „Freiheit" nennt, sich namentlich aber<br />
in der letzten Zeit herausnimmt, das übersteigtden gewöhnlichen<br />
Dunst ihrer wahnwitzigen Überhebung,<br />
mit welchem sie den Horizont ihrer Laster zu umnebeln<br />
trachtet. Aber wenn man bedenkt, daß Advokaten<br />
<strong>und</strong> Pastoren mit Ehrfurcht <strong>und</strong> Hosiannah<br />
in ihren Reihen begrüßt werden, dann kann man begreifen,<br />
weshalb die Entstellung von Tatsachen <strong>und</strong><br />
Begriffen, die Heuchelei vor den Krallen des amerikanischen<br />
Adlers, vor dem „Gesetz- <strong>und</strong> Ordnungsbüttel",<br />
der hiesigen Sozialdemokratie augenscheinlich<br />
heiligste Aufgabe geworden sind.<br />
Es ist immer das Vorrecht von Feiglingen <strong>und</strong><br />
Niederträchtigen gewesen, Rache an ihren Widersachern<br />
zu nehmen, wenn eine allgemeine Verfolgung<br />
dieselben überfiel. Hierin ist die hiesige Sozialdemokratie<br />
in den letzten Tagen der eben hingestellten<br />
Behauptung treu geblieben.<br />
Es ist durch die Tagespresse bekannt, mit<br />
welchen Mitteln die Polizei unsere <strong>Ziel</strong>e <strong>und</strong> unsere<br />
Arbeit verleumdet. Ich will euch nun mit den Entstellungen<br />
bekannt machen, welche die leuchtenden<br />
Irrgeister der „Sozialisten" über sich selbst — zum<br />
vermeintlichen Nutzen beim Stimmenfang — <strong>und</strong><br />
über uns — zum prinzipiellen Schaden der Aufklärung<br />
— verbreiten.<br />
Nachdem die erste Aufregung über den<br />
Bombenfall im Union Square am 28. März, dem<br />
eine Sprengung der Arbeitslosen-Demonstration<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />
durch berittene, nach Kosakenart hausende Polizisten<br />
vorausgegangen war, sich gelegt, hatte der<br />
Advokat <strong>und</strong> Sozialdemokrat Morris Hillquit nichts<br />
Eiligeres zu tun, als die Erklärung für die kapitalistische<br />
Presse abzugeben, daß die „Sozialisten<br />
nichts mit Anarchisten <strong>und</strong> s o n s t i g e n R u h e -<br />
s t ö r e r n zu tun" hätten. Die „sonstigen Ruhestörer"<br />
sind natürlich die Polizisten, deren Äquivalent<br />
also die Anarchisten sein sollen. Dieser so<br />
g e l e e r t e Kopf mochte nicht die Umstände begreifen,<br />
welche zu jenem Verzweiflungsakt getrieben<br />
hatten. Oder der t r ü g e r i s c h e R e c h t s a n w a l t<br />
mochte nicht der Wahrheit die Ehre geben, um<br />
seinem Berufe nicht untreu zu werden. Er hat denn<br />
auch in einer am 4. April im Grand Zentral Palace<br />
abgehaltenen Versammlung sich klar ausgedrückt,<br />
um den Gestank des obigen Ablegers zu ergänzen.<br />
Bezugnehmend auf die Katastrophe am Union<br />
Square sagte er folgendes u. a. „Jedenfalls ist es<br />
nicht unsere Sache, sondern eine Angelegenheit,<br />
die die uniformierten <strong>und</strong> nichtuniformierten Anarchisten<br />
unter einander austragen sollten, wir haben<br />
dafür keine Verantwortlichkeit zu tragen. („N.-Y.<br />
Volkszeitung", 5. April 1908.)"<br />
Um der Polizei zu beweisen, was für gute<br />
Kinder die Sozialisten seien, ergeht sich derselbe<br />
Redner in einer Lobpreisung der Verfassung <strong>und</strong><br />
der Gesetze, daß man nicht umhin kann, als ihn<br />
mit einem gezüchtigten Schulbuben zu vergleichen,<br />
der Abbitte leistet.<br />
„. . . Wir beten sie (d. h. die Gesetze) nicht<br />
als Idole an, aber wir erkennen sie an als v e r -<br />
n ü n f t i g e W e s e n . (?) Wir betrachten die Verfassung<br />
nicht als das letzte Wort politischer Weisheit<br />
<strong>und</strong> Gerechtigkeit, sondern sehen viele der<br />
bestehenden Gesetze sogar als ungerecht <strong>und</strong><br />
grausam an. Wir bemühen uns, die Verfassung zu<br />
amendieren <strong>und</strong> die Gesetze im Einklang mit dem<br />
wirtschaftlichen Fortschritte <strong>und</strong> den Nöten des<br />
Volkes zu ändern, aber wir glauben, daß solche<br />
Änderungen nur durch die r e c h t e n K a n ä l e<br />
herbeigeführt werden können, nur dadurch, daß<br />
wir das Volk von der Notwendigkeit der Änderungen<br />
überzeugen. Wir m e i n e n , daß die Verfassung<br />
<strong>und</strong> G e s e t z e j e d e s z i v i l i s i e r t e n L a n d e s<br />
f ü r a l l e B ü r g e r , v o m P r ä s i d e n t e n d e r<br />
V e r e i n i g t e n S t a a t e n bis zum einfachsten<br />
Arbeiter, ja selbst für den Polizei-Kommissär von<br />
New-York bindend sind, daß sie so lange eingehalten<br />
werden müssen, wie sie bestehen. Die Uniform<br />
des Polizisten nimmt ihn nicht davon aus, er<br />
muß ebenso wie alle anderen Bürger die Gesetze<br />
befolgen <strong>und</strong> je eher das die Polizei erkennt, desto<br />
besser wird es für sie sein".<br />
Ihm folgte Jos. Wanhope, der die Sozialisten<br />
der Polizei als die wahren Bekämpfer des Anarchismus<br />
anpries: „Wo der Sozialismus auftritt",<br />
sagte er, „da verschwindet der Anarchismus. Nur<br />
die Sozialisten können es wagen, die Anarchisten<br />
zu bekämpfen, denn sie haben das Mittel mit dem<br />
sie bekämpft werden können, bessere Verhältnisse,<br />
eine neue Weltordnung."<br />
Er hat sicherlich eine geregelte Vorahnung<br />
vom Polizeistaat, den er eine Weltordnung mit<br />
besseren Verhältnissen nennt! Natürlich schließt<br />
seine Rede mit einem Bombast von Prophezeihungen,<br />
der der heiligen Hermandad den letzten<br />
Athemzug benommen hat, daß sie sich dreimal bekreuzigte,<br />
zu Boden sank <strong>und</strong> den Sozialisten das<br />
Feld überließ.<br />
„<strong>Unser</strong>e Antwort auf die Verbrechen der P o -<br />
lizei vom letzten Samstag wird am nächsten Wahltage<br />
gegeben werden, <strong>und</strong> sie wird lauter <strong>und</strong><br />
wirkungsvoller sein, als der Lärm der Bombe am<br />
Union Square." (Großer Beifall.)<br />
Wem- wollen diese Gaukler da Sand in die<br />
Augen streuen? Wer achtet die Gesetze in den<br />
Vereinigten Staaten? Wer sonst, als der bewachte<br />
Sträfling? Wer w e i ß e s nicht, daß die Gesetze hier<br />
n u r noch im Interesse von Kliquen gemacht werden,<br />
die sie in den Legislaturen „bei Nacht <strong>und</strong><br />
Nebel" durchschmuggeln? Soll das dem Rechtsfamulus<br />
fremd sein, was jedem Laufburschen bekannt<br />
ist? Oder erfordert die Aufrechthaltung des<br />
Arbeitersekretariats, das Herrn Hillquit mit Butter<br />
<strong>und</strong> Honig versorgt, daß die Arbeiter über das<br />
Machen der Gesetze hinters Licht geführt werden?<br />
Aber es wird Euch gut tun zu wissen, wie<br />
die Sozialisten uns „bekämpfen". Da öffnet die<br />
„Volkszeitung" seit Jahr <strong>und</strong> Tag ihre Spalten den<br />
unflätigsten Verleumdungen <strong>und</strong> Entstellungen<br />
anarchistischer Bestrebungen. Ein Genosse sandte<br />
einen Ausschnitt aus der „Einigkeit", 1907, Nr. 45,<br />
in der ein Sozialdemokrat über die Schwächen <strong>und</strong><br />
Mängel, über die von Sozialdemokraten begangene<br />
Entstellung des Sozialismus sich aussprach. Die<br />
Redaktion der „N.-Y. Volkszeitung" weigerte sich,<br />
diese Kritik nebst beifolgender Erklärung zu bringen.<br />
So kleinlich, so niederträchtig ist die Art der Bekämpfung,<br />
welche der hiesigen Polizei von den<br />
Sozialisten angepriesen wird.<br />
» Ob die Sozialdemokraten das Amt der<br />
Polizeier, um das sie sich quasi bewerben, erhalten<br />
w e r d e n ?<br />
New-York, Mitte April 1908. Fred.
Wien, 17. Mai 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 10.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />
I./17. — Gelder sind zu senden an<br />
W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />
5, III./27.<br />
An die Genossen!<br />
,,In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse seihst erobert werden muss; dass<br />
der Kampf rar die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignem der Arbeitsmittel,<br />
d, h. der Lebensquellen. der Knechtschaft in allen ihren Formen zu ür<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist. . ."<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2.40;<br />
halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
bisher zu senden an den Genossen W. n e u e Herren zu schaffen, anstatt j e d e r<br />
K u b e s c h , W i e n , IV., S c h ö n b u r g - H e r r s c h a f t ein- für allemal ein Ende zu<br />
Im Laufe der nächsten Woche erhalten s t r a ß e 5, 111/27.<br />
machen. Deshalb ist der größte Teil der<br />
unsere Kolporteure wie Einzelabonnenten, E s l e b e d e r r e v o l u t i o n ä r e So- Menschheit heute noch elend, versklavt<br />
kurz, alle, von denen wir annehmen können, z i a l i s m u s , e s l e b e d e r F r e i h e i t s - <strong>und</strong> verkümmert.<br />
daß ihnen an der Weiterentwicklung un- g e d a n k e d e s A n a r c h i s m u s !<br />
Doch im Herzen des Volkes entserer<br />
Ideen <strong>und</strong> Verbreitung der Gedankenwelt<br />
des Anarchismus gelegen, eine oder<br />
Die Preßkommission.<br />
wickelt sich jetzt langsam, aber sicher die<br />
klare Erkenntnis <strong>und</strong> das zielbewußte<br />
mehrere Sammellisten.<br />
Dieselben haben den doppelten Zweck,<br />
unsere Presse zu unterstützen <strong>und</strong> weiter<br />
ausbauen zu helfen, einen Preßfonds, wie<br />
Ökonomische Gr<strong>und</strong>züge<br />
des kommunistischen Anar-<br />
Streben nach der neuen besseren Gesellschaft;<br />
nach unserem Ideal, d e m a n a r - ,<br />
c h i s t i s c h e n K o m m u n i s m u s .<br />
Was wollen wir also?<br />
auch zwecks Entfaltung der rührigsten<br />
Agitation, sowohl in Wien als auch in den<br />
chismus.<br />
Wir wollen eine Gesellschaft, in welcher<br />
es keine Armen <strong>und</strong> Reichen, keine<br />
anderen Kronländern, einen Agitations- Der Mensch will leben, der Mensch Herren <strong>und</strong> Knechte, keine herrschenden<br />
fonds zu begründen.<br />
will glücklich sein; das ist die Triebfeder <strong>und</strong> beherrschten Klassen gibt, sondern<br />
Genossen! Die Herausgabe unseres<br />
<strong>und</strong> eures »Wohlstandes für Alle« ist in<br />
ganz Österreich das Signal gewesen zur<br />
Belebung <strong>und</strong> Neuerweckung lange still<br />
gelegener Kräfte. Große <strong>und</strong> vielfache<br />
Opfer legen sich die Wiener Genossen<br />
auf, um das Blatt regelmäßig erscheinen zu<br />
lassen, es aufrecht zu erhalten. Was sie tun,<br />
ist aber nicht nur ihre, sondern es ist auch<br />
eure, e s ist u n s e r a l l e r S a c h e : D e r<br />
»W. f. A.« m u ß w e i t e r e r s c h e i n e n<br />
k ö n n e n , e r m u ß b a l d m ö g l i c h s t ein<br />
W o c h e n b l a t t w e r d e n !<br />
Nur von euch hängt es ab, wie bald<br />
dies geschehen soll. Kameraden von überall,<br />
sammelt Geld für einen Preßfonds,<br />
helft uns in unserer schweren Aufgabe,<br />
unserem idealen Streben.<br />
Und dies ist nicht genug. Wir bedürfen<br />
auch vor allem des mündlichen<br />
Wortes der Agitation, der Aufklärung durch<br />
Versammlungen, der rednerischen Einwirkung,<br />
die stets eine Bahnbrecherin für<br />
das geschriebene Wort ist. Dazu bedürfen<br />
wir des Geldes für einen Agitationsfonds.<br />
Eine ganze Reihe von kleineren <strong>und</strong><br />
größeren Ortsgruppen in den verschiedenen<br />
Kronländern hat sich an uns gewandt mit<br />
dem Ersuchen, ihnen für die eine oder andere<br />
Gelegenheit einen Redner zu senden.<br />
Wir mußten es abschlagen, wir verfügen<br />
nicht über die benötigten Reisekosten, der<br />
Kampf um die Existenz unserer Presse<br />
nimmt alle unsere Kräfte in Anspruch; andererseits<br />
haben die einzelnen Gruppen<br />
auch nicht die nötigen Finanzmittel.<br />
Hier tut gegenseitige Förderung <strong>und</strong><br />
Hilfe not. Laßt uns einen Agitationsfonds<br />
gründen — <strong>und</strong> allen Schwierigkeiten,<br />
die sich uns hemmend in den<br />
<strong>Weg</strong> stellen, wird abgeholfen sein.<br />
Kameraden <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e! <strong>Unser</strong>e Bewegung<br />
geht einer großen <strong>und</strong> schönen<br />
Zukunft entgegen. Wollt ihr hintan stehen<br />
in euren Bemühungen gegenüber den<br />
Wiener Gruppen? Wir glauben es nicht,<br />
die Vergangenheit der letzten Wochen <strong>und</strong><br />
Monate, euer einträchtiges, tapferes Arbeiten<br />
fürs gemeinsame Ideal beweist uns zur<br />
Genüge, daß ihr euch einig fühlt mit uns.<br />
Kameraden sammelt für den Preß<strong>und</strong><br />
Agitationsfonds! Gelder sind wie<br />
seines Daseins. Wie jedes lebende Wesen<br />
sucht er sich seiner Umgebung anzupassen,<br />
die Gefahren <strong>und</strong> Unannehmlichkeiten, die<br />
ihn bedrohen zu vermeiden, die günstigen<br />
Umstände auszunützen. Das kann er aber<br />
nur so, wenn er sich mit anderen Menschen<br />
vereinigt. Umgeben von übermächtigen<br />
Feinden, in fortwährendem Kampf mit einander,<br />
wäre die Menschheit längst unter-<br />
gegangen, oder, besser gesagt, sie hätte<br />
sich nie aus den niedriger stehenden Tier-<br />
arten entwickeln können. In Gruppen ver-<br />
einigt, in welchen ein jeder für alle, <strong>und</strong><br />
alle für jeden sorgten <strong>und</strong> arbeiteten, sind<br />
sie stärker geworden als alle Tiere <strong>und</strong><br />
haben sich die ganze Erde unterworfen.<br />
Durch diese S o l i d a r i t ä t besteht <strong>und</strong><br />
entwickelt sich die Menschheit. Jeder Fortschritt,<br />
jede Verbesserung <strong>und</strong> Verschönerung<br />
des menschlichen Lebens ist nur<br />
durch die Ausbreitung <strong>und</strong> das Erstarken<br />
dieser Solidarität, durch festeres Zusammenschließen,<br />
innigere Verbrüderung der Menschen<br />
zu Stande gekommen. Die Solidarität<br />
schließt aber von vornherein jede H e r r -<br />
s c h a f t aus. Sobald unter den Menschen<br />
einer oder einige sich über die anderen<br />
erheben, <strong>und</strong> die anderen zwingen, nach<br />
ihrem Willen zu leben <strong>und</strong> für sie zu arbeiten,<br />
in dem Moment ist die G e m e i n -<br />
s c h a f t zu Ende. Ein Teil der Menschen<br />
wird zum bloßen W e r k z e u g , um die<br />
Bedürfnisse von anderen zu befriedigen,<br />
die ersteren müssen ohne Gewinn für sich<br />
selbst über ihre Kräfte arbeiten, um die<br />
letzteren in müßigem Wohlleben zu erhalten,<br />
<strong>und</strong> dieser unnatürliche Zustand<br />
muß durch Gewalt, Gefängnis, Tortur <strong>und</strong><br />
Todesstrafe erzwungen werden.<br />
Immer <strong>und</strong> immer wieder haben sich<br />
die Unterdrückten <strong>und</strong> Ausgebeuteten gegen<br />
diese Leiden aufgelehnt <strong>und</strong> versucht, die<br />
Herrschaft von sich abzuschütteln <strong>und</strong> in<br />
Solidarität <strong>und</strong> Freiheit ihr eigenes Leben<br />
zu leben. Der Erfolg ihrer Empörungen<br />
war aber immer nur kurz <strong>und</strong> unvollkommen,<br />
denn durch Unwissenheit <strong>und</strong><br />
Vorurteile sahen sie die Ursache ihres<br />
Elends immer nur in diesen oder jenen<br />
herrschenden Personen oder Herrschafts-<br />
f o r m e n <strong>und</strong> begnügten sich damit, diese<br />
aus dem <strong>Weg</strong>e zu räumen — um sich<br />
wo alle Menschen in freiwilligem Zusammenwirken<br />
leben <strong>und</strong> arbeiten, <strong>und</strong><br />
jeder nach seinen Bedürfnissen den durch<br />
gemeinschaftliche Arbeit erzeugten Reichtum<br />
genießen kann.<br />
In dieser Gesellschaft wird der Gr<strong>und</strong><br />
<strong>und</strong> Boden — die Quelle von allem, was<br />
der Mensch zum Leben braucht — a l l e n<br />
gehören; <strong>und</strong> ebenso die Werkzeuge <strong>und</strong><br />
Maschinen, welche zu dessen Bebauung<br />
<strong>und</strong> der Herstellung aller notwendigen<br />
Sachen nötig sind. Arbeiter <strong>und</strong> Bauern<br />
werden sich in Vereinigungen, Gemeinschaften<br />
zusammentun, welche nicht durch<br />
Gesetze <strong>und</strong> bindende Vorschriften, sondurch<br />
gemeinsame Interessen, gegenseitiges<br />
Vertrauen <strong>und</strong> freiwillige Übereinkunft zusammengehalten<br />
werden. Jede dieser Vereinigungen<br />
wird durch gemeinsame Arbeit<br />
das Land besiedeln <strong>und</strong> bearbeiten <strong>und</strong><br />
die Fabriken <strong>und</strong> Werkstätten in Betrieb<br />
nehmen, welche zur Deckung sämtlicher<br />
Bedürfnisse ihrer Mitglieder notwendig<br />
sind; vom Erträgnis der gemeinsamen Arbeit<br />
wird sich jedes Mitglied das <strong>und</strong> soviel<br />
nehmen, was <strong>und</strong> wie viel es braucht.<br />
Selbstverständlich wird es einem jeden<br />
freistehen, so für sich zu sorgen, wie es<br />
ihm gefällt, in seinem eigenen Haus zu<br />
wohnen, seinen eigenen Garten <strong>und</strong> sein<br />
Stück Feld zu bearbeiten (denn die Großstädte,<br />
in denen jetzt die Menschen dem<br />
Profit der Gr<strong>und</strong>besitzer zu lieb, zusanmergepfercht<br />
sind, werden mit dem Privateigentum<br />
an Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden aufhören),<br />
sein eigenes Essen zu kochen, seine eigenen<br />
Kleider zu nähen usw. — überhaupt in<br />
voller Freiheit a l l e s zu tun, was er will,<br />
solange er dadurch nicht andere schädigt.<br />
Ebenso wird man sich nicht die Mühe<br />
nehmen, jedem seinen Anteil an den gemeinschaftlichen<br />
Vorräten nach seiner Arbeitsleistung<br />
abzumessen, man wird nicht<br />
mit einander rechnen <strong>und</strong> feilschen; Geld<br />
<strong>und</strong> Handel werden als überflüssige Dinge<br />
verschwinden. Wie es in einer einträchtigen<br />
Familie oder unter guten Fre<strong>und</strong>en<br />
auch jetzt zugeht, wird ein jeder willkommen<br />
sein, das aufzubrauchen, was er<br />
nötig hat, <strong>und</strong> ein jeder wird es für selbstverständlich<br />
finden, daß er, ohne abzuwägen,<br />
was er erhalten hat, aus besten
Kräften am Wohle seiner Gemeinschaft<br />
mitwirkt.<br />
Wenn aber jemand den Übrigen dennoch<br />
Schaden <strong>und</strong> Unannehmlichkeiten zufügt<br />
<strong>und</strong> wenn einer, obgleich er ges<strong>und</strong><br />
<strong>und</strong> kräftig ist, nicht arbeiten will, dafür<br />
aber das Meiste <strong>und</strong> Beste von den Arbeitsfrüchten<br />
der Übrigen verzehren<br />
möchte; w a s d a n n ?<br />
Nun, kein v e r n ü n f t i g e r Mensch<br />
wird so handeln; denn in einem, auf freiem,<br />
brüderlichem Zusammenwirken begründeten<br />
Gemeinwesen ist das Wohl jedes Einzelnen<br />
e i n s mit dem Wohle aller Übrigen, also<br />
der Gesamtheit. Die gemeinsame Arbeit<br />
<strong>und</strong> die fre<strong>und</strong>schaftliche Harmonie können<br />
alle Bedürfnisse eines jeden Menschen aufs<br />
Beste befriedigen; <strong>und</strong> wenn jemand dieselben<br />
stört <strong>und</strong> unmöglich macht, so<br />
schadet er sich selbst, handelt also unvernünftig.<br />
Wer aber unvernünftig handelt, ist<br />
entweder unwissend, <strong>und</strong> da kann man<br />
ihn leicht aufklären; oder er ist geistig<br />
krank, dann muß man' ihn wie einen<br />
Kranken behandeln <strong>und</strong> zu heilen trachten.<br />
Übrigens dürfte die Krankheit, die man<br />
»Faulheit« nennt, in einer vernünftigen Gesellschaft<br />
recht bald verschwinden. Denn<br />
erstens wird alle Arbeit leicht, schön <strong>und</strong><br />
angenehm sein (sie könnte, mit unserer<br />
Wissenschaft <strong>und</strong> unseren Erfindungen<br />
schon jetzt so sein, wenn es sich den Kapitalisten<br />
nicht besser »auszahlen« würde,<br />
ihre Arbeiter durch Überarbeit, Schmutz<br />
<strong>und</strong> Unfälle zu Gr<strong>und</strong>e gehen zu lassen<br />
<strong>und</strong> immer neue Kräfte aus der Armee der<br />
Arbeitslosen anzuwerben); zweitens wird<br />
die Langeweile des absoluten Nichtstuns<br />
<strong>und</strong> die Mißachtung <strong>und</strong> der Spott der<br />
Arbeitenden mit der Zeit den ärgsten<br />
Faulenzer davon überzeugen, daß der Anschluß<br />
an irgend eine, seinen Fähigkeiten<br />
<strong>und</strong> seinem Geschmack zusagende Arbeitsvereinigung<br />
besser <strong>und</strong> angenehmer für<br />
ihn ist.<br />
So werden alle Gesetze <strong>und</strong> alle Einrichtungen,<br />
um denselben Geltung zu verschaffen,<br />
wie Zentralzwang des Staates,<br />
Gerichtshöfe, Polizei, Gefängnisse usw.<br />
ihren Sinn <strong>und</strong> Zweck verlieren. Es wird<br />
keine »Verbrecher« mehr geben. Mord,<br />
Raub, Diebstahl, Betrug, Fälschung etc.<br />
werden nicht mehr existieren, wenn es<br />
kein Monopoleigentum mehr gibt. Auch<br />
die beiden anderen Ursachen der heutigen<br />
»Verbrechen«: Trunkenheit <strong>und</strong> ein unnatürliches<br />
— teils unterdrücktes, teils überreiztes<br />
— Geschlechtsleben werden in einer<br />
anarchistisch-kommunistischen Gesellschaft<br />
verschwinden. Denn es ist das Elend,<br />
welches die Menschen in die Schnapsschenken<br />
treibt <strong>und</strong> dieselbe Ursache, verstärkt<br />
durch die tyrannischen Eingriffe der<br />
Kirche, des Staates <strong>und</strong> des Familienoberhauptes<br />
hat zur Folge, daß der Geschlechtstrieb,<br />
frühzeitig geweckt durch das Zusammengepferchtsein<br />
der Eltern mit den<br />
Kindern auf engem Raum, nicht seine<br />
natürliche Befriedigung finden kann, <strong>und</strong><br />
daß andererseits Menschen ohne gegenseitige<br />
Liebe zu geschlechtlicher Vereinigung<br />
<strong>und</strong> Zusammenleben gezwungen werden.<br />
In einer Gemeinschaft, deren Mitglieder<br />
durch Solidarität verb<strong>und</strong>en sind,<br />
kann keine Obrigkeit bestehen. Wenn die<br />
Menschen sich freiwillig vereinigen, um<br />
ihre gemeinsamen Bedürfnisse <strong>und</strong> Interessen<br />
zu befriedigen, <strong>und</strong> ein jeder<br />
ebenso freiwillig aus jeder Vereinigung<br />
austreten <strong>und</strong> sich mit anderen vereinigen<br />
— oder auch, wenn er gerade dazu Lust<br />
hat, als Einsiedler leben — kann, wenn<br />
das seinen Interessen besser zusagt, dann<br />
gibt es keine Gegensätze, keine Streitigkeiten<br />
innerhalb der Gemeinschaft. In<br />
seinen Privatangelegenheiten wird ein jeder<br />
vollkommen ungehindert <strong>und</strong> frei tun, was<br />
er will; die Erledigung der gemeinsamen<br />
Angelegenheiten werden diejenigen, deren<br />
Interessen dieselben berühren, durch gemeinsame<br />
Überlegung <strong>und</strong> Verständigung<br />
<strong>und</strong> durch gemeinschaftliche Arbeit besorgen.<br />
Sie mögen je nach den Umständen<br />
die Durchführung der Aufgabe einem von<br />
ihnen, der dazu besonders befähigt ist,<br />
übertragen <strong>und</strong> beim Zusammenarbeiten<br />
seiner Leitung folgen, wenn sie dies als<br />
notwendig einsehen. Dadurch werden sie<br />
ihm aber nicht das Recht zuerkennen, ihnen<br />
in diesen oder anderen Dingen zu bef<br />
e h l e n , sie werden ihn nicht mit Vorrechten<br />
<strong>und</strong> Machtbefugnissen ausstatten;<br />
mit einem Wort: sie werden sich keine<br />
Obrigkeit schaffen, keine Gesetze <strong>und</strong> Vorschriften<br />
ausarbeiten, welchen sich ein jeder<br />
unterordnen müßte. Die Fragen, welche<br />
die Interessen aller Mitglieder der Gemeinschaft<br />
betreffen <strong>und</strong> durch gemeinsamen<br />
Entschluß aller entschieden werden müssen,<br />
werden praktischer — meistens wirtschaftlicher<br />
<strong>und</strong> technischer — Natur sein, bei<br />
welchen jede persönliche Eitelkeit oder abstrakte<br />
Prinzipienreiterei ausgeschlossen ist;<br />
<strong>und</strong> wenn ein jeder das Wohl der Gesamtheit<br />
— welches sein eigenes Wohl ist<br />
— vor Augen hält, so wird sich nach Erwägung<br />
aller Umstände immer ein <strong>Weg</strong><br />
finden, welcher für a l l e das Zweckmäßigste<br />
ist, ohne daß sich zwei Parteien<br />
bilden, von denen die schwächere sich<br />
gegen ihren Willen der stärkeren fügen<br />
müßte.<br />
So wird jede Gemeinschaft in sich<br />
selbst ein harmonisches Ganzes bilden,<br />
welches jedem seiner Mitglieder das höchste<br />
Maß von Freiheit, Wohlstand <strong>und</strong> Glück<br />
sichern wird. Selbstverständlich wird, da<br />
die Bedürfnisse des Menschen mannigfaltig<br />
sind, ein jeder Mensch verschiedenen<br />
mannigfaltigen Vereinigungen angehören.<br />
Es wird Vereinigungen geben auf Gr<strong>und</strong><br />
des Wohnortes, um denselben schön <strong>und</strong><br />
ges<strong>und</strong> zu gestalten; auf Gr<strong>und</strong> der Beschäftigung<br />
<strong>und</strong> des Gewerbes, um mit<br />
den angenehmsten Arbeitsmethoden die<br />
vollkommensten Erzeugnisse hervorzubringen<br />
<strong>und</strong> allen Bedürfnissen aufs leichteste<br />
zu genügen; Vereinigungen für Aufrechterhaltung<br />
des Verkehrs, für wissenschaftliche<br />
Forschungen, Kunst, Geselligkeit,<br />
Sport usw. Die wichtigste Form der<br />
Vereinigung wird freilich die Arbeitsgemeinschaft<br />
zur Erhaltung des täglichen<br />
Lebens sein; zur Bebauung des Bodens,<br />
Herstellung von Nahrung, Kleidung, Wohnung<br />
etc. Jede nicht zu große <strong>und</strong> nicht<br />
zu kleine Gruppe von Menschen wird sich<br />
diese Lebensnotwendigkeiten selber herstellen,<br />
so wie das in den alten Völkerstämmen<br />
<strong>und</strong> Dorfgemeinden geschah,<br />
welche ja in punkto natürlicher Lebensweise<br />
unserem Ideal des anarchistischen<br />
Kommunismus recht nahe stehen, wenn<br />
wir uns auch dessen Verwirklichung auf<br />
Gr<strong>und</strong>lage unserer heutigen Geisteskultur<br />
denken. Die unsinnigen Zustände, bei<br />
welchen eine Gegend oder Land n u r Getreide,<br />
ein anderes n u r Stoffe, ein drittes<br />
n u r Maschinen oder etwas anderes erzeugt,<br />
ist nicht im Interesse des allgemeinen<br />
Wohlstandes, sondern einzig <strong>und</strong> allein zum<br />
Profit der Kapitalisten <strong>und</strong> Vermittler den<br />
Menschen aufgezwungen worden. Infolge<br />
dieser Verhältnisse sind die Arbeiter zu<br />
geistlosen Maschinen herabgewürdigt worden,<br />
die Erzeugnisse dieser Landwirtschaft<br />
<strong>und</strong> Industrie sind nicht zum Gebrauch,<br />
sondern nur zum Schein, als Verkaufsobjekte<br />
da, <strong>und</strong> fruchtbare Landstriche verwandelten<br />
sich in öde Brachfelder oder<br />
verpestete Kehrichthaufen. Die Natur des<br />
Menschen verlangt, daß sein ganzes Leben,<br />
seine ganze Arbeit in innigstem Zusammenh<br />
a n g mit dem Leben der Erde steht, aus<br />
welcher alles, was er braucht, entspringt.<br />
Die Bebauung des Bodens <strong>und</strong> die Verarbeitung<br />
seiner Erzeugnisse muß Hand in<br />
Hand gehen, diese verschiedenen Arbeiten<br />
<strong>und</strong> die geistige Arbeit, die zu derem erfolgreichem<br />
Vollbringen nötig ist, ergänzen<br />
sich gegenseitig. Nur so können sich alle<br />
körperlichen <strong>und</strong> geistigen Kräfte des Menschen<br />
voll entwickeln; nur so kann die<br />
Arbeit zur Freude <strong>und</strong> schaffenden Kunst<br />
werden, die das ganze Leben verschönt;<br />
nur so kann das Erzeugnis der Arbeit<br />
wirklich vollkommen jenen Bedürfnissen<br />
dienen, für die es bestimmt ist.<br />
Die n a t ü r l i c h e n Verschiedenheiten<br />
der einzelnen Gegenden werden freilich<br />
auch in Zukunft bewirken, daß dieselben,<br />
nachdem sie die allgemein notwendige<br />
Arbeit <strong>und</strong> Befriedigung ihrer täglichen<br />
Bedürfnisse geleistet haben, einen Überfluß<br />
von irgend einem Erzeugnis produzieren,<br />
zu welchem Klima, Bodenbeschaffenheit<br />
oder ererbte Geschicklichkeit ihrer<br />
Einwohner sie besonders befähigen. So<br />
werden einige Gemeinden Getreide, andere<br />
Holz, andere wieder Kohle, Eisen, Salz,<br />
Petroleum etc. für sich <strong>und</strong> die übrigen<br />
Gemeinden produzieren. Die Menge der<br />
Produktion wird sich aber immer nach den<br />
genau gekannten Bedürfnissen der übrigen<br />
Gemeinden richten; die Schönheit des<br />
Landes, die Annehmlichkeit der Bewohner<br />
wird nicht der Produktion e i n e s Artikels<br />
geopfert werden, es wird kein unnützes<br />
Hin- <strong>und</strong> Hertransportieren der Waren<br />
stattfinden, kein Berechnen Handeln oder<br />
Schachern mit Werten, sondern ein fre<strong>und</strong>schaftliches<br />
Nehmen <strong>und</strong> Geben. So wie<br />
das Verhältnis der einzelnen Menschen<br />
innerhalb der Gemeinschaft, so wird auch<br />
das Verhältnis der verschiedenen Gemeinschaften<br />
zu einander sein: vollkommene<br />
Solidarität untereinander, vollständige Freiheit<br />
in eigenen Angelegenheiten, freiwilliges<br />
Zusammenwirken für gemeinsame Interessen.<br />
Abwesenheit jedes Gesetzes, jeder<br />
Obrigkeit, jeder Herrschaft. So wie die<br />
Menschen in Vereinigungen, werden sich<br />
diese Vereinigungen wiederum in mannigfache<br />
Föderationen zu gemeinsamer Arbeit,<br />
gemeinsamer Verschönerung des Lebens<br />
zusammenschließen; jede Vereinigung wird<br />
verschiedenen Föderationen angehören, es<br />
werden keine Grenzen zwischen denselben,<br />
keine Zentralleitung innerhalb derselben<br />
bestehen. Die Gemeinschaften werden einfach<br />
miteinander in Verbindung treten, entweder<br />
unmittelbar (eine leichte Sache in<br />
unserem Zeitalter der Telegraphen <strong>und</strong><br />
Telephone!) oder durch Abgesandte, deren<br />
Aufgabe aber nur die Besprechung der<br />
Fragen <strong>und</strong> die Darlegung des Willens<br />
ihrer Absender sein wird, <strong>und</strong> die nicht<br />
als »Volksvertreter« irgend eine Art von<br />
Parlament bilden werden. Wenn solcher<br />
Art die Zentralgewalt der Staaten, also sie<br />
selbst nicht mehr existieren, wird es selbstverständlich<br />
auch keine Kriege, keine<br />
Armeen mehr geben. Ein brüderliches<br />
Bündnis wird alle Menschen auf der Erde<br />
umfassen, <strong>und</strong> durch dieses werden sie<br />
zu einem immer schöneren, immer glücklicheren<br />
Leben fortschreiten.<br />
Dies ist in kurzen Zügen das Bild der<br />
freien Gesellschaft, nach welcher wir<br />
streben. Dieses <strong>Ziel</strong> müssen wir fortwährend<br />
im Auge behalten, wenn wir uns »von unserem<br />
heutigen Elend befreien wollen.
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Österreich.<br />
Wien. Während der letzten Wochen hatten<br />
die Wiener Genossen das Vergnügen, den Genossen<br />
Karel Vohryczek, Redakteur der „Komuna", in ihrer<br />
Mitte begrüßen zu können, der hier eine vorzügliche<br />
Agitation in vornehmlich tschechischer, aber auch<br />
deutscher Sprache entfaltete. Besonders die große<br />
<strong>und</strong> großartige 1. Maiversammlung unserer Bewegung<br />
gestaltete sich durch ihn zu einem durchschlagenden<br />
Erfolg, da wir hier sehr unter dem<br />
Mangel eines guten tschechischen Redners zu leiden<br />
hatten. Selten wohl, daß sich in Wien so viel Enthusiasmus<br />
zusammenfand, wie in dieser Massenversammlung,<br />
der wohl an 800 bis 1000 Menschen<br />
beiwohnten; der Meinung der älteren Genossen zufolge<br />
haben wir seit den letzten 10 Jahren keine<br />
solche Versammlung mehr gehabt.- Und es war ein<br />
echt revolutionärer Maiengeist, der die gekommenen<br />
Arbeiter beseelte, wie dies der begeisterte Applaus<br />
bewies, der die Redner Vohryzczek, Haidt, Ramus<br />
<strong>und</strong> Lickier belohnte. Unter revolutionären G e -<br />
sangesklängen ging die Versammlung auseinander.<br />
— Nachmittags hatten die Kameraden eine gemütliche<br />
Ausflugszusammenkunft. — Sämtliche der<br />
Versammlungen anzuführen, in denen die obigen<br />
sprachen, geht nicht an, überall aber begleitete sie der<br />
Erfolg. — Erwähnenswert ist eine Einladung, die<br />
der Genosse Ramus vom Arbeiterbildungsverein<br />
des VI. Bezirkes erhielt, um dorten mit dem Sozialdemokraten<br />
Höfer zu diskutieren. An zwei Abenden<br />
fanden die Diskussionen statt, <strong>und</strong> die Bescheidenheit<br />
verbietet uns, irgend etwas Anerkennendes<br />
über Ramus zu äußern; genüge es, wenn wir die<br />
Meinung vieler anwesender Sozialdemokraten wiedergeben,<br />
die darin bestand, daß Höfer alles andere<br />
als ein Verteidiger der Sozialdemokratie zu sein<br />
vermag. - Den Genossen zur Mitteilung, daß unsere<br />
allsonntäglichen großen Versammlungen in den<br />
verschiedenen Bezirken den Hauptzweck verfolgen,<br />
auf die Organisation einer Monstreversammlung<br />
hinzuarbeiten. Raummangel verbietet] uns eine weitere<br />
Darlegung unserer propagandistischen Arbeiten<br />
<strong>und</strong> großen Agitations-Pläne für die Zukunft! —<br />
Direkt komische Konfiskationen gestattete sich<br />
die Staatsanwaltschaft in unserer Mainummer.<br />
Stereotyp dürfen wir konstatieren, daß sie in fast<br />
allen Artikeln unseres Blattes konfiskable Stellen<br />
entdeckte. Glücklicherweise schaden uns diese<br />
Konfiskationen fast gar nicht. Es ist wirklich eine<br />
ideale Preßfreiheit, deren sich in Österreich das<br />
ungeschriebene Wort erfreut!<br />
*<br />
Wir begrüßen auf das herzlichste einen neuen<br />
wackeren Mitstreiter, die von der Freidenkergruppe<br />
„Freien Gedanken" begründete, gleichnamige Monatschrift.<br />
Es sind wirklich „Blätter für moderne<br />
Weltanschauung," die uns geboten werden <strong>und</strong><br />
fordern wir unsere Kameraden zur eifrigsten Unterstützung<br />
der Zeitschrift auf. Redakteur ist der alte<br />
Kämpe Markreiter <strong>und</strong> ist die Zeitschrift zu beziehen<br />
durch ihren Verlag, Wien, XIV. Märzstrasse 33.<br />
Preis eines Einzelexemplars nur 10 h.<br />
W a r n u n g vor dem P r o v o k a t o r Meczislaw<br />
Kensizki! Die russischen Pariser Gruppen folgender<br />
Parteien: Proletariat, Sozialisten-Revolutionäre,<br />
Anarchisten-Kommunisten <strong>und</strong> Sozial-Revolutionäre<br />
Maximalsten warnen durch ein uns gesandtes<br />
Flugblatt vom 12. April 1908 alle Kameraden vor<br />
dem Provakator M e c z i s l a w A l e x a n d r o w i c z<br />
K e n s i z k i (genannt „Metek", „Felix" <strong>und</strong> „Hippolit").<br />
Seit dem Jahre 1904 steht dieses Subjekt<br />
im Dienste der russischen Polizei <strong>und</strong> ist im letzten<br />
Augenblicke, als er entlarvt ward, durch die französische<br />
Polizei „ausgewiesen" worden.<br />
Sein jetziges Alter ca. 21 Jahre, Haare dunkelbraun,<br />
Wuchs über Mittelmaß, Augen braun.<br />
Besondere Kennzeichen: Neben Ohr kleine Warze.<br />
Sonstiges: Im Gesicht fast kein Haarwuchs. Spricht<br />
polnisch, russisch, französisch (letztere zwei Sprachen<br />
mit polnischen Akzent).<br />
Galizien.<br />
Inmitten der Hoch-Rufe auf das allein Erlösung<br />
bringende Volksparlament — kam ein politisches<br />
Attentat! Ein junger ruthenischer S o z i n l d e m o -<br />
k r a t , Namens Miroslaw Siczynskyj, Sohn des vor<br />
Jahren gestorbenen ruthenischen Patrioten <strong>und</strong> Landtagsabgeordneten<br />
<strong>und</strong> Priesters Nikolaus Siczynskyj,<br />
Hörer der Philosophie an der Universität zu Lemberg,<br />
schoß den galizischen Statthalter Andreas<br />
Grafen Potocki tot mit den Worten: „ D a s i s t f ü r<br />
d i e L e i d e n d e s r u t h e n i s c h e n V o l k e s , f ü r<br />
d i e W a h l e n , für d e n K a h a n e t z j T o d l F ü r<br />
Kah an e t z j — P o t o c k i ! "<br />
Was für ein Volk ist es, <strong>und</strong> was sind seine<br />
Leiden, daß ein Jüngling von 21. Lebensjahren, eine<br />
hoffnungsvolle Zukunft vor sich, geliebt von seiner<br />
Umgebung, veranlaßt wird, sein junges Leben aufs<br />
Spiel zu setzen, um den Machthabern <strong>und</strong> Unterdrückern<br />
seines Volkes ein solches Schreckenswort<br />
der Tat ins Ohr zu rufen?<br />
Ein großes <strong>und</strong> altes Kulturvolk ist es, das<br />
aber im Laufe der Geschichte von seinen slavischen<br />
„Volksbrüdern", Polen <strong>und</strong> Russen, aller geistigen<br />
<strong>und</strong> materiellen Güter so beraubt wurde, daß es<br />
in das XIX. Jahrh<strong>und</strong>ert als ein im Joche des Frohndienstes<br />
schmachtendes' Bauernvolk eintrat, das<br />
erst in diesem Jahrh<strong>und</strong>ert, mit jedem Schritt auf<br />
große Hindernisse seitens der genannten slavischen<br />
„volksbrüderlichen" Unterdrücker stoßend, sich<br />
wiederum auf die Stufe einer modernen Nation<br />
emporzuheben begann, welche Entwicklung sich<br />
heute bereits im vollen Schwünge befindet.<br />
Die Ruthenen (auch Kleinrussen <strong>und</strong> Ukrainer<br />
genannt) bilden ein ungefähr 30 Millionen starkes<br />
Volk, wovon über 25 Millionen Südrußland (Kleinrußland,<br />
die Ukraine) <strong>und</strong> die übrigen Österreich-<br />
Ungarn bewohnen <strong>und</strong> zwar ungefähr 3'/s Millionen<br />
Ostgalizien, circa 400.000 die Bukowina <strong>und</strong> ebensoviel<br />
einige Komitate Ungarns.<br />
Was nun das hier allein in Betracht kommende<br />
Galizien anbelangt, das nach der Teilung Polens<br />
unter österreichische Herrschaft kam, so wurde hier<br />
gleich mit Anfang der konstitutionellen Aera dem<br />
polnischen Adelstande, der Schlachta, eine vollständige<br />
freie Hand überlassen, die nationale Politik des<br />
Polenreiches weiter zu führen. Und diese Politik<br />
heißt: die nationale Entwicklung anderer Volksstämme,<br />
d. h. der Ruthenen <strong>und</strong> der Juden* zu<br />
unterdrücken, den Volksmassen keine politischen<br />
Rechte zuerkennen <strong>und</strong> dieselben in sozialer Sklaverei<br />
der polnischadeligen Großgr<strong>und</strong>besitzer zu<br />
erhalten.<br />
In der österreichischen Reichsverfassung haben<br />
wir den berühmten XIX. Artikel, welcher allen<br />
Volksstämmen nationale Gleichberechtigung zuerkennt.<br />
Dieser Gleichberechtigungst h e o r i e entspricht<br />
aber keine G l e i c h b e r e c h t i g u n g s p r a x i s , <strong>und</strong> wir<br />
sehen überall, wo nur das eine Kronland mehrere<br />
Volksstämme bewohnen, daß eine Nation durch die<br />
andere unterdrückt wird.<br />
So gestalteten sich die Verhältnisse auch in<br />
Galizien. Die nationalen Herrscher des Landes wurden<br />
hier die Polen <strong>und</strong> diese Herrschaft wird durch<br />
die polnische Schlachta ausgeübt. Dieser Zustand<br />
widerspricht zwar dem formalen österreichischen<br />
Staatsprinzip der nationalen Gleichberechtigung, er<br />
entspricht aber dem p o l n i s c h e n Staatsprinzip,<br />
nach welchem alle Länder, welche einst dem Polenreiche<br />
angehörten, im staatsrechtlichen Sinne als polnische<br />
Länder betrachtet werden, in welchen n u r die<br />
polnische Nation als politisch herrschende das volle<br />
Recht der allseitigen Entwicklung hat; den anderen<br />
Volksstämmen aber wird dieses Recht nur insoferne<br />
gewährt, als es dem obgenannten polnischen Staatsprinzip<br />
nicht widerspricht; d. h. aber, es wird<br />
eigentlich überhaupt nicht anerkannt. Dieses polnische<br />
Staatsprinzip wurde auch im allgemeinen<br />
von der österreichischen Zentralregierung geduldet,<br />
welche für die Handlangerdienste, die ihr der reichsrätliche<br />
Polenklub in jeder Angelegenheit erwies,<br />
Galizien vollständig der polnischen Schlachzizenherrschaft<br />
preisgab, so daß dieses Land nur der<br />
Form nach ein österreichisches Kronland, dem Inhalte<br />
nach aber ein selbständiges Polenreich ist.<br />
In diesem Polenreiche werden die Ruthenen<br />
nicht nur wie die Volksmassen überhaupt in sozialpolitischer<br />
Hinsicht, sondern noch teils durch die<br />
im Reichsrate zu gunsten der polnischen Oberherrschaft<br />
angenommenen Ausnahmsgesetze für Galizien<br />
(ein solches Ausnahmsgesetz ist z. B. die reichsrätliche<br />
Wahlordnung für GalizienV teils durch die<br />
kaiserlichen <strong>und</strong> ministeriellen Verordnungen, teils<br />
durch die Landesgesetzgebung <strong>und</strong> zuletzt durch<br />
die Verwaltungspraxis in nationalpolitischer Hinsicht<br />
so u n t e r d r ü c k t , daß für sie nicht nur das<br />
österreichische Staatsprinzip der nationalen Gleichberechtigung,<br />
sondern die österreichische Verfassung<br />
überhaupt nur ein leerer Spuk ist. Die Lage des<br />
gesamten ruthenischen Volkes in Galizien kann<br />
mit der Lage des Proletariats in der heutigen Gesellschaftsordnung<br />
verglichen werden: es ist entweder<br />
von gesetzeswegen entrechtet, oder es wird<br />
ihm von der Staatsverwaltung jede wirkliche Möglichkeit<br />
entzogen, sich der ihm zuerkannten Rechte<br />
zu gunsten seiner Sache zu bedienen.<br />
Als Beispiel solcher Entrechtung von gesetzeswegen<br />
sei die landtägliche <strong>und</strong> reichsrätliche Wahlordnung<br />
angeführt, welche dem ruthenischen Volke<br />
bereits die gesetzliche Möglichkeit entzieht, sogar<br />
bei dem allgemeinen <strong>und</strong> gleichen Wahlrechte (vom<br />
Kurialsystcm schon nicht zu reden!) die der Einwohnerzahl<br />
entsprechende Abgeordnetenzahl zu<br />
wählen.<br />
Dabei aber bleibt es nicht. Die Verwaltung entzieht<br />
ihm weiter jede Möglichkeit, sich im Rahmen der<br />
„gesetzlichen Ordnung",Abgeordnete nach seinemWillen<br />
zu erwählen. Es werden Wahllisten, Wahlmännerwahlen<br />
<strong>und</strong> Abgeordnetenwahlen gefälscht, Wahlversammlungen<br />
verboten, aufgelöst <strong>und</strong> überhaupt jede<br />
gegen die polnischen Regierungskandidaten geführte<br />
Wahlagitation unmöglich gemacht. Die Leute werden<br />
terrorisiert, verhaftet, prozessiert <strong>und</strong> verurteilt <strong>und</strong><br />
wo man die kleinste Aufregung der Gemüter ver-<br />
•) Heutzutage bilden die Kutbencn nach d e r offiziellen zu<br />
gunsten d e r Polen gefälschten Statistik 42 % d e r Bevölkerung<br />
Galiziens. Die J u d e n , welche u n g e f ä h r 10 % ausmachen, w e r d e n<br />
in nationaler Hinsicht zu den Polen gerechnet.<br />
spürt, dorthin werden Gendarmen <strong>und</strong> Soldaten<br />
geschickt, die wie während eines Krieges in einem<br />
feindlichen Lande hausen. Es wird ohne jeden Gr<strong>und</strong><br />
geschossen <strong>und</strong> ruhige <strong>und</strong> unschuldige Bauern<br />
werden schonungslos niedergemetzelt. Das neueste<br />
Opfer dieses „Wahlsystems" ist eben ein Bauer<br />
namens Marko Kahanetzj gewesen, der während<br />
der letzten Landtagswahlen von den Gendarmen<br />
niedergestochen wurde utid dessen Tod viel dazu<br />
beitrug, daß Siczynskyj beschloß, den galizischen<br />
Statthalter umzubringen.<br />
Dasselbe, was bei den Wahlen, geschieht auch<br />
bei jeder anderen Volksbewegung. Alle „verfassungsmäßigen<br />
Freiheiten", wie Versammlungs-, Vereins-,<br />
Druck- <strong>und</strong> Redefreiheit, Koalitionsrecht <strong>und</strong> wie<br />
all die Täuschungsmittel der heutigen Gesellschaftsordnung,<br />
bestimmt, die Aufmerksamkeit des Volkes<br />
von dem direkten Kampfe für seine Befreiung abzulenken,<br />
heißen, werden den Ruthenen gegenüber<br />
gänzlich aufgehoben. Versammlungen <strong>und</strong> Vereine<br />
werden verboten oder aufgelöst, Zeitungen konfisziert,<br />
Redner verurteilt <strong>und</strong> während der Streikbewegungen<br />
der ruthenischen Landarbeiter gegen die<br />
polnischen Großgr<strong>und</strong>besitzer befindet sich das Streikgebiet<br />
tatsächlich in einem Belagerungszustand!<br />
Kurz gesagt: wir Anarchisten wissen am besten,<br />
wie wertlos Gesetze oder gesetzliche Garantien für<br />
den Befreiungskampf des Volkes sind, trotzdem<br />
wage ich zu behaupten, daß sich das ruthenische<br />
Volk glücklich fühlen würde, wenn ihm gegenüber<br />
die Gesetze so ausgeübt werden würden, wie es<br />
in westösterreichischen Ländern der Fall ist.<br />
Selbstverständlich, daß dieser Zustand der<br />
Willkürgesetzlichkeit sich mit jedem Jahre verschlimmern<br />
mußte. Denn in dem Maße, in welchem das<br />
Selbstbewußtsein des ruthenischen Volkes <strong>und</strong> sein<br />
Ringen nach der Besserung seiner Lage wuchs,<br />
vermehrten auch die polnischen Machthaber ihre<br />
Bestrebungen, ihre bisherige Oberherrschaft aufrecht<br />
zu erhalten. Der gegenseitige Haß wurde immer<br />
stärker <strong>und</strong> allgemeiner bis es dahin kam, daß<br />
sich alle polnischen bürgerlichen Parteien zusammenschlössen,<br />
um desto wirksamer jeder Forderung der<br />
Ruthenen entgegenzutreten, ja sogar die polnische<br />
Sozialdemokratie in der polnisch-ruthenischen Frage<br />
nicht immer die richtige Stellung einnahm.<br />
Gleichzeitig aber wuchs die Erbitterung des<br />
ruthenischen Volkes, welche insbesondere in der<br />
neuesten Zeit alle Schichten der Bevölkerung mit<br />
sich riß, a l s m a n e i n s a h , d a ß s o g a r d a s<br />
V o l k s p a r l a m e n t , v o n w e l c h e m s o v i e l<br />
g e h o f f t w u r d e , n i c h t s a n d e r S a c h e ä n -<br />
d e r n w i l l u n d k a n n .<br />
Daß diese Erbitterung zuletzt in dem Attentat<br />
auf den Statthalter Potocki gipfelte, der wie ein<br />
jeder Statthalter Galiziens, das sichtbare Haupt <strong>und</strong><br />
der tatsächliche Leiter dieser polnischen rutiienenfeindlichen<br />
Politik <strong>und</strong> außerdem einer der unbeschränktesten<br />
<strong>und</strong> ruthenenfeindlichsten polnischen<br />
Alleinherrscher auf dem k. k. Statthalterposten war,<br />
ist aus den geschilderten Zuständen nur zu erklärlich.<br />
Und daß das Attentat von einem ruthenischen<br />
S o z i a l d e m o k r a t e n verübt wurde, also von<br />
einem Menschen, in dessen Parteikreisen der Terrorismus,<br />
insbesondere in den Verfassungsstaaten,<br />
aufs schärfste verurteilt wird, das bezeugt nur, daß<br />
der Druck, unter welchem das ruthenische Volk<br />
leidet, wirklich allzu unerträglich war, wenn er sogar<br />
den doctrinaren Parteigeist überwinden konnte.<br />
Wie stellte sich die öffentliche Meinung zu<br />
diesem elementaren Ausbruch der Erbitterung des<br />
ruthenischen Volkes, der in der Tat Siczynskyjs<br />
seinen Ausdruck fand?<br />
Die einen, <strong>und</strong> zwar diejenigen, in deren<br />
Interesse es liegt, an der gegenwärtigen „heiligen"<br />
Ordnung nichts zu ändern, brachen in „heilige"<br />
Entrüstung aus <strong>und</strong> stempelten Siczynskyj zum<br />
gemeinen Verbrecher, „für welchen der Galgen eine<br />
noch allzu menschliche Strafe ist", wie ein polnisches<br />
Blatt geschrieben hat. Daß sich nun in<br />
diesem Lager der Ordnungsbeschützer alle polnischen<br />
bürgerlichen Elemente zusammenfanden, das bezeugt<br />
nur, daß sie alle die Unterdrückung des ruthenischen<br />
Volkes für ihr unantastbares nationales Recht ansehen.<br />
Es ist nur traurig, daß es dieselbe polnische<br />
Gesellschaft tut, die in Deutschland <strong>und</strong> Rußland<br />
auch um ihre nationalen Rechte ringt <strong>und</strong> deren<br />
revolutionäre Parteien iu Rußland sich auch terroristischer<br />
Kampfmethoden bedienen.<br />
Das ruthenische Volk dagegen verstellt <strong>und</strong><br />
rechtfertigt die Tat seines jungen Stammesbruders,<br />
inwieferne es möglich ist, all dies da zu konstatieren,<br />
wo die freie Meinungsäußerung mit schweren strafrechtlichen<br />
Folgen bedroht ist. Es wäre nur zu<br />
wünschen, daß sich dieses Volk auch in allen anderen<br />
Fällen mit denjenigen zusammenfände, welche<br />
eben deshalb, weil sie die Gewalt, mag sie noch<br />
so in gesetzliche Hüllen gekleidet sein, verwerfen,<br />
es für ein unveräußerliches Menschenrecht halten,<br />
der bestehenden sozialen Gewalt Widerstand <strong>und</strong><br />
Notwehr entgegenzusetzen.<br />
Am zahlreichsten ist selbstverständlich das<br />
Lager „des goldenen Mittelweges", derjenigen, die<br />
einerseits zugeben, daß die Ursache des Attentates<br />
in den galizischen Zuständen liegt, anderseits aber
nicht den Mut haben, zuzugeben, daß eine solche<br />
Erklärung auch eine Rechtfertigung bedeutet <strong>und</strong><br />
anstatt diese Zustände zu verurteilen <strong>und</strong> diejenigen,<br />
die an ihrem Vorhandensein schuldig sind, lieber<br />
Siczynskyj <strong>und</strong> seine Tat verurteilen.<br />
Hierher gehört auch das P r ä s i d i u m d e s<br />
r e i c h s r ä t l i c h e n R u th en en k l u b s u n d d i e<br />
ö s t e r r e i c h i s c h e S o z i a l d e m o k r a t i e .<br />
Obzwar Siczynskyj bis zum Tage seiner Tat in<br />
der r u t h e n i s c h e n s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n<br />
P a r t e i tätig war, leugnete die polnische <strong>und</strong> die<br />
deutsche Parteipresse diesen Umstand <strong>und</strong> anstatt<br />
wie ein Parteigenosse wurde er von ihr ein dummer<br />
Fanatiker genannt. Jawohl, dumm war er jedenfalls,<br />
denn vernünftige, auf dem granitfesten Standpunkt<br />
des „wissenschaftlichen Sozialismus" stehende Leute<br />
à la Diamant usw. — gehen für das Volk ins<br />
Parlament, nicht aber in den Tod . . .<br />
Erfreulich ist es, daß wenigstens das Parteiorgan<br />
der r u t h e n i s c h e n Sozialdemokratie den<br />
Mut hatte, die Parteiangehörigkeit Siczynskyjs<br />
zu bestätigen <strong>und</strong> für seine Tat in den galizischen<br />
Verhältnissen Rechtfertigung zu finden.<br />
Weniger erfreulich ist es dagegen, daß der<br />
p o l n i s c h e s o z i a l d e m o k r a t i s c h e Reichsratsabgeordnete<br />
H u d e c, wie auch die Lemberger Buchdruckergewerkschaft,<br />
welche unter seinem Einflüsse<br />
steht, a n d e m B e g r ä b n i s d e s P o t o c k i t e i l -<br />
n a h m e n <strong>und</strong> daß der andere polnische sozialdemokratische<br />
Abgeordnete, Dr. D i a m a n d, einen<br />
wahren Schimpfartikel über seinen ruthenischen<br />
Parteigenossen <strong>und</strong> dessen Tat in der Wiener<br />
„Arbeiterzeitung" veröffentlichte.<br />
Auch das Präsidium des reichsrätlichen Ruthenenklubs<br />
hielt es für angemessen, anstatt sich<br />
mit seinem Volke solidarisch zu erklären, die Tat<br />
Siczynskyjs als eine „greuliche, bei den Ruthenen<br />
bisher unerhörte Gewalttat aufs schärfste zu verurteilen",<br />
obgleich es gleichzeitig zugibt, d i e U r -<br />
s a c h e d e s A t t e n t a t e s b i l d e d a s i n G a l i z i e n<br />
h e r r s c h e n d e p o l i t i s c h e S y s t e m , d e r v i e l -<br />
j ä h r i g e D r u c k , d i e u n l e i d l i c h e W i l l k ü r<br />
d e r g a l i z i s c h e n V e r w a l t u n g . Diese Stellung<br />
wird umso erbärmlicher, als wir erwägen, daß dieselben<br />
Herren Abgeordneten die Lage des ruthenischen<br />
Volkes in Galizien immer als eine höchst<br />
rechtlose schilderten <strong>und</strong> unumw<strong>und</strong>en das Recht<br />
der Auflehnung anerkannten, falls die Regierung<br />
nicht gewillt, diese rechtslose Lage zu ändern. Als<br />
nun aber einer aus dem Volke dieses von ihnen<br />
anerkannte Auflehnungsrecht zum Ausdruck brachte,<br />
da verurteilen sie ihn. Wenn wir weiter erwägen,<br />
daß das Attentat aus n a t i o n a l - p o l i t i s c h e n<br />
Gründen verübt <strong>und</strong> unter den Ursachen desselben<br />
vom Attentäter selbst die F ä l s c h u n g d e r W a h -<br />
l e n angegeben wurde, so verdient das Präsidium<br />
des Ruthenenklubs, wie auch die Sozialdemokratie<br />
umso schärfere Verurteilung, weil die ganze Wahlkomödie,<br />
ungeachtet dessen, daß das ruthenische<br />
Volk ihre Fälschung schwer empfindet, erwiesenerweise<br />
vor allem i m I n t e r e s s e d e r G e w ä h l t e n ,<br />
nicht aber in dem der wählenden Volksmassen liegt.<br />
Man erkennt am besten an diesem Vorfall,<br />
was p a r l a m e n t a r i s c h e Volksvertreter <strong>und</strong> Verteidiger<br />
für den Befreiungskampf bedeuten! Solange<br />
es gilt, mit revolutionären Phrasen Wähler zu werben,<br />
gebärden sich die Herren sehr revolutionär;<br />
sobald aber das Volk revolutionär zu handeln<br />
beginnt, werden sie auf einmal gesetzlich bis ins<br />
Mark <strong>und</strong> Bein <strong>und</strong> haben für revolutionäre Handlungen<br />
nur Worte der Verurteilung.<br />
Über die politische Bedeutung des Attentates<br />
läßt sich bis heute noch immer nichts Bestimmtes<br />
sagen. Eigentlich sollte es sowohl für die polnischen<br />
Machthaber Galiziens, wie auch für die Zentralregierung<br />
ein Mahnwort sein, daß auch dem ruthenischen<br />
Volke seine nationalen Rechte anerkannt<br />
werden müssen, wenn man den nationalen Frieden<br />
will; es wird aber höchstwahrscheinlich unmittelbar<br />
eine entgegengesetzte Wirkung haben: die S t e i -<br />
g e r u n g der Unterdrückung des ruthenischen Volkes.<br />
Und da dieselben Ursachen auch dieselben Folgen<br />
hervorrufen, so ist es kaum zweifelhaft, daß solchenfalls<br />
die Tat Siczynskys zwar die erste, nicht aber<br />
die letzte sein wird.<br />
Mögen sich diejenigen darüber kümmern, denen<br />
es daran liegt, die heutige „heilige" Gesellschaftsordnung<br />
aufrecht zu erhalten. Für uns Anarchisten<br />
ist dagegen nur bedauerlich, daß es unter dem<br />
ruthenischen Volke noch keine größere Strömung<br />
gibt, die ihre revolutionäre Energie nicht für parlamentarische<br />
Zwecke ausbeuten ließe, die dem<br />
Volke das einzig wahre <strong>Ziel</strong> der Befreiung zeigen<br />
würde: E i n f ü h r u n g d e r k o m m u n i s t i s c h -<br />
a n a r c h i s t i s c h e n G e s e l l s c h a f t .<br />
Lemberg, M, Lozynskvj.<br />
*<br />
In letzter St<strong>und</strong>e geht uns ein interessanter<br />
Bericht über eine vorzügliche Maifeierrede zu, die<br />
der Genosse M. K ä u f e r am 1. Mai in B u c z a c z<br />
gehalten hat. Die Rede wirkte umso mächtiger, als<br />
ihm diverse Redner vorangingen, die nicht den<br />
prinzipiell . anarchistischen Standpunkt vertraten,<br />
wie unser Genosse es tat.<br />
England.<br />
Für alle jene, die sich während der letzten<br />
zwanzig Jahre an der sozialistischen Bewegung<br />
dieses Landes beteiligt haben, ist es interessant,<br />
ihre gegenwärtig schwankende Entwicklung zu beobachten.<br />
Das einstmalige revolutionäre Fieber in<br />
der marxistischen „ S o z i a l d e m o k r a t i s c h e n<br />
F ö d e r a t i o n " wird stets zu ihrer vergangenen<br />
Ehre angeführt werden müssen. In der Tat, wie<br />
viele Geschäftshäuser <strong>und</strong> politische Parteien, auch<br />
sie lebt heute von ihrer Vergangenheit. Sie hat alle<br />
die Hoffnungen, die man einst in sie setzte, begraben,<br />
eben dadurch, daß sie auf einmal <strong>und</strong> zu gleicher<br />
Zeit revolutionär u n d gesetzlich sein wollte! Eine<br />
unmögliche Sache; die „Sozialdemokratische F ö -<br />
deration" fiel zwischen beide Stühle auf die Erde<br />
<strong>und</strong> gegenwärtig spielt sie w e d e r in der politischen<br />
noch in der revolutionären Arena irgend eine Rolle<br />
mehr. Den einen starken Propagandisten, den sie<br />
hatte, J o h n B u r n s , hat sie verloren; er ist heute<br />
M i n i s t e r , ist das geworden, was die logische<br />
Folge des Eintrittes in den parlamentarischen<br />
Sumpf ist.<br />
Die Begründung der anderen sozialdemokratischen,<br />
aber n i c h t marxistischen, sondern kleinbürgerlich-radikalen<br />
Partei, der „ U n a b h ä n g i g e n<br />
A r b e i t e r p a r t e i " , der später die Geburt eines<br />
parlamentarischen „Arbeits - Vertretungskomitees"<br />
folgte, endete damit, daß man endlich die große<br />
Masse der Gewerkschaften vom rein ökonomischen<br />
Felde abdrängte <strong>und</strong> auf eine politisch-parlamentarische<br />
Taktik einschwor. Es ging dies hauptsächlich<br />
deshalb so glatt, weil die Führer dieser leider<br />
konservativ gewordenen Gewerkschaften darin eine<br />
Gelegenheit erblickten, ihre Gehälter zu verdoppeln<br />
<strong>und</strong> zu verdreifachen, was denn auch geschah!<br />
Doch die Wirkung dieser Massenbekehrung zur<br />
parlamentarischen Taktik, unter der die ökonomische<br />
einfach erdrückt wird, macht sich bereits fühlbar.<br />
Alles, wofür die sozialdemokratische „Unabhängige<br />
Arbeiterpartei" im Parlament eintritt, besteht in<br />
einem „modernen" Programm für die kapitalistische<br />
Kolonialpolitik, das von den kapitalistischen Zeitungen<br />
als eine Art Sozialismus ausgeschrieen wird,<br />
obwohl sie selbst gut genug wissen, daß es auch<br />
nicht der Schatten vom Sozialismus ist. Aber auf<br />
diese Art gelingt es in England, das wahre Wesen<br />
des Sozialismus zu verdunkeln <strong>und</strong> zurückzudrängen.<br />
Zur Ehre des einen oder anderen der führenden<br />
Sozialdemokraten muß es konstatiert werden, daß<br />
sie schon einsehen, daß die parlamentarische Wahlstimmenkomödie<br />
den Ruin des englischen Sozialismus<br />
bedeutet, aber sie haben leider nicht den<br />
Mut, offenherzig zu bekennen, daß das, was sie<br />
bisher im besten Glauben propagierten — Betätigung<br />
auf gesetzlich-parlamentarischem Boden — für den<br />
Sozialismus einfach hoffnungslos <strong>und</strong> erdrosselnd<br />
ist. Dadurch wird diese eine Hand voll ehrlicher<br />
Menschen immer weiter in den Hintergr<strong>und</strong> gedrängt,<br />
zur Bedeutungslosigkeit verurteilt, durch die massenweise<br />
auftretenden Ehrgeizlinge vor. Politikern.<br />
Während dies der Abstieg auf der rechten<br />
Seite ist, ist der Aufstieg der linken Seite, der<br />
A n a r c h i s t e n , langsam aber sicher. Zuerst riß<br />
sich die sogenannte „ S o z i a l i s t i s c h e L i g a " von<br />
den offiziellen sozialdemokratischen Körperschaften<br />
los, angeekelt durch die Bereitwilligkeit, mit welcher<br />
diese Körperschaften Geld von reaktionären politischen<br />
Parteien akzeptierten, angeblich um es in<br />
der Wahlkampagne zu gebrauchen. In den Jahren<br />
1885 bis 1893 entfaltete sich in England eine auf<br />
internationalen Prinzipien begründete revolutionäre,<br />
a n t i parlamentarische, kommunistische Bewegung.<br />
Politisch war diese Bewegung unbewußt, aber instinktiv<br />
anarchistisch. Doch als die Prinzipien des<br />
Anarchismus einem immer klarer werdenden Verständnis<br />
begegneten <strong>und</strong> es galt, die letzten Konsequenzen<br />
zu ziehen, sich Anarchist zu nennen,<br />
zog eine ganze Anzahl der Mitglieder der „Liga"",<br />
die die Bewegung als eine n u r kommunistische<br />
betrachteten, es vor, ihr den Rücken zu kehren.<br />
Einige gingen auch zur parlamentarischen Taktik<br />
über, einerseits aus Sicherheitsbedürfnis in der<br />
bürgerlichen Gesellschaft oder direkt aus Geschäftsinteresse<br />
<strong>und</strong> da sie im Parlamentarismus die Gelegenheit<br />
erblickten, auf ihre Rechnung zu kommen.<br />
Andere wieder, wie unser unvergeßlicher W i l l i a m<br />
M o r r i s standen im stärksten Gegensatz zur<br />
damaligen terroristischen Aktion einzelner französischer<br />
Anarchisten; aber niemals wurde Morris<br />
ein Anhänger der parlamentarischen Aktion. Seine<br />
„K<strong>und</strong>e von Nirgendswo", diese herrliche Utopie<br />
des kommunistischen Anarchismus <strong>und</strong> seines Zukunftsideals,<br />
zeigt uns, was dieser herrliche Vorkämpfer<br />
des freien Kommunismus war; ursprünglich<br />
war das Buch als Protest gegenüber jenem Bellamys<br />
„Ein Rückblick aus dem Jahre 2000" gedacht <strong>und</strong><br />
richtete sich gegen dessen S t a a t s s o z i a l i s m u s , wie<br />
ihn die Sozialctemokratie vertritt.<br />
In den späteren 90 Jahren erlitt die Bewegung<br />
einen kleinen Rückschlag. Nach der Spaltung in der<br />
„Liga" wurde die systematische Propaganda des<br />
Anarchismus nur von kleineren Gruppen geleitet,<br />
die sich aus der „Liga" konstituierten.<br />
Aber mittlerweile war der parlamentarische<br />
Sozialismus in Deutschland <strong>und</strong> Frankreich bereits<br />
erprobt worden <strong>und</strong> hatte sich schon als totale<br />
Machtlosigkeit erwiesen. Und so kam es, daß in<br />
den ersten Jahren des neuen Jahrh<strong>und</strong>erts eine Anzahl<br />
jüngerer Elemente der englischen Sozialdemokratie,<br />
obwohl noch vollständig verwirrt durch<br />
marxistische Dogmen, aber dennoch durchdrungen<br />
vom aufrichtigen Geiste revolutionärer Erkenntnis<br />
<strong>und</strong> Überzeugung, sich von der „Sozialdemokratischen<br />
Föderation" losriß. Bald darauf erfolgte eine<br />
neue Spaltung, indem eine weitere Gruppe den<br />
ersten Sezessionisten folgte. So kommt es, daß wir<br />
gegenwärtig <strong>und</strong> in den letzten 3 bis 4 Jahren das<br />
eigenartige Schauspiel vor Augen haben, daß d r e i<br />
sozialdemokratische Fraktionen sich gegenseitig wie<br />
Tiger bekämpfen <strong>und</strong> jede für sich behauptet, das<br />
wahre, einzig wahre M<strong>und</strong>stück des seligen Marx<br />
zu sein. Die Leutchen wissen gar nicht, wie lächerlich<br />
all dies ist. Ihren Geistesprodukten nach zu<br />
schließen — die Verfasser kennen in den meisten<br />
Fällen keine andere Sprache als die englische -<br />
haben die Wortführer keiner einzigen Fraktion nichf<br />
einmal eine Ahnung von all den Untersuchungen<br />
<strong>und</strong> der kritischen Widerlegungsliteratur über den<br />
Marxismus, der ja heute Tür den Kenner nichts<br />
anderes als ein Wrack ist. Von all dem wissen<br />
diese „Theoretiker" nichts, sie reden über den<br />
Marxismus uud "dessen Thesen noch immer wie<br />
eingebildete <strong>und</strong> unwissende Fanatiker, Dogmatiker.<br />
Immerhin — es konnte nicht anders geschehen,<br />
als daß sie beeinflußt wurden von den moralischen<br />
Bankerotterklärungen der parlamentarischen Sozialdemokratie<br />
um sie herum. So waren sie gezwungen, die<br />
deutsche Partei strenge zu kritisieren. Und sie kamen<br />
schließlich so weit, daß sie den Parlamentarismus nur<br />
mehr t h e o r e t i s c h anerkannten, i h m a b e r j e d e<br />
M ö g l i c h k e i t , d i e ö k o n o m i s c h e R e v o l u -<br />
t i o n d e s S o z i a l i s m u s z u v e r w i r k l i c h e n ,<br />
a b s p r a c h e n . Für dieses letztere <strong>Ziel</strong> organisieren<br />
sie nun, im Gegensatz zur bestehenden Gewerkschaftsbewegung,<br />
die Hand in Hand mit der kleinbürgerlich-sozialdemokratischen<br />
„Unabhängigen Arbeiterpartei"<br />
geht (die sowohl im Wesen wie Taktik<br />
ganz unserer österreichischen Sozialdemokratie entspricht;<br />
Anm. d. Übersetzer), eine e i g e n e r e -<br />
v o l u t i o n ä r e Gewerkschaftsbewegung, deren <strong>Ziel</strong><br />
die Expropriation des Ausbeutertums <strong>und</strong> die Reorganisation<br />
der Produktion <strong>und</strong> Konsumtion auf<br />
gemeinschaftlicher Gr<strong>und</strong>lage sein soll. W i r s e h e n<br />
h i e r e i n a u s g e s p r o c h e n a n a r c h i s t i s c h e s<br />
P r i n z i p im Rahmen einer noch politisch-sozialistischen<br />
Bewegung aufkommen!<br />
Allein diese noch unentwickelten Köpfe, die<br />
sich aber wenigstens teilweise auf den richtigen<br />
<strong>Weg</strong> begeben haben, wären die ersten, davor zurückzuschrecken,<br />
Anarchisten genannt zu werden.<br />
Sie verstehen eben vom Anarchismus - obwohl<br />
sie eines seiner ökonomischen Prinzipien vertreten!<br />
— so viel wie ein Kalb vom Sonnenaufgang. Für<br />
sie ist der Anarchismus extremster Individualismus<br />
<strong>und</strong> der Kommunismus Staatskontrolle! Augenscheinlich<br />
ermangeln sie nicht des guten Willens,<br />
wohl aber auch nur der primitivsten Kenntnisse<br />
über politische Prinzipien, Freiheitsbegriffc u. dgl.<br />
Man höre: Als ein Argument gegen den Standpunkt<br />
des Anarchismus für absolute Freiheit gebrauchen<br />
sie d i e Logik: den Kapitalisten zu enteignen, sei<br />
ja schon eine Vergewaltigung des Prinzips der<br />
Freiheit; somit sei der Anarchismus eine Unmöglichkeit!<br />
Das sagen diejenigen, die fortwährend gegen<br />
die kapitalistische T y r a n n e i propagieren <strong>und</strong><br />
diese Tyrannei in dem Privateigentum wurzelnd<br />
sehen. Es ist doch klar, daß es so etwas wie Freiheit<br />
u n d Tyrannei sozial nicht auf einmal geben<br />
kann. Wenn ein Kapitalist dadurch die Arbeiter<br />
t y r a n n i s i e r e n kann, weil er die Produktionsmittel<br />
privateigentümlich besitzt, dann vergewaltigen<br />
wir doch nicht seine Freiheit, wenn wir ihn zwingen,<br />
von seinem eingebildeten Recht, die Menschen ausbeuten<br />
<strong>und</strong> tyrannisieren zu dürfen, Abstand zu<br />
nehmen. Es ist nicht die Freiheil, es ist das Prinzip<br />
der T y r a n n e i , das wir dadurch unterdrücken<br />
wollen.<br />
Es ist eine Tatsache, daß diese zweiseitigen<br />
Sozialisten die Worte, die sie gebrauchen, selbst<br />
noch nicht verstehen. Sie begreifen auch nicht, daß<br />
das Privateigentum des Kapitalisten n u r d a d u r c h<br />
möglich ist, daß dieser geschützt ist durch die Gewalt<br />
des Gesetzes, des Staates.<br />
Abgesehen von der Erkenntnis der Wertlosigkeit<br />
des Parlamentarismus für die ökonomische<br />
Revolution des Sozialismus, haben sich diese unzufriedenen<br />
Sozialdemokraten noch nicht allzu sehr<br />
nach vorwärts entwickelt. Aber wir müssen doch<br />
gestehen: a u c h d i e s e s W e n i g e ist ein ganz<br />
deutlich wahrnehmbarer Gewinn für uns Anarchisten,<br />
denn diese ihre Ketzerei durchbricht ganz von sich<br />
selbst alle anderen bürgerlich-demokratischen Prinzipien,<br />
die sie anderseits aufrecht zu erhalten versuchen.<br />
Sie geraten dadurch in einen heillosen<br />
Widerspruch mit sich selbst.<br />
Und noch etwas <strong>und</strong> dies ist am wichtigsten:<br />
Sie sind bereits gezwungen gewesen, sich geistig<br />
mit der Theorie des Anarchismus zu beschäftigen.<br />
Sind sie auch einseitig fanatisch, so sind sie<br />
doch immerhin auch ehrlich. Und dort, wo Ehrenhaftigkeit<br />
existiert, besteht für unsere Ideen stets<br />
die größte Hoffnung. <strong>Unser</strong>e Idee ist es denn auch,<br />
die sowohl in England, wie auch in allen Ländern<br />
einen w<strong>und</strong>erbaren Fortschritt zu verzeichnen hat.<br />
Sämtliche andere sozialen Bewegungen, insbesondere<br />
die Sozialdemokratie, scheinen dazu zu bestehen,<br />
durch ihre Betätigung die Wahrheit der<br />
Ideenwelt des kommunistischen Anarchismus zu<br />
bestätigen. (Aus „ F r e e d o m " . )
— 25 -<br />
anzuknüpfen, so daß sich schließlich die Vereinigung<br />
über die ganze Menschheit, über alles, was lebt, ausbreiten<br />
kann; er ist fähig, durch vereinte, gemeinsame<br />
Arbeit mit anderen mehr hervorzubringen, als er zum<br />
Leben braucht. Und aus alledem haben sich endlich<br />
die Gefühle der Zuneigung entwickelt. Darum ist der<br />
»Kampf um's Dasein« bei den Menschen vollkommen<br />
verschieden von dem, welcher bei den anderen<br />
Tieren besteht.<br />
Wie dem auch sei, so weiß man heute doch —<br />
<strong>und</strong> die Naturforscher der Neuzeit bringen uns immer<br />
neue Beweise dafür —, daß das Zusammenwirken in<br />
der Entwicklung der lebenden Welt eine sehr wichtige<br />
Rolle gespielt hat <strong>und</strong> noch spielt, welche nicht<br />
geahnt werden von denen, die — sehr unrichtigerweise<br />
— die Macht der Bourgeoisie durch die Entwicklungstheorie<br />
Darwins rechtfertigen wollten. Der<br />
Unterschied zwischen dem menschlichen <strong>und</strong> dem<br />
tierischen Kampf ist ebenso groß wie zwischen dem<br />
Menschen <strong>und</strong> den übrigen Tieren.<br />
Die übrigen Tiere kämpfen entweder einzeln,<br />
oder in den meisten Fällen in kleinen, zeitweiligen<br />
oder beständigen Gruppen gegen die ganze Natur,<br />
einschließlich ihrer eigenen Artgenossen. Sogar bei<br />
den geselligsten Tieren, wie z. B. den Ameisen,<br />
Bienen usw. sind die Individuen nur innerhalb derselben<br />
Gruppe — desselben Ameisenhaufens oder<br />
Bienenstockes — solidarisch miteinander, aber sie sind<br />
gleichgiltig (wenn nicht feindlich) gegen die anderen<br />
Gruppen ihrer Art. Der menschliche Kampf hat hingegen<br />
im Gegenteil das Bestreben, die Vereinigung<br />
»ANARCHIE« von Enriko Malatesta. 4
- 26 -<br />
der Menschen immer mehr auszubreiten, ihre Interessen<br />
solidarisch zu machen, das Gefühl der Liebe<br />
für alle Menschen in einem jeden Menschen zu entwickeln,<br />
die Naturkräfte durch die Menschheit <strong>und</strong><br />
für die Menschheit zu besiegen <strong>und</strong> zu beherrschen.<br />
Jeder unmittelbare Kampf, welcher den Zweck hat,<br />
unabhängig von anderen Menschen oder gegen dieselben,<br />
für einen Menschen Vorteile zu erringen,<br />
widerspricht der gesellschaftlichen Natur des heutigen<br />
Menschen <strong>und</strong> zieht ihn zum tierischen Zustand hinab.<br />
Die Solidarität, das heißt die Harmonie der Interessen<br />
<strong>und</strong> Gefühle, das Mitwirken eines jeden am<br />
Wohle von Allen, <strong>und</strong> das Zusammenwirken aller<br />
zum Wohle eines jeden Einzelnen — dies ist die einzige<br />
Art, auf die der Mensch seiner Natur gemäß<br />
leben <strong>und</strong> den höchsten Grad der Vollkommenheit<br />
<strong>und</strong> des Wohlstandes erreichen kann. Dies ist das<br />
<strong>Ziel</strong>, das die menschliche Entwicklung anstrebt; dies<br />
ist das höchste Prinzip, das alle heutigen Gegensätze<br />
löst, welche sonst unlösbar sind, <strong>und</strong> welches bewirkt,<br />
daß die Freiheit eines jeden in der Freiheit der anderen<br />
n i c h t i h r e G r e n z e , s o n d e r n i h r e Erg<br />
ä n z u n g , ihre notwendige Lebensbedingung findet.<br />
»Kein einziger Mensch« — sagt Michael Bakunin<br />
— »kann seine eigene Menschlichkeit erkennen<br />
<strong>und</strong> verwirklichen, wenn er sie nicht in den anderen<br />
erkennt <strong>und</strong> den andern zu deren Verwirklichung<br />
hilft. Kein Mensch kann sich befreien, wenn er nicht<br />
zugleich alle Menschen, die ihn umgeben, befreit.<br />
M e i n e Freiheit ist die Freiheit a l l e r , da ich nur<br />
dann wirklich, nicht nur in Gedanken, sondern auch
— 27 —<br />
tatsächlich frei bin, wenn meine Freiheit <strong>und</strong> mein<br />
Recht durch die Freiheit <strong>und</strong> das Recht aller mir<br />
gleichgestellten Menschen befestigt ist.<br />
Die Lage der übrigen Menschen ist für mich<br />
von größter Wichtigkeit, denn wie immer unabhängig<br />
mir auch meine gesellschaftliche Stellung scheinen<br />
mag, wenn ich auch Papst, oder Zar oder König oder<br />
Minister bin, so bin ich doch immer das Produkt derjenigen<br />
Menschen, die zu allerunterst stehen. Wenn<br />
dieselben unwissend, elend, versklavt sind, so ist<br />
mein Leben durch ihre Unwissenheit, durch ihr Elend,<br />
durch ihre Sklaverei bedingt. Ich, der aufgeklärte <strong>und</strong><br />
intelligente Mensch, bin dumm durch ihre Dummheit;<br />
ich, der Tapfere, bin ein Sklave durch ihre<br />
Sklaverei; ich, der Reiche, zittere vor ihrem Elend;<br />
ich, der Privilegierte, erbleiche vor ihrer Gerechtigkeit.<br />
Ich, der ich frei sein will, kann es nicht sein,<br />
denn um mich herum wollen noch nicht alle Menschen<br />
frei sein, <strong>und</strong> indem sie das nicht wollen,<br />
werden sie in meinen Händen zu Werkzeugen der<br />
Unterdrückung.«<br />
Die S o l i d a r i t ä t ist also der Zustand, in<br />
welchem der Mensch die höchste Stufe der Sicherheit<br />
<strong>und</strong> des Wohlstandes erreicht; also selbst der<br />
Egoismus, das heißt, die ausschließliche Berücksichtigung<br />
der eigenen Interessen, treibt den Menschen<br />
<strong>und</strong> die Gesellschaft zur Solidarität. Oder um uns<br />
klarer auszudrücken: Egoismus <strong>und</strong> Altruismus (die<br />
Berücksichtigung der Interessen anderer) verschmelzen<br />
zu einem einzigen Gefühl, so wie sich die Interessen<br />
der einzelnen Menschen mit den Interessen der
- 28 —<br />
Gesellschaft zu einem einzigen Interesse verschmelzen.<br />
Aber die Menschen konnten nicht mit einem<br />
Schritt jenen Zustand erreichen, in welchem anstelle<br />
des Kampfes gegen einander die Vereinigung <strong>und</strong><br />
Solidarität tritt. Die Vorteile, welche die Vereinigung<br />
<strong>und</strong> die daraus folgende Arbeitsteilung mit sich<br />
brachten, lenkten den Menschen auf die Bahn der<br />
Solidarität; aber dieser Entwicklung stellte sich e i n<br />
Hindernis entgegen, das die Richtung derselben veränderte<br />
<strong>und</strong> sie noch heute ihr <strong>Ziel</strong> verfehlen läßt.<br />
Der Mensch entdeckte, daß er bis zu einem gewissen<br />
Grade <strong>und</strong> zur Befriedigung der allernotwendigsten<br />
materiellen Bedürfnisse der einzigen, die er damals<br />
kannte — sich die Vorteile des Zusammenwirkens<br />
sichern kann, indem er andere Menschen<br />
sich u n t e r w i r f t , anstatt sich mit ihnen zu vereinigen.<br />
Und da seine Intelligenz noch sehr unentwickelt<br />
war, verfiel er darauf, die Schwächeren seiner<br />
Rasse zu zwingen, für ihn zu arbeiten ; er zog das<br />
Herrschen dem gemeinschaftlichen Zusammenwirken<br />
vor. Vielleicht war es sogar durch die Ausbeutung<br />
der Besiegten, daß der Mensch zum erstenmale dessen<br />
bewußt wurde, welche Vorteile der Mensch aus- der<br />
Hilfe anderer Menschen ziehen kann.<br />
So führte die Erkenntnis von der Nützlichkeit<br />
des Zusammenwirkens nicht zum Triumph der Solidarität,<br />
sondern befestigte die Institutionen des Privateigentumes<br />
<strong>und</strong> der Regierung, das heißt der Ausbeutung<br />
der Arbeit Aller durch ein kleines Häufchen<br />
privilegierter Menschen. Die Vereinigung, das Zu-
— 29 —<br />
sammenwirken besteht auch so, denn ohne dieselben<br />
ist das menschliche Leben nicht möglich. Aber es ist<br />
ein Zusammenwirken, welches einige Menschen den<br />
übrigen aufgezwungen <strong>und</strong> so geregelt haben, daß<br />
es nur ihren eigenen Interessen dient.<br />
Daraus entspringt der große Widerspruch in der<br />
Geschichte der Menschheit. Einerseits sind die Menschen<br />
bestrebt, sich zu vereinigen <strong>und</strong> zu verbrüdern,<br />
um die Außenwelt zu erobern <strong>und</strong> ihren Bedürfnissen<br />
anzupassen, <strong>und</strong> um ihren Wunsch nach fre<strong>und</strong>schaftlichem<br />
Zusammenleben zu befriedigen. Andererseits<br />
haben sie die Tendenz, sich in verschiedene <strong>und</strong><br />
feindliche Gnlppen zu spalten, je nachdem ihre<br />
geographischen <strong>und</strong> ethnographischen Verhältnisse<br />
<strong>und</strong> ihre wirtschaftliche Stellung verschieden sind, je<br />
nachdem es Menschen gibt, denen es gelungen ist,<br />
für sich Vorteile zu erringen, welche sie verteidigen<br />
<strong>und</strong> vermehren wollen; oder solche, die sich irgendwelche<br />
Vorrechte zu erkämpfen, oder die unter der<br />
Ungerechtigkeit <strong>und</strong> den Vorrechten anderer, leiden,<br />
<strong>und</strong> sich von denselben zu befreien trachten.<br />
Der Gr<strong>und</strong>satz »Jeder für sich selbst«, welcher<br />
den Krieg Aller gegen Alle bedeutet, hat im Laufe<br />
der Geschichte den Kampf der Menschen gegen die<br />
Unbilden der Natur, welcher allein den Wohlstand<br />
der Menschheit sichern kann, gelähmt, verwirrt <strong>und</strong><br />
irregeführt, denn derselbe kann nur so mit Erfolg geführt<br />
werden, wenn er sich auf den Gr<strong>und</strong>satz aufbaut:<br />
»Alle für j e d e n u n d j e d e r für Alle!«<br />
Die Menschheit hat ungeheuer viel unter der<br />
Herrschaft <strong>und</strong> der Ausbeutung gelitten, welche sich
— 30 -<br />
in die menschliche Vereinigung eingeschlichen haben.<br />
Aber trotz der unmenschlichen Bedrückung, die die<br />
Massen erdulden mußten, trotz dem Elend, den<br />
Lastern, der Erniedrigung, welche die Armut <strong>und</strong> die<br />
Sklaverei bei den Sklaven sowohl als bei ihren Herren<br />
hervorbringen, trotz dem aufgehäuften Hasse, den<br />
mörderischen Kriegen, den künstlich erzeugten Interessengegensätzen,<br />
lebte der Geslschaftstrieb fort<br />
<strong>und</strong> entwickelte sich weiter. Das Zusammenwirken ist<br />
die unumgänglich notwendige Vorbedingung dazu,<br />
daß der Mensch sich mit Erfolg in der Natur behaupten<br />
kann, <strong>und</strong> so bleibt dasselbe doch fortwährend<br />
die Kraft, welche die Menschen zusammenhält<br />
<strong>und</strong> das Gefühl der Fre<strong>und</strong>schaft in ihnen entwickelt.<br />
Die Bedrückung der Massen selbst bewirkte<br />
die Verbrüderung der Unterdrückten. Nur durch mehr<br />
oder minder ausgedehnte Solidarität unter den Unterdrückten<br />
haben dieselben die Bedrückung aushalten<br />
können, <strong>und</strong> nur so konnte die Menschheit den<br />
Keimen des Todes, welche sich in ihr festgesetzt<br />
hatten, widerstehen.<br />
Der riesige Aufschwung der Produktion, die<br />
vermehrten Bedürfnisse, die nur durch das Zusammenwirken<br />
von vielen Menschen aller Länder befriedigt<br />
werden können, die Verkehrsmittel, die Reisen,<br />
Wissenschaft, Kunst <strong>und</strong> Handel -- alles verbindet<br />
die Menschheit immer mehr zu einem einzigen<br />
Ganzen, dessen Teile miteinander solidarisch sind<br />
<strong>und</strong> den Raum <strong>und</strong> die Freiheit zu ihrer Entfaltung<br />
nur im Wohle der anderen Teile <strong>und</strong> des Ganzen<br />
finden.
— 31 —<br />
Bei den gegenwärtigen Zuständen der Gesellschaft<br />
ist diese umfassende Solidarität, die alle Menschen<br />
verbindet, zum größten Teile unbewußt, da sie<br />
von sich selbst aus der Mitte der sich befehdenden,<br />
persönlichen Interessen emporwächst, während sich<br />
die Menschen wenig oder gar nicht mit den allgemeinen<br />
Interessen beschäftigen. Dies ist der beste<br />
Beweis dafür, daß die Solidarität das natürliche Gesetz<br />
der Menschheit ist, sich trotz allen Gegensätzen die<br />
die Gesellschaftsordnung geschaffen hat, geltend macht.<br />
Auch die unterdrückten Massen, die sich nie<br />
ganz in ihre Sklaverei <strong>und</strong> in ihr Elend gef<strong>und</strong>en<br />
haben, <strong>und</strong> die heute mehr als je nach Gerechtigkeit,<br />
Freiheit <strong>und</strong> Wohlstand hungern, fangen an zu verstehen,<br />
daß sie sich nur durch das Vereinigen, durch<br />
die Solidarität mit allen Unterdrückten <strong>und</strong> Ausgebeuteten<br />
der ganzen Welt befreien können. Sie begreifen<br />
endlich, daß die unumgängliche Bedingung<br />
ihrer Befreiung der Besitz der Produktionsmittel, des<br />
Bodens <strong>und</strong> der Arbeitswerkzeuge ist, das heißt: die<br />
A b s c h a f f u n g d e s P r i v a t e i g e n t u m s . Die<br />
Wissenschaft, die Beobachtung der gesellschaftlichen<br />
Tatsachen zeigt, daß diese Abschaffung für die Privilegierten<br />
selbst von größtem Nutzen wäre, wenn<br />
sie sich nur vom Geist der. Herrschaft frei machen,<br />
<strong>und</strong> mit allen übrigen an der gemeinsamen Arbeit<br />
zum Wohle aller teilnehmen würden.<br />
Nun denn: w e n n eines Tages die unterdrückten<br />
Massen sich weigern w ü r d e n für andere zu arbeiten,<br />
w e n n sie den Besitzern den Boden <strong>und</strong> die Arbeitswerkzeuge<br />
wegnehmen w ü r d e n , um dieselben auf
— 32<br />
eigene Faust <strong>und</strong> zu eigenem Nutzen, das heißt: zum<br />
Wohle aller, zu gebrauchen; w e n n sie sich nicht mehr<br />
der Herrschaft fügen w ü r d e n , weder der rohen Gewalt<br />
noch den wirtschaftlichen Vorrechten; w e n n die<br />
Brüderlichkeit zwischen den Völkern, das Gefühl der<br />
menschlichen Solidarität, verstärkt durch die gemeinsamen<br />
Interessen, den Kriegen <strong>und</strong> Eroberungen ein<br />
Ende machen w ü r d e n — w a s w ä r e d a n n d e r<br />
S i n n u n d d e r Z w e c k e i n e r R e g i e r u n g ?<br />
Wenn das Privateigentum abgeschafft ist, müßte<br />
die Regierung, die dessen Verteidigerin ist, unvermeidlich<br />
verschwinden. Wenn sie fortleben würde,<br />
so wäre sie immerfort bestrebt, unter irgend einer<br />
Form eine neue privilegierte <strong>und</strong> unterdrückende<br />
Klasse zu bilden.<br />
Regierungslosigkeit bedeutet n i c h t dieZerstörung<br />
des gesellschaftlichen Zusammenhanges <strong>und</strong> kann das<br />
nicht bedeuten. Gerade im Gegenteil: das Zusammenwirken,<br />
welches heute erzwungen ist <strong>und</strong> nur dem<br />
Vorteile von einigen dient, wird frei, freiwillig <strong>und</strong><br />
unmittelbar sein, <strong>und</strong> dem Wohle aller dienen <strong>und</strong><br />
dadurch umso kräftiger <strong>und</strong> wirksamer werden.<br />
Der Gesellschaftstrieb, das Gefühl der Solidarität<br />
wird sich bis zum höchsten Grade entfalten: jeder<br />
Mensch wird alles, was er nur kann, für das Wohl<br />
der anderen Menschen tun, um seinen Fre<strong>und</strong>schaftsgefühlen<br />
<strong>und</strong> seinen richtig verstandenen Interessen<br />
zu folgen.<br />
Aus dem freien Zusammenwirken aller, durch<br />
die freiwilligen Verbindungen der Menschen je nach<br />
ihren Bedürfnissen <strong>und</strong> Sympathien, von unten nach
Wenn ihr euch zur Tat<br />
entschließt.*<br />
Wenn ihr euch zur Tat entschließt.<br />
Wenn ihr eurem Beschluß unzweideutigen<br />
Ausdruck gebt. Wenn ihr beweist, daß es<br />
gefährlich ist, euch entgegenzutreten. Dann<br />
wird das alte System verschwinden. Dann<br />
werden die Träume erfüllt. Dann wird die<br />
Ungerechtigkeit Abbitte tun <strong>und</strong> entsagen.<br />
Dann, erst dann. Solange ihr euer selbst<br />
unsicher seid. Solange ihr nicht ganz sicher<br />
wißt, was geschehen soll. Nicht ganz sicher,<br />
wann etwas geschehen soll. Nicht ganz<br />
sicher, ob es nicht besser wäre, die Dinge<br />
zu lassen wie sie sind, als eine Veränderung<br />
zu wagen. Nicht ganz sicher, ob die Ungerechtigkeit<br />
auch so ungerecht sei, wie<br />
ihr meintet, oder ob die Gerechtigkeit auch<br />
so gerecht sei, wie ihr glaubtet. Solange<br />
wird jeder Mensch fortfahren gegen jeden<br />
andern zu sein, statt daß jeder für den<br />
anderen wäre. Einen Mittelweg gibt es<br />
nicht. Dies ist das Gesetz des Lebens. Das<br />
Gesetz eures Willens, das nur durch ein<br />
anderes, das ihr vorbereiten <strong>und</strong> einführen<br />
müßt, ersetzt werden kann. Die ganze Welt<br />
des Unrechts wartet unterdessen geduldig auf<br />
eure persönliche Welt des Rechts. Harrt.<br />
Lauscht auf euren Befehl. Erwartet sonst<br />
keine Befehle. Denn sie- weiß, daß sie<br />
keinem andern zu folgen braucht.<br />
Ihr, die Arbeiter. Ihr, die Schöpfer. Ihr,<br />
die Erbauer. Ihr hofft, daß irgend ein<br />
Mensch oder irgend eine Macht außer euch<br />
die soziale Gerechtigkeit herstellen werde?<br />
Ihr seht euch nach W<strong>und</strong>ern um, nach<br />
Wohltätern, nach dem guten Menschen,<br />
nach der guten Partei? Hört nur auf. Verschwendet<br />
keine Sehkraft mehr. Alles, wonach<br />
ihr euch umschaut, liegt in euch selbst.<br />
Alle Gerechtigkeit. Alle W<strong>und</strong>er. Alles<br />
Wohltun. Ihr werdet eure eignen guten<br />
Menschen sein. Wenn ihr acht St<strong>und</strong>en<br />
wollt, werdet ihr sie bekommen. Sie werden<br />
euch n i c h t von andern geschenkt.<br />
Ihr werdet sie e u c h s e l b s t s c h e n k e n .<br />
Wenn ihr auf der Einführung des genossenschaftlichen<br />
Systems besteht, so wird es<br />
kommen. Niemand wird es euch auf dem<br />
Präsentierteller bringen. Es wird euch nicht<br />
als Legat testamentarisch vermacht. Es wird<br />
aus eurem eigenen Herzen hervorgehen.<br />
Aus eurer eigenen Einsicht. A u s e u r e m<br />
e i g e n e n W i l l e n .<br />
Die Welt ist euer, ihr, die ihr die<br />
Arbeiter der Welt seid, ihr, die ihr das<br />
Gut <strong>und</strong> Bös der Welt verbessert oder<br />
verschlimmert. Wann werdet ihr eure Ansprüche<br />
erheben? Die Klassen werden euer<br />
Recht nicht für euch vertreten. Ihr müßt es<br />
selbst tun. W e n n e u e r W i l l e e n d l i c h<br />
zum W o l l e n g e l a n g t ist, w i r d e u e r<br />
Wille g e s c h e h e n . Ich meine nicht eine<br />
kleine Anzahl von euch; sondern euch in<br />
der Gesamtheit. Die Gesamtheit von euch,<br />
die ihr arbeitet. Die Gesamtheit von euch,<br />
die ihr aufbaut. Die Gesamtheit von euch,<br />
die ihr die reinlichen wie die schmutzigen<br />
Arbeiten der Welt tut. Die ihr den Gefahren<br />
der Welt besonders ausgesetzt seid. Die<br />
ihr für die Welt lebt <strong>und</strong> für die Welt<br />
sterbt. Das Feld liegt vor euch ausgebreitet.<br />
Werdet ihr einten? Oder werdet ihr immer<br />
ohne Widerspruch zuschauen, wie von<br />
fremden Händen geerntet wird? Die weiten<br />
Äcker sind euer. Die versperrte Aussicht<br />
bietet die Fülle, der ihr die ersten <strong>und</strong> die<br />
letzten Opfer treuen Dienstes dargebracht<br />
habt. Ich sage nicht: Nehmt sie euch mit<br />
Gewalt. Ich sage: Laßt sie euch nicht mit<br />
Gewalt wegnehmen. Ich behaupte nicht,<br />
daß ihr ein Recht hättet, sie für einige<br />
* Entnommen aus „ W e c k r u f e ; k o m m u -<br />
n i s t i s c h e G e s ä n g e " . Verlag R. Piper & Co.,<br />
München 1907.<br />
wenige zu nehmen. Ihr habt nur ein Recht.<br />
Das Recht, sie für alle zu nehmen.<br />
Es ist nicht die Sache des Gravitationsgesetzes,<br />
zu handeln. Noch die Sache des<br />
Gesetzes von der Fortdauer des Tauglichsten.<br />
Noch die Sache von Wohltätern, oder<br />
Kirchen, oder Universitäten, oder Armenkomitees,<br />
oder Vermittlern <strong>und</strong> Beschützern<br />
irgend welcher Art. Eure Sache ist es zu<br />
handeln. Ihr seid die Gravitation. Ihr seid<br />
die Tauglichen. Ihr werdet so lange noch<br />
weiter denken <strong>und</strong> weiter straucheln <strong>und</strong><br />
weiter verzweifeln <strong>und</strong> weiter fluchen, bis<br />
ihr endlich bereit seid. Dann werdet ihr<br />
einen letzten Kriegsrat abhalten. Denn letzten<br />
Kriegsrat, der zugleich die erste Friedensversammlung<br />
sein wird. Dann werdet ihr<br />
eure Befehle erlassen. Befehle, gebietend<br />
durch ihr Gewicht <strong>und</strong> ihren Inhalt. Kein<br />
Mensch, keine Macht wird daran denken,<br />
den Gehorsam zu weigern. Ungehorsam<br />
wird den Tod bedeuten. Es werden Befehle<br />
der Liebe sein. Befehle der Kommune.<br />
Heute gibt es Mein <strong>und</strong> Dein. Und es<br />
herrscht Krieg. Morgen gibt es kein Mein<br />
<strong>und</strong> Dein mehr. Und es herrscht Friede.<br />
Die Welt wird nicht mehr über Besitzrechte<br />
streiten. Sie wird das Besitzrecht- zerstören.<br />
Die Kasten waren imstande, Kasten zu<br />
bleiben, weil ihr unfähig wart, eine Klasse<br />
zu werden. Ihr Arbeiter, die herrschenden<br />
Diener, die dienenden Herrscher der brüderlichen<br />
Erde. Während ihr wartend euch<br />
sorgtet <strong>und</strong> fragtet, was ihr tun dürftet <strong>und</strong><br />
wolltet, haben die Kasten die formellen<br />
Rechte der Auserwählten eifrig befestigt.<br />
Doch das Recht des Widerrufs war stets<br />
in euren Händen. Jederzeit hättet ihr der<br />
Ausbeutung eures Erbes ein <strong>Ziel</strong> setzen<br />
können. Aber ihr wart unentschlossen. Ihr<br />
wußtet <strong>und</strong> wagtet nur halb. Die ewigen<br />
Gesetze sind bereit, euch zu helfen. Sie<br />
werden ihre ganze Macht für euch einlegen.<br />
Ihr braucht nur zu verlangen. Ihr braucht<br />
euch nur zu entschließen. Nichts kann euch<br />
entgegenstehen, wenn ihr einmal selbst für<br />
euch einsteht. Alles ist für euch bereit.<br />
Fremde Unterstützung ist nicht nötig. Mit<br />
euch selbst, mit eurem Innern habt ihr zu<br />
schaffen. Mit eurem eigenen Zweifel, eurer<br />
eigenen Energie habt ihr zu kämpfen. Es<br />
gibt nirgends eine feindliche Gewalt, deren<br />
Wesen auch nur den Rand eures Wollens<br />
zu beschatten vermöchte. Wenn ihr, die<br />
Arbeiter, euch zur Tat entschließt. Wenn<br />
ihr soziale Gerechtigkeit wollt; Gemeinschaften<br />
statt Kasten <strong>und</strong> Klassen. Wenn ihr<br />
die Forderung stellt, daß ihr nichts besitzt,<br />
aber das Recht habt, alles zu gebrauchen.<br />
Wenn ihr den Gr<strong>und</strong>besitz einzieht <strong>und</strong><br />
die Läden <strong>und</strong> alles Eigentum in jeglicher<br />
Form. Zieht alles ein, nachdem es so lange<br />
ausstand. Zieht es an euch. Wenn ihr, die<br />
herrschenden Diener, die dienenden Herrscher,<br />
euch zur Tat entschließt.<br />
Horace Träubel.<br />
Offizielles Protokoll<br />
des Internationalen Antimilitaristischen<br />
Kongresses<br />
gehalten zu Amsterdam, am 30.— 31. August<br />
1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />
des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />
m e r h o r n .<br />
(Fortsetzung.)<br />
C r o i s e t (Holland) sagt, es wäre sehr<br />
ungeziemend, diesen Antrag überhaupt zum<br />
festen Beschlüsse zu erheben. Sollen wir<br />
etwa wie ein kirchliches oder parteipolitisches<br />
Konzil dekretieren: Die Antimilitaristen haben<br />
dies oder das zu tun? Als Anarchisten<br />
können wir wohl etwas als wünschenswert<br />
hinstellen, wir können den Wunsch äußern,<br />
daß etwas so oder so geschehen möge: aber<br />
darüber Vorschriften zu erteilen, wie etwas<br />
geschehen soll oder muß, das geht nicht. —<br />
Er hält unsere Losung: »Keinen Mann <strong>und</strong><br />
keinen Heller für den Militarismus« für genügend.<br />
E m m a G o l d m a n n reicht den folgenden<br />
Antrag ein:<br />
Der Internationale Antimilitaristische<br />
Kongreß in Amsterdam empfiehlt den<br />
Arbeitern, die die antimilitaristische Idee<br />
fördern wollen, bei dem Bau von Kriegsschiffen<br />
<strong>und</strong> bei der Herstellung von<br />
Waffen sich tunlichst der Arbeit zu enthalten,<br />
oder — wenn die Umstände dafür<br />
nicht geeignet sind — die Herstellung<br />
von Werkzeugen für den Massenmord<br />
durch alle Kampfmittel der syndikalistischen<br />
Bewegung, u. a., durch passive<br />
Resistenz nach Kräften zu hintertreiben.«<br />
K o e t h e k spricht gegen den Antrag,<br />
indem er sagt: Wenn man aus prinzipiellen<br />
Rücksichten keine militaristische Arbeit<br />
verrichten darf, dann kann der Anarchist<br />
i n d e r h e u t i g e n G e s e l l s c h a f t keine<br />
einzige Arbeit verrichten. Was soll zum Beispiel<br />
ein Diamantschleifei tun? Alle müssen<br />
Arbeit verrichten, die ihren Prinzipien zuwider<br />
ist. Ich glaube nicht, daß man die Arbeiter dazu<br />
wird bewegen können, ihrem Handwerk<br />
zu entsagen, wenn man dies durch eine<br />
Resolution verlangt. Und — sollte dies<br />
auch einmal der Fall sein — so werden<br />
doch die revolutionär gesinnten Arbeiter in<br />
den Werkstätten des Kapitalismus nützlicher<br />
sein als diejenigen, welche draußen stehen.<br />
Einer wird nicht in die kapitalistische Fabrik<br />
gehen dürfen, ein anderer nicht in die<br />
Arsenale, ein dritter nicht in die Kaserne.<br />
Hat man sie aber dort, so werden sie auf<br />
unserer Seite stehen <strong>und</strong> nicht unsere<br />
Feinde sein. Darum schlägt er vor, wie<br />
Emma Goldmann es zuerst meinte, so auf<br />
die Arbeiter einzuwirken, daß sie immer<br />
den sozialen Kampf <strong>und</strong> die definitive Befreiung<br />
vor den Augen haben.<br />
D e u t s c h l a n d will noch folgendes<br />
hinzufügen:<br />
Alle Arbeiter, die militärische Kinderspielzeuge<br />
anfertigen, müssen nach der<br />
Ansicht der deutschen Genossen diese<br />
einstellen, weil sie durch ihre Produkte<br />
den Geist der Kinder patriotisch beeinflussen.<br />
S c h w e d e n kann prinzipiell seine Resolution<br />
nicht zurücknehmen, schließt sich<br />
aber praktisch der Goldmannschen an.<br />
C r o i s e t beharrt auf seinem Standpunkt.<br />
Er hält es für besser, nicht abzustimmen<br />
<strong>und</strong> keine Resolution anzunehmen.<br />
Die Versammlung pflichtet fast einstimmig<br />
dieser Ansicht bei. Schweden <strong>und</strong><br />
Koethek protestieren gegen ein derartiges<br />
Verfahren.<br />
Es entwickelt sich nun auch eine Diskussion<br />
über eine aus dem Ausland nach<br />
Deutschland eingeschmuggelte Broschüre.<br />
E n s c h e d e berichtet, daß einer der<br />
deutschen Kameraden eine schwere Strafe<br />
bekommen hat wegen der von einem Einzelnen<br />
im Ausland ausgehenden Broschüre<br />
In dieser Schrift kämen Kraftausdrücke vor,<br />
die überflüssig sind <strong>und</strong> in Deutschland<br />
schwer gestraft werden.<br />
F r a n k r e i c h sagt, das mag schon<br />
wahr sein. Aber auch wegen der Broschüre<br />
»Crosse en l'air« seien mehrere verurteilt<br />
worden; die Kolporteure verteilen sie dennoch.<br />
K l e i j n teilt mit, daß diese Broschüre<br />
weder mit dem nationalen noch mit dem<br />
internationalen Komitee der »Antim., Inter.,<br />
A.« in Verbindung steht.<br />
L a n s i n k sagt, das internationale Komitee<br />
müsse in diesen Dingen sehr vorsichtig<br />
sein <strong>und</strong> dürfe sich in die Unternehmungen<br />
Einzelner nicht einlassen. Auf<br />
jeden Fall habe man seht unvorsichtig<br />
gehandelt . . .
Domela Nieuwenhuis hält nun sein<br />
im Auszug wiedergegebenes, nachfolgendes<br />
Referat über den<br />
P l a n e i n e r a n t i m i l i t a r i s t i s c h e n<br />
P r o p a g a n d a .<br />
Kurz vor der Eroberung von Port-<br />
Arthur durch die Japaner im russisch-japanesischen<br />
Krieg richtete der norwegische<br />
Dichter B j ö r n s o n einen Aufruf an die<br />
europäischen Mächte, um dem orientalischen<br />
Krieg, dieser Massenschlächterei ein Ende<br />
zu machen.<br />
Aber wie?<br />
Er bat die Bankiers <strong>und</strong> Finanzleute,<br />
den kriegführenden Mächten kein Geld<br />
mehr zu leihen, denn solange dieselben<br />
Geld erhalten können, würden sie den<br />
Krieg fortsetzen, weil keine daraus als besiegt<br />
hervorgehen wolle.<br />
Er bat auch die Kaufleute <strong>und</strong> Fabriksbesitzer,<br />
den kämpfenden Armeen weder<br />
Waffen noch Munition noch Lebensmittel<br />
zu liefern, denn wenn man die Armeen<br />
von der Außenwelt abschließt, so daß sie<br />
nichts mehr von anderen Ländern erhalten,<br />
so muß der Krieg bald aufhören.<br />
Fortsetzung folgt.<br />
Die Demagogen an der Arbeit.<br />
Wir leben in einer Zeit der sozialen<br />
Massennot <strong>und</strong> selbst dem perfidesten Demagogen<br />
der herrschenden Klasse könnte<br />
es nicht einfallen, ein Loblied auf die<br />
gegenwärtige Konjunktur anzustimmen. Die<br />
Lebensmittelpreise steigen, eine industrielle<br />
Krise wirft ihre Schatten voraus, die Löhne<br />
sinken oder sie bleiben stabil oder sie<br />
steigen in so lächerlich geringem Maße,<br />
daß nur derjenige, der aus demagogisch<br />
eigennützigen Motiven heraus den wahren<br />
Tatbestand zu verschleiern wünscht, von<br />
einer Besserung der sozialen Verhältnisse<br />
der Massen schwätzen kann.<br />
Was wäre in einer solchen Zeit die<br />
klar vorgezeichnete Aufgabe des Sozialismus?<br />
Einfach die: einzugreifen in die Verhältnisse<br />
<strong>und</strong> durch die sozial geführten<br />
Aktionen der gewerkschaftlich geschulten<br />
Massen die Lebenslage des Proletariats zu<br />
erhöhen, kurz allen jenen wirtschaftlichen<br />
Hohn- <strong>und</strong> Spott-Tendenzen des Kapitalismus<br />
vorzubeugen, richtiger: entgegenzuwirken,<br />
die den Arbeiter eben deshalb zu<br />
Not <strong>und</strong> Elend verdammen, w e i l er zu<br />
viel produzierte, weil die kapitalistische<br />
Klasse nicht mehr weiß, wohin mit all dem<br />
erzeugten Reichtum, um kaufkräftige Konsumenten<br />
zu finden. Das ist ja gerade die<br />
alleinige <strong>und</strong> historische Bedeutung der<br />
sozialistischen Bewegung, daß sie die Massen<br />
des arbeitenden Volkes loslösen sollte von<br />
all den trügerischen Gaukeleien politischer,<br />
nationaler, staatlich-reformistischer Bestrebungen,<br />
ihnen stets das eine vor Augen<br />
halten muß: Proletarier, deine soziale Befreiung<br />
ist in der Eroberung des Brotes<br />
gelegen, das Proletariat hat seine wirtschaftliche<br />
Befreiung durchzuführen, <strong>und</strong><br />
aus ihr folgt die politische Freiheit; <strong>und</strong><br />
selbst, als Klasse, muß dieser Kampf geführt<br />
werden.<br />
So stellt der Sozialismus das Problem.<br />
Leider aber identifiziert sich mit dem Sozialismus<br />
nicht n u r diejenige Gruppierung<br />
im revolutionären Kampfe, die wirklich all<br />
das individuell wie auch kollektiv befreiende<br />
des Sozialismus in sich aufnimmt <strong>und</strong> verkörpert,<br />
jene der k o m m u n i s t i s c h e n<br />
A n a r c h i s t e n , sondern auch diejenige<br />
Partei, die sowohl in ihrer Zusammensetzung,<br />
wie in ihrem theoretischen Streben<br />
nichts anderes ist als der linke Flügel der<br />
bürgerlichen Demokratie: d i e S o z i a l -<br />
d e m o k r a t i e . Diese Partei identifiziert<br />
sich mit dem Staatssozialismus, den sie<br />
durch die parlamentarische Betätigung zur<br />
Herrschaft zu bringen wünscht, indem sie<br />
die Eroberung der Staatsmacht anstrebt.<br />
Nur als linker Flügel der Demokratie<br />
ist es begreiflich, daß die Sozialdemokratie<br />
in ihrem ganzen taktischen Auftreten von<br />
der Vertretung wirklich sozialistischer <strong>Ziel</strong>e<br />
vollständig abgekommen ist <strong>und</strong> sich auf<br />
Interessensphären beschränkt, die nur für<br />
den radikalen Teil des Bürgertums, nicht<br />
aber für die sozialen <strong>Ziel</strong>e des Proletariats<br />
von Wert sind; als dieser linke Flügel ist<br />
sie, ihr Wesen treibend auf dem Korruptionsgebiete<br />
der Politik, ganz ebenso<br />
geworden, wie der rechte Flügel des<br />
Bürgertumes: heuchlerisch <strong>und</strong> demagogisch<br />
— <strong>und</strong> verräterisch.<br />
Anstatt in dieser Zeit der sozialen Not<br />
die Massen für den gewerkschaftlichen<br />
Kampf des Generalstreiks zu G u n s t e n<br />
w i r t s c h a f t l i c h e r Z w e c k e zu organisieren<br />
<strong>und</strong> anzufeuern, begeistert die Sozialdemokratie<br />
die Massen für das rein<br />
bürgerliche Zweckmittel des Parlamentarismus,<br />
das W a h l r e c h t , verführt die Massen<br />
in dieser Weise, auf daß sie ihr Gut <strong>und</strong><br />
Blut hinopfern mögen — wofür? Für die<br />
Bestrebungen ehrgeiziger Politiker, die nur<br />
deshalb Sozialdemokraten, weil sie begreifen,<br />
daß diese Partei, dank ihrer speziell<br />
auf das Proletariat zugepaßten Verführungsdemagogie,<br />
ihnen die günstigste Gelegenheit<br />
bietet für den politischen Erfolg: ein<br />
Abgeordnetenmandat.<br />
Die u n g a r i s c h e Sozialdemokratie<br />
hat soeben unter dem direkten Einfluß der<br />
österreichischen, auf ihrem Parteitag den<br />
Beschluß gefaßt, daß sie, falls die ungarische<br />
Regierung nicht das allgemeine Wahlrecht<br />
gewähre, die Massen in einen »polit<br />
i s c h e n M a s s e n s t r e i k « hineinbeordern<br />
würde.<br />
Rein taktischgesprochen haben wirnichts<br />
dagegen, daß die Krone das Wahlrecht gewähren<br />
soll. Im Gegenteil: wir sind der<br />
Meinung, daß das internationale Proletariat das<br />
Wahlrecht <strong>und</strong> dessen Ausübung »notwendig«<br />
hat, um desto rascher <strong>und</strong> gewisser aus<br />
dem trügerischen Phantasiebilde herausgerissen<br />
zu werden, daß der Parlamentarismus,<br />
das Wahlrecht u. dgl. m., a u c h n u r<br />
d e n g e r i n g s t e n W e r t für den Befreiungskampf<br />
des Proletariats habe. In dieser<br />
Hinsicht sind w i r die lachenden Erben,<br />
denn nur aus der Erkenntnis der Unfruchtbarkeit<br />
<strong>und</strong> Schwindelei der parlamentarischpolitischen<br />
Taktik a l l e r Parteien erwächst<br />
uns unsere Kerntruppe des Anarchismus,<br />
die es begreift, daß n i c h t Eroberung der<br />
Staatsmacht das <strong>Ziel</strong>, sondern A u f h e b u n g<br />
j e d e r Staatsgewalt <strong>und</strong> Einführung des<br />
Kommunismus das Gr<strong>und</strong>legende des proletarischen<br />
Kampfes sein muß.<br />
Haben wir somit taktisch gar n i c h t s<br />
g e g e n die Einführung des Wahlrechtes<br />
einzuwenden, so doch sehr viel, sobald es<br />
sich darum handelt, daß eine angeblich<br />
sozialistische Partei die Massen in einen<br />
K a m p f für das Wahlrecht hineinzuzerren<br />
gewillt ist. Denn da erhebt sich vor allen<br />
Dingen d i e Frage:<br />
Ist d e r K a m p f d e s Z i e l e s w e r t ;<br />
ist das <strong>Ziel</strong> d e s K a m p f e s w e r t ?<br />
Ein donnerndes, tausendfaches »Nein!«<br />
schleudern wir den Sozialdemokraten <strong>und</strong><br />
allen Sozialdemagogen ins Antlitz, die diese<br />
Frage bejahen wollen. Wir fragen! Wo, in<br />
welchem Lande, habt ihr auf Gr<strong>und</strong> einer<br />
Jahrzehnte währenden, parlamentarischen<br />
Taktik dem Volke auch nur das Geringste<br />
erkämpft, um dessen soziale Lage zu lieben?<br />
N i r g e n d s , i n k e i n e m e i n z i g e n Land<br />
e h a t d a s W a h l r e c h t e s v e r m o c h t ,<br />
d e m P r o l e t a r i e r s o z i a l e V o r t e i l e<br />
i n d e n S c h o ß z u w e r f e n .<br />
Mußte er sich diejenigen Fortschritte,<br />
die er sich dennoch erkämpft hat, s e l b s t<br />
durch den wirtschaftlich geführten Kampf<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />
erobern, dann beweist uns dies die Tatkraft<br />
der anarchistischen Taktik <strong>und</strong> Behauptung;<br />
<strong>und</strong> wir fragen: W o z u b e d ü r f e n w i r<br />
d a n n e u r e r , d e r P o l i t i k e r ? Damit auch<br />
sie uns aussaugen <strong>und</strong> in unserem selbständigen,<br />
direkten Kampfe hindern können?<br />
Welch unerhörte Demagogie, welches<br />
tückische Spiel mit den Interessen des Proletariats<br />
ist es, zu erklären, man würde auf<br />
die Nichtgewährung des Wahlrechtes —<br />
eine herzlich unbedeutende Sache für das<br />
Proletariat, wichtig nur für die Kleinbourgeoisie<br />
— mit »der P r o k l a m a t i o n des<br />
p o l i t i s c h e n M a s s e n s t r e i k e s antw<br />
o r t e n « ! Mit demselben Generalstreik,<br />
den man stets bekämpft, wenn es sich<br />
um die Eroberung wirtschaftlicher Forderungen<br />
handelt! Mit demselben Generalstreik,<br />
den man belächelt, wenn die Anarchisten<br />
erklären, daß er allein im Stande<br />
ist, w i r t s c h a f t l i c h e Reformen durchzusetzen.<br />
Wenn es sich darum handelt, Abgeordnete<br />
zu wählen, respektive ihre Wahl<br />
zu bewerkstelligen, dann ist der Generalstreik<br />
gerade gut genug dazu; um aber ein<br />
Stück mehr Brot, größere Freiheit für das<br />
Volk selbst durchzusetzen, dazu taugt er<br />
nicht, dann ist er die »Utopisterei der Anarchisten«.<br />
Die österreichische, revolutionäre Arbeiterschaft<br />
hat es bereits durch die erste<br />
Parlamentssession erkannt, wie total wertlos<br />
das Wahlrecht als Mittel des sozialistischen<br />
Kampfes für sie ist. Kein Verdrehen,<br />
keine Spiegelfechterei kann den Bankerott<br />
des internationalen Parlamentarismus<br />
für die proletarische Sache verdecken. Wir<br />
wissen schon heute, was uns die kommenden<br />
Sessionen bringen werden, müssen: «Ein<br />
Nichserl im goldenen Büchserl«. Und gerade<br />
aus diesem Gr<strong>und</strong>e finden wir es verräterisch,<br />
demagogisch, unverantwortlich,<br />
von Arbeitern zu fordern, nein sie so für<br />
trügerische Zwecke zu fanatisieren, daß sie<br />
für die <strong>Ziel</strong>e "der bürgerlichen Klassen ihr<br />
proletarisches Herzblut vergießen sollen!<br />
Mögen die Sozialdemokraten in den Parlamenten<br />
fast aller Länder erst etwas l e i s t e n ,<br />
bevor sie die Massen dazu aufpeitschen, für<br />
das Wahlrecht ihr Herzblut zu verspritzen.<br />
Wir sind dessen gewiß, daß die ungarischen<br />
Anarchisten, unsere Genossen,<br />
soweit sie die Möglichkeit <strong>und</strong> die Kampfesklarheit<br />
unseres <strong>Ziel</strong>es besitzen, wissen<br />
werden, was in dieser schwierigen Situation<br />
zu tun. Wenn es wirklich soweit kommen<br />
sollte, daß der politische Generalstreik proklamiert<br />
wird, dann müssen <strong>und</strong> werden<br />
sie mit hinein in den Kampf. Aber ihr Motto<br />
wird nicht sein: «Hoch das Wahlrecht!»<br />
— ein Losungswort, das die Unmündigkeit<br />
des Proletariats proklamiert, das darum fleht<br />
<strong>und</strong> bittet, durch seine gewählten Vertreter<br />
indirekt mit den Herrschenden feilschen <strong>und</strong><br />
schachern zu dürfen; sondern sie werden<br />
in den Kampf eintreten mit e i g e n e n ,<br />
w i r t s c h a f t l i c h e n Forderungen, werden<br />
d i e s e jener der Sozialdemokratie entgegenstellen.<br />
Mag diese dann diese wirtschaftlichen<br />
Forderungen des Proletariats bekämpfen;<br />
wohlan, die Besten des Proletariats werden<br />
es doch begreifen, daß das ehemalige Wort<br />
eines österreichischen Gewerkschaftsführers,<br />
daß ein Guldenzettel mehr wert als ein<br />
Wahlzettel, wahr <strong>und</strong> richtig ist.<br />
In diesem Kampfe haben wir die<br />
Pflicht, unsere ungarischen Brüder aufs<br />
energischeste zu unterstützen. Und so rufen<br />
wir ihnen schon jetzt zu, daß sich unser.<br />
Ruf mit dem ihren vereint <strong>und</strong> vereinigen<br />
wird, der Ruf, der da lautet:<br />
Nieder mit dem politischen Massenstreik<br />
für den politischen Köder des<br />
Wahlrechts!<br />
Es lebe der wirtschaftliche Generalstreik<br />
für den Achtst<strong>und</strong>entag<br />
in ganz Österreich <strong>und</strong> Ungarn!
Wien, 7. Juni 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. — Nr. 11.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />
I./17. — Gelder sind zu senden an<br />
W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />
5, III/27.<br />
Genossen! Wir ersuchen um rasche <strong>und</strong><br />
pünktliche Einsendung der ausstehenden <strong>und</strong><br />
dringend benötigten Geldbeträge.<br />
Den Siegberauschten vom<br />
14. Mai 1907!<br />
Früher, da ging die Sünde einher<br />
Barhäuptig <strong>und</strong> schwarz im Kleide,<br />
Für jeden war sie ein Ärgernis<br />
Und niemandem Augenweide.<br />
Von Ferne schon jeder die Straße mied,<br />
Wo die Sünde sich öffentlich seh'n ließ,<br />
- Doch war es von jeher noch immer so,<br />
Daß man nicht auch heimlich sie geh'n hieß —<br />
Heute stolziert sie prächtig zu schaun<br />
Auf offener Straße, offenen Blickes,<br />
Und wem sie lächelt verheißungsvoll,<br />
Rühmt gern sich noch seines Glückes.<br />
Das ist das Laster, die Sünde der Tat,<br />
Die Sünde von heute <strong>und</strong> gestern:<br />
Die „Sitte", „Moral" <strong>und</strong> die Heuchelei,<br />
So nennen sich ihre Schwestern.<br />
Die Sünde von morgen wird ausschließlich<br />
Nur in den Gedanken entstehen,<br />
Und, ehe sie sich noch körperlich zeigt,<br />
Wird sie schon schmählich vergehen.<br />
Die Sünde von morgen ist nur ein Wort,<br />
Ein Klang aus vergangenen T a g e n ;<br />
Ein Vorwurf für Taten, die nicht getan,<br />
Und deshalb uns zwingen zu klagen . -. .<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft<br />
; dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist. . ."<br />
Leo Lerche.<br />
Reichlich ein Jahr ist verflossen seit<br />
der ersten Wahl, die uns ein Volkshaus<br />
von Abgeordneten ergeben sollte; heute<br />
ist man versucht zu sagen: Der Racker des<br />
Privilegienparlaments war doch viel besser!<br />
Denn damals kennte man die Vertreter des<br />
aristokratischen, agrarischen <strong>und</strong> industriellen<br />
Volksfeindes wenigstens direkt <strong>und</strong><br />
ohne Heuchelei bekämpfen, wußte, daß das<br />
<strong>Ziel</strong> der Freiheit nur über sie hinweg führte.<br />
Heute ist das ganz anders geworden. Das<br />
Parlament ist derselbe Racker geblieben<br />
wie früher, nur werden heute die Staatsnotwendigkeiten<br />
nicht mehr mittels des<br />
§ 14 oder von den offenen Klassengegnern<br />
erledigt, sondern durch allerhöchste —<br />
A b s t i m m u n g s k o m ö d i e n . Und da man<br />
sich dabei auch rhetorisch anstrengen darf,<br />
um sich nicht auch noch des Scheines seiner<br />
«Würde» zu begeben, so kommt wirklich<br />
nur das heraus, was Herr Dr. Adler im<br />
. Budgetausschusse sagte <strong>und</strong> worin wir<br />
Anarchisten ihm beipflichten: uns ist auch<br />
viel «lieber, wenn nichts geschieht, als wenn<br />
auf irgend einem <strong>Weg</strong>e der A n s c h e i n<br />
erweckt wird, daß etwas geschieht, während<br />
tatsächlich n i c h t s gemacht wird».<br />
Mit Verlaub, das ist aber doch ein<br />
wenig zu strenge geurteilt. Es wird «gemacht»,<br />
sogar sehr viel, <strong>und</strong> Moloch Militarismus<br />
freut sich recht inniglich über all<br />
das, was im Parlament gemacht wird. «Die<br />
allgemeine Wehrhaftigkeit», die die Sozialdemokraten<br />
erstreben — wenn wir nur<br />
wüßten, g e g e n w e n wir als Internationalisten<br />
<strong>und</strong> Antipatrioten wehrhaft sein<br />
sollen? -- wird ganz ausnehmend gut erreicht.<br />
Und indem die Sozialdemokraten<br />
<strong>und</strong> andere bürgerlich-radikale Parteien des<br />
Hauses dagegen schwätzen, hat die Sache<br />
wirklich «den Anschein, daß etwas geschieht,<br />
während tatsächlich n i c h t s gemacht<br />
wird».<br />
Nicht immer ist es so böse, daß das<br />
Herrenhaus sogar die Scheinreformen- vernichtet;<br />
oder gar, daß wenn die Herren<br />
über galizisch-polnische Greuel schwätzen,<br />
die Schlachzizen, wie zum Hohn, das arme<br />
Bauerntum niederschießen lassen. An Obstruktion<br />
— daran denken unsere Sozialdemokraten<br />
nicht mehr, an dieses Radikalmittel<br />
haben sie völlig vergessen . ..<br />
Wir gratulieren dem österreichischen<br />
Proletariat zum ersten Hause des allgemeinen,<br />
gleichen <strong>und</strong> direkten W a h l z w a n g e s . Es ist<br />
erreicht — die S t a a t s n o t w e n d i g k e i t e n<br />
werden diesmal »auf demokratischer Basis«<br />
erledigt. Und was mehr können wir denn<br />
eigentlich verlangen? Nichts andere^ ist<br />
der Zweck des Parlamentarismus.<br />
Frauenstimmrecht <strong>und</strong> die<br />
Befreiung der Frau.<br />
Es liegt in dem Umstände geistiger<br />
Unselbständigkeit <strong>und</strong>- Zurückgebliebenheit,<br />
daß es trotz einer 60 jährigen modernen<br />
Arbeiterbewegung noch möglich ist, dieselbe<br />
durch den Parlamentarismus fast vollständig<br />
aus jener Bahn zu schleudern, die<br />
zu d e m <strong>Ziel</strong> zu führen berufen ist, um<br />
dessen Willen die proletarische Bewegung<br />
ja eigentlich begründet wurde: Erkämpf<br />
u n g d e s S o z i a l i s m u s d u r c h d i e<br />
A u f h e b u n g d e s P r i v a t e i g e n t u m s .<br />
Dieses wirkliche Endziel der sozialen<br />
Kampfesaktion des Proletariats, das sich in<br />
seinen Konsequenzen harmonisch vereint<br />
mit dem Begriff der A u f h e b u n g j e d e r<br />
p o l i t i s c h e n H e r r s c h a f t , also mit dem<br />
Anarchismus, ist durch die parlamentarische<br />
Taktik gänzlich den Blicken des kämpfenden<br />
Proletariats entrückt worden; es gelang<br />
denjenigen, die durch die Ergatterung<br />
sozial auskömmlicher politischer Positionen<br />
ein direktes, unmittelbares Interesse an dieser<br />
Abirrung hatten, den wirklichen sozialen<br />
Kampf in ein ödes Feilschen, Geplänkel<br />
für S c h e i n reformen, ein Einsetzen<br />
der revolutionären Kraft des Proletariats<br />
für bürgerliche Interessen zu verwandeln.<br />
Das Betrübende dieser Situation ist vornehmlich<br />
in dem gelegen, daß man den<br />
Massen vorgaukelt, das parlamentarische<br />
Gaukelspiel sei politischer Kampf <strong>und</strong> führe,<br />
könne jemals zum <strong>Ziel</strong>e führen.<br />
Ist schon der Proletarier bedrückt von<br />
all den Verelendungstendenzen des modern-kapitalistischen<br />
Systems; ist die zentralistische<br />
Gewerkschaftsbewegung mit<br />
ihren den neuen sozialen Verhältnissen absolut<br />
nicht angepaßten, veralteten Mittelchen<br />
des Kleinstreiks nicht im Stande,<br />
diesen Verschlechterungstendenzen wirk-<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2.40;<br />
halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
sam, tiefgreifend entgegenzutreten; ist<br />
somit der m ä n n l i c h e Prolet nur in vereinzelten<br />
Fällen <strong>und</strong> ganz minimalen noch<br />
dazu im Stande, mit geistiger Klarheit <strong>und</strong><br />
echtem Verständnis die sozialen Probleme<br />
zu begreifen — ist, kurz gesagt, der Proletarier<br />
in seiner Unwissenheit, die von dem<br />
heutigen System <strong>und</strong> ihren Stützen künstlich<br />
gezüchtet wird, ein Spielball der politischen<br />
Interessendemagogen, so ist d i e<br />
F r a u , die Proletarierin, zum größten Teil<br />
noch weit unwissender als er.<br />
Wir könnten das eigentliche Thema<br />
dieses Aufsatzes nicht erschöpfen, auch nur<br />
behandeln, wenn wir auf alle ursprünglichen<br />
Ursachen dieser noch weit größeren<br />
Unwissenheit, als sie unter der Männerwelt<br />
besteht, eingehen wollten. Genug, sie ist<br />
da; so sehr, daß zum Beispiel in Belgien<br />
einzelne Wortführer der Sozialdemokratie<br />
g e g e n die Verleihung des Fauenstimmrechtes<br />
waren, weil sie davon eine Verstärkung<br />
der Macht des Klerikalismus befürchteten.<br />
Jahrzehnt auf Jahrzehnt ist es der Demagogie<br />
der bürgerlichen Demokratie<br />
weit besser als dem Despotismus gelungen,<br />
die Arbeiterklasse ins Gängelband rein parlamentarisch<br />
- politischer Scheinprobleme<br />
zu locken. Die Sozialdemokratie ist die<br />
Erbin dieser heimtückisch - bourgeoisen<br />
Taktik. Sie geleitet den Arbeiter von dem<br />
Felde des wirtschaftlichen Kampfes für die<br />
direkte Erkämpfung der neuen Gesellschaft<br />
auf das Gebiet der Aufpäppelung mittels<br />
parlamentarischer Trugreformen, die eine<br />
Stärkung der bestehenden Gesellschaftsordnung<br />
<strong>und</strong> des Staates bedeuten. Nicht nur,<br />
daß der Proletarier durch das Parlament<br />
nicht das Geringste erzielte, was eine wesentliche<br />
Verbesserung seiner Lebenshaltung<br />
wäre, nein, das was er durch die<br />
parlamentarische Spiegelfechterei »gewann«,<br />
war eine direkte Befestigung der bestehenden<br />
sozialen Ausbeutung <strong>und</strong> eine Verrammelung<br />
des <strong>Weg</strong>es, der ihn zur Freiheit<br />
führt, zur sozialen Ordnung des Anarchismus<br />
auf kommunistischer Gr<strong>und</strong>lage.<br />
Obwohl die österreichische Sozialdemokratie<br />
in dem einen Jahr ihres parlamentarischen<br />
Wirkens in dem »Volkshause des<br />
allgemeinen Wahlrechtes« in Gemeinschaft<br />
m i t a l l e n ü b r i g e n Parteien nur das<br />
e i n e treffend illustrierte: den B a n k e r o t t<br />
des b ü r g e r l i c h e n P a r l a m e n t a r i s m u s<br />
für alle echten proletarischen Bestrebungen,<br />
somit auch nicht das Geringste leistete, um<br />
die Hoffnungen, die man dem Proletariat<br />
im Hinblick auf das allgemeine Wahlrecht<br />
gemacht, zu erfüllen — nichts desto weniger,<br />
sie hat schon wieder eine neue<br />
Problemstellung ihres Bankerotts erf<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> »auf allen Höhen« ertönt gegenwärtig<br />
in Österreich der Ruf nach d e m<br />
a l l g e m e i n e n F r a u e n s t i m m r e c h t als<br />
der n ä c h s t e n Aufgabe, die einer Lösung<br />
harrt. Und freilich, wenn es gelingt, die<br />
geistige Unreife des Mannes durch die
öden Litaneien vom »Wert des Parlamentarismus«<br />
gefangen zu nehmen, so gelingt<br />
<strong>und</strong> gelang es noch weit leichter,<br />
die Frau, dieses sowohl von den egoistischen<br />
Vorurteilen der Gegenwartsmoral,<br />
wie von der ökonomischen Abhängigkeit<br />
vom Manne niedergedrückte Wesen, dessen<br />
geistige Unentwickeltheit als Geschlecht ja<br />
stets den Spott der brüsken, diese aber<br />
verursachenden Männerwelt hervorruft, für<br />
das Trugphantom des Wahlrechtes zu gewinnen<br />
<strong>und</strong> der Frau einzureden, daß nur<br />
durch dieses sie sich die Gleichheit <strong>und</strong><br />
Freiheit zu erkämpfen vermöge.<br />
Wie es auch mit dem Männerstimmrecht<br />
nicht anders war, so war <strong>und</strong> ist es<br />
auch mit jenem der Frauen: es sind Ang<br />
e h ö r i g e d e r B o u r g e o i s i e , die dieses<br />
Problem aufstellten <strong>und</strong> die Energie<br />
der unterdrückten Massen gewinnen wollen,<br />
um ihre rein bürgerlichen Zwecke durchzusetzen.<br />
Diese bestehen darin, daß sie, die<br />
Bourgeoisie, an dem politischen Haushalt<br />
der bourgeoisen Ordnung teilnehmen will;<br />
die Aufgabe des Proletariats ist es aber<br />
nicht, an diesem teilzunehmen, Mann <strong>und</strong><br />
Frau des Proletariats haben ihre Ideale der<br />
Befreiung zu erringen, was nur geschehen<br />
kann nach B e s e i t i g u n g der bourgeoisen<br />
Ordnung <strong>und</strong> ihres Haushaltes.<br />
Ebenso wenig als das Männerwahlrecht<br />
auch nur im entferntesten die soziale Lage<br />
des männlichen Proletariats gebessert hat,<br />
hat das Frauenwahlrecht dort, wo es bereits<br />
durchgeführt ist, die Lage der Frau gebessert.<br />
Im Gegenteil, der Köder der bestehenden<br />
Gesellschaft zog: die männlichen<br />
wie die weiblichen Proletarier verloren<br />
den Blick für das <strong>Ziel</strong> ihrer Befreiung,<br />
verzettelten ihre Kraft für nichts.<br />
Nur in einem sozialistisch <strong>und</strong> politischgeistig<br />
so wenig entwickelten Lande wie<br />
Oesterreich ist es möglich, mit einer solchen<br />
demagogischen Parole an die breiten Massen<br />
heranzutreten. In einem Lande wie<br />
Frankreich, wo die Volkselemente beiden<br />
Geschlechtes eine mächtige sozialistische<br />
Tradition <strong>und</strong> klar geschaute revolutionäre<br />
<strong>Ziel</strong>e vor sich haben, ist es aussichtslos,<br />
mit derlei spieß- <strong>und</strong> kleinbürgerlichen<br />
Mittelchen die Massen auch nur in Bewegung<br />
zu setzen. Sie sind zu klug dazu,<br />
sich ins Schlepptau ehrgeiziger Politiker,<br />
ins Schlepptau der diabolischen Diplomatie<br />
des Staates nehmen zu lassen, der für diese<br />
Rufe nach dem Wahlrecht nur ein heimtückisches<br />
Lächeln der Verachtung übrig<br />
hat; im Bewußtsein des einen Gedankens:<br />
»Ihr Toren, welches Danaergeschenk, welche<br />
zweischneidige, heimtückische Selbstmordwaffe<br />
verlangt ihr von mir! Hier,<br />
nehmt sie denn hin —<strong>und</strong> »bekämpft« mich<br />
nur recht wacker mit ihr; gegen solche<br />
Streiche bin ich immun!«<br />
Und darum ist es geradezu erfrischend<br />
<strong>und</strong> besonders für österreichische Verhältnisse<br />
sehr zeitgemäß, wenn wir einer Beführworterin<br />
des Frauenstimmrechtes, der<br />
Französin A n g e l e R o u s s e l von Paris<br />
das Wort dazu erteilen können, um diese<br />
Frage des Parlamentarismus in bezug auf<br />
Mann <strong>und</strong> Frau einmal gründlich zu beleuchten.<br />
Sie sagt darüber in einem Artikel<br />
über das »Frauenstimmrecht«:<br />
»Bei der großen Masse der a r b e i -<br />
t e n d e n K l a s s e n blieb dieser Aufruf<br />
(»Die Frau erhalte das Stimmrecht«) ganz<br />
ohne Resonanz. Nur eine kleine Schar von<br />
M ä n n e r n d e r B o u r g e o i s i e griff ihn<br />
auf <strong>und</strong> begründete auf der Basis der von<br />
ihr ins Land hinausgetragenen Forderung<br />
den sogenannten »Parlamentsausschuß für<br />
Frauenstimmrecht«. Diese parlamentarische<br />
Schutztruppe wuchs zusehends, die Sache<br />
zog immer weitere Kreise <strong>und</strong> der naive<br />
Zuschauer konnte einen Augenblick glauben,<br />
daß in Frankreich die Bewegung schneller<br />
voran kommen werde als irgend wo sonst<br />
in der Welt; das Frauenstimmrecht schien<br />
bereits eine »ausgemachte Sache« zu sein.<br />
Aber die »öffentliche Meinung«, gegen<br />
deren Willen man nichts in der Welt<br />
durchsetzen kann, zeigte sich zurückhaltend.<br />
Die große Masse rührte sich nicht <strong>und</strong><br />
k o n n t e a u f k e i n e W e i s e i n F l u ß<br />
g e b r a c h t w e r d e n .<br />
D i e G r ü n d e d a f ü r l i e g e n a u f<br />
d e r H a n d . D e r P a r l a m e n t a r i s m u s<br />
h a t t e n i c h t d i e R e s u l t a t e g e z e i -<br />
tigt, d i e d i e g r o ß e M e n g e v o n i h m<br />
z u e r w a r t e n b e r e c h t i g t war. E s<br />
gab eine Zeit, wo der Mann im Volke von<br />
seiner Vertretung mächtige <strong>und</strong> bald bemerkbare<br />
Verbesserungen seiner wirtschaftlichen<br />
Lage erhoffte. Darum war er bereit,<br />
alle seine Kräfte einzusetzen, um sich das<br />
Stimmrecht zu erobern, das bisher ein Privilegium<br />
der »oberen« Klassen gewesen<br />
war. Er war bereit an den Gesetzen des<br />
Landes auch seinerseits mitzuwirken.<br />
H e u t e i s t d a s V e r t r a u e n d e s<br />
V o l k e s d a h i n . M a n g l a u b t n i c h t<br />
m e h r a n d i e W i r k s a m k e i t p o l i t i -<br />
s c h e r M i t t e l . U n d m a n i n t e r e s s i e r t<br />
s i c h für d i e A n w e n d u n g d e s S t i m m -<br />
r e c h t e s s e l b s t d o r t n i c h t , w o m a n<br />
e s n o c h g a r n i c h t b e s i t z t . M a n<br />
s a g t s i c h : e s w i r d n a c h E r l a n g u n g<br />
d e s S t i m m r e c h t e s m e h r W a h l b e -<br />
r e c h t i g t e g e b e n , a b e r a u c h m e h r<br />
A b g e o r d n e t e . D a m i t w e r d e n j e d e n -<br />
f a l l s d i e K o s t e n für d a s L a n d anw<br />
a c h s e n , u n d n i e m a n d k a n n u n s<br />
d a f ü r g a r a n t i e r e n , d a ß i m g l e i c h e n<br />
M a ß e a u c h u n s e r W o h l s t a n d anw<br />
a c h s e n u n d u n s e r E l e n d a b n e h -<br />
m e n w i r d . Die Männer insbesondere sagen<br />
sich: wenn wir es nicht erreichen<br />
konnten, warum sollten es unsere Frauen<br />
vermögen? Und die Frauen: wie sollten<br />
denn wir die Handhabung der politischen<br />
Waffen besser als unsere Männer verstehen,<br />
wo wir sie doch noch nicht einmal<br />
kennen?<br />
Damit ist nun freilich nicht gesagt,<br />
daß die französischen Frauen, wenn sie<br />
diese Waffe, o h n e daß es ihnen besondere<br />
Anstrengungen kostet, erlangen können,<br />
etwa verschmähen würden; am wenigsten<br />
würden das die Frauen der Arbeiterklasse<br />
tun. Es f e h l t n u r g e g e n w ä r -<br />
t i g a n L e u t e n , d i e v o n d e r N ü t z -<br />
l i c h k e i t d e s S t i m m r e c h t e s "überz<br />
e u g t s i n d . «<br />
Mit Recht <strong>und</strong> glücklicherweise ist die<br />
französische Arbeiterklasse im wesentlichen<br />
dem Wahne des Parlamentarismus entwachsen.<br />
Wir glauben, die Stimme der obigen<br />
A n h ä n g e r in des Frauenstimmrechtes<br />
führt diese gegenwärtig von der österreichischen<br />
Sozialdemokratie aufgenommenen<br />
Politikantenparole genugsam ad absurdum.<br />
Wenn wir von der Frau sprechen, so<br />
sprechen wir von ihr wie von /einem vergewaltigten<br />
Heiligtum, wenn man sie für<br />
den Unsinn einer solchen Forderung, wie<br />
sie das Stimmrecht in der bürgerlichen<br />
Gesellschaft überhaupt ist, zu fanatisieren<br />
<strong>und</strong> im Interesse b ü r g e r l i c h e r Frauenrechtler<br />
sich betätigen läßt. Die Frau ist<br />
n i c h t deswegen unfrei, weil sie nicht<br />
stimmen darf; im Gegenteil, es ist eine<br />
Herabwürdigung der Frau, ihr zu sagen,<br />
daß ihre Freiheit von da anfängt, wo sie<br />
der Staat ihr gestattet, — durch die Verleihung<br />
eines Fetzen Papieres. Der österreichische<br />
Arbeiter ist nicht freier geworden<br />
durch den Stimmzettel. Beide,der Proletarier<br />
wie die Proletarierin, sind sozial unfrei<br />
durch ihre ökonomische Besitzlosigkeit.<br />
Die ökonomische Armut ist der Richtspruch,<br />
der sie beide zur sozialen Nichtswürdigkeit<br />
verurteilt. Die Dame der Bourgeoisie, die<br />
reich, in Luxus <strong>und</strong> Überfluß leben kann,<br />
h a t politischen, wie sozialen Einfluß —<br />
auch ohne einen Stimmzettel; noch mehr:<br />
so weit sie sich auch geistig befreit hat,<br />
reißt sie sich los von allen den moralischen<br />
Vorurteilen, die die Welt des Privateigentums<br />
auf die Frau gehäuft hat, <strong>und</strong> sie besitzt<br />
dann ihre wahre Befreiung: G e i s t i g e<br />
<strong>und</strong> m a t e r i e l l - ök o n o m i s c h e U n -<br />
a b h ä n g i g k e i t !<br />
Dies muß das <strong>Ziel</strong> der emporstrebenden<br />
Proletarierin sein! Sie muß sich geistig<br />
befreien, muß vor allem sich selbst die<br />
Freiheit geben, indem sie Schulter an<br />
Schulter mit dem organisierten Männerproletariat<br />
ö k o n o m i s c h e Kämpfe kämpft,<br />
um sich zu erringen mehr Brot, mehr Licht,<br />
mehr Luft. Das Recht der freien Mutterschaft,<br />
das ist es, was sie zu erreichen hat,<br />
<strong>und</strong> dies gibt ihr der Staat nie, noch die<br />
bestehende Gesellschaftsordnung. E i n e<br />
e i n z i g e Frau, die solcher Art geistig <strong>und</strong><br />
ethisch den Morgenschimmer der Befreiung<br />
erblickt, fest verbündet mit dem Mann in<br />
seinen wirtschaftlichen Kämpfen ihm zur<br />
Seite steht, ist wichtiger als tausende von<br />
Frauenstimmen in der Wahlurne, die dem<br />
Feuer der Vernichtung preisgegeben werden<br />
<strong>und</strong> Alles beim Alten belassen.<br />
Das Ideal des Anarchismus ist die absolute<br />
ökonomische Gleichheit von Mann<br />
<strong>und</strong> Frau; die gleiche, absolute Freiheit für<br />
beide Geschlechter. Ihn zu erstreben, bedeutet<br />
schon, die Praxis seiner Ideen zu<br />
erproben, was dadurch geschieht, daß die<br />
Frau geistig dazu erzogen wird, sich allen<br />
den traditionellen Vorurteilen der überlieferten<br />
Sitte, den Geboten der Herrschaft<br />
des Mannes zu entziehen <strong>und</strong> in freier<br />
Kameradschaft mit dem Manne durch das<br />
Band gegenseitiger Liebe wahre soziale<br />
Gleichheit <strong>und</strong> Freiheit zu erstreben, zu erkämpfen.<br />
Nur gemeinsam kann sie erkämpft<br />
werden, nicht durch das Parlament,<br />
sondern dadurch, daß Mann <strong>und</strong> Frau die<br />
Fesseln der ökonomischen, staatlichen <strong>und</strong><br />
geistigen Knechtschaft abschütteln, in <strong>und</strong><br />
durch Freiheitskampf denjenigen Gesellschaftszustand<br />
der Befreiung begründen,<br />
in dem als sozialer Tenor e i n Motto gilt:<br />
M a n n u n d F r a u s i n d g l e i c h<br />
f r e i , i n h a r m o n i s c h e r , f r e i e r V e r -<br />
e i n i g u n g l e b e j e d e s s e i n G l ü c k ,<br />
s e i n e F r e u d e : — d a s G l ü c k d e r<br />
G e m e i n s c h a f t , d i e F r e u d e i n d e r<br />
F r e i h e i t i h r e r g e g e n s e i t i g e n L i e b e !<br />
W a s kümmert uns die Antialkoholbewegung?<br />
Anarchisten sind f r e i e Menschen resp.<br />
bemühen sich, solche zu sein oder zu<br />
werden; sie kümmert kein Dogma, <strong>und</strong> sie<br />
fragen nach keiner Erlaubnis <strong>und</strong> keinem<br />
Verbot. Nicht, was ein anderer für recht<br />
hält, wird von ihnen getan <strong>und</strong> nicht der<br />
andern Sorge <strong>und</strong> Sünde gemieden, sondern<br />
der Anarchist tut als freier Mensch nur<br />
nach s e i n e m Dafürhalten, nach s e i n e m<br />
Rechtbefinden. Doch wie seine Freiheit<br />
keiner Willkür, sondern der Erkenntnis sozietärer<br />
Menschenwürde entspringt, richtet<br />
sich sein Handeln nach dem von ihm erworbenen<br />
Wissen <strong>und</strong> Verständnis. Gerade,<br />
weil wir als Anarchisten d e n k e n d e Menschen<br />
sein müssen, ist es notwendig, daß<br />
wir uns, wie mit allen Fragen, so auch<br />
mit der Alkohol- resp. Antialkoholbewegung<br />
befassen.<br />
Das Thema, welches ich hier anschneide,<br />
ist so überaus vielseitig, wie die Einwirkung<br />
des Alkohols auf die verschiedensten Formen<br />
des menschlichen Lebens <strong>und</strong> Zusammenlebens<br />
überhaupt von eminentester Bedeutung.<br />
Es würde mich weit über den<br />
Rahmen meiner Absicht, vor allen Dingen<br />
zum Nachdenken über die Trinkunsitten
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Österreich.<br />
Wien. Unter der Beschuldigtenvorladung, sich<br />
wider den § 305 — den berüchtigsten Kautschukparagraphen<br />
unserer Strafgesetzordnung — vergangen<br />
zu haben, wurden bereits zwei Verhöre<br />
gegen unseren Genossen Ramus eingeleitet. Der<br />
besagte Paragraph umfaßt in buntestem Sammelsurium<br />
die „öffentliche Herabwürdigung der Ehe,<br />
der Familie, des Eigentums oder Gutheißung von<br />
ungesetzlichen oder unsittlichen Handlungen". Die<br />
Beschuldigung will angeblich feststellen, daß der<br />
Genosse Ramus in seiner Rede am 1. Mai eine<br />
Gutheißung von ungesetzlichen Handlungen begangen<br />
habe. Wie durchaus haltlos diese Beschuldigung<br />
ist, weiß jedermann, der das Wesen des<br />
1. Mai <strong>und</strong> unsere Stellung zu ihm kennt, weiß jeder<br />
Vorurteilslose, der jener Versammlung beiwohnte.<br />
*<br />
„. . . Wie wehst du kühl, o Weidenlaub von<br />
Babylon!" fühlt man sich versucht, auszurufen, wenn<br />
man der kleinlichen Gewaltsmaßregeln gedenkt, die<br />
die Autorität wider die Freiheit unternimmt. So<br />
mußten die Genossen Sindelar <strong>und</strong> Poddany, letzterer<br />
Redakteur unseres Blattes, eine 4 tägige Gefängnisstrafe<br />
absitzen wegen technischer Preßdelikte,<br />
<strong>und</strong> weil sie lieber in den Kerker gingen als dem<br />
Staate die Summe zahlten, nach der er gierig seine<br />
Krallen ausstreckte. Und gleich auf dem Fuße folgen<br />
neue Anklagen, wieder wegen technischer Preßdelikte<br />
<strong>und</strong> dann aber auch solche wegen ernsterer<br />
Vergehen, wie jene der Totschlagparagraphen 303<br />
<strong>und</strong> 305, ersterer wegen Beleidigung einer gesetzlich<br />
anerkannten Kirche oder Religionsgemeinschaft, die<br />
der Genosse Poddany angeblich begangen haben soll.<br />
Es ist das Los derer, die die Befreiung der<br />
Menschheit <strong>und</strong> ihr Glück wünschen, ihre eigene<br />
Freiheit, ihr eigen Gegenwartsglück in die Schanze<br />
schlagen zu müssen. Alle, die dies tun, gehören zur<br />
langen Schar jener Edlen, die eine zukünftige Kultur<br />
ehrend nennen wird; wohl wäre es den Verfolgern<br />
dieser Edlen, wenn die zukünftige Kultur mit beredtem<br />
Schweigen über sie hinwegschreiten würde!<br />
*<br />
Den K<strong>und</strong>machungen des „Amtsblattes zur<br />
Wiener Zeitung" zufolge, wurde die Nr. 10 des<br />
„W. f. A." abermals <strong>und</strong> ganz regelmäßig konfisziert.<br />
Kein einziger Artikel des Blattes entging der<br />
hochnotpeinlichen Wachsamkeit der k. k. Staatsanwaltschaft.<br />
Wenn man den sonstigen Inhalt des<br />
Amtsblattes betrachtet, kommt man fast zur Überzeugung,<br />
daß diese, unsere Konfiskationen, die<br />
immer an erster Stelle prangen, ein wesentlicher<br />
Manuskriptbestandteil der löblichen Redaktion jenes<br />
Amtsblattes sind, um es überhaupt füllen zu können.<br />
Verschiedene Blätter, verschiedene Redakteure; die<br />
einen arbeiten mit Kleister <strong>und</strong> Schere, die anderen<br />
mit Rotstift <strong>und</strong> Konfiskationen. W a s tut man nicht<br />
alles, um dem leidigen Manuskriptmangel abzuhelfen<br />
<strong>und</strong> seinen Geistesreichtum darbieten zu können?<br />
Hervorheben möchten wir bei dieser Gelegenheit,<br />
daß die sozialdemokratische Interpellation im<br />
Abgeordnetenhause über die willkürlichen P r e ß -<br />
konfiskationen der Staatsanwaltschaft nur die einoder<br />
zweimalige Konfiskation der täglichen „Arbeiterzeitung"<br />
während eines halben Jahres erwähnte, von<br />
den uns, der anarchistischen Presse, Nummer auf<br />
Nummer zugefügten Konfiskationen kein W o r t zu<br />
sagen wußte. Wir verzichten gern auf die Solidarität<br />
jener Herren für 20 Kronen per Tag, konstatieren<br />
aber, daß ein Stillschweigen bei solcher Gelegenheit<br />
<strong>und</strong> Tatsache direkt gleichbedeutend ist mit einer<br />
G u t h e i ß u n g der seitens der Staatsanwaltschaft<br />
uns gegenüber betätigten Willkürpraxis des „objektiven<br />
Verfahrens".<br />
Preßfreiheit, Preßfreiheit, die i c h , die Sozialdemokratie,<br />
meine — dies ist es, was die Herren<br />
verlangen, nicht aber wahre Preßfreiheit, also auch<br />
Freiheit für ihre prinzipiellen Gegner!<br />
*<br />
Zahlreiche Versammlungen fanden im III., V.,<br />
X., XVI. <strong>und</strong> X X . Bez. statt, in denen die Genossen<br />
Vohryzek <strong>und</strong> Ramus, Haidt <strong>und</strong> andere Genossen<br />
referierten oder diskutierend eingriffen. Das T h e m a<br />
bildete gewöhnlich die „Moderne Gewerkschaftstaktik"<br />
<strong>und</strong> waren die großen Vereinsversammlungen<br />
stets massenhaft besucht. Daß die anwesenden<br />
Sozialdemokraten sich als erstklassige Radaumacher<br />
erwiesen, gereicht ihrer sonstigen geistigen Qualifikation,<br />
die unendlich armselig <strong>und</strong> — streberisch<br />
ist, zu Ehren. Es half ihnen aber nichts, denn sie<br />
zogen entweder moralisch oder geistig überall, <strong>und</strong><br />
zwar in erbärmlichster Weise, den Kürzeren. —<br />
Von großer Bedeutung war eine besondere Organisationsversammlung<br />
der „Allgemeinen Gewerkschaftsföderation",<br />
in der ein regelrechtes Netz von<br />
Fachorganisationen über ganz Wien entworfen wurde<br />
<strong>und</strong> in der die erfreuliche T a t s a c h e zu T a g e trat,<br />
daß wir mit Ausnahme von etwa 4 bis 5 Bezirken,<br />
bereits überall kleinere oder größere Gruppierungen<br />
der Föderation besitzen. An die Befestigung dieser<br />
Knotenpunkte wird nun geschritten. — Des weiteren<br />
hat die Kolportage unserer Blätter in jener Versammlung<br />
gleichfalls eine Vergrößerung erfahren<br />
<strong>und</strong> ersuchen wir unsere Kameraden aufs Dringendste,<br />
trotz der etwas schlaffer machenden Sommermonate,<br />
in ihren Bemühungen nicht zu erlahmen, sondern unaufhörlich<br />
„weiter zu wühlen"! — Die Vorbereitungen<br />
für eine in nächster Zeit einzuberufende Monstreversammlung<br />
reifen immer mehr <strong>und</strong> arbeitet der<br />
klägliche Bankerott des Parlamentarismus in Österreich<br />
auf das Rüstigste für uns <strong>und</strong> in unserem<br />
Sinne. Kameraden, agitiert <strong>und</strong> kolportiert!<br />
Einer erbärmlichen Handlungsweise machte<br />
sich das Sekretariat des „Arbeiterheimes" im X. Bez.,<br />
machten sich Klassenbewußte der Alleinseligmachenden<br />
schuldig. Die r o t e n Polizisten schlugen den<br />
Genossen Ignaz Albert, weil er im Pfaffen- — — — — pardon<br />
A r b e i t e r h e i m Einladungen zu unseren Versammlungen<br />
verteilte. Die Genossen Kienwald <strong>und</strong><br />
W a w e r k a eilten dem von einer ganzen Rotte Mißhandelten<br />
zu Hilfe <strong>und</strong> sahen noch, wie man ihn<br />
mit voller Wucht in die Glasscheibe eines Türfensters<br />
hineinschlug. Die beiden Herbeieilenden protestierten<br />
laut gegen dieses brutale Vorgehen <strong>und</strong><br />
so wurden alle drei Genossen hinauf, in die Kanzlei<br />
des Sekretariats geschafft, wo man von ihnen (!)<br />
verlangte, s i e sollten die zerbrochene Scheibe bezahlen.<br />
Als sie sich dessen weigerten, hatte der<br />
würdige Sekretär — ein Sozialdemokrat! — die<br />
Schamlosigkeit, die Polizei herbei zu zitieren <strong>und</strong><br />
er brachte es durch die niederträchtigsten Lügen <strong>und</strong><br />
Verdrehungen so weit, daß der Angeschuldigte mit<br />
den zwei übrigen Zeugen zu je 48 St<strong>und</strong>en Arrest<br />
verurteilt wurden.<br />
Diese Schmach charakterisiert die Sozialdemokraten<br />
gebührend; sie, die durch eine Wandtafel im<br />
„Arbeiterheim" gegen das Eindringen der Polizei protestieren,<br />
sie rufen die Polizei gegen — einen Anarchisten.<br />
Rote Jesuiten!<br />
Einen glänzenden Triumph der zentralistischverbändlerischen<br />
Gewerkschaft der Kleidermacher<br />
haben die Arbeiter der Firma Weinmann zu verzeichnen.<br />
Man frage aber nicht, w i e der „Sieg"<br />
beschaffen.<br />
Als die Arbeiter sahen, daß sie nur für besondere<br />
Festzugaufträge, die am 1. Juni beendet sein<br />
mußten, arbeiteten, wandten sie sich am 11. Mai<br />
an die Verbandsleitung mit dem Ersuchen, r a s c h e s t<br />
m ö g l i c h eine Versammlung einzuberufen, um eine<br />
Lohnsteigerung durchzusetzen oder in den Streik<br />
zu treten, welch letzteres der Unternehmer unter<br />
keinen Umständen hätte zulassen können. Aber<br />
die Führer haben es nicht allzu eilig, wie die Arbeiter,<br />
<strong>und</strong> so kam es, daß sie die Versammlung<br />
erst für den 25. Mai einberiefen, als es natürlich<br />
schon zu spät, da fast alles schon fertig gearbeitet war.<br />
Das Ende des Liedes ist, daß eine ganze<br />
Anzahl Arbeiter Ende letzter W o c h e entlassen wurden.<br />
Die Strategie der Herren Führer ist wirklich<br />
genial. *<br />
Im sozialdemokratischen Wahlverein VI. „Gleichheit"<br />
sollte ein Vortrag über den Antimilitarismus<br />
stattfinden. Da aber der Referent absagte, sprach<br />
ein Herr Wächter über Wohnungsnot. In seinen<br />
weiteren Ausführungen gestand Redner die Ohnmacht<br />
der Gesetzgebung ein <strong>und</strong> empfahl die Gründung<br />
von Baugenossenschaften. In der folgenden<br />
Diskussion ergriff Kamerad Felsenburg das Wort.<br />
Für uns Anarchisten, sagte er, sei die Wohnungsnot<br />
von ganz besonderem Interesse, weil nirgend<br />
die Nutzlosigkeit des Parlamentes <strong>und</strong> die Notwendigkeit<br />
direkter Aktionen deutlicher zu Tage<br />
trete, als gerade hier. Für Sozialdemokraten sei es<br />
freilich schwer, über diese Sache zu sprechen, denn<br />
dieselbe sei enge mit der Bodenfrage verknüpft <strong>und</strong><br />
man könne diese nicht berühren, ohne die Fehler<br />
der Theorie Karl Marx aufzudecken. Nach einer<br />
kurzen Darlegung der Georgischen Theorie wies<br />
Kamerad F. auf die Aktionen Dr. Franz Oppenheimers<br />
<strong>und</strong> deren Vorzüge hin. Dem sozialdemokratischen<br />
Referenten wurde es schließlich recht<br />
schwül <strong>und</strong> er ergriff die Flucht <strong>und</strong> damit seiner<br />
Herde das Signal zum Aufbruche gebend.* Kamerad<br />
F. wurde vom Vorsitzenden aufgefordert, in einer<br />
demnächst abzuhaltenden Versammlung mit der<br />
Tagesordnung „Anarchismus <strong>und</strong> Sozialismus" unsere<br />
Theorien ausführlich darzulegen.<br />
•<br />
Auf, auf Arbeiter, zum Kaiserjubiläums-Festzug!<br />
Außerordentlich billig sind die Tribünensitze zu<br />
erhalten bei —; <strong>und</strong> ihr, wackere Kämpfer des<br />
Klassenkampfes <strong>und</strong> der k. k. Sozialdemokratie,<br />
werdet doch nicht dabei fehlen, wenn es die Huldigung<br />
der 60jährigen glorreichen Regierungsepoche<br />
des greisen Monarchen gilt, vor dem selbst die<br />
strammsten Bekenner der Lehre Marxens freiwillig<br />
in Demut ersterben <strong>und</strong> einen parlamentarischen<br />
Bückling machen!<br />
Ihr wollt wissen, wo, wo die Verkaufsstellen<br />
für Billete seien, wo Ihr, Schulter an Schulter mit<br />
Euren parlamentarischen Führern, dem Jubiläums-<br />
Festzuge „Hurrah" zurufen könnt?<br />
W i r wurden nicht dafür bezahlt, es Euch zu<br />
sagen. Leset die „Arbeiterzeitung", die über diesen<br />
Gegenstand großmächtige Inserate veröffentlichte.<br />
0, wir haben ein wirklich prinzipientreues sozialdemokratisches<br />
Blatt in der schönen Kaiserstadt!<br />
* Tröste dich, Genosse: Das machten die Leuchten der<br />
Ottakringer Sozialdemokratie ebenfalls, als ihnen die Entgegnungen<br />
des Gen. Ramus „zu schwül" wurden. Anm. d. Red.<br />
Kaiserjubiläumsinserate <strong>und</strong> Sozialdemokratie —<br />
kann sich irgend etwas besser <strong>und</strong> revolutionärer<br />
reimen? Nein; nicht so lange Geld nicht stinkt,<br />
die Geldmacher aller Sorten, wie uns wahrlich<br />
dünken will, aber s e h r s t i n k e n !<br />
E i n e m e r k w ü r d i g e V e r s a m m l u n g d e s hiesigen<br />
T o n a r b e i t e r v e r b a n d e s . Am 17. Mai d. J.<br />
berief der Verband der Tonarbeiter im Arbeiterheim<br />
im X. Bezirk eine Protestversammlung gegen<br />
die Organisationszersplitterer, die sogenannten<br />
gelben, nationalen <strong>und</strong> christlichsozialen Gewerkschaften<br />
ein, welche selbstverständlich Streikbrecher-<br />
Organisationen sind. Ein sehr löbliches Beginnen,<br />
doch leider bewies die Rede sämtlicher sozialdemokratischer<br />
Wortführer, daß die Versammlung<br />
n i c h t gegen die gelben Gewerkschaften, sondern<br />
gegen die anarchistischen Gewerkschaftler gerichtet<br />
war. Den Vorsitz führte der Agitationsleiter Alex.<br />
Da Rin. Als Hauptredner sprach ein Mitredakteur<br />
der „Arbeiter-Zeitung", Herr Dr. Adolf Braun, <strong>und</strong><br />
als einfache Arbeiter müssen wir sagen, daß dieser<br />
hochgelahrte Herr eine so wüste Schimpfpauke losließ,<br />
daß es wirklich zum Erbarmen war, wenn<br />
man bedachte, daß d i e s die Argumente der sozialdemokratischen<br />
Größen gegen den Anarchismus<br />
sein sollten . . . Es war wirklich kein W<strong>und</strong>er,<br />
daß der Genosse Ramus, der anwesend war, den<br />
„Historisch-Ökonomischen" so schlagend, Punkt<br />
auf Punkt, widerlegte <strong>und</strong> entkräftete, daß brausender<br />
Applaus den Saal erfüllte, als er seine Ausführungen<br />
beendet hatte. Ich muß konstatieren:<br />
wenn die Sozialdemokraten ihren Standpunkt nicht<br />
besser, nämlich tatsächlich mit geistigen Waffen zu<br />
wehren vermögen, als es in dieser Versammlung<br />
geschah, dann haben sie überhaupt keinen Standpunkt<br />
zu vertreten. Am Schlüsse nützte der Vorsitzende,<br />
Herr Da Rin, die Geschäftsordnung so<br />
zu seinen Gunsten aus, daß er mich angriff; mir<br />
wurde das W o r t verweigert. So fühle ich mich als<br />
Tonarbeiter genötigt, wahrheitsgetreu meine Erlebnisse<br />
in dieser Gewerkschaftsorganisation öffentlich<br />
bekanntzugeben.<br />
Es war am 1. Mai 1907 als im selben Saale<br />
sich die Tonarbeiter der Ortsgruppe 67 desselben<br />
Verbandes versammelten. Es handelte sich darum,<br />
ob wir für bestimmte Forderungen in den Streik<br />
treten oder den Unternehmern noch eine verlängernde<br />
Frist gewähren sollten. Die Meisten waren<br />
dagegen, da ja die Forderungen ohnehin z i r k a<br />
5 W o c h e n vor dem 1. Mai überreicht worden<br />
waren <strong>und</strong> so mancher Unternehmer sich schon<br />
rüsten konnte zu einem Kampfe, indem er Streikbrecher<br />
vorbereitete oder seine Waren anderwärts<br />
produzieren lassen konnte. Nichtsdestoweniger hatte<br />
der Verband die große Nachgiebigkeit, daß er die<br />
Entscheidungsfrist noch um 12 Tage verlängern wollte ;<br />
<strong>und</strong> jener Da Rin war es selbst, der als Schönredner<br />
die Arbeiter für den Aufschub gewinnen<br />
sollte. Die Arbeiter aber sahen, daß ihre Solidarität<br />
mißachtet wurde; man protestierte gegen diesen Antrag<br />
<strong>und</strong> bestürmte mich, dagegen zu sprechen. Es<br />
wurde von mir der Gegenantrag auf Streik gestellt,<br />
worauf Da Rin hinter meinem Kücken sich abfällig<br />
äußerte, dann aber seinen ersten Antrag zurückzog,<br />
einen neuen stellte, der nur mehr auf 3 Tage Verlängerung<br />
der Frist lautete. Als die Arbeiterschaft<br />
diese Schacherei sah, wurde sie — <strong>und</strong> mit Recht<br />
— so empört darüber, daß sie den Saal verließ.<br />
Von über 500 Personen blieben nur mehr zirka<br />
50 zurück, wovon zirka 35 für die 3 T a g e Verlängerung<br />
stimmten; die übrigen dagegen.<br />
Von da an mißtrauten meine, zu Kampf <strong>und</strong><br />
Solidarität bereiten, Arbeitsbrüder, welche sich nun<br />
von sozialdemokratischer Gewerkschaftstaktik überzeugt<br />
hatten, dem Verbände.<br />
Dies flößte den Unternehmern Mut ein, <strong>und</strong><br />
bei den Verhandlungen konnte man schon bemerken<br />
wie so Manches von den Forderungen gestrichen,<br />
<strong>und</strong> zurückgestellt wurde. So wurden die Arbeiten<br />
in der Kellerpartie auf die lange Bank gezogen,<br />
<strong>und</strong> viele detailierte Arbeiten wurden ebenso b e -<br />
handelt. Unter den Arbeitern griff eine große Mißstimmung<br />
um sich, <strong>und</strong> so kam es, daß sie dem<br />
Verbände nach <strong>und</strong> nach den Rücken kehrten.<br />
Trotz alledem büßten sie nichts an solidarischem<br />
Gefühle ein <strong>und</strong> wären bereit gewesen, 20 ihrer Brüder,<br />
die entlassen wurden wegen angeblichen Arbeitsmangel,<br />
zu verteidigen. Doch da kamen wieder die<br />
Herren Schönredner <strong>und</strong> gaben bekannt, daß man<br />
nicht streiken dürfe, da durch ihr Bitten weitere E n t -<br />
lassungen vorläufig hintangehalten wurden! Also,<br />
statt die Arbeiterschaft zu revolutionären Kämpfern<br />
zu erziehen, würdigt man sie zu unterwürfigen<br />
Bettlern herab; <strong>und</strong> wer dagegen protestiert, wird<br />
als Anarchist <strong>und</strong> Gewerkschaftszersplitterer ausgeschlossen!<br />
Das Sprüchlein der Herren sozialdemokratischen<br />
Verbandsleiter ist eben: „Du mußt<br />
bezahlen <strong>und</strong> wählen, alles weitere besorgen wir;<br />
sei recht dumm, damit du uns nicht die Wahrheit<br />
sagen kannst!"<br />
Nicht ich war es, nicht die Anarchisten waren<br />
es, sondern die zentralistische Organisations- <strong>und</strong><br />
Zersplitterungstaktik ist es, welche die vernünftigen<br />
<strong>und</strong> revolutionären Arbeiter unserer Branche von<br />
der Organisation fernhält.
Im Übrigen kann ich nur eins sagen: Da Rin<br />
konnte Arbeitern, die unsere Verhältnisse nicht<br />
kennen, mit Unwahrheiten <strong>und</strong> Verleumdungen<br />
dienen, da er ja doch das Schlußwort führte <strong>und</strong><br />
er wohl wußte, daß die Wahrheit dort nicht mehr<br />
zu Worte kommen würde. Anton Wejda.<br />
Reichenberg. Die hiesige revolutionäre G e <br />
werkschaftsorganisation unserer tschechischen Brüder<br />
w a r n t alle M ü l l e r a r b e i t e r davor, nach<br />
Reichenberg zu kommen, um dort Arbeit aufzunehmen.<br />
Schon seit Wochen wütet dort ein mit<br />
großer Energie geführter Kampf gegen die Ausbeuter-<br />
<strong>und</strong> Mehlpantscherfirmen Hirschmann wie<br />
auch der Gebrüder Schatten. Die Arbeiter kämpfen<br />
für eine menschenwürdige Existenz, um anständige<br />
Bezahlung <strong>und</strong> Behandlung <strong>und</strong> gegen ein ehrlos<br />
gebrochenes Versprechen der Ausbeuter, ihre,<br />
der Arbeiter, L a g e verbessern zu wollen. Wir<br />
wünschen den Arbeitern besten Erfolg <strong>und</strong> nochmals:<br />
Vor Zuzug wird gewarnt! Um Auskunft<br />
wende man sich an Wenzel Scholz, Ober-Rosental<br />
Nr. 74, bei Reichenberg, Böhmen.<br />
Ungarn.<br />
Einen ärgeren Bankerott als hier hat die<br />
Taktik <strong>und</strong> Technik des gewerkschaftlichen Zentralismus<br />
wohl nirgends zu verzeichnen: ein glänzend,<br />
mit größter Zuversicht begonnener Streik<br />
nahm ein jähes Ende, <strong>und</strong> in wilder Stampede kehrten<br />
die an selbständiges Denken <strong>und</strong> Handeln n i c h t<br />
gewöhnten Arbeiter in die Fabrikshöhlen zurück.<br />
Wir meinen den Streik der Arbeiter der<br />
Schlachthäuser <strong>und</strong> Selchereien, bei dem es sich<br />
um das gewerkschaftliche Vereinsrecht handelte,<br />
da die Unternehmer kategorisch den Austritt der<br />
Arbeiter aus der Organisation verlangten. Der<br />
Streik wurde ein Generalstreik, ja sogar die Gasarbeiter,<br />
die Lampenanzünder, die Arbeiter der<br />
Wasserleitungswerke standen auf dem Sprunge,<br />
gemeinschaftliche Sache mit den Streikenden zu<br />
machen, wie dies die Kellner bereits getan hatten.<br />
Da kam es zu einem jener Ereignisse, die<br />
von den Unternehmern provoziert werden. Während<br />
einer Zusammenrottung vor einem Selcherladen<br />
soll ein sozialdemokratischer Arbeiter namens<br />
Fröhlich einige Schüsse abgegeben haben, denen<br />
ein Menschenleben zum Opfer fiel. Dies führte zur<br />
behördlichen Auflösung des Streiklagers <strong>und</strong> zu<br />
den ärgsten Übergriffen der Unternehmer gegen die<br />
Arbeiter. Wären nun diese daran gewöhnt worden,<br />
s e l b s t ä n d i g zu kämpfen, so hätte die Auflösung<br />
des Streiklagers nichts geschadet. So aber wurden<br />
die Streikenden dadurch einfach kopflos, <strong>und</strong> die<br />
Machthaber wußten, daß es so komme würde . . .<br />
Der Streik, statt sich nun erst recht auszubreiten,<br />
um eben ein rasches, siegreiches Ende für die Arbeiter<br />
zu bewirken, brach binnen 24 St<strong>und</strong>en aufs<br />
kläglichste zusammen.<br />
Föderalistisch organisierten Arbeitern hätte<br />
das niemals passieren können. Solche Arbeiter<br />
denken nicht durch ein Streiklager, sondern durch<br />
ihre eigene, individuelle Vernunft, der ihre Handlungen<br />
entsprießen. Der Zentralismus ist Unselbstständigkeit,<br />
Wirrwarr <strong>und</strong> Kadavergehorsam, der<br />
Föderalismus sich selbst bildende <strong>und</strong> erstehende<br />
Organisation, Ordnung <strong>und</strong> selbstbewußtes Denken<br />
durch die Freiheit seiner Kampfesinitiative.<br />
Rußland.<br />
<strong>Unser</strong> italienisches Bruderblatt „II P e n s i e r o "<br />
veröffentlicht an leitender Stelle einen Nachruf, dem<br />
wir uns warm anschließen <strong>und</strong> im folgenden unerheblich<br />
verkürzt wiedergeben.<br />
D e r T o d e i n e s H e l d e n .<br />
V, L e b e d i n z e f , den wir in Rom unter<br />
dem Pseudonym C i r i l l o kannten, hat unlängst<br />
zusammen mit sechs mutigen Kameraden,<br />
unter welchen sich zwei Frauen befanden, auf<br />
des Zaren Geheiß das Schafott bestiegen. Bis<br />
zum letzten Augenblicke boten selbst die Frauen<br />
ein Bild ungebeugter Charakterstärke, ihren Kameraden<br />
zum leuchtenden Beispiel.<br />
Lebedinzef war ein begabter Jüngling, der der<br />
revolutionären Idee alles geopfert hatte, w a s dem<br />
Durchschnittsmenschen teuer ist: Ruhm, Ehren,<br />
Familie <strong>und</strong> Studium. Nach Italien gekommen,<br />
um sich von einer langen <strong>und</strong> fieberhaften Tätigkeit<br />
zu erholen, hielt er es hier nicht lange aus,<br />
es zog ihn wieder zurück nach dem Kampffelde<br />
der Revolution. Unter der Maske eines italienischen<br />
Journalisten, die ihm sehr gut stand, da er<br />
inzwischen vorzüglich Italienisch gelernt hatte,<br />
kehrte er nach Petersburg zurück. Hier wurde er<br />
mit einer großen Anzahl anderer Revolutionäre<br />
verhaftet, als sie mit Bomben bewaffnet die Ausfahrt<br />
des Petersburger Gouverneurs erwarteten,<br />
um einen Todesspruch der revolutionären Partei<br />
zu vollstrecken.<br />
Wir hegten für einige T a g e die Hoffnung,<br />
daß er sich retten werde können. Doch es sollte<br />
nicht sein. Mutig <strong>und</strong> unerschüttert ging er mit<br />
seinen Leidensgenossen dem T o d e entgegen <strong>und</strong><br />
grausam mordeten ihn die zaristischen Henker.<br />
D a s italienische Volk, das infolge des zuerst<br />
italienischen Namens sich für seinen Fall interessierte,<br />
bewahrte es ihm auch späterhin, als es<br />
von seinem todesmutigen Betragen erfuhr <strong>und</strong><br />
nimmt die Nachricht von seiner Hinrichtung mit<br />
trauerndem Herzen auf. Ein neues Band verbindet<br />
nun wieder die italienische Jugend mit der russischen,<br />
die romanischen Revolutionäre mit den<br />
slavischen — ein ideales Band, wie es Michael<br />
Bakunin herbeisehnte, <strong>und</strong> das er stets zu festigen<br />
<strong>und</strong> zu stärken bestrebt war!<br />
Als Lebedinzef in Rom war, brachte er den<br />
Anarchisten lebhafte Sympatien entgegen. Er gab<br />
sich für einen revolutionären <strong>und</strong> antiparlamentarischen<br />
Kommunisten aus <strong>und</strong> war eifriger B e <br />
sucher der anarchistischen Gruppe » C o n s t a n <br />
t i n o Q u a g l i e r i " ; er hatte sich in dieser<br />
Gruppe mit verschiedenen Arbeitern befre<strong>und</strong>et,<br />
die sich seiner hingebenden Natur <strong>und</strong> seiner<br />
lehrreichen Diskussionen mit Bew<strong>und</strong>erung erinnern.<br />
Oft ging er mit ihnen nachts durch die<br />
leeren Straßen Roms, von den gemeinsamen<br />
Hoffnungen auf die kommende soziale Revolution<br />
erfüllt <strong>und</strong> über russische Ereignisse plaudernd.<br />
Oft kam es vor, daß der Genosse, der ihn nachts<br />
am Schreibtisch verlassen hatte, ihn noch morgens<br />
an demselben in Arbeit vertieft vorfand. Er bewegte<br />
sich mit Vorliebe in Gesellschaft jugendlicher<br />
Arbeiter, denen er Bücher <strong>und</strong> Broschüren<br />
schenkte; soeben zeigt uns tiefbewegt einer von<br />
ihnen ein Exemplar Bakunins „Gott <strong>und</strong> der Staat",<br />
das mit einer fre<strong>und</strong>schaftlichen Widmung Cirillos<br />
versehen ist.<br />
Wir erinnern uns noch seiner Rede, die er<br />
anläßlich einer Veranstaltung der anarchistischsozialistischen<br />
Föderation von Lazio über die<br />
soziale Revolution, unsere Hoffnungen <strong>und</strong> gemeinsamen<br />
Ideale h i e l t . . . . "<br />
Eine Warnung.<br />
Als gebürtiger Österreicher <strong>und</strong> zuständiger<br />
Preuße, der die deutschländischen Verhältnisse genau<br />
kennt, warne ich die österreichischen Kameraden<br />
davor, nach Deutschland auszuwandern, da ihnen<br />
bei der geringsten Betätigung ihrer wirtschaftlichen<br />
<strong>und</strong> geistigen Interessen die A u s w e i s u n g sicher<br />
bevorsteht. So wurde erst jetzt wieder ein 16 Jahre<br />
hier ansässiger Genosse, der um seine Naturalisation<br />
anhielt, kurzerhand ausgewiesen.<br />
Franz D r e s c h e r , Görlitz.<br />
Ein Protest.<br />
In der Nr. 8 des „W. f. A." berichtet der<br />
Tischler Duchek aus Grottau über seinen Ausschluß<br />
aus dem Holzarbeiterverband, als dessen<br />
Gr<strong>und</strong> die Redaktionspolizisten des „Holzarbeiters",<br />
„anarcho-sozialistische Umtriebe" angaben. Es ist<br />
kein Zufall, wenn die Staatspolizei „lästigen" Elementen<br />
gegenüber denselben Ausdruck gebraucht,<br />
ist es doch den einen wie den andern um dasselbe<br />
z u tun — j e g l i c h e f r e i e W i l l e n s - u n d<br />
M e i n u n g s ä u ß e r u n g z u u n t e r d r ü c k e n .<br />
Daß ohne lebendige Kritik kein Fortschritt<br />
möglich ist, lehrt uns Geschichte <strong>und</strong> Wissenschaft,<br />
daß jeder gesellschaftliche Organismus dem Verfall<br />
anheimfällt, wenn er sich starr gegen die Außenwelt<br />
abschließt, das zeigt uns zum Überfluß die<br />
Sozialdemokratie Österreichs, die eins in Partei<br />
<strong>und</strong> Gewerkschaft ist. Nur damit ist es zu erklären,<br />
daß freiheitliche Elemente aus dem Verbände ausgestoßen<br />
<strong>und</strong> zu deren Ersatz Streikbrecher aufgenommen<br />
werden.<br />
„Das seinerzeit ausgeschlossene Mitglied<br />
W l č e k (Kistentischler) wird nach Abgabe einer<br />
Erklärung in den Verband wieder aufgenommen",<br />
heißt es im Bericht über die Vorstandssitzung vom<br />
8. April 1908 in Nr. 16 des Organs der „Holzarbeiter<br />
Österreichs".<br />
Zwei T a g e vorher, am 6. April 1908 war in<br />
der Vereinsversammlung der Kistentischler Wiens<br />
beraten worden, ob dem Ersuchen des Kistentischlers<br />
W l č e k um Wiederaufnahme stattzugeben<br />
sei; als elenden S t r e i k - u n d B o y k o t t b r e c h e r<br />
wurde ihm jedoch der Eintritt verweigert, denn er<br />
war wegen gemeinen Streikbruchs ausgeschlossen<br />
worden. Er hatte Arbeitslosen- <strong>und</strong> außerordentliche<br />
Unterstützung bezogen <strong>und</strong> war doch zum<br />
Streikbrecher geworden; er hatte darauf in einer<br />
boykottierten Werkstätte gearbeitet <strong>und</strong> war nun<br />
entlassen, da es scheinbar seinem Meister am<br />
Nötigsten fehlte; um nun wieder in einer Fabrik<br />
Arbeit zu finden, mußte er sich der Organisation<br />
anschließen; also aus ganz elenden Motiven ersuchte<br />
er um Wiederaufnahme. Die V e r e i n s <br />
v e r s a m m l u n g der Kistentischler Wiens vom<br />
6. April 1908 verweigerte ihm deshalb den Wiedereintritt;<br />
die V o r s t a n d s s i t z u n g vom 8. April<br />
1908 nahm ihn dagegen auf. Es wurde hier erklärt,<br />
daß Wlcek, Mitglied des X. Bezirkes der politischen<br />
Organisation sei <strong>und</strong> sich da nichts zu Schulden<br />
habe kommen lassen, sogar eifriger Leser der<br />
„Arbeiter-Zeitung" <strong>und</strong> der „Volkstribüne" sei . . .<br />
Partei <strong>und</strong> Gewerkschaft sind eins, so meint<br />
der V o r s t a n d , wenn Streikbrecher wieder aufgenommen<br />
werden. Partei <strong>und</strong> Gewerkschaft sind<br />
eins, so meint auch die Wahlleitung, wenn die für<br />
<strong>und</strong> durch wirtschaftliche Kämpfe gesammelten<br />
Arbeitergroschen zu politischen Kandidaturen ausgegeben<br />
werden. Partei <strong>und</strong> Gewerkschaft sind<br />
eins, wenn Arbeiter, die' die Ges<strong>und</strong>ung der Partei<br />
anstreben, aus der Gewerkschaft ausgeschlossen<br />
werden.<br />
Daß dem nicht mehr so sein solle, daß sich<br />
die Gewerkschaftsbewegung Österreichs von den<br />
Schlacken reinige, d i e d u r c h P a r t e i u n d V o r <br />
s t a n d verursacht werden, dafür erheben wir unsere<br />
Stimme als klassenbewußte <strong>und</strong> freiheitsringende<br />
Proletarier, deshalb legen wir Protest ein<br />
gegen den Ausschluß von ehrlichen anarchistischen<br />
Genossen <strong>und</strong> gegen die Wiederaufnahme von<br />
Streikbrechern a la Wlcek.<br />
Mitglieder des Holzarbeiterverbandes:<br />
Alfred Wagner (Buch Nr. 38.674), B. Brünner<br />
(101.827), Josef Schalek (5414), EI. Kozak (17.525),<br />
H. Schebesta (22.837), Jos. Kabouek (45), Jakob<br />
Kressa (29.487), Rudolf Zinterhof (112.735), Karl<br />
Kostron, Anton Petzl (387), Leopold Martinek<br />
(12.924), Josef Janda, Karl Sinko, Alois<br />
Ondfej (21.451).<br />
Vereine <strong>und</strong> Versammlungen.<br />
A l l g e m e i n e G w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n . J e d e n<br />
Montag halb 8 Uhr abends, V., Einsiedlergasse 60.<br />
A l l g e m e l n e G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t l o n . J e d e n<br />
Sonntag vormittags 9 Uhr, X., Eugengasse 9.<br />
A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n . Jeden<br />
Dienstag 8 Uhr abends, XIV., Märzstrasse 3 3 .<br />
A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n . Rhetorischer<br />
Kurs, tschechisch <strong>und</strong> deutsch, jeden<br />
Donnerstag 8 Uhr abends, XIV., Märzstraße 33.<br />
G e s a n g v e r e i n „ M o r g e n r ö t e " . Jeden Mittwoch<br />
abends bei Schlor.<br />
„ F r e i e r Gedanke", Freidenkerversammlung<br />
jeden Freitag abends 8 Uhr, XIV., Märzstraße 33.<br />
A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n . S o n n -<br />
tag den 7. Juni, 9 Uhr vormittags in Saßhofers<br />
Saal, XVI., Johann Nepomuk Bergerplatz 6. T h e m a :<br />
„Gewerkschaftliche <strong>und</strong> volkserzieherische Organisation".<br />
Referenten: Ramus <strong>und</strong> Vohryzek.<br />
A l l g e m e i n e r B l l d u n g s - <strong>und</strong> Diskussionsklub.<br />
Große öffentliche Vereinsversammlung am<br />
Sonntag den 14. Juni, 9 Uhr vormittags, XIV., Huglg<br />
a s s e 15. T h e m a : Die Wertlosigkeit des Parlamentarismus<br />
für die Gewerkschaftsbewegung.<br />
G e w e r k s c h a f t d e r S c h u h m a c h e r . Jeden<br />
Samstag XIV. Beingasse.<br />
Briefkasten.<br />
B ä u m l . Ersparen Sie sich die Mühe des Herausschreibens,<br />
senden Sie uns das Buch selbst,<br />
<strong>und</strong> wir werden sehen, w a s sich verwerten läßt.<br />
W a s Siedlungsgenossenschaften auf prinzipieller<br />
Gr<strong>und</strong>lage anbetrifft, s sind wir denselben nicht nur<br />
n i c h t abgeneigt, sondern befürworten sie sogar<br />
eifrig. Doch wohlgemerkt: an Ort <strong>und</strong> Stelle, nicht<br />
erst H<strong>und</strong>erte von Kronen auf Reisespesen hinauswerfen!<br />
Ein Artikel über diese Frage ist jederzeit<br />
willkommen. Gruß! — „ F r e i h e i t " , N. Y. Bitte mir<br />
Nr. 1, 2 <strong>und</strong> 3 der Flugschriften der „New-Yorker<br />
anarchistischen Föderation" zu senden! — K l a g e n <br />
furt. Jene Krapotkinschen Broschüren sind vergriffen.<br />
Bestellen Sie die in unserem Verzeichnis<br />
angegebenen. Gruß <strong>und</strong> mutig kämpfen! — G r a z .<br />
Nr. 1 vollständig vergriffen. Kampfesgruß Euch<br />
allen! — H o l t m a n n . Senden Sie Geld, wie Sie<br />
wünschen.<br />
Franz Schustaczek,<br />
einer der alten Radikalen der Achtzigerjahre<br />
der damaligen Sozialrevolutionären Bewegung,<br />
ist am 21. Mai gestorben. Er stand in<br />
den vordersten Reihen des Kampfes <strong>und</strong><br />
f ü n f Jahre verbüßten, schweren Kerkers<br />
legen Zeugnis ab für die Unbeugsamkeit<br />
seiner Oberzeugung. Es ist gegenwärtig nicht<br />
der Moment gekommen, auf das Einzelne<br />
dieses Lebensganges einzugehen, der eine<br />
große Menge erlebten Leidensmaterials hinterläßt,<br />
das der historischen B e - <strong>und</strong> Verarbeitung<br />
harrt. Doch eines sei schon jetzt<br />
konstatiert: Ein Vielgeprüfter <strong>und</strong> von der<br />
gegenwärtigen Art der sozialdemokratischen<br />
Bewegung arg Enttäuschter ist mit ihm zu<br />
Grabe getragen worden, dessen scharf-kritischer<br />
Geist aber hoffentlich weiter leben <strong>und</strong><br />
auferstehen wird zwecks Klärung <strong>und</strong> Aufklärung<br />
der lebenden <strong>und</strong> kämpfend strebenden<br />
Generation.<br />
Ein treues Andenken wollen wir ihm<br />
bewahren ob all des Leides, das er gelitten,<br />
<strong>und</strong> nachträglich drücken wir auf diesem<br />
W e g e auch seiner Kampfgenossin, die ihm<br />
lange Jahre treu <strong>und</strong> hilfreich zur Seite stand,<br />
unser aufrichtigstes Beileid aus!<br />
An alle Österr. Arbeiter! Zuzug ist strengstens fernzuhalten von der italien. Provinz Parma, wo 30.000 Landarbeiter einen heldenmütig<br />
geführten Streik durchkämpfen wider die Hydra des Großgr<strong>und</strong>monopols <strong>und</strong> der staatlichen Ausbeuterwillkür!
Die freie Generation. Dokumente zur Weltanschauung<br />
des Anarchismus. Heft 11. P. Ramus,<br />
Nachträgliche 1. Maigedanken. Flax, Jules Guesde.<br />
Hertha Vesta, Vom Frauenstandpunkt. Julius Skall,<br />
Philosophische Gr<strong>und</strong>prinzipien des Anarchismus.<br />
Eduard Joris, Ein W o r t an die Öffentlichkeit. Archiv<br />
des sozialen Lebens. Preis pro Einzelheft 25 h.<br />
Auf dem Schlachtfelde.<br />
Ein Kriegsgedicht gegen den Krieg.<br />
„Dort war's <strong>und</strong> dortl Da oben da könnt ihr Alles<br />
seh'n. —<br />
Hier mußten an zwei St<strong>und</strong>en sie still im Feuer<br />
steh'n.<br />
Dort standen die Kanonen; ich hör' es heute noch,<br />
Das Prasseln <strong>und</strong> das Donnern, <strong>und</strong> wie nach Blut<br />
es roch!<br />
Und dort, dort stand mein Häuschen. Wie Hagel<br />
kam's herein.<br />
0 Gott! mein Lebtag denk' ich an diese Angst <strong>und</strong><br />
Pein.<br />
'ne Kuh hatt' ich im Stalle, sie trieben sie hinaus.<br />
Mein Acker ward verwüstet, verbrannt mein kleines<br />
Haus.<br />
Hier fielen wohl die Meisten. Welch' W u t - <strong>und</strong><br />
Schmerzgeschrei!<br />
Nun ruh'n sie dort am Hügel, mein Sohn ist auch<br />
dabei —<br />
Es sind jetzt schlimme Zeiten; weiß nicht, wie's<br />
werden soll.<br />
0 Herr, ich kann nicht weiter; o laßt mich, Herr,<br />
lebt wohl!"<br />
Mir wurden feucht die Augen. Der arme Alte schied.<br />
Es war so still, so eigen, die Lerche sang ihr Lied.<br />
0 w<strong>und</strong>erbar gesegnet, o üppig fruchtbar Land,<br />
Geackert <strong>und</strong> gepfleget von fleiß'ger Menschenhand!<br />
Wie lange wird es währen, bis du a u f s neu zerzaust,<br />
Bis wieder Kriegesfurie, entfesselt in dir haust?<br />
Bis wieder grimmer Wahnsinn den eig'nen Fleiß<br />
zerfetzt,<br />
Bis wieder sich die Völker mit Phrasen aufgehetzt?<br />
Mit „Ruhm <strong>und</strong> Waffenehre", „für Gott <strong>und</strong> Vaterland"<br />
O Gott! o wahre Ehre! wie werdet ihr verkannt!<br />
Wenn einer einen mordet, dann gibt`s ein groß'<br />
Geschrei.<br />
Wenn Tausende sich morden, dann denkt man<br />
nichts dabei.<br />
Wenn einer einen mordet, war's Haß, war's Beutesucht;<br />
Der Mörder wird verstoßen, verachtet <strong>und</strong> verflucht.<br />
Wenn Tausende sich morden, dann wird's 'ne<br />
große Tat,<br />
Trophäen, Feindesbeute, Kriegsrecht nach Gottes Rat.<br />
Da gilt's des Landes Ehre, des Volkes Heiligtum,<br />
Da gilt's die Waffenehre, da gilt's den Schlachtenruhm,<br />
Da beten alle beide, daß tötlich sei ihr Blei,<br />
Die Pfaffen segnen, weihen <strong>und</strong> bleiben ernst dabei.<br />
Da wird auf beiden Seiten um Hilfe Gott gefleht;<br />
Auf beider Gegner Banner das Recht, die Freiheit steht.<br />
W a s sind denn Recht <strong>und</strong> Ehre, w a s Freiheit,<br />
Vaterland,<br />
Wenn die Entscheidung darüber liegt nur in eines<br />
Hand?<br />
Wenn eines einz'gen Willkür, wenn eines Machtgebot<br />
Für H<strong>und</strong>erttausend andere ist Untergang <strong>und</strong> T o d ?<br />
Dort liegen sie <strong>und</strong> ruhen von ihrer Todesqual,<br />
Die sich gemordet haben, weil einer es befahl,<br />
Weil man der Waffenehre Genüge tun gemußt.<br />
0 Weiber, Kinder, Mütter! o hättet ihr's gewußt!<br />
W o z u die bange Sorge, mit der du manche Nacht<br />
An deines Lieblings Bette, o Mutter, hast g e w a c h t ?<br />
Daß deines Alters Stütze, daß einst dein Trost er sei.<br />
Jetzt liegt er da erschossen — man findet nichts<br />
dabei.<br />
Man jubelt, [lärmt, trompetet, setzt ihm ein Kreuz<br />
auf's Feld,<br />
Bescheinigt ihm zur Grube, das brav er fiel als Held.<br />
Man feiert Siegesfeste, — Tedeum, Glockenton.<br />
Könnt ihr damit erwecken, nur einer Mutter S o h n ?<br />
Mit Achselzucken weist man der Mutter Schmerz<br />
zurück;<br />
Um sie zu trösten, nennt man's die hohe Politik.<br />
O, trockne deine Tränen! es ist ein hart Geschick;<br />
Doch das dein Sohn erschossen, o nenn' es noch<br />
ein Glück!<br />
War' er zum Krüppel worden, bekreuzt war' seine<br />
Brust;<br />
Dann aber hätt' er hungern <strong>und</strong> betteln noch<br />
gemußt,<br />
Und mit ihm Tausend andere. O Wahn 1 o Wahn<br />
der Z e i t !<br />
Wie lange wird es währen, bis wir von dir befreit?<br />
Bis alle Völker einig in diesem einen W o r t :<br />
W i r w o l l e n k e i n e K r i e g e , w i r w o l l e n<br />
k e i n e n M o r d !<br />
Nicht jene, die da würfeln mit blut'gem Menschenbein.<br />
Du selber bist der Mörder, du selber, Volk, allein —<br />
Die Knechtschaft <strong>und</strong> ihr Wechsel sind nicht das<br />
Pulver wert;<br />
W a s dich allein begeist`re, das sei der eig'ne Herd;<br />
Nicht „Ruhm", nicht Waffenehre, nicht schnöder,<br />
hohler Tand,<br />
Der Wohlstand <strong>und</strong> der Friede, ein freies Vaterland<br />
I<br />
Das Recht des ärmsten Bürgers, das sei des<br />
Landes Wahl.<br />
Und lieber tot, als dulden, daß dieses Recht je fall'!<br />
Und dieses Recht zu wahren, das sei des Kampfes<br />
wert:<br />
Der einz'ge Krieg der Zukunft sei für den eig'nen<br />
Herd. -<br />
O sprecht es aus, ihr Völker, sprecht endlich aus<br />
das W o r t :<br />
W i r w o l l e n k e i n e K r i e g e , w i r w o l l e n<br />
k e i n e n M o r d !
O laß den T a g bald kommen, o m a c h e ' endlich<br />
Ernst,<br />
Den Tag, an dem du selber, o Volk, dich achten<br />
lernst!<br />
Nur dadurch, daß du selber zur Hand nimmst dein<br />
Geschick,<br />
Nur dadurch bringst den Frieden, die Freiheit du<br />
zurück.<br />
- Horch, Trommeln <strong>und</strong> Trompeten! — o Wahn,<br />
o Wahn der Zeit!<br />
Wie lange wird es währen, bis wir von dir befreit?<br />
Johannes Guttzeit.<br />
Ein holländisches »Nirgendsheim«.<br />
*)<br />
Dieses herrliche Gedicht in Prosa,<br />
welches mir leider nur in der englischen<br />
Übersetzung vorliegt, ist eine erquickende<br />
Abwechslung in der Menge von modernen<br />
Romanen, welche uns die Gegenwart in<br />
düsteren Farben malen, oder aber die Zukunft<br />
nach irgend einem Programm vor<br />
unseren Blicken entrollen. Der holländische<br />
Dichter hat es verstanden, eine Satyre der<br />
Gegenwart zu schreiben, in welcher das<br />
Unzulängliche aller modernen Weltanschauungen<br />
in einer liebevollen Weise beleuchtet<br />
wird, <strong>und</strong> er schildert uns dann<br />
eine Gesellschaft freier Menschen — in<br />
einer Weise, welche nicht verfehlen kann,<br />
den Gleichgültigen mit Begeisterung <strong>und</strong><br />
neuer Strebenslust zu erfüllen.<br />
»Der kleine Johannes«, ein Kind wohlhabender<br />
Eltern, <strong>und</strong> Markus, ein Scherenschleifer<br />
sind die Helden dieser w<strong>und</strong>erbaren<br />
Erzählung. Die ganze Tragödie der kleinen<br />
Kinderseele finden wir in Johannes verkörpert,<br />
während er gezwungen ist die<br />
Schule zu besuchen, wo die Seele des<br />
Kindes unbefriedigt bleibt. Er hatte auch<br />
einen guten <strong>und</strong> weisen Vater, welcher mit ihm<br />
durch die Wälder streifte <strong>und</strong> ihn zu belehren<br />
suchte. Aber wirklich wohl fühlte<br />
sich Johannes nur, wenn er mit seinem<br />
H<strong>und</strong>e, sein anhänglichster Fre<strong>und</strong>, durch<br />
Flur <strong>und</strong> Wald streifen <strong>und</strong> sich mit den<br />
Blumen <strong>und</strong> Insekten unterhalten konnte.<br />
Wittekind, ein Zwerglein, machte ihn auch<br />
mit dem Leben der Ameisen bekannt. Eines<br />
Tages fanden sie eine alte Ameise, welche<br />
Pflanzenläuse (die Milchkühe der Ameisen)<br />
hütete. »Wir leben jetzt in großer Bedrängnis«,<br />
erzählte ihm die Ameise, »weil uns<br />
ein großer Krieg bevorsteht. Wir wollen<br />
das Nest unserer Nachbarn zerstören <strong>und</strong><br />
die Larven stehlen oder töten.«<br />
»Was ist die Ursache des Krieges?«<br />
fragte Johannes. »Es ist doch nicht schön.«<br />
*) „Der kleine Johannes" von F. van Eeden.<br />
Englisch: „The Quest," herausgegeben von John<br />
W. Luce & Co., Boston.<br />
»In der Tat«, antwortete die Hirtin,<br />
»Es ist ein sehr lobenswertes Unternehmen!<br />
Du solltest wissen, daß es streitbare Ameisen<br />
sind, welche wir angreifen wollen.<br />
Diese Art wollen wir vertilgen, <strong>und</strong> das<br />
ist doch eine gute Tat.«<br />
»Und seid ihr denn nicht auch streitbare<br />
Ameisen?« fragte Johannes.<br />
»Sicherlich nicht! Was fällt dir ein?<br />
Wir sind friedliche Ameisen.«<br />
»Aber wie soll ich das verstehen?«<br />
»Weißt du es nicht? Ich will es dir<br />
erklären. Es gab einmal eine Zeit, wo sich<br />
alle Ameisen beständig bekriegten — nicht<br />
ein Tag verging ohne große Metzeleien.<br />
Dann erschien eine gute <strong>und</strong> weise Ameise,<br />
welche dachte, daß viel Verdruß <strong>und</strong><br />
Elend würde aus der Welt geschafft<br />
werden, wenn alle Ameisen friedlich zusammenleben<br />
würden. Das fand man sehr<br />
sonderbar — <strong>und</strong> wurde sie in Stücke zerbissen.<br />
Dann kamen noch andere Ameisen,<br />
welche wieder derselben Meinung waren.<br />
Auch diese wurden zerbissen. Aber es<br />
kamen deren soviele, daß es den kriegerischen<br />
Ameisen zu viel Arbeit war, alle<br />
zu zerreissen. Dann nannten sie sich alle<br />
Friedens-Ameisen <strong>und</strong> man gab zu, daß<br />
die erste Friedens-Ameise doch das Richtige<br />
gelehrt habe. Wenn nun eine damit<br />
nicht einverstanden war, dann wurde sie<br />
von den Friedens-Ameisen getötet. Heute<br />
sind wir alle Friedens-Ameisen <strong>und</strong> die<br />
Überbleibsel der ersten Friedens-Ameise<br />
werden jetzt verehrt uud sorgfältig aufbewahrt.<br />
Wir haben ihren Kopf — den verbürgten<br />
Kopf. Wir haben zwölf andere<br />
Kolonien verwüstet <strong>und</strong> die Ameisen ermordet,<br />
welche auch vorgaben, den echten<br />
Kopf zu besitzen. Jetzt sind bloß noch vier<br />
Kolonien geblieben. Sie nennen sich Friedens-Ameisen,<br />
sind in Wirklichkeit jedoch<br />
Kriegs-Ameisen. Denn nur wir haben den<br />
echten Kopf, weil die Friedens-Ameise<br />
doch nur einen Kopf hatte. Wir wollen<br />
jetzt die dreizehnte Kolonie zerstören.<br />
Siehst du jetzt, daß es ein gutes Werk ist?«<br />
Diese Logik wollte dem kleinen Johannes<br />
nicht recht in den Kopf. Viel einleuchtender<br />
<strong>und</strong> sympathischer waren ihm die<br />
Erzählungen <strong>und</strong> Belehrungen des Scherenschleifers<br />
Markus. Zu ihm fühlte sich Johannes<br />
auch hingezogen, wie auch alle<br />
anderen Kinder der Stadt <strong>und</strong> ihrer Umgebung.<br />
Markus hat die Eigenschaft, alle<br />
Kinder an sich zu ziehen. Auch die verdorbensten<br />
Rangen sind in seiner Gegenwart<br />
die fre<strong>und</strong>lichsten <strong>und</strong> gehorsamsten<br />
Wesen, wenn er ihnen Geschichten erzählte.<br />
Sie waren wie umgewandelt. Diese Macht
über die Kleinen lag einfach in dem ernsten<br />
<strong>und</strong> treuherzigen Interesse, das er für<br />
die Kinder zeigte. Da war nichts, gar nichts,<br />
das ihn nicht interessierte <strong>und</strong> er sich nicht<br />
bemüht hätte, zu helfen. So beschwichtigte<br />
er die hungrige Seele des Kindes, gewann<br />
dessen Vertrauen <strong>und</strong> übte solche w<strong>und</strong>erbare<br />
Macht über dasselbe aus. Eltern, welche<br />
mit ihren Kindern schlecht fertig wurden,<br />
glaubten, daß Markus »etwas in seinen<br />
Augen,« — »seinen Fingern hatte,« ein<br />
»Zaubermittel, mit welchem er die Kleinen<br />
so fügsam machte. »Wenn die Kinder nicht<br />
sprechen sollen,« antwortete er einer strengen<br />
Mutter, »wer soll dann verständig<br />
sprechen?«<br />
Markus war auch ein eifriger Befürworter<br />
der Arbeiter, aber da er diesen so<br />
wenig schmeichelte, wie den Reichen,<br />
mußte er viele Gehässigkeiten über sich<br />
ergehen lassen.<br />
Eines Abends besuchten Markus <strong>und</strong><br />
Johannes eine sozialdemokratische Arbeiterversammlung.<br />
Der Hauptredner war<br />
Dr. Feibock, welcher wie gewöhnlich die<br />
Tugenden der Arbeiter besonders hervorhob<br />
<strong>und</strong> die Kapitalisten moralisch vernichtete.<br />
Erst die Macht der Arbeiter werde<br />
die Gerechtigkeit herstellen. Nach dem<br />
Applaus erhob sich Markus <strong>und</strong> sagte u. a.<br />
folgendes:<br />
»Es sind hier Väter <strong>und</strong> Mütter, welche<br />
wissen, was verzogene Kinder sind.<br />
Das verdorbene Kind, welches immer geschmeichelt<br />
<strong>und</strong> verzärtelt worden ist, oder<br />
welches sich immer dem Zwange unterwerfen<br />
muß, wird mit der Zeit zänkisch,<br />
bösartig <strong>und</strong> krankhaft. Sollen wir uns nun<br />
gegenseitig so behandeln, wie wir nicht<br />
einmal mit unseren Kindern umgehen<br />
sollten? Durch unangebrachtes Lob schmeicheln<br />
die Menschen sich ihre Macht <strong>und</strong><br />
ihres Einflusses — werden fortgerissen von<br />
den süßen <strong>und</strong> feingewählten Worten betreffs<br />
der Ungerechtigkeit, welche sie<br />
schon zu lange erduldet haben, <strong>und</strong> der<br />
Wohlhabenheit <strong>und</strong> Glückseligkeit, zu welcher<br />
alle Menschen berechtigt sind. Das<br />
hört ihr alle sehr gern, nicht wahr?<br />
»Aber das was man am liebsten hört,<br />
ist nicht immer ratsam zu sagen. Es gibt<br />
Dinge, welche man nicht gern hört, welche<br />
aber doch gesagt <strong>und</strong> beherzigt werden<br />
sollten. Ich weiß, daß ich keinen Applaus<br />
zu erwarten habe, wie mein Vorredner,<br />
<strong>und</strong> doch bin ich euch ein besserer Fre<strong>und</strong>.<br />
Gewiß, ihr leidet, man ist ungerecht<br />
gegen euch; aber ihr sollet euch deswegen<br />
nicht erhaben fühlen, sondern ihr solltet<br />
euch dessen schämen. Denn wenn ihr fort-<br />
fahrt, Ungerechtigkeiten zu dulden, so ist<br />
das nur ein Beweis, daß ihr zu schwach,<br />
zu dumm oder zu gleichgiltig seid, um<br />
solche zu überwinden.<br />
Ihr müßt nicht immer fragen: »Was<br />
tut man mit uns?« sondern: »Warum dulden<br />
wir es?« Die Antwort zu dieser Frage<br />
kann immer nur lauten: »Schwäche, Stupidität<br />
<strong>und</strong> Gleichgiltigkeit!« Ich mache euch<br />
keinen Vorwurf, aber ich sage: beschuldigt<br />
nicht andere, sondern euch selbst. Das ist<br />
der <strong>Weg</strong> zur Besserung.<br />
Ist hier jemand, auch nur ein einziger,<br />
welcher es wagen würde mir zu versichern,<br />
feierlich, daß, wenn ihm sein Arbeitgeber<br />
wegen guter Leistung <strong>und</strong> Fähigkeit eine<br />
bessere Stellung mit höherem Lohn offerieren<br />
würde, — daß er dann sagen würde:<br />
»Nein, ich nehme das nicht an, denn das<br />
wäre ein Verrat an meinen Genossen <strong>und</strong><br />
meiner Partei!« Ist hier ein solcher, so<br />
möge er aufstehen.«<br />
Aber niemand rührte sich, <strong>und</strong> das<br />
Schweigen wurde nicht unterbrochen.<br />
»Also gut,« fuhr Markus fort, »noch<br />
ist hier eine einzige Person, welche das<br />
Recht hat, gegen die Reichen zu eifern,<br />
welche er haßt <strong>und</strong> vertilgen möchte. Ein<br />
jeder von euch würde ganz genau dasselbe<br />
tun, was die Reichen heute tun.<br />
Die Dinge der Welt würden nicht besser<br />
gehandhabt werden, wenn ihr an der<br />
Spitze ständet.<br />
Wie ihr euch doch gegenseitig zu<br />
täuschen <strong>und</strong> zu schmeicheln sucht! Fortwährend<br />
hört ihr, daß ihr unschuldig, die<br />
Unterdrückten seid, die so viel leiden<br />
müssen; daß ihr besserer Dinge würdig<br />
seid; daß ihr so gut <strong>und</strong> so mächtig seid;<br />
daß ihr die Welt so viel besser <strong>und</strong> weiser<br />
regieren würdet; jetzt sei eure Zeit gekommen,<br />
in Bequemlichkeit <strong>und</strong> Pracht zu<br />
leben.<br />
Männer, selbst wenn dem so ist, ist es<br />
dann notwendig, daß man euch immer das<br />
sagen muß? Werdet ihr dadurch nicht zu<br />
eingebildeten Narren gemacht? Würde sich<br />
die Wirklichkeit nicht fürchterlich an euch<br />
<strong>und</strong> an den Kriechern <strong>und</strong> Schmeichlern<br />
rächen?<br />
Alles, was ihr hört, ist Falschheit <strong>und</strong><br />
Einbildung. Ihr würdet die Welt nicht besser<br />
regieren, denn dazu habt ihr weder<br />
das Wissen noch die erforderliche Menschenliebe.<br />
Ihr seid des Mitleides nicht<br />
mehr würdig als eure Unterdrücker; denn<br />
wenn dieselben euch ein Unrecht zufügen,<br />
schaden sie selbst ihre eigene Seele. Die<br />
Reichen wandeln auf viel gefährlicheren<br />
<strong>Weg</strong>en als die Armen, denn es ist im-
mer besser zu leiden, als das Unrecht zu<br />
begehen.<br />
Die guten Dinge der Erde gehören<br />
euch noch nicht, denn ihr würdet damit<br />
denselben Mißbrauch treiben, als diejenigen,<br />
gegen welche man euch aufhetzt.<br />
Kämpft bis zum Tode, aber es muß<br />
ein Krieg der Gerechten gegen die Ungerechten<br />
sein; ein Kampf der Weisen <strong>und</strong><br />
Wohlwollenden gegen die Stupiden <strong>und</strong><br />
Schlechtgesinnten. Und fragt nicht, wo<br />
eure Waffenbrüder herkommen, denn ihr<br />
seid nicht die einzig Unglücklichen: nicht<br />
ihr allein seid die Barmherzigen unter der<br />
Menschheit; Wohlwollen <strong>und</strong> Redlichkeit<br />
sind nicht ausschließlich die Eigenschaften<br />
der Armen.«<br />
Jetzt sprang Dr. Felbek auf <strong>und</strong> donnerte<br />
eine Entgegnung in den Saal hinein,<br />
die allen Lesern bekannt klingen dürfte:<br />
»Genossen, wir haben es nicht nötig,<br />
zu fragen, von wo der Wind bläst. Es ist<br />
dies einer von jener kleinen, veralteten<br />
Bande bürgerlicher Idealisten, welche die<br />
Welt mit Traktätchen <strong>und</strong> Predigten reformieren<br />
<strong>und</strong> die Arbeiter in der Unterjochung<br />
<strong>und</strong> Entsagung zufrieden sehen<br />
möchten. Arbeiter, ich frage euch, habt ihr<br />
nicht lange genug Geduld geübt? Habt<br />
ihr kein Recht auf die Genüsse des Lebens?<br />
Könnt ihr die hungrigen Magen eurer<br />
kleinen Kinder mit dem betrügerischen<br />
Geschwätz über Weisheit <strong>und</strong> Wohlwollen<br />
füllen?«<br />
»Nein, nein!« schrie die Versammlung,<br />
welche sich sogleich von dem Zauber der<br />
Achtung, mit welchem Markus dieselbe gefangen<br />
gehalten hatte, befreite.<br />
»Laßt euch nicht von solchem langweiligen<br />
Geschwätz betören, welches den<br />
Klassenkampf bestreiten möchte, O wahrlich!<br />
Solchen hören die Herren der Sicherheitskasten<br />
(die Polizei) gern zu, denn diese<br />
fürchten ja den Klassenkampf so sehr!<br />
Könnten sie diesen Herrn sprechen hören,<br />
er würde sicherlich ihren Beifall finden . . .<br />
Die Medaille hat man für ihn gewiß schon<br />
in Bereitschaft.«<br />
»Und eine Pension!« schrie jemand,<br />
während die Versammlung lachte.<br />
Ein Leser.<br />
Bücherschau.<br />
Hektor Z o c c o l i , D i e A n a r c h i e ; i h r e<br />
V e r k ü n d e r , I d e e n u n d T a t e n , V e r s u c h<br />
e i n e r s y s t e m a t i s c h e n u n d k r i t i s c h e n<br />
Ü b e r s i c h t , s o w i e e i n e r e t h i s c h e n B e u r -<br />
t e i l u n g . Verlag von Maas & van Suchtelen, Leipzig.<br />
Wir haben es hier mit dem großzügigen Werke<br />
eines italienischen Professors <strong>und</strong> Forschers zu tun,<br />
der bis zu einem gewissen Grade die objektive<br />
Aufrichtigkeit <strong>und</strong> Gründlichkeif eines Gerichtsassessors<br />
Eitzbacher besitzt. Dies will viel besagen,<br />
es beweist, daß letzterer schließlich nicht allein<br />
bleibt in seiner ehrlichen, unparteiischen Würdigung<br />
desjenigen Problems, das leider <strong>und</strong> ganz unrichtig<br />
als ein Prototyp des Verbrechens <strong>und</strong> der Schändlichkeit<br />
aufgefaßt wird. Bei Zoccoli sticht ein etwas<br />
allzu lebhafter Ton hervor, der manchmal leise ins<br />
Polemische <strong>und</strong> dann stets irrtümlich werdend, umschlägt.<br />
Dort aber, wo sich das Werk auf referierende<br />
Wiedergabe des Tatsächlichen o h n e besondere<br />
Würdigung desselben, maßvoll beschränkt, ist es<br />
eine ungemein gediegene Leistung <strong>und</strong> läßt jene<br />
Zenkers weit hinter sich. Zudem hat der Verlag<br />
sich ein doppeltes Verdienst mit der Herausgabe<br />
erworben, erstens dadurch, daß er überhaupt ein<br />
Werk über ein solches in Deutschland arg verpöntes<br />
T h e m a herausgibt, zweitens aber, daß er dasselbe<br />
in Lieferungsheften herausbringt, wodurch die Anschaffung<br />
des Werkes einem jeden ermöglicht wird.<br />
Es wird 20 Lieferungen haben, von denen jede einzelne<br />
nur 72 Heller kostet. Die bislang erschienenen<br />
sechs Nummern behandeln Stirner, Proudhon, Bakunin.<br />
Ober den Fortlauf der Serie werden wir berichten,<br />
wie auch das Gesamtwerk eingehender<br />
würdigen.<br />
P a u l Louis, G e s c h i c h t e d e s S o z i a l i s -<br />
m u s in F r a n k r e i c h . Verlag von J. H. W. Dietz<br />
Nachf., Stuttgart. Dieses Werk ist außerordentlich<br />
flüchtig <strong>und</strong> unzureichend ausgearbeitet; es ist kein<br />
gründliches, wenig objektives Geschichtswerk, bringt<br />
zudem eine ganze Fülle des wichtigsten Materials<br />
nicht. Dennoch empfehlen wir es denjenigen Genossen,<br />
denen eine geschichtliche Entwicklungsskizzierung<br />
des französischen Sozialismus bisher<br />
unbekannt blieb. Für Anfänger ist die Sache gut<br />
genug, schon wegen des billigen Preises von K 3 — .<br />
L ' E c o l e R é n o v é e (Die renovierte Schule) betitelt<br />
sich eine neue Zeitschrift unseres spanischen<br />
Genossen F. Ferrer, die in Brüssel (Rue de l'Orme 76)<br />
erscheint <strong>und</strong> deren Streben, die spanischen anarchistisch-sozialistischen<br />
Erziehungsstätten über ganz<br />
Europa zu verpflanzen, nur mit Begeisterung erfüllen<br />
kann. Mitarbeiter sind der Herausgeber, Peter<br />
Krapotkin <strong>und</strong> Domela Nieuwenhuis, Robin <strong>und</strong><br />
D'Arsar — <strong>und</strong> diese Namen allein genügen schon,<br />
um die Musterqualität dieser aufbauenden Tendenz<br />
der anarchistischen Weltanschauung zu charakterisieren.<br />
<strong>Unser</strong> Glückauf! diesem herrlichen Unternehmen!<br />
Empfehlenswerte Bücher <strong>und</strong> Broschüren :<br />
Der letzte Krieg, von Teranus, eleg. geb. . K 5 -<br />
—<br />
Wohlstand für Alle, von Peter Krapotkin „ 1 _<br />
Wiliam Godwin, der Theoretiker des kommu-<br />
80<br />
nistischen Anarchismus, v. Pierre Ramus „<br />
Die historische Entwicklung der Friedensidee<br />
2-—<br />
<strong>und</strong> des Antimilitarismus, von Pierre<br />
Ramus „ — -<br />
3 0<br />
Das anarchistische Manifest, v. P. Ramus „ —"06<br />
Kritische Beiträge zur Charakteristik von<br />
Karl Marx, von Pierre Ramus . . . . „ — ' 1 2<br />
Wie klärt man Kinder auf? „ — ' 1 2<br />
Das Dogma von der Vaterlandsliebe . . . . „ — ' 1 2<br />
Liebesfreiheit <strong>und</strong> Eheprostitution, v. Fernau „ —'12<br />
Revolutionäre Regierungen, von P. Krapotkin „ —'06<br />
Gretchen <strong>und</strong> Helene, Zeitgemäße Betrachtung<br />
des Anarchismus u. d. Sozialdemokratie „ —'20<br />
Die Sintflut, von T h e o d o r Brunnecker . . „ — -<br />
1 2<br />
Die Auferstehung,<br />
Eine Reise nach<br />
v. T h e o d e r Brunnecker „<br />
dem Jenseits, von Theodor<br />
- 1 2<br />
Brunnecker<br />
Die freie Generation, Monatsschrift der Welt-<br />
, — 1 2<br />
anschauung des Anarchismus . . . . „ —"25<br />
Die Pariser Kommune, von P. Krapotkin . „ 12
anzuregen, führen, wenn ich alle nachgewiesenen<br />
Schädigungen in bezug auf die<br />
eheliche Gemeinschaft, die Stillfähigkeit der<br />
Mutter, die Ges<strong>und</strong>heit der Kinder, der<br />
sexuellen Ges<strong>und</strong>erhaltung etc. auch nur<br />
knapp diskutieren wollte. Es muß dies anderen<br />
Artikeln oder dem Studium der darüber<br />
reichhaltigen Literatur vorbehalten<br />
bleiben. Ich will mich bewußt nur an der<br />
Oberfläche halten, ohne in die Tiefe eindringen<br />
zu wollen.<br />
«Unter den vielen Schädlichkeiten,<br />
denen der Mensch von der Wiege bis zum<br />
Grabe ausgesetzt ist, unter allen Giften,<br />
welche das Leben bedrohen, ist keines<br />
heimtückischer <strong>und</strong> gefährlicher als der<br />
Alkohol» — sagt Sanitätsrat Dr. P a t e r na.<br />
Das «heimtückische» gibt jeder ihm gern<br />
zu. Es trinkt sich ja so vergnügt <strong>und</strong> fröhlich,<br />
aber oft kommt wirklich solch unerwünschter<br />
Katzenjammer hinterher. Aber<br />
gefährlich? Ja, wo. Welcher Trinker — <strong>und</strong><br />
Dr. Magnus Hirchfeld nennt schon denjenigen,<br />
meiner Ansicht nach, mit vollem<br />
Recht einen Gewohnheitstrinker, der jeden<br />
Tag sein bestimmtes, ein oder zwei Gläschen<br />
zu sich nimmt, weil ihm sonst sein<br />
Essen nicht heruntergehen will — welcher<br />
Trinker, frage ich, wird zugeben, daß ihm<br />
sein Tun schädlich? So leicht niemand.<br />
Der Gefragte weiß immer, wieviel i h m gut<br />
bekömmt, nur die Dritten schlagen über<br />
die Stränge; <strong>und</strong> denen mags vielleicht<br />
schaden. — Die englischen Lebensversicherungen<br />
machen so feine Unterschiede<br />
nicht. Ihnen gilt jeder Trinker für solch'<br />
Dritter, der sich schadet. Abstinenten genießen<br />
bei ihnen einen Prämienrabatt bis<br />
2 0 % ! Und daß diese Schmarotzer des<br />
Kapitalismus sich auf ihr Geschäft verstehen,<br />
darauf können wir uns verlassen. Wenn<br />
nichts Anderes, müßte das zum Nachdenken<br />
anregen! Leider ist aber bei dem Gewohnheitstrinker<br />
— siehe oben Dr. Magnus<br />
Hirchfeld — den es am meisten angeht,<br />
die Denkkraft so gemindert, daß er dafür<br />
kaum noch fähig erscheinen möchte <strong>und</strong><br />
die sittlichen Hemmungen so weit ausgeschaltet,<br />
daß er seinem Willen kein Durchsetzen<br />
erzwingen kann.<br />
Es ist niemand ein Geheimnis, welche<br />
Wirkungen der übermäßige Alkoholgenuß<br />
erzeugt. Die Zustände, die sich beim berauschten<br />
Manne zeigen, gleichen nicht nur<br />
der äußeren Form nach den Anzeichen des<br />
Irrsinns. Die feinst organisierten Gehirnzellen,<br />
die den Sitz des Verstandes <strong>und</strong><br />
seine Kraft ausmachen, verändern sich de<br />
facto unter der Einwirkung des Alkohols.<br />
Dem Namen nach kennen wir alle die furchtbare<br />
Bezahlung für den reichlich gefröhnten<br />
Genuß — delirium tremens. Eine Irrsinnserscheinung,<br />
die nur selten heilbar <strong>und</strong><br />
dann nur bei völligster Enthaltsamkeit! —<br />
Kleinere <strong>und</strong> nicht regelmäßig genossene<br />
Quantitäten erzeugen bei Anfängern ähnliche<br />
Krankheitsbilder. Daß sie beim Gewohnheitstrinker<br />
nicht mehr sich zeigen,<br />
kommt nicht etwa daher, daß der Körper nun<br />
gegen das Gift immun geworden ist, sondern<br />
die Reagenz des ges<strong>und</strong>en Körpers<br />
gegen die Vergiftung eingebüßt hat. An<br />
sich ein besorgniserregender Zustand. Verhängnisvoller<br />
dadurch, daß nun der instinktive<br />
Widerwillen gebrochen ist <strong>und</strong> nur<br />
noch die «Süffigkeit» in Frage zu kommen<br />
scheint.<br />
Das aber ist das Verabscheuungswürdigste<br />
bei der ganzen Sache: Der Trinker<br />
trinkt nicht, weil er Durst hat, sondern<br />
weil er sich durch den g e s e l l s c h a f t -<br />
l i c h e n D r u c k d a z u z w i n g e n l ä ß t .<br />
«Die alten Deutschen tranken immer noch<br />
eins.» «Wer niemals einen Rausch gehabt,<br />
der ist kein braver Mann.» «Wer ein ganzer<br />
Kerl sein will, muß einen ordentlichen<br />
Schluck vertragen können» — so <strong>und</strong> bis<br />
ins Unendliche variiert, kann man's hören,<br />
wenn einer nicht mithalten will. Auf den<br />
Kneipen der nicht arbeitenden Studentenschaft<br />
wird der Komment großgezogen<br />
<strong>und</strong> der beschäftigungslose Bourgeois schlägt<br />
seine überflüssige Zeit damit tot. Dem<br />
Proletarier aber kamen bis nun alle Sitten<br />
— <strong>und</strong> Unsitten — aus den «höheren»<br />
Kreisen, die er sich nur zu sehr bemühte,<br />
nachzuäffen. Damit gehts nun zu Ende.<br />
(N.B. Auch «oben» beginnts zu dämmern,<br />
<strong>und</strong> man beginnt sich von den Trinkunsitten<br />
zu emanzipieren.) Der Proletarier ist erwacht<br />
<strong>und</strong> beginnt, sich sein Leben selbst<br />
zurecht zu zimmern. Dabei ist ihm aber<br />
sein Bewußtsein <strong>und</strong> sein Wille Richtlinie<br />
des Handelns. Bewußtsein <strong>und</strong> Wille müssen<br />
rein <strong>und</strong> klar gehalten werden, damit keine<br />
Phase des bevorstehenden Kampfes den<br />
erwachten Proletar, den Sozialisten <strong>und</strong><br />
Anarchisten ablenken kann von dem geraden<br />
<strong>Weg</strong>e zur Freiheit.<br />
Zum Schlüsse will ich nur darauf hinweisen,<br />
daß selbstverständlich Statistiken<br />
<strong>und</strong> Krankheitsbilder in Fülle vorhanden<br />
sind, die von der Minderwertigkeit der Alkoholiker<br />
beredtes Zeugnis ablegen. Und<br />
ohne eine Analyse der verschiedenen Getränke<br />
zu versuchen, muß ich doch noch<br />
darauf aufmerksam machen, daß ein «Gläschen»<br />
Schnaps, ein «Glas» Wein, ein<br />
«Seidel» Bier im Durchschnitt dieselbe<br />
Menge reinen Alkohols besitzen; also eines<br />
so schädlich ist, wie das andere. Befreit<br />
Euch von diesem Feinde, <strong>und</strong> Ihr werdet<br />
früher frei werden. Alfred Bader.<br />
Sozialdemokratische Ketzergedanken<br />
über die Anarchie.<br />
Wie der Gläubige es wagt, sich seinen<br />
Himmel vorzustellen, so stelle ich mir eine Gesellschaft<br />
im Reiche der Anarchie vor. Der<br />
Unterschied beruht eigentlich nur auf zweierlei<br />
gr<strong>und</strong>verschiedenen Glauben: Während<br />
wir die unumstößliche Überzeugung in uns<br />
tragen, daß die Menschheit so v e r -<br />
e d l u n g s f ä h i g ist, daß die Betätigung<br />
des Lebens jedem einzelnen Individuum<br />
nur rn^ehr freudiger Genuß ohne jeden<br />
Zwang sein soll, das ist also ohne Herrschaft,<br />
Militär- oder Polizeigewalt, Gefängnisse<br />
u. dgl. sein kann <strong>und</strong> wird, glauben<br />
jene, daß die Menschen, obwohl nach dem<br />
Ebenbilde ihres geglaubten Gottes geschaffen,<br />
unverbesserliche Bestien seien,<br />
die nur mit Gewalt in Zaum <strong>und</strong> Zügel<br />
gehalten werden können; wovon dann<br />
eben einige, zwar auch nicht vollkommene<br />
Individuen durch die Gnade ihres Gottes,<br />
den sie fort <strong>und</strong> fort anbetteln, nach dem<br />
Tode in einen Ort kommen, den sie<br />
Himmel nennen <strong>und</strong> den sich jeder nach<br />
seinen egoistischen Wünschen ausmalt.<br />
Kurz: Wir halten einen wahrhaft glücklichen<br />
Zustand auf Erden für die Lebensdauer<br />
jedes Individuums für möglich, jede<br />
sogenannte S e l i g k e i t n a c h d e m T o d e<br />
a b e r für u n m ö g l i c h .<br />
Die Gottesgläubigen jedoch sind gegenteiliger<br />
Ansicht, das heißt sie glauben, die<br />
Menschen seien alle mehr oder weniger<br />
sündhaft, die Erde sei nur ein Prüfungsort,<br />
auf dem jeder leiden müsse, <strong>und</strong> erst<br />
nach dem Leben könne man gleich, direkt<br />
oder stationenweise in den Ort der Seligkeit<br />
— den Himmel — kommen. In diesen<br />
beiden Anschauungen stehen sich wieder<br />
einmal Vernunft <strong>und</strong> Glaube antagonistisch<br />
gegenüber, wobei ich zu bemerken nicht<br />
unterlassen kann, daß »Glaube« eigentlich<br />
nur ein umschreibendes Höflichkeitswort<br />
für »Etwas Gewisses weiß man nicht«, also<br />
für » N i c h t s w i s s e n « oder » U n w i s s e n -<br />
h e i t « ist.<br />
Da der Glaube der Gegner aber nicht<br />
Gegenstand dieser Abhandlung sein soll,<br />
so müssen wir vor allem anderen zu einer<br />
möglichst verständlichen Definition des<br />
Begriffes der Anarchie schreiten.<br />
Zu diesem Zwecke wollen wir uns<br />
aus einigen renommierten Büchern unterrichten.<br />
In Professor Gustav Heyses bester <strong>und</strong><br />
teuerster Lexikonausgabe ist zu lesen:<br />
»Anarchie, die Ohneherrschaft, Herrenlosigkeit<br />
eines Staates, Mangel der Gesetzherrschaft,<br />
gesetzloser Zustand; Wühlerherrschaft;<br />
anarchisch, gesetzlos, verfassungslos,<br />
herrscherlos; Anarchist, ein Gesetzloser,<br />
Zügelloser.« Nicht so professoralfeindlich<br />
schreibt Meyers Konversations-<br />
Lexikon: »Anarchie, Regierungs- oder Gesetzlosigkeit;<br />
anarchisch, im Zustand der<br />
Herrschafts- <strong>und</strong> Gesetzlosigkeit; Anarchisten,<br />
diejenigen, welche einen solchen<br />
Zustand anstreben.« Liebknechts Volks-<br />
Fremdwörterbuch, vom sozialdemokratischen<br />
Parteigeist diktiert, belehrt das Volk unter:<br />
»Anarchie, Abwesenheit jeder Regierung,<br />
gesetzloser Zustand; anarchisch, gesetzlos;<br />
Anarchismus, die Lehre, welche das höchste<br />
Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsideal in der Vernichtung<br />
jeder Autorität <strong>und</strong> staatlichen<br />
Ordnung erblickt; Anarchist, Gegner jeder<br />
Herrschaft <strong>und</strong> jeder staatlichen Ordnung;<br />
anarchistisch, der Lehre des Anarchismus<br />
entsprechend oder anhängend.« Und das<br />
sozialdemokratische »Volks-Lexikon«, herausgegeben<br />
von Emanuel Wurm, unter<br />
Mitwirkung von F a c h s c h r i f t s t e l l e r n ,<br />
das heißt sozialdemokratischen Tendenzschriftstellern,<br />
die den Eid auf das Dogma<br />
des umstrittenen Parteiprogramms geleistet<br />
haben, belehrt seine »wohldisziplinierten«<br />
Anhänger über: »Anarchie, Herrschaftslosigkeit;<br />
auch: Gesetzlosigkeit, Unordnung;<br />
anarchistisch, der Lehre des Anarchismus<br />
entsprechend oder folgend; anarchisch,<br />
gesetzlos, regellos, ungeordnet.«<br />
Dann folgt eine Erklärung, eigentlich versuchte<br />
Widerlegung des Anarchismus, in<br />
der unter anderem behauptet wird, daß<br />
der Einfluß des Anarchismus auf die Arbeiterbewegung<br />
ein dauernd schädigender<br />
war <strong>und</strong> ist, weil sie durch ihn von der<br />
» w o h l d i s z i p l i n i e r t e n O r g a n i s a t i o n «<br />
abgelenkt werden etc. etc. — Die Geschichte<br />
des Anarchismus, die eigentlich<br />
mit Märtyrerblut geschrieben ist, wird als<br />
ein » G e w e b e v o n g u t h e r z i g e r T o r -<br />
h e i t <strong>und</strong> n i c h t s w ü r d i g e r S c h u r -<br />
k e r e i « bezeichnet; wörtlich gedruckt<br />
»recht klar gelegt«.<br />
Aus dem Vorangeführten ist die traurige<br />
Tatsache zu ersehen, daß die Sozialdemokraten<br />
— besonders die » w o h l -<br />
d i s z i p l i n i e r t e « P a r t e i l e i t u n g — als<br />
Vertreter der Devise »Freiheit, Gleichheit,<br />
<strong>und</strong> Brüderlichkeit« die ärgsten Feinde der<br />
Freiheit, Gleichheit <strong>und</strong> Brüderlichkeit sind,<br />
weil sie geistig nie in das hochedle Ideal<br />
der Anarchie eingedrungen sind. Würden<br />
sie sagen, die Menschheit sei derzeit nicht<br />
reif, eine anarchistische Gesellschaft zu<br />
gründen — auch keine kommunistische —,<br />
ja nicht einmal eine sozialdemokratische,<br />
die doch der gegenwärtigen s e h r ähnl<br />
i c h sehen dürfte — so wäre dies schließlich<br />
eine einfache Meinungsverschiedenheit;<br />
aber ein so hehres Ideal <strong>und</strong> dessen Entwicklungsgeschichte<br />
als ein »Gewebe von<br />
gutherziger Torheit <strong>und</strong> nichtswürdiger<br />
Schurkerei« zu bezeichnen, ist entweder<br />
Torheit oder Schurkerei. Sollten die Herren<br />
Fachschriftsteller aber nicht die Sache: die<br />
Anarchie, sondern eventuelle Führer der<br />
anarchistischen Partei damit haben zeichnen<br />
wollen, so möchte ich doch ersuchen, die<br />
Geschichte der sozialdemokratischen Partei,<br />
besonders der Leitung, einer unparteiischen<br />
Prüfung zu unterziehen, ob nicht trotz der<br />
» W o h l d i s z i p l i n i e r t h e i t « so manches<br />
»Gewebe von gutherziger Torheit <strong>und</strong>
nichtswürdiger Schurkerei« aufgedeckt, aber<br />
sogleich wieder diskret <strong>und</strong> flugs zugedeckt<br />
wurde.* Keine Partei hat lauter Heilige zu<br />
Führern, sondern diese Leiter sind Menschen<br />
mit erhöhten, Leidenschaftsempfindungen.<br />
Wenn daher diese Herren Fachschriftsteller<br />
nicht vom taktischen Parteistandpunkte,<br />
sondern vom menschlichen<br />
das allgemeine Getriebe betrachten könnten<br />
oder wollten, so würden sie mit Goethe<br />
bekennen müssen: »Ich sehe keinen Fehler<br />
begehen, den ich nicht auch begangen<br />
hätte«.<br />
Und nun kommen wir zur Schlußfolgerung:<br />
Theoretischer Anarchismus ist<br />
die Lehre <strong>und</strong> die geistige Heranbildung<br />
der Menschen zu einem Gesellschaftsverbande,<br />
innerhalb welchem jedem einzelnen<br />
Individuum unumschränkte Freiheit seines<br />
Tun <strong>und</strong> Lassens gewährleistet werden soll,<br />
o h n e dadurch dieselbe Freiheit der anderen<br />
Individuen zu beeinträchtigen. Daß<br />
dieser Gesellschaftsverband nur ohne Autorität<br />
<strong>und</strong> Zwangsgesetze f r e i sein kann,<br />
ist umso selbstverständlicher, als bisher erfahrungsgemäß<br />
unter autoritativen Gesetzen<br />
die Volksmassen geknechtet, ausgebeutet<br />
<strong>und</strong> niedergedrückt wurden <strong>und</strong> werden.<br />
Selbst in der sozialdemokratischen<br />
Partei ist diese Tendenz unverkennbar:<br />
die Spaltung in Nationen, die trotz des<br />
nominativen Internationalismus in ihren<br />
Prinzipien auseinandergehen, was durch<br />
die angeblich notwendigerweise verschiedenartige<br />
Taktik verschleiert wird; — die<br />
Spaltung in Sekten, wie orthodoxe Marxisten,<br />
Bernsteinianer, freiheitliche Sozialisten, Nur-<br />
Gewerkschaftler, Revisionisten, Anti- <strong>und</strong><br />
Pro-Herveisten, Anti- <strong>und</strong> Pro-Millerandisten<br />
etc. etc., die sich alle mehr oder weniger,<br />
mitunter auch persönlich bekämpfen; —<br />
ferner in der Exkommunikation jedes anders<br />
Denkenden — »wer nicht pariert,<br />
fliegt hinaus« — das heißt, er wird als<br />
Parteiangestellter brodlos gemacht; im<br />
Kliquenwesen, in der Erstrebung von<br />
Macht- <strong>und</strong> Geldmitteln durch <strong>und</strong> für Einzelne,<br />
usw. usw., — alles das weist auf den<br />
Druck von oben hin. Dessenungeachtet,<br />
nein, gerade d e s h a l b wird der Anarchismus<br />
seinen unaufhaltsamen <strong>Weg</strong> durch<br />
den Sozialismus nehmen müssen, ihn dadurch<br />
reinigend <strong>und</strong> klärend. — Es ist<br />
daher der Anarchismus das Ideal reinster<br />
Freiheit bei ungetrübter Genußfähigkeit —<br />
<strong>und</strong> die Erreichung dieses hehren <strong>Ziel</strong>es<br />
durch geistige Entwicklung bis zur höchsten<br />
Intelligenz im Bereiche der Möglichkeit.<br />
Alles darüber gegenteilig Gesagte beruht<br />
auf gänzlichem Miß- oder Unverständnis,<br />
wenn nicht gar infamen Gründen.<br />
Von a l l e n bourgeois-politischen Parteien<br />
ist die Abneigung gegen den Anarchismus<br />
erklärlich, denn sie haben von<br />
ihm den Sturz ihres gesetzlichen »Gewalt-<br />
Archismus« (Gewaltherrschaft) zu erwarten;<br />
dieser aber sichert ihnen die arbeits- <strong>und</strong><br />
mühelos erbeuteten Genußmittel; sie befürchten<br />
diesen Verlust. Was aber kann die<br />
Geistesführer der sozialistischen Parteien<br />
veranlassen, den Anarchismus nicht nur<br />
nicht zu erklären, sondern zu verdunkeln<br />
<strong>und</strong> zu verdächtigen? — Opportunitätsrücksichten?<br />
— Taktik? — Prinzip? — Ist<br />
aber ein Prinzip starr geworden, dann ist<br />
jede Weiterentwicklung ausgeschlossen.<br />
Nachdem sich aber so manche geistig<br />
hervorragende »Genossen« aus oder durch<br />
verschiedene Parteiprinzipien zum sozialdemokratischen<br />
Abgeordneten oder Gewerkschaftsführer<br />
h e r a u f e n t w i c k e l t haben,<br />
so ist auch eine fernere Entwicklung zum,<br />
wie wir hoffen, ehrlichen Denken zu er-<br />
* H. O b e r w i n d e r , ein Mitbegründer der<br />
österreichischen Sozialdemokratie, stand nachweislich<br />
in enger Geldbeziehung zur Regierung.<br />
Anm. d. Red.<br />
warten — auf Gr<strong>und</strong> Darwinistischer Evolutionslehre.<br />
Ein_ Sozialist.<br />
Offizielles Protokoll<br />
des Internationalen Antimilitaristischen<br />
Kongresses<br />
gehalten zu Amsterdam, am 30.—31. August<br />
1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />
des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />
m e r h o r n .<br />
(Fortsetzung.)<br />
Der Gedanke selbst war vorzüglich,<br />
nur hat sich der berühmte Schriftsteller<br />
nicht an die richtigen Leute gewendet.<br />
Es ist sehr einfältig, sich wegen dieser<br />
Sache an die Bankiers <strong>und</strong> Finanzleute<br />
zu wenden, denn gerade diese sind es ja,<br />
die die Kriege veranlassen <strong>und</strong> den Frieden<br />
nach ihren eigenen Interessen schließen.<br />
Ebenso einfältig ist es, das Ende des Krieges<br />
von den Kaufleuten <strong>und</strong> Fabriksbesitzern<br />
zu erhoffen, denn die sind es wiederum,<br />
die sich durch den Krieg auf die schändlichste<br />
Art bereichern.<br />
Es ist leicht für diese Herren, die<br />
Friedensfre<strong>und</strong>e zu spielen, aber man darf<br />
sich nicht von ihnen täuschen lassen.<br />
Nehmen wir z. B. Carnegie, den bekannten<br />
amerikanischen Millionär, der eine<br />
Million Dollars gespendet hat, um einen<br />
»Friedenspalast« zu gründen. Was für ein<br />
großartiger Friedensfre<strong>und</strong>! Aber wißt ihr,<br />
wer dieser Carnegie ist? Er ist der Präsident<br />
des amerikanischen Stahl- <strong>und</strong> Eisentrusts.<br />
Glaubt ihr wirklich, daß dieser Herr<br />
sich weigern würde, das Material für die<br />
Bewaffnung der Völker zu fabrizieren?<br />
Wer ist so leichtgläubig, daran zu glauben?<br />
Herr Carnegie ist ein hochachtbarer<br />
<strong>und</strong> hochgeehrter Mann; er gibt gern eine<br />
oder mehrere Millionen für einen Friedenspalast,<br />
für das Rote Kreuz oder irgend<br />
einen wohltätigen Zweck, aber er muß ungehindert<br />
die Gelegenheit haben, h<strong>und</strong>ert<br />
Millionen durch den Krieg zu verdienen.<br />
Diese Herren hüten sich wohl, die<br />
Ursache der Kriege zu zerstören. Es ist<br />
wohl wahr, daß die Bankiers, die Kaufleute<br />
<strong>und</strong> Fabrikanten die Kriege unmöglich<br />
machen könnten, wenn sie wollten,<br />
aber man könnte ebenso gut die Bäume<br />
darum bitten, wie sie. Der Aufruf, den<br />
Björnson an sie richtete, hat also seinen<br />
Zweck vollkommen verfehlt.<br />
Und doch hat der Gedanke einen ges<strong>und</strong>en<br />
Kern, welchen wir verwerten können.<br />
Nur muß man sich an eine andere<br />
Klasse von Menschen wenden, nämlich<br />
an die produktiven Arbeiter, die ein Interesse<br />
am Frieden haben <strong>und</strong> die die Macht<br />
in Händen haben, um jeden Krieg unmöglich<br />
zu machen. Die Arbeit <strong>und</strong> der<br />
Krieg sind unvereinbar mit einander. Die<br />
Arbeit s c h a f f t , der Krieg z e r s t ö r t . Wie<br />
könnte der Arbeiter Interesse am Krieg haben?<br />
Die menschliche Arbeit ist die Gr<strong>und</strong>bedingung<br />
zum Bestehen der Gesellschaft.<br />
Die produktive Arbeit <strong>und</strong> der Boden —<br />
der Ursprung aller Produkte — sind die<br />
Quelle des gesamten Reichtums. Und weil<br />
die Arbeiter die Macht haben, diese Quelle<br />
zu ernähren, so haben sie auch die Macht,<br />
dieselbe zu verstopfen. Sie ernähren sie<br />
dadurch, d a ß s i e a r b e i t e n , sie verstopfen<br />
sie dadurch, daß sie n i c h t a r b e i t e n .<br />
Das ist doch einfach, nicht wahr?<br />
Wenn die Arbeiter ihre internationalen<br />
Interessen erkennen werden, so werden sie<br />
bald einsehen, daß sie <strong>und</strong> nur sie, das<br />
Mittel in der Hand haben, um den Krieg<br />
abzuschaffen, <strong>und</strong> daß sie mit aller Kraft<br />
Propaganda für dieses Mittel machen müssen.<br />
Dieses Mittel ist: D e r i n t e r n a t i o -<br />
n a l e B o y k o t t g e g e n d i e k r i e g f ü h -<br />
r e n d e n M ä c h t e .<br />
Dieser Gedanke ist bei den Amsterdamer<br />
Transportarbeitern entstanden, die<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />
denselben vorgeschlagen hatten, um dem<br />
Kriege Englands gegen die südafrikanischen<br />
Republiken ein Ende zu machen. Ganz<br />
Europa verurteilte diesen schändlichen Raubkrieg<br />
<strong>und</strong> stand mit seiner Sympathie auf<br />
Seiten der angefallenen Republiken. Aber<br />
niemand wagte es, sich England zu widersetzen,<br />
<strong>und</strong> trotz der allgemeinen Sympathie<br />
wurden die südafrikanischen Republiken<br />
vom Stärkeren unterjocht.<br />
Als man den Gedanken d e r Boykottierung<br />
Englands in Holland aussprach,<br />
wurde derselbe günstig aufgenommen,<br />
nicht n u r in den Kreisen der Arbeiter, aber<br />
auch bei anderen Gruppen, welche dadurch<br />
der englischen Ungerechtigkeit Widerstand<br />
zu leisten hofften. Es bildete sich ein Landes-Komitee<br />
aus den Delegirten d e r v e r -<br />
schiedenen Arbeiterorganisationen <strong>und</strong> dasselbe<br />
setzte sich mit den bekannten Führern<br />
der englischen Transportarbeiter in Verbindung.<br />
Man schickte überall hin Abgesandte,<br />
um sich mit den Arbeitern deranderen Länder<br />
zu verständigen. Die Arbeiter von Havre,<br />
Hamburg, Kopenhagen, Christiania, Antwerpen,<br />
Genf, Göteborg, Bordeaux schlossen<br />
sich der Bewegung an. Man wollte einen<br />
internationalen Kongreß der Transportarbeiter<br />
zusammenrufen. Später schloß sich<br />
auch die Arbeiterschaft von Marseilles <strong>und</strong><br />
Genua an. <strong>und</strong> Tom Man, einer der englischen<br />
Führer, gab seine volle Zustimmung<br />
unter der Bedingung, daß die Arbeiter der<br />
größten Hafenstädte genügend vorbereitet<br />
sind, um den Plan zu verwirklichen. Aber<br />
später erkaltete die Begeisterung durch das<br />
Vorgehen des Herrn Müller, Präsidenten<br />
der d e u t s c h e n Seemanns-Gewerkschaft,<br />
der sich beleidigt fühlte, weil die Bewegung<br />
ohne ihn entstanden war. Obgleich<br />
er früher seine Mitwirkung versprochen<br />
hatte, zog er sich zurück, <strong>und</strong> durch seinen<br />
Einfluß löste sich sogar das Komitee von<br />
Hamburg auf. Zwistigkeiten unter den<br />
holländischen Arbeitern gaben der Sache<br />
den Rest; der Kongreß wurde vertagt <strong>und</strong><br />
ist nie zu Stande gekommen.<br />
Man darf aber nicht glauben, d a ß eine<br />
Idee, welche plötzlich auftaucht, sofort v o n<br />
allen Menschen verstanden <strong>und</strong> verwirklicht<br />
werden kann. Eine solche I d e e m u ß<br />
d a s ganze Denken d e r Menschen durchdringen,<br />
um Erfolg zu haben; aber wenn<br />
sie einen lebensfähigen Keim in sich trägt,<br />
wird sie immer wieder in fortwährend<br />
klareren Formen auftauchen <strong>und</strong> ihren<br />
<strong>Weg</strong> bahnen. So wird es auch mit unserem<br />
Plan geschehen. Fortsetzung folgt.<br />
Quittung<br />
seit 1. März bis 20. April.<br />
ResniJek K 3 50, Loevius 1 2 - , Fischer 6 -<br />
—,<br />
Ramus 2 1 0 , Warschatka 2-40, Brunner V—, Likir i<br />
10-—, W a g . 1 — , Moser 3 ö 0 , Kienzle 3 2 5 , Appel, <<br />
Chicago 10'—, Laska 2-—, ResniCek 5'20, Rappa- !<br />
port 2-—, Pachta 4"—, Ramus 2-90, Sammlung bei<br />
Senior am 19. April 15-20, Landau 2-90, K. Navratil \<br />
2 - - , Horacek 1 6 0 , Frankl 1 - P e k l o 2 — , Hajek 1 - ,<br />
Bader —'50, Landau 1-—, Kubesch - - 4 0 , Wejda 1 - - ,<br />
Nadoba 2-20, Riha V—, Brünner —-70, Marie Welan<br />
1 - , W e l a n 3 7 0 , Navratil 1 - , Kuban 1 5 0 , Eiern 1-—,<br />
:<br />
Rappaport V—, Beisteuer 7 8 0 , Röschmann 2 -<br />
—,<br />
Winarsky 1-20, Arbeiter-Zeitung 2 4 0 , Sekr. d. soz.- •<br />
dem. Part. 2-40, Fischer 10-—, Bledy — 80, Skall 1—,<br />
Formatschek 3 ' — , Lechki 1-—, Elem l -<br />
Resnifek K 3 5 0 , Loevius 1 2 ' - - , Fischer 6<br />
—, Fischer '.<br />
3-80, Blatzer 1-20, Kuban 3-60, Verk. d. Redakt. 2-20,<br />
Schamann 4-37, H. H. Plauen 2-40, Kubesch —-50,<br />
Kulle 6 — , B a r t h 2 4 0 , Hanri, SilsMarie 1-66, Ruhsam,<br />
Weyer 2-10, Wariete 1 — , Nocar 6 6 0 , Janata 4-40, j<br />
KornmUller 1 —, Engel 1 — , Alfari 2 1 0 , Stern 7 - , •<br />
Moser T—, Schneider 3-32, Kauka 16-20, Stuttgart «<br />
5-75, T e y a 1-20, Brinat 1 2 0 , Heller 2 4 0 , Baran 3-50, .<br />
Nik 2-92, R. B. 1 - , Liebig 2 4 0 , Stern - - 6 0 , Kulle<br />
10-—, Smech 1 2 0 , Borgius 2 50, Pitterle 2 — , Duchek2<br />
—,Brejka3-—,Zavertschek 1-20,Wohanka2-40, ,<br />
Barthelmeß 6 6 0 , Brimisel 1 2 0 , Schnell, London 4 1 9 ,<br />
Frick 1-20, Müller 1-20, Schamann 8 2 7 , Weber 5 - ,<br />
Katzer 2-40, Fischer 4-52, Mandl, London 8 — .<br />
-<br />
—,<br />
Ramus 2 1 0 , Warschatka 2-40, Brunner 1-—, Likir<br />
10-—, W a g . 1 — , Moser 3 6 0 , Kienzle 3 2 5 , Appel,<br />
Chicago 10'—, Laska 2-—, Resnicek 5'20, Rappaport<br />
2'—, Pachta 4-—, Ramus 2-90, Sammlung bei<br />
Senior am 19. April 15-20, Landau 2-90, K. Navratil<br />
2 - - , Horacek 1 6 0 , Frankl 1 - P e k l o 2 — , Hajek 1 - ,<br />
Bader —'50, Landau 1-—, Kubesch - ' 4 0 , Wejda<br />
Nadoba 2-20, Riha 1 —, Brünner —-70, Marie Welan<br />
1 - , W e l a n 3 7 0 , Navratil 1 - , Kuban 1 5 0 , Eiern 1-—,<br />
Rappaport r—, Beisteuer 7 8 0 , Röschmann 2 -<br />
—,<br />
Winarsky 1-20, Arbeiter-Zeitung 2 4 0 , Sekr. d. soz.dem.<br />
Part. 2-40, Fischer 10-—, Bledy — 80, Skall 1—,<br />
Formatschek 3 ' — , Lechki 1-—, Elem 1*—, Fischer<br />
3-80, Blatzer 1-20, Kuban 3-60, Verk. d. Redakt. 2-20,<br />
Schamann 4-37, H. H. Plauen 2-40, Kubesch —-50,<br />
Kulle 6 — , B a r t h 2 4 0 , Hanri, SilsMarie 1-66, Ruhsam,<br />
Weyer 2 1 0 , Wariete 1 — , Nocar 6 6 0 , Janata 4 4 0 ,<br />
KornmUller 1 — , Engel 1 — , Alfari 2 1 0 , Stern 7 - ,<br />
Moser T—, Schneider 3-32, Kauka 16-20, Stuttgart<br />
5-75, T e y a 1-20, Brinat 1 2 0 , Heller 2 4 0 , Baran 3-50,<br />
Nik 2-92, R. B. 1 - , Liebig 2 4 0 , Stern - - 6 0 , Kulle<br />
10-—, Smech 1 2 0 , Borgius 2 50, Pitterle 2 — , Duc<br />
h e k 2 — , Brejka 3-—, Zavertschek 1-20, Wohanka2-40,<br />
Barthelmeß 6 6 0 , Brimisel 1 2 0 , Schnell, London 4 1 9 ,<br />
Frick 1-20, Müller 1-20, Schamann 8 2 7 , Weber 5 - ,<br />
Katzer 2-40, Fischer 4-52, Mandl, London 8 — .<br />
Preßfond. Barth K —-80, — 80, Loibl 1 0 - , Samml.<br />
Föderation 3 50, B l o c k 2 - , Hacura 1'—,Voit, Ade- Ade- :<br />
laide 24-—.<br />
Inhaftiertenfond. Barth, Wien K —-80.<br />
- 80.
Wien, 21. Juni 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. — Nr. 12.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redatction <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />
I./17. — Gelder sind zu senden an<br />
W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />
5, III./27.<br />
Allgemeine Gewerkschafts-Föderation.<br />
Ausflug der Kameraden<br />
zum Kubetz in Atzgersdorf<br />
Sonntag, 21. Juni, 2 Uhr nachmittags<br />
Fahrgelegenheiten: Südbahn-Meidling oder Breitenfurterstraße-Endstation.<br />
Wir hoffen zuversichtlich, daß alle unsere<br />
Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Gesinnungsgenossen, eventuell<br />
samt Familie sich an diesem Ausfluge beteiligen<br />
werden. Kameraden, es gilt den Fortschritt des<br />
gemeinsamen Ideals zu unterstätzen!<br />
Allgemeine Gewerkschafts-Föderation.<br />
Ausserordentliche Generalversammlung<br />
Dienstag den 23. Juni, präzise 8 Uhr abends bei<br />
Schlor, ?(IV., Märzstrasse 33.<br />
T a g e s o r d n u n g : 1. Berichte; 2. Statutenveränderung;<br />
3. Agitation <strong>und</strong> Organisation; 4.<br />
Eventuelles.<br />
Die Delegierten <strong>und</strong> Kameraden aller Bezirke<br />
sind aufgefordert, unbedingt anwesend<br />
zu sein.<br />
Kameraden, Gesinnungsfre<strong>und</strong>e!<br />
Einen Haupfschlag<br />
sondergleichen versuchte sich die k. k. Staatsanwaltschaft<br />
wider die vorliegende Nummer des<br />
„Wohlstand für Alle", wider unser <strong>und</strong> euer<br />
Blatt im allgemeinen zu leisten: Laut einer vom<br />
13. Juni datierten Zuschrift wurde die weitere<br />
Herausgabe der Druckschrift behördlich untersagt.<br />
Als Gr<strong>und</strong> für diese von unerhörtester Gewaltanmaßung<br />
diktierte, uns gegenüber schablonenmäßig<br />
geübte Willkürmaß. egel wurde die<br />
Nlchtbefolgung diverser Zahlungen von Strafgeldern<br />
durch einzelne an Redaktion <strong>und</strong> Administration<br />
unserer Zeltschrift beteiligten Genossen<br />
angegeben.<br />
Mit welchem Hochgenuß mag die Staatsanwaltschaft<br />
diese ihre Maßnahme gegen uns<br />
eingeleitet haben, Im Glauben, daß nun der<br />
„W. f. A." — dieses meistgefürchtete, meistgehaßte,<br />
meistverfolgte <strong>und</strong>-verleumdeteBlatt der<br />
gesamten österr. Presse — das Organ der Weltanschauung<br />
des Anarchismus, vor deren Hoheit<br />
<strong>und</strong> edlem Streben alle Institutionen der bestehenden<br />
Unkultur moralisch zu Staub werden —<br />
daß dieses Blatt nun unterdrückt <strong>und</strong> abgetan<br />
sei; wie hätten die Gegner ailer Partelen, diese<br />
Gegner gegenüber dem Staat nur deshalb, weil<br />
sie einen Vorteil aus dieser Gegnerschaft für<br />
sich ziehen, aber diese B<strong>und</strong>esgenossen des<br />
Staates <strong>und</strong> der Kapitalsherrschaft wider uns,<br />
die wir als Anarchisten die einzigen sind, die<br />
In rücksichtslos unerschrockener Welse jedes<br />
Trugphantom der Unwahrheit <strong>und</strong> Niedertracht<br />
entlarven — wie hätten sie gejubelt, wenn es<br />
den Machthabern geglückt wäre, uns so aufs<br />
Haupt zu schlagen, daß der „W. f. A." wirklich<br />
nicht hätte erscheinen können 1<br />
Verfrühte Freude, ihr Herren des Geldsacks,<br />
der Herrschaft <strong>und</strong> der Herrschsucht!<br />
Der „W. f. A." ist da, die vorliegende Nummer<br />
ist ein grandioser Triumph unserer Sache der<br />
Menschheitsbefreiung <strong>und</strong> kommunistischen KuK<br />
tur über die Tücke der Reaktion <strong>und</strong> brutalen<br />
Unterdrückungsmanie! Wir leben; <strong>und</strong> die Solidarität<br />
gemeinsamer Begeisterung für jenes<br />
Licht eines erhabenen Ideals, das Glück, Frieden,<br />
Freiheit, Abschüttelung alles Unmenschlichen<br />
bedeutet, sie war es, die dieser Nummer des<br />
„W. f. A." Lebensodem eingehaucht <strong>und</strong> uns<br />
die Macht bot, den wider uns gezielten Hauptschlag<br />
abzuwehren. Trotz alledem, trotz aller<br />
Machinationen, trotz aller Heimtücke von oben<br />
wie von unten — die vorliegende Nummer des<br />
„W. f. A." erweist seine Lebensfähigkeit, ist der<br />
,,In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die Ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gründe liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />
Sieg eines echten Prinzips der Unbezwingbar<br />
keit seines Kampfnaturells <strong>und</strong> darf stolz di«<br />
Fahne seines Wesens entrollen, die ihm schor<br />
fast entglitten war! Vivat sequenz!<br />
Kameraden, die ihr von uberall In der<br />
Gauen Österreichs unseren Kampf beobachte'<br />
<strong>und</strong> mitkämpft; Kampfesgenossen, wir rufer<br />
euch abermals zur rüstigsten Wehrhaftigk^i<br />
auf! Kämpft für unser geineinsames Gut — der<br />
„W. f. A." —, indem ihr ihn verbreitet, überall<br />
hinträgt, wo die Burgen des Unverstandes ir<br />
die Höhe ragen; kolportiert den ,,W. f. A.", sc<br />
daß alle Menschen, mit denen ihr in Berührung<br />
kommt, ihn lesen sollen; verbreitet ihn nacli<br />
Kräften, sammelt Leser <strong>und</strong> Geld für ihn; seid<br />
dessen eingedenk — der Kampf, den wir alle<br />
kämpfen, er ist der wahre Wert unseres Lebens<br />
durch ihn wollen wir erringen den wahrer<br />
Zweck des Menschheitslebens !<br />
Kameraden ! An die Arbeit derSammlung,<br />
der Organisation <strong>und</strong> Agitation in jeder Weisei<br />
Der „ W . f. A." muß leben, er soll <strong>und</strong> wird<br />
gedeihen durch unser brüderlichesZusanimenwirken<br />
für das Endziel unseres Kampfes!<br />
Freiheit für Alle, Wohlstand für Alle!<br />
Die Weltanschauung "des<br />
Anarchismus.<br />
l.<br />
Wenn wir uns von unserem Elend<br />
befreien <strong>und</strong> zu einem glücklichen Dasein<br />
gelangen wollen, so müssen wir vor Allem<br />
die U r s a c h e unserer Leiden e r k e n n e n ;<br />
denn nur wenn wir diese erkannt <strong>und</strong> beseitigt<br />
haben, wird das Elend, das deren<br />
Folge ist. verschwinden.<br />
<strong>Unser</strong>e Lage — die Lage des arbeitenden<br />
Volkes, der Proletarier <strong>und</strong> Bauern —<br />
ist heute in kurzen Worten beschrieben,<br />
die folgende:<br />
Wir wollen leben <strong>und</strong> glücklich sein;<br />
<strong>und</strong> um leben zu können, wollen wir arbeiten;<br />
wir wollen durch den vernünftigen<br />
Gebrauch unserer Kraft <strong>und</strong> Geschicklichkeit<br />
uns Nahrung, Kleidung, Obdach<br />
schaffen — kurzum alles, was wir zu einem<br />
ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong> glücklichen Leben nötig<br />
haben. Dazu aber brauchen wir in erster<br />
Linie den Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden — die Erde,<br />
aus welcher alles Leben entspringt — <strong>und</strong><br />
wir brauchen Hilfsmittel — Werkzeuge<br />
<strong>und</strong> Maschinen — um den Boden zu bebauen<br />
<strong>und</strong> seine Erzeugnisse uns nutzbar<br />
zu machen.<br />
Ein solches Leben aber — das einzig<br />
naturgemäße <strong>und</strong> vernünftige, das es gibt —<br />
wird uns heute unmöglich gemacht. Den<br />
Boden <strong>und</strong> die Arbeitswerkzeuge hat eine<br />
verhältnismäßig kleine Anzahl Menschen<br />
als ihr Privateigentum erklärt. Wenn wir<br />
sie benützen wollen, also wenn wir essen<br />
<strong>und</strong> leben wollen, so müssen wir zuerst<br />
für jene arbeiten, damit s i e nicht zu arbeiten<br />
brauchen. Wenn wir auch selber<br />
darben <strong>und</strong> mit Arbeit überbürdet sind, so<br />
müssen wir doch zuerst i h r e Speicher<br />
mit Getreide füllen, kostbare Kleider für<br />
s i e weben, prachtvolle <strong>und</strong> bequeme<br />
Häuser für s i e bauen — <strong>und</strong> erst wenn<br />
wir all dies getan haben, erlauben sie uns,<br />
daß wir vom Brot, das wir schaffen, auch<br />
ein wenig behalten dürfen, daß wir ein<br />
wenig von unserer übrigbleibenden Arbeitskraft<br />
dazu verwenden, um unser Dasein<br />
fristen zu können — so lange sie uns<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2-40;<br />
halbjährig K 1-20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3 -<br />
50, halbjährig Fr. 1-75, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
nötig haben. Wir müssen allzeit nach ihrem<br />
Willen leben <strong>und</strong> in ihrem Dienst bereit<br />
sein, so lange unsere Arbeit ihnen Nutzen<br />
bringt; wenn sie uns nicht mehr brauchen,<br />
wenn wir, in dieser Arbeit erschöpft, frühzeitig<br />
alt <strong>und</strong> siech geworden sind, dann<br />
können wir angesichts der aufgestapelten<br />
Reichtümer, der Früchte u n s e r e r Arbeit,<br />
vor Hunger sterben.<br />
Denjenigen, die sich diesem vernunftwidrigen<br />
<strong>und</strong> entwürdigenden Zustand<br />
nicht fügen wollen, wird derselbe mit Gewalt<br />
aufgezwungen. Nicht durch die persönliche<br />
Kraft der Besitzenden <strong>und</strong> Herrschenden.<br />
Diese sind eine kleine Minderheit<br />
der großen Masse jener gegenüber,<br />
denen sie die Anerkennung ihrer Besitzrechte<br />
<strong>und</strong> ihrer Herrschaft aufzwingen,<br />
um dadurch ohne Arbeit <strong>und</strong> in Bequemlichkeit<br />
leben zu können. Wenn sie sich<br />
nur auf ihre eigene Kraft, ihre körperliche<br />
Stärke <strong>und</strong> Geschicklichkeit <strong>und</strong> die Macht<br />
ihrer Waffen stützen könnten, um andere<br />
Menschen in ihren Diensten <strong>und</strong> zum Gehorsam<br />
zu zwingen, so würde ihre ganze<br />
Sicherheit <strong>und</strong> Bequemlichkeit, jeder Vorteil<br />
ihrer Stellung vernichtet werden; <strong>und</strong><br />
auch um diesen Preis könnten sie nur eine<br />
ganz kleine Anzahl Menschen in ihrer<br />
Macht halten. Um eine große Mehrheit<br />
sicher <strong>und</strong> mühelos beherrschen zu können,<br />
müssen die Herrschenden wenigstens einen<br />
großen Teil der übrigen Menschen von<br />
der Unvermeidlichkeit, Notwendigkeit <strong>und</strong><br />
Berechtigung ihrer Herrschaft überzeugen<br />
können, so daß ihnen stets große Massen<br />
von Besitzlosen <strong>und</strong> Unterworfenen zur<br />
Verfügung stehen, welche von ihnen befehligt<br />
<strong>und</strong> organisiert, die Herrschaft <strong>und</strong><br />
den Besitz ihrer Herren — also ihre eigene<br />
Knechtschaft <strong>und</strong> Armut — gegen jene<br />
verteidigen <strong>und</strong> jenen aufzwingen, die nach<br />
eigenem Willen frei leben <strong>und</strong> arbeiten<br />
wollen, ohne die Macht <strong>und</strong> die Rechte<br />
der Besitzenden anzuerkennen <strong>und</strong> ohne<br />
ihnen Gehorsam <strong>und</strong> Tribut zollen zu<br />
müssen.<br />
Zum Schutze ihres Privateigentumes<br />
<strong>und</strong> ihrer daraus entspringenden privilegierten<br />
Stellung organisieren sich die Besitzenden<br />
eines jeweiligen Landstriches im<br />
Staate, welcher durch seine Gesetze sich<br />
anmaßt, das Leben eines jeden Einwohners<br />
zum Nutzen der herrschenden Minderheit<br />
zu regeln; <strong>und</strong> wer diesen Gesetzen zuwiderhandelt,<br />
wer sich weigert, an ihrer<br />
Vollstreckung — wenn auch mit der Verletzung<br />
seiner eigensten Interessen <strong>und</strong><br />
Gefühle <strong>und</strong> mit Gefahr für sein Leben<br />
— teilzunehmen, der wird durch die gedrillte<br />
bewaffnete Macht der Unterworfenen<br />
<strong>und</strong> Unterwürfigen — von denen, die aus<br />
Furcht oder Wahnglauben, aus Gedankenlosigkeit<br />
oder kurzsichtiger Selbstsucht den<br />
Befehlen der Herrschenden Folge leisten<br />
— mit Kerker <strong>und</strong> selbst Tod bestraft.<br />
Dies sind die Gr<strong>und</strong>züge unserer heutigen<br />
Gesellschaftsordnung. Die Frage ist:<br />
Wie konnte ein solcher Zustand, welcher<br />
allem ges<strong>und</strong>en Menschenverstand <strong>und</strong> Gerechtigkeitsgefühl<br />
Hohn spricht, <strong>und</strong> dem<br />
größten Teile der Menschheit Elend <strong>und</strong>
Leiden bereitet, entstehen, wie kann er sich<br />
behaupten? Warum lassen sich die Menschen<br />
zum größten Teil die Früchte ihrer<br />
Arbeit nehmen, warum fügen sie sich Befehlen<br />
<strong>und</strong> Gesetzen, durch welche ihr<br />
Leben zum bloßen Werkzeug der Bequemlichkeit<br />
Anderer gemacht wird; was bewegt<br />
sie dazu, durch Hinmorden <strong>und</strong> Martern<br />
ihrer Leidensgenossen den Zustand der<br />
Sklaverei, unter welchem sie alle schmachten,<br />
aufrecht zu erhalten?<br />
U n w i s s e n h e i t u n d A b e r g l a u b e ,<br />
d i e F u r c h t u n d A c h t u n g v o r eing<br />
e b i l d e t e n h ö h e r e n G e w a l t e n , d i e<br />
U n f ä h i g k e i t , s e l b s t ä n d i g z u d e n k e n<br />
dies sind die Ursachen aller Unterwerfung.<br />
Aufgeklärte, vernünftig denkende<br />
Menschen werden stets nach eigenem<br />
bestem Einsehen handeln, so wie es ihrem<br />
wahren Interesse <strong>und</strong> Gefühl entspricht.<br />
Sie werden keinerlei Vorschriften Gehorsam<br />
leisten, sich keiner Herrschaft unterwerfen,<br />
<strong>und</strong> sich zu nichts gegen ihre<br />
Überzeugung <strong>und</strong> ihren Willen zwingen<br />
lassen. Wissend, daß sie durch vereinte<br />
verständige Arbeit — <strong>und</strong> durch diese<br />
allein — im Stande sind, sich alles, was<br />
zu einem ges<strong>und</strong>en, reichlichen <strong>und</strong> schönen<br />
Leben notwendig ist, im Überfluß zu<br />
schaffen, werden sie in freiem Zusammenwirken<br />
<strong>und</strong> gegenseitiger Hilfe leben <strong>und</strong><br />
arbeiten, so wie es die Bedürfnisse <strong>und</strong><br />
Neigungen eines jeden am besten befriedigt,<br />
anstatt daß einer den andern die<br />
Früchte ihrer Arbeit entreißt <strong>und</strong> die Benützung<br />
des Bodens <strong>und</strong> der Arbeitswerkzeuge,<br />
die er selber nicht braucht, unmöglich<br />
macht, um sich auf Kosten Anderer<br />
unnützen Reichtum aufzuhäufen. Sie werden<br />
die Freiheit <strong>und</strong> das Glück eines jeden in<br />
der Freiheit <strong>und</strong> im Glück Aller erkennen<br />
<strong>und</strong> dieselben durch freiwillige Verständigung<br />
<strong>und</strong> Vereinbarung verwirklichen, anstatt<br />
zu trachten, einander zu bekämpfen<br />
<strong>und</strong> zu beherrschen. Jeden Versuch einzelner<br />
oder einer Gruppe von Menschen,<br />
welcher darauf gerichtet ist, andere auszubeuten<br />
<strong>und</strong> zu unterdrücken, werden sie durch<br />
vereinten Widerstand unmöglich machen.<br />
Die überwiegende Mehrzahl der Menschen<br />
glaubt aber heute noch — aus Unwissenheit<br />
<strong>und</strong> Unfähigkeit zu denken oder<br />
aus einer durch kirchliche Dogmatik verfehlten<br />
Überzeugung heraus — an die<br />
Unvermeidlichkeit, Notwendigkeit <strong>und</strong> Berechtigung<br />
der Herrschaft. Die Ausgebeuteten<br />
<strong>und</strong> Bedrückten fristen ihr Elend in<br />
dumpfer Ergebenheit <strong>und</strong> Angst dahin,<br />
ohne daß es ihnen in den Sinn käme, daß<br />
es anders sein könnte; sie halten diesen<br />
Zustand für die Verfügung einer göttlichen<br />
Weltordnung oder für ein unabwendbares<br />
Schicksal oder ehernes Naturgesetz. Ihren<br />
einzigen Vorteil erblicken sie darin, durch<br />
Gehorsam <strong>und</strong> Mithilfe an der Unterdrückung<br />
<strong>und</strong> Ausbeutung anderer, mit<br />
Erlaubnis ihrer Herren <strong>und</strong> der Gesetze,<br />
einen Teil des erpreßten Reichtums <strong>und</strong><br />
der Machtbefugnisse über andere mit zu<br />
genießen. Wo sie dazu Gelegenheit haben,<br />
streben sie danach, ihrerseits andere zu beherrschen<br />
<strong>und</strong> deren Arbeitskraft auszunützen.<br />
Der tyrannisierte Bauer <strong>und</strong> Proletarier<br />
ist Schwächeren, besonders seiner<br />
Frau <strong>und</strong> Kindern gegenüber, häufig der<br />
ärgste Tyrann; die Arbeiter, die zu Aufsehern,<br />
die gemeinen' Soldaten, die zu<br />
Unteroffizieren avanzieren, sind oft die<br />
härtesten Vorgesetzten; <strong>und</strong> der Arbeiter,<br />
der ein schmarotzern der Politiker geworden,<br />
wird gewöhnlich zum ärgsten Unterdrücker<br />
gegenüber dem Gegner. Sie alle halten jede<br />
Verbesserung ihrer Lage nur dadurch möglich,<br />
daß sie aus der Reihe der Beherrschten<br />
immer mehr in die Reihe der Herrschenden<br />
hinaufsteigen. Sie sind überzeugt,<br />
daß das monopolistische Privateigentum,<br />
der Staat, das Gesetz, die Obrigkeit unbedingt<br />
notwendige <strong>und</strong> an s i c h g u t e<br />
Einrichtungen sind; das gibt den meisten<br />
Besitzenden <strong>und</strong> Herrschenden eine so<br />
starke m o r a l i s c h e Kraft über ihre Untergebenen;<br />
das macht so viele der Beherrschten<br />
zu nicht bloß gehorsamen, sondern willigen,<br />
pflichtgetreuen, aufopfernden Dienern<br />
ihrer Herren <strong>und</strong> der herrschenden ausbeuterischen<br />
Ordnung. Und sogar eine<br />
Änderung dieser Ordnung scheint ihnen<br />
nur durch eine Änderung der F o r m der<br />
Herrschaft durchführbar, wohinter sich<br />
meistens das Bestreben versteckt, daß ein<br />
Teil der beherrschten Klasse zur herrschenden<br />
Klasse werden soll, welcher die<br />
große Masse so wie ehedem frohnden <strong>und</strong><br />
gehorchen müßte.<br />
Der Glaube an eine übernatürliche<br />
Macht, die Ursprung <strong>und</strong> Rechtfertigung<br />
aller Herrschaft sei, <strong>und</strong> das Streben danach,<br />
andere auszubeuten <strong>und</strong> zu beherrschen,<br />
ist eine Folge jenes Urzustandes der<br />
Menschen, in dem sie nicht fähig waren,<br />
ihr eigenes Leben <strong>und</strong> die Natur geistig<br />
zu erkennen <strong>und</strong> zu begreifen <strong>und</strong> sie deshalb<br />
deren Elemente <strong>und</strong> Äußerungen nicht<br />
durch brüderlich vereinte Kräfte auszunützen<br />
verstanden, sondern überall <strong>und</strong><br />
in Allem Verderben, drohende, feindliche<br />
Gewalten sahen. Diese Unwissenheit, der<br />
Aberglaube <strong>und</strong> die falsche Weltauffassung,<br />
die daraus entstanden, wurden von denen,<br />
die diese Faktoren zur Förderung ihrer<br />
eigenen Bequemlichkeit auf Kosten der<br />
Arbeit anderer auszunützen verstanden,<br />
systematisch aufrechterhalten, befestigt, <strong>und</strong><br />
zu Religionen, Moralsystemen <strong>und</strong> Rechtsvorschriften<br />
ausgebildet; <strong>und</strong> diese Irrtümer,<br />
dieser Aberglaube wurden einer<br />
Generation der Beherrschten nach der anderen<br />
von frühester Kindheit an eingedrillt<br />
<strong>und</strong> anerzogen; das Erkennen der wahren<br />
Tatsachen des Lebens, das selbständige<br />
Prüfen <strong>und</strong> Nachdenken wurde ihnen mit<br />
allen Mitteln unmöglich gemacht.<br />
Dadurch — <strong>und</strong> nur dadurch — ist<br />
es bisher den Herrschenden gelungen, ihre<br />
Herrschaft aufrecht zu erhalten. Denn sobald<br />
die Beherrschten zur Einsicht gelangen,<br />
daß ein h e r r s c h a f t s l o s e s Z u s a m m e n -<br />
w i r k e n d e r M e n s c h e n möglich ist,<br />
<strong>und</strong> daß dies die einzige Art ist, um allen<br />
Menschen das volle, wirklich edle Glück<br />
des Lebens zu sichern, werden sie sich<br />
nicht mehr ihrem Zustand fügen, sondern<br />
durch gemeinsames Handeln ihr Leben auf<br />
diese Weise, gemäß ihrem Freiheitsempfinden<br />
gestalten. Diese Erkenntnis ist<br />
aber die unvermeidliche Folge einer der<br />
Wahrheit <strong>und</strong> der Vernunft entsprechenden<br />
W e l t a n s c h a u u n g , <strong>und</strong> kann nur auf<br />
Gr<strong>und</strong> einer solchen entstehen. Darum<br />
müssen diejenigen, die die Ursache ihres<br />
Elendes erkannt haben <strong>und</strong> nach Befreiung<br />
von demselben streben, vor Allem in sich<br />
selbst <strong>und</strong> ihren Leidensgenossen alle Unwissenheit<br />
<strong>und</strong> Lüge, allen Glauben an<br />
übernatürliche Gewalten <strong>und</strong> die Anerkennung<br />
<strong>und</strong> Verehrung einer jeden Autorität<br />
geistig zermürben, <strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong>lage<br />
vorurteilsloser, genauer Beobachtung des<br />
lebenden Naturganzen <strong>und</strong> eigenem, klarem,<br />
vernünftigem Denken eine neue Weltanschauung<br />
aufbauen <strong>und</strong> verkünden.<br />
Gegen Hunger <strong>und</strong> Not!<br />
Eine verzweifelte Stimme ruft:<br />
«Hört — ihr von Hunger gebrochenen<br />
Männer; hört — ihr Kranken, das Bett<br />
hütende Frauen; hört — ihr um Brot<br />
schreiende Kinder!<br />
Ihr habt Nahrung im Überfluß geschaffen,<br />
habt Glück, Reichtum, Wohnungen,<br />
Häuser, Paläste, all dies aus eurem Blut<br />
<strong>und</strong> eurer Kraft erzeugt.<br />
Aber nicht für euch, nur für die kleine<br />
Zahl der Besitzenden <strong>und</strong> Ausbeutenden,<br />
die sich mit dem Glänze eures Schweißes<br />
schminkt, euch verachtet, für euch die<br />
Ketten, Gefängnisse <strong>und</strong> Nachtasyle, wie<br />
andere verächtliche Unterschlupforte der<br />
verachteten Armut in Bereitschaft hält.<br />
Ja, ihr seid gut genug dazu, die Warenhäuser<br />
<strong>und</strong> Magazine zu füllen. Und wenn<br />
dieselben vollgepfropft sind von all dem<br />
von euch geschaffenen Überfluß — wirft<br />
man euch, die Erzeuger, aufs Pflaster.<br />
Es gibt wohl auch philantropische<br />
Unterstützungen. Aber ach, ihre Wohltaten<br />
kommen den Beamten, die sie austeilen<br />
sollen <strong>und</strong> verwalten, mehr zugute als den<br />
Ärmsten der Armen, die diese Beamten ja<br />
niemals erreichen.<br />
Man sagt euch: «So will es Gott!»<br />
Welche Gotteslästerung von jenen, die<br />
an Gott glauben!<br />
Wir aber sagen: Gott hat u n s alles<br />
das gegeben, was auf der Erde sich befindet<br />
<strong>und</strong> von ihr hervorgebracht wird.<br />
Diejenigen, die es sich aneignen, ohne uns<br />
an den Tisch des Lebens herankommen zu<br />
lassen, haben sich mit organisierter Gewalt<br />
umgeben, der ihre Gesetze entfließen. So<br />
kommt es, daß wir n i c h t s , sie, die Mächtigen,<br />
a l l e s haben.<br />
Doch halt! Wer ist eigentlich diese<br />
ganze organisierte Gewalt? Wer?<br />
Wir allein! Ihr allein, ihr Armen, unterdrückt<br />
euch gegenseitig. Ich fordere euch auf:<br />
Umarmet euch gegenseitig, auf daß<br />
ihr Brüder <strong>und</strong> nicht mehr Werkzeuge sein<br />
sollt! Damit ihr Menschen werdet.<br />
Wenn der Strahl der Erkenntnis eure<br />
Not durchdringt, habt ihr die wahre Leuchte<br />
für den Lebenskampf gef<strong>und</strong>en. Dann werdet<br />
ihr einfach den Hunger nicht mehr<br />
ertragen im Bewußtsein dessen, daß Hunger<br />
<strong>und</strong> Not einen schimpflichen Tod bedeuten.<br />
Lasset euch nicht führen von Führern,<br />
wie die Schafe von Hirten. I h r s e l b s t<br />
m ü ß t e u r e F ü h r e r s e i n ! E i n j e d e r<br />
e i n z e l n e s e i n e i g e n e r F ü h r e r ! Auf<br />
zum Kampf für Brot <strong>und</strong> Leben!»<br />
Biografus.<br />
Die positiven Ergebnisse der<br />
Direkten Aktion in Frankreich.<br />
Der Aufmarsch für den Achtst<strong>und</strong>entag,<br />
den die in der Confédération Générale<br />
du Travail (Allgemeiner Arbeiterb<strong>und</strong>) verb<strong>und</strong>enen<br />
Gewerkschaften Frankreichs im<br />
Mai 1906 vollzogen haben, wird auch heute<br />
noch auf so sonderbare Manier gewürdigt,<br />
daß es sich lohnt, die Dinge ins rechte<br />
Licht zu stellen.<br />
Der Plan zum Kampfe ist auf dem<br />
Kongreß von Bourges (September 1904)<br />
festgelegt worden. Eine sozusagen einstimmig<br />
angenommene Resolution bestimmte den<br />
1. Mai des Jahres 1906 als den Augenblick,<br />
wo sich der Achtst<strong>und</strong>entag verwirklichen<br />
solle, oder doch als den Ausgangspunkt<br />
einer Bewegung in diesem Sinne.<br />
Es war die Absicht des Kongresses,<br />
der Agitation einen neuen Anstoß zu geben.<br />
Sie sollte dafür sorgen, daß der Achtst<strong>und</strong>entag<br />
allgemein als eine leicht durchführbare<br />
Verbesserung der Verhältnisse <strong>und</strong><br />
zugleich als eine vorläufige Errungenschaft<br />
der Arbeitermasse auf einem <strong>Weg</strong>e erscheine,<br />
der nur dem Schwachen lang, dem<br />
Mutigen kurz vorkommen könnte. Man<br />
sehnte sich darnach, aus der ewigen gedankenmäßigen<br />
Demonstration endlich einmal<br />
heraus <strong>und</strong>, ohne das wirtschaftliche<br />
Leben zu beirren, in Handlungen <strong>und</strong> Taten<br />
hinein zu kommen.<br />
Das Arbeitergehirn mußte von der<br />
Erkenntnis ganz durchsetzt werden, daß<br />
man eben einfach einmal handeln, selbst<br />
seinen Mann für seine <strong>und</strong> aller Sache ein-
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Österreich.<br />
Wien. Am 3. Juni fand in Fuchs großem Saal<br />
im III. Bez. eine von der „Allgemeinen Gewerkschaftsföderation"<br />
einberufene Versammlung statt,<br />
in der der anarchistische Genosse P. R a m u s über<br />
„Moderne Gewerkschaftstaktik" referierte. Die Versammlung<br />
nahm einen sehr stürmischen Verlauf, denn<br />
jeder Geisteshieb, den R. der veralteten, zentralistischen<br />
Zunftgewerkschaftstaktik versetzte, traf irgend<br />
einen der anwesenden Gewerkschaftsbeamten, <strong>und</strong><br />
der Referent wurde durch fortwährende Zwischenrufe<br />
in seinem einstündigen Referate gestört <strong>und</strong><br />
unterbrochen, an denen sich auch der anwesende<br />
sozialdemokratische Reichsratsabgeordnete Winarsky<br />
wacker beteiligte. Nach dem Referat meldete<br />
sich derselbe zum Wort <strong>und</strong> ohne irgend wie<br />
von der Versammlungsleitung behindert zu werden,<br />
gewährte man ihm reichlich über eine St<strong>und</strong>e Redefreiheit.<br />
Seine Ausführungen waren das alte Larifari<br />
eines an der Brotkrippe des Parlamentarismus sich<br />
sättigenden Menschen, der, als Parlamentarier, natürlich<br />
die Institution, die ihm eine Existenz des<br />
Wohllebens <strong>und</strong> des Nichtstuns bietet, lobt; mit<br />
nicht übermäßiger Bescheidenheit versieht er s e l b s t<br />
dieses Lob, da seine W ä h l e r keinen Gr<strong>und</strong> zu<br />
solchem Lobe zu finden scheinen <strong>und</strong> es darum<br />
unterlassen. Auch sonst zeigte er nur seine Unfähigkeit,<br />
das gestellte Problem aufrichtig würdigen zu<br />
nenen; stellte seine Unwissenheit über den Anarchismus<br />
glänzend zur Schau, indem er „bewies",<br />
daß die Stirnerianer kommunistische Anarchisten<br />
„geworden"; während es lange v o r dem erneuten<br />
Bekanntwerden des Stirnerschen Buches in den 90<br />
Jahren schon den kommunistischen Anarchismus<br />
gab. Interessant war auch, daß er in seinen Zwischenrufen<br />
versprochen hatte, den Beweis dafür zu erbringen,<br />
daß die österreichische Gewerkschaftsbewegung<br />
jener der französischen ü b e r l e g e n sei,<br />
welchen Beweis er aber total schuldig blieb. Kurz<br />
gesagt: ein Gemisch von Verdrehung, Entstellung,<br />
die bis an bodenlose Gemeinheit grenzte, <strong>und</strong><br />
Borniertheit, das war das „geistige" Waffenarsenal<br />
des Sozialdemokraten Winarsky.<br />
Zudem ein erbärmlicher Feigling! Am Schlüsse<br />
seiner Rede forderte er die Anwesenden in nicht<br />
' mißzuverstehenden Worten dazu auf, dem Schlußwort<br />
des Genossen Ramus n i c h t beizuwohnen;<br />
Herr W. wußte, daß er nun in seiner ganzen Geistesniedrigkeit<br />
entlarvt werden würde. Er hetzte denn<br />
auch mit Hilfe eines Subjektes namens Bernt die<br />
Masse so sehr gegen die Anarchisten auf, Lügen<br />
<strong>und</strong> Schmähungen gebrauchend, daß sie seiner <strong>und</strong><br />
Bernts Aufforderung teilweise nachkam, die dahin<br />
gehend lautete: „Genossen, Disziplin! Wir brauchen<br />
<strong>und</strong> wollen kein Schlußwort mehr hören; geh'n<br />
ma aussi!"<br />
Es bemächtigte sich nun der vielen Zurückgebliebenen<br />
eine große Aufregung <strong>und</strong> aus vielen<br />
Kehlen wurde dem Abgeordneten Winarsky ins<br />
Antlitz geschleudert: „ F e i g l i n g ! S i e f ü r c h t e n<br />
das S c h l u ß w o r t ! " „ U n t e r d r ü c k u n g der<br />
R e d e f r e i h e i t , d a s i s t d i e S o z i a l d e m o -<br />
krat isch e W i s s e n s c h aft!" „ R o t e C h r i s t -<br />
l i c h s o z i a l e s e i d ihr!" Um diese Rufe zu überschreien<br />
<strong>und</strong> den Genossen Ramus definitiv am<br />
Sprechen zu verhindern — welche erbärmliche<br />
Feigheit! — stimmten die Herren Winarsky <strong>und</strong><br />
Bernt in rührender Einmütigkeit ein wüstes Gejohle<br />
an, wobei es, wie auch früher schon, fast zu Tätlichkeiten<br />
kam.<br />
<strong>Unser</strong>e Kameraden verlangten von diesen Subjekten<br />
nichts mehr, als daß sie sich heimwärts<br />
sputen sollten, um den ruhigen Fortgang der Versammlung<br />
nicht zu stören. Aber dies wagten die<br />
Tapferen nicht, denn noch waren viele Sozialdemokraten<br />
anwesend, die gespannt der Antwort von<br />
R. harrten. Das war dem parlamentarischen Maulhelden<br />
unerträglich <strong>und</strong> er, wie Bernt, erteilten<br />
deshalb nochmals die Ordre, daß alle anwesenden<br />
Sozialdemokraten heim müßten. Um dieser Aufforderung<br />
den nötigen Nachdruck zu verleihen, ergriffen<br />
die Führer ihre Stöcke <strong>und</strong> wie mit Ochsenziemer<br />
wurde eines der anwesenden Parteischäflein<br />
nach dem anderen hinausgetrieben <strong>und</strong> geworfen<br />
— von seinen eigenen Leuten. Alles im Namen der<br />
„Disziplin"! Und als ich die Leute aufforderte,<br />
rascher zu gehen, damit wir die Versammlung fortsetzen<br />
könnten, versetzte mir einer der Banditen<br />
eine O h r f e i g e !<br />
Ich bin in Rußland Sozialdemokrat gewesen,<br />
wurde als solcher drei Mal verhaftet <strong>und</strong> büßte für<br />
meine damals sozialdemokratische Überzeugung <strong>und</strong><br />
Agitation 1½ Jahre Kerker. Die russische Zarenregierung,<br />
die im Besitze der „politischen Macht"<br />
ist, hat mich wohl eingekerkert, aber n i c h t geschlagen.<br />
Die Herren Sozialdemokraten müssen die<br />
politische Macht erst erobern; sie können noch<br />
nicht einkerkern <strong>und</strong> darum schlugen sie mich.<br />
Worin besteht der Unterschied zwischen der russischen<br />
Regierung <strong>und</strong> der österreichischen k. k.<br />
Sozialdemokratie? —<br />
Diese Versammlung hatte ein Nachspiel. Für<br />
Mittwoch den 10. Juni war im selben Lokal wieder<br />
eine Versammlung anberanmt worden, in der Ge-<br />
nosse Ramus referieren sollte über unsere „Antw<br />
o r t a n den S o z i a l d e m o k r a t e n W i n a r s k y . "<br />
Herr W.,der brieflich eingeladen wurde zu erscheinen,<br />
zog es vor, sich von obigem Subjekt Bernt — seines<br />
Herrn <strong>und</strong> Meisters würdig! — als von Wien abwesend<br />
entschuldigen zu lassen, was eine absolute<br />
Lüge war, denn am Vormittag dieses Tages war<br />
Herr Winarsky im Abgeordnetenhause gesehen<br />
worden. Während der Rede des Sozialdemokraten<br />
Jarosch — das „hohe Haus" bestand damals aus<br />
sage <strong>und</strong> schreibe 16 Mann, die der Rede lauschten!<br />
— saß Herr Winarsky an seinem Pult <strong>und</strong> erledigte<br />
seine Privatkorrespondenz, wofür 20 Kronen Taglohn<br />
kein schlechtes Honorar. Geben wir wieder der<br />
Wahrheit die Ehre <strong>und</strong> sagen wir: Herr W. war<br />
zu f e i g e , in jene Versammlung zu kommen, um<br />
seine geistige Impotenz nicht vor aller Augen enthüllt<br />
zu sehen. Darum wurde der gelehrige Jünger<br />
Bernt gesandt, der den Auftrag hatte, unsere Vereinsversammlung<br />
unter allen Umständen zu sprengen.<br />
Derselbe begann damit, daß er den Vorsitzenden,<br />
Genossen Haidt einen „früheren Christlichsozialen"<br />
etc. etc. nannte. Dafür brandmarkte ihn derselbe in<br />
öffentlicher Versammlung als einen Verleumder.<br />
Nun wollte der Genosse Ramus das Wort zu seinem<br />
Vortrag nehmen, doch die idiotisierte Meute, die<br />
aus feiger Angst vor dem Wissen eines Anarchisten<br />
von ihren Auftraggebern <strong>und</strong> Führern den Auftrag<br />
erhalten hatte, gerade dies um Gottes Willen zu<br />
hintertreiben, setzte, unter Kommando des Bernt,<br />
mit ihrer Johlerei — die Erziehungsrüstung der<br />
österreichischen Sozialdemokratie — ein. Nicht<br />
genug damit, stürzten sich einige der sozialdemokratischen<br />
Radauelemente auf unsere Genossen, <strong>und</strong><br />
es entwickelte sich eine arge Schlägerei, bei der<br />
die Sozialdemokraten die Wache herbeizitierten <strong>und</strong><br />
dieselbe mit folgenden Worten zum „Zugreifen"<br />
aufreizen wollten: „Kommt, helft uns, die Anarchisten<br />
sind ja auch gegen euch, wie gegen uns; wir wollen<br />
euch ja auch helfen im Parlament!" Freilich bekamen<br />
die r<strong>und</strong> 20 Wachleute, die sich inzwischen eingestellt<br />
hatten, nichts zu tun, <strong>und</strong> endlich wurde der<br />
Saal geräumt.<br />
Dies ist die „Wissenschaftlichkeit", dies ist<br />
die „Toleranz", dies ist die „Redefreiheit", an die<br />
die Sozialdemokratie des III. Bez. unter Führung<br />
des Herrn Winarsky glaubt. Rot-gelb-schwarze<br />
Christlichsoziale, nichts weiter, dabei von grausiger<br />
Ignoranz! Doch wenn die Herren glauben, daß sie<br />
uns dadurch entmutigen werden in unserem Kampf<br />
— gegen ihre Verführung, Beschwindelung des Proletariats<br />
— da irren sie sich gewaltig. Herr Hagenhofer,<br />
pardon Winarsky wird mit Entsetzen einsehen<br />
lernen, wohin diese Art der Knebelung der Redefreiheit<br />
führt; wir garantieren ihm dafür! Wir werden<br />
Gleiches mit Gleichem vergelten! Und trotz<br />
der infamen sozialdemokratischen Banditenbande,<br />
die sich gegen jede Aufklärung <strong>und</strong> Feststellung in<br />
Tatsachen verschworen hat, weil es die Führer in<br />
ihrem Parlamentsgeschäft stören mag, kündigen wir<br />
schon jetzt wieder den regelmäßigen Fortgang der<br />
Versammlungen im III. Bez. an. Wir sind gewarnt,<br />
wir werden gewappnet sein <strong>und</strong> gegenüber brutalster<br />
Vergewaltigungstaktik gibt <strong>und</strong> gilt es den Verzweiflungskampf<br />
! J. L.<br />
Im sozialdemokratischen Wahlvereine VI<br />
„Gleichheit" sollte der schon wiederholt abgesagte<br />
Vortrag von Schulz über „Antimilitarismus" unter<br />
dem abgeänderten Titel „Bekämpfung des Militarismus"<br />
stattfinden. Allein der Referent kam auch<br />
diesmal nicht, <strong>und</strong> statt seiner sprach der „rühmlichst"<br />
bekannte Dr. Braun über „Anarchismus <strong>und</strong><br />
Sozialismus" (Merkwürdigerweise <strong>und</strong> gegen alle<br />
Gepflogenheit hatte sich zu der aus zirka 50 Personen<br />
bestehenden Vereinsversammlung e i n R e -<br />
g i e r u n g s k o m m i s s ä r eingef<strong>und</strong>en!) Dr. Braun<br />
führte aus: Er wolle nicht die Theorie besprechen,<br />
sondern dieselbe bis in ihre letzte Konsequenz<br />
ausdeuten <strong>und</strong> an der Hand dreier Beispiele das<br />
Utopische einer anarchistischen Gesellschaft erweisen.<br />
Er könne sich erstens nicht vorstellen, wie<br />
der Bau eines St. Gotthard-Tunnels in einer anarchistischen<br />
Zukunft möglich wäre, wie ein großer<br />
Dampfer über das Meer fahren könne, wenn der<br />
Steuermann das Steuer verlassen dürfte, wann es<br />
ihm beliebe, <strong>und</strong> wer in der anarchistischen Gesellschaft<br />
den Kanal ausräumen würde.<br />
Es ergriff Kamerad F e l s e n b u r g das Wort<br />
<strong>und</strong> führte etwa folgendes aus: Er konstatiere,<br />
daß allem Anscheine nach der Regierungskommissär<br />
nur zu dem Zwecke bestellt worden sei, um ihn in<br />
seiner Redefreiheit zu beschränken. Was die Ausführungen<br />
des Dr. Braun betreffe, so seien diese<br />
lächerlich <strong>und</strong> kindisch. Der Bau des St. Gotthard-<br />
Tunnels sei in der kommunistisch-anarchistischen<br />
Gesellschaft eher möglich, als jetzt, weil in freier<br />
Assoziation die Menschheit eher für kommende<br />
Generationen sorge, da der Einzelne während<br />
solcher Arbeit von ökonomischen Existenzsorgen<br />
befreit sei. Als „Marxist" sollte er doch wissen,<br />
daß der Steuermann nicht aus Idealismus am Steuer<br />
des Schiffes stehe, sondern weil der Untergang<br />
der Andern auch sein Untergang wäre; ein Kanal<br />
würde nur deshalb geräumt, weil er stinke <strong>und</strong><br />
wen der üble Geruch belästigt, der würde schon<br />
für die Reinigung des Kanals Sorge tragen. Einen<br />
zweiten Redner verwies Kamerad Felsenburg auf<br />
den Widerspruch, der darin liege, wenn man einerseits<br />
von freier Meinungsäußerung spreche <strong>und</strong> andererseits<br />
jeden Kritiker „Verräter" nenne. Nachher<br />
ergriff Dr. Braun das Schlußwort zu folgender<br />
„Widerlegung": „Dieser Kerl (!) von Anarchist ist<br />
ein dummer Junge (!), dessen Argumente ich nicht<br />
widerlegen will (I), weil ich dadurch nur sein<br />
Selbstbewußtsein heben würde. (!) Ich glaube, daß<br />
er bei keinem von ihnen den Glauben (!) an die Sozialdemokratie<br />
wankend gemacht habe <strong>und</strong> das<br />
genügt mir!" Der Vorsitzende schloß nun die Versammlung,<br />
indem er erklärte, daß von nun an in<br />
diesem Vereine Anarchisten nicht mehr sprechen<br />
dürfen, (sie!) *<br />
Im Laufe der Budgetdebatte im Parlament<br />
hatte der Sozialdemokrat Dr. Adler, die — gerade<br />
heraus gesagt — unerhörte Frechheit, folgendes<br />
zu sagen:<br />
„. . . Allein, wenn ich in einer Versammlung<br />
zum Schlüsse von der geistigen Unterdrückung<br />
durch die Herrschaft der Kirche sprechen werde,<br />
dann wird dies bei den Arbeitern — g e g e n<br />
m e i n e n W i l l e n — gerade den größten Widerhall<br />
. . . finden . . . Es kommt vor, daß irgend ein<br />
s o g e n a n n t e r f r e i r e l i g i ö s e r o d e r f r e i -<br />
d e n k e r i s c h e r S c h w ä t z e r nur darum, weil er<br />
sich gegen die kirchliche Autorität, gegen die<br />
Herrschsucht der Kirche wendet, weit leichter Gehör<br />
bei den Massen findet als jemand, der vom<br />
wirtschaftlichen Standpunkt die Dinge gründlich<br />
untersucht".<br />
Dieses e i n e Zitat aus der Rede Adlers trägt<br />
so unzweideutig das Gepräge des demagogischen<br />
Parlamentsschwätzers <strong>und</strong> -Gauklers, daß Herr<br />
Adler besser daran getan hätte, im Hause des Gehängten<br />
nicht vom Strick zu reden. Ernste Männer,<br />
die als konsequente Freidenker für den Atheismus<br />
Propaganda machen, sind Männer der Wahrheit<br />
<strong>und</strong> des Fortschrittes, selbst dann, wenn sie irgend<br />
einer politischen Richtung angehören; sie sind<br />
n i e m a l s „Schwätzer"! Schwätzer, <strong>und</strong> nur das,<br />
sind aber die Herren Parlamentarier durch die<br />
Bank, denn wie sagte der alte Liebknecht anno<br />
1869: „Welchen »praktischen- Zweck hat also das<br />
Reden im Reichstag? K e i n e n . Und z w e c k l o s<br />
r e d e n , i s t T o r e n V e r g n ü g e n ! "<br />
Zu obigem müssen wir nur noch hinzufügen,<br />
daß diese niedere Verhöhnung des Freidenkertunis<br />
durch Dr. Adler die lebhafte Beipflichtung <strong>und</strong><br />
freudige Anerkennung des „Slovenen Krek" fand,<br />
von dem aber die „Arbeiter-Zeitung" in einer Anwandlung<br />
von schuldbewußtem Schamgefühl es zu<br />
konstatieren „vergaß", daß Krek ein C h r i s t l i c h -<br />
s o z i a l e r ist. Sozialdemokratie <strong>und</strong> Christlichsoziale<br />
einmütig im B<strong>und</strong>e wider das Freidenkertum<br />
dies ist die vorläufig prächtige Frucht „parlamentarischen<br />
Klassenkampfes". — —<br />
#<br />
Vor einigen Wochen verließ der Genosse B.<br />
Brunner Wien, gezwungen durch längere Arbeitslosigkeit.<br />
Er ist einer der vom sozialdemokratischen<br />
Terrorismus (nur wider Arbeiter, n i e wider Unternehmer!)<br />
am ärgsten verfolgten Kameraden. Weshalb?<br />
Weil er die Gewerkschaften nicht als Melkkühe<br />
für die parlamentarischen Müßiggänger <strong>und</strong><br />
Nichtstuer sehen will, sondern den Generalstreik<br />
<strong>und</strong> die Direkte Aktion propagiert. Erst unlängst<br />
wurde er von sozialdemokratischen Schurken des<br />
III. Bez. überfallen <strong>und</strong> blutig geschlagen, weil er<br />
Einladungen für eine unserer Versammlungen verteilte;<br />
darauf übergaben ihn diese Würdigen der<br />
Polizei, „da ja laut österreichischem Gesetz hier<br />
keine Anarchisten sein dürfen", wie diese Schafsköpfe<br />
<strong>und</strong> Hyperdespoten meinten. Nun erhielt<br />
ich ein Schreiben von ihm, u. a. des folgenden<br />
Inhaltes:<br />
„. . . Als ich Wien wegen Arbeitslosigkeit<br />
verließ, sandte der löbl. Vorstand des Holzarbeiterverbandes<br />
mir einen regulären Steckbrief nach, d.<br />
h. an den hiesigen Verbandsausschuß. Darin hieß<br />
es, daß der Anarchist B. B. am Sonntag, 7 Uhr früh,<br />
von Wien abgefahren sei. Dann: Haare, Augen,<br />
Statur genau beschrieben. Und weiter: Warnung<br />
vor diesem Anarchisten! — Man kann sich vorstellen,<br />
mit welchem Mißtrauen mir begegnet wurde,<br />
als ich mich vorstellte. Ich habe erst später alles<br />
durch ein Ausschußmitglied erklärt bekommen. Und<br />
einige Tage darauf wurde ich „ w e g e n a n a r -<br />
c h i s t i s c h - s o z i a l i s t i s c h e r U m t r i e b e " aus<br />
dem Verbände ausgeschlossen."<br />
Gibt es einen Unterschied zwischen: erstens<br />
der offiziellen katholischen Kirche, zweitens der<br />
Polizei <strong>und</strong> drittens der roten sozialdemokratischen<br />
Kirche? Vielleicht den, welche denn eigentlich den<br />
h ö c h s t e n Grad der Intoleranz erreicht! J. L.<br />
Ungarn.<br />
Budapest. Zwei unserer Brüder standen am<br />
20. Mai vor dem Schwurgericht.<br />
Die antimilitaristische Nummer unseres Bruderblattes<br />
„Társadalmi Foradalom", die aus Anlaß der<br />
Einrückung unserer Brüder in die blauen Röcke, im<br />
Oktober 1. J. zu vielen Tausenden unter den Re-
kruten verbreitet ward, wurde damals von der<br />
Staatsanwaltschaft konfisziert <strong>und</strong> folgende Artikel<br />
inkriminiert: „Schwur der Soldaten", ein Gedicht<br />
von Gäspär Imre. „Der Fall von Kaschau", ein<br />
ein Brief von Dr. Skarvän <strong>und</strong> seine Abhandlung<br />
über: „Weshalb soll man kein Militärarzt sein",<br />
außerdem der Artikel „Töte nicht!". Die Verantwortung<br />
für die drei ersten Artikel übernahm der<br />
damalige verantwortliche Redakteur des Blattes,<br />
Genosse Max Glückmann.<br />
Für den Artikel „Du sollst nicht töten", welcher<br />
in selber Nummer erschien, übernahm die Verantwortung<br />
unser Kamerad A l e x a n d e r H e r m a n .<br />
Die Verteidigung führte Dr. Balog V. Imre.<br />
Im Laufe der Verhandlung ersucht der Verteidiger<br />
über die ersten drei Artikel die Verjährung<br />
zu konstatieren, da das Gedicht von Gáspár Imre<br />
schon 1877 erschien <strong>und</strong> seitdem in mehreren<br />
Büchern <strong>und</strong> Zeitungen reproduziert wurde, ohne<br />
daß es inkriminiert worden wäre. Der Brief von<br />
Dr. Skarván erschien 1894 in sämtlichen bürgerlichen<br />
Blättern <strong>und</strong> in der anarchistischen Zeitschrift<br />
„Ohne Staat". Leo Tolstoj sammelte im Jahre 1905<br />
unter dem Titel „Für alle Tage", die Ideen der<br />
hervorragendsten Denker der Weltliteratur in einem<br />
Bande, in welchem er den erwähnten Brief <strong>und</strong> die<br />
Abhandlung von Dr. Skarván, als zwei auserlesene<br />
Gedankenperlen aufnahm. 1906 wurde das Buch<br />
unter dem selben Titel ins Deutsche übersetzt <strong>und</strong><br />
ist auch in Ungarn in aller Hände, ohne daß es<br />
inkriminiert worden wäre. Verteidiger beruft sich<br />
auf die Verjährung, da das Gesetz aus dem Jahre<br />
1848 die Verordnung enthält, daß literarische Produkte<br />
nach sechs Monaten seit Erscheinen nicht<br />
mehr klagbar sind.<br />
Das Budapester Schwurgericht nahm diesen<br />
Standpunkt des Verteidigers nicht ein. Die Geschworenen<br />
sprachen den Angeklagten schuldig,<br />
weil er es wagte, die Schriften eines Tolstoj, Gáspár<br />
Imre, <strong>und</strong> Dr. Skarván, die andere Blätter <strong>und</strong><br />
Bücher unbeanstandet brachten, in einem sozialistisch-anarchistischen<br />
Blatte zu bringen. Genosse<br />
Glückmann- wurde von der unparteiischen, unabhängigen,<br />
unantastbaren, jungfräulichen, mit verb<strong>und</strong>enen<br />
Augen erhaben stehenden, bürgerlichen<br />
Justitia zu e i n e m J a h r e Staatsgefängnis verurteilt.<br />
„Du sollst nicht töten!" der schönste Punkt<br />
der zehn Gebote, welche uns unsere Eltern, Lehrer,<br />
der Pfarrer in der Kirche lehrte, den Jesus in den<br />
Worten lehrt: „Wer das Schwert ergreift, wird auch<br />
durch das Schwert umkommen" — wird solcherart<br />
von der heutigen Welt mit Füßen getreten <strong>und</strong> auch<br />
der Genosse Alexander Herman wurde wegen „Aufreizung"<br />
für sündig <strong>und</strong> zu a c h t Monaten Staatsgefängnis<br />
verurteilt. Und dennoch geht es vorwärts<br />
— stärker als alle Justizfolterwerkzeuge ist das<br />
Bewußtsein des Martyriums für die edle Sache der<br />
Kultur des Friedens <strong>und</strong> der Freiheit!<br />
Nagy Antal.<br />
Italien.<br />
Der Landarbeiterstreik in Parma. Die Provinz<br />
Parma — 50 Gemeinden, 304.000 Einwohner<br />
— ist ein landwirtschaftlicher Mittelpunkt von<br />
Italien. Der Wert des Viehstandes dieser Gegend<br />
wird auf mehr als 100.000 Franken geschätzt. Es<br />
gibt 359 Käsefabriken, 19 Fabriken für die Herstellung<br />
von Tomaten-Konserven, Zuckerrübenkulturen<br />
<strong>und</strong> Seidenzuchten, deren durchschnittlicher<br />
Jahresertrag 500.000 Kilo von Kokons ist.<br />
Die größere Arbeit der Organisation unter den<br />
italienischen Bauern begann 1906, nach einem Sieg<br />
der Schuhmacher <strong>und</strong> Maurer <strong>und</strong> einer Niederlage der<br />
Bauern einer Gemeinde. Während sechs Jahren arbeiteten<br />
die letzteren schon an der Schaffung von Gewerkschaften,<br />
von Genossenschaften, beinahe ohne<br />
die Unternehmer anzugreifen. Im Mai 1907 erklärten<br />
die Bauern den Unternehmern den Krieg. Nach<br />
drei Tage währendem allgemeinen Streik wurde<br />
eine Vereinbarung unterzeichnet, die den vollständigen<br />
Sieg der Landarbeiter bestätigte. Es ist<br />
dies ein Ergebnis jener Mittel des syndikalistischen<br />
Kampfes, die die Arbeiterbörse von Parma anwandte.<br />
Dieselbe, zusammen mit jener von Piacenza<br />
<strong>und</strong> Ferrara, bildet den Kern der syndikalistischen<br />
Streitkräfte, welche sich in Opposition<br />
zur reformistischen sozialdemokratischen Arbeitervereinigung<br />
befinden.<br />
Es begannen Provokationen von Seiten der<br />
Arbeitgeber, die von einer Klasse der Arbeiter, den<br />
S p e s at i, zwei St<strong>und</strong>en mehr Arbeit verlangten<br />
als von den übrigen Bauern. — Die Arbeiterbörse<br />
verhängte den Boykott über die Unternehmer, welche<br />
ihre Versprechungen nicht einhielten. Darauf verhängte<br />
die Agrarvereinigung die allgemeine Aussperrung<br />
<strong>und</strong> weigerte sich, 26.000 Bauern die<br />
Löhne zu bezahlen. Während den letzten Wochen<br />
seit dem 1. Mai haben Tausende von Landarbeitern<br />
keinen Heller erhalten, <strong>und</strong> die Felder liegen verlassen.<br />
Um die Einheit der Arbeiter zu untergraben,<br />
haben sie in allen Gemeinden „freie Arbeiterscharen"<br />
gegründet — ein schamlos wohltönender<br />
Name für Streikbrecher — <strong>und</strong> organisierten auch<br />
„Freiwillige", das heißt Bourgeoisjünglinge — die<br />
ihre Studien in der Stadt verließen, um auf den<br />
Feldern <strong>und</strong> in den Ställen die Bauern zu ersetzen.<br />
Doch es hilft nichts, die Bauern halten fest an ihren<br />
Forderungen: V e r k ü r z u n g der A r b e i t s z e i t<br />
u m e i n e S t u n d e für a l l e L a n d a r b e i t e r ,<br />
a l l g e m e i n e s E r h ö h e n d e r A r b e i t s l ö h n e .<br />
Die Besitzer haben, wie sie gedroht, die gewerkschaftlich<br />
organisierten Bauern aus ihren<br />
Häusern vertreiben lassen; <strong>und</strong> um die Regierung,<br />
die sich bisher neutral verhielt, zum Einschreiten<br />
zu zwingen, drohten sie, i h r e S t e u e r n n i c h t<br />
zu b e z a h l e n ! Die Provinz Parma ist schon von<br />
Tausenden von Soldaten besetzt, die Unternehmer<br />
wollen eine blutige Unterdrückung der Arbeiter<br />
heraufbeschwören. Ihre Zeitung schreibt ganz offen:<br />
„Bewaffnet euch auch, Gr<strong>und</strong>besitzer <strong>und</strong> Kaufleute,<br />
bewaffnet euch, wenn ihr stark <strong>und</strong> frei sein wollt,<br />
denn nur die Unruhen können uns endlich den ersehnten<br />
Frieden bringen!"<br />
Nach einem Monat des allgemeinen Streiks<br />
sind die 30.000 Bauern noch mehr zum Widerstand<br />
entschlossen; ihre Drohung: das Heu wird auf den<br />
Wiesen <strong>und</strong> das Korn auf dem Feld verfaulen,<br />
fängt an wahr zu werden; die Gr<strong>und</strong>besitzerhaben<br />
schon riesig viel Heu verloren, ungefähr zwei<br />
Drittel ist auf den Feldern vertrocknet. Umsonst<br />
haben sie „freie Arbeiter" (nämlich Streikbrecher)<br />
<strong>und</strong> bewaffnete Banden von „Freiwilligen" aufgenommen.<br />
Bei dieser Gelegenheit haben diese<br />
Verteidiger des Kapitals (ohne zu wollen) die wahre<br />
Sabotage angewandt, sie haben die Beine der<br />
Kühe <strong>und</strong> Ochsen abgemäht <strong>und</strong> aus grünem Getreide<br />
Heu gemacht!<br />
Übrigens ist ihre Anzahl lächerlich klein,<br />
kaum 3000 alles in allem. Darum haben sich auch<br />
manche Gutsbesitzer, zum erstenmal in ihrem<br />
Leben, dem biblischen Fluch unterwerfen müssen:<br />
„Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein<br />
Brot essen". Die Sonne ist nicht still gestanden,<br />
als sie den Grafen so <strong>und</strong> so <strong>und</strong> die Baronin so<br />
<strong>und</strong> so mit der Sense <strong>und</strong> dem Rechen in der<br />
Hand sah, während die Bauern hinter den Hecken<br />
lachend diesem Schauspiel zuschauten. In Parma<br />
haben zwei Marquis, ein Doktor, ein Ingenieur <strong>und</strong><br />
andere Herren, einen Wagen Holz abgeladen, der<br />
für einen von den Bauern boykottierten Bäcker<br />
bestimmt war.<br />
Die Gr<strong>und</strong>besitzer versuchten in der Provinz<br />
Piacenza Streikbrecher anzuwerben. Als Antwort<br />
traten daselbst 25.000 Landarbeiter auch in den<br />
Streik, <strong>und</strong> forderten die Zurückberufung der<br />
Streikbrecher <strong>und</strong> die <strong>Weg</strong>schickung des zugesandten<br />
Viehes. Diese w<strong>und</strong>erbare K<strong>und</strong>gebung<br />
der Solidarität war eine heilsame Warnung für die<br />
Arbeitgeber jener Gegenden, die aufhörten, den<br />
Ausbeutern von Parma weiter zu helfen. 100.000<br />
Bauern der Po-Gegend erwarten nur das Signal,<br />
um auch in den Generalstreik zu treten; in der<br />
Provinz Verona streiken bereits 15.000 Landarbeiter<br />
aus freien Stücken, <strong>und</strong> das Agitationskomitee<br />
hat vorläufig das Anerbieten der Bauerngewerkschaften<br />
von Brescia <strong>und</strong> Ferrara, ebenfalls<br />
die Arbeit einzustellen, abgelehnt, um diesen Schlag<br />
auf später aufzusparen.<br />
Gegen die Streikbrecher wird mit rücksichtsloser<br />
Energie gekämpft. Es kam z. B. in Parma<br />
ein Eisenbahnzug an, der 240 Streikbrecher führte,<br />
aber am Bahnhof fanden die ihn erwartenden Arbeitgeber,<br />
daß die Fensterscheiben zertrümmert,<br />
<strong>und</strong> die Wagen vollkommen leer waren. Was war<br />
geschehen? In Casalmaggiore, ein paar Stationen<br />
vor Parma, hatten die Bauern den Zug angehalten;<br />
sie drangen in die Waggons ein, zwangen diese teils<br />
durch Überredung, teils durch Gewalt zum Aussteigen<br />
<strong>und</strong> gaben ihnen in ihren eigenen Häusern<br />
Unterkunft. Nächsten Tag rasten die Gr<strong>und</strong>besitzer<br />
in Automobilen nach Casalmaggiore, aber während<br />
der Nacht hatte der Verstand in den Streikbrechern<br />
gesiegt, <strong>und</strong> nur 20 von ihnen folgten den<br />
Herren, die Übrigen kehrten nach ihrer Heimat zurück.<br />
Denselben Tag geschah es in Brescia, daß<br />
sich einen Kilometer vor der Stadt die Arbeiter<br />
vor einem Zug auf die Schienen legten, um ihn<br />
aufzuhalten, denn sie befürchteten, daß derselbe<br />
Streikbrecher transportiere; nur nachdem sie sich<br />
überzeugt hatten, daß dies nicht der Fall sei,<br />
ließen sie den Zug weiterfahren.<br />
Das täglich erscheinende Bulletin der Streikenden,<br />
die „Internationale", schreibt aus dem Anlaß:<br />
„Wir übernehmen es nicht, die Arbeiter zur Ruhe<br />
zu ermahnen, wenn Streikbrecher auf sie schießen,<br />
<strong>und</strong> werden' uns neutral verhalten, wenn unsere<br />
Brüder es für gut befinden, mit den Waffen auf<br />
die Attentate zu antworten, denen sie ausgesetzt<br />
sind. Ist es das, was die Regierung will?"<br />
Die Politikanten aller Art sind tief unglücklich<br />
über diesen Kampf bis aufs Äußerste. Zuerst<br />
wandte sich die demokratisch-radikale Partei, dann<br />
das ständige Arbeitskomitee (Vorläufer eines „Arbeitsministeriums")<br />
<strong>und</strong> schließlich die Leitung der<br />
sozialdemokratischen Partei mit dem Vorschlag an<br />
die Streikenden, ihre Sache der Entscheidungeines<br />
Schiedsgerichtes zu unterbreiten; aber die revolutionäre<br />
Arbeiterkammer von Parma hat alle diese<br />
Anträge r<strong>und</strong>wegs abgewiesen. Die Bauern riefen<br />
die Solidarität des Proletariats von Italien <strong>und</strong> des<br />
Auslandes an. Auf diese Art sind durch Sammlung<br />
schon 50.000 Francs eingelaufen. Über f ü n fh<br />
u n d e r t Gr<strong>und</strong>besitzer haben bereits den Kampf<br />
aufgegeben; die übrigen werden auch bald gezwungen<br />
sein, sich den Forderungen der Arbeiter<br />
zu fügen. <strong>Unser</strong>e Pflicht, die Pflicht der gesamten<br />
internationalen Arbeiterschaft ist es, ihnen dabei<br />
zu helfen. So wenig auch ein jeder zu geben vermag,<br />
so ist unsere v e r e i n t e Kraft denn doch<br />
im Stande dazu! (Geldsendungen sind zu adressieren<br />
an die „ C a m e r a d e l L a v o r o di Parma"<br />
Parma, Italien).<br />
Eines ist sicher: Es gährt mächtig unter der<br />
italienischen Landbevölkerung. B a k u n i n, der<br />
seinerzeit einen regen Anteil an den ersten Kämpfen<br />
der italienischen Internationale genommen hat, sah<br />
in den Bauernbewegungen die Zukunft der sozialen<br />
Revolution in Italien. Hoffen wir, daß der gegenwärtige<br />
Kampf in den Bauern das Bewußtsein<br />
ihrer Aufgabe so gestärkt hat, daß sie bald jenen<br />
Tag der Befreiung erreichen, wo sie das Land, das<br />
sie durch ihre Arbeit fruchtbar machen, von allen<br />
Schmarotzern befreien <strong>und</strong> in den gemeinsamen<br />
Besitz des arbeitenden Volkes bringen. L. Berta<br />
Frankreich.<br />
Es ist erfreulich zu sehen, wie ein Teil der französischen<br />
sozialistischen Partei sich immer mehr<br />
von den Verirrungen der sozialdemokratischen<br />
Doktrinen des Parlamentarismus <strong>und</strong> der gesetzlichen<br />
Eroberung der politischen Macht frei macht<br />
<strong>und</strong> allmählich zu den alten, wahren Idealen des<br />
Sozialismus, der anarchistisch - kommunistischen<br />
Gesellschaft <strong>und</strong> der direkten Aktion als Taktik<br />
übergeht. Die Ereignisse sind sehr dazu geeignet,<br />
die französischen Arbeiter in unsere Richtung des<br />
Sozialismus zu treiben <strong>und</strong> sie dadurch zu kommunistischen<br />
Anarchisten zu erziehen. Bei den jüngst<br />
stattgehabten Gemeindewahlen hat die sozialdemokratische<br />
Partei den größten Teil ihrer Mandate<br />
v e r l o r e n , <strong>und</strong> auch dort, wo sie sich behaupten<br />
konnte, w a r d a s nur d u r c h d a s B ü n d n i s<br />
mit d e r R a d i k a l e n - , a l s o e i n e r B o u r g e o i s -<br />
p a r t e i m ö g l i c h .<br />
„Die Eroberung der politischen Macht durch<br />
die sozialistische Partei geht prachtvoll voran*<br />
Auf diese Art werden wir in 7 —8000 Jahren das<br />
gelobte Land erreichen! Und dieser arme parlamentarische<br />
Sozialismus hat sich doch sanft genug<br />
gebärdet, besonders bei der zweiten Abstimmung!<br />
Er hat genugsam die Sabotage** <strong>und</strong> die „lächerlichen<br />
<strong>und</strong> gefährlichen Übertreibungen des Herveschen<br />
Antimilitarismus" verleugnet! Hat er denn in<br />
Nordfrankreich nicht verkündet, daß die 30.000 sozialdemokratischen<br />
Wähler von Lille <strong>und</strong> Roubaix<br />
bereit sind, für das Vaterland - des radikalen<br />
Kandidaten — zu sterben, wo dieselben in Wahrheit<br />
beim Ausbruch eines Krieges ohne viel Aufsehen<br />
die benachbarte belgische Grenze überschreiten<br />
würden.<br />
Aber kein Aufgeben <strong>und</strong> Verleugnen der<br />
Überzeugung hat etwas geholfen. Der parlamentarische<br />
Sozialismus hat sich seit Jahren nur durch<br />
das Bündnis mit der radikalen Bourgeoispartei behauptet.<br />
Die Unterdrückungs- <strong>und</strong> Eroberungspolitik<br />
des radikalen Ministerpräsidenten Clemenceau,<br />
das Erwachen des revolutionären Geistes in<br />
der sozialistischen Bewegung durch die Propaganda<br />
Hervels <strong>und</strong> der syndikalistischen „Allgemeinen:<br />
Arbeitsvereinigung", haben dieses Bündnis zerschnitten.<br />
Dies ist die Ursache der sozialdemokratischen<br />
<strong>und</strong> radikalen Niederlagen bei den neulichen<br />
Gemeindewahlen; denn auch die Radikalen<br />
haben große Verluste erlitten <strong>und</strong> nicht sie, sondern<br />
die Nationalisten <strong>und</strong> Klerikalen erobern die verlorenen<br />
Sitze in den Stadtvertretungen — <strong>und</strong> in<br />
zwei Jahren wird bei den Parlamentswahlen wohl<br />
dasselbe geschehen. — Wir haben dabei nichts zu<br />
bedauern. Die Nationalisten werden die Arbeiterreformen<br />
nicht ärger verschleppen, sie werden sich<br />
dem russischen Zarismus <strong>und</strong> seinen Gläubigern<br />
nicht gefälliger «rweisen, sie werden in Marokko<br />
nicht grausamer hausen, sie werden nicht noch<br />
mehr Polizeispitzel in unsere Versammlungen<br />
schicken, die revolutionäre Presse nicht noch mehr<br />
belästigen als die Radikalen <strong>und</strong> Ministersozialisten,<br />
die jetzt an der Herrschaft sind; unter dem neuen<br />
Regime werden die Gerichte nicht noch kriecherischer<br />
vor den Mächtigen, noch grausamer gegen<br />
die Armen <strong>und</strong> Aufklärenden sein, die Polizei wird<br />
sich nicht brutaler <strong>und</strong> gemeiner benehmen als jetzt!<br />
Das Bündnis mit den Radikalen ist vorbei;<br />
umso besser. Aber die revolutionären Sozialisten<br />
müssen Acht geben; denn alle sozialistischen Abgeordneten,<br />
die diesem Bündnis ihren Sitz im Parlament<br />
verdanken, zittern, daß sie in zwei Jahren<br />
nicht wiedergewählt werden könnten, <strong>und</strong> deshalb<br />
versuchen sie, die Partei offen oder versteckt zum<br />
radikalen Bündnis zurückzuführen. Wir aber wollen das<br />
nicht haben; denn dieses Bündnis bedeutet für uns,<br />
daß unsere revolutionäre Propaganda fortwährend<br />
den Rücksichten auf die Wahlen geopfert wird, daß<br />
der Sozialismus jeden Tag mehr gedämpft wird, um<br />
die Bourgeoisparteien nicht zu erschrecken; es bedeutet,<br />
daß wir statt unserem wahren Programm,<br />
der Darlegung der sozialistischen Gesellschaft,<br />
unser Minimalprogramm verkünden müssen, das<br />
sich kaum von dem der radikalen Bourgeoisparteien<br />
unterscheidet; daß, mit einem Wort, der Sozialismus<br />
immer mehr zur parlamentarischen Sozialdemokratie,<br />
das heißt, zum farblosesten Reformismus<br />
herabsinkt.<br />
Die parlamentarische Sozialdemokratie ist nur<br />
eineKarrikatur auf den Sozialismus. — Der Sozialismus<br />
wird revolutionär sein, oder er wird nicht sein!"<br />
* Das folgende ist ein teilweise wörtlicher Auszug aus<br />
Nr. 22 des .Guerre Sociale".<br />
** Das Kampfmittel der Arbeiter, durch welches schlechte<br />
Bezahlung mit schlechter Arbeit oder passiver Resistenz vergolten<br />
wird.
— 33 —<br />
oben, vom einfachen zum verwickeiteren, beginnend<br />
mit den unmittelbarsten Interessen, um zu den allgemeineren<br />
aufzusteigen — aus all dem wird eine<br />
gesellschaftliche Organisation emporwachsen, deren<br />
<strong>Ziel</strong> der größte W o h l s t a n d <strong>und</strong> die größte F r e i -<br />
h e i t a l l e r sein wird, welche die ganze Menschheit<br />
in einer brüderlichen Gemeinschaft umfaßt; welche<br />
sich fortwährend verändern <strong>und</strong> verbessern wird, so<br />
wie sich die Verhältnisse ändern <strong>und</strong> die Erfahrung<br />
es lehrt.<br />
D i e s e G e s e l l s c h a f t f r e i e r M e n s c h e n ,<br />
d i e s e G e s e l l s c h a f t v o n F r e u n d e n — d i e s i s t<br />
d i e A n a r c h i e . *<br />
Bisher haben wir die Regierung so betrachtet,<br />
wie sie jetzt ist, wie sie notwendigerweise sein muß<br />
in einer Gesellschaft, welche auf Vorrechte, auf die<br />
Ausbeutung <strong>und</strong> Unterdrückung des Menschen durch<br />
den Menschen, auf entgegengesetzte Interessen <strong>und</strong><br />
Kampf — mit einem Wort: a u f d a s P r i v a t e i g e n -<br />
t u m gegründet ist.<br />
Wir haben gesehen, wie der Zustand des Kampfes<br />
nichts weniger als eine notwendige Bedingung<br />
des menschlichen Lebens ist, sondern im Gegenteil<br />
im Gegensatz zu den Interessen der Menschen <strong>und</strong><br />
der Menschheit steht. Wir haben gesehen, wie das<br />
Zusammenwirken, die Solidarität das Gesetz des<br />
menschlichen Fortschrittes ist, <strong>und</strong> wir haben daraus<br />
den Schluß gezogen, daß wenn das Privateigentum<br />
<strong>und</strong> jede Herrschaft des Menschen über den Menschen<br />
abgeschafft wird, die Regierung jeden Zweck<br />
verliert <strong>und</strong> verschwinden muß.<br />
«ANARCHIE» von Enriko Malatesta. 5
— 34 —<br />
«Aber» — so sagt man uns, <strong>und</strong> es sagen dies<br />
vornehmlich die Sozialdemokraten — «wenn man die<br />
Gr<strong>und</strong>lage verändert, auf welcher heute die gesellschaftliche<br />
Organisation aufgebaut ist, wenn man an<br />
Stelle des Kampfes die Solidarität, an Stelle des Privateigentums<br />
den gemeinsamen Besitz setzt, so wird<br />
man die Natur der Regierung ä n d e r n <strong>und</strong> dieselbe<br />
wird n i c h t m e h r die Interessen einer Klasse vertreten<br />
<strong>und</strong> verteidigen — da es ja keine Klassen mehr<br />
geben wird — sondern die Interessen der ganzen<br />
Gesellschaft. Ihre Aufgabe wäre es, im Interesse von<br />
allen, das gesellschaftliche Zusammenwirken zu sichern<br />
<strong>und</strong> zu regeln, die allgemein notwendigen gesellschaftlichen<br />
Arbeiten zu verrichten, die Gesellschaft gegen<br />
die eventuellen Versuche zu schützen, welche die<br />
Wiederherstellung der Vorrechte bezwecken würden,<br />
die Angriffe Einzelner gegen das Leben, den Wohlstand<br />
<strong>und</strong> die Freiheit Aller zu verhüten <strong>und</strong> zu<br />
unterdrücken.<br />
«In der Gesellschaft gibt es einzelne Tätigkeiten<br />
welche zu notwendig sind, zu viel Beständigkeit <strong>und</strong><br />
Regelmäßigkeit erfordern, als daß man sie dem freien<br />
Willen des einzelnen Menschen überlassen könnte,<br />
ohne zu riskieren, daß alles in die größte Unordnung gerät.<br />
«Wer wird ohne Regierung die Anschaffung <strong>und</strong><br />
Verteilung der Lebensmittel, die öffentliche Ges<strong>und</strong>heit,<br />
den Eisenbahn-, Post <strong>und</strong> Telegraphendienst<br />
u. s. w. organisieren <strong>und</strong> aufrechterhalten? Wer wird<br />
für den allgemeinen Unterricht sorgen? Wer wird die<br />
großen Arbeiten der Entdeckungen, der Verbesserungen,<br />
der wissenschaftlichen Forschungen unternehmen, die
— 35<br />
Erde umgestalten <strong>und</strong> die Kräfte der Menschen verh<strong>und</strong>ertfachen?<br />
«Wer wird das gesellschaftliche Kapital behüten<br />
<strong>und</strong> vermehren, um es bereichert <strong>und</strong> verbessert der<br />
zukünftigen Menschheit zu überliefern? Wer wird die<br />
Verwüstung der Wälder, die unvernünftige Ausnutzung<br />
<strong>und</strong> Aussaugung des Bodens verhindern?<br />
«Wer wird die Vollmacht haben, die Vergehen,<br />
das heißt die gesellschaftsfeindlichen Taten zu bestrafen?<br />
«Und was mit jenen, in denen das Gefühl der<br />
Solidarität fehlt <strong>und</strong> die nicht arbeiten wollen? Und<br />
die, welche ansteckende Krankheiten verbreiten würden,<br />
weil sie sich weigern, den wissenschaftlich anerkannten<br />
hygienischen Vorschriften Folge zu leisten?<br />
«Und wenn es geistig kranke Leute gäbe, die die<br />
Ernte verbrennen, Kinder vergewaltigen wollten oder<br />
ihre physischen Kräfte gegen die Schwächeren gebrauchen<br />
würden?<br />
«Wenn man das Privateigentum zerstört, ohne<br />
eine neue Regierung aufzurichten, welche das Leben<br />
der Gemeinschaft organisiert <strong>und</strong> die gesellschaftliche<br />
Solidarität sichert, so würde das die Vorrechte Einzelner<br />
nicht abschaffen <strong>und</strong> der Welt keinen Frieden<br />
<strong>und</strong> keinen Wohlstand bringen. Das würde die Zerstörung<br />
aller gesellschaftlichen Bande bedeuten <strong>und</strong><br />
die Menschheit in die Barbarei zurückstoßen, wo jeder<br />
nur für sich selbst lebt <strong>und</strong> wo die brutale Kraft <strong>und</strong>,<br />
daraus entspringend, die wirtschaftlichen Vorrechte<br />
über den Schwächeren siegen!»<br />
Dies sind die Einwendungen, welche die Anhänger<br />
der Autorität, selbst wenn sie Sozialisten sind,
— 36 —<br />
d. h. wenn sie das Privateigentum <strong>und</strong> die daraus<br />
entstehende Regierung der jetzigen herrschenden<br />
Klasse abschaffen wollen, uns entgegenhalten.<br />
Darauf antworten wir folgendes:<br />
Erstens ist es nicht wahr, daß die Regierung ihr<br />
Wesen <strong>und</strong> ihre Tätigkeit ändern wird, wenn sich die<br />
allgemein-gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. Werkzeug<br />
<strong>und</strong> Tätigkeit sind untrennbar von einander. Wenn<br />
man einem Körperteil seine Tätigkeit nimmt, so stirbt<br />
er entweder ab, oder die Tätigkeit stellt sich aufs<br />
neue ein. Man setze eine Armee in ein Land, wo<br />
weder die Ursache noch die Befürchtung zu einem<br />
äußeren oder inneren Kriege vorhanden ist: sie wird<br />
einen Krieg hervorrufen, oder wenn ihr das nicht<br />
gelingt, wird sie sich auflösen. Eine Polizei wird dort,<br />
wo es weder Verbrechen zu entdecken noch Verbrecher<br />
zu verhaften gibt, Verbrechen <strong>und</strong> Verbrecher<br />
provozieren <strong>und</strong> erfinden, oder sie wird aufhören<br />
zu sein.<br />
Seit Jahrh<strong>und</strong>erten besteht in Frankreich eine<br />
Behörde (heute der Forstverwaltung angeschlossen),<br />
die sogenannte »Wolfsjägerei«, deren Beamte die<br />
Vertilgung der Wölfe <strong>und</strong> anderer schädlichen Tiere<br />
zu besorgen haben. Niemand wird sich w<strong>und</strong>ern, daß<br />
gerade deshalb es in Frankreich noch Wölfe gibt <strong>und</strong><br />
dieselben im Winter viel Schaden anrichten (während<br />
in den übrigen Ländern Westeuropas sie so gut wie<br />
verschw<strong>und</strong>en sind). Die Bevölkerung kümmert sich<br />
nicht viel um die Wölfe, da doch die »Wolfjäger«<br />
da sind, deren Aufgabe es ist, sich um dieselben zu<br />
kümmern. Diese machen allerdings Jagd auf sie, aber
sie verfahren dabei »waidgerecht« indem sie die<br />
Jungen verschonen <strong>und</strong> ihnen Zeit lassen, sich zu vermehren,<br />
damit eine so interessante Tierart nicht ausgerottet<br />
wird. Die französischen Bauern haben auch<br />
recht wenig Zutrauen zu diesen Wolfsjägern, <strong>und</strong><br />
sehen sie eher als W o l f s z ü c h t e r an. Es ist begreiflich:<br />
Was würden die Beamten der »Wolfsjägerei«<br />
anfangen, wenn es keine Wölfe mehr gäbe?<br />
Eine Regierung, d. h. eine gewisse Anzahl von<br />
Leuten, deren Aufgabe es - ist, Gesetze zu machen,<br />
die gewohnt sind, sich der Kraft aller zu bedienen,<br />
um jeden zu zwingen, sie zu achten, bildet schon in <strong>und</strong><br />
für sich selbst eine privilegierte Klasse, welche von der<br />
Masse des Volkes geschieden ist. Sie wird, wie jede<br />
fest begründete Körperschaft instinktiv danach trachten,<br />
ihre Machtbefugnisse zu erweitern, sich der Aufsicht<br />
des Volkes zu entziehen, ihre besonderen Bestrebungen<br />
zu verwirklichen <strong>und</strong> ihre eigenen Interessen<br />
den übrigen Menschen aufzuzwingen. Indem<br />
sie eine privilegierte Stellung einnimmt, befindet sich<br />
die Regierung im Gegensatz zur Masse des Volkes,<br />
dessen Kräfte sie täglich in Anspruch nimmt.<br />
Übrigens könnte eine .Regierung, selbst wenn<br />
sie es wollte, niemals a l l e Menschen zufriedenstellen.<br />
Wenn es ihr gelingen würde, einige zu befriedigen,<br />
müßte sie sich gegen die Unzufriedenen verteidigen,<br />
<strong>und</strong> infolgedessen einen Teil des Volkes für ihre Interessen<br />
zu gewinnen suchen, damit dieser sie unterstützt.<br />
So würde von neuem die alte Geschichte anfangen:<br />
daß sich mit Hilfe der Regierung eine privilegierte<br />
Klasse bildet, welche, wenn sie auch diesmal
— 38 —<br />
nicht den Besitz des Bodens an sich risse, doch jedenfalls<br />
die b e v o r z u g t e n S t e l l e n , die zu diesem Zweck<br />
geschaffen würden, besetzte, <strong>und</strong> welche die übrigen<br />
Menschen nicht weniger bedrücken <strong>und</strong> nicht weniger<br />
ausbeuten würde als die heutige Kapitalistenklasse.<br />
Die Herrschenden, die an das Befehlen gewöhnt<br />
sind, würden nicht in die Masse des Volkes zurückkehren<br />
wollen; wenn sie ihre Macht nicht behalten<br />
könnten, würden sie sich wenigstens die dann bevorzugten<br />
Stellungen sichern, wenn sie schon diese<br />
Macht anderen überlassen müssen. Sie würden von<br />
allen Mitteln, welche der Regierung zur Verfügung<br />
stehen, Gebrauch machen, um zu ihren Nachfolgern<br />
ihre eigenen Fre<strong>und</strong>e erwählen zu lassen, damit diese<br />
dann wiederum sie stützen <strong>und</strong> verteidigen sollen.<br />
So würde also die Regierung in denselben Händen<br />
hin <strong>und</strong> her wandern, <strong>und</strong> die Demokratie, welche<br />
angeblich die Regierung aller, die » V o l k s h e r r -<br />
s c h a f t « ist, würde am Ende wie immer zur » Oligarchie",<br />
zur Herrschaft der Wenigen, einer privilegierten<br />
Klasse werden.<br />
Was für eine allmächtige, bedrückende, alles in<br />
sich aufsaugende Oligarchie wäre eine solche Regierung,<br />
welche die Sorge, d. h. Verfügungsrecht<br />
über allen gesellschaftlichen Reichtum, alle öffentlichen<br />
Dienstleistungen hätte, von der Verpflegung<br />
des Menschen bis zur Fabrikation der Zündhölzchen,<br />
von den Universitäten bis zu den Operettentheatern!<br />
Aber nehmen wir an, daß die Regierung nicht<br />
an <strong>und</strong> für sich eine privilegierte Klasse bildet, <strong>und</strong><br />
daß sie bestehen kann ohne rings um sich eine Klasse
- 39 -<br />
von privilegierten Menschen zu schaffen — daß sie<br />
also die Vertreterin, sagen wir die Dienerin der<br />
ganzen Oesellschaft bleiben würde. Wozu würde sie<br />
dann dienen? In was <strong>und</strong> wie würde sie die Kraft,<br />
die Intelligenz, den Geist der Solidarität, die Sorge<br />
für das Wohl Aller <strong>und</strong> der zukünftigen Menschheit,<br />
die zur gegebenen Zeit innerhalb der Menschheit bestünden,<br />
vermehren können?<br />
Es ist immer dieselbe Geschichte vom gefesselten<br />
Menschen, welcher, da er t r o t z seiner Fesseln leben<br />
kann, glaubt, daß diese Fesseln zu seinem Leben notwendig<br />
sind.<br />
Wir sind gewohnt, unter einer Regierung zu<br />
leben, die alle Kräfte, alle Intelligenz, jeden Willen,<br />
den sie für ihre eigenen Zwecke benützen kann, in<br />
Beschlag nimmt, <strong>und</strong> alle jene, welche sie nicht<br />
braucht oder welche ihr feindlich sind, hindert, lähmt<br />
<strong>und</strong> unterdrückt — <strong>und</strong> wir bilden uns ein, daß<br />
Alles, was in der Gesellschaft geschieht, das Werk<br />
der Regierung ist <strong>und</strong> daß ohne Regierung weder<br />
die Gesellschaft noch die Kraft, die Intelligenz oder<br />
der gute Willen der Menschen weiterbestehen würde.<br />
So läßt z. B. der Gr<strong>und</strong>besitzer den Boden für seinen<br />
eigenen Profit bebauen: er läßt dem Arbeiter nur<br />
soviel vom Ertrag übrig, daß derselbe für ihn weiter<br />
arbeiten kann <strong>und</strong> will — <strong>und</strong> der geknechtete Arbeiter<br />
glaubt, daß er ohne Arbeitgeber nicht leben<br />
könnte, als ob dieser den Boden <strong>und</strong> die Naturkräfte<br />
erschaffen hätte!<br />
Womit kann eine Regierung die geistigen <strong>und</strong><br />
materiellen Kräfte, die in einer Gesellschaft bestehen,
- 40 —<br />
vermehren? Ist sie vielleicht wie der Gott der Bibel,<br />
der etwas aus nichts zu erschaffen vermag? Da in<br />
der ganzen Natur nichts »erschaffen« worden ist, so<br />
wird auch in der komplizierten Form der Natur, die<br />
wir die menschliche Gesellschaft nennen, nichts »erschaffen«.<br />
Darum kann die Regierung nur die schon<br />
vorhandenen Kräfte v e r w e n d e n , ausgenommen jene<br />
großen Kräfte, die sie durch ihre eigene Tätigkeit<br />
lahmlegt <strong>und</strong> zerstört — die Kräfte der Empörung,<br />
die Kraft, die sich in den unvermeidlichen, sehr zahlreichen<br />
Reibungen einer so künstlichen Maschine als<br />
es die s t a a t l i c h e Gesellschaft ist, verlieren.<br />
Und wenn sie ihrerseits etwas zu den guten Kräften<br />
der Gesellschaft beiträgt, so geschieht das durch die<br />
persönlichen Handlungen der Herrschenden als<br />
M e n s c h e n <strong>und</strong> n i c h t als Regierende. Und endlich<br />
wird nur der allergeringste Teil der materiellen<br />
<strong>und</strong> moralischen Kräfte, über welche die Regierungen<br />
verfügen, wirklich zum wahren Nutzen der Gesellschaft<br />
verwendet. Die meisten werden entweder dazu<br />
benützt, um die rebellischen Kräfte der Menschen im<br />
Zaume zu halten oder zum ausschließlichen Profit<br />
einiger Leute <strong>und</strong> zum Schaden des größten Teiles<br />
der übrigen Menschen gebraucht.<br />
Man hat sich lange darum herumgestritten, in<br />
wie weit das Leben <strong>und</strong> der Fortschritt der menschlichen<br />
Gesellschaft von den Handlungen Einzelner<br />
beeinflußt werden, <strong>und</strong> in wie weit sie das Ergebnis<br />
der »gesellschaftlichen Handlungen« sind. Mit allerlei<br />
Kunstgriffen der Sprache <strong>und</strong> der Philosophie hat<br />
man die Sache so verwickelt, daß es ganz gewagt
setzen müsse. Diese Einsicht mußte einmal<br />
in eine greifbare Tatsache umgesetzt werden,<br />
die Einsicht, daß die Proletarier eine Macht<br />
seien, der zur ausschlaggebenden Bedeutung<br />
nur der Wille fehle.<br />
Ich für meine Person halte dafür, daß<br />
sich die Wünsche des Kongresses von<br />
Bourges verwirklicht haben.<br />
Was den Achtst<strong>und</strong>entag anlangt, hat<br />
der 1. Mai 1906 das Ende der Periode des<br />
Besinnens, des Studierens <strong>und</strong> unfruchtbaren<br />
Theoretisierens für die Gewerkschaftsbewegung<br />
bedeutet. Er ist der ersehnte Ausgangspunkt<br />
eines Feldzuges der Taten, nicht<br />
mehr nur der Gedanken, geworden.<br />
Was die geistige Verfassung der Arbeiterschaft<br />
betrifft, sind die Ergebnisse die<br />
denkbar besten gewesen. Zunächst die Agitation:<br />
18 Monate hindurch ist ohne Nachlassen<br />
mit einer Energie <strong>und</strong> Umsicht gekämpft<br />
worden, wie man sie nie vorher<br />
erlebte. In ebenso unerhörtem Grade ist es<br />
gelungen, die gesamte Arbeiterschaft in der<br />
Ueberzeugung zu einigen, daß es sich um<br />
eine allgemeingültige Forderung handle.<br />
Und das Leben am 1. Mai 1906 selber:<br />
Das hätte man sollen mit ansehen dürfen!<br />
Eine Einheit des Fühlens <strong>und</strong> Wollens zu<br />
Stadt <strong>und</strong> Land, in ganz Frankreich umher,<br />
wie sie herrlicher die tiefgrabende Wucht<br />
der Propaganda nicht hätte beweisen können.<br />
Das französische Proletariat hat aus<br />
dieser seiner Aktion, die es Mann an Mann<br />
geschart gewagt hatte, einen unberechenbaren<br />
Gewinn gezogen: Ein gefestigtes<br />
Selbstvertrauen <strong>und</strong> die Gewißheit, daß<br />
derartige Massenerhebungen, Vorspiele des<br />
endgültigen Generalstreiks möchte man sie<br />
nennen, die notwendige Gymnastik des<br />
Proletariats sind, falls es die Macht des<br />
Kapitalismus ernstlich niederringen will.<br />
Nun hat man sich freilich auf seiten<br />
unserer theoretischen Gegner wohl oder<br />
übel dazu entschließen müssen, die Früchte<br />
der Direkten Aktion anzuerkennen, soweit<br />
ihr Saft <strong>und</strong> Mark in der Verdichtung des<br />
proletarischen Klassenbewußtseins <strong>und</strong> Klassenwillens<br />
besteht. Die Schätzung der praktisch<br />
durch die Direkte Aktion erzielten<br />
Vorteile dagegen: Da weiß man vielorts<br />
wenig zu rühmen; ja gewisse Leute versteifen<br />
sich darauf zu behaupten, daß sie<br />
solche überhaupt nicht entdecken könnten.<br />
Gerade von diesen materiellen Errungenschaften<br />
— denn sie sind da — möchte<br />
ich ein kleines Bild geben.<br />
Am Kopf dieser Liste steht mit Fug<br />
<strong>und</strong> Recht, als eine unmittelbare Maieroberung<br />
des Proletariats, der Wöchentliche<br />
Ruhetag. In Paris <strong>und</strong> in verschiedenen<br />
Provinzstädten haben die Koiffeurgehilfen<br />
von diesem Tage ab, — <strong>und</strong> längst v o r der<br />
Annahme des Gesetzes im Parlament — den<br />
Meistern die Verpflichtung auferlegt, ihre<br />
Buden einmal wöchentlich t a g ü b e r zu<br />
schließen. Die Annahme des diesbezüglichen<br />
Gesetzes ist lediglich dem Druck<br />
zuzuschreiben, den die Achtst<strong>und</strong>entagbewegung<br />
auf die Kammern ausgeübt hat.<br />
Neben dem wöchentlichen Ruhetag,<br />
der vom Mai 1906 an Praxis geworden ist,<br />
steht eine zweite Verbesserung derselben<br />
Art, ihr Widerspiel gleichsam: Die »englische<br />
Woche«, die die Schließung von<br />
Arbeitsplätzen, Werkstätten <strong>und</strong> Fabriken<br />
für d e n S a m s t a g N a c h m i t t a g mit<br />
sich bringt. In vielen, namentlich metallurgischen<br />
Werkstätten <strong>und</strong> Fabriken ist<br />
vom 1. Mai ab diese »englische Woche«<br />
eingeführt <strong>und</strong> hat sich heute mehr <strong>und</strong><br />
mehr eingelebt.<br />
Im Baufach sind, vornehmlich in der<br />
Hauptstadt, ganz beträchtliche Fortschritte<br />
erzielt worden, moralische wie materielle.<br />
Die Steinhauer beziehen 85 <strong>und</strong> 90 Centimes<br />
statt 75; die Verputzarbeiter beziehen<br />
trotz einer Herabsetzung der Arbeitszeit<br />
von zehn auf neun St<strong>und</strong>en nach wie vor<br />
12 Franken pro Tag. Maurer von der Art<br />
der Mörtelmaurer beziehen 70 bis 75 statt<br />
60 bis 65 Centimes. Andere, die Gipsarbeiter<br />
sind um 5 Centimes die St<strong>und</strong>e<br />
gestiegen, nachdem sie vorher 75 bis<br />
80 Centimes bezogen hatten. Ähnliche<br />
Lohnerhöhungen haben auch die hierhergehörigen<br />
Handlanger erlangt. Ganz allgemein<br />
aber ist, <strong>und</strong> zwar vor der Aktion<br />
des Parlaments, der wöchentliche Ruhetag<br />
durchgesetzt worden. Noch bezeichnender<br />
aber als es diese materiellen Erfolge sind,<br />
ist ein moralischer: Vordem nahm man auf<br />
einem Arbeitsplatz sein Beispiel an dem,<br />
der sich am meisten ins Zeug legte <strong>und</strong><br />
schwitzte: h e u t e r i c h t e t m a n s e i n<br />
T e m p o m e h r n a c h d e m K a m e r a d e n<br />
ein, der Eile mit Weile verbindet. Das<br />
greift so um sich, daß die Arbeitsleistung,<br />
die ein Kleinunternehmer erhält, sich jetzt<br />
um 20 bis 25 Prozent, diejenige, die für<br />
den großen Unternehmer bleibt, um ungefähr<br />
30 Prozent vermindert hat. Die unmittelbare<br />
Folge dieser moralischen Wandlung<br />
ist die, d a ß e i n B a u l ä n g e r zu<br />
tun g i b t , o d e r d a ß m a n m e h r Arb<br />
e i t e r a n s t e l l e n muß.<br />
Die Baumaler haben Lohnerhöhungen<br />
erwirkt <strong>und</strong> wenn die Schreiner, außer<br />
seitens weniger Firmen, fast nichts gewonnen<br />
haben, so hat sich ihre gewerkschaftliche<br />
Einigung doch stärker geschlossen.<br />
Die Erdarbeiter haben ähnliche Erfolge<br />
erzielt. Die tubistes unter ihnen, die 9 St<strong>und</strong>en<br />
in geschlossenen Caissons unter Wasser arbeiteten,<br />
haben den Achtst<strong>und</strong>entag erlangt<br />
<strong>und</strong> ihren Lohn behauptet. Die übrigen<br />
haben mit Erfolg die Forderung aufgestellt,<br />
daß in neuen öffentlichen Bauanlagen der<br />
Achtst<strong>und</strong>entag zu erproben sei. Außerdem<br />
ist ihre Gewerkschaft von 800 zu 3000 Mitglieder<br />
emporgeschnellt. Ähnliche Resultate<br />
sind auch in der Provinz vielfach erzielt<br />
worden.<br />
Im Lederverarbeitungs- <strong>und</strong> Kürschnergewerbe<br />
der Hauptstadt ist es den Arbeitern<br />
gemeinhin gelungen, ihre Bezüge um mindestens<br />
10 Prozent zu steigern. In Chaumont<br />
haben die Weißgerber den Achtst<strong>und</strong>entag<br />
bei gleichbleibendem Lohn<br />
errungen; in Annonay sind sie bis zum<br />
Neunst<strong>und</strong>entag vorgedrungen <strong>und</strong> haben<br />
sich e i n e h ö h e r e Bezahlung für die<br />
neunte St<strong>und</strong>e gesichert. In Dôle ist der<br />
Arbeitstag von elf bis zwölf zunächst auf<br />
zehn St<strong>und</strong>en herabgesetzt <strong>und</strong> der Lohn<br />
um 20 Prozent verbessert worden. Ähnliche<br />
Erfolge sind in Montluçon, Romans <strong>und</strong><br />
anderorts erzielt worden. In Lorient <strong>und</strong><br />
Lyon haben die Weber <strong>und</strong> Seiler ansehnliche<br />
Lohnerhöhungen gewonnen.<br />
Im Pariser Kupfer-, Goldschmiede- <strong>und</strong><br />
Schmuckgewerbe ist für die Spezialität in<br />
mehreren Häusern der Achtst<strong>und</strong>entag zugestanden<br />
worden <strong>und</strong> der Lohn von 6½<br />
auf 7 Franken 20 Centimes gestiegen. Frühere<br />
Arbeitsdauer: Zehn St<strong>und</strong>en. In sehr<br />
vielen Provinzstädten sind in erster Linie<br />
beträchtliche Verkürzungen der Arbeitszeit<br />
eingetreten. Im Pariser Buchdruck desgleichen<br />
<strong>und</strong> dazu noch Erhöhungen der<br />
vorher elenden Löhne. In der Lithographie<br />
kam man Dank einem prächtigen Vormarsch<br />
der Arbeiterschaft zu Gunsten des<br />
Achtst<strong>und</strong>entages vorläufig zu neun St<strong>und</strong>en.<br />
In der Lebensmittelbranche haben die<br />
Marseiller Köche den Neunst<strong>und</strong>entag, den<br />
wöchentlichen Ruhetag <strong>und</strong> eine Lohnerhöhung<br />
erobert; ähnlichen Erfolg haben<br />
die Bäcker <strong>und</strong> Limonadearbeiter errungen.<br />
In Limoges <strong>und</strong> Pau haben die Bäcker<br />
ihre Lage verbessern können.<br />
In der Metafturanche <strong>und</strong> Mechanik<br />
sind außer den für Paris schon erwähnten<br />
Ergebnissen solche namentlich seitens der<br />
Westinghouse-Werke, in Amiens, Lyon,<br />
Unieux usw. gewährt worden.<br />
Die Bekleidungsarbeiter, die noch zu<br />
wenig organisiert sind, hatten erst in<br />
wenigen Zentren ihre Forderungen aufgestellt;<br />
die Pariser Damenschneider bekamen<br />
15 Prozent Lohnerhöhung; die Konfektionsarbeiter<br />
der großen Firmen haben es zu<br />
einer Verkürzung der Arbeitszeit von zwölf<br />
auf zehn St<strong>und</strong>en bei gleichzeitigem Lohnzuschlag<br />
im Betrag eines halben Frankens<br />
pro Tag gebracht. In Lyon haben die Zuschneider<br />
<strong>und</strong> Konfektionsarbeiter sich eine<br />
ganze Reihe von Vorteilen gesichert: Neunst<strong>und</strong>entag,<br />
die »englische Woche«, Bezahlung<br />
der männlichen Arbeiter während<br />
der Militärkurse (28 <strong>und</strong> 13 Tage), der<br />
weiblichen um die Zeit ihrer Entbindung<br />
seitens der Fabrikanten.<br />
Diese kurze <strong>und</strong> notgedrungen unvollständige<br />
Übersicht über einige materielle<br />
Ergebnisse, die im Zusammenhang mit der<br />
Bewegung vom 1. Mai sich eingestellt<br />
haben, ist der schlagendste Beweisgr<strong>und</strong><br />
für den Wert der Direkten Aktion.<br />
Das ist auch der Gr<strong>und</strong>, warum die<br />
französischen Gewerkschaften ihr Augenmerk<br />
entschieden einer raschen Veränderung<br />
der ö k o n o m i s c h e n Verhältnisse zuwenden.<br />
Sie haben es praktisch erfahren, was alles<br />
sich mit Willen <strong>und</strong> Tatkraft tun läßt. Und<br />
nur dadurch. Durch eine Tat der ganzen<br />
Masse, die je länger je geschlossener wird,<br />
greifen sie ohne Zaudern <strong>und</strong> Zagen die<br />
kapitalistische Gesellschaft an, <strong>und</strong> ohne<br />
Unterlaß: Denn sie wissen, daß sie so die<br />
Bahn zum letzten Generalstreik öffnen, der<br />
uns vom Eigentum erlösen, uns Besessene<br />
von den Besitzern befreien wird. D u r c h<br />
uns selbst.• Emile Pouget*<br />
Ein Zwiegespräch mit<br />
Anatole France.<br />
In unserem amerikanischen Schwesterorgan<br />
„ M u t t e r E r d e " finden wir den Bericht über ein<br />
kurzes Gespräch, das eine russische Genossin mit<br />
dem berühmten französischen Dichter führte. Unter<br />
anderem kam sie auch auf ein Gebiet zu spreche;.,<br />
das internationales Interesse besitzt, <strong>und</strong> welchen<br />
Teil der Unterhaltung wir hiermit wiedergeben.<br />
«. . . <strong>Unser</strong> Gespräch lenkte bald über<br />
zu allgemeinen sozialen Fragen.<br />
«Ja», sagte Anatole France ruhig <strong>und</strong><br />
ernst, «ich bin ein Sozialist — in dem größtmöglichen<br />
Sinn dieses Wortes, in seinem<br />
gesellschaftlichen Sinn. Die P o l i t i k erscheint<br />
mir hingegen als nichts anderes<br />
denn als Verschwendung der Energie. Sobald<br />
Sozialisten die politische Arena betreten,<br />
werden sie notwendigerweise zu näheren<br />
Verbindungen mit den übrigen bürgerlichen<br />
Parteien gezwungen <strong>und</strong> müssen dadurch,<br />
um überhaupt existieren zu können, sich<br />
den gegebenen Verhältnissen anpassen. Das<br />
Resultat davon ist, daß sie, wie hier in<br />
Frankreich, von sehr geringer Bedeutung<br />
werden in dem Marsche des wirklichen<br />
sozialen Fortschrittes.»<br />
Dann wandte er sich an mich mit einer<br />
eigenartigen graziösen Bewegung <strong>und</strong><br />
fragte, während ein Strahl hellen Interesses<br />
über sein Antlitz huschte:<br />
«Fräulein sind wohl auch Sozialistin?»<br />
«Ja», antwortete ich, «aber gleichfalls<br />
in Ihrem Sinne — im umfassendsten Wortsinn».<br />
Und glücklich, nun Gelegenheit zu<br />
einer Frage zu haben, die ich gleich anfangs<br />
an ihn richten wollte, fragte ich:<br />
«Sind Sie nicht der Meinung, daß das<br />
großartigste, revolutionäre Mittel, das gegenwärtig<br />
in unserer Macht ist — in der Macht<br />
der arbeitenden Klasse — im G e n e r a l -<br />
s t r e i k besteht?»<br />
«Es gibt kein anderes soziales Mittel<br />
als dieses in der Gegenwart», antwortete<br />
* Redakteur des Organes der französischen, revolutionären<br />
Gewerkschaften „ L a V o i x du P e u p l e " .
er sofort <strong>und</strong> mit freudiger Erregung. «Es<br />
ist das großartigste Kampfesmittel, das wir<br />
besitzen. — Ah», seufzte er <strong>und</strong> schüttelte<br />
dabei langsam sein Haupt, «die marxistischen<br />
Theorien wurden zu einer Zeit geschrieben,<br />
als die Verhältnisse so ganz<br />
anders waren als heute! Alles hat sich so<br />
vollständig verändert — <strong>und</strong> Marx war<br />
kein Prophet.<br />
H e u t e b r a u c h e n w i r a n d e r e<br />
K a m p f e s m i t t e l u n d ü b e r a l l , w o e s<br />
s i c h u m s o z i a l e s W e i t e r s c h r e i t e n<br />
h a n d e l t , k a n n m a n d i e Z w e c k l o s i g -<br />
k e i t d e s P a r l a m e n t a r i s m u s b e o b -<br />
a c h t e n . Der Generalstreik ist, wie Sie sehr<br />
richtig sagten, Fräulein, das großartigste<br />
Kampfmittel . . . »<br />
Und als er sich erhob, um Abschied<br />
zu nehmen, wiederholte er nochmals:<br />
«Ja, Fräulein, d e r G e n e r a l s t r e i k<br />
ist e i n e w u n d e r v o l l e W a f f e , s i e<br />
e n t s p r i c h t d e n N o t w e n d i g k e i t e n<br />
u n d A n f o r d e r u n g e n d e s T a g e s . »<br />
Offizielles Protokoll<br />
des Internationalen Antimilitaristischen<br />
Kongresses<br />
gehalten zu Amsterdam, am 30.—31. August<br />
1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />
des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />
m e r h o rn.<br />
(Fortsetzung.)<br />
<strong>Unser</strong> Losungswort muß heißen: D i e<br />
A r b e i t e r s o l l e n k e i n S c h i f f , d a s für<br />
e i n e d e r k r i e g f ü h r e n d e n M ä c h t e<br />
b e s t i m m t ist, l a d e n o d e r l ö s c h e n !<br />
Dieses Vorgehen kann seine Wirkung<br />
nicht verfehlen, wenn nur die Arbeiter erkennen,<br />
über welche Kräfte sie verfügen<br />
können. Es ist die einzig zweckmäßige<br />
Friedenspolitik.<br />
Man muß auf diese Weise diejenigen<br />
Adern durchschneiden, welche den kriegführenden<br />
Militarismus ernähren, um den<br />
Krieg unmöglich zu machen. Von oben,<br />
von den Herrschern <strong>und</strong> Diplomaten, den<br />
Regierungen, den Bankiers <strong>und</strong> Finanzleuten,<br />
den Geschäftsmännern <strong>und</strong> Großindustriellen<br />
wird die Menschheit nie etwas<br />
Gutes erhalten. Ebensowenig wie von den<br />
Friedenskongressen der Regierungen, wo<br />
sich die Abgesandten von Tyrannen versammeln,<br />
deren Hände von Blut triefen,<br />
<strong>und</strong> die sich nicht um Maßnahmen zur<br />
Sicherung des Friedens kümmern, sondern<br />
nur um eine gesetzliche Regelung des<br />
Krieges, was etwas ganz anderes ist. Diese<br />
Leute könnten nicht einmal etwas tun, sogar<br />
wenn sie es wollten. Nein, d i e prod<br />
u k t i v e n A r b e i t e r s i n d es, u n d n u r<br />
s i e a l l e i n , d i e d e n F r i e d e n v e r w i r k -<br />
l i c h e n k ö n n e n u n d m ü s s e n !<br />
<strong>Unser</strong> Plan ist der folgende:<br />
Die organisierten Arbeiter des Wassertransportes<br />
(Seeleute, Schiffer, Hafenarbeiter<br />
usw.) sind schon in einem internationalen<br />
Verbände vereinigt. Wenn man unseren<br />
Vorschlag zur Boykottierung der kriegführenden<br />
Mächte auf die Tagesordnung<br />
des nächsten internationalen Kongresses<br />
der Transportarbeiter setzt, <strong>und</strong> wenn dieselben<br />
beschließen, durch Flugschriften,<br />
Versammlungen <strong>und</strong> durch ihre Zeitungen<br />
eine kräftige Propaganda dafür zu entwickeln,<br />
so werden wir bald überall eine<br />
Gruppe von Arbeitern haben, die in einemfort<br />
diese Idee verbreiten. Und wenn der<br />
Kongreß die Verwirklichung dieses Planes<br />
für den Fall eines Krieges beschließt, wird<br />
die Idee den ersten Schritt zur Verwirklichung<br />
getan haben.<br />
Außerdem haben wir noch die Arbeiter<br />
des Transportes zu Lande, das heißt die<br />
Eisenbahnarbeiter, die sich notwendiger-<br />
weise anschließen werden, um mit ihren<br />
Genossen gemeinsam vorzugehen. Die Arbeiter<br />
dieser zwei großen Arbeitszweige<br />
sind schon allein im Stande, jeden Krieg<br />
unmöglich zu machen. Tun sie es nicht,<br />
dann sind s i e dafür verantwortlich, daß<br />
die Truppen an die Grenze gehen, um sich<br />
zu schlagen; daß die Beförderung der Kanonen,<br />
der Munition, der Lebensmittel vor<br />
sich geht <strong>und</strong> dadurch jede Bewegung der<br />
Armeen vollkommen möglich wird.<br />
Die Frage ist: Wie können wir Sozialisten,<br />
sofort, auf die wirksamste Art den<br />
Kapitalismus bekämpfen? Der Sozialismus<br />
verbreitet sich überall, aber sollen die Sozialisten<br />
untätig dastehen, wenn es zu einem<br />
Kriege kommt, <strong>und</strong> sich mit Protestresolutionen<br />
wider die kampfführenden Mächte<br />
begnügen?<br />
Wir dürfen nie vergessen, daß der<br />
Militarismus die letzte Schutzmauer des<br />
Kapitalismus ist.<br />
Der Kapitalismus ist der einzige Feind<br />
des Proletariers, welcher kein Vaterland hat.<br />
Nichts gehört ihm von all dem, was man<br />
Vaterland nennt. Er wird überall ausgebeutet.<br />
Er kennt keine Grenzen, denn überall<br />
wird er verfolgt <strong>und</strong> dem Hunger geopfert.<br />
—<br />
Hier müssen wir auf eine Einwendung<br />
antworten, die man von einer gewissen<br />
Seite gegen unsere Propaganda erhebt.<br />
Die Sozialdemokraten behaupten, daß der<br />
Kampf gegen den Militarismus keine große<br />
Bedeutung hat <strong>und</strong> haben kann. Da der<br />
Militarismus aus dem Kapitalismus hervorgeht,<br />
wird er — so sagen sie — von<br />
selbst verschwinden, sobald wir den Kapitalismus<br />
besiegt haben. Das ist die sozialdemokratische<br />
Formel, die jede Pforte<br />
zum Unsinn öffnet. Die Religion, das<br />
Königtum, der Alkoholismus u. s. w. werden<br />
alle »ganz von selbst« mit dem Kapitalismus<br />
verschwinden. Aber das ist unwahr.<br />
Denken wir nur an die Propaganda,<br />
die die Sozialdemokraten für die allgemeine<br />
Volksbewaffnung, das »Volksheer« machen,<br />
in dem auch von der Disziplin die Rede<br />
ist. Der preußische Kriegsminister von<br />
Einem hat sehr richtig bemerkt: » E i n e<br />
A r m e e , w i r d i m m e r e i n e A r m e e<br />
b l e i b e n , w a s i m m e r für e i n e n<br />
N a m e n m a n i h r g i b t . « Der sozialdemokratische<br />
Staat wird auch eine Armee<br />
nötig haben, um diejenigen zu unterwerfen,<br />
die sich seinen demokratisch-demagogischen<br />
Majoritäts-Gesetzen nicht fügen<br />
wollen. Die Sozialdemokraten greifen darin<br />
nur die F o r m <strong>und</strong> n i c h t das W e s e n<br />
des Militarismus an; <strong>und</strong> darum würde<br />
auch in i h r e m Staat, nach dem Verschwinden<br />
des Kapitalismus, eine antimilitaristische<br />
Propaganda notwendig sein.<br />
Also: Der Krieg zwischen den<br />
Völkern ist die Hinmordung der Arbeiter<br />
durch die Arbeiter selbst, um<br />
der. besitzenden Klasse, den Kapitalisten,<br />
zu dienen.<br />
Vergessen wir nicht die Worte des<br />
alten geriebenen Massenmörders Thiers:<br />
» E s g i b t n u r z w e i M i t t e l , u m d i e<br />
R u h e i m L a n d e h e r z u s t e l l e n : d a s<br />
s i n d d e r K r i e g n a c h A u ß e n u n d<br />
d i e A b s c h a f f u n g d e r V o l k s c h u -<br />
len.« Das heißt: um die »Ordnung, aufrecht<br />
zu erhalten, muß man die Proletarier<br />
entweder verdummen oder sie zu Kanonenfutter<br />
machen. Nun, wir antworten darauf:<br />
Wir wollen weder verdummt werden<br />
noch Kanonenfutter sein!<br />
(Fortsetzung folgt.)<br />
Mariaschein. Achtung! Die Belegschaftsorganisation<br />
Dobl-Hof Hl hält Sonntag den 5. Juli 1908,<br />
um 9 Uhr vormittags, im Gasthause „zur Fortuna"<br />
in Mariaschein ihre ganzjährige Generalversammlung<br />
ab.<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />
Öffentliche Erklärung.<br />
In einer Vereinsversammlung der „Allgemeinen<br />
Gewerkschaftsföderation" im III. Bez., Rennweg 71,<br />
erklärte ein gewisser Herr Bernt, der sich als Expedient<br />
der „Arbeiterzeitung" gerierte, daß die<br />
„ W i e n e r A n a r c h i s t e n u n t e r dem P r o t e k -<br />
t o r a t e d e r P o l i z e i s t e h e n . " Namens der in<br />
der Versammlung anwesend gewesenen Kameraden<br />
erkläre ich obgenannten Bernt für so lange als<br />
L ü g n e r <strong>und</strong> V e r l e u m d e r , bis er den Beweis<br />
für seine Behauptungen erbracht hat. Meine persönliche<br />
Angelegenheit werde ich anderwärts mit<br />
ihm zum Austrag bringen. Ernst Haidt.<br />
BEWEGUNGSNOTIZEN.<br />
Warnung. Ich warne die Genossen davor,<br />
sich der Kolonie Fotodatera bei Athen anzuschließen,<br />
da dieselbe nicht auf anarchistischer Gr<strong>und</strong>lage begründet<br />
<strong>und</strong> die Gegend überhaupt außerordentlich<br />
wasserarm ist. Mit Solidaritätsgruß<br />
Willi. Warschatka.<br />
*<br />
Sämtliche Artikel der letzten Nummer des<br />
„W. f. A." wurden stellenweise konfisziert <strong>und</strong> die<br />
Beschlagnahmeverfügung über Nr. 11 ausgesprochen.<br />
*<br />
Eine sehr große Anzahl Versammlungen fand<br />
während der letzten zwei Wochen statt. Wir erwähnen<br />
der Kürze halber nur die wichtigsten. Es<br />
sprach der Genosse Haidt über den „Streik als<br />
Waffe im Klassenkampf", der Genosse Felsenburg<br />
über die „Theorien Henry Georges <strong>und</strong> der Anarchismus".<br />
Eine prächtige Massenversammlung fand<br />
im X. Bez. statt, in der die Genossen Haidt, Drschewo<br />
<strong>und</strong> Ramus über „Österreichische oder moderne<br />
Gewerkschaftstaktik des Anarchismus" referierten.<br />
In der Versammlung des XVI. Bez. blamierten sich<br />
die Sozialdemokraten fürchterlich, weil sie unter<br />
großer Radaumacherei das Wahlrecht als „heilig"<br />
priesen, dieweil ihnen bewiesen ward, daß es nur<br />
ein Fetzen Papier ist, der gar keine ökonomische<br />
Wirksamkeit hat; auch ward ihnen gezeigt, daß die<br />
Beziehungen des Simon Starck zu den Christlichsozialen<br />
gerade dem parlamentarischen Sumpfe erwuchsen,<br />
in dem sich auch i h r e Wortführer befinden.<br />
Begeisternd verlief die Massenversammlung bei<br />
Holub, in der die Genossen Ramus <strong>und</strong> Haidt über<br />
die „Wertlosigkeit des Parlamentarismus für die<br />
Gewerkschaften" referierten; einige Sozialdemokraten,<br />
die sich zuerst eifrig Notizen gemacht, gestanden<br />
zum Schlüsse ein: „Wir haben nichts zu<br />
entgegnen, es ist alles wahr!" —<br />
Zu den an anderer Stelle vom Genossen L.<br />
ausführlich besprochenen Versammlungsereignissen<br />
des III. Bez. erhalten wir auch noch die folgende<br />
Mitteilung: Der Sozialdemokrat <strong>und</strong> Vertrauensmann<br />
Arpad Bacher, der schließlich ehrliche Anständigkeit<br />
von gemeinster Brutalität zu unterscheiden vermag,<br />
rief seine Genossen zur Ruhe, indem er ihnen das<br />
Schändliche ihres Tuns vorhielt. „So handelt ihr<br />
als Sozialdemokraten?" rief er ihnen zu. <strong>Weg</strong>en<br />
dieser Worte wurde er von den eigenen „Genossen"<br />
u. a. von seinem Kollegen Kral im Aktionskomitee<br />
— mit Fäusten, Stöcken <strong>und</strong> Sesseln bearbeitet.<br />
Die Sozialdemokraten können sich nach diesem<br />
Vorfall um einen anderen Vertrauensmann umsehen;<br />
sie haben für uns gearbeitet, denn aus d i e s e m<br />
Sozialdemokraten wird bald ein Anarchist werden.<br />
Belehrt durch die eigenen „Genossen" !<br />
4:-<br />
A c h t u n g ! Von vertraulicher Seite erhalten<br />
wir die Mitteilung, daß die Gewerkschaftskommission<br />
an die verschiedenen Bezirksleitungen<br />
die Weisung ergehen läßt, die anarchistischen<br />
Gewerkschaftsversammlungen unter allen Umständen<br />
zu sprengen. Wir warnen die Herren<br />
vor solchem Tun. Denn für uns m u ß es dann<br />
heißen: Für j e d e gesprengte anarchistische<br />
Versammlung eine gesprengte sozialdemokratische<br />
Versammlung!<br />
Briefkasten.<br />
Breuer. Verspätet erhielt ich Deinen Brief,<br />
lieber Kamerad! Ich drücke Dir im Geiste herzlich<br />
die Hand! — Warnung an alle Arbeiterorganisationen.<br />
Wir warnen vor einem Individuum namens<br />
R i c h a r d H e i j e r , das uns zumindest 40 Kronen<br />
veruntreut <strong>und</strong>, wie wir erst jetzt erfahren, dasselbe<br />
Spiel mit der sozialdemokratischen „Volkstribüne"<br />
getrieben hat. Sollte der Betreffende seine Schuld<br />
tilgen, werden wir dies bekannt geben. -- R. B.<br />
Bedauren, nicht druckreif, lieber Prosa versuchen.<br />
— Nagy Antal. Besten Dank für Bericht, weiteres<br />
stets willkommen; auch Skizze kommt in „Ohne<br />
Herrschaft". — Gillespie, Spokane. Herzensdank<br />
für erfrischende Solidaritätsworte <strong>und</strong> Geldsendung.<br />
Die „Prinzipienerklärung" in der Mainummer des<br />
„W. f. A." wird Ihnen die hiesige Situation klar<br />
machen. Dahier verfolgen wir mit großem Interesse<br />
Eure Entwicklung aus Eurem „Industrial Bulletin",<br />
Hütet Euch vor den intriganten Politikern a l l e r<br />
Parteien, <strong>und</strong> Ihr werdet die Erfüllung des sozialrevolutionären<br />
Ideals der Freiheit <strong>und</strong> insbesondere<br />
der amerikanischen werden. Kampfesgruß! Fred,<br />
Brooklyn. Für diese Nummer zu spät, für nächste.<br />
Dank <strong>und</strong> Herzensgruß! —
Gewerkschaft der Schuhmacher Wiens,<br />
Grosses Gartenfest<br />
verb<strong>und</strong>en mit<br />
Tanzunterhaltüng, Gesang, Juxhazar etc. etc.<br />
am Sonntag den .12. Juli 1908<br />
in<br />
J . Holubs Saallokalitäten<br />
XIV., Huglgasse 15.<br />
= = = = = ANFANG 3 UHR NACHMITTAGS. = = = = =<br />
Karten im V o r v e r k a u f 30 h, an d e r K a s s a 50 h.<br />
Das Fest, zu dessen zahlreichem Besuch wir<br />
dringend unsere Wiener Kameraden auffordern,<br />
findet bei jeder Witterung statt.<br />
Der christliche Staat.<br />
Von<br />
H o f f m a n n v o n F a l l e r s l e b e n .<br />
Seht, wie schwer die Ähren schaukeln,<br />
Wie am Baum die Äpfel gaukeln!<br />
s' wächst so viel auf dieser Erde,<br />
Doch für unser einen nicht.<br />
Vieh auf Weiden, Wild in Wäldern,<br />
Korn <strong>und</strong> Futter auf den Feldern.<br />
Reben an der Berge Rücken,<br />
Gerst' <strong>und</strong> Hopfen zum Entzücken.<br />
Fisch' in Teichen, Vögel in Lüften,<br />
Gold <strong>und</strong> Silber in den Klüften.<br />
Wenigen gehört das Beste —<br />
Ach, wir andern sind nur Gäste.<br />
Nicht ein Halm, nicht eine Blume,<br />
Ward uns hier zum Eigentume.<br />
Sind die Hohen <strong>und</strong> die Reichen<br />
Sind nicht alle unsersgleichen ?<br />
Sollen denn die Güter werden<br />
Nie gemeinsam hier auf E r d e n ?<br />
's wächst so viel auf dieser Erde,<br />
Doch für unser einen nicht.<br />
Tatsächliches.<br />
Eine statistisch so langweilig gründliche<br />
Arbeit, daß man sie fast für das Blaubuch<br />
einer Regierung halten könnte, bietet<br />
die gewiß seitenstarke erste Juninummer<br />
der «Gewerkschaft» dar. Sie weist die Stärke<br />
<strong>und</strong> Leistungsfähigkeiten der Gewerkschaften<br />
Österreichs im Jahre 1907 aus.<br />
Gleich anfangs ist es wichtig, auf den<br />
vielsagenden Umstand hinzuweisen, daß<br />
dieses Zentralorgan der österreichischen<br />
Gewerkschaftsbewegung, die eine halbe<br />
Million Mitglieder umfaßt, keine Kampfesoder<br />
Agitationsschrift darstellt, überhaupt<br />
von einer lächerlich geringen Zahl Organisierter<br />
gelesen wird. Laut eigener Angabe<br />
besitzt die «Gewerkschaft» eine Auflage<br />
von 3600 Lesern, sie ist also nichts als eine<br />
Zeitschrift für die Beamten der Gewerkschaften,<br />
wird von den Mitgliedern nicht<br />
beachtet.<br />
Aus der Tagespresse haben unsere<br />
Leser bereits die Einzelheiten dessen erfahren,<br />
was dieses Heft bringt. Uns interessiert<br />
vornehmlich dasjenige, was das Heft nicht<br />
bringt. Da ist vor allem das eine ganz<br />
unsichtbar geblieben: bei aller Gründlichkeit<br />
hat die Gewerkschaftskommission es<br />
unterlassen oder «vergessen», eine detaillierte<br />
Aufstellung v o n d e n G e h ä l t e r n<br />
d e r d i v e r s e n F u n k t i o n ä r e zu geben.<br />
Darüber verlautet kein Wort <strong>und</strong> nach wie<br />
vor verbleibt dieser hochwichtige Umstand<br />
für die breite Öffentlichkeit, wie auch die<br />
eigenen Mitglieder, ein «dunkles Problem»,<br />
über das man wohl Schlüsse ziehen, aber<br />
unmöglich Bestimmtes erfahren kann.<br />
Einen ungefähren Anhaltspunkt bieten<br />
die d r e i Posten über «sachliche Verwaltung,<br />
persönliche Verwaltungskosten <strong>und</strong> sonstige<br />
Ausgaben», die man nicht fehl geht zusammenzuziehen,<br />
worauf sich insgesamt<br />
2 Millionen 123.638 Kronen 80 h ergeben<br />
oder in anderen Worten 30 Prozent aller<br />
Gesamtausgaben werden konstituiert durch<br />
die diversen Verwaltungskosten. Das ist<br />
erschrecklich viel <strong>und</strong> beweist uns die öde<br />
zentralistische Bureaukratenwirtschaft der<br />
österreichischen Gewerkschaftsbewegung;<br />
ganz davon zu geschweigen, daß sich allein<br />
die «sonstigen Ausgaben» bis in die H<strong>und</strong>erttausende<br />
belaufen.<br />
Noch ein anderes charakteristisches<br />
Merkmal. Für allerlei Unterstützungseinrichtungen<br />
gaben die Gewerkschaften im<br />
Jahre 1907 2 Millionen 841.339 Kronen, für<br />
ökonomische Kämpfe in derselben Zeit nur<br />
1 Million 825.587 Kronen aus. Bedarf es<br />
eines beredteren Zeugnisses dafür, daß die<br />
Gewerkschaften vornehmlich z w e c k s Unterstützungseinrichtungen<br />
bestehen <strong>und</strong> erst<br />
in zweiter <strong>und</strong> letzter Hinsicht behufs ökonomischer<br />
Kämpfe? Wenn die 2 ¾ Millionen<br />
Unterstützungsgelder in zweckdienlicher<br />
Weise für die Begründung sozialistischer<br />
Produktivgenossenschaften verwandt würden<br />
— wer bedürfte da noch der diversen<br />
armseligen Unterstützungen, die aus diesem<br />
Fonds gewährt werden?<br />
Wir haben es stets behauptet: W e n n<br />
das ganze eingenommene Geld wirklich<br />
zu Kampfeszwecken verwendet würde, es<br />
wäre noch nicht das schlimmste. Aber leider<br />
ist der größte Teil der vereinnahmten<br />
Gelder blos dazu bestimmt, die Härten des<br />
bestehenden Systems in ganz unzweckmäßiger,<br />
nichtsdestoweniger einschläfernder<br />
Weise zu «lindern», zu «beheben». So<br />
werden die Gewerkschaften zu Stützpfosten<br />
des kapitalistischen Systems, statt revolutionäre<br />
Kampfesgruppierungen zu sein.<br />
Auch die halbe Million an Mitgliedern<br />
haben die österreichischen Gewerkschaften<br />
erreicht. Würden sie sie aber haben, wenn<br />
sie k e i n e Unterstützungseinrichtungen besäßen?<br />
Wir bezweifeln es stark. In Frankreich<br />
hat die Sozialrevolutionäre Gewerkschaftsbewegung<br />
r<strong>und</strong> 400.000 Mitglieder;<br />
sie könnte wenigstens das Dreifache haben,<br />
wenn sie auch Unterstützungseinrichtungen<br />
einführte. Sie verschmäht es, denn ihr gilt<br />
der Kampf wider den Kapitalismus als die<br />
Hauptsache.<br />
Dafür aber bilden ihre 400.000 Mann<br />
eine Kerntruppe sozialrevolutionärer Aktion.<br />
Die französische Gewerkschaftsbewegung<br />
ist eine Organisation, der die Zukunft des<br />
Sozialismus gehört. Von der österreichischen<br />
läßt sich dies nicht behaupten; sie wird<br />
ganz anders werden müssen, um es je sein<br />
zu können.<br />
Begründung freier Schulen<br />
durch Gewerkschaften.<br />
Der Kongreß der revolutionär-gewerkschaftlichen<br />
Organisation der f r a n z ö s i s c h e n Volksschullehrer<br />
hat beschlossen, im nächsten Jahre -<br />
t r o t z d e m V e r b o t e d e r R e g i e r u n g — einen<br />
gemeinschaftlichen Kongreß der Volksschullehrer<br />
<strong>und</strong> der Arbeiterorganisationen abzuhalten; <strong>und</strong><br />
damit haben sie die Frage der gewerkschaftlichen<br />
Schule aufgeworfen. Wenn nämlich wegen dem<br />
Kongresse ein oder mehrere Lehrer von der R e -<br />
gierung strafweise entlassen werden, wie es ganz<br />
bestimmt der Fall sein wird, werden die Arbeiter-<br />
Organisationen unvermeidlich dazu getrieben, diese<br />
Opfer der Regierungswillkür mit ihrer Solidarität<br />
zu unterstützen. Um das zu tun, gibt es nichts<br />
Einfacheres, als in Verbindung mit den Gewerkschaften<br />
eine oder mehrere freie Schulen zu eröffnen,<br />
in der diese Lehrer die Kinder der Kameraden erziehen<br />
können. Übrigens hat sich auch schon der<br />
letzte Kongreß der Gewerkschaftsföderation der<br />
r o m a n i s c h e n S c h w e i z dieser T a g e mit der<br />
gleichen Frage befaßt; aus diesem Anlaß sind die<br />
trefflichen W o r t e unseres Schweizer Kameraden<br />
J. W i n t s c h geschrieben worden, die wir im folgenden<br />
wiedergeben:<br />
Wir müssen unseren Blick auf die Zukunft<br />
richten.<br />
Da haben wir zwischen uns eine<br />
Menge kleiner Wesen, welche die Menschheit<br />
der nächsten Zukunft bilden werden<br />
<strong>und</strong> die uns die Möglichkeit zur Erfüllung<br />
all unserer Bestrebungen bieten — u n s e r e<br />
K i n d e r ; <strong>und</strong> wir lassen sie durch uusere<br />
ärgsten Feinde erziehen! So kommt es, daß<br />
man dann in ein paar Jahren einen Sohn,<br />
einen Bruder, einen Arbeitskameraden neben<br />
sich hat, der in seinem ganzen Wesen eine<br />
kräftige Stütze der heutigen Ordnung ist.<br />
Der kapitalistische Staat hat geschickt<br />
gearbeitet, indem er gerade aus diesem<br />
Proletarierkinde, welches ebenso wie<br />
seine Familie von allem Besitz <strong>und</strong><br />
Lebensglück ausgeschlossen ist, das sein<br />
ganzes Leben lang ausgebeutet, geknechtet,<br />
mißhandelt <strong>und</strong> verachtet sein wird, ein<br />
Werkzeug dazu gemacht hat, um mit aufgepflanztem<br />
Bajonett die Lohnsklaven in<br />
ihre elenden Höhlen zurückzutreiben, wenn<br />
dieselben eine Verbesserung ihres harten<br />
Loses verlangen.<br />
Die jungen Leute — Arbeiter oder<br />
Bauernburschen — aus der Mitte der Arbeiterklasse<br />
herauszunehmen <strong>und</strong> sie zu<br />
gebrauchen, um die Knechtschaft dieser<br />
selben Arbeiterklasse, so wie die Vorrechte<br />
der Regierenden, der Kapitalisten, der verschiedenen<br />
Schmarotzer aufrecht zu erhalten<br />
— das ist es, was die herrschende<br />
Klasse durch ihre offizielle obligatorische<br />
Schule erreichte. Die Bourgeoisie geht nicht<br />
auf Umwegen auf ihr <strong>Ziel</strong> los. Um uns zu<br />
unterdrücken, nimmt sie uns das Beste, was<br />
wir haben: unsere Kinder.<br />
Lassen wir uns das gefallen? Und<br />
wollen wir dann allerlei Heilmittelchen
suchen, um die Ausbeutung erträglicher zu<br />
machen? Es ist Zeit, diesem Zustand abzuhelfen,<br />
<strong>und</strong> unseren Herren nicht länger<br />
gutmütig, d u r c h u n s e r e K i n d e r , die<br />
menschlichen Werkzeuge der Reaktion selbst<br />
in die Hand zu geben. D i e O r g a n i -<br />
s i e r u n g v o n g e w e r k s c h a f t l i c h e n<br />
S c h u l e n , d i e v o n d e n A r b e i t e r n<br />
s e l b s t g e g r ü n d e t , e r h a l t e n u n d bea<br />
u f s i c h t i g t w e r d e n , ist w i c h t i g e r<br />
a l s a l l e U n t e r s t ü t z u n g s e i n r i c h -<br />
t u n g e n d u r c h d e n S t a a t , d i e w i r<br />
a u c h s e l b s t u n d t e u e r z u b e z a h l e n<br />
h a b e n . Streikenden zu helfen ist gut; eigene<br />
Schulen zu haben, ist noch besser.<br />
Wir richten hier das Wort sowohl an<br />
die sozialdemokratischen, wie an die anarchistischen<br />
Arbeiter. Die Arbeiter müssen<br />
endlich, was immer für einer Geistesrichtung<br />
sie angehören, danach trachten, s i c h<br />
s e l b s t zu g e n ü g e n . Es ist ein Rest des<br />
religiösen Aberglaubens, wenn sie sich einbilden,<br />
daß der Staat oder die zentralistischen<br />
Gewerkschaften, daß«guteGesetzgeber» oder<br />
ehrliche Gewerkschaftsbeamte uns unser<br />
Glück schaffen können. Sicherlich werden<br />
wir nur das haben, w a s w i r u n s s e l b s t<br />
e r k ä m p f e n . Durch das selbständige<br />
Handeln, die direkte Aktion, wird die<br />
Arbeiterklasse ihre wahre gesellschaftliche<br />
Aufgabe erfüllen, nur dadurch wird sie sich<br />
frei <strong>und</strong> stolz entwickeln, ihre lebenerneuernde<br />
<strong>und</strong> wohltätige Kraft, die sie besitzt,<br />
beweisen <strong>und</strong> am besten die allgemeine<br />
Achtung vor der alles schaffenden Arbeit<br />
sichern.<br />
Mehr als alles andere, verlangt die Erziehung<br />
der Kinder Ehrlichkeit. Die disziplinierten,<br />
religiösen, patriotischen Schulen<br />
der Bourgeoisie stopfen nur den Respekt<br />
vor der bestehenden Ordnung in unsere<br />
Kinder — d. h. Achtung vor der grauenhaftesten<br />
Unordnung <strong>und</strong> sozialer Ungerechtigkeit,<br />
die man sich vorsteilen kann.<br />
Die staatlichen Schulinstitute vergiften uns<br />
mit dem Geist der Resignation, oft mit dem<br />
der Heuchelei aus Furcht vor der Rute,<br />
mit einer absterbenden Religion, mit dem<br />
Patriotismus, der dazu dient, uns gegen<br />
unsere Proletarierbrüder zu bewaffnen. Es<br />
ist noch ein Glück, wenn die niederen<br />
Schulklassen uns nicht zu Streikbrechern<br />
erziehen, wie das die höheren Schulen —<br />
siehe nach Parma — tun. Genug davon.<br />
Viele Arbeiter wollen heute nicht mehr,<br />
daß man ihnen ihre Kinder nehme; sie<br />
wollen nicht, daß dieselben zu willigen<br />
Dienern der Bourgeoisie erzogen werden;<br />
sondern im Gegenteil: s i e w o l l e n , d a ß<br />
s i e g l ü c k l i c h , k a m p f e s f r e u d i g '<br />
s c h a f f e n s f ä h i g , k l a s s e n b e w u ß t<br />
e r z o g e n w e r d e n , daß sie die ges<strong>und</strong>e<br />
nützliche Arbeit lieben <strong>und</strong> die<br />
Lüge, den Zwang der Regierungen, des<br />
Militarismus, der Kirche nicht mehr anerkennen<br />
sollen. Und es ist gut so.<br />
Übrigens ist in so einem Wunsche gar<br />
nichts Unmögliches gelegen. Schon vor<br />
zwanzig Jahren hatten die spanischen anarchistischen<br />
Arbeiter von Katalonien ein<br />
Lokal, in dem sie an Sonntagen ihre Versammlungen<br />
hielten, an Wochentagen zur<br />
Schule hergerichtet. Sie wählten einen<br />
tüchtigen Genossen als Lehrer, dem sie<br />
durch Beiträge, so gut es ging, halfen, teils<br />
mit Geld, teils mit Lebensmitteln usw. Die<br />
Schule wurde in ganz volkstümlichem Sinne<br />
geführt, <strong>und</strong> vielleicht war sie es, die unseren<br />
Fre<strong>und</strong> Ferrer zu seinem w<strong>und</strong>erbaren<br />
Werk, der Gründung seiner freiheitlichen<br />
»Modernen Schule«* begeisterte.<br />
* Der letzten Nummer des vom Genossen<br />
Ferrer begründeten Propagandaorgans „Die renovierte<br />
Schule" entnehmen wir die Ankündigung von<br />
der Etablierung <strong>und</strong> Neubegründung seiner freiheitlichen<br />
Schulinstitute in Brüssel <strong>und</strong> — was uns<br />
ganz insbesondere freut — in Rom. Anm. d. Red.<br />
In letzterer Zeit ist eine Gewerkschaftsschule<br />
zu erwähnen, die die mächtige<br />
anarchistische G e w e r k s c h a f t d e r F u h r -<br />
l e u t e i n B u e n o s A y r e s gegründet hat.<br />
Es ist dies, denken wir, eine sehr hoffnungsvolle<br />
Tatsache. Dieses Bestreben der Arbeiter,<br />
daß ihre Kinder stärker, besser <strong>und</strong><br />
freier werden wie sie, zeigt eine große<br />
Entwicklung des Klassenbewußtseins. Dies<br />
beweist, daß die Freiheit <strong>und</strong> Würde der<br />
Persönlichkeit sich immer stärker innerhalb<br />
ges<strong>und</strong>er Gewerkschaften geltend macht.<br />
In Paris hat unser Kamerad C l e m e n t<br />
den Plan gefaßt, in jedem Mittelpunkt der<br />
Arbeiterbewegung unter der Aufsicht der<br />
revolutionären Gewerkschaften eine freie,<br />
religionslose <strong>und</strong> antipatriotische Schule zu<br />
begründen. Sein Bericht an den anarchistischen<br />
Kongreß von Amsterdam (1907)<br />
zeigt, daß sich in Frankreich die Allgemeine<br />
Gewerkschaftsföderation selbst ernstlich mit<br />
der Frage befaßt. Dasselbe scheint in<br />
B e l g i e n der Fall zu sein.<br />
In L a u s a n n e (Schweiz) haben wir<br />
seit drei Jahren versucht, diesen Plan praktisch<br />
durchzuführen. Im Anfang stand unsere<br />
»Freie S c h u l e , die wir an Sonntagen<br />
abhielten, unter der Aufsicht des Freidenkervereines.<br />
Sie hat sich schnell entwickelt,<br />
<strong>und</strong> erstrebt eine gründliche Vorbereitung<br />
der Kinder für das Leben, das sie führen<br />
werden, das Leben des produktiven Arbeiters.<br />
Sie will ihnen ihre wirkliche Lage<br />
zum Bewußtsein bringen, sie an das selbstständige<br />
Handeln, an die Freiheit gewöhnen.<br />
Da sie nur Arbeiterkinder als<br />
Schüler hat — die bourgeoisen Freidenker<br />
haben ihre Kinder sofort weggenommen —<br />
ist es auch natürlich, daß sie ihnen nicht<br />
die Sitten, Gebräuche, Vorurteile <strong>und</strong> Bestrebungen<br />
der kapitalistischen Gesellschaft<br />
anerzieht, das Gefühl der Kinder nicht<br />
ihrer Klasse entfremdet, wie das in den<br />
staatlichen Schulen geschieht, sondern danach<br />
trachtet, daß sich die Kinder ihrer<br />
eigenen Natur gemäß entwickeln. Wir haben<br />
in unseren Schülern — Knaben <strong>und</strong> Mädchen<br />
— immer ihre Persönlichkeit geachtet<br />
<strong>und</strong> ihnen nie anderes gelehrt als wahre,<br />
genaue, nützliche, praktische Tatsachen, die<br />
sich auf die menschliche Entwicklung, besonders<br />
die Geschichte der Arbeit beziehen.<br />
Die praktische Kenntnis der einzelnen Gewerbe,<br />
welche oft durch Arbeiter des betreffenden<br />
Faches vorgetragen werden, die<br />
Ges<strong>und</strong>heitslehre des Proletarierlebens, sowie<br />
heitere Gegenstände, Experimente,<br />
Lichtbilder, Ausflüge <strong>und</strong> Bewegungsspiele<br />
- diese vervollständigen unseren Lehrplan.<br />
Aus diesem Unterricht scheint sich ganz<br />
von selbst, ohne jedes besondere Predigen,<br />
die ges<strong>und</strong>e Moral der erzeugenden Arbeit<br />
abzuleiten — die einzig mögliche Moral,<br />
sobald man den religiösen Glauben abstreift.<br />
Die freie Schule von Lausanne, der<br />
die Gewerkschaften der Anstreicher <strong>und</strong><br />
Stukkateure ihr Lokal zur Benützung geliehen<br />
haben, während der sozialdemokratische<br />
Grüttli-Verein ihr nur Geringschätzung zeigt,<br />
versammelt sich jeden Sonntag Morgen <strong>und</strong><br />
zählt eine stattliche Anzahl Kinder als<br />
Schüler. Jean Wintsch.<br />
Ein Gebot internationaler<br />
Solidarität.<br />
Wir gehören nicht zu jenen, die mit<br />
den Aktionen der Sozialdemokratie oft<br />
übereinstimmen können. Was unsere eigene<br />
österreichische anbetrifft, so sind wir selbst<br />
beim besten Willen nicht im Stande, auch<br />
nur das geringste Merkmal des Sozialismus<br />
an ihr zu entdecken, finden in ihr nur<br />
bürgerlich-demokratische Demagogie <strong>und</strong><br />
eine reiche Dosis Geschäftsmache. Aber<br />
wir sind auch gewiß die letzten, d a s nicht<br />
anzuerkennen, was gut <strong>und</strong> echt sozialis-<br />
tisch ist, bloß weil <strong>und</strong> wann es vom<br />
Gegner kommt; im Gegenteil, wir freuen<br />
uns, konstatieren zu können, daß das, was<br />
der Generalrat der französischen sozialdemokratischen<br />
Partei im Nachstehenden<br />
annahm, unsere volle Billigung findet <strong>und</strong><br />
auch ganz merkwürdig von dem absticht,<br />
was unsere eigene Sozialdemokratie im<br />
gleichen Falle tun würde.<br />
Der Generalrat nahm folgende Resolution<br />
an, die für sich selbst spricht:<br />
»Der Nationalrat erklärt, daß die französische<br />
sozialistische Partei, getreu der<br />
Pflicht der internationalen sozialistischen<br />
Solidarität, sich mit Empörung g e g e n den<br />
B e s u c h des Herrn F a l l i e r e s beim russischen<br />
Autokraten erhebt, der in einein<br />
Augenblick stattfinden soll, wo die zarische<br />
Blutregierung die Erschießungen, die Henkerarbeit<br />
<strong>und</strong> die Deportationen nach Sibirien<br />
vervielfacht. Er fordert nach dem<br />
Beispiel der italienischen <strong>und</strong> neuestens<br />
der englischen Arbeiter die Parteiorganisationen<br />
auf, den Protest zur Durchführungzu<br />
bringen, Er erklärt, daß, falls<br />
der Zar N i k o l a u s , wie man angek<br />
ü n d i g t hat, nach F r a n k r e i c h käme,<br />
das g a n z e P r o l e t a r i a t s i c h e r h e b e n<br />
würde, um den H e n k e r n des russis<br />
c h e n V o l k e s s e i n e n - g a n z e n Haß <strong>und</strong><br />
s e i n e V e r a c h t u n g k u n d z u g e b e n « .<br />
Verschiedene Preßstimmen erklären,<br />
daß der blutige N i k o l a u s auch Ö s t e r -<br />
r e i c h einen Besuch abzustatten beabsichtige.<br />
Wird die Sozialdemokratie ihre internationale<br />
Solidaritätspflicht zu erfüllen<br />
wissen? Wir wollen es abwarten, werden<br />
aber die ersten sein, im gegebenen Falle<br />
dem österreichischen Proletariat die Augen<br />
über die Situation zu öffnen! T.z.<br />
Einst <strong>und</strong> jetzt.<br />
1. Einst<br />
Resolution des H a i n fei d e r Parteitages der<br />
österr. Sozialdemokratie, 30., 31. Dez. 1888 <strong>und</strong><br />
1. Jänner 1889.<br />
»Was heute vorzugsweise „Sozialreform"<br />
genannt wird, d i e E i n f ü h r u n g<br />
d e r v o m S t a a t e o r g a n i s i e r t e n Arb<br />
e i t e r - V e r s i c h e r u n g g e g e n K r a n k -<br />
h e i t u n d U n f a l l , entspringt vor allem<br />
der Furcht vor dem Anwachsen der proletarischen<br />
Bewegung, der Hoffnung, die<br />
Arbeiter von dem Wohlwollen der besitzenden<br />
Klassen zu überzeugen <strong>und</strong> zuletzt<br />
aus der Einsicht, daß die zunehmende<br />
Verelendung des Volkes endlich die Wehrfähigkeit<br />
beeinträchtigen müsse. Mit der<br />
Ausführung der Arbeiter-Versicherung werden<br />
zwei Nebenzwecke verknüpft: Die<br />
teilweise Überwälzung der Kosten der<br />
Armenpflege von den Gemeinden auf die<br />
Arbeiterklasse <strong>und</strong> die möglichste Einengung,<br />
womöglich Beseitigung der selbstständigen<br />
Hilfsorganisationen der Arbeiter,<br />
welche als Vorschulen <strong>und</strong> Übungsstätten<br />
der Organisation <strong>und</strong> Verwaltung den<br />
Herrschenden ein Dorn im Auge sind. Angesichts<br />
dieser Sachlage erklärt der<br />
„Parteitag"«:<br />
D i e A r b e i t e r - V e r s i c h e r u n g ber<br />
ü h r t d e n K e r n d e s s o z i a l e n P r o b -<br />
l e m s ü b e r h a u p t n i c h t . Eine Einrichtung,<br />
welche im besten Fall dem arbeitsunfähigen<br />
Proletarier ein klägliches, von<br />
ihm selbst teuer bezahltes Almosen gewährt,<br />
verdient nicht den Namen „Sozialreform".<br />
Die Arbeiterschaft wird sich darüber<br />
nicht täuschen lassen, sondern klare Einsicht<br />
darüber verbreiten, daß eine wirkliche<br />
soziale Reform den arbeitsfähigen Arbeiter<br />
zum Gegenstand <strong>und</strong> die Beseitigung seiner<br />
Ausbeutung zum letzten <strong>Ziel</strong>e haben muß,<br />
daß aber freilich diese soziale Reform niemals<br />
von den Ausbeutern, sondern nur von den<br />
Ausgebeuteten durchgeführt werden wird.
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Österreich.<br />
W i e n . Nr. 12 des „W. f. A." wurde konfisziert.<br />
— In agitatorisch-praktischer Hinsicht betätigen<br />
sich viele unserer Genossen darin, mit der B e -<br />
gründung von freien Einkaufsgenossenschaften einzelne<br />
Institutionen zu schaffen, durch die der immer<br />
toller werdenden Lebensmittelverteuerung wenigstens<br />
teilweise gesteuert werden kann. Die bestehenden<br />
sozialdemokratischen Konsumvereine tun es<br />
nicht, während die von uns zu begründenden Einkaufsgenossenschaften<br />
die gemeinsam eingekauften<br />
Waren ihren Mitgliedern zum Selbstkostenpreise<br />
abgeben werden. Darüber mehr in nächster Nummer.<br />
Agitatorisch wird trotz der drückenden Sommerhitze<br />
sehr viel geleistet. Bemerkenswert sind viele<br />
Ereignisse, die aber Raummangels halber hier nicht<br />
angetührt werden können. Hervorgehoben muß eine<br />
im X. Bezirk stattgef<strong>und</strong>ene Versammlung werden,<br />
in der der Gen. Lickier Uber „Gewerkschaftsaufgaben"<br />
referierte. — Sehr reges Interesse fand der<br />
Vortrag des Gen. Ramus über „William Godwin",<br />
den derselbe auf Wunsch unserer Kameraden des<br />
XIV. Bezirkes hielt. — Eine Versammlung im X. B e -<br />
zirk (Gellert-Platz), die sehr stark besucht war <strong>und</strong><br />
in der die Genossen Dschewo (tschechisch) <strong>und</strong><br />
Ramus (deutsch) referierten, konnte leider nicht zu<br />
Ende geführt werden, da ein halbes Dutzend Radauhalunken<br />
der Sozialdemokratie eine wüste Schlägerei<br />
provozierten, um die Versammlung zu sprengen,<br />
i h r e geistigen Waffen; dabei beklagen sich die<br />
Herren über die Sprengung der „Freie Schule"-Versammlung<br />
in Langenzersdorf durch Christlichsoziale!<br />
— Gut besucht war auch die außerordentliche<br />
Generalversammlung der „Allgemeinen Gewerkschaftsföderation"<br />
<strong>und</strong> wurde eine Anzahl wichtiger<br />
Organisations- <strong>und</strong> Agitationsfragen' eingehend besprochen.<br />
— Wir machen die Kameraden hauptsächlich<br />
darauf aufmerksam, alle unsere Versammlungen<br />
zu besuchen, um so den Sprengungsversuchen der<br />
Sozialdemokraten wirkungsvoll entgegentreten zu<br />
können. — Einen angenehmen Kameradennachmittag<br />
ergab auch der Ausflug nach Atzgersdorf, der uns<br />
einen hübschen Reinertrag für Agitationszwecke<br />
abwarf.<br />
*<br />
W i e d e r e i n e r ! Nämlich e i n sozialdemokratischer<br />
Denunziant. Einer unserer Kameraden, namens<br />
Kinwald, hatte das Pech, durch seine Agitation<br />
für unsere Bewegung den Unwillen seines<br />
n i c h t organisierten Vorarbeiters zu erregen, was<br />
seine Entlassung herbeiführte. Auf dem <strong>Weg</strong>e aus<br />
der Werkstatt äußerte er sich zu seinem soz.-dem.<br />
Arbeitskollegen S t ö h l i c h , daß ein Arbeiter, der<br />
gegen seinen Kollegen in dieser Weise vorgehe <strong>und</strong><br />
ihn in Not <strong>und</strong> Elend jage, Prügel wert sei! F ü n f<br />
W o c h e n s p ä t e r wurde unser Kamerad ohne jeden<br />
Gr<strong>und</strong> auf offener Straße von mehreren wildfremden<br />
Menschen unter Führung des erwähnten<br />
Vorarbeiters angegriffen <strong>und</strong> trotz des Einspruches<br />
des Publikums der Polizei übergeben. Hier stellte<br />
es sich heraus, daß der Sozialdemokrat S t ö h l i c h<br />
unseren Kameraden wegen „gefährlicher Drohungen",<br />
Einladung zu einer konspirativen anarchistischen<br />
Versammlung — Spitzelgehirn? — <strong>und</strong> als spanischen<br />
Anarchisten (der Kamerad ist Galizianer!)<br />
denunziert hatte. Trotzdem man ihn in wahrhaft<br />
mittelalterlicher Weise durchsuchte — er mußte sich<br />
splitternackt ausziehen —, ihn eine ganze Nacht in<br />
einem schmutzigen, von Ungeziefer wimmelnden<br />
Untersuchungsgefängnis zubringen <strong>und</strong> nach der<br />
Freilassung durch Spitzel, diesmal staatliche <strong>und</strong><br />
nicht rote, überwachen ließ, konnte auch nicht der<br />
Schein der ihm zur Last gelegten „Verbrechen" gef<strong>und</strong>en<br />
werden. Obgleich der sozialdemokratische<br />
Verleumder eine gehörige Lektion verdiente, verschmäht<br />
es unser Kamerad seinerseits, die Hilfe des<br />
Staates gegen den Erbärmlichen anzurufen, warnt<br />
aber alle Genossen vor ihm <strong>und</strong> ähnlichen Subjekten.<br />
*<br />
Den 20. Juni fand bei den jugendlichen sozialdemokratischen<br />
Arbeitern der Ortsgruppe Leopoldstadt<br />
ein Vortrag des Frl. Schlesinger über „Klerikalismus"<br />
statt. An der darauf folgenden Diskussion<br />
beteiligte sich auch unser Kamerad F e l s e n b u r g ,<br />
doch wurde dieselbe „wegen vorgerückter Zeit"<br />
abgebrochen <strong>und</strong> F. zur Fortsetzung derselben für<br />
Samstag den 27. Juni eingeladen. Als sich unser<br />
Kamerad an dem genannten T a g e einfand, wurde<br />
ihm nun mitgeteilt, daß ein Herr Wolf, der Macher<br />
des II. Bezirkes, die Diskussion verboten habe.<br />
Felsenburg erwiderte hierauf, er sehe, daß er sich<br />
augenscheinlich in den Zwecken <strong>und</strong> <strong>Ziel</strong>en des<br />
Vereines geirrt habe, denn er habe angenommen,<br />
daß derselbe die Heranbildung überzeugter Sozialdemokraten<br />
anstrebe, w a s aber doch nur dann<br />
möglich, wenn die jungen Leute auf Gr<strong>und</strong> ihrer<br />
eigenen Logik Sozialdemokraten würden, nicht aber<br />
weil irgend ein Führer diese Theorie als beste erkläre.<br />
Er hätte also dieses Streben nur unterstützt,<br />
indem er den jungen Leuten Gelegenheit gebe, an<br />
der Theorie des Anarchismus die „Güte" der s o -<br />
zialdemokratischen Theorie zu ermessen. Die Diskussion<br />
fand nicht statt.<br />
*<br />
Im Arbeiterheim „Karl Marx" wurde unserem<br />
Kameraden Felsenburg verboten, erstens anarchistische<br />
Schriften bei sich zu tragen (!), <strong>und</strong> zweitens<br />
dort private Diskussionen iibsr anarchistische T h e -<br />
mata zu füliren. Kamerad F. bat den Vorstand um<br />
Mitteilung des sozialdemokratischen Index, sowie<br />
um eine genaue Aufstellung der erlaubten Themata.<br />
Deutschland.<br />
B e n e d i k t F r i e d l ä n d e r , ein begeisterter<br />
Anhänger der Henry George-Bewegung <strong>und</strong> Ehrenretter<br />
Eugen Dührings gegenüber den verdreherisch<br />
gemeinen Angriffen in Engels Buch über die „Umwälzung<br />
der Wissenschaft", hat in der Nacht vom<br />
21. auf den 22. Juni seinem Leben ein Ende gemacht.<br />
Es wird auch behauptet, daß er die T a t im<br />
Zustand geistiger Umnachtung beging. —<br />
Über den soeben stattgehabten VI. Allgemeinen<br />
Gewerkschaftskongreß verlohnt es sich nicht zu<br />
schreiben, richtiger, das hervorzuheben, was er<br />
Ersprießliches leistete, denn von letzterem ist<br />
nichts wahrzunehmen gewesen. Hingegen kann dies<br />
nicht stillschweigend übergangen werden, daß der<br />
Kongreß die 1. Maiaktion nun faktisch abgemeuchelt<br />
hat, indem er die Unterstützungsverantwortung<br />
den einzelnen Ortschaften überließ. Plötzlich<br />
werden die Zentralsten enragierte Föderalisten!<br />
Auch über den Boykott wurde gesprochen,<br />
aber da die Verhängung desselben vom Führertum<br />
abhängig gemacht wird, hat es mit großen Boykottakttonen<br />
keine besondere Eile, vielmehr recht langmütige<br />
Weile. —<br />
Ober einen Fall patentiert reichsdeutscher<br />
bestialischer Justiz berichtet der „Fr. Arb." in<br />
seiner letzten Nummer. Darnach hat das Oberk<br />
r i e g s g e r i c h t der 17. Division in Altona unseren<br />
mutigen <strong>und</strong> idealistischen Genossen A l b e r t<br />
L i e b s c h, der gegen eine Verurteilung zu zwei<br />
Jahren neun Monaten wegen V e r w e i g e r u n g d e s<br />
M i l i t ä r d i e n s t e s Berufung einlegte, zur Meuchelmordstrafe<br />
von — s e c h s Jahren Gefängnis verurteilt!<br />
Waren diese Richter bei Sinnen, als sie ihres<br />
traurigen Handwerkes walteten? Man könnte es<br />
bezweifeln, denn solche Urteile machen die sanftmütigsten<br />
Menschen zu Hyänen der Empörung <strong>und</strong><br />
müssen, indem sie Öl ins Feuer gießen, sich dereinst<br />
furchtbar rächen an den Verübern. Solche Urteile<br />
benehmen der Justiz selbst den Schein der<br />
Gerechtigkeit, sie zünden geradezu die Klassenerbitterung<br />
<strong>und</strong> lassen sie bis zur Siedehitze<br />
steigen. Wie die Saat, so wird die Ernte sein!<br />
Rußland.<br />
Indem wir den nachstehenden Brief eines lettischen<br />
Revolutionärs aus dem Gefängnis zu Riga,<br />
eines Arbeiters <strong>und</strong> alten Vaters an seinen Sohn,<br />
zur Veröffentlichung bringen, machen wir das P u -<br />
blikum darauf aufmerksam, daß die Inquisition in<br />
der Folterkammer zu Riga, die schon seit drei Jahren<br />
funktioniert <strong>und</strong> H<strong>und</strong>erte von Menschen verschlungen<br />
<strong>und</strong> zu Krüppeln gemacht, auch gegenwärtig<br />
nicht eine Minute still steht, ja sogar nicht um ein<br />
einziges Opfer abgenommen hat. Alles, was der<br />
nachfolgende Brief behauptet, liegt außerhalb jeden<br />
Zweifels. Aus konspirativen Rücksichten sind einige<br />
Sätze ausgelassen. Den T e x t entnehmen wir dem<br />
Blatte „Proletarier".<br />
Teurer <strong>und</strong> lieber Sohn!<br />
Diesmal will ich Dir erzählen, wie es mir in<br />
letzter Zeit gegangen. Die grausamen Herren verfolgen<br />
<strong>und</strong> erniedrigen mich auf jedem Schritt. Aber<br />
doch, mein Lieber, wenn ich — als ein 54 jähriger<br />
Greis — mich daran erinnere, daß wir, obwohl<br />
verarmt <strong>und</strong> unterdrückt in der Gegenwart, dennoch<br />
mit Stolz <strong>und</strong> Bewußtsein in die Zukunft schauen<br />
können, weil wir wissen, daß die Zukunft uns gehören<br />
wird: dann entstehen neue Kräfte für unseren<br />
Kampf in mir, <strong>und</strong> ich sehe von neuem, daß der<br />
Kampf für Freiheit <strong>und</strong> Recht bis zum Ende geführt<br />
werden muß. Die „Herren Ärzte" haben uns während<br />
der letzten Monate 18 Visiten abgestattet, aber<br />
immer haben sie mich ges<strong>und</strong> vorgef<strong>und</strong>en. Das<br />
neunzehnte Mal aber, trotzdem wir vollständig ges<strong>und</strong><br />
waren <strong>und</strong> sogar nicht die geringsten Merkmale<br />
einer „Krankheit"* vorhanden waren, dennoch<br />
wurden wir zusammen mit Mutter ins „Spital" gebracht.<br />
Am anderen Tage wurde ich von zwei<br />
Gensdarmen ins Museum** abgeliefert, wo dann<br />
auch ich am selben Abend in Anwesenheit des<br />
Hauptarztes Herrn G r e g u s (Chef der geheimen P o -<br />
lizei) operiert ward. Die Operation dauerte von<br />
12 Uhr nachts bis 5 Uhr morgens. Um diese Zeit<br />
finden gewöhnlich die Operationen statt. Nur in<br />
der Nacht von Sonntag auf Montag ist das Museum<br />
geschlossen, weil die Herren wie Schweine besoffen<br />
sind <strong>und</strong> sich nicht auf den Beineu halten können.<br />
Ich wurde von folgenden Herren bearbeitet: Karl<br />
Pupil, Paulene, Zwetkow (Spitzel), drei Bezirksauf-<br />
* Unter denn Worte "Krankheit" versteht der Verfasser<br />
dieses Briefes die politischen Verbrechen, ebenso unter dem<br />
Worte „Ärzte." — Polizei <strong>und</strong> überhaupt Henker jeder Art.<br />
** Seit dem Jahre l906 ist die Folterkammer zu Riga<br />
unter dem Namen „Museum" bekannt, weil da die Prügel- <strong>und</strong><br />
Folterinstrumente der ganzen Welt gesammelt sind <strong>und</strong> tagtäglich<br />
ihre Anwendung linder.<br />
scher <strong>und</strong> einem Subjekt von den Beamten des<br />
Museums.<br />
Die Operation vollzog sich in folgender Ordnung.<br />
Man legte mich auf eine B a n k ; die Hände<br />
wurden hinauf, parallel mit dem Rumpfe ausgestreckt;<br />
auf den Beinen, sowie auf den Händen setzte sich<br />
je ein Mann; einer hielt die Gurgel fest <strong>und</strong> zwei,<br />
einer links <strong>und</strong> einer rechts, standen mit schweren<br />
Gummischlägern in der Hand. Nach dem Kommando<br />
Gregus ließ man das Hauen los. Der M<strong>und</strong> war<br />
mit einem nassen Lappen festgeb<strong>und</strong>en, so daß ich<br />
kaum zu atmen vermochte. Nun wurde so lange<br />
gehauen, bis ich in Ohnmacht fiel. Dann brachte<br />
man mich mittels kalten W a s s e r s zur Besinnung<br />
<strong>und</strong> es wurde befohlen, das einzugestehen, dessen<br />
man mich beschuldigte. Auf alle mir vorgelegten<br />
Fragen antwortete ich, daß ich nichts weiß <strong>und</strong><br />
folglich auch nichts sagen könne. Da solche Antworten<br />
den Herren nicht gefielen, drohte man mir,<br />
mich auf den „amerikanischen Bock" zu setzen.<br />
Man band mir beide Hände zusammen. Dann befahl<br />
man mir, mich auf die Diele hin zu setzen,<br />
wobei die Hände über die Knie hinübergezogen<br />
wurden; nachher durchstieß man zwischen Beinen<br />
<strong>und</strong> Händen eine eiserne Stange. Und dies soll<br />
dann der „amerikanische Bock" heißen. Wenn du<br />
nun in eine solche Lage gebracht bist, kannst du<br />
keinen Widerstand mehr leisten. Nachher verstopfte<br />
man mir wieder den M<strong>und</strong> mit nassen Lappen,<br />
streckte mich auf die Diele nieder <strong>und</strong> verabfolgte<br />
mir wieder eine Portion Gummischläge. Anfangs<br />
fühlte ich Schmerz, aber was dann später geschah,<br />
war ich nicht mehr im Stande zu unterscheiden.<br />
Ich erwachte erst dann, als man mich, wie vordem<br />
mittels W a s s e r <strong>und</strong> Branntwein zur Besinnung<br />
brachte. Dann löste man mir die Hände, stellte<br />
mich auf die Beine <strong>und</strong> legte wieder dieselben<br />
Fragen v o r . (Können nicht veröffentlicht werden).<br />
Und so ging die Folterei weiter, 6 Tage lang.<br />
Im Museum habe ich deinen armen <strong>und</strong> unglücklichen<br />
Kameraden X gesehen. Er ist r<strong>und</strong> fünf<br />
T a g e gequält <strong>und</strong> so gefoltert worden, daß man<br />
ihn kaum erkennen kann. Diesmal brannten sie ihn<br />
an den Fersen <strong>und</strong> an einem Schenkel; dennoch<br />
hielt er fest aus <strong>und</strong> biieb unserer Sache treu. Du<br />
kannst darauf stolz sein, daß du solch einen Kameraden<br />
hast.<br />
Es freut mich sehr, daß es dir gelungen ist,<br />
dem berüchtigten Rigaschen Museum auszuweichen.<br />
W a s darinnen verrichtet wird, vermag kein Mensch<br />
zu beschreiben! Sei umarmt <strong>und</strong> heiß geküßt von<br />
deinem . . . (Unterschrift.)<br />
Wir leben im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, im Zeitalter der<br />
Aufklärung 1 Dennoch duldet die europäische Menschheit<br />
eine solch infame Pestbeule an ihrem Körper,<br />
wie es die russische „Justiz" <strong>und</strong> „Gerechtigkeit"<br />
ist. Wann wird hier der T a g der Vergeltung dämm<br />
e r n ? Denn nur Feuer <strong>und</strong> Schwert können diese<br />
Verbrechen sühnen, die, wie obiger Brief erschütternd<br />
zeigt, ungestraft verübt werden von den Söldlingen<br />
des russischen Knutenregimes <strong>und</strong> seinen Stützen!<br />
F r a n k r e i c h .<br />
Die Ereignisse im Sinne einer gedeihlichen<br />
Entwicklung des französischen Sozialismus überstürzen<br />
sich gegenseitig, so unglaublich rasch vollziehen<br />
sie sich. Es ist die innere Parteientwicklung<br />
der Sozialdemokratie, die einer rapiden A u f -<br />
l ö s u n g entgegeneilt, die wir an dieser Stelle besprechen<br />
wollen.<br />
Die letzte Beratung des Generalrats der „geeinigten"<br />
Partei hat dies wieder einmal bewiesen.<br />
Der Parteikassier Camelinat enthüllte die Finanzlage<br />
der Organisation, die alles andere eher als<br />
glänzend ist. Wohl wahr, die Arbeiter zahlen <strong>und</strong><br />
zahlen noch immerfort; aber schon beginnen viele<br />
die Frage zu stellen: Zahlen auch die Abgeordneten<br />
ihre Parteisteuern <strong>und</strong> vor allem: wie viel geben<br />
sie von ihren 15.000 Franken Diäten pro Jahr an<br />
die Partei a b ? Da stellte sich das unsäglich B e -<br />
zeichnende heraus, daß fast keiner der Abgeordneten<br />
laut seiner Parteisteuer nach Parteimitglied<br />
<strong>und</strong> w a s die Abführung eines Teiles der Diäten an<br />
die Partei anbetrifft, so existiert so etwas überhaupt<br />
nicht. Die einen schützen Krankheit, die anderen<br />
Schulden vor — alle sind aber darin einstimmig,<br />
daß das r<strong>und</strong>e Sümmchen von 15.000 Francs<br />
für einen erhabenen Abgeordneten keineswegs zu<br />
viel sei. In dieser Weise verbourgeoisiert, d. h.<br />
korrumpiert der Parlamentarismus den Charakter.<br />
Auf dem nächsten Parteitag wird wieder eine<br />
Frage auf die Tagesordnung kommen, die den<br />
Herren Abgeordneten nicht gerade angenehm: D e r<br />
z u n e h m e n d e A n t i p a r l a m e n t a r i s m u s inn<br />
e r h a l b der Partei. F a s t die gesamte Seineföderation<br />
erklärte sich nämlich antiparlamentarisch<br />
<strong>und</strong> behauptete, der Sozialismus müsse durch die<br />
ökonomische Kraft der „Arbeiterkonföderation" —<br />
also die revolutionären Gewerkschaften - erkämpft<br />
werden, <strong>und</strong> daß die parlamentarische Aktion nichts<br />
anderes als eine Erstickung der wirtschaftlichen<br />
Aktion des Proletariats darstellt, wie es ja tatsächlich<br />
der Fall ist. Das ist nun jenen, die vom<br />
Parlamentarismus beruflich leben, nicht sehr angenehm,<br />
<strong>und</strong> der kommende Parteitag verspricht sehr
lebhaft "zu werden. Die antiparlamentarische Taktik<br />
des Anarchismus gewann in Frankreich eine mächtige<br />
Stütze durch die jüngste absolute Tatenlosigkeit<br />
der sozialdemokratischen Abgeordneten, als<br />
der Erzschurke Clemenceau die Blutereignisse von<br />
Draveil-Vigneux mit glatten Worten abfertigen <strong>und</strong><br />
parlamentarisch auch wirklich erledigen konnte.<br />
Es tagt! Die Befreiung des Proletariats von<br />
den politischen Schmarotzern in seinen Reihen<br />
bedeutet die Hinwegräumung der letzten Schranke,<br />
die sich dem Klassenkampfe in seinem Ansturme<br />
wider die bestehende Gesellschaft in den <strong>Weg</strong> legt.<br />
Vereinigte Staaten.<br />
Mitte Juni.<br />
Die Anarchisten sind das Gesprächsthema im<br />
Senate zu Washington <strong>und</strong> des von Neugierde erfüllten<br />
Publikums. Wenn die Senatoren <strong>und</strong> ihre<br />
Presse das nur für längere Zeit forttreiben, bis wir<br />
das notwendige Aufklärungsmaterial unter die Leute<br />
gebracht haben, werden sie uns zu einem guten<br />
Werk verholten haben. Verfolgungen haben allerdings<br />
geistige Strömungen begraben (siehe das Christentum!),<br />
andererseits aber sind unter Maßregelungen jeglicher<br />
Art Völker Jahrh<strong>und</strong>erte hindurch zum Widerstand<br />
gereizt worden. Ein Bismarckscher Liberalismus ist<br />
weit gefährlicher für die Entwicklung von Selbstständigkeit<br />
als offene Despotie.<br />
Ein hies. sozialistisches Monatsblatt nimmt die<br />
Niederwerfung des Anarchismus für sich in Anspruch.<br />
In seinen Annonzen in den Waggons der<br />
Hochbahn gibt es k<strong>und</strong> <strong>und</strong> zu wissen, daß die<br />
Einfuhr des sozialdemokratischen Karrens dem<br />
Anarchismus ein Ende machen würde. Das muß<br />
man den Sozis lassen: das Regieren haben sie<br />
gelernt; sie würden das Volk nach Bismarckschem<br />
heuchlerisch-liberalem Rezept an der Nase herumführen,<br />
anstatt mit der Tölpelhaftigkeit Roosevelts<br />
ihm offene Feindschaft zu bieten.<br />
Der Komödiant Teddy wird wahrscheinlich<br />
das Podium verlassen müssen; die schlechten<br />
Zeiten haben seiner Rolle übel mitgespielt; er kann<br />
die Geister, die er gerufen, nicht mehr bannen.<br />
Hatte sich dieser Hanswurst, dessen Reklame von<br />
den Trusts bezahlt war, eingebildet, seinen Direktoren<br />
zu predigen! Und wenn er nun ihnen zulieb<br />
gegen die Anarchisten <strong>und</strong> Sozialisten loswettert,<br />
— hilft ihm alles nichts; Strafe muß sein. Es gibt<br />
genug Günstlinge der Trusts in Amerika, um in<br />
würdigerer Weise ihre Geschäfte zu besorgen.<br />
Unterdessen aber haben die Krise <strong>und</strong> die<br />
Arbeitslosigkeit eins für die Fabrikanten fertig gebracht:<br />
den Niedergang der Löhne. Beschäftigung<br />
zu finden, wird immer schwieriger. Um ein Beispiel<br />
anzuführen, genüge folgender Hinweis. Ein<br />
Geschäftsmann in New-York brauchte einen Fuhrmann<br />
<strong>und</strong> auf seine diesbezügliche Annonze hin,<br />
meldeten sich am nächsten Morgen s i e b e n -<br />
h u n d e r t !<br />
Daß die Auswanderung infolge dieses Arbeitsmangels<br />
große Dimensionen angenommen hat, ist<br />
erklärlich. Täglich treffen in New-York allein Züge<br />
aus allen Teilen des Landes mit ganzen Familien<br />
von Slaven, Ungarn, Italienern, Deutschen usw. ein,<br />
um sich nach ihren ursprünglichen Heimatsorten<br />
einzuschiffen. Es gibt einen herzzerreißenden Anblick,<br />
wenn man die Weiber <strong>und</strong> Kinder, nach all<br />
den Reise-Strapazen ermüdet <strong>und</strong> verkommen, gewahrt,<br />
wie sie von den rohen Eisenbahnbeamten<br />
mit weniger Rücksicht als H<strong>und</strong>e behandelt werden.<br />
Proletarierlos! Überall mit Mißtrauen empfangen<br />
<strong>und</strong> mit Fluch entlassen zu werden! Wann<br />
kommt dein Tag der Ruhe, dein Lächeln des<br />
Friedens!<br />
Den bittersten Kelch müssen aber jene Unglücklichen<br />
leeren, die von der Regierung deportiert<br />
werden. Nach dem vor einigen Jahren erlassenen<br />
Einwanderungsgesetz können, alle der R e -<br />
gierung mißliebige Personen, die nicht beweisen<br />
können, daß sie drei Jahre schon in den Vereinigten<br />
Staaten geweilt, nach dem „Lande ihrer Väter"<br />
zurückbefördert werden. Dieses Gesetz, dehnbar<br />
nach allen Richtungen, ist hauptsächlich gegen die<br />
Anarchisten gerichtet, zum nicht geringen Teil gegen<br />
russische Flüchtlinge <strong>und</strong> arme Teufel, die nach<br />
Mühsal <strong>und</strong> Entbehrungen an den Klippen der G e -<br />
sellschaftsmisere scheitern.<br />
Die Monopole des Staates <strong>und</strong> des Kapitalismus<br />
werden ihre Rächer finden; dafür wird schon<br />
die unsinnige Weise ihrer Ausbeutung sorgen. Die<br />
Geographische Gesellschaft in Amerika hat in den<br />
letzten Jahren zu wiederholten malen auf die Rücksichtslosigkeit<br />
<strong>und</strong> Verschwendung, mit welcher die<br />
natürlichen Reichtümer des Landes für die Zwecke<br />
des Kapitalismus <strong>und</strong> des Staates ausgebeutet werden,<br />
aufmerksam gemacht. Um sich K o s t e n zu<br />
e r s p a r e n , die Lagen über den Schachten zu<br />
halten, wird kaum die Hälfte der Schätze gehoben;<br />
<strong>und</strong> stürzt dann die Erdkruste über den Minen zusammen,<br />
unter sich H<strong>und</strong>erte von Arbeitern vergrabend,<br />
dann kann die Arbeit daselbst nie mehr<br />
in Angriff genommen werden. Auf diese Weise<br />
gehen Kohle, Öl, Metalle, Mineralien <strong>und</strong> natürliches<br />
Gas durch verschwenderische Ausbeutung<br />
dem Volke verloren, auf diese Weise werden die<br />
billigen Menschenleben begraben, um kostenfrei<br />
durch andere ersetzt zu werden.<br />
Die gegenwärtigen Zustände beweisen die Unfähigkeit<br />
der leitenden Kräfte, die Unhaltbarkeit des<br />
Systems. Wenn sie so weiter arbeiten, dann werden<br />
sie die E r d e bald abgewirtschaftet haben. Aber<br />
gemach! Ehe die Gaukler sich dessen gewiß werden,<br />
ergießt sich des Volkes Ingrimm über sie.<br />
Stimmen werden laut in zitternder Vorahnung des<br />
kommenden Gewitters. Ein Richter Gaynor warnt<br />
vor den drastischen Methoden der Behörde; John<br />
Goff, ein Kenner der Verhältnisse wie kein zweiter,<br />
nannte in einer Versammlung die Polizei „eine geheime<br />
Gesellschaft, organisiert, um eigenen Zwecken<br />
durch Korruption zu dienen". (Derselbe Goff führte<br />
den Vorsitz vor mehreren Jahren bei einer Untersuchung<br />
der Polizeikorruption.)<br />
Alles in Allem: uns gehört die Zukunft! Denn<br />
unsere Kritik der Gesellschaft wird durch die<br />
Worte der Träger der heutigen „Ordnung" in unbewußter<br />
Weise bekräftigt. Fred.<br />
Aus der Korrespondenz.<br />
Liebe Kameraden! Des Anarchisten Vaterland<br />
ist die weite Welt. Dort, wo er am besten <strong>und</strong> am<br />
weitesten für seine Ideen wirken kann, ist sein „zu<br />
Hause". Das Internationale unserer Weltanschauung<br />
führt uns gern in die Fremde ; doch eine hochwohllöbliche<br />
Polizei sorgt überall dafür, daß wir uns<br />
möglichst dort wieder zusammenfinden, wo unser<br />
„liebes teures Vaterland".<br />
Mich persönlich haben bisher wenig direkte<br />
Bekanntschaften mit der Polizei verknüpft; meine<br />
Première in Wien dürfte euch aber genug interessieren,<br />
als daß ich sie euch verschweigen könnte.<br />
Um mir eine Existenz zu suchen, war ich nach<br />
dort gekommen. In aller Stille <strong>und</strong> Zurückgezogenheit<br />
suchte ich mir Beschäftigung, daneben selbstverständlich<br />
auch die Bekanntschaft der Kameraden.<br />
Da überrascht mich mit einem Male die Einladung,<br />
dem k.k. Polizei-Präsidium einen Besuch abzustatten.<br />
Mehr aus Neugierde als aus Höflichkeit komme ich<br />
dieser sofort nach. Aber ganz Höflichkeit war der<br />
mich empfangende Kommissär. Also ich wurde<br />
höflichst empfangen <strong>und</strong> zum Niedersitzen genötigt.<br />
Dann ging die Unterhaltung von statten; ziemlich<br />
einseitig, da fast nur der Herr Kommissär die Kosten<br />
der ca. einstündigen Konferenz trug. Er war famos<br />
über die Wiener Bewegung informiert, besser wie<br />
ich <strong>und</strong> wurde so diese Unterredung für mich zu<br />
einer Instruktionsst<strong>und</strong>e. (Wofür ich hiermit meinen<br />
besten Dank sage). Väterlich redete er mir zu:<br />
„Wenn Sie Propaganda machen wollen, gehen Sie<br />
nach Deutschland zurück oder nach der Schweiz.<br />
Die österreichischen Anarchisten müssen wir uns<br />
ja gefallen lassen. Sobald Sie als Deutscher aber<br />
mündlich oder schriftlich sich als Propagandist betätigen,<br />
müssen wir Sie ausweisen. Nicht unsertwegen,<br />
sondern kraft des internationalen Abkommens."<br />
Und weiter: „Wenn Sie sich hier stille<br />
verhalten wollen <strong>und</strong> hauptsächlich der Beschäftigung<br />
wegen hergekommen sind, habe ich persönlich, so<br />
lange ich im Amt bin, nichts gegen Ihr Hiersein<br />
einzuwenden. Sie werden aber nur Stellung finden,<br />
wenn Sie sich sozialdemokratisch organisieren".<br />
Auf meine Erwiderung, daß unter solchen Umständen<br />
dies hoffentlich keine verschärften Gründe für meine<br />
Ausweisung abgeben würde, lachte der Herr Kommissär:<br />
„I, wo. Das werden Sie schon an den<br />
Zeitungsberichten gesehen haben, mit der Sozialdemokratie<br />
steht unsere Regierung im besten Einvernehmen".<br />
Daß mir das nicht gleich aufgefallen w a r ! W a s<br />
sollte in Wirklichkeit ein Staat gegen eine staatserhaltende<br />
Partei einzuwenden haben. — Weshalb<br />
war ich nicht auch ein k. k. Sozialdemokrat! Später<br />
ging er dann zur Internationale über. Ich kennte<br />
doch S e n n a H o y von Berlin her. Ob ich wüßte,<br />
daß dieser nach Wien kommen wolle. Da ich doch<br />
wahrscheinlich mit ihm in Verbindung stände, solle<br />
ich ihm davon abraten. In Wien würde er sofort<br />
gefaßt werden. Nun, außer Werner Daya im „Fr. A."<br />
weiß wohl niemand der Polizei mit Sicherheit anzugeben,<br />
wo Senna sich aufhält. Da aber jene<br />
Kombinationen auch von dem Rechtsanwalt Halpert<br />
in demselben Blatte als „ i r r i g e " bezeichnet werden<br />
konnten, genügte es mir, dem Herrn Kommissär<br />
amtlich — wie er es wünschte, Euch Kameraden<br />
aber zur Ehrenrettung eines lieben Genossen mit<br />
kameradschaftlichem Worte — zu versichern, daß<br />
Senna Hoy sich weder in Wien befindet, noch befand,<br />
noch nach dem Wissen seiner dort befindlichen<br />
Fre<strong>und</strong>e nach dort zu kommen beabsichtigt.<br />
Die k. k. Polizei braucht sich vorläufig seinetwegen<br />
also nicht zu bemühen.<br />
Wie weit der Herr k. k. Beamte sonst über<br />
die scheinbar unwichtigsten Sachen unserer B e -<br />
wegung unterrichtet war, zeigte er z. B. daran, daß<br />
er mir genau sagen konnte, daß ich schon für anarchistische<br />
Blätter mitgearbeitet habe, ja noch mehr,<br />
daß ich sogar schon Beiträge von unsern Blättern<br />
zurückgewiesen erhalten hätte!! (Woher mag diese<br />
i n t i m s t e Redaktionskenntnis wohl s t a m m e n ? Ein<br />
ehrfurchtsvolles Staunen packt mich ob dieser Allwissenheit.<br />
Wenn ich dabei noch bedenke, daß all<br />
meine geringe Tätigkeit bis dahin nur von Berlin<br />
ausging <strong>und</strong> dies in Wien mir vorgehalten wurde,<br />
muß ich daran denken, wieviel wir Anarchisten an<br />
internationaler Solidarität noch von der Polizei<br />
lernen können!) Auf meine dahin lautende Antwort,<br />
riet mir dann der Herr Kommissär, etwa dem Genossen<br />
Ramus übergebene Artikel aus Rücksicht<br />
auf die sonst unvermeidliche Ausweisung zurückzuziehen.<br />
Nun, die „Freie Generation" hat genügend<br />
Mitarbeiter, <strong>und</strong> gern wurde auf meinen Wunsch mein<br />
Artikel für eine spätere Nummer zurückgestellt.<br />
Von anderen Zeitungen war ja nicht die Rede. Daß<br />
ich für diese schnell ein Pseudonym wählte <strong>und</strong><br />
nach dem Verbot erst recht schrieb, wollt Ihr mir<br />
das übel nehmen?<br />
Ich grüße von der W a r t e preußischer Strammheit<br />
alle dortigen Fre<strong>und</strong>e kameradschaftlich.<br />
Berlin, Ende Juni. Alfred Bader.<br />
An die Arbeiterschaft der Wienerberger<br />
Ton warenfabrik!<br />
A r b e i t s b r ü d e r <strong>und</strong> A r b e i t s s c h w e s t e r n !<br />
In einem Flugblatte, das der Verbandsvorstand<br />
des Tonarbeiterverbandes in tschechischer <strong>und</strong><br />
deutscher Sprache herausgegeben, wagte es dieser,<br />
im tschechischen Teile desselben, einige verleumderische<br />
Beschuldigungen wider mich, einem Arbeiter,<br />
zu erheben, die er im deutschen Teile der<br />
Flugschrift sich nicht zu wiederholen getraute.<br />
Wie ist es doch weit gekommen mit den<br />
Herren Führern in unserer Organisation! Anstatt im<br />
Stande zu sein, meinem Standpunkt den ihrigen<br />
entgegenzusetzen, erklären sie eigentlich schon<br />
durch ihr Vorgehen, daß sie k e i n e geistigen<br />
Waffen gegen mich haben. Sie glauben zu widerlegen,<br />
indem sie verleumden, frech nach dem Gr<strong>und</strong>satz<br />
der Jesuiten, daß man nur kühn verleumden<br />
möge, denn in den Augen der nicht urteilsfähigen<br />
Masse würde schon etwas hängen bleiben . . .<br />
Und warum all d i e s ?<br />
Ich bin Anarchist, <strong>und</strong> aus diesem Gr<strong>und</strong>e<br />
bekämpfe ich den Zentralismus, will den Föderalismus<br />
der Gewerkschaftsbewegung; unsere Organisation<br />
darf nicht sein eine Melkkuh für parlamentarische<br />
Streber, sondern eine Kampfesorganisation.<br />
Aus diesem Gr<strong>und</strong>e müßten in ihr der Generalstreik,<br />
die direkte Aktion, der Antimilitarismus propagiert<br />
<strong>und</strong> die wahren Prinzipien des sozialistischen<br />
Klassenkampfes gelehrt werden. Dies alles<br />
geschieht nicht, statt dessen haben wir ewige Abwiegelei,<br />
Verluste über Verluste, Schacherei, die<br />
zu Tarifgemeinschaften verdichtet wird, die eine absolute<br />
Benachteiligung der organisierten Arbeiter sind.<br />
W a s wir wollen, das ist eine ges<strong>und</strong>e,<br />
kampfeskräftige Organisation. <strong>Unser</strong>e „Führer"<br />
reden immer von Einigkeit. Das ist ein schönes,<br />
wahres Wort, aber es muß die Einigkeit auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage wahrer, echter Prinzipien sein, es muß<br />
die Einigkeit sein, die stark macht durch gemeinsame<br />
Kampfesbereitschaft; nicht aber die „Einigkeit",<br />
die da glaubt, daß Kasernendisziplin <strong>und</strong> Unwissenheit<br />
auch wirklich Einigkeit sei; <strong>und</strong> die<br />
durch Schachern <strong>und</strong> Feilschen den Klassenkampf<br />
verhindert, die Arbeiter dadurch in ihrem Wollen<br />
zurückhält, enttäuscht <strong>und</strong> uns zersplittert, indem<br />
sie, die Herren Führer, unsere Kampfeseinigkeit<br />
sprengen <strong>und</strong> brechen.<br />
Das ist es, was ich will, <strong>und</strong> was ich bekämpfe,<br />
deshalb wurde ich in infamster Weise verleumdet,<br />
von denselben Leuten, die in einer großen<br />
Massenversammlung im Arbeiterheim im X. Bezirke<br />
noch am 17. Mai meine E h r e n h a f t i g k e i t<br />
rühmten, die in einer Zuschrift vom 25. April 1908<br />
mir ausdrücklich schrieben, daß sie meine T a t -<br />
k r a f t für die Organisation hochschätzen <strong>und</strong> mir<br />
nur eins vorzuwerfen haben, nämlich daß ich mich<br />
geistig entwickelt habe <strong>und</strong> aus einem demokratischen<br />
Staatssozialisten ein kommunistischer Anarchist<br />
geworden bin — dieselben Leute erniedrigen<br />
sich jetzt, nachdem sie sehen, daß ich nicht mehr<br />
für sie arbeiten werde, so tief, mich zu verleumden!<br />
Kollegen <strong>und</strong> Mitkämpfer!<br />
Ich erkläre jedes Mitglied unserer Verbandsleitung,<br />
wie überhaupt jedermann, der sich darin<br />
mit ihr solidarisch erklärt, f ü r e i n e n e r b ä r m -<br />
l i c h e n V e r l e u m d e r , solange die Verbandsleitung<br />
nicht beweist:<br />
1. daß ich mich wirklich mit Christlichsozialen<br />
verb<strong>und</strong>en habe;<br />
2. daß ich ein Verräter an den Interessen der<br />
Arbeiter bin;<br />
3. daß ich je Organisationsgelder für mich<br />
verbraucht habe;<br />
4. daß ich dem Kassier für den Monat April<br />
noch Organisationsgelder abzuliefern verpflichtet<br />
bin oder überhaupt dem Verbände noch etwas<br />
schulde.<br />
Nochmals: jeder, der da behauptet, daß ich<br />
mich irgend eines der vier angeführten Punkte<br />
schuldig gemacht habe, ist ein schurkischer Verleumder<br />
<strong>und</strong> solange mir die Verbandsleitung die<br />
obigen vier Punkte nicht nachweist, e r k l ä r e i c h<br />
i h r e B e h a u p t u n g g e g e n m i c h i n b e s a g t e m<br />
F l u g b l a t t a l s s c h u r k i s c h e V e r l e u m -<br />
d u n g e n .<br />
Kameraden! Wir brauchen eine Organisation,<br />
doch nicht eine solche, deren Führer Arbeiter gegen<br />
Arbeiter aufhetzen. D a s i s t d i e A r b e i t v o n<br />
W e r k z e u g e n d e s U n t e r n e h m e r t u m s , <strong>und</strong><br />
dies hat die Verbandsleitung in oben erwähntem<br />
Flugblatt wider mich getan.<br />
Kameraden, begründen wir eine neue, revolutionäre<br />
Gewerkschaft, die da aufgebaut ist auf<br />
Wahrheit, auf Brüderlichkeit <strong>und</strong> Solidarität.<br />
Dies ist die Antwort, die ich, ein Arbeiter,<br />
der Verbandsleitung ins Antlitz schleudere: V e r -<br />
a c h t u n g d e n V e r l e u m d e r n !<br />
Solidarisch der eure im Kampfe wider<br />
Kapitalismus, Ausbeutung <strong>und</strong> Führerdespotie<br />
wie Führerverleumdung, zeichnet<br />
Anton Wejda.
Kultur <strong>und</strong> Fortschritt.<br />
Von F . T h a u m a z o .<br />
Zur Kritik <strong>und</strong> Würdigung des Syndikalismus.<br />
Von P i e r r e R a m u s .<br />
Beide Broschüren sind Aufklärungs- wie<br />
auch theoretische Schriften über zwei dem<br />
Anarchismus sehr wichtige Themata.<br />
Einzelexemplar 5 h, bei Bezug von wenigstens<br />
200 Exemplaren ä 3 h.<br />
«Der Freiheit entgegen<br />
Tosendes Sturmgebraus <strong>und</strong> herzlichste<br />
Sanftmut, erhabene Oedankenglut <strong>und</strong> süßeste<br />
Innigkeit, all dies <strong>und</strong> Saiten, die bisher<br />
fast noch nie geklungen im Kreise deutscher<br />
Freiheitsjünger, bringt uns der neueste<br />
Band des großen englischen Sozialphilosophen<br />
<strong>und</strong> Dichter Edward Carpenter.<br />
Wenn Carpenter kein Fremdling unter<br />
uns wäre, sondern ein lieber Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
Geistesführer, wie stünde es um die sozialistische<br />
Bewegung aller Länder <strong>und</strong> Sprachen?<br />
Weit besser, als es ist. Denn indem<br />
die Arbeiterbewegung sich auf das rein<br />
ökonomische Moment beschränkte, hat sich<br />
das Gewaltigere, das besondere Problem<br />
ziemlich aus dem Auge verloren: das Persönliche,<br />
das persönlich Intime <strong>und</strong> tiefinnerst<br />
aufwühlende, dasjenige Moment,<br />
das aus dem frohndenden Sklaven den<br />
fühlenden <strong>und</strong> empfindenden Menschen<br />
macht. Carpenters Genialität besteht darin,<br />
daß er uns s e h e n lehrt, nicht Zeichen <strong>und</strong><br />
Abstraktionen, nicht Ziffern <strong>und</strong> in täuschenden<br />
Worten, sondern in den farbensatten<br />
Bildern des Lebens <strong>und</strong> durch die<br />
Geisteskraft, nach innen zu schauen, sich<br />
zu erkennen. Und d i e s e Sprache redet<br />
unvergeßliche Worte, die wie mit Meißel<br />
<strong>und</strong> Hammer in unser Gehirn hineingeschlagen<br />
werden, uns singen lassen von<br />
dem Großzügigen einer hellen Zukunft, uns<br />
mit Abscheu abwenden lassen von der<br />
grauen Gegenwart <strong>und</strong> vor allem dadurch<br />
empfindsam wirken, daß sie uns lehren,<br />
w i e uns selber treu zu bleiben.<br />
* Von Edward Carpenter. Einzig autorisierte<br />
Übersetzung von Lilly Nadler-Nuellens <strong>und</strong> Erwin<br />
Batthyany. Verlag „Willowdene", London N. W.<br />
England.<br />
Es gibt keine Phase, keine Metamorphose<br />
des menschlichen Lebens <strong>und</strong> Leidens<br />
<strong>und</strong> Duldens <strong>und</strong> Strebens nach den<br />
echten Gütern der Menschheitsidee, wie nach<br />
dem Kleinziel individuellen Begriffes, die<br />
uns Carpenter nicht vorführte. Vergangenheit,<br />
Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft tanzen uns<br />
vor den Augen <strong>und</strong> bilden den e i n e n<br />
Strom, mit dem wir uns eins wissen <strong>und</strong><br />
dem wir wieder angehören werden: die<br />
Ewigkeit. Und ein grandioses Werden <strong>und</strong><br />
Vergehen <strong>und</strong> Neuentstehen <strong>und</strong> der unaufhaltsame<br />
Schöpfungssinn im Menschen<br />
— alles dies ersteht vor uns, bildet eine<br />
neue Welt, die Welt aller Schönheiten, die<br />
Welt aller Sehnsucht <strong>und</strong> Zukunftsmöglichkeit.<br />
Mir ist's, während ich das Buch immer<br />
<strong>und</strong> immer wieder lese, als stünde ich auf<br />
sonniger Haide <strong>und</strong> blickte weit weg in<br />
die Ferne, bis zum Horizont; <strong>und</strong> die funkelnden<br />
Sonnenstrahlen, die mit dem Wiesengr<strong>und</strong>e<br />
kosen, bilden plötzlich kristallene<br />
Bauten <strong>und</strong> schönheitsduftende Gärten,<br />
Springbrunnen in allen Regenbogenfarben<br />
<strong>und</strong> lauschige Lauben <strong>und</strong> geheime Wandelgänge<br />
<strong>und</strong> freudig liebende Paare . . .<br />
Eine neue Menschheit der Lust <strong>und</strong> fröhlichen<br />
Jugendmutes ersteht, die mit fest<br />
abgeklärtem Selbstverständnis auf die Vergangenheit<br />
blickt <strong>und</strong> in der Zukunft neue<br />
Möglichkeiten zur Entfaltung bringt. Singvögel<br />
trillern die Töne des Gewesenen <strong>und</strong><br />
schmelzend weich sind die Hoheklänge, die<br />
uns das genesene Menschheitsreich verkünden<br />
— befreit vom Schatten des Übels,<br />
befreit vom Ekel des Lebens, befreit von<br />
der Trauer über das Leben.<br />
. . . Alles dies <strong>und</strong> noch vieles andere<br />
sehen wir, wenn wir Carpenters Buch mit<br />
dem vielsagenden Titel lesen.<br />
Unlängst las ich in einem hies. Blatte<br />
eine Besprechung des Buches aus der Feder<br />
eines namhaften Schriftstellers. Er verglich<br />
Carpenter mit Walt Whitman <strong>und</strong> stellte<br />
letzteren über ersteren. O daß doch die<br />
kleinen Menschen stets das Unfaßbare <strong>und</strong><br />
Unvergleichliche mit einander messen, an<br />
einander wägen wollen! Gewiß, es gibt<br />
viele Berührungspunkte, wie es gewöhnlich
das Merkmal genialer Gedanken ist, daß<br />
sie von mehreren Auserlesenen der Gedankenwelt<br />
zu gleicher Zeit gedacht werden.<br />
Aber daß einer «größer» als der andere?<br />
Welch kurzsichtige Erwägung. Freuen wir<br />
uns, daß wir z w e i solche Geistesgrößen<br />
besitzen, zwei Männer, die große, erhabene<br />
Menschheitsgedanken in einer Sprache dachten,<br />
die wie der reinste Glockenklang <strong>und</strong><br />
volltönend uns ins Bewußtsein klingt. Whitman<br />
ist ein Gigant, Carpenter aber auch.<br />
Und nicht minder. Und wenn man die<br />
Dichtung umso höher stellt, je mehr sie<br />
durchhaucht ist von jenem echt Goetheschen<br />
Allwissen <strong>und</strong> Allwollen, dann steht<br />
uns Carpenter weit näher; in ihm ist Psyche<br />
u n d Geist, in Whitman nur Psyche, <strong>und</strong><br />
die weil jener alles weiß <strong>und</strong> erst sein W i s -<br />
s e n dichterisch gestaltet, ist Whitman der<br />
Mann des Gefühls, nur dieses allein. In<br />
vielem ist Whitman deshalb einseitig, in<br />
allem ist Carpenter vielseitig; er weiß nicht<br />
nur, wie kontemplativ das Schöne zu entdecken,<br />
sondern auch den Gegenstand der<br />
Schönheit selbst zu würdigen, zu begreifen.<br />
Carpenter ist Dichter <strong>und</strong> Denker;<br />
Whitman war, seiner eigenen Aussage zufolge,<br />
stets nur Dichter.<br />
Für die moderne Arbeiterbewegung<br />
wird bald ein neuer Morgen dämmern. Die<br />
Tage, in denen sie nur von Kampfgetöse<br />
erdröhnte, o h n e ihre <strong>Ziel</strong>e zu kennen, ohne<br />
im Vollbesitz tiefster Erkenntnis zu sein,<br />
sie gehen rascher vorüber, als manche<br />
glauben. Es wird dann die Zeit kommen,<br />
in der der ökonomische Faktor sich in ein<br />
besseres Einvernehmen mit dem ethischen<br />
<strong>und</strong> psychologischen setzen wird, als es<br />
bisher je geschah, je geschehen konnte in<br />
unserer Zeit der Irrgänge <strong>und</strong> Wirren für<br />
das Proletariat. Dann wird Carpenter nicht<br />
nur gelesen, sondern geistig verdaut werden.<br />
Es gibt keine wahre Befreiung ohne<br />
eine Umwertung aller unserer Kulturanschauungen.<br />
Und nur diejenigen, die uns<br />
auf diesem Pfade gehen lehren, sie sind<br />
die wahren Bahnbrecher der neuen, aufsteigenden<br />
Kultur. Sie pflanzen in uns dasjenige<br />
Gefühl der Revolte <strong>und</strong> des Aufbauenden,<br />
dem wohl Welten zum Opfer fallen<br />
aber wieder neuerdings geschaffen werden,<br />
ungleich vollkommener, schöner <strong>und</strong> wahrer.<br />
Nennen wir die Namen der Besten solcher<br />
Pioniere, dann drängt es uns immer, den<br />
Namen desjenigen zu nennen, dessen vielfache<br />
Geisteswerke auf den Werdegang des<br />
modernen Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus in<br />
zwar heute noch ziemlich unbekannter <strong>und</strong><br />
verkannter Weise, aber doch in einem<br />
Maßstabe gewirkt haben, daß wir den<br />
Namen Edward Carpenter nur mit Bewegung<br />
<strong>und</strong> Dankbarkeit aussprechen können,<br />
im Vollbewußtsein dessen, daß dieser Name,<br />
ähnlich wie jener eines Morris, Männer <strong>und</strong><br />
Frauen des Kampfes schuf, die sich in der<br />
Avantgarde des Ringens um Freiheit <strong>und</strong><br />
Menschheitsglück befinden. Seine Gefolgschaft<br />
wandelt aufrecht <strong>und</strong> zuversichtlich<br />
— der Freiheit entgegen . . .<br />
Mögen die Proletarier <strong>und</strong> arbeitenden<br />
Frauen dieses Buch, das uns in — man<br />
kann nicht banal sagen «Übersetzung» —<br />
formvollendeter Nachdichtung vorliegt, emsig<br />
lesen. Sie finden darin ihr Leben <strong>und</strong><br />
das hohe Lied ihrer Befreiung; möge das<br />
Buch ihre Liebe gewinnen!<br />
Pierre Ramus.<br />
Der ältere Kämpfer in der Bruderschaft<br />
an den Jüngeren.<br />
Lieber Kamerad, zu dessen Füssen ich<br />
jetzt so kniee,<br />
Von dir vielleicht, so bald, nicht mehr<br />
gesehn zu werden —<br />
Hier gebe ich dir mein Vermächtnis,<br />
damit später, dich meiner erinnernd <strong>und</strong><br />
nach mir verlangend,<br />
Du mich wiederfinden magst in diesen<br />
anderen.<br />
Langsam aus ihren Gesichtern werde<br />
ich dir wiedererstehen — Siehe! ich schwöre<br />
es,<br />
Beim fallenden Regen <strong>und</strong> geballten<br />
Wetterwolken im Osten, schwöre ich es —<br />
[In dir aufzugehen, den ich solang<br />
geliebt]<br />
Mit Liebe vereinigend, mit Freude <strong>und</strong><br />
Glückseligkeit umgebend,<br />
Werde ich dir wieder erstehen.<br />
Dass du jetzt anderen Kameraden, <strong>und</strong><br />
diese wieder anderen,<br />
Über die ganze Welt das frohe Bündnis<br />
tragen möget, vervollkommnet, vollendet<br />
—<br />
Einen unauflösbaren B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Vertrag<br />
zu bilden, eine Bruderschaft unwandelbar,<br />
Weit durchdringend, frisch <strong>und</strong> unsichtbar<br />
wie der Wind, vereint in Freiheit —<br />
Ein goldener Kreis von Staubfäden,<br />
unter den Blumenblättern der Menschheit<br />
verborgen,<br />
Und die heilige B<strong>und</strong>eslade bewachend.<br />
Durch Heldentaten <strong>und</strong> Tod <strong>und</strong> Opfer,<br />
Immer für die Armen <strong>und</strong> Verachteten,<br />
immer für die Ausgestoßenen <strong>und</strong> Unterdrückten.<br />
Durch Verwandtschaft mit der Natur,<br />
<strong>und</strong> das freie Handhaben aller Formen <strong>und</strong><br />
Sitten,
Durch die heilig gehüteten Lehren Inspirierter<br />
— nie verloren <strong>und</strong> nie gänzlich<br />
der Welt gegeben, doch immer wiedererstehend<br />
—<br />
Durch Liebe, treue Kameradenliebe,<br />
endlich die Seele befreiend in jene andere<br />
Sphäre (von Freiheit <strong>und</strong> Freude) in welche<br />
es keinem Sterblichen zu dringen erlaubt<br />
ist -<br />
So den unlösbaren Vertrag zu verwirklichen,<br />
der Menschheit Urgestalt zu<br />
offenbaren.<br />
Dir, mein Gefährte, übergeb' ich dies<br />
Vermächtnis — auch mir anvertraut<br />
In Liebe treu dir bleibend, wie jetzt,<br />
unwandelbar,<br />
Durch alle Zeiten <strong>und</strong> Veränderung<br />
dir treu, dir treu.<br />
Hier jetzt zu deinen Füssen, an deine<br />
Knie gelehnt, in deine Augen tief blickend,<br />
Bestätige ich alles, was ich gesagt.<br />
Edward Carpenter.<br />
Aus meinem Tagebuch.<br />
Am nächsten Morgen zog es mich<br />
unwiderstehlich wieder nach T.<br />
Grau <strong>und</strong> schwer hingen die Wolken<br />
am dämmernden Himmel; den seligen<br />
Abend doppelt schön erinnernd im fahlen<br />
Licht des trüben Morgens.<br />
Und siehe: schon weint der Himmel;<br />
schwere bleierne Tropfen fallen, erst langsam<br />
<strong>und</strong> einzeln, dann immer dichter <strong>und</strong><br />
schneller <strong>und</strong> erfrischen die lange durstende<br />
Erde.<br />
Doch den Menschen kein Wohlgefallen.<br />
Lange wohl hatten sie sehnsüchtig das<br />
belebende Naß erwartet. Nun wo es erscheint,<br />
kommt es zu schnell <strong>und</strong> zu viel.<br />
Nur wenige freuen sich der neu aufquellenden<br />
Natur; geflüchtet sind die meisten vor<br />
dem alles durchdringenden Regen.<br />
Jubilieren <strong>und</strong> leben tuen die Vögel,<br />
doch jammern <strong>und</strong> vegetieren die Menschen.<br />
Erbärmliches Lumpengesindel! —<br />
Doch dorten! Da seh ich ja welche,<br />
die nicht kümmert der strömende Regen<br />
<strong>und</strong> die empfindbare Kühle.<br />
Eng aneinander geschmiegt sitzen sie<br />
auf den Bänken.<br />
Hier ein Paar <strong>und</strong> dort ein Paar.<br />
Nicht jede Bank ist besetzt; doch nie<br />
eine auf allen Sitzen.<br />
Hier eine Bank <strong>und</strong> dort eine Bank<br />
— <strong>und</strong> immer nur e i n Paar.<br />
Männlein <strong>und</strong> Weiblein traulich vereint;<br />
sie störet kein Regen, kein Wetter <strong>und</strong><br />
Wind.<br />
Ein Wesen nur scheinen sie; <strong>und</strong> wo<br />
die bergende Hülle des schützenden Schirmes<br />
vorhanden, ist sie eine Vorwand, um<br />
beide noch enger sich schmiegen zu lassen.<br />
*<br />
Glückliche Menschen; Natur ist in<br />
Euch <strong>und</strong> schützend waltet die Liebende<br />
über ihre Kinder.<br />
Seid fröhlich <strong>und</strong> freut Euch. Liebt Euch<br />
<strong>und</strong> lacht <strong>und</strong> denket nicht fernerer Zeiten.<br />
Aber vergeßt nicht das Eine:<br />
So Ihr schon vorher zu denken begonnen<br />
— niemals laßt Euch dann gehen.<br />
D a n n bedenket <strong>und</strong> denket auch weiter.<br />
Doch ich sag Euch:<br />
Nicht das ist das Glück.<br />
Wenn Ihr es suchet, nehmt, wo Ihr es<br />
findet. Ohne Besinnen <strong>und</strong> Denken <strong>und</strong><br />
Schwanken.<br />
So Ihr erst schwankt, wird Sünde was<br />
Glück war. *<br />
* *<br />
Dieses gilt nicht nur Euch, die Ihr am<br />
Tage lustwandelt.<br />
Euch, die Ihr in lauschiger Nacht die<br />
<strong>Weg</strong>e <strong>und</strong> Bänke besetzet, sag' ich ein<br />
Gleiches. —<br />
Doch dieses noch bitt' ich:<br />
Tut nicht, was ich Euch sag; sondern<br />
tut, was Ihr fühlt! Leo Lerche.<br />
Das Werden des wahren<br />
Menschen.*<br />
. . . In der Tat ist der soziale Instinkt<br />
der Ameisen ein w<strong>und</strong>erbares Ding, eine<br />
völlig organisierte, ausgezeichnet funktionierende<br />
A n a r c h i e . . . Keine Regierung,<br />
kein König, keine Gesetze, keine Bureaukratie,<br />
keine Behörden, niemand kommandiert,<br />
niemand gehorcht. Selbst die sogenannten<br />
Sklaven sind völlig frei <strong>und</strong> arbeiten<br />
freiwillig, aus Instinkt. A l s o a b s o l u t e<br />
F r e i h e i t b e i a b s o l u t e r S o l i d a r i t ä t .<br />
Wenn ein Arbeiter faulenzen will, wird er<br />
dennoch gepflegt (man sieht es an der<br />
Amazonenameise). Aber dieses Faulenzen<br />
kommt nicht vor, außer bei den Sklaven<br />
machenden Ameisen <strong>und</strong> den Schmarotzern.<br />
Es gibt also keine «Kratie», keine Bürgerkriege<br />
<strong>und</strong> dennoch besteht dabei die<br />
prachtvollste Ordnung, ja, ein w<strong>und</strong>erbares<br />
Geschick, in der denkbar schlimmsten, verwirrtesten<br />
Lage in kurzer Zeit durch einträchtige,<br />
rastlose Arbeit Ordnung zu<br />
schaffen . . .<br />
*<br />
* *<br />
* Aus „ Ü b e r d i e Z u r e c h n u n g s f ä h i g -<br />
k e i t d e s n o r m a l e n M e n s c h e n " . München<br />
1907, Ernst Reinhardt, Verlagsbuchhandlung.
. . . Die wahre Ethik, welche die Verteidiger<br />
d e s Alten immer gefährdet glauben,<br />
kann aus einer tieferen Erkenntnis der<br />
wahren Harmonie des Weltalls <strong>und</strong> speziell<br />
der menschlichen Seele <strong>und</strong> ihres Organes,<br />
des Gehirnes, nur gewinnen. Sie beruht<br />
ja psychologisch a u f einer immer höher<br />
sich ausbildenden Anpassung ursprünglicher,<br />
ererbter Sympathiegefühle des<br />
Menschen an immer feiner <strong>und</strong> immer<br />
komplizierter werdende Elemente der reinen<br />
Erkenntnis, d. h. auf ihrer Kombination,<br />
resp. Assoziation mit denselben. Ebenso<br />
wie das Gefühl, erhöht <strong>und</strong> verfeinert sich<br />
der Wille in seiner harmonischen Angliederung<br />
an einer erhöhten <strong>und</strong> verfeinerten<br />
Erkenntnis. Das alles kann jedoch nur bei<br />
Integrität <strong>und</strong> entsprechender qualitativer<br />
Verbesserung des Organs der Erkenntnis,<br />
des Gefühles <strong>und</strong> des Willens, d. h. des<br />
Gehirnes, erreicht werden.<br />
Daraus ergeben sich einige gebieterische<br />
Erfordernisse:<br />
1. Beseitigung aller das Gehirn schädigenden<br />
Einflüsse, vor allem aller Hirngifte<br />
<strong>und</strong> in erster Linie der die Nachkommenschaft<br />
<strong>und</strong> ihr Gehirn so furchtbar<br />
schädigenden sozialen Unsitte des Alkoholgenusses,<br />
bei Vermeidung aller verwandten<br />
Unsitten (Opiumgenuß u. dgl. m.<br />
— überhaupt des Gebrauches narkotischer<br />
Gifte <strong>und</strong> Alkaloïde).<br />
2. Energische Anhandnahme der Vorstudien<br />
zur allmählichen Erreichung einer<br />
besseren menschlichen Zuchtwahl, die auf<br />
Gr<strong>und</strong> vertiefter Kenntnis <strong>und</strong> freier Überzeugung<br />
bekehrter Menschen zu geschehen<br />
hätte.<br />
3. Beseitigung zur Versuchung zur<br />
Geldsucht, zur ausschließlichen Anbetung<br />
des Mammon (Kapitalismus), einer Versuchung,<br />
die alles korrumpiert.<br />
4. Erreichung eines höheren Grades<br />
der Ethik, d. h. des Strebens nach einer<br />
glücklicheren <strong>und</strong> höheren Z u k u n f t s -<br />
m e n s c h h e i t , wofür einige individuelle,<br />
übrigens meistens äußerst kurzdauernde<br />
Vorteile des Augenblickes da <strong>und</strong> dort zu<br />
opfern wären.<br />
Dr. August Forel.<br />
An das jugendliche Proletariat.<br />
Laß wachsen uns zu jungen Recken,<br />
Laß wachsen, bis die St<strong>und</strong>e dröhnt,<br />
Wo wir die Schläfer unversöhnt<br />
Zum Kampfe auf mit Donnerworten schrecken!<br />
Laß wachsen uns noch eine Weile,<br />
Bis unsre Jugendkraft sich mehrt,<br />
Und uns das Leben weiter lehrt,<br />
Zu wandein recht — den Pfad zu unserem Heile!<br />
Laß wachsen uns, vereint im B<strong>und</strong>e,<br />
Uns freudig folgen unsrem Stern,<br />
Zu jenen lichten Höhen fern,<br />
Woher die Dichter nur uns brachten K<strong>und</strong>e . . .<br />
Dann aber schlagen wir wie Hagelschlacken<br />
Mit Sturm <strong>und</strong> Blitz <strong>und</strong> Donner ein,<br />
Und setzen bei dem Wetterschein<br />
Den Siegerfuß dem Feinde auf den Nacken.<br />
Aus dem Estnischen des Gustav Suits<br />
„Lied der Jungen".<br />
Vom Büchertisch.<br />
K . S c h w e c h l e r . D i e ö s t e r r e i c h i s c h e<br />
S o z i a l d e m o k r a t i e . Verlag „Styria", Graz <strong>und</strong><br />
Wien 1908. Diese ziemlich eingehende Studie zeichnet<br />
sich, obwohl nicht sozialistisch, so doch in<br />
bemerkenswerter Weise von derlei gegnerischen<br />
Schriften dadurch aus, daß sie neben großer Materialienfülle<br />
sich auch einer seltenen Objektivität —<br />
oftmals wahrlich allzu sehr! — befleißigt.<br />
F r i e d r i c h F r i e d e n s f e l d . D e r P r e d i g e r<br />
g e g e n d e n K r i e g . Verlag 0 . Bley, Leipzig. Eine<br />
sehr minderwertige Arbeit, wenn auch aufrichtig<br />
friedensfre<strong>und</strong>lich gemeint.<br />
P r o f . Dr. H . M o l e n a a r . E s p e r a n t o o d e r<br />
U n i v e r s a l ? Selbstverlag in Kophel, Bayern,<br />
Preis 20 Pfg. Wir empfehlen allen unseren<br />
Genossen, die sich mit dem Wellsprachenproblem<br />
auch nur einigermaßen beschäftigen, diese Broschüre,<br />
die in einfacher, fesselnd klarer Ausführung uns die<br />
Möglichkeit einer raschest zu erlernenden Weltsprache<br />
in die greifbarste Nähe rückt. Der „Erfinder"<br />
ist ein durchaus wissenschaftlicher Denker <strong>und</strong> Redakteur<br />
der Monatsrevue „ M e n s c h h e i t s z i e l e " .<br />
Seine im Universal geschriebene Zeitschrift mit<br />
demselben Namen dürfte bald ein bedeutender Faktor<br />
auf diesem Problemgebiete werden.<br />
E n r i c o F e r r J . D i e r e v o l u t i o n ä r e M e -<br />
t h o d e . Mit einer einleitenden Abhandlung über<br />
„Die Entwicklung der Theorien im modernen Sozialismus<br />
Italiens" von Dr. Rob. Michels. Verlag<br />
von L. C. Hirschfeld, Leipzig 1908. Preis Mk. 2.<br />
Wir können uns des Gefühles nicht erwehren, daß<br />
dieser, ob Veröffentlichung einer glänzenden Serie<br />
von „Hauptwerken des Sozialismus <strong>und</strong> der Sozialpolitik",<br />
die von Prof. Dr. Georg Adler redigiert<br />
wird, so ungemein verdienstvolle Verlag durch die<br />
Herausgabe der vorliegenden Schrift <strong>und</strong> ihre Einreihung<br />
in obgenannte Serie direkt mißbraucht wurde.<br />
Die Schrift ist weder theoretisch noch taktisch<br />
wertvoll <strong>und</strong> haben wir Deutsche in unserem Bernstein,<br />
wie überhaupt der gesamten revisionistischen<br />
Richtung viel „logischere" Vertreter. Gut gemeint<br />
<strong>und</strong> stellenweise wertvoll ist die Einleitung von<br />
Dr. Michels, doch kann sie über den deprimierenden<br />
Eindruck nicht hinwegtäuschen, den der Umstand<br />
bereitet, ein solch minderwertiges Zeug wie jenes<br />
Ferris unter Essays von der Bedeutung eines Spence,<br />
Godwin, Hall, Lamennais u. a. eingereiht zu sehen.<br />
C o n g r e s A n a r c h i s t e tenu a A m s t e r d a m ,<br />
August 1907. Eine vorzügliche Protokollveröffentlichung<br />
über den anarchistischen Kongreß zu Amsterdam.<br />
Verlag M. Delesalle, 46 Rue Monsieurs-le-<br />
Prince, Paris.<br />
Briefkasten.<br />
F. D o m . Nieuw. Brüderlichen Dank für<br />
prächtigen Artikel über B. Wieso es kommt, daß<br />
Sie das Blatt nicht erhalten, ist desto unverständlicher,<br />
als wir es Ihnen regelmäßig senden. Solidaritätsgruß!<br />
— An V e r s c h i e d e n e . Aufruf an die<br />
jugendlichen Arbeiter konnte nicht mehr ins Blatt.<br />
Demnächst.
2. Jetzt.<br />
Arbeiter <strong>und</strong> Arbeiterinnen Wiens!<br />
Dienstag den 23. Juni um 7 Uhr abends in der<br />
Volkshalle des Rathauses<br />
MASSEN-VERSAMMLUNG.<br />
Tagesordnung:<br />
Die Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsversicherung der<br />
Arbeiter.<br />
Sprechen werden die Reichsratsabgeordneten Dr<br />
Viktor Adler, Simon Abram (Innsbruck), Wilhelm<br />
Cerny (Prag), Ignaz Daszynski (Krakau), Matthias<br />
Eldersch (Freudenthal), Leo Fre<strong>und</strong>lich (Mährisch-<br />
Schönberg), Josef Hybesch (Brünn), Valentin Pittoni<br />
(Triest), Josef Pongratz (Graz), Josef Seliger<br />
(Teplitz), Semen Wityk (Boryslaw).<br />
Arbeiter <strong>und</strong> Arbeiterinnen! Noch immer hat<br />
die Regierung den längst versprochenen Gesetzentwurf<br />
nicht eingebracht! Die Arbeiter werden<br />
aber keine weitere Verschleppung dulden! Erscheint<br />
in Massen <strong>und</strong> bekräftigt eure Entschlossenheit,<br />
für die g r o ß e soziale Reform zu kämpfen, bis<br />
sie errungen ist!<br />
Keinem dieser führenden »Genossen«<br />
fiel es ein, an die Hainfelderresolution zu<br />
denken. Die Entwicklung »von der Utopie<br />
zur Wissenschaft« besteht bei der österreichischen<br />
Sozialdemokratie darin, daß sie<br />
heute für Dinge eintritt, von denen sie<br />
selbst einmal sagte, daß sie »nicht den<br />
Namen Sozialreform verdienen«.<br />
Welche Schmach! Einer aus Tausenden<br />
bestehenden Volksversammlung werden<br />
Ideen <strong>und</strong> Bestrebungen aufoktroyiert, die<br />
mit den wirklichen Gr<strong>und</strong>sätzen des Sozialismus<br />
gar nichts zu schaffen haben!<br />
Ob es den Herren wohl einmal einfiele,<br />
eine Volksversammlung im Rathause einzuberufen<br />
mit dem Thema: »Welta<br />
n s c h a u u n g u n d Z i e l d e s S o z i a l i s -<br />
mus?« Niemals, denn solches Thema rechtschaffen<br />
behandelt, ködert zu wenige Wahlstimmen.<br />
Da ist es besser, mit demagogischen<br />
Phrasen um sich zu werfen, staatliche<br />
Sozialreform als Allheilmittelchen anzupreisen<br />
— auf solch bornierte Weise<br />
schläfert die Sozialdemokratie den revolutionären<br />
Gedankengang des Proletariats ein<br />
—- das ist i h r e Erziehung zur »Reife des<br />
Sozialismus!"<br />
Die Schädlichkeit der Tarifgemeinschaften.<br />
Es ist verhältnismäßig kurze Zeit her,<br />
daß in Österreich der Tarifvertragskoller<br />
auftrat, der uns nunmehr als Allheilmittel<br />
gepriesen wird. Die Produktion ist eine<br />
recht ergiebige; mehr als 300 Tarifverträge<br />
hat die österreichische zentralistische Gewerkschaftsorganisation<br />
zu verzeichnen.<br />
Ohne sachliche Kritik, in der Für <strong>und</strong> Wider<br />
geprüft worden wäre, mit beiden Füßen ist<br />
man hineingesprungen, <strong>und</strong> jetzt vermeidet<br />
man es ängstlich zu sagen, daß es ein<br />
Sumpf ist, in dem man immer tiefer <strong>und</strong><br />
tiefer hineingerät.<br />
Die Arbeiter irgend einer Branche stellen<br />
Lohnforderungen; sie fordern z. B. nebst<br />
anderen einen St<strong>und</strong>enlohn von 50 Hellern.<br />
Heute wird in den allermeisten Fällen gleich<br />
seitens Organisation ein diese Forderung<br />
enthaltender Vertrag als Gr<strong>und</strong>lage der<br />
Tarifgemeinschaft ausgearbeitet <strong>und</strong> den<br />
Unternehmern meist zu Händen der zünftlerischen<br />
Genossenschaftsvorstehung oder<br />
der Unternehmerorganisation übermittelt.<br />
Soferne die Unternehmer die Arbeit dringend<br />
benötigen, sehen sie sich noch vor<br />
Ausbruch des Streiks zu Unterhandlungen<br />
veranlaßt; ist dieses nicht der Fall, so<br />
warten sie ruhig den Streik ab <strong>und</strong> erklären<br />
erst später sich zu Unterhandlungen<br />
bereit. Auf alle Fälle haben bei gemeinsamer<br />
Verhandlung die borniertesten <strong>und</strong><br />
ausbeuterischesten Unternehmer das große<br />
Wort. Nun wird gehandelt <strong>und</strong> gefeilscht<br />
um jeden Heller mehr Lohn <strong>und</strong> jede Minute<br />
Arbeitszeit. Die schlechtesten Zahler<br />
sind die größten Schreier <strong>und</strong> nur unter<br />
dem Zwange der äußersten Notwendigkeit<br />
werden wenige Heller zugestanden. Wo<br />
dieses angeht, wird der Betrag der bewilligten<br />
Erhöhung noch auf mehrere Jahre<br />
verteilt, d. h. man gibt das, was man ohne<br />
Vorschlag einer Tarifgemeinschaft gleich<br />
geben müßte, erst in einem oder nach zwei<br />
<strong>und</strong> drei Jahren. (Siehe Maurer, Zimmerer<br />
u. a. m.) Der gedankenlosen Masse sagt<br />
man allerdings: «Wir haben so <strong>und</strong> so viel<br />
nach einem, so <strong>und</strong> so viel nach zwei<br />
Jahren; seht, welch ein Erfolg!» In Wahrheit<br />
wird der beträchtlichere Teil der Erhöhung,<br />
um den schäbigsten Ausbeutern<br />
Rechnung zu tragen, auf möglichst lange<br />
Zeit hinausgeschoben — zum Schaden der<br />
Arbeiter.<br />
Für die Zugeständnisse, die die Unternehmer<br />
machen, wollen sie nun wieder<br />
Schadloshaltung, die sie in Form einer möglichst<br />
langen Vertragsfrist anstreben. Wir<br />
finden Verträge, die auf drei <strong>und</strong> vier Jahre,<br />
ja noch für längere Zeit abgeschlossen sind.<br />
Während dieser Zeit sind die Arbeiter jeder<br />
Bewucherung seitens der Lebensmittel<strong>und</strong><br />
Wohnungswucherer ausgesetzt, ohne<br />
sich in Form von höheren Löhnen schadlos<br />
halten zu können. Bei Tarifgemeinschaften<br />
ist die sich von selbst ergebende<br />
Tendenz, daß der festgesetzte Minimallohn<br />
zum Maximallohn wird. Die Zentralorganisationen,<br />
die sich als die Hüter der Tarifgemeinschaft<br />
betrachten, sehen ihre Aufgabe<br />
darin, darüber zu wachen, daß jeder<br />
Unternehmer den M i n i m a l l o h n bezahle,<br />
den Lohn also, dem der schäbigste Unternehmer<br />
zugestimmt hat. Über den Minimallohn<br />
hinaus möge jeder Arbeiter selbst<br />
sorgen, natürlich ohne Hilfe der Organisation.<br />
Diese hält sich jeder Verpflichtung<br />
für entb<strong>und</strong>en. Wir sehen schon nach dieser<br />
Seite hin den sehr problematischen Wert<br />
der Tarifgemeinschaft.<br />
Noch eines. Bei Eintritt in eine Tarifbewegung<br />
hat die Organisation mit zwei<br />
Faktoren innerhalb der beteiligten Arbeiter<br />
zu rechnen; das sind die Nichtorganisierten<br />
oder die unter dem Zwang der Verhältnisse<br />
sich in der Organisation befindlichen<br />
<strong>und</strong> die besser entlohnten Arbeiter, die bei<br />
einer solchen Lohnbewegung wenig oder<br />
nichts gewinnen können oder gar zu Schaden<br />
kommen durch das Streben der Unternehmer,<br />
nur den Minimallohn zu zahlen.<br />
Es ist daher begreiflich, daß jede Tarifbewegung<br />
mit den minimalsten Zugeständnissen<br />
enden muß, die im Vergleich zu den<br />
gesteigerten Konsumpreisen keine Steigerung<br />
der Lebenshaltung bedeuten. Alle<br />
diese Umstände beweisen uns den geringen<br />
Wert der Tarifgemeinschaften; immer bei<br />
der Voraussetzung, daß jeder Unternehmer<br />
den Vertrag überhaupt einhält. Gegen den<br />
Vertragsbruch der Unternehmer, der erwiesenermaßen<br />
sehr häufig ist, wäre die<br />
einzige Schutzwehr eine tüchtige, schlagfertige,<br />
jeden Moment kampfbereite Organisation<br />
mit selbsthandelnden Mitgliedern.<br />
Die Zentralorganisationen haben aber<br />
durch ihre Reglementierung jeder Streikbewegung,<br />
auch der Abwehrstreiks, jedes<br />
selbständige Handeln faktisch u n m ö g l i c h<br />
gemacht; sie sind ja nur mehr aufs Verhandeln<br />
eingerichtet. Dazu kommt, daß<br />
diese Organisationen jede Streikbewegung<br />
möglichst vermeiden. Für Erziehung der<br />
Mitglieder zur Direkten Aktion, die vielfach<br />
den Streik überflüssig machen würde, ist<br />
ja nie etwas geschehen. Diese ist den<br />
meisten Organisationsleitern ein spanisches<br />
Dorf. So kommt es, daß eine Reihe von Tarifverträgen<br />
kurze Zeit nach ihrem Abschluß<br />
nur ein wertloses Geschreibsel sind <strong>und</strong><br />
trotzdem die «Erfolge» der zentralistischen<br />
Organisationen mehren helfen müssen.<br />
Jeder befristete Tarifvertrag besagt aber<br />
dem Unternehmer a u f d e n T a g , w a n n<br />
die Arbeiter mit neuen Forderungen an ihn<br />
herantreten werden. Jeder Unternehmer wäre<br />
vom Klassenstandpunkte blöde, wenn er<br />
den ungeheuren Vorteil, der ihm dadurch in<br />
die Hand gegeben ist, — nicht ausnützen<br />
würde. Vielfach ist noch dazu eine einbis<br />
dreimonatliche Kündigungsfrist festgesetzt.<br />
Wer wagt da noch zu behaupten,<br />
daß Derartiges zum Vorteil der Arbeiter<br />
sein kann? Man bedenke noch, daß heute<br />
der Arbeiterorganisation die Unternehmerorganisation<br />
gegenübersteht.<br />
Die Tarifzeit bedeutet für die Unternehmer<br />
eine Periode der ungestörten Ausbeutung,<br />
aber auch eine Periode der Kampfrüstung.<br />
Man sagt nun, auch den Arbeitern<br />
komme diese Zeit zugute, die Organisation<br />
könne ausgebaut <strong>und</strong> Streikfonds können<br />
gesammelt werden. Was aber sind die Spargroschen<br />
der Arbeiter gegen das Kapital<br />
der Unternehmer? Diese dem Unternehmer<br />
gewährleistete Frist der Ruhe ist die Vervielfachung<br />
der kommenden Kampfperiode.<br />
Nur Narren können glauben, daß die<br />
rückständigen, bornierten Unternehmer<br />
Österreichs so begeistert auf die Idee mit<br />
den Tarifverträgen eingegangen wären, wenn<br />
es nicht i h r Vorteil wäre. Tausende Arbeiter<br />
verwünschen heute die Tarifverträge,<br />
die ihnen die Hände binden, die sie zwingen,<br />
die Zeiten der günstigen Konjunktur<br />
tatenlos verstreichen zu lassen, um dann<br />
gegebenen Falles sich in der Zeit der<br />
schlechten Konjunktur dem gut gerüsteten<br />
Gegner gegenüberstellen zu müssen. I s t es<br />
n i c h t W a h n s i n n , i m V o r a u s z u s a -<br />
g e n , i n d e m u n d d e m J a h r e , M o n a t<br />
u n d T a g w e r d e n w i r u | n s e r e K r ä f t e<br />
messen? Hier wird die Tarifgemeinschaft<br />
zum Verbrechen an die Arbeiter, <strong>und</strong> sie<br />
wird es immer mehr mit jeder neuen Tarifgemeinschaft,<br />
mit jeder Vertragserneuerung.<br />
Ihr brüstet euch mit der halben Million<br />
organisierter Arbeiter! Diese sind geb<strong>und</strong>en<br />
in H<strong>und</strong>erten von Verträgen <strong>und</strong> der Feind,<br />
der sie schlägt, hat die Waffen von euch.<br />
Was wir brauchen, um tatsächlich zu einer<br />
höheren Lebenshaltung zu kommen, ist<br />
folgendes: Die Arbeiterschaft stellt ihre Forderungen,<br />
die sie mit allen ihr zu Gebote<br />
stehenden wirtschaftlichen, sozialen Waffen<br />
zu erkämpfen sucht. Wollen die Unternehmer<br />
Verträge, dann gut, der Vertrag<br />
enthalte Minimallohn <strong>und</strong> Arbeitszeit. A b e r<br />
k e i n e Z e i t d a u e r . J e d e k o m m e n d e ,<br />
g ü n s t i g e K o n j u n k t u r w i r d b e n ü t z t ,<br />
u m n e u e F o r d e r u n g e n z u s t e l l e n<br />
u n d s i e zu e r k ä m p f e n . Nur so kann<br />
die Arbeiterschaft zu einer höheren Lebenshaltung<br />
gelangen. Man verteuert uns die<br />
Lebensbedürfnisse! Die erste beste Gelegenheit<br />
müßte benützt werden, damit wir uns<br />
in Form von höheren Löhnen schadlos<br />
halten.<br />
Das ist wahrer Klassenkampf, nicht<br />
Scheinmanöver, durch das man die Arbeiter<br />
einlullt. So kann der Kapitalismus zurückgedrängt,<br />
so kann Geldsackdünkel bekämpft<br />
werden. Direkter Kampf muß dem Kapitalismus<br />
entgegengesetzt werden, nicht vereintes<br />
Schachern um Brosamen, die man<br />
uns auch ohne dies zu geben gewillt ist.<br />
Das ist aber auch der einzige <strong>Weg</strong>, der<br />
die Arbeiterschaft für den Kampf schult,<br />
auf daß einstmals die wirtschaftliche Befreiung<br />
zur Tatsache wird. E. H.<br />
Die Politik ist ein schmutziges<br />
Geschäft.<br />
Vom sozialdemokratischen Reichsratsabgeordneten<br />
L u d w i g W u t s c h e l .<br />
• V o r b e m e r k u n g : Der Leser denke<br />
beileibe nicht, daß der h e u t i g e , der sozialdemokratische<br />
Parlamentspolitiker L. Wutschel<br />
den nachfolgenden, seine Partei, wie<br />
überhaupt alle politischen Parteien trefflich
illustrierenden Aufsatz g e g e n w ä r t i g<br />
schrieb. Er, wie auch Herr Dr. Adler, hüten<br />
sich heute davor, Wahrheiten über die Politik<br />
im allgemeinen zu sagen. Der Artikel<br />
stammt aus dem Wiener »Freidenker« vom<br />
30. November 1902, als Herr Wutschel<br />
eben — n o c h kein Reichsratsabgeordneter<br />
war! Das erklärt alles!<br />
Bei dieser Gelegenheit wollen wir<br />
nicht verfehlen, auf die 2. Nummer des<br />
»Freien Gedanken« hinzuweisen, die einen<br />
hochaktuellen <strong>und</strong> interessanten Artikel von<br />
unserem Fre<strong>und</strong>e Anton M a r k r e i t e r enthält,<br />
» Ü b e r die t o t g e s c h w i e g e n e n Urs<br />
a c h e n der S p a l t u n g i m ö s t e r r e i c h i -<br />
s c h e n F r e i d e n k e r t u m « . Diesem Aufsatz<br />
entnehmen wir nachstehenden selbständigen<br />
Artikel; Markreiters Aufsatz belehrt uns in<br />
ausgezeichneter Weise, wie schmutzig der<br />
M e n s c h Wutschel schon durch das<br />
schmutzige Geschäft des P o l i t i k e r s wurde.<br />
D. Red.<br />
*<br />
» D i e P olitik ist ein s c h m u t z i g e s<br />
G e s c h ä f t « . Der Ausspruch Dr. Adlers hat<br />
uns so gut gefallen, daß wir ihn nicht nur<br />
vollinhaltlich unterschreiben, sondern auch<br />
beschreiben wollen.<br />
So nützlich <strong>und</strong> notwendig die B e -<br />
s c h ä f t i g u n g mit ö f f e n t l i c h e n A n g e -<br />
l e g e n h e i t e n in S t a a t <strong>und</strong> G e s e l l s c h a f t<br />
(so verdeutschen wir das Wort Politik), ist,<br />
so gefährlich wird dieses Geschäft für die<br />
allgemeinen Sittlichkeitsbegriffe, wenn es<br />
im Übermaße betrieben wird. Ob wir den<br />
großen Weltpolitiker oder den kleinen<br />
Kirchturmpolitiker betrachten, sein Tun <strong>und</strong><br />
Lassen ist immer dasselbe. Es gibt nur ein<br />
Rezept für große wie für kleine Politiker.<br />
Der reinlichste Charakter muß, will er<br />
im öffentlichen Leben sich Geltung verschaffen,<br />
zunächst seine Konkurrenten ignorieren,<br />
totschweigen oder verkleinern.<br />
Fr braucht Gehilfen, Auguren, die bezahlt<br />
sein wollen. Da heißt es für »treue Dienste«<br />
belohnen, Pfründen <strong>und</strong> Sinekuren, Diäten<br />
<strong>und</strong> Sporteln schaffen.<br />
Je breiter die Schar der »Anhänger«<br />
wird, desto gefährlicher wird die Position<br />
des Führers. Gefährdet von innen <strong>und</strong><br />
außen. Schlüpfrige Elemente, strebernde<br />
Kriecher, moralfreie Subjekte aller Art verpesten,<br />
stets auf ihren Vorteil bedacht, die<br />
geistige Atmosphäre in immer größerem<br />
Umkreise.<br />
Um die Meute zusammenzuhalten, muß<br />
bald diesem, bald jenem ein Knochen hingeworfen<br />
werden. Im politischen Jargon<br />
heißt das kalt gestellt <strong>und</strong> warm gestellt<br />
werden.<br />
Aber der Gegner ruht nicht, er ist in<br />
der Wahl seiner Kampfesmittel skrupellos.<br />
Eine ehrliche Politik? Eine politische Moral?<br />
Sind i d e a l e Begriffe!<br />
Der Volksm<strong>und</strong> nennt schon einen<br />
schlauen, listigen Menschen p o l i t i s c h .<br />
Und er hat recht. Im großen wie im kleinen<br />
politischen Leben ist Klugheit, Schlauheit<br />
<strong>und</strong> List nötig, weil man sonst von dem<br />
Gegner übertölpelt wird. Aber diese politischen<br />
Eigenschaften steigern <strong>und</strong> vergröbern<br />
sich, die Klugheit wird zur Verdrehungskunst,<br />
die Schlauheit zur Verschlagenheit,<br />
die List zur Hinterlist.<br />
Und so geht es immer rascher mit den<br />
moralischen Qualitäten bergab. Lügen, Beschimpfungen,<br />
Verdächtigungen <strong>und</strong> Verleumdungen<br />
sind die nächste Serie. Den<br />
Schluß bilden politische Maßregelungen,<br />
Rechtsbeugungen, Gewaltakte <strong>und</strong> Gemeinheiten<br />
in allen Gestalten. Natürlich ruft der<br />
Betroffene im Namen der Menschlichkeit<br />
um Hilfe, was ihn ebenso natürlich nicht<br />
hindert, morgen dasselbe zu tun. Macht<br />
ist Recht <strong>und</strong> jeder Gewaltakt heißt politische<br />
Raison!<br />
Die Masse will kräftige Kost, Versprechungen,<br />
Prophezeihungen, ihre inner-<br />
sten Wünsche will sie ausgesprochen hören,<br />
E r f o l g e will sie sehen!<br />
Die Jagd nach dem Erfolg läßt keine<br />
Zeit, wählerisch in den Mitteln zu sein. Der<br />
Geriebenere ist Sieger <strong>und</strong> ihm jubelt der<br />
blinde Haufe zu, bis er durch List oder<br />
Gewalt eines noch glatteren Popularitätssüchtlings<br />
außer Kurs gesetzt wird.<br />
Der Erfolg, den die umschmeichelte,<br />
geköderte Masse bringt, garantiert aber<br />
keine Dauer. Wo alle niedrigen, tierischen<br />
Instinkte aufgepeitscht werden müssen, um<br />
Feuerwerks-Enthusiasmus zu erzielen, kommt<br />
der Rückschlag unvermeidlich.<br />
Die Politik ist in unserer raschlebigen<br />
Zeit zum schalen Handwerk geworden, sie<br />
bringt den Skrupellosen entweder bald<br />
empor oder verekelt dem ehrlichen Kämpfer<br />
das Ringen, ihm die erleichternden Worte<br />
erpressend: » D i e P o l i t i k i s t e i n<br />
s c h m u t z i g e s G e s c h ä f t ! «<br />
D i e m i t d e n l a n d e s l ä u f i g e n<br />
M i t t e l n e r r u n g e n e p o l i t i s c h e M a c h t<br />
ist T a l m i . V o n D a u e r k a n n n u r d i e<br />
a u f s i t t l i c h e r B a s i s h e r a n g e r e i f t e<br />
W e l t a n s c h a u u n g s e i n u n d d i e ihr<br />
e n t s p r u n g e n e m o r a l i s c h e M a c h t .<br />
P o l i t i s c h e Moral ist ein Unding, weil es<br />
in der Politik keine Moral gibt <strong>und</strong> nie gegeben<br />
hat.<br />
M o r a l i s c h e Politik zu treiben ist zwar<br />
ein langwieriger, dafür aber, nach unserer<br />
Auffassung, der einzige, zum <strong>Ziel</strong> führende<br />
<strong>Weg</strong>. „w."<br />
Offizielles Protokoll<br />
des Internationalen Antimilitaristischen<br />
K o n g r e s s e s<br />
gehalten zu Amsterdam, am 30.—31. August<br />
1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />
des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />
m e r h o r n .<br />
(Fortsetzung.)<br />
Erklären wir ein für allemal, so klar<br />
<strong>und</strong> energisch wie möglich, daß die deutschen,<br />
französischen, englischen etc. Arbeiter<br />
nicht Feinde sind, sondern daß alle<br />
einen gemeinsamen Feind haben: den<br />
Kapitalismus.<br />
Befreien wir uns von allen Vorurteilen<br />
des Patriotismus <strong>und</strong> des Nationalstolzes.<br />
<strong>Unser</strong>e wahren Feinde sind diejenigen, die<br />
uns beherrschen <strong>und</strong> die ihre Macht dazu<br />
benützen, um die Arbeiter auszubeuten <strong>und</strong><br />
zu bedrücken. Nur wenn wir uns von diesen<br />
befreien, werden wir ganz frei sein.<br />
Im Manifest der »Internationale«, während<br />
des Bürgerkrieges in Frankreich<br />
im Jahre 1871, sagte Marx, daß nur e i n e<br />
Art des Krieges eine Berechtigung habe :<br />
der Kampf der Sklaven gegen ihre Herren.<br />
Wir müssen überall erklären, daß unser<br />
<strong>Ziel</strong> die Abschaffung der internationalen<br />
Kriege ist, um an deren Stelle den inneren<br />
Frieden, die Befreiung des Proletariats, zu<br />
setzen.<br />
Als wegen Marokko zwischen Deutschland<br />
<strong>und</strong> Frankreich ein Krieg auszubrechen<br />
drohte, schickte die französische<br />
»Allgemeine Arbeitervereinigung« ( C o n -<br />
f é d é r a t i o n G é n é r a l e d u T r a v a i l )<br />
ihren Sekretär nach Berlin, damit er sich<br />
mit den Führern der deutschen sozialdemokratischen<br />
Partei <strong>und</strong> der Gewerkschaften<br />
in Verbindung setze, um durch eine<br />
großartige, gemeinsame Demonstration den<br />
Regierungen zu verkünden, daß die Arbeiter<br />
beider Länder auf alle nur mögliche<br />
Weise versuchen würden, den Krieg zu<br />
verhindern.<br />
Und wie wurde diese prächtige Idee<br />
in Berlin aufgenommen? Sowohl die Sozialdemokraten,<br />
wie die Gewerkschaftsführer<br />
haben dieselbe k u r z w e g a b g e w i e -<br />
s e n <strong>und</strong> damit gezeigt, daß sie ihrer Aufgabe<br />
in so schweren Zeiten gar nicht gewachsen<br />
sind <strong>und</strong> die wahre Bedeutung<br />
der internationalen Solidarität der Arbeiter<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />
nicht verstehen. Trotz allem werden wir<br />
aber unsere antimilitaristische Propaganda<br />
fortsetzen, wenn nötig ohne <strong>und</strong> gegen<br />
die sozialdemokratischen Parteiführer.<br />
Wir müssen unser Ideal unter den Massen<br />
verbreiten, um sie zu begeistern, denn<br />
ohne Ideal, ohne Begeisterung werden<br />
wir nie etwas erreichen; die großen Ideen<br />
entspringen immer aus den Herzen. Eines<br />
Tages wird es uns zur Ehre gereichen,<br />
daß wir zuerst den Kampf gegen das Ungeheuer,<br />
den Militarismus, aufgenommen<br />
<strong>und</strong> dem Kriege den Krieg erklärt haben.<br />
Professor Sergi in Rom sagt sehr<br />
treffend im »Courier Européen«: »Der<br />
Friede wird sich dann verwirklichen, wenn<br />
die Menschen, die Opfer des Krieges, die<br />
Opfer der Ausgaben für die Bewaffnung<br />
<strong>und</strong> die Opfer jener Sklaverei sind, die<br />
»allgemeine Wehrpflicht« heißt (eine Sklaverei,<br />
die sich kaum von der Sklaverei des<br />
Altertums unterscheidet) — wenn alle diese<br />
Menschen, sich weigern werden, den bestehenden<br />
barbarischen Zuständen Achtung<br />
zu zollen, — den Zuständen, die durch<br />
Machthaber geschaffen werden, die selber<br />
nie die Opfer von irgend etwas sind —<br />
<strong>und</strong> wenn sie den Kriegsrüstungen <strong>und</strong><br />
dadurch dem Kriege ein Ende machen<br />
würden.«<br />
Heute werden die Antimilitaristen überall<br />
verfolgt <strong>und</strong> bestraft, morgen werden<br />
sie siegen »wenn das sittliche Gefühl der<br />
Empörung allgemein <strong>und</strong> das große Vorurteil<br />
besiegen wird, das man »Vaterland«<br />
nennt. Und der allgemeine Frieden kann<br />
nicht aus diplomatischen Konferenzen entstehen,<br />
sondern nur durch die Massen, die<br />
sich vom Werkzeug des Krieges, vom<br />
Militarismus befreien werden.«<br />
N u r d i e p r o d u k t i v e n A r b e i t e r<br />
h a b e n d i e M a c h t i n H ä n d e n , d e n<br />
K r i e g u n m ö g l i c h z u m a c h e n , w e n n<br />
s i e es w o l l e n . Wir müssen sorgen, daß<br />
sich der Wille <strong>und</strong> die Macht vereinigen.<br />
Wenn man seit den 16 Jahren, die seit<br />
dem Brüsseler Kongreß verflossen sind,<br />
für die Ideen des Antimilitarismus nur<br />
halb so viel Propaganda gemacht hatte<br />
wie für das Wahlrecht, dann wären wir<br />
heute viel weiter. Sogar der deutsche Kaiser<br />
würde sich scheuen, einen Krieg anzufangen,<br />
wenn er wüßte, daß die 3¼ Millionen<br />
sozialdemokratischen Wähler entschlossene<br />
Sozialisten sind.<br />
Die Arbeiter können nie einen Nutzen<br />
aus dem Krieg haben, denn Arbeit <strong>und</strong><br />
Krieg sind unvereinbare Gegensätze. Nur<br />
der Sieg d e r Arbeit w i r d den Sieg<br />
des F r i e d e n s herbeiführen!<br />
Quittung<br />
vom 20. April bis 10. Juni 1908.<br />
C . Schönpr. K 5 4 0 , J . Machend 4 - , N . Eberg.<br />
1-20, St. Neuchât. 1 66, Win. Sils. Mar. 4 5 0 , Br.,<br />
Köln 1 1 7 0 , W., Hamburg 5 8 6 , M. Br<strong>und</strong>. 4 5 0 , N.,<br />
Eggenb. 3 4 0 , Str., Wien 2-40, Res., Wien 1-—, R.,<br />
Wey. 4 - - , Sehn. Schatzl. 1 2 0 , B . Skata 3 — , Sch.,<br />
Mariasch. 8-06, M., Marb. 8-40, N., Berlin 10-57, Dr.,<br />
Görlitz - - 8 5 , M., Bucz. 4-80, K., Reichenb. 1-20,<br />
K., Esseg — 60, L., Esseg — 60, Gr. Maxpl. 4 1 6 ,<br />
B., Skat. 3 6 0 , Kr., Brod 3 5 0 , Kr., Algier 2 8 5 , K,<br />
Spokane 4-90, K, Klagenf. 13-50, Jan., Machend. 4 20.<br />
N., Münch. 4-22, St., Vevey 9-52, N., Eggenb. 3-40,<br />
Ruh., Wey. 3(30, Wag., Wien 1 6 0 , R. Sternb. 2 - - ,<br />
B., Paris 5-71, L., Kostenbl. 1 2 0 , L., Brooklyn 4 - - ,<br />
Lucifer 2 - , Pekl. 1 - , Jel. 2 2 0 , Hirn. 1 - , Red. - - 3 0 ,<br />
Hüb. 1-44, Wag. 1-68, Nadl., London 5-—, Mandl,<br />
London 3 - , W e j . 3-78, Nav. 2 3 0 , Nav. 1 - , Pek.<br />
2-40, Kub. —-60, He. - 96, Ho. L 2 0 , W e . 5 8 0 , Hüb.<br />
1 20, Ra. 3-20, Le. —-72, Ha. 2-80, Schi. 2-40, Sch.<br />
2-04, W e j . 4- -, Kub. 7-50, Navr. Hör. 1 - - ,<br />
Ku. - - 5 0 , Ba. - - 5 0 , Hej. — 50, Kos. - - 6 0 , W. 580,<br />
Lik. 1 - - , Ram. 1-60, Lan. - - 6 0 , W a g . 2 3 0 , Vanna<br />
10-—, P. R. —-74, Schach. 2 04, Hüb. V—, Lucifer<br />
10-—, Herrn. Fritz 6 1 0 , Ra. 5-- -, Wag. - - 4 0 , Ra. 1 - ,<br />
Met.-Arb.-Verb. 2 4 0 , Pazd. 2-—, Lask. 1-—, Hora.<br />
!•—, Jelin. 1 - , Sch. Mariasch. 7 3 0 .<br />
Preßfond. Liste Nr. 8 K 6-40, Liste Nr. 36 6 5 0 .<br />
Sch., Wien 1 0 - - , Schuhm. Gewerksch. (für Vortr,<br />
v. Ramus) 4 — , Mika —-40, Likir 4-—, Cern., Wien<br />
- • 4 0 , Ira —-40, Preö-Komm. am 14. Juni — 9 0 ,<br />
Liste Nr. 4 10-65.<br />
A g i t a t i o n s f o n d . Liste Nr. 8 K 6 — , Liste Nr.<br />
36 —-20, Liste Nr. 4 4*60.
Wien, 19. Juli 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 14<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />
I./I7. — Gelder sind zu senden an<br />
W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />
5, HL/27.<br />
,,In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in alten ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die Ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />
Michael Bakunin zum Andenken.<br />
Und es schlägt eine St<strong>und</strong>e der Erfüllung für Alle, für Gerechte<br />
<strong>und</strong> Ungerechte! Längst tot geglaubt <strong>und</strong> scheinbar zu<br />
Staub <strong>und</strong> Asche geworden, entringt sich der Phönix der Wahrheit<br />
stets dem Banne seiner Widersacher. Mit unwiderstehlicher<br />
Kraft zum Angriff übergehend, erbaut sich sein ewiger Geist dann<br />
die Altäre des neuen Lebens, einer verjüngten Auferstehung, die<br />
nun die Huldigung dessen bringt, was sich unbezwingbar durch-<br />
rang <strong>und</strong> dem aie Zukunft<br />
gehört!<br />
Michael B a k u n i n s<br />
Name erklingt heute auf<br />
Tausenden von Lippen.<br />
Zum ersten Mal seitdem<br />
wir eine deutsch-österreichische,<br />
anarchistische<br />
Bewegung haben, soll<br />
dieser Giordano Bruno<br />
des Anarchismus durch<br />
vorliegende Gedächtnisnummer<br />
dem kämpfenden<br />
Proletariat unseres<br />
Landes näher gebracht<br />
werden, als Mensch, als<br />
Kämpfer, als Denker.<br />
Und es ist wahrlich eine<br />
Art Erfüllung, die für<br />
Bakunin angebrochen,<br />
denn während unsere<br />
staatlich - demokratischen<br />
Sozialisten vor nur wenigen<br />
Wochen den 25.<br />
Todestag von Karl Marx<br />
begingen, da dachten sie<br />
wohl nicht daran, daß es<br />
hier bei uns, wo der<br />
Anarchismus längst totgesagt,<br />
Männer <strong>und</strong><br />
Frauen gibt, die eines<br />
Mannes gedenken würden<br />
können, der der<br />
größte Widersacher von<br />
Karl Marx gewesen <strong>und</strong><br />
der den Massen eine Kampfesparole<br />
bot, die ihn<br />
diesen stets als edelstes<br />
Vorbild vor Augen führen<br />
wird, sobald sie aus<br />
ihrem Schlummer erwacht<br />
<strong>und</strong> wissen werden,<br />
wie <strong>und</strong> wofür zu<br />
kämpfen: M i c h a e l B a -<br />
kunins g e d e n k e n wir<br />
heute anläßlich s e i -<br />
nes 32jährigen T o d e s -<br />
tages. — Den marxistischen<br />
Einschläferern<br />
des Proletariats, seinen<br />
Verleumdern <strong>und</strong> Schmähern zum Trotz, dem Volke, für das er<br />
sein ganzes Leben lang kämpfte <strong>und</strong> rang, zu Nutz <strong>und</strong> Frommen.<br />
Michael Bakunin ist nicht tot! Sein Geist durchweht die<br />
Kampfeszelte unserer internationalen Bewegung, feiert eine lebendige<br />
Auferstehung in der nunmehrigen raschen Entwicklung der<br />
Arbeiterbewegung zu dem, was er aus ihr machen wollte, jenem<br />
idealen <strong>Ziel</strong>e entgegen, für das er sie begeisterte.<br />
Als Michael Bakunin vor 32 Jahren gestorben, da breiteten<br />
sich die Schatten der Reaktion über die internationale Arbeiter-<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2 -<br />
4 0 ;<br />
halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3.50, halbjährig F r . 1.75, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
bewegung. Der bismärckische Staatsgedanke des militaristischen<br />
Zentralismus, der marxistische Bismarckgedanke des Staatssozialismus<br />
feierten Triumphe, denn obwohl sie scheinbar einander widerstritten,<br />
insoferne es sich handelte um die Einführung des Sozialismus,<br />
arbeiteten sie doch darin einander in die Hände, daß sie<br />
den Staatsgedanken stärkten, ihn stützten <strong>und</strong> ihn gewissermaßen<br />
zur Unvermeidlichkeit des Völkerlebens ausgestalteten. Die deutsche<br />
Sozialdemokratie, der<br />
man durch die zehnjährige<br />
Knebelung des<br />
Sozialistengesetzes ihren<br />
ganzen Sozialismus benahm,<br />
die österreichische<br />
Sozialdemokratie, der<br />
man von oben tunlichst<br />
entgegenkam, sobald sie<br />
sich dazu bereit erklärte,<br />
den Kampf gegen die<br />
Radikalen gemeinsam mit<br />
der Regierung zu führen<br />
<strong>und</strong> die langsam, doch<br />
heute vollständig sich<br />
jedes überflüssigen, sozialistischen<br />
Ballastes entledigte<br />
<strong>und</strong> eine demokratische<br />
Reformpartei<br />
ward die Ära einer<br />
solchen Entwicklung war<br />
es, in deren Zeichen die<br />
letzten 25 Jahre sozialpolitischer<br />
Evolution in<br />
Europa standen <strong>und</strong> die<br />
bis heute noch nicht vollständig<br />
behoben sind.<br />
Und der Name Marx<br />
warf sein Strahlenlicht<br />
auf dieses Werden des<br />
gesetzmäßigen Entwicklungssozialismus,<br />
dessen<br />
Entwicklung darin bestand,<br />
daß er zu sein<br />
aufhörte <strong>und</strong> dessen<br />
Bourgeois-Vertreter die<br />
Maßnahmen der bestehenden<br />
Ordnung ins<br />
Fahrwasser des politischen<br />
«Fortschritts» zu<br />
leiten versuchten. Als ob<br />
derSozialismus, seineEntwicklung<br />
<strong>und</strong> Verwirklichung<br />
etwas zu tun<br />
hätten mit dem «Fortschritte»<br />
des Staates <strong>und</strong><br />
Kapitalismus!<br />
In dem wüsten Lärm<br />
der Betörung der Vernunft<br />
des Proletariats<br />
konnte es kommen, daß der Name Bakunins <strong>und</strong> die Prinzipien,<br />
für die er stand, zeitweise erstickt wurden. Sozialdemokratie <strong>und</strong><br />
Staatsautorität reichten sich in diesem Beginnen einmütig die Hände.<br />
Die Gedanken des autonomen, des herrschaftslosen, also anarchistischen<br />
Sozialismus wurden durch eine Dreieinigkeit von<br />
autoritärer Gewalt, gemeiner Verleumdungspolitik <strong>und</strong> ehrgeiziger,<br />
nach Ämtern jagender Parteigewalt gemeuchelt.<br />
Schon heute hat die Weltgeschichte ein neues Blatt aufgeschlagen!<br />
Wir haben die Früchte einer ein Vierteljahrh<strong>und</strong>ert
umfassenden Entwicklung vor uns <strong>und</strong> können gegenwärtig stolz<br />
behaupten: E s ist a l l e s s o g e k o m m e n , w i e M i c h a e l<br />
B a k u n i n <strong>und</strong> d i e M ä n n e r d e r J u r a f ö d e r a t i o n i n d e r<br />
a l t e n I n t e r n a t i o n a l e e s v o r a u s g e s a g t h a b e n ! A n der<br />
Erfüllung ihrer eigenen Entwicklung, an der totalen Vernichtung<br />
des revolutionären Oedankenganges des Sozialismus <strong>und</strong> des<br />
Proletariats mittels der parlamentarischen Taktik — dadurch hat die<br />
Sozialdemokratie alle Hoffnungen, die auf sie gesetzt wurden,<br />
durch die Tatsachen täglicher Ereignisse vernichtet, vernichten<br />
müssen.<br />
Weder ihr, noch dem eigentlich psychologischen Pakt, den sie<br />
mit der Staatsautorität geschlossen hat, ist es gelungen, die Geistesbefreiung<br />
<strong>und</strong> den revolutionären Kampf der Massen dauernd <strong>und</strong><br />
definitiv niederzuhalten. Es ging für geraume Zeit; aber heute<br />
ist es vorbei, eben deswegen, weil die Sozialdemokratie im Bewußtsein<br />
denkender Menschen aufgehört hat, die Vertreterin des Sozialismus<br />
zu sein. In eben derselben Weise wie die Bourgeoisie das<br />
Volk um seine Revolutionsfrüchte getäuscht hat in den historischen<br />
Acht<strong>und</strong>vierzigertagen, ganz ebenso hat die Sozialdemokratie schon<br />
heute dem Volke seine wahrhaft befreiende Kampfestaktik g e -<br />
nommen, ihm sein echtes <strong>Ziel</strong>, die Frucht seines sozialen Kampfes<br />
entführt, diesem Endziel das Proletariat entfremdet. Anarchistische<br />
Kräfte sind es, denen die Zukunft die Erhaltung des Sozialismus<br />
zu danken haben wird.<br />
Wie ein Gigant mit fast übermenschlich zu nennenden Formen,<br />
so ragt Michael Bakunin heute vor unserem geistigen Auge empor!<br />
Er, dessen riesenhafte Energie <strong>und</strong> Ausdauer uns das gab, was er<br />
begründete: d i e m o d e r n e a n a r c h i s t i s c h e B e w e g u n g ;<br />
er, der den Sozialismus als praktische Aktionsbetätigung dem<br />
ringenden Proletar bot <strong>und</strong> ihm da wies, daß jeder seiner Kämpfe<br />
ein Breschelegen ins bestehende System sein, <strong>und</strong> seine Kampfesorganisation<br />
d i e G r u n d z ü g e d e r f r e i e n a n a r c h i s t i s c h e n<br />
K o m m u n e d e r Z u k u n f t b i l d e n m u ß ; er. der uns den<br />
Sozialismus aufbewahrte in seiner ursprünglichen Reinheit <strong>und</strong><br />
gründlichen Tiefe, auf daß seine Kampfgenossen, Krapotkin,<br />
Reclus, Malatesta, Cafiero ti. a. m. die Gr<strong>und</strong>lehren seiner Theorie<br />
<strong>und</strong> Aktion weiter entwickeln, uns das bieten konnten, was Bakunin<br />
stets empfand <strong>und</strong> erstrebte: d e n k o m m u n i s t i s c h e n A n a r -<br />
c h i s m u s , d i e s e v o l l e n d e t s t e E i n h e i t <strong>und</strong> H a r m o n i e<br />
ö k o n o m i s c h e r G e r e c h t i g k e i t , s o z i a l e r N o t w e n d i g -<br />
k e i t <strong>und</strong> i n d i v i d u e l l e r , w i e g e s e l l s c h a f t l i c h e r F r e i h e i t .<br />
35 Jahre des rastlosesten Kampfes hat Michael Bakunin der<br />
Sache der Befreiung dargebracht <strong>und</strong> heute, 32 Jahre nach seinem<br />
Tode, tritt sein Bild noch weit lebendiger ins Relief unserer Zeit<br />
Michael Bakunin.*<br />
„Um diese Lippen zittert des Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
Vernichtungseifer, zuckt Voltaire'scher<br />
Spott, Rousseau'scher Geist<br />
<strong>und</strong> üiderot'sche Herbe".<br />
(M. E. dclle Grazie.)<br />
Große Gedanken bedürfen mehr als<br />
ihrer eigenen Kraft, um für das Leben der<br />
Menschheit zu ihrer ganzen Geltung zu<br />
gelangen. Sie wollen einen Geist, einen<br />
Apostel, der sie in ihrer Tiefe zu erfassen,<br />
bis zu ihrer letzten Grenze in den Einzelheiten<br />
zu begleiten vermag. Dennoch darf<br />
man sagen, daß sie nicht von dem Auftreten<br />
eines solchen abhängig sind; sind sie<br />
nur wirklich da, als wahres Eigentum einer<br />
Zeit, so finden sie ihn oder schaffen ihn<br />
selber.<br />
D a s w a r M i c h a e l B a k u n i n ! Ein<br />
Kind jener Zeit, die sehnend nach einem<br />
Apostel verlangte, der ihre schlummernden<br />
Gedanken erwecken sollte; ein Verkünder,<br />
Kämpfer, groß an Vernunft <strong>und</strong> Herzens-<br />
* Als einen Akt der Gerechtigkeit <strong>und</strong> des<br />
anerkennenden Dankes fühlen wir die Verpflichtung<br />
eines Hinweises auf die Materialien zu dieser kleinen<br />
Arbeit über Bakunin. Abgesehen von einigen persönlichen<br />
Quellenstudien- <strong>und</strong> erfreulichen Resultaten,<br />
sind wir für unsere intimere Kenntnis des<br />
Lebenswandels Bakunins vornehmlich dem Gen.<br />
Dr. M a x N e 1 1 1 a u verpflichtet. Fast ein Jahrzehnt<br />
opfermutiger For.scherarheit liegt in seinem großartigen,<br />
leider bis heute noch ziemlich unbekannten,<br />
weil s e l b s t hektographierten W e r k e über Michael<br />
Bakunin, das in allen größeren Bibliotheken Amerikas<br />
<strong>und</strong> Europas zu finden <strong>und</strong> in einer Auflage<br />
von nur 30 Exemplaren erschien. Eine kurze Skizze<br />
über Bakunin ist vom selben Autor auch im Verlage<br />
des „Freien Arbeiters" erschienen <strong>und</strong> für r<strong>und</strong><br />
3 0 h erhältlich; leider läßt das darin versprochene<br />
<strong>und</strong> so dringend notwendige Buchwerk über Bakunin<br />
noch immer auf sich warten. M ö g e dieser Fingerzeig<br />
unseren Lesern genügen, eine ausführlichere<br />
Bakuninbibliographie können wir an dieser Stelle<br />
nicht bieten.<br />
große, der tausendfältig das wieder zurückgab<br />
dem Oedanken, was er von ihm<br />
empfangen. In dieser Stärke seiner Auffassung<br />
<strong>und</strong> seines Empfindens, in der unerschütterlichen<br />
Festigkeit, mit welcher er<br />
Stand hielt <strong>und</strong> im Boden wurzelte, bis<br />
eine Epoche der Staatsmacht jene Bewegung<br />
des Aufbaues <strong>und</strong> darum der Zerstörung,<br />
die anarchistische Bewegung geboren<br />
— darin b e r u h t das u n v e r g ä n g -<br />
lich E r h a b e n e in der P e r s ö n l i c h k e i t<br />
v o n M i c h a e l B a k u n i n .<br />
Olücklicherweise ist unser Vorkämpfer<br />
keine muffige »historische Größe«, er hat<br />
nicht Einzug gehalten in die Stammbücher<br />
der Patentierten <strong>und</strong> Geaichten. Aber gerade<br />
deshalb ist er uns so unendlich lieb,<br />
weil es nur diejenigen sind, die arm, oder<br />
diejenigen, die längst verlernt haben, an<br />
den Geldbeutel zu schlagen, welche Bakunin<br />
feiern <strong>und</strong> seiner immer wieder gedenken.<br />
Gerade die wilde, titanische Kraft,<br />
die unbezähmbare Kühnheit dieses Mannes<br />
bilden für uns das vereinigende Solidaritätsband,<br />
u n s e r e aufbauende Stärke, u n s e r e<br />
geistige Heimatluft.<br />
Aus dem Leben von Michael Bakunin<br />
kann man eine große Wahrheit lernen:<br />
daß es nicht nur eine Philosophie des<br />
Wissens, sondern auch eine Philosophie<br />
der Tat gibt. Erobern wir uns diese letztere,<br />
<strong>und</strong> durch sie ehren wir <strong>und</strong> achten wir<br />
unseren Vorkämpfer, unseren unsterblichen<br />
M i c h a e l B a k u n i n !<br />
* *<br />
Michael Alexandrowitsch Bakunin war<br />
der älteste Sohn einer kinderreichen adeligen<br />
Familie <strong>und</strong> wurde am 8./20. Mai<br />
1814 in Prjamuchina, im Gouvernement<br />
Twer geboren. Seine Kindheit verlief sehr<br />
glücklich <strong>und</strong> nach Absolvierung des St.<br />
Petersburger Artilleriekollegs wurde er<br />
als es in der Vergangenheit, in seiner Periode, der Fall sein konnte.<br />
Denn wir, die wir uns freudig als seine Jünger <strong>und</strong> neuerstandenen<br />
Waffengefährten fahlen, wir leben in der Zeit einer kommenden<br />
Reife <strong>und</strong> Ernte all dessen, was ein Bakunin mit seinem Herzblute<br />
für uns gesäet. Der Ausblick in die Zukunft ist durch ihn klarer <strong>und</strong><br />
leuchtender geworden, indem Bakunin viele Wälle für uns stürmte,<br />
die uns sonst auch heute noch den Ausblick <strong>und</strong> <strong>Weg</strong> zur Freiheit<br />
gehemmt hätten. In unserem <strong>Ziel</strong>e: gesellschaftliche Anarchie,<br />
a l s o A u f l ö s u n g a l l e r H e r r s c h a f t s i n s t i t u t i o n e l l u n d<br />
S t a a t s f o r m e n , s o z i a l e O r d n u n g d u r c h d i e f r e i e V e r -<br />
e i n i g u n g a l l e r g e i s t i g u n d p h y s i s c h P r o d u z i e r e n d e n<br />
a u f d e r G r u n d l a g e d e r v o l l s t ä n d i g s t e n ö k o n o m i s c h e n<br />
G l e i c h h e i t , d e s K o m m u n i s m u s — darin ist die große<br />
Erfüllung der Menschheit, ihrer Zukunft <strong>und</strong> ihrer Glücksmöglichkeit<br />
gelegen. Es ist ein <strong>Ziel</strong>, dem wir unaufhaltsam zustreben, denn<br />
nicht zu bändigen ist der Freiheitsdrang im Menschen, sein Haß<br />
gegen alle Unterdrückung, gegen den Zustand sozialer Verarmung<br />
der Erzeugenden <strong>und</strong> Schaffenden, nicht lahm zu legen ist der<br />
Genius des Menschengeistes, der immer wieder aufs neue gegen<br />
die Bollwerke des Bestehenden anstürmt, uns in die Zukunft geleitet.<br />
Als ein solcher Bahnbrecher, Pionier der Anarchie, steht<br />
Michael Bakunin vor uns, er, dem wir Österreicher noch ganz insbesondere<br />
zu Danke verpflichtet sind, <strong>und</strong> wäre es auch nur, weil<br />
er auch auf unserem Boden gestritten <strong>und</strong> in Österreich fast sein<br />
Leben ausgehaucht hätte unter den Scharfrichterhänden der Staatsautorität.<br />
Aber, wie gesagt, sein Wesensgeist erlebt erfreulicherweise<br />
einen hohen Triumph, er hat nicht umsonst gelebt, das Werk<br />
seiner Lebenstat ist heute international geworden, <strong>und</strong> endlich ist<br />
es ihm auch vergönnt, in Deutsch-Österreich, im Lande klerikalen<br />
<strong>und</strong> noch halbfeudalen Herrschaftsdruckes, jene Würdigung zu<br />
empfangen, die uns eine Kampfesparole, eine Aufrüttelung <strong>und</strong><br />
Begeisterungsfackel sondergleichen, ein Ansporn im herrlich<br />
großen Streite für die vollständige Emanzipation aller Unterdrückten,<br />
Ausgebeuteten <strong>und</strong> Geknechteten.<br />
Für ihn, dessen wir heute in treuer Solidaritätsgefolgschaft<br />
gedenken, für ihn gilt jener Spruch des englischen Feuerkopfes<br />
P e r c y B y s s h e S h e l l e y , der sich wie ein Lorbeerkranz um das<br />
Haupt unseres Michael Bakunin legt:<br />
„Von Berg <strong>und</strong> W o g e <strong>und</strong> jagender Wolke<br />
Glänzt die Sonne durch Nebel <strong>und</strong> dunstigen Flor;<br />
Von S e e l e zu Seele, von Volke zu Volke,<br />
Von Stadt zu Dorf schwingt dein T a g sich empor —<br />
Wie Schatten der Nacht fliehen Skiav' <strong>und</strong> Tyrann,<br />
Wenn dein Licht zu leuchten begann!"<br />
(1832) als Fähnrich in ein in Litauen, im<br />
Gouvernement Minsk stationiertes Regiment<br />
verschickt. Dort verbrachte er zwei äußerst<br />
traurige Jahre: zum erstenmale in seinem<br />
jungen Leben sah er die Not in entsetzlichster<br />
Nacktheit vor sich. Angewidert von<br />
den Pflichten des Dienstes, legte er seine<br />
Charge nieder.<br />
In diesen Jahren hatte er viel gelesen,<br />
<strong>und</strong> die Schärfe seines Geistes manifestierte<br />
sich bereits in der Klarheit <strong>und</strong> Logik, mit<br />
welcher er die verschiedensten philosophischen<br />
Systeme umfaßte. Teils auf dem Gute<br />
seines Vaters, teils in Moskau <strong>und</strong> Petersburg<br />
lebend, studierte er mit besonderer<br />
Vorliebe die encyklopädistische Literatur;<br />
entscheidend für einige Zeit wirkte auch<br />
der literarische Cercle auf ihn, den Stankjewitsch,<br />
ein junger begabter Philosoph, um<br />
sich versammelt hatte. Dieser veranlaßte<br />
ihn zu Kantstudien <strong>und</strong> durch die Lektüre<br />
von Kants »Kritik der reinen Vernunft«<br />
lernte Bakunin, nach eigener Aussage,<br />
deutsch. Bald war er begeisterter Fichteaner<br />
<strong>und</strong> später (1837) wurde er Hegelianer. In<br />
dieser Zeit schloß er auch Bekanntschaft<br />
mit dem berühmten russischen Kunstästhetiker<br />
Belinski, kam auch mit Alexander<br />
Heizen zusammen. —<br />
Ungefähr zur selben Zeit als Karl Marx<br />
in der Redaktion der »Rheinischen Zeitung<br />
sich zum erstenmal mit materiellen Interessen<br />
beschäftigte, publizierte Bakunin anonym<br />
seine wider Shelling gerichtete Broschüre.<br />
die von Rüge in den »Deutsch. Jahrbüchern«<br />
sehr lobend besprochen ward. In letzterer<br />
täglicher Foliozeitung erschien sein glänzender<br />
Essay: »Die Reaktion in Deutschland.<br />
Ein Fragment von einem Franzosen«<br />
(17.—21. Oktober 1842), unterzeichnet Jules<br />
Elysard. In diesem Aufsatze unterwirft Bakunin<br />
die halben <strong>und</strong> schwankenden
Fre<strong>und</strong>e der Freiheit einer vernichtenden<br />
Kritik. Die Schlußworte dieses ersten sozialistischen<br />
Aufsatzes in Deutschland sind<br />
der berühmte <strong>und</strong> so oft zitierte Satz: » D i e<br />
Lust der Z e r s t ö r u n g ist z u g l e i c h<br />
eine s c h a f f e n d e Lust.«<br />
Von Berlin wandte sich Bakunin nach<br />
Dresden, woselbst er mit Herwegh zusammentraf.<br />
Schon längst hatte sich bei<br />
ihm die Umwandlung vom konservativen<br />
zum revolutionären Hegelianer vollzogen.<br />
In ungefähr dieselbe Periode fällt seine<br />
direkte Zuwendung zum Sozialismus, dessen<br />
Ideengänge er in den Persönlichkeiten von<br />
Weitling, Cabet <strong>und</strong> Proudhon zu beobachten<br />
Gelegenheit hatte. Wahrscheinlich<br />
war schon der erste Anstoß, den er geistig<br />
von Proudhon erhielt, genügend, wozu<br />
sich auch Bakunins Kenntnis der frischen<br />
<strong>und</strong> fröhlichen Jungdeutschen Bewegung<br />
in der Schweiz, die durch Marr, Standau<br />
u.a. die Vereinigung derökonomischen Ideen<br />
Proudhons mit dem Atheismus <strong>und</strong> Anarchismus<br />
erstrebte, gedanklich gesellen<br />
mochte. 1844 <strong>und</strong> die folgenden Jahre finden<br />
wir Bakunin in Paris, woselbst er auch Marx<br />
kennen lernte, doch gleich anfangs das ehrgeizige<br />
Wesen dieses Mannes mied.<br />
Von Rußland traf ihn die Nachricht,<br />
daß er seines Vermögens durch den Staat<br />
beraubt <strong>und</strong> zu lebenslänglicher Verschickung<br />
nach Sibirien verurteilt wurde —<br />
all dies, weil er sich geweigert hatte, nach<br />
seinem Vaterlande zurückzukehren. Nach<br />
einer Rede, die er im Jahre 1847 in einer<br />
Polenversammlung hielt <strong>und</strong> die voll revolutionären<br />
Hasses wider das offizielle Rußland<br />
ist, wurde er aus Paris ausgewiesen.<br />
Über die Ausweisung Bakunins kann<br />
man unmöglich sprechen, ohne eines anderen<br />
Umstandes, der dabei mitwirkte, Erwähnung<br />
zu tun. Sie wurde veranlaßt durch<br />
den russischen Gesandten Kisseleff. Wir<br />
wissen bereits, daß Bakunin gleich anfangs<br />
dem Charakter von Marx keine Sympathien<br />
entgegenzubringen vermochte; er stand dem<br />
Hause Marx auffallend ferne. Im Zusammenhang<br />
damit ist es interessant zu wissen,<br />
daß Kisseleff ein intimer Fre<strong>und</strong> des Hauses<br />
des preußischen Regierungsrates Baron von<br />
Westphalen war. Die Tochter dieses Hauses,<br />
Jenny von Westphalen, war die Gattin<br />
von Marx.<br />
* *<br />
In einem Briefe an E m m a H e r w e g h ,<br />
datiert vom 6. September 1847, sagte Bakunin<br />
scherzend:<br />
»Ich aber warte auf meine, oder wenn<br />
ihr wollt, auf unsere gemeinschaftliche Frau<br />
die R e v o l u t i o n . Nur dann werden<br />
wir wirklich glücklich, d. h. wir selbst sein,<br />
wenn der ganze Erdboden im Brande steht.«<br />
Diese halb scherzenden, halb prophetischen<br />
Worte sollten sich bald erfüllen <strong>und</strong><br />
zu keiner Zeit haben wir schöner Gelegenheit,<br />
die Übereinstimmung zwischen Trachten<br />
<strong>und</strong> Handeln in dieser großen Revolutionsgestalt<br />
zu bew<strong>und</strong>ern, als gerade in<br />
den Jahren 1848 <strong>und</strong> 1849, da Bakunin<br />
sein Möglichstes tat, damit wirklich »der<br />
ganze Erdboden im Brand« stehe. Seines<br />
<strong>Ziel</strong>es war er sich damals schon vollständig<br />
klar, denn aus dem »roten Jahre« stammt<br />
ein Brief von ihm, der an Georg Herwegh<br />
gerichtet ist, <strong>und</strong> in dem er ausdrücklich<br />
darlegt, daß seine Hoffnung die Anarchie,<br />
also die Beseitigung der Staaten sei!<br />
Im Juni des Jahres 1848 sehen wir<br />
Bakunin auf dem Prager Slavenkongresse,<br />
nachdem er vorher definitiv mit Marx <strong>und</strong><br />
Engels gebrochen hatte, die schon einige<br />
Monate später dafür bittere Rache an ihm<br />
nahmen. Wie wenig er mit den Tendenzen<br />
des obigen Kongresses zu tun hatte; wie<br />
klar er erkannte, daß es Rußland war,<br />
welches das eigentlich entscheidende Moment<br />
zwischen dem Kampf der Reaktion<br />
<strong>und</strong> Revolution des 48er Jahres, die Hoffnung<br />
einer russischen Allianz <strong>und</strong> die<br />
Furcht vor einer Invasion, bildete, geht aus<br />
seinen kühnen Artikeln in der »Dresdener<br />
Zeitung« hervor, die anfangs 1849 erschienen<br />
<strong>und</strong> die ganze militärische Inkompetenz<br />
Rußlands so trefflich darstellten,<br />
daß sie sogar heute noch die besten Erklärungen<br />
für das russische Debacle in der<br />
Mandschurei liefern könnten. — Doch vorher,<br />
6. Juli 1848, stand in der von Marx,<br />
Engels etc. geleiteten »Neuen Rheinischen<br />
Zeitung« zu lesen, daß die Dichterin George<br />
Sand die Beweise besäße, welche darlegen,<br />
Bakunin wäre ein Spion der russischen Regierung.<br />
Durch einen Brief, den sich Bakunin<br />
von der Sand sofort verschaffte, in dem<br />
sie völlig in Abrede stellte, sich jemals so<br />
geäußert zu haben, wie ihr zugeschrieben<br />
wurde, wurde diese Verleumdung niedergeschlagen,<br />
allein sie war immerhin im<br />
Stande, Bakunins Tätigkeit vorderhand zu<br />
hindern.<br />
In der Betätigung Bakunins an der<br />
Dresdener Mairevolution erreicht seine revolutionäre<br />
Teilnahme an den Sturmjahren<br />
ihren Höhepunkt. Leider schloß er sich erst<br />
am 6. Mai der Bewegung an, zuerst bewogen<br />
durch Heubner — ein Mitglied der<br />
provisorischen Regierung — dem er in<br />
Fre<strong>und</strong>schaft zugetan war. Was Bakunin<br />
aber für die Stadt bedeutete, das kann man<br />
zusammenfassen in den wenigen Worten,<br />
die ich jenem historischen Dithyrambus<br />
auf Bakunin entnehme, den A d o l p h S t r e c k -<br />
fuß in dem 1850 zu Berlin erschienenen<br />
»Volks-Archiv« publizierte, in dem er sagt:<br />
» . . . Von diesem Augenblicke (als Bakunin<br />
sich der Revolution anschloß) aber<br />
wurde er auch ihr Haupt <strong>und</strong> ihre Seele.<br />
Sei es nun, daß der Gr<strong>und</strong> davon entweder<br />
Bakunins persönliches Übergewicht oder<br />
die bloße Fassungslosigkeit seiner Kollegen<br />
war: genug, mit Bakunins Auftreten zeigte<br />
die Revolution jene Energie, welche im<br />
Anfang vielleicht den Sieg, nun aber nur<br />
noch ein rühmliches Ende erringen konnte.<br />
Die Verteidigung, der Angriff, die Propaganda<br />
übers flache Land, das alles gewann<br />
unter Bakunins Einfluß ein frischeres Aussehen<br />
. . .«<br />
Allein es war zu spät. Dieweil Richard<br />
Wagner steckbrieflich verfolgt wurde, ward<br />
Bakunin in der Nacht vom 9.— 10. Mai<br />
1849 von sächsischen Krämern überfallen<br />
<strong>und</strong> den preußischen Soldaten ausgeliefert.<br />
*<br />
Es sind nicht Jahre des Martyriums,<br />
die nun für Bakunin beginnen. Er gehörte<br />
nicht zu den schwachen <strong>und</strong> schwächlichen<br />
Prügeljungen der Geschichte, die das<br />
Schafott oder den Scheiterhaufen besteigen<br />
müssen, ohne sich dieser persönlichen<br />
Rache, welche ihnen das herrschende<br />
System widerfahren läßt, überhaupt würdig<br />
gemacht zu haben <strong>und</strong> wirklich gefährlich<br />
gewesen zu sein. Bakunin tritt uns entgegen<br />
als ein Mann, der niemals Märtyrer, s t e t s<br />
nur ein O p f e r der s t a a t l i c h e n Barb<br />
a r e i gewesen; ein Opfer, an dem sie in<br />
ohnmächtigem Grimm ihre kaltblütig berechnete<br />
Grausamkeit ausübten, das sie aber<br />
fürchteten <strong>und</strong> vor dem sie mit Recht<br />
zitterten, zagten.<br />
Zweimal zum Tode verurteilt, wurde<br />
das Urteil über ihn zum drittenmale in<br />
lebenslängliche Zuchthausstrafe umgewandelt.<br />
Allein schon im Jahre 1850 sollte eine<br />
Wandlung seines entsetzlichen Schicksals<br />
sich vollziehen. <strong>Weg</strong>en seiner Beziehungen<br />
zu den konspirativen Organisationen in<br />
Böhmen, hauptsächlich Prag, wurde er an<br />
Österreich ausgeliefert. Seine Haft war eine<br />
ungemein harte. Im Mai 1851 fand seine<br />
dritte Verurteilung zum Tode (durch den<br />
Strang) statt. Wieder retteten ihn glückliche,<br />
unverhoffte Zufälle. Zuerst begnadigt zu<br />
lebenslänglichem, schwerem Kerker, begann<br />
nun Rußland ihn für sich zu reklamieren.<br />
Bald war er lebendig begraben in der<br />
schauerlichen Peter-Paul-Festung, von da<br />
wurde er überführt nach der Schlüsselburg,<br />
<strong>und</strong> sein ganzes Denken <strong>und</strong> Empfinden<br />
konzentrierte sich nun auf den Gedanken:<br />
entweder eine Rettung aus diesen entsetzlichen<br />
Qualen, oder der Tod. Glücklicherweise<br />
gelang es 1857, für ihn eine Verschickung<br />
nach Westsibirien zu erwirken.<br />
In Sibirien ging es ihm später ziemlich<br />
erträglich. Er verheiratete sich dort mit<br />
der Tochter eines polnischen Exilierten<br />
namens Antonie Wassiliewicz Kwiatkowski.<br />
Endlich im Jahre 1861 konnte er nach<br />
mancherlei Überwindung von großen<br />
Schwierigkeiten seine Flucht bewerkstelligen;<br />
über Japan <strong>und</strong> Kalifornien gelangte<br />
er Ende des Jahres in London an. -<br />
Im Jahre 1853, als Bakunin in der<br />
sächsischen Festung Königstein in Ketten<br />
lag <strong>und</strong> sein Todesurteil erwartete; lanzierte<br />
Marx abermals jene Beschuldigung in die<br />
Presse, welche George Sand bereits nachdrücklichst<br />
zurückgewiesen hatte. Über den<br />
Mann, der über zwölf Jahre seines Lebens<br />
in deutschen, österreichischen, russischen<br />
Gefängnissen <strong>und</strong> in Sibirien auf dem Altar<br />
der Freiheit niedergelegt, konnten Marx<br />
<strong>und</strong> seine Kreise solch eine Beschuldigung<br />
ausstoßen! Derselbe Marx hatte im Jahre<br />
1874 den traurigen Mut zu schreiben: »Die<br />
revolutionäre Vergangenheit des permanenten<br />
Bürgers Bakunin war nicht ruhmreich<br />
genug . . .« etc.* Und erst neuerdings beeilen<br />
sich die M<strong>und</strong>stücke der sozialdemokratischen<br />
Partei wieder, das Andenken an<br />
die revolutionäre Vergangenheit des herrlich-großen<br />
Revolutionärs Michael Bakunin<br />
mit dem Schlamm der Verleumdung zu<br />
besudeln.**<br />
Wohl selten hat ein Mann es verstanden,<br />
mit solch kraftvoller Energie wie<br />
Bakunin dies tat, die Gesamtsumme seines<br />
Lebens, seines idealen Strebens <strong>und</strong> Denkens<br />
noch in den letzten zehn Jahren seines persönlichen<br />
Wirkens mit gleicher Kühnheit <strong>und</strong><br />
Heldengröße zum Ausdruck zu bringen,<br />
Die letzte Periode seines grandiosen Lebens<br />
findet ihn ungebrochen, nein, neuverjüngt,<br />
denn er hat sich vollkommen abgewendet<br />
von irgend welchen Spezialanschauungen<br />
über die Frage des <strong>Weg</strong>es <strong>und</strong> der Taktik,<br />
für ihn gibt es nur mehr das revolutionäre<br />
Proletariat <strong>und</strong> die direkte Aktion gegen<br />
den Staat <strong>und</strong> das Privateigentum. Die Revolte<br />
der Massen, die Einzeltat des Pioniers,<br />
die Zusammenfassung der mutigsten revolutionären<br />
Elemente, das gründlichsteStudium<br />
in der Schule des Lebens mit seinen vielen<br />
Kämpfen, die entschlossenste Zurückweisung<br />
der Tücke <strong>und</strong> Lüge — damit sind<br />
seine letzten Jahre ausgefüllt, <strong>und</strong> durch sie<br />
erringt er eine unvergleichlich hohe Bedeutung<br />
für unsere modernen sozialen<br />
Kämpfe: denn B a k u n i n ist der V a t e r<br />
der m o d e r n e n a n a r c h i s t i s c h e n B e -<br />
w e g u n g , die sich wohl in ihren Mitteln<br />
vielfach geändert hat, in ihrem <strong>Ziel</strong> <strong>und</strong><br />
Streben aber in ungleich entwickelterem<br />
Grade ihrem Begründer treu geblieben ist.<br />
In Italien war er es, der den Samen<br />
des revolutionären Sozialismus zuerst ausstreute,<br />
<strong>und</strong> im Gegensatze zu Mazzini<br />
gründete er dorten die »Allianz der sozialen<br />
Demokratie«; Männer vom Schlage eines<br />
Malatesta, eine herrliche Persönlichkeit wie<br />
Carlo Cafiero u. a. schlossen sich ihm an<br />
<strong>und</strong> waren der beste Rückhalt für seine<br />
Propaganda. Auf dem ersten Kongreß der<br />
Freiheits- <strong>und</strong> Friedensliga, abgehalten in<br />
Genf 1867, ertönte seine Stimme im Sinne<br />
* „Ein Komplott gegen die Intern." ( S . 9.)<br />
** Vgl. Gustav J a e c k s : „Die Internationale"<br />
Leipzig 1904.
der anarchistischen Ideale, er wies auf die<br />
Unzulänglichkeit jeder bourgeoisen Halbheit<br />
hin.<br />
Nun aber setzt der große Kampf ein,<br />
der sich entspann zwischen Bakunin <strong>und</strong><br />
Marx, ein Kampf, aus dem der erstere damals<br />
als formeller Sieger hervorging, der<br />
in nächster Zukunft jedoch endgiltig die<br />
Siegesentscheidung, den endlichen Triumph<br />
jenen überlassen wird, die sich als die Anhänger<br />
Bakunins betrachten dürfen — den<br />
modernen kommunistischen Anarchisten im<br />
Gegensatz zur Sozialdemokratie. Es ist verfehlt,<br />
den Kampf zwischen beiden Giganten<br />
unter dem Gesichtswinkel eines persönlichen<br />
Literatengezänks zu betrachten, denn<br />
nicht mehr noch weniger war es, als der<br />
erste große Kampf zwischen dem S t a a t s -<br />
kommunismus <strong>und</strong> resp. wider die Prinzipien<br />
der Freiheit, der Anarchie, wie sie<br />
heute formuliert sind im anarchistischen<br />
Kommunismus.<br />
Als seine Versuche, die Freiheits- <strong>und</strong><br />
Friedensliga als eine revolutionäre Organisation<br />
der »Internationalen«anzugliedern, vergeblich<br />
blieben, trat Bakunin aus derselben<br />
<strong>und</strong> mit ihm u. a. Elisee Reclus, Aristide<br />
Rey, Fanelli etc. aus, <strong>und</strong> sie gründeten in<br />
Genf die »Intern. Allianz der soz. Demokratie«.<br />
Anfangs handelte es sich um Formalitäten,<br />
aber schließlich setzte Marx er<br />
doch durch, daß die Allianz sich formell<br />
auflosen mußte. Jedoch ließen die persönlichen<br />
Beziehungen der Fre<strong>und</strong>e eine tatsächliche<br />
Auflösung gar nicht zu, <strong>und</strong> so blieb<br />
denn im Schoß der »I.« die »I. A.« mit<br />
ihrem anarchistisch-atheistischen Programme<br />
bestehen. Man mag vielleicht fragen, was<br />
Bakunin damit bezweckte. Es geschah dies<br />
aus dem einfachen Gr<strong>und</strong>e, weil es seinem<br />
kühnen Gedankenflug nicht genügen wollte,<br />
das Proletariat bloß auf ökonomischem Kampfesfelde<br />
zu assistieren. Ihm handelte es<br />
sich darum, die revolutionäre Aktion wirken<br />
zu lassen, durch ihre propagandistische<br />
Entfaltung das Volk zu kühnen Taten mitzureißen.<br />
Kurz, die Allianz sollte eine revolutionäre<br />
Körperschaft sein, dieweil die<br />
»I.« eben nur eine große Solidaritätsgewerkschaft<br />
darstellte. Und gerade die Tatsache,<br />
daß Bakunin ihrer geheimen Existenz zustimmte,<br />
lehrt, wie wenig dieser Heldengestalt<br />
der sozialen Revolution an dem<br />
persönlichen Ansehen lag.<br />
* *<br />
*<br />
Mit steigender Erbitterung gewahrte<br />
Marx, wie sehr Bakunins Einfluß in der<br />
»I.« im Zunehmen begriffen, umsomehr<br />
als letzterer über bedeutende Rednergaben<br />
verfügte, welche Marx bekanntlich mangelten.<br />
Aber noch sollte der Kampf nicht<br />
zum endlichen, unvermeidlichen Austrag<br />
kommen. Bakunin übersiedelte nach Locarno,<br />
<strong>und</strong> seine Briefe an Ogarjow zeigen,<br />
wie glücklich er sich dort fühlte. Aus<br />
Geldnot machte er sich an die russische<br />
Übersetzung der »ökonomischen Metaphysik«,<br />
wie er das Marxsche »Kapital«<br />
nannte.<br />
Da kam der deutsch-französische Krieg<br />
mit seinen bismärckischen Nackenschlägen<br />
für Frankreich, es kam die Pariser Kommune.<br />
Schon vorher hatte James Guillaume,<br />
in intimer Fre<strong>und</strong> von Bakunin, ein Manifest<br />
erlassen, in dem er dazu aufforderte,<br />
der französischen Republik zu helfen wider<br />
Preußen <strong>und</strong> seine Blut- <strong>und</strong> Eisenmacht.<br />
Bakunin stimmte mit dem Gedankengang<br />
dieses Manifestes vollständig überein. Der<br />
Generalrat der »I.« — also Marx — natürlich<br />
nicht; erst später gewann Marx sicheren<br />
Boden behufs definitiver Stellungnahme<br />
zur Kommune etc., unter den Füßen. Mittlerweile<br />
ist Bakunin nicht müßig, er verfolgt<br />
genau die Verhältnisse <strong>und</strong> Zuspitzung<br />
der Dinge. (»Briefe an einen Franzosen über<br />
die gegenwärtige Krisis«). Er reiste nach<br />
Lyon, tat dort sein Möglichstes, um trotz<br />
des Verrates von Cluseret einen Aufstand<br />
herbeizuführen. Bitter enttäuscht mußte er<br />
abreisen. Verkleidet, mit abgeschnittenem<br />
Kopfhaar, rasiertem Antlitz, das durch eine<br />
große blaue Brille entstellt war, kehrte er<br />
wieder nach der Schweiz zurück.<br />
1871 erschienen zwei Broschüren von<br />
Bakunin: »Das Knuto-germanische Kaiserreich<br />
<strong>und</strong> die soziale Revolution«; dann<br />
»Die politische Theologie Mazzinis <strong>und</strong> die<br />
»I.« Das versprochene große Werk über<br />
»Gott <strong>und</strong> der Staat« ist niemals beendet<br />
worden, doch selbst das Fragment, welches<br />
wir besitzen, ist unschätzbar wertvoll für<br />
die Idee der Anarchie. Wer ihm einen<br />
Vorwurf daraus machen wollte, daß es<br />
nur ein Fragment sei, dem antwortete er<br />
stolz: »Auch mein Leben ist ein Fragment«.<br />
* *<br />
*<br />
Marx wollte ein Ende machen. Bakunins<br />
Einfluß, wie er z. B. auf dem Kongreß<br />
zu Sonvillier (1871) zu Tage trat, war<br />
ihm unerträglich geworden. Nach Herausgabe<br />
eines Zirkulars über »Die behaupteten<br />
Spaltungen in der »I.«, nach unzähligen Verleumdungsattacken<br />
durch Borckheim, Liebknecht,<br />
Bebel, Hess, Utin etc., nach Duldung<br />
der gemeinsten Infamien verübt an Bakunin<br />
nach alldem stand dieser Mann hocherhobenen<br />
Hauptes da, unüberwindlich <strong>und</strong><br />
in organisatorischer Hinsicht erfolggekrönt.<br />
Bakunins Tätigkeit in der »l.« ist es zu<br />
danken, daß es Marx niemals gelang, wie<br />
er es mit allen erdenklichen Mitteln bezweckte,<br />
die große Organisation zu einer<br />
parlamentarisch-politischen Sekte herabzuwürdigen,<br />
den Parlamentarismus obligatorisch<br />
in der »l.« zu machen.<br />
Aber länger konnte Marx es nicht aushalten,<br />
<strong>und</strong> da es ihm nicht mit ehrlichen<br />
Mitteln gelang, wider seinen Widersacher<br />
aufzukommen, mußten die unehrlichen herhalten.<br />
Marx berief einen Kongreß nach<br />
dem Haag ein; er wußte, daß Bakunin, der<br />
in der Schweiz war, der Zutritt zu irgend<br />
einem der umliegenden Länder verwehrt<br />
war. Der Kongreß war »gepackt«, d. h.<br />
zahlreiche falsche Mandate waren von Marx<br />
ausgestellt worden <strong>und</strong> durch eine Kommission<br />
von fünf Männern, in der sich, wie<br />
nachträglich erwiesen, zwei Polizeispione<br />
befanden, wurden Bakunin <strong>und</strong> Guillaume<br />
aus der »I.« ausgeschlossen, wie auch die<br />
Juraföderation suspendiert. Die Anschuldigungen,<br />
welche Marx wider Bakunin erhob,<br />
sind heute in ihrer ganzen erbärmlichen<br />
Nichtigkeit <strong>und</strong> Gemeinheit allbekannt <strong>und</strong><br />
leicht nachweisbar.*<br />
Marx hatte äußerlich gesiegt, doch in<br />
der Wirklichkeit verloren. Der Ausschluß<br />
der energischesten Elemente tötete die »I.«<br />
von 1864. Nur mehr der »bakunistische<br />
Flügel bestand noch jahrelang weiter.<br />
Es bleibt uns noch übrig, die fernere<br />
Tätigkeit Bakunins zu skizzieren. Aber<br />
einige Andeutungen müssen genügen. In<br />
Italien, in Spanien <strong>und</strong> indirekt für die<br />
russische Bewegung, für alles <strong>und</strong> überall<br />
arbeitete er noch, mit Einsetzung seines<br />
Lebens, unermüdlich an seinem Lebenswerke,<br />
an dem revolutionären Gedeihen<br />
der Revolution. Sie allein bildete den Gedanken,<br />
der ihn über die materielle Not<br />
<strong>und</strong> Misère des Tages erhob. Die letztere<br />
wurde manchmal gelindert durch die Hilfe<br />
der Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Gefährten. Am 9. Oktober<br />
begab sich Bakunin nach Lugano <strong>und</strong> lebte<br />
dort bis kurz vor seinem Tode. Die Wassei-<br />
* W i r verweisen bei dieser Gelegenheit auf<br />
das glänzende <strong>und</strong> vorzüglich - ausführliche Geschichtswerk<br />
unseres alten Kampfpioniers J a m e s<br />
G u i l l a u m e über „ D i e I n t e r n a t i o n a l e " . Dokumente<br />
<strong>und</strong> Gedenkblätter. (1864—1874), Verlag<br />
der Société Nouvelle de Librairie et D'Edition.<br />
Rue de Vaugirard 101, Paris, das drei Bände umfassen<br />
wird <strong>und</strong> von dem der I. <strong>und</strong> II. Band bereits<br />
vorliegen.<br />
sucht, als Folge einer schweren Herzkrankheit,<br />
beschleunigte diesen, <strong>und</strong> am 1. Juli<br />
1876 hatte sein Herz, das stets dem Idealen<br />
<strong>und</strong> Erhabenen entgegenpochte, aufgehört<br />
zu schlagen.<br />
* *<br />
*<br />
Michael Bakunins Leben war der unaufhörliche<br />
Kampf wider jede Autorität,<br />
<strong>und</strong> seine Absicht läßt sich ausdrücken in<br />
dem Satze: Wo Zentralisation herrscht,<br />
herrscht Dummheit! Treu ist er dieser Idee<br />
immer verblieben; in ihm finden wir einen<br />
Mann, der mit dem Erkennen, mit der reinen<br />
Anschauung der Welt <strong>und</strong> dem heiligsten<br />
Glauben an die Zukunft der Menschheit<br />
<strong>und</strong> seines Ideals die Tat verband,<br />
nicht im Winkel grübelnd verkommen,<br />
sondern durch die Pandestruktion die Wiedergeburt<br />
der Gesellschaft herbeiführen<br />
wollte; er ist eine Kampfesgestalt, die umso<br />
erhabener, als ihre Sturmestage in stetem<br />
Kampfe wider persönliches Mißgeschick <strong>und</strong><br />
materielles Elend verlaufen, die aber Bakunin<br />
niemals von der g e r a d e n Bahn des<br />
wahren Befreiungskampfes abzubringen vermochten,<br />
die Bahn, auf der das persönlichste<br />
Mitleiden <strong>und</strong> Mitertragen all dessen,<br />
was das Volk drückt, gelegen ist.<br />
Lernen wir Bakunin gut verstehen, begeistern<br />
wir uns an der Heldengröße des<br />
Kämpfers <strong>und</strong> herrlichen Menschen; gewiß<br />
wird es uns dann gelingen, all die Kraft, den<br />
Geist <strong>und</strong> die schöpf erische Tat des Volkes zusammenzuschließen<br />
— zur großen Schöpfung,<br />
zur Erzeugung des Stromes, der alle Quellen<br />
des Volkes zur befreienden Tat mit sich<br />
fortreißt, zu einem Werden der Gerechtigkeit,<br />
der Gleichheit <strong>und</strong> Freiheit.<br />
Pierre Ramus.<br />
Michael Bakunin <strong>und</strong> Karl<br />
M a r x .<br />
Es ist gewiß merkwürdig, daß man<br />
Bakunin immer lieber gewinnt, je mehr<br />
man ihn kennen lernt, sich mit ihm beschäftigt;<br />
im Gegensatze zu Marx, der uns<br />
bei näherer Bekanntschaft immer kleiner<br />
erscheint <strong>und</strong> in unserer Würdigung wird.<br />
Was Bakunin in einem seiner letzten Briefe<br />
schrieb: »Will die r e v o l u t i o n ä r e Tätigkeit<br />
ein w i r k u n g s v o l l e s R e s u l t a t haben,<br />
dann darf sie ihre S t ü t z e niemals<br />
in g e m e i n e n <strong>und</strong> n i e d e r e n Leid<br />
e n s c h a f t e n s u c h e n ; sie muß e s wohl<br />
v e r s t e h e n , daß k e i n e R e v o l u t i o n o h n e<br />
h ö h e r e , s e l b s t v e r s t ä n d l i c h m e n s c h -<br />
l i c h e I d e a l e j e zum S i e g e k o m m e n<br />
kann« — dem Tiefsinne dieses Satzes hat<br />
Bakunin stets nachgestrebt, ihm sein ganzes<br />
Leben gewidmet. Und darum ist er uns so<br />
teuer als Vorkämpfer, selbst mit seinen ihm<br />
nachgesagten Fehlern, ja oftmals gerade<br />
durch diese, ob dieser.<br />
Marx tritt uns entgegen wie ein. moderner<br />
M o s e s . Auf zwei steinernen Tafeln bot<br />
er uns den Marxismus, seine Lehre dar,<br />
<strong>und</strong> haben uns auch seine theoretischen<br />
Gesetze im Stich gelassen, übrig blieb dennoch<br />
das Eherne <strong>und</strong> Unbeugsame der<br />
Steintafeln. Bakunin wieder gleicht dem<br />
Satan, den er so köstlich schilderte in seinem<br />
großartigen Werke über »Das knuto-germ<br />
a n i s c h e K a i s e r r e i c h <strong>und</strong> die s o z i a l e<br />
R e v o l u t i o n « (1870 — 1871), als »den<br />
geistigen Gebieter aller Revolutionäre der<br />
Vergangenheit, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft,<br />
den wirklichen Urheber der menschlichen<br />
Befreiung laut dem Zeugnis der Bibel, den<br />
Verneiner des himmlischen Reiches, wie<br />
wir jede irdische Herrschaft verleugnen, als<br />
den Schöpfer der Freiheit«, weil der Empörung.<br />
In Marx <strong>und</strong> Bakunin haben wir es<br />
mit zwei Titanen zu tun, <strong>und</strong> so darf es<br />
nicht W<strong>und</strong>er nehmen, wenn der Kampf<br />
zwischen ihnen titanisch geführt wurde.
Als Mazzini den Arbeitern zurief:<br />
»Seid gewarnt vor der Internationalen Arbeiterassoziation!<br />
S i e ist der Teufel!« —<br />
da nahm Bakunin diese Bezeichnung an,<br />
<strong>und</strong> er sagte: »Gewiß, wir sind die Partei<br />
des Teufels. Aber was will dieser Teufel<br />
eigentlich haben? Er behauptet folgendes:<br />
1. Jeder Arbeiter soll den vollen Ertrag<br />
seiner Arbeit haben.<br />
2. Alle Reformen <strong>und</strong> Revolutionen<br />
sind wertlos, so lange die arbeitenden<br />
Massen im wirtschaftlichen Elend verbleiben.<br />
3. Daß alle politischen Forderungen<br />
hinter den w i r t s c h a f t l i c h e n zu stehen<br />
kommen.<br />
4. Daß die Arbeiter sich s e l b s t befreien<br />
müssen.<br />
5. Daß dem Proletariat, wenn national<br />
<strong>und</strong> international gut <strong>und</strong> solidarisch organisiert,<br />
keine Macht der Welt Widerstand<br />
zu leisten vermag.<br />
6. Daß das Proletariat d i e A b -<br />
schaffung j e d e r H e r r s c h a f t anstreben<br />
muß.<br />
7. Daß die Arbeiter aller Länder brüderlich<br />
miteinander verb<strong>und</strong>en sind; das<br />
Vaterland des Proletariats ist n i c h t das<br />
Land seiner Geburt, sondern das internationale<br />
Feld der Arbeit.<br />
8. Daß, weil die Unterdrückung der<br />
arbeitenden Klasse international ist, auch<br />
die Befreiung international sein muß.<br />
All dieses will <strong>und</strong> behauptet der<br />
»Teufel« — <strong>und</strong> wir mit ihm!«<br />
Bakunin war ein Mann der Tat, <strong>und</strong><br />
nie war er so glücklich, so ganz in seiner<br />
Kraftfülle, wie dann, wenn er ungehemmt<br />
seine großen Aktionen ins volle Menschenleben<br />
hineintreiben konnte. Aktion <strong>und</strong> Tat,<br />
sie bildeten die Atmosphäre seines Lebens,<br />
wie er es selbst gemeint.<br />
Viel des Romantischen finden wir in<br />
diesem Heldenleben. Oftmals wird man<br />
vom Gedanken überrascht: »Wie ist es nur<br />
möglich, daß ein einzelner Mensch all dies<br />
getan <strong>und</strong> geleistet hat? Wenn es von jemanden<br />
gilt, ihn eine internationale Figur<br />
nennen zu dürfen, dann ist es der Fall mit<br />
Bakunin. Es ereignet sich höchst selten,<br />
daß ein Mensch z w e i m a l zum Tode, einmal<br />
zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe<br />
verurteilt wird seinen Feinden <strong>und</strong><br />
Widersachern, im steten Kampf wider sie,<br />
entkommt . . . Ja, Bakunins Leben ist ein<br />
Roman, <strong>und</strong> wenn man es liest, wird man<br />
sich sagen, daß man solch ein Leben wohl<br />
leicht schildern kann, daß es aber schier<br />
unmöglich ist, all dies in einem einzigen<br />
Menschenleben zu erdulden <strong>und</strong> zu erleben.<br />
Von mancher Seite wird es heute versucht,<br />
die Gegensätze zwischen Bakunin<br />
<strong>und</strong> Marx zu verwischen; es wird behauptet,<br />
daß sie eigentlich dasselbe gewollt hätten;<br />
man will die Antithese dieser beiden Männer<br />
in eine Synthese auflösen.<br />
Ich bin der Meinung, daß wir es der<br />
Ehre unseres Michael Bakunin schulden,<br />
energischen Protest wider solches Vorhaben<br />
einzulegen. Freilich, auch mit Temperamentsunterschieden<br />
haben wir es in<br />
der Beurteilung beider Männer zu tun;<br />
aber eigentlich lag der wahre Unterschied<br />
viel tiefer. Selbst dann, wenn es Bakunin<br />
nicht ganz klar gewesen wäre, um was es<br />
sich handelte, wir wissen es doch ganz<br />
genau: Es h a n d e l t e sich um zwei<br />
g r u n d v e r s c h i e d e n e W e l t - <strong>und</strong> Leben'sanschauungen,<br />
die sich schroff wider einander<br />
aufpflanzten.<br />
Karl Marx ist der Vertreter des sozialistischen<br />
Autoritätsprinzips, Michael Bakunin<br />
der Vertreter der Lehre sozialistischer<br />
Autoritäts- <strong>und</strong> Herrschaftslosigkeit, der<br />
vollständigen Freiheit.<br />
Dies müssen wir stets im Auge behalten,<br />
es ist meiner Meinung nach die<br />
Hauptsache.<br />
Bakunin war eine magnetische Kraft,<br />
die alles anzog, womit er in Berührung<br />
kam. Darum fürchtete Marx seinen Einfluß<br />
so sehr. Vielleicht ist Bakunin niemals<br />
besser geschildert worden als von seinem<br />
Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Kampfesgenossen Alexander<br />
Herzen, der in seinen »Nachgelassenen<br />
Arbeiten« sich wie folgt über ihn äußert:<br />
». . . Seine Aktivität, wie sein Nichtstun,<br />
seine mächtige Statur, sein Appetit —<br />
alles nahm bei ihm riesenhafte Dimensionen<br />
an <strong>und</strong> überragt alles, was man bei anderen<br />
antrifft. Seine Figur ist die eines Titaten mit<br />
Löwenkopf, mit einem prachtvollen Haarwuchs.<br />
Fünfzig Jahre alt, bleibt er der Student<br />
von Moskau; ein Bohemien der Bourgognestraße<br />
in Paris; sorglos wegen der Zukunft,<br />
mit Geringschätzung das Geld behandelnd,<br />
das er mit vollen Händen hergibt <strong>und</strong> herleiht,<br />
wenn er es hat, von allen Seiten<br />
borgend, wenn er nichts mehr besitzt; <strong>und</strong><br />
das alles mit derselben Einfachheit, die er<br />
auch zeigte, wenn er alles, was er besaß,<br />
weggab <strong>und</strong> sich nicht genügend zurückbehielt,<br />
um sich Zigaretten <strong>und</strong> Tee kaufen<br />
zu können.«<br />
Diese Lebensweise genierte Bakunin<br />
gar nicht. Seiner ganzen Natur nach war<br />
er ein Ungeb<strong>und</strong>ener <strong>und</strong> Unzähmbarer.<br />
Wenn man ihn gefragt hätte, was er denn<br />
eigentlich unter dem Worte Eigentum verstehe,<br />
er hätte sicherlich mit einer Variation<br />
der Worte Lalandes geantwortet, mit denen<br />
dieser Napoleon auf dessen Frage nach der<br />
Existenz Gottes entgegnete: »Sire, ich habe<br />
während all meiner Untersuchungen nie<br />
das Bedürfnis gefühlt, d a s zu untersuchen.«<br />
In Bakunins ganzer Veranlagung entdecken<br />
wir in allen seinen Zügen etwas Kindlich-<br />
Reines, etwas Aufrichtiges, Einfaches, was<br />
ihm eine besondere Liebenswürdigkeit verlieh<br />
<strong>und</strong> wodurch er alle Welt an sich zog<br />
— Starke wie Schwache, oftmals zu seinem<br />
eigenen Schaden. Nur die Stolzen <strong>und</strong> Hochmütigen<br />
mieden ihn <strong>und</strong> wollten von Bakunin<br />
nichts wissen, weil er sich vor ihnen<br />
nicht verbeugte. —<br />
Wir können es gerne zugestehen, daß<br />
Bakunin auch viele Fehler besaß; aber was<br />
sind sie, wie klein im Vergleiche zu seinen<br />
großen <strong>und</strong> guten Eigenschaften. Richtig<br />
sagt Herzen wieder:<br />
»Im Gr<strong>und</strong>e seines Wesens findet man<br />
den Keim einer kolossalen Aktivität . . .<br />
Bakunin hat in sich die Eigenschaften eines<br />
Agitators, eines Volkstribunen, eines Apostels,<br />
eines Kämpfers . . . Man setze ihn,<br />
wohin man will — unter die Anabaptisten<br />
oder Jakobiner, neben Anarcharsis Cloots<br />
oder Babeouf, i m m e r j e d o c h auf die<br />
linke S e i t e — <strong>und</strong> er wird die Massen<br />
mit sich fortreissen, wird Einfluß ausüben,<br />
auf die Bestimmung der Völker . . .«<br />
Wir, die wir freudig es bekennen, auf<br />
den Schultern dieses Riesen zu stehen, entbieten<br />
ihm unsere Solidarität, Bruderliebe<br />
<strong>und</strong> Gefolgschaft.<br />
F. Domela Nieuwenhuis.*<br />
F. D. Nieuwenhuis, der uns für unsere vorliegende<br />
Bakunin-Erinnerungsnummer des „W. f. A."<br />
den obigen Beitrag gütig sandte, muß unseren<br />
österreichischen Lesern <strong>und</strong> den Neulingen innerhalb<br />
unserer Bewegung persönlich näher gebracht<br />
werden. Wir tun dies kurz, indem wir konstatieren,<br />
daß er der Pionier des Sozialismus in Holland,<br />
seit über einem Jahrzehnt Anarchist ist <strong>und</strong>, trotz<br />
seines hohen Alters, mit unbeugsamer Jugendfrische<br />
im Greisenkörper unentwegt in den vordersten<br />
Reihen der sozialistisch-anarchistischen Bewegung<br />
Hollands kämpft. D a s von ihm redigierte, zweimal<br />
wöchentlich erscheinende Kampforgan betitelt sich<br />
„Der freie Sozialist". Die Red.<br />
D a s W e s e n der politischen<br />
Macht <strong>und</strong> der Parlamentarismus.*<br />
Von Michael B a k u n i n .<br />
I.<br />
Die ganze Lüge des Vertretungssystems<br />
beruht auf der Fiktion, daß eine aus der<br />
Volksabstimmung hervorgegangene Regierung<br />
<strong>und</strong> gesetzgebende Körperschaft durchaus<br />
den wirklichen Willen des Volkes vertreten<br />
müssen oder vielleicht auch nur<br />
können. Das Volk in der Schweiz, wie<br />
überall, will instinktiv, will notwendig zwei<br />
Dinge: die denkbar größte materielle Wohlfahrt,<br />
verb<strong>und</strong>en mit der größten Freiheit<br />
der Existenz, der Bewegung <strong>und</strong> Betätigung<br />
seiner selbst; das heißt die beste Organisation<br />
seiner wirtschaftlichen Interessen<br />
<strong>und</strong> das vollständige Fehlen jeder Regierung,<br />
jeder politischen Organisation — weil jede<br />
politische Organisation notwendig zur Verneinung<br />
seiner Freiheit führt. Das ist. die<br />
natürliche Gr<strong>und</strong>lage aller Volksinstinkte.<br />
Die Instinkte der Regierenden, <strong>und</strong><br />
zwar ebenso sehr derjenigen, welche die<br />
Gesetze machen als derjenigen, welche die<br />
Vollziehungs- («Exekutiv-») Gewalt ausüben,<br />
sind gerade wegen ihrer Ausnahmestellung,<br />
diametral entgegengesetzte. Welcher Art<br />
immer ihre demokratischen Gefühle <strong>und</strong><br />
Absichten sein mögen, von der Höhe aus,<br />
auf die sie sich gestellt sehen, können sie<br />
die Gesellschaft nicht anders anschauen,<br />
als wie ein Vorm<strong>und</strong> sein Mündel anschaut.<br />
Und zwischen Vorm<strong>und</strong> <strong>und</strong> Mündel kann<br />
die Gleichheit nicht bestehen. Auf der einen<br />
Seite steht das Gefühl der Überlegenheit,<br />
das notwendig durch eine höhere Stellung<br />
eingeflößt wird; auf der andern das einer<br />
Minderwertigkeit («Inferiorität»), das sich<br />
aus der Überlegenheit («Superiorität») des<br />
Vorm<strong>und</strong>es ergibt, der entweder die Vollziehungsgewalt<br />
oder die gesetzgebende<br />
Gewalt ausübt. Wer politische Macht sagt,<br />
sagt Beherrschung; da, wo eine Beherrschung<br />
stattfindet, muß notwendigerweise auch ein<br />
mehr oder weniger großer Teil der Gesellschaft<br />
vorhanden sein, der beherrscht wird,<br />
<strong>und</strong> die Beherrschten verabscheuen natürlicherweise<br />
die sie Beherrschenden, während<br />
die Herrschenden, die, welche ihrer<br />
Herrschaft unterliegen, notwendigerweise<br />
unterdrücken <strong>und</strong> infolgedessen bedrücken<br />
müssen.<br />
II.<br />
Das ist die ewige Geschichte der politischen<br />
Macht, seit diese Macht in der<br />
Welt begründet worden ist. Das erklärt<br />
auch, warum <strong>und</strong> wie Männer, welche die<br />
rötesten Demokraten, die wütendsten Revoluzzer<br />
waren, solange sie sich unter der<br />
Masse der Beherrschten befanden, äußerst<br />
gemäßigte Konservative werden, sobald sie<br />
zur Regierung gelangt sind. Man schreibt<br />
diese Wendungen gewöhnlich dem Verrate<br />
zu. Das ist ein Irrtum; ihr Hauptgr<strong>und</strong> ist<br />
die Änderung des Gesichtswinkels <strong>und</strong> der<br />
Stellung; <strong>und</strong>, vergessen wir nie, daß die<br />
Stellung <strong>und</strong> der Zwang, den sie auferlegt,<br />
immer mächtiger ist als der Haß oder der<br />
böse Wille des Individuums.<br />
Von dieser Wahrheit durchdrungen,<br />
scheue ich mich nicht, die Überzeugung<br />
auszusprechen, daß, wenn man morgen<br />
eine ausschließlich aus Arbeitern bestehende<br />
Regierung <strong>und</strong> gesetzgebende Körperschaft,<br />
ein Parlament, einsetzen würde, diese Arbeiter,<br />
die heute zielbewußte Sozialdemokraten<br />
sind, übermorgen ausgesprochene<br />
* Übersetzt aus dem zweiten Band der französischen<br />
Gesamtausgabe von Bakunins Wericen;<br />
insbesondere aus der Broschüre „Die Bären von<br />
Bern <strong>und</strong> der B ä r von St. Petersburg", verfaßt<br />
im Jahre 1870. (Verlag der Gesamtwerke : P. V.<br />
Stock, 155 Rue Saint Honoré, Paris).
Aristokraten würden, kühne oder furchtsame<br />
Anbeter des Gr<strong>und</strong>satzes der Autorität,<br />
Unterdrücker <strong>und</strong> Ausbeuter. Mein Schluß<br />
ist folgender: M a n m u ß A l l e s , w a s<br />
p o l i t i s c h e M a c h t h e i ß t , v o l l s t ä n d i g ,<br />
g r u n d s ä t z l i c h u n d t a t s ä c h l i c h a b -<br />
s c h a f f e n ; w e i l , s o l a n g e die p o l i -<br />
t i s c h e M a c h t b e s t e h t , e s H e r r s c h e r<br />
u n d B e h e r r s c h t e , H e r r e n u n d S k l a -<br />
ven, A u s b e u t e r u n d A u s g e b e u t e t e<br />
g e b e n wird. N a c h A b s c h a f f u n g d e r<br />
p o l i t i s c h e n M a c h t m u ß m a n s i e<br />
d u r c h d i e O r g a n i s a t i o n d e r p r o -<br />
d u k t i v e n K r ä f t e u n d w i r t s c h a f t -<br />
l i c h e n E i n r i c h t u n g e n e r s e t z e n .<br />
D i e O r g a n i s a t i o n der<br />
Internationale<br />
Von M i c h a e l B a k u n i n .<br />
(Aus dem « Almanack du Peuple» von 1872.)<br />
V o r b e m e r k u n g . In dem nachfolgenden<br />
Aufsatz entwickelt Bakunin die Gr<strong>und</strong>prinzipien,<br />
auf denen jene großartige internationale Arbeiterassoziation<br />
gegründet wurde, die uns das Jahr 1864<br />
schenkte. W a s B. in ihr erblickte, welche Aufgaben<br />
er der „Internationale" zur Lösung stellte, <strong>und</strong> wozu<br />
er sie für berufen erachtete, geht aus dem Artikel<br />
hervor. Außerordentlich bemerkenswert ist seine<br />
Vorahnung von dem Wesen einer proletarischen<br />
Bewegung, in der die Massen unwissend sind <strong>und</strong><br />
künstlich so erhalten werden. Wer die internationale,<br />
aber ganz insbesondere die ö s t e r r e i c h i s c h e<br />
Sozialdemokratie kennt, wird in ihr ein getreues<br />
Abbild jener Schilderung vom „oligarchischen Staat"<br />
finden, die Bakunin uns am Ende seines Artikels<br />
entwirft. Die Red.<br />
Die Massen sind die soziale Kraft oder<br />
wenigstens der wesentliche Bestandteil einer<br />
jeden Kraft; was fehlt ihnen denn dazu,<br />
um einen Zustand der Dinge, den sie hassen,<br />
aufzuheben? Zwei Sachen fehlen ihnen:<br />
die Organisation <strong>und</strong> das Wissen, gerade<br />
jene zwei Sachen, die heute <strong>und</strong> immer<br />
die Macht aller Regierungen ausmachen.<br />
So ist also die Organisation das Erste;<br />
anderenteils kann sich dieselbe ohne die<br />
Hilfe des Wissens nicht befestigen. Dank<br />
der militärischen Organisation kann ein<br />
Bataillon Soldaten, d. h. tausend bewaffnete<br />
Männer leicht eine Million von bloß<br />
bewaffneten, aber nicht organisierten Menschen<br />
unterwerfen. Dank seiner bureaukratischen<br />
Organisafion regiert der Staat<br />
vermittelst einiger h<strong>und</strong>erttausend Angestellten<br />
riesige Länderstrecken. Aber um<br />
eine Volkskraft zu schaffen, die fähig ist,<br />
die militärische <strong>und</strong> regierende Macht des<br />
Staates unschädlich zu machen, muß man<br />
das Proletariat organisieren.<br />
Das ist es gerade, was die «Internationale<br />
Arbeitervereinigung» tut: <strong>und</strong> an dem<br />
Tage, an dem sie die Hälfte, den dritten,<br />
vierten oder sogar nur den zehnten Teil<br />
des Proletariats von Europa in sich vereinigt<br />
<strong>und</strong> organisiert haben wird, werden<br />
der Staat, die Staaten von Europa, aufgehört<br />
haben zu bestehen. Die Organisation<br />
der Internationale, deren <strong>Ziel</strong> n i c h t das<br />
Errichten von neuen Staaten <strong>und</strong> einer<br />
neuen Herrschaft, sondern die Beseitigung<br />
aller verschiedenen Herrschaftssysteme ist,<br />
muß von der Organisation der Staaten von<br />
Gr<strong>und</strong> aus verschieden sein. Je mehr die<br />
letztere autoritär, gekünstelt <strong>und</strong> gewaltsam<br />
ist, je mehr sie der natürlichen Entwickelung<br />
der Interessen <strong>und</strong> den Bestrebungen des<br />
Volkes fremd <strong>und</strong> feindlich gegenübersteht,<br />
desto mehr muß die Organisation der Internationale<br />
frei <strong>und</strong> naturgemäß sein <strong>und</strong><br />
sich allen diesen Instinkten <strong>und</strong> Bestrebungen<br />
anpassen. Aber was ist die natürliche Organisation<br />
der Massen? Jene, die sich auf<br />
die Ergebnisse ihres täglichen wahren Lebens,<br />
ihrer verschiedenartigen Arbeit gründet;<br />
es ist die gewerkschaftliche Organisation.<br />
Vom Augenblick an, in welchem sämtliche<br />
Arbeitszweige in der Internationale vertreten<br />
sein werden, mit Einschluß der verschie-<br />
denen landwirtschaftlichen Betriebe, wird<br />
die Organisation der Volksmassen vollendet<br />
sein.<br />
Man könnte einwenden, daß diese Art,<br />
in der die Internationale ihren Einfluß auf<br />
die Volksmassen organisiert, auf den Trümmern<br />
der alten Herrschaft anscheinend ein<br />
neues Herrschaftssystem <strong>und</strong> eine neue<br />
Regierung aufzubauen strebt. Aber das ist<br />
ein großer Irrtum. Der Einfluß, den die<br />
Internationale auf die Massen ausübt, unterscheidet<br />
sich von allen Regierungen <strong>und</strong><br />
allen Handlungen der Staatsgewalten immer<br />
dadurch, daß sie nichts anderes ist als der<br />
natürliche unoffizielle Einfluß einer einfachen<br />
Meinung, ohne jede Autorität. Zwischen<br />
der Staatsgewalt <strong>und</strong> der Internationale besteht<br />
derselbe Unterschied wie zwischen<br />
den offiziellen Handlungen des Staates <strong>und</strong><br />
der natürlichen Tätigkeit eines Klubs. Die<br />
Internationale hat immer nur einen großen<br />
Einfluß auf die Meinungen <strong>und</strong> wird nie<br />
etwas anderes sein, als die natürliche Einwirkung<br />
der einzelnen Menschen auf die<br />
Massen. Der Staat hingegen <strong>und</strong> all seine<br />
Einrichtungen: die Kirche, die Universität,<br />
die Gerichtshöfe, die Bureaukratie, die Finanzen,<br />
die Polizei <strong>und</strong> das Heer, fordern<br />
von ihren Untergebenen willenlosen Gehorsam.<br />
Natürlich versuchen sie auch so weit<br />
wie möglich, die Überzeugung <strong>und</strong> den<br />
Willen ihrer Untertanen zu verdrehen, aber<br />
auch außer dieser Überzeugung <strong>und</strong> diesem<br />
Willen — <strong>und</strong> oft gegen denselben —<br />
müssen die Beherrschten ohne Überlegung<br />
den immer dehnbaren, anerkannten <strong>und</strong><br />
festgesetzten Vorschriften des Gesetzes<br />
Folge leisten.<br />
Der Staat ist die Autorität, die Herrschaft<br />
<strong>und</strong> die organisierte Macht der besitzenden<br />
Klassen <strong>und</strong> der angeblich erleuchteten<br />
einzelnen Menschen über die<br />
Massen. Da der Staat nie etwas anderes<br />
will oder wollen kann als die Knechtschaft<br />
der Massen, appelliert er an ihre Unterwerfung.<br />
Die Internationale, welche nichts<br />
anderes will, als ihre vollständige Freiheit,<br />
appelliert an ihre Empörung. Aber um<br />
diese Empörung selbst auch mächtig zu<br />
machen, um sie zu befähigen, die Herrschaft<br />
des Staates <strong>und</strong> der privilegierten<br />
Klassen, welche nur durch den Staat vertreten<br />
werden, abzuschütteln, zu diesem<br />
Zweck muß sich die Internationale organisieren.<br />
Um dieses <strong>Ziel</strong> zu erreichen, wendet<br />
sie zwei Mittel an, die beide volle Berechtigung<br />
haben. Diese zwei Mittel sind: erstens<br />
die Propaganda der eigenen Ideen<br />
<strong>und</strong> zweitens die natürliche Organisierung<br />
des Einflusses ihrer Mitglieder auf die<br />
Massen.<br />
Wer daraufhin noch behauptet, daß<br />
eine derart organisierte Tätigkeit auch schon<br />
ein Attentat gegen die Freiheit der Massen,<br />
ein Versuch zur Schaffung einer neuen<br />
herrschenden Gewalt ist, der ist ein Wortverdreher<br />
oder ein Dummkopf. Es steht<br />
schlimm genug um diejenigen, welche die<br />
natürlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Gesetze<br />
der menschlichen Solidarität nicht kennen,<br />
so daß sie sich einbilden, daß die vollkommene<br />
Unabhängigkeit der einzelnen<br />
Menschen <strong>und</strong> der Massen von einander<br />
möglich oder wünschenswert ist. Der das<br />
wünscht, der will die Auflösung der menschlichen<br />
Gesellschaft, denn das ganze gesellschaftliche<br />
Leben besteht aus dieser gegenseitigen<br />
<strong>und</strong> fortwährenden Abhängigkeit<br />
der einzelnen Menschen <strong>und</strong> der Massen.<br />
Jeder Mensch, auch der gescheiteste <strong>und</strong><br />
stärkste, ja, besonders die Klugen <strong>und</strong><br />
Starken, sind in jedem Moment ihres Lebens<br />
die Erzeugnisse <strong>und</strong> die Erzeuger dieses<br />
gegenseitigen Einflusses. Die Freiheit eines<br />
jeden Menschen ist das immerfort neu<br />
hervorgebrachte Ergebnis der Gesamtheit<br />
dieser materiellen, geistigen <strong>und</strong> moralischen<br />
Einflüsse, ausgeübt von sämtlichen Menschen,<br />
die ihn umgeben <strong>und</strong> von der Gesellschaft,<br />
in welcher er lebt, sich entwickelt<br />
<strong>und</strong> stirbt. Wer sich diesem Einfluß entziehen<br />
will, im Namen einer überirdischen<br />
göttlichen, vollkommen egoistischen Freiheit,<br />
welche sich selbst genügt, der strebt<br />
danach n i c h t zu s e i n . Wer darauf verzichten<br />
will, diesen Einfluß auf andere auszuüben,<br />
der verzichtet auf jede gesellschaftliche<br />
Tätigkeit selbst, auf die Mitteilung<br />
seiner eigenen Oedanken <strong>und</strong> Empfindungen<br />
<strong>und</strong> strebt damit wiederum nach dem<br />
Nichtsein. Diese «Unabhängigkeit», welche<br />
die Ideologen <strong>und</strong> Metaphysiker so oft<br />
verkündet haben, <strong>und</strong> die in diesem Sinne<br />
aufgefaßte persönliche Freiheit ist also —<br />
d a s N i c h t s . *<br />
In der Natur sowohl wie in der menschlichen<br />
Gesellschaft — welche nie etwas<br />
anderes ist als eben diese selbe Natur —<br />
lebt alles nur unter der Gr<strong>und</strong>bedingung,<br />
daß es auf die tätigste Weise <strong>und</strong> so kräftig,<br />
wie es ihm seine Eigenart gestattet, in<br />
das Leben anderer eingreift. Deshalb wäre<br />
die Abschaffung dieses gegenseitigen Einflusses<br />
gleichbedeutend mit dem Tode. Und<br />
wenn wir die Freiheit der Massen fordern,<br />
so wollen wir keine von diesen natürlichen<br />
Einflüssen zerstören, welche einige Menschen<br />
<strong>und</strong> Gruppen von Menschen durch<br />
ihre Handlungen auf diese Massen ausüben.<br />
W a s w i r w o l l e n , d a s ist d i e A b -<br />
s c h a f f u n g d e r k ü n s t l i c h e n p r i v i l e -<br />
g i e r t e n , g e s e t z l i c h e n , o f f i z i e l l e n<br />
E i n f l ü s s e . Wenn die Kirche <strong>und</strong> der<br />
Staat Privateinrichtungen sein könnten,<br />
wären wir natürlich auch ihre Gegner, wir<br />
würden aber nicht gegen ihr Recht aufs<br />
Dasein protestieren. Wir protestieren aber<br />
gegen beide, denn obgleich sie ohne Zweifel<br />
in dem Sinne Privatinstitutionen sind,<br />
daß sie nur für die besonderen Interessen<br />
der privilegierten Klassen bestehen, bedienen<br />
sie sich dennoch der gesamten Kraft der<br />
organisierten Massen, um sich autoritär,<br />
offiziell <strong>und</strong> gewaltsam ihnen aufzubürden.<br />
Wenn sich die Internationale in staatlicher<br />
Form organisieren könnte, würden wir aus<br />
ihren begeisterten Fre<strong>und</strong>en zu ihren erbittertsten<br />
Feinden werden.**<br />
Aber sie k a n n sich gar nicht in staatlicher<br />
Form organisieren, weil sie, wie es<br />
ihr Name andeutet, alle Grenzen abschafft,<br />
<strong>und</strong> es keine Staaten ohne Grenzen geben<br />
kann; denn die Geschichte hat bewiesen,<br />
daß die Verwirklichung des Universalstaates,<br />
von welchem die erobernden Völkerschaften<br />
<strong>und</strong> die größten Despoten geträumt haben,<br />
unmöglich ist. Wer also vom Staate spricht,<br />
spricht damit notwendigerweise von verschiedenen<br />
Staaten, welche im Inneren<br />
Unterdrücker <strong>und</strong> Ausbeuter, nach Außen<br />
hin Eroberer <strong>und</strong> mehr oder weniger gegenseitige<br />
Feinde sind — er spricht damit von<br />
dem Gegensatz der Menschheit.<br />
Die Internationale Vereinigung der<br />
Arbeiter würde gar keinen Sinn haben,<br />
* W i r machen bei dieser Gelegenheit darauf<br />
aufmerksam, daß die Sozialdemokraten in ihren<br />
versuchten theoretisch-ohnmächtigen Widerlegungen<br />
des Anarchismus stets auf den Popanz einer solchen<br />
metaphysischen Freiheit zurückzugreifen gezwungen<br />
sind <strong>und</strong> ihn als Anarchismus darbieten. Nur so,<br />
auf solch lächerlich unterschiebende Art, können<br />
diese Herren den Anarchismus „widerlegen". So<br />
erst unlängst Herr Dr. Renner-Springer, der im<br />
„Kampf" den Anarchismus einer theoretischen „Vernichtung"<br />
unterzog, indem er ihn als absolute Robinsonfreiheit<br />
hinstellte, dieweil doch die Anarchie<br />
ein s o z i a l e s Ideal der Zukunftsgesellschaft ist.<br />
Es ist umso interessanter, dies in Erinnerung zu<br />
bringen, wenn wir nun lesen, in welcher Weise<br />
gerade ein genialer Vorkämpfer des Anarchismus<br />
diese abstrakt-konservative Auffassung des Freiheitsprinzips<br />
bekämpft; eine Auffassung, die die Marxisten,<br />
aus Mangel an triftigen Argumenten, stets<br />
den Anarchisten andichten <strong>und</strong> anfälschen. Die Red.<br />
** Bekanntlich versuchte Marx dies. Anm.<br />
d. Red.
wenn sie nicht unaufhaltsam der Abschaffung<br />
des Staates zustreben würde. Sie organisiert<br />
die Volksmassen nur, um dieses <strong>Ziel</strong> zu<br />
erreichen. Und auf welche Art organisiert<br />
sie sie? Nicht von oben nach unten, indem<br />
sie den gesellschaftlichen Unterschieden,<br />
welche aus den Verschiedenheiten der Beschäftigungen<br />
entstehen, oder dem natürlichen<br />
Leben der Massen, eine scheinbare<br />
Einheit <strong>und</strong> Ordnung aufzwingt, wie das<br />
die Staaten machen; aber im Gegenteil von<br />
unten nach oben, das gesellschaftliche Leben<br />
der Massen, ihre tatsächlichen Bestrebungen<br />
als Ausgangspunkt nehmend, sie anfeuernd,<br />
ihnen helfend sich in Gruppen zu vereinigen,<br />
ihre Interessen in Einklang zu<br />
bringen <strong>und</strong> sich ihrer natürlichen Verschiedenheit<br />
von Arbeit <strong>und</strong> Lebenslage<br />
gemäß im Gleichgewicht zu halten.<br />
Aber eben darum, weil die Internationale<br />
derart von unten nach oben organisiert,<br />
zu einer wirklichen Kraft, einer ernsten<br />
Macht wird, ist es notwendig, daß ein jedes<br />
Mitglied in jeder Gruppe vollkommen von<br />
den Gr<strong>und</strong>sätzen der Internationale durchdrungen<br />
wird. Nur unter dieser Bedingung<br />
kann er zu Zeiten des Friedens <strong>und</strong> der<br />
Ruhe ein guter Propagandist <strong>und</strong> Apostel<br />
unserer Sache, <strong>und</strong> zu Zeiten des Kampfes<br />
ein wahrer Revolutionär sein.<br />
Wenn wir von den Gr<strong>und</strong>sätzen der<br />
Internationale sprechen, so meinen wir<br />
jene, welche in der Einleitung zu unseren<br />
Statuten enthalten sind, welche am Genfer<br />
Kongreß angenommen wurden.*<br />
Wir alle wissen, daß dieses unser Programm,<br />
welches so einfach <strong>und</strong> gerecht<br />
ist <strong>und</strong> welches mit so wenigen <strong>und</strong> würdigen<br />
Worten die menschlich berechtigten<br />
Forderungen des Proletariats ausdrückt, gerade<br />
weil es ein ausschließlich menschliches<br />
Programm ist, alle Keime einer sozialen<br />
Revolution in sich enthält; es verkündet<br />
die Zerstörung der alten <strong>und</strong> die Schaffung<br />
einer neuen Welt.<br />
Das ist es, was wir jetzt allen Mitgliedern<br />
der Internationale erklären <strong>und</strong><br />
vollkommen verständlich machen müssen.<br />
Dieses Programm bringt eine neue Wissenschaft,<br />
eine neue Philosophie mit sich, welche<br />
an Stelle sämtlicher alten Religionen<br />
* Wir haben die Aufzählung dieser Einzelpunkte<br />
unterlassen, da sie im Wesentlichen bereits in dem<br />
Artikel des Genossen Nieuwenhuis enthalten. Die Red.<br />
treten wird <strong>und</strong> eine neue internationale<br />
Politik, welche als solche, wir wagen es<br />
zu sagen, kein anderes <strong>Ziel</strong> haben kann,<br />
als die Aufhebung aller Staaten. Damit alle<br />
Mitglieder der Internationale gewissenhaft<br />
ihre doppelte Aufgabe als Propagandisten<br />
<strong>und</strong> Revolutionäre erfüllen können, ist es<br />
notwendig, daß sich ein jeder von ihnen<br />
so weit wie möglich mit dieser Wissenschaft,<br />
dieser Philosophie <strong>und</strong> dieser Politik erfüllt.<br />
Es genügt nicht, wenn sie wissen <strong>und</strong><br />
sagen, daß sie die wirtschaftliche Befreiung<br />
der Arbeiter, den Genuß des vollen Ertrages<br />
seiner Arbeit für einen jeden, die Abschaffung<br />
der gesellschaftlichen Klassen <strong>und</strong> der<br />
politischen Knechtschaft, die volle Verwirklichung<br />
der Menschenrechte <strong>und</strong> vollkommen<br />
gleiche Pflichten <strong>und</strong> Rechte für alle<br />
— mit einem Wort, die Verbrüderung der<br />
Menschheit wollen. A l l d i e s i s t o h n e<br />
Z w e i f e l s e h r g u t u n d w a h r , a b e r<br />
w e n n d i e A r b e i t e r d e r I n t e r n a t i o -<br />
n a l e s i c h d i e s e g r o ß e n W a h r h e i t e n<br />
a n e i g n e n , o h n e s i c h i n d e r e n V o r -<br />
a u s s e t z u n g e n , d e r e n F o l g e n u n d<br />
d e r e n G e i s t z u v e r t i e f e n , u n d w e n n<br />
s i e s i c h d a m i t b e g n ü g e n , d i e s e l b e n<br />
i m m e r u n d i m m e r w i e d e r i n d i e s e r<br />
a l l g e m e i n e n F o r m z u w i e d e r h o l e n ,<br />
s o T a u f e n s i e s e h r G e f a h r , a u s d e n -<br />
s e l b e n i n k u r z e r Z e i t l e e r e u n -<br />
f r u c h t b a r e W o r t e u n d u n v e r s t a n -<br />
d e n e G e m e i n p l ä t z e z u m a c h e n .<br />
Aber, wird man sagen, alle Arbeiter,<br />
wenn sie auch Mitglieder der Internationale<br />
sind, können nicht Gelehrte werden. Ist<br />
es denn nicht genug, daß im Schöße dieser<br />
Vereinigung sich eine Gruppe von Menschen<br />
findet, welche soweit wie heute möglich, im<br />
Besitz der Wissenschaft, der Philosophie <strong>und</strong><br />
der Politik des Sozialismus ist, damit die<br />
Mehrzahl, das Volk der Internationale, getreulich<br />
ihrer Führung <strong>und</strong> ihren «brüderlichen<br />
Befehlen* folgend, sich nicht vom<br />
rechten <strong>Weg</strong>e entfernt, welcher es zur endgültigen<br />
Befreiung des Proletariats führt.<br />
Dies ist ein Gedankengang, welchen<br />
wir nur zu oft von der a u t o r i t ä r e n<br />
Kommunisten-Partei* innerhalb der Inter-<br />
* Zur Zeit Bakunins nannte man die autoritäre<br />
Richtung des Sozialismus — die jetzige Sozialdemokratie<br />
— K o m m u n i s m u s <strong>und</strong> die anarchistische,<br />
revolutionäre Richtung K o l l e k t i v i s m u s .<br />
Seitdem haben sich die Namen vertauscht. Die Red.<br />
nationale aussprechen hörten; nicht offen,<br />
denn die Leute sind nicht genug aufrichtig<br />
<strong>und</strong> mutig, um das zu tun, sondern versteckt,<br />
auf Umwegen, mit allerlei mehr oder<br />
weniger geschickten Ausflüchten <strong>und</strong> mit<br />
demagogischen Komplimenten über die<br />
unübertreffliche Weisheit <strong>und</strong> Allmacht des<br />
souveränen Volkes. Wir haben diese Auffassung<br />
immer aufs leidenschaftlichste bekämpft,<br />
denn wir sind überzeugt davon,<br />
daß an dem Tage, an welchem sich die<br />
Internationale Vereinigung in zwei Gruppen<br />
spalten würde: in eine, welche die riesige<br />
Mehrheit ausmacht <strong>und</strong> aus solchen Mitgliedern<br />
besteht, die in wissenschaftlicher<br />
Hinsicht nur einen blinden Glauben an<br />
die theoretische <strong>und</strong> praktische Weisheit<br />
ihrer Führer haben; <strong>und</strong> in eine andere,<br />
welche nur aus zehn oder zwanzig oder<br />
mehr führenden Männnern zusammengesetzt<br />
ist — an diesem Tage würde diese Vereinigung,<br />
welche die Menschheit befreien<br />
sollte, sich von selbst in eine Art von<br />
o l i g a r c h i s c h e m S t a a t — in die schlimmste<br />
Form des Staates - - verwandeln. Schlimmer<br />
noch: diese erleuchtete, gelehrte <strong>und</strong><br />
fähige Minderheit würde mit der Verantwortung<br />
ihrer Position auch alle Rechte<br />
der Herrschenden für sich beanspruchen<br />
<strong>und</strong> ihre Herrschaft würde umso despotischer<br />
werden, je mehr sie dieselbe verbergen<br />
kann unter dem Schein des servilen<br />
Respektes für den Willen <strong>und</strong> die Beschlüsse<br />
des Volkes — für jene Beschlüsse, welche<br />
immer die Führer selbst dem angeblichen<br />
Willen des Volkes eingeredet haben. So<br />
w ü r d e d i e s e M i n d e r h e i t i n F o l g e<br />
d e r n o t w e n d i g e n E n t w i c k l u n g u n d<br />
i h r e r p r i v i l e g i e r t e n S t e l l u n g , d e m<br />
L o s e a l l e r R e g i e r u n g e n v e r f a l l e n<br />
u n d T a g für T a g d e s p o t i s c h e r ,<br />
s c h ä d l i c h e r <strong>und</strong> r e a k t i o n ä r e r w e r d e n .<br />
Die Internationale Arbeitervereinigung<br />
kann nur dann zum Werkzeug der Befreiung<br />
der Menschheit werden, wenn sie sich<br />
zuerst selbst befreit hat; das heißt, wenn<br />
sie aufhört, in zwei Gruppen geteilt zu sein,<br />
in eine Mehrheit, die das blinde Werkzeug<br />
einer gelehrten Minderheit ist <strong>und</strong> wenn<br />
sie in das Denken <strong>und</strong> das Bewußtsein<br />
e i n e s j e d e n i h r e r M i t g l i e d e r d i e<br />
W i s s e n s c h a f t , d i e P h i l o s o p h i e <strong>und</strong><br />
d i e P o l i t i k d e s S o z i a l i s m u s e i n -<br />
g e p f l a n z t hat.<br />
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Österreich.<br />
Wien. Mit automatischer Regelmäßigkeit verkünden<br />
wir die Konfiskation unserer letzten Nr. 13.<br />
Als eine Erklärung für dieses geradezu über- (oder<br />
unter?) menschliche Vorgehen uns gegenüber kann<br />
vielleicht die neuliche Debatte im Parlament über<br />
die augenblicklich gehandhabte Zensurwillkür <strong>und</strong><br />
Konfiskationserdrosselung des freien Wortes dienen.<br />
Justizminister K l e i n meinte da in naiver W e i s e ,<br />
daß „ d a s A n w a c h s e n a n a r c h i s t i s c h e r<br />
D r u c k s c h r i f t e n " dafür eine Begründung bilde,<br />
weshalb die Konfiskationspraxis nun mit solcher<br />
Berserkerwut geübt werde. Eine famose Erklärung,<br />
für die wir dem Justizminister danken, da sie uns<br />
wenigstens d e n Trost bringt, daß es die anarchistische<br />
Presse ist, die ihm arges Kopfzerbrechen<br />
verursacht. Geradezu als eine Parodie auf seine<br />
ganze Beantwortung der Interpellation — die wohl<br />
viel von Anarchisten spricht, aber es kein einziges<br />
Mal wagt, auf die Frechheiten hinzuweisen, denen<br />
unser Blatt ausgesetzt ist! — darf sein Stoßseufzer<br />
gelten, daß, wenn „die geschilderten Ursachen wieder<br />
verschwinden werden" auch die Konfiskationspraxis<br />
wieder abnehmen würde. Wir glauben es<br />
ihm gerne, in der Farblosigkeit der sonstigen nichtanarchistischen<br />
Presse gibt es eben selbst beim<br />
besten Willen nichts zu konfiszieren. Gelegentlich<br />
dieser Debatte mußte sich natürlich der Sozialdemokrat<br />
N e m e c wieder einmal blamieren. S o -<br />
sagte der gute K a u z : „Die größte Lächerlichkeit ist<br />
es, wenn' man von anarchistischen Druckschriften,<br />
welche die Propaganda der T a t verbreiten, spricht<br />
<strong>und</strong> glaubt, d a ß e s h e u t e i n d e r Z e i t d e s<br />
a l l g e m e i n e n W a h l r e c h t s n o c h m ö g l i c h<br />
s e i , eine große anarchistische Bewegung zu inaugurieren".<br />
Apropos: welche anarchistischen Druckschriften<br />
Österreichs propagieren denn die „ P r o p a -<br />
ganda der Tat" oder richtiger des T e r r o r i s m u s ?<br />
Wir kennen keine, <strong>und</strong> Herr Nemec „vergaß" es,<br />
dem Justizminister darauf die gebührende Antwort<br />
zu erteilen. W a s aber die angebliche Unmöglichkeit<br />
anbetrifft, „in der Zeit des allgemeinen Wahlrechtes"<br />
eine anarchistische Bewegung zu inaugurieren, so<br />
trösten wir Herrn Nemec damit, daß wir s a g e n :<br />
g e r a d e i n d i e s e r Z e i t i s t e s m ö g l i c h , g e -<br />
wissermaßen nur dann! Übrigens besitzt Frankreich<br />
das allgemeine Wahlrecht länger als Österreich <strong>und</strong><br />
erfreut sich dennoch einer sehr starken anarchistischen<br />
Bewegung. Freilich kann sie numerisch<br />
nicht so stark sein, wie die deutsche oder österreichische<br />
Sozialdemokratie, doch dafür ist sie auch<br />
nicht so machtlos wie jene.<br />
* Am 14. Juli fand vor dem Bezirksgericht<br />
des X. Bezirkes die Verhandlung gegen unseren<br />
Genossen Kienwald statt. Weshalb ? Das ist eben<br />
das Interessante <strong>und</strong> Belehrende. In einer großen<br />
Massenversammlung unserer Bewegung in obigem<br />
Bezirke wurden die anwesenden Sozialdemokraten<br />
geistig wieder einmal knieschwach, statt dessen<br />
aber recht faustlustig. Und da ihre Führer sie g e -<br />
hörig verhetzt hatten, sprengten sie die Versammlung<br />
durch gemeine Radauschlägereien. Im Laufe<br />
derselben ergriff der Sozialdemokrat G o r i t s c h a n<br />
einen Sessel <strong>und</strong> schlug mit diesem auf unseren<br />
physisch absolut wehrlosen Kameraden Kienwald<br />
los. Damit nicht genug, hatte der Kerl noch die<br />
Frechheit, gegen Kienwald die Anzeige zu erstatten;<br />
vielleicht nur um sein infames Tun zu verdecken.<br />
Gern wollte er es auch in obiger Verhandlung tun,<br />
w a s ihm aber trotz des Rechtsanwaltes F. Winter<br />
nicht gelang, indem Goritschan tatsächlich durch<br />
seine eigenen Zeugen belastet wurde. Kienwald<br />
wurde vertreten durch Herrn Dr. Schäfer (Advokaturskanzlei<br />
des Herrn Dr. E. Frischauer), <strong>und</strong><br />
muß dessen aufrichtiges <strong>und</strong> unerschrockenes<br />
Eintreten für seinen Klienten lobend hervorgehoben<br />
werden. Die Verhandlung endete mit einem Freispruch,<br />
wider den die Staatsanwaltschaft Berufung<br />
einlegte. Vielleicht werden es sich die S o z i a l d e m o -<br />
kraten bald vergehen lassen, als Versammlungssprenger<br />
nach christlichsozialem Muster zu debütieren!<br />
* Eine sehr stark besuchte Versammlung fand<br />
in dem nahegelegenen T r a i s k i r c h e n statt, in der<br />
G e n o s s e Ramus über „Parlamentarismus <strong>und</strong> G e -<br />
werkschaftsbewegung" referierte. In einem 1½ stündigen<br />
Referat führte er den Bourgeoisschwinde! des<br />
Parlamentarismus für das Proletariat ad absurdum.<br />
In der Diskussion trat ihm der 1. besoldete S e k r e -<br />
tär der Krankenkassa, 2. besoldete Abgeordnete<br />
Joh. Smitka entgegen; der Refrain seiner Rede<br />
waren Verdrehungen, lächerliche Unwissenheit <strong>und</strong><br />
grandiose Einschläferung j e d e s ges<strong>und</strong>en proletarischen<br />
Kampfesbewußtseins. Als dann der G e n o s s e<br />
Ramus antworten wollte, wußten die anwesenden<br />
Sozialdemokraten sehr wohl, daß nun des Triumphes<br />
letzter T a g für Herrn Smitka gekommen — <strong>und</strong><br />
dies mußte verhindert werden. 0 kühner M a n n e s -<br />
mut <strong>und</strong> echte Überzeugungstreue - im Nu wurde<br />
die Versammlung gesprengt, nur damit Ramus nicht<br />
sollte antworten können. Welch vorzüglichen Erfolg<br />
dieses mutige Vorgehen — f ü r u n s hatte, darüber<br />
folgendes Zitat aus einem Schreiben der T r a i s -<br />
kirchner G e n o s s e n : „Werte Kameraden! Ersuche<br />
nächstes Mal um. . . E x e m p l a r e m e h r vom „W. f.<br />
A.", <strong>und</strong> . . . Stück Mitgliedskarten zu senden, da<br />
wir nun daran gehen können, uns zu gruppieren.<br />
A m S o n n t a g d e n 26. J u l i findet eine diesbezügliche<br />
Versammlung statt. W a s die letzte anlangt,<br />
sind die Sozialdemokraten ganz aus dem Häuschen<br />
. . ." Wenn man bedenkt, daß dies eigentlich<br />
die e r s t e Versammlung war, die wir in T r a i s -<br />
kirchen hatten, ist der Erfolg nicht so schlecht;<br />
nicht wahr, Herr S m i t k a ?<br />
* Sehr lehrreich <strong>und</strong> interessant war der Vortrag,<br />
den G e n o s s e Ernst H a i d t im XIV. Bezirk<br />
hielt über „Die Alters- <strong>und</strong> Invaliditätsversicherung<br />
durch den Staat <strong>und</strong> das Parlament". Redner zeigte
die Wertlosigkeit der ganzen diesbezüglichen parlamentarischen<br />
Aktion im Spiegel unseres Artikels<br />
über „Einst <strong>und</strong> jetzt" in voriger Nummer.<br />
* T r o t z a l l e d e m u n d d e n n o c h ! Dies war<br />
das Motto, das die Genossen des III. Bezirkes dazu<br />
bewog, dort wieder eine Versammlung einzuberufen,<br />
obwohl die letzte Versammlung ihnen von<br />
Herrn Bernt, einem Manne, der allzugerne das<br />
Tischlerhandwerk an den Nagel hängen <strong>und</strong> gegenwärtig<br />
als Kandidat irgend ein politisches Ämtchen<br />
bekommen möchte, samt seinen Konsorten gesprengt<br />
wurde. Diesmal ließ sich jener Bernt anfangs nicht<br />
blicken, <strong>und</strong> so konnte der G e n o s s e Ramus vor<br />
einem gut besetzten Saal sein Referat über „Die<br />
Zukunft der Gewerkschaftsbewegung" halten. Er<br />
mochte etwa eine ¾ St<strong>und</strong>e gesprochen haben, da<br />
erhob sich plötzlich ein Unbekannter <strong>und</strong>, den Hut<br />
schwenkend, ging er geräuschlos hinaus; ihm folgten<br />
etwa 10 „Männer". Wieder vergingen gute<br />
20 Minuten, während welcher Ramus ruhig weitersprach.<br />
Da zischelten auf einmal einige Stimmen<br />
durch die T ü r : „Genossen, kumt 's aussi, Disziplin<br />
I . . ." Und nun sah man auch das Mondgesicht<br />
des Herrn Bernt, der von draußen, mit seiner<br />
Rotte vor der Türe stehend, Kommando erteilte,<br />
wie Ramus am Weiterreden zu behindern.<br />
Dreimal versuchten sie es, die Leute hinaus zu<br />
beordern, aber es gelang ihnen nur h<strong>und</strong>smiserabel.<br />
Einige muckten sogar auf <strong>und</strong> sagten: „Wir lassen<br />
uns nicht befehlen, w a s wir anhören dürfen <strong>und</strong><br />
w a s nicht . . ." Und als die Rotte Bernt sah, daß<br />
es diesmal mißglückt war, wußte sie sich nicht anders<br />
zu helfen, als indem sie, vor der Türe stehend,<br />
das „Lied der Arbeit" anstimmte, um den Redner<br />
— nicht zu widerlegen, sondern zu überschreien.<br />
Der aber war mittlerweile zu Ende gekommen ;<br />
unsere Genossen lachten diese armseligen sozialdemokratischen<br />
Figuranten aus, die nichts B e s s e r e s<br />
zu tun wußten, als v o r der Halle <strong>und</strong> draußen<br />
stehend sich heiser zu schreien.<br />
Die Angelegenheit hatte auch ein kleines Nachspiel.<br />
Herr Bernt konnte es sich nämlich nach dem<br />
kläglichen Reinfall im Sprengungsversuch nicht versagen,<br />
seine vorzügliche Befähigung als Kandidat<br />
für ein Amt — wofür nur? vielleicht beim Polizeipräsidium?<br />
— dadurch zu erweisen, daß er schnurrstracks<br />
zu einem Kommissär ging <strong>und</strong> unseren<br />
Genossen J o s e f K. verhaften lassen wollte ; weil<br />
derselbe Anarchist sei — huhu! — <strong>und</strong> ihn b e -<br />
leidigt habe (kann man d i e s ? ) . Doch siehe da, der<br />
Polizeikommissär mußte Herrn Bernt, den sozialdemokratischen<br />
Kandidaten für Amtswürden, an<br />
Anstand übertreffen, indem er ihm sagte, daß man<br />
deshalb, weil man Anarchist ist, noch nicht verhaftet<br />
wird <strong>und</strong> er doch die Ehrenbeleidigungsklage<br />
gegen K. einreichen könne. Tableau — <strong>und</strong><br />
das lange Gesicht des Herrn Bernt hätten wir unseren<br />
Lesern zu sehen gewünscht, als ihm einer<br />
seiner eigenen Genossen das Wort „Denunziant"<br />
ins Ohr zischelte . . .<br />
* Im V. Bezirk referierte der G e n o s s e Felsenburg<br />
über das T h e m a „Syndikalismus <strong>und</strong> Anarchismus",<br />
wobei er zu dem Schlüsse gelangte, daß<br />
die beiden nur sehr wenig miteinander gemein<br />
hätten.— — — —<br />
* Im X I V . Bezirke fanden zwei Versammlungen<br />
statt, in denen der G e n o s s e Ramus zwei Vorträge<br />
hielt, die sehr gut besucht waren. Das Thema des einen<br />
lautete: „Die Prinzipien der Sozialdemokratie <strong>und</strong> des<br />
Anarchismus", des andern „Probleme der deutschen<br />
<strong>und</strong> französischen Gewerkschaftsbewegung".<br />
* Die Genossen der Einkaufsgenossenschaftsgruppe<br />
treffen sich jeden Donnerstag Abend bei Schlor.<br />
Böhmen.<br />
B r u c h b e i B r ü x . Seit fast drei Monaten b e -<br />
finden sich die vier Genossen <strong>und</strong> Bergarbeiter<br />
F r a n z B r u c k , F r a n z N o w a k , J . F r o n e k ,<br />
R u d o l f T r e i b a l in Dux in Untersuchungshaft<br />
wegen der gegen sie erhobenen Anklage der Herstellung<br />
<strong>und</strong> Verbreitung antimilitaristischer Flugblätter.<br />
Es wird dies der e r s t e antimitaristische<br />
Prozeß sein, den wir in Österreich haben. Treibal<br />
ist Soldat <strong>und</strong> wird in Theresienstadt in Haft g e -<br />
halten.<br />
Wir alle blicken mit großer Spannung auf den<br />
Ausgang dieses Prozeß-Anschlages auf die selbstbewußte<br />
Würde von Menschen, die den Soldatenstand<br />
hassen, weil er die Eindrillung zum Mord<br />
b e z w e c k t ; <strong>und</strong> unsere wärmste Teilnahme für die<br />
wackeren Pioniere hinter Kerkermauern sei hiermit<br />
ausgedrückt. Im übrigen werden wir die genauesten<br />
Berichte über den Prozeß veröffentlichen.<br />
* <strong>Unser</strong>e Kameraden der böhmischen Bergarbeitergewerkschaft<br />
haben nachstehendes Plakat<br />
in hoher Auflage herausgegeben, dessen Inhalt auch<br />
für unsere deutschen Genossen von großer Bedeutung:<br />
Bergarbeiter! Ihr habt gewiß gehört <strong>und</strong> gelesen,<br />
daß die Regierung ein Gesetz, betreffend die Alters<strong>und</strong><br />
Invalidenversicherung vorbereitet, an welcher<br />
auch die Bergarbeiter beteiligt werden sollen. Und<br />
welche Vorteile bietet diese Regierungsvorlage<br />
unseren verschiedenen Bruderladen gegenüber?<br />
Keine, die Bedingungen sind noch schlechter als<br />
sonst wo. Im Alter von 65 Jahren erst ist der<br />
Bergarbeiter berechtigt, die Rente zu beanspruchen,<br />
welche vielleicht noch kleiner ist als die der Bruderlade,<br />
oder erhalten deine Frau mit Kindern drei<br />
solche Jahresrenten als Abfertigung. D a s bietet uns<br />
die Regierung mit unseren Herren Vertretern im<br />
Parlament. Bei der Reichskonferenz der G e n o s s e n -<br />
schaftsdelegationen in Wien wurde eine Resolution<br />
zu Gunsten der Regierung angenommen. Wo ist<br />
denn eine unserer Hauptforderungen, nach 25jähriger<br />
Grubenarbeit 2 Kronen Tagespension, wo ist der<br />
Beschluß des internationalen Bergarbeiterkongresses<br />
geblieben, eine Jahresrente von 6 0 0 bis 800 K zu<br />
erkämpfen? Und wo bleibt der Beschluß des letzten<br />
Kongresses in S a l z b u r g ? Oder werden diese Kongresse<br />
nur zum Vergnügen der verschiedenen soz.dem.<br />
Unionen abgehalten? Gewiß wird keiner mehr<br />
warten, bis das Gesetz, welches uns schädigen soll,<br />
angenommen wird, um dann wieder Jahrelang gegen<br />
schlechte Versicherung kämpfen zu müssen. Die<br />
Bergarbeiter aller Nationen kämpfen um eine Versicherung<br />
in der Höhe von 7 3 0 K nach 25 Jahren<br />
der Grubenarbeit, welches sie auch teilweise schon<br />
errungen haben. Bergarbeiter! Handeln wir also in<br />
unserem eigenen Interesse, <strong>und</strong> reichen wir uns die<br />
Hand zur gemeinschaftlichen Arbeit. Veranstaltet<br />
überall öffentliche <strong>und</strong> Belegschaftsversammlungen<br />
mit dem Programm betr. die Alters- u. Invalidenversicherung<br />
der Bergleute. Es ist im Interesse des<br />
Bergarbeiterfaches selbst, auf dieser Forderung zu<br />
bestehin <strong>und</strong> überall für dieselbe selbst zu kämpfen.<br />
Auf jeder Grube mögen Delegierte gewählt werden<br />
für den Bergarbeiterkongreß, auf welchem die Bergarbeiter<br />
ohne Unterschied der Parteiangehörigkeit<br />
vertreten sein werden. Der Kongreß wird in Prag<br />
oder in einem anderen Reviere in den Tagen vom<br />
15. bis 17. August d. J. abgehalten <strong>und</strong> sind alle<br />
Anfragen, Anträge, den Kongreß betreffend, an die<br />
A d r e s s e : Alois Basus, Bruch Nr. 70 (Böhmen) zu<br />
senden. Das Komitee.<br />
Verlag der Föderation der Bergarbeiter.<br />
Ungarn.<br />
B u d a p e s t . Herrliches Glück <strong>und</strong> diplomatisch<br />
gewerkschaftliche Weisheit der Tarifverträge, w e s -<br />
halb hast du dich so wenig im Interesse der ungarländischen<br />
Gasarbeiter betätigt? Anfang dieses<br />
Monats lief der für die Dauer von 3 Jahren von<br />
den Gasarbeitern abgeschlossene Tarifvertrag ab,<br />
<strong>und</strong> natürlich haben die Unternehmer einer Erneuerung<br />
desselben vorgebeugt, sie mit allen ordinären<br />
Mitteln hintertrieben. Da setzten die Arbeiter mit<br />
der passiven Resistenz ein, die anfangs vorzüglich<br />
wirkte, indem statt 30000 Kubikmeter G a s nur 20000<br />
erzeugt wurden. Leider aber bekümmerten sich die<br />
Arbeiter desselben Berufes, der konsolidiert in den<br />
Händen der allgemeinen österreichischen Gasgesellschaft<br />
ist, gar nicht um die Aktionen ihrer Brüder.<br />
In Triest, wo der Sitz der Gesellschaft, fiel es den<br />
Arbeitern <strong>und</strong> deren Führern nicht ein, g l e i c h f a l l s<br />
passive Resistenz zu üben <strong>und</strong> sofort eigene F o r -<br />
derungen aufzustellen; in anderen Städten auch<br />
nicht. Und nun erfolgte das, w a s schwachen Arbeiterkategorien<br />
stets geschehen wird, wenn sie<br />
nicht gestützt werden durch die Solidaritätswaffe<br />
des Generalstreiks: die Arbeiter wurden ausgesperrt<br />
<strong>und</strong> S o l d a t e n b e s e t z t e n a l s S t r e i k -<br />
b r e c h e r i h r e P l ä t z e . Wieder zeigte sich die<br />
totale Kopflosigkeit des Zentralismus; die Arbeiter<br />
gaben sogleich klein bei, wollten sogar ihre Vertrauensleute<br />
opfern, die nicht mehr angestellt werden<br />
sollten. Alles vergebens — das Unternehmertum<br />
erwies sich sehr hartnäckig. Warum sollte es eigentlich<br />
auch nicht, weiß es sich doch stärker ob der<br />
Dummheit der Arbeiter?! Und so ist der Streik<br />
zur St<strong>und</strong>e wohl schon beendet, wenigstens verlautet<br />
nichts mehr über ihn; den Arbeitern verbleibt<br />
das Nachsehen — <strong>und</strong> das N a c h d e n k e n .<br />
Herr Dr. Adler brachte im Parlament eine<br />
Entrüstungsinterpellation gegen den Gebrauch von<br />
Soldaten als Streikbrecher ein. Bis heute ist darüber<br />
nicht verhandelt worden. Und eine T a t s a c h e ist es<br />
doch wahrhaftig, daß, wenn man Menschen in<br />
einem Kriege als Totschläger verwenden kann, man<br />
sie im Frieden doch auch als „ökonomische" T o t -<br />
schläger von Arbeitern, als Streikbrecher gebrauchen<br />
darf! Die Interpellation Adlers wandert in den<br />
Papierkorb, ein Solidaritätsstreik der Gasarbeiter<br />
anderer Städte mit den Budapestern hätte den<br />
letzteren aber einen wohl zu vergönnenden Sieg<br />
gebracht.<br />
Bei dieser Gelegenheit meldete die bürgerliche<br />
Presse, daß unsere ungarischen Kameraden eine<br />
antimilitaristische Proklamation herausgaben, in der<br />
sie die Arbeiter im Soldatenrock aufforderten, keine<br />
Streikbrecher zu sein. Ein Kamerad soll verhaftet<br />
worden sein; näheres ist uns jedoch nicht bekannt.<br />
Deutschland.<br />
Am 13. September findet zu Nürnberg der<br />
sozialdemokratische Parteitag statt. Will man die<br />
ganze Kern- <strong>und</strong> Saftlosigkeit der deutschen Sozialdemokratie<br />
kennen lernen, so genügt ein Blick auf<br />
d i e s e Tagesordnung: I . Geschäftsbericht des Vorstandes<br />
(Allgemeines, Organisation der Frauen <strong>und</strong><br />
über Jugendorganisationen, Kasse <strong>und</strong> P r e s s e ) ;<br />
2. Bericht der Kontrollkommission; 3. Parlamentarischer<br />
Bericht; 4. Maifeier; 5. Sozialpolitik <strong>und</strong><br />
der neue K u r s ; 6. Die Reichsfinanzreform; 7. S o n -<br />
stige Anträge; 8. Wahl des Parteivorstandes, der<br />
Kontrollkommission <strong>und</strong> des Ortes, an dem der<br />
nächste Parteitag stattfinden soll.<br />
Nett, nicht w a h r ? Und dies ist die „rrrevolutionäre,<br />
völkerbefreiende Sozialdemokratie"!<br />
Norwegen.<br />
Der 6 . Kongreß der n o r w e g i s c h e n J u -<br />
g e n d o r g a n i s a t i o n e n hat dieselben nun definitiv<br />
von der Sozialdemokratie losgetrennt <strong>und</strong><br />
selbständig, sowohl im Geiste, wie in ihren Mitteln<br />
konstituiert.<br />
Beschlossen wurde u. a. eine strikte antimilitaristische<br />
Propaganda zu entfalten, einen Aufruf<br />
gegen den Militarismus herauszugeben <strong>und</strong> während<br />
der Waffenübungen auf den Exerzierplätzen gratis<br />
zu verteilen.<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur J o b . Poddany ( W i e n ) . — Druck von Karl lsda in Wien.<br />
Als ökonomische Taktik wurde der Generalstreik<br />
<strong>und</strong> die direkte Aktion angenommen. Fast<br />
alle erklärten sich g e g e n den Parlamentarismus<br />
<strong>und</strong> wurde nachstehende Resolution mit überwältigender<br />
Majorität angenommen:<br />
„Indem der Kongreß anerkennt, daß die Fachorganisationen<br />
die besten <strong>und</strong> sichersten Waffen<br />
der Arbeiterklasse gegen Reaktion <strong>und</strong> Unterdrückung<br />
sind, der Streik das beste Machtmittel,<br />
um sich bessere ökonomische <strong>und</strong> lebenswürdigere<br />
Bedingungen zu erkämpfen sowie reaktionäre Rückschläge<br />
z u hindern, b e t r a c h t e t d e r K o n g r e ß den<br />
G e n e r a l s t r e i k a l s d a s b e s t e <strong>und</strong> w i r k s a m s t e<br />
K a m p f m i t t e l d e r A r b e i t e r k l a s s e , um die bestehende<br />
Gesellschaftsordnung umzuwandeln <strong>und</strong> die<br />
Hindernisse wegzuräumen, die der Einführung einer<br />
sozialistischen Gesellschaftsordnung den W e g sperren.<br />
Der Kongreß fordert deshalb den Verband <strong>und</strong><br />
dessen Abteilungen <strong>und</strong> Mitglieder auf, energische<br />
Aufklärungs- <strong>und</strong> Agitationsarbeit für die Idee des<br />
Generalstreiks zu betreiben, sowie unermüdlich <strong>und</strong><br />
intensiv zu agitieren, um das Verständnis <strong>und</strong><br />
Interesse der arbeitenden Jugend zu erwecken."<br />
In der R e l i g i o n s f r a g e wurde beschlossen,<br />
eine intensive freidenkerische Propaganda zu entfalten<br />
<strong>und</strong> für die Abschaffung des Religionsunterrichtes<br />
in den Schulen einzutreten. Nach diversen<br />
anderen, minder bedeutenden Angelegenheiten wurde<br />
der nächste Parteitag für 1909 <strong>und</strong> in Skien anberaumt.<br />
Wir wünschen den jungen norwegischen Kameraden<br />
viele Erfolge, die ja sicher nicht ausbleiben<br />
werden. S o I c Ii e Jünglinge werden feste, unbeirrt<br />
kämpfende Männer ergeben. Bei uns aber in Österreich<br />
könnten die alten, ergrauten Männer der<br />
Sozialdemokratie den Hut vor dieser norwegischen<br />
Jugend wohl lüften!<br />
Spanien.<br />
W e r den Wert der direkten, außerparlamentarischen<br />
Taktik kennen lernen will, braucht sich<br />
nur das eine vor Augen zu führen, daß angesichts<br />
der gewaltigen Agitation, die die spanischen revolutionären<br />
Arbeiter im Verein mit den Freidenkern<br />
<strong>und</strong> Republikanern dagegen führten, die Regierung<br />
überhaupt n i c h t im Stande war, das von ihr geplante<br />
Ausnahmegesetz wider das Proletariat, das<br />
unter dem Namen „Anarchistisches Terroristengesetz"<br />
verkappt wurde, vor das Abgeordnetenhaus<br />
zur Besprechung zu bringen.<br />
Kontrast: In Deutschland kann das Proletariat<br />
nicht die kleinste Willkürmaßregel der Regierung<br />
hintanhalten, in Österreich ist die parlamentarische<br />
Taktik nicht im Stande, auch nur den kleinsten Anschlag<br />
seitens der Regierung abzuwehren. Dies ist<br />
der Triumph der „parlamentarischen Taktik".<br />
Vereine <strong>und</strong> Versammlungen.<br />
A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s f ö d e r a t i o n . Jeden<br />
Montag Abend im V. B e z . , Einsiedlergasse 60. —<br />
Jeden Dienstag Abend im XIV, B e z . , Märzstraße 33.<br />
— Jeden Sonntag um 10 Uhr vormittags im X. Bez.,<br />
Eugengasse 9. — Jeden Mittwoch Abend hat der<br />
Gesangverein „Morgenröte" eine Zusammenkunft<br />
bei Schlor.<br />
Raummangels halber können wir weitere Zusammenkünfte<br />
<strong>und</strong> größere Versammlungen in dieser<br />
Nummer nicht angeben. In obigen Lokalitäten können<br />
alle, die es interessiert, sowohl die Adressen sonstiger<br />
Zusammenkünfte erfahren, wie Handzettel<br />
für die größeren Versammlungen w ä h r e n d der<br />
n ä c h s t e n z w e i W o c h e n entgegennehmen.<br />
Öffentliche Volksversammlung<br />
zur Feier des Andenkens an<br />
Michael Bakunin<br />
am S a m s t a g den 2 5 . Juli, präzise 8 Uhr abends,<br />
in Holubs g r o ß e m S a a l , X I V . , H u g l g a s s e 15.<br />
Referenten in deutscher, tschechischer <strong>und</strong> russischer<br />
Sprache werden sprechen.<br />
T h e m a : M i c h a e l B a k u n i n a l s D e n k e r <strong>und</strong>Kämpfer.<br />
Zur weihevollen Begehung der Erinnerung an unseren<br />
Vorkämpfer wird der Gesangverein „Morgenröte"<br />
mitwirken.<br />
A r b e i t e r , e r s c h e i n t in M a s s e n .<br />
E m p f e h l e n s w e r t e B ü c h e r <strong>und</strong> B r o s c h ü r e n :<br />
Der letzte Krieg, von Teranus, eleg. geb. . K<br />
Wohlstand für Alle, von Peter Krapotkin „<br />
Wiliam Godwin, der Theoretiker des kommunistischen<br />
Anarchismus, v. Pierre Ramus „<br />
Die historische Entwicklung der Friedensidee<br />
<strong>und</strong> des Antimilitarismus, von Pierre<br />
5'—<br />
1.80<br />
2 —<br />
Ramus „ — 3 0<br />
Das anarchistische Manifest, v. P. Ramus „ — 0 6<br />
Kritische Beiträge zur Charakteristik- von<br />
Karl Marx, von Pierre Ramus . . . . „ — 1 2<br />
Wie klärt man Kinder auf?<br />
Das Dogma von der Vaterlandsliebe . . .<br />
„ — 1 2<br />
. „ — 1 2<br />
Liebesfreiheit <strong>und</strong> Eheprostitution, v. Fernau „ — 1 2<br />
Revolutionäre Regierungen, von P. Krapotkin „<br />
Gretchen <strong>und</strong> Helene, Zeitgemäße Betrachtung<br />
— 0 6<br />
des Anarchismus u. d. Sozialdemokratie „ — 2 0<br />
Die Sintflut, von Theodor Brunnecker . . „ — 1 2<br />
Die Auferstehung,<br />
Eine Reise nach<br />
v. T h e o d e r Brunnecker „<br />
dem Jenseits, von Theodor<br />
—-12<br />
Brunnecker<br />
Die freie Generation, Monatsschrift der Welt-<br />
„ — 1 2<br />
anschauung des Anarchismus . . . . „ —-25<br />
Die Pariser Kommune, von P. Krapotkin . — -<br />
l2
Wien, 2. August 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 15.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />
I./17. — Gelder sind zu senden an<br />
W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />
5, III./27.<br />
Kameraden! Seit einigen W o c h e n<br />
erhalten wir von den<br />
diversen Kolporteuren nicht mehr so<br />
pünktlich, w i e dies früher geschah,<br />
die Gelder für ihre diversen Zeitungsbezüge.<br />
Wir hoffen, daß diese Notiz<br />
genügen wird, sie an ihre Pflicht —<br />
deren getreue Erfüllung eine Lebensbedingung<br />
für unser Blatt — zu erinnern.<br />
Das jeweilige Nichteintreffen<br />
des Blattes bitten wir, sofort mitzuteilen.<br />
Allgemeine Gewerkschafts-Föderation, Wien,<br />
EINLADUNG<br />
zu dem am Sonntag den 2. August in J. Holubs<br />
Etablissement, XIV., Huglgasse 15, stattfindenden<br />
Garten-Fest<br />
verb<strong>und</strong>en mit Tanzunterlialtung <strong>und</strong> unter solidarischer<br />
Mitwirkung des Gesangvereines „Morgenröte".<br />
Anfang 3 Uhr nachmittags.<br />
Eintritt im Vorverkauf 40 h, an der Kassa 50 h.<br />
Das Fest findet bei jeder Witterung statt.<br />
Wir ersuchen unsere Fre<strong>und</strong>e, vollzählig zu erscheinen.<br />
Die Stadt der Sonne.*<br />
Aus dem Englischen von L i l l y N a d l e r -<br />
N u e l l e n s.<br />
Durch alle Zeiten tönt ein Schrei d e s Leidens,<br />
Wo Menschen rastlos mühen sich in Not,<br />
Daß and're schwelgen, während sie verschmachten<br />
In Armut <strong>und</strong> in Schmerzen bis zum T o d .<br />
Immer ein Schrei von Männern in Verzweiflung,<br />
Von Frauen <strong>und</strong> von Kindern, dringt empor<br />
Aus Ketten, Elend, aus d e s Hungers Qualen,<br />
Aus Sklaverei <strong>und</strong> T o d e s a n g s t hervor.<br />
Immer das Land, die Quelle alles Lebens,<br />
Dem Volk geraubt mit List <strong>und</strong> mit Gewalt<br />
Und immer tapfere Rebellenherzen<br />
Zermalmt durch die Gesetze fühllos kalt.<br />
Die Näherin in ihrer düst'ren Kammer,<br />
Die Arbeiter in Städten <strong>und</strong> am Land,<br />
Krank, elend — sich für and're endlos mühend —<br />
Von jenen unbeachtet, ungekannt.<br />
Doch immer durch den Kampf <strong>und</strong> die Verwirrung,<br />
Durch der Verzweiflung Schrei <strong>und</strong> bitt'rem<br />
Wort,<br />
Hört man Musik, den Wehruf übertönend,<br />
Erklingt der Hoffnung schwellender Akkord.<br />
Von w<strong>und</strong>en Herzen, so in eins verschmolzen,<br />
Erklingt das Lied — trotz allem Spott <strong>und</strong><br />
Hohn —<br />
Von Zukunftstagen, von der Stadt der Sonne,<br />
In ahnend, selbsterfüllender Vision.<br />
Von Dingen ungeseh'n ein sich'res Zeichen —<br />
Im Menschenherz ihr tiefer Wiederhall;<br />
Verborg'ne Worte — endlich d o c h gesprochen —<br />
Freiheit <strong>und</strong> Bruderliebe überall.<br />
Immer aus Schwäche neue Kraft entsteigend<br />
Und neue Freude aus geteiltem Leid;<br />
Immer vereint die Seele aller strebend<br />
Nach Leben, Liebe, Sieg <strong>und</strong> Herrlichkeit.<br />
Edward Carpenter.<br />
* Obiges ergreifende Gedicht ist die neueste<br />
Geistesschöpfung des englischen Sozialphilosophen<br />
<strong>und</strong> Dichter, <strong>und</strong> bieten wir dessen e r s t e deutsche<br />
Übertragung hiermit dar. Die Red.<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gründe liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />
In den Sommerferien.<br />
Fröhliche Sommerferien hat der Herr<br />
Ministerpräsident dem Volkshause des allgemeinen<br />
Wahlrechtes gewünscht, <strong>und</strong> wir<br />
wünschten, wir könnten sie dem arbeitenden<br />
Volke wünschen. Doch leider verbleibt<br />
letzteres ein frommer Wunsch; nicht jeder<br />
ist in der glücklichen Lage der Herren Parlamentarier,<br />
schon heute das ideale Zeitalter<br />
von, aus dem unergründlichen Volkssäckel<br />
bezahlten, Sommerferien genießen zu können.<br />
Nur sie sind die Auserwählten, die der Staat<br />
als die Vertreter der verschiedenen Klassen<br />
an seinen Karren gespannt hat <strong>und</strong> denen<br />
er dafür, daß sie Hand in Hand mit ihm<br />
an der Aufrechthaltung der heutigen Gesellschaftsordnung,<br />
an deren lügenhaft-täuschendem<br />
Erträglicherwerden arbeiten, diejenigen<br />
privilegierten Positionen innerhalb der bestehenden<br />
Gesellschaftsunterdrückung bietet,<br />
die im allgemeinen von denen innegenommen<br />
werden, die entweder in der Wahl ihrer<br />
Eltern recht vorsichtig gewesen, oder anderseits<br />
die als staatserhaltende Elemente<br />
von den herrschenden Mächten an die Tafel<br />
der Lebensgenüsse herangelassen werden.<br />
Wenn das arbeitende Volk nicht von<br />
seinem Elend so herabgedrückt würde, daß<br />
es in der Tat in sozialpolitischen Fragen<br />
als geistig umnachtet erklärt werden muß;<br />
wenn die intelligenten Wortführer seiner<br />
Ideale nicht ein politisches — also wohl<br />
schmutziges, doch immerhin sehr e i n t r ä g -<br />
liches — Geschäft aus seinem Klassenringen<br />
machten —, niemals könnte dieses Proletariat<br />
in so einfacher Weise ein Spielball der<br />
herrschenden politischen Verschlagenheit,<br />
des Parlamentarismus werden, wie es tatsächlich<br />
der Fall ist. Betrachten wir doch<br />
einmal klaren Auges die realen Verhältnisse,<br />
<strong>und</strong> wir finden dann, daß z. B. die sozialdemokratische<br />
Parlamentsvertretung, die in<br />
ihrer Gesamtheit 88 Mann zählt, laut dem<br />
biographisch-statistischen Handbuch des<br />
Abgeordnetenhauses, sage <strong>und</strong> schreibe<br />
n u r zwei Arbeiter in ihrer Mitte zählt;<br />
alle die übrigen sind Landwirte, Privatbeamte,<br />
Gewerbetreibende, Schriftsteller<strong>und</strong><br />
Künstler, kurz Leute, die schon vor ihrem<br />
Einzüge ins Parlament nicht der arbeitenden<br />
Klasse angehörten <strong>und</strong> deren Einkommen<br />
sich nun in geradezu ideal risikoloser<br />
Form ganz enorm vermehrte. Laut<br />
dieser Aufstellung wäre es doch nur selbstverständlich,<br />
daß die Herren »Arbeiterführer«<br />
der Sozialdemokratie, die doch<br />
schon früher in sozialer Beziehung so<br />
ziemlich sichergestellt waren, nun schon<br />
längst jener Frage wieder nähergetreten<br />
wären, die v o r den Wahlen verschiedentlich<br />
angeregt ward: W a s w e r d e n d i e<br />
» V e r t r e t e r d e s P r o l e t a r i a t s « m i t<br />
i h r e n D i ä t e n , monatlich 600 Kronen,<br />
machen? Statt dessen hört man keinen Laut<br />
mehr aus dieser Richtung.<br />
Vielleicht werden die Herren, die sich<br />
des Vollbesitzes dieser ganz schönen Nebeneinnahme,<br />
die ja ihre sonstigen Einnahms-<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2.40;<br />
halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
quellen, als noch anderweitig besoldete oder<br />
als selbständige Industrielle, in keiner Weise<br />
berührt, vielleicht werden sie uns Begehrlichkeit<br />
vorwerfen. Die echteste Kapitalistenlogik,<br />
die sich ja auch immer gegenüber<br />
den Forderungen des Proletariats auf- <strong>und</strong><br />
sattsam in die Brust wirft. Mögen sie es<br />
bezeichnen, wie es ihnen beliebt, für uns<br />
bleibt d i e Frage ein brennendes Problem:<br />
W o d u r c h u n t e r s c h e i d e n s i c h d i e<br />
A b g e o r d n e t e n d e r S o z i a l d e m o k r a -<br />
t i e v o n j e n e n d e r ü b r i g e n b ü r g e r -<br />
l i c h - p o l i t i s c h e n P a r t e i e n , wenn sie,<br />
ganz wie diese, den Parlamentarismus als<br />
eine Melkkuh für s i c h betrachten, während<br />
sie ihren Wählern es vorschwätzen,<br />
daß der Parlamentarismus eine Volksinstitution<br />
— dieweil er eine B o u r g e o i s -<br />
institution —, daß er für das V o l k eben<br />
im weitesten Sinne von Wert sei, während er<br />
faktisch nichts anderes als ein prägnanterer<br />
Ausdruck der kapitalistischen Bourgeoiswirtschaft<br />
<strong>und</strong> nur für diese von allerdings<br />
ungeheurem, weil konservierendem Werte<br />
ist. Ist es nicht der klarste Beweis für den<br />
Schwindel, den die Parlamentarier a l l e r<br />
Parteien mit dem Volke treiben, wenn sowohl<br />
der Vertreter einer so ausgesprochen<br />
reaktionären Partei, wie es die christlichsoziale<br />
ist, wenn Herr S t e i n e r in seiner<br />
Rede über den Staatsvoranschlag am<br />
26. Juni den Wert des »ersten Volksparlaments«<br />
in lächerlich lügnerischer Weise<br />
preist, die »Arbeiter-Zeitung« vom 27. Juni<br />
aber in ihrem Leitartikel ihn noch übertrifft<br />
in ihrer Ruhmeseulogie, die sie dem<br />
»neuen Parlament« widmet. Eine rührende<br />
Übereinstimmung in Gedanken <strong>und</strong> Gefühlen;<br />
freilich, kein W<strong>und</strong>er!<br />
Und was hat uns das Parlament gebracht?<br />
Neue Steuerbelastungen, einen verstärkten<br />
Militarismus, eine Steigerung, der<br />
Zuckerpreise o h n e Ermäßigung der Zuckersteuer,<br />
eine für den Staat in jeder Hinsicht<br />
befriedigende Erledigung seines Budgets<br />
kurz, sämtliche Staatsnotwendigkeiten,<br />
wie sie auch früher entweder bewilligt oder<br />
einfach genommen wurden. Will man überdies<br />
wirklich wissen, was das Parlament<br />
geleistet hat, dann sollte man eigentlich<br />
fragen, bei welchen Gelegenheiten es vollständig<br />
wirkungslos <strong>und</strong> tatenlos blieb.<br />
Mehr als einmal hat während der letzten<br />
zwölf Monate die Flinte aufs Volk geschossen,<br />
der Säbel in die Massen blindwütend<br />
dreingehauen; das Parlament war<br />
darin machtlos, ihnen Einhalt zu gebieten,<br />
als in Galizien, als in der Bukowina, als<br />
erst vor einigen Wochen in Wien, während<br />
des Streiks der Kanalarbeiter, sich die bewaffnete<br />
Macht des Staates wider die berechtigten<br />
— <strong>und</strong> ach, wie bescheidenen<br />
-- Forderungen des Proletariats aufpflanzte;<br />
dies nur als kleiner Ausschnitt aus dem<br />
Ganzen. Es war unfähig, die Verstärkung<br />
des Militarismus um r<strong>und</strong> 4800 Mann abzuwenden,<br />
die Vermehrung von Steuern zu verhüten,<br />
kurz, den Druck der staatlichen <strong>und</strong><br />
kapitalistischen Autorität auch nur im mindes-
ten lahmzulegen. In zahlreichen Gewerkschaftskämpfen<br />
haben die Behörden das Koalitionsrecht<br />
mit Füßen getreten, wie nur beispielsweise<br />
in Graz — die parlamentarische<br />
Maschinerie funktionierte nicht,oder sie brachte<br />
eine Interpellation ein nach der praktischen<br />
Erdrosselung des Koalitionsrechtes. In unerhörtester<br />
Weise schaltete <strong>und</strong> waltete die<br />
Beamtenwillkür in der Behandlung von Arbeitern<br />
<strong>und</strong> die selige Ära der A u s w e i -<br />
s u n g e n ist wieder angebrochen — die<br />
parlamentarische Maschinerie funktionierte<br />
nicht, oder sie vermeinte, mit dummen Interpellationsredseligkeiten<br />
»etwas« getan zu<br />
haben. Und sollen wir auch noch darüber<br />
sprechen, daß das Parlament sich als völlig<br />
unfähig erwiesen hat, die Lebensmittelpreiseteuerung<br />
zu beheben?<br />
Man wende nicht ein, daß all dies nur<br />
deshalb durchpassieren konnte, weil die<br />
Sozialdemokratie noch in der Minorität im<br />
Abgeordnetenhaus vertreten ist. Das kläglichste<br />
Argument; denn: entweder die Minoritätsparteien<br />
können durch den Parlamentarismus<br />
erfolgreiche Politik treiben,<br />
oder aber: sie selbst beweisen, daß der<br />
Parlamentarismus für irgend welche proletarisch-soziale<br />
Zwecke total untauglich, da<br />
sich die Herren Parlamentarier, z. B. sozialdemokratischen<br />
Kolorits, doch selbst nicht<br />
der dummen Meinung hingeben können,<br />
je in absehbarer Zeit die Majorität zu gewinnen;<br />
<strong>und</strong> was soll inzwischen im Parlament<br />
geleistet werden?<br />
Viele radikale Sozialdemokraten werden<br />
uns darauf antworten, daß die Abgeordneten<br />
Obstruktion treiben <strong>und</strong> dadurch<br />
vielleicht manche ihrer »proletarischen«<br />
Forderungen hätten durchpeitschen können.<br />
Mit nichten; <strong>und</strong> die Sozialdemokraten<br />
wissen selbst sehr gut, daß sie dies nicht<br />
können. Man vergesse niemals, daß wir<br />
seit 1861 in Österreich 10 Legislaturperioden<br />
gehabt haben, die k e i n Volksparlament«<br />
konstituierten <strong>und</strong> von denen n e u n<br />
gewaltsam unterbrochen, von der Regierung<br />
a u f g e l ö s t wurden. Wie würde es erst<br />
dieser elften Legislaturperiode des allgemeinen<br />
Wahlrechtes ergehen, wenn sie sich<br />
bockbeinig erwiese! Es gibt keinen beredteren<br />
Beweis dafür, wie sehr der Parlamentarismus<br />
nichts anderes leistet, als die<br />
Geschäfte der herrschenden Klassen, wie<br />
dieser eine Umstand; tut er es nicht, so wird<br />
er einfach heimgeschickt zu Muttern, wie<br />
im Frühjahr 1907 der deutsche Reichstag,<br />
keine Majorität oder Minoritätskraft irgend<br />
einer Oppositionspartei kann ihn davor,<br />
vor diesem armseligen Schicksal eines entlassenen<br />
<strong>und</strong> hinausgeworfenen Lakaien<br />
bewahren. Und es ist für keinen Abgeordneten<br />
eine angenehme Sache, dem Vergnügen<br />
der Obstruktion halber monatlich<br />
600 Kronen einzubüßen.<br />
Doch Gerechtigkeit dem, dem Gerechtigkeit<br />
gebührt! Das soeben in die Sommerferien<br />
gegangene Parlament — welch<br />
schreckliche parlamentslose Zeit, welches<br />
Chaos muß da wohl herrschen in der<br />
Zwischenzeit bis zum Herbst! — hat auch<br />
L e i s t u n g e n zu verzeichnen. In der Tat,<br />
die Herren können stolz sein auf ihre «Erfolge»,<br />
die ihnen von der Regierung, als<br />
s ä m t l i c h e i h r e r W ü n s c h e bewilligt<br />
waren, hingeworfen wurden wie Knochen,<br />
die man H<strong>und</strong>en zuwirft. Haben wir nun<br />
nicht das formelle Versprechen der Regierung,<br />
den weißen Phosphor abzuschaffen;<br />
haben wir nicht eine «Entschädigung» der<br />
Reservisten durch etwa K 1 pro Tag"; haben<br />
wir nicht das Versprechen, die Alters- <strong>und</strong><br />
Unfallversicherung in der Herbstsession<br />
einzubringen; haben wir nicht die Abschaffung<br />
der letzten Waffenübung?<br />
All dies hat uns das Parlament gebracht;<br />
so behaupten es wenigstens die Herren,<br />
die schließlich beweisen müssen, daß sie<br />
K 600 pro Monat nicht umsonst einstreuen,<br />
Nun gibt es aber solche böse Leute, die<br />
alle diese schönen «Errungenschaften» —<br />
wie gefährlich für Thron, Altar <strong>und</strong> Geldsack!<br />
— mit kritischen Augen betrachten.<br />
Was die Arbeiterschutzgesetzgebung anbetrifft,<br />
wissen wir z. B., daß t r o t z ihrer<br />
geschriebenen Gesetze <strong>und</strong> Verbote in den<br />
Ziegelwerken Wiens unmenschlich lange<br />
Arbeitszeit <strong>und</strong> mit Kinderkräften gefrohndet<br />
wird; was die Entschädigung der Reservisten<br />
anbetrifft, erachten wir sie als k e i n e<br />
Entschädigung, da sie zu wenig ist, um<br />
damit leben, zu viel, um damit sterben zu<br />
können, <strong>und</strong> weil sie ja wieder das Volk<br />
durch ein ungeheuerlich v e r m e h r t e s<br />
Staatsbudget zu bezahlen hat; wenn wir<br />
nicht irren, belief sich die Mehrforderung<br />
auf über 200 Millionen Kronen; <strong>und</strong> die<br />
Abschaffung der letzten Waffenübung ist<br />
größtenteils die Folge des Schwächezustandes,<br />
in dem sich das dazu gehörige<br />
Menschenmaterial dann schon befindet, wie<br />
auch des Umstandes, daß der Staat nicht<br />
mehr wußte, was mit denjenigen anzufangen,<br />
die in immer größerer Anzahl instinktiv die<br />
direkte Aktion betätigten, mit Weib <strong>und</strong><br />
Kindern einrückten, da sie nicht wußten,<br />
wo die ihren unterzubringen; man rede<br />
uns nicht von dieser schon so oft kommenden<br />
Alters- <strong>und</strong> Unfallversicherung -<br />
selbst die russische Regierung führt eine<br />
solche ein! — die von dem Volke wieder<br />
selbst bezahlt wird werden müssen, <strong>und</strong><br />
wofür es nur zum kleinsten Teil etwas<br />
gewinnen wird. Man blicke bloß nachEngland,<br />
<strong>und</strong> ist doch das englische Versicherungsgesetz<br />
noch «ideal» im Vergleich zu dem,<br />
was wir hier erhalten werden.<br />
Schwindel, Selbsttäuschung, bewußte<br />
Täuschung der Volksmassen, eine perfide<br />
Verhöhnung jedes wahren Kulturfortschrittes<br />
— d i e s ist d i e L e i s t u n g d e r H e r r e n<br />
in d e n S o m m e r f e r i e n . . . Und die<br />
Sozialdemokraten löschen sich schon dadurch<br />
aus der Liste des Sozialismus aus,<br />
daß sie an diesem organisierten Volksbetrug<br />
mitwirken, als Mitbeteiligte auch Mitgenießer<br />
an den Beutefrüchten dieser kolossalen<br />
Volksbetörung, also mitschuldig sind.<br />
Auf ökonomischem Gebiete hat sich<br />
der moderne Kapitalismus sein Parlament<br />
in der Institution der B ö r s e geschaffen.<br />
Eine Institution schwindelhafter Spekulation<br />
mit fremden Werten, mit fremder millionenfacher<br />
Arbeitskraft, wo die kapitalistische<br />
Klasse unter sich die Konjunktur ausnützt,<br />
regelt, kurz, das ökonomische Treibhausleben<br />
der kapitalistischen Gesellschaft sich<br />
dienstbar macht. W a s d i e B ö r s e auf<br />
ö k o n o m i s c h e m G e b i e t , d a s ist d a s<br />
P a r l a m e n t auf p o l i t i s c h e m G e b i e t .<br />
In der Börse zählt der Besitz, der Reichtum;<br />
auch im Parlament. Und genau so<br />
absurd, albern, wie es wäre, einem Besitzlosen<br />
einen Börsensitz zu erkaufen, damit er<br />
nun das ökonomische Getriebe dieser Institution<br />
beeinflusse — genau so absurd, albern,<br />
selbstsüchtig-demagogisch ist es, zu<br />
lehren, daß man durch die Wahl von sozialdemokratischen<br />
Abgeordneten ins Parlament<br />
die politische Position, die sozialen Machtinstitutionen<br />
der herrschenden Klasse irgend<br />
wie erschüttern könne.<br />
Nicht parlamentarische Interpellationsfetzen,<br />
ödes Parteikleppertum <strong>und</strong> dessen<br />
jesuitisch-demagogisches Gebahren ist es,<br />
was dem Volke ökonomische Augenblicksverbesserungen<br />
erkämpfen kann. Einzig <strong>und</strong><br />
allein d e r G e n e r a l s t r e i k u n d d i e<br />
d i r e k t e A k t i o n , die bewußte Massenaktion<br />
durch Entzug der Arbeitskraft d e m<br />
<strong>und</strong> durch bewußtes Eingreifen in d e n<br />
Arbeitsprozeß der kapitalistischen Industrie<br />
sind es, die dem Volke seine momentanen<br />
Augenblicksforderungen erkämpfen können.<br />
Allerdings, wir sind ehrlich genug, es ein-<br />
zugestehen, daß das Volk, wenn siegreich<br />
die Relativität <strong>und</strong> Zweischneidigkeit a l l e r<br />
Gegenwartsverbesserungen selbst sehr bald<br />
erkennen wird, eben weil diese k e i n e<br />
d a u e r n d e n Verbesserungen sein können.<br />
Aus dieser Erkenntnis wird das Proletariat,<br />
losgelöst von dem Schwindel des Parlamentarismus,<br />
sich stützend auf seine eigene<br />
organisierte Solidaritätsmacht, sich dann<br />
überhaupt nur mit den Großproblemen des<br />
sozialen Kampfes beschäftigen, die lauten:<br />
A b s c h ü t t e l u n g d e r L o h n s k l a v e r e i<br />
u n d j e d e r s t a a t l i c h e n A u t o r i t ä t .<br />
Das Proletariat wird im steten Ringen um<br />
diese e c h t e n <strong>Ziel</strong>e menschheitlicher Befreiung<br />
die Verwirklichungsmöglichkeiten<br />
für dieselben beschaffen, mit seinen hohen<br />
<strong>Ziel</strong>en geistig reifen.<br />
So wird, so muß es gehen <strong>und</strong> kommen,<br />
dies ist unsere, der Anarchisten Aufgabe!<br />
Wir rufen deshalb unverdrossen immer<br />
wieder dem Volke zu: die Befreiung<br />
des Proletariats muß das eigene Werk dieses<br />
Proletariats sein, ein Werk, das durch<br />
kein Parlament der Welt geleistet werden<br />
kann, ein Werk, das durch jedes Parlament<br />
der Welt verhindert wird. N i c h t für<br />
die Verbesserung des Staates, n i c h t für<br />
das Erträglichermachen der kapitalistischen<br />
Herrschaft <strong>und</strong> Ausbeutung gilt es zu<br />
kämpfen, sondern um vollständigste Befreiung,<br />
um endgültige Lösung des sozialen<br />
Konfliktes, der gegenwärtig die Menschheit<br />
durchtobt.<br />
Und, wir sind dessen gewiß, trotz all<br />
des Eigennutzes <strong>und</strong> der bornierten Niedertracht<br />
all unserer Gegner: i h r e S o m m e r -<br />
f e r i e n w e r d e n d e r e i n s t , u n d z w a r<br />
b a l d z u E n d e g e h e n !<br />
Das Leben in Freiheit.*<br />
Es fehlt in der menschlichen Geschichte<br />
nicht an Beispielen, daß die Menschen,<br />
wenn sie in ihren Handlungen vollkommen<br />
frei <strong>und</strong> ungehindert sind <strong>und</strong>, ihren Bedürfnissen<br />
gemäß, den vollständigen Nutzen<br />
des sie umgebenden natürlichen Reichtumes<br />
genießen können, fähig sind, als vernünftige<br />
Geschöpfe zu leben. Sie sind darum besorgt,<br />
ihre Nachbarn nicht zu unterdrücken, ihren<br />
Mitmenschen nicht zu schaden <strong>und</strong> sogar<br />
bestrebt, nach besten Kräften für das Wohl<br />
der ganzen Gemeinde zu arbeiten. Einige<br />
neue Beispiele bestätigen es uns wieder,<br />
daß, wenn es die einzelnen Menschen eines<br />
Tages nur wirklich ernstlich wollen, die<br />
von jedem Zwang freie Gesellschaft aus<br />
einem schönen Traum zur vollen Wahrheit<br />
werden wird.<br />
Die kleine Stadt U t i l l a , welche ehedem<br />
zu Großbritannien gehörte <strong>und</strong> unweit<br />
der Küste der südamerikanischen Republik<br />
Honduras liegt, wurde vor ungefähr sechzig<br />
Jahren vom ersteren Staat an Honduras<br />
überlassen. Die Insel ist fast ausschließlich<br />
von Nachkommen englischer <strong>und</strong> gallischer<br />
Kolonisten bevölkert. Utilla bleibt auch in<br />
ihrem Aussehen <strong>und</strong> ihrem Charakter ganz<br />
eine englische Kleinstadt, <strong>und</strong> trotzdem ihre<br />
achth<strong>und</strong>ert Einwohner die Untertanen der<br />
benachbarten Republik sind, bewahren sie<br />
eifersüchtig die Traditionen <strong>und</strong> Gebräuche<br />
ihrer ursprünglichen Heimat. Inmitten unserer<br />
heutigen Zivilisation würde eine Stadt<br />
wie Utilla nicht ohne Steueramt, Gendarmerie,<br />
Gerichtshöfe, Gefängnisse <strong>und</strong> andere<br />
so unendlich schöne Institutionen bestehen<br />
können. Sie wäre auch mit einem Haufen<br />
Beamten belastet, vom Bürgermeister an<br />
bis zum Feldhüter, um den Gesetzen Respekt<br />
zu verschaffen <strong>und</strong> die Verbrecher<br />
zu bestrafen. In U t i l l a a b e r , wo d i e<br />
m e n s c h l i c h e A r b e i t n i c h t d a s G e -<br />
* Übersetzt aus unserem französischen Bruderblatt<br />
„Les Temps Nouveaux".
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Österreich.<br />
* Die Nummer 14 des „W. f. A." verfiel der<br />
regulären Konfiskation.<br />
* Wir ersuchen sämtliche unsere Abonnenten<br />
<strong>und</strong> Kolporteure, wenn ihnen das Blatt nicht regelmäßig<br />
zugeht, sofort bei der Post zu reklamieren,<br />
wie uns auch stets unverzüglich Mitteilung davon<br />
zu machen. Letzteres gilt vornehmlich für unsere<br />
kolportierenden Kameraden. Verschiedene Umstände<br />
veranlassen uns, auf die genaueste Ausführung<br />
dieses Ersuchens bei den Genossen zu dringen.<br />
* Am 20. Juli hatten wir, zum ersten Mal seit<br />
der Wiederentfaltung unserer hiesigen Propaganda,<br />
im XII. Bezirk eine große Versammlung. Der Saal<br />
war dicht besetzt <strong>und</strong> hatten sich auch die Würdenträger<br />
der Sozialdemokratie eingef<strong>und</strong>en. Besonders,<br />
wenn auch wenig rühmlich, wollte sich der sozialdemokratische<br />
Reichratsabgeordnete W u t s c h e i<br />
hervortun. Ehe dem Genossen Ramus das Wort zu<br />
seinem Vortrag über „Die Gewerkschaftsbewegung<br />
<strong>und</strong> der Anarchismus" erteilt werden konnte, meldete<br />
sich Herr Wutschel zu Worte <strong>und</strong> warf nun mit einem<br />
halben Dutzend gemeinen Verdächtigungen wider die<br />
Anarchisten nur so herum. Sie seien Polizeiwerkzeuge,<br />
Regierungssubjekte, dies wäre Peukert gewesen<br />
— mit derlei faustdicken Beleidigungen<br />
warf er um sich. Dabei konnte sich der behäbige<br />
Herr die Kleinlichkeit nicht verkneifen, die welterschütternde<br />
Neuigkeit zu offenbaren, daß der Gen.<br />
Ramus ja eigentlich R. Großmann heiße. Wie schrecklich,<br />
wie entsetzlich; wenn nur die Herren Springer<br />
nicht auch Renner, Habakuk eigentlich Kralik, Oblononski<br />
eigentlich St. Großmann hießen! Schließlich<br />
aber „zog" die Persönlichkeit des Herrn Wutschel<br />
nicht hinlänglich, <strong>und</strong> die Versammelten verlangten<br />
stürmisch, den Referenten zu hören. So mußte<br />
dem Gen. Ramus das Wort erteilt werden, der, vor<br />
dem eigentlichen Eingehen auf das Thema des<br />
Abends, vorerst die Behauptungen des Herrn Wutschel<br />
richtig stellte; besonders dadurch, daß er den<br />
Namen H. O b e r w i n d e r fallen ließ . . . Dies genügte<br />
<strong>und</strong> mit Ausnahme diverser Unflätigkeiten, die<br />
sich ein Bezirksleiter namens H u m m e l leistete,<br />
wofür er vom Referenten in durchaus gebührendem<br />
Ton gebrandmarkt wurde — der Gerichtsweg steht<br />
ihm ja nun offen! — ging die Versammlung ziemlich<br />
ruhig zu Ende, bis es zur Diskussion kam,<br />
Nachdem Herr Wutschel sich <strong>und</strong> seine Partei durch<br />
die ihm vorausgegangenen Diskussionsredner gehörig<br />
hatte blamieren lassen, meldete er sich als Sechster<br />
zu Worte. Und wir müssen es gestehen: die Lektion,<br />
die ihm der Gen. R. gleich anfangs erteilt,<br />
hatte W<strong>und</strong>er gewirkt, der Herr Wutschel sprach<br />
nun als anständiger Gegner <strong>und</strong> benahm sich<br />
schließlich auch als solcher. Doch lange kann die<br />
Katze das Mausen niemals lassen — <strong>und</strong> als sich<br />
der Gen. R. nun an die Widerlegung der W.'schen<br />
Ausführungen machte — was schon ziemlich schwer<br />
ging, da die Hummel <strong>und</strong> Konsorten fortwährend<br />
Radau provozierten — da verdroß ihn dies so<br />
sehr, daß der edle Freidenker, der neuerdings zubegeben<br />
hatte, daß die Politik ein schmutziges Geschäft<br />
sei, dazwischen rief: „Das sind jüdische Verdrehungen!"<br />
Geist der Väter der Adler, Renner,<br />
Bratin, Diamant usw. stehe uns bei! Dieser Geistesruf<br />
genügte jedoch als Signal für die würdigen Anhänger,<br />
sie stimmten das Lied „Die Arbeit hoch!"<br />
bravo, ihr wackeren Lohnsklaven! — an <strong>und</strong><br />
unter Radau schloß die Versammlung. — Als Facit<br />
derselben können wir den Ausspruch eines alten<br />
Sozialdemokraten bieten, der sagte: „Zwanzig Jahre<br />
war ich Sozialdemokrat, von heute an bin ich es<br />
nicht mehr, denn ich sehe, meine Partei kann die<br />
Anarchisten wohl niederjohlen, aber nicht widerlegen."<br />
* Merkwürdigerweise <strong>und</strong> wider alles Erwarten<br />
hatte die Polizei die von uns einberufene große<br />
Volksversammlung zum Andenken an Michael Bakunin<br />
n i c h t verboten. So war, trotz eines erzmiserablen<br />
H<strong>und</strong>ewetters, das draußen tobte, die<br />
Versammlung auch wider alle Erwartungen, außerordentlich<br />
gut besucht <strong>und</strong> konnte um punkt 8 Uhr<br />
15 Min. eröffnet werden, sobald der Regierungsvertreter<br />
eingetroffen war. Den Vorsitz führte Kamerad<br />
E. Haidt, der in kurzen Finleitungsworten die<br />
Bedeutung dieser Versammlung auseinandersetzte<br />
<strong>und</strong> hierauf dem Gen. P. R a m u s das Wort zu<br />
seinem Referat über „Bakunin als Denker <strong>und</strong><br />
Kämpfer" erteilte. Es war das erste Mal, daß man<br />
Bakunins in Österreich in öffentlicher Massenversammlung<br />
gedachte <strong>und</strong> aller der vielen Anwesenden<br />
hatte sich eine begeisterte Stimmung bemächtigt.<br />
Sie folgten deshalb auch mit musterhafter Ruhe<br />
den 1¾ St<strong>und</strong>e währenden Ausführungen des Redners,<br />
<strong>und</strong> am Schlüsse fand seine Rede begeisterte<br />
Zustimmung. Darnach gruppierte sich der Gesangverein<br />
„Morgenröte" <strong>und</strong> trug zwei der Gelegenheit<br />
angepaßte Gesänge vor, einer derselben war der<br />
begeisternde Sturniesgesang der „Internationale". Es<br />
hatten sich sehr viele Sozialdemokraten eingef<strong>und</strong>en,<br />
aber keine häßlichen Radauszenen störten den Gang<br />
der Feier. Gr<strong>und</strong>? Es war kein einziger „Führer"<br />
anwesend, der die gemeinen Instinkte in ihnen hätte<br />
aufpeitschen können. Eine größere Anzahl Zeitungen<br />
<strong>und</strong> Broschüren wurde abgesetzt <strong>und</strong> ergab eine<br />
freiwillige Kollektion ebenfalls eine unerwartet reichliche<br />
Summe für unseren Preßfond.<br />
<strong>Unser</strong>e erste Bakuninfeier wird all unseren<br />
Kampfesgefährten <strong>und</strong> jenen, die aus Neugierde gekommen<br />
waren, um zu hören, was die vielgeschmähten<br />
Anarchisten eigentlich zu sagen haben,<br />
in schönster <strong>und</strong> weihevollster Erinnerung bleiben,<br />
* Einer unser wackersten <strong>und</strong> unermüdlich<br />
tätigen Genossen, nämlich L. Ratz, ist von der löblichen<br />
Hermandad ausgewiesen worden. Er kolportierte<br />
eine konfisziert g e w e s e n e Nummer unseres<br />
Blattes <strong>und</strong> wurde von zwei Denunzianten — einer<br />
derselben ist Sozialdemokrat! — der Polizei angegeben.<br />
Ratz wurde zu 5 Tagen Gefängnis verurteilt,<br />
die er absaß; aber schon einen Tag nach<br />
seiner Freilassung wurde ihm die Ausweisung überreicht,<br />
denn laut dem österreichischen Wahnsinn<br />
leben wir wohl in einer österreichisch-ungarischen<br />
Monarchie — nichtsdestoweniger ist Ungarn ein<br />
Ausland . . . Die Föderation legte gegen diese Ausweisung<br />
Rekurs ein, doch leider bewahrheitete sich,<br />
was der Polizeibeamte unserem Genossen gleich<br />
anfangs gesagt hatte: „Glauben Sie vielleicht, daß<br />
dies Ihnen etwas nützen wird?" Es half in der Tat<br />
nichts, denn eine Krähe hackt der andern die Augen<br />
nicht aus. Wir sind dessen gewiß, daß die Worte<br />
des Genossen Haidt, die dieser in bezug auf Ratz<br />
in unserer Bakuninversammlung äußerte, als die Anwesenden<br />
in corpore von ihm Abschied nahmen,<br />
noch viele vortreffliche Beweise erhalten werden:<br />
Wo immer Ratz sich aufhalten wird, er wird stets<br />
ein Lichtträger der Lehre des Anarchismus sein!<br />
Genossen, ahmen wir ihm nach!<br />
* Im Inlande schämt sich die österreichische<br />
Sozialdemokratie, ihren wahren Geist zu offenbaren,<br />
sei's aus Scham vor älteren sozialistischen Traditionen,<br />
sei's aus Furcht vor dem ihrer Durchschauung<br />
<strong>und</strong> einer höheren Geistesauffassung entspringenden<br />
Anarchismus. Dafür aber geniert sie sich<br />
desto weniger im Auslande. So gesteht ein anonymer<br />
Wiener Berichterstatter im Berliner „Vorwärts"<br />
: „ . . . Es (das Haus des allgemeinen Wahlrechts)<br />
hat dem Hof eine Rekrutenvermehrung gebracht,<br />
auf dip er in dem angeblich so patriotischen<br />
Privllegienparlament n i e h ä t t e h o f f e n k ö n n e n . "<br />
Und da freut sich die kreuzbrave Seele über<br />
dieses ideale Parlament. Wenn wir Anarchisten behaupten,<br />
daß die ganze parlamentarische Institution<br />
nichts als ein Werkzeug des Staates für sich <strong>und</strong><br />
seine Zwecke, da leugnen es die guten Sozialdemokraten.<br />
Im Auslande sind sie „ehrlicher" <strong>und</strong> zeigen<br />
aufrichtig, wie sie eigentlich denken. Wir entnehmen<br />
derselben Berichterstattung:<br />
„In diesem ersten Jahr eines Parlaments, dessen<br />
Umgestaltung bis in die Tiefen hinabreicht, können<br />
verantwortliehe <strong>und</strong> gewissenhafte Leute d e n g e -<br />
w a l t i g e n W e r t d e r D e m o k r a t i e a u c h f ü r<br />
d e n S t a a t u n d s e i n e E r f o r d e r n i s s e e r -<br />
k e n n e n . " Was von einer Wahlreform erwartet<br />
werden kann, hat die des österreichischen Abgeordnetenhauses<br />
erfüllt."<br />
Gewiß also die Demokratie ist von Wert<br />
für die Staatsnotwendigkeiten. Ist es denn nicht<br />
schon deshalb notwendig, sich von dieser Demokratie<br />
abzukehren, um kein Staatslakai zu werden ?<br />
Da lobe ich mir den Konservativen, er vertritt w e -<br />
nigstens einen Standpunkt. Aber der Demokrat?<br />
Er ist da — siehe oben — für die Erfordernisse<br />
des m o n a r c h i s c h e n Staates. Ja nun, was tut<br />
man nicht alles für 20 Kronen pro T a g ; wird doch<br />
die physische Prostitution • obwohl aufreibender<br />
— weit schlechter bezahlt.<br />
* Die diversen Millerandisten der österreichischen<br />
Sozialdemokratie werden ihren Herzenswunsch<br />
bald erfüllt sehen. In der nächsten Session des Parlaments<br />
wird wohl ihr Wunsch in Erfüllung gehen<br />
<strong>und</strong> einer der ihrigen eine Vizepräsidentenstelle einsacken<br />
<strong>und</strong> mit all ihren für den Sozialismus so<br />
ungemein kompromittierenden Würden bekleiden.<br />
In Oesterreich ist man viel praktischer als in Deutschland.<br />
Dort zeterte der „radikale" Teil der Partei<br />
ganz gewaltig, als diese Frage vor fünf Jahren auf<br />
dem politischen Horizont der deutschen Partei auftauchte.<br />
Bei uns herrscht „Meeresstille", hier ist<br />
alles einig <strong>und</strong> einmütig — in der Schmach.<br />
Macht nichts, nur immer weiter auf diesem<br />
halsbrecherischen Pfade, desto rascher wird der<br />
Schrecken ein Ende nehmen!<br />
* Unlängst entrüstete sich die „Arbeiterzeitung"<br />
mit vollem Recht über die windigen Prinzipien des<br />
Christlichsozialen Lueger, der dem jüdischen Bankier<br />
v. Taussig um ein Anlehen von 150 Millionen<br />
Kronen anging, dasselbe auch erhielt.<br />
Ihre moralische Entrüstung <strong>und</strong> Ästhetik hinderte<br />
die „Arbeiterzeitung" aber keineswegs daran,<br />
von dem Konzern Lueger - Taussig ein großes<br />
Inserat aufzunehmen, in dem den Lesern die Bedingungen<br />
einer Subskription auseinandergesetzt<br />
wurden, die sie im redaktionellen' Teil des Blattes<br />
— <strong>und</strong> zwar mit vollem Recht — verhöhnt hatte.<br />
Freilich hat sie dafür, für diese Charakterfestigkeit,<br />
die Entschuldigung, daß sie, laut oft wiederholter<br />
Weisung, für den Inseratenteil des Blattes<br />
„keine Verantwortung" übernimmt. Die schönste<br />
Art, um sich aus unangenehmen Situationen zu<br />
ziehen; im übrigen haben wir noch von keinem<br />
Streik der Arbeiterzeitungsredaktion gegen die Geschäftsadministration<br />
gehört, denn die Praxis der<br />
letzteren trägt viel Geld ein.<br />
Tirol.<br />
B o z e n . <strong>Unser</strong> Genosse L. Saverschak, der<br />
sich hier wegen des letzten Streiks der Holzarbeiter<br />
in aufopferndster Weise exponierte, wurde schon<br />
mehrfach in Fabriken gemaßregelt. Es ist sehr bezeichnend,<br />
daß sich die Verbandsleitung seiner in<br />
keiner Weise annimmt. Im Gegenteil jammerte die<br />
sozialdemokratische „Volkszeitung" über seinen<br />
<strong>und</strong> einiger Kameraden mehr Mut <strong>und</strong> Ausdauer<br />
während des Kampfes; Eigenschaften, die gegen<br />
das Streikbrechergesindel an den Tag gelegt wurden.<br />
Schweiz.<br />
Bedecke dein Antlitz mit Schamröte - elende,<br />
feile Dirne eines Teil, die du nun schon zum wiederholten<br />
Male die Revolutionäre, die sich nach<br />
deinen Kantonen flüchteten, den Bestialitäten des<br />
russischen Blutzarismus überantwortet hast!<br />
Wieder ist eine solche Schandtat geschehen:<br />
W a s s i l i e f f , ein energischer Jüngling <strong>und</strong> Mitglied<br />
der sozialistisch-revolutionären Partei Rußlands,<br />
hatte den in seinem Blutdurste sich sadistisch gebärdenden<br />
Polizeimeister von Pensa hingerichtet.<br />
Er flüchtete nach dem „Asyl", in die „freie Schweiz",<br />
um dort einem Schicksale entgegen zu gehen, das<br />
ihm nur sehr wenige monarchische Regierungen<br />
Europas bereitet hätten. Das B<strong>und</strong>esgericht entschied<br />
nämlich durch eine Majorität von 6 gegen 5<br />
— ist dies nicht schon genügend, um den ganzen<br />
Wahnwitz einer demokratischen Herrschaft, die Tod<br />
oder Leben nach Zufallszahlen bemißt, endgiltig<br />
totzuschlagen? — daß Wassilieff als gemeiner(!)<br />
Mörder an Rußland ausgeliefert werde, was denn<br />
auch geschah.<br />
Ein weiteres Opfer ist somit der Bestie Zarismus<br />
übermittelt. Fluch den erbärmlichen Schergen,<br />
Ehre dem geopferten Vorkämpfer für ein freies<br />
Rußland!<br />
Bei dieser Gelegenheit können wir nicht umhin,<br />
einen direkt in die Augen springenden Punkt<br />
zu berühren. Was tat die in der Schweiz p o l i -<br />
t i s c h außerordentlich starke Sozialdemokratie für<br />
Wassilieff, i h r e n Parteigenossen? Nichts; eine<br />
Protestresolution wurde angenommen. Dabei ist<br />
die Schweizer Sozialdemokratie eine in den Kantonen<br />
Zürich, Basel <strong>und</strong> St. Gallen an der Regierung<br />
beteiligte Partei; ist in den Parlamenten von r<strong>und</strong><br />
20 Kantonen <strong>und</strong> von 15 Kommunen stark vertreten;<br />
hat einen eigenen Regierungspräsidenten.<br />
Und wenn es nur dieser allein wäre, er hätte W.<br />
schon dadurch retten können, daß er verfügen<br />
hätte können, daß sich keine Polizeiorgane zu den<br />
Schergendiensten für des Zaren Mordzwecke bereit<br />
finden sollten. Aber weder er noch die gesamte<br />
„politische Macht" tat das Geringste; so wie das<br />
B<strong>und</strong>esgericht entscheidet, so muß es eben sein . . .<br />
A u ß e r p a r l a m e n t a r i s c h zu kämpfen, durch<br />
einen großen Generalstreik, das hat nur das romanische<br />
Proletariat der Schweiz gelernt <strong>und</strong> dies<br />
noch nicht zur Genüge, wie vorliegender Fall beweist.<br />
Das deutschschweizerische Proletariat kann<br />
überhaupt nur Resolutionen fassen, Regierungspräsidenten<br />
erwählen <strong>und</strong> den alten politischen<br />
Gaukler Greulich hochleben lassen; diesem Umstand<br />
verdankt Wassilieff seinen Tod, die Machtlosigkeit<br />
der „politischen Macht" hat ihn getötet.<br />
Belgien.<br />
Während die reichsdeutsche Jugendbewegung<br />
in der sozialdemokratischen Partei- <strong>und</strong> Gewerkschaftsbewegung<br />
in ihrer Selbständigkeit nicht mehr<br />
anerkannt wird; während die österreichische Jugendbewegung<br />
in ihrer geistigen Qualität noch sehr hinter<br />
jener einherhinkt, <strong>und</strong> mau bei uns die Jugend anstatt<br />
zu energischen revolutionären Kämpfern, zu<br />
getreuen, wackeren, gesetzesk<strong>und</strong>igen <strong>und</strong> -fürchtenden<br />
Staatsbürgern erzieht, denen das Gift des Antimilitarismus<br />
ganz vorenthalten bleiben muß — hat<br />
die „Junge revolutionäre Garde" von B r ü s s e l sich<br />
aus den Fangen der Ämtestreber <strong>und</strong> politischen<br />
Beutejäger befreit <strong>und</strong> die nachfolgende Resolution<br />
angenommen:<br />
„Es ist hohe Zeit, dem betrügerischen Reformismus<br />
der Politiker aller Kategorien <strong>und</strong> der interessierten<br />
Parteiführer, den aufrichtigen revolutionären<br />
Geist derjenigen entgegenzusetzen, die einen selbständigen<br />
sozialistischen Willen haben.<br />
Wir erstreben die gänzliche Umwandlung der<br />
gegenwärtigen Gesellschaft:<br />
B e s e i t i g u n g d e s K a p i t a l i s m u s , der<br />
einigen wenigen auf Kosten aller das Eigentum <strong>und</strong><br />
die Nutznießung der Produktionsmittel zuspricht<br />
also — Beseitigung der Unternehmerklasse <strong>und</strong> des<br />
Lohnsystems, damit die Ausbeutung des Menschen<br />
durch den Menschen aufhöre.<br />
B e s e i t i g u n g d e s S t a a t e s u n d a l l e r<br />
s e i n e r I n s t i t u t i o n e n — der Bürokratie, des<br />
Klerus, der Armee <strong>und</strong> der Judikatur — die gegenwärtig<br />
nur dazu dienen, das Kapital zu schützen,<br />
<strong>und</strong> die in der Zukunftsgesellschaft keine Berechtigung<br />
haben.<br />
E r s e t z u n g d e r k a p i t a l i s t i s c h e n G e -<br />
s e l l s c h a f t d u r c h e i n e a u f i n d i v i d u e l l e<br />
F r e i h e i t u n d d e m g e m e i n s c h a f t l i c h e n<br />
B e s i t z d e r P r o d u k t i o n s m i t t e l g e g r ü n -<br />
d e t e , die allen Menschen die größte Freiheit <strong>und</strong><br />
den größten Wohlstand sichert <strong>und</strong> die Gleichberechtigung<br />
der Geschlechter proklamiert.
<strong>Unser</strong> Gr<strong>und</strong>satz ist: Alle Welt hat ein Anrecht<br />
auf den Wohlstand; jedermann arbeite nach<br />
seinen Kräften <strong>und</strong> genieße nach seinen Anforderungen.<br />
Um nun das kapitalistische Gebäude durch<br />
ein Reich der Gerechtigkeit <strong>und</strong> des Menschenglückes<br />
zu ersetzen, ist die Expropriation notwendig,<br />
wie der Sozialismus sie lehrt. Die besitzenden<br />
Klassen müssen ihrer Monopolrechte enthoben <strong>und</strong><br />
expropriiert werden, damit alle Welt den Nießbrauch<br />
der Produktionsmittel h a b e ; es müssen die Kasten<br />
<strong>und</strong> die Vorrechte beseitigt, es muß der Einzelbesitz<br />
in gemeinschaftlichen verwandelt werden.<br />
„Arbeiter, nimm die Maschine, nimm dir die<br />
Erde, Landmann!" Der Refrain dieses bekannten<br />
Liedes ist unser Motto.<br />
Angesichts der kommenden Revolution, die<br />
zur Expropriation der leitenden Klassen durch G e -<br />
neralstreik <strong>und</strong> direkte Aktion führen wird, müssen<br />
sich die Arbeiter organisieren:<br />
1. Um dem Unternehmertum die revolutionäre<br />
Gewerkschaft entgegenzusetzen;<br />
2. um die internationale Solidarität zu proklamieren,<br />
die kein Vaterland kennt;<br />
3. um durch eine aktive Propaganda die antimilitaristische<br />
Idee in alle Herzen einzupflanzen;<br />
4. um sich im Kampfe des Alltages die Hand<br />
zu reichen <strong>und</strong> den Kampf für den neuen Morgen<br />
der Freiheit vorzubereiten.<br />
D a s i s t u n s e r Z i e l .<br />
Komme also zu uns, wer die Irrgänge der<br />
Politikanten durchschaut, wer die Streitereien der<br />
Sekten als irreführend erkannt hat. Kamerad <strong>und</strong><br />
Bruder, komm z u uns. W i r b r a u c h e n B a u -<br />
s t e i n e z u r E r r i c h t u n g d e r G e s e l l s c h a f t<br />
d e r Z u k u n f t ! "<br />
Die „Internationale Jugendorganisation", mit<br />
den Herren Danneberg, Winarsky, usw., an der<br />
Spitze, scheint immer mehr zusammenschrumpfen<br />
zu wollen. Bald werden diesen sozialdemokratischen<br />
Politikern nur noch diejenigen Jugendorganisationen<br />
verbleiben, die den katholischen Lehrlingsvereinen<br />
stark ähneln, somit k e i n e Jugendorganisationen von<br />
unserem Standpunkt aus sind.<br />
Italien.<br />
Wir haben bereits früher über den großartigen<br />
Kampf berichtet, den die Landarbeiter von P a r m a<br />
seit drei Monaten gegen ihre Ausbeuterführen, <strong>und</strong><br />
die Hoffnung ausgesprochen, daß nach den letzten<br />
blutigen Ereignissen, wo die Soldaten der Regierung<br />
die Arbeiterkammer mit Sturm nahmen <strong>und</strong> 72 der<br />
Vorkämpfer dieser Bewegung verhafteten, das Proletariat<br />
der norditalienischen Städte zur Unterstützung<br />
unserer kämpfenden Genossen in den<br />
Generalstreik treten werde.<br />
Diese Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt.<br />
Die Laudarbeiter der Provinz Parma führen zwar<br />
— trotz der lügnerischen Berichte der bürgerlichen<br />
<strong>und</strong> sozialdemokratischen Presse — mit ungeschwächtem<br />
Mut <strong>und</strong> Ausdauer ihren Heldenkampf<br />
fort. „Wir ergeben uns nie!" ist ihre Losung, <strong>und</strong><br />
da, trotz Maschinen <strong>und</strong> Streikbrechern die Gutsbesitzer<br />
außer Stande sind, ihre Ernte einzubringen,<br />
<strong>und</strong> das Korn auf den Feldern zu verfaulen beginnt,<br />
werden sie ihn auch sicher zum Siege führen.<br />
Auch ist es einem dreitägigen allgemeinen Streik<br />
in Parma selbst gelungen, die Regierung zur Rückgabe<br />
der Arbeitskammer <strong>und</strong> des geraubten Streikfonds<br />
zu zwingen; aber in den übrigen Städten,<br />
wo die Arbeiter selbst, aus eigenem Antrieb, fest<br />
entschlossen waren, in den Solidaritätsstreik zu<br />
treten, ist derselbe im letzten Moment unterblieben;<br />
d i e R e g i e r u n g u n d d i e K a p i t a l i s t e n k ö n n e n<br />
d a f ü r d e r s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n P a r t e i u n d<br />
d e n F ü h r e r n d e r z e n t r a l e n r e f o r m i s t i s c h e n<br />
G e w e r k s c h a f t e n d a n k b a r s e i n !<br />
Die Ereignisse Verliefen folgendermaßen:<br />
Nachdem es unserem Genossen De A m b r i s<br />
- die Seele der Bewegung -- auf den ausdrücklichen<br />
Wunsch der Streikenden hin, <strong>und</strong> nachdem<br />
er bis zum letzten Augenblick von den Dächern<br />
gegen das Militär gekämpft hatte — gelungen war,<br />
sich in Sicherheit zu bringen, eilte ein ganzes<br />
Rudel von sozialdemokratischen Abgeordneten <strong>und</strong><br />
Delegierten der „Konfederazioni del Lavoro", der<br />
Zentralleitung der reformistischen Gewerkschaften,<br />
nach Parma, um die Führung des Streikes an sich<br />
zu reißen. Sie verkündeten — während des<br />
Kampfes! — das Scheitern der revolutionären Taktik<br />
<strong>und</strong> wollten die Streikenden dazu bewegen, die<br />
Arbeit — nach HOtägigem Kampf! — zu den alten<br />
Bedingungen wieder aufzunehmen, nur um die<br />
O r d n u n g wieder herzustellen! Die Streikenden<br />
ließen sich aber nicht zu Narren machen, <strong>und</strong><br />
wählten auf den Rat von De Ambris, ein neues<br />
Streikkomitee aus erprobten revolutionären Genossen.<br />
Trotzdem streuten die Reformisten überall<br />
die Lüge aus, daß die Landarbeiter die Leitung<br />
des Streikes ihnen übertragen, <strong>und</strong> das sozialdemokratische<br />
Blatt „II T e m p o " schrieb sogar, daß<br />
dies auf den Rat von De Ambris geschehen sei.<br />
Nur eine energische Erklärung des letzteren <strong>und</strong><br />
ein Beschluß der Streikenden zu Gunsten der direkten<br />
Aktion <strong>und</strong> der revolutionär-syndikalistischen<br />
Taktik konnte der Verbreitung dieser Verleumdung<br />
ein Ende machen.<br />
Zu gleicher Zeit beging die Konföderation<br />
einen anderen schmählichen Verrat.<br />
Beim ersten Zusammenstoß mit dem Militär<br />
richteten die Streikenden in Parma einen Aufruf an<br />
das italienische Proletariat mit der Bitte, seine<br />
Solidarität dadurch zu beweisen, daß es mit dem<br />
allgemeinen Generalstreik gegen die Schandtaten<br />
der Regierung protestiere. Als die Konfederazione<br />
von diesem Manifest Kenntnis erhielt, sandte sie<br />
ein Telegramm an sämtliche Arbeitskammern, in<br />
welchem sie ihnen v e r b i e t e t , den Generalstreik<br />
auszusprechen, so lange sie von der Z e n t r a l -<br />
l e i t u n g nicht den B e f e h l d a z u erhalten!<br />
Die Arbeiterschaften von Bologna, Spezia, Livorno,<br />
Ancona empörten sich gegen diese Tyrannei <strong>und</strong><br />
traten in den Streik; Piacenza, Ferrara <strong>und</strong> andere<br />
Städte waren auf dem Punkt sich ihnen anzuschließen,<br />
die Regierung war nahe daran, klein beizugeben<br />
— aber in Rom, Milano, Genua triumphierten<br />
die reformistischen V e r r ä t e r u n d<br />
S t r e i k b r e c h e r — <strong>und</strong> der Generalstreik, aus<br />
dem vielleicht eine revolutionäre Erhebung der italienischen<br />
Arbeiterschaft hätte werden können,<br />
wurde vereitelt. Wieder ein neuer Beweis, daß diejenigen,<br />
die den Arbeitern fortwährend Disziplin<br />
<strong>und</strong> Gesetzlichkeit vorpredigen, die besten Stützen<br />
der Herrschenden <strong>und</strong> die ärgsten Feinde des<br />
Volkes sind.<br />
Mit welchen Mitteln diese Leute kämpfen, das<br />
hat sich am besten in G e n u a gezeigt. Die revolutionären<br />
Gewerkschaften dieser Stadt hatten den<br />
Generalstreik beschlossen. Die reformistischen<br />
Leiter der Arbeitskammer verweigerten ihnen den<br />
Eintritt in dieselbe; diese Reformisten wollten ihnen<br />
weder die letzten Nachrichten von Parma mitteilen<br />
noch gestatten, daß der Beschluß zu Gunsten des<br />
Generalstreiks in dem sozialdemokratischen Blatt<br />
„Lavoro" veröffentlicht werde. Es entstand ein<br />
leichter Zusammenstoß, wobei von unbekannter<br />
Hand ein Revolverschuß abgefeuert wurde, welcher<br />
unglücklicherweise einen Zuschauer tötete. Keiner<br />
der Syndikalisten hatte einen Revolver, <strong>und</strong> übrigens<br />
waren sie in der Mehrzahl <strong>und</strong> hatten es nicht<br />
nötig, sich zu verteidigen; der Schuß kann also nur<br />
von der Seite der Reformisten abgefeuert worden<br />
sein. T r o t z d e m d e n u n z i e r t e n d i e l e t z t e r e n<br />
s ä m t l i c h e S y n d i k a l i s t e n , d i e s i e e r -<br />
k e n n e n k o n n t e n , d e r P o l i z e i a l s A n -<br />
g r e i f e r . 18 wurden verhaftet, <strong>und</strong> nächsten Tag<br />
brachte das „Lavoro" einen Schandartikel, in<br />
welchem es hieß, daß die Syndikalisten die Revolte<br />
entfesseln wollen, um in der Verwirrung ihre perversen<br />
Leidenschaften zu befriedigen — <strong>und</strong> derlei<br />
Sachen mehr!<br />
Auf die Denunziation dieser sozialdemokratischen<br />
„Arbeiterführer" hin, wurde auch unser<br />
Genosse U g o N a n n i, der Begründer unseres italienischen<br />
Bruderblattes „Der soziale Kampf", verhaftet,<br />
obgleich sowohl die Redaktion des „Lavoro",<br />
wie die Polizei, wußten, daß er nicht am Orte des<br />
Zusammenstoßes zugegen war, da er seit ein paar<br />
Tagen infolge polizeilicher Mißhandlungen zu Bette<br />
lag <strong>und</strong> überdies unter fortwährender polizeilicher<br />
Aufsicht stand.<br />
Mit Lüge, Verrat, Streikbruch, Denunziation<br />
versucht eine neue herrschsüchtige Politikantenklasse,<br />
unter dem Deckmantel des „Sozialismus"<br />
<strong>und</strong> der zentralistischen Gewerkschaftsbewegung,<br />
das Proletariat unter ihr Joch zu bringen. Glücklicherweise<br />
sind dies ihre einzigen Waffen, <strong>und</strong> s o -<br />
bald die Arbeiter sich zu selbständigem Denken<br />
<strong>und</strong> Handeln aufraffen, werden sie mit dieser<br />
Herrschaft ebenso aufräumen, wie mit jeder anderen,<br />
Luigi Berta.<br />
Deutschland.<br />
Hamburg. Wieder hat die internationale Solidarität<br />
der anarchistischen Antimilitaristen ihr Opfer<br />
gefordert.<br />
„Anarchistische Attentate" werden von Jahr<br />
zu Jahr mehr diejenigen g e g e n Anarchisten, als<br />
solche, die von ihnen ausgehen. Die internationale<br />
Polizei ist scharf hinter uns her <strong>und</strong> leistet in Verfolgungen<br />
ihr Bestmöglichstes. Vor allen Dingen<br />
paßt sie aber scharf auf d i e a u s d e m A u s l a n d e<br />
kommende Literatur. Die Genossen, die fern vom<br />
Verbreitungsorte ihrer Produkte leben, bringen die<br />
Genossen „Verbreiter" in eine sehr schiefe Situation.<br />
Es scheint fast so, als ob die diversen Staatsretter<br />
meinten, wenn die Schreiber der Broschüren<br />
im Auslande leben, müßte ihre Gefährlichkeit eine<br />
doppelte sein, <strong>und</strong> die Kolporteure werden dementsprechend<br />
doppelt hart bestraft. Schön ist es ja<br />
auch nicht, die Verantwortlichkeit für seine Taten<br />
n u r auf andere Schultern abzuladen. Die Verbreiter<br />
müssen sich der drohenden Strafe immer bewußt<br />
sein <strong>und</strong> dürfen eine gewisse Vorsicht nicht außer<br />
Acht lassen. Die Solidarität unserer Anschauungen<br />
wird es natürlich trotz alledem nie vermeiden lassen,<br />
daß im Auslande geschriebene <strong>und</strong> gedruckte Broschüren<br />
ihren <strong>Weg</strong> in die Hände der Leser finden,<br />
aber sie sollten auch stets mit bewußtem Verantwortlichkeitsgefühl<br />
geschrieben sein. Ich wünsche<br />
ihnen die Kolportage immer da, wo eine gleichwertige<br />
einheimische nicht vorhanden. — — -<br />
Diesmal aber handelte es sich hauptsächlich<br />
um die Verbreitung des „Soldatenbreviers", dann<br />
aber waren die Angeklagten auch beschuldigt „Die<br />
direkte Aktion", die „Resolutionen des Amsterdamer<br />
Kongresses", „An die jungen Leute" <strong>und</strong> „Antimilitarismus<br />
<strong>und</strong> Generalstreik" verbreitet zu haben.<br />
Vorgeschichte <strong>und</strong> Tatbestand sei kurz rekapituliert:<br />
Im Februar dieses Jahres wurde bei 30<br />
Hamburger Genossen Hausdurchsuchung gehalten,<br />
deren Resultat der gesetzlich konzessionierte Diebstahl<br />
einer großen Menge von Zeitungen, Büchern<br />
<strong>und</strong> Broschüren war. 5 Genossen wurden in Haft<br />
genommen, von denen 2 — Böger <strong>und</strong> Krüger —<br />
nach 8 Wochen entlassen wurden, während gegen<br />
die anderen Genossen, Drews, Schreyer <strong>und</strong> Schuster<br />
nunmehr — unter dem schon selbstverständlichen<br />
Ausschluß der Öffentlichkeit — verhandelt wurde.<br />
Vor Gericht bekannten sich die Angeklagten<br />
als kommunistische Anarchisten. Schreyer <strong>und</strong><br />
Schuster bestritten aber die Verbreitung der Broschüren,<br />
während der Genosse Drews zugeben<br />
mußte, das „Soldatenbrevier" dem Zeugen Maschinistenmaat<br />
R e h b e i n vom Kreuzer „Scharnhorst"<br />
zugestellt zu haben. Dieser, der seine proletarische<br />
Abstammung ganz vergessen zu haben scheint,<br />
schien sich in der Rolle des Denunzianten sauwohl<br />
zu fühlen. Weil er sich durch die Gabe der Broschüre<br />
„ b e l e i d i g t fühlte", so führte er hoheitsvoll<br />
aus, „ h a b e e r d e m G e n o s s e n d i e F a l l e<br />
g e s t e l l t ! " Der Herr Maat hatte Drews nach einem<br />
Lokale bestellt, wohin er weitere Broschüren bringen<br />
sollte <strong>und</strong> hierbei standen 12 geheime Posten,<br />
die den Nichtsahnenden dann festnahmen.<br />
Die Angeklagten hielten sich brav <strong>und</strong> verteidigten<br />
sich tapfer. Das Urteil lautete schließlich<br />
gegen Drews wegen Verbreitung des „Soldatenbreviers"<br />
auf 15 Monate Gefängnis, bei Anrechnung<br />
von 3 Monaten auf die Untersuchungshaft; Schuster<br />
<strong>und</strong> Schreyer wurden freigesprochen.<br />
Ich wünsche den Genossen, daß sie mit ungebrochenem<br />
Kampfesmut aus der langen Untersuchungshaft<br />
zurückgekehrt sind. An uns allen wird<br />
es sein, tapfer für unsere Ideen weiter zu arbeiten,<br />
damit, wenn übers Jahr Genosse Drews wieder in<br />
die „Deutsche Freiheit" zurückkehrt, er die Fortschritte<br />
merkt, die wir im Kampfe für seine <strong>und</strong><br />
unsere Ideale gemacht haben. Es geht vorwärts —<br />
trotz Ihrer, Herr Staatsanwalt! Leo Lerche.<br />
Vereine <strong>und</strong> Versammlungen.<br />
Allgemeine Gewerkschafts-Föderation. V.,<br />
Einsiedlergasse 60. Jeden Montag 8 Uhr abends.<br />
Föderation der Bauarbeiter. X., Eugengasse<br />
9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />
jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />
U n a b h ä n g i g e Schuhmacher-Gewerkschaft.<br />
XIV.,Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />
M ä n n e r g e s a n g v e r e i n „Morgenröte". XIV.,<br />
Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />
jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />
Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „Pokrok". XIV.,<br />
Hütteldorferstraße 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />
F r e i e Einkaufsgenossenschaft. Jeden Donnerstag<br />
abends bei Schlor.<br />
Allgem. Gewerkschafts-Föderation, Ortsgruppe<br />
XIV. Vereinsversammlung mit Vortrag<br />
jeden Dienstag 8 Uhr abends.'<br />
Allgem. Gewerkschafts-Föderation, Ortsgruppe<br />
II, Achtung! Öffentliche Vereinsverversammlung<br />
am Sonntag den 2. August, um<br />
9 Uhr vormittags, in Müllers Gasthaus, II.,<br />
Taborstraße 36. Die Genossen sind ersucht,<br />
zahlreich zu erscheinen.<br />
Briefkasten.<br />
Alois Scheffel, Bruch. Die gewünschten<br />
Adressen unbekannt. — Kopenhagen. Unbesorgt,<br />
der „W. f. A." ist persönlichen Streitigkeiten nicht<br />
geöffnet. Wir sind nicht in der Lage, den Fall zu<br />
untersuchen, können deshalb das Blatt weder der<br />
einen noch der anderen Seite zur Verfügung stellen,<br />
da dies zu tun, für uns gleichbedeutend wäre mit<br />
einer bestimmten Stellungnahme, die uns in diesem<br />
Fall absolut unmöglich. Bourey. Dank für Sendung<br />
<strong>und</strong> Gruli. — Jul. Eh., Wien. Dank für<br />
Fre<strong>und</strong>schaftsbeweis durch Sendung der 15 Expl.<br />
des Sch<strong>und</strong>es jener Druckschrift an mich; wanderten<br />
insgesamt in den Papierkorb. Brudergruß.<br />
— Triest, C. Auch die kleinste Summe, gegeben<br />
von brüderlicher Solidarität, ist uns lieb; senden<br />
<strong>und</strong> Herzensdank! — Voit, Australien. Die besten<br />
Solidaritätsgrüße an Dich <strong>und</strong> den übrigen Fre<strong>und</strong>en<br />
von uns Allen! Geld wurde wie gewünscht verteilt.<br />
Ein Brief folgt auf den Deinen. Brüderlicher Handdruck.<br />
— lg. Pauer. Die Genossen Sindelar <strong>und</strong><br />
Eichinger sind nach wie vor wacker im Vordertreffen;<br />
manch junger „Krüppel" könnte sich ein Muster<br />
nehmen an diesen beiden von der alten „Zukunfts"garde.<br />
Geld wird sehnsüchtig erwartet. Gruß! —<br />
Nierens. Den Sch<strong>und</strong> des bekannten Bruder Straubinger,<br />
wegen dessen schönen Seelenergüssen erst<br />
jüngst wieder Genosse D. 15 Monate Gefängnis<br />
erhielt, haben wir nicht mehr. Grußl — J. R.<br />
Sollen wir uns über die Lügen <strong>und</strong> Verleumdungsschurkereien<br />
eines christlichsozialen „Deutschen<br />
Volksblattes" arg aufregen? Da lacht man, spuckt<br />
aus <strong>und</strong> geht seiner <strong>Weg</strong>e. — Ruhsam. Recht so;<br />
Paragraph 2-Zusammenkunft ist das Zweckmäßigste.<br />
Brudergruß.<br />
Achtung! Einer unserer rührigsten Genossen<br />
ist durch die im Baugewerbe<br />
wütende Krise schon monatelang arbeitslos.<br />
Er ersucht unsere Kameraden, auf diesem <strong>Weg</strong>e<br />
es entgegenzunehmen, daß er willens ist, als<br />
Wohnungsrenovierer, einfacher Wandmaler <strong>und</strong><br />
Ausbesserer von Öfen sich überall nützlich zu<br />
machen, wo er gebraucht werden kann; <strong>und</strong> dies<br />
gegen geringe Entschädigung. Zwecks Adresse<br />
wende man sich an unsere Redaktion.
— 41 —<br />
erschien zu behaupten, daß in der Welt des Menschen<br />
a l l e s durch die Handlungen der einzelnen Menschen<br />
vollbracht <strong>und</strong> geordnet wird. Und doch ist dies eine<br />
so einfache Wahrheit, daß der ges<strong>und</strong>e Menschenverstand<br />
sie sofort einsieht, sobald er sich die wahre<br />
Bedeutung der Worte klar macht. Das, was wirklich<br />
existiert, ist d e r e i n z e l n e M e n s c h ; die Oesellschaft<br />
oder Gemeinschaft, der Staat oder die Regierung,<br />
welche vorgibt, denselben vertreten zu können, sind, wenn<br />
nicht bloße Begriffe, nur eine Vereinigung einzelner<br />
<strong>und</strong> mehrerer Menschen. Und es ist im Innern eines<br />
jeden einzelnen Menschen, daß notwendigerweise alle<br />
menschlichen Gedanken <strong>und</strong> Handlungen entstehen,<br />
welche zu gesellschaftlichen Bestrebungen <strong>und</strong> Handlungen<br />
werden, wenn viele Menschen zur selben Zeit<br />
dasselbe denken, wollen oder tun. Die gesellschaftlichen<br />
Handlungen sind also nicht das Gegenteil <strong>und</strong><br />
auch nicht die Ergänzung der persönlichen Handlungen,<br />
sondern sie sind das Ergebnis der Bestrebungen,<br />
der Gedanken <strong>und</strong> der Handlungen aller<br />
e i n z e l n e n Menschen, aus denen die Gesellschaft<br />
besteht; <strong>und</strong> dieses Ergebnis ist, wenn sich die anderen<br />
Umstände gleich bleiben, größer oder geringer,<br />
je nachdem alle Kräfte einem <strong>Ziel</strong>e zustreben oder<br />
auseinandergehen oder miteinander im Gegensatz<br />
sind. Wenn man hingegen, mit den Autoritäten unter<br />
gesellschaftlichen Handlungen die Handlungen der<br />
Regierung versteht, so sind dieselben ebenfalls das<br />
Ergebnis der persönlichen Kräfte; aber in diesem<br />
Falle nur der Kräfte derjenigen Personen, welche die<br />
Regierung bilden, oder die durch ihre Stellung die<br />
« A N A R C H I E » von Enriko Malatesta. 6
— 42 --<br />
Handlungen der Regierung beeinflussen können.<br />
Deshalb handelt es sich im Jahrh<strong>und</strong>erte langen<br />
Kampf zwischen Freiheit <strong>und</strong> Autorität, oder anders<br />
gesagt, zwischen dem sozialer Gleichheit <strong>und</strong> Klassenscheidung,<br />
in Wahrheit nicht darum, die persönliche<br />
Unabhängigkeit auf Kosten des gesellschaftlichen Zusammenwirkens<br />
oder dieses auf Kosten von jenem<br />
zu erreichen. Sondern, es handelt sich darum, zu verhüten,<br />
daß e i n i g e Menschen die a n d e r e n unterdrücken<br />
können; es handelt sich darum, allen Menschen<br />
dieselben Rechte <strong>und</strong> dieselbe Möglichkeit zum<br />
Handeln zu geben, <strong>und</strong> die vereinten Bestrebungen<br />
aller, welche natürlicherweise zum Wohle aller führen<br />
müssen, an Stelle der besonderen Bestrebungen Einzelner<br />
zu setzen, welche ebenso unvermeidlich zur<br />
Unterdrückung aller anderen führen. Kurzum: es<br />
handelt sich immer darum, die Herrschaft <strong>und</strong> die<br />
Ausbeutung zu zerstören, so daß alle Menschen ein<br />
Interesse am allgemeinen Wohle haben, <strong>und</strong> die persönlichen<br />
Kräfte eines jeden, anstatt unterdrückt zu<br />
werden oder sich gegenseitig zu bekämpfen <strong>und</strong> zu<br />
zerstören, die Möglichkeit finden, sich vollständig zu<br />
entwickeln <strong>und</strong> sich miteinander zum größten Wohle<br />
aller zu vereinigen.<br />
Aus all dem folgt, daß das Bestreben einer Regierung<br />
— selbst wenn dieselbe die von den autoritären<br />
Sozialisten angenommene »ideale Regierung«<br />
wäre — die schaffenden, ordnenden <strong>und</strong> schützenden<br />
Kräfte der Gesellschaft nicht im geringsten vermehren<br />
würde; sondern gerade im Gegenteil: sie würde<br />
dieselben ungeheuer schwächen, indem sie die Mög-
- 43 —<br />
lichkeit, etwas zu tun, auf einige beschränkte <strong>und</strong><br />
jenen so das Recht gäbe, alles zu tun, was sie wollen,<br />
ohne ihnen die Fähigkeit geben zu können, alles, was<br />
dazu nötig wäre, zu wissen.<br />
Wahrhaftig, wenn man von der Gesetzgebung<br />
<strong>und</strong> allen anderen Werken der Regierungen all das<br />
wegnimmt, was zur Verteidigung einer privilegierten<br />
Klasse dient <strong>und</strong> nur den Willen dieser Privilegierten<br />
ausdrückt — was bleibt dann- übrig außer dem, was<br />
das Ergebnis der Tätigkeit aller ist?<br />
»Der Staat — sagt Sismondi — ist immer eine<br />
konservative Macht, welche die Erfolge des Fortschrittes<br />
legalisiert, regelt, organisiert <strong>und</strong>, wie wir es<br />
in der Geschichte sehen, dieselben immer zum Nutzen<br />
der privilegierten Klassen ausnützt, die aber nie den<br />
Anstoß zu irgend einem Fortschritt gibt. Der Fortschritt<br />
entspringt immer von unten. Er wird im Gr<strong>und</strong>e<br />
der Gesellschaft, in den Gedanken der einzelnen<br />
Menschen, geboren, welche sich dann verbreiten, zur<br />
allgemeinen Meinung, zur Majorität werden, aber auf<br />
ihrer Bahn immer die Überlieferungen, Gewohnheiten,<br />
Vorrechte <strong>und</strong> Irrtümer, welche von den bestehenden<br />
Mächten vertreten werden, bei Seite schieben <strong>und</strong><br />
bekämpfen müssen.«<br />
Um übrigens zu verstehen, wie eine Gesellschaft<br />
ohne Regierung leben kann, genügt es, die jetzige<br />
Gesellschaft ein bischen gründlich zu beobachten;<br />
<strong>und</strong> man wird sehen, daß in Wirklichkeit der größte,<br />
der wichtigste Teil des gesellschaftlichen Lebens<br />
sogar schon heute o h n e Mitwirkung der Regierung<br />
vor sich geht, <strong>und</strong> wie die Regierung nur in dasselbe<br />
6*
- 44 —<br />
eingreift, um die Massen auszubeuten, die Privilegierten<br />
zu schützen; <strong>und</strong> endlich um, sehr unnötigerweise,<br />
alles, was ohne sie <strong>und</strong> oft gegen ihren Willen geschehen<br />
ist, zu sanktionieren. Die Menschen arbeiten,<br />
tauschen ihre Arbeitsprodukte aus, studieren, reisen,<br />
befolgen die Regeln der Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> der Sitte,<br />
zum größten Teil, wie sie es wollen, machen sich die<br />
Fortschritte der Kunst <strong>und</strong> Wissenschaft nutzbar,<br />
haben unzählige Beziehungen zu einander, ohne daß<br />
Bedürfnis nach jemand zu empfinden, der ihnen vorschreibt,<br />
wie sie leben sollen. Und gerade jene Sachen,<br />
in welche sich die Regierung nicht hineinmischt, gehen<br />
am besten, diese verursachen am wenigsten Streitigkeiten<br />
<strong>und</strong> passen sich am besten an den Willen<br />
aller an, so daß dabei jedermann seinen Nutzen <strong>und</strong><br />
seine Freude findet.<br />
Ebensowenig ist die Regierung notwendig für<br />
die großen Unternehmungen, für jene öffentlichen<br />
Dienste, welche das geregelte Zusammenwirken von<br />
vielen Menschen, von verschiedenen Ländern <strong>und</strong><br />
Verhältnissen erfordern. Tausende solcher Unternehmungen<br />
sind sogar schon heute das Werk privater<br />
Vereinigungen, welche durch freie Vereinbarung geschaffen<br />
sind; <strong>und</strong> man ist sich allgemein darüber<br />
einig, daß diese es sind, die am besten gelingen. Wir<br />
sprechen nicht von den Vereinigungen der Kapitalisten,<br />
die zum Zwecke der Ausbeutung organisiert sind, obgleich<br />
auch diese beweisen, daß die freie Vereinigung<br />
möglich <strong>und</strong> ein mächtiges Werkzeug ist, <strong>und</strong> daß<br />
die Leute aller Länder <strong>und</strong> mit den weitverzweigtesten<br />
<strong>und</strong> verschiedensten Interessen umfassen kann.
— 45 —<br />
Sprechen wir lieber von jenen Vereinigungen,<br />
deren Triebfeder die Zuneigung <strong>und</strong> Hilfbereitschaft<br />
der Menschen zu einander, oder der Liebe zur Wissenschaft,<br />
oder auch nur einfach das Verlangen, sich zu<br />
zerstreuen oder sich bew<strong>und</strong>ern zu lassen ist. Diese<br />
geben ein besseres Bild von jenen Gruppen, welche<br />
in einer Gesellschaft entstehen werden, wo das<br />
P r i v a t e i g e n t u m u n d d e r Kampf u n t e r den<br />
M e n s c h e n a b g e s c h a f f t w o r d e n sind, <strong>und</strong> wo<br />
infolgedessen jeder sein Interesse <strong>und</strong> seine größte<br />
Befriedigung darin finden wird, das Interesse aller zu<br />
fördern <strong>und</strong> den anderen Gutes <strong>und</strong> Angenehmes zu tun.<br />
Die wissenschaftlichen Gesellschaften <strong>und</strong> Kongresse,<br />
die Internationale Gesellschaft zur Rettung<br />
Schiffbrüchiger, der Verein des Roten Kreuzes, die<br />
Geographischen Gesellschaften, die Arbeitervereinigungen,<br />
die Gruppen von Freiwilligen, die bei jedem<br />
großen Unglück zur Hilfe herbeieilen, sind einige von<br />
den tausend Beispielen davon, wie mächtig der Geist<br />
der Vereinigung ist, welcher sich immer geltend<br />
macht, wenn es sich um ein wahres Bedürfnis oder<br />
einen wirklich gefühlten gesellschaftlichen Wunsch<br />
handelt; <strong>und</strong> wenn dies der Fall ist, so finden sich<br />
bald die Mittel <strong>und</strong> <strong>Weg</strong>e zu seiner Befriedigung.<br />
Wenn die freiwilligen Vereinigungen nicht die ganze<br />
Erde überziehen, nicht alle Zweige der materiellen<br />
<strong>und</strong> geistigen Tätigkeit umfassen, so ist das nur,<br />
weil die Herrschenden ihr überall Hindernisse in den<br />
<strong>Weg</strong> legen, weil das Privateigentum einen Gegensatz<br />
zwischen den Interessen der Menschen schafft, weil<br />
durch die Anhäufung des Reichtums in den Händen
— 46 —<br />
weniger die große Mehrzahl der Menschen unfähig<br />
gemacht <strong>und</strong> verdorben worden ist. Die Regierung<br />
übernimmt z. B. den Postdienst, den Eisenbahnverkehr<br />
usw. Aber in was besteht in Wirklichkeit ihre<br />
Hilfe bei diesen Unternehmungen? Wenn das Volk<br />
in die Lage kommt, von diesen Diensten Nutzen zu<br />
machen, <strong>und</strong> das Bedürfnis nach denselben fühlt,<br />
wird es daran denken, sie zu organisieren; <strong>und</strong> die<br />
Techniker werden auch keinen Erlaubnisschein von<br />
der Regierung nötig haben, um sich an die Arbeit<br />
zu machen. Je allgemeiner <strong>und</strong> dringender das Bedürfnis<br />
ist, desto mehr Freiwillige werden sich finden,<br />
um dasselbe zu befriedigen. Wenn das Volk die Fähigkeit<br />
hätte, an die Produktion <strong>und</strong> die Versorgung zu<br />
denken, brauchten wir uns nicht zu fürchten, daß es<br />
sich selbst verhungern ließe, bis nicht die Regierung<br />
diese Sache durch Gesetze geregelt hat. Wenn sich<br />
die Regierung neu bilden würde, wäre sie auch gezwungen,<br />
darauf zu warten, daß das Volk alles organisiert,<br />
um dann mit ihren Gesetzen das zu sanktionieren,<br />
was schon geschehen ist. Es ist bewiesen,<br />
daß das Privatinteresse die stärkste Triebfeder alles<br />
Handelns ist. Wohlan! Wenn das Interesse aller das<br />
Interesse eines jeden sein wird — <strong>und</strong> dies wäre unvermeidlich<br />
der Fall, wenn es kein Privateigentum<br />
gäbe — so w e r d e n alle h a n d e l n . Wenn Sachen<br />
geschehen, welche nur einige angehen, so werden sie<br />
umsomehr <strong>und</strong> umso besser geschehen, wenn alle<br />
ein Interesse an denselben haben werden. Es ist<br />
schwer zu verstehen, daß es Leute gibt, welche<br />
glauben, daß die Ausführung <strong>und</strong> der regelmäßige
— 47 —<br />
Gang der öffentlichen Dienste, welche für das Leben<br />
der Gesellschaft unentbehrlich sind, besser gesichert<br />
werden durch die Arbeit von Regierungsangestellten,<br />
als wie unmittelbar durch die Arbeiter selbst, die entweder<br />
aus freier Neigung oder durch Verabredung<br />
mit den andern diese Arbeit gewählt haben <strong>und</strong> dieselbe<br />
unter der unmittelbaren Aufsicht all jener ausführen,<br />
die daran ein Interesse haben.<br />
Ohne Zweifel ist in jeder großen gemeinsamen<br />
Arbeit Arbeitsteilung, technische Leitung, Administration,<br />
Verwaltung etc., notwendig. A b e r die Anh<br />
ä n g e r d e r A u t o r i t ä t t r e i b e n ein f a l s c h e s<br />
S p i e l m i t d i e s e n W o r t e n , wenn sie die Notwendigkeit<br />
einer Regierung aus der wirklich vorhandenen<br />
Notwendigkeit der O r g a n i s a t i o n der Arbeit<br />
ableiten wollen.<br />
Die Regierung, ich sage es nochmals, ist die<br />
Gesamtheit jener Leute, welche das Recht <strong>und</strong> die<br />
Mittel dazu erhalten oder sich genommen haben, Gesetze<br />
zu machen <strong>und</strong> andere zum Gehorsam zu<br />
zwingen. Die Arbeiter einer Unternehmung, der Techniker,<br />
Ingenieur etc. ist hingegen ein Mensch, der den<br />
Auftrag erhält oder auf sich nimmt, eine bestimmte<br />
Arbeit zu vollbringen <strong>und</strong> sie vollbringt. »Regierung«<br />
bedeutet Übertragung von Gewalt, das heißt, das Abdanken<br />
aller von jedem selbständigen Handeln <strong>und</strong> jeder<br />
Selbstbestimmung, zu Gunsten einiger. »Administration«<br />
hingegen bedeutet die Übertragung von Arbeit,<br />
das heißt: das Übergeben <strong>und</strong> Übernehmen einer<br />
Aufgabe, den freien Austausch von Dienstleistungen,<br />
welcher auf freier Vereinbarung beruht. Die Regieren-
— 48 -<br />
den sind Privilegierte, da sie das Recht haben, anderen<br />
zu befehlen <strong>und</strong> sich der Kräfte anderer zu<br />
bedienen, um ihre eigenen Ideen <strong>und</strong> persönlichen<br />
Wünsche zu erfüllen. Die Verwaltenden, die technischen<br />
Leiter etc. sind Arbeiter, wie die Übrigen;<br />
natürlich nur in einer solchen Gesellschaft, in welcher<br />
A l l e die gleiche Möglichkeit haben, sich zu entwickeln,<br />
wo alle zugleich körperliche <strong>und</strong> geistige<br />
Arbeit leisten oder leisten können, wo jede Art Arbeit<br />
<strong>und</strong> Dienstleistung das gleiche Recht auf den Genuß<br />
der gesellschaftlichen Vorteile gibt. Man darf die<br />
Tätigkeit der Regierenden nicht mit derjenigen der<br />
Verwaltenden verwechseln; wenn diese beiden heute<br />
nicht geschieden sind, so ist das die Folge der wirtschaftlichen<br />
<strong>und</strong> politischen Ungleichheit der Herrschaft.<br />
Aber gehen wir zu der Tätigkeit über, für welche<br />
die Regierung von allen, die nicht Anarchisten sind,<br />
als wirklich unentbehrlich angesehen wird: die Verteidigung<br />
der Gesellschaft nach außen <strong>und</strong> innen, das<br />
ist der »Krieg«, die »Polizei«, die » G e r i c h t s -<br />
barkeit«.<br />
Wenn einmal die Regierungen verschw<strong>und</strong>en<br />
sind <strong>und</strong> der Reichtum der Gesellschaft allen zur Verfügung<br />
steht, werden alle Gegensätze zwischen den<br />
Völkern <strong>und</strong> mit diesen der Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> die Ursache<br />
der Kriege, rasch verschwinden. Übrigens können wir<br />
auch behaupten, daß, wenn im gegenwärtigen Zustand<br />
der Gesellschaft in einem Lande die Revolution ausbräche,<br />
sie überall im Volke, wenn auch vielleicht<br />
nicht unmittelbare Nachahmung, aber wenigstens so
wicht v o n M o n o p o l e n u n d e i n -<br />
e n g e n d e n O e s e t z e n z u t r a g e n hat,<br />
leben die L e u t e frei, w i e s i e w o l l e n<br />
<strong>und</strong> sind s o g l ü c k l i c h , w i e m a n e s<br />
n u r sein k a n n . Dort gibt es keine Gerichtsbarkeit,<br />
keine Polizei, keine wohltätigen<br />
Anstalten, um diese vollkommene Zufriedenheit<br />
zu verderben. Nur vom Militarismus<br />
ist Utilla noch nicht frei. Die Garnison<br />
besteht aus — einem General oder Kommandanten<br />
<strong>und</strong> drei Soldaten ohne Mütze<br />
<strong>und</strong> ohne Schuhe, mit alten Musketen<br />
bewaffnet. An den Türen gibt es keine<br />
Schlösser; <strong>und</strong> Seckatur, Diebstahl <strong>und</strong><br />
Fälschung sind unbekannte Worte.<br />
*<br />
1500 Meilen südlich von St. Helena<br />
liegt im Atlantischen Ozean das Felseneiland<br />
Tristan d ' A c u n h a , der kleinste <strong>und</strong><br />
gesündeste Bestandteil des großbritannischen<br />
Reiches. Während der Gefangenschaft Napoleons<br />
auf St. Helena beherbergte es eine<br />
englische Besatzung, <strong>und</strong> die jetzigen Bewohner<br />
sind die Nachkommen von einem<br />
Korporal, seiner Frau <strong>und</strong> zwei gemeinen<br />
Soldaten, welche es vorzogen, auf der Insel<br />
zu bleiben, nachdem die Garnison zurückgezogen<br />
wurde. Für die zwei Soldaten<br />
wurden von St. Helena Frauen beschafft,<br />
<strong>und</strong> von Zeit zu Zeit vermehrte sich die<br />
Bevölkerung durch das Hinzukommen einiger<br />
männlicher <strong>und</strong> weiblicher Deportierten.<br />
Die Insel ist achtzehn Quadratmeilen groß.<br />
Achtzig bis neunzig Menschen leben darauf<br />
in guter Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong>, was mehr ist,<br />
sie ernähren sich ohne Sorgen, worin sie<br />
einer großen Anzahl unserer europäischen<br />
Brüder überlegen sind. Es h e r r s c h t ein<br />
v o l l s t ä n d i g e r K o m m u n i s m u s . E s<br />
gibt k e i n e S p u r v o n G e s e t z e n o d e r<br />
einer R e g i e r u n g . Nur der älteste männliche<br />
Bewohner wird ein wenig als Patriarch<br />
angesehen. Einmal im Jahr kommt der<br />
Gouverneur von St. Helena, um nachzusehen,<br />
ob alles in Ordnung ist <strong>und</strong> um<br />
seinen Bericht ans «Vaterland» zu schreiben.<br />
Er könnte gerade so gut zuhause bleiben,<br />
ohne daß die Inselbewohner schlechter<br />
daran wären.<br />
Nicht nur auf einsamen Inseln, sondern<br />
auch auf dem Festlande von Amerika <strong>und</strong><br />
Asien finden wir manches Stückchen «Freiland».<br />
E. Rec1 u s erwähnt in seinem Werk:<br />
«Eine Reise nach der Sierra Nevada» die<br />
Stadt R i o - H a c h a in Südamerika, welche<br />
sich fortwährend ohne Unordnung einzig<br />
<strong>und</strong> allein durch die freie Vereinbarung<br />
ihrer Einwohner regiert. « D e r f r i e d -<br />
fertige F r e m d e k a n n j a h r e l a n g i m<br />
Lande w o h n e n , o h n e d a ß i h n irgend<br />
e t w a s a n d a s D a s e i n e i n e r<br />
R e g i e r u n g e r i n n e r t » . A . B u l l a r d<br />
erwähnt ein sibirisches Dorf, dessen Bewohner<br />
entflohene Sträflinge waren: «Sich<br />
selbst ü b e r l a s s e n , f ü h r t e n s i e ein<br />
braves, g e o r d n e t e s , g l ü c k l i c h e s L e -<br />
ben <strong>und</strong> w ä h l t e n i h r e B e a m t e n auf<br />
die a l l e r e i n f a c h s t e d e m o k r a t i s c h e<br />
Weise». Wenn einmal die Gewaltherrschaft<br />
des Zarenreiches gestürzt worden ist, wird<br />
der Bauern-Kommunismus in Rußland stärker<br />
wie anderswo sich zu neuer Blüte<br />
entfalten. Der Geist der Gemeinsamkeit,<br />
des Kommunismus, ist dem russischen<br />
Bauer angeboren.<br />
*<br />
Es ist wahr, daß diese hier erwähnten<br />
Gemeinwesen entweder von der übrigen<br />
Welt getrennt sind oder von den gesellschaftlichen<br />
<strong>und</strong> industriellen Mittelpunkten<br />
der Jetztzeit weit entfernt liegen. Es wäre<br />
aber ein seltsamer Irrtum, anzunehmen, daß<br />
die Verbannung diese Leute gut <strong>und</strong> gerecht,<br />
menschlich <strong>und</strong> wohlwollend gemacht<br />
habe. Die Wahrheit ist einfach die, daß die<br />
Bewohner von Utilla <strong>und</strong> Tristan d'Acunha,<br />
von der zivilisierten Welt getrennt, nicht<br />
mehr die kalten Polypenarme des Staates<br />
auf ihrem "Rücken fühlten, <strong>und</strong> nicht mehr<br />
die ewige Furcht vor den sie immer bedrohenden<br />
Gesetzen verspürten. Da es so<br />
nichts mehr gab, was sie hindern <strong>und</strong> einengen<br />
könnte, ließen diese Menschen ihren<br />
natürlichen Neigungen, ihrem Gefühl der<br />
gegenseitigen Hilfe <strong>und</strong> der freiwilligen<br />
Vereinbarung freien Lauf. Damit ist es zur<br />
Genüge bewiesen, daß der anarchistische<br />
Kommunismus die einzig vernünftige Organisation<br />
der Menschheit ist.<br />
Aristide Pratelle.<br />
Der Anarchist als Kämpfer.<br />
Quacksalber aller Arten <strong>und</strong> dogmatischen<br />
Gebiete kommen mit ihren Rezepten<br />
<strong>und</strong> Heilmedizinen, wenn es sich um das<br />
soziale Problem handelt, bieten mit anbiedernder<br />
Miene ihre Waren, ihre Salben dar<br />
<strong>und</strong> betören dadurch die leider unwissende<br />
Menge zu dem falschen Glauben, daß man<br />
das gesellschaftliche Leben so bauen könne,<br />
wie Kinder es tun, wenn sie mit ihren Bausteinen<br />
kleine Häuser <strong>und</strong> Türme aufführen.<br />
Und es sind regelmäßig zwei Arten von<br />
solchen falschen Propheten, die an das<br />
Volk herantreten: zuerst die Herrschenden,<br />
denen es sich um die Aufrechterhaltung<br />
ihrer Privilegien handelt <strong>und</strong> die, soweit<br />
sie zur nachgiebigen Einsicht gegenüber<br />
dem Volkselend sich gezwungen fühlen,<br />
den Armen weißmachen, daß all ihr Tun<br />
<strong>und</strong> Treiben im Staat, in der Diplomatie<br />
<strong>und</strong> in der Finanzwelt nur zum Heile der<br />
Gesamtheit geschehe <strong>und</strong> sie aufrichtig bemüht<br />
seien, das von ihnen gekannte Mittel<br />
zur Linderung des himmelschreienden sozialen<br />
Jammers der Gegenwart zur Anwendung<br />
zu bringen; dann wieder diejenige<br />
Sorte, die noch gefährlicher ist als jene, die<br />
die vollständige Nutzlosigkeit all der von<br />
der Bourgeoisie dargebotenen Mittelchen<br />
für das Volk wohl durchschaut, die Sorte,<br />
die aber vor allem i h r e soziale Frage zu<br />
lösen bestrebt ist <strong>und</strong>. sehr wohl weiß, daß<br />
dies innerhalb des gegenwärtigen Systems<br />
nur möglich durch Volksbetrug <strong>und</strong> Volksbetörung.<br />
Es sind diese letzteren die Politiker,<br />
diese ärgsten Quacksalber des gesellschaftlichen<br />
Lebens <strong>und</strong> die, wie alle echten,<br />
rechten Giftmischer, sich ihr Tränklein materiellen<br />
Reichtums zusammenbrauen <strong>und</strong><br />
dann mit ihren Salben einpacken — sie<br />
haben i h r <strong>Ziel</strong> erreicht.<br />
Wie anders ist diesen gegenüber der<br />
Anarchist! Geschmäht <strong>und</strong> verleumdet <strong>und</strong><br />
gehaßt von aller Welt, steht er aufrecht da,<br />
das Licht der Wahrheit, Freiheit <strong>und</strong> des<br />
sozialen Glückes all den Verpestern des<br />
Menschheitslebens ins Antlitz haltend <strong>und</strong><br />
darum gefürchtet <strong>und</strong> gehaßt von allen.<br />
Vor nicht langer Zeit konnte man in<br />
den Zeitungen lesen, daß das französische<br />
Abgeordnetenhaus sich einstimmig gegen<br />
die Zulassung eines neuen, einzutretenden<br />
Abgeordneten wandte, da bekannt war, daß<br />
der Neuling ein strammer Gegner der Gehaltserhöhung<br />
wäre, die die Herren Volksvertreter<br />
sich recht selbstherrlich <strong>und</strong> eigenmächtig<br />
votiert hatten. Freilich, sie fürchteten<br />
den e i n e n Mann, denn er hätte ihnen<br />
unangenehme Wahrheiten zu sagen gehabt.<br />
Und die hört man bekanntlich nicht gern,<br />
das Stickige unserer Gesellschaftsatmosphäre<br />
wird viel leichter ertragen, wenn man nicht<br />
gewöhnt wird an den Luftzug frischer,<br />
sachlicher Kritik, vielmehr sich recht hübsch<br />
daran gewöhnt, das Dumpfe, das Bedrückende<br />
einer von Millionen Miasmen<br />
der innersten Verrottung <strong>und</strong> Fäulnis durchschwirrten<br />
Gesellschaftsatmosphäre als gut<br />
<strong>und</strong> unabänderlich zu betrachten.<br />
Vielleicht ist's ein schlechter Vergleich,<br />
aber in e i n e m doch sehr zutreffend: wie<br />
jenes Abgeordnetenhaus sich zaghaft gegenüber<br />
dem Eindringling verschloß, so verschließt<br />
sich die heutige Gesellschaft, ihr<br />
ganzer Klüngelanhang von Kliquen, Parteien<br />
<strong>und</strong> Schwindelexistenzen der Autorität <strong>und</strong><br />
Ausbeutung vor uns, den Anarchisten. Straußengleich<br />
glauben sie, man sähe sie nicht,<br />
wenn sie den Kopf in den Sand stecken;<br />
gemach, ihr Herren aller Rangstufen der<br />
Autorität, wir wissen euch zu würdigen...<br />
Nicht wie jene Quacksalber tritt der<br />
Anarchist auf. Er verspricht nichts; verspricht<br />
niemals, der Menschheit Probleme zu lösen,<br />
behauptet nie, daß mit der Einsetzung seiner<br />
werten Persönlichkeit in die ganz ertragreichen<br />
Würden eines Abgeordneten,<br />
auch nur eine Jota eines sozialen Problems<br />
gelöst werden könne, von ihm gelöst werden<br />
würde. Der Anarchist ist ein soziologischer<br />
Wahrheitsmensch, <strong>und</strong> deshalb verkündet<br />
er es stets laut <strong>und</strong> deutlich, daß<br />
das soziale Elend n i c h t durch die Institutionen<br />
der bestehenden, versklavenden Gesellschaft,<br />
sondern einzig <strong>und</strong> allein durch<br />
die dieses gesellschaftliche Leben bildenden<br />
Menschen selbst, die geistiger <strong>und</strong> physischer<br />
Tatenfreude fähig, aufgehoben werden<br />
kann.<br />
In einem ist der Anarchist der edelste,<br />
idealste Kämpfer. Da er, um Anarchist zu<br />
sein, mit allen Vergünstigungen <strong>und</strong> Hoffnungen<br />
des gegenwärtigen kapitalistischen<br />
Systems gebrochen, auf sie verzichtet hat,<br />
gibt es für ihn keine Rücksichten mehr in<br />
bezug auf die Aufdeckung der U r s a c h e n<br />
des Menschenelends. Er weiß, daß es die<br />
Gewalt ist, die die gesamte Menschheit<br />
darniederhält, in ihre Beziehungen sich einmengt<br />
<strong>und</strong> das Unrecht einer Gesellschaft<br />
unerhörtesten Reichtums <strong>und</strong> unerhörtester<br />
Armut, schrankenloser Verschwenderfreiheit<br />
von Geldmillionen <strong>und</strong> schmachvollster<br />
Lohnhörigkeit <strong>und</strong> Unfreiheit von menschlichen<br />
Millionen aufrecht erhält. Da er n i e<br />
mit dem Staate schachern, noch je Vergünstigungen<br />
von ihm zu erhalten wünscht,<br />
weist er mit kaltblütiger Überlegenheit auf<br />
den Urheber, auf die Verkörperung des<br />
gesellschaftlichen Gewaltprinzips, auf den<br />
Staat, hin. Mit dem Sturze des Staates stürzt<br />
jede andere Art von Unfreiheit <strong>und</strong> Abhängigkeit;<br />
es stürzt der Kapitalismus, es<br />
stürzt also die Ausbeutung, die heuchlerische<br />
Philantropie, die doppelbödige<br />
Moral, die Prostitution der Masse, der<br />
menschenmordende Krieg k u r z all<br />
d a s U n w e s e n , d a s s i c h n u r d u r c h<br />
d i e G e w a l t d e s S t a a t e s a u f b a u t e<br />
u n d e r h ä l t . Aus allen Geistesgebieten<br />
dringt diese Erkenntnis auf den Anarchisten<br />
ein, <strong>und</strong> sie ist die großartigste Offenbarung<br />
eines Geheimnisses über die Ursache der<br />
allgemeinen Knechtschaft, die, wenn von<br />
dem Volke nur in starker Minorität begriffen,<br />
zum Heile der Gesamtmenschheit ausschlagen<br />
wird.<br />
Aber ungleich den Sozialdemokraten<br />
verwirft der Anarchist jede doktrinäre Vorherbestimmung<br />
der Zukunftsgesellschaft;<br />
ungleich allen übrigen Quacksalbern geht<br />
er hierin vor. Jede politische Partei, die<br />
den S t a a t zu e r o b e r n wünscht, arbeitet<br />
dem vor, daß sie sich an die Stelle der<br />
alten Herrschaft setzen kann, bereitet somit<br />
die Fortsetzung der Menschheitssklaverei<br />
vor. Der Anarchist verwirft den Staat wie<br />
dessen Eroberung; er strebt d i e E r o -<br />
b e r u n g d e r G e s e l l s c h a f t für die Freiheit<br />
an, was nur unter absolutestem Ausschluß<br />
aller Staatssysteme geschehen kann.<br />
Anarchie bedeutet die individuelle <strong>und</strong><br />
soziale Freiheit gegenüber allen durch Menschen<br />
erzeugten Gesetzen, die stets von irgend<br />
einer Zentralgewalt ausgehen müssen. Eine<br />
Zentralgewalt der Majorität, dies wünscht die<br />
Sozialdemokratie zu etablieren <strong>und</strong> nach<br />
der Diktatur der von dieser Majorität ein-
gesetzten Zentralgewalt müßte das soziale<br />
Leben sich betätigen. Der Anarchist bekämpft<br />
dies als Despotismus der Majorität,<br />
ganz wie er auch den Despotismus der<br />
Minorität <strong>und</strong> des Einzelnen bekämpft. Er<br />
will die individuelle Freiheit A l l e r . Er ist<br />
nicht so utopistisch wie die Sozialdemokratie,<br />
zu glauben, daß eine Majorität alle<br />
Kulturmöglichkeiten der Gesamtheit wissen<br />
oder im Interesse Aller wirken kann; jede<br />
Majorität wird besondere Interessenvertretung<br />
<strong>und</strong> damit ist sie gezwungen, sich mit Verteidigungsmitteln<br />
der Gewalt gegenüber jedem<br />
sozialen Abänderungsversuch zu umgeben.<br />
Und deshalb ist es richtig, wenn man sagt,<br />
daß die Sozialdemokratie — n i c h t zu verwechseln<br />
oder zu identifizieren mit Sozialismus!<br />
— eine Hemmung jeder friedlichen<br />
Entwicklung bedeuten würde; ganz wie<br />
der Gegenwartsstaat.<br />
Der Anarchist wendet sich als Kämpfer<br />
gegen jeden durch Menschen über Menschen<br />
ausgeübten B e s c h r ä n k u n g s d r u c k<br />
— somit vor allem wider den Staat. Als<br />
Kämpfer strebt er nach vollkommener Freiheit,<br />
d. h. nach demjenigen gesellschaftlichen<br />
Zustand, in dem es dem Einzelnen<br />
möglich sein wird, sich nach Maßgabe<br />
individueller Veranlagung zu betätigen <strong>und</strong><br />
mit Gleichgesinnten frei zu vereinigen zu<br />
allen materiellen <strong>und</strong> geistigen Zwecken.<br />
Ein solcher Zustand bietet vor allem ein<br />
Bild der Mannigfaltigkeit, der Vielseitigkeit<br />
dar. Allerdings ist jeder Anarchist — selbst<br />
der individualistische» ist es — ein Sozialist,<br />
doch welchem besonderen System des Sozialismus<br />
er sich anschließt, hängt ganz ab<br />
von seinem persönlichen Empfinden <strong>und</strong><br />
seiner intellektuellen Erkenntnis. Erste Vorbedingung<br />
für den Anarchisten ist stets<br />
das Freiheitsmoment, <strong>und</strong> da er nur die<br />
freiheitlichen <strong>und</strong> freiwilligen Elemente des<br />
Sozialismus zu verwirklichen bestrebt ist,<br />
adelt er den Sozialismus zu einem System<br />
freiheitlichen Wohlstandes für Alle, streift<br />
ihm alles Despotische ab, wie es ihm gerade<br />
die Sozialdemokratie — als Mischung<br />
des Bourgeoisen mit Demokratisch-Sozialistischem<br />
— anzutun bemüht ist. Der Anarchist<br />
kämpft für die Anarchie — eine<br />
staatslose Gesellschaft humanster Freiheit,<br />
in der a l l e Menschen den unbeschränktesten<br />
gesellschaftlichen <strong>und</strong> individuellen<br />
Zutritt zu sämtlichen Produktionsmitteln,<br />
die Möglichkeit haben werden, sich so zu<br />
vereinigen, zu betätigen, wie es ihrem<br />
besonderen Geistes- <strong>und</strong> Gefühlstriebe<br />
eigen ist.<br />
Der Anarchist als Kämpfer der Gegenwart<br />
ist vollständig kompromißlos in bezug<br />
auf sein Ideal. Er beteiligt sich an allen<br />
antistaatlichen Aktionen, die seinem <strong>Ziel</strong>e<br />
zuführen <strong>und</strong> ideell mit diesem in Einklang<br />
sich befinden; er ist für den Generalstreik,<br />
weil dieser die ökonomische Selbstbestimmungsmacht<br />
der Kapitalistenklasse zertrümmert;<br />
ist Antimilitarist, weil der Militarismus<br />
<strong>und</strong> der sich auf ihn stützende<br />
Staat Gewalt, <strong>und</strong> Anarchie Friede, Freiheit,<br />
also G e w a l t l o s i g k e i t bedeutet. Für<br />
dieses Ideal tritt er in allen seinen Aktionen<br />
im privaten wie öffentlichen Leben ein,<br />
i h m macht er alle seine Aktionen dienstbar.<br />
Als Apostel des höchsten Freiheitsstrebens<br />
wird er durch die Gefängnisse<br />
geschleppt, in Verließe geworfen, endet<br />
— man lese Tolstois erschütternde Anklage:<br />
«Ich kann nicht schweigen!» — als Justizopfer<br />
wohl auch unter den Schergenhänden<br />
der bestehenden Gewaltsautorität, doch<br />
überall, wo wir ihn sehen, erblicken wir<br />
ihn als einen geistig <strong>und</strong> physisch Ringenden<br />
wider Vergewaltigung <strong>und</strong> Tücke. Ihm<br />
lacht nie die beschauliche Ruhe <strong>und</strong> Behäbigkeit<br />
der Politiker, überall ist er, was<br />
er sein <strong>und</strong> bleiben muß bis zum idealen<br />
Aufgang des leuchtenden <strong>Ziel</strong>es: der Anar-<br />
chist, der Kämpfer — w e i l A n a r c h i s t ,<br />
d a r u m ein u n e r m ü d l i c h e r K ä m p f e r !<br />
Offizielles Protokoll<br />
des Internationalen Antimilitaristischen<br />
Kongresses<br />
gehalten zu Amsterdam, am 30.—31. August<br />
1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />
des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />
m e r h o r n .<br />
(Fortsetzung.)<br />
Der Delegierte von Alkmaar beantragt,<br />
daß dieses Referat von Nieuwenhuis in<br />
mehreren Sprachen herausgegeben werden<br />
soll. Er möchte noch einfügen, daß die<br />
Arbeiter keine Erlösung zu gewärtigen<br />
haben von den Abgeordneten in den Parlamenten<br />
- sondern allein <strong>und</strong> ausschließlich<br />
von der eigenen Kraft.<br />
E n s c h e d e meint, Domela Nieuwenhuis<br />
Referat wird wohl die Sympathie eines<br />
jeden Menschenfre<strong>und</strong>es haben. Aber ein<br />
wichtiger Faktor ist übersehen <strong>und</strong> muß<br />
hinzugefügt werden, weil das Referat international<br />
herausgegeben werden soll. Wo<br />
die kapitalistische Klasse auf alle erdenkliche<br />
Weisen bekämpft wird, da muß man darauf<br />
hinweisen, daß der Antimilitarismus auch<br />
eine spezielle Propaganda braucht. Wir<br />
müssen es den Leuten klar machen, daß<br />
die ökonomische Propaganda allein nicht<br />
ausreicht. Es muß entschieden an erster<br />
Stelle auf dem Programm stehen: P r o p a -<br />
g a n d a g e g e n d e n M i l i t a r i s m u s .<br />
Bedient sich doch der Kapitalismus desselben<br />
zu all seinen unsauberen Praktiken<br />
gegen die Arbeiter.<br />
Es entspinnt sich eine rege Diskussion<br />
zwischen den Anhängern der gewaltsamen<br />
Revolution <strong>und</strong> des passiven Widerstandes,<br />
worin verschiedene Redner erklären, die<br />
Internationale Vereinigung müsse für Alle<br />
offenstehen, die in was immer für einer<br />
Art gegen den Militarismus kämpfen; <strong>und</strong><br />
dieselbe habe nicht die Aufgabe, ihren Mitgliedern<br />
vorzuschreiben, was sie in einem<br />
gegebenen Falle tun sollen, sondern sie<br />
müsse nur die Haupttendenzen des Kampfes<br />
gegen den Militarismus angeben <strong>und</strong> alles<br />
übrige der freien Initiative des Einzelnen<br />
überlassen. Es wird kein Beschluß gefaßt.<br />
Schließlich wird noch die Frage einer<br />
i n t e r n a t i o n a l e n S p r a c h e besprochen.<br />
Mehrere Delegierte schildern die Schwierigkeiten,<br />
die das Fehlen einer gemeinsamen<br />
Sprache dem internationalen Verkehr verursacht<br />
<strong>und</strong> weisen auf die großen Vorteile<br />
hin, die die Erlernung einer internationalen<br />
Sprache, besonders des Esp<br />
e r a n t o , mit sich bringt.<br />
Mit dem Wunsche, daß sämtliche Teilnehmer<br />
in ihrem eigenen Lande mit voller<br />
Kraft für die antimilitärischen Prinzipien<br />
eintreten sollen, geht der Kongreß nach<br />
zweitägiger Sitzung auseinander.<br />
Dokumentarischer <strong>und</strong> historischer<br />
Anhang.<br />
I.<br />
Manifest des Internationalen Antimilitaristischen<br />
Kongresses an die Arbeiter<br />
Deutschlands <strong>und</strong> Frankreichs.<br />
(Nachfolgender Manifesterlaß wurde anläßlich<br />
der grausamen Niedermetzelung der sich wider<br />
bestialischer deutschländischer Kolonialpolitik in<br />
Südwestafrika erhebenden Hereros verfaßt; es ist<br />
dies eine Kolonialpolitik, die aus den Hereros, die<br />
bislang freie Viehzüchter gewesen, besitzlose Sklaven<br />
macht).<br />
Der Internationale antimilitärische Kongreß<br />
in Amsterdam beschließt, im Hinblick<br />
auf die Verbrechen der französischen<br />
<strong>und</strong> deutschen kapitalistischen Regierungen<br />
in M a r o k k o <strong>und</strong> S ü d w e s t a f r i k a<br />
<strong>und</strong> auf die aus dem vorigen Anlaß<br />
drohende <strong>und</strong> immer gegenwärtige Gefahr<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Jon. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />
eines europäischen Krieges, folgenden Aufruf<br />
an die Arbeiter der genannten Staaten<br />
zu richten <strong>und</strong> denselben in ihre, resp.<br />
Landessprache übersetzt, sämtlichen Arbeitervereinigungen<br />
<strong>und</strong> revolutionären Gruppen<br />
dieser Länder zu senden mit der Bitte: daß<br />
sie denselben mit allen ihren zu Gebote<br />
stehenden, zulässigen Mitteln unter dem<br />
Proletariat ihres Landes verbreiten; daß sie<br />
dieselben in jeder Art <strong>und</strong> Weise auffordern,<br />
im Falle einer Expedition oder eines Krieges<br />
— von welcher Seite auch die Kriegserklärung<br />
zuerst kommen möge — dagegen<br />
zu wirken; <strong>und</strong> daß sie durch unausgesetzte<br />
Propaganda <strong>und</strong> durch systematischen Boykott,<br />
Generalstrike gegenüber den dem<br />
Kriege dienenden Industrien, jeden Krieg<br />
unmöglich zu machen suchen <strong>und</strong> so die<br />
internationale Befreiung des Proletariats von<br />
Staatsgewalt <strong>und</strong> Lohnsklaverei vorbereiten.<br />
Arbeiter! Soldaten!<br />
Die Profitgier der Kapitalisten hat<br />
wieder an zwei Stellen eure Regierungen<br />
zu Raubzügen gegen ein «unzivilisiertes»<br />
Volk veranlaßt <strong>und</strong> die Gefahr eines internationalen<br />
Krieges heraufbeschworen.<br />
Das Volk von Marokko hat sich gegen<br />
die Rücksichtslosigkeiten empört, mit der<br />
europäische Eindringlinge seine Lebensart<br />
<strong>und</strong> Gefühle verletzten, um die Geldinteressen<br />
einiger Spekulanten durchzusetzen.<br />
Es hat ein paar französische Matrosen getötet.*<br />
Darum müßt nun ihr, französische<br />
<strong>und</strong> deutsche Proletarier, zu Tausenden<br />
nach Afrika eilen, um Rache zu nehmen<br />
<strong>und</strong> die «Ehre der Nation» wieder herzustellen.<br />
Man wird euch befehlen, sie mit Feuer<br />
<strong>und</strong> Schwert zu bestrafen, diese «grausamen<br />
fanatischen Wilden» — die doch nicht<br />
anders gehandelt haben, als wie ihr im<br />
gleichen Falle auch gehandelt hättet. Je<br />
grausamer ihr gegen sie wütet, desto mehr<br />
wird man euch loben. Diebstahl, Raub,<br />
Mord, Vergewaltigung, Tortur — alle Verbrechen<br />
<strong>und</strong> Scheußlichkeiten, die ihr gegen<br />
dieselben begeht, werden euch als Heldentaten<br />
angerechnet werden.<br />
Aber auch von euch wird man verlangen,<br />
daß ihr euch den größten Qualen<br />
<strong>und</strong> Gefahren aussetzt — der glühenden<br />
Sonne, dem Durst, dem Fieber, den Kugeln<br />
der Feinde — für «das Wohl <strong>und</strong> die Ehre<br />
des Vaterlandes»! Wenn ihr nicht willig<br />
seid, euer Leben, euere Ges<strong>und</strong>heit zu<br />
opfern, wird euch das Kriegsgericht mit<br />
Tortur <strong>und</strong> Tod zum Gehorsam zwingen.<br />
Schon haben französische Kriegsschiffe<br />
eine blühende Stadt in Trümmer geschossen<br />
<strong>und</strong> deren Bewohner zu H<strong>und</strong>erten niedergemetzelt.<br />
Doch das ist nur der Anfang.<br />
Die Rache für die getöteten Matrosen ist<br />
nur ein Vorwand zur französischen Eroberung<br />
Marokkos. Auch die Bewohner<br />
dieses Landes, die bisher mehr oder weniger<br />
frei <strong>und</strong> zufrieden vom Ertrag ihrer<br />
Arbeit lebten <strong>und</strong> ihre eigenen Angelegenheiten<br />
besorgten — auch sie sollen zu<br />
Lasttieren <strong>und</strong> Arbeitssklaven eurer Kapitalisten<br />
<strong>und</strong> Regierungen gemacht werden.<br />
Andere Staaten werden sich beeilen, dem<br />
Beispiele Frankreichs zu folgen, sich auch<br />
neuer «unzivilisierter» Länder bemächtigen,<br />
deren Naturreichtum <strong>und</strong> Bevölkerung leicht<br />
auszubeuten sind.<br />
Und wenn sich die Ausbeuter der verschiedenen<br />
Staaten nicht einigen können<br />
über ihre Beute - dann werden sie ihre<br />
Zänkereien durch den Krieg der Nationen<br />
entscheiden lassen!<br />
Um ihretwillen werdet ihr, Soldaten<br />
des einen Landes, die Soldaten des anderen<br />
Landes mit den furchtbarsten Mordwerkzeugen<br />
zu H<strong>und</strong>erttausenden hinmorden<br />
Fortsetzung folgt.<br />
* Gemeint ist die Affaire von Casablanca.
Wien, 16. August 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. — Hr. 16.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />
I./17. — Gelder sind zu senden an<br />
W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />
5, JII./27.<br />
Allgemeine Gewerkschafts-Föderation, Wien.<br />
Ausflug der Kameraden<br />
znm Kubetz in Atzgersdorf<br />
Sonntag den 23. August 1908, nachmittags 2 Uhr<br />
Gesinnungsgenossen, wir fordern euch<br />
auf, euch samt Familie zahlreich an unserem<br />
kameradschaftlichen Ausflug zu beteiligen!<br />
Fahrgelegenheiten Südbahn-Meidling oder Breitenfurterstraße<br />
Endstation.<br />
Kameraden <strong>und</strong> Kampfesgenossen<br />
!<br />
Wir Wiener Genossen <strong>und</strong> Anarchisten,<br />
die als große Pflicht <strong>und</strong> schwere Bürde<br />
die Herausgabe des «W. f. A.» auf uns<br />
genommen haben, sind uns dessen bewußt,<br />
daß die soziale Lage der meisten unserer<br />
Kameraden gerade jetzt eine sehr drückende<br />
<strong>und</strong> bedrückte ist. Die Arbeitslosigkeit, die<br />
akute ökonomische Krise reißt große Lücken<br />
in unseren Reihen. Kurz, wir begreifen die<br />
ungeheuren Schwierigkeiten, die uns die<br />
Herausgabe gerade während der Sommermonate<br />
verursacht, sehr wohl <strong>und</strong> würdigen<br />
sie als Resultat der gerade jetzt besonders<br />
kritischen Lebensverhältnisse.<br />
Was wir aber von unseren Kameraden<br />
zu fordern berechtigt sind, das ist der<br />
e n e r g i s c h e V e r t r i e b u n s e r e s B l a t t e s .<br />
Und nur darum ersuchen wir diejenigen,<br />
die als Anarchisten fühlen <strong>und</strong> denken.<br />
Hand aufs Herz — tut jeder darin seine<br />
Pflicht, ist jeder darin das, was er sein<br />
muß: ein Agitator?<br />
Dies ist l e i d e r n i c h t der Fall.<br />
Daran wollen wir u n s e r e K a m e r a d e n<br />
<strong>und</strong> G e s i n n u n g s f r e u n d e g e m a h n e n ,<br />
sie zu e n e r g i s c h e m T u n a n s p o r n e n .<br />
Es sollte E h r e n p f l i c h t e i n e s j e d e n<br />
E i n z e l k a m e r a d e n sein, m o n a t l i c h wenigstens<br />
einen n e u e n L e s e r der anarchistischen<br />
P r e s s e z u z u f ü h r e n ; <strong>und</strong><br />
unsere w a c k e r e n V o r k ä m p f e r auf<br />
diesem G e b i e t e , u n s e r e K o l p o r t e u r e ,<br />
müssen darnach t r a c h t e n , ihren A b -<br />
satz zu v e r g r ö ß e r n , w e n i g s t e n s um<br />
drei bis vier D u t z e n d E x e m p l a r e<br />
während e i n e s J a h r e s .<br />
Es soll nicht gesagt werden, daß dies<br />
nicht in gewissem Maße geschehen ist;<br />
doch lange nicht in ausreichendem Maße.<br />
Kameraden, wir appellieren an euch —<br />
arbeitet unablässig <strong>und</strong> energisch an dem<br />
Vertrieb unseres gemeinsamen Blattes; nur<br />
so wird es möglich sein, den «W. f. A.»<br />
zu erhalten.<br />
Tue j e d e r s e i n e P f l i c h t !<br />
Eine notwendige Revision.*<br />
Schon im Jahre 1895 habe ich darauf<br />
hingewiesen, daß in der Entwickelung der<br />
* Der obige, auch für Österreich so überaus<br />
zeitgemäße Aufsatz unseres alten, unermüdlichen Vorkämpfers<br />
ist dem französischen Bruderorgan „Temps<br />
Nouveaux" entnommen. Die Red.<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft,<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . . "<br />
eigentlichen sozialistischen Idee ein Stillstand<br />
eingetreten ist, <strong>und</strong> daß eine gründliche<br />
Revision dessen, was man den Arbeitern<br />
als Sozialismus verkündet, notwendig geworden<br />
ist, wenn diese große leitende Idee<br />
des neunzehnten Jahrh<strong>und</strong>erts nicht entarten<br />
<strong>und</strong> die ganze proletarische Bewegung vergiftet<br />
werden soll.<br />
Seitdem ist diese Gefahr immer stärker<br />
geworden; so daß heute in Frankreich,<br />
Italien, der Schweiz <strong>und</strong> sogar in der deutschen<br />
Sozialdemokratie sich mehr <strong>und</strong> mehr<br />
das Bedürfnis fühlbar macht, all das, was<br />
man in den sich »sozialistisch« nennenden<br />
Kreisen tut <strong>und</strong> lehrt, zu überprüfen.<br />
Wahrscheinlich wird man fragen, ob<br />
man von einem Stillstand in der Entwickelung<br />
des Sozialismus sprechen könne, wenn,<br />
einesteils die Zahl der Stimmen, die bei den<br />
Wahlen für die Sozialdemokraten abgegeben<br />
werden, fortwährend zunimmt, <strong>und</strong> wenn<br />
anderenteils das, was man »die Verbreitung<br />
sozialistischer Ideen« nennt, sogar in jene<br />
Kreise vordringt, die früher dem Sozialismus<br />
vollkommen feindlich waren.<br />
Nun, gerade die Tatsache, daß man so<br />
weit gekommen ist, eine Zunahme der sozialdemokratischen<br />
Wahlstimmen oder ein<br />
paar Versuche von Verstaatlichung, also<br />
von R e g i e r u n g s - K a p i t a l i s m u s , für<br />
eine Verbreitung der s o z i a l i s t i s c h e n<br />
Ideen anzusehen — daß man den Sinn des<br />
Wortes S o z i a l i s m u s so weit vergessen<br />
hat, daß eine solche Verwirrung möglich<br />
ist — gerade dies ist in unseren Augen<br />
die wirkliche Gefahr. Glücklicherweise fängt<br />
man immer mehr an, diese Gefahr zu erkennen,<br />
sogar in jenen Kreisen von Deutschland,<br />
Österreich <strong>und</strong> der deutschen Schweiz,<br />
die am meisten zu dieser fatalen Verwirrung<br />
beigetragen haben.<br />
* *<br />
*<br />
Nehmen wir nur ein Beispiel. Vor<br />
einiger Zeit machte ein französisches Bourgeoisblatt<br />
die Bemerkung, daß das gegenwärtige<br />
Ministerium Clemenceau, trotzdem<br />
es anti-sozialistisch ist, dennoch Gesetze<br />
zur Annahme bringt, die ganz sozialistisch<br />
seien; <strong>und</strong> es führte die Verstaatlichung der<br />
Eisenbahnen <strong>und</strong> den Plan einer Einkommensteuer<br />
als »sozialistische« Gesetze an.<br />
Man sollte denken, daß die französische<br />
Sozialdemokraten sich beeilt hätten, diesen<br />
Irrtum richtig zu stellen, indem sie erklärten,<br />
daß das »antisozialistische« Ministerium<br />
seinem Standpunkt treu geblieben ist, daß<br />
es nur Gesetze geschaffen hat, die nach der<br />
Idee der Bourgeoisie als eine Schutzwehr<br />
gegen den Sozialismus dienen <strong>und</strong> die einen<br />
Teil jenes großen Systems der sozialpolitischen<br />
Gesetzgebung bilden, dessen Absicht<br />
es ist, den Sozialismus lahm zu legen. Dieses<br />
System versucht die sozialistischen Arbeiterbewegungen<br />
zu hindern, zu gleicher Zeit<br />
die Kräfte der Bourgeoisie zu verstärken.<br />
Es ist ein System, das danach trachtet <strong>und</strong><br />
dem dies auch teilweise gelingt, den Sozialismus<br />
zu unterschlagen.<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2.40;<br />
halbjährig K 1.20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3.50, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
Aber die französischen Sozialdemokraten<br />
antworteten gerade das Gegenteil<br />
von dem. Sie sagten das, was man seit<br />
zwanzig Jahren in Deutschland <strong>und</strong> überall<br />
in der sozialdemokratischen Presse bei solchen<br />
Gelegenheiten zu sagen pflegt. Wenn<br />
der Staat eine Eisenbahnlinie ablöst oder<br />
sich des Monopoles der Banken, des Handels,<br />
des Alkohols bemächtigt, heißt auch<br />
ihnen dies »Gesetze in sozialistischer Richtung«<br />
schaffen.<br />
Seit mehr als einem Vierteljahrh<strong>und</strong>ert<br />
hat man in allen Tonarten geschrieben ; so<br />
daß der Arbeiter — jener wenigstens, der<br />
in den sozialdemokratischen Organisationen<br />
als »klassenbewußt« angesehen wird — es<br />
schließlich selbst glaubt, daß Demokratie,<br />
Regierungskapitalismus <strong>und</strong> Sozialismus eins<br />
<strong>und</strong> dasselbe sind. Wenn man nur Demokrat<br />
bleibt, so werde man, ohne es zu wollen,<br />
zum Sozialisten, wie die unschuldigen Ministerpräsidenten<br />
von Frankreich <strong>und</strong> England,<br />
von denen der eine für die Westbahnverstaatlichung<br />
<strong>und</strong> der andere für die vom<br />
Staat bezahlte Altersversorgung stimmt. Als<br />
dritten im B<strong>und</strong>e könnte man noch den<br />
Zaren Nikolaus II. hinzufügen, der ebenfalls<br />
alle russischen Bahnen verstaatlichen<br />
ließ <strong>und</strong> der heute das Einkommen dieser<br />
»nationalisierten« Eisenbahn — in guter Gesellschaft<br />
nennt man das Nationalisation —<br />
dazu verwendet, seine Untertanen hinmorden<br />
zu lassen. In Deutschland rechnet man<br />
zu diesen Sozialisten wider Willen auch<br />
Bismarck, der dort schon lange die staatliche<br />
Altersversicherung eingeführt hat.<br />
Alle diese Leute sind, wenn auch wider<br />
eigenen Willen, Sozialisten ; <strong>und</strong> ihr, Arbeiter,<br />
ihr müßt nur die Bourgeoisie die<br />
Sachen in dieser Richtung besorgen lassen.<br />
So spricht die Sozialdemokratie, <strong>und</strong> wenn<br />
man ihr glaubt, so geht der Sozialismus<br />
ganz von selbst voran.<br />
Gewiß sagen auch wir anarchistische<br />
<strong>und</strong> sozialistische Propagandisten manchmal,<br />
daß alles in der jetzigen Gesellschaft<br />
die Entwickelung der Produktivkräfte des<br />
Menschen, die Entwickelung seines Gleichheitsgefühles,<br />
ja sogar die Kriege, die die<br />
Bourgeoisien der verschiedenen Staaten um<br />
Eroberung der Weltmärkte gegeneinander<br />
führen —, daß dies alles dazu beiträgt, in<br />
einem günstigen Augenblick die soziale Revolution<br />
herbeizuführen. Alles! Aber nur<br />
unter e i n e r u n e r l ä ß l i c h e n Bedingung:<br />
daß wir uns n i c h t d u r c h d i e B o u r -<br />
g e o i s i e i r r e f ü h r e n l a s s e n ! Und daß<br />
wir wissen, wohin wir gehen, daß wir das<br />
<strong>Ziel</strong> des Sozialismus richtig auffassen : die<br />
A b s c h a f f u n g <strong>und</strong> nicht die E r h a l -<br />
t u n g der Ausbeutung des Menschen durch<br />
den Menschen! Wenn das Verständnis<br />
dieses <strong>Ziel</strong>es verloren geht, kann man sich<br />
herumschlagen, so viel man will, die Revolution<br />
wird nicht sozial sein, sie wird uns<br />
der sozialen Revolution nicht tinmal näher<br />
bringen.<br />
* *<br />
*
Es ist Zeit, dieser Komödie von Demokraten,<br />
die sich als Sozialisten verkleiden,<br />
ein Ende zu machen.<br />
Es ist Zeit, laut zu verkünden, daß<br />
S o z i a l d e m o k r a t i e <strong>und</strong> Sozialismus zwei<br />
gr<strong>und</strong>verschiedene Sachen sind. Die Sozialdemokratie<br />
ist ein K o m p r o m i ß zwischen<br />
dem Sozialismus der Arbeiter <strong>und</strong> dem Individualismus<br />
der Bourgeoisie; ein Kompromiß,<br />
der das »Recht« des Reichen, den<br />
Armen auszubeuten, voll <strong>und</strong> ganz aufrecht<br />
erhält, <strong>und</strong> nur die Form dieser Ausbeutung<br />
ein wenig zu mildern sucht; ein Kompromiß,<br />
der die Sorge, diese Ausbeutung abzuschaffen,<br />
den fernen, kommenden Zeiten<br />
überläßt — wenn bis dahin die Oesellschaft<br />
unter der Last dieser Ausbeutung nicht zu<br />
Gr<strong>und</strong>e gegangen ist. Und eben deshalb,<br />
weil die Sozialdemokratie ein Kompromiß<br />
ist, ist sie unvermeidlich bestrebt, diese Ausbeutung<br />
auf ewig aufrecht zu erhalten, derweil<br />
dieselbe für e i n e n T e i l der Ausgebeuteten<br />
gemildert werden wird. Die Sozialdemokratie<br />
ist die Verleugnung des Sozialismus.<br />
Es ist auch Zeit, ebenso laut zu verkünden,<br />
daß, was man »die Verbreitung<br />
der sozialistischen Ideen« genannt hat, in<br />
Wirklichkeit nichts anderes ist, als eine Verbreiterung<br />
gewisser Bedenken in den Kreisen<br />
der Bourgeoisie, die es als zweckmäßig erscheinen<br />
lassen, einen verschwindend kleinen<br />
Teil der in den letzten dreißig Jahren geschaffenen<br />
riesigen Reichtümer mit einem<br />
w i n z i g e n T e i l der Arbeiter — besonders<br />
auch deren Führer — zu teilen. Dies ist<br />
ein sicheres Mittel, um die Arbeiterklasse<br />
zu spalten, indem man einen Teil der Ausgebeuteten<br />
in die vermittelnde Klasse von<br />
verbourgeoisierten Arbeitern <strong>und</strong> Arbeiterbeamten<br />
übergehen läßt <strong>und</strong> so einen<br />
« v i e r t e n S t a n d » schafft, um die große<br />
Masse unter dem Joche der Kapitalisten<br />
behalten zu können.<br />
Andererseits ist es eine schändliche<br />
Täuschung der Arbeiterklasse, wenn man<br />
behauptet, daß einige schwache Verbesserungen<br />
im Betriebe der großen Unternehmungen,<br />
wie z. B. in den Wohnungs<strong>und</strong><br />
Lebensverhältnissen der Arbeiter, der<br />
Sozialismus oder ein <strong>Weg</strong> zum Sozialismus<br />
sind — wo doch jeder Bourgeois w e i ß ,<br />
daß dies nur ein Mittel ist, um die Produktivkraft<br />
des Arbeiters zu steigern, ohne den<br />
Löwenanteil, der dem Kapitalismus zufällt,<br />
im geringsten zu schmähen. Und wenn<br />
man dem Bourgeoisstaate das Verfügungsrecht<br />
über die ganze Transportindustrie <strong>und</strong><br />
den Eisenbahnverkehr einräumt, so vermehrt<br />
man dadurch ganz ungeheuer die<br />
Kraft, die der Staat zur Verteidigung des<br />
Kapitalismus besitzt. Man sieht das am<br />
auffälligsten in Rußland.<br />
Deshalb ist es die höchste Zeit, die<br />
sogenannten sozialistischen Programme einer<br />
Revision zu unterziehen, nachzusehen, was<br />
noch an unklarem Sozialismus in diesen<br />
Kompromiß-Programmen bleibt, <strong>und</strong> alle<br />
sozialistischen Bestrebungen der Arbeitermassen<br />
so zu formulieren, damit alles Gift,<br />
was die geriebenen Schlaufüchse der Bourgeoisie<br />
in dieselben hineingeschmuggelt<br />
haben, daraus verschwindet.<br />
Peter Krapotkin.<br />
Die Hauptaufgabe der anarchistischen<br />
Propaganda.*<br />
Wenn man in der letzten Zeit die<br />
anarchistische Bewegung beobachtet, so<br />
muß man zur Überzeugung gelangen, daß,<br />
obwohl nicht so sehr viel in Deutschland,<br />
so doch über Deutschlands Grenzen hinaus,<br />
ja sogar in anderen Erdteilen als in Europa,<br />
der Anarchismus gute Fortschritte macht.<br />
* Wir stellen diesen Artikel zur Diskussion.<br />
Die Red.<br />
Und dies, trotzdem man doch mit allen<br />
erdenklichen Mitteln es versucht, diese Idee<br />
totzuschweigen, was u, a. hauptsächlich<br />
unsere sogenannten «Stiefbrüder», die Sozialdemokraten,<br />
vortrefflich verstehen.<br />
Aber das ist es nicht allein, was uns<br />
auffallen muß; es ist noch etwas, was jeder<br />
Beobachter ohne Zweifel anerkennen wird<br />
— die Stellung, die sich der Anarchismus<br />
im großen <strong>und</strong> ganzen innerhalb der Gesellschaft<br />
<strong>und</strong> der Gelehrtenwelt erobert<br />
hat, ist sehr bemerkenswert.<br />
Dieses so viel «geschmähte Kind», das<br />
man immer umhergestoßen, ja sogar sehr<br />
oft totgesagt hat, scheint zu einer Respektsperson<br />
heranzuwachsen, so daß Gelehrte,<br />
die sich auch nur in beschränkterem Maße<br />
mit fortschrittlichen Ideen beschäftigen, sich<br />
auch eingehender mit der Theorie, wie<br />
Taktik des Anarchismus befassen müssen.<br />
Allerdings unterlaufen den meisten von<br />
ihnen große Fehler, denen wohl, wie ich<br />
glaube, andere als böswillige Motive zu<br />
Gr<strong>und</strong>e liegen. Der Hauptfehler ist wohl<br />
der, daß nicht immer genau zwischen dem<br />
Anarchismus — <strong>und</strong> den mit dem Anarchismus<br />
sympatisierenden Strömungen unterschieden<br />
wird. So kommt es, daß nur<br />
zu oft Mitte! <strong>und</strong> <strong>Ziel</strong> verwechselt werden.<br />
Es liegt aber kein Gr<strong>und</strong> vor, sich hierüber<br />
groß zu verw<strong>und</strong>ern, so lange ähnliche<br />
Fehler von vielen unserer eigenen Genossen<br />
gemacht werden. Dieses sich selbst im Unklaren<br />
sein ist es, was in den meisten<br />
Fällen zur Verflachung, ja sogar manchmal<br />
ganz vom <strong>Ziel</strong>e ableitet.<br />
Um dem einigermaßen vorzubeugen,<br />
ist immer <strong>und</strong> immer wieder notwendig zu<br />
untersuchen — hauptsächlich wenn wir an<br />
Breite zunehmen — ob wir auch an wirklicher<br />
Tiefe nicht verloren haben.<br />
Die wahren Scheidungslinien zwischen<br />
allen sich sozialistisch nennenden Strömungen<br />
festzustellen, muß jederzeit Aufgabe<br />
unserer Propagandisten sein.<br />
In Betracht kommen weniger die Linien,<br />
die uns von der Sozialdemokratie trennen,<br />
weil sie zu markant sind, als die vom Syndikalismus,<br />
weil Syndikalismus <strong>und</strong> Anarchismus<br />
sich in vielem durchdringen. Nicht<br />
schwer ist es wohl zu beweisen, wie ganz<br />
entgegen unsere Anschauung jener der<br />
Sozialdemokratie ist, die nichts anderes als<br />
eine Reformpartei geworden <strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong><br />
ihrer Geschichtsauffassung nichts anders<br />
sein kann.<br />
<strong>Unser</strong>er Auffassung, auf die ich des<br />
Näheren noch zu sprechen komme, stehen<br />
vor allem die Anhänger Karl Marx entgegen,<br />
die da behaupten: D i e t r e i b e n d e<br />
G e w a l t i n der g e s c h i c h t l i c h e n E v o -<br />
l u t i o n ist d i e E n t w i c k l u n g d e r<br />
P r o d u k t i o n s k r ä f t e . Das menschliche<br />
Handeln spielt nur gewissermaßen eine<br />
passive, untergeordnete Rolle, der menschliche<br />
Geist ist etwas Sek<strong>und</strong>äres, etwas<br />
indirekt Wirkendes in der Weltgeschichte.<br />
Diese Wissenschaft, die aus dem Menschen<br />
eine Sache macht, ja fast u n t e r<br />
diese stellt, muß in kürzerer oder längerer<br />
Zeit in sich selbst zusammenfallen. Von<br />
ihrem «wissenschaftlichen» Standpunkte ausgehend,<br />
machen ihre Vertreter auch tatsächlich<br />
keinen Versuch, in das Weltenrad<br />
einzugreifen — höchstens mal durch ein<br />
bischen Schönreden — sonst suchen sie<br />
nach allen Seiten einen Ausgleich mit den<br />
herrschenden Gewalten zu schaffen <strong>und</strong><br />
warten im übrigen bis die «Zeit» sich erfüllet.<br />
Weil sie eben die Gesetzesmaschine<br />
in ihre Hand bekommen wollen, darum<br />
setzen sie auch schon jetzt alle Kraft für<br />
recht viele «gute» Gesetze ein, um schon<br />
jetzt wenigstens näher an diese Gesetzesmaschinen<br />
zu gelangen.<br />
Auch ihre Stellung zum Militarismus<br />
ist bezeichnend: Wohl ist man «gegen»<br />
den Militarismus, a b e r auf k e i n e n Fall<br />
f ü r A n t i m i l i t a r i s m u s ! Sie sind gegen<br />
Berufsoldaten, also gegen den Offiziers<strong>und</strong><br />
Unteroffiziersstand, gegen die Trennung<br />
der Armee vom Volke durch Kasernen <strong>und</strong><br />
Kasinos, gegen Verwendung von Militär<br />
zu Polizeizwecken gegen das Volk. Sie<br />
wollen, daß das Volk selbst über Krieg<br />
<strong>und</strong> Frieden bestimmt u. s. w. Sie wollen<br />
also andere, ihrer Idee angepaßtere Formen<br />
einführen, ungefähr wie die Schweizer<br />
Miliz, nur noch gereinigter; aber den Militarismus<br />
verwerfen sie keineswegs, <strong>und</strong> es<br />
ist auch ganz selbstverständlich für diese,<br />
wie jede Bewegung, die eine Herrschaft<br />
erstrebt. Sie muß notwendigerweise darnach<br />
trachten, den Militarismus in irgend einer<br />
Form zu erhalten, weil eine Herrschaft ohne<br />
organisierte Macht einfach <strong>und</strong>enkbar ist.<br />
Diese Demokratie hat nichts mit dem<br />
echten Sozialismus, dem anarchistischen<br />
Kommunismus gemein. Letzterer behauptet,<br />
nicht die Verhältnisse allein, sondern der<br />
menschliche Geist ist es, der die Geschichte<br />
macht. Nicht nur die Verhältnisse, sondern<br />
eine starke Minorität, die zusammengesetzt<br />
ist von moralisch höher entwickelten <strong>und</strong> von<br />
ihrem Ideal durchdrungenen Persönlichkeiten,<br />
dies ist es von jeher gewesen, was in<br />
edlem Sinne die Masse mit sich zu reißen<br />
vermochte. Um also das weitestgehende,<br />
das höchste <strong>Ziel</strong>, die Anarchie zu erreichen,<br />
müssen vollständige Umwandlungen der<br />
Individuen vor sich gehen. A n a r c h i s t<br />
k a n n s i c h , n u r d e r j e n i g e n e n n e n ,<br />
d e r s i c h s e l b s t b e h e r r s c h t <strong>und</strong><br />
g e r a d e d a r u m n i c h t b e h e r r s c h t z u<br />
w e r d e n b r a u c h t . Die freie Vereinigung<br />
solcher Persönlichkeiten, solcher Vollmenschen,<br />
ist dann in der Lage, die Verhältnisse<br />
nach ihrem Bilde, zu formen. Daher<br />
auch dieser kolossale Unterschied der Propaganda:<br />
Bei den Sozialdemokraten geht<br />
die ganze Propaganda darauf hinaus, eine<br />
möglichst große Masse für ihre Sache zu<br />
begeistern <strong>und</strong> dies auf Gr<strong>und</strong> möglichst<br />
großer Versprechungen, ohne viele Gegenleistung.<br />
H i n g e g e n l e g t d e r A n a r -<br />
c h i s m u s s e i n A u g e n m e r k a u f d i e<br />
E r z i e h u n g d e s I n d i v i d u u m s , wenn<br />
irgend möglich schon von Kindheit auf,<br />
weil man überzeugt ist, daß die Menschen<br />
weniger von Natur, als vielmehr durch<br />
systematisches Niederhalten des wahren<br />
Menschentums schon als Kinder zur bestehenden<br />
sozialen Unvollkommenheit verdammt<br />
worden sind.<br />
Doch wenden wir uns, um weiterzukommen,<br />
zu der Strömung, die uns näher<br />
steht, z u m S y n d i k a l i s m u s , also revolutionären<br />
Gewerkschaftsprinzip. Sehr viele<br />
Verfechter des Syndikalismus — <strong>und</strong> das<br />
wurde auch auf dem Amsterdamer Kongreß<br />
behauptet — erklären, der Syndikalismus<br />
genüge sich selbst. Mit anderen Worten:<br />
Der Syndikalismus erklärt, daß seine Bewegung<br />
ganz allein imstande sei, die herrschende<br />
Gesellschaft zu stürzen <strong>und</strong> an<br />
Stelle des Staates <strong>und</strong> der kapitalistischen<br />
Gesellschaft selbst die Konsumtion wie<br />
auch Produktion zu übernehmen. Seine<br />
Mittel sind nicht der Parlamentarismus, der<br />
die Arbeiterschaft dem <strong>Ziel</strong>e nicht näher<br />
bringt, wohl aber zur Verflachung, ja zur<br />
vollständigen Tötung des Klassenbewußtseins<br />
führt, sondern der wirtschaftliche<br />
Klassenkampf in seinem ernsten Sinne;<br />
seine Mittel sind: Direkte Aktion, Sabotage,<br />
Boykott, Massenaktionen, aber mit der<br />
Verantwortlichkeit aller einzelnen Persönlichkeiten.<br />
Weil nun die herrschende Klasse<br />
die Exekutivgewalt des Staates zu ihrer<br />
Verfügung hat, so müssen die Syndikalisten<br />
notwendigerweise Antimilitaristen im wahren<br />
Sinne des Wortes sein.<br />
Hat nun der Anarchismus gegen die<br />
Idee des Syndikalismus als Kampfesmittel
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Vorsignale der sozialen Revolution in Frankreich.<br />
Anlässlich von Manifestationen der im<br />
Solidaritätsstreik befindlichen 10 000 Bauarbeiter<br />
von Paris zu Ounsten streikenden Kameraden<br />
in Vigneux gegen die Brutalitäten des Militärs<br />
wider diese, gab ein Regiment Dragoner drei<br />
G e w e h r s a l v e n auf die Manifestanten ab,<br />
tötete drei <strong>und</strong> verw<strong>und</strong>ete über sechzig streikende<br />
<strong>und</strong> kämpfende Kameraden.<br />
(Villeneuve, 30. Juli 1908.)<br />
In dem großen sozialen Krieg, der international<br />
zwischen Ausbeutung <strong>und</strong> Freiheit wogt, haben<br />
wir wieder einen Markstein seiner geschichtlichen<br />
Entwicklung erreicht, den das französische Proletariat<br />
errichtet hat. Großes hat sich zugetragen in<br />
den letzten zwei Wochen <strong>und</strong> die vereinte Bestialität<br />
der Herren Clemenceau, Briand <strong>und</strong> Viviani<br />
als Vertreter des kaltblütig mordenden Staatsprinzips,<br />
die feilste Dirne der öffentlichen Dummheit<br />
<strong>und</strong> Unwissenheit, die Presse aller politischen Parteien,<br />
sämtliche Schakale der Bereicherung auf<br />
Kosten der Gesamtheit, .die ganze Bourgeoisie mit<br />
ihrem Klüngel haben es versucht, das französische<br />
organisierte Proletariat zu brechen <strong>und</strong> den Ausbruch<br />
seines sozialen Ingrimmes zu ersticken —<br />
es ist nicht gelungen, heute steht die „Konföderation<br />
der Arbeit", die einzige Klassenorganisation<br />
des französischen Proletariats, gefestigter da, als es<br />
früher der Fall war. Sie hat sich im Kampfe erprobt,<br />
sie wagte den Kampf wider alle die vereinten<br />
Mächte der Brutalität, <strong>und</strong> sie hat in diesem Kampfe<br />
ihre Stärke <strong>und</strong> Schwäche zugleich kennengelernt:<br />
ihre reissend zunehmende Stärke, ihre rapid abnehmende<br />
Schwäche, wie alle die Notwendigkeiten<br />
des Kampfes, denen es in der Zukunft zu begegnen<br />
gilt.<br />
Was ist geschehen, was trug sich zu? Diese<br />
Frage ist vor allem geboten gegenüber der infamen<br />
literarischen Kesseltreiberei der Bourgeoispresse,<br />
gegenüber dem erbärmlich-hämischen Umfälschen<br />
<strong>und</strong> Verfälschen der Eigenberichte des Berliner<br />
„Vorwärts" durch die Wiener „Arbeiter-Zeitung".<br />
Dieses letztere Blatt hat es gewagt, ein kämpfendes<br />
Proletariat zu verhöhnen, diese Herren, von<br />
denen die meisten nie eine Ahnung hatten, was es<br />
heißt, einen Solidaritätskampf durchzuführen, wie<br />
es die französischen Arbeiter taten. Die moralisch<br />
erbärmlichen Redakteure der „Arbeiter-Zeitung"<br />
redigierten die für den Generalstreik im ganzen<br />
großen noch einigermaßen anständig lautenden Berichte<br />
des „Vorwärts" mit ihrer Scheere <strong>und</strong> ihrem<br />
Kleisterpinsel um, schrieben ihre eigenen scharfmacherischen<br />
Betrachtungen gegen die französischen<br />
Gewerkschafter dazu — <strong>und</strong> gaben dieses Sammelsurium<br />
von schiefen Bourgeoismeldungen, elenden<br />
Lügen <strong>und</strong> demagogischen Schwindeleien als ihre<br />
„Eigenberichte" aus! Zur Zeit, als Arbeiter im<br />
bittersten Kampfe standen, fielen ihnen diese politischen<br />
Gaukler in Österreich geistig in den Rücken,<br />
Hand in Hand mit den ausgesprochensten Feinden<br />
des Proletariats setzten sie den heroischen Generalstreik,<br />
der dort in Frankreich geführt wurde, herab,<br />
belächelten ihn, besudelten ihn mit dem Geifer<br />
ihrer eigenen Impotenz, um ihre eigene Machtlosigkeit,<br />
die Tatsache zu verdecken, daß sie <strong>und</strong><br />
ihre ganze Partei oder Gewerkschaftsbewegung<br />
nicht den zehnten Teil dessen zu leisten imstande<br />
sind, was die „Konföderation der Arbeit" vollbrachte.<br />
Österreichisches Proletariat, deine sozialdemokratischen<br />
Lehrer sind parlamentarische Betrüger.<br />
Ihr Lügen über den Generalstreik geschieht im Interesse<br />
der herrschenden Klassen.<br />
Am 30. Juli, an einem Donnerstag, legten<br />
zehntausend Pariser Bauarbeiter die Arbeit nieder<br />
<strong>und</strong> traten freiwillig in einen Sympathieausstand<br />
mit ihren streikenden Kameraden in Vigneux. Wann<br />
wird das in Österreich möglich sein? Tausende von<br />
ihnen gruppierten sich <strong>und</strong> legten den etwa zwölf<br />
Kilometer entfernten <strong>Weg</strong> bis Villeneuve zu Fuß<br />
zurück. Aber das Ministerium der radikalen Demokratie<br />
<strong>und</strong> des sozialdemokratischen Parlamentarismus<br />
wußte, welche Einbuße dies für die Bauunternehmer<br />
bedeutete, wußte, wie sehr solch ein Beispiel<br />
in Frankreich um sich zu greifen geeignet ist.<br />
So wollten sie allem weiteren dadurch vorbeugen,<br />
daß sie einen Aderlaß des Proletariats provozierten.<br />
Das Militär sollte eingreifen. Doch siehe da,<br />
die antimilitaristische Propaganda wirkte: Die<br />
Dragoner des 27. Regimentes fraternisierten mit<br />
dem marschierenden Volk. Eine Szene unbeschreiblicher<br />
Freude folgte, Soldaten <strong>und</strong> Proletarier lagen<br />
einander in den Armen, <strong>und</strong> die Dragoner machten<br />
Kehrt.<br />
Wir folgen genau der ersten Darstellung des<br />
französischen syndikalistischen Organes „Volksstimme"<br />
<strong>und</strong> des Hervéschen „Sozialen Krieges".<br />
Vielleicht hätte die obige Verbrüderung<br />
zwischen Proletarier im Waffenrock <strong>und</strong> Proletarier<br />
im Arbeiterwams der nachfolgenden schrecklichen<br />
Tragödie vorbeugen können. Drei Männer wollten<br />
dies aber nicht: es waren dies der General V i rv<br />
a i r e, ein Hauptmann, dessen Namen noch nicht<br />
veröffentlicht wurde <strong>und</strong> der feige Präfekt der Gemeinde<br />
Villeneuve. Sie provozierten das, was das<br />
Militär nicht tun wollte, denn das Bild dieser Manifestation<br />
ist wohl ein außergewöhnliches zu<br />
nennen: überall konnte man Arbeiter <strong>und</strong> Soldaten,<br />
Arbeiter <strong>und</strong> Offiziere im eifrigsten Gespräch mit-<br />
einander sehen; die einen versuchten es, die anderen<br />
von ihrem Vorhaben abzubringen.<br />
Jener Hauptmann war es, der das Zeichen<br />
zum Angriff gab. Mit jener echt militärisch-gemeinen<br />
Arroganz spornte er sein Pferd in die dichte Menge<br />
der Demonstranten hinein, als man die kleine Ortschaft<br />
erreicht hatte. Nun änderte sich die Szene<br />
rapide: „Meuchelmörder!" so ertönte es in den<br />
Lüften, ein Schrei, den h<strong>und</strong>erte Kehlen wiederholten.<br />
Und die Erbitterung über das Vorgehen des<br />
Militärs stieg; schon erhoben sich Barrikaden, hinter<br />
denen sich die Demonstranten aufpflanzten.<br />
Es begann ein Kampf, wie ihn Europa seit<br />
den Barrikadenkämpfen der russischen Revolution<br />
nicht mehr gesehen hat. Hut ab, vor den Helden<br />
des kämpfenden Proletariats, die so ihre Menschenwürde<br />
zu verteidigen wagten! Gestehen wir es,<br />
sie waren nun die Angreifer, <strong>und</strong> es gereicht ihnen zur<br />
Ehre, es gewesen zu sein. Aber- <strong>und</strong> abermals erschallten<br />
die Warnungssignale der Soldateska, die<br />
Barrikaden zu räumen; es geschah nichts. Nur der<br />
Ruf: „Meuchelmörder" zerriß immer wieder die Luft.<br />
Und dann ereignete sich das Schreckliche:<br />
Die Soldaten verrieten ihre Brüder, sie schossen<br />
auf die Arbeiter. Allerdings, auch hier bewährte sich<br />
die antimilitaristische Propaganda: es war ihnen<br />
befohlen worden, scharf zu zielen, hätten sie es<br />
getan, dann hätten ihre vier aufeinanderfolgenden<br />
Salven h<strong>und</strong>erten von Menschen das Leben geraubt<br />
— so lagen, als der Pulverdampf sich verzogen<br />
hatte, nur drei gefallene Kämpfer <strong>und</strong> etwa sechzig<br />
Verw<strong>und</strong>ete auf dem Felde des Klassenkampfes;<br />
ungefähr die gleiche Anzahl auf Seite der Soldaten.<br />
Das war am 30. <strong>und</strong> schon am nächsten Tage<br />
fanden sich die Vertreter sämtlicher Organisationen<br />
von Paris zur Beratung über die zu unternehmenden<br />
Schritte zusammen. Nun war der Moment gegeben,<br />
zu handeln <strong>und</strong> auf allen Lippen, selbst auf<br />
jenen der Vertreter der sonst reformistischen Buchdrucker,<br />
schwebte ein Wort: Generalstreik! Der<br />
Generalstreik mußte nun proklamiert werden <strong>und</strong><br />
zwar so rasch als möglich, zu Vorbereitungen war<br />
keine Zeit mehr, die sühnende Strafe mußte der<br />
Mordtat der französischen Bourgeoisie auf dem<br />
Fuße folgen.<br />
Zum ersten Mal in seiner gesamten Geschichte<br />
trat das französische Proletariat in<br />
einen Generalstreik zum Zwecke einer Solidaritätsk<strong>und</strong>gebungfür<br />
die gefallenen Vorkämpfer,<br />
zwecks Protestes wider die Niedermetzelung<br />
des Proletariats durch die Militärschergen der<br />
Bourgeoisrepublik. Was wir im Jahre 1906 in<br />
Frankreich sahen, war ein Streik für ökonomische<br />
Vorteile, die so manche, ideell noch wenig gereifte<br />
Arbeiter auch mitreissen konnten; nun aber handelte<br />
es sich zum ersten Mal darum, den Gradmesser<br />
seiner sozialistischen Durchbildung <strong>und</strong><br />
seines Solidaritätsgefühles zu bek<strong>und</strong>en.<br />
Erwies sich das Proletariat als geistig gereift<br />
<strong>und</strong> genügend entwickelt dazu? Ja, es legte eine<br />
erstmalige Kraftprobe von solcher Entschiedenheit<br />
ab, daß man von den schönsten Hoffnungen für die<br />
Zukunft erfüllt sein darf. Drei Tage nach den<br />
Mordszenen in Villeneuve stand das organisierte<br />
Pariser Proletariat im Generalstreik; man bedenke<br />
wohl: nur drei Tage Vorbereitung besaß es. Und<br />
es trat, ein leuchtendes Beispiel föderalistischer<br />
Initiative ablegend, trotz der Verhaftung sämtlicher<br />
Leiter seiner Presse, seiner Organisation, alle diese<br />
im Nu durch neue Kräfte ersetzend, in den Generalausstand<br />
ein.<br />
Selbst der Berliner „Vorwärts" muß sagen:<br />
„Sollte der Generalstreik nur die Trauer- <strong>und</strong><br />
Solidaritätsk<strong>und</strong>gebung der schon zum revolutionären<br />
Bewußtsein erwachten <strong>und</strong> dank ihrer<br />
Organisationen zu einer gewissen Bewegungsfreiheit<br />
gelangten Arbeiterschichten sein?<br />
D a n n d ü r f t e d a s P r o l e t a r i a t mit s e i n e m<br />
A u s f a l l l e i d l i c h z u f r i e d e n sein." Nun, der<br />
Generalstreik sollte selbstredend nichts anderes<br />
sein, denn daß das französische Proletariat schon<br />
heute zur Durchführung der sozialen Revolution<br />
noch nicht fähig ist, das ist diesen Klassenkämpen<br />
wohl bekannt. Im Gegenteil, wenn man bedenkt,<br />
daß dieser Generalstreik fast sporadisch <strong>und</strong> für<br />
einen solchen Zweck zum ersten Mal in Frankreich<br />
ausbrach, dann darf man diesen Generalstreik<br />
als einen wahren Triumph des revolutionären<br />
Tatenprinzips der französischen Gewerkschaftsbewegung<br />
betrachten.<br />
Nach der „Arbeiter-Zeitung" <strong>und</strong> Bourgeoispresse<br />
hat eigentlich niemand <strong>und</strong> nichts gestreikt;<br />
die Proklamation der Kameraden der Konföderation<br />
verhallte ungehört. Und doch ist es eine Tatsache,<br />
daß die französische Bourgeoispresse — vergl.<br />
Gaulois — die Ausstandsbewegung in einer Anzahl<br />
von 60.000—80.000 für Paris allein schätzt, daß die<br />
Erdarbeiter, Bauarbeiter <strong>und</strong> Maurer, Schiffsarbeiter<br />
<strong>und</strong> Dampfschiffahrtsarbeiter, die Holzarbeiter,<br />
Drucker, die Elektrizitätsarbeiter zum<br />
größten Teil sofort, oder rasch aufeinander an den<br />
Streik gingen, daß die Städte Amiens, Toulouse,<br />
Marseille, Nantes, Bourges, St. Etienne, Lens<br />
ebenfalls in den General- <strong>und</strong> Solidaritätsstreik<br />
traten. Ist alles dies nichts, sind wir hier in Österreich<br />
imstande, es zu leisten? Haben wir es auch<br />
nur versucht zu leisten, als in Graz die Arbeiter<br />
genau so behandelt wurden, wie die Kameraden<br />
von Vigneux? Und wieso ist denn die Konföderation<br />
der Arbeit so schwach, so machtlos, wenn die gesamte<br />
französische Bourgeoispresse nach Auflösung<br />
der Gewerkschaftsföderation schreit <strong>und</strong> zetert?<br />
Die Machtlosigkeit der französischen Sozialdemokraten<br />
will diese selbe Bourgeoisie nie aufgelöst<br />
sehen, warum eigentlich die „Konföderation", wenn<br />
dieselbe so ganz unfähig ist, gegen die Bourgeoisie<br />
anzukämpfen, wie es die Lügner der „Arbeiter-<br />
Zeitung" behaupteten?! Warum das riesige Militäraufgebot,<br />
wenn es nichts zu fürchten gab?<br />
Nur ein Beispiel dafür, wie die Herren fälschen,<br />
die Herren, die das österreichische Proletariat<br />
systematisch verblöden mit ihrem Parlaments-<br />
geschäft <strong>und</strong> dem Waschen ihrer politischen<br />
Schmutzwäsche. In ihrem Artikel über das „Experiment<br />
mit dem Generalstreik" erklärt die „Arbeiter-<br />
Zeitung" am 5. August freudestrahlend, daß auch<br />
die „Zeitungen" „in ihrer Mehrzahl erschienen sind".<br />
Dagegen teilt der „Vorwärts" .wieder unter demselben<br />
Datum mit, daß, wie es auch tatsächlich der<br />
Fall war, 13 Zeitungen nicht erscheinen konnten,<br />
hingegen an den paar „großen" Zeitungen, die erschienen,<br />
von den Arbeitern in auffälligster Weise<br />
Sabotage betrieben wurde, so daß sie äußerst<br />
fehlerhaft gedruckt waren <strong>und</strong> klaffende leere<br />
Spalten aufwiesen! Und derselbe „Vorwärts" muß<br />
trotz alles Zickzackkurses berichten: „Infolge der<br />
Propaganda des Allgemeinen Arbeiterverbandes<br />
ist der Aufruf zu Gunsten des allgemeinen<br />
Streiks von zahlreichen Arbeitern befolgt<br />
worden."<br />
Wir sind die letzten, die behaupten wollen<br />
oder werden, daß dieser Generalstreik den Höhepunkt<br />
eines Sieges darstellt. Wieso auch, ist er<br />
doch erst ein Anfang! Wie könnte er auch bei<br />
seiner ungenügenden Vorbereitung, bei seinem<br />
Überraschungsausbruch nach den Blutereignissen<br />
von Villeneuve! Auch wir wissen, daß das französische<br />
Proletariat noch viel zu vollenden hat, um<br />
seinen Endkampf siegreich durchführen zu können.<br />
Aber dies ist hier nicht die Frage. Was gebrandmarkt<br />
werden muß, das ist die rote Jesuitenart der<br />
Sozialdemokratie, aus einem heroischen Kampfe<br />
organisierter Arbeiter Frankreichs eine Niederlage<br />
zusammenzufälschen, bloß weil nicht alle Arbeiter<br />
streikten (als ob „alle" organisiert wären!); bloß<br />
weil man nicht schon die soziale Revolution glücklich<br />
durchzuführen vermochte (als ob es sich darum<br />
gehandelt hätte!); bloß weil es den Herren nicht<br />
bequemt, einzugestehen, daß diese Generalstreiksaktion<br />
des französischen Proletariats ein Symbol<br />
seiner Kraft <strong>und</strong> seines revolutionären Geistes ist.<br />
Gegenüber solch verlogenem, entstellendem, gemeinem<br />
Gebahren, da sei es schlankweg konstatiert:<br />
Mit Ausnahme des italienischen <strong>und</strong> russischen<br />
Proletariats — <strong>und</strong> dieses scheidet eigentlich<br />
aus der Betrachtung aus, da es sich bei ihm um<br />
eine Revolution handelte — gibt es in ganz Europa<br />
kein Proletariat, das einer solch heroischen<br />
Kampfesaktion fähig wäre, wie sie die<br />
französische Arbeiterklasse am 3. August<br />
durchgeführt hat, wie sie herbeigeführt wurde<br />
durch die ihr vorausgehenden Ereignisse proletarischen<br />
Klassenkampfes.<br />
Die sozialdemokratischen Parlamentsgeschäftsmänner<br />
— wo waren sie in Frankreich am<br />
3. August? Warum nahm man sie nicht fest, wohl<br />
aber die Gewerkschaftsleiter? Ein Glück liegt in<br />
all diesen tobenden Kampfesereignissen, <strong>und</strong> dies<br />
ist die positivste Aufklärung des Proletariats Uber<br />
den Kampfesweg, den es zu gehen hat, sie öffnen<br />
die Augen: in Frankreich ist die politische „Aktion"<br />
als Lockspeise für die Arbeiter töter als tot. Ein<br />
Land, das 50 sozialdemokratische Abgeordnete,<br />
über eine Million Wahlstimmen aufzuweisen<br />
hat, kann als einzigen Erfolg seiner Tätigkeit das<br />
aufweisen: zwei sozialdemokratische Parteihalunken<br />
— Briand <strong>und</strong> Viviani — im Verein mit einem<br />
„radikalen Sozialisten", Clemenceau (als solcher<br />
wurde dieser erwählt!) sind die Rädelsführer dieses<br />
Blutbades von Villeneuve. Das ist die einzige parlamentarische<br />
Krönung der politischen Aktion der<br />
französischen Sozialdemokratie! Und sie dürfen<br />
nicht einmal mehr losdonnern gegen dieses Ministerium,<br />
denn sonst erhebt sich Clemenceau in<br />
seiner ganzen Größe <strong>und</strong> donnert Jaures entgegen,<br />
wie er es bei früheren Arbeiterniedermetzeleien<br />
tat: „Was würden Sie an meiner Stelle tun?"<br />
Jaures blieb stets die Antwort schuldig.<br />
Wo wäre in Deutschland das Proletariat imstande,<br />
einen ähnlichen Kampf zu führen, wie ihn<br />
unsere Brüder in Frankreich soeben führten? Als<br />
im Frühjahr dieses Jahres eine harmlose Landtagswahlrechtsdemonstration<br />
in Berlin vor sich ging,<br />
wurde sie von der Polizei gesprengt, <strong>und</strong> viele der<br />
Beteiligten wurden verw<strong>und</strong>et <strong>und</strong> niedergeschlagen,<br />
obwohl sie nichts taten. Was geschah danach?<br />
Nichts, gar nichts, <strong>und</strong> die Worte eines Militärgewaltigen,<br />
daß für die deutschen Arbeiter das<br />
Militär nicht nötig sei, da genüge die große Feuerspritze,<br />
fand seine traurige Bestätigung in dieser<br />
machtlosen Lethargie.<br />
Und wir in Österreich? Gestehen wir es ein:<br />
Das österreichische Proletariat ist darauf eingedrillt<br />
worden, bei Wahlen zu stimmen <strong>und</strong> für parlamentarischen<br />
Unsinn seine Haut zu Markte zu tragen,
wie im November 1906, für ökonomische Klassenkampfziele,<br />
dort, wo es nicht die Unterstützung<br />
weiter Bourgeoiskreise findet, ist es noch nicht im<br />
entferntesten dazu im Stande, sich selbständig zu<br />
betätigen. Das österreichische Proletariat muß den<br />
sozial <strong>und</strong> proletarisch geführten Klassenkampf erst<br />
lernen, gegenwärtig muß es dazu erzogen <strong>und</strong> den<br />
politischen Parlamentsgeschäftsleuten tunlichst rasch<br />
entrissen werden.<br />
Es berührt geradezu komisch, wenn der Berliner<br />
„Vorwärts" — <strong>und</strong> von ihm druckt die „Arbeiterzeitung"<br />
ihre „Eigenberichte" ab — wenn<br />
beide Blatter der französischen Sozialdemokratie<br />
in direkt gelb-streikbrecherischer Weise anraten,<br />
jetzt, im Augenblicke des Kampfes, dem französischen<br />
Gewerkschsftsproletariat verräterisch in den Rücken<br />
zu fallen. Sehr leicht für die Herren in Deutschland<br />
<strong>und</strong> Österreich so zu reden. Jaures aber, der den<br />
wahren Sachverhalt kennt, weiß, daß er mit solchem<br />
Tun seine ohnedies im Proletariate ausgespielte<br />
Partei einfach meucheln würde. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e<br />
muß er, dem dies genug bitter ist, gute Miene zum<br />
unangenehmen Spiel machen. Und nun hören wir,<br />
wie er in seinem Blatt „Menschheit" am 5. August<br />
über die „Konföderation der Arbeit" schreibt, eine<br />
Äußerung, die die „Arbeiterzeitung" natürlich auch<br />
nicht brachte, denn sie züchtigt nicht zuletzt auch<br />
ihre Redakteure:<br />
„Eben so wenig wie man das Proletariat in<br />
seiner allgemeinen Organisation treffen kann, wird<br />
man den revolutionären Syndikalismus treffen oder<br />
in seinem Kern zerstören können, da's heißt das<br />
Streben nach dem vollständigen sozialistischen Endziel<br />
durch ihn, das von nun an die gewerkschaftliche<br />
Bewegung beseelt. Was den revolutionären<br />
Syndikalismus eigentlich charakterisiert, ist<br />
nicht die Anwendung dieser oder jener Mittel:<br />
es ist die dem Proletariat vermittelte Idee, daß<br />
jeder Versuch einer teilweisen Befreiung seinen<br />
Wert von der vollständigen, vollendeten Tat empfängt;<br />
es ist der Entschluß, die bürgerliche Gesellschaft<br />
endlich zu zwingen, vor der Macht der<br />
stufenweise entwickelten Lohnarbeiterscliaft zu kapitulieren;<br />
es ist die Überzeugung, daß endlich<br />
der T a g kommen wird, wo die Macht der kollektiven,<br />
gemeinsamen Arbeitsverweigerung dazu<br />
beitragen wird, durch die kombinierte Wirkung der<br />
gewerkschaftlichen <strong>und</strong> politischen Aktion jenen<br />
letzten entscheidenden Augenblick einer langen<br />
Arbeit herbeizuführen, wo sich die Evolution in der<br />
Revolution vollendet. Es ist die Ehre dieser so<br />
viel verleumdeten <strong>und</strong> verfolgten Arbeitskonföderation,<br />
diesen Geist verbreitet, diese Denkweise<br />
in die gewerkschaftliche Arbeit getragen zu<br />
haben. Frivol sind diejenigen, die, getäuscht durch<br />
vorübergehende <strong>und</strong> unvermeidliche taktische Irrtümer,<br />
durch vorübergehende Schlappen <strong>und</strong> unvermeidliche<br />
Unsicherheiten, nicht die allgemeine<br />
Größe dieses Werkes sehen, seine Fruchtbarkeit<br />
nicht begreifen."<br />
Wir wissen, daß die Kirche, wenn sie die Unüberwindlichkeit<br />
der Revolution einsah, sich dann<br />
rasch auf die Seite der Revolution stellte, <strong>und</strong> wir<br />
wissen es auch, weshalb Jaures, der früher ein erbitterter<br />
Gegner der Konföderation war, sich nun<br />
in sein Schicksal fügen, nun der Wahrheit die Ehre<br />
geben muß. Doch man verfehle nicht, die Sprache<br />
<strong>und</strong> das Urteil eines Jaures über die Konföderation<br />
<strong>und</strong> ihre Leistungen, die Sprache eines sich anschmiegenden<br />
Politikers, mit jenen verlogenen Lügenredensarten<br />
zu vergleichen, die die parlamentarischen<br />
Maulwurfsfänger der „Arbeiterzeitung" bei<br />
uns in Österreich über diesen Gegenstand verzapft<br />
haben! Wer spricht nun die Wahrheit von diesen<br />
Sozialdemokraten: der Franzose Jaures oder die<br />
österreichischen Parlamentsstreber <strong>und</strong> ihre literarischen<br />
Quatschergüsse, die Wochen lang das ödeste<br />
Zeug über den türkischen Schwindelrummel vorbrachten,<br />
über den Heldenkampf des französischen<br />
Proletariats jedoch nur im Telegraphenstil berichten<br />
<strong>und</strong> dann die Jauche ihrer Verleumdung darüber<br />
gießen; wer spricht die Wahrheit von den beiden<br />
„Parteigenossen" ?<br />
Jaures sagt aber noch mehr, was ebenfalls<br />
die Macher der „Arbeiterzeitung" Lügen straft: „Sie<br />
(die Tage des Kampfes) haben, trotz alledem, die<br />
Machthaber gewarnt, daß sie sich nicht ohne<br />
Gefahr noch einmal auf den <strong>Weg</strong> des Blutvergießens<br />
begeben können. Sie haben bei den<br />
Organisationen, die bis jetzt die abgeschlossensten<br />
<strong>und</strong> engherzigsten schienen, wie bei den Buchdruckern,<br />
einen Geist der proletarischen Gemeinschaft<br />
<strong>und</strong> des gemeinsamen Kampfes enthüllt, der die<br />
Herrschenden zum Nachdenken bringen wird."<br />
Und da schwätzt man noch von einer „verlorenen<br />
Aktion"?! Wo in aller Welt ist bei dem<br />
heutigen Stande des proletarischen Kampfes mehr<br />
erzielt worden ? In allen sozialdemokratisch verseuchten<br />
Ländern wird nichts, gar nichts erzielt,<br />
<strong>und</strong> wäre eine solche Pression auf die Herrschenden<br />
ja förmlich gleichbedeutend mit einer Revolution.<br />
Und dennoch wagen es diese armseligen Geisterlein,<br />
das gigantische Tatengefühl des französischen Proletariats<br />
zu höhnen, zu schmähen <strong>und</strong> seinen durch<br />
Opfer <strong>und</strong> Heldenmut erkämpften ersten Vorstoß<br />
auf der Bahn der sozialen Revolution zu verkleinern.<br />
Diese erbärmlichen Bourgeois <strong>und</strong> Bourgeois der<br />
Arbeiterbewegung <strong>und</strong> Bourgeoiswerkzeuge der<br />
Herrschenden!<br />
Um nichts Geringeres, als was unser Titel<br />
besagt, handelt es sich gegenwärtig in Frankreich.<br />
Das französische Proletariat schreitet mit Riesenschritten<br />
seiner sozialen Revolution entgegen. Es<br />
tut bitter weh, die Opfer fallen zu sehen, die die<br />
Befreiung der Arbeiterklasse kostet. Aber nicht an<br />
unseren Fingern klebt das Blut der gefallenen Brüder,<br />
es klebt an den Fingern der Herrschenden <strong>und</strong><br />
ihrer Trabanten. Um frei zu werden, dazu bedarf<br />
es des sozialen Ringens für die Arbeiterklasse<br />
ohne Opfer an Leben, an Glück, an Genuß wird<br />
diese Freiheit niemals kommen, <strong>und</strong> deshalb sind<br />
die Kameraden, die Gefallenen, für eine so große,<br />
erhabene Sache der Menschheit gefallen, daß sie<br />
in dem Fortschritte dieser Idee ein weit herrlicheres<br />
Auferstehen finden, als es ihnen im Leben der<br />
knechtenden Lohnsklaverei vergönnt gewesen wäre.<br />
Vorsignale der sozialen Revolution - sie<br />
ertönen in Frankreich! Wir werden ihrer noch<br />
viele vernehmen; glücklich können wir sein, wenn<br />
wir stets im Stande sein sollten, solch markante<br />
Vorstöße zu berichten, wie diesmal, zum ersten<br />
Mal. Doch das französische Proletariat stählt sich<br />
im sozialrevolutionären Ringen, es weiß auch Niederlagen<br />
zu ertragen, es überwindet sie durch die erneute,<br />
verdoppelte Wiederaufraffung seiner Stoßkraft.<br />
So ist es auch diesmal. Uns aber geziemt es nicht,<br />
entblößten Hauptes dabei zu stehen <strong>und</strong> als bew<strong>und</strong>ernde<br />
Zuschauer dem Heldenkampfe einer<br />
nach Freiheit ringenden Klasse beizuwohnen; nein,<br />
für uns muß es lauten als Losung: Nachahmen<br />
die prächtige Kampfesorganisation der französischen<br />
Proletarier, nacheifern in der Erziehung<br />
zur Kampfestüchtigkeit! Das ist unsere<br />
Lehre aus dem „Experiment des französischen Generalstreiks",<br />
in dieser Weise tönt unser Echo den<br />
kämpfenden französischen Proletariern zurück, die<br />
uns ein heldenmütiges Vorsignal der sozialen Revolution<br />
in Frankreich gegeben haben!<br />
Österreich.<br />
Konfisziert wurde die Nummer 15 des „W. f. A."<br />
* An interessanten Versammlungen haben wir<br />
zu registrieren eine sehr wichtige <strong>und</strong> vorzüglich<br />
besuchte Versammlung der G i e ß e r a r b e i t e r im<br />
X. Bezirk, die von ihrer Verbandsleitung während<br />
eines Streiks so außerordentlich schofel behandelt<br />
wurden, daß ihnen nun die Theorie des Zentralismus<br />
durch seine egoistisch-gemeine Praxis aufs<br />
Beste illustriert wurde. Die Ausführungen des Gen.<br />
Ramus über „Die P r i n z i p i e n der modernen<br />
G e w e r k s c h a f t s t a k t i k " fanden begeisterten Beifall,<br />
<strong>und</strong> die anwesenden Verbandsvorstände hatten<br />
förmlich ausgespielt. Die Versammlung dauerte<br />
5 St<strong>und</strong>en!<br />
* Eine, zum ersten Mal im 11. Bezirk stattgehabte,<br />
Versammlung, in der Gen. Ramus über<br />
„ S o z i a l d e m o k r a t i e o d e r A n a r c h i s m u s "<br />
sprach, zog ein vornehmlich aus sozialdemokratischen<br />
Jugendlichen bestehendes Publikum. Auch<br />
mit dem Erfolg dieser Versammlung dürfen wir<br />
zufrieden sein!<br />
* Einen mehr theoretisch-ethischen Vortrag,<br />
das traurige Sensationsgebiet der Marcell Veithaffaire<br />
streifend, hielt der Gen. Ramus im XIV. Bezirk.<br />
Thema: „Herrschaftliche <strong>und</strong> bürgerliche Moral".<br />
* Am letzten Dienstag sprach der Kamerad<br />
M. Lickier vor ziemlich gutem Besuch über das<br />
treffend <strong>und</strong> gründlich von ihm behandelte Thema:<br />
„Romanische oder germanische Taktik?" An Hand<br />
der Riesenaussperrung der Stettiner „Vulkan"arbeiter<br />
bewies er die „Erfolge" der germanischen<br />
Gewerkschaftstaktik.<br />
* Am Abend vorher hatten uns die Sozialdemokraten<br />
des X. Bezirkes ein schon seit einer<br />
Woche gemietetes Lokal a b g e t r i e b e n ; im letzten<br />
Augenblick fand man ein neues. Trotz alledem —<br />
es hatten sich an 120 Arbeiter eingef<strong>und</strong>en, die mit<br />
sichtlichem Interesse den Ausführungen des Gen.<br />
Ramus über „Zentralismus oder Föderalismus"<br />
folgten.<br />
* Eine große Massenversammlung fand am<br />
Donnerstag im XII. Bezirk statt. Gen. Ramus referierte<br />
über „Die Wahrheit über den französischen<br />
Generalstreik". Über den Verlauf dieser bemerkenswerten<br />
Versammlung berichten wir in nächster<br />
Nummer.<br />
* Im Wiener „Holzarbeiter" vom 7. August<br />
leistet sich die Redaktion an gebührend erster<br />
Stelle einen Artikel über „Anarchistische Gewerkschaftspraxis",<br />
die sich auch in Wien einbürgern<br />
möchte, da sich „eine Bewegung bemerkbar macht,<br />
welche darauf hinausläuft, anarchistische Tendenzen<br />
in der Arbeiterschaft zu verbreiten".<br />
Wir registrieren mit freudiger Genugtuung<br />
diese bescheidene Anerkennung unserer Aktivität;<br />
auch die sonstigen drolligen Redensarten von den<br />
„gewissenlosen Strebern", über die Anarchisten,<br />
„bei denen ein Unterschied zwischen ehrlich <strong>und</strong><br />
unehrlich überhaupt nicht existiert" u. dgl. m.,<br />
nehmen wir mit gutem Humor entgegen, da sie ja<br />
ein gut bezahlter, in behäbig-gesicherter Position<br />
sich befindlicher Angestellter schreibt, der sich<br />
durch dieses Spiegelbild allein schon selbst <strong>und</strong><br />
genugsam ohrfeigt.<br />
Aber wahrlich: es ist ein geistiger Riese, der<br />
die Redaktion des „Holzarbeiter" leitet. Was sind<br />
seine gewaltigen Argumente gegen die Anarchisten<br />
<strong>und</strong> deren Gewerkschaftspraxis? Dieselben sind<br />
allerdings vernichtend; man höre <strong>und</strong> staune ob<br />
dieser gutgespielten Entrüstung, die einmal übers<br />
andere Mal den Klassenkampf <strong>und</strong> Sozialismus mit<br />
Füßen tritt, wenn es das „ruhige Auskommen" <strong>und</strong><br />
die „schwere Gegenwartsarbeit" — die für die<br />
Verbandsangestellten wahrlich leichter ist, als in<br />
der Fabrik zu arbeiten — gilt.<br />
Es gelang der Pariser Tischlergewerkschaft<br />
die Abschaffung des Sch<strong>und</strong>möbelmarktes. Nicht<br />
übel, sollte man meinen. Unsinn, sagt der Holzarbeiter,<br />
denn „es hat sich herausgestellt, daß die<br />
Möbelhändler dahinter standen, die auch . . . den<br />
ganzen Profit dieser direkten Aktion eingeheimst<br />
haben." Oanz abgesehen davon, daß dies eine<br />
grauenhafte Unwissenheit offenbart, da ja die<br />
Möbelliändler dadurch mehr fabrizieren lassen<br />
müssen — aber ist es denn in Österreich nicht<br />
auch so, daß z. B., hinter der Siebenuhrsperre der<br />
Handelsangestellten die Großwarenhäuser stehen?<br />
Freilich könnte es nur einem Esel einfallen, den<br />
Handlungsangestellten daraus einen Vorwurf zu<br />
machen, daß sie die Konkurrenzmächte des Kapitals<br />
gegen einander ausspielen <strong>und</strong> dabei durch direkte<br />
Aktion nicht durch Parlamenteln — sich eine<br />
menschenwürdigere Arbeitszeit erkämpfen. Anders<br />
ist überhaupt keinerlei Kleinreform im Gegenwartsstaat<br />
zu erkämpfen.<br />
Ein zweites Verbrechen: die französische Gewerkschaft<br />
weigerte sich, einen „permanenten Verbandssekretär"<br />
anzustellen. Das ist freilich schon<br />
kein Vergehen mehr, sondern ein Verbrechen, denn<br />
wo kämen denn die Herren Verbandssekretäre hin,<br />
wenn alle Gewerkschaften "beschließen würden, sie<br />
wollten ihre internen Angelegenheiten selbst, individuell<br />
abwechslungsweise nach der Arbeitsfrohn<br />
des Tages verrichten. Lassen wir dies, das wäre<br />
greulich — für die Bürokratie der Verbandssekretare.<br />
Und nun das dritte Verbrechen! Christlichsoziale,<br />
ihr seid übertrumpft an reaktionärer Verfinsterung<br />
des Geistes durch die Beelzebuben-<br />
Anarchisten des französischen Tischlersyndikats.<br />
Man schaudere: Bestellt da „die Klique" — so<br />
nennt der „Holzarbeiter" das Agitationskomitee der<br />
französischen Kameraden, das, beiläufig gesagt,<br />
seine gewerkschaftliche Arbeit ganz unbezahlt leistet<br />
— eine ganze Anzahl a n a r c h i s t i s c h e r Broschüren<br />
<strong>und</strong> wagt es, dieselben als Gratisbeilage des Fachorganes<br />
an alle Mitglieder der Gewerkschaft zu<br />
senden!!! Welcher Bösewicht kann es sich vorstellen,<br />
daß eine österreichische „Klique" dem Fachorgan<br />
eine sozialistische Agitationsbroschüre beilegen .<br />
wird? Wir schlagen schuldbewußt die Augen nieder,<br />
denn dazu sind die österreichischen Arbeiter viel<br />
zu aufgeklärt, die brauchen so etwas nicht mehr,<br />
für sie genügt eine Beitragskarte <strong>und</strong> ein Stimmzettel.<br />
Sind wir zu Ende? Ja, wir haben die Verbrechen<br />
der französischen Gewerkschaft vollzählig<br />
angeführt. <strong>Unser</strong>e Haare stehen zu Berge ob des<br />
Scharfsinnes dieser Redaktionsstaatsanwaltschaft<br />
des „Holzarbeiter", denn nun ist der französische<br />
Syndikalismus, Generalstreik, die direkte Aktion tot,<br />
mausetot. Nur schade, daß die meisten französischen<br />
Arbeiter den Weisheitserguß des „Holzarbeiters"<br />
nicht lesen können. Sie würden nämlich nach den<br />
welterschütternden Leistungen des österreichischen<br />
Bruderverbandes fragen; wären begierig, deren<br />
praktische Erfolge kennen zu lernen, von dem<br />
„Geiste" des „Holzarbeiters", der diese Arbeiter<br />
inspiriert, naschen zu dürfen.<br />
Wie enttäuscht wären sie, wenn sie, vorausgesetzt,<br />
daß sie der deutschen Sprache mächtig<br />
wären, lernen müßten, daß der „österreichische<br />
Erfolg" darin besteht, schon jetzt geduldig der<br />
H e r b s t a u s s p e r r u n g entgegenzusehen, die eine<br />
Monate lang währende „Streikperiode" bringt, nach<br />
deren Ablauf die Arbeiter einen s o l c h e n „Sieg"<br />
errungen haben, um über 3 Jahre arbeiten zu müssen,<br />
damit nur erst der materielle Streikverlust wieder<br />
eingebracht wäre!<br />
Achtung!<br />
letzter St<strong>und</strong>e erfahren wir<br />
von der willkürlichen Auflösung<br />
der tschechischen Föderation revolutionärer Gewerkschaftsorganisationen<br />
in Prag. Wir werden darüber<br />
in nächster Nummer ausführlich berichten.<br />
Q u i t t u n g<br />
vom 10. Juni bis 24. Juli 1908.<br />
Machendorf J. Nr. 7 K 5.20, Schach. Sammelliste<br />
25.53, Welan 9.22, Mai 14.82, Svidra Preßfond<br />
-.40, Künwald 7.80, Sammelliste Nr. 35 2.10,<br />
Sammelliste Nr. 33 5.20, A. S. b. Mörger -.25,<br />
Sammelliste Preßfond Nq. 3.40, Sammelliste Agitation.<br />
Nq. 6.30, Lorenz Preßfond 4.—, Canada<br />
Preßfond 1.90, Schach. Preßfond —.72, G. Schumacher<br />
Preßfond —.40, Jemata March. Agitation<br />
4.05, Pachta 6.—, Linz 15.—, Ratz 6.—, Pachta<br />
2 . - , Haubner 2.40, Pachta 9.20, Lorenz 1.40, Schlor<br />
6.—, W. Rosenkranz 9.70, Graz Fretz 5.—, Chicago<br />
Apel. 5.—, Woit. Brasilien 30.—, Welan 9.—, Hajek<br />
5 . - , Wejd. 11.—, Horac. 3.—, Nawrat. 3 . - , Kuban<br />
8.50, Heit. - . 8 0 , Rapp. 2.—, Peklo 2.—, Hübl 1.40,<br />
Kubes" —.50, Ratz. 6.10, Eichig, 1 . - , Lando 1.20,<br />
Tischler 1.—, Budolsti 2 . - , Sch. Böhmen 7.30, Ni.<br />
Berlin 10.—, Gr. Galizien 2.40, Mo. Steierm. 4.30,<br />
J. Ma. 3.90, Gelb. Wien 2.40, Wa. Wien 1-20, Ku.<br />
Wien —.50, Mi. München 1.20, Ku. 7.—, Erh. Vevey<br />
1.66, Sch. Schatziar 1.20, Platzer Wisc. 6.13, Gra.<br />
Dresden 1.10, Ung. Bremerhafen 1.90, Wo. 6-40,<br />
Mik. Kopenhagen 4.—, Mo. 10.— Noc. 3.40, N.<br />
Berlin 9.20, Ha. Bie. 1.20, St. Neu. 1.20, Sch. 7.33<br />
Wini. Zürich 2.50, Ja. 3.80, Sch. Leipzig 3.51, Barth.<br />
Brüssel 4.72, Kö. Wien - . 6 0<br />
Preßfond. Wini. Zürich K 2.50, Sch. Sam.-Li.<br />
Nr. 4 10.30, Dr. Fr. Ascona 28.56, Bue. Sam.-Li.<br />
Nr. 10 1.30, Sw. 1.20, Cer. - . 7 6 , Na. Sam.-Li,<br />
Nr. 32 3.60.<br />
Agitationsfond. Sch. Liste Nr. 4 4.60, Bue.<br />
Liste Nr. 10 570.
Sturmgedichte <strong>und</strong> Melodien des inter-<br />
nationalen Freiheitskampfes.<br />
Nachfolgende Anthologie soll einen<br />
kleinen Ersatz bilden für ein revolutionäres<br />
Liederbuch, dessen wir Deutsche unbedingt<br />
bedürfen. Ist doch der Deutsche ein<br />
sangesfroher Mensch, <strong>und</strong> klingt uns<br />
Österreichern manch frohes Lied ins Ohr,<br />
das wir in früheren Jahren mit Begeisterung<br />
gesungen, das uns aber heute nicht mehr<br />
genügt oder zu wenig im Einklang ist mit<br />
unserer revolutionären Gefühlsleidenschaft<br />
<strong>und</strong> freien Weltanschauung. Und ein Lied<br />
hat nur dann einen echten Wert, wenn<br />
der Singende oder deklamatorisch Vortragende<br />
ganz von ihm beseelt ist, wenn<br />
jedes Wort, jeder Ton all dasjenige in ihm<br />
auslösen, was sonst gebannt bleibt von der<br />
Prosa des Alltags oder im Innern niemals<br />
erklingen kann — wenn es nicht eben geweckt<br />
wird durch die Begeisterung, die<br />
besser als durch alles andere von einem<br />
gehaltvollen, erhebenden Liede geschürt<br />
werden kann.<br />
Einige der folgenden Lieder sind bekannt<br />
<strong>und</strong> entstammen der Feder anarchistischer<br />
Dichter; andere wieder <strong>und</strong> besonders<br />
die aus dem Russischen übertragenen<br />
Gesänge haben das revolutionäre<br />
Volk, den großen Genius der Namenlosen,<br />
zum Verfasser. Für uns sind diese letzteren<br />
besonders wertvoll, denn es sind nicht<br />
nur vorzügliche, sondern vor allem e r s t -<br />
m a l i g e Übersetzungen. Sie lassen einen<br />
Chor von Gefühlen in uns ertönen, der<br />
EINLEITUNG.<br />
in seltsam verwandter Beziehung zur<br />
großen russischen Revolution steht <strong>und</strong><br />
ihre unterirdischen Tendenzen, ihr wahres<br />
<strong>Ziel</strong> uns vorführt. Was wir hier begonnen<br />
haben, das wollen wir unperiodisch fortsetzen:<br />
Diese erste Anthologie von revolutionären<br />
Gedichten <strong>und</strong> der Revolutionslieder<br />
Rußlands in »Ohne Herrschaft« soll<br />
nicht die letzte sein; Lieder aus dem<br />
Französischen, Italienischen, Spanischen.<br />
Holländischen werden ihr folgen, bis jene<br />
ganze Sammlung von Rebellenklängen vorliegt,<br />
die wir brauchen <strong>und</strong> die auf der<br />
Marschroute des kämpfenden Proletariats<br />
erklingen müssen, um seinen Edeldrang<br />
nach Freiheit <strong>und</strong> Gleichheit wach zu erhalten.<br />
Wir singen viel zu wenig! Und die<br />
Lieder, die gewöhnlich dem Proletariat<br />
geboten werden, huldigen allem anderen,<br />
als den großen <strong>Ziel</strong>en der Sprengung<br />
a l l e r s o z i a l e n F e s s e l n . Vielleicht ist<br />
es nur der anarchistischen Poesie gegeben,<br />
so ganz <strong>und</strong> vollkommen die Tendenz des<br />
sozialen Kampfesideals mit der Wahrheit<br />
jeder echten Kunst zu vermählen <strong>und</strong> dadurch<br />
all d a s zu sagen, was gefühlt wird<br />
<strong>und</strong> »was ist«. Möge denn diese Anthologie<br />
trotzig-kühner, begeisterungsfroher,<br />
tiefinnerlich aufwühlender <strong>und</strong> des Herzens<br />
ganzen Schmerz ausströmender Lieder des<br />
Elends, Lieder der kommenden internationalen<br />
Revolution, wie sie die Völker
Der Zukunft heiliges Gut — —<br />
Sein Rot glänzt, wo nur Menschen wohnen,<br />
[:Denn an ihm klebt Arbeiterblut!:]<br />
Wohl strecken sie nach uns die Hände,<br />
Die uns versenkt in Not <strong>und</strong> Nacht.<br />
Wir aber schleudern unsre Brände,<br />
[:Die gestern noch der Feind verlacht.:]<br />
Nun zum Kampf . . .<br />
Die alte Ordnung stürzt in Trümmer —<br />
In ihrem Tode leben wir!<br />
Gemeinsam schaffen wir für immer,<br />
[:Was unser <strong>Ziel</strong> war für <strong>und</strong> für.:]<br />
Nun zum Kampf . . .<br />
Drum Brüder, schließet euch zusammen!<br />
Nur ein Gedanke füllt die Brust.<br />
Das Schlechte muß in Trümmer fallen,<br />
[:Und ewig lebt des Guten Lust.:]<br />
Nun zum Kampf . . .<br />
Nun Tod den Herren, Tod den Knechten,<br />
Und Tod der alten schuft'gen Welt!<br />
Ein neues Leben gilt's errechten,<br />
[:Das uns die alten Träume hält.:]<br />
Nun zum Kampf . . .<br />
Nach dem Polnischen von Matislaw Gordij.<br />
Ihr Testament.<br />
Melodie: Hymne der Narodnaja Wolja.<br />
Brüder, gedenket der Toten,<br />
Die atmend die Sonne nicht seh'n.<br />
Denen die Sprache verboten,<br />
Lautlos die Jahre vergeh'n.<br />
Klirren begleitet die Schritte,<br />
Eisen vergittert das Licht . . .<br />
Brüder in Werkstatt <strong>und</strong> Hütte,<br />
[:Brüder, vergeßt ihrer nicht!:]<br />
Freut euch das Blühen der Bäume,<br />
Zaubert der Lenz seine Pracht —<br />
Ihre Gefährten sind Träume,<br />
Träume bei Tage <strong>und</strong> Nacht.<br />
Klirrend schlägt Ihnen die St<strong>und</strong>e,<br />
Dämmerung heißt ihnen Licht:<br />
Träumend erwarten sie K<strong>und</strong>e I . . .<br />
[:Brüder, vergeßt ihrer nicht.:]<br />
Das ist ihr Traum: unsre Ketten<br />
Schmiedete Arbeiterhand.<br />
Sie, die die Welt will erretten,<br />
Baut unsres Grabes Gewand,<br />
Gießt unserem Feinde die Waffe,<br />
Bannt uns von Wärme <strong>und</strong> Licht -<br />
Mutlose, Feige nur, Schlaffe . . .<br />
[:Brüder, vergeßt ihrer nicht!:]<br />
Das ist ihr Traum: unsere Ketten<br />
Bricht freie Arbeiterhand.<br />
Sie, die die Welt will erretten<br />
Bricht unsres Grabes Gewand,<br />
Nimmt sich <strong>und</strong> gibt uns die Waffe,<br />
Holt uns zu Wärme <strong>und</strong> Licht<br />
Hell tönt die Freiheit ihc Schaffe!. .<br />
[:Briider, vergeßt ihrer nicht!:]<br />
Brüder, euch rufen die Toten,<br />
Denen das Grab ihr gebaut.<br />
Ihr, der Tyrannen Heloten,<br />
Brüder: euch rufet die Braut.<br />
F r e i h e i t will euch sich vermählen,<br />
Führt euch zu ewigem Licht,<br />
Endet das Martern, das Quälen — —<br />
[:Brüder, vergeßt ihrer nicht I:]<br />
Sodomn.<br />
Das Arbeiter-Lied.<br />
Melodie: Russische Arbeiter-Hymne.<br />
Fre<strong>und</strong>e, Genossen im Kampfe,<br />
Gestärkt durch zerstörende Lust —<br />
LEingang zum Reiche der Freiheit<br />
Bricht uns die stürmende Brust.:]<br />
Kinder des Volkes wir Alle,<br />
Geboren im Arbeiterheim.<br />
[:<strong>Unser</strong>es Kampfes Devise —<br />
Freiheit <strong>und</strong> Bruderverein.:]<br />
Vorwärts zur Schlacht <strong>und</strong> zum Siege<br />
Für Freiheit <strong>und</strong> Arbeit <strong>und</strong> Brot.<br />
[:Siegesgewiß jetzt zum Kampfe<br />
Gegen die schmachvolle Not.:]<br />
Zum Handeln die Zeit ist gekommen,<br />
Das Arbeitervolk ist erwacht —<br />
LSollt' unsre Kühnheit wohl fürchten<br />
Der Zaren gespenstige Macht?:]<br />
Worauf ihre Throne sich stützen,<br />
Ist Arbeit von Arbeiterhand.<br />
[:Jetzt laden wir selbst die Patronen<br />
Und nehmen die Flinte zur Hand.:]<br />
{ etzt rühren wir selber die Trommel<br />
Jnd blasen so lange zum Tanz,<br />
LBis daß wir für ewige Zeiten<br />
Die Fahne der Arbeit gepflanzt! —:]<br />
Nach dem Russischen von Matislaw Gordij.<br />
Die Bleichen.<br />
Melodie: Nekrassows „Am Paradeaufgang".<br />
Lirow gewidmet.<br />
Sagt, was lauscht ihr den Wassern der Meere,<br />
Sagt, was raunt euch das Beben der Nacht?<br />
Denkt ihr d'ran, wie die Welten euch glühten,<br />
[:Als die Fesseln der Stumpfheit Ihr bracht?:]<br />
Als der Freiheit Idol euch gerufen,<br />
Als die Menschheit ihr Werben gelacht.<br />
Nach der Hand ihr der Brüder gegriffen —<br />
[:Als die Herzen der Mütter ihr bracht?:]<br />
Sagt, was bleicht euch die glühenden Stirnen,<br />
Und was würgt euch das stickende Herz?<br />
Daß die Brüder in Ketten verkrümmen,<br />
[:Daß der Reif fraß die Blüten des März?:]<br />
Rauscht das Wellen der ewigen Meere,<br />
Der Geopferten Schwanengesang?<br />
Trägt der Wind die gemarterten Seelen,<br />
[:Denen sieglos ihr Träumen verklang?:]<br />
„Die im Kampf für die Träume gefallen,<br />
Haben göttlich gelebt <strong>und</strong> gelacht.<br />
Daß die Lebenden sklavisch erwachen,<br />
[:Künden Winde <strong>und</strong> Wellen <strong>und</strong> Nacht:]"<br />
Sämtliche der vorliegenden Übersetzungen der<br />
russischen Gedichte sind von unserem geliebten Kampfgenossen<br />
Sodoma verfaßt worden.
in ihren besonderen Eigenheiten fühlen<br />
<strong>und</strong> erstreben, mögen diese sozialen<br />
Melodien ihren <strong>Weg</strong> finden in die Hütten<br />
der Armen <strong>und</strong> Bedrückten, der Kampfesfrohen<br />
<strong>und</strong> zukunftahnenden Menschen.<br />
Wir alle, die wir sie singen werden, werden<br />
uns durch sie mehr eins <strong>und</strong> innig<br />
Fackel-Träger.<br />
Sie wandern durch die Nacht. Ihr Fuß, er ruht<br />
Und rastet nicht. Ob Nachtigallen singen,<br />
Ob Schneesturm-Lieder durch die Straßen klingen,<br />
Stets bleibt sich gleich ihr tapfrer Wandermut.<br />
Sie tragen schwere Fackeln. Helle Glut<br />
Und süße Wärme allem Volk zu bringen:<br />
Den Zweifelnden, die nach der Wahrheit ringen,<br />
Den Hoffenden, der ärmsten Bettler-Brut.<br />
Die Fackel der Erkenntnis tragen sie.<br />
Das Schwert des Wahns wird gegen sie geschwungen,<br />
Indeß sie klagen <strong>und</strong> verzweifeln nie.<br />
Sie sinken endlich hin, todmüde Streiter,<br />
Nach hartem Kampfe in den Staub gezwungen,<br />
Doch ihre Fackeln tragen andre weiter.<br />
Mariin Drescher.<br />
Anarchie.<br />
Immer geschmäht, verflucht — verstanden nie,<br />
Bist du das Schreckbild dieser Zeit geworden.<br />
Auflösung aller Ordnung — riefen sie —<br />
Seist du, <strong>und</strong> Kampf <strong>und</strong> immerwährend Morden— —<br />
O laß sie schrei'n! Denen, die nie gesucht,<br />
Die W a h r h e i t hinter einem Wort zu finden,<br />
Ist auch des Wortes rechter Sinn verwehrt;<br />
Sie werden Blinde bleiben unter Blinden.<br />
Du aber, Wort, so klar, so stark, so rein,<br />
Das alles sagt, wonach ich ruhelos trachte:<br />
Ich gebe dich der Zukunft! Sie ist dein,<br />
Wenn j e d e r e n d l i c h zu sich s e l b s t e r w a c h t e .<br />
Kommt sie im Sonnenblick, im Sturmgebrüll?<br />
— Ich weiß es nicht, doch — sie erscheint auf Erden!<br />
Ich bin ein Anarchist! — Warum? — Ich will<br />
Nicht herrschen, aber auch beherrscht nicht werden.<br />
John Henry Maskay.<br />
Die I n t e r n a t i o n a l e .<br />
Nun auf, wer Elend trägt <strong>und</strong> Knechtung,<br />
Nun auf, wer Hunger fühlt <strong>und</strong> Spott!<br />
Jetzt gilt's, zu zahlen unsere Rechnung<br />
An Tyrannis, Staat <strong>und</strong> Gott.<br />
Nutzlos ist das Klagen, das Gewimmer !<br />
Arbeitsbrüder, nun zu Häuf!<br />
Das Alte schlagen wir in Trümmer<br />
Und bauen neue Welten drauf.<br />
[:Laßt flammen Fackeln, Fanale,<br />
Zum letzten Kampfe schließt die Reih'n!<br />
L'Internationale<br />
Soll unser Schlachtruf sein!:]<br />
verb<strong>und</strong>en wissen mit denen, die sie uns<br />
gegeben: d e n i n t e r n a t i o n a l e n<br />
S ä n g e r n d e r A n a r c h i e , d e n B a h n -<br />
b r e c h e r n d e r F r e i h e i t u n d d e n<br />
n o c h i m T o d e k ü h n u n d hoffn<br />
u n g s f r e u d i g e i n K a m p f e s l i e d<br />
a n s t i m m e n d e n P i o n i e r e n !<br />
Nicht fern, nicht jenseits der Vogesen<br />
Findst du den Räuber deines Rechts:<br />
Der dir die Bibel gab zum Lesen,<br />
Er gab dir auch das Recht des Knechts.<br />
Er ließ dich an die Tretmaschine schließen<br />
Und nahm dir Willen, Kraft <strong>und</strong> Mut,<br />
Fr hieß dich auf die Brüder schießen<br />
Und fand sein Glück in deinem Blut.<br />
[:Laßt flammen . . .:]<br />
Ein Narr, der mit dem Gegner rechtet.<br />
Erschachern läßt sich Freiheit nicht!<br />
Die Hand dem Schuft, der uns geknechtet?<br />
Die Faust wohlan — doch ins Gesicht!<br />
Wir pfeifen aufs Geschwätz in Parlamenten,<br />
Wo Despotismus wird legal<br />
Und mit papiernen Dokumenten<br />
Man spottet jeder Not <strong>und</strong> Qual.<br />
[:Laßt flammen . . .:]<br />
Ihr wurdet lang genug gehämmert —<br />
Nehmt jetzt den Hammer in die Hand<br />
Und schwört: die neue Sonne dämmert<br />
Dem neuen, freien Vaterland.<br />
Wo keine órente freie Menschen scheidet,<br />
Wo keine Knechtschaft Brüder trennt,<br />
Wo niemand deine Freiheit neidet<br />
Und dich die Schwester Bruder nennt.<br />
[:Laßt flammen . . .:]<br />
Eugene Pottier.<br />
Generalstreik-Lied.<br />
Wir waren lang genug die Knechte,<br />
Wir wollen unsre Herrn nicht mehr.<br />
Wir setzen uns für unsre Rechte,<br />
Für unsre Freiheit nun zur Wehr.<br />
Schläft denn das Volk? — Wir woll'n es wecken!<br />
iHe Arbeitsmann! Rebell! wach auf!<br />
etzt gilts die müden Glieder strecken!<br />
)ie Trommel dröhnt — nun dran, nun drauf!<br />
Auf Brüder, auf ihr Massen!<br />
Laßt uns Raum für die Freiheit schaffen,<br />
Erhebt euch, Mann für Mann!<br />
Nun nieder Reichtum, Bourgeoisie!<br />
Nun nieder Knechtschaft, Tyrannei!<br />
Nun auf, nun auf zum Kampf<br />
Für Anarchie!<br />
Laßt stille steh'n die Dampfmaschine,<br />
Geh' auf die Straße Proletar.<br />
Mag nun das große Rad bedienen,<br />
Wer gestern sein Besitzer war.<br />
Nun streike Volk, <strong>und</strong> streike solange,<br />
Bis deine Knechtschaft reißt entzwei!<br />
Der Generalstreik ist im Gange,<br />
Der Generalstreik macht uns frei!<br />
Auf Brüder . . .<br />
Erich Mühsam.
B<strong>und</strong>eslied der schweizerischen<br />
antimilitaristischen Liga.<br />
M o t t o : Heil dir im Siegeskranz.<br />
Schwielhändig, rußgeschwärzt<br />
Steht die Armee beherzt<br />
Zur blut'gen Tat.<br />
Arbeitsmann! Wem zu Nutz<br />
Trägst du den Waffenputz?<br />
Ach, nur für's Kapital<br />
Bist du Soldat!<br />
Arbeitsmann! Proletari<br />
Gegen der Brüder Schar<br />
<strong>Ziel</strong>t dein Gewehr!<br />
Leih' nicht die Arbeitshand<br />
Trüg'rischem Vaterland,<br />
Das nur die Reichen schützt.<br />
Fern bleib dem Heer!<br />
Wer's mit der Freiheit meint,<br />
Der kennt nur einen Feind,<br />
Das Kapital!<br />
Willst du ein Kämpfer sein,<br />
Sei's in der Brüder Reih'n.<br />
Kämpf gegen Druck <strong>und</strong> Not<br />
Und Hungersqual!<br />
Gürtest du um das Schwert,<br />
Prüf ob das <strong>Ziel</strong> auch wert<br />
Leben <strong>und</strong> Blut.<br />
Wer für die Freiheit ficht,<br />
Wer Sklavenketten bricht,<br />
Nur der soll Sieger sein —<br />
Dess' Kampf ist gut.<br />
D a s Barrikadenlied.<br />
Melodie des russischen <strong>und</strong> polnischen Barrikadcnlicdcs.<br />
Zur Barrikade<br />
Arbeiterbrüder,<br />
Das schwarze Banner<br />
Leuchtet voran!<br />
Lang hinterm Ofen<br />
Summten wir Lieder,<br />
Sense <strong>und</strong> Hammer<br />
Brechen jetzt Bahn.<br />
<strong>Unser</strong> die Welt!<br />
Freiheit der Welt!<br />
Im Fackellicht<br />
Schmieden wir Gericht.<br />
Schon glüht der Brand<br />
Hämmer zur Hand!<br />
Gestern Knecht,<br />
[Freiheit heißt heut Recht!:]<br />
Schaut nicht nach Hilfe,<br />
Bruder, zur Ferne!<br />
Nehmt Pflug <strong>und</strong> Rechen,<br />
Schmiedet sie ein.<br />
Nicht Marx <strong>und</strong> Engels,<br />
Götter, Himmel, Sterne<br />
Können Ketten brechen,<br />
Schlagt ihr nicht drein!<br />
<strong>Unser</strong> die Welt . . .<br />
Wir beugten die Herzen,<br />
Beugten die Rücken<br />
Lang diesen H<strong>und</strong>en,<br />
Trugen Not <strong>und</strong> Schmach.<br />
<strong>Unser</strong> Kinder Jammer,<br />
<strong>Unser</strong>er Väter Schmerzen<br />
Glühten wie W<strong>und</strong>en,<br />
Brannten endlich auch.<br />
<strong>Unser</strong> die Welt . . .<br />
Wir bauten Paläste,<br />
Die and're bewohnen,<br />
Wir speisten Maschinen<br />
Mit Schweiß <strong>und</strong> mit Blut.<br />
Wir webten die Kleider,<br />
Zu wärmen die Drohnen,<br />
Wir schaffen wie Bienen,<br />
Zu mehren ihr Gut.<br />
<strong>Unser</strong> die Welt . . .<br />
Wir leuchten in Gruben,<br />
Wir gössen Kanonen —<br />
Die Kinder, die Mütter<br />
Vergingen in Schmutz.<br />
Für H<strong>und</strong>e Erbarmen —<br />
Für uns blaue Bohnen!<br />
Bei eisernem Gitter<br />
Verkrampfte der Trutz.<br />
<strong>Unser</strong> die Welt . . .<br />
Der Mann hinterm Webstuhl,<br />
Das Weib auf der Gasse!<br />
Sich Brot zu erwerben<br />
War Prostitution.<br />
Wohlan, auf die Straße,<br />
Arbeitermasse!<br />
Gilt's denn zu sterben,<br />
Gelt's höchsten Lohn 1<br />
<strong>Unser</strong> die Welt . . .<br />
Jaget zum Teufel<br />
Lehrer <strong>und</strong> Führer!<br />
Magen <strong>und</strong> Nieren<br />
Geben uns Lehr.<br />
Wir brauchen nicht Krämer,<br />
Schwätzer <strong>und</strong> Spieler —<br />
Denn zu verlieren<br />
Blieb uns nichts mehr!<br />
<strong>Unser</strong> die Welt . . .<br />
Zur Barrikade,<br />
Arbeiterbrüder,<br />
Das schwarze Banner<br />
Leuchtet voran.<br />
Fäuste <strong>und</strong> Straße<br />
Singen jetzt Lieder!<br />
Sense <strong>und</strong> Hammer<br />
Brechen jetzt Bahn!<br />
<strong>Unser</strong> die Welt . . .<br />
Rote Fahne.<br />
Melodie: Czcrwony Standar.<br />
Zu lange würgen uns die Henker,<br />
Zu lange, Brüder, weinen wir.<br />
Vergossenes Blut ruft die Vergelter<br />
[:Und noch ein Tag, da richten wir!:]<br />
Nun zum Kampf, nun zum Kampf, auf mit Mut!<br />
Bald flammt das Banner über Thronen!<br />
Es trägt voran den bittern Groll, des Volkes Wut
nichts einzuwenden — es ist hauptsächlich die<br />
alte, längst propagierte Taktik des Anarchismus,<br />
also: Verwerfung jeder Vertretung, statt<br />
dessen eigenmächtiges Eingreifen aus freier<br />
Initiative, Stellungnahme gegen jede bewaffnete<br />
Macht — so erklärt die Weltanschauung<br />
des Anarchismus gleichzeitig immer <strong>und</strong><br />
immer wieder, daß der Syndikalismus die<br />
Idee des Anarchismus n o c h l a n g e n i c h t<br />
e r s c h ö p f e . Wie es auch in einer der<br />
Amsterdamer Resolutionen (es ist jene vom<br />
Gen. Dr. Friedeberg) zum Generalstreik<br />
heißt:<br />
„Klassenkampf <strong>und</strong> ökonomische Befreiung<br />
sind nicht identisch mit den Ideen <strong>und</strong> <strong>Ziel</strong>en des<br />
Anarchismus, der über den Klassenkampf hinaus<br />
die völlige ökonomische <strong>und</strong> psychische Befreiung<br />
der menschlichen Persönlichkeit zum <strong>Ziel</strong>e hat, der<br />
einen herrschaftslosen Zustand erstrebt, nicht etwa<br />
eine neue Herrschaft der Majorität über die Minorität<br />
. . . Der Anarchismus sieht daher in der Beseitigung<br />
der ökonomischen Unfreiheit nur eine<br />
notwendige Etappe auf dem <strong>Weg</strong>e zum Endziel."<br />
Außerdem bestritten die Anarchisten<br />
von jeher <strong>und</strong> tun es auch noch jetzt, daß<br />
die Gewerkschaften, wie sie heute sind,<br />
dazu berufen sind, die Produktion <strong>und</strong><br />
Konsumtion, sowie sie für eine sozialistische<br />
Gesellschaft notwendig seht wird, zu regeln.<br />
Die heutige Produktion <strong>und</strong> Konsumtion<br />
ist in keiner Weise ein Vorbild für eine<br />
freie Gesellschaft. Nebenbei bemerkt, kennen<br />
sehr wenige Arbeiter den Produktionsprozeß<br />
oder die Organisation der Konsumtion.<br />
Sie erfahren davon nichts in ihrer<br />
Gewerkschaft, die nur eine Kampforganisation<br />
ist. Die Anarchisten behaupten, daß<br />
es andere Zellen sein müssen, die die obgenannten<br />
Funktionen der Gesellschaft zu<br />
übernehmen haben, <strong>und</strong> das sind die g e -<br />
n o s s e n s c h a f t l i c h e n K o n s u m - u n d<br />
P r o d u k t i o n s v e r e i n i g u n g e n , mit denen<br />
man sich in früheren Jahren viel befaßte,<br />
leider aber bis vor kurzem, wo unser Genosse<br />
Gustav Landauer (Berlin) seine ganze<br />
Kraft dafür einsetzt, in Deutschland fast<br />
vergessen zu haben schien.<br />
Wohl kann auch diese Richtung auf<br />
dem Amsterdamer Kongreß durch den<br />
holländischen Genossen Samson zu Wort,<br />
spielte aber eine nebensächliche Rolle. Eine<br />
Resolution des genannten Genossen wurde<br />
ohne Debatte zur Kenntnis genommen. Sie<br />
lautet:<br />
„Der internationale Kongreß spricht die Meinung<br />
aus, daß die produktive Assoziation sowohl<br />
einzeln wie auch in Verbindung mit der revolutionären<br />
Gewerkschaftsbewegung nützlich sein kann<br />
für das Erringen einer anarchistischen Lebensgemeinschaft.<br />
Es wird für die Arbeiterschaft zweckmäßig<br />
sein, wenn am Vorabend eines Generalstreiks<br />
sowie nachher, eine Anzahl von produktiven Körperschaften<br />
auf Gr<strong>und</strong> ihrer Erfahrung mit Hand<br />
anlegen können zur Eruierung der Anfertigung <strong>und</strong><br />
des Austausches von Produkten im antiparasitären<br />
Sinne.<br />
Ferner gibt der Kongreß zu erkennen, daß<br />
bereits unter den jetzigen Verhältnissen die revolutionäre<br />
Gewerkschaftsbewegung, wie auch die<br />
ganze Arbeiterklasse, sich die oben angegebenen<br />
Oedanken zu nutze machen können."<br />
Die geringe Bedeutung, die man der<br />
Sache auf dem Kongresse beigemessen hat,<br />
sagt genug, um alle diejenigen Genossen,<br />
die überzeugt sind, daß mehr nach dieser<br />
Richtung hin gemacht werden muß, anzuspornen<br />
zur intensiven Propaganda in<br />
Wort <strong>und</strong> Schrift für das, was man in der<br />
Verbrüderung mit dem Syndikalismus beinahe<br />
ganz vergessen hat. In einer Periode,<br />
wie die unserige, wo die Krisen kein Ende<br />
nehmen, ja immer <strong>und</strong> immer mehr an<br />
Ausdehnung gewinnen, müßte man meinen,<br />
daß das genug zum denken veranlassan muß,<br />
was denn eigentlich geschehen soll, wenn,<br />
es sei angenommen, sogar ein Generalstreik<br />
ausbrechen <strong>und</strong> zu Gunsten der Arbeiterschaft<br />
endigen würde. Was wäre dann für<br />
unsere Idee, für den Anarchismus gewonnen?<br />
Vor der Hand nicht viel. Weil sehr, sehr<br />
viele unserer Kräfte — <strong>und</strong> es sind die<br />
besten — sich im zerstörenden Kampfe<br />
aufgerieben haben <strong>und</strong> zum Aufbau nur<br />
Wenige vorhanden wären. Das Volk, nur<br />
zu sehr geneigt, wieder zur Ruhe zu kommen,<br />
beißt allzu gerne den größten Köder<br />
an, den ihm die Schönredner, deren es in<br />
solchen Perioden eine Masse gibt, vorwerfen.<br />
Da auf unserer Seite es an einem<br />
besseren Beispiel mangelt, ist es dem Volke<br />
schließlich nicht zu verdenken.<br />
Vergegenwärtigen wir uns eine Zeit<br />
der Revolution. Wir haben viele Beispiele<br />
vor Augen.. Aber <strong>und</strong> Abertausende fallen<br />
der Revolution zum Opfer. Es ist wahr,<br />
Nichts oder nur Weniges wird ohne Schmerz<br />
geboren, aber alles neue muß auch, wenn<br />
es zukunftssicher sein soll, sich schon einen<br />
einigermaßen bereiten Boden verschafft<br />
haben <strong>und</strong> auf diesen gesetzt werden.<br />
Darum sollen alle diejenigen Menschen,<br />
die eine freie Gemeinschaft erstreben <strong>und</strong><br />
eingesehen haben, daß, wenn sie sich zu<br />
einem (um mit Landauer zu reden) «festen<br />
Block» zusammenschließen, sie schon jetzt<br />
in der Lage sind, je n a c h i h r e r M a c h t<br />
i n f r e i e r G e m e i n s c h a f t u n t e r A u s -<br />
t a u s c h i h r e r P r o d u k t e s e l b s t ä n d i g<br />
i n G e r e c h t i g k e i t z u w i r t s c h a f t e n .<br />
Unter Gerechtigkeit verstehen wir den<br />
guten Willen unter g l e i c h Mächtigen, sich<br />
gegenseitig a b z u f i n d e n , sich a u s z u -<br />
g l e i c h e n , Dieses Sichabfinden, unter sich<br />
auszutauschen, also Handeln, muß schon<br />
vom Urmenschen, der sich mit diesem<br />
Schritt über das Tier hebt, datieren <strong>und</strong><br />
ist an sich auch kein Fehler, wenn nur die<br />
Mittel g l e i c h sind, um die verschiedenen<br />
Tauschobjekte herzustellen oder auf andere<br />
Weise zu erlangen.<br />
Diese Mittel sind der Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden,<br />
sowie die Produktionsmittel, die von<br />
ihm unzertrennlich sind, wenn man gerecht<br />
sein will <strong>und</strong> worauf die ganze menschliche<br />
Gesellschaft ein gleiches, unveräußerliches<br />
Recht hat. Sobald man ihnen dieses Recht<br />
streitig macht, in dem Augenblicke macht<br />
man ihnen das Leben streitig, weil die<br />
Menschen selbst ein Produkt der Erde sind<br />
<strong>und</strong> ohne Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden nicht zu leben<br />
vermögen.<br />
Die Anmaßung, die Massen der Menschen<br />
vom Gr<strong>und</strong>besitz auszuschließen, die<br />
in der heutigen Gesellschaft als «Recht»<br />
besteht, das, daß einige wenige ganze<br />
Ländereien für sich in Anspruch nehmen<br />
<strong>und</strong> somit die Mehrzahl der Menschen dem<br />
Hungertode ausliefern dürfen, ohne daß<br />
sie auch nur der geringste V o r w u r f trifft,<br />
ist das ganze große Verbrechen, worauf<br />
unsere Propagandisten fortwährend hinweisen<br />
müssen <strong>und</strong> immer <strong>und</strong> allerorts<br />
erklären wollen, daß diese Mittel — der<br />
Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden sowie die Produktionsmittel<br />
— unbedingt notwendig sind, um<br />
in Gerechtigkeit leben zu können.<br />
Da wir, die wir uns schon heute zum<br />
freien Austausch vereinigen sollen, aber<br />
noch zu wenige <strong>und</strong> daher zu schwach<br />
sind, um diese Mittel durch die soziale<br />
Revolution zu erkämpfen, so bleibt uns<br />
nichts anderes übrig, als durch K a u f so<br />
viel als möglich zu unserem Zweck zu<br />
erwerben. Es ist wahr, daß wir dadurch,<br />
daß wir diese Mittel durch Kauf erwerben,<br />
der heutigen Gesellschaft Konzessionen<br />
machen, aber müssen wir das nicht auch<br />
jetzt jeden Augenblick tun <strong>und</strong> werden es<br />
immer tun müssen, so lange wir uns in<br />
der gegenwärtigen Gesellschaft behaupten<br />
wollen <strong>und</strong> so lange wir zu schwach sind,<br />
andere Maßnahmen zu treffen.<br />
Von ungeheuer großer Wichtigkeit ist<br />
aber unser Unternehmen, wenn wir in Betracht<br />
ziehen, wie sehr vorbildlich es wirken<br />
muß für die ganze Gesellschaft <strong>und</strong> speziell<br />
für das Stadtproletariat, das noch immer<br />
nicht genug davon überzeugt ist, daß nicht<br />
auf dem Großstadtpflaster, sondern auf dem<br />
flachen Lande, wo Industrie <strong>und</strong> Landwirtschaft<br />
sich vereinigen, d i e f r e i e G e s e l l -<br />
s c h a f t e r s t e h e n m u ß .<br />
Und unsere Propagandisten, die ganz<br />
gut mit einem Kugelsammler zu vergleichen<br />
sind, der keinen Behälter für die gesammelten<br />
Kugeln hat, in seinem Arm nur<br />
eine bestimmte Anzahl zu tragen vermag,<br />
beim Weitersammeln aber beinahe ebensoviele<br />
verliert, wie er gesammelt hat, sie<br />
werden in einer solchen freien Vereinigung<br />
nach Freiheit strebenden Menschen diesen<br />
Behälter gewissermaßen gef<strong>und</strong>en haben,<br />
in welchem sie durch ihre Betätigung auch<br />
Gelegenheit haben zu beweisen, wie <strong>und</strong><br />
inwieferne es ihnen ernst ist mit der Sache.<br />
Dieses gilt für sehr viele Kameraden in<br />
unseren Reihen, für die der ganze Anarchismus<br />
aus lauter Syndikalismus besteht,<br />
was unrichtig ist. Tausende Gründe wären<br />
anzuführen zu Gunsten dieser neuen Aufgabe<br />
unserer Propaganda, aber dies würde<br />
zu viel Raum in Anspruch nehmen. Ich<br />
lasse es dabei bewenden, nur kurz zu<br />
resümieren:<br />
1. Wir haben stets zu allen Strömungen,<br />
die in irgend einer Weise dem<br />
anarchistischen Ideal nahe stehen oder<br />
wenigstens dies vorschützen, unsere Stellung<br />
klar zu legen <strong>und</strong> unserem Ideal<br />
treu zu bleiben.<br />
2. Niemals aus dem Auge zu verlieren,<br />
daß es n i c h t darauf ankommt,<br />
eine große Masse Anhänger zu haben,<br />
sondern vielmehr, daß jeder einzelne sich<br />
zu einem ganzen Menschen durchgerungen<br />
hat <strong>und</strong> wo dieses noch nicht der<br />
Fall, sich doch wenigstens allen Ernstes<br />
dafür einsetzt, wozu der Ansporn bewußter<br />
Kameraden viel beizutragen vermag.<br />
3. Auf die Mittel, die zum Aufbau<br />
einer anarchistischen Lebensgemeinschaft<br />
notwendig sind, aufmerksam zu machen;<br />
diese Mittel sind: Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden<br />
sowie Produktionsmittel.<br />
4. Daß es genügt, die Notwendigkeit<br />
solcher Betätigung erkannt zu haben, um<br />
sich mit allen Menschen, die von gleicher<br />
Überzeugung durchdrungen sind, sofort<br />
ans praktische Werk zu begeben.<br />
Dieses Wenige, was ich in gedrängten<br />
Worten zum Ausdruck gebracht habe, möge<br />
dazu dienen, viele zum Nachdenken anzuspornen,<br />
damit sie nach reiflicher Überlegung<br />
mit uns den <strong>Weg</strong> betreten, der<br />
wohl nicht mit Rosen bestreut ist, auf dem<br />
mancher nur zu viele Dornen finden wird.<br />
Hier wird es sich erweisen, aus was für<br />
Holz die Unsrigen geschnitzt sind. Der<br />
wahre Anarchist wird aushalten; <strong>und</strong> so,<br />
wenn jeder sein Möglichstes leistet, um<br />
durch konstruktive Arbeit dem <strong>Ziel</strong>e näher<br />
zu kommen, werden wir diesem auch in<br />
Wirklichkeit näher kommen. H. MeHins.<br />
Ein Brief von Henrik Ibsen,<br />
dem Anarchisten.<br />
(Exzerpiert aus dem X. Bande der Ausgabe<br />
seiner Gesamtwerke).<br />
L i e b e r B r a n d e s !<br />
Ich habe mir ja wohl gedacht, daß<br />
mein langes Schweigen Sie in Harnisch<br />
bringen würde; aber ich hoffe zuversichtlich,<br />
wir stehen so zueinander, daß darum<br />
nichts in die Brüche geht. Ja, ich habe das<br />
bestimmte Gefühl, daß ein lebhaft geführter<br />
Briefwechsel zwischen uns eher eine solche<br />
Gefahr mit sich bringen könnte. Wenn wir<br />
erst einmal persönlich aneinander geraten<br />
wären, würde vieles sich anders stellen;<br />
vieles würde sich da auf beiden Seiten<br />
geklärt haben. Bis dahin laufe ich wirklich<br />
Gefahr, mich durch meine flüchtigen verstreuten<br />
Äußerungen bei Ihnen in falsches<br />
Licht zu setzen. Ihr Philosophen könnt<br />
dem Teufel ein Ohr abräsonnieren, <strong>und</strong> ich
verspüre keine Lust, mich per Korrespondenz<br />
zu einem Stein oder einem Hahn<br />
reduzieren zu lassen — selbst mit der<br />
Möglichkeit vor Augen, nach mündlicher<br />
Erklärung wieder zu einem Menschen erhoben<br />
zu werden. In Ihrem vorigen Brief<br />
bew<strong>und</strong>ern Sie ironisch das Gleichgewicht<br />
meines Gemüts unter den gegenwärtigen<br />
Verhältnissen. Da ist der Stein! Und jetzt,<br />
in Ihren letzten fre<strong>und</strong>lichen (?) Zeilen,<br />
machen Sie mich zu einem Freiheitshasser.<br />
Der Hahn!<br />
Die Sache ist die — mein Gemüt befindet<br />
sich so einigermaßen im Gleichgewicht,<br />
weil ich Frankreichs gegenwärtiges<br />
Unglück für das größte Glück halte, das<br />
dieser Nation widerfahren konnte. Und<br />
w a s d i e F r e i h e i t s f r a g e b e t r i f f t , s o<br />
b e s c h r ä n k t s i e s i c h , g l a u b e ich,<br />
a u f e i n e n S t r e i t u m W o r t e . Ich werde<br />
nie dafür zu haben sein, d i e F r e i h e i t<br />
a l s g l e i c h b e d e u t e n d mit p o l i t i -<br />
s c h e r F r e i h e i t a n z u s e h e n . Was Sie<br />
Freiheit nennen, nenne ich Freiheiten; <strong>und</strong><br />
was ich den K a m p f für die F r e i h e i t<br />
n e n n e , ist d o c h n i c h t s a n d e r e s a l s<br />
d i e s t ä n d i g e , l e b e n d i g e A n e i g n u n g<br />
d e r F r e i h e i t s i d e e . W e r d i e F r e i h e i t<br />
a n d e r s b e s i t z t d e n n a l s d a s z u E r -<br />
s t r e b e n d e , d e r b e s i t z t s i e t o t u n d<br />
g e i s t l o s , d e n n d e r F r e i h e i t s b e g r i f f<br />
h a t j a d o c h d i e E i g e n s c h a f t , s i c h<br />
w ä h r e n d d e r A n e i g n u n g s t e t i g z u<br />
e r w e i t e r n , <strong>und</strong> wenn deshalb einer während<br />
des Kampfes stehen bleibt <strong>und</strong> sagt:<br />
jetzt habe ich sie! — so zeigt er eben<br />
dadurch, d a ß er s i e v e r l o r e n hat. Aber<br />
gerade diese tote Art, einen gewissen f e s t -<br />
g e l e g t e n F r e i h e i t s s t a n d p u n k t z u<br />
haben, ist etwas f ü r d i e S t a a t s v e r -<br />
b ä n d e C h a r a k t e r i s t i s c h e s ; <strong>und</strong> eben<br />
das habe ich gemeint, als ich sagte, es sei<br />
nichts Gutes.<br />
Ja, allerdings kann es etwas Gutes<br />
sein, Wahlfreiheit, Steuerfreiheit usw. zu<br />
besitzen; aber für wen ist das gut? F ü r<br />
den B ü r g e r , nicht a b e r für das Individuum.<br />
Es liegt aber für das Individuum<br />
absolut keine Vernunftnotwendigkeit vor,<br />
Bürger zu sein. Im Gegenteil. D e r S t a a t<br />
ist der F l u c h des Individuums. Womit<br />
ist Preußens Stärke als Staat erkauft? Mit<br />
dem Aufgehen der Individuen in dem politischen<br />
<strong>und</strong> geographischen Begriff. D e r<br />
K e l l n e r ist d e r b e s t e S o l d a t . Und auf<br />
der anderen Seite das Volk der Juden, der<br />
Adel des Menschengeschlechtes. Wodurch<br />
hat es sich in Absonderung, in Poesie erhalten,<br />
trotz aller Roheit von außen? Dadurch,<br />
daß es sich nicht mit einem Staat<br />
herumzuschleppen brauchte. Wäre es in<br />
Palästina geblieben, so wäre es schon längst<br />
in seiner Konstruktion untergegangen wie<br />
alle modernen Völker. D e r S t a a t muß<br />
w e g ! Bei der Revolution tue ich auch mit!<br />
Untergrabt den Staatsbegriff, stellt die Freiwilligkeit<br />
<strong>und</strong> das geistig Verwandte als<br />
das für ein Bündnis einzig Entscheidende<br />
auf — das ist der Anfang einer Freiheit,<br />
die etwas wert ist! Ein W e c h s e l der<br />
R e g i e r u n g s f o r m e n ist w e i t e r n i c h t s<br />
als e i n e P u s s e l e i mit G r a d e n — ein<br />
bischen mehr oder ein bischen weniger —<br />
T o r h e i t alles z u s a m m e n .<br />
Ja, lieber Fre<strong>und</strong>, es gilt bloß, sich<br />
von der Ehrwürdigkeit des Besitzes nicht<br />
schrecken zu lassen. D e r S t a a t hat s e i n e<br />
W u r z e l in der Z e i t ; er wird s e i n e n<br />
G i p f e l in der Zeit h a b e n . Es werden<br />
größere Dinge fallen als er; alle Religion<br />
wird fallen. Weder die Moralbegriffe noch<br />
die Kunstformen haben eine Ewigkeit vor<br />
sich. Wie vielem gegenüber haben wir im<br />
Gr<strong>und</strong>e die Verpflichtung, es zu konservieren?<br />
Wer bürgt mir dafür, daß zwei<br />
plus zwei nicht fünf sind auf dem Jupiter<br />
oben ?<br />
Diese Andeutungen kann <strong>und</strong> will ich<br />
brieflich nicht weiter ausführen. Herzlichen<br />
Dank für Ihr Gedicht! Es wird nicht das<br />
letzte bleiben, das Sie schreiben, denn<br />
der Beruf dazu spricht aus jeder Zeile!<br />
Daß Sie mich überschätzen, setze ich auf<br />
Rechnung der Fre<strong>und</strong>schaft. Dank, Dank!<br />
Bewahren Sie ein solches Bild von mir;<br />
ich werde gewißlich der Alte bleiben.<br />
Herzliche Wünsche für Ges<strong>und</strong>heit<br />
<strong>und</strong> alles Gute!<br />
Ihr getreuer H e n r i k Ibsen.<br />
Offizielles Protokoll<br />
des Internationalen Antimilitaristischen<br />
Kongresses<br />
gehalten zu Amsterdam, am 30.—31. August<br />
1007. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />
des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />
m e r h o r n .<br />
Dokumentarischer <strong>und</strong> historischer<br />
Anhang.<br />
I.<br />
Manifest des Internationalen Antimilitaristischen<br />
Kongresses an die Arbeiter<br />
Deutschlands <strong>und</strong> Frankreichs.<br />
(Fortsetzung.)<br />
um der Ausbeuter willen werdet ihr eure<br />
Brüder verstümmeln; <strong>und</strong> doch seid ihr alle<br />
Proletarier, besitzlose Arbeiter <strong>und</strong> Untergebene,<br />
für die es gar keinen Unterschied<br />
macht, welcher Nation euere Ausbeuter<br />
<strong>und</strong> Herrscher angehören <strong>und</strong> welche<br />
Gruppe von Kapitalisten die umstrittenen<br />
Reichtümer einheimst.<br />
Euch, Bauern <strong>und</strong> Arbeitern, die ihr<br />
zufällig auf verschiedenen Seiten der Landesgrenzen<br />
wohnt, die ihr einander nie ein<br />
Leid getan, die ihr bisher vielleicht in<br />
hilfreicher Fre<strong>und</strong>schaft mit einander verkehrt<br />
habt — euch wird man befehlen,<br />
mit den Waffen gegeneinander vorzudringen,<br />
euere Heimstätten gegenseitig zu zerstören,<br />
das Zusammenarbeiten für euere gemeinsamen<br />
Interessen in wütende Feindschaft<br />
zu verwandeln. Alle die internationalen<br />
Beziehungen, all euere Organisationen, die<br />
Werke der Solidarität, welche bestimmt<br />
sind, die ganze Menschheit in eine brüderlich<br />
liebende Familie zu vereinen, welche<br />
das einzige Mittel sind, um euch selbst mit<br />
vereinten Kräften von der Lohnsklaverei<br />
zu befreien <strong>und</strong> eine Gesellschaft der Freiheit<br />
<strong>und</strong> des Wohlstandes für Alle zu<br />
schaffen — dies alles wird zerstört werden,<br />
untergehen im grauenhaften Morden <strong>und</strong><br />
Elend. Ein Krieg würde den Regierenden<br />
die gewünschte Gelegenheit geben, die<br />
revolutionäre Bewegung für lange Zeit unschädlich<br />
zu machen, indem sie Tausende<br />
von jungen Männern, deren beste Kämpfer,<br />
auf dem Schlachtfelde verbluten läßt, jede<br />
Aufklärungs- <strong>und</strong> Propagandaarbeit durch<br />
die betäubende Schaustellung von Patriotismus<br />
<strong>und</strong> kriegerischem Ruhm erstickt<br />
<strong>und</strong> die rohesten, unvernünftigsten Instinkte<br />
in den Menschen entfaltet.<br />
Wollt ihr, französische <strong>und</strong> deutsche<br />
Proletarier, all dies erdulden? Wollt ihr<br />
nichts tun, um das zu verhüten?<br />
Bedenkt, daß ihr, einzig <strong>und</strong> allein<br />
i h r es seid, die die kolonialen Raubzüge<br />
<strong>und</strong> Kriege möglich machen!<br />
Ihr, französische Soldaten, mordet <strong>und</strong><br />
läßt euch morden, marschiert durch Gefahren<br />
<strong>und</strong> Beschwerden hindurch, während<br />
euere Herfen, auf deren Befehl ihr den<br />
Krieg führt, in Sicherheit <strong>und</strong> Bequemlichkeit<br />
im Hause sitzen.<br />
Ihr, Arbeiter <strong>und</strong> Bauern schmiedet<br />
die Waffen, baut die Festungen <strong>und</strong> Kriegsschiffe,<br />
setzt die Eisenbahnen in Bewegung,<br />
liefert die Lebensmittel <strong>und</strong> Kleider <strong>und</strong><br />
zahlt die Steuern, trotzdem ohne all dem<br />
kein Krieg möglich wäre.<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur loh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />
Euer Gehorsam <strong>und</strong> eure Arbeit erhalten<br />
den Krieg!<br />
Seid ihr unvernünftige Tiere oder leblose<br />
Maschinen, mit welchen euere Herren<br />
das tun können, was sie wollen?<br />
Habt ihr keine Vernunft, kein Gewissen,<br />
keinen Willen?<br />
Und sagt euch euere Vernunft, euer<br />
Gewissen nicht, daß ihr Toren <strong>und</strong> Verbrecher<br />
seid, wenn ihr durch das Hinmorden<br />
anderer Menschen <strong>und</strong> euerer eigenen Genossen,<br />
durch das Opfer des eigenen Lebens<br />
die Macht <strong>und</strong> den Reichtum jener<br />
französischen <strong>und</strong> deutschen Kapitalisten<br />
verteidigt, die euch unterdrücken <strong>und</strong><br />
ausbeuten?<br />
Ihr könnt den Krieg verhindern, <strong>und</strong><br />
wenn ihr denkende Menschen seid, so müßt<br />
ihr ihn verhindern wollen!<br />
Nur durch euch selbst könnt ihr besiegt<br />
<strong>und</strong> geknechtet werden. Wenn nur einige<br />
Tausende <strong>und</strong> Zehntausende mit gleichem<br />
Willen zur gleichen Zeit sich ihrer Menschlichkeit<br />
erinnern, wenn die Arbeiter in den<br />
Generalstreik treten <strong>und</strong> so jeden Transport<br />
von Truppen, jede Versorgung des<br />
Heeres mit Waffen, Munition <strong>und</strong> Lebensmitteln<br />
unmöglich machen dann verfließt<br />
die Macht der Herrschenden zu Nichts,<br />
dann gibt es keinen Krieg gegen diej<br />
Hereros <strong>und</strong> keine französische oder deutsche<br />
Armee mehr, <strong>und</strong> der Wille des Volkes<br />
siegt.<br />
Es ist also kein Zweifel darüber möglich,<br />
was ihr zu tun habt. Schluß folgt.<br />
Öffentliche Erklärung.<br />
Herr Michel Deutsch! Ich halte hiermit die<br />
in Nr. 4 des „W. f. A." gegen Sie erlassene Erklärung,<br />
in der Sie als „ e r b ä r m l i c h e r Ehrabschneider<br />
<strong>und</strong> V e r l e u m d e r " gebrandmarkt wurden, vollinhaltlich<br />
aufrecht <strong>und</strong> muß mich nur darüber w<strong>und</strong>ern,<br />
daß ihre näheren Parteigenossen — vornehmlich<br />
Herr Wutschel — Sie nicht schon lange zur<br />
Erbringung des gerichtlichen Wahrheitsbeweises für<br />
Ihre Behauptungen vom 30. Jänner moralisch gezwungen<br />
haben.<br />
M o r i t z L i c k i e r , XIV., Holochergasse 33, III. 14.<br />
Briefkasten.<br />
Chicago. Dank für Geld <strong>und</strong> Brief; die gewünschten<br />
Nummern werden gesandt, vergiß nicht<br />
das in der Karte Gewünschte zu besorgen. Brudergruß!<br />
— R. K. B. 20. Raummangel verhinderte<br />
uns, Ihnen für Ihre solidarische Aufmerksamkeil<br />
anläßlich unserer Bakuninfeier schon in letztet<br />
Nummer einen Herzensgruß zu entbieten. Dies soll<br />
in dieser nachgetragen werden. Ihr Schreiben, das<br />
im Kreise der Genossen vorgetragen wurde, erregte<br />
viel Freude; wir bringen an dieser Stelle ihre, dem<br />
Herzen eines wackeren Proletariers entstammenden<br />
Reime, die ihren Gefühlen für B. Ausdruck verleihen<br />
:<br />
Schon tot <strong>und</strong> d o c h am Leben,<br />
Fre<strong>und</strong> Bakunin uns ist!<br />
Dem Manne war gegeben,<br />
Daß er für künft'ge Frist,<br />
Den Strahl der Sonn' uns sende,<br />
Auf daß sich alles wende •<br />
Den Armen <strong>und</strong> Bedrückten,<br />
Den Schwachen <strong>und</strong> Gedrückten<br />
Nur ihrem Wohle zu!<br />
Drum sendet jene Strahlen,<br />
Gleich Bakunin ins Land,<br />
Damit uns bald verbinde<br />
Ein allgemeines Band —<br />
Woran wir alle weben,<br />
Die wir nach Freiheit streben . . .<br />
Vereine <strong>und</strong> Versammlungen.<br />
Allgemeine Gewerkschafts-Föderation. V<br />
Einsiedlergasse 60. Jeden Montag 8 Uhr abends.<br />
Föderalion der Bauarbeiter. X., Eugen<br />
gasse 9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunl<br />
jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />
Unabhängige Schuhmacher-Gewerkschaft<br />
XlV.,Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds<br />
Männergesangverein „Morgenröte". XIV.<br />
Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaul<br />
nähme jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />
Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „Pokrok". XIV,<br />
Hütteldorferstraße 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />
Freie Einkaufsgenossenschaft. Jeden Donnerstag<br />
abends bei Schlor.<br />
Allgem. Gewerkschafts-Föderation, Ortsgruppe<br />
XIV. Vereinsversammlung mit Vortraj<br />
jeden Dienstag 8 Uhr abends.
Wien, 6. September 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 17.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />
I./17. — Gelder sind zu senden an<br />
W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />
5, III./27.<br />
Es kommt der Tag.<br />
Aus dem Englischen übersetzt von<br />
Lilly N a d l e r - N u e l l e n s .<br />
Kommt hierher Burschen <strong>und</strong> horchet, was man<br />
erzählen tut,<br />
Von den herrlichen Tagen die kommen, wenn<br />
alles wird besser als gut.<br />
Wenn mehr als einer in tausend, wenn die<br />
neue Zeit bricht an,<br />
Sich der alten Heimat freuen <strong>und</strong> hoffen <strong>und</strong><br />
leben kann.<br />
Denn dann — o lacht nicht, <strong>und</strong> horchet dieser<br />
seltsamen Märe mein —<br />
Werden alle Leute besser als das Vieh behauset<br />
sein.<br />
Dann wird jeder schaffen <strong>und</strong> denken <strong>und</strong> mit<br />
Stolz seine Arbeit seh'n,<br />
Und nicht am Abend helmkommen, erschöpft<br />
<strong>und</strong> zu niüd' um zu steh'n.<br />
Die Menschen in kommenden Tagen werden<br />
schaffen mit Zuversicht<br />
Und fürchten den Mangel an Arbelt <strong>und</strong> die<br />
Qual des Hungers nicht.<br />
Ich erzähl' euch dies als ein W<strong>und</strong>er, daß dann<br />
kein Mann sich freut,<br />
Daß des andern Fall <strong>und</strong> Elend ihm wieder<br />
Arbeit beut.<br />
Dann wahrlich gehört einem jeden, was aus<br />
seiner Arbelt entsteht;<br />
Noch wird die Hälfte geerntet von solchen, die<br />
nicht gesät.<br />
0 w<strong>und</strong>erbar seltsame Ordnung! doch für wen<br />
dann der Reichtum erblüht?<br />
Für uns selbst <strong>und</strong> für jeden Genossen, <strong>und</strong> keiner<br />
umsonst sich mehr müht.<br />
Alles mein, alles dein, wird dann u n s e r , <strong>und</strong><br />
kein Mensch verlangt dann noch<br />
Nach Reichtum, der nur schmiedet den Fre<strong>und</strong><br />
Ins Sklavenjoch.<br />
Und was bleibt uns denn an Werten, wenn niemand<br />
begehrt mehr nach Gold,<br />
Um den Fre<strong>und</strong> am Markte zu kaufen <strong>und</strong> zu<br />
quälen um elenden Sold?<br />
Was sonst als die herrlichen Städte <strong>und</strong> die<br />
Hütte auf Bergeshöh'n,<br />
Die Felder, die wir pflügen, die Wiesen <strong>und</strong><br />
Wälder so schön —<br />
Die Gräber der großen Toten, der Heimat<br />
Sagenland,<br />
Und die Weisen forschend nach W<strong>und</strong>ern <strong>und</strong><br />
der Maler Zauberhand.<br />
Und die Chöre <strong>und</strong> alten Lieder <strong>und</strong> der Dichter<br />
Köpfe so kühn<br />
Und die W<strong>und</strong>er des Fiedelbogens: — all jene,<br />
die freudig sich müh'n.<br />
Denn all dies wird für uns sein <strong>und</strong> a l l e ,<br />
<strong>und</strong> keinem bleibt versagt<br />
Sein Anteil an Arbeit <strong>und</strong> Freude, wenn das<br />
neue Leben tagt.<br />
Ah! das sind die Tage, die kommen! doch was<br />
ist heute geschehen,<br />
In den Tagen, in denen wir leben <strong>und</strong> elend<br />
zu Gr<strong>und</strong>e geh'n?<br />
Für was <strong>und</strong> warum denn wir warten? An<br />
zwei Worten nur gebricht's:<br />
WIR WOLLEN! Und unsre Feinde zerfließen in<br />
Traum <strong>und</strong> Nichts.<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss ; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aüer Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e Hegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />
O warum <strong>und</strong> für was denn wir warten? derweil<br />
in Kampf <strong>und</strong> Tod<br />
Unsre Brüder verbluten <strong>und</strong> fallen, in bitt'rem<br />
Elend <strong>und</strong> Not.<br />
Wie lang noch in endloser Menge, uns zum<br />
Vorwurf weilen sie hier?<br />
Arme Geister verruchter Städte, erdrückt durch<br />
des Goldes Gier.<br />
Durch trostloses Leben sie kämpften, von<br />
Kummer fortgerafft,<br />
Die besten Söhne des Volkes, die Stützen<br />
seiner Kraft.<br />
Jene können wir nicht mehr retten, noch uns<br />
vom Fluch befrei'n;<br />
Doch es kommen noch Millionen — wird ihr<br />
Los besser sein ?<br />
An uns ist es, Antwort zu geben, zu öffnen<br />
die Tore in Eil',<br />
Für das, was der Reichen Schrecken, <strong>und</strong> der<br />
Armen Hoffnung <strong>und</strong> Heil.<br />
J a , dem Groll <strong>und</strong> Haß der Bedrückten, stumm<br />
<strong>und</strong> voll Unwissenheit,<br />
Müssen Stimme <strong>und</strong> Weisheit wir geben, bis<br />
sie zu Taten bereit.<br />
So kommt! denn alles mahnt uns, das Leben<br />
<strong>und</strong> der Tod;<br />
Und über dem düster'n Wirrsal strahlt hell<br />
das Morgenrot.<br />
Kommt denn, hört auf zu tändeln, laßt Rast<br />
<strong>und</strong> Ruhe sein,<br />
Bis die guten Tage kommen, kämpft für die<br />
Sache allein.<br />
Kommt, eint euch zum einzigen Kampfe, wo<br />
keiner unterliegt,<br />
Denn, wenn viele auch, fallen <strong>und</strong> sterben,<br />
dennoch die Sache siegt.<br />
Ah! kommt, hört auf zu tändeln <strong>und</strong> laßt uns<br />
voran geh'n,<br />
Der Tag des Sieges wird kommen <strong>und</strong> hoch<br />
die Banner weh'n!<br />
William Morris.<br />
Ein brutales Attentat auf das<br />
Koalitionsrecht.<br />
Zu jenen Ungeheuerlichkeiten österreichischer<br />
Staatswillkür, die sich scheinbar<br />
vordem nur in der Zeit des Privilegienparlamentes<br />
ereignen sollten, heute aber<br />
tatsächlich noch öfter vorkommen <strong>und</strong> geradezu<br />
wie eine Ironie auf das Parlament<br />
des allgemeinen, gleichen Wahlrechtes <strong>und</strong><br />
In treffender Illustration der Wertlosigkeit<br />
dieser Institution für das Proletariat wirken,<br />
gehört die am 11. August stattgehabte, gewaltsame<br />
Auflösung der mit uns durch<br />
Bruderbande der Solidarität verbündeten<br />
» T s c h e c h i s c h e n F ö d e r a t i o n a l l e r<br />
G e w e r k s c h a f t s v e r e i n i g u n g e n « . Über<br />
70 Organisationen, die r<strong>und</strong> 7000 Arbeiter<br />
vertraten, sind von der Prager Polizeibehörde<br />
auf Gr<strong>und</strong> einer Verfügung der<br />
Statthalterei ohne weiteres aufgelöst worden.<br />
Es ist nicht das erste Mal, daß die Frucht<br />
einer mühseligen Propagandaarbeit unserer<br />
tschechischen Genossen auf diese Weise<br />
illusorisch gemacht wurde; aber wir können<br />
die böhmischen Behörden auch des einen<br />
versichern: es ist n i c h t das letzte Mal,<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2'40;<br />
halbjährig K P 2 0 . Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3-50, halbjährig F r . 1 7 5 , vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
daß sie die tschechische revolutionäre Arbeiterföderation,<br />
trotz der wieder einmal<br />
stattgehabten behördlichen Auflösung, als<br />
eine bedeutende wirtschaftliche Macht sich<br />
gegenüber finden! Im Gegenteil: in gewissem<br />
Sinne sind solche russische Methoden<br />
der Behörden ein vorzügliches Agitationsmittel<br />
für die Prinzipien des revolutionären<br />
Gewerkschaftskampfes; weist doch<br />
die »Begründung« der Auflösung durch<br />
die Statthalterei, das Wutgeheul der bürgerlichen<br />
<strong>und</strong> sozialdemokratischen Presse<br />
gegen unsere tschechischen Kameraden,<br />
die damit, freilich unfreiwillig, uns den Wert<br />
der aufgelösten Gewerkschaftsföderation<br />
für die revolutionär empfindenden <strong>und</strong> aufgeklärten<br />
Arbeiter greifbar deutlich vor<br />
Augen bringen, auf den großartigen Umstand<br />
<strong>und</strong> wahren Gr<strong>und</strong> der Auflösung<br />
hin: Die Arbeiter der tschechischen Föderation<br />
waren kampfeslustige Revolutionäre<br />
im wirtschaftlichen Klassenringen des Proletariats;<br />
durch ihren zähen Klassenkampf<br />
gelang es ihnen, ihre ökonomische Lebenshaltung<br />
auf Kosten des Kapitals im allgemeinen<br />
zu steigern, so sehr, d a ß z. B.,<br />
d i e i n d e r K o h l e n g r ä b e r g e w e r k -<br />
s c h a f t d e r F ö d e r a t i o n o r g a n i s i e r -<br />
t e n B e r g a r b e i t e r s i c h h ö h e r e L ö h n e<br />
u n d b e s s e r e A r b e i t s b e d i n g u n g e n<br />
e r k ä m p f t e n , als die Arbeiter irgend einer<br />
anderen Kohlengräberorganisation!<br />
Daher rührt die Wut der bürgerlichen<br />
<strong>und</strong> sozialdemokratischen Schmockpresse<br />
gegen unsere tüchtigen Klassengenossen;<br />
so kommt es, daß der Staat nichts gegen<br />
den Bestand der sanftmütig-schlafmützlerischen<br />
sozialdemokratischen Gewerkschaft<br />
einzuwenden hat, wohl aber sehr viel gegen<br />
unsere tschechische Föderation, d i e prinz<br />
i p i e l l antiparlamentarisch, antikapitaüstisch,<br />
antistaatlich, antimilitaristisch ist <strong>und</strong><br />
durch den direkt geführten Massenkampf<br />
organisierter Proletarier d i e B e f r e i u n g<br />
d e s g e s a m t e n P r o l e t a r i a t s a u s d e n<br />
B a n d e n d e r L o h n s k l a v e r e i a n -<br />
s t r e b t . Im Kampfe wider diesen Gewerkschaftsb<strong>und</strong><br />
fand sich der Staat unterstützt<br />
von der gesamten Bourgeoisie, was natürlich,<br />
aber auch von der gesamten österreichischen<br />
Sozialdemokratie, was denn<br />
doch nicht ganz natürlich sein sollte. Wer<br />
die Fanfaren <strong>und</strong> schmutzigen Verleumdungen<br />
der letzteren anläßlich der Auflösung<br />
der Föderation liest, kann nicht umhin,<br />
zu fühlen, wie diese Herren der Regierung<br />
einen devoten Handkuß darbringen<br />
o b des i h n e n u n d d e r K a p i t a l i s t e n<br />
geleisteten Dienstes. Und wenn die Bourgeoisfritze<br />
der Wiener »Arbeiter-Zeitung«<br />
lügnerisch behaupten, daß die Föderation<br />
sich hauptsächlich mit Verleumdungen der<br />
Sozialdemokratie abgab, so steht dem vor<br />
allem die »Begründung« der Statthalterei<br />
entgegen, wie auch folgendes merkwürdige<br />
Problem: Verleumden die Christlichsozialen<br />
die Sozialdemokratie etwa nicht; weshalb<br />
werden i h r e Gewerkschaftsorganisationen
n i c h t aufgelöst? Und weshalb jene der<br />
Deutschnationalen nicht? Und warum nicht<br />
die gelben Gewerkschaftsverbände, die doch<br />
auch die Sozialdemokratie verleumden? Und<br />
weshalb wird die sozialdemokratische Gewerkschaftsbewegung<br />
nicht aufgelöst, die<br />
doch auch die Kapitalisten <strong>und</strong> den Staat<br />
»verleumdet«? Sie alle werden nicht angetastet<br />
<strong>und</strong> dadurch, d a ß s i e d e m V o r <br />
g e h e n d e r S t a a t s g e w a l t w i d e r uns<br />
e r e B r ü d e r u n d K a m e r a d e n i n<br />
B ö h m e n r ü c k h a l t l o s u n d u n b e <br />
d i n g t z u s t i m m e n , demaskieren sie sich<br />
alle <strong>und</strong> sämtlich: Sie sind Stützen der<br />
bourgeoisen Ausbeutungsgesellschaft, sind<br />
keine Organisationen, die den Proletarier<br />
den <strong>Weg</strong> zum Sozialismus weisen, sondern<br />
Werkzeuge des Staates, der s i e dazu gebraucht,<br />
um »ordentliche«, »gesetzliche«<br />
Verhältnisse zwischen Kapital <strong>und</strong> Arbeit<br />
zu schaffen; sie vernichten den Klassenkampf<br />
<strong>und</strong> sind Stützpfosten des Kapitalismus<br />
— d e s h a l b w e r d e n s i e g e d u l -<br />
det, d i e w e i l e s für e c h t e , r e v o l u <br />
t i o n ä r e G e w e r k s c h a f t s p r a x i s k e i n e<br />
D u l d u n g , k e i n g e s e t z l i c h g e w ä h r <br />
l e i s t e t e s K o a l i t i o n s r e c h t g i b t !<br />
Wer wird in diesem Kampfe zwischen<br />
proletarische Führung des Klassenkampfes<br />
<strong>und</strong> staatlichen Despotismus siegen? Wir<br />
sagen es ohne Zögern: Das kämpfende<br />
Proletariat! Sowohl in der Gegenwart, wie<br />
in der Zukunft, die überhaupt dem herrlichen<br />
Endsiege der vollständigen wirtschaftlichen<br />
<strong>und</strong> sozialen Befreiung gehört.<br />
Schon in Kürze werden wir die Wiederauferstehung<br />
der freien Organisationsbündnisse<br />
unserer tschechischen Kameraden<br />
berichten können, dessen dürfen Fre<strong>und</strong><br />
<strong>und</strong> Gegner gleicherweise gewiß sein! Und<br />
mit unerbittlicher Schärfe wird das tschechische<br />
Proletariat seinen Kampf weiterführen,<br />
bis es dem tyrannischen Gegner<br />
in all seinem gleißnerischen, gemeinen Brutalitätsformen<br />
j e n e n Nackenschlag wird<br />
versetzen können, der ihm die Vernichtung<br />
aller Ausbeutung <strong>und</strong> Unterdrückung, wie<br />
auch die freie Föderation seiner befreiten, sozialistischen<br />
Kommunen der Zukunft erringt!<br />
Gerade in gegenwärtigen Zeiten bedeutet<br />
es die Ablegung eines herrlichen<br />
Brudergelübdes des Internationalismus unserer<br />
Gefühle, wenn wir deutschösterreichischen<br />
Anarchisten unseren tschechischen<br />
Vorkämpfern es zuzurufen: W i r e n t <br />
b i e t e n e u c h u n s e r e w ä r m s t e S o l i <br />
d a r i t ä t , e s l e b e a u c h f e r n e r h i n d i e<br />
g e t r e u e W a f f e n b r ü d e r s c h a f t f ü r<br />
d i e g e m e i n s a m e n I d e a l e d e r Abs<br />
c h a f f u n g d e s K a p i t a l i s m u s u n d<br />
s t a t t d e s s e n E t a b l i e r u n g d e s F r e i <br />
b u n d e s d e r A n a r c h i e !<br />
*<br />
Über die Auflösung der tschechischen<br />
Gewerkschaftsföderation selbst entnehmen<br />
wir die folgenden Berichte der kapitalistischen<br />
Presse, die mit jenen der sozialdemokratischen<br />
insoferne nicht ganz übereinstimmen,<br />
als der Haß letzterer Presse subjektiver<br />
gefärbt ist denn sogar jener der<br />
Bourgeoisblätter.<br />
Die »Bohemia« schreibt:<br />
Die „Ceskä federace väech odboru" ( T s c h e <br />
chische Föderation aller Gewerkschaften), welche<br />
in Böhmen 70 Organisationen zählt <strong>und</strong> der e t w a<br />
7000 g e n o s s e n s c h a f t l i c h o r g a n i s i e r t e<br />
A r b e i t e r angehören, ist von der Statthalterei<br />
aufgelöst <strong>und</strong> die Ausschußmitglieder sind mit B e <br />
scheid der Polizeidirektion von der Auflösung in<br />
Kenntnis gesetzt worden.<br />
In den Gründen, aus denen die Auflösung erfolgte,<br />
heißt es:<br />
Die ganze Tätigkeit der Föderation, die später<br />
ihren Sitz nach P r a g verlegte, verfolgt, wie durch<br />
ihre Aktion • direkt nachgewiesen ist, a n a r c h i s <br />
t i s c h e Z i e l e z u e i n e r g e w a l t s a m e n U m <br />
w ä l z u n g d e r b e s t e h e n d e n ö f f e n t l i c h e n<br />
O r d n u n g u n d z u r P r o p a g i e r u n g a n a r <br />
c h i s t i s c h e r I d e e n ü b e r h a u p t , s o daß dieser<br />
Verein für den Staat gefährlich erscheint. Außerdem<br />
hat der Verein eine große Anzahl von Lokalorganisationen<br />
gegründet, ohne daß von dieser Gründung<br />
die gesetzliche Anmeldung erfolgt wäre. Mit<br />
Rücksicht auf diese erwähnten Umstände erscheint<br />
es als erwiesen, daß der erwähnte Verein nicht<br />
den rechtlichen Bedingungen entspricht, <strong>und</strong> sieht<br />
sich die Statthalterei mit Erlaß vom 6. August I. J.<br />
veranlaßt, seine weitere Tätigkeit zu sistieren.<br />
Eine nächtliche Razzia.<br />
In der Nacht des 10. August erschienen zum<br />
Teile nach Mitternacht in Z i z k o w in zahlreichen<br />
Wohnungen von Ausschußmitgliedern der Föderation<br />
Polizeibeamte in Begleitung von Detektivs <strong>und</strong><br />
Wachleuten, um genaue Durchsuchungen nach verbotenen<br />
Schriften vorzunehmen. Insbesondere die<br />
Wohnungen der bekannten tschechischen Anarchistenführer<br />
V o h r y z e k <strong>und</strong> K n o t e k , des Obmannes<br />
der aufgelösten Gewerkschaftsorganisation „Tonda"<br />
(Anton) R e h o ř <strong>und</strong> hauptsächlich das Redaktionslokale<br />
der „Kommuna", des Publikationsorganes<br />
des Verbandes, wurden auf das Genaueste untersucht<br />
<strong>und</strong> eine Menge von Büchern, Broschüren,<br />
Flugblättern <strong>und</strong> anderen Druckschriften, sowie<br />
viele Schriftstücke mit Beschlag belegt.<br />
Auch i n z a h l r e i c h e n P r o v i n z s t ä d t e n<br />
wurden solche Untersuchungen angeordnet. In<br />
K o s t e n bei Teplitz erschienen ein Kommissär <strong>und</strong><br />
eine Gendarmeriepatrouille in der Wohnung des<br />
tschechischen Bergarbeiters F r ü h a u f, um dort<br />
eine Hausdurchsuchung vorzunehmen ; es wurde eine<br />
g a n z e K i s t e m i t a n a r c h i s t i s c h e n S c h r i f <br />
t e n k o n f i s z i e r t . Den in der Provinz bestehenden<br />
Sektionen der „Ceskä federace" wurde von<br />
den Bezirkshauptmannschaften die Mitteilung zuteil,<br />
daß sie über Auftrag der Statthalterei aufgelöst seien.<br />
Der Sitz der nunmehr aufgelösten tschechischen<br />
Gewerkschaftsorganisation ist ursprünglich<br />
in B r u c h gewesen, wo auch Tonda Rehof früher<br />
ansässig war <strong>und</strong> v o n d i e s e r F ö d e r a t i o n<br />
w u r d e n n a h e z u s ä m t l i c h e K o h l e n a r b e i <br />
t e r s t r e i k s i m B r ü x e r K o h l e n r e v i e r a n g e <br />
z e t t e l t , gewöhnlich sogar gegen den Willen der<br />
dortigen sozialdemokratischen Organisation der<br />
Bergleute, weshalb sich diese beiden Verbände ununterbrochen<br />
befehdeten.<br />
* *<br />
*<br />
Einen höchst impertinenten Lügen- <strong>und</strong><br />
Schufterleartikel leistet sich das » P r a g e r<br />
T a g b l a t t « vom 14. August. Es ist ein<br />
Artikel, der, augenscheinlich von sozialdemokratischer<br />
Seite inspiriert, in diesem<br />
bourgeoisen Blatte erscheint, um einen indirekten<br />
Einfluß auf einen Prozeß auszuüben,<br />
vor dem der Kamerad Vohryzek sich<br />
befindet. Aus der aktuellen Berichterstattung<br />
des »Tagblattes« entnehmen wir das<br />
Folgende:<br />
„Die Organisation hatte von den f r a n z ö s i <br />
s c h e n A n a r c h i s t e n das Prinzip der „ d i r e k <br />
t e n A k t i o n * ' übernommen. Wie die „Federace"<br />
dieses Prinzip befolgte, ernellt aus folgender Zuschrift<br />
aus Brüx: Die Hauptagitation der in der<br />
„Federace" organisierten Bergarbeiter galt der Anz<br />
e t t e l u n g v o n S t r e i k s , wie sie das hiesige<br />
Kohlengebiet in den letzten Jahren nach H<strong>und</strong>erten<br />
aufweisen kann. Daß diese zumeist einen kläglichen<br />
Ausgang nahmen oder im Sande verliefen, ist<br />
lediglich darauf zurückzuführen, daß die Ausstände<br />
nicht gut vorbereitet, fast stets aus den nichtigsten<br />
Gründen förmlich über Nacht vom Zaune gebrochen<br />
wurden, weil die in der sozialdemokratischen<br />
„Union" organisierten, ruhiger denkenden Elemente<br />
der Bergarbeiterschaft in den meisten Fällen ihre<br />
Mithilfe verweigerten, <strong>und</strong> die „Anarchisten" selbst<br />
sich über die jeweilig gesteckten <strong>Ziel</strong>e, als Lohnforderungen<br />
etc. nicht einigen konnten. Wie gefährlich<br />
aber ihre Organisation für den gesamten nordwestböhmischen<br />
Bergbau hätte werden können,<br />
geht daraus hervor, daß sich die tschechisch-anarchistische<br />
Organisation auf sämtliche Gruben des<br />
Revieres erstreckt <strong>und</strong> mit der gesinnungsverwandten,<br />
ebenfalls anarchistischen Tendenzen huldigenden<br />
„Hornicka federace" (Bergarbeitergewerkschaft)<br />
die große Hälfte aller Bergarbeiter des Brüx-Bruch-<br />
Duxer Kohlenbeckens vereinigt. Dadurch wären die<br />
Schachtverwaltungen unter Umständen gezwungen<br />
gewesen, die Förderung überhaupt einzustellen, da<br />
bei dem Ineinandergreifen der Arbeiten ein Betrieb<br />
mit derart reduzierten Belegschaften ausgeschlossen<br />
gewesen wäre. Die übrigen nicht oder auf sozialdemokratischer<br />
Basis organisierten Arbeiter hätten<br />
also unter Umständen ausgesperrt werden müssen,<br />
wodurch im Brüxer Bezirke allein etwa 11.000<br />
Bergleute zum Feiern <strong>und</strong> mindestens 30 von 35<br />
der größeren Schächte zur Arbeitseinstellung gezwungen<br />
worden wären. Die Duxer <strong>und</strong> Biliner<br />
Reviere vermehren diese Ziffer um mehr als die<br />
Hälfte.<br />
Eine weit ernstere Bedeutung aber muß der<br />
nunmehr aufgelösten anarchistischen Organisation<br />
deshalb beigelegt werden, weil sie die sogenannte<br />
P r o p a g a n d a der T a t i m K l e i n e n auf ihre<br />
Fahnen geschrieben hatte. Unter dem Schlagworte<br />
„Přima akze" (direkte Aktion) pflegte man sich bei<br />
vorkommenden Differenzen in einem Betriebe nicht<br />
erst in langwierige Unterhandlungen mit dem Unternehmer<br />
einzulassen, sondern man suchte durch im<br />
geheimen durchgeführte B e s c h ä d i g u n g v o n<br />
M a s c h i n e n , Z e r s t ö r u n g v o n T r a n s m i s <br />
s i o n e n etc. den g e s a m t e n B e t r i e b g e w a l t <br />
s a m z u m S t i l l s t ä n d e z u bringen. S o wurden,<br />
um aus vielen Fällen nur einige wenige herauszugreifen,<br />
bekanntlich gelegentlich des letzten T e x <br />
tilarbeiterausstandes i n der P i c k s c h e n S p i n <br />
n e r e i i n O b e r l e u t e n s d o r f , die auch anarchistische<br />
Arbeiter beschäftigte, sämtliche Antriebseile<br />
mit Salpeter- <strong>und</strong> Schwefelsäure Übergossen (der<br />
Schaden betrug 6000 K), ein anderes Mal brannte<br />
früh im Mischsaale die Wolle, die am Abende zuvor<br />
gemischt worden war, <strong>und</strong> nur dem raschen<br />
Eingreifen der Feuerwehr war es zu danken, data<br />
das Feuer gedämpft werden konnte, dann wieder<br />
fand man in einem Transmissionslager ein Quantum<br />
Schmirgel, das bezwecken sollte, daß das Lager<br />
heiß laufe, ein andermal wurde bei der elektrischen<br />
Lichtleitung ein Defekt konstatiert, von böswilliger<br />
Hand herbeigeführt, der Kurzschluß <strong>und</strong> erhöhte<br />
Feuergefahr zur Folge hatte. In der chemischen<br />
Fabrik in Aussig wieder wurden an einem Dampfkessel<br />
bübische Demolierungen vorgenommen, die<br />
dann kaum zu reparieren waren. Die Recherchen<br />
nach dem Täter blieben in allen Fällen trotz ausgesetzten<br />
hohen Belohnungen ergebnislos. Derartige<br />
Anschläge waren immer auf die Umtriebe ausländischer<br />
Anarchisten zurückzuführen. So trieb sich<br />
im Brüxer <strong>und</strong> Brucher Bezirke der A n a r c h i s t<br />
V o h r i z e k herum; im Duxer Bezirke wurde der<br />
aus allen Staaten bereits ausgewiesene russische<br />
Anarchist B e r g e r wegen gleicher Umtriebe aufgefaßt<br />
usw. Diese Art Propaganda wird natürlich<br />
nicht in Versammlungen, sondern von M<strong>und</strong> zu<br />
M<strong>und</strong> betrieben, so daß die Behörde aller Behelfe<br />
benommen ist, sie hintanzuhalten.<br />
Wie uns aus Dux berichtet wird, wurde auch<br />
bei dem Anarchisten K r e t s c h y in Haan eine<br />
Hausdurchsuchung vorgenommen <strong>und</strong> viel belastendes<br />
Material vorgef<strong>und</strong>en. Kretschy wurde durch<br />
die Gendarmen sofort in Haft genommen."<br />
Wir gratulieren den braven, »ruhiger<br />
denkenden Elementen« der sozialdemokratischen<br />
Gewerkschaft zu obigem Lobe aus<br />
bourgeoisem M<strong>und</strong>e! Echte, sozialistische<br />
Klassenkämpfer, in der Tat. -<br />
Sehr bemerkenswert ist jedoch die<br />
Konstatierung des »Prager Tagblattes«, daß<br />
die angeblich alle Streiks verlierende Gewerkschafts-Föderation<br />
— wer lacht da <strong>und</strong><br />
denkt dabei nicht an Verwechslung mit den<br />
sozialdemokratischen Gewerkschaften? —<br />
kraft ihrer Organisationstechnik fast sämtliche<br />
Grubenreviere in ihren Händen hielt<br />
<strong>und</strong> einen so machtvollen Druck auf die<br />
Kohlenbarone auszuüben imstande war,<br />
daß die » n i c h t oder auf sozialdemokratischer<br />
Basis organisierten Arbeiter« h ä t t e n<br />
a u s g e s p e r r t w e r d e n m ü s s e n , wenn<br />
unsere Föderation solches gewollt hätte.<br />
Diese Konstatierung ist ungemein wichtig:<br />
Sie läßt nämlich die uns privat zugegangene<br />
Mitteilung, die schließlich im » T s c h e c h i <br />
s c h e n S l a v e n « auch öffentlich ausgesprochen<br />
ward, daß nämlich die Sozialdemokraten<br />
an der Auflösung der tschechischen<br />
Gewerkschafts-Föderation »ihre<br />
H a n d m i t i m S p i e l e h a t t e n « , eine eigenartig<br />
logische Begründung finden. Wir<br />
enthalten uns vorläufig jeder weiteren Meinung,<br />
werden jedoch diese Angelegenheit<br />
genau verfolgen.<br />
*<br />
Die »Bohemia« meldet des weiteren<br />
in ihrer Nummer 222 wie folgt:<br />
In jenen Provinzstädten, in welchen Sektionen<br />
der aufgelösten „Ceská F e d e r a c e všech odborü"<br />
bestanden haben, wurden die Hausdurchsuchungen<br />
bei den Ausschußmitgliedern dieser Sektionsvereine<br />
fortgesetzt <strong>und</strong> zahlreiche Druckschriften <strong>und</strong> Korrespondenzen<br />
mit Beschlag belegt. Sie wurden sofort<br />
von den einzelnen Bezirkshauptmannschaften<br />
nach P r a g gesandt. Einige solcher sehr umfangreicher<br />
Pakete waren bereits gestern nachmittags<br />
im Präsidium der Polizeidirektion eingetroffen <strong>und</strong><br />
werden nunmehr in der staatspolizeilichen Abteilung<br />
der hiesigen Statthalterei, wohin auch die bei den<br />
nächtlichen Wohnungsdurchsuchungen in Žižkow<br />
konfiszierten Schriftstücke gebracht wurden, einer<br />
gründlichen Sichtung unterzogen werden.<br />
*<br />
Mögen die Herren nur suchen, mögen<br />
sie sogar finden — wir vergönnen ihnen<br />
dieses billige Vergnügen gerne. Aber wenn<br />
sie glauben, daß sie damit die tschechische<br />
Gewerkschafts-Föderation untergraben ha-
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Österreich.<br />
* Nr. 16 wurde wieder konfisziert.<br />
*<br />
* Rückwärts! Rückwärts! Die reformative,<br />
tarifvertragswütige Gewerkschaftsbewegung Deutschlands<br />
<strong>und</strong> Österreichs hat vernichtende Niederlagen<br />
erlitten. Es war uns ja klar, daß diese von verzopften<br />
<strong>und</strong> senilen Beamten, deren oberster Gr<strong>und</strong>satz<br />
die Ausgleichsduselei ist, für einen energischen<br />
Kampf nicht zu haben sind, doch nie hätten wir<br />
vermutet, daß derartiges möglich ist, was wir die<br />
letzten Wochen erlebten.<br />
Die Verantwortlichen — so nennen sie sich<br />
wie zum Hohn der rechtlosen Mitgliedschaft —<br />
haben gehandelt als feige, jedes proletarischen Bewußtseins<br />
entmannte Kreaturen. Doch lassen wir<br />
die Tatsachen sprechen. In Stettin entstand mit den<br />
Nietern ein Konflikt. Von denselben wurden Überst<strong>und</strong>en,<br />
Überst<strong>und</strong>en bis zur physischen Unmöglichkeit<br />
verlangt, die sie auch leisteten so lange es<br />
eben ging. Diese wurden endlich verweigert. Nach<br />
Unterhandlungen mit der Werftdirektion, die ohne<br />
Resultat verliefen, verließ ein Teil der Nieter das<br />
Werk zur normalen Zeit, worauf seitens der Werftleitung<br />
die 8000 Mann zählende Arbeiterschaft ausgesperrt<br />
wurde. Weiter drohte die Unternehmerorganisation<br />
mit der Aussperrung der gesamten<br />
Werftarbeiter Deutschlands, das sind 50000 Mann.<br />
Endlich beschäftigte sich der Gesamtverband deutscher<br />
Industrieller mit der Sache, indem der Antrag<br />
vorlag, etwa 500000 Mann in ganz Deutschland auszusperren.<br />
Die Verhandlungen der Nieter mit der Werftdirektion<br />
waren resultatlos, da diese bedingungslose<br />
Unterwerfung forderte. Die knieweichen Verbandsleiter<br />
begannen nun ihre Arbeit, um die Nieter <strong>und</strong><br />
die mit ihnen ausgesperrten Arbeiter geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
geknebelt der Unternehmerorganisation zu Füßen<br />
zu legen.<br />
Nachstehend gedruckte Stellen sind wörtlich<br />
dem österreichischen„Metallarbeiter" entnommen,<br />
was wir ausdrücklich vermerken.<br />
Die Verbandsleiter boten alles auf, um<br />
die Nieter zur Wiederaufnahme der Arbeit zu<br />
den von der Werftdirektion gestellten Bedingungen<br />
zu veranlassen. Die Vertreter sämtlicher<br />
in Betracht kommender Verbände nahmen gegen<br />
die Nieter Stellung! Der Metallarbeiterverband<br />
gab ihnen bekannt, daß sie auf weitere Unterstützung<br />
nicht zu rechnen hätten. Formell berief<br />
der Verband sich dabei auf das Statut, durch<br />
welches Aussperrungen nicht durch Forderungen<br />
beantwortet werden dürfen. Trotzdem: die<br />
Nieter beharrten auf ihren Forderungen.<br />
Nun kamen stärkere Mittel zur Anwendung.<br />
Des Metallarbeiterverbandes Hauptvorstandsmitglied,<br />
Genosse R e i c h l , der nach<br />
Stettin geeilt war, hat dort am Donnerstag eine<br />
sehr energische K<strong>und</strong>gebung gegen die Nieter<br />
veröffentlicht. Er bezeichnete ihr Verhalten als<br />
wider Treu <strong>und</strong> Glauben, als Verstoß gegen<br />
das Organisationsstatut <strong>und</strong> gegen die gewerkschaftliche<br />
Disziplin; weiter machte er ihnen<br />
den Vorwurf der Unklugheit, der Unkollegialität<br />
<strong>und</strong> Rücksichtslosigkeit. Schließlich erklärte er<br />
namens der Organisation den Nieterstreik für<br />
beendet <strong>und</strong> forderte zur Wiederaufnahme der<br />
Arbeit auf. Am 13. August fand in Hamburg<br />
eine Konferenz der Werkstattsvertrauensleute<br />
der Werften aus Hamburg, Bremerhaven, Rostock,<br />
Tönning, Bremen, Harburg, Flensburg,<br />
Elbing, Kiel, Lübeck <strong>und</strong> Emden statt, die nach<br />
längerer Besprechung der Gesamtlage eine Resolution<br />
votierte, in der zum Schluß die bestimmte<br />
Erwartung ausgesprochen wurde, daß<br />
die Nieter das Angebot der Werftdirektion akzeptieren<br />
<strong>und</strong> den Kampf dadurch beenden<br />
werden. Eine sich dieser Konferenz anschließende<br />
Sitzung der Vertretungen der Zentralvorstände<br />
nahm nachstehende Entschließung an:<br />
„Die Konferenz der Zentralvorstände ist<br />
nach reiflicher Prüfung der Angelegenheit zu<br />
der Überzeugung gekommen, daß die Wiederaufnahme<br />
der Arbeit auf dem „Vulkan" seitens<br />
aller Gewerkschaften im Interesse der gesamten<br />
beteiligten Organisationen <strong>und</strong> Arbeiter notwendig<br />
ist."<br />
Alle diese Willensk<strong>und</strong>gebungen haben<br />
aber nicht vermocht, eine Sinnesänderung der<br />
Nieter herbeizuführen. Am Donnerstag nachmittags<br />
beschlossen sie vereint, im Streik zu<br />
verharren, am Freitag nicht zur Arbeitsaufnahme<br />
sich zu melden. Und der Beschluß wurde auch<br />
durchgeführt; nur unorganisierte Nieter, 80 an<br />
der Zahl, fanden sich am Freitag früh zur Arbeit<br />
auf der „Vulkan"-Werft ein. Fast muß man<br />
sagen: merkwürdiger Weise zeigten die Ausgesperrten<br />
keine Empörung gegen die Nieter!<br />
In einer am Donnerstag abends abgehaltenen<br />
Versammlung der Ausgesperrten wurde eine<br />
Abstimmung darüber vorgenommen, ob man<br />
die Nieter für verpflichtet halte, den Streik zu<br />
beenden. Ein großer Teil der Anwesenden enthielt<br />
sich der Stimme <strong>und</strong> von den Abstimmenden<br />
erklärte die Majorität sich mit der Haltung<br />
der Nieter einverstanden.<br />
Die aufgewendeten Zwangsmittel blieben nicht<br />
wirkungslos. Zum Schlüsse beugten sich die Nieter<br />
den Machtmitteln der von ihnen geschaffenen Organisation,<br />
der Brutalität der von ihnen gewählten<br />
<strong>und</strong> besoldeten Führer <strong>und</strong> nahmen die Arbeit auf.<br />
Ein herrlicher Erfolg der Gewerkschaftsdisziplin<br />
!<br />
Achttausend Menschen müssen zu Kreuze<br />
kriechen, weil eine bürokratisch verblödete Leitung<br />
nicht weiß, daß eine Aussperrung von einer halben<br />
Million Menschen nur mit dem Generalstreik beantwortet<br />
werden kann, sollen nicht die Arbeiter<br />
dauernd der Unternehmerwillkür ausgeliefert sein.<br />
Zwei oder drei Tage Generalstreik in Deutschland<br />
hätten die Unternehmer zur Raison gebracht<br />
<strong>und</strong> ihnen die entsprechende Niederlage bereitet.<br />
Anstatt dessen ordnete die Vertretung der<br />
Arbeiter an:<br />
1. Bedingungslose Unterwerfung der<br />
Arbeiter;<br />
2. lieferte sie gegen ihre eigenen Mitglieder<br />
Streikbrecher;<br />
3. verweigerte sie die von den Arbeitern<br />
selbst gesammelten Mittel;<br />
4. heimste sie die Lobsprüche der gesamten<br />
kapitalistischen P r e s s e ein.<br />
Wenn letzterer Umstand diese Verräter von<br />
Arbeiterinteressen nicht veranlaßt, von der Bildfläche<br />
zu verschwinden, dann kann man ruhig sagen: die<br />
Scham ist zu den H<strong>und</strong>en geflohen.<br />
Als die famose Leitung nur 80 Streikbrecher<br />
gegen ihre eigene Mitgliedschaft fand, forderte die<br />
Unternehmerpresse zur Lieferung weiterer Streikbrecher<br />
auf. Wir denken, dieser eine Fall charakterisiert<br />
so recht die Wahlverwandtschaft dieser<br />
gleichwertigen Faktoren.<br />
Nun zu Österreich. In der Brünner Kammgarnspinnerei<br />
standen die Textilarbeiter im Streik, da<br />
der Vertrauensmann gemaßregelt wurde. Da die<br />
Arbeiter in die geforderte bedingungslose Aufnahme<br />
nicht einwilligten, wurde mit der Aussperrung in<br />
42 Fabriken gedroht.<br />
Sofort beeilten sich die „Verantwortlichen"<br />
dem Willen der Unternehmer zum Durchbruch zu<br />
verhelfen. Nach geschäftiger Hin- <strong>und</strong> Herrederei<br />
wurde die Wiederaufnahme der Arbeit in der Fabrik<br />
beschlossen.<br />
Nach 5 Tagen wurde das Einigungsprotokoll<br />
seitens der „Arbeiterzeitung" veröffentlicht. Nun<br />
höre <strong>und</strong> staune Arbeiterschaft Österreichs <strong>und</strong> bew<strong>und</strong>ere<br />
die herrlichen Erfolge deiner Führer. Der<br />
Spinner Bartosch — der gemaßregelte Vertrauensmann<br />
verzichtet auf die Wiederaufnahme im Betrieb.<br />
Weiteres besagt ein Protokoll:<br />
„Angesichts der vorherrschenden Erregung<br />
unter der Arbeiterschaft der Kammgarnspinnerei in<br />
Brünn über die angeblich u n g e r e c h t f e r t i g t e<br />
E n t l a s s u n g e i n e s A r b e i t e r s , welche ausschließlich<br />
wegen seiner Zugehörigkeit zur Organisation<br />
erfolgt sein soll, wird, um die Herbeiführung<br />
friedlicher Verhältnisse zu ermöglichen, nachstehendes<br />
vereinbart:<br />
1. Die Brünner Kammgarnspinnerei verpflichtet<br />
sich, vor jeder wegen schlechter Arbeit zu erfolgenden<br />
Kündigung — ausgenommen sind selbstverständlich<br />
jene Fälle, in denen ein Arbeiter auf<br />
Gr<strong>und</strong> der Gewerbeordnung <strong>und</strong> der Arbeiterordnung<br />
sofort entlassen werden kann — jeden<br />
Arbeiter durch die F a b r i k s l e i t u n g d r e i m a l<br />
i n a l l e r F o r m z u v e r w a r n e n .<br />
2. Es wird wiederholt, daß sich die Direktion<br />
der Kammgarnspinnerei <strong>und</strong> die Textilarbeiterorganisation<br />
dafür verbürgen, daß das' mit der Arbeiterschaft<br />
getroffene Übereinkommen genauestens<br />
eingehalten wird.<br />
3. Der Verband der Wollindustriellen Brünns<br />
gibt die Zusicherung, daß von seiner Seite der<br />
A u f n a h m e d e s S p i n n e r s B a r t o s c h i n e i n e<br />
a n d e r e F a b r i k k e i n e H i n d e r n i s s e i n den<br />
W e g g e l e g t w e r d e n .<br />
4. Die Kammgarnspinnerei wird der Forderung,<br />
die Klage auf Ersatz des durch Nichteinhaltung der<br />
Kündigungsfrist verursachten Schadens zurückzuziehen,<br />
entsprechen, sobald die Gegenklage auf<br />
Ersatz des durch die Nichtzulassung zur Nachtschicht<br />
entgangenen Lohnes zurückgezogen sein wird.<br />
5. Wird die Arbeit in der Kammgarnspinnerei<br />
am Donnerstag oder spätestens am Freitag dieser<br />
Woche wieder aufgenommen, so verpflichten sich<br />
die der Unternehmerorganisation angehörenden<br />
Fabrikanten, am 22. d. die Kündigung zurückzuziehen,<br />
so daß die Arbeit Montag den 24. d. unter den<br />
bisherigen Bedingungen fortgesetzt wird."<br />
Wer diese herrlichen Erfolge der Gewerkschaftsmacher<br />
nicht sieht, der ist ein Narr oder ein<br />
Organisationszerstörer. Und wer behauptet, daß die<br />
Arbeiter der Brünner Kammgarnspinnerei nun umsonst<br />
durch Wochen im Streik gestanden sind <strong>und</strong><br />
nunmehr dem Willen der Unternehmer sich beugen<br />
mußten, der begreift eben die höhere Taktik <strong>und</strong><br />
Klugheit der „Verantwortlichen" nicht.<br />
Wir hoffen, daß die Fälle, wo seitens der<br />
bezahlten Führer die Geschäfte der Unternehmer<br />
besorgt werden, den Arbeitern die Augen öffnen<br />
<strong>und</strong> dieselben endlich daran gehen, eine Reform<br />
anzubahnen, damit in den Organisationen proletarische<br />
Kampfmittel zur Anwendung kommen.<br />
Übergroß ist der Sumpf, in dem die Arbeiterbewegung<br />
dank der Tätigkeit ihrer Führer sich befindet <strong>und</strong><br />
die letzten zur Entfaltung gelangten Blüten heißen<br />
Stettin <strong>und</strong> Brünn.<br />
Sie werden aber ein Ansporn für die Entwicklung<br />
einer revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />
sein, weil die Arbeiter jeden Tag deutlicher<br />
sehen, wohin die schwächliche, jeden Kampf sorgfältig<br />
vermeidende Tätigkeit der reformistischen<br />
Gewerkschaften führt. Unternehmerbrutalität kann<br />
nie mit Harmonieduselei bekämpft werden. E. H.<br />
Deutschland.<br />
„Hammer", p a r t e i l o s e s Organ für nat<br />
i o n a l e s L e b e n nennt sich eine von Theod. Fritsch<br />
in Leipzig redigierte Zeitschrift, die trotz mancher<br />
abweichender <strong>und</strong> wichtiger Unterschiede von unserem<br />
kommunistisch-anarchistischen Standpunkte<br />
doch in so unabhängigem <strong>und</strong> in vielem so edlem<br />
Geiste geschrieben ist, daß ihre Lektüre nur empfohlen<br />
werden kann. Wir treten damit ein in jene<br />
Schichte der Mittelklasse Deutschlands, die über<br />
dem Gewinnmaß ihrer rein pekuniären Interessen<br />
sich merkwürdigerweise noch ein schönes Maß<br />
großzügiger, deutscher Ideale bewahrt hat. So tritt<br />
das Organ dieser Gemeinde, die sich aus kulturell<br />
strebenden Elementen zusammensetzt, gegenwärtig<br />
für eine Idee ein, die auch in unseren Kreisen gelegentlich<br />
<strong>und</strong> mächtig angeregt wird. Und wie<br />
eigenartig, daß die Leute, die eine „neue Lebensgemeinschaft"<br />
gründen wollen, noch nicht einsehen,<br />
daß sie in geistigem Streben so außerordentlich<br />
nahe mit dem Anarchismus verwandt sind, den sie<br />
aber, wie es heutzutage leider meistenteils der Fall<br />
ist, theoretisch nicht begreifen, da wir sonst nicht<br />
einsehen können, wie sie ihn nicht propagieren<br />
würden! Ist doch die Gr<strong>und</strong>lage ihrer zu begründenden<br />
Kolonie eine durchaus auarchistisch-freiwillige,<br />
ganz ebenso, wie wir, als kommunistische<br />
Anarchisten, sie uns vorstellen, die wir davon<br />
überzeugt sind, daß aus der natürlichen Freiheit<br />
der Mitglieder einer jeden selbstverwaltenden Vereinigung<br />
der Kommunismus sich stets als das zweckmäßigste<br />
Lebensprinzip gerade bei gleichzeitiger<br />
Betätigung anderer wirtschaftlicher Prinzipien durchringen<br />
wird <strong>und</strong> wir als Anarchisten nur in diesem<br />
Sinne auch Kommunisten sind.<br />
Auszugsweise bieten wir den Entwurf der<br />
„ E r n e u e r u n g s - G e m e i n d e " dar, die schon<br />
in einigen Wochen verwirklicht werden soll; wer<br />
sich des näheren darüber orientieren will, wende<br />
sich an die obige Adresse:<br />
„Mit der Bildung einer neuen Lebens-Gemeinschaft<br />
im Hammer-Sinne wird es Ernst. Auf die<br />
wiederholten Aufrufe hin, die im Anzeige-Teil des'<br />
Hammer erschienen, haben sich bisher 60 Personen<br />
gemeldet, die sich an dem Unternehmen beteiligen<br />
wollen. Einige davon besitzen mäßige Mittel, die<br />
sie als Genossenschafts-Kapital in das Unternehmen<br />
hinein zu geben beabsichtigen; Andere<br />
sind mittellos <strong>und</strong> stellen nur ihre Arbeitskraft zur<br />
Verfügung, erklären aber auf Vorhalt von dem<br />
Ernst <strong>und</strong> der Schwierigkeit des Schrittes, daß sie<br />
sich vor keiner Arbeit scheuen <strong>und</strong> ihre Lebensansprüche<br />
auf ein bescheidenes Maß herabstimmen<br />
wollen. Alle sind von dem Gefühl durchdrungen,<br />
daß ihnen das heutige ausartende Kulturleben keine<br />
Befriedigung mehr gewähren kann <strong>und</strong> keinerlei<br />
Sicherheit für ihre Zukunft <strong>und</strong> für das ges<strong>und</strong>e<br />
Gedeihen ihres Geschlechts bietet. Sie sind darum<br />
entschlossen, ein Leben auf neuen vernünftigeren<br />
Gr<strong>und</strong>lagen zu beginnen.<br />
Es sind nun bereits Unterhandlungen eingeleitet<br />
wegen Erwerb eines geeigneten Geländes.<br />
Einige Abgesandte der neuen Gemeinde haben in<br />
den letzten Wochen Holstein, Mecklenburg, Pommern<br />
<strong>und</strong> Westpreußen bereist, um eine Anzahl<br />
Güter zu besichtigen, die zum Kauf angeboten<br />
waren. Da die Siedelung den Charakter einer<br />
Gartenbaukolonie tragen soll, so wird es bei dem<br />
Landerwerb wesentlich auf zweierlei ankommen:<br />
erstens auf einen mindestens mittelguten, nicht zu<br />
schweren Boden <strong>und</strong> dann auf eine landschaftlich<br />
reizvolle Lage in einer nicht zu dicht bevölkerten<br />
Gegend, wo der jungen Gemeinde eine gewisse<br />
Ausdehnungsfähigkeit gesichert ist. Solchen Ansprüchen<br />
genügen nur zwei oder drei der besichtigten<br />
Güter, mit deren Besitzern Kaufverhandlungen<br />
im Gange sind.<br />
Wenn nun auch hohe ideale <strong>Ziel</strong>e das feste<br />
geistige Band für die neue Gemeinde bilden sollen,<br />
so ist doch vor allem nötig, sie auf solide w i r t -<br />
s c h a f t l i c h e Gr<strong>und</strong>lagen zu stellen. Und das<br />
kann in folgender Weise geschehen.<br />
Für die Bewirtschaftung des Bodens sollen<br />
zwei Möglichkeiten vorgesehen sein: Gemein Wirtschaft<br />
<strong>und</strong> Einzelwirtschaft. Diejenigen Siedler, die<br />
in Gartenbau <strong>und</strong> Landwirtschaft genügend erfahren<br />
sind <strong>und</strong> Mittel genug besitzen, um einen eigenen<br />
Betrieb ins Leben zu rufen, pachten von der Gemeinde<br />
ein Stück Gelände in beliebiger Größe <strong>und</strong><br />
bestellen es in ihrer Weise. Soweit sie überschüssige<br />
Erzeugnisse abzusetzen haben, steht es<br />
ihnen frei, sich in <strong>und</strong> außerhalb der Kolonie Absatz<br />
zu suchen. Sie treiben also völlige Privatwirtschaft,<br />
nur daß ihr Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden der Gemeinde<br />
gehört <strong>und</strong> der übliche Pachtschilling zu<br />
zahlen ist. Gedeiht diese Einzelwirtschaft <strong>und</strong> hat<br />
der Besitzer das Bedürfnis, seinen Betrieb zu vergrößern,<br />
so kann er noch weiteres Land dazu<br />
pachten. Umgekehrt: findet der Einzelunternehmer<br />
nicht seine Rechnung im selbständigen Betriebe, so<br />
kann er seinen Pachtvertrag kündigen <strong>und</strong> sein
Land ganz oder teilweise der Gemeinde zurückgeben.<br />
(Über die Verrechnungsweise für die auf<br />
dem Gelände aufgeführten Anlagen usw. bedarf es<br />
besonderer Vereinbarungen.)<br />
Diejenigen Siedler aber, die weder Mittel<br />
noch Unternehmungsgeist für einen Eigenbetrieb<br />
besitzen, beteiligen sich mit ihrer Arbeitskraft am<br />
Gemeinbetriebe <strong>und</strong> haben Anteil an dessen Ertrag.<br />
So ist ein doppelseitiges System geschaffen, das<br />
nach allen Seiten hin eine Entwicklungsmöglichkeit<br />
gestattet, sowohl dem individuellen wie dem sozialen<br />
Gedanken. Der Arbeiter im Gemeinbetriebe<br />
hat jederzeit das Recht, durch Pachtung zum Eigenbetrieb<br />
überzugehen; dem Eigenbetriebsinhaber<br />
andererseits steht die Möglichkeit offen, wenn ihm<br />
die Last <strong>und</strong> Sorge zu groß wird, die Eigenwirtschaft<br />
aufzugeben <strong>und</strong> sich dem Gemeinbetriebe<br />
anzuschließen. Es ist ihm auf jede Weise ein W e g<br />
gegeben, sich seine Zukunft zu sichern, so oder so.<br />
Er braucht nicht zum hoffnungslosen Bettler herab<br />
zu sinken, wenn er nicht mehr die Kraft besitzt,<br />
wirtschaftlich auf eigenen Füßen zu stehen.<br />
Diese Mischung von individualistischem <strong>und</strong><br />
kommunistischem Betrieb läßt die größte Mannigfaltigkeit<br />
zu <strong>und</strong> erlaubt gleichsam Jedem, „nach<br />
seiner Fasson selig zu werden". Die individuelle<br />
Anlage wird es entscheiden, ob Jemand sich bei<br />
dem individualistischen oder dem kommunistischen<br />
Prinzip glücklicher fühlt. Vielfach wird sich auch<br />
hier eine Doppelseitigkeit herausbilden: die meisten<br />
werden gern ein Stückchen Gartenland für den<br />
Eigenbetrieb besitzen wollen, im übrigen aber ihre<br />
überschüssige Arbeitskraft im Gerneinbetriebe verwerten.<br />
Es wird dies ungefähr jenes Verhältnis<br />
sein, wie heute der Kleinbauer oder Büdner sein<br />
eigenes Feld bestellt <strong>und</strong> in seiner Freizeit mit<br />
den Seinigen gegen Lohn noch auf dem Rittergut<br />
arbeiten geht. Ein großer Unterschied ist nur der,<br />
daß in der neuen Gemeinde Jeder auch an dem<br />
Ertrage der Arbeit teilnimmt, ihm somit der Mehrwert<br />
seiner Arbeit nicht verloren geht. Denn er<br />
arbeitet auch im Gemeinbetriebe nicht für andere,<br />
sondern zu seinem Teile für sich.<br />
Es müßte also merkwürdig zugehen, wenn die<br />
neue Siedelung, auf so vernünftigen Gr<strong>und</strong>lagen<br />
errichtet <strong>und</strong> von vernünftigen praktischen Männern<br />
geleitet, nicht gedeihen wollte. Die bisherigen teilweisen<br />
Fehlschläge beweisen nichts, weil einige<br />
Kolonien schon durch die Phantastik ihrer B e -<br />
gründer den Todeskeim in sich trugen <strong>und</strong> überhaupt<br />
kein ges<strong>und</strong>es Wirtschaftsprinzip zur Gr<strong>und</strong>lage<br />
hatten. Meist waren es unpraktische Köpfe,<br />
die ein bis ins Kleinste ausgearbeitetes Paragraphensystem<br />
aufstellten <strong>und</strong> dann das wirtschaftliche<br />
Leben in die so geschaffenen Zwangsformen pressen<br />
wollten, anstatt umgekehrt nach allmählich sich<br />
entwickelnden Lebensverhältnissen die genaueren<br />
geistigen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Leitsätze zu bilden.<br />
— Das Leben paßt sich keiner Formel an, sondern<br />
die Formel muß sich dem Leben anpassen.<br />
Aus der Gemeinde kann das erwachsen, was<br />
Faust in seiner Sterbest<strong>und</strong>e nur in weiter Ferne<br />
schaute: „ e i n f r e i e s V o l k a u f f r e i e m<br />
G r u n d e."<br />
* Eine außerordentlich rege Propaganda entfaltet<br />
gegenwärtig unsere deutsche Bruderorganisation,<br />
die „Anarchistische Föderation". In überraschend<br />
vielen Städten finden Massenversammlungen<br />
statt, in denen unsere Genossen Sepp<br />
Oerter, Franböse, R. Lange, S. Landauer Vorträge<br />
halten oder gehalten haben. Insbesondere erfreulich<br />
ist es, berichten zu können, daß manch neue Ortschaft,<br />
manch neues Gebiet sich dieser zähen Agitationsarbeit<br />
erschloß. Wir wünschen den Kameraden<br />
ausgezeichnete Erfolge in. ihrem ernsten Bemühen<br />
ums gemeinsame Ideal. a. p.<br />
Australien.<br />
Seit ich vor ungefähr zwei Jahren in der<br />
New-Yorker „Freiheit" es versuchte, den Genossen<br />
die Lage der Arbeiter dahier zu schildern, hat sich<br />
so manches vollzogen, was selbst für einen Optimisten<br />
kaum glaublich war.<br />
Augenblicklich ist zwischen den Lohnarbeitern<br />
in dem S.'aatenb<strong>und</strong> Australiens viel Unruhe. Bessere<br />
Löhne <strong>und</strong> menschlichere Bedingungen werden von<br />
allen arbeitenden Schichten gefordert. Kleine Streiks<br />
sind an der Tagesordnung. Manche werden gewonnen<br />
(die Bäcker von Broken Hill gewannen<br />
ohne Ausstand die Beseitigung der Nachtarbeit),<br />
andere gehen elendiglich verloren, hauptsächlich<br />
gerade diejenigen, die einer straffen Zentralleitung<br />
unterworfen sind. So balgen sich die Hafenarbeiter<br />
<strong>und</strong> Kohlenmänner von Neu Südwales schon seit<br />
Monaten mit dem Ausbeuterpack herum, ohne zu<br />
irgend welchem Resultat zu kommen. Sind es die<br />
Arbeiter, sind es ihre Führer, die eine solch lächerliche<br />
Kampfestaktik gutheißen? Schiedsgerichtliche<br />
Urteile mußten eines nach dem anderen verworfen<br />
werden, wollten die Arbeiter sich nicht eigenhändig<br />
den Strick um den Hals legen. Da man nun zu<br />
keinem Resultat kam <strong>und</strong> die jüngeren Bergleute<br />
mit direkter Aktion vorgingen, d. h. eben nicht zur<br />
Arbeit kamen, wann Ihnen ein Schiedsspruch nicht<br />
gefiel, so erließ die Bergarbeiter-Union durch ihr<br />
Zentralkomitee in dienstbereiter Fre<strong>und</strong>schaft zu<br />
den — Kapitalisten, folgende „demokratische" Resolutionen<br />
:<br />
1. Irgend ein Mitglied oder irgend welche<br />
Mitglieder, die die Arbeit niederlegen, ohne sich<br />
um die Verbandsvorschriften zu bekümmern, nach<br />
der er seine Angelegenheit seiner Gewerkschafts-<br />
zentrale vorzulegen hat, damit dieselbe konstitutionell<br />
behandelt wird — soll von nun an zur Zahlung<br />
von 2 Pf<strong>und</strong> Sterling ( 4 8 Kronen) Geldstrafe<br />
verurteilt, suspendiert, eventuell aus der Gewerkschaft<br />
ausgeschlossen werden.<br />
2. Irgend ein Mitglied (oder irgend welche<br />
unserer Mitglieder), der eine Arbeitsniederlegung<br />
verursacht, wird aus der Gewerkschaft ausgeschlossen<br />
u n d a n d e r e M i t g l i e d e r d e r s e l b e n<br />
G e w e r k s c h a f t s o l l e n o h n e Z ö g e r n d i e<br />
A r b e i t s p l ä t z e d e s A u s s t ä n d i g e n e i n -<br />
n e h m e n .<br />
3. Irgend eine Lokalgewerkschaft, die die<br />
obigen Verfügungen der Zentralexekutive nicht ausführt,<br />
soll zur Zahlung einer Strafsumme von nicht<br />
weniger als 15 Pf<strong>und</strong> Sterling (360 Kronen) <strong>und</strong><br />
nicht mehr als 50 Pf<strong>und</strong> Sterling (1200 Kronen)<br />
verurteilt werden.<br />
4. Irgend ein individuelles Mitglied, das sich<br />
den obigen Verfügungen nicht unterwirft, wird zur<br />
Strafzahlung von 5 Pf<strong>und</strong> Sterling (100 Kronen)<br />
verurteilt.<br />
Man sieht, der Despotismus der Demokratie<br />
<strong>und</strong> der zum größten Teil s o z i a l d e m o k r a t i -<br />
s c h e n Arbeiterführer Australiens will nur Geld<br />
<strong>und</strong> kennt sonst keine Grenzen; interessant ist nur,<br />
wie diese Herren Arbeiterführer sogar zum Streikbruch<br />
auffordern <strong>und</strong> ihn als Gewerkschaftsprinzip<br />
proklamieren! O du ideales Prinzip des Zentralismus,<br />
wie schön ist deine Praxis von Freiheit, Gleichheit<br />
<strong>und</strong> Brüderlichkeit!<br />
Daß diese Resolutionen die-volle Zufriedenheit<br />
der Kohlenbarone hatten, läßt sich begreifen. Die<br />
Glorie der Schiedsgerichte kam dadurch bei den<br />
Arbeitern aber noch mehr ins Schwanken. Ungefähr<br />
dasselbe ereignete sich in allen unseren Kolonien,<br />
in denen eine Harmonie zwischen Kapital <strong>und</strong><br />
Arbeit zu Stande kommen sollte.<br />
Ein weiteres Angreifungsmittel der sozialdemokratischen<br />
Politiker, das Verbesserung bringen<br />
sollte, war der g e s e t z l i c h g e s c h ü t z t e M i -<br />
nimalarbeitslohn. Es sei zugegeben, daß für<br />
manche Branchen, so auch für Unverheiratete oder<br />
Sparmichel, etwas mehr heraus springt. Für verheiratete<br />
Arbeiter oder solche, die das normale<br />
Bedürfnis haben, etwas leben zu wollen, springt<br />
jedoch dabei keinerlei Vorteil heraus, eher das<br />
Gegenteil. Und stiegen hier die Löhne um etwa<br />
5 Prozent, so die Lebensmittel bis zu 12 Prozent<br />
<strong>und</strong> noch mehr.<br />
D i e a l l e r g r ö ß t e H o f f n u n g s e t z t e d a s<br />
a u s t r a l i s c h e P r o l e t a r i a t a u f s e i n a l l -<br />
g e m e i n e s W a h l r e c h t , denn damit würde man<br />
doch die Regierungsmaschine in die Hände bekommen!<br />
Nun <strong>und</strong> endlich sollte man, nach Jahre<br />
langer, mühevoller Arbeit, erfolgreich sein. E n d l i c h<br />
h a t t e d i e A r b e i t e r p a r t e i d i e M a c h t . I m<br />
Staate W e s t - A u s t r a l i e n sowohl, wie im C o m -<br />
monwealth Parlament war man in der Mehrzahl.<br />
W a s g e s c h a h ? H i e l t m a n s e i n V e r s p r e c h e n ?<br />
N e i n — ein Programmsatz nach dem anderen<br />
wurde' über Bord geworfen. Man wollte leichter<br />
segeln <strong>und</strong> man segelte vor allen Dingen mit frischer<br />
Brise zur — E r h ö h u n g s e i n e s G e h a l t s von<br />
8000 auf 12000 Mark, die man durch „direkte Aktion",<br />
ohne die Wähler zu fragen, sich durch einen<br />
Gesetzesakt selbst zulegte.<br />
Diese <strong>und</strong> so manch andere parlamentarische<br />
Kunststücke schienen nun aber doch einzelnen Gewerkschaften<br />
<strong>und</strong> größeren Arbeitermassen zu bunt<br />
zu sein, sie schienen ihnen die Augen zu öffnen.<br />
Man fängt an, wenn auch noch langsam, sich doch<br />
wieder nur auf den direkten ökonomischen Kampf<br />
verlassen zu wollen. Dahin ist der Glaube an<br />
Schiedsgerient <strong>und</strong> Minimalarbeitslohn <strong>und</strong> — man<br />
hat keine Lust zum Wählen mehr. Politische Hochstapler<br />
auf beiden Seiten, ob der Arbeiterpartei<br />
oder der Konservativen angehörig! So ereignete<br />
es sich, daß bei den vor einigen Tagen stattgef<strong>und</strong>enen<br />
Wahlen von 29874 Wahlberechtigten n u r<br />
10068 wählten, also bloß etwas mehr wie ein Drittel!<br />
Die Arbeiterkandidaten „siegten" wieder einmal,<br />
doch es war kein freudiger Sieg, denn sie sind<br />
allgemein durchschaut als politische Geschäftsleute.<br />
In ihrer Partei ist ein völliger Stillstand eingetreten.<br />
Die besitzende Klasse fürchtet sie nicht, <strong>und</strong> die<br />
Arbeiterklasse fühlt deutlich heraus, daß sie keinen<br />
Vorteil davon hat, wer immer ins Parlament kommt.<br />
Ein Glück ist nur, daß die klarsehenden Arbeiter<br />
zu begreifen anfangen, daß der ganze Parlamentarismus<br />
nur politischer Humbug ist <strong>und</strong> darum in<br />
großer Zahl mit zugehaltener Nase ihren „Kandidaten"<br />
auf Parlamentsdiäten den Rücken kehren.<br />
Für uns australische Anarchisten ist dieses,<br />
wenn auch langsame Erwachen des Volkes eine<br />
große Befriedigung. Wir wußten, daß es so kommen<br />
würde. W a s war (um blos e i n e n zu nennen) von<br />
einem Sozialdemokraten, der als Premier von Südaustralien<br />
— der nebenbei gesagt ein jährliches<br />
Gehalt von 34000 Mark bezieht, vorläufig in England<br />
auf Besuch weilt <strong>und</strong> sich auch sonst wie ein<br />
Hanswurst beträgt, viel zu hoffen? W a s ist zu erwarten<br />
von all den anderen, deren riesige Gehälter<br />
im Vergleich zum Lohne des Arbeiters sie sofort<br />
in die Reihe der Bourgeoisie bringen? Müssen sie<br />
nicht das Liebkind der Kapitalisten werden, um<br />
ihre Stellung zu behalten ? Die logische Beantwortung<br />
all dieser Fragen überlasse ich denn getrost jeden klar<br />
denkenden Arbeiter, wie ich auch die Politiker sämtlich<br />
seiner gebührenden Verachtung überantworte.<br />
Adelaide, Mitte Juli 1908. H. Voit.<br />
Briefkasten.<br />
Schönpriesen. Die alten Nummern können<br />
zu Agitationszwecken verwendet werden. — Bukowina<br />
<strong>und</strong> Weidner in nächster Nummer.<br />
Michael Bakunins Bildnis.<br />
E i n e k ü n s t l e r i s c h e S t i f t z e i c h n u n g v o n<br />
u n s e r e m f r a n z ö s i s c h e n G e n o s s e n u n d<br />
K ü n s t l e r Grandjouan, a u f k a r t o n a r t i g e m<br />
G l a n z p a p i e r g e d r u c k t , e i g n e t s i c h v o r z ü g -<br />
l i c h z u m E i n r a h m e n .<br />
Einzelpreis 10 Heller.<br />
Wir ersuchen die Kameraden um ihre Bestellungen.<br />
Die freie Generation. Bd. 2, Heft 12. Aus<br />
dem Inhalte heben wir hervor: Die Höhlendruckerei<br />
auf dem Gute des Zaren. — Aus Pierre Joseph<br />
Proudhons Werken. Pablo Iglesias <strong>und</strong> die<br />
Anarchisten. Preis pro Einzelexemplar 25 h, durch<br />
uns zu beziehen.<br />
Empfehlenswerte Bücher <strong>und</strong> Broschüren :<br />
Der letzte Krieg, von Teranus, eleg. geb. . K 5 -<br />
—<br />
Wohlstand für Alle, von Peter Krapotkin „ 1 80<br />
Wiliam Godwin, der Theoretiker des kommunistischen<br />
Anarchismus, v. Pierre Ramus „ 2 —<br />
Die historische Entwicklung der Friedensidee<br />
<strong>und</strong> des Antimilitarismus, von Pierre<br />
Ramus „ -- -<br />
30<br />
Das anarchistische Manifest, v. P. Ramus „ — -<br />
04<br />
Kritische Beiträge zur Charakteristik von<br />
Karl Marx, von Pierre Ramus . . . . „ — 12<br />
Wie klärt man Kinder auf? „ — 1 2<br />
Das Dogma von der Vaterlandsliebe ., . . . „ —"12<br />
Liebesfreiheit <strong>und</strong> Eheprostitution, v. Fernau „ —'12<br />
Revolutionäre Regierungen, von P. Krapotkin „ — •06<br />
Gretchen <strong>und</strong> Helene, Zeitgemäße Betrachtung<br />
des Anarchismus u. d. Sozialdemokratie „ —*20<br />
Die Sintflut, von Theodor Brunnecker . . „ — -<br />
12<br />
Die Auferstehung, v. Theoder Brunnecker „ —-12<br />
Eine Reise nach dem fenseits, von Theodor<br />
Brunnecker „ — 12<br />
Die freie Generation, Monatsschrift der Weltanschauung<br />
des Anarchismus . . . . „ — -<br />
2 5<br />
Die Pariser Kommune, von P. Krapotkin . „ — -<br />
12<br />
Kultur <strong>und</strong> Eortschritt, von F. Thaumazo . „ — 0 3<br />
Kritik <strong>und</strong> Würdigung des Syndikalismus,<br />
von P. Ramus „ — 0 5<br />
Die Jahrgänge 1900, 1901, 1902 von „Neues<br />
Leben" sind zum Preise von zusammen 18 Mark zu<br />
verkaufen. Näheres in der Expedition dieses Blattes.<br />
Vereine <strong>und</strong> Versammlungen.<br />
Allgemeine Gewerkschafts-Föderation. V.,<br />
Einsiedlergasse 60. Jeden Montag 8 Uhr abends.<br />
Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />
Gasthaus, XIV., Märzstraße 33.<br />
Föderation der Bauarbeiter. X., Eugengasse<br />
9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />
jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />
Unabhängige Schuhmacher-Gewerkschaft.<br />
XlV.,Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />
Männergesangverein „Morgenröte". XIV.,<br />
Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />
jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />
Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „Pokrok". XIV.,<br />
Hütteldorferstraße 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />
Freie Einkaufsgenossenschaft. Jeden Donnerstag<br />
abends bei Schlor.<br />
Graz. A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />
versammelt sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Samstag abends<br />
im Vereinslokal in der Bahnhofstraße.<br />
Marburg. A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />
versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong> 4. Mittwoch abends<br />
im Gasthaus „Zur goldenen Birn", Franz Josefstraße<br />
2.<br />
Klagenfurt. G r u p p e d e r u n a b h ä n g i -<br />
g e n S o z i a l i s t e n , versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong><br />
4. Samstag abends im Gasthaus „Zum Buchenwalde".<br />
Weijer. S o z i a l i s t i s c h e r B u n d , versammelt<br />
sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends in<br />
Reingrubers Gasthaus.<br />
Bruch. G r u p p e B e r g a r b e i t e r k a m p f ,<br />
versammelt sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends<br />
im Gasthaus „zum blauen Stern".<br />
Neu - Pyhanken. B e r g a r b e i t e r v e r e i n ,<br />
versammelt sich jeden 4. Sonntag um 9 Uhr vormittags<br />
im Gasthause „Eintracht".
- 49 -<br />
viel Sympathie fände, daß sich keine Regierung trauen<br />
würde, Truppen ins Ausland zu schicken, weil sie befürchten<br />
müßte, daß dann in ihrem eigenen Land die<br />
Revolution ausbricht. Nehmen wir aber an, daß die<br />
Regierungen jener Länder, in denen sich das Volk<br />
noch nicht befreit hat, versuchen würden, mit ihren<br />
Armeen ein freies Volk wieder in die Knechtschaft<br />
zurück zu zwingen. Wird dieses letztere eine Regierung<br />
nötig haben, um sich verteidigen zu können?<br />
Um Krieg zu führen, dazu braucht man Menschen,<br />
die die notwendigen geographischen <strong>und</strong> technischen<br />
Kenntnisse besitzen <strong>und</strong> hauptsächlich Volksmassen,<br />
welche kämpfen wollen. Eine Regierung kann weder<br />
die Fähigkeiten der ersteren, noch den Willen <strong>und</strong> den<br />
Mut der letzteren vermehren. Die Geschichte zeigt<br />
uns wie ein Volk, welches wirklich sein eigenes Land<br />
verteidigen will, unbesiegbar ist;* wie in Italien z. B.<br />
vor den Truppen der Freiwilligen — eine s o l c h e<br />
freigebildete Truppe ist eben eine anarchistische Form<br />
— die Throne stürzten <strong>und</strong> die regelmäßigen Armeen,<br />
welche aus zum Militärdienst gezwungenen oder dafür<br />
besoldeten Menschen bestanden, sich zerstreuten.<br />
Die »Polizei«, die »Gerichtshöfe«? Viele Leute<br />
denken, daß, wenn es keine Gendarmen, keine Polizisten<br />
<strong>und</strong> Richter gäbe, ein jeder frei wäre, seinen<br />
Nächsten umzubringen, zu vergewaltigen, zu quälen,<br />
<strong>und</strong> daß die Anarchisten im Namen ihrer Prinzipien<br />
diese eigentümliche »Freiheit«, welche die Freiheit<br />
anderer vergewaltigt <strong>und</strong> zerstört, dulden wollen. Sie<br />
* Es genügt, wenn wir in Österreich auf den Kampf der<br />
Tiroler Bauern gegen die Armee Napoleons hinweisen. Anm. d. R.<br />
»ANARCHIE« von Enriko Malatesta. 7
- 5 0 —<br />
sind beinahe überzeugt, daß wir, nachdem wir die<br />
Regierung <strong>und</strong> das Privateigentum gesellschaftlich aufgehoben<br />
haben, beides wieder sich ruhig aufbauen<br />
ließen, um die »Freiheit« jener, die herrschen <strong>und</strong><br />
besitzen wollen, nicht zu verletzen. Eine seltsame Art,<br />
um unsere Ideen zu verstehen! — — — — Freilich ist<br />
es so leichter, sie mit einem Achselzucken abzutun,<br />
ohne sich die Mühe zu nehmen, sie zu widerlegen.<br />
Die Freiheit, die wir für uns <strong>und</strong> für andere<br />
verwirklichen wollen, ist nicht eine abstrakte metaphysische,<br />
»absolute« Freiheit, welche im wirklichen<br />
Leben notgedrungen zur Unterdrückung der Schwächeren<br />
führt; s o n d e r n es i s t d i e w i r k l i c h e , d i e<br />
m ö g l i c h e F r e i h e i t , w e l c h e i n d e r b e w u ß t e n<br />
G e m e i n s a m k e i t d e r I n t e r e s s e n , d e r f r e i gew<br />
o l l t e n S o l i d a r i t ä t b e s t e h t . Wir verkünden<br />
den Gr<strong>und</strong>satz: »Tue was du willst!« <strong>und</strong> darin fassen<br />
wir sozusagen unser ganzes Programm zusammen,<br />
denn — wie leicht begreiflich — sind wir überzeugt,<br />
daß in einer harmonischen Gesellschaft, in welcher<br />
es kein Privateigentum <strong>und</strong> keine Regierung gibt,<br />
»ein jeder das wollen wird, was er soll«.<br />
Wenn aber, durch die Folgen der Erziehung,<br />
welche ihm die jetzige Regierung geboten hat, oder<br />
durch eine krankhafte Veranlagung, oder aus was<br />
immer für einen Gr<strong>und</strong>, jemand uns oder anderen<br />
schaden wollte, würden wir uns auf jeden Fall aller<br />
Mittel bedienen, um uns zu verteidigen. Da wir<br />
wissen, daß der Mensch das Ergebnis seiner eigenen<br />
Beschaffenheit <strong>und</strong> seiner natürlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />
Umgebung ist, werden wir nicht das Recht der
— 51 —<br />
Gegenwehr mit dem unsinnigen <strong>und</strong> eingebildeten<br />
Recht der Strafen verwechseln. Wir werden im »Verbrecher«,<br />
d. h. in dem Menschen, der gegen das Interesse<br />
der Gesellschaft handelt, nicht einen sich empörenden<br />
Sklaven sehen, wie das der Richter heutzutage<br />
tut, sondern einen kranken Bruder, der Pflege<br />
braucht; <strong>und</strong> wir werden ihn nicht mit Haß zu unterdrücken<br />
trachten, wir werden bestrebt sein, die Grenze<br />
der unbedingt notwendigen Gegenwehr nicht zu überschreiten,<br />
wir werden nicht daran denken, uns zu<br />
rächen, sondern daran, den Unglücklichen mit allen<br />
Mitteln, die uns die Wissenschaft zur Verfügung stellt,<br />
zu heilen <strong>und</strong> der Gesellschaft zurück zu erobern.<br />
Wie immer sich dies übrigens die Anarchisten<br />
individuell zurechtlegen, jedenfalls wird das Volk es<br />
sich nicht gefallen lassen, daß man ungestraft seine<br />
Freiheit <strong>und</strong> sein Wohl antastet, <strong>und</strong> wenn es notwendig<br />
wäre, würde es Maßregeln treffen, um sich<br />
gegen die antisozialen Handlungen einzelner zu verteidigen.<br />
Aber was braucht man dazu Leute, deren<br />
Aufgabe es ist, Gesetze zu machen? oder solche<br />
Leute, die dafür sorgen <strong>und</strong> davon leben, daß sie<br />
diejenigen ausfindig machen — <strong>und</strong> erfinden — die<br />
diese Gesetze übertreten? Wenn das Volk wirklich<br />
etwas mißbilligt <strong>und</strong> schädlich findet, gelingt es ihm<br />
immer, diese Sache zu verhindern, besser als allen<br />
berufsmäßigen Gesetzgebern, Gendarmen <strong>und</strong> Richtern.<br />
Die Gebräuche entsprechen immer den allgemeinen<br />
Bedürfnissen <strong>und</strong> Gefühlen; sie werden umsomehr<br />
geachtet <strong>und</strong> befolgt, je weniger sie der<br />
Sanktion des Gesetzes unterworfen sind; denn ein
— 52 —<br />
jeder sieht <strong>und</strong> versteht so die Nützlichkeit derselben,<br />
<strong>und</strong> die Beteiligten verlassen sich nicht auf den Schutz<br />
einer Regierung, sondern sorgen selbst dafür, daß sie<br />
befolgt werden. Für eine Karawane in der Wüste von<br />
Afrika ist die Sparsamkeit mit dem Wasser eine Lebensfrage,<br />
<strong>und</strong> unter diesen Umständen wird das Wasser<br />
zum Heiligtum; keiner denkt daran, es zu mißbrauchen.<br />
Verschwörer haben Heimlichkeit nötig; sie bewahren<br />
das Geheimnis, oder Verachtung trifft denjenigen, der<br />
es verletzt. Die Schulden beim Hazardspiel werden<br />
vom Gesetz nicht anerkannt, <strong>und</strong> unter Spielern wird<br />
der, der sie nicht bezahlt, als ehrlos betrachtet, <strong>und</strong><br />
er hält sich selber dafür.<br />
Ist es vielleicht wegen den Gendarmen, daß sich<br />
die Menschen nicht öfter umbringen, als sie es tatsächlich<br />
tun? Die meisten Dörfer sehen nur hie <strong>und</strong><br />
da in langen Zwischenräumen einen Gendarm; Millionen<br />
gehen ihrem täglichen Leben nach, ohne von<br />
dem väterlichen Auge des Gesetzes bewacht zu werden,<br />
so daß man sie ohne jede Gefahr der Strafe anfallen<br />
könnte, <strong>und</strong> dennoch sind sie so sicher, wie in<br />
einer Gegend, die voll von Polizisten ist. Die statistischen<br />
Zahlen zeigen, daß die Anzahl der Verbrecher<br />
sehr wenig von dem Erfolg der Unterdrückungsmaßregeln<br />
abhängt, aber sich sehr sehnell je nach der<br />
Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse <strong>und</strong> der<br />
öffentlichen Meinung ändert.<br />
Die Strafgesetze beziehen sich übrigens nur auf<br />
die außergewöhnlichen, ausnahmsweise vorkommeri-<br />
Fälle. Das tägliche Leben geht außerhalb der Paragraphen<br />
des Strafgesetzb<strong>und</strong>es vor sich <strong>und</strong> wird,
— 53 —<br />
beinahe unbewußt, durch die stillschweigende <strong>und</strong><br />
freiwillige, gemeinsame Übereinkunft aller, durch eine<br />
Menge Gewohnheiten <strong>und</strong> Gebräuche geregelt, welche<br />
tausendmal wichtiger für das gesellschaftliche Leben<br />
sind, als die Vorschriften des Gesetzes; <strong>und</strong> die tausendmal<br />
besser befolgt werden, obgleich ihnen jede<br />
Sanktion fehlt, außer der einen natürlichen: der Verachtung,<br />
welche die Zuwiderhandelnden trifft <strong>und</strong><br />
den Nachteilen, die diese allgemeine Verachtung nach<br />
sich zieht.<br />
Wenn unter den Menschen Streitigkeiten entstehen<br />
— würden dann nicht freigewählte Schiedsrichter<br />
<strong>und</strong> der Dank der öffentlichen Meinung viel<br />
geeigneter sein, denen Recht zu geben, die wirklich<br />
Recht haben, als eine unverantwortliche Behörde, die<br />
das gesetzliche Recht hat, über alles <strong>und</strong> alle zu urteilen<br />
<strong>und</strong> die deswegen notwendigerweise in vielen<br />
Fällen unwissend, also ungerecht sein m u ß , weil sie<br />
n i c h t allwissend sein kann?!<br />
Ebenso wie die Regierung gewöhnlich nur zur<br />
Verteidigung der privilegierten Klassen dient, so dienen<br />
Polizei <strong>und</strong> Gerichtshöfe nur zur Unterdrückung jener<br />
»Verbrechen«, die vom Volke selbst nicht als Verbrechen<br />
angesehen werden <strong>und</strong> die nur die Vorrechte<br />
der Regierenden <strong>und</strong> Besitzenden verletzen. Für die<br />
Verteidigung der wahren Interessen der Gesellschaft<br />
der Verteidigung der Freiheit <strong>und</strong> des Wohlstandes<br />
aller, gibt es nichts Schädlicheres, als das Heranwachsen<br />
dieser Klassen, die unter d e m Vorwand ihr<br />
Leben erhalten, daß sie alle Menschen verteidigen,<br />
die sich daran gewöhnen, einen jeden als ein einzu-
— 54 —<br />
fangendes Wild anzusehen <strong>und</strong> die Menschen auf den<br />
Befehl ihrer Vorgesetzten hin ihrer Freiheit zu berauben<br />
<strong>und</strong> zu töten, ohne zu wissen, w a r u m , ganz<br />
wie bezahlte, gedungene <strong>und</strong> unverantwortliche<br />
Bösewichte.<br />
* *<br />
*<br />
Nun gut, sagt man: Die Anarchie mag eine vollkommene<br />
Form des gesellschaftlichen Lebens sein,<br />
aber wir wollen keinen Sprung ins Dunkle tun. Erklärt<br />
uns also »ausführlich«, wie euere zukünftige<br />
staatslose Gesellschaft eingerichtet sein wird. — Dann<br />
kommt eine ganze Reihe von Fragen, die sehr interessant<br />
sind, wenn man die Probleme der freien<br />
Gesellschaft studieren will, die aber überflüssig, lächerlich<br />
oder absurd werden, wenn man eine endgiltige<br />
Lösung derselben von uns verlangt.<br />
Wie wird man die Kinder erziehen? Wie wird<br />
man die Produktion <strong>und</strong> die Verteilung organisieren?<br />
Wird es noch große Städte geben oder wird sich die<br />
Bevölkerung gleichmäßig über die ganze Erde verbreiten?<br />
Was würde geschehen, wenn alle Einwohner<br />
von- Sibirien den Winter an der Riviera verbringen<br />
wollten? Wenn ein jeder Rebhühner essen <strong>und</strong> feine<br />
Weine trinken will? Wer wird die Arbeit des Seemanns<br />
<strong>und</strong> Kohlengräbers verrichten? Wer wird die<br />
Kanäle ausräumen? Wird man die Kranken zuhause<br />
oder in öffentlichen Spitälern pflegen? Wer wird den<br />
Fahrplan der Eisenbahnen feststellen? Was wird man<br />
tun, wenn der Lokomotivführer auf der Fahrt Bauchweh<br />
bekommt? . . . Und so weiter, als ob man<br />
glauben würde, daß w i r im Besitze der ganzen
— 55 —<br />
Wissenschaft <strong>und</strong> Erfahrung der Zukunft sind, <strong>und</strong><br />
daß wir im Namen der Anarchie den kommenden<br />
Menschen vorschreiben müssen, um wie viel Uhr sie<br />
zu Bett gehen, <strong>und</strong> an welchem Tag sie sich die<br />
Hühneraugen schneiden sollen!<br />
Wenn unsere Leser wirklich eine Antwort auf<br />
diese Fragen — wenigstens auf die ernsten <strong>und</strong> wichtigen<br />
derselben — verlangen würden, so würde das<br />
beweisen, daß es uns nicht gelungen ist zu erklären,<br />
w a s d i e A n a r c h i e ist.<br />
Wir sind ebenso wenig Propheten, wie andere<br />
Menschen! Wenn wir uns anmaßen würden, eine<br />
offizielle Lösung all jener Probleme zu bieten, welche<br />
im Leben der zukünftigen Gesellschaft auftauchen<br />
werden, so wäre das wahrlich eine eigentümliche Art,<br />
die Regierung abzuschaffen! Dann würden wir ja uns<br />
selbst als Regierung aufstellen <strong>und</strong>, nach dem Muster<br />
der religiösen Gesetzgeber, für die Gegenwart <strong>und</strong><br />
die Zukunft allgemein giltige Vorschriften dekretieren!<br />
Glücklicherweise würden uns keine Gefängnisse <strong>und</strong><br />
Scheiterhaufen zur Verfügung stehen, um unsere<br />
Bibel der Menschheit aufzuzwingen, <strong>und</strong> so könnten<br />
die Menschen uns ruhig auslachen.<br />
Wir denken viel über alle gesellschaftlichen<br />
Fragen nach, teils aus wissenschaftlichem Interesse,<br />
teils weil wir die Anarchie verwirklichen <strong>und</strong> am Ausbau<br />
der neuen Gesellschaft teilnehmen wollen. Aber<br />
daß wir heute, mit unserem jetzigen Wissen, so oder<br />
so über eine Sache denken, beweist noch nicht, daß<br />
dieselbe sich in der Zukunft auch wirklich so gestalten<br />
wird. Wer kann die Tätigkeit der Menschheit voraus-
— 56 —<br />
sehen, wenn sie sich einmal vom Elend <strong>und</strong> von der<br />
Unterdrückung befreit haben wird? Wenn alle Menschen<br />
Gelegenheit haben werden, sich zu unterrichten<br />
<strong>und</strong> zu entwickeln; wenn es weder Sklaven noch<br />
Herren geben wird <strong>und</strong> der Kampf gegen andere<br />
Menschen mit all dem Haß <strong>und</strong> aller Mißgunst, die<br />
daraus entstehen, aufhören wird eine Lebensnotwendigkeit<br />
zu sein? Wer kann die Fortschritte der Wissenschaft,<br />
der Produktions- <strong>und</strong> Verkehrsmittel vorhersagen?<br />
D a s W e s e n t l i c h e i s t d i e s : daß sich eine<br />
Gesellschaft bildet, in der die Ausbeutung <strong>und</strong> die<br />
Herrschaft des Menschen über den Menschen nicht<br />
mehr möglich ist; wo alles, was zum Leben, zur Entwicklung<br />
<strong>und</strong> zur Arbeit notwendig ist, a l l e n Menschen<br />
zugänglich sein wird; wo alle nach ihrem<br />
eigenen Wollen <strong>und</strong> Können an der Organisation des<br />
gesellschaftlichen Lebens mitwirken können. In einer<br />
solchen Gesellschaft wird natürlich alles so eingerichtet<br />
werden, wie es die Bedürfnisse aller — nach<br />
Möglichkeit der Erfahrungen <strong>und</strong> der augenblicklichen<br />
Verhältnissen — am besten befriedigen wird. Und<br />
alles wird sich immerfort zum Besseren entwickeln,<br />
je nach dem Fortschritt des Wissens <strong>und</strong> der Mittel,<br />
die uns zur Verfügung stehen.<br />
Im Gr<strong>und</strong>e genommen kann ein Programm, das<br />
die Gr<strong>und</strong>lagen der Gesellschaft berührt, nichts anderes<br />
tun, als daß es eine Methode andeutet. Und es<br />
ist hauptsächlich d i e M e t h o d e , die den Unterschied<br />
zwischen den Parteien ausmacht <strong>und</strong> ihre Wichtigkeit<br />
in der menschlichen Geschichte bestimmt. Abgesehen
en, sind sie im Irrtum. Ganz im Vertrauen,<br />
ihr Herren von der Polizei <strong>und</strong><br />
Regierung, sei's gesagt: Solche Organisationen,<br />
wie jene obiger Föderationen eine<br />
ist, bestehen nicht auf dem Papier, wie es<br />
bei sozialdemokratischen der Fall, sondern<br />
durch den revolutionären Geist der Mitglieder,<br />
der sich auch diesmal als vorzüglichster<br />
Schutzdamm <strong>und</strong> Wiederauferstehungsmittel<br />
für das wahre Prinzip des Gewerkschaftskampfes<br />
erweisen wird.<br />
Bericht vom Bergarbeiter-Kongress.<br />
In den Tagen vom 15. bis 17. August<br />
sollte der Kongreß aller Bergleute Österreichs,<br />
ohne Unterschied der Parteiangehörigkeit,<br />
in Kladno stattfinden. Jedoch, der<br />
Mensch denkt, <strong>und</strong> der Bezirkshauptmann<br />
von Kladno lenkt. Aus Gründen, die lächerlich<br />
genannt werden könnten, wurde der<br />
Kongreß untersagt. Das öffentliche Wohl<br />
könnte bedroht werden, <strong>und</strong> die Identität<br />
der Einberufer sei nicht festgestellt, so<br />
heißt es im Verbote, obwohl die Einberufer<br />
ihre volle Adresse gezeichnet hatten. Nun,<br />
im Interesse unseres Österreich also, wurde<br />
der Kongreß nicht in Kladno, sondern in<br />
der Nähe von Prag abgehalten, <strong>und</strong> zwar<br />
unter einer Form, unter welcher er nicht<br />
den Behörden brauchte angemeldet zu<br />
werden. Obwohl der Kongreß im letzten<br />
Augenblick verboten wurde, war er doch<br />
in vollem Umfange besucht <strong>und</strong> konnte<br />
zur Beratung über unsere Angelegenheiten<br />
geschritten werden.<br />
Das Programm war festgesetzt, wie folgt:<br />
1. Alters- <strong>und</strong> Invalidenversicherung<br />
in Bezug auf die Bergarbeiter. 2. Grubeninspektion.<br />
3. Krankenkassen. 4. Minimallohn.<br />
5. Organisation.<br />
Auf dem Kongresse waren vertreten<br />
die Reviere von Nordböhmen, Falkenau,<br />
Pilsen, Kladno <strong>und</strong> Mährisch-Ostrau mit<br />
Schlesien. Anwesend waren 47 Delegierte.<br />
Samstag den 15. August, gegen 6 Uhr<br />
abends wurde der Kongreß eröffnet <strong>und</strong><br />
wurde in Bezug auf Punkt 1 des Programms<br />
folgendes beschlossen:<br />
»Wie uns die Erfahrung lehrt, ist die<br />
Versicherung der Bergarbeiter eine der<br />
schlechtesten <strong>und</strong> ist eine Reform unter<br />
obwaltenden Umständen aus folgenden<br />
Gründen unmöglich:<br />
I. <strong>Weg</strong>en unpraktischen Einteilens der<br />
Bruderladenmitglieder in verschiedene Kategorien.<br />
II. Da die Bergleute bis jetzt von der<br />
Unfallversicherung ausgeschlossen sind, obwohl<br />
dieser Beruf nach dem Gesetze vom<br />
28. Dezember 1887 direkt unter dieselbe<br />
gehört, infolgedessen müssen die Mitglieder<br />
mindestens 70 Prozent Invaliden<br />
aus der Rente erhalten, welche ausschließlich<br />
nur für Invaliden wegen Altersschwäche<br />
bestimmt ist.<br />
III. <strong>Weg</strong>en schlechter Wirtschaft der<br />
Verwaltungen, welche nur darauf bedacht<br />
sind, in den Bruderladen Kapital aufzuhäufen.<br />
Das alles ist allen kompetenten<br />
Behörden bekannt, ohne aber daß eine<br />
Änderung diesbezüglich eingetreten wäre.<br />
Infolgedessen hat die Bergarbeiterschaft<br />
kein Zutrauen zu der projektierten Altersversicherung<br />
<strong>und</strong> erstens, weil die Regierung<br />
nicht für genügendes Gr<strong>und</strong>kapital bürgt,<br />
damit auch den Bergleuten gedient wäre<br />
<strong>und</strong> zweitens, da die Bergarbeiter genügend<br />
Kapital in den verschiedenen Bruderladen<br />
besitzen, verlangen sie folgende Reformen:<br />
1. Die bisherigen Bruderladen werden<br />
aufgehoben, an deren Stelle wird eine Versicherungsanstalt<br />
errichtet, welche nicht<br />
mehr wie zwei Kategorien zuläßt, für<br />
Männer <strong>und</strong> Weiber.<br />
2. Das Vermögen der Bruderladen sowie<br />
die Heilanstalten fallen der neuen Anstalt zu.<br />
3. An Stelle der bisherigen Kranken<strong>und</strong><br />
Familienkassen wird für ein ganzes<br />
Revier eine Krankenkasse errichtet, nach<br />
Zahl der Mitglieder werden Arbeiter zur<br />
Verwaltung derselben gewählt <strong>und</strong> wählen<br />
diese aus ihrer Mitte den Vorstand, welcher<br />
der Staatsaufsicht untergeordnet ist.<br />
R e n t e n . Die Altersrente wird so bemessen,<br />
daß ein Mitglied nach 20jähriger<br />
Grubenarbeit einen Anspruch auf 730 Kronen<br />
jährlich hat. Die Witwe erhält 50 Prozent<br />
der Mannesrente, Kinder bis 15 Jahren ein<br />
Drittel derselben. Dieselben Rechte hat auch<br />
die Frau, die mit ihrem Manne in freier<br />
Ehe lebt, sowie auch die einer solchen Ehe<br />
entsprossenen Kinder. Arme Eltern <strong>und</strong><br />
Großeltern erhalten 25 Prozent in dem<br />
Falle, wenn der Verstorbene der einzige<br />
Ernährer war. Bei den Krankenkassen ist<br />
zu beachten, daß das Pauschalieren der<br />
Beamten abgeschafft wird, da dieselben im<br />
Interesse der Gruben beschäftigt sind, arbeiten<br />
also nicht für die Anstalt. Die Wahl<br />
der Ärzte sei dem Arbeiter frei überlassen,<br />
je nach dem Vertrauen, welches er zu<br />
einem derselben hegt.<br />
G r u b e n i n s p e k t i o n . Zu diesem<br />
Punkte übernahm Genosse Draxl das Referat.<br />
Derselbe hat einige Jahre in den<br />
französischen Gruben gearbeitet <strong>und</strong> somit<br />
Gelegenheit gehabt, die dortigen Verhälthältnisse<br />
in bezug auf Grubeninspektion<br />
genau zu beobachten. Es wurde folgende<br />
Resolution angenommen: »Ein Grubeninspektor<br />
muß das 30. Lebensjahr vollendet<br />
haben <strong>und</strong> wird gewählt von allen<br />
Grubenarbeitern, die das 18. Lebensjahr<br />
überschritten haben. Der Wahlakt geschieht<br />
auf dem Gemeindeamte unter Aufsicht<br />
zweier zu diesem Zweck gewählter Arbeiter,<br />
eines Vertreters des Werkes, des Gemeindevorstehers<br />
<strong>und</strong> Sekretärs. Jede Grube mit<br />
100 Mann Belegschaft hat einen Inspektor<br />
zu wählen. Derselbe hat mindestens 20mal<br />
im Monate die Grube zu befahren <strong>und</strong><br />
muß er eine fünfjährige Praxis als Bergmann<br />
<strong>und</strong> eine einjährige als Kohlenhauer<br />
aufweisen können. Er kann auch auf einer<br />
solchen Grube, die er seit fünf Jahren verlassen,<br />
kandidieren <strong>und</strong> als Inspektor gewählt<br />
werden. Von der Werksleitung ist er<br />
vollkommen unabhängig <strong>und</strong> wird vom<br />
Staate bezahlt. Sein Lohn muß dem höchst<br />
verdienten Lohne der betreffenden Grube<br />
gleichen. Gewählt wird ein Grubeninspektor<br />
auf die Dauer von 3 Jahren.«<br />
M i n i m a l l o h n . Betreffs dieses Punktes<br />
wurde folgendes beschlossen: »Da es eine<br />
erwiesene Tatsache ist, daß das heutige<br />
Akkord- <strong>und</strong> Gedingesystem die häufigsten<br />
Unglücksfälle zur Folge hat, fordern die<br />
Bergleute einen Minimallohn, mit Hilfe<br />
dessen sie nicht gezwungen wären, sich in<br />
die gefährlichsten Arbeiten treiben zu lassen.<br />
Derselbe wird mit Rücksicht auf die stets<br />
steigende Lebensmittelteuerung für Nordböhmen<br />
auf 5 Kronen gesetzt <strong>und</strong> sei es<br />
den verschiedenen Revieren überlassen, den<br />
lokalen Verhältnissen angemessen einen<br />
solchen festzusetzen.«<br />
Mit Erledigung dieses Punktes wurde<br />
der Kongreß vertagt.<br />
O r g a n i s a t i o n . Sonntag den 16. August,<br />
morgens 8 Uhr, wurde die Beratung<br />
fortgesetzt <strong>und</strong> zwar schritt man zu dem<br />
wichtigsten Punkte des Programms, Organisation.<br />
Es wurden Meinungen aller Reviere<br />
gewechselt <strong>und</strong> zum Schlüsse folgendes<br />
beschlossen:<br />
»In der heutigen Zeit, wo sich die privilegierten<br />
Klassen ohne Unterschied der<br />
Nationalität <strong>und</strong> der politischen Überzeugung<br />
organisieren, um die Arbeiter nach<br />
Belieben ausbeuten zu können, ist es zur<br />
höchsten Notwendigkeit geworden, daß auch<br />
unter den Arbeitern eine Einigkeit hergestellt<br />
werde. Ein gemeinschaftliches Vor-<br />
gehen der Bergarbeiter ist aber nur unter<br />
folgenden Bedingungen möglich:<br />
I. a) Die Organisation der Berg-,<br />
Hütten- <strong>und</strong> Koksarbeiter ist eine rein wirtschaftliche.<br />
Sie steht außerhalb aller politischen<br />
Parteien <strong>und</strong> hat auch mit Repräsentanten<br />
derselben, wie bezahlten Beamten,<br />
Abgeordneten u. dgl. nichts gemeinschaftliches.<br />
Dieselben können auch nicht Mitglieder<br />
solcher Organisation werden, ihre<br />
irgendwelche Beteiligung, wie an Kongressen<br />
usw. ist somit ausgeschlossen.<br />
b) Auf Gr<strong>und</strong> dessen kann somit jedem<br />
Arbeiter verbürgt werden, daß stets nur in<br />
seinem Interesse, betreffs Lösung der wirtschaftlichen<br />
Fragen, gehandelt wird, da alle<br />
Arbeiter ohne Unterschied unter dem kapitalistischen<br />
Regime zu leiden haben.<br />
II. Um eine solche Organisation lebensfähig<br />
zu machen, damit sie die Interessen<br />
aller Arbeiter stets wahren kann, ist es<br />
nötig, daß die in jedem Reviere bestehenden<br />
Vereine <strong>und</strong> Gruppen Mitglieder e i n e r<br />
Revierorganisation werden, so daß alle im<br />
Reviere eingeleiteten Aktionen dem Vorteile<br />
aller Arbeiter dienen.<br />
III. Sowie nun einzelne Forderungen<br />
sich nicht nur auf ein Revier beschränken<br />
<strong>und</strong> solche lokale Aktionen überdies nicht<br />
viel Aussichten auf Erfolg haben, ist es von<br />
höchster Wichtigkeit, alle solchen Revierorganisationen<br />
einer Reichs-Bergarbeiterorganisation<br />
einzuverleiben, sie vereinigen<br />
sich in »Freier Föderativer Vereinigung der<br />
"Berg-, Hütten- <strong>und</strong> Koksarbeiter Oesterreichs.«<br />
Diese Vereinigung fördert ein gemeinschaftliches<br />
Vorgehen in allen Aktionen<br />
<strong>und</strong> dient zur Verständigung betreffs der<br />
verschiedenen Forderungen. Sowie ein einzelner<br />
Arbeiter, steht auch eine Revierorganisation<br />
dem Kapital machtlos gegenüber,<br />
sind diese aber alle vereint, bilden<br />
sie eine Macht, die auch ihr Feind nicht<br />
unterschätzen wird.«<br />
F r e i e A n t r ä g e . Es wurden folgende<br />
Anträge gestellt: »Jedes Revier wählt zwei<br />
Vertrauensmänner <strong>und</strong> haben dieselben<br />
Sorge zu tragen, die Beschlüsse des Kongresses<br />
auszuführen. Nach ihrer Wahl finden<br />
sich dieselben zusammen <strong>und</strong> haben diesbezügliche<br />
Schritte einzuleiten.«<br />
Ein weiterer Antrag: »Der Zentralausschuß<br />
hat sofort Verbindungen mit ausländischen<br />
Organisationen anzuknüpfen, um<br />
bei wirtschaftlichen Kämpfen deren Solidarität<br />
beanspruchen zu können.«<br />
Ein Antrag zur Einschränkung der<br />
Grubenarbeit auf 16 St<strong>und</strong>en täglich, Abschaffung<br />
der Nachtarbeit <strong>und</strong> Einführung<br />
einer Sonntagsruhe von mindestens 36<br />
St<strong>und</strong>en. Hiermit war das Programm erschöpft<br />
<strong>und</strong> der Kongreß geschlossen.<br />
* *<br />
*<br />
Die Bergarbeiter können mit Genugtuung<br />
auf ihre Arbeit zurückblicken. Sie<br />
haben trotz dem Siegesgeheul der Sozialdemokraten<br />
über das Verbot von Kladno,<br />
ihre Pflicht erfüllt. Eine einmütige Verständigung<br />
aller Bergarbeiter Österreichs<br />
ist erzielt worden. Über 100.000 Bergarbeiter<br />
entsandten ihre Vertreter, um sie<br />
über ein gemeinschaftliches Vorgehen gegen<br />
den blut- <strong>und</strong> gelddürstigen Kapitalismus<br />
beraten zu lassen. Der parlamentarische<br />
Schwindel, die glänzenden Erfolge der<br />
sozialdemokratischen Deputierten während<br />
des ersten Jahres fangen an, den breiten<br />
Massen die Augen zu öffnen. Die Arbeiter<br />
begreifen es, daß nicht die befrackten Herren<br />
sozialdemokratischen Volksvertreter sie von<br />
dem kapitalistischen Joche befreien können,<br />
weil sie nicht die Macht, <strong>und</strong> in erster Reihe<br />
nicht den Willen dazu haben. Sie fangen an,<br />
nur mit ihren Reihen zu rechnen, nur auf<br />
eigene Kräfte sich zu verlassen <strong>und</strong> dies ist<br />
der erste Schritt zur sozialen Revolution.<br />
Es lebe der Generalstreik! L. Sch.
Der Antimilitarismus<br />
als<br />
T a k t i k d e s A n a r c h i s m u s .<br />
Von Pierre R a m u s .<br />
Referat, gehalten auf dem internationalen Amsterdamer Kongreß<br />
der »Internationalen antimilitaristischen Assoziation«<br />
am 30. <strong>und</strong> 31. August 1907.<br />
I.<br />
Die Anarchisten <strong>und</strong> die allgemeinen friedensbestrebungen.<br />
Als Anarchisten, also Männer <strong>und</strong> Frauen, die einen staatslosen Z u -<br />
stand gesellschaftlichen Friedens erstreben <strong>und</strong> erst in seinem Aufgehen das<br />
Dämmern einer wahren, menschheitlichen Kulturperiode erkennen, begrüßen<br />
wir es mit Freude, daß die Erörterung der sogenannten Friedensprobleme,<br />
der Abrüstung, des Weltfriedens eine allgemeine, internationale Bedeutung<br />
gewonnen <strong>und</strong> Beachtung gef<strong>und</strong>en haben. Denn wir erblicken darin ein unfreiwilliges<br />
Zugeständnis unseren Ideen <strong>und</strong> Bestrebungen gegenüber. W ä h -<br />
rend heute im Lager der Friedensfre<strong>und</strong>e auch noch die Meinungen über<br />
die Durchführbarkeit, über die zeitliche <strong>und</strong> umständliche Möglichkeit der<br />
Entbehrung des Militarismus sehr auseinandergehen, hat es unter den Anarchisten<br />
stets <strong>und</strong> immerdar nur eines gegeben: U n b e d i n g t e s t e V e r -<br />
n e i n u n g d e s M i l i t a r i s m u s , d a s u n b e d i n g t e S t r e b e n n a c h<br />
s e i n e r g ä n z l i c h e n B e s e i t i g u n g ! Wir, die wir verachtet <strong>und</strong> verfolgt<br />
werden, geächtet als „Mörder", als „Feinde der Gesellschaft" von den Gewaltsherrschern<br />
<strong>und</strong> Unterdrückern, wir, die man stets darstellte als die<br />
einzig kriegführende Macht innerhalb der Gesellschaft — wir waren stets<br />
<strong>und</strong> werden immerdar sein, ganz im Einklänge mit unseren Idealen menschlichen<br />
Glückes, menschlicher Freiheit, die Apostel des Friedens; <strong>und</strong> wenn<br />
wir Krieg führen, einen Krieg, der uns aufgenötigt wird, so tun wir, in weit<br />
bedeutenderem Sinne nur das, was alle sogenannten Friedensfre<strong>und</strong>e tun<br />
sollten, was aber nur wir mit dem genügend energischen Nachdruck tun:<br />
Wir Anarchisten führen Krieg n i c h t wider die wahren Friedensapostel der<br />
Menschheit, wie es der Staat in seiner ganzen gleißnerischen Brutalität tut;<br />
wir führen Krieg unserer Aufklärung nur gegen die Anstifter des sozialen<br />
wie militaristischen Krieges. Diese Kriegsorganisation allein bekämpfen wir,<br />
sonst leben wir im Frieden mit allen Menschen, soweit sie nicht beteiligt<br />
sind an dem Privateigentumsraub der heutigen Gesellschaft <strong>und</strong> an der<br />
tyrannischen Institution innerhalb der Gesellschaft, d e m S t a a t e .<br />
Eines aber wollen wir nicht verschweigen: u n s e r Antimilitarismus<br />
ist ein g a n z b e s o n d e r e r Antimilitarismus <strong>und</strong> unterscheidet sich von<br />
dem der Bourgeoisie, soweit sie auch antimilitaristisch, jenem der Sozialdemokratie,<br />
dadurch, daß er eine ganz andere Auffassung, ein ganz anderes<br />
Strebensziel besitzt, als jene es haben. Wie wir im Laufe dieser Darlegung<br />
beobachten werden können, hat es bislang stets z w e i Formen antimilitaristischer<br />
Betätigung gegeben, <strong>und</strong> erst die Anarchisten sind es, die diesen<br />
gegebenen <strong>und</strong> noch heute allgemein maßgeblichen Formen eine dritte Form<br />
hinzugefügt haben, n ä m l i c h d e n a n a r c h i s t i s c h e n A n t i m i l i t a r i s m u s .<br />
Die nicht-anarchistischen Auffassungen des Antimilitarismus erblicken<br />
in dem Kriege eine für sich <strong>und</strong> durch sich allein bestehende Brutalität,<br />
Roheit <strong>und</strong> Bestialität des Menschen <strong>und</strong> der Menschen. Das Gesellschaftsbild,<br />
die Gr<strong>und</strong>lage unseres wirtschaftlichen Lebens treten zurück, werden<br />
überhaupt nicht beachtet vom bürgerlichen Friedensschwärmer. Er schwärmt<br />
für den Frieden, wie die Religionspropheten vom Hereinbruche des tausendjährigen<br />
Reiches schwärmten. Er sieht in der modernen Gesellschaft <strong>und</strong><br />
ihrer wirtschaftlichen Gr<strong>und</strong>lage nichts Kriegeerzeugendes <strong>und</strong> -Benötigendes,<br />
glaubt vielmehr, daß Kriege durch die Schlechtigkeit dieses oder jenes<br />
Individuums, dieser oder jener Kategorie von Individuen angezettelt werden.<br />
Hat er mit letzterem n i c h t d u r c h w e g s Unrecht, so bleibt noch immer<br />
die Frage bestehen, w e l c h e Motive <strong>und</strong> Veranlassungen es sind, die diese<br />
oder jene Kategorie von Individuen zu Chauvinisten, zu absichtlichen oder<br />
unabsichtlichen, zu berechnenden oder unberechnenden Kriegshetzern machen.<br />
Bei denjenigen Friedensfre<strong>und</strong>en, die zu den sogenannten radikalen<br />
Parteien des öffentlichen Lebens gezählt werden — also von den liberalisierenden<br />
Strömungen an bis zu der linksliberalen der Sozialdemokraten —<br />
treten wieder andere Momente in den Vordergr<strong>und</strong>. Kehrt sich der Bourgeois<br />
nur <strong>und</strong> ausschließlich gegen die einzelnen Individuen, in denen er Jingos<br />
<strong>und</strong> Kriegshetzer erblickt, so erkennen diese Parteien sehr wohl die heutige<br />
wirtschaftliche Bedingtheit des Krieges an. Sie begreifen auch seine Unvermeidlichkeit<br />
<strong>und</strong> durchschauen deutlich genug die Heuchelei der „friedensschwärmenden"<br />
Bourgeoisie. Allein sie gehören zu den nach Macht <strong>und</strong><br />
Gewalt irn modernen Staatsleben strebenden Tendenzen. Und so verneinen<br />
sie, den Obelstand in der bestehenden S t a a t s f o r m zu erblicken. Die<br />
Änderung dieser Staatsgewalt bedeutet stets das eine: die herrschende<br />
Klasse wird verdrängt <strong>und</strong> eine andere Klasse ergreift das Ruder der Staatsgewalt.<br />
Eine jede dieser nach Macht strebenden Parteien sieht sich gedanklich<br />
schon als die zur Herrschaft Gelangte. Dann- wollen sie, dies ihr Versprechen,<br />
durch die rechtliche Festlegung ganz besonderer Bestimmungen für<br />
den Krieg, durch die Veränderung des Heerwesens <strong>und</strong> dessen Vervollkommnung,<br />
wie auch Beschränkung auf Verteidigungskriege, als eine zur<br />
staatlichen Macht gelangte Partei den modernen Krieg aufheben.<br />
Während die bourgeoisen Friedensfre<strong>und</strong>e somit die Aufhebung des<br />
Krieges von den guten Entschlüssen mächtiger Staatsmänner, Potentaten<br />
<strong>und</strong> Persönlichkeiten erwarten — man erinnere sich nur des Jubels vonseiten<br />
dieser Kreise über die Auslassungen des russischen, verbestialisierten Zaren<br />
—, hegen die anderen, die radikalen <strong>und</strong> sozialdemokratischen Friedensfre<strong>und</strong>e<br />
<strong>und</strong> „Antimilitaristen" die Hoffnung, mittels der Staatsmaschine,<br />
mittels ihres Mechanismus, den Krieg abschaffen zu können. Sie glauben<br />
nicht an die Besserungsfähigkeit der gegenwärtigen Staatsrepräsentanten,<br />
meinen jedoch, selbst besser zu sein, anders zu handeln, sobald s i e zur<br />
Macht gelangt sind.<br />
Es ist das nur eine erweiterte Auffassung der ersteren. Tatsache ist<br />
auch, daß b e i d e Richtungen in ihren praktischen Vorschlägen sich ziemlich<br />
intim <strong>und</strong> verwandt berühren. Schiedsgerichte, internationales Recht, Abstimmungen<br />
über die Eventualität eines Krieges durch das Volk oder durch<br />
die gesetzgebende Körperschaft usw. — es sind dies samt <strong>und</strong> sonders<br />
Vorschläge, die sowohl von den einen, wie den anderen anerkannt werden.<br />
Der Bourgeois hofft nämlich auf die B e s s e r u n g s f ä h i g k e i t des S t a a t s -<br />
m a n n e s , der Sozialdemokrat — wir wollen ihn des Argumentes halber als<br />
den politisch extrem Radikalen betrachten — hofft auf die Besserungsfähigkeit<br />
des Staats systems. Logischer ist vielleicht noch der Bourgeois, denn<br />
einerseits vermag die Initiative des Einzelnen sehr viel, andererseits besteht<br />
ein Staats S y s t e m aus den es konstituierenden Menschen. Unlogisch sind<br />
sie alle beide, weil sie gemeinsam der Meinung sind, daß die Macht ihre<br />
eigene Wesensäußerung: d e n K r i e g , vernichten würde.<br />
Demgegenüber bieten die Anarchisten eine ganz eigenartige Meinungsanschauung<br />
dar. Sie betrachten den Krieg n i c h t als ein b e s o n d e r e s<br />
Schreckgespenst des gesellschaftlichen L e b e n s ; sie wissen, daß er sich in<br />
der Weltgeschichte in a l l e n gesellschaftlichen Formen der staatlichen Autorität<br />
vorfand <strong>und</strong> suchen nach dem Gr<strong>und</strong> dafür. Ihr Antimilitarismus beschäftigt<br />
sich sowohl mit dem Kriege selbst, wie mit dem System, welches<br />
den Krieg gebärt. In ihrer universalen Auffassung gelangen sie zu Konklusionen,<br />
die sich mit den Auffassungen der übrigen Friedensbestrebungen<br />
manchmal parallel laufend finden, in ihren <strong>Ziel</strong>en aber zu ganz anderen<br />
Schlüssen gelangen als diese.<br />
Um diese Schlüsse zu begreifen, ist es notwendig, zwei Probleme<br />
schärfer ins Auge zu fassen: erstens die Entstehung des Krieges, zweitens<br />
den Antimilitarismus selbst, dessen führende Ideen erst die Anarchisten zu<br />
harmonischen <strong>Ziel</strong>en <strong>und</strong> zu einer logischen Taktik gelangen lassen.<br />
II.<br />
Staat <strong>und</strong> Militarismus/<br />
Das charakteristische Moment eines Krieges findet sich darin, daß<br />
eine Gemeinschaft von Menschen die Individuen einer anderen Gemeinschaft<br />
angreift oder von diesen angegriffen wird. Es ist klar, daß wir, wollen wir<br />
überhaupt erkennen können, was der Krieg, uns zurück zu begeben haben<br />
in das Urzeitalter primitiver menschheitlicher Existenzbedingungen. Nur dann,<br />
wenn wir nicht verwirrt <strong>und</strong> befangen werden in unserem Urteil von der<br />
Mannigfaltigkeit <strong>und</strong> Vielseitigkeit moderner sozialer Einrichtungen, uns<br />
darauf beschränken können, die wenigen Momente der Veränderung, die in<br />
der primitiven Menschheitsorganisation auftreten, klar <strong>und</strong> deutlich zu beobachten,<br />
werden wir zu einer wahrheitsgemäßen Betrachtung unseres Problems<br />
gelangen.<br />
K r i e g b e d e u t e t M a s s e n g e w a l t g e g e n M a s s e n g e w a l t . U m<br />
den Krieg z u begreifen, müssen wir d a s U r s p r ü n g l i c h e d e s G e w a l t -<br />
P r i n z i p s zu erforschen suchen.<br />
Die anthropologische <strong>und</strong> biologische Wissenschaft hat uns einerseits<br />
den Kampf ums Dasein, wie auch die Entwicklungsgeschichte des Menschen<br />
gelehrt, daß der primitive Mensch in seinem bitteren Daseinskampfe wider<br />
die Naturelemente, wie auch in der Überwindung des Mangels gegen seinesgleichen<br />
Gewalt anwandte, mögen wir füglich zugeben. Obgleich wir sofort<br />
hinzufügen müssen, daß, wie Krapotkin uns so großartig weitblickend lehrt,<br />
dieser Kampf des Menschen wider den Menschen n i c h t den hauptsächlichsten<br />
Teil seiner Lebensbetätigung ausfüllt, sondern daß es weit eher<br />
g e g e n s e i t i g e H i l f e u n d V e r e i n g u n g der primitiven Menschen waren,<br />
die sie durch die verschiedenen Stadien der Wildheit bis hinauf zu den<br />
ersten Ansiedlungen kulturellen Lebens gelangen ließen. Hätte es im primitiven<br />
Menschenleben n u r den Daseinskampf wider die eigene Art gegeben,<br />
so wäre ihm letztere Hinauf- <strong>und</strong> Emporentwicklung n i e gelungen, das<br />
Menschengeschlecht wäre höchstens dazu gelangt, sich gegenseitig aufzureiben.<br />
Davor bewahrte es der Faktor der Solidarität oder richtiger: Die<br />
s o l i d a r i s c h e N o t w e n d i g k e i t .<br />
Doch es kann zugegeben werden, daß es hier <strong>und</strong> da zu Zusammenstoßen<br />
gewaltsamer Natur zwischen Mensch <strong>und</strong> Mensch kam. Wir können<br />
der Wissenschaft — ist sie auch nicht immer sehr objektiv — das Zugeständnis<br />
machen, daß es sogar vorgekommen sein mag, daß sich zuweileten<br />
einige gegen einen oder mehrere Menschen verbanden <strong>und</strong> im gegenseitigen<br />
Kampfe ihren wilden, barbarischen Instinkten freien Lauf ließen, Totschlag<br />
<strong>und</strong> Mord verübten. Aber im Ganzen <strong>und</strong> Großen wird man nicht umhin<br />
können, einzusehen, daß es sich in all diesen Fällen vornehmlich um den<br />
Einzelkampf zwischen Mensch <strong>und</strong> Mensch handelte. Es war das, was wir<br />
heute noch sehen in der Form von Duellen bei den „Feinsten <strong>und</strong> Edelsten"<br />
der Nation. Solche Einzelkämpfe bilden aber noch lange keinen Krieg, auch<br />
waren sie außerordentlich selten <strong>und</strong> wurden ziemlich vermieden im primitiven<br />
Kommunismus des Menschengeschlechtes.<br />
Allen diesen Einzelzusammenstößen fehlte das kennzeichnende Merkmal<br />
des Krieges: d e r o r g a n i s i e r t e K a m p f v o n G e m e i n s c h a f t w i d e r<br />
G e m e i n s c h a f t , o r g a n i s i e r t v o n e i n e m b e w u ß t d i r i g i e r e n d e n<br />
Z e n t r u m . Und letzteres charakteristische Merkmal taucht erst viel später<br />
auf. Es fällt zusammen mit dem Aufkommen einer organisierten Macht innerhalb<br />
der sozialen Gemeinschaft: d e s S t a a t e s . Erst mit ihm erfolgt das,<br />
was wir da nennen M i l i t a r i s m u s , <strong>und</strong> erst der Militarismus ergibt <strong>und</strong><br />
nur der Militarismus kann ergeben: d e n K r i e g .<br />
Es ist heute eine feststehende, wissenschaftlich unwiderlegbar gestützte<br />
<strong>und</strong> bewiesene Tatsache, daß der Staat erstanden ist durch die Gewalt. Die<br />
Stärksten vereinigten sich <strong>und</strong> in der Aufpflanzung der Autorität, die in<br />
letzter Instanz stets auf physische Gewalt zurückgreift, bemächtigten sie sich<br />
der Vorteile <strong>und</strong> Lebensquellen der Gemeinschaft. Diese Stärksten waren<br />
zuerst die Priester, diejenigen, die in dem unklaren Geist des primitiven<br />
Menschen den Wahnglauben der Religion pflanzten. Ihre Stärke bestand anfangs<br />
mehr in ihrer List <strong>und</strong> Schlauheit, als in ihrer physischen Übermacht.<br />
Diejenigen, die sich so aufwarfen zu Beherrschern der Gemeinschaft, vernichteten<br />
die ursprüngliche Freiheit <strong>und</strong> Gleichheit der Menschen <strong>und</strong> sie<br />
stützten ihre Herrschaft vornehmlich dadurch, daß sie die Beute unter sich<br />
verteilten. Berauscht von den Wahnideen der Metaphysik, die die Priester<br />
— die ersten Könige — sie lehrten, brachten die Menschen ihre Opfergaben<br />
dar, die sich im Laufe der Zeit zu festbestimmten Abgaben <strong>und</strong> Steuern<br />
erweiterten.<br />
In dem Wesen einer jeden Autorität liegt es begründet, daß sie nach<br />
Machterweiterung strebt, zu einer Vergrößerung ihrer Herrschaftssphäre getrieben<br />
wird. Sowohl im eigenen, selbstisch-materiellen Interesse, wie auch<br />
im Interesse der Aufrechthaltung ihrer Macht im eigenen Grenzgebiete,<br />
Letzteres ist höchst wichtig, <strong>und</strong> es kann nur geschehen, wenn der auf das<br />
Übernatürliche gerichtete Sinn der Menschen eine stets neue Nahrung dadurch<br />
findet, daß ihm die Autorität, also der Staat, in immer neuen Manifestationen<br />
des Übernatürlichen entgegentritt. Der menschliche Geist muß so gedrillt<br />
werden, daß er sich nur als Werkzeug, als Mittel höherer, überirdischer<br />
Zwecke betrachtet. Die Autorität kann sich nur erhalten, wenn sie im Stande,<br />
sich dem Menschen als eine mit überirdischen Kräften ausgestattete, von<br />
Übernatürlichem beschirmte Macht darzustellen. Um dies zu erreichen <strong>und</strong><br />
um die Menschen für ihre materiellen Interessen, deren Zwecken gsmäß zu<br />
züchten, wurde aus dem ehemaligen Führer der Jagd, der den Segen übernatürlicher<br />
Kräfte auf das Vorhaben seiner Gruppierung herabflehte, ein<br />
König, ein Kriegsführer, der die Begriffe: Vaterland, Patriotismus, Nationalismus<br />
im Laufe der historischen Entwicklung lehrte <strong>und</strong> lehren ließ. Und da<br />
ein jedes Herrschertum darnach trachtet, sich als das allein zu Recht bestehende<br />
angestaunt zu sehen, dann auch nach dem Reichtum des Nachbarn<br />
Fortsetzung folgt. .
Wien, 20. September 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. — Nr. 18.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />
I./17. — Gelder sind zu senden an<br />
W. Kubesch, Wien, IV. Schönburgstraße<br />
5, III./27.<br />
Keinen Herrn.<br />
Aus dem Englischen übersetzt von<br />
Lilly N a d l e r - N u e l l e n s .<br />
Sagt Mensch zu Mensch, wir wissen wohl,<br />
Wir brauchen keinen Herrn,<br />
Auf unsrer Erd zu leben frei<br />
Und allem Übel fern.<br />
Das Leid der Sklaven früh'rer Zelt<br />
Jetzt uns In Ketten schlägt,<br />
Der Arbeit ewige Geduld<br />
Stets neue Fesseln prägt.<br />
Und sollen wir auch ohne Kampf<br />
Erdulden unsre Not,<br />
Hinsiechend in dem Leben schon<br />
Aus Angst vor frühem T o d ?<br />
Nein, ruft es laut, habt keine Furcht:<br />
Wir Wen'ge sind genug<br />
Der Welt zum Trotz, die Hoffnung siegt<br />
Selbst gegen diesen Fluch!<br />
Sie wächst <strong>und</strong> wächst; sind wir es noch,<br />
Die kleine Schar, zerstreut?<br />
Wer sind denn diese, kühnen Aug's<br />
Zu Kampf <strong>und</strong> Tat bereit?<br />
Das Heer ist's, dessen Losungswort:<br />
»Nicht H e r r n , n i c h t K n e c h t e m e h r ! "<br />
Ein flammend Licht, ein blitzend Schwert,<br />
Ein Sturm, der fegt daher!<br />
William Morris.<br />
Der Antimilitarismus vor<br />
Gericht.<br />
In einem düstern Schwurgerichtssaal<br />
zu Brüx stehen zwei schlichte Bergarbeiter<br />
vor den Gerichtsschranken. Zwei Arme,<br />
zwei schwache Menschen, gegen die die<br />
Macht des Staates mobil gemacht wird,<br />
denn sie sind eine Kraft, <strong>und</strong> es strahlt aus<br />
ihren Augen ein Überzeugungsidealismiis,<br />
der den Herrschenden Entsetzen einflößt.<br />
Es sind «gefährliche Menschen»; nicht weil<br />
sie Waffen tragen wie der Soldat, der sie<br />
bewacht <strong>und</strong> die Gendarmen, die das Gerichtsgebäude<br />
umzingeln; auch nicht, weil<br />
auf ihren Wink eine bewaffnete Gewalt,<br />
Tod <strong>und</strong> Verderben verursachend, sich in<br />
Bewegung setzte. Es sind keine Machthaber<br />
der Faust <strong>und</strong> der Gewalt; nur Bergarbeiter,<br />
Proletarier, die am wuchtigsten die Faust<br />
der lebenverkürzenden Ausbeutung fühlen<br />
<strong>und</strong> sind dennoch gefürchtet, sind «gefährliche<br />
Menschen». Denn sie verkörpern<br />
nicht nur das Elend des Proletariats, sie<br />
verkörpern gleichzeitig dessen reifende Erkenntnis,<br />
dessen Siegeswaffen der Befreiung,<br />
sie vertreten eine Idee — d i e I d e e d e s<br />
A n t i m i l i t a r i s m u s .<br />
Wozu all das Aufgebot an juridischer<br />
<strong>und</strong> militärischer Gewalt, wenn der Staat<br />
glaubt, daß diese Männer geschmäht haben?"<br />
Weshalb seine Empörung über ihre Mißachtung<br />
des Vaterlandes? Schließlich muß<br />
man es doch einem jeden seinem e i g e n e n<br />
Gefühl überlassen, ob er sein Vaterland<br />
lieben will oder nicht. Die Liebe läßt sich<br />
nicht zwingen, ebensowenig wie der Haß;<br />
diese Gefühlsregungen <strong>und</strong> Geistesempfindungen<br />
des Menschen müssen ganz bestimmte<br />
Anlässe haben, um auftreten,<br />
um walten zu können. Nowak <strong>und</strong><br />
Fronek, die zwei angeklagten Bergarbeiter<br />
<strong>und</strong> Antimilitaristen, haben erklärt,<br />
„ I n E r w ä g u n g , dass die E m a n z i p a t i o n d e r A r b e i t e r k l a s s e selbst e r o b e r t w e r d e n m u s s ; dass<br />
d e r K a m p f für die E m a n z i p a t i o n d e r A r b e i t e r k l a s s e kein K a m p f für K l a s s e n v o r r e c h t e <strong>und</strong><br />
M o n o p o l e ist, s o n d e r n für g l e i c h e R e c h t e <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die V e r n i c h t u n g a l l e r K l a s s e n -<br />
h e r r s c h a f t ; d a s s die ö k o n o m i s c h e U n t e r w e r f u n g d e s A r b e i t e r s u n t e r den A n e i g n e r n d e r A r b e i t s -<br />
mittel, d. h. d e r L e b e n s q u e l l e n , d e r K n e c h t s c h a f t in allen ihren F o r m e n zu O r u n d e liegt —<br />
d e m gesellschaftlichen E l e n d , d e r g e i s t i g e n V e r k ü m m e r u n g <strong>und</strong> d e r politischen A b h ä n g i g k e i t ;<br />
d a s s die ö k o n o m i s c h e E m a n z i p a t i o n d e r A r b e i t e r k l a s s e d a h e r d e r g r o s s e E n d z w e c k ist, d e m<br />
j e d e politische B e w e g u n g u n t e r z u o r d n e n ist . .<br />
daß s i e kein Vaterland haben, daß i h n e n<br />
das Vaterland nichts ist, daß s i e in ihm<br />
nur den unbeweglichen Besitzstand der<br />
reichen Kapitalistenklasse vertreten sehen,<br />
ein Besitzstand, der vom Staate mit militärischen<br />
Grenzlinien umzogen wird. Deshalb<br />
verwerfen sie den Begriff Vaterland;<br />
er ist i h n e n nichts. Schmähungen? Wo<br />
sind hier die Schmähungen, wenn man auf<br />
diesen 48 Jahre alten Mann blickt, dessen<br />
zusammengesunkene, ausgemergelte Gestalt<br />
einen Sechzigjährigen vermuten ließe; dessen<br />
Lebenstage, die ihm sein Vaterland bietet,<br />
gezählt <strong>und</strong> gewogen sind. Schmähungen?<br />
Aber weshalb es dann nicht dem Urteil<br />
der breiten Massen überlassen, ob es sich<br />
hier um Schmähungen oder um Konstatierung<br />
von Tatsachen handelt? Gewiß,<br />
wenn es dem Volke gut geht, wenn es<br />
Wohlstand <strong>und</strong> Lebensgedeihlichkeit besitzt<br />
wie wird es doch über den Toren<br />
lachen, der ihm sagen will, daß ihm das<br />
Vaterland nichts bietet, <strong>und</strong> daß nur die<br />
Reichen ein Vaterland haben, die Armen<br />
jedoch nur die internationale Welt der<br />
Knechtung <strong>und</strong> den internationalen Befreiungskampf!<br />
Weshalb läßt es der Staat<br />
nicht darauf ankommen, daß die breiten<br />
Volksmassen es selbst erkennen können,<br />
daß Nowak <strong>und</strong> Fronek nur schmähten?<br />
Weshalb ist er es, der sich da aufwirft zu<br />
der Behauptung, die beiden hätten «geschmäht»,<br />
der nicht abwartet, bis das Volk,<br />
das leidende Volk, sich wider die beiden<br />
kehrt? Wenn Nowak <strong>und</strong> Fronek geschmäht,<br />
wirklich geschmäht haben, wenn sie nicht<br />
demjenigen Ausdruck <strong>und</strong> geistige Gestaltung<br />
verliehen haben, was in der Volksseele<br />
zu dämmern beginnt <strong>und</strong> schon längst<br />
dumpf gefühl' wird, dann könnte sich der<br />
Staat mit seinen Funktionären all die Arbeit<br />
ersparen; die zwei Bergarbeiter brauchen<br />
nicht angeklagt oder verurteilt zu werden,<br />
es würde ja so wie so kein Mensch auf<br />
sie hören.<br />
Aber die Herren der Gewalt <strong>und</strong><br />
Macht w i s s e n , daß die Angeklagten n i c h t<br />
geschmäht, sondern die Wahrheit gesprochen<br />
haben. Blickt auf die Richter: ges<strong>und</strong>e,<br />
kräftige Männergestalten, die ein schönes<br />
Greisenalter vor sich haben; beseht euch<br />
die wohlgenährte Gestalt des Staatsanwaltes;<br />
bew<strong>und</strong>ert das R<strong>und</strong>bäuchlein des possierlichen<br />
Gendarmen Lorenz, der da glaubt,<br />
eine «wichtige Person» geworden zu sein<br />
— <strong>und</strong> dann schaut auf diese zwei Bergarbeiter:<br />
der eine schon halb in den Armen<br />
des Todes, der andere, der als 22 jähriger<br />
schon Runzel trägt <strong>und</strong> als 40jähriger Mann<br />
ein todessiecher Greis sein wird, wenn er<br />
nicht früher den «schlagenden Wettern»<br />
zum Opfer gefallen. Da fragen wir doch<br />
ganz entschieden: Was hat das Vaterland<br />
d i e s e n Männern anderes als blutrünstige<br />
Lebensstriemen gebracht; was hat es i h n e n<br />
jemals an Lebensfreude, Wohlfahrt <strong>und</strong><br />
Auskömmlichkeit gegeben? Nichts. Und es<br />
sind diese Männer, die als Vertreter der<br />
Welt des Proletariats dastehen; n i c h t die<br />
Vornehmen, die Politiker oder die Richter.<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2-40";<br />
halbjährig K 1-20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3 -<br />
5 0 , halbjährig Fr. l -<br />
75, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
Über vier Monate hat man diese Männer<br />
in Untersuchungshaft behalten, um sie<br />
dann mit 14, resp. 30 Tagen Arrest zu bestrafen.<br />
Wer wird ihnen diese lange Untersuchungshaft<br />
ersetzen? Wer sorgte mittlerweile<br />
für die unmündigen Kinder des einen,<br />
die betagten Eltern des anderen? Der Staat,<br />
das Vaterland vielleicht? Allerdings, wir,<br />
die wir die bangen Prozeßst<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die<br />
bedrückenden Momente der letzten Entscheidung<br />
durcherlebt haben, geben gern<br />
zu, daß das Ende der beiden Kameraden<br />
hätte strenger sein können, als es glücklicherweise<br />
ausfiel. In Wien z. B. vor<br />
christlichsozialen Geschworenen wäre es<br />
ihnen wahrscheinlich nicht so glimpflich<br />
ergangen, wie in dem, bis in breite bürgerliche<br />
Kreise hinein den Radikalismus wenigstens<br />
etwas verstehenden Böhmen. Doch<br />
was tut dies zur Sache, wenn man gerade<br />
solche Zufälle bei einer Gerichtsentscheidung<br />
berücksichtigen muß <strong>und</strong> s i e die «Gerechtigkeit»<br />
ergeben.<br />
Es ist das e r s t e Mal, daß wir in Österreich<br />
einen antimilitaristischen Prozeß haben,<br />
der sich ausschließlich <strong>und</strong> ausdrücklich<br />
um Anarchisten dreht. Und die Angeklagten<br />
haben sich freimütig zu ihrer Geistesgesinnung<br />
bekannt. Wir freuen uns aufrichtig<br />
dessen, daß auch in Österreich der Anarchismus<br />
einmal Gelegenheit besaß, sich als<br />
das vor Gericht zu erweisen, was er ist:<br />
als eine Lebensanschauung, die radikal mit<br />
allen Begriffen der heutigen Gesellschaftsordnung<br />
gebrochen hat. sich ihre eigene<br />
Humanität, ihre eigene Ethik <strong>und</strong> Aktion<br />
zurechtlegt; <strong>und</strong> noch erfreulicher ist <strong>und</strong><br />
war es, sehen zu können, daß diese spezifisch<br />
anarchistischen Anschauungen sich<br />
eins wissen <strong>und</strong> zusammenfließen mit dem<br />
großen Universalgedanken höchster Humanität,<br />
wahrsten Friedens <strong>und</strong> echtester<br />
Brüderlichkeit. Der österreichische Anarchismus<br />
hat in seiner Geschichte viel Unglück<br />
gehabt, zahlreiche seiner Prozesse<br />
<strong>und</strong> Aktionen waren für ihn selbst eine<br />
Niederlage, indem sie in seinem Namen<br />
von Nichtanarchisten, von radikalen Sozialdemokraten<br />
oderVerzweifelten unternommen<br />
wurden. Diesmal war es anders, hoffen wir,<br />
daß es nur so wieder <strong>und</strong> immer wieder<br />
kommen soll, wenn der Staat es so haben<br />
will: es müssen Jünger einer Geistesanschauung,<br />
Männer <strong>und</strong> Frauen sein, die<br />
eine neue Welt der Gewalts- <strong>und</strong> Herrschaftslosigkeit<br />
vertreten, die der Staat verfolgen<br />
soll; denn wenn er solche verfolgt,<br />
so wird deren Lehre unverrammelbar ihren<br />
<strong>Weg</strong> finden zu den Massen, dieser Gedanke<br />
der wirklichen Freiheit <strong>und</strong> Menschheitsbefreiung<br />
— der Anarchie — wird seinen<br />
<strong>Weg</strong> finden selbst durch die dicksten Gerichtsmauern<br />
<strong>und</strong> gerade aus dem Wüten<br />
der militärischen Macht des Staates heraus<br />
wird die glänzendste Beweiskraft erstehen<br />
für die leuchtende Wahrheit der Lehre des<br />
Anarchismus, die da kurz Herren <strong>und</strong><br />
Knechte abschaffen will, ihrer sozial taktischen<br />
Methode, dem anarchistischen Antimilitarismus,<br />
der die Gewalt, als die ewige
Vergewaltigung der Menschheit, völlig beseitigen<br />
will aus ihrem Bereiche.<br />
In der Herrschaftslosigkeit ist allein<br />
die Gewaltlosigkeit gegeben; sie allein kann<br />
den Boden abgeben für einen Gesellschaftszustand<br />
des Gemeinschaftseigentumes, der<br />
Abwesenheit von jeder Autorität, jedem<br />
Richter, Staatsanwalt, Soldaten, Polizisten,<br />
Scharfrichter, ohne Zwangsfabriken, Kasernen<br />
<strong>und</strong> Gefängnisse. Nur in der Erreichung<br />
dieses Zustandes ist für die<br />
Menschheit die Lösung der sozialen Frage<br />
gegeben, niemals in den Formveränderungen<br />
des bestehenden Staates, der Parlamente,<br />
des Militarismus. Alles dies muß untergehen,<br />
auf daß eine ges<strong>und</strong>ete Menschheit erstehe!<br />
Dafür haben die Antimilitaristen vor<br />
dem Brüxer Schwurgericht gekämpft; dafür<br />
wird auch der eine, Rudolf Trejbal, büßen<br />
müssen, dessen Schicksal sicherlich ein<br />
grauenvolles zu nennen ist. Wird er doch<br />
vor die moderne Inquisitionsbehörde unserer<br />
Zeit, vor ein K r i e g s g e r i c h t gestellt<br />
werden, wo ihm weder ein Rechtsanwalt,<br />
noch irgend ein milderndes Hinterpförtchen<br />
der Widersprüche des Gesetzes zu Hilfe<br />
kommen können. Dort waltet nur die Brutalität<br />
des Militarismus, der Geist eines<br />
modernen Torquemada. — Aber das eine<br />
fühlen wir alle ganz deutlich, daß das<br />
Leiden für diese Idee kein vergebliches<br />
genannt werden kann. Dieses Leiden wird<br />
es den Menschen unzweideutig einschärfen,<br />
daß das einzige Mittel wider diesen merkwürdigen<br />
Zustand des Lebens, in dem<br />
Menschen zu Mördern anderer Menschen,<br />
zu deren kaltherzigsten Folterknechten werden,<br />
nicht dadurch aufgehoben werden<br />
kann, wenn man andere Menschen an ihre<br />
Stelle setzt. Nein, es ist die Sache der Autorität<br />
selbst, der Herrschaft an <strong>und</strong> für sich,<br />
die schlecht ist, sagte der junge englische<br />
Denker Edm<strong>und</strong> Burke. Er sprach eine<br />
große Wahrheit aus, die die Menschen<br />
durch den Anblick des Leidens der Pioniere<br />
begreifen lernen werden, durch ihre tiefe<br />
Einsicht, daß die Rettung vor der Gewalt<br />
des Staates, die endgültige Befreiung von<br />
den entsetzlichen Marterwerkzeugen der<br />
Staatsgewalt einzig <strong>und</strong> allein im konsequenten<br />
Antimilitarismus gelegen ist. Dieser<br />
entwaffnet die Gewalthaber, <strong>und</strong> es beginnt<br />
der Tag der Freiheit, der Arbeit <strong>und</strong> des<br />
Genusses in Freiheit — der Anarchie.<br />
Die Schwurgerichtsverhandlung<br />
des ersten antimilitaristischen<br />
Prozesses in Österreich*.<br />
Am 5. S e p t e m b e r begann im Schwurgerichtssaal<br />
des Gerichtsgebäudes zu Brüx in Böhmen der<br />
erste antimilitaristische Prozeß, dessen sich Jungösterreich<br />
rühmen darf. Angeklagt waren die Bergarbeiter<br />
F r a n z N o w a k <strong>und</strong> J o s e f F r o n e k .<br />
Als Mitangeklagter hätte eigentlich der Kontorist<br />
R u d o l f T r e j b a l fungieren sollen, doch i n Anbetracht<br />
des Umstandes, daß der letztgenannte als<br />
Soldat seine antimilitaristische Aktion begangen<br />
haben soll, schied er aus dem Zivilverfahren aus,<br />
wird vor das Kriegsgericht gestellt werden; der<br />
nachfolgenden Verhandlung wohnte Trejbal nur<br />
als Zeuge bei.<br />
Die Verhandlung began-i um etwa 10 Uhr<br />
vormittags <strong>und</strong> fand unter vollständigstem Ausschluß<br />
der Öffentlichkeit statt. Anwesend waren nur<br />
die Vertrauensmänner der Angeklagten. Letzteren<br />
standen als Rechtsbeistände die Herren Dr. H e r z -<br />
b e r g - F r ä n k e l (Wien) <strong>und</strong> D r . V a c l a v B e n d e l<br />
(Prag) zur Seite.<br />
Der Gerichtshof bestand aus den Herren<br />
Landesgerichtsräten S t ö g e r , dessen Bruder <strong>und</strong><br />
W a n ě k. Als Staatsanwalt fungierte Herr Dr. M e y e r .<br />
Mit Rücksicht auf die Geschworenen, von<br />
denen nur einer der tschechischen S p r a c h e mächtig<br />
war, mußte die Verhandlung in deutsch <strong>und</strong> böhmisch<br />
geführt werden.<br />
Die Verhandlung wird mit dem Verhör des<br />
Angeklagten Fronek eröffnet. Auf die Fragen des<br />
Vorsitzenden gibt derselbe etwa folgendes zuProtokoll:<br />
* Die obigen Aufzeichnungen bieten nur einen<br />
generellen Überblick des P r o z e s s e s <strong>und</strong> seiner Verhandlungen,<br />
da der stattgehabte Ausschluß der<br />
Öffentlichkeit uns eine besondere Beschränkung<br />
aufnötigt. Dennoch glauben wir, das wesentliche<br />
Material zusammengetragen zu haben, um dem<br />
Leser ein objektives Urteil zu ermöglichen. Die Red.<br />
F r o n e k : Ich wurde am 1. September 1886<br />
in Dux geboren. Ich besuchte die Volks-, Bürger<strong>und</strong><br />
Fortbildungsschule, bin gegenwärtig Bergarbeiter.<br />
Mit meinen Eltern lebe ich in gemeinschaftlichem<br />
Haushalt <strong>und</strong> besitze keinerlei Vermögen.<br />
Ich wurde bereits einmal zu einer Strafe<br />
von 24 St<strong>und</strong>en oder zur Zahlung von 10 Kronen<br />
wegen Übertretung des Kolportageverbotes verurteilt.<br />
Die Strafe konnte nicht vollzogen werden,<br />
da ich anfangs Mai verhaftet wurde.<br />
N o w a k : Ich wurde am 18. November 1860<br />
geboren <strong>und</strong> bin nach Dux zuständig. Ich bin konfessionslos<br />
<strong>und</strong> habe vier Kinder im Alter von 10<br />
bis 22 Jahren. Ich bin Bergarbeiter seit meinem<br />
13. Lebensjahr, als ich die Volksschule verlassen<br />
mußte, um mir meine Existenz zu verdienen. Ich<br />
habe beim Militär nicht gedient, wurde wegen<br />
Übertretung des Kolportageverbotes einmal mit<br />
5 Kronen vorbestraft.<br />
Es werden nun die 12 Geschwornen, wie der<br />
Zeuge R. Trejbal vereidigt.<br />
Der Staatsanwalt verliest hierauf die Anklageschrift,<br />
die wir in ihren Hauptstellen wiedergeben:<br />
Anklage.<br />
Die Staatanwaltsctiaft erhebt gegen Franz<br />
Nowak <strong>und</strong> Josef Fronek die Anklage, miteinander<br />
Verabredungen getroffen <strong>und</strong> das Konzept zu einem<br />
(bestimmten) antimilitaristischen Plakat entworfen<br />
<strong>und</strong> sich zum Zwecke der Vervielfältigung desselben<br />
einen Hektographen widerrechtlich angeschafft zu<br />
haben. Am 1. Mai 1908 wurden in Osseg Schriften<br />
verbreitet, die eine Verächtlichmachung <strong>und</strong> Aufreizung<br />
zum Haß gegen den Militarismus involvieren,<br />
wie die in gewissen militärischen Verpflichtungen<br />
zum Militär stehenden Männer zur Verletzung dieser<br />
Pflichten aufforderten. An obigem Datum bemerkte<br />
die Gendarmerie von Osseg Plakate an<br />
verschiedenen Gebäuden, die folgenden Inhaltes<br />
waren :<br />
„An die jugendlichen Arbeiter!"<br />
(Es folgt nun das inkriminierte Manifest, das<br />
in scharfen Worten sich gegen die Militärinstitution<br />
der Konskription <strong>und</strong> Assentierung kehrt; eine<br />
scharfe Kritik des Militarismus <strong>und</strong> Aufzählung<br />
seiner Opfer; eine Ermahnung der Arbeiter, auch<br />
als Soldaten sich als Kinder des Volkes zu fühlen<br />
<strong>und</strong> auf die eigenen Väter, Mütter, Geschwister etc.<br />
nicht zu schießen. Das Manifest ist antipatriotisch<br />
<strong>und</strong> erkennt das Vaterland nicht an, es ist anarchistisch-antitnilitaristisch,<br />
indem es in flammenden<br />
Worten den Staat verwirft. Es nennt den Militarismus<br />
immer wieder: die Geißel, den Fluch <strong>und</strong><br />
Feind jeder wahren Kultur; er müsse beseitigt<br />
werden).<br />
„Die Verbreitung obiger Plakate fand auch in<br />
Dux statt. Es entstand sofort die Vermutung, daß<br />
die unabhängigen Sozialisten <strong>und</strong> Anarchisten, die<br />
sich um das anarchistische Bergarbeiterblatt „Hornicky<br />
Listy" gruppieren, die Urheber dieser Plakate <strong>und</strong><br />
ihrer Plakatierung seien. Im allgemeinen beweist<br />
das Plakat Bildung, was nur natürlich, da man es<br />
in Trejbal mit einem absolvierten Real- <strong>und</strong> Handelsschüler<br />
zu tun hat. Man schritt zur Verhaftung<br />
der Angeklagten, <strong>und</strong> Fronek gestand zu, daß er<br />
mit Trejbal das Plakat in etwa 55 Abzügen hergestellt<br />
hatte. Dies führte zur Verhaftung des Trejbal,<br />
der in Theresienstadt beim Militär diente.<br />
Trejbal legte ebenfalls ein freimütiges Geständnis<br />
ab, nach dem er in der Wohnung des Fronek die<br />
Plakate hergestellt hatte.<br />
„Die Aussagen des Trejbal sind kurz: Im April<br />
1908 befand er sich auf Urlaub in Dux, wo er mit<br />
den Kameraden anarchistischer Gesinnung verkehrte.<br />
Fronek forderte ihn zu einem Konzept für ein antimilitaristisches<br />
Plakat auf. Dazu brachte er eine<br />
Geldsumme von 10 Kronen auf, die er Trejbal zur<br />
Anschaffung eines Hektographen <strong>und</strong> Papier übergab.<br />
Am darauffolgenden Sonntag schrieb Fronek<br />
das Konzept ab. Auf die Idee, ein solches Plakat<br />
herauszugeben, kamen die Angeklagten durch den<br />
Umstand, daß kurz vorher die tschechischen Nationalsozialisten<br />
<strong>und</strong> Sozialdemokraten gleichfalls<br />
Plakate gegen die Assentierung herausgaben. Die<br />
Kameraden kamen zusammen <strong>und</strong> einer machte<br />
darauf aufmerksam, daß man selbst ein Plakat<br />
eigener Gesinnung herausgeben sollte.<br />
Im Vorverhör erklärte Nowak, daß er die<br />
scharfen Ausdrücke in dem Manifest nicht kenne,<br />
Trejbal erklärte seinerseits, er habe an dem Schriftstück<br />
nichts geändert, sondern es höchstens orthographisch<br />
korrigiert.<br />
Es stellte sich heraus, daß die Plakatierung<br />
in Haan, Osseg <strong>und</strong> Dux erfolgt war.<br />
„ G r ü n d e :<br />
„Über ihre besonderen Absichten sprechen sich<br />
die Angeklagten nicht aus. Die Staatsanwaltschaft<br />
erklärt, daß dieselben Mitglieder der anarchistischen<br />
Partei in Böhmen sind, die den Staat überhaupt<br />
<strong>und</strong> den Militarismus abschaffen will. Offenbar<br />
wollten die Angeklagten zur Zeit der Einrückung,<br />
wo die Gemüter der jungen Leute erregt sind, diese<br />
zur Empörung treiben. Nicht nur, daß die Plakate<br />
den Staat als Feind erklären, wird auch in glühenden<br />
Worten Propaganda für seine Beseitigung gemacht.<br />
Was kann den Lesern solcher Plakate<br />
anderes übrig bleiben als zu glauben, daß das<br />
Vaterland für den Arbeiter nichts sei <strong>und</strong> nur dem<br />
Wohlhabenden gehöre? Die Folge eines solchen,<br />
allerdings ungerechtfertigten Schlusses muß natürlich<br />
sein, daß der Staat der Hauptfeind <strong>und</strong> Organisator<br />
des Unglücks <strong>und</strong> Elends der Menschen sei. Aus<br />
diesem Gr<strong>und</strong>e sah sich die Staatsanwaltschaft<br />
veranlaßt, die Verfolgung gegen die Angeklagten<br />
einzuleiten. Es geschah dies auf Gr<strong>und</strong> der §§ 65,<br />
305 <strong>und</strong> 222.«<br />
Nach Verlesung dieser Anklageschrift erhob<br />
sich Rechtsanwalt Frankel <strong>und</strong> legte Einspruch wider<br />
das Gesamtverfahren ein; sein juridischer Standpunkt<br />
war, daß zu einer solchen, sich auf den<br />
Militarismus beziehenden, strafgerichtlichen Verfolgung,<br />
die klar spezifizierte Zustimmung des k. k.<br />
Kriegsministeriums notwendig sei. Diese sei nicht<br />
in der vom Gesetz vorgeschriebenen Form erfolgt.<br />
Er stellte daher den Antrag, das Strafverfahren<br />
gegen die Angeklagten bis auf weiteres sofort einzustellen.<br />
Der Staatsanwalt protestierte gegen den Antrag<br />
des Verteidigers, das Gericht zog sich zur Beratung<br />
zurück <strong>und</strong> beschloß, dem Antrage des Verteidigers<br />
n i c h t stattzugeben.<br />
Das Verhör des Josef Fronek wird nun<br />
wieder aufgenommen.<br />
Fr: „Ich fühle mich t e i l w e i s e schuldig der<br />
in der Anklageschrift ausgesprochenen Anklagen<br />
wider mich. Ich gestehe dies unumw<strong>und</strong>en ein. —<br />
Er gehöre dem Verein „Omladina" <strong>und</strong> einem politischen<br />
Arbeiterverein an. Er sei Anarchist <strong>und</strong><br />
Mitglied der Föderation der Bergarbeiter, die von<br />
Anarchisten begründet wurde, der aber auch Nichtanarchisten<br />
angehören, alle die willens sind, auf<br />
ökonomischer Gr<strong>und</strong>lage den Kampf gegen den<br />
Kapitalismus zu führen. Er kenne Trejbal seit seinen<br />
Schuljahren, da er mit diesem in dieselbe Schule<br />
gegangen. Von wem der Gedanke, das vorliegende<br />
Protokoll herauszugeben, ausgegangen sei, wisse<br />
er nicht mehr."<br />
P r ä s i d e n t : „Die Art <strong>und</strong> Weise des Vorgehens<br />
ist zu langsam, auf diese Weise können wir<br />
ein paar Tage hier sitzen. Ich fordere Sie auf, Ihr<br />
im Vorverhör abgelegtes Geständnis zu wiederholen."<br />
Fr.: „Ich kann nur sagen, daß ich das Geld<br />
dazu gegeben habe. Mein Zweck bestand darin,<br />
es der Jugend nahe zu legen, daß sie sich dem<br />
Volke nicht entfremde <strong>und</strong> von demselben entferne,<br />
wenn zum Militär eingerückt."<br />
Pr.: „Kannten Sie den Inhalt?"<br />
Fr.: „Ja, ich kannte flüchtig den Inhalt, aber<br />
nicht den genauen Wortlaut."<br />
Pr.: „Weshalb sind einzelne Sätze rot, die<br />
anderen blau geschrieben?"<br />
Fr: „Das weiß ich nicht, denn ich habe das<br />
Plakat auf dem Hektograph nur abgezogen, aber<br />
nicht geschrieben. Selbst fügte ich nur das Bildchen<br />
mit dem gebrochenen Gewehr <strong>und</strong> den zwei brechenden<br />
Händen, wie auch die Worte: .Keinen<br />
Mann, keinen Heller dem Militarismus', bei."<br />
Pr: „Haben Sie sich auch an der Plakatierung<br />
beteiligt?"<br />
Fr.: „Ja, ich habe insgesamt 25 Plakate angeschlagen."<br />
Pr.: „Was meinten Sie mit der Äußerung: ,Deir<br />
Feind sind die Repräsentanten des Staates' usw.?"<br />
Fr.: „Ich meinte damit, daß die Feldarbeiter<br />
<strong>und</strong> das Proletariat sich gegen den Staat organisieren<br />
sollen,"<br />
Pr.: „Was bezweckten Sie mit dem Plakat?"<br />
Fr: „Ich weiß aus den Zeitungen, daß besonders<br />
in jüngster Zeit viele Soldaten beim Militär<br />
mißhandelt werden; das Plakat sollte einem Protest<br />
dagegen Ausdruck geben."<br />
Pr.: „Was meinten Sie mit der Äußerung:<br />
.Wenn man euch befiehlt, auf eure Brüder zu schießen,<br />
dann . . . ? "<br />
Fr.: „Ich wollte damit sagen, daß die Kinder<br />
unter keinen Umständen auf die Väter schießen<br />
sollten."<br />
Dr. F r a n k e l : „Ich ersuche den hohen Gerichtshof,<br />
einen Brief des Angeklagten Fronek, der<br />
in dem Gefängnis geschrieben, doch saisiert wurde,<br />
zur Verlesung zu bringen. Derselbe wird Licht auf<br />
die Motive werfen, von denen der Angeklagte beseelt<br />
war."<br />
Pr. (liest aus dem Briefe vor): „. . . Ich bin,<br />
geliebter Vater, aus diesem Gr<strong>und</strong>e eingesperrt,<br />
weil ich die Gedanken eines anderen zu den meinen<br />
machte <strong>und</strong> öffentlich anklebte. Ich erblickte darin<br />
mein gutes Recht, nichts Ungesetzliches. Allerdings,<br />
die hohen Herren fragen nicht nach den Ursachen,<br />
werden sich um die wahren Urheber wenig bekümmern.<br />
Der wahre Urheber, das ist jener Korporal,<br />
der, als ein Soldat im Mannschaftszimmer<br />
nicht mehr alle diejenigen zwecklosen Bewegungen<br />
machen wollte <strong>und</strong> konnte, die jener von ihm<br />
forderte, auf ihn eindrang mit den Worten: ,H<strong>und</strong><br />
bete, deine letzte St<strong>und</strong>e ist gekommen!' — <strong>und</strong><br />
ihn wirklich erschoß. (Dr. Frankel ruft dazwischen:<br />
„Dies hat sich in Wien wirklich zugetragen!") Oder<br />
ein anderer Urheber: ein Vorgesetzter, der einem<br />
Soldaten Urin in den M<strong>und</strong> ließ! I s t d i e s z u r<br />
E h r e d e r A r m e e n ö t i g ? Mußte nach solchen<br />
Nachrichten mein antimilitaristisches Blut nicht in<br />
Wallung geraten ? Und wo bleibt der schöne Bibelsatz<br />
: ,Du sollst nicht töten!' Wo: ,Liebe deinen<br />
Nächsten wie dich selbst!'? Im Schacht des Bergwerks,<br />
wo ich arbeite, wird man mir von meinem<br />
Lohne abzuzwacken suchen. Und wenn ich dann<br />
streike, dann kommt das Militär — <strong>und</strong> bei dieser<br />
Gelegenheit läßt man die Arbeiter auf ihre Brüder<br />
schießen. Und weil der Reiche Geld hat, hat er<br />
alles, kann so viel Militär bekommen, wie er braucht.<br />
Befehl ist beim Militär Befehl, <strong>und</strong> so ist es wohl<br />
auch nicht angezeigt, das Gebot: ,Ehre Vater <strong>und</strong>
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Anläßlich des aktuellen, überwiegend antimilitaristischen<br />
Inhaltes dieser Mummer sehen wir uns<br />
veranlaßt, das Referat des Genossen Ramus für diesmal<br />
ausfallen zu lassen. Die Fortsetzung erfolgt in<br />
nächster Nummer. Die Redaktion.<br />
Auf Agitation.<br />
Am 13. August eine Versammlung im XII. Bez.,<br />
in der ich über „Die Wahrheit über den französischen<br />
Generalstreik" referierte <strong>und</strong> an der Hand der französischen<br />
Presse die Lügen der „Arbeiterzeitung"<br />
über diesen mutvollen Kampf des französischen<br />
Proletariats aufdeckte, auf die infamen Widersprüche<br />
in der Berichterstattung der deutschen sozialdemokratischen<br />
Presse <strong>und</strong> auf ihre herrliche Übereinstimmung<br />
mit dem christlichsozialen „Deutschen<br />
Volksblatt" in Beurteilung des Generalstreiks hinwies<br />
- <strong>und</strong> am 14. August befand ich mich schon<br />
in einem ganz anderen Milieu: bei den G r a z e r<br />
Kameraden. Endlich, nach Monate lang währender<br />
Vorbereitungsarbeit war es mir gelungen, meine<br />
Berufsgeschäfte so zu erledigen, daß eine einige<br />
Wochen dauernde Agitation in den verschiedenen<br />
Kronländern, die von den dortigen Kameraden mit<br />
Recht immer energischer gefordert wurde, mit in<br />
Kauf genommen werden konnte; aber auch auf der<br />
Reise mußte ich täglich mein Quantum geistiger<br />
Holzhackerei für meine diversen Herren Verleger<br />
liefern -- <strong>und</strong> sie ist schuld daran, daß ich den<br />
Genossen in diesen Reiseskizzen wenig melden<br />
kann von dem, was ich an landschaftlichen oder<br />
städtischen Sehenswürdigkeiten hätte sehen können.<br />
Dazu gebrach es mir meistens an Zeit. Das Leben<br />
eines reisenden anarchistischen Propagandisten ist<br />
nicht so rosig, wie das eines Sozialdemokraten oder<br />
irgend eines Agitators einer anderen Partei; bei uns<br />
gilt es, wenn wir nicht persönliche Mittel haben,<br />
gerade während einer solchen Reise den härtesten<br />
Kampf ums Dasein, ums Reisedasein, wenn ich mich<br />
so ausdrücken darf: es müssen von Stadt zu Stadt,<br />
von Station zu Station die nötigen Bahnspesen aufgetrieben<br />
werden, <strong>und</strong> dies kostet oft unsägliche<br />
Mühe. Bedenkt man ferner, daß wir keine Gratisfahrkarten<br />
haben, wie die Abgeordneten sämtlicher<br />
Parteien, unsere Aufklärungsarbeit aus unseren<br />
eigenen Taschen betrieben werden muß; bedenkt<br />
man, daß dies seit etwa zehn Jahren die erste<br />
Agitationstour war, die von anarchistischer Seite<br />
durch die Lande unternommen wurde, auf völlig<br />
unbekanntem Terrain <strong>und</strong> mit unbekannten Menschen,<br />
so wird man begreifen, wenn ich sage, daß ich, der<br />
ich sonst die Aesthetik <strong>und</strong> das Künstlerische, also<br />
Verschönernde des Lebens nicht gerne vernachlässigt<br />
sehe, diesmal wirklich kein Interesse hatte<br />
an all den natürlichen Reizen unseres Österreichs<br />
<strong>und</strong> seiner schönen Alpengegend.<br />
Dafür aber lebte ich desto intensiver in der<br />
Bewegung <strong>und</strong> mit den neuen Kameraden! Und da<br />
habe ich wahrlich viel Freude erlebt. Alte Geistesbekannte<br />
lernte ich nun persönlich kennen, wie z. B.<br />
Prisching in G r a z , der sich gerade, wie zur Feier<br />
meiner Ankunft, definitiv von der Propaganda für<br />
den Vegetarismus abgewendet <strong>und</strong> der rührigen<br />
Arbeit für das Großprinzip vollständiger s o z i a l e r<br />
Befreiung wieder zugewendet hatte. Es waren sehr<br />
fröhliche St<strong>und</strong>en, die ich mit der ziemlich starken<br />
Grazer Gruppe in ihrem traulichen Vereinslokal verlebte,<br />
dessen stattliche, gut ausgewählte Bibliothek<br />
einen achtunggebietenden Eindruck ausübt, der sich<br />
bei mir noch besonders in ein fre<strong>und</strong>schaftlich-liebevolles<br />
Gedenken auslöste, als mir mitgeteilt wurde,<br />
daß viele dieser Bücher einst Eigentum unseres, auch<br />
vielen älteren Wiener Kameraden noch in bester<br />
Erinnerung stehenden, gegenwärtig in New-York wirkenden,<br />
braven Kameraden Hippolyt Havel waren,<br />
der sie der Gruppe zuwendete, als er Graz verlassen<br />
mußte. Schon am nächsten Tage hatten wir<br />
eine Versammlung, die erfreulich gut besucht war.<br />
Ich referierte über „Sozialismus, Sozialdemokratie<br />
<strong>und</strong> Parlamentarismus". In der dann zu erfolgenden<br />
Diskussion ergriff keiner der etwa anwesenden<br />
Sozialdemokraten das Wort, wohl aber unser alter,<br />
wackerer Pionier Nozar, der in kernigen Worten<br />
seine historischen Erfahrungen aus der Zeit der<br />
Radikalen <strong>und</strong> Gemäßigten vortrug. Wir hatten alle<br />
Ursache, mit unserer Versammlung zufrieden zu<br />
sein <strong>und</strong> versprachen sämtliche der Anwesenden,<br />
Hand in Hand mit unserer tüchtigen Gruppe für das<br />
Ideal des Anarchismus einzutreten, nicht nur in<br />
Gedanken, sondern durch rührige Aufklärungsarbeit<br />
<strong>und</strong> Vertrieb unserer Literatur.<br />
Zur Grazer Versammlung hatten sich auch<br />
einige Genossen der M a r b u r g e r Gruppe eingef<strong>und</strong>en,<br />
um mich nach Marburg zu nehmen. Nachmittags<br />
verbrachten die Grazer <strong>und</strong> Marburger mit<br />
mir die Zeit in angenehmem Beisammensein, wozu<br />
auch der Umstand viel beitrug, daß gerade ein<br />
Kamerad anwesend war, der soeben von der sogenannten<br />
freiheitlichen Kolonie „ F o t o d o t e r a "<br />
bei Athen kam <strong>und</strong> seine Erfahrungen zum Besten<br />
geben konnte. Es war dies der Kamerad Hochmann,<br />
der früher ein eifriger Verteidiger Raymond Duncans<br />
in Berlin war, nun aber durch bitterste Erfahrung<br />
<strong>und</strong> als der letzte der mit so großen Hoffnungen<br />
begründeten Kolonie mit jenem brechen mußte.<br />
Duncan soll nichts als ein Abenteurer <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>eigentumsspekulant<br />
sein, der die Arbeitskraft von<br />
Anarchisten für selbstsüchtige Zwecke ausbeuten<br />
wollte. Uns allen, die wir seinen — Hochmanns —<br />
Ausführungen, die in ruhigem, leidenschaftslosem<br />
Tone vorgetragen wurden, folgten, ergriff eine tiefe<br />
Betrübnis bei dem Gedanken, daß sich gerade an<br />
solch hochfliegende Pläne, wie sie die Verwirklichung<br />
eines Lebens in echter Freiheitsgemeinschaft sind,<br />
solch unehrliche Elemente heranschlängeln <strong>und</strong> dadurch<br />
diese Pläne diskreditieren. Hoch mann aber ist<br />
überzeugt von dem Ideal des Anarchismus, er ist<br />
nicht wankelmütig geworden, <strong>und</strong> nach wie vor tritt<br />
er für eine praktische Begründung von freien Lebensgemeinschaften<br />
unter wirklichen Anarchisten ein.<br />
Ein erbärmliches H<strong>und</strong>ewetter war es, das<br />
meinen Einzug in Marburg begleitete. Die dortigen<br />
Genossen sind vornehmlich Angestellte der Südbahn,<br />
<strong>und</strong> ich hatte hier Gelegenheit zu beobachten, daß<br />
Menschen aus purem Edelsinn <strong>und</strong> oft nicht aus materiellem<br />
Interesse, aus Klasseninteresse, Anarchisten<br />
sind. Vielleicht sind dies überhaupt die besten<br />
Elemente unserer Bewegung hinsichtlich ihrer Ausdauer.<br />
— Die Südbahn, die bekanntlich recht hohe<br />
Fahrtarife hat, wird von jenen intelligent-kapitalistischen<br />
Prinzipien inspiriert, die darin bestehen,<br />
daß sie ihre Angestellten nicht auch noch in ihrer<br />
Lebenshaltung unterdrückt, sondern die Ausbeutung<br />
gerade dadurch schwungvoller betreiben kann, daß<br />
sie der Reproduktion der Arbeitskraft ihrer Arbeiter<br />
ein einigermaßen anständiges Lebensgebiet einräumt.<br />
Das ist schlau. Gleichzeitig ist es aber interessant zu<br />
erfahren, daß eine solche Lebenshaltung der relativen<br />
Annehmlichkeit in keiner Weise den ökonomischen<br />
Klassenkampf beeinträchtigt, wenn unter<br />
den Kämpfern einmal ein gewisser Grad geistiger<br />
Persönlichkeitserkenntnis um sich gegriffen hat. Es<br />
sind nämlich gerade d i e s e Arbeiter, die eine<br />
schöne, geräumige Wohnung von drei <strong>und</strong> oftmals<br />
mehr Zimmern, einen ziemlich großen Obst- <strong>und</strong><br />
Gemüsegarten samt Hühnersteige <strong>und</strong> sonstiger<br />
Haustierzüchtung haben •— es sind gerade diese<br />
Arbeiter, die vor zwei Jahren die p a s s i v e R e -<br />
s i s t e n z durchführten, teils zwecks Erzeugung von<br />
noch besseren Lebensbedingungen oder aus Solidarität<br />
zu den niedriger stehenden Arbeitern.<br />
<strong>Unser</strong>e Versammlung, in der ich über den<br />
„Kampf des Proletariats" sprach, war gut besucht<br />
<strong>und</strong> trotzdem einige griesgrämige Sozialdemokraten<br />
anwesend waren, die Unterbrechungen versuchten,<br />
haben sie sich nur blamiert <strong>und</strong> konnten die gegenseitige<br />
Verständigung zwischen Referent <strong>und</strong> Zuhörern<br />
nicht stören oder beeinträchtigen. Dieses<br />
Gefühl der gegenseitigen Sympathie habe ich besonders<br />
lebhaft bei den Marburger Kameraden<br />
empf<strong>und</strong>en; wir alle blieben nicht nur Kampfgenossen,<br />
sondern wir wurden in den paar Tagen<br />
wirklich Fre<strong>und</strong>e. Besonders lebhaft erinnere ich<br />
mich der Genossen P„ V., K., M. <strong>und</strong> des für<br />
unsere Bewegung noch so hoffnungsvollen, jungen<br />
Kameraden F.<br />
In K l a g e n f u r t haben wir sehr viele Genossen,<br />
aber weniger tätige Propagandisten. Und<br />
hier änderte sich auch so ziemlich das Bild der<br />
ökonomischen Lebensverhältnisse, das ich bisher<br />
vorgef<strong>und</strong>en hatte. Es wurde schlecht <strong>und</strong> immer<br />
schlechter. Und obwohl ich mich schon viel umgesehen<br />
habe in der Welt, so kenne ich doch keine<br />
zweite größere Stadt, die es an elenden Wohnungsverhältnissen<br />
für die proletarischen Schichten irgendwie<br />
mit Klagenfurt aufnehmen könnte. Die Arbeiter<br />
wohnen dort nicht in Häusern, sondern eher in<br />
Baracken <strong>und</strong> Erdhaufen. Diese haben ein düsteres,<br />
finsterschmutziges, klosterartiges Aussehen <strong>und</strong> in<br />
den eng aneinander gereihten Löchern — Zimmer<br />
kann man doch so etwas nicht nennen — lebt<br />
Mann, Frau samt Kindern, ganze Familien sind<br />
hineingepfercht. Was man in einer Höhle spricht,<br />
hört man im Nebenraum, es kann keine noch so<br />
private Angelegenheit vorgenommen werden, ohne<br />
daß das ganze Haus sie mit ansieht, anhört <strong>und</strong><br />
dadurch miterlebt. Tausende von Miasmen erfüllen<br />
die stickige, durch die Dutzende von Herdfeuern<br />
noch erhitzte Luft. Wer der Menschheit ganzen<br />
Jammer, die Frucht des grauenhaften Bodenwuchers<br />
<strong>und</strong> Monopoleigentums an dem, was allen Menschen<br />
gehören sollte: am Boden, beobachten will, der<br />
wird in Klagenfurt auf etwas stoßen, was er in den<br />
Großstädten wie Wien, Berlin usw., n i c h t sieht,<br />
schon aus hygienischem Selbstinteresse der Bourgeoisie<br />
nicht, die solche Zustände in den dicht<br />
bevölkerten Städten unmöglich dulden kann, will<br />
sie nicht selbst von denselben infisziert werden.<br />
Und doch, wie schön ist dieses Klagenfurt in seiner<br />
Umgebung, wie w<strong>und</strong>erherrlich waren die Spaziergänge,<br />
die ich mit einem alten Kameraden hinaus<br />
machte, draußen am See bei der Haltestelle Loretto<br />
<strong>und</strong> weiter dreben! Doch alles dies ist nur für die<br />
Besitzenden, die es da haben; die Plebs vegetieren<br />
in Klagenfurt selbst <strong>und</strong> in dessen Arbeiterviertel;<br />
da ist es wahrlich fürchterlich.<br />
Wir haben dort einen außerordentlich wackeren<br />
Kameraden; unseren K. Einer von denen, die in<br />
Armut dahinvegetieren, obwohl sie eine qualifizierte<br />
Arbeit kennen <strong>und</strong> diese in der Frohn der Lohnsklaverei<br />
leisten. Unermüdlich war er während<br />
meines Aufenthaltes für das Zustandekommen der<br />
Versammlungen tätig, gönnte sich weder Ruhe noch<br />
Essenszeit. In ihm steckt wahrlich dasjenige, was<br />
man anarchistische Initiative nennen kann, ein<br />
wackerer Mensch, ein treuer Kämpfer im Dienste<br />
der ihn beseelenden Freiheitsidee. Er arrangierte<br />
eine den besten Verlauf nehmende Versammlung<br />
der Bäcker, die von dem ihnen gehaltenen Vortrag<br />
so begeistert waren, daß sie sich alle, wie ein Mann,<br />
auf unsere Presse abonnierten. Am Abend desselben<br />
Tages fand eine größere Massenversammlung statt,<br />
die von unserer Gruppe einberufen war <strong>und</strong> in der<br />
ich über „Weltanschauung <strong>und</strong> Taktik des Proletariats"<br />
referierte. Die 2'/, stündigen Ausführungen<br />
fanden begeisterten Zuspruch <strong>und</strong> mit Ausnahme<br />
eines einzigen, sich dumm-flegelhaft benehmenden<br />
Sozialdemokraten verlief die Versammlung sehr<br />
harmonisch <strong>und</strong> zur Freude sämtlicher internen<br />
Kameraden.<br />
Einen der Ältesten aus der alten radikalen<br />
Bewegung, der sich ein jugendfrisches Herz trotz<br />
seines Greisenalters bewahrt hat, einen der Unbestechlichen<br />
der damaligen Zeit, lernte ich in<br />
Klagenfurt gleichfalls kennen. Ich brauche keinen<br />
Namen zu nennen, diejenigen, die ihn kennen (auch<br />
die Höchsten der Sozialdemokratie, die ihn fürchten!)<br />
wissen, wen ich meine, wenn ich sage, es war der<br />
„Alte mit dem Bismarckkopfe". Wenn er nur könnte,<br />
wie er wollte, unsere Bewegung würde in Klagenfurt<br />
einen riesigen Höhelauf nehmen. So aber ist<br />
sie hauptsächlich auf diejenigen Kameraden angewiesen,<br />
die die stille <strong>und</strong> schwere Organisations<strong>und</strong><br />
Aufklärungsarbeit leisten, unermüdlich, rastlos<br />
leisten. Ich meine hier vornehmlich den Genossen<br />
K., der aber hoffentlich, wenn ich das nächste Mal<br />
ihn sehe, nicht mehr so ganz allein stehen, sondern<br />
schon mitwirkende Kräfte gewonnen haben wird,<br />
deren Aufrüttelung <strong>und</strong> Einreihung in unsere Bewegung<br />
ich mir als schönsten Lohn für ineine<br />
Klagendster Tätigkeit anrechnen würde.<br />
Weiter, nach W e y e r . Ein unendlich reizender,<br />
noch im Aufstreben begriffener Kurort in Oberösterreich,<br />
in dem es eben so unendlich teuer zu<br />
leben, als der Flecken schön ist. Ich versprach mir<br />
nicht viel <strong>und</strong> war ganz überrascht, dorten eine<br />
ganze Anzahl ernster, tüchtiger Kameraden zu finden.<br />
Binnen 24 St<strong>und</strong>en wurde die Versammlung arrangiert,<br />
zu der alle „Macher" der Sozialdemokratie,<br />
die sonst immer gar energisch wider die bösen<br />
Anarchisten wettern, eingeladen wurden. Doch die<br />
Unentwegten fanden den besseren Teil des Mutes<br />
in der Vorsicht — nicht zu erscheinen. Am Tage<br />
nach der Versammlung schützt der eine Krankheit,<br />
der andere dies <strong>und</strong> jenes vor, keiner aber fand<br />
es der Mühe wert, seine Partei vor den Angriffen<br />
zu verteidigen, die auf diese gemacht wurden. In<br />
diesem Bergtal hatte sich morgens um 10 Uhr eine<br />
ganz hübsche Anzahl von Zuhörern eingef<strong>und</strong>en,<br />
die mit wahrer Andacht die Lehre des Anarchismus<br />
entgegennahm. Nicht genug damit, wurde sofort<br />
beschlossen, den Nachmittag zur Gründung einer<br />
eigenen Gruppe zu benützen; als Zusammenkunftsort<br />
wurde eine Stelle auf „steiler Bergeshöh'" bestimmt.<br />
Und obwohl ich, aufrichtig gesprochen, dem<br />
nachhaltigen Effekt meines Vortrages nicht bis zu<br />
diesem Grade traute — nachmittags hatte sich eine<br />
für den Anfang ganz stattliche Zahl eingef<strong>und</strong>en,<br />
die, nach einigem Hin- <strong>und</strong> Herreden, sofort an die<br />
Begiündung der Gruppe, der ersten Gruppe des<br />
Anarchismus, die jemals in Weyer bestanden, schritt<br />
(Fortsetzung folgt.) Pierre Ramus.<br />
Österreich.<br />
* Die Wiener Genossen setzen ihre Agitation<br />
durch die intensivste Aufklärungsarbeit fort. Im<br />
V. Bezirk sprachen abwechselnd Likier <strong>und</strong> Haidt an<br />
gut besuchten Vereinsabenden. Im XIV. Bezirk sprach<br />
Haidt über „Proletarisches Geistesleben", woran sich<br />
eine rege Diskussion schloß, an der sich auch ein<br />
Sozialdemokrat beteiligte. Am nächsten Vereinsabend<br />
sprach Likier über das Thema: „Sind Anarchisten<br />
auch Sozialisten?" In einer Versammlung<br />
im X. Bezirk sprach Haidt vor Gießern <strong>und</strong> Metallarbeitern<br />
über „Gewerkschaftsbewegung in Österreich".<br />
Eine rege Diskussion brachte reiches Material,<br />
zum Nachweis, wie durch die zentralistischreformativen<br />
Gewerkschaften die Arbeiter geschädigt<br />
werden.<br />
In einer öffentlichen Volksversammlung wurde<br />
das Thema: „Die Auflösung der Gcwcrkschaftuföderation<br />
in Böhmen" besprochen. Der Referent<br />
Haidt besprach eingehend unter lebhaftem Beifall<br />
der Anwesenden den Gewaltstreich der böhmischen<br />
Statthalterei <strong>und</strong> die niederträchtige perfide Haltung<br />
der sozialdemokratischen Partei in dieser Sache.<br />
Die vorgelegten Artikel der „Arbeiterzeitung",<br />
des „Glück auf" <strong>und</strong> „Arbeiterwille" mit ihren gemeinen<br />
Verdächtigungen <strong>und</strong> Beschimpfungen erregten<br />
den lebhaftesten Unwillen der Versammlung.<br />
An der Debatte beteiligte sich ein sonst unter M<strong>und</strong>sperre<br />
gehaltener jugendlicher Sozialdemokrat, der<br />
statt sachlicher Besprechung Verdächtigungen vorbrachte,<br />
wofür er von Likier <strong>und</strong> zwei weiteren<br />
Kameraden gründlich abgeführt wurde. Im Schlußwort<br />
besprach Haidt noch diese jesuitische Argumentation,<br />
die seitens des sozialdemokratischen<br />
Redners angewendet wurde. Die Versammlung endete<br />
nach dreistündiger Dauer.<br />
* Ketten für die organisierte Arbeiterschaft.<br />
Der Machtdünkel der reformativen Gewerkschaftsmacher<br />
nimmt immer krassere Formen an. Die „Arbeiterzeitung"<br />
berichtet vom Verbandstag der Gießer:<br />
„Der Referent schlägt auch einige Änderungen<br />
im S t r e i k r e g l e m e n t vor, in denen gesagt wird:<br />
Bei ausgebrochenen Differenzen ist es die Pflicht<br />
der Vertrauensmänner des Betriebes, möglichst aus
eigenem eine Regelung herbeizuführen. Falls dies<br />
unmöglich ist, ist eine Werkstättenversammlung einzuberufen<br />
<strong>und</strong> weiter die Organisation von den<br />
Differenzen zu verständigen. Streiks, die ohne vorherige<br />
v i e r w ö c h e n t l i c h e Anmeldung bei der Organisation<br />
ausbrechen, werden nicht anerkannt. Wenn<br />
nicht mindestens drei Viertel der in einem Betrieb<br />
Beschäftigten genußberechtigte Mitglieder sind, darf<br />
in keine Lohnbewegung eingetreten werden. Der<br />
Vorstand oder die Landesexekutiven sind auch b e -<br />
rechtigt, das Eintreten oder Abbrechen des Streiks<br />
zu bestimmen."<br />
Nach der Fassung dieser Sätze geht deutlich<br />
hervor, daß alle Streiks der Anmeldung von 4 W o -<br />
chen unterliegen. Wenn der Unternehmer also einen<br />
Vertrauensmann maßregelt, kann die Arbeiterschaft<br />
des Betriebes - sofern es dem Vorstand genehm<br />
ist - n a c h 4 Wochen ihre Solidarität bek<strong>und</strong>en.<br />
Es kommt ja mit jedem T a g schöner. Das sind<br />
klassenbewußte Arbeiter, die in dieser Weise b e -<br />
hehandelt werden ? Die Arbeiter dürfen mit Genehmigung<br />
in den Streik treten <strong>und</strong> müssen aufhören,<br />
wenn die Oberen es befehlen. Warum diese weitschweifigen<br />
Reglements? Es genügte ein Punkt, der<br />
da lautet: „Der Vorstand hat zu befehlen, die Mitglieder<br />
haben zu gehorchen, zu zahlen <strong>und</strong> zu<br />
kuschen." Das wäre kurz <strong>und</strong> bündig <strong>und</strong> den T a t -<br />
sachen entsprechend !<br />
* K o n f i s z i e r t wurde Nr. 17 des „W. f. A."<br />
* Wir entnehmen dem „Neuen Pester Journal",<br />
einem Bourgeoisblatt, die nachstehende Notiz:<br />
„Aus W i e n wird uns telegraphiert: Zum<br />
II. antimilitaristischen Kongreß, der in Wien<br />
stattfinden soll, finden allseits Vorbereitungen<br />
statt. Der Kongreß, der gegen Ende dieses<br />
Jahres stattfinden soll, dessen genaues Datum<br />
jedoch geheim gehalten wird, wird von den<br />
antimilitaristischen Organisationen <strong>und</strong> Kasernenvertrauensmännern<br />
Österreichs beschickt werden.<br />
Außerdem hätten die belgischen <strong>und</strong> französischen<br />
Antimilitaristen ihre Beteiligung zugesagt."<br />
Für uns ist die Mitteilung des Wiener Berichterstatters<br />
an das ungarische Blatt vornehmlich deshalb<br />
interessant, weil sie uns, den österreichischen<br />
Antimilitaristen, Mitteilung bringt von einer S a c h -<br />
lage <strong>und</strong> einem Kongreß, von dem w i r bisher nicht<br />
die leiseste Ahnung hatten. Aber aus eben diesem<br />
Gr<strong>und</strong>e können wir die ominöse Notiz, die ihre<br />
Vaterschaft wohl in einem berüchtigten „schwarzen<br />
Kabinett" gef<strong>und</strong>en hat, als eine ganz gemeine Lüge<br />
stigmatisieren, die vielleicht den Zweck verfolgt, der<br />
Polizei <strong>und</strong> dem Spitzeltum Gelegenheit zum B e -<br />
weise dafür zu geben, daß sie nicht umsonst b e -<br />
zahlt werden. Wenn wir Antimilitaristen g e h e i m e<br />
Besprechungen abhalten wollten, ist Österreich der<br />
letzte Ort, auf den unsere Wahl fallen würde. Im<br />
übrigen scheuen wir <strong>und</strong> unsere Gesinnungen n i c h t<br />
das Licht der Öffentlichkeit. Wenn die Kameraden<br />
der verschiedenen Länder Wien als den geeignetsten<br />
Ort für die Abhaltung eines solchen Kongresses erachten,<br />
würden wir unsere Vorbereitungen dazu<br />
ganz öffentlich betreiben, schon um die demonstrative<br />
Wirkung des Kongresses - <strong>und</strong> seines Verbotes<br />
nicht zu schmälern. Den III. Kongreß ( n i c h t<br />
den zweiten, der im August 1907 stattfand) g e h e i m<br />
abhalten zu m ü s s e n , uns in eine solche Zwangslage<br />
zu versetzen solche Arbeit überlassen wir<br />
dem Staate. Wir aber kämpfen im hellen Licht des<br />
T a g e s , <strong>und</strong> unsere Waffen sind jene des Lichtes!<br />
Bukowina.<br />
Czernowitz, Ende August.<br />
Ich weiß zwar, daß Sie besonders jetzt durch<br />
die verschiedenen Tageseinläufe sehr beschäftigt<br />
sind; dennoch werde ich Ihnen, werte Kameraden,<br />
namens der Gruppe einige Bemerkungen über unser<br />
Land <strong>und</strong> unsere Leute übermitteln.<br />
Gewöhnlich werden neue Ideen durch Fremde<br />
„importiert". Bei uns im Osten gab <strong>und</strong> gibt es<br />
nicht selten noch jetzt eine fast pessimistisch einwirkende<br />
geistige Finsternis unter den Massen.<br />
Bei der Einförmigkeit ihrer Lebensweise findet man<br />
Leute, die beispielsweise noch nicht mit der Eisenhahn<br />
gefahren sind <strong>und</strong> dies nicht selten. Es ist<br />
selbst unter den „Gebildeten" keine Seltenheit<br />
einem zu begegnen, der streng genommen, das<br />
Weichbild seiner Vaterstadt noch nicht verlassen<br />
hat <strong>und</strong> auch nicht den Drang in sich fühlt, dies<br />
einmal im Leben zu tun. Im Gebirge finden sie,<br />
wie ich mich persönlich gelegentlich eines Besuches<br />
bei den Huzulen überzeugen konnte, sogar nicht<br />
selten zehnjährige Kinder, die das Geld nicht<br />
kennen. Es kommt dies daher, weil sie noch nie<br />
in die Stadt kamen <strong>und</strong> auf ihren einsiedlerischen<br />
Wohnsitzen keine Gelegenheit haben, den Wert<br />
des Geldes auch nur augenscheinlich zu b e o b -<br />
achten; vom Lesen <strong>und</strong> Schreiben haben sie keine<br />
Ahnung. Das Gebet <strong>und</strong> den Judenhaß hat ihnen<br />
der Vater, der selbst keine bessere Erziehung genossen,<br />
schon frühzeitig eingeflößt, <strong>und</strong> der mitten<br />
im Walde lebende Knabe, auf den die Naturerscheinungen<br />
mit besonderer Stärke einwirken, ist<br />
fromm, ja überfromm. Man würde einem großen<br />
Irrtum verfallen, wenn man glauben würde, daß<br />
die durchschnittliche Bevölkerung — größtenteils<br />
noch Analphabeten mehr Lebensverständnis b e -<br />
k<strong>und</strong>et. Es ist nur eine andere Nüancierung von<br />
Dummheit, die sich bei ihr vorfindet.<br />
Es ist allenfalls wahr, daß die russischen<br />
Vorgänge, Pogroms <strong>und</strong> Revolutionen, wie auch<br />
die des rumänischen Nachbarlandes auf die Geister<br />
der Massen, wenigstens der an der S a c h e direkt<br />
Interessierten wohltuend einwirkten, indem sie<br />
irgend ein Übel einzusehen begannen <strong>und</strong> gleichzeitig<br />
sich nach Abhilfe umzusehen bereit erklärten.<br />
Ich freue mich darob, daß es so gekommen ist,<br />
wenn auch nur die (im Bukowinaer Sinne) städtischen<br />
Proletarier hier gemeint sind, mögen sie den<br />
richtigen W e g oder nicht zur endgiltigen Abhilfe<br />
betreten haben.<br />
C z e r n o w i t z ist als Provinzhauptstadt das<br />
Verkehrszentrum <strong>und</strong> liegt unweit der russischen<br />
<strong>und</strong> rumänischen Grenze. Die meisten Flüchtlinge<br />
aus diesen Nachbarländern lassen sich in dieser<br />
Stadt nieder, <strong>und</strong> b e s o n d e r s d i e r u s s i s c h e n<br />
F l ü c h t l i n g e w a r e n e s , die, wie ich schon g e -<br />
sagt habe, den Anarchismus hieher importiert<br />
haben. Die Propaganda ging in jüdischer Sprache<br />
vor sich. Aber wegen des Vorurteils, dessen man<br />
besonders in der Bukowina gegenüber Fremden<br />
befangen ist, wegen der hierzulande verspotteten<br />
M<strong>und</strong>art der russischen Juden, war ihnen, den<br />
russischen Genossen, das „Werben" freilich schwer;<br />
denn vor ihrer Ankunft gab es keinen, der einen<br />
Anarchisten nicht für einen bewußten oder unbewußten<br />
Mörder ausgab, geschweige denn Anarchist<br />
war. Und gelitten hat solch ein Fremder, den<br />
man als gottlos erkannte!<br />
Allenfalls hat sich vieles gebessert, denn für<br />
eine zukünftige Bewegung ist schon der Gr<strong>und</strong><br />
gelegt. Die Regierung <strong>und</strong> Polizei würdigten das<br />
Benehmen der Russen, nahmen gnadenvoll Einsicht<br />
in dieser Sache für die Bevölkerung, <strong>und</strong> schon<br />
werden aus Czernowitz diejenigen Russen binnen<br />
48 St<strong>und</strong>en ausgewiesen, die „leider" keinen Gouverneurpaß<br />
haben. Die „kulturfre<strong>und</strong>liche" M a ß -<br />
regel geht dahin, daß, sobald einer von Czernowitz<br />
ausgewiesen wird, die Ausweisung für die ganze<br />
Bukowina Geltung hat. In nicht zu langer Zeit wird<br />
ein Ausv/eisungsgesetz für die ganze Bukowina im<br />
Landtag ausgeaibeiict werden. Die Russen werden<br />
sich hier also bis auf Weiteres nicht sicher fühlen<br />
können. Nun die Früchte des Guten, das sie für<br />
unsere Sache gestiftet! Wir haben einen kleinen<br />
Kreis Genossen <strong>und</strong> einen weniger beschränkten<br />
Kreis Sympathetiker. Erst in letzterer Zeit <strong>und</strong> b e -<br />
sonders im letzten Jahre konnten wir mit deutscher<br />
Propaganda beginnen. Die jüdischen Massen zeigen<br />
hier die Eigentümlichkeit, daß sie besser deutsch<br />
lesen, als wo anders <strong>und</strong> nur sprachlich jüdisch<br />
besser verstehen. Ich bin so ziemlich auch Neuling,<br />
<strong>und</strong> weil ich Student bin, kann ich nicht öffentlich<br />
auftreten. Es fehlen uns jetzt die russischen Arbeiter.<br />
Wir haben hier eine nicht allzu kleine<br />
jüdische Bibliothek. Aber mühsam ist es uns, die<br />
Zeitungen zu bezahlen, da wir sie größtenteils<br />
gratis verteilen müssen.<br />
Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte ich<br />
Ihnen all die Infamien der hiesigen Sozialdemokraten<br />
beschreiben. Sie haben jedenfalls ihrer genug<br />
in Wien. Aber ein Beispiel sozialdemokratischen<br />
Freisinnes muß ich doch geben. Wir pflegten zu<br />
einem hiesigen Trafikanten immer eine diverse<br />
Anzahl von Exemplaren des „Wohlstand" hinzutragen.<br />
Dieser Trafikant pflegte uns auch solche<br />
Nummern zu verkaufen, die für euch Wiener konfisziert<br />
waren. Die „revolutionären" Sozialdemokraten<br />
drohten ihm nun mit allgemeiner Boykottierung,<br />
sobald er die „revolutionäre Zeitung" in<br />
seinem Kiosk öffentlich verkaufen würde!<br />
Für uns beginnt jetzt eine rührige Agitationsperiode.<br />
Ich habe mir vorgenommen, in diesem<br />
Winter Kurse für Bildung zu veranstalten ; vielleicht<br />
wird dieser Kurs schon im September beginnen.<br />
Andererseits werden von uns aus anarchistische<br />
Unterrichts- <strong>und</strong> Lesekurse diesen Winter, b e z i e -<br />
hungsweise vom September an ins Leben gerufen.<br />
Von diesen verspreche ich mir, daß sie eine gute<br />
anarchistische Kerntruppe liefern werden.<br />
Mit anarch. kommun. Brudergruß. M.<br />
Ungarn.<br />
S z a b a d k a . Ein Kamerad <strong>und</strong> Mitkämpfer<br />
schreibt uns: „Ich bin hier angekommen <strong>und</strong> habe<br />
mich gleich in die Propaganda unserer Ideen gestürzt.<br />
Tatsächlich gelang es mir auch, viele Arbeiter<br />
<strong>und</strong> Arbeiterinnen zu gewinnen, die mir Gehör<br />
schenkten. Überall, besonders unter den Sozialdemokraten,<br />
machte sich ein Umschwung zu unseren<br />
Gunsten geltend, <strong>und</strong> viele unserer neugewonnenen<br />
Kameraden erklärten, d a ß s i e , w e n n d ie S o z i a l -<br />
d e m o k r a t e n i m H e r b s t d e n G e n e r a l s t r e i k<br />
f ü r d a s a l l g e m e i n e W a h h e c h t e r k l ä r e n ,<br />
s e l b s t n u r i n d e n A u s s t a n d t r e t e n w e r d e n<br />
für ö k o n o m i s c h e L o h n f o r d e r u n g e n , in öffentlichen<br />
Versammlungen sich d a g e g e n aussprechen würden,<br />
daß die sozialdemokratische Partei die Arbeiter in<br />
einen Kampf hineinzuzerren wünsche für bürgerliche<br />
Interessen <strong>und</strong> Forderungen. Auch gelang es<br />
mir, für unsere Blätter begeisterte Abnehmer zu<br />
finden. So ging alles seinen schönsten Gang, bis<br />
plötzlich der sozialdemokratische Staat — also die<br />
Parteileitung — sich dreinmengte, mich vor ihre Lokalschranken<br />
zitieren ließ <strong>und</strong> mir befahl, „von dieser<br />
S a c h e " (Anarchismus) nichts mehr zu reden, ansonsten<br />
ich aus dem hiesigen „Arbeiterheim" ausgewiesen<br />
werden würde. Natürlich kümmerte ich mich<br />
um dieses Schweigegesetz gar nicht, auch die Feldarbeiter,<br />
die wir gewonnen haben, ebenso zahlreiche<br />
Arbeiterinnen der Frauengewerkschaft sagten sich,<br />
daß sie genug hatten an staatlichen Beschränkungen<br />
der Redefreiheit <strong>und</strong> solche parteigenössischer Art<br />
nicht bedürfen. Mögen d i e Herren schweigen, die<br />
solche Verbote ausgeben ! Nun erfolgte, was in<br />
jedem Staat kommt: A u s w e i s u n g e n wurden von<br />
Seiten der Sozialdemokraten wider uns erlassen,<br />
wir Arbeiter <strong>und</strong> Arbeiterinnen mußten hinaus aufs<br />
freie Feld, um unsere Versammlungen abhalten zu<br />
können, das „Arbeiterheim" - schöner Name!<br />
war u n s verschlossen! Aber die Herren Machthaber<br />
hatten sich verrechnet, <strong>und</strong> es folgten uns sehr viele<br />
brave Sozialdemokraten, kurz alle diejenigen, die<br />
durch k e i n e bezahlten Stellen an die Partei gefesselt<br />
sind. Und sehr bald werden wir euch, K a -<br />
meraden von Österreich, die hiesige Gründung der<br />
ersten revolutionär-gewerkschaftlichen Vereinigung<br />
mitteilen können. Es lebe der kommunistische Anarchismus<br />
!"<br />
Er lebe hoch, <strong>und</strong> hoffen wir, daß diese Tätigkeit<br />
unserer deutsch-ungarischen Kameraden von<br />
demjenigen Erfolge begleitet sei, den sie verdient!<br />
Deutschland.<br />
Um unsern Lesern nur einen kleinen Begriff<br />
darüber zu geben, w o f ü r eigentlich die badischen,<br />
würtembergischen <strong>und</strong> bayerischen Landtagsabgeordneten<br />
der deutschen Sozialdemokratie stimmten,<br />
als sie das Budget guthießen <strong>und</strong> bejahend passieren<br />
ließen, genüge es, nur einige der Ausgaben aus dem<br />
bayerischen Finanzgesetz zu notieren:<br />
Zivilliste des Königs 4,231.044 M.<br />
Kosten der Reichsverwesung . . . 442.857 „<br />
Apanagen an Mitglieder des königl.<br />
Hauses 728.574 „<br />
insgesamt für den Hof . . . 5,402.475 M.<br />
An Kultusausgaben enthält das Finanzgesetz:<br />
für den katholischen Kultus . . . . 5,270.055 M .<br />
„ „ protestantischen Kultus . . 2,753.063 „<br />
„ israelitischen Kultus . . . . 14.000 „<br />
für sonstige kirchliche Zwecke . . . 1,682.754 „<br />
zusammen für Zwecke der Kirche . 9,719.872 M<br />
So weit hat der Parlamentarismus die deutsche<br />
Sozialdemokratie gebracht. Und es ist nichts<br />
als Verdcckung der eigenen Verspießerung, wenn<br />
nun die Bebelianer sich so sehr über diese Budgetbewilligungen<br />
empört zeigten. Als ob die süddeutschen<br />
Sozialdemokraten nicht recht haben, wenn sie<br />
sagen: W e r sich an der „Reformarbeit" des Parlamentarismus<br />
beteiligt, muß selbstredend auch die<br />
M i t t e l - Steuern - zu diesen „Reformen" b e -<br />
willigen.<br />
Nicht die Butgetbewilligung ist das Verbrechen<br />
dieser Leute; sie ist nur die Folge eines Systems,<br />
an dem sozialdemokratische Radikale wie Revisionisten<br />
als unverwüstlich gute Geschäftspolitiker<br />
gleicherweise festhalten: des taktischen Systems des<br />
Bourgeoisparlamentarismus, an den sich überhaupt<br />
zu beteiligen, ein Verbrechen für jeden Sozialisten ist.<br />
Briefkasten.<br />
Georg Weidner. Unbesorgt, Ihre Mitarbeiterschaft<br />
ist uns sehr erwünscht, wie überhaupt die<br />
eines jeden, der Gediegenes in gediegener Form<br />
vorzubringen hat. Hoffentlich bleiben Sie dem „W.<br />
f. A." auch fürderhin erhalten! — Bartl, Belg. Ich<br />
erwidere hiermit in brüderlicher Fre<strong>und</strong>schaft deinen<br />
Gruß! — Bäuml. Mensch, ärgere dich nicht!<br />
Schreibe die Sache vollständig ab <strong>und</strong> sende sie<br />
ein, wenn es so lieber. Gruß! — Australien. Wir<br />
bestätigen hiermit dankend den Empfang von 6 K<br />
vom Gen. Hönike durch den Kameraden Voit.<br />
Vereine <strong>und</strong> Versammlungen.<br />
Allgemeine Gewerkschafts-Föderation. V.,<br />
Einsiedlergasse 6 0 . Jeden Montag 8 Uhr abends.<br />
Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />
Gasthaus, XIV., Märzstraße 33.<br />
Föderation der Bauarbeiter. X . , Eugengasse<br />
9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />
jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />
Unabhängige Schuhmacher-Gewerkschaft.<br />
XIV.,Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />
Männergesangverein „Morgenröte". XIV.,<br />
Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />
jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />
Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „Pokrok". X I V ,<br />
Hütteldorferstraße 33. Jeden S a m s t a g abends D i s -<br />
kussion.<br />
Freie Einkaufsgenossenschaft. Jeden Donnerstag<br />
abends bei Schlor.<br />
Graz. A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />
versammelt sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Samstag abends<br />
im Vereinslokal in der Bahnhofstraße.<br />
Marburg. A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />
versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong> 4. Mittwoch abends<br />
im Gasthaus „Zur goldenen Birn", Franz Josefstraße<br />
2.<br />
Klagenfurt. G r u p p e d e r u n a b h ä n g i -<br />
g e n S o z i a l i s t e n , versammelt sich jeden 2 . <strong>und</strong><br />
4. Samstag abends im Gasthaus „Zum Buchenwalde".<br />
Weijer. S o z i a l i s t i s c h e r B u n d , versammelt<br />
sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends in<br />
Bachbauers Gasthaus.<br />
Bruch. G r u p p e B e r g a r b e i t e r k a m p f ,<br />
versammelt sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends<br />
im Gasthaus „zum blauen Stern".<br />
Neu - Pyhanken. B e r g a r b e i t e r v e r e i n ,<br />
versammelt sich jeden 4. Sonntag um 9 Uhr vormittags<br />
im Gasthause „Eintracht".<br />
Zieditz. D e u t s c h e B e r g a r b e i t e r v c r e i -<br />
n i g u n g , versammelt sich jeden Sonntag im G a s t -<br />
haus beim Bahnhof.
So wollen <strong>und</strong> müssen wir seiner gedenken<br />
an diesem, seinem Jubeltage des<br />
achtzigsten Geburtstagsfestes. Obwohl, wir<br />
müssen es rasch hinzufügen, es einem ziemlich<br />
schwer gemacht wird, wenn man bedenkt,<br />
wie viel armseliges Klein- <strong>und</strong> Zwergvolk,<br />
wie viele gemein-journalistische Federreißerei,<br />
wie viele gierige, parteischmutzige<br />
Hände sich an dieser hellodernden Flamme<br />
einer erhabenen Geistesanschauung wärmten.<br />
In diesen Tagen wird<br />
es einem wahrlich verleidet,<br />
an Tolstoi anders<br />
als im Gefühl des<br />
Bedauerns zu denken,<br />
darüber, daß dieser<br />
große Mensch gewissermaßen<br />
zum Opfertier<br />
für alle die Wanzeriche<br />
der Tagespresse <strong>und</strong> der<br />
interessierten Meinungsverfälschungen<br />
der Parteien<br />
gemacht wird; es<br />
wird einem verleidet,<br />
überhaupt an ihn zu<br />
denken, wenn man es<br />
fühlt, daß man gezwungen<br />
ist, in einen Chor<br />
von Ehrungen zu stimmen,<br />
mit dem wir nichts -<br />
gemein haben wollen, weil wir seine Urheber<br />
verabscheuen <strong>und</strong> verachten. Denn<br />
wir, die wir heute u n s e r e m Tolstoi uns<br />
e r e Ehrungen darbringen, haben mit jenem<br />
Chor gar nichts zu tun, unsere Ehrgefühle<br />
entstammen ganz anderem Herzen <strong>und</strong> Geiste<br />
— <strong>und</strong> wie ein Trost mutet es uns an, wenn<br />
wir bedenken, daß unsere Feier dieses Tolstoischen<br />
Geburtstages ganz außerhalb des<br />
Rahmens der übrigen Feiern gelegen ist, ja<br />
selbst verboten wurde; wir aber wollen ihn<br />
n u r so feiern, wie es dem ganzen Klüngel<strong>und</strong><br />
Kliquentum nicht genehm, wie es aber<br />
dem Manne selbst mit dem großen Menschheitsherzen<br />
wohlig berühren mag durch<br />
diese unsere Ausnahme: — wir feiern L e o<br />
T o l s t o i h e u t e n u r als A n a r c h i s t .<br />
Leo Tolstoi als Anarchist.<br />
Allerdings ist er auch ein herrlicher,<br />
ein genialer Künstler, <strong>und</strong> wir wissen das<br />
Unrecht, das er sich zufügt, wenn er seine<br />
großartige Künstlerarbeit als Produkt der<br />
Eitelkeit ausgiebt, wohl zu würdigen, können<br />
ihm darin niemals zustimmen. Aber in dieser<br />
Verhöhnung seines Genius liegt ebenfalls<br />
schon sein Wunsch, w i e aufgefaßt zu<br />
werden. Große Dichter gab es zu allen<br />
Zeiten; große Denker <strong>und</strong> Menschen nicht<br />
immer. Und Tolstoi, der<br />
ein Russe ist in jenem<br />
schönsten Sinn, den uns<br />
ein Fr. Meyer (von Waldeck)<br />
in seinen Schilderungen<br />
so überaus gewinnend<br />
<strong>und</strong> wahrheitsgetreu<br />
zugeführt hat,<br />
Tolstoi weiß als Russe,<br />
daß es nicht sein V o l k<br />
ist, das in Rußland seine<br />
Kunstwerke liest <strong>und</strong><br />
ästhetisch genießt. Rußlands<br />
Analphabetentum,<br />
der Muschik, der den<br />
Namen Tolstoi kennt,<br />
der Angehörige einer<br />
städtischen Artel (Arbeiter-Genossenschaft),<br />
der nicht lesen kann,<br />
liebt Tolstoi, verehrt den Menschen nicht<br />
wegen des herrlichen Romans »Anna Karenina«,<br />
nicht wegen der »Kreutzersonate«,<br />
»Auferstehung« <strong>und</strong> »Krieg <strong>und</strong> Frieden«<br />
oder gar wegen seiner frühesten, kristallklaren,<br />
ruhige Ideale darbietenden Novellen.<br />
Dies alles ist für uns geschrieben, die wir<br />
gewöhnt sind, die Menschen aus Büchern<br />
auferstehen zu lassen; ist für die Bourgeoisie<br />
<strong>und</strong> jenen Teil der Gesellschaft geschrieben,<br />
dem es in vielem geglückt ist, seine Lebenshaltung<br />
mit jener der Bourgeoisie annähernd<br />
konform zu gestalten. Tolstoi weiß dies<br />
ganz genau <strong>und</strong> ist viel zu streng gegen<br />
sich selbst, um dies nicht zu bekennen.<br />
D e r Tolstoi, der wirklich dem Volke bekannt,<br />
von diesem geehrt <strong>und</strong> geliebt wird,
a l s o v o m V o l k der A r b e i t , d e r E r d e <strong>und</strong><br />
Maschine, das ist der Tolstoi, dessen P r o -<br />
paganda- <strong>und</strong> Aufklärungsworte in lausenden<br />
von kaum leserlichen hektographischen<br />
Abzügen von edelmütigen Vorkämpfern aus<br />
oftmals den höchsten Gesellschaftsschichten<br />
ins russische Volk hineingetragen, dort ihm<br />
vorgelesen <strong>und</strong> unter dem Volke wieder<br />
weiter kolportiert werden. Und so wie diese<br />
Vorkämpfer, um ihrer großen, heiligen<br />
Lebensmission willen, die sie über kurz<br />
oder lang ins Gefängnis oder in den Tod<br />
führt, sich aller Freude des Lebens entledigen,<br />
ihren eleganten, weltmännischen<br />
Anzug gegen die Volkstracht, das feine<br />
Damenkleid gegen den Bäuerinnenkittel<br />
umtauschen müssen, somit das, was dem<br />
Leben des Volkes eine zukünftige Auferstehung<br />
bereiten soll, über ihr eigenes<br />
Leben stellen, so liebt Tolstoi diese seine<br />
unkünstlerische, aber sozial <strong>und</strong> geistig aufrüttelnde<br />
Propagandawirksamkeit mehr als<br />
alle seine Kunstwerke zusammen. Seine gesellschaftskritischen,<br />
seine staats- <strong>und</strong> kirchenfeindlichen,<br />
einfachen Wahrheitsgedanken,<br />
die er im Volke verbreitet sieht<br />
<strong>und</strong> die ihn bis heute wirklich <strong>und</strong> einzig<br />
mit dem Volke intim zu verbinden vermögen,<br />
sie gehen ihm mit einem gewissen<br />
Recht über alles andere <strong>und</strong> weitere. Begreift<br />
man nun, woher Tolstois herbes Urteil<br />
über seine eigene <strong>und</strong> die künstlerische<br />
Produktivität anderer weltbewegender Genialnaturen<br />
stammt? Aus seinem Herzensverständnis,<br />
aus seiner Geistestiefe, die sich<br />
über das eine große Faktum nicht hinwegtäuschen<br />
können, daß alle heutige Kunst<br />
eine Afterkunst ist, die nicht nach dem<br />
künstlerischen Gefühl des Volkes fragen<br />
kann, da sie nach Angebot <strong>und</strong> Nachfrage<br />
arbeitet <strong>und</strong> die dort, wo sie sich nicht<br />
beugt vor den unverrückbaren ökonomischen<br />
Gesetzen des heutigen Gesellschaftsu<br />
n wesens die tiefste Tragik alles künstlerischen<br />
Seins erfährt: v o m V o l k e nicht<br />
v e r s t a n d e n w e r d e n zu k ö n n e n , da<br />
diesem Volke von den Herrschaftselementen<br />
des Bestehenden der Geistesausblick in das<br />
Lichtreich hoher Gedanken <strong>und</strong> der Schönheit<br />
brutal verwehrt ist durch seine soziale<br />
Versklavung.<br />
Wenden wir uns zu Tolstois Anarchismus.<br />
Es ist ein gewaltiger Schritt nach vorwärts,<br />
den wir ihn machen sehen, diesen<br />
ehemaligen Kaukasusoffizier, der anläßlich<br />
der pfäftischen Einsegnung der Waffen zur<br />
Zeit des russisch-türkischen Krieges, der<br />
gleichzeitigen Einsegnung auf beiden Seiten<br />
<strong>und</strong> der Herabflehung des himmlischen<br />
Gottessegens zum Heile der Mordzwecke<br />
des einen wider den anderen Potentaten<br />
— der anläßlich dieser erbärmlichen Lügenkomödie<br />
unserer offiziellen Zeit s e h e n d<br />
ward. Von da an kannte Tolstoi kein<br />
Bleiben mehr beim Militär. Er nahm seinen<br />
Abschied <strong>und</strong> der bisher flott verschwendende<br />
Lebemann <strong>und</strong> Graf hielt Einkehr<br />
mit sich selbst, warf sich mit rätselhafter<br />
Energie auf das Studium der altgriechischen<br />
<strong>und</strong> hebräischen Sprachen, nur um in den<br />
wahren Geist der Bibelevangelien eindringen<br />
<strong>und</strong> die schwindelhaften Kirchenübersetzungen,<br />
mit ihren unzähligen theologischen<br />
Variationen entwirren zu können. Was<br />
Tolstoi auf diesem, für einen Russen vollständig<br />
begreiflichen Drangeswege fand,<br />
war etwas Großes: er fand, ähnlich wie<br />
Buddha, in der Entsagung sich selbst <strong>und</strong><br />
entdeckte auch ein Vorbild, das ihm bisher<br />
als Gottessohn vorgestellt geworden: er<br />
entdeckte den herrlichen Menschen Rabbi<br />
Jeschua, den die Römer Jesus nannten <strong>und</strong><br />
erst Paulus zu einem Jesus Christus stempelte.<br />
Er sah das Geistesbild eines Menschen<br />
vor sich, der im edlen Streben nach Abschüttelung<br />
des römischen Joches unendlich<br />
viel gelitten haben soll, der uns heute<br />
eine vorbildliche Idealgestalt sein könnte,<br />
wenn nicht über fünfzehn Jahrh<strong>und</strong>erte<br />
pfäffischer Verdummungstheologie <strong>und</strong><br />
pfäffischen Betruges uns aus dieser Menschengestalt<br />
eine göttliche Figur gemacht<br />
hätten, damit dieselbe jeder menschlich<br />
höheren Bedeutung beraubend. Denn was<br />
ist das Leid, das Jesus ertragen haben soll,<br />
für einen Gott, wenn derselbe existiert?<br />
K e i n Leid. Nur als M e n s c h kann uns<br />
Jesus groß, verehrungswürdig erscheinen,<br />
niemals als Gott, <strong>und</strong> es gehört zur Ironie der<br />
Weltgeschichte, daß die fanatischesten Anhänger<br />
dieses Mannes ihn, im verblendeten<br />
Ringen um seine Göttlichkeit, gerade sein<br />
Größtes, sein Allmenschliches entreißen<br />
wollten <strong>und</strong> wohl auch entrissen haben.<br />
Diese Persönlichkeit lehrte Tolstoi ein<br />
einziges Gesetz: D i e L i e b e z u m N e b e n -<br />
m e n s c h e n . Und vor der grandiosen<br />
Wucht dieses Gesetzes tritt für uns, wie<br />
auch für Tolstoi, wieder die ganze große<br />
Lichtgestalt des Rabbi Jeschua in den Hintergr<strong>und</strong>.<br />
Um so mehr, als wir mit dem<br />
großen Russen es wissen, daß dieses »goldene<br />
Gesetz des Lebens« nicht von Jeschua<br />
zuerst erdacht ward, daß wir es in allen<br />
<strong>und</strong> weit älteren Religionen als das Christentum<br />
vorfinden, daß die Stoiker, besonders<br />
Seneca, es uns weit umfassender<br />
lehrten. Doch dies ist schließlich Nebensache,<br />
<strong>und</strong> Prophet bleibt dennoch nur<br />
derjenige, dem es gelang, die Heilslehre
leibend <strong>und</strong> dauernd zu machen. D a r i n<br />
ist die Gestalt des Rabbi allerdings ehern<br />
<strong>und</strong> unerschütterlich durch fast zwei Jahrtausende,<br />
ist seine Bergpredigt der Inhalt<br />
der Bibel, neben dem all die anderen, so<br />
auffallend widerspruchsvollen Evangelien<br />
ebenso hinfällig werden, wie alle die Bücher<br />
Mosis. Aber diese Bergpredigt genügt, denn<br />
sie kann eben nur in einem Sinne ihre<br />
Auslegung finden, im Sinne des humanistischen<br />
Idealismus, <strong>und</strong> selbst die Gewaltsstützen<br />
aller Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart<br />
haben es nicht anders getan.<br />
Es war somit nichts als eine geistige Konsequenz,<br />
wenn Tolstoi, der tiefinnerlich nur<br />
an die Regenerationsfähigkeit des Volkes<br />
glaubt, seinen Anarchismus an den religiösen<br />
Vorstellungen des russischen Volkes<br />
weiterbaute. Und mit großem Recht; denn<br />
die Entwicklung Rußlands hat es mit sich<br />
gebracht, daß der Geist des naturwissenschaftlichen<br />
Materialismus, der zur reinen<br />
Auffassung des Universums geleitet, nur in<br />
den höheren Schichten der Gesellschaft<br />
Einzug halten konnte. Das Volk selbst ist<br />
religiös, aber glücklicherweise n i c h t kirchlich-religiös.<br />
Das beweisen die h<strong>und</strong>erte von<br />
religiösen Sekten, die in Rußland bestehen<br />
<strong>und</strong> sich wie ein riesiges Netz miteinander<br />
vereinigen, wenn es den Widerstand gegen<br />
die griechisch-katholische Kirche gilt. Und<br />
alle diese Sekten wenden sich g e g e n die<br />
Kirche, weil sie die wesentlichsten Bestandteile<br />
des Urchristentums in sich aufgenommen<br />
haben <strong>und</strong> hochschätzen, sind g e g e n<br />
die Kirche, weil sie in ihr den Geist der<br />
Herrschaft, Autorität <strong>und</strong> Unterdrückung,<br />
den Geist des Eigennutzes <strong>und</strong> des gleisnerischen<br />
Reichtums erblicken, ihrerseits<br />
den Brudersinn der religiösen Gemeinsamkeit,<br />
des Kommunismus <strong>und</strong> das Gefühl<br />
des intimen, persönlichen In-Beziehungtretens<br />
mit »Gott«, also für sie des Guten,<br />
ein Gefühl, das alle Priester <strong>und</strong> Kirchen<br />
ausschaltet, hegen <strong>und</strong> pflegen. Mit dieser<br />
Gr<strong>und</strong>lage des Geisteslebens seines Volkes<br />
hatte Tolstoi zu rechnen, <strong>und</strong> darauf mußte<br />
er bauen, wollte er jemals Eingang finden<br />
in dessen Seele <strong>und</strong> Sehnsucht. Mögen<br />
diese notgedrungenen knappen Erklärungen<br />
uns einen klareren Begriff von der durchaus<br />
notwendigen Art des Tolstoischen Anarchismus<br />
bringen,<br />
Im Kerne seines Wesens unterscheidet<br />
sich dieser Anarchismus als einziges Strebensideal<br />
der Menschheit gar nicht von<br />
jenem anderer Vorkämpfer dieses größten<br />
Menschengedankens der Freiheit. Tolstoi<br />
ist für die Abschaffung des Staates, er ist<br />
Gegner jeder Gesetzgebung durch Men-<br />
schen über Menschen, ist Gegner des Monopoleigentums<br />
an Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden, wie<br />
überhaupt jedes Monopols im produktiven<br />
Gesellschaftsleben. Er vertritt den durchaus<br />
richtigen Standpunkt, daß unsere heutige<br />
Fabrikstechnik, unsere städtische Hyperkultur,<br />
unsere ganzen nationalökonomischen<br />
Berechnungen zu Gunsten des Profitfaktors<br />
<strong>und</strong> zu gräßlichstem Ungunsten des Menschen<br />
nichts sind als Eigennutzinteressen,<br />
die zu weichen haben gegenüber dem einfachen,<br />
natürlichen Leben des Bauern, der<br />
physischen Arbeit, die uns in intime Berührung<br />
treten läßt mit Mutter Erde, der<br />
wirklich produktiven Arbeit für die eigenen<br />
Bedürfnisse, statt der unproduktiven heutigen,<br />
für die Gelüste <strong>und</strong> Luxusbedürfnisse<br />
des Reichtums. Tolstoi haßt <strong>und</strong> verachtet<br />
die Vertreter des modernen Gesellschaftslebens,<br />
aber sein Haß ist freilich<br />
nicht der wildlodernde des alten Revolutionärs<br />
vom Typus etwa eines Karl Heinzen,<br />
sondern der Unwille über den Schaden,<br />
den unentwickelte Kinder an anderen, wehrlosen<br />
Kindern anrichten, das Leid, das<br />
sie ihnen zufügen. Denn Tolstois Anarchismus<br />
geht immer an Hand des Zauberwortes<br />
L i e b e , ist immer eine neue Bergpredigt.<br />
Sein Anarchismus besitzt aber auch<br />
etwas ungemein Konstruktives, wie wir sofort<br />
sehen werden.<br />
Leo Tolstoi ist Religion n i c h t ein<br />
bildlich wahrnehmbarer Gottesbegriff, auch<br />
nicht die Verehrung irgend einer Jesugestalt,<br />
eines Bibelwortes, einer Reliquie.<br />
Alles dies sind ihre Äußerlichkeiten, die<br />
die Kirche geschäftlich ausbreitet. Für Tolstoi<br />
ist Religion: e i n w a h r e s L e b e n im<br />
D i e n s t e d e s W o h l e s d e i n e s N e b e n -<br />
m e n s c h e n , im Dienste der Erfüllung<br />
einer höheren P f l i c h t , sich <strong>und</strong> sein ganzes<br />
einzusetzen für die Verwirklichung des<br />
Guten. Was ihm dieses ist, weiß man,<br />
wenn man das Ideal des Anarchismus<br />
kennt; es ist auch das seine, <strong>und</strong> nur in<br />
einem Sinne wird er von vielen nicht anerkannt<br />
<strong>und</strong> verkannt; im Sinne einer rein<br />
taktischen Auffassung des Werdeprozesses<br />
der neuen Gesellschaft <strong>und</strong> des neuen<br />
Lebens <strong>und</strong> des neuen Menschen.<br />
Ich habe aus Raummangel keine Gelegenheit,<br />
mich hier über Tolstois ethischsexuelle<br />
Anschauungen zu äußern; es ist<br />
im Bereiche dieser Skizze überflüssig, in<br />
bezug auf seine diesbezüglich anders gearteten<br />
Ansichten von den unseren, die geformt<br />
wurden <strong>und</strong> sich mehr oder minder<br />
im Einklang finden mit jenen eines Ibsen<br />
oder Meredith oder Morris <strong>und</strong> Carpenter,<br />
Worte zu verlieren. Was aber nicht über-
flüssig sein kann, ist die Frage, ob wir,<br />
die wir, mit Tolstoi, kommunistische Anarchisten<br />
in der heute theoretisch geläuterten<br />
Auffassung dieses Namens sind, ob wir,<br />
die wir aber auch Anhänger der sozialen<br />
Revolution, als der befreienden Humanitätsaktion<br />
der nach Freiheit ringenden <strong>und</strong> für<br />
sie geistig gereiften Massen sind — ob<br />
wir auch unter letzterem Gesichtswinkel<br />
berechtigt sind, ihn zu feiern, ihn anzuerkennen?<br />
Ist doch Tolstoi bekannt als einer,<br />
der angeblich das Nichtwiderstreben, das<br />
Böse zu ertragen lehrt <strong>und</strong> der mit seinem<br />
Hohn »auch die Freiheitsbestrebungen<br />
trifft«, wie ein gewisser Wortmacher in der<br />
»Arbeiter-Zeitung« recht unsauber-unwahr<br />
orakelt.<br />
Ob wir ihn ehren sollen? Kameraden,<br />
leset Krapotkins Buch über »Ideale <strong>und</strong><br />
Wirklichkeiten der russischen Literatur,<br />
<strong>und</strong> ihr werdet nicht mehr fragen.<br />
Ebenso wie Tolstois Christentum, das<br />
doch nichts mit dem bestehenden zu tun<br />
hat, ist Tolstois Taktik falsch aufgefaßt<br />
<strong>und</strong> beurteilt worden. Es klingt wie ein<br />
Hohn, wenn Leute, die ihn ganz wie die<br />
Repräsentanten des Bestehenden fürchten,<br />
wenn z. B. die Sozialdemokraten, diese<br />
notorischen Nichtstuer für das Volk, die<br />
von dessen instinktivem Klargefühl, daß<br />
ihm ein Unrecht durch das bestehende<br />
System geschieht <strong>und</strong> daß ein neues organisiert<br />
werden muß, recht flott <strong>und</strong><br />
angenehm leben, wenn solche Leute es<br />
einem Tolstoi vorzuwerfen wagen, er<br />
predige das Nichtstun gegenüber dem<br />
Feind des Staates <strong>und</strong> der Unterdrückung!<br />
Schluß folgt. Pierre Ramus<br />
Der neue Mensch.<br />
Aus der Tiefe ringt sich der neue<br />
Mensch empor zur lichten Sonnenhöhe.<br />
Schnell schwindet die Dämmerung, die<br />
Umnachtung unseres Lebens, verflüchtet<br />
der Nebel der Befangenheit, des Irrwahns,<br />
des falschen Glaubens. Der Mensch des<br />
zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts ist ein kühner,<br />
starker Stürmer geworden, er beginnt mit<br />
den alten überlieferten Traditionen, Sitten,<br />
Gewohnheiten, Gebräuchen <strong>und</strong> Anschauungen<br />
aufzuräumen, auch mit dem Ballast<br />
der Autorität, der Religion, der Knechtsseligkeit.<br />
So gehört ihm eine Welt <strong>und</strong> die<br />
Zukunft. Aus dem Jahrh<strong>und</strong>ert der Finsternis<br />
endlich das Erwachen zum Lichte,<br />
aus langem Schlafe zur Regsamkeit <strong>und</strong><br />
Lebendigkeit, zum Denken, Fühlen, Erfassen,<br />
<strong>und</strong> Empfinden. Wie sieht der<br />
neue Mensch alles mit anderen Augen,<br />
als die Menschen der Vergangenheit, er ist<br />
Atheist <strong>und</strong> Revolutionär, Freidenker <strong>und</strong><br />
Sozialist geworden. Vor seinem Auge,<br />
seinem kritischen Geiste fallen die Fesseln der<br />
Bevorm<strong>und</strong>ung, der Knebelung <strong>und</strong> der Entrechtung.<br />
Frei <strong>und</strong> ungehindert ist sein Wollen<br />
<strong>und</strong> Können, kühn sein Geist; so muß der<br />
neue Mensch beschaffen sein, dem eine<br />
»Welt« gehören soll. Was waren den Menschen<br />
der staatlichen, religiösen Zuchtrute<br />
Menschentum, Freiheit <strong>und</strong> Wahrheit? Dinge,<br />
die sie nicht verstehen, nicht fassen <strong>und</strong><br />
begreifen konnten. Klein an Geist <strong>und</strong> Gemüt,<br />
können sie nicht den Anforderungen<br />
Stand halten, sich anpassen einem Denken<br />
<strong>und</strong> Handeln, das Kraft <strong>und</strong> Energie, Liebe<br />
<strong>und</strong> Wahrheit voraussetzt.<br />
Alles das gehört dem Menschen des<br />
zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts. Ein moderner<br />
Ikarus, dessen Flug sich zur Sonnenhöhe<br />
richtet, so erhebt den neuen Menschen die<br />
Flutwelle der geistigen, intellektuellen Strömung<br />
unserer Zeit, <strong>und</strong> so findet man ihn<br />
wieder als Kämpfer in dem Strudel des<br />
sozialen Lebens: ein Anarchist. Pionier für<br />
Menschentum <strong>und</strong> Freiheit, tritt er ein in<br />
die Schranken gegen Ungerechtigkeit <strong>und</strong><br />
Lüge unserer Zeit. Klar <strong>und</strong> rein sind seine<br />
Anschauungen, er kennt keinen »allmächtigen,<br />
gütigen Gott« mehr, aber auch kein<br />
»Gottesgnadentum«, keine Unterdrückung<br />
der Persönlichkeit. Losgelöst ist er von der<br />
staatlichen Autorität, frei von jedem Zwange<br />
steht der neue Weltenstürmer da, eine volle,<br />
starke, mutige Persönlichkeit, dem nichts<br />
höher steht, als d i e G l e i c h h e i t j e d e s<br />
E i n z e l n e n , <strong>und</strong> d i e i n d i v i d u e l l e<br />
F r e i h e i t a l l e r M e n s c h e n . Seine Denk<strong>und</strong><br />
Handlungsweise ist die eines idealen,<br />
freien Menschen.<br />
Ein Vorkämpfer für die menschliche<br />
Kultur, für Gleichheit des Menschengeschlechts<br />
<strong>und</strong> Sozialismus ist der neue<br />
Mensch. Schon sprengt er die Schollen der<br />
alten Gesellschaft mit eiserner Kraft, er<br />
ringt mit der alten Welt den Kampf um die<br />
Krone der Wahrheit, <strong>und</strong> in diesem Kampfe<br />
der Jahrh<strong>und</strong>erte wird der neue Mensch<br />
siegen. Sein Ideal ist: k e i n G o t t , k e i n e<br />
A u t o r i t ä t , k e i n S t a a t , f r e i e B a h n<br />
d e m G e n i u s d e r F r e i h e i t u n d d e r<br />
S i e g d e r M e n s c h h e i t ist u n a u s -<br />
b l e i b l i c h . Wie der Dichter sagt: »Das<br />
Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, <strong>und</strong><br />
neues Leben blüht aus den Ruinen.« Aus<br />
den Trümmern des alten Raubbaues unseres<br />
heutigen Lebens ersteht das Erwachen zum<br />
neuen Leben.<br />
Georg Weidner.
Mutter' usw. zu achten ? Es ist die katholische<br />
Kirche, die es wagt, solche G e b o t e zu lehren, gleich<br />
darauf aber auch wieder das Dagegenhandeln gutheißt.<br />
Grüße alle meine Kameraden von mir <strong>und</strong><br />
wisse, daß ich leide, eben weil ich Dich zu hoch<br />
achtete, als um die G e s e t z e des Militarismus je<br />
achten zu können."<br />
Verhör des Angeklagten Nowak.<br />
N.: „Ich bekenne mich schuldig, wenn auch<br />
nicht in .dem Maße, wie die Anklage es behauptet.<br />
Das Plakat habe ich verfaßt, ich nehme alle Schuld<br />
auf mich; ich habe darin nichts anderes gesagt, als<br />
•was in vielen Zeitungen zu lesen stand."<br />
Pr.: „Erzählen Sie, wie das Plakat zu Stande<br />
kam."<br />
N.: „Im Monat März dieses lahres war ich<br />
in der Redaktion unseres Blattes .Hornicky Listy'.<br />
Dort traf ich Trejbal. Letzterer fragte mich, ob ich<br />
wisse, daß die Nationalsozialisten <strong>und</strong> Sozialdemokraten<br />
eine antimilitaristische Proklamation herausgegeben<br />
haben. Der Redakteur des Blattes, Kamerad<br />
T h o m a s K a s c h e , zeigte es mir, <strong>und</strong> es gefiel<br />
uns nicht. Trejbal sagte, er möchte ein solches<br />
Manifest vom anarchistischen Standpunkt aus herausgeben.<br />
Ich wollte es zuerst nicht machen, da ich<br />
fast erblindet bin, dann aber fand ich mich doch<br />
dazu bereit."<br />
Pr.: „Was meinten Sie mit den Ausdrücken:<br />
,Der Staat ist dein Feind' u. dgl. m . ? "<br />
N.: „Ich wollte damit sagen, daß der Staat<br />
sich stets auf die Seite des Kapitals stellt, zwecks<br />
Unterdrückung des wirtschaftlich Schwächeren."<br />
Pr.: „Welcher Konfession gehören Sie a n ?<br />
Wohl konfessionslos?"<br />
N.: „Eigentlich muß ich mich Atheist nennen."<br />
Pr.: „Welcher politischen Partei gehören Sie a n ? "<br />
N.: „Ich bin unabhängiger Sozialist <strong>und</strong><br />
Anarchist."<br />
R e c h t s a n w a l t D r . F r a n k e l : „Sagen Sie<br />
den Geschwornen <strong>und</strong> dem Gerichtshof, wie Sie<br />
sich die Umwandlung der bestehenden Gesellschaft<br />
vorstellen."<br />
N.: „Wir bezwecken durch Aufklärung <strong>und</strong><br />
rationelle Erziehung unserer Kinder, die natürliche<br />
Entwicklung zur Freiheit zu beschleunigen. Das<br />
bestehende Gesellschaftssystem ist schädlich <strong>und</strong><br />
unges<strong>und</strong> für Alle; wir wollen es durch ein solches<br />
der Freiheit <strong>und</strong> des Wohlergehens für Alle ersetzen.<br />
Dadurch werden für alle Menschen edlere L e b e n s -<br />
bedingungen geschaffen."<br />
Hier unterbrach der Gerichtshof die Verhandlung;<br />
es trat die Mittagspause ein.<br />
Nachmittags wurde der gleichfalls, aber von<br />
den Militärbehörden direkt <strong>und</strong> vor einem Kriegsgericht<br />
zu prozessierende Angeklagte Rudolf T r e j -<br />
b a l als Zeuge vorgeführt. Zwei Rekruten mit aufgepflanztem<br />
Bajonett führten ihn in den Gerichtsaal.<br />
Pr.: „NacheinerZuschrift vomMilitärkommando<br />
sind Sie, Rudolf Trejbal, zur St<strong>und</strong>e noch nicht<br />
verurteilt, wie es in mehreren Zeitungen fälschlich<br />
hieß. Sie stehen somit als Zeuge hier, <strong>und</strong> ich mache<br />
Sie darauf aufmerksam, daß Sie das Recht haben,<br />
sich irgend welcher Aussage zu entschlagen, wenn<br />
Sie glauben, sich selbst dadurch zu schaden. —<br />
Wann wurden Sie g e b o r e n ? "<br />
Tr.: „Ich wurde am 5. Mai 1886, als Sohn<br />
einer römisch-katholischen Familie geboren. Ich<br />
habe die Volksschule, 4 Klassen Realschule <strong>und</strong><br />
1 Klasse Handelsschule besucht. Von Beruf bin ich<br />
Komptoirist. Die Angeklagten sind meine Kameraden;<br />
mit der Tochter des Genossen N. bin ich ebenfalls<br />
bekannt."<br />
Pr.: „Was wissen Sie über das P l a k a t ? "<br />
Tr. (antwortet zuerst nicht, dann sehr langsam):<br />
„Es war gegen die Assentierung bestimmt."<br />
Pr.: „Welchen Zweck verfolgte e s ? "<br />
Tr. (gibt keine Antwort).<br />
Pr.: „Nun, antworten Sie doch, Sie haben<br />
doch studiert."<br />
Tr.: „In diesen Sachen habe ich nicht studiert."<br />
Pr.: „Hatten Sie gar nichts mit dem Plakat<br />
zu tun ? "<br />
T r : „Ich habe sprachliche Korrekturen daran<br />
vorgenommen."<br />
Pr.: „Als Soldat <strong>und</strong> als erzogener Mensch<br />
mußten Sie doch wissen, daß S i e hier etwas Ungehöriges<br />
begingen; was dachten Sie sich dabei ?"<br />
Tr. (schweigt).<br />
Auf weitere Fragen bestreitet der Zeuge ganz<br />
entschieden, die scharfen Stellen ins Plakat gestellt<br />
zu haben; er weiß nur, daß N. das Konzept des<br />
Plakates verfaßt hat.<br />
Alles weitere ist unerheblich, <strong>und</strong> der Präsident<br />
verfügt die Abführung des Zeugen.<br />
Als Zeuge tritt nun der Gendarmeriewachtmeister<br />
L o r e n z auf.<br />
L.: „Im Frühjahre dieses Jahres machte sich<br />
die antimilitaristische Bewegung in Nordböhmen<br />
ganz besonders geltend. Es wurden viele Flugschriften<br />
verteilt, sogar Redner von auswärts b e -<br />
zogen usw. Ich ersah plötzlich, daß ein Soldat viel<br />
,mit den Führern dieser Bewegung verkehrte. Es war<br />
dies Trejbal. Natürlich ließ ich ihn besonders überwachen.<br />
Ende März mochte es gewesen sein, als<br />
ich ihn einmal beobachtete, wie er mit einem unförmigen<br />
Paket unter dem Arm in ein Haus trat.<br />
Ich dachte sofort an einen Hektographen. Es verging<br />
der ganze Monat April, ohne daß ich etwas<br />
Auffälliges wahrnehmen konnte. Auf einmal erhielt<br />
ich die Meldung von verschiedenen Orten, daß<br />
antimilitaristische Plakate an Häusern <strong>und</strong> Mauern<br />
angeschlagen seien. Ich ließ, so rasch es anging,<br />
die Plakate sofort entfernen <strong>und</strong> veranlaßte auch<br />
die Vornahme von strengen Hausdurchsuchungen.<br />
Dieselben verliefen aber völlig erfolglos. Nur mit<br />
einer Ausnahme: es wurde der Hektograph bei<br />
Fronek gef<strong>und</strong>en, den ich sofort verhaftete. Es g e -<br />
lang mir auch, ihn zu einem Geständnis zu bewegen."<br />
S t a a t s a n w a l t D r . M e y e r : „Können Sie<br />
uns mit Bestimmtheit sagen, welcher politischen<br />
Richtung Fronek a n g e h ö r t ? "<br />
L . : „Fronek ist Anarchist."<br />
Dr. M e y e r : „Wann fing eigentlich die Hochflut<br />
dieser antimilitaristischen Bewegung hier a n ? "<br />
L . : „Im Frühjahr 1908."<br />
Dr. F r a n k e l : „Geschah dies in öffentlichen<br />
Versammlungen ?"<br />
L . : „Teils in öffentlichen, teils in größeren<br />
§ 2 Versammlungen."<br />
Dr. Frankel: „Bitte, möchten Sie uns nicht<br />
sagen, wieso Sie Kenntnis von dem haben, was<br />
sich in den geschlossenen § 2 Versammlungen zutrug?<br />
Ich kann doch nicht annehmen, daß Sie etwa<br />
Anarchist <strong>und</strong> Antimilitarist sind!"<br />
L . : „Dies geschieht durch meine Vertrauensleute,<br />
die auch in diese Versammlungen eindringen."<br />
Der Präsident verweigert die Erlaubnis zu<br />
jeder weiteren Fragestellung in dieser Richtung.<br />
Der Zeuge L. tritt ab.<br />
Es gelangt nun auf Antrag des Verteidigers<br />
Dr. Frankel das ä r z t l i c h e G u t a c h t e n über das<br />
Augenlicht <strong>und</strong> den sonstigen Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />
des Nowak zur Verlesung, dem wir das Wichtigste<br />
entnehmen:<br />
„. . . Objektiv beurteilt ergah die ärztliche<br />
Untersuchung folgendes Ergebnis: Nowak ist chronisch<br />
schlecht genährt, besitzt eine auffallend kränkliche<br />
Gesichtsfarbe. Beide Augen sind schwer krank<br />
<strong>und</strong> leiden zeitweise am grauen Staar . . ."<br />
Ein G e s c h w o r e n e r : „N. sagen Sie uns, was<br />
denken Sie sich eigentlich unter Antimilitarismus?"<br />
N.: „Wir stehen auf dem Standpunkt, daß der<br />
Militarismus nur den Interessen des Kapitals dient.<br />
Aus diesem Gr<strong>und</strong>e wollen wir die Menschen <strong>und</strong><br />
insbesondere die Jugend darüber aufklären, daß der<br />
Militarismus jede Möglichkeit zur Freiheit benimmt."<br />
Hier unterbricht'der Präsident den Angeklagten<br />
mit den W o r t e n : „Nun wir haben schon genug<br />
gehört."<br />
Der Gerichtshof erklärt hiermit das Verhör<br />
für geschlossen <strong>und</strong> zieht sich zurück behufs Aufstellung<br />
der besonderen Schuldfragen. Nach etwa<br />
einer Viertelst<strong>und</strong>e kehrt er wieder zurück mit<br />
folgenden Schuldfragen:<br />
1. Ist der Angeklagte N. schuldig, er habe das<br />
Konzept zu jenem antimilitaristischen Plakat geschrieben<br />
<strong>und</strong> mit anderen Mittätern am 1. Mai angeklebt,<br />
zwecks Verächtlichmachung <strong>und</strong> Aufreizung,<br />
zum Haß gegen den Militarismus?<br />
2. Ist der Angeklagte Fr. schuld'g, er habe in<br />
Verabredung mit anderen Mittätern zur Vervielfältigung<br />
des Konzepts einen Hektographen angekauft,<br />
das Plakat hergestellt <strong>und</strong> in der Nacht angeklebt,<br />
zwecks (wie o b e n ) ?<br />
3. Ist N. schuldig, daß er das Plakat mitangeklebt<br />
habe, zwecks (wie o b e n ) ?<br />
4. Ist der Angeklagte N. schuldig, er habe in<br />
Verabredung mit anderen Mittätern diverse bildliche<br />
Darstellungen gemacht, zwecks (wie oben) gegen<br />
das k. k. Militär?<br />
5. Ist der Angeklagte N. schuldig, in Vereinbarung<br />
mit anderen ein Konzept zu einem Plakat<br />
gemacht zu haben, das zur Verletzung des Eidgelöbnisses<br />
von dienstpflichtigen Militärpersonen<br />
auffordert <strong>und</strong> das als Verbrechen gegen das Leben<br />
der Angehörigen des Kaiserhauses g i l t ?<br />
6. Hat der Angeklagte N., die vom k. k. Kriegsministerium<br />
dienstlich verpflichteten Männer, nachdem<br />
er selbst zu keinem solchen Amte verpflichtet<br />
ist, zur Verletzung ihres Eidgelöbnisses aufreizen<br />
w o l l e n ?<br />
7. Hat der Angeklagte Fr. in seiner Wohnung<br />
ohne gesetzliche Zulässigkeit einen Hektographen<br />
gehalten ?<br />
Nach Verlesung dieser 7 Schuldfragen an die<br />
Geschworenen beginnen die Plaidoyers des Staatsanwaltes<br />
<strong>und</strong> Verteidigers.<br />
Staatsanwalt Dr. M e y e r : „Meine Herren G e -<br />
schworenen <strong>und</strong> hoher Gerichtshof! Als ein bemer-<br />
, kenswerter Zug unserer Zeit tritt uns eine imm r<br />
größer werdende Unzufriedenheit mit den bestehenden<br />
sozialen Zuständen entgegen. Und es ist insbesondere<br />
die Arbeiterklasse, die diesen Zug aufweist.<br />
Die Ursache dazu ist nicht recht einzusehen,<br />
denn die Lage des Arbeiters hat sich auf keinen<br />
Fall so verschlechtert, wie z. B . , die Lage des<br />
Bauern. Der Lohn des Arbeiters ist gestiegen,<br />
während das Einkommen des Bauern <strong>und</strong> Handwerkers<br />
gesunken ist. Dazu kommen noch die verschiedenen<br />
Unterstützungseinrichtungen, die für den<br />
Arbeiter geschaffen wurden; auch in seinen hygienischen<br />
Verhältnissen ist vieles reformiert worden,<br />
mehr als für den Mittelstand. Immerhin — ich lasse<br />
es gegenwärtig völlig dahingestellt, ob er nicht<br />
dennoch genug Ursache hat, weiterzukämpfen für<br />
die Verbesserung seiner Lebensverhältnisse, ich<br />
beabsichtigte nur die Berechtigung dieses Kampfes<br />
im Vergleiche mit einem anderen Stand Ihnen vorzuführen.<br />
Es sind zwei Bewegungen, die den Kampf<br />
des Proletariats organisieren <strong>und</strong> leiten: Die Sozialdemokratie<br />
<strong>und</strong> die anarchistische Bewegung. Ich<br />
beschränke mich in bezug auf letztere nur auf die<br />
geistig anarchistische Bewegung <strong>und</strong> schalte die<br />
terroristische ganz aus, da die Angeklagten n i c h t<br />
zu ihr gehören.<br />
Diese theoretisch - anarchistische Bewegung<br />
wird, dies ist nicht länger zu verkennen, immer<br />
stärker. Sie umfaßt in ihren <strong>Ziel</strong>en sowohl die<br />
Gegenwart, wie auch die Zukunft <strong>und</strong> die ganze<br />
Menschheit. Im Gegensatz zum Anarchismus will<br />
die soziale Demokratie den Staat stärken, alle P r o -<br />
duktionsmittel in seinen Händen konzentrieren <strong>und</strong><br />
dem gesellschaftlichen Leben nur eine neue staatliche<br />
Rechtsgr<strong>und</strong>lage verschaffen, die allerdings,<br />
wie es eben heute der Fall ist, auf Zwangsorganisationen<br />
sich stützt; diesem gegenüber erklärt sich<br />
der Anarchismus g e g e n j e d e n Staat, will denselben<br />
völlig beseitigen <strong>und</strong> an dessen Stelle s o -<br />
genannte freie Vereinigungen setzen, in denen die<br />
Mitglieder schalten <strong>und</strong> walten können, wie sie es<br />
für das zweckmäßigste erachten.<br />
Diesem <strong>Ziel</strong> stellen sich naturgemäß die heutigen<br />
Gewalten entgegen. Der Anarchismus erkennt<br />
dies, <strong>und</strong> er sucht deshalb die Hauptstütze des<br />
Staates, den Militarismus, geistig <strong>und</strong> praktisch zu<br />
entwurzeln, wieder ganz im Gegensatz zur D e m o -<br />
kratie, die nur dessen Formen verändern will. Der<br />
theoretische Anarchismus will wohl keine individuellen<br />
Gewaltakte, aber seine ganze Arbeit führt zu<br />
einer Untergrabung des militärischen Gefühls, der<br />
militärischen Autorität, wie es die Beschlüsse des<br />
internationalen antimilitaristischen Kongresses ganz<br />
klar aussprechen.<br />
Gegenüber solchem Beginnen kann der Staat<br />
nicht untätig bleiben, er muß sich zur Wehre setzen.<br />
Die Anarchisten werfen dem Staat vor, daß er seine<br />
Armee stets auf die Seite des Kapitals stellt. Ich<br />
behaupte, daß diese Meinung eine völlig unberechtigte<br />
ist. Der Staat ist im Kampf zwischen Kapital<br />
<strong>und</strong> Arbeit ganz neutral, er gewährt der Arbeit<br />
Koalitionsrechte, Vereinigungsrechte usw. Allerdings,<br />
die Zerstörung des privaten Eigentums, die Antastung<br />
der Sicherheit <strong>und</strong> Freiheit dar Person — dies darf<br />
der Staat nicht zulassen. Sonst aber ist er unparteiisch<br />
<strong>und</strong> die diesbezüglichen anderweitigen B e -<br />
hauptungen der Anarchisten sind ungerechtfertigt.<br />
Das eine will ich den Anarchisten gern zugestehen<br />
: Sie haben recht, wenn sie sich gegen<br />
die Subordination <strong>und</strong> Unterwerfung erklären. Nämlich<br />
von ihrem Standpunkt aus. Wir wissen, daß<br />
das Gefühl der Subordination glücklicherweise viel<br />
zu stark ist, als daß sie es jemals irgendwie erheblich<br />
schädigen könnten. Sie dürfen aber, meine<br />
hochverehrten Herren Geschworenen, nicht vergessen,<br />
daß die antimilitaristisch-anarchistische B e -<br />
wegung in Dux ziemlich stark ist <strong>und</strong> hier haben<br />
sie das antimilitaristische Knopflochabzeichen —<br />
zwei Hände, die ein Gewehr zerbrechen <strong>und</strong> die<br />
Aufschrift: .Keinen Mann, keinen Heller dem Militarismus!'<br />
— das in vielen Tausenden von E x e m -<br />
plaren verbreitet ist <strong>und</strong> gegenwärtig auch subjektiv<br />
verfolgt wird.<br />
Die beiden Angeklagten sind erklärte Anarchisten,<br />
der Anarchismus ist bestrebt, den gesamten<br />
Staat, das Heer <strong>und</strong> das Gefühl der Subordination,<br />
der Unterordnung, zu beseitigen. Ich bitte Sie darum,<br />
dies festzuhalten!<br />
W a s bezweckten die Angeklagten- mit der<br />
Plakatierung dieses Manifests? Sie wollten ihrer<br />
Idee, ihrer Bewegung dienen, deren Tendenzen<br />
lebendig erhalten. Fronek sagte, sein Zweck sei<br />
gewesen, in der Arbeiterschaft das Gefühl des<br />
Hasses gegen die Mißstände im Militarismus, so<br />
wie er sie sieht <strong>und</strong> auffaßt, zu e r w e c k e n ; also<br />
Haß gegen den Staat. Nowak wollte mit seiner<br />
Flugschrift in den jungen Leuten ein Gefühl, daß<br />
ihnen Unrecht geschehe, erwecken, vielleicht auch<br />
bestärken. Hören S i e nur den Wortlaut des Plakates.<br />
(Liest einzelne Sätze vor) Kann man einen solchen<br />
Staat noch l i e b e n ? Ich sage nein; ein solcher Staat<br />
muß von den minder Urteilsbefähigten ganz selbstredend<br />
gehaßt werden .<br />
Wann wurde das Plakat veröffentlicht? Zur<br />
Zeit der Assentierung. W a s soll nun ein Jüngling<br />
empfinden, der so informiert wird über den Milit<br />
a r i s m u s ? Er wird hingewiesen auf das Elend, eine<br />
hohe Sterbeziffer beim Militär, auf die Selbstmorde;<br />
er wird durch Schmähungen gegen den Militarismus<br />
aufgebracht, denn das Plakat nennt diesen eine<br />
.Geißel der Völker'. J a , es ist wohl war, Fälle von<br />
Soldatenmißhandlungen kommen in unserem Heer<br />
vor, wie in jedem anderen der ganzen Welt. Doch<br />
das Plakat verschweigt, daß diese Fälle ihre Sühne<br />
finden. Selbstmorde werden schließlich immer vorkommen,<br />
solange Menschen auf Erden sind; sie<br />
sind Ursachsfolgen, die in keiner Verbindung mit<br />
dem militärischen Leben stehen. I c h g e b e a u c h<br />
g e r n e zu, daß ein Fall eintreten kann, wo die<br />
Soldaten die Waffen gegen die eigene Familie zu<br />
kehren haben. Aber das Flugblatt verschweigt, daß<br />
ein solcher Fall nur dann eintreten kann, wenn<br />
diese Angehörigen sich in Kollisionen mit den<br />
bestehenden Verhältnissen bringen. Dann allerdings<br />
kann es zu dem Falle kommen, daß der Sohn gegen<br />
den eigenen Vater auftreten muß.<br />
Gerne will ich den Angeklagten zubilligen<br />
daß sie nicht mit momentaner Gewalt die gegenwärtige<br />
Regierungsform stürzen wollten. Aber dies<br />
ist ganz gleichgültig. Die Frage ist: Wollten die<br />
Angeklagten Haß <strong>und</strong> Verachtung e r w e c k e n ? D e s -<br />
halb sind sie der Störung der öffentlichen Ordnung<br />
angeklagt. Ich bitte Sie deshalb, verehrte Herren<br />
Geschworenen, sämtliche Schuldfragen zu bejahen<br />
<strong>und</strong> die Angeklagten schuldig zu sprechen."
R e c h t s a n w a l t D r . B e n d e l will nun i n<br />
böhmischer Sprache das Wort ergreifen. Doch ein<br />
Geschworener ersucht ihn, darauf Verzicht zu leisten,<br />
da nur er der böhmischen Sprache mächtig ist, die<br />
übrigen 11 Geschworenen nicht. Darauf verzichtet<br />
Dr. Bendel auf sein Plaidoyer. Es ergreift nach ihm<br />
das Wort<br />
Dr. H e r z b e r g - F r ä n k e l : „Meine hochverehrten<br />
Herren Geschworenen 1 Wenn Sie gelegentlich<br />
irgend eines der zahlreichen Amtsblätter zur Hand<br />
nehmen, mit denen unser Österreich so überaus<br />
reichlich gesegnet ist, so werden Ihnen die Konfiskationsparagraphen<br />
nur so vor den Augen schwirren.<br />
Es sind das lauter Paragraphen, die zu einer subjektiven,<br />
wirklich strafrechtlichen Verfolgung längst<br />
nicht mehr ausreichen, obwohl auf manchem von<br />
ihnen laut Gesetz die Todesstrafe steht. In Niederösterreich<br />
selbst haben wir seit einem Jahrzehnt<br />
wenigstens keine solchen Verfolgungen mehr gehabt.<br />
Dieselben sind, wie gesagt, äußerst selten. Nur hier<br />
in Böhmen, vornehmlich in Brüx, habe ich schon das<br />
zweite Mal Gelegenheit, in einem politischen Prozeß<br />
gegen die Absichten der Staatsanwaltschaft auftreten<br />
zu müssen. Überall vermeidet man es sonst, die<br />
Geschworenen aus dem Bürgerstande mit solchen<br />
Gewissensfragen zu belasten <strong>und</strong> zu behelligen, wie<br />
es eine Urteilsfällung über die politische Gesinnung<br />
<strong>und</strong> Denkart von Menschen mit sich bringt. Nur<br />
hier in Brüx scheint man sich hartnäckig an alle,<br />
selbst an die veraltetsten Paragraphen unseres so<br />
sehr reformbedürftigen Strafgesetzbuches zu halten.<br />
Meine Herren Geschworenen, bedenken Sie, daß<br />
dieses vor über 100 Jahren <strong>und</strong> zur Zeit einer<br />
großen politischen Finsternis <strong>und</strong> Reaktion entstanden<br />
ist. Und nun sollen wir, nachdem wir 1848<br />
uns eine ganze Anzahl von diesem Strafgesetzbuche<br />
verbotene, uns aber heute schon selbstverständlich<br />
gewordene Freiheiten erobert haben, auf dieselben<br />
Verzicht leisten, wir, die wir alle erklären, daß das<br />
Gewissen frei i s t ?<br />
Ach, dieser mit drei Kreuzen versehene Anarchismus!<br />
Woran denkt man, wenn man ihn im<br />
M<strong>und</strong>e führt? An Kaiser- <strong>und</strong> Königsmorde, an<br />
wüstem Raub u. dgl. m. Ich muß dem heutigen<br />
Vertreter der Anklage immerhin loyalerweise zugestehen,<br />
daß er gleich eingangs erklärte, daß<br />
Anarchismus n i c h t Terrorismus ist. Aber ich muß<br />
ihm den einen Vorwurf machen, daß er diese Einsicht<br />
schon früher hätte bek<strong>und</strong>en können, e h e er<br />
die gegenwärtige Anklage e r h o b !<br />
Vergegenwärtigen Sie sich klar die Situation<br />
meine verehrten Herren Geschworenen. Sie haben<br />
es mit Bergarbeitern zu tun, also mit Leuten, die<br />
eine Arbeit haben, die sie sechs aus sieben T a g e n<br />
dem lebenspendenden Sonnenlichte, der freien Natur<br />
<strong>und</strong> ihrer Luft entzieht. Ist es nicht geradezu rührend<br />
zu beobachten, daß diese Leute, die also einen<br />
fürchterlich harten Lebensstandpunkt einzunehmen<br />
haben, sich bei ihrem ganzen grauen Elend noch<br />
den erhebenden Idealtsmus bewahren, daß das Leben<br />
ohne Staat möglich, daß wir keine Staatsgewalt,<br />
keinen Gendarmen brauchen! Ich muß eingestehen,<br />
daß ich mich mitgerissen fühle von der Hochherzigkeit<br />
dieses Ideals, das übrigens von den auserlesensten<br />
Weltgeistern geteilt wird; <strong>und</strong> ich muß<br />
aufrichtig bekennen: W a n n dieser Standpunkt der<br />
menschlichen Entwicklung möglich ist — d a n n<br />
sage auch i c h : Nieder mit dem S t a a t e ! Allerdings,<br />
<strong>und</strong> hier scheide ich von den Anarchisten, ich kann<br />
mich nicht zu dem Glauben an das Gute in a l l e n<br />
Menschen aufschwingen <strong>und</strong> glaube nicht, daß<br />
dieses Stadium der Entwicklung möglich, somit<br />
erachte ich den Staat als eine Notwendigkeit; aber<br />
keineswegs als eine ideale, <strong>und</strong> ich kann es unmöglich<br />
zugeben, daß man das so ideale Streben<br />
von einfachen, bescheidenen Menschen, den Staat<br />
zu einer Überflüssigkeit in der menschlichen G e -<br />
sellschaft zu machen, das Streben, die Menschheit<br />
zu diesem Ideale zu erziehen, daß man dies als ein<br />
Verbrechen erklären soll.<br />
Wir haben es hier mit einer antimilitaristischen<br />
Flugschrift zu tun. Nun, ich muß gestehen, ich habe<br />
in politisch radikalen Zeitungen schon öfters zum<br />
mindesten das Gleiche gelesen, ohne daß n a n sie<br />
deshalb verfolgte. Die Angeklagten haben den Militarismus<br />
als Feind der menschlichen Gesellschaft<br />
hingestellt? Nun, ich muß es Ihnen sagen : sie haben<br />
Recht damit. Der Militarismus ist der Feind der<br />
Kultur, der Militarismus ist der Feind der Zivilisation,<br />
der Militarismus zerstört, der Militarismus ist Grausamkeit,<br />
der Militarismus ist zu verwerfen. Und<br />
das sagen nicht nur die Angeklagten, das sage<br />
nicht nur ich, das sagen alle Einsichtsvollen, das<br />
sagt die gesamte internationale Friedensbewegung,<br />
das sagen die Frauen vom Schlage einer Suttner,<br />
das hören Sie immer wieder in allen Parteien, wenn<br />
in den Parlamenten darüber geklagt wird, daß das<br />
Militärbudget alle Lösungen der sonstigen Kulturfragen<br />
einfach illusorisch macht. Und unsere Zeit<br />
geht mit Riesenschritten daran, den Militarismus,<br />
wie er heute besteht, durch Schiedsgerichte aus<br />
der Welt zu schaffen, als einen Feind, der befehdet<br />
werden muß. Und ich neige sehr zur Annahme, daß<br />
das k. k. Kriegsministerium, gerade weil es den<br />
großen Unterschied zwischen dem Militarismus <strong>und</strong><br />
der Armee an <strong>und</strong> für sich herausfühlte, seine<br />
spezielle Zustimmung zu einer Anklage wegen B e -<br />
leidigung der Armee n i c h t erteilt hat, da dieselbe<br />
nicht vorliegt.<br />
Und nehmen Sie nun die anderen Paragraphen,<br />
meine Herren Geschworenen, auf denen Jahre<br />
schweren Kerkers stehen! Lesen Sie sie durch <strong>und</strong><br />
Sie werden finden, daß sie gar nicht auf dem vorliegenden<br />
Fall passen, da sie sich vornehmlich<br />
darauf beziehen, daß gegen denjenigen vorgegangen<br />
werden soll, der zum Haß <strong>und</strong> zur Verachtung wider<br />
den Kaiser, die S t a a t s v e r w a l t u n g aufruft. B e -<br />
achten Sie dies wohl <strong>und</strong> noch besonders das eine:<br />
in dem Plakat wird die S t a a t s i d e e als solche,<br />
nicht aber irgendwie die S t a a t s v e r w a l t u n g im<br />
Besonderen angegriffen. Ich gebe Ihnen zu bedenken,<br />
daß, wenn Sie die Angeklagten schuldig sprechen,<br />
sie ohne Zweifel mit der vollen Strenge des G e -<br />
setzes betroffen werden, die auf die §§ 65 <strong>und</strong> 222<br />
steht <strong>und</strong> ich Sie dann schließlich fragen muß:<br />
Diese Angeklagten haben die in den genannten<br />
Paragraphen angeführten Verbrechen n i c h t b e -<br />
gangen; wie wollen Sie denn nachher einmal, wenn<br />
irgend jemand wirklich diese Verbrechen begehen<br />
sollte, diese Person dafür bestrafen, wenn Sie schon<br />
jetzt, wo das Verbrecuen noch nicht begangen<br />
wurde, die volle Strenge dieser Gesetze wirken<br />
lassen w o l l e n ?<br />
Der Herr Staatsanwalt hat auch gesagt: Pflicht<br />
ist Pflicht. Es ist dies nicht meine Meinung <strong>und</strong><br />
ich weiß, es ist auch nicht Ihre Meinung, denn<br />
ich möchte doch den Herrn Geschworenen sehen,<br />
der dafür, daß ein Sohn seinem Vater nicht eine<br />
Kugel durch die Brust jagen wollte, jenen Sohn<br />
dafür schuldig sprechen, somit sagen wollte, daß<br />
er im Stande wäre, so etwas zu begehen. Im übrigen<br />
bringt uns j e d e Parlamentssitzung neue K<strong>und</strong>e<br />
von Soldatenmißhandlungen, von Selbstmorden in<br />
der Armee <strong>und</strong> wenn trotz der loyalen Erklärungen<br />
des Herrn Kriegsministers, dagegen einzuschreiten,<br />
die Mißhandlungen u. dgl. m. n i c h t aufhören,<br />
müssen sie es mit in Kauf nehmen, daß strikt antimilitaristisch<br />
gesonnene Menschen die Öffentlichkeit<br />
dagegen aufrufen, dazu auffordern, sich zu wehren.<br />
Das ist kein Verbrechen.<br />
Aber ich weiß, es ist nicht nötig, Ihnen allen<br />
dies so eindringlich ans Herz zu legen. Ich weiß,<br />
ich kämpfe gegen Windmühlen in meiner Befürchtung,<br />
daß Sie diese zwei Männer verurteilen werden. Ist<br />
es denn menschenmöglich, daß sie solche zwei<br />
Menschen, von denen der eine frühem Siechtum<br />
verfallen ist, einem frühen T o d entgegenschreitet<br />
<strong>und</strong> durch seine Arbeitsart halb erblindet ist, die<br />
beide über 4 Monate in Untersuchungshaft gehalten<br />
wurden — ist es denn möglich, daß Sie solche<br />
Leute wegen ihrer Gesinnung zu langjährigen Kerkerstrafen<br />
verurteilen ? Meine Herren Geschworenen!<br />
Sie sind lauter Deutsche, die Angeklagten sind<br />
Tschechen. Bieten Sie ihnen ein leuchtendes B e i -<br />
spiel Ihrer Unparteilichkeit <strong>und</strong> Vorurteilslosigkeit,<br />
tun Sie das, was die Geschworenen hier vor 5<br />
Jahren getan, sprechen Sie die Leute, die kein<br />
Verbrechen begangen haben, frei. Ich plaidiere aus<br />
diesem Gr<strong>und</strong>e für die vollständige Freisprechung<br />
meiner Klienten."<br />
S t a a t s a n w a l t D r . M e y e r erhebt sich <strong>und</strong><br />
konstatiert, daß der oben angeführte S a t z : „Der<br />
Staat ist dein Feind" usw., im Nominativ, nicht im<br />
Genetiv verfaßt ist. — — -<br />
Um a<br />
/ 4 5 Uhr abends ziehen sich die G e -<br />
schworenen zur Beratung zurück. Um 6 Uhr abends<br />
kehren sie wieder zurück, <strong>und</strong> der Obmann überreicht<br />
folgendes Gutachten:<br />
„In der ersten Frage erklären sie die Angeklagten<br />
mit 7 Stimmen für nichtschuldig, 5 dagegen;<br />
in der zweiten 6 für nichtschtildig, 6 dagegen; in<br />
in der dritten 4 für nichtschuldig, 8 dagegen; in<br />
der vierte.. 4 für nichtschuldig, 8 dagegen; in der<br />
fünften 12 für nichtschuldig; in der sechsten 12<br />
für nichtschuldig; in der siebenten 5 für nichtschuldig,<br />
7 dagegen."<br />
Staatsanwalt Dr. Meyer plaidierte nun für B e -<br />
strafung der Angeklagten in den Punkten der<br />
Schuldfragen, in denen die Majorität der G e -<br />
schworenen sich g e g e n die Angeklagten ausgesprochen<br />
hatte.<br />
Der Gerichtshof zieht sich zurück <strong>und</strong><br />
verkündet nach einigen Minuten das folgende<br />
Urteil:<br />
Der Angeklagte Nowak wird zu 14 Tagen<br />
Arrest, verschärft durch einen Fasttag, der Angeklagte<br />
Fronek zu 4 Wochen Arrest, beide<br />
zur Tragung sämtlicher Kosten des Verfahrens<br />
gegen sie verurteilt.<br />
Ein Strafaufschub wird nicht bewilligt <strong>und</strong><br />
unter Umarmungen <strong>und</strong> Händedrücken der auf sie<br />
zudrängenden, während der Urteilsfällung zugelassenen<br />
Kameraden <strong>und</strong> Familienangehörigen, werden<br />
die Verurteilten von der W a c h e abgeführt.<br />
• •<br />
Offizielles Protokoll<br />
des Internationalen Antimilitaristischen<br />
Kongresses<br />
gehalten zu Amsterdam, am 3 0 . - 31. August<br />
1907. — Übersetzt aus dem Holländischen<br />
des freireligiösen Pastor N. J. C. S c h e r -<br />
m e r h o r n.<br />
Dokumentarischer <strong>und</strong> historischer<br />
Anhang.<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.<br />
I.<br />
Manifest des Internationalen Antimili<br />
taristischen Kongresses an die Arbeitet<br />
Deutschlands <strong>und</strong> Frankreichs.<br />
(Schluß.)<br />
Französische <strong>und</strong> deutsche Proletarier,<br />
Männer <strong>und</strong> Frauen, h a u p t s ä c h l i c h ihr<br />
F r a u e n — Mütter, S c h w e s t e r n , Gef<br />
ä h r t i n n e n — müßt die euch nahe Stehenden<br />
davon zurückhalten, zu Henkersknechten<br />
<strong>und</strong> willenlosen Werkzeugen<br />
eurer gemeinsamen Bedrücker zu werden!<br />
Man wird euch sagen, daß dieses Vorgehen<br />
zwar einem A n g r i f f s k r i e g e gegenüber<br />
gerechtfertigt sein kann, daß sich aber<br />
ein Volk v e r t e i d i g e n müsse, wenn es<br />
angegriffen wird; denn sonst würden die<br />
Staaten, in denen die kapitalistische Herrschaft<br />
<strong>und</strong> die militärische Disziplin noch<br />
stark sind, die aufgeklärteren, revolutionäreren<br />
Völker besiegen <strong>und</strong> knechten.<br />
Das sind aber nur Redensarten, um<br />
die Wahrheit zu verdecken. Kein europäisches<br />
V o l k hat den Willen, ein anderes<br />
europäisches Volk anzugreifen; alle Kriege<br />
sind nur Zwistigkeiten der kapitalistischen<br />
Regierungen, <strong>und</strong> bei denen gibt es keine<br />
Angreifer <strong>und</strong> keine Verteidiger - sondern<br />
nur Geldmenschen, die sich um den Profit<br />
zanken. Von welcher Seite die Kriegserklärung<br />
zuerst erfolgt, ist reiner Zufall.<br />
D e r W u n s c h nach e i n e r freien<br />
G e s e l l s c h a f t , nach der Brüderlichkeit<br />
der M e n s c h e n <strong>und</strong> der V ö l k e r , wird<br />
in allen V ö l k e r n g l e i c h e r w e i s e immer<br />
stärker.<br />
Dieses ist das <strong>Ziel</strong> des Proletariats, für<br />
das es sich organisieren, wofür es den<br />
Kampf gegen den Krieg <strong>und</strong> den Militarismus<br />
führen muß. Von nun an müssen wir<br />
uns mit ganzer Kraft für diesen Kampf<br />
vorbereiten. Wir müssen eine unablässige<br />
Aufklärungs- <strong>und</strong> Propagandaarbeit unter<br />
den Kindern <strong>und</strong> jungen Leuten beider<br />
Geschlechterbetreiben. W i r m ü s s e n offen<br />
u n s e r e a n t i m i l i t a r i s t i s c h e Gesinnung,<br />
u n s e r e A b s i c h t zur V e r e i t l u n g eines<br />
K r i e g e s v e r k ü n d e n .<br />
Vor allem aber müssen wir die Ursache<br />
aller Kriege bekämpfen: die h e u t i g e Ges<br />
e l l s c h a f t s o r d n u n g , die Ausbeutung<br />
<strong>und</strong> die H e r r s c h a f t der Menschen<br />
ü b e r M e n s c h e n . Wir müssen den gesellschaftlichen<br />
Reichtum <strong>und</strong> die Produktionsmittel<br />
zum gemeinsamen Eigentum derer<br />
machen, die arbeiten; wir müssen uns ohne<br />
Herrschaft <strong>und</strong> Gesetze nach freier Vereinbarung<br />
vereinigen, um unsere eigenen<br />
sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Angelegenheiten<br />
zu besorgen. Wir müssen die anarc<br />
h i s t i s c h - k o m m u n i s t i s c h e Gesellschaft<br />
begründen, in welcher es keine<br />
Reichen <strong>und</strong> Armen, keine Herren <strong>und</strong><br />
Sklaven geben wird, sondern wo jedermann<br />
nach seinen Fähigkeiten, unter angenehmen<br />
Verhältnissen arbeitet <strong>und</strong> alle nach ihren<br />
Bedürfnissen, reichlich an der Frucht der<br />
gemeinsamen Arbeit teilnehmen können.<br />
Der Kampf gegen den Krieg ist für<br />
uns ein Kampf um diese neue Gesellschaft.<br />
Der Krieg, der Militarismus <strong>und</strong> Patriotismus<br />
sind die größten Hindernisse zur Verwirklichung<br />
derselben; indem wir gegen diese<br />
kämpfen, wollen wir nicht dabei stehen<br />
bleiben, den Krieg zu verhindern <strong>und</strong> dabei<br />
den Staat <strong>und</strong> den Kapitalismus, die immer<br />
wieder neue Kriege erzeugen werden, unberührt<br />
zu lassen. Wir hoffen, durch den<br />
Kampf zur Verhinderung des Krieges, das<br />
Volk sehnsüchtig zu machen nach ganzer,<br />
voller Befreiung.<br />
D a r u m w e n d e n wir uns an euch,<br />
P r o l e t a r i e r ! V o n e u c h hängt es ab,<br />
ob ihr e u e r e Kräfte zum g e g e n s e i t i -<br />
gen H i n m o r d e n b r a u c h e n wollt, um<br />
d a d u r c h die M a c h t e u e r e r Bedrücker<br />
zu f e s t i g e n ; o d e r ob ihr brüderlich<br />
vereint, den W o h l s t a n d <strong>und</strong> die Freiheit<br />
für e u c h alle e r k ä m p f e n werdet!
Wien, 4. Oktober 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 19.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />
I./17. — Gelder sind zu senden an<br />
Marie Schindelar, Wien, XII., Herthergasse<br />
12, I./17.<br />
An unsere K a m e r a d e n !<br />
Mit Bedauern müssen wir konstatieren, daß<br />
mit dieser Nummer unser altbewährter Kamerad<br />
W. Kubesch krankheitshalber gezwungen ist, seinen<br />
Posten als Kassier unseres Blattes niederzulegen.<br />
Von nun an sind alle Geldsendungen zu<br />
adressieren an die Genossin<br />
Marie Schindelar<br />
Wien, XII., Herthergasse 12, I. St. 17<br />
somit an dieselbe A d r e s s e , wo sich auch die<br />
Redaktion unseres Blattes befindet.<br />
Der Z u g der Arbeiter.<br />
Aus dem E n g l i s c h e n ü b e r s e t z t v on Lilly N a d l e r - N u e l l e n s .<br />
W a s ist dies, d a s alle h ö r e n , wie ein dumpfer<br />
D o n n e r k l a n g ,<br />
Wie wenn a u s den tiefen T ä l e r n tönt d e s n a h ' n -<br />
den S t u r m e s S a n g ,<br />
Wie am Abend M e e r e s b r a n d u n g an d e m finstren<br />
S t r a n d e n t l a n g ?<br />
's ist d a s Volk, d a s k o m m t h e r a n .<br />
Woher kommen, wohin geh'n sie, die, v o n denen<br />
ihr e r z ä h l t ?<br />
Wo das L a n d , in d e m sie weilen, ihre Heimat<br />
auf d e r W e l t ?<br />
Werden sie euch willig dienen, könnt ihr h a b e n<br />
sie um Geld ?<br />
Und d a s B r a u s e n k o m m t h e r a n .<br />
Horch des D o n n e r s dumpfes R o l l e n !<br />
Sieh die S o n n e ! — Unten g r o l l e n<br />
Zorn <strong>und</strong> Hoffnung, finst'res W o l l e n ,<br />
Und die S c h a r , sie k o m m t h e r a n .<br />
Hin sie geh'n zu L u s t <strong>und</strong> F r e u d e , a u s d e s<br />
E l e n d s bitt'rer Q u a l ;<br />
Überall ist ihre Heimat, bis ins f e r n s t e E r d e n t a l .<br />
Euch zu dienen kauft — verkauft s i e ! Ob ihr's<br />
könnt, v e r s u c h t ' s einmal,<br />
Denn die T a g e geh'n v o r a n .<br />
Diese sind's, die für euch b a u t e n , w e b t e n , s ä t e n ,<br />
T a g <strong>und</strong> N a c h t ,<br />
Alles S c h w e r e für euch t a t e n <strong>und</strong> d a s B i t t ' r e<br />
süß g e m a c h t ,<br />
Stets für e u c h , wie heut <strong>und</strong> i m m e r ; w e l c h e r<br />
Lohn wohl ihnen l a c h t ?<br />
Bis die S c h a r d a n n k o m m t h e r a n .<br />
Horch des D o n n e r s dumpfes R o l l e n !<br />
Sieh die S o n n e ! — Unten g r o l l e n<br />
Zorn <strong>und</strong> Hoffnung, finst'res W o l l e n ,<br />
Und die S c h a r , sie k o m m t h e r a n .<br />
Viele H<strong>und</strong>erte von J a h r e n mühten sie sich t a u b<br />
<strong>und</strong> blind,<br />
Nie erreichte sie die B o t s c h a f t , nie ihr Müh'n<br />
die Hoffnung lind,<br />
Endlich jetzt erklingt sie ihnen, <strong>und</strong> ihr Ruf<br />
k o m m t mit dem W i n d ,<br />
Und im Schritt geh'n sie v o r a n .<br />
0 , ihr Reichen, h ö r t <strong>und</strong> zittert, denn d a s W o r t<br />
t ö n t nah <strong>und</strong> w e i t :<br />
„Einst für euch wir dumpf uns mühten, doch<br />
v e r ä n d e r t ist die Z e i t ;<br />
Für die Menschheit <strong>und</strong> für's Leben sind zum<br />
K a m p f wir froh bereit.<br />
Uns're S c h a r , sie k o m m t h e r a n . "<br />
Horch des D o n n e r s d u m p f e s R o l l e n !<br />
Sieh die S o n n e ! — Unten grollen<br />
Zorn <strong>und</strong> Hoffnung, finst'res W o l l e n ,<br />
Und die S c h a r , sie k o m m t h e r a n .<br />
„Wollt ihr kämpfen <strong>und</strong> v e r g e h e n , wie d a s Holz<br />
von Glut v e r z e h r t ?<br />
Wollt ihr F r i e d e n ? laßt d a n n e u e r Hoffen sein,<br />
w a s wir b e g e h r t !<br />
Kommt <strong>und</strong> l e b t ! ein n e u e s L e b e n ist uns allen<br />
nicht v e r w e h r t ,<br />
Und die Hoffnung k o m m t h e r a n .<br />
„ I n E r w ä g u n g , dass die E m a n z i p a t i o n d e r A r b e i t e r k l a s s e selbst e r o b e r t w e r d e n m u s s ; dass<br />
der K a m p f für die E m a n z i p a t i o n d e r A r b e i t e r k l a s s e kein K a m p f für K l a s s e n v o r r e c h t e <strong>und</strong><br />
M o n o p o l e ist, s o n d e r n für g l e i c h e R e c h t e <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die V e r n i c h t u n g a l l e r K l a s s e n -<br />
h e r r s c h a f t ; d a s s die ö k o n o m i s c h e U n t e r w e r f u n g des A r b e i t e r s u n t e r den A n e i g n e r u d e r A r b e i t s -<br />
mittel, d. h. d e r l . e b e n s q u e l l e n . d e r K n e c h t s c h a f t in allen ihren F o r m e n zu G r u n d e liegt —<br />
d e m g e s e l l s c h a f t l i c h e n E l e n d , d e r g e i s t i g e n V e r k ü m m e r u n g <strong>und</strong> d e r politischen A b h ä n g i g k e i t ;<br />
dass die ö k o n o m i s c h e E m a n z i p a t i o n d e r A r b e i t e r k l a s s e d a h e r d e r g r o s s e E n d / w e c k ist, d e m<br />
jede politische B e w e g u n g u n t e r z u o r d n e n ist . . . "<br />
W i r , d a s Volk, die A r b e i t , k o m m e n <strong>und</strong> d a s<br />
B r a u s e n , d a s erklingt,<br />
Ist d e s Kampfs <strong>und</strong> d e r E r l ö s u n g Stimme,<br />
w e l c h e n ä h e r d r i n g t ;<br />
Denn d a s B a n n e r , d a s wir t r a g e n , allen Mens<br />
c h e n Hoffnung bringt,<br />
Und die W e l t , sie g e h t v o r a n . "<br />
H o r c h d e s D o n n e r s dumpfes R o l l e n !<br />
Sieh die S o n n e ! — Unten g r o l l e n<br />
Z o r n <strong>und</strong> Hoffnung, finst'res W o l l e n ,<br />
Und die S c h a r , sie k o m m t h e r a n .<br />
William Morris.<br />
„Es lebe der Volksbetrug!"<br />
Unter diesem Zeichen vollzieht sich<br />
gegenwärtig die Agitation aller Parteien<br />
für die k o m m e n d e n Landtagswahlen. V o r<br />
einigen Monaten willkürlich aufgelöst, hat<br />
die Regierung gütigst geruht, die Neuwahlen<br />
für den 26. O k t o b e r auszuschreiben. Und<br />
jetzt balgen sich die verschiedenen Parteien<br />
miteinander vor den Augen des Gottes<br />
D e m o s , der nun gewichtig mitzusprechen<br />
hat; n i c h t für sein Interesse, aber wohl<br />
darin, welcher Parteiführer ein fettes, politisches<br />
Ämtchen haben soll.<br />
Merkwürdig, was diese Herren den<br />
breiten Volksmassen alles v e r s p r e c h e n !<br />
Eine j e d e Partei schwört, daß n u r i h r e<br />
Kandidaten dem V o l k e das Heil zu bringen<br />
imstande sind. Eine jede nennt die anderen<br />
mit den verächtlichsten Schimpfnamen, verunglimpft<br />
die Aktionen der anderen, wirft<br />
der anderen g e w i s s e n l o s e Mandatsstreberei<br />
vor, -- d a r i n hat keine Unrecht — verspricht<br />
Verbilligung der Lebensmittel, appelliert<br />
an die verwerflichsten Leidenschaften<br />
in der M e n s c h e n b r u s t — all dies für die<br />
S t i m m e n der Wählermassen, die auf einmal<br />
die besten, die edelsten, die gerechtesten<br />
M e n s c h e n werden, w e n n sie nur das<br />
letzte Mal für diese, diesmal für j e n e<br />
Partei stimmen; nämlich immer v o m Standpunkt<br />
des besonderen Kandidaten aus, der<br />
durch diese W a h l s t i m m e n als gewählt erscheint<br />
<strong>und</strong> seinen gleichstrebenden G e g n e r<br />
aufs Haupt schlug.<br />
Ein altes Lied, ein garstig Lied ist<br />
dieses politische Gaukelspiel, bei dem a l l e<br />
die Herren G a u k l e r sind, die aus den Versprechungen,<br />
die sie dem V o l k e g e b e n ,<br />
nichts als die bare M ü n z e der Diäten <strong>und</strong><br />
des Amtseinflusses herausschlagen wollen,<br />
n a c h d e r W a h l aber gar nicht daran<br />
denken können, ihre V e r s p r e c h u n g e n wahr<br />
zu machen. H a b e n wir nicht dieselben<br />
schwindelhafteu Redensarten bei den Reichsratswahlen<br />
g e h ö r t ? W a s ist g e s c h e h e n ?<br />
V e r m e h r u n g der Steuerlast, V e r g r ö ß e r u n g<br />
des Militarismus — <strong>und</strong> Heranlassung der<br />
»proletarischen Volksvertreter« an die Staatskrippe,<br />
dadurch deren B e s t e c h u n g <strong>und</strong> Gleichstellung<br />
mit dem politischen Gauklertum<br />
aller bürgerlichen Parteien, damit auch<br />
deren G l e i c h w e r t u n g .<br />
Eine Partei schiebt der anderen die<br />
Schuld an den Elendszuständen des B e -<br />
stehenden zu. Dies ist der erste Volksbetrug.<br />
D e n n dadurch werden d i e w a h r e n<br />
S c h u l d i g e n v e r d e c k t : die Besitzenden<br />
<strong>und</strong> d i e . Herrschenden! S i e sind nicht<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2 . 4 0 ;<br />
halbjahrig K 1.20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3.5ü, halbjährig Fr. 1.75, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
diese nach Ämtern gierende Meute von<br />
politischen Mandatsstrebern; sie s i n d die<br />
Herrschenden, <strong>und</strong> ihre Herrschaft ist<br />
ganz u n a b h ä n g i g von dem Ausfall einer<br />
Wahl, davon, w e l c h e P a r t e i : siegt«. Die<br />
Herrschaft des G r u n d - <strong>und</strong> Kapitalbesitzes,<br />
der Staatsfunktionäre stützt sich auf die<br />
bewaffnete G e w a l t des Militarismus; sie<br />
wird durch keine Wahl berührt, die Institutionen<br />
bleiben unverändert. Und der<br />
zweite V o l k s b e t r u g ist der, w e n n die sich<br />
anpreisenden Kandidaten versprechen, falls<br />
gewählt, «etwas zu t u n . W a n n , wo, in<br />
w e l c h e m Lande hat der Landtag, sogar das<br />
Reichsparlament, je die M a c h t besessen,<br />
durch b l o ß e A b s t i m m u n g in die bestehenden<br />
Verhältnisse einzugreifen? Und was<br />
k ö n n e n sie t u n ? Im besten Falle A l m o s e n -<br />
geberei, also die Erniedrigung der Armen<br />
<strong>und</strong> Ausgebeuteten zu Bettlern, V e r e w i g u n g<br />
eines Zustandes der m e n s c h l i c h e n Unwürdigkeit<br />
<strong>und</strong> Abhängigkeit von der G ü t e<br />
staatlicher Funktionäre.<br />
Es gibt Leute, die behaupten, daß die<br />
W a h l e n für die Sozialdemokratie nur Agitationszweck<br />
haben. W o f ü r ? Vielleicht für<br />
den Kandidaten, n i e a b e r f ü r d e n S o -<br />
z i a l i s m u s . W i r fragen: W a n n <strong>und</strong> w o<br />
erwähnen die Sozialdemokraten das W o r t<br />
Sozialismus in den W ä l l l e r v e r s a m m l u n g e n ?<br />
Nirgends, hingegen wetteifern sie mit den<br />
übrigen politischen Seiltänzern im Betrüge,<br />
in lügnerischer Hoffnungserregung <strong>und</strong> unhaltbaren<br />
V e r s p r e c h u n g e n . Kein W o r t vom<br />
Klassenkampf; im Gegenteil, die Sozialdemokraten<br />
lehren uns, wie die Christlichsozialen<br />
es hätten m a c h e n sollen <strong>und</strong> versichern<br />
recht eifrig, daß sie Geschäfte des<br />
bürgerlichen Staates ehrenwert <strong>und</strong> gesetzliebend<br />
<strong>und</strong> mit echt christlicher Uneigennützigkeit<br />
erledigen werden. Ist es keine<br />
Erdrosselung des Sozialismus, wenn die<br />
Sozialdemokratie sich a l l e n W ä h l e r m a s s e n<br />
anzupassen sucht, auch denen, deren ausbeuterische<br />
Interessen j e n e m des Proletariats<br />
schnurrstracks zuwiderlaufen?<br />
A b e r auch die A n g e h ö r i g e n ein <strong>und</strong><br />
derselben Klasse werden verhetzt durch<br />
die B e u t e g i e r der Führer. Eine W a h l ist<br />
für die ärmeren Schichten nichts anderes,<br />
als daß Arbeiter g e g e n Arbeiter gehetzt<br />
<strong>und</strong> lügnerisch aufgestachelt wird durch das<br />
Eiapopeia von Trughoffnungen, auf daß die<br />
Gewählten sich hinterrücks vergnügt die<br />
Hände reiben k ö n n e n über das gute<br />
Geschäftchen.<br />
Proletarier! Die Politiker haben nur<br />
ihre leeren Hände <strong>und</strong> tönende Phrasen.<br />
W i e sollten sie, die von den H e r r s c h e n d e n<br />
durchschaut <strong>und</strong> verachtet, für euch etwas<br />
tun k ö n n e n ? W e n n ihr eure L a g e verbessern<br />
wollt, dürft ihr nicht Einzelnen ein<br />
Schmarotzerdasein ermöglichen durch Diätengewinst.<br />
Ihr müßt selbst handeln, durch<br />
euren selbstbewußten Willen, durch eure<br />
Arbeitskraft d u r c h d i e s o z i a l e ,<br />
d i r e k t e A k t i o n !<br />
Ihr sollt nicht wie Stimmvieh in die<br />
W ä h l e r v e r s a m m l u n g e n laufen, wohin Krethi<br />
<strong>und</strong> PIethi gehen. W e n d e t den politischen
Pfaffen, diesen erbärmlichen Ausbeutern<br />
eures Elends den Rücken, indem ihr ihnen<br />
eure Verachtung bek<strong>und</strong>et.<br />
Wir haben in Österreich k e i n Wahlrecht;<br />
wir haben bekanntlich den Wahlz<br />
w a n g . Schon dies beweist euch, »wie<br />
sehr« die Regierung eure Stimmen fürchtet!<br />
Da wir kein Interesse an der Bereicherung<br />
des Fiskus haben, können wir euch nicht<br />
sagen: S t i m m t n i c h t ; beteiligt euch nicht<br />
an diesem unwürdigen Oebahren!<br />
Dafür aber sagen wir:<br />
P r o l e t a r i e r ! S t i m m t für k e i n e n<br />
d e r Ä m t e r j ä g e r u n d - S t r e b e r , d i e<br />
s ä m t l i c h e P a r t e i e n a u f g e s t e l l t hab<br />
e n ! E s g i b t k e i n e p a r l a m e n t a r i s c h e<br />
F r a k t i o n , d i e e u r e w a h r e n I n t e r e s -<br />
s e n v e r t r i t t . E i n e e i n z i g e S t i m m e<br />
gegen alle W a h l d e m a g o g e n w i e g t<br />
T a u s e n d e d e r e r auf, d i e s i c h a u s<br />
d e m S t i m m v i e h d e s P a r t e i k l e p p e r -<br />
t u m s z u s a m m e n s e t z e n . D i e S t i m m e<br />
e i n e s s o l c h e n A n t i p a r l a m e n t a r i s -<br />
m u s w i r d g e h ö r t w e r d e n — e s<br />
ist d i e S t i m m e d e s K l a s s e n b e -<br />
w u ß t s e i n s , d e r e r w a c h t e n S e l b s t -<br />
a c h t u n g !<br />
W e m dient der industrielle<br />
Fortschritt?<br />
Wir haben gesagt*, daß sich immer<br />
mehr die Notwendigkeit fühlbar macht, die<br />
Theorien, die heute unter dem Namen des<br />
Sozialismus im Umlauf sind, einer Revision<br />
zu unterziehen. Es ist notwendig — für<br />
jene wenigstens, die nach der vollständigen<br />
Befreiung der ganzen Masse der Arbeiter<br />
streben — nachzusehen, wieviel vom eigentlichen<br />
Sozialismus noch in den heutzutage<br />
verkündeten Kompromißprogrammen<br />
übrig geblieben ist; <strong>und</strong> sie müssen von<br />
diesen Programmen alles zurückweisen,<br />
was sich in dieselben eingeschlichen hat;<br />
alles, was dazu beiträgt, die Ausbeutung<br />
des Menschen durch den Menschen aufrecht<br />
zu erhalten, alles, was die empörendsten<br />
Züge der Ausbeutung ein wenig<br />
mildert, aber z u r g l e i c h e n Z e i t d e n<br />
B o u r g e o i s s t a a t mit einer Macht ausstattet,<br />
von der er vor fünfzig Jahren nicht<br />
einmal zu träumen wagte.<br />
Diese Notwendigkeit wird umso dringender,<br />
als die Umstände des Kampfes,<br />
welchen das Proletariat <strong>und</strong> die besitzenden<br />
Klassen führen, sich verändern, aber<br />
nicht immer zu Gunsten des Proletariats.<br />
Im Gegenteil. Und daraus folgt, daß die<br />
Kräfte, die gegen die Befreiung des Proletariats<br />
arbeiten, sich anhäufen werden,<br />
wenn man sie nicht rechtzeitig bekämpft.<br />
Die Wahrheit ist die: Während die intellektuellen<br />
<strong>und</strong> moralischen Umstände<br />
des Kampfes für die Proletarier günstiger<br />
werden, verändern sich die materiellen Umstände,<br />
die wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen<br />
Verhältnisse in gewissen Beziehungen derart,<br />
daß sie den Kampf des Proletariats erschweren<br />
trotz all dem, was man in<br />
sogenannt sozialistischen Kreisen lehrt. Und<br />
darum wird der Erfolg des Kampfes immer<br />
mehr von der I n t e l l i g e n z , der m o r a l i -<br />
s c h e n K r a f t <strong>und</strong> der K r a f t d e s Ang<br />
r i f f e s v o n s e i t e n d e r A r b e i t e r abhängen.<br />
Wenn man den Arbeitern einredet,<br />
daß die ganze fortschreitende Entwicklung<br />
der auf Ausbeutung gegründeten Gesellschaftsordnung<br />
diese Ausbeutung abschaffen<br />
<strong>und</strong> unmöglich machen wird, so täuscht<br />
man die Arbeiter, sowie sich selbst. Die<br />
griechischen Dialektiker konnten solche<br />
Behauptungen aufstellen <strong>und</strong> damit rednerische<br />
Effekte erzielen: Aber in den wirtschaftlichen<br />
Kämpfen unserer Tage hat das<br />
keinen Sinn. Die wirtschaftliche Entwicklung<br />
der Gesellschaftsordnung, die auf der<br />
* Siehe den Artikel „Eine notwendige Revision"<br />
in Nr. 16 des „W. f. A."<br />
Ausbeutung der Armen durch die Reichen<br />
aufgebaut ist, arbeitet gerade so g e g e n<br />
die Ausgebeuteten wie für sie — gerade<br />
so f ü r den Kapitalisten wie g e g e n ihn.<br />
Es ist die intellektuelle <strong>und</strong> moralische<br />
Kraft der Ausgebeuteten, ihre Kraft im<br />
Zusammenhalten <strong>und</strong> im Angriff, die den<br />
Sieg in dem Kampf, der sich heute zwischen<br />
Kapitalisten <strong>und</strong> Ausgebeuteten abspielt,<br />
entscheiden werden.<br />
Man kann unmöglich bezweifeln, daß<br />
die intellektuelle <strong>und</strong> moralische Kraft der<br />
Ausgebeuteten von Jahr zu Jahr zunimmt.<br />
Der Arbeiter liest heute unvergleichlich<br />
mehr, als er beim Herannahen der Revolution<br />
von 1848 gelesen hat. Er weiß viel<br />
mehr, er bespricht viel mehr die Fragen,<br />
die seine Befreiung betreffen. Die Entwicklung<br />
der Kampfesorganisationen der<br />
Arbeiterschaft - der »Gruppen des Widerstandes«,<br />
wie man sie in der alten »Internationale«<br />
nannte, der Gewerkschaften, wie<br />
man sie heute bezeichnet —, welche man<br />
in allen Ländern bemerkt, <strong>und</strong> die zielbewußte<br />
Tätigkeit dieser Gruppen im<br />
Kampfe, den sie führen, beweisen es. Sogar<br />
in Rußland haben sich, trotz den Verfolgungen<br />
der jetzigen Zeit, in weniger als<br />
einem Jahre mehr als 400.000 Arbeiter in<br />
Gewerkschaften organisiert. Und diese Bewegung<br />
nimmt überall — wie man dies<br />
in der Internationale vor dem Krieg von<br />
1871 sah — denselben Charakter des d ir<br />
e k t e n K a m p f e s d e r A r b e i t e r<br />
g e g e n d i e K a p i t a l i s t e n an.<br />
Anderenteils hat der Arbeiter auch unbedingt<br />
das Vertrauen zu den guten Absichten<br />
der Bourgeoisie verloren, sowie<br />
auch den naiven Glauben, den er vor 1848<br />
in der Kraft des Christentums hatte, von<br />
dem er die Bekehrung der Bourgeoisie zu<br />
besseren Absichten erwartete. Dieser naive<br />
Glaube, den man vor 1848 bei allen französischen<br />
Sozialisten <strong>und</strong> den mystischen<br />
Kommunisten von Deutschland vorfindet,<br />
ist heute verschw<strong>und</strong>en. Und wenn während<br />
der düsteren Zeit, die auf die Niederlage<br />
Frankreichs <strong>und</strong> der Pariser Kommune<br />
folgte, sich eine neue Illusion verbreitete<br />
— j e n e d e s a l l g e m e i n e n W a h l -<br />
r e c h t e s a l s e i n M i t t e l z u r B e -<br />
f r e i u n g d e r A r b e i t e r — , s o ist<br />
dieser Wahnglaube auch im Verschwinden<br />
begriffen. Der Glaube an das allgemeine<br />
Wahlrecht fängt sogar in Deutschland,<br />
Österreich <strong>und</strong> der deutschen Schweiz an,<br />
aufzuhören,<br />
In der tatsächlichen Entwicklung der<br />
heutigen Zivilisation trägt also alles dazu<br />
bei, die Intelligenz der Ausgebeuteten <strong>und</strong><br />
das Gefühl ihrer eigenen Menschenwürde<br />
zu erwecken; alles hilft, um unter ihnen<br />
das Wissen <strong>und</strong> das Bewußtsein der sozialen<br />
Ungerechtigkeiten zu verbreiten;<br />
alles wirkt zusammen, um die Illusionen<br />
über eine Hilfe von außen zu zerstören,<br />
von welcher Hilfe die Ausgebeuteten so<br />
gern träumen, um sich im Kampfe zu<br />
stärken. Die Arbeitermorde des gegenwärtigen<br />
radikal-sozialistischen Ministeriums<br />
Clemenceau-Briand-Viviani in Frankreich<br />
werden viel dazu beitragen, diese Illusionen<br />
zu zerstören.<br />
So entwickelt sich in geistiger Beziehung<br />
alles zum Vorteil der Ausgebeuteten.<br />
Aber, im Gegensatz zu dem, was man<br />
heute noch in sozialdemokratischen Kreisen<br />
lehrt, steht die Sache in wirtschaftlicher<br />
Beziehung ganz anders. Hier gibt es verschiedene<br />
Kräfte, von denen einige allerdings<br />
darauf hinarbeiten, die Befreiung der<br />
Ausgebeuteten zu erleichtern, andere hingegen<br />
energisch d a g e g e n wirken. Das<br />
Endergebnis dieser Kräfte hängt vollkommen<br />
von den Ausgebeuteten selbst ab.<br />
Was uns am meisten auffällt, wenn<br />
wir die moderne Entwicklung der zivilisierten<br />
Gesellschaften betrachten, ist das<br />
fabelhafte Anwachsen der Produktionsfähigkeit<br />
des Menschen. Wir können was<br />
immer für einen Zweig der Industrie oder<br />
auch der Landwirtschaft <strong>und</strong> des Gartenbaues<br />
nehmen, <strong>und</strong> wir sehen, daß der<br />
Mensch heute an Stoffen, Schuhen, Gebäuden,<br />
Lebensmitteln usw. mit neun bis<br />
zehn St<strong>und</strong>en täglicher Arbeit das Zehnoder<br />
Zwanzigfache von dem produziert,<br />
was er vor dreißig Jahren mit zwölf- bis<br />
vierzehnstündiger Arbeit produzieren konnte,<br />
Und wir sehen auch, daß, wenn dieses<br />
Wachstum nicht allgemein ist, wenn sich<br />
diese riesige Produktivität der Arbeit noch<br />
nicht auf die zurückgebliebenen Zweige<br />
der Industrie, oder auf die landwirtschaftlichen<br />
Großbetriebe ausdehnt — dies nur<br />
darum ist, weil die Ausbeuter, aus irgend<br />
einem Gr<strong>und</strong>e, nicht w o l l e n oder kein<br />
Interesse daran haben, die weniger produktive<br />
Arbeit durch solche Arbeit zu ersetzen,<br />
die viel mehr produziert. Die Billigkeit<br />
der Kinderarbeit, das riesige Angebot<br />
an Arbeitskraft der Unbeschäftigten in den<br />
Berufszweigen, wo keine oder beinahe keine<br />
Lehrlingszeit notwendig ist; <strong>und</strong> endlich<br />
der Wunsch, große Strecken Landes zu<br />
besitzen <strong>und</strong> die Ehren <strong>und</strong> Vorrechte, die<br />
mit diesem Besitztum verknüpft sind, zu<br />
bewahren — all das trägt dazu bei, daß<br />
die Arbeit, die nicht genügend produziert,<br />
beibehalten wird. Aber wir können feststellen,<br />
daß, wenn die Gemeinschaft es<br />
wollte, sie die Produktivität der Arbeit in<br />
a l l e n Zweigen der Industrie <strong>und</strong> Landwirtschaft<br />
mehr als verzehnfachen könnte.<br />
Dieses riesige Anwachsen der produktiven<br />
Kräfte des Menschen ist ein riesiger<br />
Fortschritt, der heute die Ausbeutung des<br />
Menschen durch den Menschen unnötig<br />
macht. Wenn es möglich ist, daß die Menschen<br />
sich alles, was zu ihrem Leben notwendig<br />
ist, mit höchstens vier oder fünf<br />
St<strong>und</strong>en täglicher Arbeit beschaffen können,<br />
so genügt es für eine Gesellschaft von gebildeten<br />
<strong>und</strong> in den verschiedenen Arbeiten<br />
erfahrenen Leuten, sich untereinander zu<br />
verständigen, um sich frei von jeder Ausbeutung<br />
organisieren zu können.<br />
Dies ist unzweifelhaft ein großer ökonomischer<br />
Fortschritt, den wir der wissenschaftlichen<br />
Richtung verdanken, die die<br />
intellektuelle Entwicklung der Gesellschaft<br />
neuerdings genommen hat; ein Fortschritt,<br />
d e r d e n K o m m u n i s m u s a u s d e m<br />
B e r e i c h e d e r T r ä u m e e n t r ü c k t<br />
u n d i h n z u r M ö g l i c h k e i t — j a zur<br />
N o t w e n d i g k e i t m a c h t .<br />
Aber wie jede andere Tatsache der<br />
menschlichen Entwicklung hat auch diese<br />
ihre entgegengesetzte Seite. Dieses selbe<br />
märchenhafte Anwachsen der Produktivität<br />
der Arbeit, das den Kommunismus unter<br />
der Bedingung möglich macht, d a ß die<br />
M e n s c h e n d i e s e s A n w a c h s e n zum<br />
N u t z e n v o n A l l e n v e r w e n d e n woll<br />
e n — dieses selbe Anwachsen wird zum<br />
Werkzeug der Ausbeutung, eine Waffe in<br />
Händen der Ausbeuter, wenn die Gesellschaft,<br />
dank dieser Einrichtungen, erlaubt,<br />
daß der Ausbeuter a l l e i n davon Nutzen<br />
zieht.<br />
So wird in der heutigen Gesellschaftsordnung,<br />
die auf dem Individualismus der<br />
Kapitalisten <strong>und</strong> der Bourgeoisie <strong>und</strong> der<br />
Ausbeutung der Arbeiter aufgebaut ist, das<br />
Anwachsen der Ertragsfähigkeit der Arbeit<br />
ein neues Mittel, um die Ausbeutung aufrecht<br />
zu erhalten.<br />
Die Produktivkraft des Arbeiters hat<br />
sich seit fünfzig Jahren verzehnfacht; in<br />
manchen wichtigen Arbeitszweigen hat sie<br />
sich verh<strong>und</strong>ertfacht. Ein Mann erzeugt,<br />
mit guten Maschinen versehen, auf ungefähr<br />
50 Hektar nur mittelmäßigen Bodens<br />
in der Umgebung von Chicago während<br />
sechs Monaten soviel Weizen — in Form<br />
von Mehl — wie für die jährliche Nahrung<br />
von 100 Menschen genügt. Ein Arbeiter in<br />
einer Schuhfabrik stellt in einem Jahre<br />
Schuhe für tausend Personen her; <strong>und</strong> so<br />
weiter.
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Auf Agitation.<br />
(Fortsetzung.)<br />
Sehr gerne hätte ich in S a l z b u r g <strong>und</strong> I n n s -<br />
b r u c k eine Versammlung abgehalten, aber leider<br />
fanden sich die Kameraden noch nicht dazu bereit.<br />
Mit dem festen Vorsatz, es das nächste Mal unter<br />
allen Umständen zu versuchen, mußte dieser Plan<br />
für dieses Mal fallen gelassen werden. Ebenso erging<br />
es auch mit P i l s e n , wo erst jetzt die Vorbereitungen<br />
für eine demnächst einzuberufende<br />
Versammlung getroffen werden können.<br />
So wandte ich mich Nordböhmen zu, vorher<br />
jedoch in Prag absteigend. Nach längerem Suchen<br />
fand ich die Redaktion der anarchistischen Revue<br />
„Prace". Hier fand ich Kameraden, mit denen ich<br />
ernsthaft über Bewegungsangelegenheiten sprechen<br />
konnte.<br />
Der Eindruck, den ich nach dem mehrstündigen<br />
Aufenthalt in diesem kleinen Qruppenkreis mit fortnahm,<br />
war der, es mit außergewöhnlich opfertniitigen<br />
Kameraden zu tun gehabt zu haben; mit solchen,<br />
die während des T a g e s arbeiten <strong>und</strong> von ihrem<br />
Verdienst die anarchistische Literatur technischpublizistisch<br />
bereichern. Dabei bereiteten sie mir<br />
einen solch herzlichen, solidarischen Empfang, daß<br />
ich mich bald wie im eigenen Heim fühlte. Ich fand<br />
in Kacha, in der Genossin Müller, in Blaha Kameraden,<br />
wie man sie edelmütiger kaum finden kann,<br />
<strong>und</strong> ich freue mich, dies konstatieren zu können.<br />
Ich fühle es, wäre ich der tschechischen Sprache<br />
mächtig <strong>und</strong> in der tschechischen Bewegung tätig,<br />
es ist d i e s e Gruppe, der ich mich anschließen<br />
wurde. Der Genosse B. führte mich auch zum Genossen<br />
Vrbensky, der als junger Mediziner seine<br />
ganze Persönlichkeit in den Dienst unserer Idee stellt.<br />
Einige T a g e vorher hatte in Prag der Kongreß<br />
der diversen Kohlengräberföderationen Nordböhmens<br />
stattgef<strong>und</strong>en; die Genossen der Gruppe „Prace"<br />
hatten hier alles Notwendige arrangiert für eine<br />
kleine Agitationstour durch die Kohlenreviere des<br />
böhmischen Bergbaues. So fuhr ich denn geradewegs<br />
nach B r u c h , gewissermaßen das Hauptzentrum<br />
unserer Bewegung unter den Kohlengräbern. W a s<br />
sich unter dem deutsch-österreichischen Proletariat<br />
Betrübendes vorfindet, das findet sich hier reichlich<br />
aufgewogen durch das erhebend Erfreuliche unserer<br />
nordböhmischen Kohlengräberföderation- <strong>und</strong> B e -<br />
wegung, an der sich auch viele Deutschböhmen<br />
beteiligen. Ganz abgesehen davon, daß die Auflösung<br />
der tschechischen Föderation diese tausende <strong>und</strong><br />
abertausende Arbeiter nicht im mindesten berührte,<br />
weil sie s i c h d a r u m e i n f a c h n i c h t b e k ü m -<br />
m e r t e n , habe ich hier Männer der Arbeit, schlichte<br />
Pioniere unseres Ideals kennen gelernt, vor deren<br />
Arbeitstüchtigkeit, Solidaritätsgeist <strong>und</strong> Aufopferungsfähigkeit<br />
ich die größte Hochachtung bekenne. Man<br />
kann sich schon einen Begriff von der selbständigen<br />
Gesinnung dieser Bergarbeiter machen, wenn man<br />
erfährt, daß sie sich um diverse innere Streitereien<br />
überhaupt nicht bekümmerten, ruhig ihre Arbeit der<br />
Organisation <strong>und</strong> des langsamen, aber gründlichen<br />
Eindringens in den Massenkörper des Unverstandes<br />
fortsetzten <strong>und</strong>, als ihnen die Sache zu dumm wurde,<br />
durch ihre Passivität einem unheilvollen Zwist die<br />
Existenzmittel entzogen; dies geschah, ohne viel<br />
Aufheben zu machen.<br />
In Nordböhmen gibt es etwa 3500 anarchistisch<br />
organisierte Kohlengräber <strong>und</strong> 3000 sozialdemokratische<br />
<strong>und</strong> etwa 20.000 unorganisierte Indifferente.<br />
Leider handelt sich der Kampf der Sozialdemokratie<br />
gegen unsere Kameraden nicht darum, diese Indifferenten<br />
zu gewinnen. Ihr Hauptaugenmerk zielt<br />
darauf ab, a l l e Aktionen der anarchistischen Bewegung<br />
zunichte zu machen, solches zu versuchen.<br />
Dabei ist es eine Tatsache, daß es auch die S o -<br />
zialdemokraten sind, die durch die auf Gr<strong>und</strong>lage<br />
der direkten Aktion unserer Kameraden erfochtenen<br />
Siege <strong>und</strong> ökonomischen Erfolge die M i t g e -<br />
n i e ß e n d e n sind. Dies hindert sie nicht daran,<br />
unseren Bergarbeitern überall, wo es nur angeht,<br />
in den Rücken zu fallen. Aus der Position unserer<br />
Arbeiter <strong>und</strong> der Sozialdemokraten im Bergwerk<br />
selbst, läßt sich ermessen, w e r von den Kapitalisten<br />
<strong>und</strong> ihren Werkzeugen als der wahre Rebell betrachtet<br />
wird: die Sozialdemokraten sind die sogenannten<br />
„Pferde", die Arbeiter, die geduldig <strong>und</strong><br />
zufrieden mit ihrem Los sind, deren Führer stets<br />
„bremsen", in allem den gehaßten Anarchisten, die<br />
eben die Kunst der Genügsamkeit noch nicht gelernt<br />
haben, vorgezogen. Immerhin ist es den anarchistisch<br />
Organisierten gelungen, den A c h t s t u n -<br />
d e n t a g durchzusetzen, einen Minimallohn von<br />
täglich 4 Kronen zu erringen, der das Gute an sich<br />
hat, daß er im besten Sinne nicht eingehalten wird,<br />
indem die Leute per T a g r<strong>und</strong> 6 bis 7 Kronen<br />
verdienen. Worum es sich jetzt vornehmlich handeln<br />
müßte, das wäre die A b s c h a f f u n g d e r N a c h t -<br />
s c h i c h t , dieser die Menschen physisch rasch<br />
niederwürgenden Arbeitsmethode, die keinen T a g<br />
<strong>und</strong> keine Nacht kennt, sondern abwechslungsweise<br />
blos ewiges Profiterzeugen in der Hölle des Bergwerks,<br />
seines Schachtes.<br />
Überhaupt — diese Arbeit! Selbst der höchste<br />
Lohn ist hier eine kapitalistische Niederträchtigkeit,<br />
das wird sich jeder Mensch mit Verstand <strong>und</strong> Herz<br />
sagen müssen. Ich kenne die Kohlengräber Amerikas<br />
<strong>und</strong> Englands, resp. Schottlands — aber erst diesmal<br />
hatte ich Gelegenheit, die Kohlengräber meines<br />
engeren „Vaterlandes" kennen zu lernen. In meinen<br />
frühen Jünglingsjahren bin ich aus meiner Geburtsstadt<br />
Wien nie herausgekommen <strong>und</strong> nun, als Mann,<br />
konnte ich mir das Elend mit den geschärften E r -<br />
fahrungsblicken eines wissenden „Globetrotters"<br />
betrachten. Und es sei vorweg konstatiert: Solches<br />
Elend, eine solche, in der Arbeit selbst begründete<br />
Elendslage des Proletariats, wie hier bei uns, d a s<br />
h a b e ich n i r g e n d s gef<strong>und</strong>en. Da mögen mir die<br />
Sozialdemokraten h<strong>und</strong>ert Mal entgegenhalten, es<br />
sei „besser geworden". Ich wünsche ihren Führern<br />
nichts anderes, als daß sie dieses besser Gewordene<br />
am eigenen Leibe ausprobieren mögen! Wenn<br />
wir aber nun wissen, daß Zolas „Germinal" durch<br />
den zähen Klassenkampf der französischen Bergarbeiter<br />
tatsächlich überw<strong>und</strong>en ist in manchen,<br />
den schwärzesten Partien seiner Schilderung des<br />
Kohlengräberelends; wenn wir wissen, daß der<br />
englische Kohlengräber sich durch den reinen ökonomischen<br />
Kampf eine eigentlich nur fünftägige<br />
Arbeitswoche mit anständiger Behausung <strong>und</strong> angrenzendem<br />
kleinen Obst- <strong>und</strong> Gemüsegärtchen sich<br />
erobert hat — dann erst schrecken wir ganz entsetzt<br />
zurück angesichts dieser grauenhaften Notlage<br />
eines Arbeiterstandes, dessen Leben während der<br />
Arbeit jeden Tag, ja stündlich auf dem Spiele steht.<br />
Wie wäre es da erst, wenn es keine fortwährend<br />
anspornende <strong>und</strong> aufrüttelnde anarchistische Gewerkschaftsbewegung<br />
g ä b e ? Denn es ist eine<br />
merkwürdige Tatsache, daß i n d e n j e n i g e n<br />
Kohlenrevieren, wo die Bewegung n i c h t anarchistisch,<br />
sondern parlamentarisch inspiriert ist, die<br />
Lage noch eine weit schlechtere ist. Haben z. B.<br />
die Brucher Kohlengräber einen hoch über das Minimum<br />
hinausschießenden Lohn, so kommen die<br />
Bergleute des Falkenauer Bezirkes in Westböhmen<br />
nur sehr schwer dazu, ihren Lohn um r<strong>und</strong> 1 Krone<br />
über das Minimum hinaus i zu steigern. So sehr<br />
wirkt dieser parlamentarische Kretinismus auf die<br />
Arbeiter ein, der als Gr<strong>und</strong>lage ihrer Bewegung<br />
in ihren Kreisen gehegt <strong>und</strong> gepflegt wird.<br />
Fortsetzung folgt. Pierre Ramus.<br />
Österreich.<br />
* Am 22. September wurde unser Redakteur,<br />
Genosse Poddany, vom Oberlandesgerichtsrat<br />
H e i d t wegen angeblicher Außerachtlassung der<br />
pflichtgemäßen Obsorge in der Aufnahme von Artikeln<br />
in unserer Nummer 10 zur geradezu als<br />
Klassenjustiz prunkenden Arreststrafe von 20 Tagen<br />
oder 200 Kronen verurteilt; eine halbe St<strong>und</strong>e vorher<br />
verurteilte derselbe Richter einen kleinen Ges<br />
c h ä f t s m a n n wegen ganz des gleichen Deliktes<br />
zu der Strafe von 10 Kronen. Und das nennt<br />
sich Gerechtigkeitswalten! Dabei muß konstatiert<br />
werden, daß sämtliche der Artikel, um die es sich<br />
handelte, mit Ausnahme eines von einem Mitarbeiter<br />
unterzeichneten Aufsatzes, k e i n e r subjektiven<br />
Verfolgung unterlagen. Es handelte sich<br />
also um einen großen Kreuzzug wider die Finanzmittel<br />
unseres, von armen Arbeiter herausgegebenen,<br />
Blattes. Freilich sind wir noch nicht so weit, wie<br />
die Herren es für ihr Leben gerne möchten; es<br />
wurde gegen die Ungeheuerlichkeit dieses ganzen<br />
Urteils Berufung eingelegt.<br />
* Ein außerordentlich gut besuchter Festabend<br />
war jener, der am 20. September in Seniors großem<br />
Saal stattfand <strong>und</strong> der Bedeutung des greisen<br />
Denkers Leo Tolstoi gewidmet war; der Genosse<br />
Ramus sprach in 1½ stündigen Ausführungen über<br />
das Leben dieser gigantischen Persönlichkeit, ihre<br />
Stellung im modernen Sozialringen Rußlands <strong>und</strong><br />
über den internationalen Geisteseinfluß, den Tolstoi<br />
auf die .soziale Bewegung ausübt. Eine freiwillig<br />
unternommene Sammlung stärkte in erquickendem<br />
Maße unseren Preßfond.<br />
* Dienstag hielt Kamerad Haidt einen gründlichen<br />
<strong>und</strong> beifällig aufgenommenen Vortrag über<br />
den „Nürnberger Parteitag" der deutschen Sozialdemokratie,<br />
indem er deren Taktik nach Gebühr<br />
zerpflückte.<br />
* Am Sonntag fand im XII. Bezirk eine Vereinsversammlung<br />
statt, in der Ramus über „Die<br />
Aufgaben unserer Gewerkschafts-Föderation" sprach.<br />
Einige sozialdemokratische Führer hatten wahrend<br />
des Vortrages Miene gemacht, ihm in der Diskussion<br />
entgegenzutreten; leider verging ihnen angesichts<br />
der schwarz auf weiß gebotenen Beweise<br />
die Lust dazu.<br />
* An Stelle des Genossen Ramus sprach in<br />
der Dienstagversammlung des XIV. Bezirkes unser<br />
Kamerad Altmann über „Syndikalismus <strong>und</strong> deutsche<br />
Arbeiterbewegung". Seine Ausführungen bek<strong>und</strong>eten<br />
eine durch Selbstbeobachtung geschöpfte Kenntnis<br />
der verrotteten, reichsdeutschen Arbeiter- <strong>und</strong> sozialdemokratischen<br />
Parteibewegung; er enthüllte uns<br />
ein wertvolles Gemälde von der inneren Haltlosigkeit<br />
<strong>und</strong> Schwäche dieser — a u f d e m P a p i e r<br />
so starken Bewegung. Beifall lohnte seine trefflichen<br />
Ausführungen.<br />
* Samstag, um 8 Uhr abends, hält Genosse<br />
Ramus ein Referat über „Moderne Evolutionsphasen<br />
in der sozialen Bewegung". Lokal: Café<br />
„Stephanie" im II. Bezirk.<br />
Deutschland.<br />
Wir können* uns möglichst kurz über den<br />
Nürnberger Parteitag der deutschen Sozialdemokratie<br />
fassen. Aufrichtig gesagt, für uns sind seine<br />
charakteristischen Merkmale in der völligen A bl<br />
e h n u n g der Dortm<strong>und</strong>er Resolution wegen<br />
Führung einer speziellen Form der antimilitaristischen<br />
Propaganda <strong>und</strong> A n n a h m e des Antrages<br />
auf Erhöhung der Gehälter des Parteivorstandes<br />
gelegen. Sonst war dieser Parteitag völlig im Einklang<br />
mit der steten Entwicklung der Reaktion<br />
innerhalb der Partei <strong>und</strong> dieser selbst. Nur daß<br />
diesmal wieder ein altes Schmierenstück von Komödie<br />
aufgeführt wurde, das einzig für die Dummen<br />
berechnet: die Frage der Budgetverweigerung.<br />
Kein W<strong>und</strong>er, daß Bebel sehr milde mit den „Südländern"<br />
verfuhr; stellte es sich doch heraus, daß<br />
nicht nur Baden, Bayern <strong>und</strong> Württemberg, sondern<br />
auch Gotha, Sachsen (also auch Bebel!) f ü r das<br />
Budget gestimmt <strong>und</strong> daß, zwei einzige Fälle ausgenommen,<br />
die Stadtverordneten von Berlin, n i e -<br />
m a l s die namentliche Abstimmung über das Budget<br />
verlangt harten, um nicht öffentlich dagegen<br />
stimmen zu müssen! Das ist eine höchst originelle<br />
Kraftprobe des Protestes — <strong>und</strong> Timm hatte recht,<br />
wenn er sagte, daß die Süddeutschen das nächste<br />
Mal a u c h so vorsichtig verfahren würden. Schließlich<br />
drehte sich der Streit ja nur um die allzu gewagte<br />
Selbstentlarvung, die von den Süddeutschen,<br />
den Ministergästen, vorgenommen wurde, die ihnen<br />
die Norddeutschen, die allzu gerne Ministergäste<br />
werden möchten, vorwarfen. Sonst bleibt Alles<br />
beim Alten, die Lübecker Resolution ist ein Kautschukresolutiönchen<br />
unvergleichlichster Art - laut<br />
ihr brauchte eine Regierung nur mit einem<br />
„schlechteren Etat" zu d r o h e n , <strong>und</strong> sofort hätte<br />
sie die Bewilligung des Budgets durch die Sozialdemokraten!<br />
—, wozu noch die Selbständigkeitserklärung<br />
der Süddeutschen kommt, die ohnedies<br />
das Geschick der Lübeckerin besiegelt.<br />
Die Maifeierfrage ist wieder einmal glücklich<br />
abgewürgt worden, die Jugendorganisationen sind<br />
Geselligkeitsvereine geworden, die Reichsfinanzreform,<br />
die den Bankerott des deutschen Staates<br />
aufhalten soll, ist ebenfalls eine Angelegenheit der<br />
Sozialdemokratie — <strong>und</strong> damit wären wir fertig.<br />
Aber nein! So gütig <strong>und</strong> milde, wie die Norddeutschen<br />
mit den Südlern verfuhren, so ingrimmig<br />
warfen sie sich in ihre Rüstungen gegen diejenigen,<br />
die l i n k s von ihnen stehen, also revolutionärer<br />
denn sie sind. Für die revolutionärgewerkschaftliche<br />
Bewegung Deutschlands, da gab es „kein<br />
Erbarmen", gegen die wurde wirklich radikal verfahren<br />
— sie wurde außerhalb des Parteirahmens<br />
gestellt.<br />
Glücklicherweise nehmen sich echte Sozialisten<br />
so etwas schon längst nicht mehr zu Herzen;<br />
es ist eine Ehre für sie. Dies zeigte auch die, in<br />
einer von Tausenden besuchten Versammlung der<br />
revolutionären Berliner Gewerkschaftsbewegung,<br />
der „Freien Vereinigung" angenommene Resolution,<br />
die v o r dem Nürnberger Parteitag stattfand <strong>und</strong><br />
selbständig das Tischtuch zwischen sich <strong>und</strong> Partei<br />
auseinanderschnitt. Die Resolution lautet im Auszug:<br />
„. . . Die Vorgänge, die sich in den letzten<br />
Jahren innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung<br />
abgespielt haben, zeigen immer deutlicher, daß die<br />
sozialdemokratische Partei- <strong>und</strong> Gewerkschaftsbewegung<br />
Deutschlands zusehends flacher, schwächlicher<br />
<strong>und</strong> kleinbürgerlicher wird.<br />
Das gewaltige Anwachsen der Mitgliederzahlen<br />
<strong>und</strong> der Kassenbestände hat die Stoßkraft<br />
der Partei <strong>und</strong> deren Gewerkschaften nicht etwa<br />
erhöht, sondern letztere immer mehr von ihren<br />
ursprünglichen Gr<strong>und</strong>sätzen <strong>und</strong> Prinzipien — um<br />
Augenblickserfolge willen — abgehen lassen.<br />
Auf gewerkschaftlichem Gebiete: das Abkommen<br />
zwischen Parteivorstand <strong>und</strong> Generalkommission<br />
der Zentralverbände zur Abwürgung<br />
der Maifeier, das passive Verhalten von Partei <strong>und</strong><br />
deren Gewerkschaften bei Streiks <strong>und</strong> Aussperrungen,<br />
ja, das direkte Hineintreiben der Streikenden<br />
in die bestreikten Betriebe durch Verweigerung der<br />
Unterstützungen (Weberstreik in Crefeld, Nieterstreik<br />
in Stettin usw).<br />
Auf politischem Gebiete: die Gratulationen<br />
sozialdemokratischer Abgeordneter zur Geburt des<br />
hessischen Thronfolgers, die Teilnahme von Arbeitervertretern<br />
beim Leichenbegängnis des Großherzogs<br />
von Baden, — die patriotischen Vaterlandsverteidigungsreden<br />
von Sozialdemokraten im Reichstage<br />
in den Militäretatsdebatten -- die Bewilligung<br />
der Budgets in den süddeutschen Landtagen — !<br />
Alles das läßt deutlich erkennen, daß die<br />
Klassenkampfidee <strong>und</strong> ihre revolutionären <strong>Ziel</strong>e<br />
heute innerhalb der Sozialdemokratie verleugnet<br />
<strong>und</strong> systematisch ertötet werden; statt dessen be -<br />
schreiten Partei <strong>und</strong> Gewerkschaften immer mehr<br />
die Bahn des Reformismus, des Paktierens mit dem<br />
Unternehmertum durch Abschluß von Tarifverträgen<br />
<strong>und</strong> somit des Ausgleichs <strong>und</strong> der Harmonie zwischen<br />
Kapital <strong>und</strong> Arbeit!<br />
Der Absatz des Erfurter Parteiprogramms<br />
(der von der Eroberung der „politischen Macht"<br />
spricht) kann von freiheitlich <strong>und</strong> sozialistisch denkenden<br />
<strong>und</strong> empfindenden Proletariern nicht mehr<br />
anerkannt werden, weil die sozialdemokratische<br />
Partei durch ihre bisherige parlamentarische Betätigung<br />
den bestimmten Schluß zuläßt, daß der von<br />
ihr erstrebte Besitz der politischen Macht die bestehende<br />
Herrschaft n i c h t aufhebt, sondern in
sich die Ideen des Staatssozialismus <strong>und</strong> die damit<br />
verb<strong>und</strong>ene Zentralgewalt verkörpert, ohne die<br />
ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse herbeizuführen.<br />
Letzteres bildet jedoch das wesentlichste<br />
Moment unserer Gr<strong>und</strong>sätze. Nur der wirtschaftliche<br />
<strong>und</strong> politische Kampf a u f ö k o n o -<br />
m i s c h e m G e b i e t e <strong>und</strong> die dadurch errungenen<br />
Rechte vermögen das Proletariat vorwärts zu<br />
bringen, deshalb nicht Eroberung der politischen<br />
Macht, sondern ihre Beseitigung <strong>und</strong> Ersetzung<br />
durch die Organisation der produktiven Kräfte <strong>und</strong><br />
wirtschaftlichen Einrichtungen muß das <strong>Ziel</strong> der<br />
Arbeiterklasse sein!<br />
Die Schaffung <strong>und</strong> der Ausbau sozialrevolutionärer<br />
Gewerkschaften, welche alle auf dem<br />
Boden des Klassenkampfes stehenden Bewegungen<br />
zusammenfassen <strong>und</strong> ihre vornehmlichste Kraft der<br />
Propaganda <strong>und</strong> Herbeiführung des Generalstreiks<br />
widmen, ist die zur Zeit wichtigste Aufgabe des<br />
Proletariats.<br />
Die Versammelten lehnen hiermit ab, sich<br />
noch ferner parlamentarischen Hoffnungslosigkeiten<br />
hinzugeben <strong>und</strong> sich an der bürgerlichen Einrichtung<br />
des Parlamentarismus zu beteiligen!"<br />
Wir drücken den Kameraden ob solcher herzerquickender<br />
Worte freudigst die Bruderhand.<br />
Schon jetzt darf es gesagt werden: in der G e -<br />
schichte der reichsdeutschen Arbeiterbewegung<br />
wird ein jedes Wort obiger Resolution schwerer an<br />
Bedeutung wiegen, als der ganze Nürnberger K o n -<br />
greß samt Schauspielern <strong>und</strong> Statisten.<br />
F r a n k r e i c h .<br />
Die in «der Allgemeinen Arbeiterföderation<br />
(C. G. T . ) vereinigten Gewerkschaften Frankreichs<br />
halten im Oktober zu Marseille ihren X V I . nationalen<br />
Kongreß ab. Die Tagesordnung wurde durch<br />
die Abstimmung sämtlicher Organisationen festgesetzt.<br />
Von den eingereichten Vorschlägen wurden<br />
die folgenden vier zur Verhandlung ausgewählt:<br />
1. A n t i m i l i t a r i s m u s ; V e r h a l t e n d e r<br />
A r b e i t e r k l a s s e i m K r i e g s f a l l e ; 2 . W e i t e r e<br />
V e r k ü r z u n g d e r A r b e i t s s t u n d e n ; 3 .<br />
A r b e i t e r u n f ä l l e u n d s t a a t l i c h e V e r -<br />
s i c h e r u n g ; 4 . D i e A u s s p e r r u n g e n : V e r -<br />
h a l t e n u n d M i t t e l g e g e n d i e s e l b e n .<br />
Außer diesen werden natürlich die inneren<br />
Fragen der Organisation verhandelt, unter welchen<br />
die folgenden Vorschläge die bemerkenswertesten<br />
sind:<br />
Die F ö d e r a t i o n d e r H u t m a c h e r<br />
schlägt vor, daß die Mitglieder des Verwaltungsausschusses<br />
der C. G. T. nur auf vier Jahre g e -<br />
wählt werden sollen <strong>und</strong> nach Ablauf ihrer Vollmacht<br />
innerhalb der nächsten vier Jahre nicht wiedergewählt<br />
werden können. Sie begründet diesen<br />
Antrag damit, daß eine jede Arbeiterorganisation<br />
eine Organisation des Kampfes ist oder sein sollte,<br />
sowie eine Schule, in welcher alle Arbeiter lernen<br />
sollen, sich selbst zu leiten; ihr Zweck ist, die<br />
Abschaffung des Kapitalismus, der Ausbeutung des<br />
Menschen durch den Menschen. D a r u m m u ß<br />
m a n v e r h ü t e n , d a ß s i c h i n n e r h a l b d e r<br />
G e w e r k s c h a f t e n e i n e s t ä n d i g e K l a s s e<br />
v o n B e a m t e n b i l d e t , was zum Strebertum<br />
<strong>und</strong> zu inneren Kämpfen führt, die die Kraft der<br />
Organisation lähmen. Als Ergänzung dieses Antrages<br />
dient ein anderer derselben Föderation zur<br />
Errichtung von sozialistischen Konsum- <strong>und</strong> Produktivgenossenschaften<br />
durch die Gewerkschaften.<br />
In den für die Arbeiterbewegung wichtigsten<br />
Städten soll die C. G. T., im Einvernehmen mit den<br />
dortigen Organisationen, k o m m u n i s t i s c h e R e -<br />
s t a u r a n t s mit Versammlungslokalen <strong>und</strong> Bibliotheken<br />
errichten. Damit würden sich die Arbeiter<br />
vom Einfluß <strong>und</strong> der Tyrannei der Gastwirte b e -<br />
freien. Als Angestellte sollen immer jene Genossen<br />
gewählt werden, die wegen ihrer Tätigkeit für die<br />
Sache des Proletariats von den Arbeitgebern auf<br />
die „schwarze Liste" gesetzt worden sind. Dieselben<br />
dürfen nicht dem Elend preisgegeben werden,<br />
<strong>und</strong> indem ihnen auf diese W e i s e nach Jahren<br />
ermüdenden Kampfes eine Erwerbsexistenz geboten<br />
wird, wird die Gefahr der Schaffung von b ez<br />
a h I t e n G e w e r k s c h a f t s b e a m t e n p o s t e n<br />
vermieden, <strong>und</strong> die propagandistische Tätigkeit der<br />
begabten Kämpfer der Arbeiterschaft jederzeit zur<br />
Verfügung gestellt. A l l e A n g e s t e l l t e n s o l l e n ,<br />
o b s i e g e i s t i g e o d e r k ö r p e r l i c h e A r -<br />
b e i t v e r r i c h t e n , d i e g l e i c h e B e z a h l u n g<br />
e r h a l t e n .<br />
Die Föderation der französischen Metallarbeiter<br />
unterbreitet dem Kongreß eine Resolution<br />
zur Regelung der internationalen Beziehungen,<br />
welche wir wörtlich wiedergeben. Die internationale<br />
sozialdemokratische Konferenz der Gewerkschaftssekretäre<br />
in Amsterdam (1904) hatte sich geweigert,<br />
die Anträge Frankreichs über den Generalstreik,<br />
den Antimilitarismus <strong>und</strong> den Achtst<strong>und</strong>entag den<br />
Arbcitergruppierungen aller Länder zu unterbreiten.<br />
Im Gegensätze zu dem haben die Internationalen<br />
Föderationen einiger Industrien z. B. Bergarbeiter,<br />
Metallarbeiter, der Friseure, auf ihren Kongressen<br />
über den Generalstreik diskutiert. In Anbetracht<br />
dessen nahmen die Metallarbeiter folgende R e s o -<br />
lution a n :<br />
„In Anbetracht: daß d e r K o n g r e ß d e r<br />
B e r g a r b e i t e r n i c h t n u r d i e S t e l l u n g<br />
d e r A r b e i t e r k l a s s e i m K r i e g s f a l l e b e -<br />
s p r o c h e n h a t , s o n d e r n k l a r a u s g e -<br />
d r ü c k t h a t , d a ß die A r b e i t e r k l a s s e a u f d i e<br />
K r i e g s e r k l ä r u n g i n t e r n a t i o n a l m i t d e m Gen<br />
e r a l s t r e i k a n t w o r t e n m u ß ; daß somit die „Inter-<br />
nationale Föderation der Bergarbeiter", durch die<br />
Stimme ihrer Delegierten d i e g r o ß e W i c h t i g -<br />
k e i t d e r F r a g e d e s A n t i m i l i t a r i s m u s<br />
b e w i e s e n <strong>und</strong> dadurch selbst auf das bedauerliche<br />
Verhalten der Konferenz der Gewerkschaftssekretäre<br />
die gebührende Antwort gegeben hat;<br />
b e a n t r a g t d i e M e t a l l a r b e i t e r - F ö d e r a -<br />
t i o n F r a n k r e i c h s , d a ß d i e F ö d e r a t i o n e n<br />
d e r a n d e r e n I n d u s t r i e n u n d L ä n d e r<br />
d i e s e m B e i s p i e l e f o l g e n s o l l e n ! "<br />
Als Vorläufer des nationalen Kongresses halten<br />
jetzt auch die verschiedenen' Föderationen ihre<br />
Kongresse a b . Wir geben hiermit — als Illustration<br />
des Geistes dieser Gewerkschaften — wörtlich die<br />
Resolutionen von dreien dieser Kongresse wieder:<br />
I . R e s o l u t i o n d e s K o n g r e s s e s d e r<br />
H a f e n - u n d D o c k a r b e i t e r :<br />
„In Erwägung d e s s e n : daß nur durch die<br />
rührigste Propaganda in den Gewerkschaften <strong>und</strong><br />
auf den Arbeitsstätten der Antimilitarismus seine<br />
Früchte tragen kann; beschließen die auf dem<br />
Kongreß Versammelten, in ihren Organisationen die<br />
ausgedehnteste Propaganda bei den jungen Mitgliedern<br />
unserer Organisationen zu machen, damit<br />
diese, wenn sie zum Regiment kommen <strong>und</strong> ihnen<br />
befohlen wird, zur Verteidigung des Kapitals gegen<br />
das organisierte Proletariat zu marschieren, ihre<br />
Pflicht kennen <strong>und</strong> dadurch vermeiden, ihre Brüder<br />
des Kampfes <strong>und</strong> Elends aufzuopfern.<br />
In Erwägung d e s s e n : daß die Bourgeoisregierungen<br />
ohne Unterschied für die Aufrechthaltung<br />
der Armee, der einzigen Stütze der Bourgeoisklasse<br />
sind, hält der Kongreß es für wichtig,<br />
seinen antimilitaristischen Gefühlen Ausdruck zu<br />
geben:<br />
Da der Militarismus in Wirklichkeit nur die<br />
Beschützerin der verschiedenen Vorrechte der Kapitalisten<br />
ist; da es notwendig ist, daran zu erinnern,<br />
daß es die S ö h n e der Arbeiter sind, welche<br />
als Wachth<strong>und</strong>e den Kapitalisten dienen, daß es<br />
also notwendig ist, dazu Stellung zu nehmen, b e -<br />
schließt der Kongreß, daß eine antimilitaristische<br />
Propaganda notwendig i s t ; jede Organisation verpflichtet<br />
sich, dieselbe zu stärken, damit der Militarismus<br />
zu Zeiten von Streiks <strong>und</strong> im Falle eines<br />
Krieges versagt, da wir mit Recht der Überzeugung<br />
sind, daß unsere einzigen Feinde die Kapitalisten<br />
aller Länder sind."<br />
II. R e s o l u t i o n d e s K o n g r e s s e s d e r<br />
S t e i n b r u c h - u n d K a l k b r e n n e r e i a r b e i t e r .<br />
„Die Abgesandten der Gewerkschaften der<br />
Steinbruch- <strong>und</strong> Kalkbrennereiarbeiter, nachdem sie<br />
die auf der Tagesordnung befindlichen administrativen<br />
Fragen besprochen <strong>und</strong> ihre Vereinigung mit<br />
der Föderation der Bauarbeiter beschlossen haben,<br />
beschließen, daß sie in ihren Organisationen mit<br />
ganzer Seele den gewerkschaftlichen Kampf fortsetzen<br />
werden, der das Proletariat seiner Befreiung<br />
zuführt; daß sie mit der antimilitaristischen Propaganda<br />
fortfahren, da deren Notwendigßeit sich<br />
immer dringender fühlbar macht, seit dem zunehmenden<br />
Eindringen des Militärs in Streikgebiete.<br />
Sie protestieren heftig gegen die Mord- <strong>und</strong><br />
Todestaten, welche in Draveil-Vigneux <strong>und</strong> in Villeneuve<br />
St. George von einer republikanisch-sozialdemokratischgenannten<br />
Regierung vollbracht wurden.<br />
Sie senden ihre brüderlichen Grüße an die<br />
infolge dieser Morde eingekerkerten Vorkämpfer,<br />
<strong>und</strong> fassen den Entschluß, sich mit den anderen<br />
Organisationen zu verständigen, um energisch auf<br />
die gerichtlichen Verfolgungen zu antworten, denen<br />
diese Vorkämpfer zum Opfer fallen könnten."<br />
III. R e s o l u t i o n d e s K o n g r e s s e s d e r<br />
L a n d a r b e i t e r .<br />
„1. Der Kongreß ruft die Landarbeiter <strong>und</strong><br />
die Arbeiter aller anderen Produktionszweige auf,<br />
die Arbeit auf 24 oder 48 St<strong>und</strong>en in solchen<br />
ernsten Fällen einzustellen, wenn das Bestehen der<br />
gewerkschaftlichen Organisation gefährdet ist, wo<br />
die Vorkämpfer der Arbeiterschaft der Rache der<br />
Bourgeoisie <strong>und</strong> der Regierung geopfert werden<br />
oder die Forderungen der Arbeiter in Arbeiterblut<br />
ertränkt werden.<br />
2. Der Kongreß ist der Überzeugung: daß die<br />
Verteidigung des Vaterlandes (eines abstrakten B e -<br />
griffes, der gar keiner wirklichen T a t s a c h e entspricht<br />
<strong>und</strong> durchaus relativ ist) der Vorwand ist,<br />
unter welchem die Herrschenden die Völker sich<br />
gegenseitig immer hinmorden lassen; einst für die<br />
Interessen der Dynastien, heute für die wirtschaftliche<br />
Oberherrschaft einer Gruppe von Kapitalisten.<br />
Daß der Patriotismus das unsinnigste Vorurteil<br />
ist, unter dessen Deckmantel zahlreiche Verbrechen<br />
begangen werden.<br />
Daß der Krieg ein Attentat gegen die Arbeiterklasse<br />
ist, daß er ein blutiges <strong>und</strong> fürchterliches<br />
Mittel ist, die Forderung derselben aus dem <strong>Weg</strong><br />
zu räumen.<br />
Daß der Feind nicht der Mechaniker in London,<br />
der Tischler in Berlin, der landwirtschaftliche<br />
Arbeiter in Katalonien <strong>und</strong> Apulien ist, sondern der<br />
Ausbeuter, der Kapitalist unseres Landes, ebenso<br />
wie derjenige anderer Nationen.<br />
Darum rät der Kongreß den Mitgliedern der<br />
Föderation, auf jede Kriegserklärung mit dem G e -<br />
neralstreik zu antworten <strong>und</strong> fordert sie außerdem<br />
auf, die taktischen Mittel zu studieren, welche ein<br />
solcher Entschluß mit sich bringt.<br />
Der Kongreß billigt die antimilitaristische Propaganda,<br />
<strong>und</strong> fordert die Vorkämpfer auf, daran<br />
teilzunehmen, denn sie ist notwendiger denn j e . "<br />
Briefkasten.<br />
An die K a m e r a d e n j e n e r Ortschaften,<br />
d e r e n G r u p p e n in letzter N u m m e r noch nicht<br />
i n s e r i e r t w a r e n . Wir ersuchen euch um Entschuldigung,<br />
eine Aus- <strong>und</strong> Unterlassungssünde des<br />
Druckers war Schuld daran. Brudergrüße I — A. D.<br />
Auch wir haben in den letzten Tagen oft lachend<br />
daran gedacht, wie der sozialdemokratische Alleswisser<br />
dem Genossen Lickier vorgehalten, daß es<br />
„in der Türkei kein Proletariat g ä b e " — während<br />
es sich in den letzten Tagen nun wirklich praktisch<br />
regte, statt seine Kräfte für jungtürkisch-großkapitalistische<br />
Plänchen zu vergeuden.<br />
Quittung<br />
vom 24. Juli bis 20. September.<br />
Gra. Max. K 2 2 0 , Gsch. Trais. 3-67, Cerny<br />
10-50, F. Schmi. W. 1-20, Kub. W. - - 5 0 , Popen. W.<br />
1-20, Hrom. W. 1 2 0 , Rajn. 3-60, Baran 3 — , Raj. 1 - ,<br />
T a n o - c k 5 — , Kulle 6 - - , Kahan 2 - - , Wolf Gr.<br />
4 70, Noc. 4-50, Schamann 5-82, P a u . P e . 2-20, Sz.<br />
Schw. 2-60, Bre. Stü. 5-—, Gsh. Trais. 8 - , Kinzle<br />
5-75, M o s e r 2-70, T e j a 1-20, Jan. 3 8 0 , Nierens 16-20,<br />
Stei. 1—ck 1-20, Sch. Möd. 3 87, Scham. 8-34, Kön.<br />
W . - - 6 0 , Kisch. W . 1-20, Ros, War. 8 - , Dei. Hab.<br />
2-40, Wolf Gr. 4-30, Pös. Schmied. 1-20, Baran 5 — ,<br />
Nejedly 1-20, Nechvat. —-60, Reißmann 1-20, Eiching.<br />
1-20, Pachta 2-40, 2 8 0 , 3-40, 2 - , 2-—, Madia 150,<br />
Horacek 1 — , 1 - , W e j . 4-—, 3-—, Brün. - ' 6 0 ,<br />
Navrat. !•—, - - 6 0 , Hübl. - - 7 0 , 1 5 0 , Wel. 2 —, 2- -,<br />
24-—, Merten 2 4 0 , Homolek 2 4 0 , Baüml. 5 — ,<br />
W a n a 6-—, Zaja7-—, 8-—, 7 - , Schlor 3-—, Ehing. 2 - ,<br />
Fetze 5 — , P. R. 2-—. Rat. 9 — , Pucer 1---, Liker<br />
3-20, Alois 6-80, Land. 1-70, Frank. 1 - , Metall-Arb.-<br />
Verband 1-20, Kohoutek 1-90.<br />
P r e ß f o n d . Pachta K 16-04, Sammelliste Nr. 34<br />
2 50, Atzgersdorf 6-59, Pucera 1-—, Allgem. Gew.<br />
2 5 — , Pribil —-80, Tolstoiabend 8-06, ein Sozialdemokrat<br />
1-—, Sammel-Liste (Marburg) 5 T 0 , Mercher<br />
(durch Ramus) 1-—.<br />
Dem Genossen Ramus wurden auf seiner<br />
Agitationsreise folgende geschuldete Abonnementsgelder<br />
übergeben, die er ablieferte: Kren. K 5 6 0 ,<br />
Kulle 4-60, Reinacher T — , W e b e r 1 3 — . Eine völlige<br />
Abrechnung über die dem Gen. R. gegebenen Gelder<br />
folgt am Schluß seines Agitationsberichtes.<br />
Gruppen <strong>und</strong> Versammlungen.<br />
A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n . V.,<br />
Einsiedlergasse 6 0 . Jeden Montag 8 Uhr abends.<br />
Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />
Gasthaus, XIV., Märzstraße 33.<br />
F ö d e r a t i o n d e r B a u a r b e i t e r . X., Eugengasse<br />
9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />
jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />
U n a b h ä n g i g e S c h u h m a c h e r - G e w e r k s c h a f t .<br />
XlV.,Hütteldorferstraße 3 3 . Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />
M ä n n e r g e s a n g v e r e i n „ M o r g e n r ö t e " . XIV.,<br />
Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />
jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />
L e s e - <strong>und</strong> Diskutierklub „ P o k r o k " . XIV.,<br />
Hütteldorferstraße 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />
F r e i e E i n k a u f s g e n o s s e n s c h a f t . Jeden Donnerstag<br />
abends bei Schlor.<br />
G r a z . A r b e i t e r - B i l d u n g s - u n d U n -<br />
t e r s t ü t z u n g s - V e r e i n , versammelt sich jeden<br />
1. <strong>und</strong> 3. Samstag abends im Gasthaus „zur lustigen<br />
Röthelstoanerin" (v. Tiroler), Bahnhofgürtel<br />
Nr. 69.<br />
M a r b u r g . A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />
versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong> 4. Mittwoch abends<br />
im Gasthaus „Zur goldenen Birn", Franz Josefstraße<br />
2.<br />
K l a g e n f u r t . G r u p p e d e r u n a b h ä n g i -<br />
g e n S o z i a l i s t e n , versammelt sich jeden 2 . <strong>und</strong><br />
4. Samstag abends im Gasthaus „Zum Buchenwalde".<br />
W e i j e r . S o z i a l i s t i s c h e r B u n d , versammelt<br />
sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends in<br />
Bachbauers Gasthaus.<br />
B r u c h . G r u p p e B e r g a r b e i t e r k a m p f ,<br />
versammelt sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends<br />
im Gasthaus „zum blauen Stern".<br />
Neu - P y h a n k e n . B e r g a r b e i t e r v e r e i n ,<br />
versammelt sich jeden 4. Sonntag um 9 Uhr vormittags<br />
im Gasthause „Eintracht".<br />
Zieditz. D e u t s c h e B e r g a r b e i t e r v e r e i -<br />
n i g u n g , versammelt sich jeden Sonntag im Gasthaus<br />
beim Bahnhof.<br />
A u s s i g . U n a b h ä n g i g e r F a c h v e r e i n<br />
d e r S c h i f f s v e r l a d e r u n d V e r l a d e r i n n e n ,<br />
versammelt sich monatlich im Gasthaus „zum Marienberg",<br />
Töpfergasse 7.<br />
S c h ö n p r i e s e n ( b e i A u s s i g ) . G r u p p e<br />
„ F r e i h e i t " , versammelt sich jeden 2. Mittwoch<br />
in Nr. 226 (bei Giselastraße).<br />
M a l t h e u e r n ( b e i B r ü x ) . A r b e i t e r v e r -<br />
e i n „ G l e i c h h e i t " , versammelt sich jeden Sonntag<br />
beim Gastwirt j o h . Florian.<br />
K a r b i t z ( b e i A u s s i g ) . F r e i e V e r e i n i -<br />
g u n g . Sekretär J. Schmidt, Nr. 126.<br />
M a r i a s c h e i n . F r e i e V e r e i n i g u n g , versammelt<br />
sich jeden Sonntag im Gasthaus „zur<br />
Fortuna".<br />
O b e r - R o s e n t a l ( b e i R e i c h e n b e r g ) .<br />
G r u p p e „ P r o l e t a r i a t " . Sekretär B . W e b e r ,<br />
Nr. 194.
— 57 —<br />
von der Methode, behaupten alle Parteien, daß sie<br />
das Glück der Menschheit anstreben — <strong>und</strong> viele<br />
wollen dies sogar aufrichtig; aber jede meint, dies auf<br />
einem anderen <strong>Weg</strong>e zu erreichen <strong>und</strong> organisiert<br />
ihre Bestrebungen in einer bestimmten Richtung. Also<br />
müssen wir den Anarchismus — die Herrschaftslosigkeit<br />
— auch vor allem als eine Methode betrachten.<br />
Man kann alle nichtanarchistischen Parteien, je<br />
nachdem sie das Glück der Menschheit auf diesem<br />
oder jenem <strong>Weg</strong>e zu erreichen trachten oder angeblich<br />
erreichen wollen, in z w e i Hauptrichtungen einteilen:<br />
die « a u t o r i t ä r e » oder staatssozialistische <strong>und</strong> die<br />
sogenannte « l i b e r a l e » . Die erstere überträgt die<br />
Regelung des Gesellschaftslebens einigen Menschen<br />
<strong>und</strong> führt so zur Ausbeutung <strong>und</strong> Unterdrückung der<br />
Masse durch diese Wenigen. Die zweite stützt sich<br />
auf die freie Initiative der einzelnen Menschen <strong>und</strong><br />
verkündet, wenn auch noch nicht die Abschaffung,<br />
so doch die Beschränkung der Regierung auf das<br />
möglichst geringste Maß. Da sie aber das Privateigentum<br />
aufrecht erhalten will <strong>und</strong> gänzlich auf dem<br />
Gr<strong>und</strong>satz: «Jeder für sich», <strong>und</strong> in Folge dessen auf<br />
den Konkurrenzkampf unter den Menschen aufgebaut<br />
ist, so ist ihre «Freiheit» n u r die Freiheit der Starken,<br />
der Besitzenden, um die Schwachen, jene, die nichts<br />
besitzen, auszubeuten <strong>und</strong> zu unterdrücken. Nicht nur,<br />
daß sie nicht die Harmonie zwischen den Menschen<br />
begründet, sondern sie macht den Abstand zwischen<br />
Reichen <strong>und</strong> Armen immer größer, s i e f ü h r t a u c h<br />
z u r A u s b e u t u n g u n d z u r H e r r s c h a f t , also zur<br />
Autorität.<br />
« A N A R C H I E » Von E n r i k o M a l a t e s t a . 8
— 58 —<br />
In der T h e o r i e ist dieser s o g e n a n n t e Liberalismus<br />
eine Art Anarchie o h n e Sozialismus; u n d<br />
d e s h a l b ist er e i n e L ü g e . Denn die Freiheit ist<br />
ohne Gleichheit unmöglich, die wahre Anarchie kann<br />
nicht ohne die Solidarität, ohne den Sozialismus bestehen,<br />
ebensowenig wie der Sozialismus ohne Anarchie<br />
wirklich alle seine Solidaritätsprinzipien erfüllen<br />
kann. Die Einwendungen, welche die politischen Liberalen<br />
gegen den Staat erheben, bestehen nur darin,<br />
daß sie ihm einige Machtbefugnisse nehmen wollen,<br />
die den K a p i t a l i s t e n unbequem sind. Aber das<br />
wahre Wesen des Staates, seine Macht zu strafen <strong>und</strong><br />
zu unterdrücken, kann der Liberalismus nicht angreifen,<br />
denn die Besitzenden könnten ohne Polizei <strong>und</strong><br />
Gendarmerie nicht bestehen: Und diese unterdrückende<br />
Macht der Regierung muß sogar umso stärker werden,<br />
je stärker in Folge der freien Konkurrenz die Uneinigkeit,<br />
die Ungleichheit unter den Menschen wird.<br />
Die Anarchisten bieten eine neue Art der Lösung<br />
dar: D i e f r e i e I n i t i a t i v e , d i e f r e i e B e t ä t i g u n g<br />
n a c h e i g e n e m V e r n u n f t s g u t d ü n k e n u n d d i e<br />
f r e i e V e r e i n b a r u n g A l l e r z u g e m e i n s a m e n<br />
A n g e l e g e n h e i t e n . Nachdem das Privateigentum<br />
durch das revolutionäre Handeln des Volkes abgeschafft<br />
worden, werden alle Menschen unter sozial<br />
gleichen Verhältnissen in die Lage gebracht sein, sich<br />
den gesellschaftlichen Reichtum nutzbar machen zu<br />
können. Diese Lösung der Frage macht die Wiederherstellung<br />
des Privateigentums unmöglich <strong>und</strong> muß<br />
somit auf dem <strong>Weg</strong>e der freien Vereinigung zum<br />
vollständigen Triumph der Solidarität führen.
— 5Q -<br />
Wenn man die Sache so betrachtet, so sieht<br />
man, daß alle Schwierigkeiten, die man als Einwendungen<br />
vorbringt, um die anarchistische Idee zu bekämpfen,<br />
im Gegenteil n u r e i n A r g u m e n t zu<br />
G u n s t e n des Anarchismus sind. Denn nur auf dem<br />
<strong>Weg</strong>e des Anarchismus, nämlich auf dem <strong>Weg</strong>e der<br />
zwangslosen Erfahrung, der erprobten Anpassung an<br />
das Wissen, die Bedürfnisse, die Gefühle Aller lassen<br />
sich diese Fragen lösen.<br />
Nehmen wir zum Beispiel die Frage der Erziehung.<br />
Wir haben keinen festgesetzten, unabänderlichen<br />
Plan darüber; obwohl schon manche Versuche<br />
in Frankreich etc. d i e R i c h t u n g e i n e r n a t ü r -<br />
l i c h e n E r z i e h u n g des Kindes klar gemacht haben.<br />
Aber wir brauchen auch keinen festgesetzten Plan:<br />
die Eltern, die Lehrer, alle die sich für die Entwicklung<br />
der neuen Generation interessieren, werden<br />
zusammenkommen, beraten, sich einigen oder je nach<br />
verschiedenen Meinungsrichtungen teilen <strong>und</strong> jede<br />
Gruppe wird jene Ideen, die sie für die besten hält,<br />
für sich <strong>und</strong> ihr Gebiet verwirklichen. Im täglichen<br />
Leben <strong>und</strong> im geistigen Daseinskampf wird dann<br />
schließlich diejenige Art, die w i r k l i c h am besten<br />
ist, auch zur Geltung kommen. — Dasselbe gilt für<br />
a l l e Probleme, die im Leben vorkommen können.<br />
Daraus folgt, daß die Anarchie, so wie die Anarchisten<br />
selbst sie auffassen, <strong>und</strong> wie sie einzig richtig<br />
verstanden werden kann, ökonomisch auf dem Sozialismus<br />
aufgebaut ist. Und wenn es nicht sich «sozialistisch»<br />
nennende Paiteien gäbe, die die Einheit der<br />
sozialen Frage k ü n s t l i c h auseinanderreißen, um nur
60<br />
einen Teil derselben zu betrachten; wenn es nicht<br />
Wortverdrehungen gäbe, mit welchen man dem wirklichen<br />
<strong>Ziel</strong> der sozialen Revolution den <strong>Weg</strong> abschneiden<br />
möchte, s o k ö n n t e n w i r b e h a u p t e n ,<br />
d a ß S o z i a l i s m u s u n d A n a r c h i e d a s s e l b e<br />
b e d e u t e n , d a j a d o c h d i e B e d e u t u n g b e i d e r<br />
d i e A b s c h a f f u n g d e r H e r r s c h a f t <strong>und</strong> d e r<br />
A u s b e u t u n g d e s M e n s c h e n d u r c h d e n M e n -<br />
s c h e n ist, ob nun dieser Zustand der Sklaverei<br />
durch die bewaffnete Gewalt oder durch die Monopolisierung<br />
der zum Leben notwendigen Sachen aufrecht<br />
erhalten wird.<br />
Die Anarchie, ebenso wie der Sozialismus, hat<br />
als Gr<strong>und</strong>lage, als Ausgangspunkt, als notwendige<br />
Bedingung, die G l e i c h h e i t d e r V e r h ä l t n i s s e ,<br />
als Leitstern die S o l i d a r i t ä t <strong>und</strong> als Methode die<br />
F r e i h e i t . Sie ist n i c h t die Vollkommenheit, nicht<br />
ein absolutes, für ewig gleich bleibendes Ideal, sondern<br />
ein solches, das in dem Maße, wie wir vorangehen<br />
<strong>und</strong> es verwirklichen, wie der Horizont vor<br />
uns zurückweicht <strong>und</strong> uns neue Ideale bietet. A b e r<br />
d i e A n a r c h i e ist d e r W e g , über den jeder Fortschritt,<br />
jede Vervollkommnung im Interesse aller<br />
Menschen zu gehen hat.<br />
Wir haben festgestellt, daß die Anarchie jene<br />
Form des gesellschaftlichen Lebens ist, die allein den<br />
<strong>Weg</strong> zum größten Wohle für alle Menschen frei läßt,<br />
denn nur sie zerstört alle Klassen, welche ein Interesse<br />
daran haben, die große Masse der Menschen in<br />
Elend <strong>und</strong> Unterdrückung zu halten. Wir haben fest-
- 61<br />
gestellt, daß die Anarchie m ö g l i c h ist, denn in<br />
Wahrheit befreit sie die Menschheit nur von einem<br />
Hindernis, der Regierung, gegen die diese immer<br />
kämpfen mußte, um auf ihrem beschwerlichen <strong>Weg</strong><br />
voranzuschreiten. Und nachdem wir all dies festgestellt<br />
haben, sehen wir die Autoritäten sich in ihre letzte<br />
Festung zurückziehen, wo sie durch eine Anzahl Leute<br />
verstärkt werden, die, obgleich sie angeblich warme<br />
Anhänger der Freiheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit sind, dennoch<br />
Furcht vor der Freiheit haben <strong>und</strong> sich nicht entschließen<br />
können, die Idee einer Menschheit zu erfassen,<br />
die ohne Vorm<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Hirten lebt <strong>und</strong><br />
vorangeht. Durch die Wahrheit arg bedrängt, verlangen<br />
diese Leute, daß man die Sache für später, für den<br />
spätest möglichen Zeitpunkt aufschiebe. Folgendes<br />
ist der Hauptinhalt ihrer Argumente:<br />
«Diese Gesellschaft ohne Herrschaft, welche sich<br />
mittels des freien <strong>und</strong> selbstgewollten Zusammenwirkens<br />
in Ordnung hält, diese Gesellschaft, die alles<br />
dem selbständigen Handeln der Interessierten überläßt<br />
<strong>und</strong> ganz <strong>und</strong> gar auf Solidarität <strong>und</strong> Liebe aufgebaut<br />
ist — diese Gesellschaft ist gewiß ein sehr schönes<br />
Ideal; aber wie jedes Ideal, schwebt sie in den Wolken.<br />
Wir befinden uns in einer Menschheit, die immer<br />
in Unterdrücker <strong>und</strong> Unterdrückte geteilt war. Die<br />
ersteren sind voller Herrschsucht <strong>und</strong> haben alle<br />
Laster der Tyrannen; die letzteren sind an knechtischen<br />
Gehorsam gewöhnt <strong>und</strong> haben die noch ärgeren Laster,<br />
die aus der Sklaverei entspringen. Das Gefühl der<br />
Solidarität ist weit entfernt, das herrschende Gefühl<br />
unter den heutigen Menschen zu sein, <strong>und</strong> wenn
- 62 —<br />
es auch wahr ist, daß die Geschicke der Menschen<br />
mit einander solidarisch sind <strong>und</strong> immer mehr so<br />
werden, ist es ebenso wahr, daß das, was man im<br />
Leben am meisten sieht, <strong>und</strong> was die tiefsten Spuren<br />
im Menschen zurückläßt, der Kampf ums Dasein ist,<br />
den fortwährend ein jeder gegen einen jeden anderen<br />
führt. Wie können diese Menschen, die in einer Gesellschaft<br />
aufgewachsen <strong>und</strong> erzogen sind, in der der<br />
Kampf der Klassen <strong>und</strong> der Einzelnen gegen einander<br />
herrscht, sich auf einmal verändern, <strong>und</strong> wie können<br />
sie fähig werden, in einer Gesellschaft zu leben, wo<br />
jeder ohne äußeren Zwang, durch den Antrieb seiner<br />
eigenen Natur, das Wohl der anderen anstrebt? Wie<br />
könnt ihr den Erfolg der Revolution, das Los der<br />
Menschheit einer unwissenden Menge anvertrauen,<br />
die durch das Elend entkräftet, durch die Pfaffen verblödet<br />
ist? W ä r e e s n i c h t v e r n ü n f t i g e r , a u f<br />
dem W e g e e i n e r d e m o k r a t i s c h e n u n d s o z i -<br />
a l i s t i s c h e n R e p u b l i k a u f d a s a n a r c h i s t i s c h e<br />
I d e a l l o s z u s c h r e i t e n ? Würde nicht eine Regierung,<br />
gebildet aus den Tüchtigsten, notwendig sein,<br />
um die Menschen für die Ideen der Zukunft vorzubereiten?»<br />
Wir stoßen immer auf das Vorurteil, daß die<br />
Regierung eine eigene Kraft sei, die von irgendwo<br />
entsteht <strong>und</strong> aus sich selbst etwas zu den vereinten<br />
Kräften <strong>und</strong> Tätigkeiten jener Menschen hinzufügt,<br />
die sie bilden <strong>und</strong> die ihr gehorchen. D a s ist a b e r<br />
n i c h t w a h r . Im Gegenteil, alles was in der Menschheit<br />
geschieht, wird durch die Menschen selbst vollbracht<br />
<strong>und</strong> die Regierung, als solche, fügt aus eigener
- 63<br />
Kraft nichts anderes hinzu, als das Bestreben, alles<br />
zum Profit einer Partei oder einer Klasse zu monopolisieren<br />
<strong>und</strong> jede Initiative, die außerhalb ihres<br />
Kreises entsteht, unmöglich zu machen.<br />
Wenn wir sagen, daß wir die Autorität zerstören<br />
wollen, so meinen wir damit nicht die Zerstörung der<br />
individuellen <strong>und</strong> kollektiven Kräfte, die in der Menschheit<br />
tätig sind <strong>und</strong> auch nicht die Zerstörung der geistigen<br />
Einflüsse, die die Menschen gegenseitig auf einander<br />
ausüben. Das würde die Zersplitterung der Menschheit<br />
in eine Masse von losen <strong>und</strong> untätigen Atomen<br />
bedeuten, was unmöglich ist, <strong>und</strong> wenn es möglich<br />
wäre, der Zerstörung jeder Oesellschaft, dem Tod der<br />
Menschheit gleichkäme.<br />
Die Autorität zerstören, heißt soviel als das<br />
M o n o p o l d e r G e w a l t <strong>und</strong> des Einflusses zu zerstören;<br />
es bedeutet die Zerstörung jenes Zustandes,<br />
in welchem die gesellschaftlichen Kräfte, also die<br />
Kraft aller Menschen, den Gedanken, dem Willen, den<br />
Interessen einer kleinen Anzahl von Menschen dient,<br />
die vermittels der blinden Kraft aller zu Gunsten ihrer<br />
Interessen <strong>und</strong> Ideen die Freiheit aller unterdrücken.<br />
Die Autorität zerstören, heißt soviel als jene Art<br />
von Organisation zerstören, durch welche die Zukunft,<br />
von einer Revolution zur anderen, zum Profit jener<br />
beschlagnahmt wird, die im Kampfe für einen historischen<br />
Moment Sieger bleiben.<br />
Es ist sicher, daß im gegenwärtigen Zustand<br />
der Gesellschaft, wo die große Mehrzahl der Menschen<br />
von Elend erdrückt <strong>und</strong> von Aberglauben verblödet<br />
ist, das Geschick der Menschheit von der
— 64 —<br />
Tätigkeit einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von<br />
Menschen abhängt. Es ist gewiß unmöglich, daß von<br />
einem Moment zum anderen sich alle Menschen auf<br />
die Stufe erheben können, wo sie es als ihre Pflicht,<br />
geschweige denn als ein Glück empfinden, alle ihre<br />
Taten so zu vollbringen, daß daraus für die anderen<br />
das möglichst größte Wohl entsteht.<br />
Wenn aber die denkenden <strong>und</strong> ordnenden Kräfte<br />
der Menschheit heute noch wenig sind, ist das kein<br />
Gr<strong>und</strong>, daß wir selbst von diesen einen Teil lähmen,<br />
<strong>und</strong> den größten Teil einer kleinen Anzahl von ihnen<br />
unterordnen sollen. Es ist kein Gr<strong>und</strong>, um die Gesellschaft<br />
so einzurichten, daß in Folge der Untätigkeit,<br />
die die gesicherten Stellen hervorbringen, in Folge<br />
der Vererbung, der Protektion, des Korpsgeistes <strong>und</strong><br />
der ganzen Regierungsmaschinerie, die lebendigsten<br />
Kräfte <strong>und</strong> tüchtigsten Fähigkeiten sich schließlich<br />
außerhalb der Regierung <strong>und</strong> somit beinahe ohne<br />
Einfluß auf das Leben der Gesellschaft befinden. Und<br />
jene, die zur Regierung gelangen, werden aus ihrem<br />
gewohnten Wirkungskreise herausgerissen <strong>und</strong> haben<br />
ein Interesse daran, die Macht zu behalten, deshalb<br />
verlieren sie alle Fähigkeit rationell zu handeln <strong>und</strong><br />
werden nur ein Hindernis für die anderen.<br />
Wenn wir diese hindernde Gewalt, die staatliche<br />
Herrschaft abschaffen, so wird die Gesellschaft das<br />
sein, was sie ihren momentanen Kräften <strong>und</strong> Fähigkeiten<br />
gemäß, sein kann.<br />
Wenn es Menschen gibt, die Wissen besitzen<br />
<strong>und</strong> dasselbe verbreiten wollen, werden dieselben<br />
Schulen gründen <strong>und</strong> sich Mühe geben, allen Leuten
Aber die Arbeitslöhne der großen<br />
Masse der Arbeiter haben sich seitdem<br />
Weder verzehnfacht, noch auch nur verdreifacht<br />
oder verdoppelt — woraus folgt,<br />
daß der Gewinnanteil des Ausbeuters sich<br />
im Verhältnis dazu vergrößert hat. Das<br />
anwachsen der Produktivität der menschlichen<br />
Arbeitskraft, die unter bestimmten<br />
Einrichtungen eine Hilfe zur Befreiung der<br />
Bnenschheit hätte sein sollen, hat zwar<br />
auch unter den heute bestehenden Gesellfcchaftseinrichtungen<br />
dem Arbeiter ein wenig<br />
genützt, aber vor allem hat es dem Ausbeuter<br />
Nutzen gebracht.<br />
Die Macht der Ausbeutung ist beim<br />
Kapitalisten stärker geworden. Und, mit<br />
einigen Ausnahmen, kann man sagen, daß<br />
die Bereicherung des Unternehmers auf<br />
Kosten seiner Arbeiter in d e m M a ß e<br />
w ä c h s t , w i e s e i n e A r b e i t e r g e -<br />
s c h i c k t e r w e r d e n , <strong>und</strong> wie die Maschinen<br />
die menschliche Arbeit produktiver<br />
machen. Seine H e r r s c h a f t , s e i n e<br />
[ m a t e r i e l l e K r a f t werden größer,<br />
Iwenn nicht die Arbeiter diesen ihre i nt<br />
e l l e k t u e l l e K r a f t <strong>und</strong> ihren r e v o -<br />
l u t i o n ä r e n Geist entgegensetzen.<br />
Dieser wirtschaftliche Fortschritt ist<br />
also, wie alle anderen wirtschaftlichen Tatsachen,<br />
eine zweischneidige Waffe. Er besitzt<br />
k e i n e geheimnisvolle Macht, die es<br />
ihm ermöglicht » d u r c h s i c h s e l b s t «<br />
die Befreiung der Arbeiter zu vollbringen.<br />
Er wird ein Mittel zur Befreiung oder ein<br />
Mittel zur Ausbeutung sein, je nach dem,<br />
wie die Menschen in der Gesellschaft Gebrauch<br />
davon machen; je nach den Ideen,<br />
die unter ihnen vorherrschen, den G ef<br />
ü h l e n von Unabhängigkeit, dem Z u -<br />
s a m m e n h a l t e n unter den Ausgebeuteten<br />
— je nach ihrem r e v o l u t i o n ä r e n<br />
Wollen.<br />
Verringern wir diese Kräfte, <strong>und</strong> wir<br />
werden aus dem Anwachsen der menschlichen<br />
Produktivität ein Mittel zur Verstärkung<br />
der Ausbeutung machen — wie<br />
dies bis heute geschehen ist.<br />
Und das gilt von allen wirtschaftlichen<br />
Erscheinungen. Alle Tatsachen des wirtschaftlichen<br />
Fortschrittes werden entweder<br />
ein Mittel zur Befreiung oder ein Mittel<br />
zur Unterdrückung, je nachdem die Arbeiter<br />
dieselben gebrauchen <strong>und</strong> verwenden<br />
lassen. Peter Krapotkin.<br />
Die Anarchie <strong>und</strong> das allgemeine<br />
Wahlrecht.<br />
V o r b e m e r k u n g . <strong>Unser</strong>e Leser seien b e -<br />
sonders darauf aufmerksam, gemacht, daß nachfolgender<br />
Artikel eine teilweise wiedergegebene,<br />
b i s h e r u n v e r ö f f e n t l i c h t e Rede unseres<br />
vor drei Jahren dahingeschiedenen, an Geist so<br />
großen Kameraden bildet, die er im Jahre 1882 in<br />
St. Etienne hielt. Diese Rede ist für uns sehr zeitgemäß<br />
in der gegenwärtigen Periode des Landtagswahlschwindels.<br />
D. Red.<br />
Mancher wird behaupten, daß es Sozialisten<br />
<strong>und</strong> Sozialisten gebe. Dem An-<br />
schein nach gibt es deren auch verschiedene<br />
Arten, doch das ist eigentlich 1<br />
nur<br />
Täuschung. In Wahrheit bestehen nur zwei<br />
entgegengesetzte Prinzipien: das der Regierung<br />
<strong>und</strong> dasjenige der Anarchie, das<br />
der Autorität <strong>und</strong> das der Freiheit. Die<br />
Namen, die auf den verschiedenen Parteibannem<br />
geschrieben sind, haben keinen<br />
Zweck, denn wie wir unter den vermeintlichen<br />
Republikanern der Gegenwart kleine<br />
Diktatoren finden, à la Louis XIV., so sehen<br />
wir auch Anarchisten in a l l e n revolutionären<br />
Bestrebungen. Die Herrschsüchtigen,<br />
die Politiker wollen — gleichviel wer an<br />
der Spitze des Staates steht, ob König,<br />
Konsul, Kaiser oder Präsident, ob ein Rat<br />
der Drei oder ein Rat der Zehn — die<br />
Macht in die Hände bekommen, um Belohnungen,<br />
Posten, Ehrentitel <strong>und</strong> Orden<br />
austeilen zu können, sie wollen Herren<br />
sein, damit alle Initiative von oben kommt.<br />
Alle diese glauben mit einer übernatürlichen<br />
Macht begabt zu sein, um denken, wün-<br />
sehen <strong>und</strong> handeln zu können an Stelle<br />
<strong>und</strong> auf Rechnung der anderen. Sie alle<br />
verlangen Gehorsam für ihre Verfügungen<br />
<strong>und</strong> Gesetze <strong>und</strong> glauben sich unfehlbar,<br />
wie der Papst oder das antike <strong>und</strong> gottbegnadete<br />
Königtum.<br />
Seht euch doch eure Vertreter <strong>und</strong> die<br />
Vertreter eurer Vertreter, die Minister an!<br />
Lehnen sie nicht das imperative Mandat ab,<br />
als wäre es eine Beleidigung ihrer Würde?<br />
Haben sie nicht für sich selbst eine Rechtslage<br />
geschaffen, die sie außerhalb der Gesetze<br />
stellt, die für gewöhnliche Sterbliche<br />
Geltung haben? Sind sie nicht durch die<br />
Protektionen <strong>und</strong> Petitionen, durch die Ehren<strong>und</strong><br />
Postenverleihungen zu Komplizen der<br />
Mächtigen <strong>und</strong> Unterdrücker geworden?<br />
Ämter, Verwaltungen <strong>und</strong> Gesetzformen<br />
sind dieselben geblieben; der Mechanismus<br />
hat sich nicht verändert, die Mechaniker<br />
erscheinen nur in anderem Anzug.<br />
Das Wort Republik ist sicher sehr erhaben,<br />
soll doch r e s p u b l i c a die »öffentliche<br />
Sache« bedeuten <strong>und</strong> wird damit<br />
allen denen, die sich Republikaner nennen,<br />
der Schein gegeben, als seien sie vom Solidaritätsgeist<br />
erfüllt, als kämpften sie für<br />
eine allen gemeinsame Sache. Doch dieses<br />
Wort verliert seine wahre Bedeutung, sobald<br />
es von Regierungsmännern gebraucht<br />
wird, denn für diese bedeutet es nicht die<br />
Änderung eines Regimes, sondern nur den<br />
Wechsel von Regierungspersonen.<br />
Andererseits sind alle revolutionären<br />
Akte durch ihr Wesen selbst anarchistischer<br />
Natur, gleichviel wessen Zwecken sie dienen.<br />
Der Mensch, der der Ungerechtigkeit<br />
müde ist <strong>und</strong> sich in den Kampf wirft, um<br />
sein Recht zur Geltung zu bringen, wird<br />
in diesem Moment wenigstens sein eigener<br />
Herr; zu Verbündeten hat er dann Kameraden<br />
<strong>und</strong> nicht Vorgesetzte — er ist während<br />
der Kampfperiode frei. Von Zeit zu<br />
Zeit zeigt uns die Geschichte große Revolten,<br />
<strong>und</strong> wenn wir es versuchen, die<br />
verschiedenen Elemente auseinander zuscheiden,<br />
die sich darin vermengt finden,<br />
<strong>und</strong> ihren Anteil zu bestimmen, so sehen<br />
wir, daß den aktiven Anteil, also denjenigen,<br />
der allein zum Fortschritt der Menschheit<br />
beitrug, s t e t s d a s a n a r c h i s t i s c h e<br />
E l e m e n t hatte, d. h. dasjenige Element,<br />
das der persönlichen Initiative folgte <strong>und</strong><br />
nicht etwa Vorschriften von Vorgesetzten.<br />
Zu allen Zeiten hat die Autorität das Gewohnte<br />
aufrecht erhalten wollen, immer<br />
war erst die anarchistische Auflehnung dagegen<br />
nötig, um dem Volke, das zu ersticken<br />
drohte, Luft zu verschaffen. Die<br />
ganze Geschichte ist nichts weiter als eine<br />
Reihe von Revolutionen, durch die sich<br />
das Individuum nach <strong>und</strong> nach aus der<br />
Sklaverei emporrafft, um nach Zerstörung<br />
des jeweilig bestehenden Staates sein eigener<br />
Herr werden zu wollen. Was kümmert<br />
es uns, daß die Geschichtsschreiber das Leben<br />
der Könige <strong>und</strong> der Fürsten, ihre Regierungsmaßnahmen<br />
<strong>und</strong> ihre Bemühungen, sich<br />
auf Kosten des Volkes zu bereichern, beschreiben.<br />
So würde ein Arzt die Geschichte<br />
eines Menschen durch die Geschichte seiner<br />
Krankheiten darzustellen versuchen.<br />
Die antike Devise der Revolutionäre,<br />
die sich von Jahrh<strong>und</strong>ert zu Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
fortpflanzte <strong>und</strong> zu einer offiziellen Formel<br />
geworden ist, die jeglichen Sinn unter jedweder<br />
Regierung verliert, diese Formel:<br />
»Freiheit, Gleichheit <strong>und</strong> Brüderlichkeit«<br />
oder vielmehr Solidarität, beweist, daß das<br />
Ideal der vergangenen Generationen instinktiv<br />
s t e t s die Anarchie war. Kann das<br />
Wort Freiheit einen Sinn haben, wenn es<br />
nicht die vollkommene Entwicklung des<br />
Individuums einschließt, so daß dieses die<br />
ganze Kraft, die volle Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> die<br />
körperliche Schönheit seiner Rasse erlangen<br />
kann, daß ihm sämtlicher Unterricht zuteil<br />
wird, nach dem sein Geist verlangt, daß<br />
ihm die freie Wahl jeder Beschäftigung<br />
offen steht, zu der es sich hingezogen<br />
fühlt? Und gleicherweise ist das Wort<br />
Gleichheit eine Lüge, wenn das Privateigentum<br />
<strong>und</strong> das Erbrecht bestehen bleibt,<br />
so daß industrielle Spekulationen <strong>und</strong> das<br />
Anwachsen der Regierungsmacht den Kontrast<br />
zwischen Reichtum <strong>und</strong> Armut erhöhen,<br />
indem die einen zu Entbehrungen,<br />
Krankheiten, ja sogar Lastern verdammt<br />
werden, während die anderen Wohlstand,<br />
Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> alle Errungenschaften von<br />
Wissenschaft <strong>und</strong> Kunst genießen. Schließlich<br />
kann auch brüderliche Solidarität nur<br />
zwischen Menschen herrschen, die nach<br />
freier Vereinbarung <strong>und</strong> gemäß ihren Fähigkeiten<br />
<strong>und</strong> Ansprüchen mit einander verb<strong>und</strong>en<br />
sind. Welche Solidarität kann zwischen<br />
Wolf <strong>und</strong> Lamm herrschen, zwischen<br />
Herr <strong>und</strong> Knecht bestehen?<br />
Doch mancher wird einwenden, die<br />
Ges<strong>und</strong>ung des sozialen Organismus sei<br />
eine Utopie. Die erhabenen Worte von<br />
Freiheit, Gleichheit <strong>und</strong> Solidarität seien<br />
nur dazu gut, auf öffentlichen Gebäuden<br />
— wie in Frankreich — zu prangen, sonst<br />
aber ohne praktische Nutzanwendung. Und<br />
die Armen an Geist, wie auch die gar zu<br />
Pfiffigen, finden sich mit der gegenwärtigen<br />
Situation, so schlecht sie auch sein mag,<br />
ab, als wenn die Welt für immer so bleiben<br />
würde. Kann denn überhaupt jemand behaupten,<br />
daß diese Gesellschaft einen wirklichen<br />
Bestand habe, daß sie unverändert<br />
weiter bestehen wird? Ist eine solche Gesellschaft<br />
lebensfähig, in der mehr als neun<br />
Zehntel der Individuen zu einem vorzeitigen<br />
Tode verurteilt sind durch Mangel an Mitteln,<br />
durch Mangel an Eintracht; eine Gesellschaft,<br />
in der die Interessen so geteilt<br />
sind, daß eine gute Bodenkultur,<br />
eine wirklich wissenschaftliche Ausnützung<br />
seiner Produkte unmöglich ist, eine Gesellschaft,<br />
in der fast die Hälfte der Produktion<br />
durch die unordentliche Verteilung verloren<br />
geht; wo die Fabrikanten durch den Wettkampf<br />
der Konkurrenz gezwungen sind,<br />
ihre Produkte zu fälschen, wovon selbst<br />
Lebensmittel nicht ausgeschlossen sind; wo<br />
Tausende von Frauen nur die Wahl zwischen<br />
Selbstmord oder Prostitution offensteht; wo<br />
Kampf <strong>und</strong> Unordnung, mit dem bürgerlichen,<br />
dummen Gemeinplatz »Anarchie«<br />
bezeichnet, an der Tagesordnung sind.<br />
Glücklicherweise bringt die wahre<br />
Anarchie, das ist die Vereinigung von freien<br />
Individuen <strong>und</strong> Assoziationen, die Anfänge<br />
von Heilung <strong>und</strong> Erneuerung in diesen<br />
kranken Organismus. Gegen die göttliche<br />
Autorität, deren irdische Vertreter die<br />
Pfaffen zu sein vorgeben, gehen die freien<br />
Geister mit der Kritik vor <strong>und</strong> befreien<br />
sich von der blöden Furcht vor der Hölle<br />
<strong>und</strong> dem blinden Glauben an ein Paradies.<br />
Gegen die Heiligkeit, die das Königtum<br />
<strong>und</strong> die Regierungen in den traditionellen<br />
Glorienschein einhüllte, ist das Volk von<br />
Revolution zu Revolution geschritten <strong>und</strong><br />
hat seinen Herrschern manche Freiheit abzuringen<br />
gewußt, sowie die Anerkennung<br />
des Volkswillens. Sogar in der Familie, in<br />
der der Ehemann <strong>und</strong> Vater eine Zeit lang<br />
absolutes Oberhaupt war, haben sich Frau<br />
<strong>und</strong> Kinder /u einer persönlichen Freiheit<br />
aufzuschwingen gewußt, die von dem Gesetz<br />
noch verneint wird, die jedoch die<br />
öffentliche Meinung schon anzuerkennen<br />
beginnt. So hat sich auch die Sprache<br />
gegenüber der Pedanterie der Katedergelehrten<br />
zu entwickeln <strong>und</strong> zu erneuern<br />
verstanden, so hat sich die Wissenschaft<br />
trotz offizieller Fesseln zu freien Auffassungen<br />
<strong>und</strong> Fortschritten aufgeschwungen, so<br />
hat sich auch die Kunst immer weitere<br />
Gebiete eröffnet. Immer wieder lebt damit die<br />
antike Legende von der w<strong>und</strong>erbaren Frucht<br />
vom Baume der Erkenntnis auf, der Erkenntnis<br />
des Guten <strong>und</strong> Bösen. Die Priester lehren,<br />
daß alles Böse durch diese Frucht in die Welt<br />
gekommen sei; wir Revolutionäre behaupten<br />
dagegen, daß alles Gute die Frucht der<br />
Erkenntnis sei. Elisée Reclus.<br />
Schluß folgt.
Der Antimilitarismus<br />
als<br />
T a k t i k d e s A n a r c h i s m u s .<br />
Von Pierre Ramus.<br />
Referat, gehalten auf dem internationalen Amsterdamer Kongreß<br />
der »Internationalen antimilitaristischen Assoziation«<br />
am 30. <strong>und</strong> 31. August 1907.<br />
(Fortsetzung.)<br />
Und da ein j e d e s Herrschertum darnach trachtet, sich als das allein zu<br />
Recht bestehende angestaunt zu sehen, dann auch nach dem Reichtum der Nachbarn<br />
lüstern blickt, wurde das Volk gelehrt, sein eigenes Herrscherhaus, dessen<br />
Funktionen <strong>und</strong> Mithelfer, als die dem Willen eines übernatürlichen W e s e n s<br />
Entsprungenen zu betrachten <strong>und</strong> jene abergläubische Verehrung vor der<br />
Autorität, die auch heute noch existiert, entstand <strong>und</strong> entwickelte sich.*<br />
Es ist ein solcher Geisteszustand des Volkes, welcher dem Herrscher<br />
die Allmacht über die einzelnen Glieder der Gesellschaft verleiht. Nun erst,<br />
so entsteht das, w a s wir unter K r i e g verstehen können. Die Gemeinschaft<br />
hatte ein bewußt wirkendes Zentralorgan, den Staat, erhalten. Und eben<br />
so, wie die Bibel es versucht, im Gemüt des unwissenden Menschen das<br />
Gefühl der Ehrfurcht vor Gott dadurch zu wecken, daß sie ihn uns in seinem<br />
Zorne <strong>und</strong> Zerstörungseifer zeigt, so wußte auch die irdische Macht sehr<br />
wohl, daß das Gemüt des Menschen sich dauernd nur dadurch übermannen<br />
lasse, wenn es die Autorität in unendlich vergrößerter Machtentfaltung <strong>und</strong><br />
Gewaltsmanifestation erblickt. Nur so ist jene Fanatisierung, jener religiöse<br />
Eifer möglich <strong>und</strong> erklärlich, die wir im Chauvinismus sehen müssen, dort,<br />
wo er noch e c h t ist. Der Krieg, besonders der siegreiche Krieg <strong>und</strong> die<br />
Vorstellung, über den Feind zu siegen, umstrahlt den Staat mit sinnberückender<br />
Gloriole, <strong>und</strong> so ist das Kriegführen diejenige weltlich-religiöse Macht<br />
des Staates, die ihm zu seiner Aufrechterhaltung dient.<br />
Denn w a s ist eigentlich der S t a a t ? Eigentlich ist der Staat nichts anderes<br />
als Militarismus en miniature. Militarismus ist systematisierte Waffengewalt;<br />
der Staat existiert nicht, wenn er nicht nach Außen, wie nach Innen<br />
hin eine G e w a l t repräsentiert. Noch krasser ließe sich das Problem s o<br />
stellen: Militarismus ist die Funktionsäußerung des Gewaltprinzips; dieses<br />
ist eben der Staat, denn diese Fnnktionsäußerung kann niemals stattfinden<br />
ohne der organisatorisch primären <strong>und</strong> demonstrativ den Krieg proklamierenden<br />
Ordre des Staates. Darum ist der Militarismus als Organismus des Gesellschaftslebens<br />
nur der vergrößerte Staat, denn die Macht des Staates ist r e -<br />
präsentiert durch seine Bewaffnung. Wir sehen also, wie lächerlich, wie<br />
heimtückisch es ist, wenn die modernen Staaten das Wort „Abrüstung" im<br />
M<strong>und</strong>e führen. S i e wissen ganz gut, daß ihnen dies nur Phrase sein muß,<br />
denn eine wirkliche Abrüstung, d. h. Überwindung des militaristischen Prinzips<br />
wäre gleichbedeutend mit dem Selbstmord des Staatsprinzips. D a s<br />
Dämonische dieses letzteren Prinzips, sein Genieprodukt ist gerade die E r -<br />
zeugung des militärischen Geistes in den breitesten Schichten des V o l k e s ;<br />
<strong>und</strong> dies ist dem Staate nur möglich durch die Großzüchtung von sozialen,<br />
philosophischen <strong>und</strong> religiösen Irranschauungen, durch die allein er seine<br />
Existenz zu rechtfertigen vermag. Sie aufzugeben, bedeutet allerdings den<br />
T o d des Militarismus, bedeutete aber auch den T o d des Staates.<br />
Man sieht, wir Anarchisten betrachten die ganze Frage sehr nüchtern<br />
<strong>und</strong> klar. Deshalb haben wir auch ganz andere Meinungen über das W e s e n<br />
des Krieges als die bürgerlichen Friedensschwärmer. Für diese existiert nur<br />
e i n e Störung in einer sonst sehr trautlich von ihnen gehüteten <strong>und</strong> gehegten<br />
Weltharmonie: eben der Krieg. Und sie glauben, ihn innerhalb der Gegenwartsgesellschaft<br />
abschaffen, diese jedoch in ihren Hauptbestandteilen erhalten<br />
zu können. Dies ist eine törichte Illusion, töricht dort, wo sie ehrlich<br />
gemeint, verbrecherisch dort, wo sie demagogisch gemeint ist.<br />
Wir Anarchisten haben eine ganz andere Auffassung über das W e s e n<br />
des Krieges. Wir hassen ihn als human gesinnte Menschen, aber wir wissen<br />
zur gleichen Zeit, daß er innerhalb der heutigen Gesellschaftsunoranung<br />
nichts mehr oder minder ist als der im Großen ausgedrückte,- ununterbrochen<br />
im Kleinen tobende <strong>und</strong> wütende Kampf der Einzelindividuen <strong>und</strong> der Klasse<br />
wider einander. Dieser Konflikt wird hervorgerufen durch die juristisch-legale<br />
Ausbeutung, die der Besitzende an dem Besitzlosen verübt, durch die Niederwerfung<br />
jeden Versuches, jeden Vorstoßes vonseiten des Unterdrückten,<br />
sich sein Lebensrecht zu erobern, welche Vereitelung vom Staate herbeigeführt,<br />
durchgesetzt wird. Solange es Hunger, Elend <strong>und</strong> Not gibt, gibt es<br />
auch einen Kampf innerhalb derjenigen Gesellschaft, in der sich diese Furien<br />
befinden. Und da die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sehr<br />
oft das Leben <strong>und</strong> die Existenz von unendlich vielen Menschen opfert, ist<br />
es nur Sentimentalitätssache, sich wider den im Großen geführten Krieg aufzulehnen,<br />
den im Kleinen geführten, seinem Opferumfange gemäß aber oftmals<br />
verlustreicheren Kleinkrieg jedoch ruhig gewähren zu lassen.<br />
Der Staat führt einen ununterbrochenen Krieg gegen den Besitzlosen.<br />
Dieser Guerillakrieg ist die Keimzelle des Krieges zwischen den Nationen.<br />
Zwei Arten von Armeen sind bereit, den Arbeiter niederzuschlagen in seinen<br />
gerechten Lebensansprüchen, <strong>und</strong> sie tun es auch nur zu oft: auf industriellem<br />
Gebiet hält sich die moderne Gesellschaft ihre ökonomische R e -<br />
vervearmee zurecht,-auf politischem den offiziellen Militarismus. Auch dies<br />
ist ein Kampf zwischen zwei Gemeinschaften: auf der einen Seite steht die<br />
Welt der Arbeit, auf der anderen der Staat mit seinem Soldatentum, seinen<br />
sonstigen Elementen: Polizei, Spione, Zuchthauswächter <strong>und</strong> Henker. Und<br />
wenn wir oben sagen, der Staat führe einen ununterbrochenen Krieg gegen<br />
den Besitzlosen, weil Schwächeren, so haben wir hier wieder eine Fülle von<br />
Analogien im Kriege. Jeder Krieg ist nämlich nichts anderes als der Angriff<br />
einer Macht durch eine andere, welche sich für die Stärkere hält <strong>und</strong> da<br />
glaubt, die schwächere unterjochen zu können. W i e also im modernen<br />
Staatenleben der Militarismus immer nur herrisch ist gegen den Unbewaffneten,<br />
dem natürlicherweise Schwächeren, so ist der Krieg selbst nichts anderes,<br />
als der Fehdezug einer von brutalen, schrecklichen Instinkten <strong>und</strong><br />
* Sie, diese Verehrung, unbedingte Untertänigkeit unter den Geboten des angestammten<br />
Herrscherhauses, die Entwertung des eigenen Lebens zu Gunsten der Autorität, bildet den<br />
Hauptinhalt j e d e r Religion, <strong>und</strong> Religion im dogmatischsten Sinne ist j ed e autoritäre<br />
Lehre von der Staatsoberhoheit. Bezeichnend dafür, wie ausschließlich zweckdienlich die Religionen<br />
von den weltlichen Autoritäten zu Nutz <strong>und</strong> Frommen ihrer eigensten Interessen umgestaltet<br />
wurden, das zeigt uns der Japanei Tamenaga S c h u n s u i tot seit 1342 — in<br />
seinem Nationalroman „Treue Uber alles", in dem eine Verherrlichung der Vasallentreuc geboten<br />
wird, Treue gegen den Herrn, den angeborenen, wie den auserkorenen, ist nach der<br />
von den Japanern schon früh übernommenen Ethik des chinesischen Lehrers Confuzius die<br />
eine der fünf Tugenden, die der Mensch vor allen anderen zu üben verpflichtet sei. Diese<br />
Treue gebietet nicht nur u n b e d i n g t e n G e h o r s a m , s o n d e r n a u c h f r e u d i g e H i n -<br />
g a b e d e s e i g e n e n L e b e n s u n d d e s L e b e n s a l l e r G l i e d e r d e r e i g e n e n F a m i l i e<br />
im D i e n s t d e s H e r r n . Hier haben wir den philosophischen Gr<strong>und</strong>stein der Autoritätslehre<br />
vor uns, gleich, unverändert geblieben bis auf den heutigen Tag. Selbstverständlich schließt<br />
der unbedingte Gehorsam jede Widerrede aus. So heißt es auch : „Die T a t ist stumm, der<br />
Gehorsam blind!" Und wie nun, wenn der Herr eine Tat verlangt, die den Geboten der<br />
Moral <strong>und</strong> der Vernunft widerspricht? In diesem Dilemma, so lehrt uns die obige Autoritätsdoktrin,<br />
gibt es für den Diener nur e i n e n Ausweg: er muß s i c h selbst e n t l e i b e n !<br />
Sein stummer M<strong>und</strong> mochte dann den Herrn veranlassen, Uber das Unsittliche oder Törichte<br />
seines Ansinnens nachzudenken. Die japanische Geschichte ist reich an ergreifenden Beispielen<br />
dieser sklavischen Unterwürfigkeit <strong>und</strong> Treue.<br />
Trieben erfüllten M a s s e oder Volksmenge, angestachelt von den aus kühler<br />
Berechnung im Hintergr<strong>und</strong>e wirkenden sozialpolitischen Mächten, wider ein<br />
schwächeres Volk oder eine schwächere Herrschaftssippe. Somit d.rklariert<br />
sich der Krieg selbst als die Vergewaltigung des offenk<strong>und</strong>ig Schwächeren;<br />
der Krieg ist also die große sozialpolitische Feigheit des Staates.<br />
Gehen wir nun über zur Betrachtung des Militärismus, wie er heute<br />
ist, sich herausschälte während der letzten zwei Jahrh<strong>und</strong>erte, denn er ist in<br />
seiner modernen Form nicht viel älter.<br />
Thibaudeau teilt uns folgenden Ausruf Napoleons mit, den dieser<br />
während der Beratungen des Staatsrates machte: „Die Konskription ist das<br />
abscheulichste <strong>und</strong> für die Familien hassenswerteste Gesetz, o b s c h o n es<br />
l e i d e r n ö t i g i s t f ü r d i e S i c h e r h e i t d e s S t a a t e s " . Diese Sicherheit<br />
des Staates, die sich um das Abscheuerregende <strong>und</strong> Hassenswürdige also nicht<br />
bekümmert, sondern ruhig ihren gemein-egoistischen Selbstzweck verfolgt,<br />
können wir in der ganzen Entwicklungsgeschichte der letzten zwei Jahrh<strong>und</strong>erte<br />
des Militarismus beobachten. Es ist die Geschichte der Groß-<br />
Staaten, die Geschichte der Allianz der Staaten wider, besonders im letzten<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert, das aufstrebende Bürgertum <strong>und</strong> Proletariat, eine Geschichte,<br />
deren historische Prozesse sich nur vollziehen können auf Gr<strong>und</strong>lage der<br />
Errichtung einer" immer stärkeren, immer konzentrierteren Militärmacht,<br />
welche nachgerade eine solch' polypenartige Aussaugung <strong>und</strong> Umfangung<br />
der Menschheit erreicht hat, daß sie jährlich r<strong>und</strong> 6 Milliarden Kronen zur<br />
Aufrechterhaltung ihrer militaristisch-maritimen Kräfte aus eben dieser<br />
Menschheit schlagen kann.<br />
H e u t e haben die Völker die Zechen der Kriege zu bezahlen, <strong>und</strong><br />
deshalb führt ein jeder Krieg in seinen Folgeerscheinungen einen größeren<br />
Druck <strong>und</strong> eine noch größere Steuerbelastung für die unglücklichen Volksmassen<br />
mit sich.<br />
Der moderne Militarismus ist hervorgegangen aus dem Volksheer, der<br />
sogenannten Bürgerwehr <strong>und</strong> dem Söldner- <strong>und</strong> Landsknechtwesen. Die<br />
letzteren waren die verachtetsten Volkskreise, aus ihnen rekrutierte sich der<br />
Ruhm des mittelalterlichen Krieges. Es gibt mehrfache Unterschiede zwischen<br />
dem Militarismus des Altertums, sagen wir z. B. Athens, jenem des Mittelalters<br />
<strong>und</strong> der Neuzeit. Vor allem ist das Volksheer eine demokratische Einrichtung,<br />
eben dadurch, daß ihm die e i n e , alles überragende Persönlichkeit<br />
des allein maßgebenden Tyrannen mangelt, der ausschließlich entscheidend<br />
ist über Krieg oder Frieden. Das Volksheer des Altertums, auch die Bürgerwehr<br />
des Mittelalters waren unzweifelhaft demokratische Verteidigungs- <strong>und</strong><br />
Angriffsmilitarismen, indem die Kämpfenden, besonders im Altertum, wirklich<br />
i h r e e i g e n e n , materiell-persönlichen Interessen zu verteidigen hatten<br />
oder zu fördern suchten. Sonst aber — <strong>und</strong> das muß ganz entschieden betont<br />
werden — ist das Volksheer (auch M i l i z genannt) e i n e g e n a u s o<br />
u n t e r j o c h e n d e , k u l t u r f e i n d l i c h e , a l l e S c h ä d e n d e s mod<br />
e r n e n M i l i t a r i s m u s , d e s s t e h e n d e n H e e r e s , d a r w e i s e n -<br />
de M a c h t , wie dieser selbst. Denn — <strong>und</strong> es ist ein Akt der Ehrlichkeit,<br />
den wir durch diese Entlarvung vollziehen! —, in Wahrheit besteht, wie<br />
oben ersichtlich, nur ein F o r m unterschied zwischen dem Volksheer <strong>und</strong><br />
dem modernen stehenden Heer. Dort, wo das letztere den e i n e n Maßgeblichen<br />
hat, befindet sich beim Volksheer allerdings n i c h t e i n e Persönlichkeit,<br />
sondern eine s t a a t l i c h e K ö r p e r s c h a f t v o n P e r s o n -<br />
l i c h k e i t e n . Es läuft auf dasselbe hinaus, denn der Bestand der Macht<br />
<strong>und</strong> der Waffenrüstung <strong>und</strong> der verallgemeinerten kriegerischen Erziehung<br />
allein sind schon ganz genügend, um ein Volk sehr kriegerisch werden zu<br />
lassen, w a s im gegebenen Falle dann vom Staat, dem Repräsentanten der<br />
Besitzinteressen, ausgenützt wird. Weitere bedeutende Unterschiede existieren<br />
zwischen dem Volksheer <strong>und</strong> dem stehenden Heer nicht. Wir sprechen hier<br />
stets vom Volksheer innerhalb der Monarchie oder Republik. Bezeichnend<br />
für die Kurzsichtigkeit der Sozialdemokratie in ihrem lächerlichen Enthusiasmus<br />
für das Volksheer ist allerdings, daß der moderne Militarismus entwicklungsgemäß<br />
-aus jenem hervorging, solches ganz logisch geschehen<br />
mußte, da ihm mit der Zunahme der staatlichen Zentralisation <strong>und</strong> ihrer<br />
Machtsphären einfach ein Kopf geboten wurde. Das stehende Heer des modernen<br />
Militarismus ist eigentlich nur das mit dem Haupte des Despotismus<br />
versehene Volksheer.<br />
B i s ins 17. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein brachten die Fürsten <strong>und</strong> überhaupt<br />
Herrschenden allein die Kosten der Kriege auf. Wollten sie nicht tiefer in<br />
den eigenen Säckel greifen, so verlegten sie sich eben auf das Plündern.<br />
Doch noch war der Krieg i h r e S a c h e <strong>und</strong> wurde um ihretwillen geführt<br />
<strong>und</strong> für die Führung hatten sie dem Bürgertum <strong>und</strong> den Söldnern gut zu<br />
zahlen. Man besaß noch nicht jene entsetzliche Ironie, 'in d i e s e n Dingen<br />
mit dem Volke k o m m u n i s t i s c h zu verfahren <strong>und</strong> es g e s e t z m ä ß i g<br />
zu verfügen, daß das Volk alle die Kosten bestreiten müsse, die ein Krieg<br />
verursacht. Erst die Neuzeit trat in dieser Hinsicht bahnbrechend auf. Und<br />
es war — schon damals eine düstere Vorbedeutung, ein b ö s e s Omen für<br />
die Rolle, die dieser Name in den zukünftigen Geschicken der Völker von<br />
ganz Europa spielen sollte — ein P r e u ß e n , das es sich zuerst leisten<br />
konnte, dieses Tartuffeprinzip, diese diabolische Methode, die das Leben der<br />
Völker <strong>und</strong> deren Gut <strong>und</strong> Eigentum für die Interessen der Machthaber involviert,<br />
einzuführen <strong>und</strong> zur Anwendung zu bringen. Es wird behauptet,<br />
daß Preußen in seinem Vorgehen ein edles, würdiges Vorbild in d e r<br />
T ü r k e i besaß, deren riesige Janitscharenkaserne zu Konstantinopel anspornend<br />
wirkte. Somit können wir zu den Ahnen des europäischen Militarismus<br />
sehr wohl einen solchen von asiatischer Abkunft hinzuzählen. —<br />
„ D a s G e s e t z d e s R e c h t e s a u f a l l g e m e i n e V e r g e w a l -<br />
t i g u n g " , wie der passendste Ausspruch eines bekannten Denkers die moderne<br />
Institution des Militarismus, seinen allgemeinen Dienst z w a n g , nannte,<br />
ist eine Schändung jedes ethischen <strong>und</strong> humanen Prinzips der Menschheit.<br />
Der Militarismus besitzt keinerlei rationelle Verteidigungs- <strong>und</strong> Begründungsargumente,<br />
er ist dasjenige Verbrechen der Gewaltsausübung im Großen,<br />
das uns im Kleinen als verachtungswürdig <strong>und</strong> hassenswert erscheint, das<br />
wir aber lernen müssen, auch im Großen zu bekämpfen. Kein Geringerer<br />
als Häckel hat dies ausgeführt: Junge, blühende, kräftige Männer werden, sobald<br />
sie eine gewisse Altersstufe erreicht haben, aus ihren Familien gerissen<br />
<strong>und</strong> einem Zustande willenlosester, demütigendster Unterwerfung überantwortet.<br />
Diesen Zustand nennt man Militarismus. Es wird den Menschen gezeigt,<br />
wie sie ihre Mitmenschen töten <strong>und</strong> morden können, man weist ihnen<br />
die Methoden der Zerstörung dessen, was man als die Früchte produktiver<br />
Arbeit bezeichnen kann, man lehrt sie, die Verwüstung blühender Landstrecken,<br />
die Vernichtung des Glückes von ungezählten Tausenden von Familien<br />
als eine kaltblütig hinzunehmende Selbstverständlichkeit zu betrachten,<br />
die ihre Motivierung <strong>und</strong> Apologie in dem Wörtchen „Krieg" findet. Aus<br />
Menschen werden so reißende Bestien für einen Kriegsfall gemacht, zu<br />
Friedenszeiten werden sie zu solchem Tun abgerichtet, <strong>und</strong> der Soldat darf<br />
sich nie weigern, eine ihm sittlich als schändlichste T a t geltende H a n d -<br />
l u n g zu begehen. Von dem Momente an, wo er dies täte, wäre er ein<br />
s c h l e c h t e r Soldat, <strong>und</strong> es ist Tatsache, daß das System des Waffendrilles<br />
es so weit gebracht hat, daß Millionen von Menschen an einer eigentümlichen<br />
Krankheit leiden: man nennt sie Willen- <strong>und</strong> Urteilslosigkeit;<br />
<strong>und</strong> alle diese Millionen sind k e i n e schlechten, sondern g u t e Soldaten.<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur Joh. Poddany (Wien). — Druck von Karl lsda in Wien.<br />
Fortsetzung folgt.
An das arbeitende Volk, an die revolutionären Sozialisten!<br />
Die St<strong>und</strong>e der Landtagswahl rückt heran. Von allen Parteien, auch von den sogenannt sozialistischen» getäuscht <strong>und</strong><br />
betrogen, ein Opfer des unsäglich erbärmlichen, fieberhaften Mandatenfanges aller Parteien, ist es in diesem letzten Augenblicke<br />
unsere Pflicht, euch Allen, die ihr arbeitet, ausgebeutet <strong>und</strong> unterdrückt seid, die Situation möglichst klar vor Augen zu führen, euch<br />
zu beweisen, daß ihr, soweit ihr irgend welchen Kandidaten sämtlicher Parteien Glauben, euer Vertrauen schenket, ihr v o n ihnen<br />
getäuscht werdet.<br />
Eure Lage ist schlecht. Die Proletarier Österreichs haben seit über einem Jahrzehnt ihre Lage nicht nur nicht verbessert,<br />
sondern eine Arbeiterbewegung aufgebaut, die alles andere ist als eine soziale Kampfesbewegung <strong>und</strong> keinerlei Möglichkeit für die<br />
Aktion der Selbsthilfe bietet. Sie ist mit Mühe <strong>und</strong> Not errichtet worden, beruht aber heute vollkommen auf dem System der Vertretung.<br />
Die Führer, die Politiker auf gewerkschaftlichem wie sozialpolitischem Gebiete sind es, die allein aus dieser «Arbeiterbewegung»<br />
ihren Vorteil ziehen; die breiten Massen haben keinen Vorteil von ihr, diejenigen kleinen <strong>und</strong> kleinlichen «Versicherungen-, die sie<br />
ihnen bietet, sind auch durch rein bürgerliche Versicherungsinstitute zu gewährleisten.<br />
Und wie ist die soziale Situation überhaupt? Schritt für Schritt hat die Regierung durch die Gewährung sogenannter<br />
politischer Scheinrechte, die Ausbeutungsmöglichkeiten der Massen erhöht, die Besteuerungsschraube indirekt potenziert angesetzt.<br />
Hohe Lebensmittelpreise für schlechte Produkte, eine riesige Miete für Wohnungslöcher- <strong>und</strong> Höhlen, einen im Vergleiche damit<br />
positiv gesunkenen Lohn <strong>und</strong> eine verminderte Kaufkraft des Geldes das ist das Resultat der letzten zehn J a h r e österreichischer<br />
Sozialpolitik <strong>und</strong> E l e n d s l a g e des Volkes, dies sind unsere Zustände.<br />
Dabei haben wir einen riesenhaft angewachsenen Militarismus, ein riesig angewachsenes Heer von parlamentarischen<br />
Diäten- also Rentenbeziehern, eine ungeheuer vergrößerte Bürokratenschichte, kurz sämtliche Stützen <strong>und</strong> Funktionsorganismen des<br />
heutigen Systems, von der Spitze der Pyramide an bis hinab zu den kleineren Beamten, sie alle sind kolossal angewachsen, profitieren<br />
riesig durch die vermehrte Ausbeutung der Arbeitenden.<br />
Das System der Ausbeutung <strong>und</strong> Herrschaft hat sich eine stärkere Gr<strong>und</strong>lage um die andere angeschafft; die ausgebeuteten<br />
<strong>und</strong> beherrschten, also unterdrückten Volksmassen werden gräßlich übervorteilt; das Massenelend, die Arbeitslosigkeit, der Jammer<br />
des Daseins haben sich vermehrt; ihnen, den Armen, ist ein Halt nach dem anderen entrissen worden.<br />
Um diesen Zuständen zu steuern, gibt es für das Gesamtvolk nur ein einziges, untrügliches Mittel: diese Zustände müssen<br />
vollkommen, von Gr<strong>und</strong> auf g e ä n d e r t w e r d e n , die bestehenden Gr<strong>und</strong>lagen unseres Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialsystems müssen<br />
aufgehoben <strong>und</strong> durch wirklich gerechte, durch wirklich freie ersetzt werden. Sie sind nur gelegen im Gesellschaftszustand der<br />
menschlichen Freiheit <strong>und</strong> Solidarität, in der Abwesenheit jeder staatlichen Bedrückung <strong>und</strong> ökonomischen Lohnsklaverei: im k o m m u -<br />
nistischen A n a r c h i s m u s , a l s o der Vollreife des sozialistischen Gedankens.<br />
Zu diesem Zwecke wurde die österreichische Arbeiterbewegung begründet. Welchem Zweck steuert sie heute zu? Keinem<br />
revolutionären, keinem sozialistischen, keinem freiheitlichen; mehr <strong>und</strong> mehr verknöcherte sie zu einer parlamentarischen Trugspielerei,<br />
die H<strong>und</strong>erttausende von Kronen zwecklos vergeudet <strong>und</strong> verschlingt; mehr <strong>und</strong> mehr ward sie eine Bewegung ehrgeiziger Streber,<br />
die den Kampf ums bittere Gegenwartsdasein <strong>und</strong> eine freie Zukunft umzuwandeln verstanden in eine Lebenshaltung der gesicherten<br />
Existenz <strong>und</strong> wohlbezahlter, politischer Posten — für sie <strong>und</strong> sich.<br />
Wenn die bürgerlichen Parteien — sämtliche 33 Parteien in allen Kronländern, von den Christlichsozialen <strong>und</strong> Deutschnationalen<br />
an bis zu den unverhülltesten Klassengegnern des Proletariats oder kleinsten Parteien — , wenn sie alle dem Volke in der<br />
gegenwärtigen Wahlperiode das Blaue vom Himmel versprechen, so wissen die denkenden Menschen unseres Volkes, die leidenden<br />
Kameraden <strong>und</strong> Brüder im Proletariat, was von ihnen zu halten. W i r wissen, daß sie s a m t <strong>und</strong> s o n d e r s offene B o u r g e o i s -<br />
parteien sind, deren einzige Aufgabe darin besteht, die heutige Klassengesellschaft aufrecht zu erhalten <strong>und</strong> zu stützen. Sie sind<br />
im Einklang mit dem Kapitalismus der herrschenden Rücksichtslosigkeit, sind seine Vollstrecker, <strong>und</strong> für sie ist die Landtagswahl,<br />
wie der Parlamentarismus überhaupt, ein Geschäft, dessen Profit sie machen <strong>und</strong> nichts weiter. Alle ihre Versprechungen sind eitel<br />
Lügen <strong>und</strong> Stimmenfang, denn sie wissen, daß der Landtag nichts für das Volk leisten kann, was tatsächlich ein Fortschritt über<br />
die heutige Gesellschaft hinaus wäre; <strong>und</strong> nur dann, wenn sie aufrichtig gestehen würden, daß der Landtag höchstens in seiner<br />
Majorität ein Almosen-Unterstützungs- <strong>und</strong> Wohltatigkeitsgebaren dem Volke zu geben vermag, n a c h d e m er die dafür erforderlichen<br />
Mittel durch weitere Steuern aus dem Volke gepreßt, dann sprächen sie die Wahrheit.<br />
Schließlich ist dies auch die einzige F ü r s o r g e , deren das bestehende Gesellschaftssystem fähig. Alle diejenigen, die diese<br />
Fürsorge anerkennen, sie selbst <strong>und</strong> mitausüben wollen, sind Stützen der bestehenden Ausbeutung <strong>und</strong> Unterdrückung, zwecks deren<br />
scheinbarer Linderung sie ja ureigentlich besteht, diese «wohltätige Fürsorge für die besondere Rückwirkung auf das Wohl des Landes».<br />
Etwas ganz anderes ist es, wennii sich Sozialdemokraten an einer solchen Wahl beteiligen. Wir kommen nun zur Besprechung<br />
der letzten Partei, die wir haben, der 34., <strong>und</strong> wir fordern euch, Arbeiter, auf, a u c h ihr den R ü c k e n zu kehren, wie<br />
sämtlichen a n d e r e n 33 Parteien.<br />
Und warum? Aus folgendem Gr<strong>und</strong>e: Während alle anderen Parteien kapitalistische Parteien <strong>und</strong> Interessenvertretungen<br />
sind, ihr, Proletarier, also nichts mit ihnen zu tun haben könnt, ist die letztgenannte Partei, die Sozialdemokratie, die Partei des<br />
Volksbetruges, der sich annähernd ebenbürtig in dieser edlen Kunst nur die Christlichsozialen zur Seite stellen können. Ihr verlangt<br />
die Beweise, hier sind sie.<br />
Angeblich sind Sozialdemokraten auch Sozialisten. In dem wüsten, mit allseitig schwindelhaften Argumenten geführten<br />
Wahlkampf um Mandate, hört ihr freilich nichts davon. Per Begriff Sozialismus wird vollständig verdeckt, der Begriff revolutionärer<br />
Erziehung des Proletariats hat keinen Raum in dieser «Aufklärung» des Stimmviehs, das Endziel unseres sozialistischen Kampfes ist<br />
noch von keinem sozialdemokratischen Kandidaten auch nur ein einziges Mal betont worden.<br />
Aber dies wäre noch lange nicht das Ärgste. Dies beweist bloß, daß die W a h l e n keine Agitation für den Sozialismus<br />
bedeuten, s o n d e r n nur einen Z w e c k für das ehrgeizige Streber- <strong>und</strong> Politikertum aller P a r t e i e n haben.<br />
Etwas anderes ist wichtiger, es straff die Versprechungen dieser Partei — der Sozialdemokratie — Lügen. Sie versprechen,<br />
falls gewählt <strong>und</strong> falls das Unmögliche für den Augenblick als möglich angenommen — sie die Majorität erhielten, eure Verhältnisse<br />
zu verbessern, eure Lage zu heben, kurz den Landtag zu einem sozialen Werkzeug für die Volksbedürfnisse umzugestalten.<br />
Dies ist nichts a n d e r e s als eine direkte Spekulation auf die politische Unkenntnis des P r o l e t a r i a t s <strong>und</strong> des Volkes<br />
im allgemeinen. Die Wahrheit ist nämlich die: Es gibt keine Partei, die, selbst wenn sie die Majorität hätte, im Landtag anders<br />
wirken könnte, als es bisher laut den österreichischen Verfassungsgesetzen geschah, also als Stützpfosten des Kapitalismus, als ordnende<br />
Sachwalter der staatlichen Autorität im Interesse des bestehenden Staatssystems.
Eine solche Betätigung ist sehr wohl im Einklang mit den Prinzipien fettgemästeter Bourgeois, Kapitalisten <strong>und</strong> Herrscher<br />
aller Grade; ist jedoch der direkte Verrat an den Prinzipien einer sozialistischen Bewegung, die die b e s t e h e n d e n Verhältnisse<br />
aufzuheben, nicht a b e r auszubauen hat. Solange die reichsdeutsche Sozialdemokratie auch nur den Schein revolutionärer Gesinnung<br />
bewahrte, verwarf sie aus diesem Gr<strong>und</strong>e die Beteiligung an den Landtagswahlen auf das entschiedenste. Revolutionäre<br />
Sozialisten haben nichts in den Gemeinde- <strong>und</strong> Nachtwächterstuben, in den Kirchen- <strong>und</strong> Schulangelegenheiten, in den Vorspannsleistungen,<br />
mit Verpflegungs- <strong>und</strong> Einquartierungsangelegenheiten des Heeres u. dgl., Polizei- <strong>und</strong> Justiz<strong>und</strong>ingen mehr zu tun. Revolutionäre<br />
Sozialisten wissen, daß die sogenannte Autonomie der Wirkungskreise des Landtages ein Märchen ist, daß dieser völlig<br />
unter der leitenden Kontrolle der Zentralherrschaft steht. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e bekämpft der revolutionäre Sozialist alle diese Institutionen;<br />
er weiß, daß, soweit sie der Ausbeutung, dem Religionswahn <strong>und</strong> dem Patriotismus — wie die staatliche Schule•-- dienlich,<br />
sie das bourgeoise System ganz allein besorgt, daß eine Beteiligung an ihnen es verhindert, a u ß e r h a l b der Institutionen des<br />
B e s t e h e n d e n die neuen Organisationen des Sozialismus <strong>und</strong> der neuen Zukunftsgesellschaft sich zu erkämpfen <strong>und</strong> zu erbauen;<br />
wie es z. B. die französischen Gewerkschaften tun, die nun darangehen, den staatlichen Schulen ihre Kinder zu entziehen <strong>und</strong> sie<br />
in eigene, auf sozialistischen Gr<strong>und</strong>sätzen errichteten Schulen zu senden.<br />
«Eure Kritik ist ganz richtig, sie ist wahrheitsgemäß. Aber ihr vergeßt ganz, daß auch die Sozialdemokraten den Landtag<br />
kritisieren <strong>und</strong> mit seinen Leistungen unzufrieden sind. Doch gerade deshalb müssen wir eigens gewählte Vertreter im Landtagsparlament<br />
haben, damit sie die Dinge von dort aus verbessern!»<br />
So entgegnet man uns. Und hier beginnt eben der Volksbetrug, den die Sozialdemokraten mit den Volksmassen treiben.<br />
Sie reden ihnen ein, daß sie, wenn in genügender Anzahl gewählt, mehr tun könnten oder würden, als irgend eine andere Partei.<br />
Das ist es g e r a d e , w a s wir den Volksbetrug der S o z i a l d e m o k r a t i e nennen.<br />
Die Sozialdemokraten wissen, daß ebenso wie jede Gesetzesabstimmung im Reichsrat dem Veto des Herrenhauses unterliegt,<br />
auch der Landtag keinerlei selbständige exekutive Verfügungsmacht besitzt. Der Wirkungskreis des Landtages ist wie folgt<br />
eingeschränkt, existiert also als selbständige Funktionsmöglichkeit überhaupt nicht:<br />
Die zu beschließenden Gesetze in Landesangelegenheiten gelangen als Regierungsvorlagen vor den Landtag. Jedoch hat auch<br />
der Landtag das Recht, Gesetze in Landesangelegenheiten vorzuschlagen. Die Gesetze erhalten durch die Zustimmung des Landtages<br />
<strong>und</strong> die kaiserliche Genehmigung Kraft. Der Kaiser kann einem jeden vom Landtage beschlossenen Gesetze die Zustimmung verweigern.<br />
Die kaiserliche Zustimmung zu einem vom Landtag beschlossenen Gesetze erfolgt Über A n t r a g des Ministerpräsidenten (der bekanntlich<br />
vom Kaiser ernannt <strong>und</strong> entlassen wird). Es steht dem Ministerpräsidenten frei, ein solches Gesetz zur kaiserlichen Sanktion zu<br />
beantragen oder nicht. Sämtliche Gesetze, die die kaiserliche Sanktion nicht erhalten haben, können in derselben Session nicht wieder<br />
in Behandlung gezogen werden.<br />
Erkennt ihr nun, Proletarier, wie sehr es direkt unmöglich ist, auch nur das Geringste in eurem revolutionär-sozialistischen<br />
Interesse im Landtag zu unternehmen? Begreift ihr noch nicht, weshalb die Herren Parlamentarier euch alle die Rosinenversprechungen<br />
machen? Sie wollen gewählt werden, weil dies für Sie allerdings von eminentem Geldinteresse ist. Besonders wichtig ist jener Passus<br />
des Oktober-Diplomes, der den Wirkungskreis für die Landtage bestimmt <strong>und</strong> der davon handelt, daß der Ministerpräsident ganz<br />
nach eigenem Belieben ein Gesetz der kaiserlichen Sanktion unterbreiten mag oder nicht!<br />
Wer dem Proletariat unerfüllbare Versprechungen macht, wer den Wählermassen die Lüge vorplärrt, er werde, wenn gewählt,<br />
durch die bloße Majoritätsabstimmung die Lebenslage des Volkes im Gegensatz zu den Interessen der Besitzenden verbessern, ist ein<br />
Demagoge; ein solcher ist aber stets ein bewußter Volksbetrüger.<br />
Wir klagen die Sozialdemokratie des schleichenden Volksbetruges an; eben weil sie vorgibt, k e i n e Bourgeoispartei, von<br />
der ja nichts anderes zu erwarten, sondern eine Volks- <strong>und</strong> Arbeiterpartei zu sein. Nicht nur, daß sie den Sozialismus verrät — man<br />
denke: Sozialdemokraten, die doch wohl wenigstens Republikaner sein sollen, geloben (<strong>und</strong> nur wegen der Diäten!) beim Eintritt<br />
in den L a n d t a g dem L a n d m a r s c h a l l laut Gesetz, d e m Kaiser T r e u e <strong>und</strong> G e h o r s a m , B e o b a c h t u n g der Gesetze <strong>und</strong><br />
gewissenhafte Erfüllung ihrer Pflichten als L a n d t a g s w ü r d e n t r ä g e r zu b e w a h r e n ! —, sie täuscht das arme, gedrückte <strong>und</strong><br />
elende Volk über den Kampfesweg, den es zu beschreiten hat, um tatsächlich seine Lage zu verbessern.<br />
Dieser wirkliche W e g ist nicht die Schaffung von Diätenposten für A b g e o r d n e t e . Dieser wirkliche W e g ist<br />
der W e g des sozialen Klassenkampfes, der sozialen Selbsthilfe durch die P r o l e t a r i e r <strong>und</strong> die sich mit ihm verb<br />
ü n d e n d e n Volkselemente.<br />
Ihr wollt bessere Lebens- <strong>und</strong> Arbeitsbedingungen? Laßt euch nicht niederschießen für eure galizischen Landtagsstreber,<br />
sondern erringt lieber durch den sozialen Generalstreik den Achtst<strong>und</strong>entag <strong>und</strong> einen Minimallohn von wenigstens 10 Kronen<br />
täglich! — Ihr klagt über Lebensmittelteuerung, Milchverteuerung etc.? Schafft euch Einkaufsgenossenschaften, die nicht Geschäfts<strong>und</strong><br />
Angestellten-, sondern wirklichen sozialistischen Zwecken dienen. Verlangt von euren Reichsratsabgeordneten die h<strong>und</strong>erttausende<br />
Kronen zurück, die ihr zu den diversen Wahlfonds beigesteuert habt; kauft damit H<strong>und</strong>erte von Kühen <strong>und</strong> errichtet auf dem Lande<br />
sozialistische Molkereien. (Beiläufig bemerkt: ohne Diäten werden eure Abgeordneten das Parlamentspiel sehr bald von selbst satt<br />
bekommen <strong>und</strong> euch die Wahrheit über seine Nutzlosigkeit sagen!) — Ihr wollt anständige Wohnungen <strong>und</strong> niedere Mieten haben?<br />
Gründet eure eigenen Baugenossenschaften <strong>und</strong> ländlichen Ansiedlungen; lernt von den Arbeitern Neapels, die durch einen Mieterstreik<br />
die Miete um 20 Prozent reduzierten! — Man verspricht euch, eure Kinder, die sonst hungrig in die Schule gehen, mit Suppen<br />
abzufüttern? Spuckt jenen, die euch dies sagen, verachtend ins Gesicht <strong>und</strong> sagt: Wir wollen für einen solchen Arbeitslohn kämpfen,<br />
auf daß wir unseren Kindern in unseren Wohnungen zu essen geben können, eurer erbärmlichen »Wohltätigkeit« (mit unseren<br />
eigenen Steuern) nicht bedürfen! — Ihr wollt, ihr wollt . . . Alles, was ihr wollt (<strong>und</strong> eure Wünsche sind so gottesjämmerlich bescheiden!),<br />
könnt ihr, Arbeiter, durch plangemäße, zielbewußte Kampfesorganisation euch a u ß e r p a r l a m e n t a r i s c h wohl erkämpfen,<br />
dieweil ihr durch den Landtag stets genarrt, gedehmütigt <strong>und</strong> als Bettler, denen man Almosen gibt, behandelt sein werdet. Nicht für<br />
euch stimmt ihr in der Wahl eurer Kandidaten, sondern für ihre Interessen tut ihr es; ihr setzt euch selbst Herren auf den Nacken,<br />
die dadurch üppig leben können <strong>und</strong> bittet von ihnen, sie mögen euch helfen. Ist dies männlich? Ist das sozialistisch? Ist dies<br />
logisch? Seid keine vertrauensselige Stimmviehherde, vertraut keinen Führern, die euch billige Versprechungen machen; vertrauet euch<br />
selbst, vertrauet eurem Kampfe für euer Recht, für Gerechtigkeit <strong>und</strong> vollständige Befreiung.<br />
Denn um diese handelt es s i c h ! Es handelt sich wohl auch um momentane Verbesserungen. Aber dann sind sie wirklich<br />
nur durch des Volkes eigene Kraft, nicht durch Politiker <strong>und</strong> Parlamente zu erzielen. Doch die Wahrheit ist die, daß alle augenblicklichen<br />
Verbesserungen im Rahmen des bestehenden Systems keinerlei d a u e r n d e n Wert haben können. Es gilt: die Gr<strong>und</strong>lage<br />
des bestehenden menschenschändenden Systems, die Institutionen des monopolisierten Privateigentums <strong>und</strong> der zentralisierten Staatsgewalt<br />
zu entfernen erst dann sind wir frei, erst dann ist der Sozialismus eine Möglichkeit.<br />
Niemals läßt sich dieser große historische Schritt aus dem Reiche der Sklaverei <strong>und</strong> Ausbeutung in die freie Gemeinschaft<br />
solidarisch verbrüderter Menschen auf dem <strong>Weg</strong>e der Gesetzgebung vollziehen. Niemals! Die Herrschenden wären Toren <strong>und</strong> Verblendete,<br />
wenn sie sich sozial meucheln ließen; <strong>und</strong> sie sind keine Toren, sie sind weitsichtiger <strong>und</strong> klassenbewußter, als es das<br />
Proletariat bis heute ist.<br />
Nur durch ein einziges Mittel ist es möglich, den Bau der sozialen Lohnsklaverei <strong>und</strong> des Unterdrückungszwanges lahmzulegen:<br />
durch die sozialistisch prinzipielle Aufklärungsaktion <strong>und</strong> durch die von ihr erfüllte direkte A k t i o n der Selbsthilfe, die mittels<br />
der dynamischen Kraft des Massenwillens die bestehenden Verhältnisse laut ihren geistigen <strong>Ziel</strong>en, ihren sozialistischen Idealen umgestaltet!<br />
Massenorganisation auf föderalistischer Gr<strong>und</strong>lage; unaufhörliche soziale Kampfesaktion zur Erringung von augenblicklichen<br />
<strong>und</strong> durch diese weiteren Zwecken; revolutionär sozialistische Prinzipienpropaganda <strong>und</strong> dementsprechende Lebensführung der Propagandisten;<br />
ununterbrochene Begeisterung der Kämpfermassen für wirklich sozialistische Aktionen, tatsächliche Wirtschaftlich« Verbesserungen;<br />
kurzum: Generalstreik für soziale Lebensfragen der Gegenwart; direkte Aktion des Proletariats an Stelle der indirekten<br />
Vertreter* <strong>und</strong> Schachermisere der Gegenwart; Ausbau sozialistischer Lebensgemeinschaften im Gegensatz zu den Gr<strong>und</strong>prinzipien der bestehenden<br />
Weltordnung -- dies, Proletarier, sei eure Gegenwartsaktion, sie ist es, die euch nottut, nur dies allein wird uns geleiten zur<br />
großen Befreiungsperiode der beschleunigten Entwicklung: z u r sozialen Revolution!<br />
Arbeiter, Volksgenossen, Sozialisten, die ihr diese Zeilen leset: entwürdigt euch nicht zum Stimmvieh! Die obigen Ausführungen<br />
sind Wort für Wort unbestreitbare Tatsachen. Und deshalb appellieren wir an euch, beweist euren revolutionären Sinn,<br />
indem ihr jedes Vertreter-(<strong>und</strong> Zertreter-)system für euch über Bord werfet <strong>und</strong> gemeinsam sagt:<br />
Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk dieser Klasse selbst sein! Wer dies <strong>und</strong> unsere obigen Darlegungen<br />
begriffen hat, der weiß, was er zu tun. Er stimmt gegen alle Kandidaten, diese Reinschmeißer« des politischen Geschäftes, <strong>und</strong> für<br />
deren Wohlergehen die Regierung durch den Wahlzwang liebreich sorgt, gegen alle Parteien <strong>und</strong> sein Motto lautet:<br />
Gegen alle politischen Streberkliquen, gegen jeden Volksbetrug! A u f , für den wahren Kampf um den Sozialismus,<br />
für Gleichheit <strong>und</strong> Freiheit!<br />
Die Anarchisten Wiens.
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Auf Agitation.<br />
(Fortsetzung.)<br />
In Bruch selbst haben wir eine vorzügliche<br />
tschechische anarchistische Bewegung. Man stelle<br />
sich nur vor, daß dieses Landstädtchen z w e i anarchistische<br />
Lesehallen, zwei Einkaufsgenossenschaften,<br />
die in Streikzeiten Waren unentgeltlich an die Arbeiter<br />
abzugeben haben, eine Bäckerproduktivgenossenschaft<br />
hat. Die einzelnen Organisationen<br />
führen ein hohes geistiges Leben <strong>und</strong> versammeln<br />
sich wöchentlich einmal zur Abwicklung der Geschäftsangelegenheiten,<br />
weit öfter zwecks Propaganda.<br />
Direkte Aktion als Klassenkampfmittel der<br />
ökonomischen Befreiung, Antimilitarismus als Anti-<br />
Staatlichkeit <strong>und</strong> dabei ein konstruktives Gegenwartsbauen<br />
<strong>und</strong> -Streben für die Zukunft, durch<br />
Begründung sozialistischer Produktivvereinigungen<br />
ihren sozialen Machtboden zu erweitern - dies<br />
fand ich unter diesen Kohlengräbern. W a s die S o -<br />
zialdemokraten Nordböhmens anbelangt, spielen sie<br />
hier gar keine Rolle; ich habe zu ihnen gesprochen<br />
<strong>und</strong> als bemerkenswertestes Zeichen die von keiner<br />
aufklärenden Propaganda berührte Unwissenheit<br />
ihres Geistes angetroffen. Es ist überhaupt merkwürdig:<br />
auf der einen Seite die anarchistischen<br />
Gewerkschafter, die sich in allen sozialen P r o b -<br />
lemen tüchtig auskennen, auf der anderen die s o -<br />
zialdemokratischen, die, während man ihnen das<br />
ABC des Sozialismus bietet, einen anstaunen, als<br />
ob man eine Art Messias wäre. „ D a s , was Sie<br />
uns sagen, haben wir noch nie gehört, das bieten<br />
uns unsere Führer nicht; von ihnen hört man immer die<br />
alte Leier", das waren die Worte vieler dieser ehrlichen,<br />
wenn auch mißbrauchten Arbeiter, Worte,<br />
die eine treffende Illustration zu der unerhörten<br />
Geistesverdummung bilden, die einerseits Christlichsoziale,<br />
anderseits Sozialdemokraten an diesen b e -<br />
dauernswürdigen Proletariern verüben, die aber in<br />
nicht allzulanger Zeit den richtigen Boden des<br />
Klassenkampfes finden werden.<br />
An zwei Kameraden denke ich besonders,<br />
wenn ich über Bruch schreibe. Es sind dies die G e -<br />
nossen Draxl <strong>und</strong> Scheffel, beide Kohlengräber, die<br />
in Frankreich unter weit besseren Lebensbedingungen<br />
arbeiteten, die es aber zurücktrieb nach Böhmen,<br />
um den prächtigen Zug der französischen Arbeiterbewegung<br />
dem tschechischen <strong>und</strong> deutschböhmischen<br />
Proletariat vorzuführen, nach hier zu verpflanzen.<br />
Und in Nordböhmen ist es ihnen in erfreulichem<br />
Maßstabe gelungen. Es sind zwei<br />
Kameraden, die man lieben <strong>und</strong> hochschätzen muß ;<br />
vorzügliche Propagandisten <strong>und</strong> von erstaunlich<br />
hohem Wissensgrad.<br />
Von Bruch fuhr ich nach Dux, wo ich die<br />
Kameraden Krampera <strong>und</strong> den alten Pionier Kasche<br />
als Redakteure der „Hornicky Listy" antraf. Sie<br />
arrangierten die ostböhmischen Versammlungen.<br />
Ich hatte hier Gelegenheit, in das Verwaltungsgetriebe<br />
der gesamten Bergarbeiterorganisation<br />
unserer Seite Einblick zu gewinnen. Es ist so, wie<br />
es unter Revolutionäre sein muß. Keiner der zwei<br />
angestellten Kameraden, die das Wochenblatt redigieren<br />
<strong>und</strong> expedieren, erhält als Lohn auch nur<br />
so viel, wie er im Schacht verdienen könnte, gerade<br />
genug, um das Notdürftigste zu bestreiten, so „hoch"<br />
ist ihre Entlohnung. Dabei glaube man nicht, ;daß<br />
hier aus der Not eine Tugend gemacht wird; die<br />
Kohlengräberföderationen haben hinreichend Geld,<br />
um höhere Löhne bezahlen zu können, wenn sie<br />
es nur wollten. Aber sie gehen von dem sehr richtigen<br />
Gr<strong>und</strong>satz aus, daß kein Funktionär irgend<br />
einer Arbeiterorganisation mehr verdienen dürfe, als<br />
die Arbeiter selbst, notabene: durch seine Beamtenstelle<br />
bei den Arbeitern. Nicht zuletzt hat gerade<br />
das Horrende der sozialdemokratischen Beamtenlohnskalen<br />
dazu beigetragen, daß die Sozialdemokratie<br />
<strong>und</strong> ihre Gewerkschaftsführer tatsächlich<br />
nichts als Bourgeois sind, die aus der Arbeiterbewegung<br />
ein gutes Geschäftchen machen. Man<br />
bedenke, daß fast alle Reichsratsabgeordneten auch<br />
Gewerkschafts- oder Krankenkassenbeamte sind <strong>und</strong><br />
ihr Einkommen sich monatlich auf r<strong>und</strong> 800 Kronen<br />
belauft man wird es dann begreifen, woher die<br />
Wut dieser Herren gegen revolutionäre Kampfesmethoden<br />
<strong>und</strong> Antiparlamentarismus.<br />
Von Dux aus fuhr ich nach Westböhmen, wo<br />
ich in Zieditz, Zwodau <strong>und</strong> Lanz bei Falkenau<br />
sprach. Hier bieten die Versammlungen wieder<br />
einige bemerkenswerte, festzuhaltende Erscheinungen.<br />
Ich befand mich im Herzen der sogenannten<br />
freisozialistischen Bewegung, <strong>und</strong> es ist notwendig,<br />
zur Orientierung unserer Kameraden, daß wir bei<br />
ihr etwas länger verweilen.<br />
Dort draußen, in diesen kleinen Talkesseln<br />
<strong>und</strong> Dorfansiedlungen am Rücken der sogenannten<br />
Randgebirge überhaupt, ist die Sozialdemokratie fast<br />
vollständig aufgerieben <strong>und</strong> die „freisozialistische"<br />
Bewegung maßgebend. Und ich stehe keineswegs<br />
an, gleich hinzuzufügen, daß hier unbedingt etwas<br />
geleistet wurde. Aber nur, insoferne sich diese Arbeiter<br />
über den Haß gegen die Sozialdemokratie<br />
h i n a u s zu wirklich braven Anhängern einer<br />
Geistesanschauung entwickelt haben, die tatsächlicher,<br />
freiheitlicher — also anarchistischer Sozialismus<br />
ist. In dieser Entwicklung sind sie von Simon<br />
Starck n i c h t gefördert worden, gerade das Gegenteil.<br />
Es ist nämlich eine spezifisch nur österreichische<br />
Möglichkeit, ein Ausfluß der in Österreich überhaupt<br />
grassierenden Unwissenheit über das Geschichtliche<br />
des Sozialismus, daß dasjenige, w a s in der ganzen<br />
übrigen Welt als gleichbedeutend mit anarchistischem<br />
Sozialismus gilt daß der „freiheitliche Sozialismus"<br />
h i e r gleichbedeutend mit B e r n s t e i n i a n i sm<br />
u s, respektive R e v i s i o n i s m u s in bürgerlichem<br />
Sinne ist. Freilich, nicht überall, aber doch meistenteils,<br />
wie man weiter unten sehen wird. Die Ausnahmen<br />
davon sind nicht das Verdienst der B e w e -<br />
gung, sondern rein individuelle, anerkennenswerte<br />
Verdienste.<br />
Simon Starcks Persönlichkeit, die ich nun<br />
zum ersten Mal kennen lernte, besitzt in Falkenau<br />
<strong>und</strong> Umgebung ein sicheres F<strong>und</strong>ament infolge<br />
zahlreicher persönlicher Beziehungen aus seiner<br />
Vergangenheit als Arbeiter. Leider, leider. Denn es<br />
ist kein heilsamer Einfluß, den dieser Mann auf<br />
diese durchwegs ehrlichen, wenn auch teilweise<br />
arg fanatisierten Elemente ausübt. Davon, daß er<br />
in Wien überhaupt keinerlei Rolle spielen kann <strong>und</strong><br />
hier von seinen ältesten Fre<strong>und</strong>en längst über Bord<br />
geworfen, davon wissen die Arbeiter in diesen entlegenen<br />
Bergtälern nichts. Sie sind nur höchst unzureichend<br />
über seine nachgewiesenen Annäherungsv<br />
e r s u c h e an die christlichsoziale Partei informiert.<br />
Diese Arbeiter sind in ihrer Lektüre meistenteils<br />
auf die „Freien Worte" angewiesen <strong>und</strong> wer<br />
die Qualität d i e s e s Blattes nicht kennt, kann sich<br />
schon dadurch ein zutreffendes Urteil darüber bilden,<br />
wenn ich ihn versichere, daß die Herren Adler,<br />
Austerlitz usw., sich schmunzelnd die Hände reiben<br />
dürfen, wenn sie sich vorstellen, daß s o ihre Opposition<br />
beschaffen ist! Als ich mich in Zieditz aufhielt,<br />
brachte das Blatt gerade die welterschütternde<br />
Neuigkeit, daß der uralte Christlichsoziale Prinz<br />
Liechtenstein eigentlich freiheitlicher Sozialist<br />
sei oder sein könnte!! Und mit solchen Geistesprodtukten<br />
werden Arbeiter intellektuell gespeist . .<br />
Die „freisozialistische" Bewegung sollte eine<br />
Korrektur der Sozialdemokratie sein. Ein löbliches,<br />
wenn auch unausführbares Beginnen. Die Sozialdemokratie<br />
kann nämlich nur von einer höheren<br />
Gedankenwelt als ihrer eigenen überw<strong>und</strong>en werden;<br />
wird es auch. Als demokratisch-radikale Kleinbürgerpartei,<br />
die das Proletariat mit ins politische<br />
Schlepptau nehmen mußte (wie sonst Parlamentssitze<br />
erringen?), ist sie vollkommen auf ihrem Boden,<br />
<strong>und</strong> auch die marxistischen Phrasen hindern in<br />
keiner Weise ihre aktuelle, kleinbürgerliche Betätigung.<br />
Deshalb ist der Revisionismus nichts Neues<br />
in ihr, sondern nur die mit ihrem Gesamtanwachsen<br />
naturgemäß stärker werdende Tendenz der politischen<br />
Selbstbehauptung, die gerade weil sie groß<br />
geworden <strong>und</strong> nun „etwas" leisten m u ß, eine L e b e n s -<br />
frage für sie. Programmatisch tritt die „freisozialistische"<br />
Bewegung öffentlich revisionistisch auf <strong>und</strong><br />
glaubt damit, die noch immer sich marxistisch verklausulierende<br />
Partei übertreffen zu können. Ein<br />
politischer <strong>und</strong> taktischer Trugschluß, Sie wird niemals<br />
dazu gelangen, da die Sozialdemokratie i n<br />
d e r P r a x i s ganz ebenso auftritt, wie die freisozialistische<br />
Partei, dieser dadurch jedes weitere<br />
Lebensgebiet außerhalb des persönlichen Umkreises<br />
von Starck entziehend. *<br />
Fortsetzung folgt. Pierre Rannis.<br />
Österreich.<br />
Ö s t e r r e i c h i s c h e G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g !<br />
Zwei Dokumente sind es, die ein helles <strong>und</strong> unwiderlegbar<br />
deutliches Streiflicht auf sie werfen;,<br />
eine Agitationsschrift der „Gewerkschaftskommission"<br />
<strong>und</strong> der uns soeben zu Gesicht kommende<br />
Rechnungsabschluß des „Verbandes der Holzarbeiter".<br />
Beleuchtet die erstere die Gesamtheit unseres<br />
Gewerkschaftswesens, so ist letzterer wieder<br />
bezeichnend für die innere Struktur unserer einzelnen<br />
Gewerkschaften.<br />
Wenn man die Agitationsschrift von der ersten<br />
bis zur letzten Seite durchgelesen hat, wird man<br />
n i c h t e i n e i n z i g e s M a l auf das Wort „Sozialismus"<br />
stoßen. Und dies ist eine in H<strong>und</strong>erttausenden<br />
zu verbreitende Flugschrift, die unentgeltlich<br />
abgegeben wird! Wir lesen da die durchsichtigsten,<br />
zweideutigsten Demagogensprüchlein<br />
von den „großen" Gewerkschaften, ihren vielfachen<br />
Unterstützungseinrichtungen, u. a., auch von den<br />
„H<strong>und</strong>erten von Tarifverträgen", haben lange statistische<br />
Tabellen vor uns über die Finanzgebahrung,<br />
sogar den Stand der F a c h p r e s s e ; kurzum, es<br />
wird prunkend mit Zahlen umhergeworfen, wie es<br />
jede renommierte Geschäftsfirma gleichfalls tut. Nur<br />
von einem einzigen Dinge verlautbart kein Wörtchen:<br />
v o m S t r e i k . Über allen ihren statistischen<br />
Berechnungen haben die~Herren der Gewerkschaftskommission<br />
ganz an dieses Zweckmittel der ganzen<br />
Gewerkschaftsbewegung vergessen; wie im praktischen<br />
Leben auch. Oder haben sie es absichtlich<br />
ausgelassen, weil sie dann auch andere Saiten als<br />
jene der Erfolge hätten aufziehen <strong>und</strong> erklingen<br />
lassen müssen?<br />
Hin i n t e r e s s a n t e s S t ü c k i s t d e r<br />
R e c h n u n g s a b s c h l u ß (1. Jänner bis 3 1 . Dezem-<br />
1907) des obgenannten Verbandes. Unwillkürlich<br />
sagt man sich, wenn man diese Ausgabenziffern<br />
überfliegt: „Aha, d e s h a l b so begeistert für Zentralismus!"<br />
Auch hier lesen wir nichts von Streikunterstützungen,<br />
sondern nur von allen möglichen<br />
Unterstützungsfonds, um deretwillen es wirklich<br />
keine Gewerkschaftsbewegung zu geben brauchte;<br />
für derlei gibt es viele bürgerliche Versicherungsinstitute.<br />
Noch interessanter wird die Sache, wenn<br />
wir uns dem Posten „Verwaltungskosten" zuwenden.<br />
Da lesen wir: Gehalte <strong>und</strong> Entschädigungen<br />
r<strong>und</strong> 22 Tausend, für Kassierentschädigung 8½ T a u -<br />
send <strong>und</strong> dann wieder in ominöser Sprache, für<br />
„Sachliche Verwaltungsauslagen" (?) über 23½ T a u -<br />
send Kronen! Dabei ist nichts spezifiziert, einfach<br />
die Totalsumme wird gegeben, die Einzelarbeiter<br />
haben keine Möglichkeit, über das Einkommen dieses<br />
oder jenes Einzelbeamten nachzudenken <strong>und</strong><br />
zu erwägen.<br />
Das Blatt dieses Verbandes „Der Holzarbeiter",<br />
erscheint wöchentlich. Über dessen geistige Qualität<br />
maßen wir uns kein Urteil an, das steht allein<br />
dem Leser zu. Aber über etwas a n d e r e s : über den<br />
Redaktionsposten von 5205 Kronen. Dies ist ein<br />
wöchentliches Gehalt von r<strong>und</strong> 100 Kronen; daneben<br />
stehen noch andere Posten, für „Delegierungen"<br />
587, für „Honorar" (?) r<strong>und</strong> 8 5 9 Kronen. - Also<br />
der Redakteur des „Holzarbeiter" steht sich mit der<br />
Arbeiterbewegung weit besser, als viele Tausende<br />
von Journalisten an der Bourgeoispresse. Und wenn<br />
man bedenkt, daß es ein Gr<strong>und</strong>satz der französischen<br />
Gewerkschaftsbewegung ist, ihren Angestellten<br />
n i e m a l s mehr zu bezahlen, als sie in der<br />
Fabrik verdienen könnten, dann läßt sich der Haß<br />
gegen Föderalismus <strong>und</strong> das süße Kosen des Zentralismus<br />
sehr wohl begreifen.<br />
Noch eins: Aus dem „Fachblätterfonds" wurde<br />
auch ein Beitrag „An d e n W a h l f o n d s " in der<br />
Höhe von 12.750 Kronen gedeckt. Das ist sehr interessant,<br />
noch interessanter aber die Frage, ob<br />
die gewählten Parlamentarier mit der Rückzahlung<br />
dieses Beitrages schon begonnen haben ? Jedenfalls<br />
ist auch in Oesterreich die Zeit nicht mehr fern, wo<br />
man Rechenschaft fordern wird von den Gewählten,<br />
<strong>und</strong> wo man dann kategorisch erklären wird: Die<br />
Gewerkschaften sind nicht dazu da, um die Melkkuh<br />
für Leute abzugeben, die ein arbeitslosen Einkommen<br />
von 6 0 0 Kronen pro Monat anstreben!<br />
Heute ist es noch still; noch hofft <strong>und</strong> harrt<br />
das genarrte Volk. Aber sein Erwachen wird<br />
schrecklich sein für die politischen Streber, <strong>und</strong><br />
dieses Erwachen ist umso gewisser, als eine solche,<br />
total verbourgeoisierte Gewerkschaftsbewegung, wie<br />
die österreichische, dem Ansturm des vordringenden<br />
Kapitalismus schon heute nicht gewachsen ist. Wie<br />
erst in der nächsten Zukunft nicht! Dann ist die<br />
Zeit gekommen, die unsere gegenwärtige Arbeit<br />
krönen wird: U m w a n d l u n g d e r G e w e r k -<br />
s c h a f t s b e w e g u n g i n s o z i a l i s t i s c h e<br />
K a m p f e s k ö r p e r , d e r e n e i n z i g e r Z w e c k<br />
d e r r a s t l o s e , r e v o l u t i o n ä r e V o r s t o ß<br />
w i d e r S t a a t u n d K a p i t a l i s m u s s e i n m u ß !<br />
W a s die eine H a n d tut, sieht die a n d e r e<br />
nicht. In Österreich <strong>und</strong> Ungarn erklären die S o -<br />
zialdemokraten, daß das Wahlrecht, insbesondere<br />
die Wahlreform in Ungarn, Sache des Volkes,<br />
gegenwärtig sein lebendigstes Interesse sei. Meinen<br />
die Herren das wirklich ehrlich mit ihren Papierresolutionen<br />
<strong>und</strong> ihren knabenhaften Drohungen?<br />
Wir glauben es nicht. Sie haben nicht einmal den<br />
mildernden Umstand der Begeisterung für eine<br />
wertlose, aber i h r e r Ü b e r z e u g u n g n a c h<br />
bedeutende S a c h e für sich.<br />
Man lese im Berliner „Vorwärts" vom 19. S e p -<br />
tember in einem Korrespondenzbrief aus Wien die<br />
folgenden Zeilen:<br />
„ . . . A b e r s o v i e l E i n s i c h t w i r d i n<br />
d e r H o f b u r g d o c h n o c h v o r h a n d e n<br />
s e i n , u m z u e r k e n n e n , d a ß s i e d i e V e r -<br />
b e s s e r u n g i h r e r Stellung, d a ß s i e e i n e E r -<br />
h ö h u n g i h r e r d y n a s t i s c h e n M a c h t a u s s c h l i e ß -<br />
l i c h d e m W a h l r e f o r m p r o g r a m m d a n k t ,<br />
d a ß i h r d e r s c h ü c h t e r n e V e r s u c h e i n e r<br />
v o l k s t ü m l i c h e n P o l i t i k V o r t e i l e e i n g e -<br />
b r a c h t hat, a u f d i e s i e v o r d r e i J a h r e n<br />
w o h l s e l b s t n i c h t g e r e c h n e t . "<br />
W e r hat diese Zeilen g e s c h r i e b e n ? Warum<br />
wird hier in Österreich n u r von uns Anarchisten<br />
es dem Volke gesagt, daß sein ganzes Tun im Interesse<br />
des allgemeinen Parlamentarismus nur G e -<br />
schäftsausführung f ü r d i e B o u r g e o i s i e <strong>und</strong> für<br />
die Krone war <strong>und</strong> ist? Weshalb preisen hier, im<br />
Inlande, die Sozialdemokraten das allgemeine W a h l -<br />
recht im Klassenstaate als eine V o l k s e r u n g e n -<br />
schaft, während sie nur im Auslande der Wahrheit<br />
die Ehre geben <strong>und</strong> sagen, was es ist: e i n Betörungsmittel<br />
d e s V o l k e s i m I n t e r e s s e<br />
d e r M a c h t h a b e r u n d i h r e r K r i p p e n j ä g e r !<br />
Und solche Herren sollen es „ehrlich" meinen,<br />
wie manches Mal man glauben möchte? Ebenso<br />
„ehrlich" wie die Vertreter der reaktionären, bürgerlichen<br />
Parteien. Denn schon längst sind die<br />
Sozialdemokraten Fleisch <strong>und</strong> Bein von ihnen g e -<br />
worden, gleichen aufs Haar deren Beutejägern, die<br />
ihnen die Diäten streitig machen <strong>und</strong> sich mit<br />
ihnen darum balgen.<br />
* Ein geradezu glänzend zu nennender Erfolg<br />
war unsere Wählerversammlung im X. Bezirk in<br />
den großen Rosensälen, die unter dem Motto:<br />
„Gegen alle Parteien, gegen jeden Volksbetrug!"<br />
verlief. Die 1½ sündigen Ausführungen des Gen.<br />
Ramus wurden zum Schluß lebhaft applaudiert,<br />
<strong>und</strong> es entspann sich nun eine wirklich hochinteressante<br />
Debatte, die zwischen Christlichsozialen,<br />
Sozialdemokraten <strong>und</strong> Anarchisten — <strong>und</strong> stets im
Rahmen gegenseitiger Wahrung der Anständigkeit!<br />
— geführt wurde. „Die Wertlosigkeit der Landtagswahlen<br />
f ü r d a s P r o l e t a r i a t " wurde eigentlich<br />
von allen Rednern aufs vortrefflichste variiert.<br />
- Vorher hatten wir eine gute Versammlung im<br />
II. Bezirk im Café „Stephanie". Es hatte sich ein<br />
vornehmlich aus Studenten <strong>und</strong> kleineren Geschäftsleuten<br />
bestehendes Publikum eingef<strong>und</strong>en, dem<br />
Ramus seine Ansichten über die „Modernen Entwicklungsphasen<br />
in der sozialen Bewegung" vortrug.<br />
Der Vortrag fand merkwürdigerweise keine<br />
Gegnerschaft, <strong>und</strong> erklärte der Vorsitzende, unser<br />
Fre<strong>und</strong> Kaplanzky, der die Versammlung arrangiert<br />
hatte, er müsse diese zionistische Vereinigung davor<br />
bewahren, eine exklusiv marxistische genannt<br />
zu w e r d e n ; sie sei sozialistisch im Sinne einer<br />
Vereinigung a l l e r Strömungen der sozialistischen<br />
Idee. - Gut besucht war auch die Versammlung<br />
im XIV. Bezirk bei Schlor, wo Gen. Ramus über<br />
das T h e m a „Die gegenwärtige Situation in der<br />
österreichischen Gewerkschaftsbewegung" sprach.<br />
Raummangels halber kürzen wir diesen Bericht <strong>und</strong><br />
machen die Kameraden nur des weiteren auf die<br />
folgenden Wählerversammlungen aufmerksam:<br />
S o n n t a g d e n 18. O k t o b e r 1908, 10 U h r v o r -<br />
m i t t a g s , X X . , T r e u s t r a ß e 74. Montag den<br />
19. Oktober, 8 Uhr abends, XIII., Kuefsteingasse 32<br />
<strong>und</strong> Dienstag den 20. Oktober, 8 Uhr abends, XIV.,<br />
Märzstraße 33. Die anderen zwei projektierten<br />
Versammlungen müssen leider ausfallen, da keine<br />
freien Lokalitäten aufzutreiben sind.<br />
Deutschland.<br />
Einen erzinfamen Halunkenstreich leistete sich<br />
die reichsdeutsche Polizei gegen unser Bruderblatt<br />
„Revolutionär" in Berlin. Unter dem Vorwande<br />
einer Hausdurchsuchung nahm sie alles, was nicht<br />
niet- <strong>und</strong> nagelfest war, mit, vorenthielt dasselbe<br />
durchaus ungesetzlich für ganze fünf T a g e dem<br />
zuständigen Richter <strong>und</strong> verursachte damit das<br />
Nichterscheinen einer Nummer des Blattes. Das<br />
sind russische Provokationen, <strong>und</strong> sie werden eine<br />
gebührende Antwort finden. — Auch unser anderes<br />
Bruderblatt „Der freie Arbeiter" wurde wegen eines<br />
Artikels „An die Rekruten" beschlagnahmt <strong>und</strong><br />
Strafantrag wider dasselbe gestellt.<br />
Spanien.<br />
Nach einer kurzen Unterbrechung erscheint<br />
die regelmäßige Herausgabe unseres vorzüglichen<br />
Bruderblattes i n Barcelona, „ T i e r r a y L i b e r -<br />
t a d " wieder gesichert zu sein. Wir rufen den Kameraden<br />
ein freudiges Glückauf zu <strong>und</strong> glauben<br />
unseren Gefühlen über das Neuerscheinen dieser<br />
gediegenen Zeitschrift nicht besser Ausdruck verleihen<br />
zu können, als indem wir unsere vollständigste<br />
Übereinstimmung mit dem nachfolgenden<br />
Brief durch dessen Übersetzung konstatieren. Dieser<br />
Brief ist das Schreiben eines großen Pioniers der<br />
spanischen anarchistischen Bewegung, der mit<br />
Fanelli die ersten Sektionen der alten „Internationale"<br />
in Spanien begründete:<br />
„Geliebte Kameraden <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e!<br />
Ich empfing mit besonderer Freude eure<br />
Karte, den Ausdruck der Liebe, die ihr zu mir hegt.<br />
Sich geschätzt <strong>und</strong> geliebt zu sehen von Personen,<br />
die sich über die Leiden der heutigen Gesellschaft<br />
emporheben bis zur Erhabenheit des Kampfes für<br />
ein Ideal, ist eine ehrende Auszeichnung für mich.<br />
Aber mir verursacht etwas dabei Schmerzen, das<br />
was ihr mir sagt von der Zeitung. In der Tat, zu<br />
sehen, wie dieses Organ der Befreiung, des Denkens,<br />
durch die Regierung vernichtet wird, wie es so oft das<br />
Feld räumen muß, durch die Gewalt der Regierung,<br />
die Lügen der Politik, die Lügen in allen Formen<br />
<strong>und</strong> Darstellungen - das ist schmerzlich.<br />
Was mich anbelangt, erkläre ich mich als<br />
n i c h t besiegt. In meinem Inneren, in der Glut<br />
meines Herzens, im Besitze der Festigkeit meiner<br />
Wahrheit betrachte ich mich stets als Sieger, weil<br />
ich mich selbst erkenne als erhaben über alle<br />
Feinde meines Ideals <strong>und</strong> erhaben auch über die<br />
schwächlichen Fre<strong>und</strong>e, deren Seelen zittern vor<br />
der Schwierigkeit. Darum fühle ich es für so viele<br />
Unglückliche, Unterdrückte, Tyrannisierte <strong>und</strong> Ausgebeutete,<br />
für welche unsere Z e i t u n g dienen<br />
könnte als Führer, als Ratgeber <strong>und</strong> als Hoffnung.<br />
Ihr schreibt mir nachträglich, daß das Blatt<br />
nicht gestorben ist. Ich sage euch: Versuchet, es<br />
wieder groß zu machen! Ich kann euch wenig<br />
helfen; denn mit der Feder dieses alten Anarchisten,<br />
der nicht scheiden will von der Welt, ohne der<br />
Freiheit den ganzen Ausdruck seiner glühenden<br />
Liebe dargeboten zu haben, ist nicht viel getan.<br />
Zeigt eure Aktionsfähigkeit! Das war mein Glaube<br />
das ganze lange Leben hindurch!<br />
Brüderlich euer<br />
A n s e l m o L o r e n z o .<br />
*<br />
A l c a l á d e l V a l l e ! Nichts, auch nicht die<br />
Zeit, die alles verwischt, wird aus unserem G e -<br />
dächtnis die Erinnerung verschwinden machen an<br />
jenen allbekannten Zeitpunkt, der einmal bewies,<br />
daß die Solidarität der Arbeiter stärker ist als die<br />
Bosheit der jeweiligen Tyrannen, die, bezwungen<br />
durch diese Solidarität, die gefolterten Arbeiter freigeben<br />
mußten.<br />
Noch aber sind nicht alle frei! Laut der<br />
„Tierra y Libertad" befinden sich in der Festung<br />
S a n M i g u e l d e l o s R e y e s (Valencia) n o c h<br />
s e c h z e h n u n s e r e r G e n o s s e n a l s O p f e r<br />
der spanischen Henker. Die Arbeiter von Spanien,<br />
ja die Arbeiter der ganzen Welt, alle Menschen, in<br />
allen L ä n d e n <strong>und</strong> Orten, die die Gerechtigkeit<br />
würdigen <strong>und</strong> lieben, dürfen nicht eher zurückweichen,<br />
bis eine vollkommene Wiedervergeltung<br />
erreicht ist, durch die Freilassung der Betreffenden.<br />
Kameraden, auch wir in Österreich müssen<br />
uns an dem Werk der Befreiung beteiligen. Auch<br />
unsere Stimme muß sich vereinigen mit jener der<br />
spanischen Kämpfer: Die Befreiung der politischen<br />
Gefangenen des neuen Alcalá del Valle wird ein<br />
Triumph der menschlichen Gerechtigkeit sein!<br />
E n g l a n d .<br />
Wir entnehmen der Oktobernummer des Londoner<br />
„ T h e I n d u s t r i a l i s t " :<br />
Die „Industrialist-League (der englische Ausdruck<br />
für revolutionäre Gewerkschaftsbewegung) ist<br />
eine propagandistische Körperschaft, deren Zweck<br />
es ist, den W e g für eine große revolutionäre G e -<br />
werkschaftsbewegung in Großbrittanien vorzubereiten.<br />
<strong>Unser</strong>e Gr<strong>und</strong>sätze sind einfach <strong>und</strong> leicht<br />
verständlich. Wir haben die Überzeugung, daß alles<br />
Notwendige <strong>und</strong> Angenehme im Leben durch die<br />
Arbeiter geschaffen <strong>und</strong> verteilt wird, die mit ihrer<br />
körperlichen <strong>und</strong> geistigen Arbeitskraft die W e r k -<br />
zeuge <strong>und</strong> Maschinen zur Nutzbarmachung der<br />
Rohmaterialien in Bewegung setzen; <strong>und</strong> daß deshalb<br />
die Arbeiter selbst gemeinsam den Reichtum<br />
genießen sollten, den sie schaffen. Da die Arbeiter<br />
der verschiedensten Berufszweige <strong>und</strong> Industrien<br />
zusammenwirken müssen, um diese Sachen herzustellen<br />
(von welchen ungefähr 4<br />
/ 5 der Klasse<br />
der Unternehmer zufällt, welche gar nicht bei<br />
der Hervorbringung derselben mithelfen), so gibt<br />
es keinen Gr<strong>und</strong>, warum wir nicht zusammenwirken<br />
sollten, um diese Sache für u n s s e l b s t<br />
zu s c h a f f e n u n d zu v e r t e i l e n . Dies ist das<br />
<strong>Ziel</strong> unserer Bewegung: Die Errichtung einer Arbeitergemeinschaft,<br />
in welcher weder Armut noch<br />
unnützer Luxus bestehen wird; eines wirtschaftlichen<br />
Gemeinwesens, in welchem die p o l i t i s c h e<br />
M a c h t — d i e H e r r s c h a f t d e s M e n s c h e n ü b e r<br />
d e n M e n s c h e n — a u f g e h ö r t h a t , z u b e -<br />
s t e h e n , <strong>und</strong> wo die wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale<br />
Organisation der Arbeiter selbst die Gr<strong>und</strong>lage der<br />
Gesellschaftsordnung ist.<br />
Um das zu verwirklichen, ist es notwendig,<br />
daß wir uns als eine Klasse in den Fabriken, Werkstätten,<br />
Bergwerken <strong>und</strong> landwirtschaftlichen B e -<br />
trieben vereinigen, <strong>und</strong> eine wirtschaftliche Organisation<br />
schaffen. Dazu müssen wir eine industrielle<br />
Vereinigung aller Arbeiter errichten, denn die b e -<br />
stehenden 1138 verschiedenen Gewerkschaften<br />
(Trade Unions) in England haben, mit zwei oder<br />
drei Ausnahmen, alle das e i n g e s t a n d e n e B e -<br />
s t r e b e n , das bestehende System der Lohnsklaverei<br />
aufrecht zu erhalten, wenn sie nur für<br />
ihren besonderen Beruf ein paar nebensächliche<br />
Verbesserungen erreichen können. Ja, viele anerkennen<br />
die „nützliche <strong>und</strong> wichtige" Stellung der<br />
Unternehmer <strong>und</strong> den „gerechten Anteil", welchen<br />
der Arbeitgeber ihnen nehmen darf! Wenn die Mitglieder<br />
einer bestehenden Gewerkschaft den Unsinn<br />
der alten Methode — der „gemeinsamen Interessen"<br />
zwischen Kapitalisten <strong>und</strong> Arbeitern — einsehen,<br />
so müssen sie ihre Gewerkschaft bewegen, sich der<br />
industriellen Vereinigung anzuschließen, denn nur<br />
durch diese Form der Organisation ist ein einheitliches<br />
Vorgehen möglich. Die industrielle Vereinigung<br />
wird alle Waffen gebrauchen: den Streik,<br />
die p l ö t z l i c h e Arbeitseinstellung, den teilweisen<br />
sowie den Generalstreik, ganz wie es die Gelegenheit<br />
fordert; ebenso den Boykott <strong>und</strong> die T a k t i k :<br />
„ F ü r s c h l e c h t e B e z a h l u n g — s c h l e c h t e<br />
Arbeit".<br />
Das Bestreben, das Land <strong>und</strong> die Maschinen<br />
jenen abzuringen, die auf dieselben ein „Eigentumsrecht"<br />
geltend machen wollen, führt zu einem Zusammenstoß<br />
mit den Kräften der Regierung, die<br />
zum Schutze dieses Eigentumsrechtes gegründet<br />
worden sind. Die industrielle Vereinigung erkennt<br />
diese Tatsache, <strong>und</strong> sagt, daß ihre Mitglieder g e -<br />
meinsam gegen diese Kräfte Armee, Kriegsmarine<br />
<strong>und</strong> Polizei, <strong>und</strong> alle Stützen des Staates<br />
— ankämpfen müssen. <strong>Unser</strong> Erfolg bedeutet die<br />
Beseitigung des Staates. Darum fordern die Industrialisten<br />
ihre Arbeitsbrüder auf, nie freiwillig den<br />
obigen Organisationen beizutreten*, denn diese<br />
können jeden Moment gegen die Arbeiter g e -<br />
braucht werden, so wie dies in der Vergangenheit<br />
geschehen ist."<br />
Also auch in England tagt es! Und auch<br />
Ö s t e r r e i c h soll nicht lange mehr auf sich warten<br />
lassen !<br />
Australien.<br />
Vor etwa 1 ½ Monaten brach i n S y d n e y<br />
(Neu-Süd-Wales), ein Streik der Tranibahnarbeiter<br />
aus. Da die Straßenbahnen v e r s t a a t l i c h t , also<br />
Staatsmonopol sind, erweckte dieser Ausstand ungeheures<br />
Interesse in der Bevölkerung. Den letzten<br />
Anstoß zum Streik gab die Entlassung eines B e -<br />
diensteten wegen „Veruntreuung von Fahrkarten",<br />
trotzdem die Beweisumstände das Gegenteil ergaben.<br />
* W i e b e k a n n t , g i b t e s i n E n g l a n d k e i n e a l l g e m e i n e M i -<br />
l i t ä r p f l i c h t : d i e S o l d a t e n w e r d e n zum g r ö s s t e n T e i l a n g e w o r b e n .<br />
A n m . d. R e d .<br />
Die Vorbereitung für den Streik war großartig<br />
<strong>und</strong> ward mit viel Umsicht getroffen. An einem<br />
Donnerstag abends wurde der Beschluß gefaßt, die<br />
Arbeit einzustellen. Den darauffolgenden Tag, punkt<br />
12 Uhr, ließ man alle Wagen in den Straßen <strong>und</strong><br />
blieb dabei stehen, um etwaige Streikbrecher a b -<br />
zuwehren. Wie in so vielen Kämpfen zwischen<br />
Kapital <strong>und</strong> Arbeit, so auch hier. Die Ingenieure<br />
der elektrischen Filiale blieben in Arbeit <strong>und</strong> ermöglichten<br />
dadurch, die verlassenen Wagen in die<br />
Hallen zu bringen.<br />
Die Streikenden hielten nun eine Versammlung<br />
ab, zu der man Delegierte aller Gewerkschaften<br />
einlud. E i n a l l g e m e i n e r A u s s t a n d<br />
der ganzen Stadt sollte erklärt werden. So ziemlich<br />
alle Delegierten stimmten dafür. Große Hoffnung<br />
setzte man auf die Eisenbahner. Von dieser<br />
Seite aus rührte sich aber nichts. Auf eine Anfrage<br />
des Präsidenten der Trambahnangestellten, was sie<br />
zu tun gedächten, antworteten sie, daß die T r a m -<br />
bahnarbeiter k e i n e n G r u n d h ä t t e n , i n den<br />
Ausstand zu treten! Bereits am 28. konnte das<br />
Gouvernement den Betrieb, wenn auch vorerst<br />
schwach, wieder herstellen.<br />
So wurde dem Streik das Genick gebrochen.<br />
W a s ist nun der Gr<strong>und</strong>, der dies alles so rapide<br />
schnell geschehen ließ?<br />
Die Arbeiter Australiens haben leider noch<br />
kein richtiges Klassenbewußtsein. Man läuft noch<br />
viel zu viel mit der Idee umher, daß es nur die<br />
eigene Schuld ist, nicht auch Besitzer einer Goldmine,<br />
großer Ländereien oder Fabriken zu sein.<br />
Die sozialdemokratische Arbeiterpartei verhielt<br />
sich, wie wir erwarteten, furchtsam <strong>und</strong> verräterisch.<br />
Wieder einmal wurden die Arbeiter geschlagen,<br />
dadurch, daß sie von ihren Führern nicht zu<br />
Kämpfern (die ihre S a c h e selbst in die Hände<br />
nehmen können), sondern zu Stimmvieh erzogen<br />
werden. Dadurch Niederlage auf Niederlage, <strong>und</strong><br />
das in einem Lande mit „sozialistischer" G e s e t z -<br />
gebung <strong>und</strong> noch nicht festgefügtem Kapitalismus<br />
oder Staatswesen. Die Arbeiterschaft Australiens<br />
könnte ihre Forderungen leicht durchsetzen, aber<br />
— ja aber, sie müßte die Führer zum „Teufel"<br />
j a g e n ! So lange die Arbeiter in Händen politischer<br />
Hochstapler bleiben, wird jeder für ihr eigenes Interesse<br />
geführte Kampf verloren gehen.<br />
Adelaide, Anfang September. H. Voit.<br />
Gruppen <strong>und</strong> Versammlungen.<br />
A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n . V.,<br />
Einsiedlergasse 60. Jeden Montag 8 Uhr abends.<br />
Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />
Gasthaus, XIV., Märzstraße 33.<br />
F ö d e r a t i o n d e r B a u a r b e i t e r . X . , Eugengasse<br />
9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />
jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />
U n a b h ä n g i g e S c h u h m a c h e r - G e w e r k s c h a f t .<br />
XIV.,Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />
M ä n n e r g e s a n g v e r e i n „ M o r g e n r ö t e " . XIV.,<br />
Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />
jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />
L e s e - <strong>und</strong> Diskutierklub „ P o k r o k " . XIV.,<br />
Hütteldorferstraße 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />
F r e i e E i n k a u f s g e n o s s e n s c h a f t . Jeden Donnerstag<br />
abends bei Schlor.<br />
F r e i d e n k e r - V e r e i n i g . „ F r e i e r G e d a n k e " .<br />
öffentl. Vortrag jeden Freitag um 8 Uhr bei Schlor.<br />
G r a z . A r b e i t e r - B i l d u n g s - u n d U n -<br />
t e r s t ü t z u n g s - V e r e i n , versammelt sich jeden<br />
1. <strong>und</strong> 3. Samstag abends im Gasthaus „zur lustigen<br />
Röthelstoanerin" (v. Tiroler), Bahnhofgürtel<br />
Nr. 69.<br />
M a r b u r g . A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />
versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong> 4. Mittwoch abends<br />
im Gasthaus „Zur goldenen Birn", Franz Josefstraße<br />
2.<br />
K l a g e n f u r t . G r u p p e d e r u n a b h ä n g i -<br />
g e n S o z i a l i s t e n , versammelt sich jeden 2 . <strong>und</strong><br />
4. Samstag abends im Gasthaus „Zum Buchenwalde".<br />
W e i j e r . S o z i a l i s t i s c h e r B u n d , versammelt<br />
sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends in<br />
Bachbauers Gasthaus.<br />
B r u c h . G r u p p e B e r g a r b e i t e r k a m p f ,<br />
versammelt sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends<br />
im Gasthaus „zum blauen Stern".<br />
Neu - P y h a n k e n . B e r g a r b e i t e r v e r e i n ,<br />
versammelt sich jeden 4. Sonntag um 9 Uhr vormittags<br />
im Gasthause „Eintracht".<br />
Zieditz. D e u t s c h e B e r g a r b e i t e r v e r e i -<br />
n i g u n g , versammelt sich jeden Sonntag im Gasthaus<br />
beim Bahnhof.<br />
A u s s i g . U n a b h ä n g i g e r F a c h v e r e i n<br />
d e r S c h i f f s v e r l a d e r u n d V e r l a d e r i n n e n ,<br />
versammelt sich monatlich im Gasthaus „zum Marienberg",<br />
Töpfergasse 7.<br />
S c h ö n p r i e s e n ( b e i A u s s i g ) . G r u p p e<br />
„ F r e i h e i t " , versammelt sich jeden 2. Mittwoch<br />
in Nr. 226 (bei Giselastraße).<br />
M a l t h e u e r n ( b e i B r ü x ) . A r b e i t e r v e r -<br />
e i n „ G l e i c h h e i t " , versammelt sich jeden Sonntag<br />
beim Gastwirt Joh. Florian.<br />
K a r b i t z ( b e i A u s s i g ) . F r e i e V e r e i n i -<br />
g u n g . Sekretär J. Schmidt, Nr. 126.<br />
M a r i a s c h e i n . F r e i e V e r e i n i g u n g , versammelt<br />
sich jeden Sonntag im Gasthaus „zur<br />
Fortuna".<br />
O b e r - R o s e n t a l ( b e i R e i c h e n b e r g ) .<br />
G r u p p e „ P r o l e t a r i a t " . Sekretär B . W e b e r ,<br />
Nr. 194.
Alles für die Sache.<br />
Aus d e m E n g l i s c h e n ü b e r s e t z t von Lilly N a d l e r - N u e l l e n s .<br />
Hört ein W o r t , ein W o r t bei Z e i t e n , denn e s<br />
n a h t d a s M o r g e n r o t ,<br />
W e n n die S a c h e w i r d uns rufen, für d a s L e b e n ,<br />
für den T o d .<br />
E r , d e r s t i r b t , e r s t i r b t nicht e i n s a m , viele<br />
s t e r b e n J a h r für J a h r ;<br />
E r , d e r lebt, e r t r ä g t nicht s c h w e r e r , als ihm<br />
s c h o n d a s Leben w a r .<br />
Gar nicht alt ist die Geschichte, so wie g e s t e r n<br />
s t r ö m t d a s Blut<br />
U n s ' r e r Liebsten, wie sie fielen, t r e u <strong>und</strong> fest<br />
mit t a p f r e m Mut.<br />
Selbst die B o t s c h a f t , die wir künden, w a r die<br />
M ä r ' , die sie e r z ä h l t ,<br />
Selbst die Hoffnung, die wir h e g e n , w a r es<br />
a u c h , die sie beseelt.<br />
In d e m G r a b , in dem « i e r u h e n , liegt ihr Mühen<br />
<strong>und</strong> ihr Leid,<br />
Doch a u s i h r e m G r a m unsterblich, s t e i g t die<br />
Hoffnung s c h m e r z b e f r e i t .<br />
D a r u m k l a g t nicht <strong>und</strong> nicht t r a u e r t , d a ß ihr<br />
W i r k e n hier v e r g e h t ,<br />
Denn ihr Leben m a h n t zum K a m p f uns <strong>und</strong> als<br />
Vorbild v o r uns steht.<br />
M a n c h e h a t t e n Ruhm <strong>und</strong> E h r e , w a r e n w e i s e<br />
<strong>und</strong> g e l e h r t ;<br />
M a n c h e w a r e n a r m <strong>und</strong> elend, unwissend <strong>und</strong><br />
nicht g e e h r t .<br />
Doch für uns sie alle leben, uns e r m a h n e n d<br />
alle Zeit,<br />
J e d e n K u m m e r leicht z u t r a g e n , z u v e r g e s s e n<br />
alles Leid.<br />
H o r c h t ! O h o r c h t nur, wie sie r u f e n : „Glücklich<br />
ihr, d a ß ihr j e t z t lebt,<br />
In dem l e u c h t e n d Licht d e s M o r g e n s , wenn die<br />
finst're Nacht e n t s c h w e b t .<br />
In dem Dienst d e r S a c h e leben o d e r s t e r b e n ,<br />
ist es s c h ö n ,<br />
Durch den K a m p f <strong>und</strong> d a s G e w i r r e siegen o d e r<br />
u n t e r g e h ' n ! "<br />
Ah, vielleicht! mir s c h e i n e t oftmals, in den<br />
T a g e n licht <strong>und</strong> hehr,<br />
W e n n kein S k l a v e dient dem Golde, auf d e m<br />
weiten L a n d <strong>und</strong> M e e r ;<br />
Oft wenn B u r s c h e n , M ä d c h e n s c h e r z e n , eh' die<br />
Sonne g e h t zur Ruh',<br />
Und den frohen T a g sie s e g n e n , j a u c h z e n d<br />
noch e i n a n d e r zu,<br />
W e r d e n m a n c h e innehalten, d e n k e n d d e r V e r -<br />
g a n g e n h e i t ,<br />
E h e wir mit u n s ' r e m L e b e n , sie v o m F l u c h d e s<br />
Gold's befreit.<br />
B e i d e m sel'gen Kuß d e r L i e b e , w e h t sie leis'<br />
E r i n n ' r u n g a n ,<br />
W i r , die Narr'n <strong>und</strong> T r ä u m e r w a r e n , sind die<br />
W e i s e n , T a p f r e n d a n n .<br />
U n s ' r e T a t e n w e r d e n leben in der n e u e r b a u t e n<br />
W e l t ,<br />
Ob m a n a uch v e r g i ß t die N a m e n , wie wir s t a r -<br />
ben nicht e r z ä h l t .<br />
Ob zu leben, ob zu s t e r b e n , j e d e s Opfer gilt<br />
uns g l e i c h ,<br />
S c h ö n entfliegt im K a m p f d a s L e b e n , <strong>und</strong> die<br />
S a c h e w ä h l t für e u c h .<br />
H ö r t ein W o r t , ein W o r t bei Z e i t e n , denn es<br />
naht d a s M o r g e n r o t ,<br />
W e n n die S a c h e wird uns rufen, für d a s L e b e n ,<br />
für den T o d !<br />
William Morris.<br />
Leo Tolstoi als Anarchist.<br />
Schluß.<br />
Seien wir aufrichtig: es gibt keine konservativere<br />
Kraft in der Gegenwart, die mehr<br />
das Volk zur vollständigen Lethargie «entwickelt»<br />
hat, mehr zur Passivität niedergezwungen<br />
hat, als die Sozialdemokratie.<br />
Tolstoi aber lehrt nie <strong>und</strong> nirgends Tatenlosigkeit,<br />
wie diese Herren es den Anschein<br />
geben möchten. Der Mann, der Soldaten<br />
<strong>und</strong> Bauern, an ihr Menschtum appellierend,<br />
zum aktiven Widerstand aufruft; der wohl<br />
das Komödienspiel der Duma <strong>und</strong> den<br />
mordenden Schwindel geißelte, den die<br />
russische Bourgeoisie mit dem Volke aus<br />
politischem Eigennutz während der Jahre<br />
1905 bis 1907 getrieben; den Bauern in<br />
Georgia aber, die ihre Herren nach der<br />
Stadt gefahren <strong>und</strong> dann gemeinschaftlich<br />
sich Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden in freier Bestellung<br />
aneigneten, eine Glückwunschdepesche<br />
sandte — d i e s e r Mann ein Prediger der
Tatenlosigkeit? W e l c h e r Unsinn! W a s T o l -<br />
stoi w i r k l i c h lehrt, das ist: d i e V e r -<br />
m e i d u n g d e s g e w a l t s a m e n W i d e r -<br />
s t a n d e s d u r c h d i e u n m i t t e l b a r e<br />
V e r w i r k l i c h u n g d e s I d e a l s . Tolstoi<br />
ist gegen die b l u t i g e . Gewalt <strong>und</strong> erklärt<br />
als seine Waffe den p a s s i v e n W i d e r -<br />
s t a n d . Das ist der Widerstand, der darin<br />
besteht, daß, nach seiner Lehre, H<strong>und</strong>erte<br />
<strong>und</strong> Tausende von Soldaten den Dienst,<br />
die Millionen von Muschiks alle Steuern<br />
an den Staat, ihre Arbeitskraft an die Gutsbesitzer<br />
verweigern, ihre Arbeit für sich<br />
verwerten sollen. Tolstoi vertritt den Gr<strong>und</strong>satz:<br />
L e b e d a s n e u e L e b e n d e r G e -<br />
m e i n s c h a f t , g e h o r c h e n i c h t m e h r<br />
d e n S t a a t s m ä n n e r n , f ü g e d i c h n i c h t<br />
m e h r d e r H e r r s c h a f t d e r K i r c h e ,<br />
a c h t e n i c h t m e h r d a s U n r e c h t d e s<br />
B o d e n w u c h e r s u n d s e i n e s M o n o -<br />
p o l s d u r c h d e n G r u n d b e s i t z e r —<br />
kurz, l a s s e d i c h n i c h t m e h r v o n<br />
H e r r s c h e r n u n d A u s b e u t e r n g e -<br />
b r a u c h e n , w e i l d i e s s t e t s n u r M i ß -<br />
b r a u c h m i t d i r ist. Man wird ehrlicherweise<br />
zugeben, daß dies ein machtvoller<br />
Kampfesruf ist, der das <strong>Ziel</strong> immer als<br />
erstes <strong>und</strong> einziges vor Augen hat <strong>und</strong><br />
jeden Kompromiß verschmäht. Und wer<br />
vermöchte es zu leugnen, daß Tolstoi vollkommen<br />
Recht hat, wenn er sich gegen<br />
die bisherige Form der russischen Revolution<br />
kehrte? Für einen jeden Anarchisten ist das<br />
Problem so: das russische Proletariat opferte<br />
sich bisher für die Interessen der nach<br />
politischer Karriere gierenden Bourgeoisie<br />
<strong>und</strong> wurde von dieser ihren Streber- <strong>und</strong><br />
Machtinteressen geopfert, dann fallen gelassen.<br />
Wie anders wäre der Kampf ausgefallen,<br />
wenn statt den einigen h<strong>und</strong>erttausend<br />
Stadtproletariern nur ein bis zwei<br />
Millionen Bauern aus den übrigen neunzig<br />
Millionen Dienst <strong>und</strong> Gehorsam <strong>und</strong> Abgabe<br />
gegenüber dem Staate <strong>und</strong>, dem Gutsherrn<br />
einfach verweigert hätten, indem sie<br />
sich des Landes d u r c h d e n A n b a u für<br />
s i c h s e l b s t bemächtigt hätten?! Zwei<br />
Millionen Menschen kann man nicht in die<br />
Gefängnisse werfen, unmöglich töten. An<br />
dem passiven Widerstande in dieser Form<br />
wäre das russische Zarentum <strong>und</strong> ökonomische<br />
Aussaugertum bankerott geworden,<br />
unweigerlich zu Gr<strong>und</strong>e gegangen <strong>und</strong> säße<br />
heute nicht im Sattel oder mit parlamentarisch-ministeriellen<br />
Mitschmausern an reich<br />
bedeckter Tafel.<br />
Weshalb wir dennoch nicht allein an<br />
den passiven Widerstand im Sinne der<br />
endgültigen Befreiung glauben? Aus zwei<br />
Gründen: Erstens, weil Tolstoi selbst nicht<br />
an ihn als ein endgültiges Befreiungsmittel<br />
glaubt, zweitens, <strong>und</strong> dies ist das wichtigste<br />
Moment, weil wir daran verzweifeln, daß<br />
es in unserer heutigen Welt je möglich sein<br />
wird, viele Millionen zu einheitlichem, idealen<br />
Kampfe — <strong>und</strong> Millionen Menschen<br />
sind zum passiven Widerstand im Tolstoisinn<br />
nötig! — empor zu läutern. Die kapitalistische<br />
Welt ist mit ihren drückenden<br />
Verelendungstendenzen übermächtig. Der befreiende<br />
Endkampf des Volkes wird wohl nur<br />
h<strong>und</strong>erttausende Idealisten, wirklich durchdrungener<br />
Freiheitskämpfer im Todeskampfe<br />
mit den bestehenden Verhältnissen finden<br />
— niemals aber so viele, daß durch ihre<br />
bloße Passivität die Herrscher <strong>und</strong> Aus<br />
beuter an <strong>und</strong> für sich ohnmächtig <strong>und</strong><br />
überw<strong>und</strong>en wären.<br />
Doch dies sind taktische Probleme <strong>und</strong><br />
Fragen, die am entschiedensten die Zukunft<br />
lösen wird. Vielleicht trifft jener den richtigen<br />
Durchschnitt, der es mit einer Synthese<br />
des passiven Widerstandes eines Tolstois<br />
<strong>und</strong> der sozialen Revolution eines<br />
Krapotkin — zwei Idealgestalten der Menschheit<br />
— gedanklich versucht. Und die Zeitereignisse,<br />
wie sie machtvoll nach Auslösung<br />
<strong>und</strong> Erlösung drängen, scheinen die Annahme<br />
zu bestätigen, daß die soziale Revolution<br />
der Zukunft wohl eine glückliche<br />
Vereinigung von passivem <strong>und</strong> gewaltsamen<br />
Widerstand sein wird; hauptsächlich aber<br />
doch der erstere, der letztere meistens nur<br />
dorten, wo das sich etwa abermals reckende<br />
Alte der Reaktion das kaum errichtete Neue<br />
der sozialen Freiheit der Anarchie <strong>und</strong> ihres<br />
ökonomischen Gr<strong>und</strong>gebietes, die Gleichheit,<br />
wird zu erschüttern versuchen. Immerhin<br />
erzeugen beide taktischen Propagandaformen,<br />
jene des passiven <strong>und</strong> aktiven<br />
Widerstandes, zwei Kämpfertypen, von<br />
denen man keinen vermissen möchte, wenn<br />
man sie beide gekannt <strong>und</strong> beobachtet hat.<br />
Wir fühlen uns vollkommen frei von allen<br />
Übertreibungen des Tolstoischen Gedankenganges,<br />
doch dies wissen wir, daß ohne<br />
die tiefinnerst <strong>und</strong> mächtig die Menschen<br />
erfassende Überzeugungsreligion eines Tolstoi<br />
diejenige Regeneration <strong>und</strong> geistige<br />
Wiedergeburt der Menschen nicht stattfinden<br />
kann, deren gerade die Kämpen der sozialen<br />
Revolution im Krapotkinschen Sinne<br />
bedürfen, um stählerne Ausdauer <strong>und</strong> unerschütterlichen<br />
Kampfesmut- <strong>und</strong> Glauben<br />
zu haben. Innenrevolutionen im Menschen<br />
sind unerläßlich für den Anarchismus, um<br />
Wirklichkeit <strong>und</strong> Vollendung zu werden.<br />
Leo Tolstoi selbst ist uns einer der<br />
größten <strong>und</strong> edelsten Vorkämpfer des zukünftigen<br />
Menschheitsglückes. Er, der Anar-
chist <strong>und</strong> Bauernkommunist, der für das<br />
Reich des Ideals in ihm die Zukunft seines<br />
Lebensganges als Adelssprosse <strong>und</strong> Machthaber<br />
dahin gegeben, freudig dahingab für<br />
das edel Menschliche, dessen endlichen<br />
Sieg er fühlt <strong>und</strong> vorbereitet, er gehört<br />
unserer Idee, unserem großartigen Weltanschauungsbilde<br />
der Herrschaftslosigkeit<br />
an — diese Idee, die den Achtzigjährigen<br />
noch stählt im Kampf gegen die heutige<br />
Welt der Tücke, dieser erhabene Gedanke,<br />
der alles echt Lebende durchdringt <strong>und</strong><br />
dadurch immerwährend neues <strong>und</strong> reicheres<br />
Leben zeugt. Pierre Ramus.<br />
Ein Brief von Friedrich<br />
Nietzsche.<br />
Durch die Wiederveröffentlichung des<br />
nachfolgenden Briefes in der uns vorliegenden,<br />
neueren 40. Auflage von » A l s o<br />
s p r a c h Z a r a t h u s t r a « , ein Brief, der seit<br />
der 2. <strong>und</strong> 3. nun völlig vergriffenen Auflage<br />
nicht wieder erschien, hat sich der<br />
Verlag von C. G. Naumann, Leipzig, den<br />
Dank aller Nietzschefre<strong>und</strong>e erworben. Das<br />
Schreiben richtet sich an den Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
Intimus des toten Philosophen, an P e t e r<br />
G a s t , dessen glänzende Einführung in die<br />
Gedankengänge des obgenanntea Werkes<br />
wohl für jeden Kenner eine unbedingt<br />
wertvolle Geistesschulung der freiesten<br />
Form bedeutete; sehr interessant ist der<br />
Brief besonders durch seine Mitteilungen<br />
über die Fertigstellung des ersten Zarathustrateiles,<br />
wie auch darum, daß er deutlich<br />
<strong>und</strong> klar beweist, mit welchen Absichten<br />
<strong>und</strong> Gefühlen - alles andere eher'<br />
als gesellschaftsstützende — Nietzsche sein<br />
Buch verfaßte <strong>und</strong> uns schenkte als immerdar<br />
währenden Born der Lebens- <strong>und</strong><br />
Kampfesstärke.<br />
Rapallo, 1. Februar 1883.<br />
Lieber Fre<strong>und</strong>!<br />
Ich schrieb Ihnen lange nicht, <strong>und</strong> es<br />
war gut so. Meine Ges<strong>und</strong>heit hatte sich<br />
wieder an Zustände gewöhnt, welche ich<br />
hinter mir glaubte: es war eine große Leib<strong>und</strong><br />
Seelenquälerei — wobei das jetzige<br />
Europawetter seinen geringen Anteil hatte.<br />
Inzwischen gab es aber wieder reine,<br />
klare Tage, <strong>und</strong> sofort bin ich auch wieder<br />
meiner selber Herr geworden. Ein Glück<br />
bleibt es bei alledem, wenn man in der<br />
E i n s a m k e i t mit sich selber fertig werden<br />
kann: aber wie viele sind geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
müssen ihr Elend im Verkehren mit Menschen<br />
v e r d o p p e l t tragen!<br />
Gefroren habe ich übrigens wie noch<br />
niemals <strong>und</strong> ebenfalls niemals schlechter<br />
gegessen, e i n e Veränderung meines Aufenthaltsortes<br />
ist jetzt nötig: ich hatte bereits<br />
das Zimmer wieder gemietet, welches<br />
ich im letzten Winter in Genua bewohnte<br />
— aber die neueste Nachricht ist, daß der<br />
Herr, welcher jetzt darin wohnt, sich anders<br />
entschlossen hat <strong>und</strong> bleibt.<br />
Nun hat mich die alte, gute Fre<strong>und</strong>in<br />
Meysenburg nach Rom eingeladen; <strong>und</strong><br />
mir mit Bestimmtheit jemanden in Aussicht<br />
gestellt, der täglich zwei St<strong>und</strong>en mit mir<br />
s c h r e i b e n will. Da ich gerade auf das<br />
Dringendste Jemanden zum Schreiben <strong>und</strong><br />
Diktieren nötig habe, so will ich nach Rom<br />
übersiedeln — so wenig es, wie Sie wissen,<br />
der Ort meiner Wahl ist . . .<br />
Aber vielleicht haben Sie Vergnügen<br />
daran zu hören, w a s es zu schreiben <strong>und</strong><br />
druckfertig zu machen gibt. Er handelt sich<br />
um ein ganz kleines Buch — h<strong>und</strong>ert<br />
Druckseiten etwa. Aber es ist mein B e s t e s ,<br />
<strong>und</strong> ich habe einen schweren Stein mir<br />
dadurch von der Seele gewälzt. Es gibt<br />
nichts Ernsteres von mir <strong>und</strong> auch nichts<br />
Heitereres; ich wünsche von Herzen, daß<br />
diese Farbe -- welche nicht einmal eine<br />
Mischsorte zu sein braucht — immer mehr<br />
zu meiner »Natur«-farbe werde. Das Buch<br />
soll heißen:<br />
Also sprach Zarathustra.<br />
E i n B u c h f ü r A l l e u n d K e i n e n .<br />
Von<br />
F. N.<br />
Mit diesem Buch bin ich in einen<br />
neuen «Ring» eingetreten — von jetzt an<br />
werde ich wohl in Deutschland unter die<br />
Verruchten gerechnet werden. Es ist eine<br />
w<strong>und</strong>erliche Art von «Moral-Predigten».<br />
Mein Aufenthalt in Deutschland hat mich<br />
vollkommen zu dem gleichen Gesichtspunkte<br />
gebracht wie Sie, liebster Fre<strong>und</strong>,<br />
der Ihrige — nämlich, daß ich nicht mehr<br />
hineingehöre. Und j e t z t wenigstens . . .<br />
geht es mir wie Ihnen: diese Einsicht <strong>und</strong><br />
«Stellungnahme» hat mich e r m u t i g t .<br />
W o h i n wir jetzt gehören? — Seien<br />
wir glücklich, daß wir eine solche Frage<br />
überhaupt stellen d ü r f e n !<br />
<strong>Unser</strong>e Erlebnisse waren ziemlich gleich,<br />
nur haben Sie ein besseres Temperament;<br />
eine bessere, stillere, einsamere Vergangenheit<br />
— <strong>und</strong> eine bessere Ges<strong>und</strong>heit vor<br />
mir voraus.<br />
Ich bin beinahe erstickt. —<br />
Also bis zum 10. werde ich noch hier<br />
sein. Später Roma postale restante. Ihnen<br />
immer sehr in Gedanken <strong>und</strong> Wünschen<br />
nahe Friedrich Nietzsche.
Der Fremdling.*<br />
Wen liebst du am meisten, rätselhafter<br />
Mann, o sag? Deinen Vater, deine Mutter,<br />
deine Schwester oder deinen Bruder?<br />
Ich habe nicht Vater, nicht Mutter, nicht<br />
Schwester, nicht Bruder.<br />
Deine Fre<strong>und</strong>e?<br />
Du nennst da ein Wort, dessen Sinn<br />
bis auf den heutigen Tag mir unbekannt<br />
geblieben.<br />
Dein Vaterland?<br />
Wer weiß denn, unter welchem Himmelsstrich<br />
es liegen mag!<br />
Die Schönheit?<br />
Wie gern doch liebte ich sie, die unsterbliche<br />
Göttin —!<br />
Das Gold?<br />
Ich hasse es, so wie du Gott hassest.<br />
Und was dann, seltsamer Fremdling,<br />
was dann liebst du?<br />
Ich liebe die Wolken . . . die eilenden<br />
Wolken . . . dort draußen . . . die w<strong>und</strong>erbaren<br />
Wolken! Ch. Baudelaire.<br />
* Aus „Kleine Dichtungen in Prosa".<br />
Aphorismen aus dem Gefängnis.<br />
Gleichheit <strong>und</strong> Gleichheit der Bedingungen<br />
stehen in dem Verhältnis eines<br />
spinnenden Katers auf dem Schöße einer<br />
entsafteten alten Jungfer zu dem Löwen<br />
von Bengalen.<br />
Die erste konnte deshalb stets der<br />
Pöbel der Gasse <strong>und</strong> der Tribüne fassen<br />
<strong>und</strong> schreien; das andere war der Traum<br />
der einsamen Geister, der Propheten, das<br />
Ideal der Freiheitträumer.<br />
Ein Monarch, der stets gekrümmte<br />
Rücken sieht <strong>und</strong> dem aus allen Ecken die<br />
Huldigung dem »Einen«, »Einzelnen« entgegentönt,<br />
muß eine niederdrückend niedrige<br />
Meinung von sich bekommen. Was<br />
kann das für eine Gattung sein, die unter<br />
Myriaden von Erzeugten ein Edelexemplar<br />
seiner Art hervorbringt; <strong>und</strong> was soll es<br />
schließlich bedeuten, in solcher Gattung<br />
Edelexemplar zu sein.<br />
Der König gehört nach derselben Gerechtigkeit<br />
nicht unter die Guillotine, wie<br />
der Verbrecher nicht ins Zuchthaus. Beide<br />
sind Produkte ihre Verhältnisse, Opfer des<br />
Milieus.<br />
Nach derselben Gerechtigkeit natürlich,<br />
die den Einen ins Gefängnis schickt, gebührt<br />
dem Andern das Schaffot. Und geschieht<br />
das eine in des Königs Namen,<br />
wird's gerecht sein, wenn zum andern die<br />
Straße die Marseillaise singt.<br />
Ihr revolutionären Demokraten: wird<br />
der Streik Prinzip, ist drüben das Recht der<br />
Majorität. Seid revolutionär oder seid Demokraten:<br />
Gewalt kann die Masse bringen<br />
— Revolution nie. Dazu brauchts die Gesellschaft<br />
von Persönlichkeiten. s. H.<br />
Vom Büchertisch.<br />
Die Verlagsbuchhandlung L e b e n s r e f o r m<br />
(Berlin C, Stralauer Brücke 4), die auch die sehr<br />
lesenswerte Zeitschrift „ D e r M e n s c h " herausgibt,<br />
sendet uns eine Anzahl ihre Werke, die wir sämtlich<br />
als belehrend <strong>und</strong> geistig anregend gerade für<br />
Proletarier warm empfehlen können. Titel der<br />
Werke sind:<br />
M a x i m G o r k i , D e r M e n s c h . 2 5 Pfg. Eine<br />
lebenswarme Schilderung des Kämpfers in der<br />
Menschheit.<br />
E r n s t W e s t l a n d , U n i v e r s i t ä t , P o l i t i k<br />
u n d D u m m h e i t . Mk. 1.75. Das Wort „Dummheit"<br />
bietet den Schlüssel zu den vorstehenden<br />
zwei Institutionen.<br />
H a n s O h n e l a n d , W o r a u f w a r t e n w i r ,<br />
P r o l e t a r i e r ? Oder: J u n k e r , W i r t s c h a f t s -<br />
k r i s e u n d W e l t k r i e g . 3 0 Pfg. Eine geradezu<br />
vorzügliche Schrift, die für Begründung von landwirtschaftlichen<br />
Produktivassoziationen eintritt, eine<br />
glänzende Kritik der Sozialdemokratie liefert. Schade<br />
nur, daß sich der Verfasser zu einigen ganz unbegründeten<br />
Hieben auf den Kommunismus hinreißen<br />
läßt, die in keiner Weise zur sonstigen, besonders<br />
scharfen Logik zu passen scheinen. Ist doch der<br />
Kommunismus nichts anderes als die konsequente<br />
Ausarbeitung eines jeden genossenschaftlichen Prinzips!<br />
W a s aber die praktischen Fragen <strong>und</strong> deren<br />
Lösung durh „Ohneland" anbelangt, so könnten<br />
wir alle bei ihm in die Schule gehen.<br />
T h e o d o r H e e r m a n n , D i e M e r l e , e i n<br />
s c h ö n e r G e d i c h t s s t r a u ß . Mk, 1 .<br />
H e r m a n n K r e c k e , 1 . U n s e r t ä g l i c h e s<br />
B r o t i m S t u f e n r e i c h d e r L i e b e . 2 0 Pfg.;<br />
2 . D i e S c h ö p f e r k r a f t d e s M e n s c h e n<br />
u n d a n d e r e A u f s ä t z e . 5 0 Pfg. Zwei gediegene,<br />
gehaltvolle Broschüren von einem eigenartigen<br />
Mann. Krecke, der in vielem große Ähnlichkeit<br />
mit dem Auftreten Egidys hat, war ein L a n d e s -<br />
g e r i c h t s r a t . In Menschen eines solchen Berufes<br />
eine so edle, empfängliche S e e l e ? J a , es ist T a t -<br />
sache. Hier steht ein Mann vor uns, der nach Freiheit<br />
<strong>und</strong> sozialer Gerechtigkeit stritt, wie nur der<br />
Besten einer; das ist ein Mann, der den lebenden<br />
Gegensatz zu seinem Handwerk bot.<br />
P a u l S c h i r m e i s t e r , D a s R e c h t a u f A r -<br />
b e i t — e i n R e c h t a u f L a n d ! 1 0 Pfg. Eine<br />
gute Propagandaschrift.<br />
J . S p o n h e i m e r , 1 . D e r V e g e t a r i s m u s<br />
e i n e w i r t s c h a f t l i c h e N o t w e n d i g k e i t .<br />
Mk. 1.50; Z w e c k u n d Z i e l e d e r v e g e t a r i -<br />
s c h e n S i e d l u n g s g e n o s s e n s c h a f t . 5 0 Pfg.;<br />
3 . D a s W o h n u n g s e l e n d d e r G r o ß s t ä d t e<br />
u n d s e i n e A b w e n d u n g d u r c h S e l b s t h i l f e .<br />
Mk. 1.—. Der Verfasser zeichnet sich durch gründliche<br />
Sachkenntnis sehr vorteilhaft aus <strong>und</strong> können<br />
wir auch nicht unbedingt allen seinen Schlußfolgerungen<br />
zustimmen, so doch besonders dorten,<br />
wo er den Finger auf die Eiterbeule des bestehenden<br />
Zustandes legt <strong>und</strong> er, selbst ein Besitzender,<br />
doch in schönem Wahrheitseifer Front macht gegen<br />
den Privatbesitz von Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden.
Die Anarchie <strong>und</strong> das allgemeine<br />
Wahlrecht.<br />
Schluß.<br />
Ohne den Geist der Rebellion wären<br />
wir rohe Tiere geblieben, die auf die<br />
schmale Kost des irdischen Jammertals angewiesen<br />
wären. Jeder Fortschritt, alles<br />
Leben auf der Erde ist die Frucht ständiger<br />
Rebellion gewesen. Isolierte Rebellen sind<br />
dem Tode geweiht, doch geht ihr Beispiel<br />
nicht verloren, denn andere Unzufriedene<br />
erheben sich nach ihnen, verständigen sich<br />
untereinander <strong>und</strong> gehen Schritt um Schritt<br />
zum Siege weiter.<br />
Nun gibt es aber noch eine Masse<br />
Menschen, die glauben oder zu glauben<br />
vorgeben, daß das Buch der Revolutionen<br />
für immer durch das Kapitel abgeschlossen<br />
ist, d a s m a n d a s a l l g e m e i n e W a h l -<br />
r e c h t nennt. Das Sicherheitsventil sei<br />
durch dies Stimmrecht geschaffen, das die<br />
französische provisorische Regierung vor<br />
30 Jahren bewilligte.<br />
Die braven, guten Franzosen können<br />
sich auf ihr Stimmrecht etwas einbilden;<br />
haben sie ja jetzt das Recht, sich ihre<br />
Herren, diese kleinen "Zaunkönige, selbst<br />
zu wählen; haben sie ja jetzt das Recht,<br />
sich an einem Tage frei zu g l a u b e n , um<br />
sich jahrelang wieder regieren zu lassen.<br />
Trotz der Wahlen beschließt die Regierung<br />
wie früher über das Wohl <strong>und</strong> Wehe der<br />
Untertanen, über Krieg <strong>und</strong> Frieden; trotz<br />
der Wahlen bleiben Millionen von Entrechteten<br />
in den Fängen des Elends, bleiben<br />
Millionen von Arbeitern in den Fängen des<br />
Kapitals, das sie in seinen Fabriken <strong>und</strong><br />
Werkstätten niederhält; trotz der Wahlen<br />
lastet auf allen gleich schwer die Unsicherheit<br />
des morgigen Tages. Das allgemeine<br />
Wahlrecht hat es nach 30jähriger Betätigung<br />
nicht verhindern können, daß die Arbeit<br />
der großen Menge auch weiter dem Nutzen<br />
der Kapitalisten dient, daß der Mehrertrag<br />
den Drohnen der Gesellschaft zufällt. Das<br />
allgemeine Wahlrecht hat es bestehen<br />
lassen, daß Kaufleute mit falschen Gewichten<br />
handeln, daß Advokaten gleicherweise<br />
Recht <strong>und</strong> Unrecht verteidigen - solange<br />
sie bezahlt werden.<br />
Das sichtbarste Ergebnis der Reform<br />
des Wahlrechts, das aus dem beschränkten<br />
zum sogenannten allgemeinen wurde, war,<br />
daß d i e Z a h l d e r P o l i t i k e r , die sich<br />
aus dem Reden einen Beruf machen, vermehrt<br />
wurde, daß diese erst um die Gunst<br />
der Wähler buhlen, um sich dann, wenn<br />
sie gewählt sind, an die Mächtigen der<br />
Erde zu wenden <strong>und</strong> von diesen Titel,<br />
arbeitslose Einkommen <strong>und</strong> Pensionen zu<br />
erbetteln. Der Aristokratie der Geburt <strong>und</strong><br />
der Aristokratie des Geldsacks entsteht ein<br />
neuer Genosse — die A r i s t o k r a t i e der<br />
Phrase. Sicher befinden sich unter den<br />
Kandidaten auch gutgesinnte Männer, die<br />
fest entschlossen sind, von dem Programm<br />
nicht abzuweichen, das sie während der<br />
Wahlkampagne entwickelt haben; doch so<br />
gut sie auch gesinnt sein mögen, den Tag<br />
n a c h den Wahlen befinden sie sich in<br />
ganz anderen Verhältnissen. Sie bilden<br />
dann bereits eine privilegierte Klasse, txoii<br />
ihrer selbst sind sie Männer des Privilegs<br />
geworden. Von ihren Mitbürgern mit dem<br />
»Recht« betraut, alles zu wissen <strong>und</strong> über<br />
alles zu entscheiden, bilden sie sich nun<br />
wirklich ein, in allen Fragen kompetent zu<br />
sein; ihr Wissen ist, so meinen sie, universal<br />
geworden; zu gleicher Zeit sind sie<br />
Gelehrte, Techniker, Industrielle, Kaufleute,<br />
Generäle, Admiräle, Diplomaten <strong>und</strong> Administratoren,<br />
<strong>und</strong> das ganze Leben der<br />
Nation muß in ihrem Gehirn ausgearbeitet<br />
werden. Wo ist ein so starkes Individuum,<br />
das dieser Vergötterung seiner Wähler zu<br />
widerstehen vermöchte? Als Erbe des<br />
Königtums bekommt der Abgeordnete auch<br />
noch das höchste Bestimmungsrecht über<br />
alle Dinge zugewiesen, was W<strong>und</strong>er, wenn<br />
ihn nun der Schwindel der Macht über-<br />
kommt; die nötigen Verhältnisse in Betracht<br />
ziehend, legt er seine Einfälle in Gesetze<br />
fest, umgibt sich mit einem Hof von Anbetern<br />
<strong>und</strong> Schafft sich Interessen oder geratet<br />
in einen Interessenkreis, der demjenigen<br />
der Menge, die er vertritt, direkt<br />
entgegengesetzt ist.<br />
Bis jetzt hat die Aufgabe der Wähler<br />
nur darin bestanden, die Feinde auszuscheiden,<br />
die sich vor den Wahlen noch<br />
Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> sogar Verfechter der sozialen<br />
Idee nannten. Ist es notwendig, daß diese<br />
Idiotenarbeit immer <strong>und</strong> immer wieder vorgenommen<br />
wird, ein Faß ohne Boden zu<br />
füllen oder einen Stein hinaufzuwälzen, der<br />
immerfort auf uns zurückfällt? Ist es nicht<br />
besser, sich unserer e i g e n e n sozialen Arbeit<br />
hinzugeben, aus uns selbst heraus eine<br />
Gesellschaft o h n e privilegierte Vertreter<br />
zu bilden, eine Gesellschaft freier <strong>und</strong><br />
gleicher Menschen? Um ihre Anteilnahme<br />
an den Wahlen zu rechtfertigen, geben<br />
manche revolutionäre demokratische Sozialisten<br />
vor, keinen anderen Zweck zu verfolgen,<br />
als die Gelegenheit zur Propaganda<br />
der Ideen auszunützen; da die Leidenschaften<br />
während der Wahlen besonders<br />
erhitzt sind, glauben sie, auf die Geister<br />
energischer einwirken zu können, um desto<br />
mehr Anhänger für die revolutionäre Idee<br />
zu gewinnen. D o c h l e n k t d i e W a h l<br />
s e l b s t d i e s e L e i d e n s c h a f t e n n i c h t<br />
a b ? Ist das Interesse, mit dem eine Wahl<br />
verfolgt wird, nicht dem Interesse eines<br />
Spielers gleich? Das Wettlaufen der Kandidaten<br />
vor den Wahlen gleicht doch auf<br />
ein Haar dem Wettrennen der Pferde auf<br />
dem Turf. Man interessiert sich zu erfahren,<br />
wer um eine Länge, wer um eine halbe<br />
Länge gesiegt hat; <strong>und</strong> wenn sich die niedere<br />
Aufregung der Zuschauer gelegt hat,<br />
so ist auch die ganze Angelegenheit für<br />
ein Jahr oder mehrere Jahre erledigt, <strong>und</strong><br />
man legt sich auf die Bärenhaut, als wenn<br />
die wahre Sache nicht noch erst zu machen<br />
wäre. D i e W a h l e n d i e n e n somit keinem<br />
a n d e r e n Z w e c k , als die Revolutionäre<br />
auf einen falschen <strong>Weg</strong> zu leiten<br />
<strong>und</strong> ihre Kräfte nutzlos zu vergeuden.<br />
Wir Anarchisten verhalten uns dazu<br />
immer gleich, einer wie der andere. Wir<br />
wissen, daß die Autorität stets nachteilige<br />
Folgen hat für den, der sie ausübt, sowie<br />
für den, der sich ihr beugt; wir würden<br />
uns entehrt fühlen, wollten wir uns als<br />
freiempfindende Menschen dazu hergeben,<br />
in ein Joch irgend einer Macht zu gehen.<br />
Lassen wir d i e s e e n t w ü r d i g e n d e B e -<br />
s c h ä f t i g u n g den M e n s c h e n , die noch<br />
kein S e l b s t b e w u ß t s e i n h a b e n <strong>und</strong><br />
n o c h g e w o h n t sind, ihre R ü c k e n zu<br />
b e u g e n .<br />
Andererseits haben wir auch keinen<br />
Gr<strong>und</strong>, uns einer Gesellschaft zu fügen,<br />
die nicht die unsrige ist. Man mag noch<br />
so viel gegen uns reden, daß die Einrichtung<br />
einer anarchistischen Gesellschaft unmöglich<br />
sei, diese Möglichkeit einer anarchistischen<br />
Gesellschaft existiert für uns:<br />
Wir befinden uns auf dem <strong>Weg</strong>e zu ihr,<br />
i n d e m wir b e w e i s e n , daß e i n e anarc<br />
h i s t i s c h e i d e a l e B e w e g u n g m ö g l i c h<br />
ist. Trotz der feindlichen Haltung der<br />
bourgeoisen <strong>und</strong> kapitalistischen Gesellschaft<br />
bilden sich dennoch überall anarchistische<br />
Gruppen. Sie haben weder Präsidenten<br />
noch Delegierte; in ihrem Kreise<br />
ist die Frauenfrage gelöst, der Frau werden<br />
die gleichen Rechte eingeräumt wie dem<br />
Manne, dem Ausländer dieselben wie dem<br />
Mitbürger; alle diese von der Gesellschaft<br />
<strong>und</strong> vom Gesetz vorgeschriebenen Beschränkungen<br />
sind für uns nicht maßgebend.<br />
Jeder nimmt an dem Leben unserer<br />
Bewegung den Anteil, der seinen<br />
Fähigkeiten entspricht, arbeitet gemäß seinen<br />
Kräften, ohne einen erhöhten Lohn für<br />
besondere Leistungen zu verlangen. Und<br />
während die herrschenden Klassen kein<br />
anderes Beispiel bieten können, als die<br />
Sucht nach möglichst hoher Ausbeutung<br />
anderer Menschen, sind in den beherrschten<br />
Klassen schon Keime jener Zukunftsgesellschaft<br />
sichtbar, die weder Thron noch<br />
Altar kennen wird. Das ist die Kraft des<br />
wahren Fortschrittes, denn da ist Arbeit<br />
<strong>und</strong> Solidarität! Doch genügt es nicht, die<br />
Kraft zu besitzen, man muß auch Vertrauen<br />
auf seine Kraft haben <strong>und</strong> sie anzuwenden<br />
wissen, denn bis jetzt sind Revolutionen<br />
größtenteils nur vom blinden<br />
Instinkt geleitet worden.<br />
Das ist es, Kameraden, was ich euch<br />
vor allem zu sagen wünschte: B e r e i t e t<br />
e u c h vor zu dem g r o ß e n K a m p f der<br />
v o l l s t ä n d i g e n B e f r e i u n g !<br />
Elisée Reclus.<br />
Öffentliche Erklärung.<br />
An Michael D a n n e k ! Am 4. Oktober referierte<br />
ich in einer öffentlichen Volksversammlung in<br />
Rains Saal, XII., Steinhauergasse Nr. 25 über den<br />
„Nürnberger sozialdemokratischen Parteitag". In<br />
der Diskussion warf mir Ihr Parteigenosse Herz<br />
vor, daß es ganz merkwürdig, wo ich überall g e -<br />
wesen sei <strong>und</strong> herumgereist wäre. Darauf entgegnete<br />
ich, daß ich dieses Verbrechen mit seinen eigenen<br />
Führern teile, nur mit dem Unterschied, daß<br />
ich meine Reisen selbst bezahlen <strong>und</strong> 3. Klasse<br />
fahren muß, während sozialdemokratische Parteioder<br />
Gewerkschaftsführer entweder Freibillete haben<br />
oder ihre resp. Organisationen ihre Reisespesen —<br />
<strong>und</strong> oft nicht 3. K l a s s e ! — decken. Darauf haben<br />
Sie, Michael Dannek, in den Saal geschrien: „Sie<br />
sind ein Gesinnungslump, ein Schuft!" Durch ihr<br />
<strong>und</strong> der Ihrigen Gebrüll veranlaßt, löste nun der<br />
Regierungsvertreter die Versammlung auf.<br />
Ich wünsche Ihnen noch nachträglich Gelegenheit<br />
zu geben, mir gerichtlich Gesinnungslumperei<br />
nachzuweisen <strong>und</strong> erkläre alle, die gleiches b e -<br />
haupten, ganz insbesondere aber Sie, hiermit öffentlich<br />
als e h r l o s e n S c h u r k e n u n d V e r -<br />
l e u m d e r , s o l a n g e S i e I h r e B e h a u p -<br />
t u n g e n n i c h t b e w e i s e n . P . Ramus.<br />
Mitteilung.<br />
Der G e n o s s e A n t o n U h l s c h m i d t , wohnhaft<br />
in Schönbach Nr. 196 (Böhmen), ersucht uns,<br />
mitzuteilen, daß er Musikinstrumentenmacher ist<br />
<strong>und</strong> sich um die K<strong>und</strong>schaft unserer Leser bewirbt.<br />
An die ä l t e r e n G e n o s s e n d e r e h e m a l i g e n<br />
r a d i k a l e n B e w e g u n g . Wir ersuchen alle diejenigen,<br />
die im Besitze alter Dokumente, Zeitschriften,<br />
Briefe <strong>und</strong> sonstiger irgend wie gearteter Materialien<br />
sind, die Bezug nehmen auf die ältere G e -<br />
schichte der österreichischen Arbeiterbewegung<br />
n i c h t g e m ä ß i g t e r Richtung, sich mit uns i n<br />
Verbindung setzen zu wollen zwecks Anlegung<br />
eines Archivs <strong>und</strong> Verarbeitung der vorhandenen<br />
historischen Fragmente.<br />
Briefkasten.<br />
A d . F. Haben den interessanten S a t z : „Parteidisziplin<br />
ist vor allem nötig, <strong>und</strong> wer sich gegen<br />
dieselbe versündigt, schädigt die Partei viel mehr<br />
als der wütendste Gegner" im Bielohlawekschen<br />
L e i b - <strong>und</strong> Unsinnsblatt gelesen; stimmen Ihnen<br />
auch bei, wenn Sie sagen, daß dies genau dieselbe<br />
Moralanschauung ist, die in der sozialdemokratischen<br />
Partei gang <strong>und</strong> gäbe. Zwischen Sozialdemokratie<br />
<strong>und</strong> Christlichsozialen besteht eben nur<br />
ein terminologischer, aber nicht realer Unterschied!<br />
— B a d , H a m b . Erst nachträglich bemerkte ich<br />
Ihren anregenden Artikel über „Kulturförderer".<br />
Mein Dank für Sendung tut's wohl auch jetzt noch.<br />
Brudergruß! — S c h w e b e r , B e l g i e n . Dafür dank<br />
ich Dir ' doppelt, daß die alte transatlantische<br />
Fre<strong>und</strong>schaft so unverbrüchlich treu gehalten ward,<br />
um meinen Angstruf zu hören <strong>und</strong> gerade zur<br />
richtigen schweren Zeit zu helfen. Handdruck!<br />
E. H. Leider mußte ihr gediegener Artikel bis<br />
nächste Nummer zurückgestellt werden. Nichts<br />
für ungut! — M a r b u r g . D a s lobe ich mir, was Ihr<br />
schreibt „Ich kann Euch mitteilen, daß der Aufenthalt<br />
unseres Gen. R. dahier, den Verhältnissen<br />
entsprechend, Früchte getragen ' hat. Sämtliche<br />
Exemplare des „W. f. A." bringen wir l e i c h t an,<br />
die Leute interessieren sich dafür, <strong>und</strong> wir hoffen,<br />
daß wir in kurzer Zeit schon Mehrbestellung werden<br />
machen können." So erfreulich Euer Bericht<br />
für R. ist, so lehnt er es doch ab, diesen Erfolg<br />
für sich zu beanspruchen; wahr ist vielmehr, daß<br />
Euch <strong>und</strong> Eurer rührigen Arbeitstätigkeit für die<br />
Idee das Verdienst dieses prächtigen Erfolges g e -<br />
bührt! Brüderliche Solidarität! - Dr. A u g . F.<br />
Dank für Abon. — B a s n e r , Stadtverordneter. Wir<br />
besitzen die gewünschten Exemplare leider nicht<br />
in Duplikaten.
Der Antimilitarismus<br />
als<br />
T a k t i k d e s A n a r c h i s m u s .<br />
Von Pierre R a m u s .<br />
Referat, gehalten auf dem internationalen Amsterdamer Kongreß<br />
der »Internationalen antimilitaristischen Assoziation«<br />
am 30. <strong>und</strong> 31. August 1907.<br />
(Fortsetzung.)<br />
Der Soldat ist eben ein anderer Mensch als der Zivilist. Eine neue<br />
Ehre entsteht für ihn aus dem Umstände verschiedener Kleidung, die, so erzählt<br />
man ihm, ein Abzeichen des Schutzes des Vaterlandes, des häuslichen<br />
Herdes, der höchsten „Güter der Nation" gegenüber dem Nachbarlande ist;<br />
<strong>und</strong> jenseits der Grenzen wird wieder das Gleiche gelehrt. So hört der Soldat<br />
auf, ein Mensch unter Menschen zu sein; er wird Soldat unter Menschen,<br />
also ein Gewaltswesen, das nur die Gewalt als regulativen Faktor in den<br />
Beziehungen zwischen Menschen anerkennt.<br />
Wozu alle die Hekatomben von Opfern an Leben, Glück, Frieden,<br />
Kulturarbeiten, die ein Krieg k o s t e t ? Man spricht uns vom Patriotismus <strong>und</strong><br />
nationalem Gefühl. Aber das sind doch nur heuchlerische Phrasen, da es ja<br />
so etwas wie eine reine Nation n i c h t gibt. Überdies können wir es jeden<br />
T a g beobachten, daß der Staat Nationalismus <strong>und</strong> Patriotismus n u r vom<br />
Volke verlangt; Staat <strong>und</strong> Kapital sind längst international <strong>und</strong> internationalistisch<br />
geworden. Der Staat ist ja ureigentlich das Prototyp internationaler<br />
Vermählung. Es gibt keinen nationalen Staat, es gibt nur die Staatenwelt,<br />
welche, die Massen als Werkzeuge ihrer Eroberungsgier betrachtend, die<br />
Erde <strong>und</strong> ihren Reichtum unter sich in entsetzlich blutigen Kämpfen aufteilt<br />
<strong>und</strong> nun bestrebt ist, die unterjochten Völker glauben zu machen, s i e<br />
müßten sich als streng gesonderte, abgegrenzte Gruppe von den übrigen<br />
Völkern <strong>und</strong> Stämmen betrachten — im gegebenen Fall wider diese<br />
kämpfen sollen!<br />
Der Krieg ist der Mord auf Kommando. Wir können den Mord verstehen<br />
<strong>und</strong> erklären, welcher der Überzeugung, der Leidenschaft, pathologischen<br />
Momenten, kurz, der all dem entfließt, was überwiegende Gefühlsmacht<br />
über den Menschen gewonnen hat. Den Mord, ausgeheckt von einigen,<br />
in sicherer Entfernung sich Befindenden, ausgeführt von Individuen, die, nur<br />
dem Zwange gehorchend, morden müssen, gerichtet gegen Individuen, die<br />
dem V o l k e der kriegführenden Nationen nie das Geringste zu Leide taten,<br />
nur der Förderung gemein-egoistischer Interessen der Herrschenden dienend<br />
diesen Mord verdammen, verurteilen die Anarchisten aufs schärfste. Sie<br />
rufen mit vereinten Kräften :<br />
G e g e n d i e U r h e b e r v o n K r i e g e n ! K r i e g d e n e n , d i e i m<br />
B l u t e d e r V ö l k e r w a t e n w o l l e n u n d d e n e n e r e i n B e r u f , e i n<br />
B e r e i c h e r u n g s z w e c k i s t ! D a r i n b e s t e h t i m a l l g e m e i n e n d e r<br />
A n t i m i l i t a r i s m u s d e r A n a r c h i s t e n !<br />
III.<br />
Die bürgerlichen friedensfre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> der sozialdemokratische<br />
Antimilitarismus.<br />
Wir haben den Kreislauf aller früheren bürgerlichen Ideengänge des<br />
Antimilitarismus <strong>und</strong> des Friedensstrebens kennen gelernt;* wir wollen in<br />
Nachstehendem die Gedankengänge der modernen bürgerlichen Friedensbestrebungen<br />
<strong>und</strong> ihres Kumpanen, der modernen Sozialdemokratie, kennen<br />
lernen.<br />
Es würde uns zu weit führen, ist auch ganz unnütz für unseren Zweck,<br />
wollten wir Ins Einzelne gehen <strong>und</strong> aus den Worten von Frau Berta von<br />
Suttner, aus den Schriften eines D'Estournelles etc., überhaupt aus der<br />
ganzen, ungeheuer großen Literatur dieser Friedensbewegung schöpfen. Für<br />
unseren Zweck genügt es vollständig, uns auf eine kleine, zusammenfassende<br />
Schrift des Herrn Alfred H. Fried zu stützen, der als Mitglied des internationalen<br />
Friedensinstitutes <strong>und</strong> als Herausgeber der „Friedenswarte"** eine<br />
publizistisch internationale Bedeutung besitzt.<br />
Der Name der kleinen Schrift lautet: „ D i e F r i e d e n s b e w e g u n g ,<br />
w a s s i e w i l l , u n d w a s s i e e r r e i c h t h a t . " (Felix Dietrich, Leipzig, 1905)-<br />
Diese Broschüre, wie auch ihr Verfasser, verfällt in diejenige irrtümliche<br />
Methode der antimilitaristischen Aktion, die die gesamte Vergangenheit des<br />
Antimilitarismus auszeichnet <strong>und</strong> erst in der Gegenwart durch die Anarchisten<br />
allmählich beseitigt wird: — sie besteht in einer fortwährenden Herumarbeiterei<br />
an <strong>und</strong> mit dem Staate. So erblickt Fried das <strong>Ziel</strong> echt kultureller<br />
Entwicklung darin, daß die Staaten sich organisieren <strong>und</strong> vereinigen sollen<br />
„ z u r s o z i a l e n E i n h e i t d e r i n t e r n a t i o n a l e n K u l t u r g e m e i n s c h a f t . "<br />
Man verlangt also etwas, das erfahrungsgemäß n i e war, nie sein kann, denn<br />
der Einzelstaat kann sich selbst nicht überflüssig machen lassen durch eine<br />
etwaige Staatengemeinschaft, die dann eventuell eine internationale Staatengilde<br />
der Volksunterjochung bedeuten würde. Dies kann n i c h t u n s e r <strong>Ziel</strong><br />
sein. Die bürgerliche Friedensbewegung sieht eben die Ursache der Kriege,<br />
wie wir schon eingangs darlegten, sehr idiologisch an <strong>und</strong> glaubt sie in der<br />
persönlichen Feindschaft der herrschenden Staatsrepräsentanten zu einander<br />
gelegen. Dies ist irrtümlich, denn die persönliche Feindschaft ist erst Folge,<br />
nicht Ursache der Kriegserklärung. Der wahre Gr<strong>und</strong> des Krieges liegt heutzutage<br />
in rein materiellen Ursachen, in den ökonomischen Wirtschaftskämpfen<br />
<strong>und</strong> Eroberungsnotwendigkeiten von Nationalsystem gegenüber N a t i o n a l s t e m .<br />
Eines ist freilich richtig: auch hier k a n n eine Harmonisierung der Interessenkonflikte<br />
zwischen Staat <strong>und</strong> Staat dadurch geschaffen werden, daß die E r -<br />
kenntnis politischer Zwangsnotwendigkeiten den diversen Staaten eine solche<br />
Harmonisierung aufzwingt. Ist dies d a n n die „ h ö c h s t e soziale Einheit<br />
der internationalen Kulturgemeinschaft?" Keineswegs! Sonst wäre z. B. der<br />
Dreib<strong>und</strong> eine s o l c h e ; auch der Zweib<strong>und</strong>; sonst wäre die heilige Allianz<br />
eine solche g e w e s e n ! ! S i e alle sind aber nur Verstärkungen der Zentralgewalt<br />
gegenüber den unterjochten Völkern — Vergrößerungen der Opferkonsequenzen<br />
eines etwa ausbrechenden Krieges.<br />
Einfügend wollen wir es präzise ausdrücken: Es besteht tatsächlich<br />
die T e n d e n z unter den Staaten, sich gegenseitig fest zu verbinden <strong>und</strong><br />
zusammenzuschließen, um Kriege nach a u ß e n zu verhindern. Es geschieht dies<br />
aber nicht etwa aus Humanität, aus Kulturgewissen; solches geschieht angesichts<br />
der bewegten sozialen oder politischen Verhältnisse im Innern fast aller<br />
Länder, angesichts der enorm steigenden Staatsschulden <strong>und</strong> hauptsächlich<br />
dank der revolutionären Nötigung, welche die Arbeiterklasse der meisten<br />
* Der Verfasser meint hier die Broschüre »Die historische Entwicklung der Friedensidee<br />
<strong>und</strong> des Antimilitarismus", ein Kapitel aus vorliegendem Referat, das im Verlag F e l i x<br />
D i e t r i c h , G a u t z s c h b e i L e i p z i g (Kregelstraße 5), erschienen <strong>und</strong> zum Preise von<br />
30 Heller erhältlich ist. Die Rai.<br />
** Wien, I., Spiege!gasse 4. Die Red.<br />
Länder den Staaten auferlegt. Es ist aber gr<strong>und</strong>falsch, nun anzunehmen, daß<br />
dies einer Schwächung des Militarismus gleichkomme; im Gegenteil: die<br />
Vermeidung äußerer Konflikte durch den Staat wird einfach deshalb besorgt<br />
um eine Verstärkung <strong>und</strong> Erhöhung des Militarismus zum Gebrauch gegen<br />
das rebellische Proletariat des eigenen Landes, des Inlandes zu ermöglichen<br />
H i e r h a b e n w i r d e n w a h r e n Z w e c k d e r H a a g e r F r i e d e n s -<br />
k o n f e r e n z u . dgl. m . z u s e h e n !<br />
W i r haben einen ganz anderen Begriff von der „ h ö c h s t e n s o z i a -<br />
l e n E i n h e i t d e r i n t e r n a t i o n a l e n K u 1 1 u r g e m e i n s c h a f t " ; w i r<br />
haben eine andere Auffassung über den Internationalismus. Für uns hebt er<br />
erst dann an, wenn die Worte „Kultur" <strong>und</strong> „Gemeinschaft" in freiheitlicher<br />
Läuterung sich internationalisieren. Eine Internationalisierung der Bestialität,<br />
gehoben aus jedem nationalen Rahmen, wäre die Internationalisierung der<br />
Staaten; mehr als es wünschenswert, haben wir sie schon . . . W i r hingegen<br />
internationalisieren die Kulturelemente <strong>und</strong> darum Volkselemente;<br />
eine solche Internationalisierung der Kulturgemeinschaft bedeutet die Überwindung<br />
des Staates auf Gr<strong>und</strong> der Vereinigung <strong>und</strong> Harmonisierung der<br />
V ö l k e r !<br />
Der beste Beweis dafür, wie heillos verworren die Auffassungen unserer<br />
modernen Friedensfre<strong>und</strong>e sogar bester Sorte sind, leuchtet aus dem<br />
einen Umstand hervor, daß Herr Fried in seinem Streben nach Frieden gegen<br />
die „Anarchie der Staaten" kämpft — als ob es nicht schon längst ein internationales<br />
Staatenrecht g ä b e ! — <strong>und</strong> in der B e s e i t i g u n g d i e s e r<br />
A n a r c h i e die beste Gewähr für den Frieden erblickt.<br />
Es ist traurig, diese ziellose Herumschweiferei des geistigen Ausblickes<br />
beobachten zu müssen; es ist traurig zu sehen, wie die Anarchie, die<br />
s t a a t e n l o s e Ordnung des Gesellschaftslebens, hier ganz unverantwortlich<br />
für das verantwortlich gemacht wird, was die A r c h i e, das Staatentum,<br />
verbricht <strong>und</strong> verübt. Wie unlogisch klingt es, wenn Fried s a g t : „Die Friedensrüstungen<br />
bestehen in der Herstellung einer Organisation der Staaten, i n n e r -<br />
h a l b w e l c h e r s i e d i e G e w a l t a u s s c h a l t e n <strong>und</strong> Vernunft <strong>und</strong> Rechl<br />
an deren Stelle treten lassen." Wir fragen: W i e kann der Staat sich seiner<br />
Gewalt entschlagen, ohne sich selbst aufzuheben? Er, der doch selbst Urheber,<br />
Anstifter <strong>und</strong> Vollstrecker aller gesellschaftlichen Gewalt ist! Dann,<br />
nach dieser eigenartigen Apotheose des Idealismus sagt Fried wieder etwas<br />
a n d e r e s : daß die Friedensbewegung n i ch t die direkte Beseitigung des<br />
Krieges, sondern die „ B e s e i t i g u n g s e i n e r U r s a c h e n " herbeiführen<br />
wolle. W e r aber ist eigentlich die Hauptursache, wenn nicht der Staat an<br />
<strong>und</strong> für s i c h ? Übrigens befindet sich Fried hier mit uns auf h a l b e m <strong>Weg</strong>e,<br />
Freilich nur auf halbem, denn wir wollen b e i d e s : die direkte Unmöglichmachung<br />
des Krieges, wie a u c h seiner Ursachen. Der Staat ist uns schon<br />
deshalb Hauptverursacher des Krieges, da alle wirtschaftlichen Ränkesüchteleien<br />
einen Krieg nicht ermöglichten, gäbe nicht d e r S t a a t seine<br />
technisch-organisatorischen Mittel dazu her.<br />
Als „ultimo ratio" wollen die bürgerlichen Friedensfre<strong>und</strong>e, die also<br />
die „Anarchie der Staaten" abschaffen wollen, ein über allen Staates thronendes,<br />
a l l e Kompetenzbefugnisse über diese besitzendes, international wirkendes<br />
S c h i e d s g e r i c h t . Also wieder der Staat über den Staaten; dies die<br />
Abschaffung der „Anarchie der Staaten."<br />
Es ist nur natürlich, daß ein ohne Machtbefugnisse wirkendes Schiedsgericht<br />
einer anarchischen Zukunft, durch seinen begütigenden Rat in Konfliktfragen<br />
viel Gutes <strong>und</strong> Schlichtendes stiften können wird. In unserer, nur<br />
auf Gewalt basierten Gesellschaftsordnung der Gegenwart spielte dasselbe<br />
dagegen die Rolle eines blut- <strong>und</strong> fleischlosen Gespenstes an der Wand. Nur<br />
die ehernste Machtvollkommenheit <strong>und</strong> weitreichender Zwang könnten ein<br />
solches Schiedsgericht zu einem gebieterischen Faktor gestalten. Diese Eigenschaften<br />
lassen sich aber nur durch eine neuerliche <strong>und</strong> eventuell noch vergrößerte<br />
Etablierung von — Militärgewalt zu Gunsten, behufs Gehorsamserzwingung<br />
der zu erlassenden Schiedssprüche in Streitfällen gewinnen. Ein<br />
wirklich idealer „Frieden", der höchstens zu Kriegskoalitionen der „rechtlich"<br />
unterliegenden Mächte wider das Schiedsgericht führte!<br />
So bildet denn ein Schiedsgericht innerhalb den heutigen Verhältnissen<br />
ein grotesk-komisches Zerrbild des Unvermögens <strong>und</strong> der Unfähigkeit. Die<br />
Erfahrung beweist das schlagend genug. Schiedsgerichte existieren seit dem<br />
Jahre 1794. Sie wurden zum ersten Mal auf Gr<strong>und</strong> eines zwischen England<br />
<strong>und</strong> Amerika abgeschlossenen Vertrages etabliert. Bis zum Jahre 1904 —<br />
also innerhalb von 110 Jahren — gelangten 241 Fälle zum Austrag vor einem<br />
Schiedsgerichte. Welch trivialer Art diese Fälle gewesen sein müssen, wird<br />
man begreifen, wenn man nur ganz flüchtig die ausgebrochenen Kriege<br />
während dieser letzten HO Jahre überfliegt! Daß sich 241 Fälle friedlich zum<br />
Austrag bringen ließen, ist erklärlich, wenn man erstens weiß, daß es sich<br />
um Kleinigkeiten oder aber um Streitfragen von i n t e r n a t i o n a l e r Bedeutung<br />
handelte, die ein jeder Staat sehr gerne einem Schiedsgericht übergibt,<br />
um den sonstigen Ausbruch eines Weltkrieges zu verhindern, der unvermeidlich<br />
so manchen scheinbar unverrückbar feststehenden Thron ins Wanken<br />
brächte.<br />
Die gesamte bürgerliche Friedensbewegung ist eine solche, die sich<br />
auch moralisch zum T o d e verurteilt hat, seitdem sie gemeinsame Sache mit<br />
dem Staatentum, den Regierungen, gemacht hat, auf das lächerlich impotente 1<br />
Demagogenzeichen gekrönter Tyrannen hin mit fliegenden Fahnen in das<br />
Lager der Staaten Uberging, mit diesen, wie ja auch erst unlängst zur Langeweile<br />
<strong>und</strong> zum Gespött der ganzen gebildeten Welt, im Haag, mitsprach<br />
<strong>und</strong> mittat.* Wie einflußlos diese ganze Bewegung ist, geht schon aus dem<br />
Umstände hervor, daß die Haager Konferenz, die ja eigentlich k e i n e<br />
Friedenskonferenz war, sondern nur über die H u m a n i s i e r u n g des.<br />
K r i e g e s (!!) beriet —- Macchiavelli nannte ihn den „Austragsweg der<br />
Bestien" — so wirklich gar keinem öffentlichen Interesse begegnete. Besonders<br />
bemerkenswert ist auch, daß sogar die Presse es verschmähte, ausr-'<br />
führliche Berichte über ihre inhaltslosen, leeren Beratungen zu bringen! So<br />
allgemein ist das Gefühl, daß die Haager Konferenz nur Komödie, das Gefühl;<br />
für ihre Impotenz <strong>und</strong> Bedeutungslosigkeit verbreitet!<br />
Die bürgerliche Friedensbewegung darf sich, Hand in Hand mit den<br />
Staaten, rühmen, für i h r e n Antimilitarismus jene geflügelten Worte in sarkastischer,<br />
blutig höhnender Ironie verwirklicht zu haben, die der ungarische<br />
Ministerpräsident Dr. Wekerle in anderem Zusammenhang vor einiger Zeit<br />
äußerte: „Der Sozialismus", so sagte er, „ist ein Ideal, dem wir d a s j e n i g e<br />
entnehmen <strong>und</strong> von dem wir a l l d a s verwirklichen müssen, w a s u n s e r e n<br />
B e s t r e b u n g e n e n t s p r i c h t u n d w a s m i t d e r B e r ü c k s i c h t i g u n g<br />
d e r w a h r e n V e r h ä l t n i s s e a u c h d u r c h g e f ü h r t w e r d e n k a n n . . . "<br />
Nicht den Frieden, nicht die Humanität <strong>und</strong> Gerechtigkeit, nicht den<br />
Antimilitarismus berücksichtigen diese Herren Bourgeois <strong>und</strong> Politiker <strong>und</strong><br />
Staatsmatadoren. Maßgebend für ihren Antimilitarismus <strong>und</strong> brauchbar ist nur 1<br />
das — — „was unseren Bestrebungen entspricht . . ."<br />
•<br />
* An was für Komödien sich die „Friedensfre<strong>und</strong>e" o h n e P r o t e s t beteiligen, geht<br />
hervor aus folgender, von der Haager Konferenz an den russischen Zaren gesandten Depesche,<br />
welche unter allgemeinem lebhaften Beifall angenommen wurde: »Die zur Schlußsitzung ver-!<br />
einigte 2. Friedenskonferenz richtet in höchster Ehrerbietung den Ausdruck ihrer tiefen Dank-.'<br />
barkeit an den erhabenen Anreger <strong>und</strong> Förderer des humanitären Friedenswerkes, an dessen'<br />
Förderung sie gearbeitet hat unter dem Vertreter Eurer Majestät." Charakteristisch für ewigst<br />
Zeiten, auch ohne Kommentar!<br />
Fortsetzung folgt.<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur W. Horatschek (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien.
Wien, 1. November 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 21.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />
1-/17. — Gelder sind zu senden an<br />
Marie Schindelar, Wien, XII., Herthergasse<br />
12, I./17.<br />
Kameraden! Wir ersuchen um<br />
rascheste Begleichung der fälligen<br />
Abonnements- <strong>und</strong> Mehrbezugsgelder!<br />
Ein offener Brief.<br />
An die Redaktion der „Arbeiter-<br />
Zeitung" in Wien.<br />
Am 2 2 . O k t o b e r I. J. brachte die von<br />
Ihnen redigierte T a g e s z e i t u n g einen Bericht<br />
über eine W ä h l e r v e r s a m m l u n g im 14. B e -<br />
zirk, in dem unter anderen W o r t s c h w i n d e -<br />
leien folgendes zu lesen stand:<br />
»Man lernte hier wieder einmal die<br />
sogenannten „radikalen" Leute als V e r b ü n -<br />
dete der Christlichsozialen kennen.«<br />
D e r betreffende Redakteur wußte, als<br />
er diese B e h a u p t u n g niederschrieb, daß er<br />
log <strong>und</strong> verleumdete. Da uns nun daran<br />
gelegen ist, Ihnen die G e l e g e n h e i t dazu<br />
zu bieten, mit Ihren B e w e i s e n für o b i g e<br />
Behauptungen herauszurücken, erklären wir<br />
den Verfasser o b i g e r Zeilen <strong>und</strong>, soweit<br />
sich die g e s a m t e Redaktion der »Arbeiterzeitung«<br />
mit ihm solidarisch erklärt, auch<br />
diese, für e i n e B a n d e g e m e i n e r , e h r -<br />
a b s c h n e i d e r i s c h e r V e r l e u m d e r , solange<br />
sie nicht gerichtlich oder schriftlich<br />
irgend eine geistige o d e r materielle B e z i e -<br />
hung zwischen uns <strong>und</strong> den uns schon<br />
wegen unseres prinzipiell atheistischen<br />
Standpunktes u n m ö g l i c h wesensverwandten<br />
Christlichsozialen erbracht hat.<br />
Uns genügt es, diese geradezu unerhört<br />
schändliche B e k ä m p f u n g s m e t h o d e der<br />
anarchistischen B e w e g u n g g e g e n ü b e r durch<br />
führende Sozialdemokraten, die damit den<br />
Beweis erbringen, wie geistes- <strong>und</strong> gesinnungsverwandt<br />
gerade s i e mit der Verleumdungsmethode<br />
von Christlichsozialen<br />
sind, niedriger zu hängen.<br />
Der französische Gewerkschaftskongreß<br />
zu Marseille.<br />
Bis zu dieser St<strong>und</strong>e hat das österreichische<br />
Proletariat n o c h von keiner Seite<br />
auch nur den kleinsten Bericht über die<br />
hochwichtigen V o r g ä n g e auf diesem 10.<br />
Kongreß der revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />
Frankreichs empfangen. Allzu<br />
sehr sticht der Pulsschlag dieser Beratung,<br />
die G e d a n k e n h ö h e <strong>und</strong> der Idealismus seiner<br />
Beschlüsse, von der schläfrigen Geistlosigkeit<br />
<strong>und</strong> dem gemeinen Eigennutz dessen<br />
ab, was uns die österreichische G e w e r k -<br />
schafts«bewegung» zu bieten hat, als daß<br />
die «Arbeiterzeitung» es hätte wagen dürfen,<br />
einen objektiven Bericht über den<br />
stattgehabten K o n g r e ß der «Konföderation<br />
der Arbeit» zu erstatten. S i e konnte, um<br />
nicht abermals ihrem g e w ö h n l i c h e n S c h i c k -<br />
sal, dem Fluch der Lächerlichkeit zu verfallen,<br />
es sich diesmal nicht leisten, mit<br />
wohlfeilen V e r l e u m d u n g e n über das herzufallen,<br />
was als grandiose Kraftleistung<br />
eines revolutionär organisierten Proletariats<br />
die gesamte W e l t des Reichtums <strong>und</strong> der<br />
Macht mit A n g s t <strong>und</strong> Furcht erfüllte: die<br />
Clemenceau, Briand, Viviani, die da gehofft<br />
hatten, daß dieser K o n g r e ß ein Bild «reuiger<br />
Einkehr» bieten würde <strong>und</strong> die sich<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss ; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneigne der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist. . ."<br />
auch so bitter enttäuscht finden. Denn gerade<br />
der Umstand, daß die sonst führenden,<br />
revolutionär anspornenden d e m e n t e sich<br />
im G e f ä n g n i s befinden, gibt diesem Kongreß<br />
eine b e s o n d e r e W e i h e : zuerst deshalb,<br />
weil es die Konföderation der Arbeit als<br />
einzige proletarische Körperschaft ist, die<br />
in Frankreich überhaupt von der radikalsozialdemokratischen<br />
R e g i e r u n g verfolgt<br />
wird <strong>und</strong> somit stolz auf ihre Opfergaben<br />
auf dem Altar der Freiheit weisen kann<br />
<strong>und</strong> dann zweitens deshalb, weil sie gerade<br />
durch die A b w e s e n h e i t der gefangenen<br />
«Führer» mittels ihrer B e s c h l ü s s e den klaren<br />
B e w e i s erbrachte, daß sie eines jeden<br />
G ä n g e l b a n d e s durch Führer entwachsen<br />
<strong>und</strong> s e l b s t ä n d i g , als sozial kämpfendes<br />
Proletariat, im Stande ist, den revolutionären<br />
Geist einer echt sozialistischen Wirtschaftsb<br />
e w e g u n g der Unterdrückten zu wahren,<br />
getreulich zu behüten.<br />
daß die Bergarbeiter im Falle eines Krieges<br />
unbedingt auch in den Generalstreik treten<br />
würden, <strong>und</strong> nur deshalb nicht für die<br />
antipatriotische Resolution gestimmt hätten,<br />
weil sie durch das W o r t «revolutionär»<br />
nicht die Verfolgung der Regierung auf<br />
sich ziehen wollen. Die Tragweite dieses<br />
Entschlusses ist leicht zu ermessen, denn<br />
wenn durch einen Generalstreik der Kohlengräber<br />
auch nur für ein paar Tage die<br />
Kohle für die Fabriken, Eisenbahnen <strong>und</strong><br />
Dampfschiffe ausgeht, wird jeder Krieg<br />
durch dieses Faktum allein unmöglich. Dieser<br />
Erfolg ist nun in Frankreich gesichert.<br />
*<br />
Mit 947 Stimmen gegen 109 wird der<br />
vollständige Bericht des Konföderationskomitees<br />
angenommen, in dem besonders<br />
rühmlich die s t a r k e B e t e i l i g u n g , resp.<br />
A r b e i t s e i n s t e l l u n g in fast allen Industrien<br />
während des August-Generalstreiks<br />
hervorgehoben wird.<br />
Als wichtiger Punkt tritt uns nun die<br />
Verhandlung über die i n t e r n a t i o n a l e n<br />
B e z i e h u n g e n entgegen. Bekanntlich hatten<br />
sich die französischen Gewerkschaften, gleich<br />
allen übrigen in anderen Ländern, dem<br />
1903 gebildeten, internationalen Sekretariat<br />
angeschlossen, das seine Zusammenkünfte<br />
alle zwei Jahre hält. Da sie aber sehr bald<br />
den mehr als bloß problematischen Wert<br />
dieser Einrichtung, die sich damit begnügen<br />
wollte, ihren paar Teilnehmern - - n u r die<br />
Beamten der Gewerkschaften durften sich<br />
beteiligen — einige vergnügte St<strong>und</strong>en zu<br />
bieten <strong>und</strong> statistische Tabellen in eintöniger<br />
Wiederholung zu veröffentlichen, durchschauten,<br />
wollten nun die französischen<br />
Gewerkschaftler auch hier ihrer historischen<br />
Mission im internationalen Befreiungskämpfe<br />
treu bleiben: L e b e n u n d G e i s t i n d i e s e<br />
K o n f e r e n z e n von S e k r e t ä r e n h i n e i n -<br />
z u b r i n g e n ! Sie legten somit im Jahre<br />
1904 einen Bericht über das Wesen des<br />
Generalstreiks, Antimilitarismus <strong>und</strong> den<br />
Achtst<strong>und</strong>entag, wie all dies von den revolutionären<br />
Gewerkschaften Frankreichs<br />
aufgefaßt wurde, vor; sie ersuchten darum,<br />
daß dieser Bericht a l l e n angeschlossenen,<br />
nationalen Gruppierungen zur B e r a t u n g<br />
<strong>und</strong> B e s p r e c h u n g unterbreitet werden<br />
sollte. Diesen Bericht hat der Vorsitzende<br />
Generalsekretär, der deutsche Gewerkschaftsbeamte<br />
<strong>und</strong> sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete<br />
L e g i e n , im Verein mit einem<br />
anderen, S a s s e n b a c h , e i n f a c h u n t e r -<br />
s c h l a g e n . Darauf zog sich die französische<br />
Gewerkschaftsbewegung von den Konferenzen<br />
z u r ü c k , zahlte aber ihre internationalen<br />
Beiträge nach wie vor weiter. Indessen<br />
besaß die letzte Konferenz dieser<br />
politischen Gewerkschaftsdrahtzieher, die<br />
zu Christiania im Jahre 1907 stattfand, die<br />
freche Anmaßung, sich in die internen Angelegenheiten<br />
der französischen Gewerkschaftsbewegung<br />
zu mengen <strong>und</strong> dieser zu<br />
empfehlen, sich in ihrer Betätigung mit den<br />
politischen Strebern der Sozialdemokratie<br />
zu vereinigen.<br />
Dies ist die Kernfrage der internationalen<br />
Beziehungen gewesen, die auch zu<br />
Marseille nun behandelt wurde. Und es ist<br />
nicht zuletzt das Erfreuliche dieses großartigen<br />
Kongresses, daß hier A r b e i t e r —<br />
<strong>und</strong> nur solche waren vertreten — den<br />
Herren Legien <strong>und</strong> Konsorten, die wohl in<br />
ihrem «disziplinierten» Lande Achtung <strong>und</strong><br />
abergläubischem Emporblicken begegnen<br />
können, von jeder revolutionären Bewegung<br />
aber durchschaut werden als Einschläferer<br />
<strong>und</strong> Hintertreppendiplomaten in ihrem eigenen<br />
Beamteninteresse <strong>und</strong> ihrer eigenen<br />
Sicherheit gegenüber jeder ges<strong>und</strong>en gewerkschaftlichen<br />
Aktion — daß die französischen<br />
Arbeiter diesen Herren durch die<br />
Annahme folgender Resolution die verdiente<br />
Maulschelle verabfolgten, die mit 722 gegen<br />
444 Stimmen angenommen ward.<br />
„Der Kongreß stellt fest, daß die Beziehungen<br />
mit dem Sekretariat nie aufgehoben worden sind.<br />
Er verweist auf den Widerspruch, dessen sich die<br />
Konferenz in Kristiania schuldig gemacht hat. Da<br />
sie, den Organismus der Konföderation mißachtend<br />
<strong>und</strong> unter dem falschen Vorgeben, daß die Anträge<br />
der Konföderation ihres politischen Charakters<br />
wegen nicht auf den internationalen Gewerkschaftskonferenzen<br />
diskutiert werden könnten, die französischen<br />
Gewerkschaftsorganisationen auffordert,<br />
an der parlamentarischen Aktion teilzunehmen.<br />
In Erwägung, daß die internationalen Konferenzen,<br />
die ausschließlich aus Gewerkschaftsbeamten<br />
bestehen, n i c h t das genaue Abbild des Gedankens<br />
<strong>und</strong> der Bestrebungen der international geeinigten<br />
Arbeiter sein können, in Erwägung ferner, daß das<br />
Programm, das sie sich gegeben .haben <strong>und</strong> von<br />
dem sie unter keiner Bedingung abgehen wollen,<br />
den nationalen Gewerkschaftsgruppen kein Interesse<br />
bietet, das die mit der Teilnahme verb<strong>und</strong>enen<br />
Opfer rechtfertigen würde,<br />
betont der Kongreß nichtsdestoweniger seinen<br />
Eifer, die internationalen Beziehungen enger <strong>und</strong><br />
wirksamer zu machen. Er erinnert an den Beschluß<br />
von Amiens <strong>und</strong> ergänzt ihn, indem er dem Konföderationskomitee<br />
den Auftrag gibt, der Einladung<br />
zur nächsten Konferenz Folge zu geben <strong>und</strong> die<br />
Forderung der i n t e r n a t i o n a l e n G e w e r k -<br />
s c h a f t s k o n g r e s s e auf die Tagesordnung zu<br />
setzen, wo die Bestrebungen zugunsten der Verhandlung<br />
jener Fragen festgesetzt werden sollen, deren<br />
Zulassung bisher systematisch verweigert worden ist."<br />
*<br />
Ungleich den übrigen Föderationen<br />
bestanden unter den Gießern, Mechanikern<br />
<strong>und</strong> Metallarbeitern keine nationalen Vereinigungen.<br />
Es stellte sich nun angesichts<br />
der stattgehabten Organisation der Unternehmer<br />
in diesen Branchen, wie überhaupt<br />
im Baugewerbe, die Notwendigkeit ein,<br />
daß diese drei Gruppierungen sich einerseits<br />
national, wie auch lokal föderativ zu<br />
einem Gemeinschaftsb<strong>und</strong>, einer Industrievereinigung<br />
zusammenschließen sollten. Der<br />
Streikfonds der Unternehmerorganisation<br />
beträgt bereits 800000 Franks. Ungleich den<br />
Organisationen in Deutschland <strong>und</strong> Österreich<br />
lassen es die französischen, revolutionären<br />
Gewerkschafter nun kluger Weise<br />
nicht auf ein wahnsinniges Finanzwettrennen<br />
zwischen Kapital <strong>und</strong> Arbeit ankommen.<br />
Sie wissen wohl, daß sie nie <strong>und</strong><br />
nimmer so viele Geldmittel zusammen bekommen<br />
können wie die Unternehmer;<br />
übrigens darf man den Unterschied auch<br />
nicht überblicken: in einem jeden Streik<br />
verliert der Kapitalist bloß ausgebeutete<br />
<strong>und</strong> erbeutete Profite, die Arbeiter aber die<br />
Tausende <strong>und</strong> Abertausende von Hellern,<br />
die sie mühselig erarbeitet haben <strong>und</strong> die<br />
nun in einem durch Wochen dauernden<br />
Streik haufenweise daraufgehen — um dann<br />
oftmals erst recht den Streik zu verlieren.<br />
Zu solchem Zweck soll man sich Geld vom<br />
M<strong>und</strong>e absparen <strong>und</strong> sammeln, um es dann<br />
so zu verlieren? Die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung<br />
Frankreichs besitzt ein<br />
anderes Mittel, um die Unternehmer kirre<br />
zu machen: es wurde beschlossen, daß die<br />
obgenannten Organisationen sich industriell<br />
miteinander zu vereinigen, bei jedem Konflikt<br />
mit dem Unternehmertum n i c h t im<br />
Branchenstreik, sondern im g e m e i n - .<br />
s c h a f t l i c h e n G e n e r a l s t r e i k d e r d r e i<br />
v e r b ü n d e t e n I n d u s t r i e n gleichzeitig<br />
diesem entgegenzutreten haben. Mit 919<br />
Stimmen gegen 180 wurde der Antrag angenommen,<br />
im Laufe der nächsten 6 Monate<br />
einen Generalkongreß obiger drei<br />
Industrien einzuberufen <strong>und</strong> auf diesem die<br />
K a m p f e s e i n i g k e i t perfekt zu machen.<br />
*<br />
Die Frage des täglichen Erscheinens<br />
der bis jetzt wöchentlichen »Volksstimme«<br />
erledigte der Kongreß vorläufig so, daß er<br />
sie einem Komitee übertrug, das dem<br />
nächsten Kongreß bestimmte Vorschläge<br />
über die Durchführung des Projektes zu<br />
unterbreiten hat.<br />
Weitere Abkürzung der Arbeitszeit <strong>und</strong><br />
Herabsetzung derselben in jenem Branchen,<br />
die den Achtst<strong>und</strong>entag noch nicht haben,<br />
ist das nächste Thema der Beratungen. Der<br />
Kongreß wies auf die Resultate des Generalstreiks<br />
von 1906 hin, durch welchen<br />
11 Branchen sich den Achtst<strong>und</strong>entag erkämpt<br />
haben. Dies sei nicht genügend, es<br />
müsse nun darnach getrachtet werden, diese<br />
Arbeit fortzusetzen. Dazu hat die Bauarbeiterföderation<br />
eine Resolution eingebracht,<br />
die das Konföderationskomitee beauftragt,<br />
eine sofortige Erhebung über die<br />
Arbeitszeit an den verschiedenen Orten zu<br />
organisieren u n d d i e F r a g e d e s<br />
K a m p f e s f ü r e i n e n a l l g e m e i n e n<br />
M a x i m a l a r b e i t s t a g von 8 St<strong>und</strong>en<br />
auf die Tagesordnung des nächsten Kongresses<br />
zu stellen.<br />
Der Kongreß debattiert nun über die<br />
Unfallversicherung durch den Staat oder<br />
durch private Versicherungsgesellschaften.<br />
Bei dieser Gelegenheit wird die ganze<br />
Nichtigkeit der parlamentarischen Gesetzesmacherei<br />
von unserem Kameraden Broutchoux<br />
(Bergarbeiter) demaskiert. Wir zitieren<br />
dies nach der Jaures'schen »L'Humanite«,<br />
da der Bericht des Gewerkschaftsorganes<br />
»La Voix du Peuple« selbst zur St<strong>und</strong>e,<br />
wo wir diese Zeilen schreiben, in seiner<br />
Kongreßwiedergabe noch nicht soweit gekommen<br />
ist. Ausführlich werden wir gerade<br />
über diesen, uns Österreichern sehr wichtigen<br />
<strong>und</strong> interessierenden Punkt demnächst berichten<br />
<strong>und</strong> zeigen, w i e revolutionäre Sozialisten<br />
die Frage der Alters- <strong>und</strong> Unfallversicherung<br />
auffassen im Gegensatz zur<br />
Sozialdemokratie <strong>und</strong> den ihr angegliederten<br />
Gewerkschaften zentralistischer Diktatur.<br />
Auch über den so ungemein wichtigen<br />
Punkt der A u s s p e r r u n g e n äußerte sich<br />
der Marseiller Kongreß klipp <strong>und</strong> klar, <strong>und</strong><br />
werden wir seine Resolution schon in<br />
nächster Nummer wiedergeben können. Der<br />
Inhalt derselben geht aber auch jetzt schon<br />
deutlich genug aus der Depeschenstilberichterstattung<br />
darüber hervor, die uns vorliegt.<br />
Die von einer Aussperrung betroffenen<br />
Organisationen werden aufgefordert, für die<br />
Verhinderung der Arbeit durch Nichtausgesperrte<br />
Vorsorge zu treffen, die nicht von<br />
der Aussperrung Betroffenen, aber im selben<br />
Gewerbe Beschäftigten, haben d u r c h<br />
p a s s i v e R e s i s t e n z a k t i v s t e r A r t den<br />
Kapitalisten so eindringlich als möglich das<br />
Schändliche ihres Tuns zu demonstrieren,<br />
während die Arbeiter der anderen Gewerbe<br />
diese Aussperrung als Signal, dafür zu<br />
nehmen haben, e i n e a l l g e m e i n e öffentl<br />
i c h e B e w e g u n g r e v o l u t i o n ä r e n C h a -<br />
rakters gegen die aussperrenden Kapitalisten<br />
zu propagieren, denen die Lust zu<br />
solchen Stückchen von Unternehmerbrutalität<br />
gehörig versalzen werden muß; als<br />
Unterstützung für die Ausgesperrten <strong>und</strong><br />
deren Familien müssen die im Betrieb<br />
stehenden Arbeiter kommunistische Speisehallen<br />
einrichten, <strong>und</strong> während der Aussperrung<br />
geht die Sorge für die Kinder<br />
über an die Arbeiter anderer Berufe, die<br />
die Kinder der Ausgesperrten freiwillig zu<br />
sich nehmen.<br />
Welch hochherzige Solidarität, welch<br />
echter Geist der künftigen Befreiung, welche<br />
Kampfesentschlossenheit ruht in diesen Beschlüssen,<br />
jederzeit bereit, durch die Tat<br />
ihren beredten, sprechenden Ergebenheitsbeweis<br />
darzubringen. Das ist die Arbeiterbewegung<br />
unmittelbarer, praktischer Gegenwartsreformen;<br />
das ist aber auch die Arbeiterbewegung,<br />
die den Sturz kapitalistischer<br />
Versklavung <strong>und</strong> tyrannischer staatlicher<br />
Herrschaft: den Sozialismus herbeiführen<br />
wird. Eine s o l c h e Arbeiterbewegung<br />
in Österreich zu begründen, ist die<br />
Aufgabe der Anarchisten!<br />
*<br />
Was hat es dem Marseiller radikalen<br />
Gemeinderat geholfen, daß er dem Kongreß<br />
die Tagung in der Arbeitsbörse untersagte,<br />
falls dieser den Punkt Antimilitarismus<br />
n i c h t von seiner Tagesordnung<br />
nehmen wolle? Es war vergebens — größer,<br />
schöner hat dieser Kongreß getagt, als wie<br />
wenn das staatliche Verbot nicht ergangen<br />
wäre. Das französische Proletariat hat uns<br />
einen Kongreß geboten, der eingehen wird<br />
in die Kulturgeschichte des kämpfenden<br />
Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus als eine inter-
national ihr Echo findende Manifestation:<br />
S e h t h i e r e i n P r o l e t a r i a t , das sich<br />
befreit hat von allen Lug- <strong>und</strong> Trugvorstellungen<br />
der bürgerlichen Weltordnung,<br />
das neben der Idee auch die Kampfesmittel<br />
zur Erziehung seiner eigenen Reife<br />
gef<strong>und</strong>en hat <strong>und</strong> betätigen wird! Unaufhaltsam<br />
ist der Fortschritt dieser kämpfenden<br />
Arbeiterklasse, <strong>und</strong> schon sehen wir in<br />
absehbarer Zeitdauer die politisch-ökonomische<br />
Situation der sozialen Revolution<br />
für das französische Volk vor uns. Klarer<br />
<strong>und</strong> deutlicher als es unsere Worte vermögen,<br />
hat unser Kamerad G r a n d j o u a n ,<br />
Künstler <strong>und</strong> Mitglied der Gewerkschaft<br />
der Lithographen, ein Teilnehmer an dem<br />
Kongreß, das herrliche Lichtbild dieses<br />
revolutionären Kongresses wiedergegeben<br />
in den folgenden flüchtigen Skizzierungen:<br />
«Ah! dieser jugendliche Zorn, diese<br />
Rebellen, die von allen Ecken Frankreichs<br />
mit einem fest bestimmten Auftrag zusammenkommen<br />
<strong>und</strong> die überall um uns herum<br />
sagen: «Meine Gewerkschaften haben mich<br />
beauftragt, für den allerenergischesten Antrag<br />
zu stimmen!» Den allerenergischesten!<br />
Ohne Einschränkung! Ah! diese prächtigen<br />
Rufe, die sich da erheben, aus der Brust<br />
von Arbeitern, die beseelt sind vom Freiheitsgefühl<br />
der sozialen Revolution! Sie erfüllten<br />
unser Ohr, <strong>und</strong> brachten uns unsere Kraft<br />
zum Bewußtsein, <strong>und</strong> das ist der größte Erfolg<br />
des Marseiller Kongresses.<br />
«Da gibt es keine Schönredner, keine<br />
Logiker, Taktiker <strong>und</strong> Professoren des<br />
«sich selbst genügenden»Syndikalismus oder<br />
Parlamentarismus mehr. Da gibt es von<br />
Zorn gerötete Gesichter <strong>und</strong> von Herzen<br />
kommende nnd zu Herzen gehende Stimmen,<br />
die Kämpfer aus allen Provinzen, der<br />
gedrängte Nachwuchs der französischen<br />
Gewerkschaftsvereinigung ist auch schon<br />
da! Ah! jder Staat kann die Arbeiterkonföderation<br />
auflösen, unsere Vorkämpfer einkerkern,<br />
das Haus der Gewerkschaften<br />
niederreißen . . . Wenn er damit fertig ist,<br />
wird die Arbeiterkonföderation lebensvoller<br />
als je erstehen!<br />
«Säumen wir nicht, weiter zu gehen! Wir<br />
haben den Militarismus <strong>und</strong> den Patriotismus,<br />
diese zwei Hindernisse am <strong>Weg</strong>e zur<br />
zur vollständigen Befreiung der Arbeiterschaft<br />
in unserem Empfinden <strong>und</strong> unserer<br />
Weltanschauung zerstört. Greifen wir auch<br />
das vorletzte Hindernis, den P a r l a m e n -<br />
t a r i s m u s an <strong>und</strong> erklären wir hiermit im<br />
Bewußtsein unserer Kraft, daß wir nicht<br />
mehr bei der parlamentarischen Wahlkomödie<br />
mittun.<br />
«Wenn wir uns dann freigemacht haben<br />
von dem Militarismus: der Waffe des Kapitals;<br />
dem Vaterland: der Maske des Kapitals;<br />
dem Parlamentarismus: dem Schild<br />
des Kapitals — dann bleibt uns nur noch<br />
das blutlose Gespenst kapitalistisch-staatlicher<br />
Herrschaft <strong>und</strong> Ausbeutung, mit dem<br />
fertig zu werden es ein Leichtes sein wird;<br />
denn wir haben so tüchtig vorgearbeitet,<br />
daß dem Ungeheuer Zähne <strong>und</strong> Klauen<br />
genommen sind, aus seiner Wehrlosigkeit<br />
der Friede der Zukunft erblüht.»<br />
Der kommunistische Anarchismus<br />
als Massenbewegung.<br />
Das Leben ist doch die beste Schule,<br />
die es gibt. Mag das System der Lüge, die<br />
Organisation der Gewalt, die ausgedacht<br />
wurden, uni die Volksmassen im Bann der<br />
Machthaber zu erhalten, noch so gut ausgebaut<br />
sein, die Härte der Tatsachen macht,<br />
daß das Lügengewebe zerrissen, die Schwächen<br />
der Gewaltorganisation aufgedeckt <strong>und</strong><br />
so zum Wanken gebracht werden.<br />
Wir treten einer in Österreich neuen<br />
Erscheinung entgegen, die unsere Hoffnung,<br />
unsere Zuversicht ist, dem Anarchismus als<br />
intelligenter <strong>und</strong> werdender Massenbewegung.<br />
Je tiefsinniger ein Problem ist, je weniger<br />
es an hergebrachten Formen anknüpft<br />
<strong>und</strong> alle Tradition über den Haufen wirft,<br />
desto weniger ist darauf zu rechnen, daß<br />
die breiten Schichten der Bevölkerung es rasch<br />
begreifen werden. Ihre Alltagssorgen, der<br />
aufreibende Kampf um das bischen Leben<br />
<strong>und</strong> Lebensmöglichkeit sind nicht die einzigen<br />
Ursachen dafür. Von jeher wurde die<br />
breite Masse von herrschsüchtigen Religionspfaffen,<br />
Politikanten <strong>und</strong> Gauklern als Piedestal<br />
benützt, die sich emporzuschwingen<br />
<strong>und</strong> die alle Ursache haben zu sorgen, daß<br />
die Unwissenheit nicht schwinde, weil sonst<br />
ihre Herrlichkeit ein jähes Ende nehmen<br />
würde. Die im Volke vorhandenen Kräfte<br />
mußten geb<strong>und</strong>en werden, weil nur so das<br />
Geschäft der Politikanten blühen konnte.<br />
Seit r<strong>und</strong> sieben Jahrzehnten ist der<br />
Sozialismus die Sehnsucht der Unterdrückten.<br />
Die Tatsache, daß jedes Wollen der<br />
Massen verwirklicht werden m u ß , wurde<br />
unterb<strong>und</strong>en durch die ins Volk gepflanzte<br />
Wahnthese, daß die Entwicklung der Produktion<br />
den Sozialismus bringe, daß es<br />
somit weiter nichts bedürfe, als zuzusehen<br />
<strong>und</strong> zu warten. Das gutmütige Volk wartete<br />
<strong>und</strong> wartet, es verlernt die Aktion, die allein<br />
befreien kann. Der Staat, das Exekutivorgan<br />
der Besitzenden, wird, anstatt eine Schwächung<br />
zu erfahren, gestärkt <strong>und</strong> gekräftigt,<br />
dadurch, daß man ihn zum demokratischen<br />
«Volksstaat» umlügt <strong>und</strong> so die Massen<br />
derer, die k e i n Interesse an seinem Bestand<br />
haben, weil er sie mit Gewalt fernhält von<br />
den Produkten ihrer Arbeit, an seine<br />
Stränge spannt. «Wir müssen den Staat
— 65 —<br />
die Notwendigkeit <strong>und</strong> die Freude des Lernens zu<br />
beweisen; <strong>und</strong> wenn es keine solchen Menschen gibt,<br />
so kann sie die Regierung nicht erschaffen. Sie kann<br />
nur, wie das heute geschieht, diese Menschen für<br />
sich beanspruchen, sie aller nutzbringenden Arbeit<br />
entziehen, sie zur Ausarbeitung von Vorschriften verwenden,<br />
die man mit Polizeigewalt in Kraft setzen<br />
muß mit einem Wort, sie würde aus ihnen, die<br />
früher intelligente <strong>und</strong> begeisterte Lehrer waren, P o -<br />
litiker machen, deren einziges Bestreben wäre, ihr<br />
besonderes Steckenpferd allen aufzuzwingen <strong>und</strong> sich<br />
um jeden Preis in ihrer Stellung zu erhalten.<br />
Wenn es Ärzte <strong>und</strong> Hygieniker gibt, so werden<br />
diese das Ges<strong>und</strong>heitswesen organisieren. Und wenn<br />
es keine gibt, kann die Regierung sie nicht erschaffen.<br />
Sie könnte nur bewirken — dank des allzu gerechtfertigten<br />
Mißtrauens, das das Volk gegen alles hegt,<br />
was man ihm aufzwingt, daß man den Ärzten nicht<br />
mehr trauen würde, <strong>und</strong> daß womöglich das Volk<br />
dieselben bei einer Epidemie als Giftmischer verfolgte.<br />
Wenn es Ingenieure <strong>und</strong> Maschinisten gibt, werden<br />
diese den Eisenbahnverkehr organisieren — <strong>und</strong><br />
wenn es keine gibt, so kann sie die Regierung nicht<br />
erschaffen.<br />
Die soziale Revolution kann, indem sie die Staatsgewalt<br />
<strong>und</strong> das monopolistische Privateigentum abschafft,<br />
keine neuen Kräfte schaffen, die nicht schon bestehen;<br />
aber sie wird das Feld frei machen für die Entwicklung<br />
aller Kräfte, aller Fähigkeiten, die vorhanden<br />
sind, sie wird alle Klassen aufheben, die ein Interesse<br />
daran haben, die Massen unwissend <strong>und</strong> elend zu<br />
• ANARCHIE, von Enriko Malatesta. 9
— 66 —<br />
erhalten <strong>und</strong> wird es möglich machen, daß ein j.eder<br />
nach seinen Fähigkeiten <strong>und</strong> seinen Interessen <strong>und</strong><br />
Neigungen handeln <strong>und</strong> die anderen beeinflussen kann.<br />
Und das ist der einzige <strong>Weg</strong>, auf welchem sich die<br />
Masse des"Volkes auf eine höhere Stufe erheben kann;<br />
denn nur, wenn man frei ist, kann man lernen, die<br />
Freiheit zu gebrauchen, so wie man nur durch Arbeiten<br />
die Arbeit erlernt.<br />
Eine Regierung, wenn sie auch schon keine<br />
anderen Nachteile hätte, hätte immer den Nachteil,<br />
die Beherrschten an die Unterwerfung zu gewöhnen,<br />
sich selbst mehr <strong>und</strong> mehr unentbehrlich zu machen.<br />
Anderenteils, wenn man eine Regierung haben will,<br />
die das Volk erziehen <strong>und</strong> zur Anarchie führen soll,<br />
so muß man wissen, wie <strong>und</strong> aus was für Menschen<br />
diese Regierung gebildet werden soll.<br />
Wird es die Diktatur der «Besten» sein? Aber<br />
wer sind diese «Besten»? Und wer wird entscheiden,<br />
wer die Besten sind? Die große Mehrheit der Menschen<br />
ist gewöhnlich den alten Vorurteilen, Ideen <strong>und</strong><br />
Instinkten unterworfen, die von der intelligenteren<br />
Minderheit schon überw<strong>und</strong>en sind. Aber wer wird<br />
wählen unter den tausend Minderheiten, von denen<br />
eine jede glaubt, Recht zu haben — <strong>und</strong> von welchen<br />
jede in gewissen Punkten auch wirklich Recht haben<br />
kann? Was wird darüber entscheiden, welcher Partei<br />
man das Verfügungsrecht über die gesellschaftlichen<br />
Kräfte überlassen soll, wenn nur die Erfahrung der<br />
Zukunft zeigen kann, welche unter den sich bekämpfenden<br />
Parteien Recht hat?
— 67 —<br />
Oder wird die neue Regierung auf dem <strong>Weg</strong>e<br />
des allgemeinen Wahlrechtes gewählt werden? Und<br />
wird dieselbe so mehr oder weniger ehrlich den<br />
Willen der Mehrheit vertreten ? Aber wenn man diese<br />
guten Wähler für unfähig hält, selbst für ihre eigenen<br />
Interessen zu sorgen, wie werden sie je die richtigen Hirten<br />
wählen können, die sie führen sollen? Wie können<br />
sie das Zauberkunststück vollbringen, durch die Stimmen<br />
einer Masse von Dummköpfen ein Genie zu<br />
ihrem Vertreter zu wählen? Und was soll mit den<br />
Minderheiten geschehen, die ja doch der intelligenteste,<br />
tatkräftigste <strong>und</strong> am meisten vorgeschrittene Teil der<br />
Gesellschaft sind? * * *<br />
Um die soziale Frage zum Wohle Aller zu lösen,<br />
gibt es nur eins: B e f r e i u n g d e r M e n s c h h e i t von<br />
j e d e r S t a a t s a u t o r i t ä t <strong>und</strong> W i e d e r e r s t a t t u n g des<br />
g e s e l l s c h a f t l i c h e n R e i c h t u m s aus den Händen<br />
der e i n z e l n e n R e i c h e n in die H ä n d e des G e -<br />
s a m t v o l k e s — der A r b e i t e n d e n !<br />
Alles zum Leben Notwendige allen Menschen<br />
zugänglich zu machen <strong>und</strong> es ermöglichen, daß alle<br />
Kräfte, alle Fähigkeiten, aller gute Wille unter den<br />
Menschen zur Befriedigung der Bedürfnisse aller beitragen<br />
können — dies ist die Aufgabe des sozialen<br />
Kampfes!<br />
Wir kämpfen für die Anarchie <strong>und</strong> den Sozialismus,<br />
weil wir überzeugt sind, daß Anarchie <strong>und</strong><br />
Sozialismus diejenigen sozialen <strong>und</strong> ökonomischen<br />
Zustände sind, die in der Zeitperiode sozialen Neuaufbaues<br />
sofort in Wirksamkeit treten müssen; daß<br />
man die gesellschaftlichen Leistungen — die in diesem
— 68 —<br />
Falle das ganze soziale Leben umfassen — der selbständigen,<br />
freiwilligen, freien, nicht offiziellen, unbeherrschten<br />
Tätigkeit von all jenen anvertrauen muß,<br />
die das Interesse <strong>und</strong> den Willen haben, sich zu<br />
betätigen.<br />
Was immer Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft den Anarchisten<br />
bringen mögen, ihre Arbeit wird nie vergebens<br />
gewesen sein. Je entschlossener wir sind, unser ganze's<br />
Ideal zu verwirklichen, umso gewisser werden<br />
Staat <strong>und</strong> Privateigentum in der menschlichen Geschichte<br />
überw<strong>und</strong>en werden.<br />
Und wenn wir heute fallen, ohne unsere Fahne zu<br />
senken, so können wir morgen des Sieges sicher sein!
erobern», so rufen sie <strong>und</strong> beeilen sich, an<br />
die Krippe zu kommen, die der Staat für<br />
jene bereit hält, die ihm behilflich sind, die<br />
Massen in ihrer Unwissenheit zu erhalten,<br />
weil sie so die willfährigsten Ausbeutungsobjekte<br />
bilden.<br />
Dem Autoritätsglauben, dieser stärksten<br />
Stütze der Machthaber, wird kein Abbruch<br />
getan, <strong>und</strong> vermodert eine dieser Autoritäten,<br />
flugs werden neue geschaffen <strong>und</strong> dem<br />
Volke zur Anbetung vorgesetzt. Die schwarze<br />
Autorität der Staatsreligion findet ihr Gleichnis<br />
in der roten, die, wenn auch mit anderen<br />
Worten, das G l e i c h e fordert, nämlich:<br />
geduldiges Ertragen der Ausbeutung<br />
<strong>und</strong> statt des Himmels wird uns der «Zukunftsstaat»<br />
mit seinen Segnungen einer<br />
s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n R e g i e r u n g<br />
versprochen.<br />
Allerdings sagen diese Herren, daß sie<br />
ja die Arbeiter zum Kampfe gegen die Ausbeuter<br />
führen. Aber, fragen wir, wurde dem<br />
Kapital auch nur im Geringsten Abbruch<br />
getan in diesen Jahrzehnte langen Kämpfen?<br />
Werden nicht mehr denn je Reichtümer<br />
hervorgestampft aus dem Schweiße, den<br />
Knochen der Arbeiterlegionen. Zieht nicht<br />
die Ausbeutung immer weitere Kreise von<br />
Frauen <strong>und</strong> Kindern in ihren Bannkreis,<br />
um sie, vorzeitig verbraucht, dann ausgepreßt<br />
zur Seite zu weifen? Sind vor allem<br />
die Profite der Kapitalisten kleiner geworden?<br />
Wir denken, niemand kann auf diese<br />
Fragen anders antworten, als sie zu bekräftigen,<br />
<strong>und</strong> darauf kommt es an. Was W<strong>und</strong>er,<br />
wenn die Massen kampfmüde werden,<br />
wenn es ihnen nicht gelingt, ihrem <strong>Ziel</strong>e<br />
auch nur um einen Schritt näher zu kommen.<br />
Es bedarf immer neuer Spekulationen der<br />
Führer, um wenigstens nach außen den<br />
Schein einer Bewegung hervorzurufen, die<br />
nur mehr für jene Interesse hat, die davon<br />
ein angenehmes bürgerliches Dasein genießen.<br />
Dennoch — in den Massen beginnt<br />
die Revision ihrer Anschauungen, <strong>und</strong> sie<br />
prüfen <strong>und</strong> vergleichen. So kommt es, daß<br />
der k o m m u n i s t i s c h e A n a r c h i s m u s<br />
heute nicht mehr nur kleine Anhänger erschaffen<br />
hat, sondern mehr <strong>und</strong> mehr in<br />
den Volksmassen Boden gewinnt. Diejenigen,<br />
die sich nicht nur Sozialisten nennen, sondern<br />
es auch wirklich sind, vermissen in<br />
der Sozialdemokratie d e n Sozialismus. D i e<br />
A g i t a t i o n für d i e W a h l s t i m m e n h a t<br />
i h n e r s c h l a g e n .<br />
Mit Recht können wir sagen, daß wir,<br />
die kommunistischen Anarchisten, heute die<br />
einzigen Verfechter des Sozialismus sind.<br />
Damit ist auch die Zukunft der anarchistischen<br />
Bewegung festgesetzt <strong>und</strong> bezeichnet.<br />
Der Sozialismus setzt sich durch, weil der<br />
Hunger, das Elend der Massen ihr Ende<br />
finden müssen. Diese sind die treibende<br />
Kraft, <strong>und</strong> da die breite Masse nicht verbürgerlicht<br />
werden kann, wie sich einige<br />
Tausende von Arbeiterführern verbürgerlicht<br />
haben <strong>und</strong> nunmehr mit der übrigen Bourgeoisie<br />
parasitäre Existenzen auf Kosten<br />
der Arbeitenden bilden, so kann nur der<br />
Sozialismus die Lösung sein.<br />
Mit der Verbreiterung der Bewegung<br />
darf dieselbe aber durchaus nicht an Tiefe<br />
verlieren. Es ist vorweg klar, daß in einer<br />
Bewegung, die eine autoritäre Führerschaft<br />
nicht kennt, die keine gutbezahlten Ämtchen<br />
zu vergeben hat, jene streberischen Elemente,<br />
die jede parlamentarische Partei verunzieren,<br />
uns ferne bleiben. Und das ist<br />
gut so. D e r N i e d e r g a n g d e r S o z i a l -<br />
d e m o k r a t i e a l s s o z i a l i s t i s c h e P a r -<br />
tei ist n i c h t i n l e t z t e r L i n i e a u f<br />
d a s K o n t o d i e s e r S t r e b e r z u r ü c k -<br />
z u f ü h r e n . In ihren Wurzeln der Bour-<br />
geoisie entstammend, kennen sie nur einen<br />
Ausgleich der Gegensätze, reden dem Bürgertum<br />
ein, daß ja die Arbeiterbewegung<br />
etwas ganz Ungefährliches sei, während sie<br />
den Arbeitern predigen, daß sie auch in<br />
der heutigen Wirtschaftsordnung ganz gut<br />
ihre Forderungen durchsetzen können; das<br />
übrige, der «Zukunftsstaat», sei Sache der<br />
Entwicklung.<br />
Diese Gefahr existiert für uns vorweg<br />
nicht. Allerdings tritt ein Problem an uns<br />
heran, das seitens der Sozialdemokratie nie<br />
gelöst wurde, es ist d i e E r z i e h u n g<br />
d e r A r b e i t e r z u m t a t s ä c h l i c h e n<br />
K l a s s e n b e w u ß t s e i n , z u m e i g e n e n<br />
z i e l b e w u ß t e n H a n d e l n . Der soziale<br />
Kampf mit seinen tausendfältigen Erscheinungen<br />
erfordert Selbständigkeit der Massen,<br />
wenn er wirklich durchgekämpft werden<br />
soll. Auch hier haben wir den Vorteil, daß<br />
die Massen geistig regsam werden müssen,<br />
weil kein Führertum vorhanden ist. Seitens<br />
der sozialdemokratischen Führer wird mit<br />
Vorliebe darauf hingewiesen, daß ja die<br />
geistig tiefstehende Bevölkerung ohne Führer<br />
sich nicht betätigen könne. Wir aber sagen:<br />
gerade jüngst, angesichts der Landtagswahlkomödie,<br />
b e n ü t z t e t i h r d e n g e i s t i g e n<br />
T i e f s t a n d d e r B e v ö l k e r u n g z u r<br />
G e w i n n u n g v o n A n h ä n g e r n ( W a h l -<br />
s t i m m e n ) , o h n e z u t r a c h t e n , d a s<br />
g e i s t i g e N i v e a u d i e s e r M a s s e n z u<br />
h e b e n ! Der schlagendste Beweis dafür ist<br />
wohl der, daß die wenigsten Sozialdemokraten<br />
auch nur die bescheidensten Kenntnisse<br />
über den Sozialismus haben <strong>und</strong> daß<br />
ihnen jede Möglichkeit, die verschiedenen<br />
sozialistischen Strömungen kennen <strong>und</strong> miteinander<br />
vergleichen zu lernen, benommen<br />
wird.<br />
Wir können also einer Verbreitung der<br />
Bewegung ruhig entgegen sehen, es kann
gar nicht dahin kommen, daß sie an Tiefe<br />
verliert. Die Reinheit unseres Ideals, des<br />
Sozialismus ist dadurch gesichert, daß wir<br />
jedes Paktieren mit der bürgerlichen Gesellschaft,<br />
als unsere Feindin, r<strong>und</strong>weg ablehnen,<br />
dagegen ohne Scheu die Massen über<br />
das Wesen dieser Gesellschaft aufklären,<br />
daß wir d u r c h u n s e r e a n t i p a r l a -<br />
m e n t a r i s c h e S t e l l u n g d i e G e f a h r<br />
m e i d e n , die jeder Parteigruppierung droht,<br />
die sich auf parlamentarischen Standpunkt<br />
stellt, die Gefahr, vom Staat korumpiert zu<br />
weiden, wie es bereits jetzt mit der Sozialdemokratie<br />
geschehen.<br />
<strong>Unser</strong>e B<strong>und</strong>esgenossen sind der Hunger<br />
<strong>und</strong> das Massenelend; die heutige Gesellschaft<br />
sorgt dafür, daß diese täglich mehr<br />
werden, trotz schwindelhaft trügerischer<br />
Reförmchen <strong>und</strong> Staatsaktionen. Wer zu<br />
uns steht, der steht deshalb zu uns, weil<br />
er nichts als seine Ketten zu verlieren hat,<br />
weil er entrechtet <strong>und</strong> beraubt ist aller<br />
Güter, die er mit seiner Hände Arbeit erzeugt.<br />
So sehen wir hoffnungsfreudig in<br />
die Zukunft, wissend, daß die Zeit kommen<br />
muß, wo das Ideal des kommunistischen<br />
Anarchismus verwirklicht wird. E. H.<br />
Revolutionäre Gewerkschaftsbewegung<br />
(Syndikalismus)<br />
oder Zentralismus?<br />
Obgleich das am Kopf des Artikels<br />
angegebene Thema oft der Gegenstand<br />
heftiger Diskussionen gewesen ist, gibt es<br />
immer wieder von neuem Anlaß zu kritischen<br />
Betrachtungen. Aus einer unbestreitbaren<br />
Tatsache heraus, daß eben immer<br />
mehr der Ruf nach großen, föderativ organisierten<br />
Industrieverbänden erschallt, die<br />
aber in ihrer Form über den bisherigen<br />
Zentralverbänden hinaus organisiert sein<br />
sollen.<br />
Syndikalismus, ein Wort französischen<br />
Ursprunges, das sich für Deutschland eigentlich<br />
besser durch F ö d e r a l i s m u s ausdrücken<br />
läßt, ist der schärfste Gegensatz<br />
zum Zentralismus. Es hat diese Kampfesmethode<br />
in den romanischen Ländern schnell<br />
Anwendung <strong>und</strong> Eingang gef<strong>und</strong>en. Frankreich,<br />
Spanien, Italien, ja auch Holland <strong>und</strong><br />
das kleine, aber industrielle Böhmen sind<br />
in ihrer revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />
syndikalistisch.<br />
Es mag ein eigentümlicher Rassenzug<br />
sein, daß immer in den romanischen Ländern<br />
Strömungen gegen eine tote, starre<br />
zentralistische Organisationsform, die ihrem<br />
Wesen nach autoritär sein muß, anzutreffen<br />
sind. Schon zur Zeit Bakunins in der alten<br />
Internationale, konnte man diese Ablehnung<br />
aller Zwangsformen der Organisation beobachten.<br />
Nicht nur in wirtschaftlicher, auch<br />
in politischer Hinsicht ist dieses der Fall<br />
gewesen. Marxismus <strong>und</strong> Zentralismus sind<br />
Faktoren, die in Spanien fast gar nicht, in<br />
Frankreich <strong>und</strong> Italien in Fraktionen <strong>und</strong><br />
Parteiungen gespalten sind. Von einer solchen<br />
Dimension, wie in Deutschland, wo<br />
diese Lehre wie ein Alp auf dem geistigen<br />
Leben lastet, kann in jenen Ländern keine<br />
Rede sein. So liegt es in der Natur der<br />
Sache, daß vollständig autonome Gruppen<br />
mit einander verb<strong>und</strong>ener Gewerkschaften<br />
in Deutschland <strong>und</strong> in deren Tochterbewegung<br />
zu Österreich kaum verhanden sind.<br />
Was Syndikalismus ist, das ist in diesen Länder<br />
der «Intelligenz <strong>und</strong> der starken Faust»,<br />
dank den Verdrehungen der Führer, spanischer<br />
Pfeffer. Man kennt bei uns nur<br />
wohlgefüllte Kassen, ungeheure Mitgliederzahlen<br />
<strong>und</strong> ein Heer von Beamten, Registrierung<br />
von einer Zentralstelle aus, individuelle<br />
oder Gruppeninitiative kennt man<br />
nicht; ein freies Selbstbestimmungsrecht<br />
ebenfalls nicht; dafür aber einen ganzen<br />
Schwanz von Unterstützungseinrichtungen,<br />
die reinen Versicherungsgesellschaften, einen<br />
ganz schwerfälligen Verwaltungsapparat, wie<br />
im Reiche aller Bürokraten — das ist die<br />
große, sozialdemokratische, tonangebende<br />
Gewerkschaftsbewegung Deutschlands <strong>und</strong><br />
Österreichs.<br />
Als was wird diesen irregeführten Arbeitern<br />
nun das revolutionäre Gewerkschaftsprinzip,<br />
Syndikalismus, hingestellt? Als anarchistischer<br />
Unsinn, Utopie <strong>und</strong> Schwärmerei,<br />
die nicht vereinbar sind mit «moderner»<br />
Arbeiterbewegung. Tatsächlich aber ist der<br />
Syndikalismus eben alles das, was dem<br />
Arbeiter fehlt, ist der Zusammenschluß freier<br />
starker, selbständig denkender Persönlichkeiten.<br />
S y n d i k a l i s t s e i n , d a s h e i ß t<br />
r e v o l u t i o n ä r e r G e w e r k s c h a f t s -<br />
k ä m p f e r s e i n . Die Gewerkschaft solcher<br />
Arbeiter ist eine autonome, auf föderalistischem<br />
Solidaritätsprinzip ruhende Organisation.<br />
Der Syndikalismus faßt alle echten<br />
Kampfesmethoden der Arbeiterbewegung<br />
ganz in einem sozialen Rahmen zusammen;<br />
sie sind: Generalstreik, direkte Aktion, Antimilitarismus.<br />
Syndikalismus bedeutet wirtschaftlicher<br />
Kampf, Verneinung jeder parlamentarischen<br />
Vermittlungsaktionen, jede<br />
Ablehnung irgend eines parlamentarischpolitischen<br />
Faktors; er bedeutet Ausschaltung<br />
jedes Vertretungssystems, die Erziehung <strong>und</strong><br />
Sammlung von Kämpfern zur Führung von<br />
sozialen Kämpfen, von Pionieren der sozialen<br />
Revolution. Mit einem Worte gesagt,<br />
der Syndikalismus oder das revolutionäre<br />
Gewerkschaftsprinzip ist Tatkraft, Leben,<br />
Energie <strong>und</strong> Kampf; der Zentralismus ist<br />
Revolutionäre Gewerkschaftsbewegung 2<br />
Starrheit, schwerfällige Organisationen ohne<br />
Geist <strong>und</strong> Regsamkeit.<br />
Um Irrtümern vorzubeugen, muß ich<br />
gleich erklären, daß für mich Syndikalismus<br />
n i c h t identisch mit Anarchismus ist. Ich<br />
sehe, wie alle Anarchisten, im Syndikalismus<br />
vielmehr nur eine besondere, ganz für die<br />
Propaganda der revolutionären, sozialistischen<br />
Arbeiterbewegung geeignete Form<br />
des wirtschaftlichen Kampfes, der zur vollkommenen<br />
Befreiung des Proletariats geleitet.<br />
Georg: Weidner.<br />
Proletarier oder Parlamentarier?<br />
Jedes Vertretungssystem führt unvermeidlich<br />
zur Herrschaft der erwählten «Vertreter»<br />
über die sie erwählende Masse; dies<br />
liegt im Wesen des Parlamentarismus, <strong>und</strong><br />
nicht in den persönlichen Fehlern der Gewählten.<br />
Es wäre kindisch zu behaupten,<br />
daß die Arbeiter gerade zufällig das Unglück<br />
haben, die unehrlichsten Menschen<br />
zu ihren Abgeordneten zu wählen; es wird<br />
keinen Unterschied machen, wen immer<br />
sie ins Parlament schicken, denn wenn<br />
jemand durch die bestehende Gesellschaftsordnung<br />
monatlich 600 Kronen Einnahmen<br />
als Abgeordneter hat, so ist es ganz natürlich,<br />
daß er darum besorgt ist, jede Änderung<br />
in den sozialen Verhältnissen zu vermeiden.<br />
Die Psychologie des sozialistisch gesinnten<br />
Arbeiters, der ins Parlament gewählt<br />
wird, ist sehr einfach. Jung, tatkräftig, intelligenter<br />
als die Masse seiner Kameraden,<br />
sieht er die Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen<br />
Zustände <strong>und</strong> schließt sich der<br />
sozialdemokratischen Partei an, um für die<br />
Revolution zu kämpfen. Er hat aber durch<br />
bittere Erfahrungen gelernt, daß jener, der<br />
seine Meinung rücksichtslos heraussagt,<br />
nicht gern gesehen wird, <strong>und</strong> daß man einen<br />
versöhnlichen Ton anschlagen muß, um<br />
sich beliebt zu machen. Er hält die «goldene<br />
Mittelstraße» ein, damit er seine Gesinnung<br />
leicht mit der stärkeren Richtung<br />
in Einklang bringen kann. So erkaltet sein<br />
revolutionärer Eifer immer mehr.<br />
Wenn er einmal ins Parlament gewählt<br />
worden ist, bleibt er zwar «Sozialist», denn<br />
dem Sozialismus verdankt er ja seine Stelle.<br />
In den Versammlungen spricht er nach wie<br />
vor gegen die herrschende Gesellschaftsordnung;<br />
seine Entrüstung ist zwar nicht<br />
mehr echt, doch das Publikum merkt das<br />
nicht. A b e r s e i n e m a t e r i e l l e L a g e<br />
h a t s i c h g a n z u m g e s t a l t e t . Früher<br />
bewohnte er mit seiner Familie ein elendes<br />
Zimmer; jetzt hat er eine bequeme Wohnung<br />
<strong>und</strong> einen Dienstboten; er <strong>und</strong> seine<br />
Familie kleiden sich gut. Darum fangen<br />
viele von den alten Fre<strong>und</strong>en an, ihnen<br />
lästig zu werden; sie passen mit ihrer Armut<br />
gar nicht in seine behaglichen Verhältnisse,<br />
sind ihm fortwährend ein Vorwurf.<br />
Er fängt an, sie sich vom Leibe zu<br />
halten. Früher konnte ihn jeder wann immer<br />
besuchen, jetzt hat er einen Empfangstag.<br />
Seine engeren Bekannten stammen zwar<br />
nicht aus den höchsten Kreisen der Bourgeoisie<br />
— denen ist der ehemalige Arbeiter<br />
noch nicht «vornehm» genug, doch seinen<br />
Sohn werden sie vielleicht aufnehmen, wenn<br />
der Vater ihm durch «vernünftiges Benehmen»<br />
eine höhere Staatsanstellung oder<br />
Karriere verschafft hat — aber Abgeordnete,<br />
einige wohlgewählte Bourgeois-«Genossen»<br />
wohlbestellte Kaufleute <strong>und</strong> kleinere Beamte<br />
— dies sind die Fre<strong>und</strong>e, die sich der<br />
Arbeiterdeputierte auswählt.<br />
Damit ist dann d e r l e t z t e R e s t<br />
s e i n e s r e v o l u t i o n ä r e n G e f ü h l e s<br />
v e r s c h w u n d e n . Im Gr<strong>und</strong>e genommen<br />
wünscht er nichts anderes, als daß es noch<br />
lange ein Proletariat <strong>und</strong> eine sozialdemokratische<br />
Partei geben soll, welche ihn auch<br />
weiterhin ins Parlament sendet. Er fängt<br />
an, mit den Abgeordneten der gemäßigteren<br />
Parteien in Verbindung zu treten <strong>und</strong>, um<br />
seinen Verwandten gute Stellen, sich selbst<br />
gute Geschäfte zu verschaffen, wird er<br />
selber immer «gemäßigter». Er äußert sich<br />
nie in einer heiklen Frage; wenn er die<br />
Regierung angreift, tut er es in einem<br />
nebensächlichen Punkt; er verurteilt den<br />
Krieg, bleibt aber Patriot; oder, um es auch<br />
den Sozialisten recht zu machen, erklärt er,<br />
daß man das w a h r e V a t e r l a n d erst<br />
schaffen müsse. Er bemüht sich mit allen<br />
Kräften, seine Partei so gemäßigt wie nur<br />
möglich zu machen, was ihm gewöhnlich<br />
gelingt, denn er hat Einfluß auf die Wähler.<br />
Seine bloße Anwesenheit in der Versammlung<br />
genügt, um den Sinn der Beschlüsse<br />
nach seinem Willen zu ändern; einige beherrscht<br />
er durch die Vorteile, die sie von<br />
ihm erwarten, andere durch die Angst, die<br />
sie vor ihm haben; die übrigen durch seine<br />
Überredungskunst, seine elegante Erscheinung.<br />
Er versteht es übrigens, sich zu<br />
gleicher Zeit revolutionär <strong>und</strong> reformistisch<br />
zu erklären, so daß j e d e Partei glaubt,<br />
daß er ihr am Nächsten steht.<br />
Wenn der zum Abgeordneten gewählte<br />
Arbeiter anders handeln würde, als er es<br />
tut, so müßte er ein Mensch sein, dem<br />
sein Ideal über alle Interessen, über seinem<br />
Vorteil, seinem Behagen, seinen Fre<strong>und</strong>en,<br />
ja seiner Familie steht. Wieviel solche<br />
Menschen gibt es denn? Der Parlamentarier<br />
ist aber stets ein Durchschnittsmensch <strong>und</strong><br />
handelt nach den Ansichten <strong>und</strong> Interessen<br />
eines solchen. Das ist ganz natürlich. Und<br />
daraus folgt, daß in einer revolutionären<br />
Bewegung der Parlamentarismus nichts zu<br />
suchen hat.<br />
Gruppen <strong>und</strong> Versammlungen.<br />
Allgemeine Gewerkschafts-Föderation. V.,<br />
Einsiedlergasse 60. Jeden Sonntag 6 Uhr abends.<br />
Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />
Gasthaus, XIV., Märzstraße 33.<br />
Föderation der Bauarbeiter. X., Eugengasse<br />
9, Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />
jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />
Unabhängige Schuhmacher-Gewerkschaft.<br />
XIV., Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />
Männergesangverein „Morgenröte". XIV.,<br />
Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />
jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />
Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „Pokrok". XIV.,<br />
Hütteldorferstraße 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />
Freie Einkaufsgenossenschaft. Jeden Donnerstag<br />
abends bei Schlor.<br />
Freidenker-Vereinig. „ F r e i e r Gedanke".<br />
öffentl. Vortrag jeden Freitag um 8 Uhr bei Schlor.
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
An die anarchistische Bewegung in Österreich.<br />
Dem Beschlüsse des Amsterdamer Kongresses<br />
gemäß (24—31.. August 1907) soll im Sommer<br />
nächsten Jahres ein neuer internationaler Kongreß<br />
stattfinden, der Erste, den die Anarchistische Internationale<br />
seit ihrer Gründung einberufen wird, auf<br />
welchem die Arbeiten der letzten zwei Jahre geprüft<br />
<strong>und</strong> die Erfahrungen dieses ersten Versuchs<br />
einer internationalen anarchistischen Organisation<br />
zum allgemeinen Nutzen für die Zukunft verwertet<br />
werden sollen.<br />
Damit der Kongreß die volle Bedeutung erlange,<br />
die ihm gebührt <strong>und</strong> andererseits den Genossen<br />
ferner Länder (wie Australien, Argentinien,<br />
Chili, Japan usw.) die Möglichkeit zur Beteiligung<br />
gegeben werden kann, ist es notwendig, die Vorbereitungsarbeitcn<br />
in Angriff zu nehmen. Wir fordern<br />
daher die Genossen aller Länder auf, unverzüglich<br />
mit der Arbeit zu beginnen <strong>und</strong> dafür Sorge<br />
zu tragen, daß die Beteiligung eine möglichst große<br />
sei; auch erwarten wir, daß uns die Kameraden<br />
ihre Ansichten <strong>und</strong> Vorschläge, den Kongreß betreffend,<br />
<strong>und</strong> solche, die sie zur Diskussion zu<br />
stellen wünschen, in Bälde k<strong>und</strong>geben werden,<br />
damit dieselben im Bulletin veröffentlicht werden<br />
können.<br />
In erster Linie handelte es sich darum ein<br />
fixes Datum festzusetzen, den Ort, wo der Kongreß<br />
stattfinden soll, zu bestimmen <strong>und</strong> sich über<br />
die Zulassungsbedingungen <strong>und</strong> die zu entscheidenden<br />
Punkte klar zu werden. Das aber kann nur<br />
geschehen, nachdem wir die allgemeinen Ansichten<br />
der Genossen in Erfahrung gebracht haben.<br />
Als einfaches Verbindungsorgan kann sich das<br />
Bureau nur darauf beschränken, die Wünsche der<br />
Genossen in Empfang zu nehmen <strong>und</strong> dieselben in<br />
einer Weise zu ordnen, die dem möglichst größten<br />
Teile der Kameraden zur Zufriedenheit gereichen<br />
möge. Indem wir also den uns in Amsterdam gewordenen<br />
Auftrag zur Ausführung bringen <strong>und</strong> zur<br />
Einberufung des neuen Kongresses schreiten,<br />
glauben wir im Sinne der Amsterdamer Kongress<br />
ist en <strong>und</strong> dem Geiste unserer Vereinigung<br />
entsprechend zu handeln, wenn wir unsere Einladung<br />
nicht ausschließlich an die der Internationale<br />
angeschlossenen Gruppen <strong>und</strong> Personen, sondern<br />
an a l l e Anarchisten ergehen lassen. Wir geben<br />
daher der Hoffnung Ausdruck, daß alle Richtungen<br />
<strong>und</strong> Tendenzen, die für sich den Namen des Anarchismus<br />
in Anspruch nehmen, auf dem Kongresse<br />
vollzählig vertreten sein werden.<br />
Da es bei uns keinerlei vorher bestimmte<br />
Verbindlichkeiten gibt <strong>und</strong> die Resolutionen die<br />
von der Mehrheit der Teilnehmer angenommen<br />
werden, nur für diejenigen Geltung haben, die sie<br />
gutheißen <strong>und</strong> die selber den Grad der übernommenen<br />
Verbindlichkeiten bestimmen, so hat<br />
keiner zu fürchten, daß seiner Unabhängigkeit <strong>und</strong><br />
der Freiheit der Initiative Abbruch getan werden<br />
könne; die Diskussionen <strong>und</strong> die Übereinstimmungen,<br />
die sich möglichen Falls durch den Austausch<br />
der Meinungen <strong>und</strong> die persönlichen Beziehungen<br />
ergeben werden, können also nur von allgemeinem<br />
Nutzen sein. Für die internen Angelegenheiten der<br />
Vereinigung werden einige geschlossene Sitzungen<br />
für die Mitglieder stattfinden; auch werden diejenigen,<br />
die über gewisse praktische Fragen zu<br />
einem privaten Einverständnis gelangen, die notwendige<br />
Gelegenheit zur Nutzanwendung ihres<br />
Einvernehmens finden.<br />
Wir sind auch der Ansicht — <strong>und</strong> wir bitten<br />
die Genossen, diese Frage ernstlich in Betracht zu<br />
ziehen daß .es zweckentsprechender wäre, die<br />
Tagesordnung des Kongresses auf einige Fragen<br />
von allgemeiner Wichtigkeit zu beschränken <strong>und</strong><br />
sie nicht zu überlasten mit einer Menge Fragen,<br />
für deren gründliche Erörterung überhaupt nicht<br />
die nötige Zeit vorhanden ist <strong>und</strong> die in der Wirklichkeit<br />
nur verhindern, daß die ganze verfügbare<br />
Zeit zur Besprechung der Hauptfragen verwendet<br />
werde.<br />
Im Übrigen — die Frage des Datums <strong>und</strong><br />
Ortes ausgenommen, die auf dem schnellsten <strong>Weg</strong>e<br />
erledigt werden muß -- hat der Kongreß selbst zu<br />
bestimmen über die Zusammenstellung seiner Tagesordnung<br />
<strong>und</strong> alle anderen ihn angehenden Fragen.<br />
Wir rechnen auf die begeisternde Tätigkeit<br />
aller Anarchisten <strong>und</strong> ganz besonders auf die<br />
Tätigkeit derjenigen Genossen, die durch ihren Anschluß<br />
an die Internationale bek<strong>und</strong>et haben, daß<br />
sie von der Nützlichkeit einer permanenten Organisation<br />
unter den Anarchisten aller Länder überzeugt<br />
sind.<br />
Das Korrespondenzbureau der<br />
„Anarchistischen Internationale".<br />
Die Unterzeichneten haben das obige Zirkular<br />
einer Versammlung sämtlicher föderierten Gruppen<br />
unserer Wiener Bewegung unterbreitet. Es wurden<br />
die folgenden Beschlüsse gefaßt:<br />
1. Daß sämtliche Wiener Gruppierungen den<br />
föderativen Anschluß an die anarchistische Internationale<br />
gutheißen.<br />
2. Daß ein Jahresbeitrag von 12 Kronen entrichtet<br />
werden soll.<br />
3. Daß die anarchistische Bewegung in Wien<br />
sich gegenüber der Einberufung eines zweiten internationalen<br />
Kongresses, der schon im Sommer 1909<br />
abgehalten werden soll, a b l e h n e n d verhält. Die<br />
Genossen sind der Meinung, daß z w e i Jahre für<br />
den praktischen, föderalistischen Zusammenschluß<br />
der internationalen anarchistischen Bewegung ein<br />
zu geringer Zeitraum ist. Weitere zwei Jahre<br />
müssen wenigstens noch verfließen, ehe die Bedürfnisse<br />
unserer Bewegung die Einberufung eines<br />
zweiten Kongresses erheischen werden. Über die<br />
praktisch zu nehmenden Schritte kann ein Kongreß<br />
<strong>und</strong> möge er selbst eine wie immer beschleunigte<br />
Geschäftserledigung haben — nicht urteilen<br />
noch schlüssig werden. Zu diesem Zwecke sollte<br />
Im „Internationalen Bulletin" eine Diskussion über<br />
sämtliche schwebenden Punkte eröffnet werden, die<br />
durch resp. Übersetzungen in die gesamte anarchistische<br />
Presse überzugehen hätte <strong>und</strong> dadurch<br />
gewiß eine sowohl individuell wie kollektiv geklärte<br />
Meinung <strong>und</strong> Aktion herbeiführen würde.<br />
Solch eine Diskussion kann zwei bis drei Jahre<br />
währen - <strong>und</strong> d a n n ist die Zeit gekommen für<br />
einen zweiten Kongreß, da die resp. nationalen<br />
Föderationen bis dorthin den Kongreß mit fertigen<br />
Resultaten beschicken, wie auch auf die Erfolge<br />
oder Mißerfolge einer etwa vierjährigen Arbeit zurückblicken<br />
<strong>und</strong> berichten werden können.<br />
Wie immer die Föderationen anderer Länder<br />
über diesen Punkt entscheiden mögen, was die<br />
österreichische Bewegung in Wien anbetrifft, so<br />
wird sie auf dem zweiten Kongreß nicht vertreten<br />
sein k ö n n e n , wenn dieser schon im Sommer<br />
1909 stattfindet. Der Gr<strong>und</strong> liegt vor allem auch im<br />
Geldmangel, ein Punkt, der wohl auf sämtliche<br />
deutsche Gruppierungen in ganz Österreich zutreffen<br />
mag.<br />
J o s e f Z i n d e l l a r , P i e r r e R a m u s<br />
Internationale Sekretäre für Niederösterreich.<br />
Wien, XII, Arndtstraße 2, II/25.<br />
Österreich.<br />
Seit jeher bemüht sich die mißliche Polizeiwirtschaft,<br />
der wir hier ausgesetzt sind, Österreich zu<br />
einem Ablager preußisch - deutscher Reaktionsunkultur<br />
zu gestalten. So kommt es, daß man bei<br />
uns so hüpft, wie man in Berlin spuckt. Dieser<br />
traurigen Liebedienerei ist unser deutscher Kamerad<br />
O t t o W c i d t , ehemals verantwortlicher Redakteur<br />
des früheren „Anarchist" in Berlin zum Opfer gefallen.<br />
Tatsache ist, daß die Wiener Polizei selbst<br />
eingestehen mußte, daß W. nicht im geringsten in<br />
das öffentliche Leben eingegriffen hatte, der stereotype<br />
Ausdruck „lästiger Ausländer" auf ihn auch<br />
nicht laut Polizeibegriffen Anwendung finden konnte<br />
— immerhin, die Berliner Akten, die auf dem Amtstische<br />
lagen, sie gaben den Ausschlag, der Genosse<br />
W. wurde ausgewiesen. — Bemerken möchten wir<br />
noch, daß der Genosse W. sich während seines<br />
hiesigen Aufenthaltes in schätzenswerter Weise im<br />
Interesse der Bewegung bemühte, in allen inneren<br />
administrativen Angelegenheiten unermüdlich mithalf<br />
<strong>und</strong> mitwirkte. Wir alle rufen dem Scheidenden<br />
ein herzliches Lebewohl nach!<br />
* Konfisziert wurde - W i e n , nämlich in<br />
unserem Anti-Volksbetrugaufsatz so ziemlich alles<br />
„bis einschließlich Wiens", wie es so schön in der<br />
Beschlagnahmeverfügung heißt. Schade um das arme<br />
Wien, denn es ist von den Tausenden <strong>und</strong> Abertausenden<br />
Separatabdrücken unseres Leitartikels in<br />
Nr. 20 „ G e g e n a l l e P a r t e i e n , g e g e n j e d e n<br />
V o l k s b e t r u g ! " keineswegs verschont geblieben,<br />
Es war das erste Mal, daß in Österreich, das sich<br />
noch nicht allzu lange des generelleren Wahl „rechtes*<br />
resp. Zwanges erfreut, eine prinzipiell antiparlamentarische<br />
Bewegung betrieben wurde, die, unter der<br />
Devise der „Wertlosigkeit der Landtagswahlen für<br />
das Proletariat" weite Massen der Bevölkerung<br />
ergriff. Wie haben die Anhänger a l l e r Parteien,<br />
sowohl Christlichsoziale, als Sozialdemokraten <strong>und</strong><br />
die mit diesen liebäugelnden Deutschfreiheitlichen<br />
geflennt, als unsere Separatabdrücke Uberall eindrangen<br />
! Und auch in Versammlungen haben wir<br />
den Herren gehörig unsere, der Anarchisten Meinung<br />
gesagt.- Prächtig verlief unsere Versammlung in der<br />
Brigittenau, zu der sich sehr viele Sozialdemokraten<br />
eingef<strong>und</strong>en hatten. Schließlich, da sie mit ihrer<br />
Diskussion wider den Kameraden Ramus bloß ihre<br />
Unwissenheit <strong>und</strong> dumme Stimmviehpsyche offenbarten,<br />
blieb den Tapferen nichts anderes übrig, als<br />
Reißaus zu nehmen. Damit glaubten sie, sämtliche<br />
Zuhörer mitzuschleppen — sie hatten sich arg getäuscht.<br />
Denn erst um 2 Uhr 30 Min. konnte der<br />
Vorsitzende, Genosse Lickier, die Versammlung, die<br />
um 10 Uhr vormittags begonnen hatte, schließen,<br />
was umso bemerkenswerter ist, wenn man bedenkt,<br />
daß die anwesenden Sozialdemokraten händeringend<br />
gestanden, daß sie in ihren Wahlversammlurgen die<br />
Wähler kaum 2 St<strong>und</strong>en beisammen halten könnten!<br />
— Einen elenden Halunkenstreich, den sie gegen<br />
bürgerliche Parteien, gegen die Christlichsozialen<br />
des 14. Bezirßes niemals gewagt hätten, versuchten<br />
die Herren Sozialdemokraten sich uns gegenüber<br />
zu leisten. Seit 6 Tagen hatten wir Schlors Lokal<br />
für u n s e r e Wählerversammlung gemietet, hatten<br />
Uber 1000 u n s e r e r Flugzettel verteilt <strong>und</strong> die<br />
Arbeiter zu einer Versammlung einberufen, die um<br />
8 Uhr abeuds ihren Anfang nehmen sollte. Doch<br />
schon tags zuvor hatten die Demokraten erklärt,<br />
sie würden die Abhaltung der Versammlung vereiteln;<br />
sie taten es mit folgendem Mittel: bereits<br />
um 6 Uhr 30 Min. war der Saal voll besetzt von<br />
sozialdemokratischen Arbeitern, die, durch Telegramme,<br />
besondere Verfügungen veranlaßt, sich zu<br />
solch einer zeitlichen Versammlung eingef<strong>und</strong>en<br />
hatten! Und ohne sich zu genieren <strong>und</strong> zu bedenken,<br />
daß es u n s e r Geld war, auf dessen Kosten sie<br />
hier eine Versammlung abhalten wollten — auch<br />
das bürgerliche Gesetzbuch hat für solches Tun<br />
einen sprachlichen Begriff! — eröffneten nun die<br />
Herren Grassinger, Skaret etc. die Versammlung!<br />
Sie referierten - <strong>und</strong> glaubten nun, gewonnenes<br />
Spiel zu haben, da sie es für ganz sicher erachteten,<br />
daß der anarchistische Referent des Abends, Gen.<br />
Ramus, wenn er kommen <strong>und</strong> sehen würde, wie<br />
die Dinge standen, sich wieder diskret zurückziehen<br />
<strong>und</strong> es nicht wagen würde, ihnen entgegenzutreten.<br />
Darin hatten sich die wackeren Paladine des Zentralismus<br />
<strong>und</strong> des Wahlschwindels (nur für das<br />
Proletariat, nicht für jene, die gewählt werden<br />
wollen!) arg verrechnet. Um 8 Uhr war der Genosse<br />
Ramus an Ort <strong>und</strong> Stelle, <strong>und</strong> als der gerade in<br />
faustdicken Lügen <strong>und</strong> Entstellungen referierende<br />
Parteisekretär Skaret dies vernahm, sprach er keine<br />
10 Minuten mehr, <strong>und</strong> Genosse Ramus konnte sich<br />
zu Worte melden. Natürlich nützte er nun s e i n e<br />
Versammlung ganz gehörig aus, <strong>und</strong> über drei Viertelst<strong>und</strong>en<br />
mußten die Sozialdemokraten, trotz ihrer<br />
öfteren Radauunterbrechungen, bittere Wahrheiten<br />
hören. Dann sollte Herr Skaret „widerlegen". Er<br />
tat es so energisch, daß er eingangs gleich erklärte<br />
— die Zeit sei zu vorgerückt, er könne deshalb<br />
nur ganz flüchtig auf Einzelnes eingehen . . . Wir<br />
wollen es dem Guten — der z. B. einen Branchestreik<br />
für analog mit einem Generalstreik erklärte!!<br />
— nicht antun, seine „Argumente" anzuführen, so<br />
grausam sind wir denn doch nicht; kurz, in weniger<br />
als 10 Minuten war er mit seinen „Argumenten"<br />
zu Ende <strong>und</strong> fing nun an, ganz regelrecht zu schimpfen<br />
<strong>und</strong> zu hetz«n. Mittlerweile waren aber auch<br />
schon die anarchistischen Besucher anwesend, <strong>und</strong><br />
so entstand natürlich sehr rasch ein arger Tumult,<br />
der direkt durch die provokatorischen, verdrehenden<br />
Äußerungen Skarets veranlaßt ward. Der Heldenmut<br />
der Demokraten erwies sich nun gegenüber einer<br />
Frau, die sie prügelten; ihr brutales Vorgehen rächte<br />
sich aber auch gleich dadurch, daß ein Sozialdemokrat<br />
den anderen übel zurichtete. Auch sonst<br />
haben die Sozialdemokraten die Gelegenheit gehabt,<br />
die Derbheit solcher „geistigen Waffen" fühlen zu<br />
müssen. Sehr schlecht wäre es ihnen ergangen,<br />
wenn sie, wie einige der total besoffen gemachten<br />
Plattenbrüder — denn daß a u c h d i e s e Sozialdemokraten,<br />
können selbst wir n i c h t glauben! —<br />
es wollten, sich an den Genossen R. vergriffen<br />
hätten. Umgeben von einem halben Dutzend ihm<br />
gänzlich fremder, aber über dieses sozialdemokratische<br />
Vorgehen ehrlich empörter Menschen, bahnten<br />
diese ihm kämpfend einen <strong>Weg</strong> durch die von Skaret<br />
aufgereizte u. d veridiotisierte Menge. Und damit<br />
hatte d i e s e Wählerversammlung ihr Ende erreicht;<br />
wir bezweifeln es sehr, ob sich die Sozialdemokraten<br />
in dieser Versammlung Stimmlorbeeren errungen<br />
haben! —<br />
* Am Sonntag den 25. Oktober fand eine große<br />
Massenversammlung im 16. Bezirke statt, also in<br />
der Hochburg der Sozialdemokratie. Wir hatten uns<br />
gehörig vorbereitet <strong>und</strong> waren eines rohen Überfalles<br />
seitens Christlichsozialer oder der roten Stiefbrüder<br />
gewärtig. War es doch e i n Tag vor der<br />
Wahl, die Leidenschaft hatte einen Siedepunkt erreicht<br />
<strong>und</strong> unsere Separatabdrücke, wie Zetteleinladungen<br />
wurden zu Tausenden im Volke gelesen.<br />
Doch siehe da: wohl hatten sich sehr viele Arbeiter<br />
obiger b e i d e r Parteien eingef<strong>und</strong>en, doch es fehlten<br />
die Führer, die einen Radau hätten provozieren<br />
müssen, weil sie nicht zu polemisieren vermochten.<br />
Sie fehlten, <strong>und</strong> so hatten wir die Freude zu sehen,<br />
daß sich nach den fast zweistündigen Ausführungen<br />
von Gen. R. über die Wertlosigkeit der Landtagswahlen<br />
für d a s P r o l e t a r i a t eine Anzahl Redner<br />
zu Worte meldete. Unter anderen sprach auch<br />
unser Genosse Haidt, dessen Bruder, ein uns namentlich<br />
leider unbekannt gebliebener, tüchtiger,<br />
sozialdemokratischer Arbeiter. Diese demolierten<br />
nun selbst ganz vorzüglich die von einigen Jugendlichen<br />
(u. a. auch Herrn Matuschek) dumm-unwissend<br />
vorgebrachten Redensarten. Ruhig wurde das Schlußwort<br />
des Gen. R. hingenommen, <strong>und</strong> mit begeisterten<br />
Gefühlen gingen sämtliche Teilnehmer aus dieser<br />
Versammlung hinaus. Hier triumphierte einmal der<br />
Gedanke des revolutionären Sozialismus durch den<br />
ges<strong>und</strong>en Menschenverstand n i c h t streberischer<br />
Sozialdemokraten I<br />
* Eine ausgezeichnete Versammlung war die<br />
vom letzten Dienstag, in der Genosse Ramus, unter<br />
dem Vorsitz des Genossen Haidt, über die „Verhandlungen<br />
des französischen Gewerkschaftskongresses"<br />
referierte. Die Ausführungen des Redners<br />
fanden selbst unter den anwesenden Sozialdemokraten<br />
Anklang.<br />
* Hurrah w i r h a b e n g e s i e g t ! So darf<br />
tatsächlich die christlichsoziale Strauchritterbande<br />
der politischen Beutepolitik ausrufen, wenn sie das<br />
Terrain der am letzten Montag stattgehabten Landtagswahlen<br />
überblickt. Die Sozialdemokratie gewann<br />
wohl 5 Mandate, aber die Enttäuschung ist so allgemein<br />
unter ihren Anhängern, daß man tatsächlich<br />
von einer kolossalen Niederlage sprechen muß.<br />
Diese ist noch dadurch bemerkenswerter, daß die<br />
schwarze Pest der Sieger r<strong>und</strong> 60000 Stimmen mehr
gewann, als sie in den Wahlen von 1906 besaß.<br />
Ist dieser Stimmenzuwachs nicht der beste Beweis<br />
dafür, daß die Art, wie die Sozialdemokratie die<br />
christlichsoziale Partei des Spießertums <strong>und</strong> der<br />
Klerisei bekämpft, eine total verfehlte ist? Indem<br />
die Sozialdemokratie sich selbst völlig auf das tiefe<br />
Niveau dieses österreichischen Zentrums herabläßt,<br />
ist für eine prinzipielle Propaganda gegen die<br />
Christlichsozialen kein Raum in ihr mehr. Es gibt<br />
nur e i n e Bekämpfung der Christlichsozialen, <strong>und</strong><br />
das ist die unsrige: mit den klassischen Waffen<br />
des A t h e i s m u s einerseits, mit einem fruchtbaren<br />
Programm w i r t s c h a f t l i c h e r S e l b s t h i l f e im<br />
Gegensatz zum Bestehenden - so allein ist es<br />
möglich, die verführten Arbeitermassen der Christlichsozialen<br />
auf die Bahn des revolutionären Sozialismus<br />
zu geleiten, wie auch dem, jeden Kulturfortschritt<br />
in Österreich geradezu vernichtenden<br />
Anwachsen der schwarzen Reaktion - wie es durch<br />
obigen Stimmengewinnst deutlich genug ausgedrückt<br />
wird — Dämme zu setzen <strong>und</strong> Einhalt zu gebieten.<br />
Es ist die n i c h t sozialistische Sozialdemokratie,<br />
die den Christlichsozialen Existenzmöglichkeit bietet;<br />
ein revolutionärer Sozialismus würde diese Partei<br />
verkümmern oder wenigstens sie nicht mehr auch<br />
eine Arbeiterpartei sein lassen!<br />
* Auf ein sehr erfreuliches Moment können<br />
wir aber hinweisen bei einer Besprechung der<br />
Landtagswahlen: a u f d i e z u n e h m e n d e<br />
G l e i c h g i l t i g k e i t b r e i t e r B e V ö l k e r u n g s -<br />
sch-ichten g e g e n ü b e r dem p o l i t i s c h e n<br />
P a r t e i e n - <strong>und</strong> W a h l k l i m b i m !<br />
So haben folgende Wahlberechtigte überhaupt<br />
nicht gestimmt:<br />
Innere Stadt 1375, Leopoldstadt 2928, Landstraße<br />
3180, Wieden 1544, Margareten 1926, Mariahilf<br />
1119, Neubau 1310, Josefstadt 1050, Aisergr<strong>und</strong><br />
1832, Favoriten 3059, Simmering 469, Meidling 1676,<br />
Hietzing 2042, Rudolfsheim 1098, Fünfhaus 552,<br />
Ottakring 5099, Hernais 2160, Währing 1561, Döbling<br />
897, Brigittenau 1278, Floridsdorf 741. Zusammen<br />
36.996.<br />
Dazu kommen nach einer noch ganz unvollständigen<br />
Zählung die folgenden Bezirke, in denen<br />
leere Stimmzettel abgegeben wurden:<br />
Landstraße 1085, Aisergr<strong>und</strong> 550 (angeblich<br />
Christlichsoziale), Favoriten 514, Simmering 121,<br />
Ottakring 1190. Zusammen 3460.»<br />
Dies ergibt insgesamt über 40.000 Menschen,<br />
die es satt haben, als Werkzeuge <strong>und</strong> Staffeln für<br />
ehrgeizige Herrschsüchtlinge aller Parteien sich gebrauchen<br />
zu lassen. Was immer die Motive d i e s e r<br />
Antiparlamentarier auch gewesen sein mögen, ist<br />
ganz einerlei: sie haben den Staatsinstitutionen in<br />
dieser Hinsicht den Rücken gekehrt <strong>und</strong> es energisch<br />
abgelehnt, die Funktionäre eines Staates zu<br />
sein, dessen Prinzipien sie nicht anerkennen <strong>und</strong><br />
dessen Funktionen in den Gesetzeshäusern, wie sie<br />
wissen, ausschließlich zu Gunsten der bestehenden<br />
Gewalt sich äußern müssen, gegen diese g a r<br />
n i c h t s tun können. Das ist für den Anfang einer<br />
anarchistischen Propagandaaktion sehr viel; unsere<br />
Aufgabe als Anarchisten muß es sein, diesen Antiparlamentariern<br />
diejenigen <strong>Weg</strong>e der sozialen Entwicklung<br />
<strong>und</strong> des Kampfes zu weisen, die sie zu<br />
wandeln haben, um außerparlamentarisch das zu<br />
erreichen, was sie, wie sie sehr wohl begreifen,<br />
durch das Parlament n i e gewinnen können: Wohlstand<br />
für A l l e ! F r e i h e i t für A l l e ! Antiparlamentarismus<br />
bedeutet n i c h t Untätigkeit, vielmehr<br />
folgendes: Widerstand gegenüber der versuchten<br />
Aufdrängung der unfruchtbaren Tatenlosigkeit<br />
durch das Parlament (was werden die Sozialdemokraten<br />
mit ihren 5 Mandaten nun für volle<br />
sechs Jahre „tun"?); im Gegensatz dazu: selbständige<br />
wirtschaftliche Kampfesaktion für soziale<br />
Umwandlungen nicht Im toten Gesetzbuch, sondern<br />
im Leben der Wirklichkeit! Das ist Antiparlamentarismus,<br />
<strong>und</strong> eine solche Aktion wie Propaganda<br />
ist, wie u n s e r Stimmresultat es beweist, der einzige<br />
<strong>Weg</strong>, das einzige Mittel, um breite Schichten<br />
des Volkes, die sich nicht znm Parteienstimmvieh<br />
herabwürdigen lassen wollen, vor dem ärgsten<br />
Feind jeder Kulturentwicklung, dem soziologischen<br />
Pessimismus ob des österreichischen Parlamentswahnsinnes,<br />
zu bewahren!<br />
• Vor Redaktionsschluß erhalten wir die ungefähre Oesamtziffer<br />
derjenigen, die leere Stimmzettel abgaben: sie ist<br />
10.000, also um r<strong>und</strong> 3000 m e h r , als im Jahre 1907 wahrend<br />
der Reichsratswahlen !<br />
Italien.<br />
V e r r a t d e r R e f o r m i s t e n i m S t r e i k<br />
von P a r m a . Um verleumderische Nachrichten<br />
der bürgerlichen <strong>und</strong> sozialdemokratischen Presse<br />
richtig zu stellen <strong>und</strong> ein klares Bild der Situation<br />
zu geben, müssen wir auf den Anfang der Streikbewegung<br />
zurückgreifen.<br />
Die revolutionären Syndikalisten von Parma<br />
haben von Anfang an a l l e Verantwortlichkeit des<br />
allgemeinen Landarbeiterstreiks mutvoll auf sich genommen;<br />
mit den reformistischen Organisationen<br />
wurde - auf deren u n aufgefordertes Anerbieten<br />
hin — eine fre<strong>und</strong>schaftliche Übereinkunft geschlossen,<br />
nach welcher sich diese n i c h t in die<br />
Leitung der Bewegung hineinmischen, aber den<br />
Syndikalisten bei der Verteilung der Unterstützungen<br />
behilflich sein sollten. Diese Übereinkunft ist von<br />
Seiten der Reformisten gebrochen worden; die<br />
Selbständigkeit <strong>und</strong> revolutionäre direkte Aktion<br />
der Parmesaner Bauern, sagte ihnen nicht zu, da<br />
sie dadurch als F ü h r e r der Bewegung überflüssig<br />
werden; deshalb wollten sie den Streik mit allen<br />
Mitteln zu Falle bringen. Sie hielten einen Kongreß<br />
ab, in welchem sie die revolutionäre Taktik der<br />
Streikenden verdammten <strong>und</strong> sich anmaßten, in Zu-<br />
kunft a l l e i n über die Verteilung der, von Uberall<br />
einlaufenden Unterstützungsgelder zu verfügen! Die<br />
sozialdemokratischen Organisationen haben die für<br />
die Streikenden an sie eingesandten Gelder e i nf<br />
a c h f ü r i h r e e i g e n e n Z w e c k e v e r -<br />
w e n d e t ; a u ß e r d e m f ü h r t e n i h r e B l ä t t e r<br />
e i n e n g e m e i n e n V e r l e u m d u n g s k r i e g<br />
g e g e n d i e r e v o l u t i o n ä r e n V e r t r a u e n s.m<br />
ä n n e r d e r S t r e i k e n d e n , s o w i e d e n<br />
S t r e i k s e l b s t , den sie als beinahe besiegt <strong>und</strong><br />
tot darstellten.<br />
Um sich gegen diese Infamie zu wehren,<br />
hielten die Streikenden auch einen Kongreß, in<br />
welchem ihre Bevollmächtigten mit 160 Stimmen<br />
gegen 4 erklärt haben, daß die Landarbeiter an<br />
ihrer syndikalistischen <strong>und</strong> revolutionären Kampfesweise<br />
festhalten <strong>und</strong> jede Einmischung der Reformisten<br />
als unbefugt zurückweisen. —<br />
Kürzlich haben sowohl die reformistischen<br />
Gewerkschaften wie die sozialdemokratische Partei<br />
von Italien ihre Landeskongresse abgehalten. Die<br />
beiden sind einander würdig, während die Bourgeoispresse<br />
freudestrahlend den B<strong>und</strong> der beiden<br />
so „vernünftigen" Arbeiterbewegungen segnete;<br />
wozu sie allen Gr<strong>und</strong> hat.<br />
Auf dem Kongreß der Confederazione del Lavoro<br />
(Vereinigung der reformistischen Gewerkschaften)<br />
erlitt das revolutionäre Gewerkschaftsprinzip<br />
eine tötliche Niederlage — weil es nämlich<br />
g a r n i c h t v e r t r e t e n w a r . Die revolutionäre<br />
Arbeiterschaft der Provinzen Parma, Piacenza <strong>und</strong><br />
Ferrara hatte infolge des obigen Verrates der<br />
Confederazione keine Vertreter geschickt. Folgende<br />
Zahlen werden übrigens die Bedeutung der ganzen<br />
Confederazione klarlegen: In Italien sind von den<br />
8 Millionen Arbeitern 546.514 gewerkschaftlich organisiert;<br />
die Confederatione umfaßt davon nur<br />
216.849. die auf dem Kongreß vertreten waren. So<br />
hat die Confederazione bisher noch nicht die Hälfte<br />
der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter in sich<br />
vereinigt.<br />
Infolge der Abwesenheit der revolutionären<br />
Syndikalisten hat der Kongreß — nach heftigem<br />
Widerspruch der Eisenbahnarbeiter, die den Führern<br />
alle ihre Verrätereien vorwarfen -- den Wunsch<br />
nach einem „moralischen" Band zwischen den Gewerkschaften<br />
<strong>und</strong> der sozialdemokratischen Partei<br />
ausgesprochen. Über die Stellungnahme der Confederazione<br />
zu den von den Syndikalisten angeregten<br />
Streiks wurde beschlossen, daß der Streik<br />
n i c h t als ein Gefühlsausdruck oder eine Vorübung<br />
zur Revolution aufgefaßt werden darf, sondern b l o ß<br />
als eine proletarische Kraftentfaltung zur Erringung<br />
besserer Arbeitsbedingungen. Die Confederazione<br />
hat das Recht, in die Taktik der von ihr unterstützten<br />
Streiks einzugreifen <strong>und</strong> deren Aufhören<br />
zu befehlen. Keinerlei nationale oder provinzielle<br />
Agitation darf ohne die Erlaubnis der Confederazione<br />
begonnen werden ! Man sieht, wenn alle Gewerkschaften<br />
Mitglieder der Confederazione wären,<br />
gäbe es in Italien keinen Streik <strong>und</strong> keine revolutionäre<br />
Agitation mehr.<br />
Andererseits beschloß der Kongreß der sozialdemokratischen<br />
Partei in dem Sinne, k e i n e n<br />
Streik offiziell anzuerkennen, der nicht von der Confederazione<br />
genehmigt ist <strong>und</strong> ihr Vorgehen mit<br />
jenem der Confederazione in Einklang zu bringen,<br />
ohne deren Unabhängigkeit anzutasten. Aus diesem<br />
Gr<strong>und</strong>e hält er den Generalstreik für wertlos <strong>und</strong><br />
für eher gefährlich, weil derselbe das Proletariat<br />
von seiner einzigen wahren Aufgabe, die Verstärkung<br />
seiner Organisationen <strong>und</strong> der Eroberung<br />
der politischen Macht, abhält; worunter in Wahrheit<br />
die Herren ihre eigenen gesicherten P o s i -<br />
t i o n e n v e r s t e h e n .<br />
Auf Agitation.<br />
(Fortsetzung.)<br />
Das ganze praktische Programm der „Freisozialisten"<br />
wird auch von jedem Sozialdemokraten<br />
p r a k t i s c h anerkannt; weil eben in den Bewegungen<br />
selbst keinerlei Verschiedenheit gelegen —<br />
Starek ist, wie jeder gute Sozialdemokrat, ein Parlamentarier!<br />
—, der ganze Zwist nur herrührt von<br />
der Verschiedenheit zwischen führenden Personen.<br />
Wir haben es hier mit keiner einheitlichen<br />
Bewegung zu tun; wir finden die intelligentesten<br />
Arbeitertypen in ihr, die durchaus Anarchisten <strong>und</strong><br />
dann wieder die typisch sozialdemokratischen Radaugestalten,<br />
die soweit gingen, mir in Lanz die<br />
Fenster meines ebenerdigen Zimmers einschlagen<br />
zu wollen. In Z i e d i t z hielt ich bei der dortigen<br />
Gruppe einen Vortrag über die „Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />
des Sozialismus", der von allen Anwesenden —<br />
<strong>und</strong> ich identifizierte den w i r k l i c h e n freiheitlichen<br />
Sozialismus ausdrücklich mit dem Anarchismus —<br />
äußerst beifällig aufgenommen wurde. Diese Arbeiter<br />
sind geistig sehr .entwickelt, revolutionär in<br />
ihrem Empfinden, was sich besonders durch die<br />
Worte Siegls k<strong>und</strong>tat, den ich ohne weiteres als<br />
Kameraden bezeichnen kann. Gab er doch zu, daß<br />
durch die Lektüre des „W. f. A.", seine „Gedanken<br />
über Sozialismus eine ganz neue Wendung genommen"<br />
hatten. Solche gibt es auch noch andere<br />
dorten. Etwas anders erging es mir in Z w o d a u,<br />
wo ich über ein Gewerkschaftstema referierte. Herr<br />
Rudert, Redakteur der „Freien Worte" hatte sich<br />
eingef<strong>und</strong>en, augenscheinlich um mir entgegenzutreten.<br />
Er tat dies auch <strong>und</strong> in der denkbar unverschämtesten,<br />
sozialdemokratischen Manier, d. h.<br />
an meinem Vortrag harte er nichts auszusetzen,<br />
aber er warf mir vor — zu köstlich! —, daß ich<br />
in Wien n i e referierte ; von allen Parlamentariern<br />
hätte ich e i n e n als edle Ausnahme hinstellen<br />
sollen: Starck; u. dgl. m. Als ich ihm antwortete<br />
<strong>und</strong> ihm das Lächerliche seines Gebahrens vorhielt,<br />
zog er wutschnaubend davon. Auf mich<br />
machte der Mann den denkbar schlechtesten Eindruck;<br />
seine Argumente waren Wort für Wort den<br />
Sozialdemokraten abgelauscht, die diese wider<br />
uns kommunistische Anarchisten anwenden; auch<br />
das berühmteste Argument von der Zersplitterung<br />
<strong>und</strong> dem Keilhineintreiben blieb nicht aus. Als ob<br />
man es mit Dummköpfen zu tun hätte <strong>und</strong> nicht<br />
mit denkenden Arbeitern, die doch selbständig<br />
denken <strong>und</strong> urteilen können müssen.<br />
Meine Ausführungen hatten immerhin auf<br />
auf einen großen Teil der Anwesenden Eindruck<br />
gemacht. Und dieser Teil war es auch, der mich<br />
nach kurzer Auseinandersetzung bewog, mit nach<br />
Lanz zu gehen, wo am selben Nachmittag Herr<br />
S. Starck einen Vortrag hielt. Ich ging mit, einerseits<br />
weil ich den Mann, der wie kein zweiter das<br />
Wort freiheitlicher Sozialismus in Österreich kompromittiert<br />
hatte, sehen, anderseits weil ich ihn<br />
hören wollte. Diesem Wunsche brachte ich das<br />
Opfer, über eine St<strong>und</strong>e weit zu Fuß über Stock<br />
<strong>und</strong> Stein zu wandern; glücklicherweise nicht allein,<br />
sondern mit den übrigen Fre<strong>und</strong>en, die mir mein<br />
Gepäck tragen halfen.<br />
Nach längerem Warten kam Herr S. Starck. Sein<br />
Thema lautete kurz „Sozialpolitische R<strong>und</strong>schau".<br />
Der Mann besitzt, obwohl geistig sehr ungebildet,<br />
eine natürliche, vorzügliche Rednergabe. Doch was<br />
er sagt, ist voll von Widersprüchen. In seiner Kritik<br />
des Parlamentarismus war er ausgezeichnet; bis er,<br />
wie jeder Politiker, auf s e i n e parlamentarischen<br />
Wünsche zu sprechen kam. In der Kritik der a nd<br />
e r e n parlamentarischen Fraktionen ist nämlich<br />
jeder Politiker sehr fähig. Und während er klar<br />
<strong>und</strong> deutlich bewiesen hatte, daß im Parlament<br />
g a r n i c h t s g e g e n die Regierung durchgeführt<br />
werden kann, begeisterte er sich gleich darnach<br />
für eine — Verfassungsrevision! Ein lebhaftes<br />
Kokettieren mit dem Mittelstand <strong>und</strong> der Wunsch,<br />
d i e s e n genossenschaftlich organisiert zu sehen<br />
— in Amerika <strong>und</strong> England ist dies schon zu einem<br />
großen Teil der Fall, <strong>und</strong> das Resultat ist eine<br />
Kartellkoalition zur Emporschraubung des Preises<br />
aller Lebensmittel auch im Detailverkauf! • , ein<br />
Hin- <strong>und</strong> Herpendeln zwischen Ultraradikalismus<br />
<strong>und</strong> sanftestem Revisionismus, als Fazit das Bestreben,<br />
Produktivgenossenschaften zu gründen —<br />
was die anarchistische Bewegung aber schon mehrfach<br />
sogar erfolgreich durchgeführt hat - , darin<br />
bestand der wesentliche Inhalt seiner Rede.<br />
Fortsetzung folgt. Pierre Ramus.<br />
Briefkasten.<br />
Wandsbeck. Eine der nächsten Nummern<br />
bringt ihren Aufsatz. — Lerche. Wollte Ihren Aufsatz<br />
schon bringen, doch „Fre<strong>und</strong> A. S." bestritt<br />
mir das Recht dazu; was tun? Gruß. — Ungewiß.<br />
Das „Soldatenlied" („Ich bin Soldat, doch bin ich<br />
es nicht gerne . . ." ist nicht von Max Kegel, sondern<br />
von Karl Hirsch. Der gute Mann weiß eben<br />
manches andere ebenso miserabel ungenau. —<br />
Hamburger. Senden Sie Artikel zur Einsichtnahme;<br />
bitte um Abonnement! — Garai ut. Wird alles besorgt.<br />
— R. Bei bestem Willen k e i n Geld! --<br />
W. Schämen Sie sich als älterer Mann solch eine<br />
alberne Behauptung aufzustellen, Sie seien gegen<br />
die Propaganda für Konfessionsloserklärung glaubensloser<br />
Menschen, weil dieselben vielleicht einmal<br />
rückfällig werden könnten! Sind Sic auch gegen<br />
die Wahrheit, weil auch ein wahrer Mensch einmal<br />
ein Lügner werden kann? Oder gegen die Vernunft,<br />
weil ein Mensch einmal irrsinnig werden <strong>und</strong> dabei<br />
beweisen kann, wie gebrechlich die Gehirnkonstitution<br />
des Menschen ist? Im übrigen: seien Sie<br />
kein Patriarch <strong>und</strong> unbesorgt für die anderen; Ihre<br />
Pflicht ist es, der Wahrheit stets die Ehre zu geben<br />
<strong>und</strong> nicht ob — den anderen selbst unaufrichtig<br />
zu werden! — Land. Leider erst in nächster<br />
Nummer. — H. Krause. Schreiben Sie an V. Krampera,<br />
Dux, Telacvifná iil eis. 521, Böhmen. Über<br />
das andere siehe Nr. 22 des „W. f. A.", Gruß.
Der Antimilitarismus<br />
als<br />
T a k t i k d e s A n a r c h i s m u s .<br />
Von Pierre Ramus.<br />
Referat, gehalten auf dem internationalen Amsterdamer Kongreß<br />
der »Internationalen antimilitaristischen Assoziation«<br />
am 30. <strong>und</strong> 31. August 1907.<br />
(Fortsetzung.)<br />
„Genosse Bebel hat schon betont, daß s e l b s t v e r s t ä n d -<br />
lich im Falle eines Angriffes die Sozialdemokraten die Flinte<br />
auf den Buckel nehmen würden, <strong>und</strong> ich behaupte, daß es<br />
keinen deutschen Sozialdemokraten gibt, der eine andere Auffassung<br />
ausspricht."<br />
(Der sozialdemokratische Abgeordnete N o s k e * im<br />
deutschen Reichstag, am 25. April 1907.)<br />
„Ich akzeptiere die Versicherung des Vorredners, daß die<br />
sozialdemokratische Partei entschlossen sei, im Falle eines Angriffskrieges<br />
auf das Deutsche Reich es mit derselben Treue<br />
<strong>und</strong> Hingabe zu verteidigen, wie die anderen Parteien." (Lebhafte<br />
Zurufe bei den Sozialdemokraten: Selbstverständlich!<br />
Haben wir i m m e r gesagt.)<br />
(Kriegsminister von E i n e m im deutschen Reichstage,<br />
am 25. April 1907.)<br />
Beide Zitate sind w ö r t l i c h dem Berliner „Vorwärts" vom<br />
26. April 1907 entnommen.<br />
Haben wir uns in einer Besprechung der bürgerlichen Friedensfre<strong>und</strong>e<br />
an das unter vielen bekanntere Schriftchen von Fried gehalten, so haben<br />
wir nur e i n e s , das wir gebrauchen können, wenn wir die „antimilitaristische"<br />
Stellungnahme der Sozialdemokratie — <strong>und</strong> da gilt nur die deutsche,<br />
die Mutterpartei, wie sie sich gerne nennen hört — gebührend charakterisieren<br />
wollen.<br />
Es handelt sich um das bekannte, in Deutschland konfiszierte Werk<br />
von Dr. Karl Liebknecht über „Militarismus <strong>und</strong> Antimilitarismus" (Verlag<br />
der Leipziger Buchdruckerei-Aktiengesellschaft, Leipzig 1907).<br />
Bevor wir auf eine generelle Kritik des Buches selbst eingehen <strong>und</strong><br />
an der Hand einer solchen die falschen Urteile desselben über den Anarchismus<br />
<strong>und</strong> den von diesem beseelten Antimilitarismus richtig stellen, den<br />
anarchistischen Antimilitarismus darstellen, handelt es sich um eine einleitende<br />
Präzisierung all jener Gesichtspunkte, die für eine Beurteilung der<br />
Sozialdemokratie maßgebend sind.<br />
Belehrt durch eine über fünf Dezennien währende <strong>und</strong> hiedurch gewonnene<br />
Erfahrung, erkannte das europäische Proletariat schon seit 1848 zu<br />
einem großen Teil, daß es bislang für die Bourgeoisie nichts anderes gewesen<br />
war, als dasjenige Hilfsmittel, um für sie, für die Bourgeoisie, die ihr<br />
eigentümlichen <strong>und</strong> notwendigen Lebensbedingungen einer expansive vorgehenden<br />
Wirtschaftsmethode zu erkämpfen, die den industriellen Fortschritt<br />
bourgeoiser Technik, Industrie <strong>und</strong> des Handels beschleunigte, damit die<br />
Bourgeosie einerseits bereichernd, anderseits folglich zur politisch ausschlaggebenden<br />
Macht erhebend. Das Proletariat erkannte, daß es betrogen worden.<br />
Und so sehen wir denn, daß die alte „Internationale Arbeiterassoziation"<br />
(1864) uns ein Bild eines zum ersten Mal großzügig international organisierten,<br />
w i r t s c h a f t l i c h kämpfenden Proletariats bietet, das abseits von<br />
der Bourgeoisie seine eigenen s o z i a l e n Forderungen aufstellt <strong>und</strong> anstrebt.<br />
Den wirklich kampfestüchtigen Teil des Proletariats, seinen Geisteskern<br />
offenk<strong>und</strong>ig der Bourgeoisie zurück zu gewinnen, war seit dieser Zeit <strong>und</strong><br />
ist Sache der Unmöglichkeit. Doch auf andere Weise ist diese Unmöglichkeit<br />
zum größten Schaden des Proletariats, glänzend realisiert geworden.<br />
Ihre Verwirklichung hat die Sozialdemokratie durchgeführt.<br />
Von dem Augenblicke an, da es im Proletariat hieß: p a r l a m e n -<br />
t a r i s c h „kämpfen", behufs Erringung der „parlamentarischen Macht", hätte<br />
die Bourgeoisie, verstünde sie nur ein ganz klein wenig die Psychologie<br />
von Massenbewegungen <strong>und</strong> deren Forderungen, ruhig sein können, denn<br />
damit wurde der Klassenkampf des Volkes ein Sc he in kämpf. Die Sozialdemokratie<br />
mußte werden, was sie heute ist: die letzte Ausläuferin der bürgerlichen<br />
Demokratie, die, um das Proletariat an diese <strong>und</strong> ihre für dasselbe<br />
entweder belanglosen oder erst in zweiter Linie wichtigen Forderungen zu<br />
ketten, auch einige sozialistische Zukunftsausblicke <strong>und</strong> Brocken mit in Kauf<br />
nimmt. Von dem Moment an, da die Sozialdemokratie nach Parlamentarismus<br />
<strong>und</strong> Wahlrecht <strong>und</strong> Repräsentationssystem rief, erkannte sie nämlich die<br />
Gr<strong>und</strong>bedingungen des modern bürgerlichen Staates, als zu Recht bestehend<br />
an <strong>und</strong> horte, durch die rechtliche Anerkennung <strong>und</strong> Hochschätzung der ihr<br />
von diesem gebotenen gesetzlichen Mittel auf, eine revolutionäre Bewegung<br />
zu sein. Sie wurde damit eine demokratische Reformpartei.<br />
Nur als eine solche können wir sie verstehen; nur als eine solche<br />
begreift sie sich selbst. Dasjenige, was an idealistischen Zukunftsausblicken<br />
noch in ihr ist, besitzt eine j e d e Bewegung — auch die konservative, die<br />
ja die Etablierung oder Konsei vierung des Despotismus ebenfalls idealistisch<br />
zu verklären vermag — besitzt j e d e r Mensch, ganz gleich welcher Parteirichtung<br />
er angehört. Ihr sogenannter oberster Programmgr<strong>und</strong>satz — die<br />
Überführung sämtlicher privateigentümlich geeigneten Produktionsmittel in<br />
kollektivistischen Besitz — ist durchaus nichtig geworden, indem sie für<br />
denselben überhaupt nicht mehr kämpft. Dieser oberste Gr<strong>und</strong>satz ist in<br />
Wahrheit T h e o r i e geworden. Gekämpft wird seitens der deutschen Sozialdemokratie<br />
nur um die tristen <strong>und</strong> trockenen Notwendigkeitsbehelfe, deren<br />
sich der bürgerliche Staat bedienen muß, um das durch seine Existenz an<br />
dem Proletariat <strong>und</strong> dessen Produktivität verübte Unrecht, seine Ausbeutung<br />
<strong>und</strong> Unterdrückung tunlich zu verdecken. So etwas nennt sich dann<br />
„Sozialreform".<br />
Was die Sozialdemokratie w i r k l i c h anstrebt, drückt Karl Liebknecht<br />
(p. 118) knapp, aber außerordentlich deutlich <strong>und</strong> einmal wahrheitsgemäß in<br />
folgendem aus: Beseitigung des gesellschaftlichen H e r r s c h a f t s v e r h ä l t -<br />
n i s s e s d e r k a p i t a l i s t i s c h e n O l i g a r c h i e gegenüber dem Proletariate<br />
<strong>und</strong> seine Ersetzung durch ein d e m o k r a t i s c h - p r o l e t a r i s c h e s<br />
H e r r s c h a f t s v e r h ä l t n i s . D i e s i s t die berühmte „Eroberung der<br />
politischen Macht" <strong>und</strong> weit zutreffender, vor allen Dingen ehrlicher ausgedrückt,<br />
als es bislang geschah. Daß aber ein „demokratisch-proletarisches<br />
*Im Hinblick darauf, daß mir entgegenhalten werden könnte, daß gerade diese Rede<br />
Noskes eine „Ablehnung" durch die Partei erfahren habe, fühle ich mich genötigt, einschaltend<br />
zu bemerken, daß der ganze Sturm auf dem Parteitag zu Essen (1807) nur Bühnenregie gewesen,<br />
insoferne, als er erst n a c h t r ä g l i c h wohldurchdacht arrangiert wurde. Ist es nicht<br />
bezeichnend für die Richtigkeit meiner Behauptung, wenn Bebel auf dem Parteitag sagen<br />
konnte: „Zunächst muß ich sagen,' daß die Rede Noskes in d e r F r a k t i o n v o n k e i n e r -<br />
l e i S e i t e kritisiert worden ist <strong>und</strong> weiter, daß die Rede Noskes an einer großen Anzahl<br />
von Stellen e i n e g u t e Rede war <strong>und</strong> ihr infolgedessen nicht allein von der Fraktion im<br />
Allgemeinen, s o n d e r n s p e z i e l l a u c h v o n m i r a n einer ganzen Reihe von Stellen Zustimmung<br />
<strong>und</strong> Unterstützung zu Teil geworden ist." U n t e r s i c h waren die Herren also<br />
ganz ungeschieden <strong>und</strong> ungeteilt in ihrer Obereinstimmung mit Noskes Ausführungen.<br />
Herrschaftsverhältnis" mit dem Begriff sozialer wie individueller Freiheit<br />
e b e n s o w e n i g zu tun hat, wie ein Herrschaftsverhältnis der „kapitalistischen<br />
Oligarchie" sollte einem jeden Einsichtigen klar sein. Ein j e d e s<br />
H e r r s c h a f t s Verhältnis setzt Beherrschte, damit Unfreie, voraus.<br />
Nun erst sind wir an die Quelle der Erkenntnis gelangt, was die Haltung<br />
der Sozialdemokratie gegenüber dem Militarismus betrifft. Die Sozialdemokratie<br />
kann k e i n e gr<strong>und</strong>sätzliche Gegnerin des Militarismus sein, sie<br />
i s t G e g n e r i n d e s s e l b e n u n d s e i n e r F o r m e n n u r i n s o -<br />
f e r n e , a I s d e r M i l i t a r i s m u s e i n e S t ü t z e d e r „ k a p i t a l i s t i s c h -<br />
o l i g a r c h i s c h e n M a c h t " i s t .<br />
Damit wird uns vieles erklärlich <strong>und</strong> begreiflich.<br />
Auf der einen Seite ist die Sozialdemokratie gezwungen, dank der<br />
unablässigen Propaganda der anarchistischen Bewegung, die ihr die denkend<br />
werdenden Arbeitermassen abspenstig zu machen droht, zu erklären, daß sie<br />
„prinzipielle Gegnerin" des Militarismus sei, wie es Liebknecht in seinem<br />
Bliche auch noch, kühn genug, ausspricht, während ihm schon zwei Monate<br />
nach dem Erscheinen desselben — im April — die offiziellen Wortführer der<br />
Partei eines anderen belehrten; <strong>und</strong> dies längst nicht mehr zum ersten Mal*.<br />
Der Gr<strong>und</strong>irrtum jener, die die Sozialdemokratie als prinzipiell antimilitaristisch<br />
auffassen, beruht darin, daß sie eines nicht bemerken: die g e s a m t e<br />
Theorie der Sozialdemokratie, wie sie Marx <strong>und</strong> die marxistische Schule<br />
ausarbeiteten, ist überhaupt nicht darauf zugeschnitten, i r g e n d einer Sache,<br />
<strong>und</strong> wäre es die drangsalierendste, prinzipielle Gegnerschaft entgegenzusetzen.<br />
Dies verbietet die Hegelei, diese, „in unseren Tagen berühmt gewordene<br />
Charlatanerie", wie sich Schopenhauer so vorzüglich über sie äußert. Die<br />
Sozialdemokratie ist allen kapitalistischen <strong>und</strong> staatlichen Erscheinungen des<br />
modernen Lebens gegenüber ganz identisch mit den übrigen bürgerlichen<br />
Parteien, indem sie sie n i c h t unbedingt verneint, sondern nur nach politischer<br />
Beute giert <strong>und</strong> s i e i h r e n Z w e c k e n a n p a s s e n m ö c h t e .<br />
So ist sie n i c h t g e g e n den Militarismus, sondern ist nur gegen jene<br />
F o r m desselben, die ihren besonderen Zwecken nicht zuträglich ist. Eine<br />
besondere Erscheinung bildet die Sozialdemokratie höchstens deshalb, weil<br />
sie darnach strebt, das Proletariat von den bürgerlichen Parteien loszulösen<br />
<strong>und</strong> ihren e i g e n e n Parteizwecken, die in einer Eroberung der „demokratisch-proletarischen<br />
H e r r s c h a f t " bestehen, willfährig zu machen.<br />
Um aber letzteres zu können, dazu bedarf es des Militarismus, d. h.<br />
eines wohldisziplinierten <strong>und</strong> gedrillten Massenwahnes, der dem Befehle<br />
eines Vorgesetzten durchaus gehorcht. Ist die Hoffnung auch vollständig illusorisch,<br />
so wird sie dennoch von den offiziellen Parteigrößen systematisch<br />
genährt, daß die Sozialdemokratie eines Tages als politische Herrscherin<br />
auftreten würde <strong>und</strong> dann den Flinten, Gewehren <strong>und</strong> Kanonen im gegebenen<br />
Falle werde gebieten können, wie zuschießen . . . Dazu ist der Militarismus<br />
nötig, denn eine wie immer geartete „Diktatur des Proletariats", wie das<br />
schöne Wort von Marx lautet, Ist anders <strong>und</strong>enkbar; nur daß diese Diktatur,<br />
die eine neue Menschheitssklaverei bedeuten würde, glücklicherweise überhaupt<br />
<strong>und</strong>enkbar ist.<br />
Erst nun werden wir es begreifen, weshalb die deutsche Sozialdemokratie<br />
sich dem Antipatriotismus von Herve so hartnäckig widersetzt.<br />
Der Patriotismus ist allerdings nichts anderes als das ödeste der öden<br />
Schlagworte im Wörterbuch der Bourgeoisie, wie es Dr. Michels sehr richtig<br />
in seiner von der Sozialdemokratie totgeschwiegenen, logischen Broschüre<br />
„Patriotismus <strong>und</strong> Ethik"* darlegt, hat keinen Raum im Vorstellungsvermögen<br />
des Internationalismus, der wie alles Kulturelle allumspannend ist. Aber eine<br />
Partei, die sich aus niederer Mandatsjägerei an der Haushaltungspolitik des<br />
bestehenden Systems beteiligt, die die politische Macht gewinnen <strong>und</strong> desr<br />
halb politischen Stimmenfang betreiben muß, kann sich ihres Nationalismus<br />
<strong>und</strong> Patriotismus n i c h t entschlagen. Ein jeder Staat ist national, <strong>und</strong> wer<br />
ihn erringen will, muß selbstredend vor allem nationalistisch sein ; so kommt<br />
der Patriotismus auch in der Sozialdemokratie zu seinem Recht, muß zn<br />
demselben gelangen.<br />
Je nachdem die in der Sozialdemokratie zu Worte kommenden entweder<br />
mehr Sozialisten o d e r mehr Demokraten sind, desto mehr oder<br />
weniger sind sie Patrioten. Und indem die Sozialdemokratie vornehmlich die<br />
Demokratie unserer Tage darstellt, ist es nur logisch, wenn die Sozialdemokraten<br />
im Parlament dem Ausspruch Noskes, den wir oben zitierten,<br />
lebhaft zustimmten. So wird auch der Haß, die giftsprühende Wut über die<br />
antipatriotische Propaganda Herves begreiflich, die aus jeder Zeile des „Vorwärts"<br />
spricht, die sich damit beschäftigt. Entblödete sich dieses Blatt denn<br />
doch nicht, in seiner Ausgabe vom 16. September 1905 den Antimilitaristen<br />
<strong>und</strong> sozialistischen Antipolitikern an den Kopf zu werfen, daß sie für die<br />
„antisozialistischen Politiker" arbeiteten. Dieser verleumderische Ingrimm<br />
rührt daher, daß die Sozialdemokratie in all ihrem Vorgehen der Unterstützung<br />
der Bourgeoiselementc bedarf, die sie aber einzubüßen fürchten muß,<br />
falls sie eine direkt antipatriotisch-antimilitaristische Haltung einnähme. Aus<br />
diesem Gr<strong>und</strong>e haben die Bebel <strong>und</strong> Konsorten die These des sogenannten<br />
Abwehr- <strong>und</strong> Angriffskrieges aufgestellt, obwohl es bisher geschichtlich auch<br />
nicht ein einziges Mal unanfechtbar festzustellen ist, wer eigentlich der ursprünglich<br />
„schuldige Teil" in all den Kriegen der Weltgeschichte war. Dies<br />
gilt für alle — von Attila angefangen bis zu den Feldherren <strong>und</strong> Kriegsführern<br />
<strong>und</strong> Staatenhäuptern unserer Tage.***<br />
So lautet das Problem für jeden ehrlichen Sozialisten <strong>und</strong> Antimilitaristen,<br />
Ihr Herren Bebel, Liebknecht etc., etc., denn wir verteidigen nur<br />
das, was Yvetot vorzüglich folgendermaßen ausdrückte: „ D a s V a t e r l a n d<br />
i s t ü b e r a l l d a z u f i n d e n , w o e s M e n s c h e n g i b t , d i e Streben,<br />
D u l d e n , L e i d e n , A r b e i t e n , H o f f e n <strong>und</strong> s i c h g e g e n d a s Unr<br />
e c h t a u f l e h n e n ! "<br />
Als Vertreterin des Gewallsprinzips staatlicher Zentralisation stellt die<br />
Sozialdemokratie eine durchaus ideologische Auffassung über das Wesen des<br />
Militarismus vor, wie unter anderem auch der sehr beschränkte Satz Liebknechts<br />
„Der Besitz der Waffen ist politische Macht" es beweist. Wäre dem<br />
wirklich so, dann müßten die Soldaten aller Länder ihre Tyrannen längst<br />
aufs Haupt geschlagen haben. Nach Liebknechts Auffassung könnte eine im<br />
Parlament ans Ruder gelangte Partei die Waffen <strong>und</strong> das Heer für sich ausnützen,<br />
was zu behaupten, ein politischer Betrug ist. Denn so lange dieses<br />
Heer überhaupt einem Befehle gehorcht <strong>und</strong> nicht aus sich heraus, durch<br />
seine Geistesaufklärung gegenüber dem Bestehenden passiv wird, wird es<br />
stets denjenigen eher gehorchen, die die wirtschaftliche <strong>und</strong> e x e k u t i v e<br />
Macht im Staate besitzen <strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong> derselben herrschen. Parlamentsmajoritäten<br />
sind aber w e d e r wirtschaftliche n o c h exekutive Macht.<br />
* Im »Handbuch für sozialdemokratische Wähler" (1906) heißt es: „Daß die Völker<br />
(!! P. R.) unter gegenwältigen Verhältnissen nicht wehrlos sein können, erkennt auch die<br />
Sozialdemokratie an". Und weiter: „Daß die deutschen Soldaten ohne Unterschied des Ranges<br />
in einem Kriege ihre volle Schuldigkeit tun, bezweifelt auch kein Sozialdemokrat."<br />
** Verlag Felix Dietrich, Gautzsch bei Leipzig (Kregelstraße 5).<br />
*** Ein geradezu drastisches Beispiel für diese unsinnige Methode, die antimilitaristische<br />
Aktion des Proletariats von der Eventualität des Angriffs oder der Abwehr abhängig<br />
zu machen, bot sich erst wieder in jüngster Zeit. Die englischen Sozialdemokraten H y n dm<br />
a n (strammer Marxist) <strong>und</strong> B l a t c h f o r d erklärten in patriotischen Jingoartikeln, England<br />
müsse sich wappnen <strong>und</strong> für einen Krieg bereit sein, der ihm mit Deutschland drohe, das<br />
bereits seine Kriegsmaßregeln treffe. Demgegenüber erklärte wieder B e b e l , daß Deutschland<br />
wegen seiner .ökonomischen K r i s e * nicht daran denken könne. Man sieht, wie uneinig<br />
die Brüder in St. Marx darin sind, w e r in diesem Falle der angreifende, wer der sich verteidigende<br />
Teil wäre. Eine vorzügliche Gedankenleistung über diese Frage bietet der Roman<br />
von V. E. Teranus „Der letzte Krieg; ein Zukunftsbild", Verlag Continent, Berlin W. 50.<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur W. Horatschek (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien, XIV.<br />
Fortsetzung folgt.
Wien, 15. November 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 22.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />
I./17. — Gelder sind zu senden an<br />
Marie Schindelar, Wien, XII., Herthergasse<br />
12, I./17.<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
.dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist. . ."<br />
Der 11. November im Lichte der Geschichte.<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2-40;<br />
halbjährig K 1-20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3-50, halbjährig Fr. 175, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
„Ich habe Ihre Zeit in Anspruch genommen,<br />
um Ihnen alles, alles zu sagen, nichts verschweigend<br />
<strong>und</strong> verbergend; meinen Gedanken <strong>und</strong> meinem<br />
Herzen Luft machend, die reine Wahrheit. Ich bin<br />
dieses Verbrechens nicht schuldig. Ich hatte mit der<br />
Heumarkt-Tragödie nichts zu tun ich wußte nichts<br />
davon. Ich bin nicht verantwortlich dafür. Ich lege<br />
den Fall in Ew. Ehren Hände."<br />
(Schlußpassus aus Albert Parsons<br />
Verteidigungsrede vor Gericht.)<br />
Der 11. November 1887 ist der Tag des Abschlusses<br />
einer historischen Epoche im sozialen Befreiungskampf<br />
des amerikanischen Proletariats. Nach<br />
ihm beginnt eine ganz neue Periode, die uns im vorliegenden<br />
Zusammenhang aber wenig bekümmert; im<br />
nachfolgenden sind die durchaus objektiv gesammelten<br />
Tatsachen jener Vergangenheit, die den 11. November<br />
schufen <strong>und</strong> ihn uns heilig machen als Sterbetag unvergeßlicher<br />
Vorkämpfer des Volkes.<br />
Wenden wir uns dem Hintergr<strong>und</strong>e jener bewegten<br />
Periode zu. Das Jahr 1886 bildete den Kulminationspunkt<br />
einer schon längst geplanten, teilweise<br />
auch kräftigst realisierten Agitation zugunsten des<br />
Achtst<strong>und</strong>entages; eine Forderung, die in Amerika<br />
heutzutage fast vollständig verwirklicht <strong>und</strong> nicht zuletzt<br />
den nachfolgenden Ereignissen ihre Verwirklichung<br />
zu danken hat. Gleichwie das Proletariat stets heldenmütig, groß im Entsagen<br />
gewesen, wie es anno 1848 monatelang hungerte, wie es die Kommune zum<br />
Falle brachte durch seine naive Sorglosigkeit <strong>und</strong> prüde Ehrlichkeit, wie es stets<br />
für das Große sich opferte, war es auch zufrieden mit einer so einfachen Reform,<br />
mit einem solch unscheinbaren Zugeständnis wie jenes des Achtst<strong>und</strong>entages. Und<br />
nicht einmal dies. Schon im Jahre 1878 war der achtstündige Arbeitstag vom Kongreß<br />
der Vereinigten Staaten in begrenzter Form angenommen worden. Jedoch das Gesetz<br />
blieb ein toter Buchstabe, wie jedes andere Gesetz es ist, welches unter den bestehenden<br />
Lohn- <strong>und</strong> Produktionsverhältnissen zugunsten der Arbeiterklasse erlassen wird,<br />
wenn es die kapitalistische Klasse zu Falle bringen will. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e bildeten<br />
sich in ganz Amerika Ligas <strong>und</strong> Vereine, welche eine Agitation entfalteten, die keinen<br />
anderen Zweck besaß, als dem Achtst<strong>und</strong>entag-Gesetz Anerkennung zu verschaffen.<br />
Doch es ist das großartigste Moment in der modernen Arbeiterbewegung, daß sie.<br />
wie kein anderes organisches Gebilde es so klar <strong>und</strong> deutlich aufweist, vom Flusse der<br />
Entwicklung mitgerissen wird. Unscheinbare Ereignisse; oftmals von der produktiven<br />
Arbeitssphäre weit entfernt, nehmen riesenhafte Dimensionen an <strong>und</strong> reißen die arbeitende<br />
Welt in ihren Wirbel mit. Und einmal in der Mitte, zeigt sich der Titan Arbeit stets<br />
als vollreif. Dann werden alle Kraftelemente in ihm belebt <strong>und</strong> angewendet, überall ist Leben,<br />
eine reiche Ideenassoziation bricht sich Bahn, Ideale hehrster <strong>und</strong> schönster Art ringen<br />
sich mit Rapidität durch. Das arbeitende Volk wird sich seines Könnens bewußt, es<br />
strebt weiter, immer größer werden die Kreise seiner Tätigkeit, immer radikaler sein<br />
Vorgehen.<br />
So auch im Jahre 1886. Zuerst eine einfache, relativ gesprochen unbedeutende Bewegung,<br />
wurden in den Bannkreis der Agitation bald jene intelligentesten, fähigsten <strong>und</strong><br />
radikalsten Elemente der Arbeiterbewegung gezogen, welche allein dazu berufen sind,<br />
einer solchen Massenbewegung vorzustehen. Im Nu fanden sich unsere Märtyrer in eine<br />
Agitation verwickelt, deren Inhalt sie mit neuem Gehalt, mit jenem des Generalstreiks,<br />
erfüllten.<br />
Während sich nun alle wirtschaftlichen Kampfesgruppierungen auf einen Generalstreik<br />
vorbereiteten, welcher am 1. Mai beginnen sollte, um eben den Achtst<strong>und</strong>entag zu<br />
erzwingen, brach in der Ackerbau-Gerätschaftsfabrik von Mc Cormick zu Chicago ein<br />
Streik aus. Gleich der Wut der Elemente, die, einmal entfesselt, unbezähmbar scheint,<br />
steigerte sich die Leidenschaft zwischen den kämpfenden Teilen: Kapital <strong>und</strong> Arbeit!<br />
Das Unternehmertum mit seiner flagranten Übertretung jedweden Rechts- <strong>und</strong> Gerechtigkeitsgefühles<br />
dachte auch hier mit Hilfe der<br />
schon so oft angewandten Gewalts- <strong>und</strong> Bezwingungsmittel<br />
leicht siegen zu können. Doch es sollte sich<br />
diesmal irren. In der Arbeiterschaft hatte eine große<br />
Erbitterung die Oberhand gewonnen <strong>und</strong> zur Zeit,<br />
als durch die obige Firma Streikbrecher herangezogen<br />
wurden, da ereigneten sich Plänkeleien, die sich in<br />
ihrem Umfange fortwährend steigerten. Die sogenannten<br />
Pinkertons (amerikanische Detektives <strong>und</strong> Söldner) <strong>und</strong> andere Schweißh<strong>und</strong>e des Kapitals schossen auf die Ausständigen wie auf<br />
räudige H<strong>und</strong>e, Arbeiterblut floß in Strömen, <strong>und</strong> täglich mehr wuchsen die Empfindungen der Empörung, nach Luft <strong>und</strong> Ausdruck<br />
ringend. Wie ein Funke ins Pulverfaß schlug daher ein Zirkular, das zur Selbstverteidigung gegenüber den gedungenen Pinkertons
aufforderte <strong>und</strong> von S p i e s in den Spalten<br />
der «Chicagoer Arbeiterzeitung» veröffentlicht<br />
wurde. In bezeichnenden Worten, mit<br />
revolutionärer, der amerikanischen, angeblichen<br />
Preßfreiheit angepaßten Logik <strong>und</strong><br />
schneidenden Schärfe, die allen Schriften von<br />
Spies eigen ist, wurde in dem Aufruf die Situation<br />
gekennzeichnet <strong>und</strong> für den darauffolgenden<br />
Tag zum Besuch einer Versammlung<br />
auf dem Heumarkt, unter freiem Himmel,<br />
aufgefordert. Am4. Mai 1886 erfolgte die berühmte<br />
Heumarkt-Versammlung in Chicago,<br />
die so traurige Folgen haben sollte.<br />
Spies befand sich als erster auf dem<br />
Versammlungsplatze; er sandte um Parsons<br />
<strong>und</strong> sprach über die brutale Knüppelei <strong>und</strong><br />
Schießerei der Polizei, wie sie den Arbeitern<br />
gegenüber geübt ward. Ihm folgte Parsons,<br />
der sich in seinen Ausführungen<br />
strikt an die Achtst<strong>und</strong>enfrage hielt. Gerade<br />
als F i e l d e n , der nächste Redner, enden<br />
wollte, stürmten etwa 100 Blauröcke* einher<br />
<strong>und</strong> provozierten sowohl die Redner als<br />
auch die Versammlung dadurch, daß sie,<br />
entgegen der konstitutionell gewährleisteten<br />
Versammlungsfreiheit, die durchaus friedliche<br />
Zusammenkunft einiger h<strong>und</strong>ert Menschen<br />
zur Auflösung bringen wollten. Schon<br />
gab Kapitän Ward trotz des gütlichen Einspruches<br />
Fieldens, daß dies doch eine friedliche<br />
Versammlung sei, das Kommando zum<br />
gewalttätigen Einschreiten <strong>und</strong> Angriff —<br />
da ertönte plötzlich eine furchtbare Detonation,<br />
etwas Entsetzliches hatte sich er-<br />
Albert Parsons.<br />
eignet. Eine Bombe war geworfen worden —<br />
Spies wurde von seinem hinter ihm stehenden<br />
Bruder von der Rednertribüne gezerrt,<br />
gerade als einer der Schergen des Staates<br />
ihn meuchlings erschießen wollte. Vor der<br />
Tribüne <strong>und</strong> auf dem weiten Platze tummelte<br />
sich ein unentwirrbarer Knäuel. Polizisten<br />
schossen blindlings aufeinander los,<br />
schwangen Knüppel, Verw<strong>und</strong>ete stöhnten,<br />
Sterbende ächzten. Ein Polizist ward getötet,<br />
60 andere wurden verw<strong>und</strong>et.<br />
Was geschah nun? Wurde vor allem<br />
der Täter ermittelt? Wurde die Polizei ob<br />
ihres Vorgehens, das selbst der Polizeipräsident<br />
für verfehlt <strong>und</strong> falsch erklärte,<br />
gerügt? Nein, denn die amerikanischen<br />
Ordnungsphilister sahen ihre soziale «Ordnung»<br />
nur durch den Büttel geschützt, den<br />
Büttel, der durch Knüppel <strong>und</strong> Pistole die<br />
Achtung vor dem Gesetze erzwingen muß.<br />
Und darum kümmerte man sich nicht um<br />
die Ermittelung des wirklichen Täters, um<br />
den es sich doch naturgemäß vor allen<br />
Dingen handeln mußte, sondern man verhaftete<br />
wild <strong>und</strong> unbezähmbar darauf los<br />
<strong>und</strong> vor allen diejenigen, die als Wortführer<br />
des kämpfenden Proletariats bekannt waren,<br />
ganz insbesondere die folgenden acht Personen:<br />
S p i e s , P a r s o n s , F i e l d e n — nur<br />
diese drei waren überhaupt in der Heumarktversammlung<br />
gewesen — L i n g g ,<br />
F i s c h e r . E n g e l , N e e b e , S c h w a b , einfach<br />
darum, weil sie vornehmlich als Anarchisten<br />
bekannt waren.<br />
* Amerikanischer Ausdruck für Polizist.<br />
Und nun gelangen wir zu einer entsetzlichen<br />
Szene in der Aktaufführung vorliegender<br />
Tragödie. In diesem Augenblicke<br />
höchster Auflösung aller sozialen Bande<br />
der Menschlichkeit <strong>und</strong> des Zusammengehörigkeitsgefühls<br />
konnte sich der amerikanische<br />
Kapitalismus, dieser Mammonsgott<br />
der Ausbeutung, stolz auf den Thron der<br />
staatlichen Autorität schwingen <strong>und</strong> sich<br />
ganz offenk<strong>und</strong>ig, ohne Scheu, ohne Maskierung<br />
die amerikanische Justiz wie eine<br />
feile Dirne willfährig machen. Es gebricht<br />
uns an Raum, das ganze Begnadigungserkenntnis<br />
<strong>und</strong> dessen nachfolgende Begründung<br />
durch Gouverneur Altgeld vollständig<br />
wiederzugeben, das dieser sechs<br />
Louis Lingg.<br />
Georg Engel.<br />
Adolf Fischer.<br />
Jahre später erließ, <strong>und</strong> wodurch er die auf<br />
Lebenszeit verurteilten Kämpfer Schwab,<br />
Neebe <strong>und</strong> Fielden der Freiheit zurückgab.<br />
Tatsache ist, daß dieses sowohl für den<br />
Richter, wie für die Staatsanwaltschaft <strong>und</strong><br />
die Geschworenen, als auch <strong>und</strong> insbesondere<br />
die Polizei <strong>und</strong> Geheimpolizei einfach<br />
v e r n i c h t e n d ist; nicht nur für den<br />
juristischen Verstand, der schon 1886 <strong>und</strong><br />
1887 in zahlreichen, oftmals mutvollen Erklärungen<br />
von Advokaten, Richtern, ja auch<br />
Staatsanwälten <strong>und</strong> Geschäftsleuten sehr<br />
warnend seine Stimme erhob gegenüber<br />
dem Gebahren <strong>und</strong> Vorgehen des Staates,<br />
der sich offenk<strong>und</strong>ig mit den machthabenden<br />
Kapitalistenkreisen dazu verschworen<br />
hatte, die gefangenen Männer der Arbeit<br />
zu hängen, koste es, was es wolle, Recht<br />
oder Unrecht ganz nebensächlich. Altgeld<br />
war der erste, der auch in einer für den<br />
einfachen Durchschnittsmenschen klaren<br />
Sprache den Prozeß, der unseren gemordeten<br />
Vorkämpfern gemacht wurde, so beleuchtete,<br />
daß man deutlich erwiesen findet:<br />
Sämtliche Justizpersönlichkeiten handelten<br />
im unverantwortlich gemeinen, materiellen<br />
Selbstinteresse, als sie die Angeklagten zum<br />
Tode verurteilten. Und dabei ging man ganz<br />
öffentlich zu Werke: entblödete sich doch<br />
die Unternehmervereinigung der Citizens<br />
Alliance nicht, am Tage n a c h dem Urteilsspruch<br />
den Geschworenen ein — Geschenk<br />
im Betrage von 100.000 Dollars zu machen,<br />
dafür, daß sie Mitmenschen in durchaus<br />
justizmörderischer Weise dem Henker überantwortet<br />
hatten!<br />
Und wo blieb der Täter? Trotz allem<br />
Suchen, trotz 18 monatlicher Untersuchung<br />
wurde er nicht entdeckt. Die verschiedenartigsten<br />
Mutmaßungen wurden aufgestellt.<br />
Eines aber wurde selbst von den Behörden<br />
als klar erwiesen angenommen, <strong>und</strong> der<br />
Richter Gary erklärte in einem sieben Jahre<br />
nach dem Prozeß veröffentlichten Artikel<br />
es ganz ungeniert, daß er es gewußt hatte,<br />
d a ß k e i n e r d e r A n g e k l a g t e n d i e<br />
B o m b e g e w o r f e n o d e r i r g e n d etwas<br />
m i t d e r s e l b e n zu tun h a t t e ! Auch<br />
die Anklage wegen Mord mußte fallen gelassen<br />
werden, wurde jedoch umgewandelt<br />
in eine Anklage auf Verschwörung zur Ermordung<br />
von Polizisten.<br />
August Spies.<br />
Diese letztere Anklage des Staates<br />
konnte nun im Laufe des Prozesses gleichfalls<br />
in keiner Weise erwiesen werden. Dies,<br />
trotzdem der amerikanische Staat — alles<br />
laut Beweisen von Altgeld <strong>und</strong> anderen -<br />
nicht zurückschreckte, die Geschworenen<br />
auf ungesetzliche Art zu bestimmen, falsche<br />
Zeugen, Meineide, Drohung, Bestechung,<br />
Beeinflussung der öffentlichen Meinung<br />
aufmarschieren, ja, was noch das ärgste:<br />
die Zeugen der Angeklagten inhaftieren ließ,<br />
wenn sie ihren Willen, zu deren Gunsten<br />
auszusagen, bek<strong>und</strong>eten! Man bedenke:<br />
das Organ der Rechtsanwälte Chicagos<br />
konnte ohne einen einzigen Protest erklären,<br />
daß die «Verurteilung der angeklagten<br />
Anarchisten nur durch Ferkelstecherei herbeigeführt<br />
wurde!»<br />
Wie kontrastierte das Verhalten der<br />
Angeklagten vor Gericht von dem ihrer<br />
Richter! Wutschäumend erklärte Staatsanwalt<br />
Grinell, daß es sich in diesem Prozesse gar<br />
nicht darum handle, die wirklichen Täter<br />
zu eruieren, oder sogar die Angeklagten<br />
der Verschwörung zu überführen; es handle<br />
sich darum, «der Anarchie das Haupt abzuschlagen»;<br />
dazu bediente er sich der vor<br />
dem Richterstuhl jeder männlichen Gesinnung<br />
verwerflichsten Mittel der Bestechung,<br />
die selbst im Gerichtssaal zugestanden<br />
ward, wie im Falle Waller. Im Gegensatz<br />
hierzu sehen wir unsere Kameraden<br />
S p i e s , der beruflich nacheinander Geometer,<br />
Polsterer, Buchhalter, Agent <strong>und</strong> Schriftsteller<br />
war, P a r s o n s , ein Buchdrucker,<br />
F i s c h e r gleichfalls, E n g e 1, ein Anstreicher,
dann Besitzer eines kleinen Zigarren- <strong>und</strong><br />
Spielwarenladens, F i e l d e n , ein Weber,<br />
Taglöhner <strong>und</strong> Fuhrmann, S c h w a b , Buchbinder<strong>und</strong><br />
später Schriftsteller, L i n g g , ein<br />
Tischler, N e e b e , ein Klempner — wir<br />
sehen diese schlichten Arbeitsmänner wie<br />
Heroen vor Gericht stehen. Ewig unvergänglich<br />
bleiben die Reden, die sie gehalten<br />
haben, als das Urteil gegen sie verkündet<br />
wurde, diese Hohelieder der erhabenen<br />
Gedankenwelt der Anarchie <strong>und</strong><br />
die es am besten beweisen, daß in diesen<br />
Helden nicht etwa Verbrecher-, Brandstifter-,<br />
Mördernaturen staken, wie es der Staat darzustellen<br />
beliebte, sondern die Feuerglut<br />
einer unbezwingbaren Überzeugung, die<br />
standhielt vor allen Folterwerkzeugen der<br />
Justiz.<br />
Aber gerade in diesen Umständen erblicken<br />
wir die tieferen Ursachen der Hartherzigkeit,<br />
der Erbarmungslosigkeit der<br />
höchsten amerikanischen Instanzen, die sich<br />
nicht dazu herbeiließen, das Todesurteil umzuändern,<br />
von dessen Unrechtmäßigkeit der<br />
damalige Gouverneur Oglesby schon damals<br />
überzeugt war, wie aus einigen seiner<br />
Äußerungen hervorgeht, die den Verurteilten<br />
entgegenkamen, w e n n sie sich vor<br />
ihm demütigen würden. Er wußte, daß dies<br />
nie in dem Sinne, wie er es gewollt, geschehen<br />
würde; sämtliche höhere Instanzen<br />
erblickten in diesen herrlichen Geistern das<br />
Haupt der revolutionären Bewegung, die,<br />
wie sie in lächerlicher Unwissenheit annahmen,<br />
mit diesen Männern stand <strong>und</strong> fiel.<br />
Hätten diese Männer die Bombe geworfen,<br />
sie würden sie nicht gefürchtet haben, denn<br />
was ist ein Attentäter gegenüber der riesigen<br />
Übermacht des Staates? Aber diese<br />
Männer waren gefährlicher, als es ein sogenannter<br />
Verbrecher ist, diese Männer<br />
durchschauten die Lüge der amerikanischen<br />
Freiheit — es war ihr Heldengeist, ihr Freiheitssinn,<br />
ihr herrlicher Charakter, den die<br />
Herrschenden der plutokratischen Republik<br />
fürchteten; <strong>und</strong> dieser Feigheit mußten fünf<br />
Menschenleben zum Opfer fallen.<br />
*<br />
Das Todesurteil gelangte zur Vollstreckung.<br />
Tief ergreifend <strong>und</strong> jedes menschliche<br />
Fühlen gewaltig aufwühlend, sind die letzten<br />
Tage der verurteilten Kameraden, der<br />
fünf zum Tode Verurteilten gewesen. Sie<br />
gingen nicht vorüber, ohne daß sich ein<br />
Prolog der zu gewärtigenden Tragödie abspielte.<br />
Am Morgen des 10. November zerschmetterte<br />
Lingg sich den Kopf mit einer<br />
Patrone, die er in den M<strong>und</strong> nahm <strong>und</strong><br />
an einer Kerze anzündete. Wie war diese<br />
Patrone in seine Zelle gelangt? Die Geschichte<br />
schweigt darüber; wir haben unsere<br />
Überlieferungen, Mutmaßungen, aber nichts<br />
Bestimmtes darüber. Auf diese Art entriß<br />
sich Lingg kurz vor der Hinrichtung dem<br />
schimpflichen Tod durch den Strang, den<br />
der Staat ihm zugedacht hatte. Und während<br />
der Unglückliche in furchtbaren Qualen sich<br />
wand, erklärte der Henker Matson kaltblütig<br />
den Ärzten: «Ihr könnt davon überzeugt<br />
sein, daß der Mann hängen wird, falls er<br />
morgen lebt <strong>und</strong> der Gouverneur keinen<br />
Aufschub bewilligt.» — — —<br />
Trübe <strong>und</strong> nebelig-dunkel brach der<br />
Morgen des 11. November an.<br />
Sämtliche zum Tode Verurteilten wiesen<br />
den «religiösen Trost» des Geistlichen zurück.<br />
Dieser bemerkte zu Spies am Tage<br />
vorher: «Ich werde die ganze Nacht für<br />
Was zieht heran von West gen Ost gewendet?<br />
Und wer sind dies', marschierend ernst <strong>und</strong> schwer?<br />
Die Botschaft, von den Reichen Euch gesendet<br />
Auf Euren Mahnruf, bringen wir daher.<br />
Uns alle müßt ihr töten, e i n e n nicht,<br />
Wollt ihr verdunklen unsrer Sonne Licht.<br />
Sie beten», worauf Spies antwortete: «Beten<br />
Sie für andere, die es nötiger haben».<br />
Und plötzlich durchbrausten die Gänge<br />
des Gefängnisses die Töne eines Heineschen<br />
Liedes, gesungen von Engel:<br />
„Im düstern Auge keine Träne,<br />
Sie sitzen am Webstuhl <strong>und</strong> fletschen die Zähne:<br />
„Deutschland, wir weben dein Leichentuch,<br />
Wir weben hinein den dreifachen Fluch —<br />
Wir weben, wir weben!"<br />
Alle Todesgefährten von Engel standen<br />
an den vergitterten Gefängnistüren <strong>und</strong><br />
lauschten. Engel selbst saß wie verzückt,<br />
seiner Umgebung entrückt, da, während er<br />
die ergreifenden Strophen sang. Und auf<br />
einmal stimmte auch Parsons sein Lieblingslied<br />
an, das schottische Volkslied von<br />
«Schön Annie Laurie».<br />
„Schön sind Maxweltons Wälder, wenn der Tau<br />
liegt auf der Flur,<br />
Dort war's, wo Annie Laune mir gab den Treueschwur,<br />
Beim stillen Abendrot<br />
Ihr Lebewohl mir bot<br />
Und für schön Annie Laune ging ich willig in den<br />
Tod . . ."<br />
S e i n e Annie Laurie war der Gedanke<br />
menschlicher Befreiung, höchster Harmonie<br />
<strong>und</strong> idealen Glückes — für ihn ging er in<br />
den Tod.<br />
Die Todesst<strong>und</strong>e rückt heran, es ist<br />
1 1 ½ Uhr vormittags am 11. November.<br />
Mit bleichem Angesicht kommt der<br />
Henker Matson samt Gehilfen zu den Zellen.<br />
Die Gefangenen erheben sich. Sie wissen,<br />
daß es nun zu Ende geht. Sie drücken einander<br />
die Hände, umarmen sich in brüderlicher,<br />
unvergänglicher Solidarität <strong>und</strong> folgen<br />
dem sie Führenden mit gelassenen Schritten.<br />
Auf dem Richtplatz angelangt, umgeben<br />
von all den Neugierigen, wechseln sie noch<br />
einmal ein paar brüderliche Worte. Dann<br />
trat der Schließer Folz auf die vier unschuldig<br />
zum Tode Verurteilten zu, legte<br />
ihnen die Schlingen um den Hals <strong>und</strong> zog<br />
ihnen die Kappe über das Gesicht.<br />
Dumpfe Stille erfüllte den Raum. Plötzlich<br />
erscholl Spies helle Stimme:<br />
« D i e Z e i t w i r d k o m m e n , d a uns<br />
e r S c h w e i g e n m ä c h t i g e r s e i n w i r d<br />
a l s u n s e r e R e d e n ! »<br />
Als das Echo verklungen war, rief Engel:<br />
« H o c h d i e A n a r c h i e ! »<br />
Dann folgte Fischer:<br />
« D i e s ist d e r g l ü c k l i c h s t e Aug<br />
e n b l i c k m e i n e s L e b e n s ! »<br />
Langsam <strong>und</strong> deutlich kam es aus Parsons<br />
M<strong>und</strong>e:<br />
« W i r d m i r g e s t a t t e t s e i n , z u<br />
r e d e n ? O , I h r F r a u e n u n d M ä n n e r<br />
d e s t e u r e n A m e r i k a — »<br />
Der Scharfrichter drehte sich um, als<br />
ob er ein Zeichen geben wollte; Parsons<br />
muß dies bemerkt haben, denn er rief:<br />
« L a s s e n S i e m i c h r e d e n , S h e r i f f<br />
M a t s o n . L a s s e n S i e d i e S t i m m e d e s<br />
V o l k e s g e h ö r t w e r d e n . — »<br />
In diesem Augenblicke fiel die Klappe<br />
vier Körper hingen in minutenlanger<br />
Qual in der Luft; Unschuldige waren gemordet,<br />
man hatte die Menschheit ihres<br />
stolzesten Geblütes beraubt. — —<br />
*<br />
H<strong>und</strong>erttausende folgten einige Tage<br />
später den Särgen der Geopferten. Die<br />
Liebe des Volkes bettete sie warm <strong>und</strong> gut<br />
— o daß sie doch früher gesprochen <strong>und</strong><br />
sie gerettet hätte!<br />
Aber die Zeit kam, <strong>und</strong> es dauerte<br />
kaum sechs Jahre, da ward ihr Schweigen<br />
im Grabe mächtiger, als ihre Reden es je<br />
hätten sein können. Wie ein ewiges Ge-<br />
Ein Totenlied.<br />
Aus dem Englischen übersetzt von L i l l y N a d l e r - N u e l l e n s .<br />
richt donnerte es den Repräsentanten der<br />
herrschenden Macht entgegen, was Gouverneur<br />
Altgeld ihnen bot:<br />
«Erstens: Die Geschworenen, welche<br />
den Fall beurteilen sollten, waren nicht<br />
rechtmäßig, sondern so ernannt worden,<br />
um unter allen Umständen zu verurteilen.<br />
«Zweitens: Laut dem Gesetze des<br />
höchsten Gerichtshofes, wie es war <strong>und</strong><br />
abermals seit dem Prozeß der Chicagoer<br />
Anarchisten festgelegt ward, waren die<br />
Geschworenen, laut ihren eigenen Aussagen,<br />
nicht kompetente Geschworene<br />
<strong>und</strong> d e r P r o z e ß w a r a u s d i e s e m<br />
G r u n d e k e i n l e g a l e r P r o z e ß .<br />
«Drittens: daß die Angeklagten der<br />
Schuld an dem in der Anklage ihnen zur<br />
Last gelegten Verbrechen n i c h t ü b e r -<br />
führt wurden.<br />
«Viertens: Daß, was den Angeklagten<br />
Neebe anbetrifft, der Staatsanwalt selbst<br />
beim Schluß des Beweisverfahrens erklärte,<br />
daß er keinen Prozeß wider ihn<br />
habe, er aber dennoch alle diese Jahre<br />
im Gefängnis gehalten wurde.<br />
«Fünftens: Daß der Vorsitzende<br />
Richter des Prozesses entweder so voreingenommen<br />
gegen die Angeklagten,<br />
oder so fest entschlossen war, den Applaus<br />
einer gewissen Klasse des Gemeinwesens<br />
zu ernten, daß er ihnen einen<br />
gerechten Prozeß nicht gewähren konnte<br />
noch gewährte . . .<br />
«Sämtliche der Anklagen tragen einen<br />
persönlichen Charakterzug, was durch<br />
den Rekord des Verfahrens <strong>und</strong> die Akten<br />
vor mir erwiesen ist, die dahingehend<br />
lauten, daß der Prozeß kein gerechter<br />
war; doch ich will diese eine Seite des<br />
Falles nun nicht weiter besprechen, denn<br />
es ist durch den Justiztod der Angeklagten<br />
unnötig geworden. Ich bin jedoch<br />
überzeugt davon, daß es aus obigen dargebotenen<br />
Gründen meine Pflicht ist,<br />
im vorliegenden Fall zu handeln, <strong>und</strong><br />
ich entbiete aus diesem Gr<strong>und</strong>e Samuel<br />
Fielden, Oskar Neebe u. Michael Schwab<br />
eine absolute Amnestie an diesem 26.<br />
Juni 18Q3.<br />
John P. Altgeld<br />
Staatsgouverneur von Illinois.<br />
*<br />
Diese Auszüge aus dem ^Erkenntnis<br />
des höchsten Staatsbeamten, eines Mannes,<br />
dessen Gerechtigkeitsgefühl <strong>und</strong> Charaktergröße<br />
es ihm verboten, sich auch als Werkzeug<br />
des Klassenhasses der Machthaber gebrauchen<br />
zu lassen, sühnte auf diese Weise,<br />
was noch gesühnt werden konnte.<br />
Damit schließt die Tragödie des 11.<br />
November 1887.<br />
Diejenigen Märtyrer' aber, die ihre<br />
Hauptakteure bilden <strong>und</strong> in grauser Wirklichkeit<br />
auf der Schlachtbank einer feilen,<br />
«republikanischen Justiz» dahingemordet<br />
wurden — sie sind nicht tot, sie sind unsterblich,<br />
denn der Geist der Anarchie, der<br />
nichts zu tun hat mit Blut <strong>und</strong> Mord <strong>und</strong><br />
blutrünstigem Gemetzel, lebt in dem Leben<br />
<strong>und</strong> Sterben der gemordeten Chicagoer<br />
Anarchisten unvergänglich fort <strong>und</strong> bereitet<br />
vor den großen Zeitpunkt der Neuverjüngung<br />
für alle Menschen der großen,<br />
sieghaften Gerechtigkeit des Seins, die im<br />
Wohlstand für alle besteht.<br />
Dieser Zeitpunkt ist ein heiliger. Der<br />
11. November <strong>und</strong> die fünf Toten haben<br />
ihn geweiht, denn sie haben ihr Herzblut<br />
für die Erlösung der Menschheit aus den<br />
Banden der nachtschwarzen Not, Ausbeutung<br />
<strong>und</strong> des Jammers freudig dahingegeben!<br />
Wir forderten nur Arbeit, um zu leben,<br />
Wir sollten warten, war ihr hartes Wort;<br />
Wir wollten sprechen, unser Elend künden,<br />
Und bringen stumm zurück den Toten dort,<br />
Uns alle müßt ihr töten, e i n e n nicht,<br />
Wollt ihr verdunklen unsrer Sonne Licht.
Sie wollen uns nicht hören <strong>und</strong> nicht lernen<br />
In ihren reichen Hallen taub dafür.<br />
Und blind wie draußen sich der Himmel dunkelt.<br />
Doch sieh! Der Tote pocht an ihrer Tür.<br />
Und alle müßt ihr töten, e i n e n nicht,<br />
Wollt Ihr verdunklen unsrer Sonne Licht.<br />
Hier liegt das Zeichen, daß wir uns befreien;<br />
Inmitten von dem Sturm hat er jetzt Ruh';<br />
Und in dem Dämmerlicht der frühen Sonne<br />
Winkt uns der Tag des Sieges, der Feiheit zu.<br />
Uns alle müßt ihr töten, e i n e n nicht,<br />
Wollt ihr verdunklen unsrer Sonne Licht. William Morris.*<br />
• Obiges Gedicht wurde bei A. Linnells Begräbnis gesungen, der am 13. November 1887 in Trafalgar Square (London), aus Anlaß der Demonstration der<br />
Arbeitslosen, von der Polizei getötet wurde. Als Nachruf sprach W. Morris, der hochherzige Vorkämpfer des herrschaftslosen Sozialismus in England, am Grabe<br />
folgende einfach schönen W o r t e :<br />
„<strong>Unser</strong> Fre<strong>und</strong>, der hier liegt, hat ein hartes Leben gehabt <strong>und</strong> einen harten Tod gef<strong>und</strong>en; <strong>und</strong> wäre die Gesellschaft anders beschaffen<br />
gewesen, hätte sein Leben ein genußreiches, schönes <strong>und</strong> glückliches sein können.<br />
Es ist unsere Aufgabe, uns zu organisieren, damit solche Dinge nicht geschehen, <strong>und</strong> darnach zu streben, diese Erde zu einer schönen <strong>und</strong><br />
glücklichen Stätte zu machen."<br />
Düstere Herbstnebel breiten sich über<br />
die Erde. Es ist, als wollten sie etwas verbergen,<br />
was sich nicht verbergen läßt, denn<br />
langsam <strong>und</strong> unheimlich taucht e i n Datum<br />
aus dem dichten Grau hervor, das uns alle<br />
wie vor etwas Höherem erbeben läßt: es<br />
ist der 11. November, der vor jedem Denkenden<br />
<strong>und</strong> Wissenden aufsteigt, der symbolische<br />
Tag für die Martyriologie des<br />
Freiheitskampfes, aber auch für das grauenhafte<br />
Unrecht <strong>und</strong> Justizverbrechen, das<br />
Amerika in den Jahren 1 8 8 6 - 1 8 8 7 an fünf seiner<br />
Edelsten <strong>und</strong> Besten verübte, das nicht<br />
ruhen läßt, sondern alljährlich, wie ein Blitz<br />
alles Dunkle erhellend, wie ein Donnerschlag<br />
an unser Gewissen greifend, wiederkehrt<br />
ein ewiges, ruheloses Gespenst<br />
der bürgerlichen <strong>und</strong> staatlichen Gesellschaft!<br />
Wann werden die Herbstnebel einmal<br />
in Wahrheit den 11. November bedecken?<br />
Ihn begraben, so daß er ausgelöscht sei aus<br />
dem G e w i s s e n der Menschen <strong>und</strong> ihrer<br />
historischen Erinnerung? Man glaube nicht,<br />
daß uns Anarchisten dieser Tag freut <strong>und</strong><br />
besonderes Glücksgefühl verursacht. Nein;<br />
haben wir auch die Pflicht, unserer Bewegung<br />
gegenüber Genüge zu leisten <strong>und</strong><br />
immer wieder die gerade in diesem Falle<br />
so erhabene U n s c h u l d der Gemordeten<br />
zu betonen, so sind wir die letzten, es zu<br />
vergessen, daß es Brüder waren, die uns<br />
entrissen wurden in jenen schaurigen Novembertagen,<br />
als es nicht hieß, der strafenden<br />
Gerechtigkeit bürgerlicher Justiz Sühne zu<br />
verschaffen, sondern wo man sich einfach<br />
rächen wollte an allen Männern mit unangenehmen«!<br />
Überzeugungen <strong>und</strong> Gesinnungen,<br />
<strong>und</strong> wo man diesem Berserkerwunsche<br />
auch fröhnte. Wie hoch wir auch die ragende<br />
Kühnheit, den hohen Edelmut <strong>und</strong><br />
die freudige Opferhingabe des eigenen<br />
Lebens zur höheren Ehre unserer Idee einschätzen,<br />
wie sie sich k<strong>und</strong>taten im Sterben<br />
der fünf Männer, die als Pioniere der Humanität<br />
<strong>und</strong> der Freiheit gleich verkörperten<br />
Wiedergeburten eines Giordano Bruno starben<br />
— wie hoch wir auch all dies anschlagen,<br />
wir vergessen auch nicht für einen<br />
einzigen Augenblick, daß es eigene W<strong>und</strong>en<br />
sind, die alljährlich wieder aufbrechen <strong>und</strong><br />
nicht vernarben dürfen, daß es somit ein<br />
dauernder Schmerz <strong>und</strong> unaufhörliche Trauer<br />
sind, die wir erleiden für den Heldentod<br />
unserer Besten, verursacht durch Unmenschlichkeit<br />
<strong>und</strong> bewußte Ungerechtigkeit.<br />
Und doch können wir nicht anders.<br />
Schmerz <strong>und</strong> Liebe vereinigen sich alljährlich<br />
<strong>und</strong> feiern eine Auferstehung im erhebenden<br />
Erinnern an all die erhabene<br />
Menschengröße, an all den Edelsinn ihres<br />
Bewußtseins, von dem diese Männer erfüllt<br />
waren, die am 11. November 1887 an der<br />
Wiege der modernen internationalen anarchistischen<br />
Bewegung in ihrem ökonomischen<br />
Kampfesgebilde, in ihrer praktischen Anwendung<br />
des Generalstreiks standen <strong>und</strong><br />
starben n u r w e i l s i e A n a r c h i s t e n<br />
w a r e n , nicht für irgend ein Verbrechen,<br />
das sie begangen hätten. Denn heute, wo<br />
sowohl General M. M. Trumball, wie Staatsgouverneur<br />
John P. Altgeld, in geradezu<br />
genialen juristischen, wie auch populären<br />
Darstellungen des Tatbestandes längst bewiesen<br />
haben, daß A u g u s t S p i e s , , A l -<br />
In Memoriam — den Toten zu Waldheim.<br />
b e r t P a r s o n s , G e o r g E n g e l , A d o l f<br />
F i s c h e r u n d L o u i s L i n g g n i e m a l s<br />
eine Bombe geworfen, niemals dazu angeeifert<br />
hatten, sondern nur dafür den Tod<br />
erleiden mußten, daß sie die wirtschaftlichgewerkschaftliche<br />
Aktion der arbeitenden<br />
Massen durch rein geistige Aufklärung befruchteten,<br />
heute geht es doch nimmermehr<br />
an, behaupten zu wollen, daß unsere fünf<br />
Kameraden für irgend ein begangenes Verbrechen<br />
im juridischen Sinne mit ihrem<br />
Leben Sühne getan haben. Wäre dies der<br />
Fall, so hätten wir keine besondere Veranlassung,<br />
ihrer zu gedenken, sie zu feiern;<br />
denn wenn es je nachgewiesen worden<br />
wäre, daß die fünf Gehängten ein Verbrechen<br />
begangen <strong>und</strong> d a f ü r gehängt<br />
wurden, so wären sie einfach Männer gewesen,<br />
die die Konsequenz ihrer Aktion<br />
gegen die bürgerliche Gesellschaft zu tragen<br />
gehabt <strong>und</strong> die in ihrer Tat oder ihren<br />
Taten schon ihre geistige sowie psychische<br />
Befriedigung gef<strong>und</strong>en hätten. Solchen<br />
Männern gebührt weder Lob noch Tadel;<br />
kein Lob, weil ein jeder von uns nur d a s<br />
tut, was s e i n e m Glücksgefühl, seiner Erkenntnis<br />
zur größten Genugtuung gereicht,<br />
<strong>und</strong> was ein anderer aus eben diesem<br />
Gr<strong>und</strong>e nicht tun würde; kein Tadel, weil<br />
kein Mensch im Stande ist, alle die Motive,<br />
die oft in vererbter Vergangenheit schlummernden,<br />
geheimen Beweggründe seines<br />
Nebenmenschen, wie alle die ihn umgebenden<br />
<strong>und</strong> seine Handlung beeinflussenden Umgebungsverhältnisse<br />
zu kennen, kein Recht<br />
dazu hat, sie zu richten, eben weil er die<br />
Frucht anderer Verhältnisse als jener.<br />
Die Männer, deren wir am 11. November<br />
gedenken, sind U n s c h u l d i g e<br />
gewesen! Das ist die große Bedeutung<br />
ihres Todes, dem gegenüber alle Dreifusfälle<br />
der Welt lächerlich verblassen. Und<br />
indem sie im Bewußtsein ihrer Unschuld<br />
sich nicht dazu herbeiließen, diejenigen<br />
Hilfsmittel des Staates in Anwendung zu<br />
bringen, die er ihnen anbot, um sie dekorativ<br />
zu retten, d. h. zu begnadigen, viel<br />
lieber in den Tod gingen, unerschütterlich<br />
in ihrer Überzeugung, unbeugsam in ihrer<br />
Gesinnung, dies ist das große Moment in<br />
der Geschichte der Anarchie, das ihre Namen<br />
trägt, <strong>und</strong> lauter als alle ihre möglichen<br />
Taten hätten können sein, spricht dieser<br />
unerschütterliche Mut, diese eherne Entschlossenheit<br />
— zu s t e r b e n für i h r e<br />
I d e e , da ihnen die Metze demokratischrepublikanischer<br />
Justizkäuflichkeit nicht dies<br />
bieten wollte, was sie verlangten: die Erklärung,<br />
daß sie unschuldig waren!<br />
In diesem Wunsche: entweder als Unschuldige<br />
freigelassen, oder als fälschlich<br />
Angeschuldigte durch einen Justizmord in<br />
den Tod zu gehen - darin lag stets nur<br />
ein Gedanke: die Erhabenheit der anarchistischen<br />
Weltanschauung vor versammeltem<br />
Volke zu bek<strong>und</strong>en!<br />
Es ist vornehmlich dies, was es uns<br />
gestattet, des 11. November 1887 auch in<br />
unseren Tagen nach wie vor zu gedenken.<br />
Angesichts der russischen Revolution <strong>und</strong><br />
ihrer Hekatomben an Opfern verschwinden<br />
die sonstigen Revolutionsdaten <strong>und</strong> historischen<br />
Merksteine der Vergangenheit bis<br />
zu einem gewissen Grade, denn was immer<br />
ihre Wesenheit, die russische Revolution<br />
birgt sie zum größten Teil alle; <strong>und</strong> auch<br />
im Angesichte derer, die zu Tausenden<br />
füsiliert wurden, für die Sache der Revolution<br />
kämpfend in den Tod gingen, da<br />
könnte es vielleicht kleinlich erscheinen,<br />
wenn wir just um ein<strong>und</strong>zwanzig Jahre zurückgreifen<br />
<strong>und</strong> wieder des blutigen, aber nur<br />
eintägigen 11. Novembers gedenken. Doch<br />
dies ist nur Schein! In Wirklichkeit sind<br />
die Novembertoten bis heute die Einzigen<br />
geblieben, die als Unschuldige für den<br />
Ideengehalt einer ganzen Bewegung mit<br />
ihrem Leben büßen mußten, die mit ihrem<br />
Herzblut Zeugnis ablegten für ihr Bekennertum<br />
zur anarchistischen Weltanschauung<br />
<strong>und</strong> n u r für d i e s e s !<br />
Sie sind tot, sind dahin, soweit sie<br />
körperlich waren; längst ist alles Sterbliche<br />
an ihnen zu Staub <strong>und</strong> Asche geworden,<br />
dort draußen im Heldengrab der Fünf, auf<br />
dem Friedhof zu Waldheim. Aber rascher<br />
als sie <strong>und</strong> wohl auch die Überlebenden<br />
es dachten, hat sich ihr Sehnsuchtswunsch<br />
für den sie ihr Leben opferten, erfüllt:<br />
P h ö n i x g l e i c h sind s i e a u f e r s t a n d e n ,<br />
haben durch den M<strong>und</strong> eines großen, aufrechten<br />
Geistes — eben Gouverneur Altgeld<br />
— ihre Rechtfertigung empfangen.<br />
Doch an dieser persönlichen Rechtfertigung<br />
war ihnen ja nie etwas gelegen; <strong>und</strong> so<br />
erfüllte sich das, was sie gewollt <strong>und</strong> erstrebt:<br />
es war die Rechtfertigung der ganzen<br />
Bewegung, unserer Weltanschauung des<br />
Anarchismus, die da erteilt ward, eine Rechtfertigung<br />
derjenigen Idealgruppierung, die<br />
wohl die einzige ist, die der dahin vegetierenden<br />
Menschheit wie auch den Machthabern<br />
der Gegenwart zeigen konnte: So<br />
s t e r b e n A n a r c h i s t e n für i h r e I d e a l e ,<br />
w e n n e s s e i n m u ß !<br />
Es wird einst eine Zeit kommen, in<br />
der die 11. Novembertage dahin rauschen<br />
werden, ohne daß man ihrer historischen<br />
Träger noch in demselben Sinne gedenken<br />
wird, wie es heute geschieht. Das wird<br />
dann sein, wenn unsere herbstliche Gegenwart<br />
dem Frühling unseres Zukunftssieges<br />
gewichen ist <strong>und</strong> die Errungenschaften des<br />
befreiten Volkes all das Wüste, Entsetzliche<br />
unserer Zeit <strong>und</strong> ihrer Einrichtungen <strong>und</strong><br />
Gewaltstützen unterderen eigenen Trümmern<br />
begraben haben. Auf dem Altar der gemeinsamen<br />
Befreiung aller Menschen von den<br />
Banden der kapitalistischen Hetzjagd, den<br />
Fesseln der staatlichen Gewalt wird in jenen<br />
rosigen Zeitläufen der Versöhnung des<br />
11. November nicht mehr so gedacht werden,<br />
wie heute. Und dieses Vergessen<br />
durch das Aufblühen ihres Ideenlebens in<br />
prächtiger, allbeglückender Wirklichkeit, das<br />
war es, wofür unsere Brüder freudig in<br />
den Tod schritten, <strong>und</strong> wofür sie fielen in<br />
der Arena des sozialen Ringens um Lebensrecht<br />
<strong>und</strong> Gerechtigkeit — um Kommunismus<br />
<strong>und</strong> Anarchie!<br />
Heute aber ist es wieder 11. November<br />
- ein Novembertag der Gegenwart! Nicht<br />
ziemt es sich, müßige Tränen um die gefallenen<br />
Helden zu vergießen, noch ist es<br />
nicht Zeit, über ihre toten Leiber hinweg<br />
die immer noch gähnende Kluft der sozialen<br />
Gegensätze überbrücken zu wollen.<br />
Uns ist der 11. November leider noch nicht
ein Tag wie alle übrigen, wie er unseren<br />
Zukunftsgeschlechtern ganz gewiß <strong>und</strong><br />
hoffentlich bald werden wird. Wir stehen<br />
im Gewühl des Kampfes — <strong>und</strong> dorten,<br />
wo die Rebellenleichen <strong>und</strong> Martyrerkörper<br />
der Fünf für uns Bresche geschlagen haben,<br />
dort müssen wir stehen, ihnen wenigstens<br />
im Leben nachwirken <strong>und</strong> jenen Jubelsang<br />
des menschlichen Idealismus, unsere anarchistische<br />
Weltanschauung bek<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
verkünden. Ein solches Charfreitaggeläute<br />
ist uns heute der 11. November, ein solcher<br />
Weckruf wird er uns immer sein, bis zur<br />
völligen Befreiung aller arbeitenden Men-<br />
sehen. Und die Namen der fünf Toten, der<br />
großen Dulder <strong>und</strong> Vorkämpfer, wenn wir<br />
sie uns vorflüstern am 11. November, dann<br />
ist es uns, als gewönnen wir neue Entschlossenheit,<br />
neue Siegkraft <strong>und</strong> neuen<br />
Jugendmut; eine Sache, ein Ideal, das solche<br />
Vorkämpfer hat, das ist des Sieges gewiß.<br />
Im Trauern um die Entrissenen, um<br />
alle die Kameraden, die uns der Kampfesfortschritt<br />
der sozialen Revolution gekostet,<br />
fühlen wir dennoch, besonders in den Novembertagen,<br />
klopfenden Herzens die Wahrheit<br />
der Worte eines Dichters, Ludwig Pfau's,<br />
wenn er uns spricht:<br />
Wenn weder Mond noch Stern am Himmel scheint,<br />
Schleicht die verbannte Freiheit durch die Lande<br />
Und setzt, verhüllten Haupts, im Leidgewande,<br />
Auf ihrer Kampfer Hügel sich <strong>und</strong> weint.<br />
„Ihr Helden in der Kühle eingeschreint,<br />
Daß euer Schlummer leicht sei unter'm Sande,<br />
Bis ich euch wecke mit dem Feuerbrande<br />
Des Kampfs, der euch den Lebenden vereint.<br />
Zu Bannerträgern hab ich euch erkoren,<br />
Bald grünen eure Kränze neubelaubt:<br />
Wer für die Freiheit starb, ging nicht verloren.<br />
Geschenkt seid ihr dem Volke, nicht geraubt:<br />
Ihr zieht im Kampf gleich blut'gen Meteoren<br />
Ob deren Häuptern, die euch tot geglaubt!"<br />
Aus den Reden der verurteilten Anarchisten vor Gericht.<br />
Aus Spies Rede:<br />
Ew. Ehren! Indem ich vor diesem<br />
Gerichtshof das Wort ergreife, spreche ich<br />
als der Vertreter e i n e r Klasse zu dem einer<br />
anderen.<br />
Ich beginne mit den Worten, mit denen<br />
vor 500 Jahren Venedigs Doge Marino<br />
Falieri vor seine Henker trat: «Meine Herren,<br />
meine Verteidigung ist eure Anklage!<br />
Die Ursache meines angeblichen Verbrechens:<br />
eure Geschichte!»<br />
Ich wurde des Mordes angeklagt —<br />
als Helfershelfer oder Teilnehmer. Auf diese<br />
Anklage * hin hat man mich verurteilt . . .<br />
Beweise für meine Schuld hat «der Staat»<br />
nicht erbracht. Aus den vorgebrachten<br />
Zeugenaussagen geht nicht hervor, daß ich<br />
irgend etwas mit dem Bombenwurf zu tun<br />
hatte, noch daß ich weiß, wer das Geschoß<br />
warf — es sei denn, daß sie die Aussagen<br />
der Spießgesellen des Staatsanwaltes <strong>und</strong><br />
Bonfield, die Aussagen von Thompson <strong>und</strong><br />
Gilmer nach dem Preis wägen, der dafür<br />
bezahlt wurde. Wenn nun keine Beweise<br />
vorhanden sind, welche dartun, daß ich<br />
gesetzlich verantwortlich bin für jene Tat,<br />
dann ist eine Verurteilung oder die Vollziehung<br />
des Urteils nichts Geringeres als<br />
vorbedachter, boshafter <strong>und</strong> kaltblütiger<br />
Mord . . . Justizmorde sind in vielen Fällen<br />
begangen worden, wo die Vertreter des<br />
Staates in dem guten Glauben handelten,<br />
daß ihre Opfer schuldig seien des Verbrechens,<br />
dessen man sie anklagt. In dem<br />
vorliegenden Fall jedoch können sich die<br />
Vertreter des Staates mit dieser Ausrede<br />
nicht entschuldigen, <strong>und</strong> zwar deshalb nicht,<br />
weil sie selbst jene Zeugenaussagen fabriziert<br />
haben, welche als Vorwand für unsere<br />
Verurteilung benützt wurden — als Vorwand<br />
von einer Jury, die auserlesen wurde,<br />
uns zu verurteilen . . .<br />
Grinell hat uns zu verstehen gegeben,<br />
daß hier der Anarchismus prozessiert werde.<br />
Die Theorie des Anarchismus gehört in<br />
den Bereich der spekulativen Philosophie.<br />
In der Heumarktversammlung wurde keine<br />
Silbe über Anarchismus gesprochen. In<br />
jener Versammlung wurde das sehr populäre<br />
Thema der Verkürzung der Arbeitszeit besprochen.<br />
Aber: — «Der Anarchismus wird<br />
prozessiert!» schäumt Mr. Grinell. Falls das<br />
der Fall ist, euer Ehren, sehr wohl, dann<br />
mögen sie mich verurteilen, denn ich bin<br />
ein Anarchist. Ich glaube mit Buckle, mit<br />
Paine, mit Jefferson, Emerson, Spencer <strong>und</strong><br />
vielen anderen großen Denkern dieses Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />
daß der Staat der Kasten <strong>und</strong><br />
Klassen, daß der Staat, in welchem eine<br />
Klasse die andere beherrscht <strong>und</strong> von deren<br />
Arbeit lebt, <strong>und</strong> wo man dieses Ordnung<br />
nennt — ja, ich glaube, daß diese barbarische<br />
Form sozialer Organisation mit ihrem<br />
durch Gesetze geheiligten System dem Tode<br />
geweiht ist <strong>und</strong> einer freien Gesellschaft,<br />
einer freiwilligen Assoziation Platz machen<br />
muß. Sie mögen mir das Todesurteil verkünden,<br />
aber lassen sie die Welt erfahren,<br />
daß im Jahre des Herrn 1887 im Staate<br />
Illinois Menschen zum Tode verurteilt wurden,<br />
weil sie den Glauben an eine bessere<br />
Zukunft <strong>und</strong> den endlichen Sieg von Freiheit<br />
<strong>und</strong> Gerechtigkeit nicht verloren! . . .<br />
Ich habe nicht die geringste Idee, wer<br />
die Bombe auf dem Heumarkt geworfen<br />
hat <strong>und</strong> hatte keine Kenntnis von einer<br />
Verschwörung zum Zwecke der Gewaltanwendung<br />
in jener oder einer anderen<br />
Nacht.<br />
Dies ist alles, was ich zu sagen habe.<br />
Aus Georg Engel's Rede:<br />
. . . Ich kam zu der Ansicht, daß der<br />
Arbeiter, so lange er ökonomisch unfrei,<br />
auch politisch nicht frei zu sein vermag.<br />
Es wurde mir klar, daß es dem Arbeiter<br />
mittels des Stimmkastens nie gelingen<br />
würde, solche gesellschaftliche Zustände<br />
zu schaffen, die ihm <strong>und</strong> den Seinen, Arbeit,<br />
Brot, ein glückliches Dasein garantieren.<br />
Ehe ich meinen Glauben an den<br />
Stimmkasten verlor, ereignete sich folgender<br />
Vorfall, der mir bewies, daß die Politik hier<br />
zu Lande durch <strong>und</strong> durch korrumpiert ist.<br />
Als in der 14. Ward, in welcher ich wohnte<br />
<strong>und</strong> das Recht zum Stimmen besaß, die<br />
sozialdemokratische Partei so wuchs, daß<br />
sie für die demokratische <strong>und</strong> republikanische<br />
Partei* gefährlich zu werden drohte,<br />
vereinigten sich die beiden letztgenannten<br />
Parteien sofort, um gegen die Sozialdemokratie<br />
Stellung zu nehmen. Dies war auch<br />
ganz natürlich, haben doch beide die gleichen<br />
Interessen. Und als trotzdem die Sozialdemokraten<br />
siegreich waren <strong>und</strong> ihren<br />
Kandidaten erwählten, da wurden sie durch<br />
die korruptesten Mittel seitens der alten<br />
Parteien um die Früchte ihres Sieges betrogen.<br />
Die Stimmenkästen wurden gestohlen<br />
<strong>und</strong> das Votum so «korrigiert», daß es der<br />
Opposition möglich wurde, ihre Kandidaten<br />
als erwählt zu proklamieren. Die Arbeiter<br />
versuchten dann mittels der Gerichte Gerechtigkeit<br />
zu erlangen, aber es war Alles<br />
umsonst. Der Prozeß kam sie auf 1500<br />
Dollars zu stehen, aber ihr gutes Recht<br />
bekommen sie doch nicht. Gar bald fand<br />
ich aus, daß die politische Korruption auch<br />
die Reihen der Sozialdemokraten zu durchfressen<br />
begann, <strong>und</strong> ich verließ die Partei<br />
<strong>und</strong> schloß mich der «Internationalen Arbeiterassoziation»<br />
an, die damals gerade<br />
reorganisiert wurde . . .<br />
Über meine Verurteilung, welche durch<br />
kapitalistischen Einfluß herbeigeführt wurde,<br />
habe ich kein Wort zu sagen.<br />
Aus Albert R. Parsons Rede:<br />
. . . Bei ihren Bemühungen, unsere<br />
Ansichten der Verwünschung durch alle<br />
Welt preiszugeben, haben die 'öffentlichen<br />
Ankläger die Mordanklage völlig aus dem<br />
Auge verloren. <strong>Unser</strong>e Ergebenheit an die<br />
arbeitende Klasse, unser Ruf nach Zivilisation<br />
ist in ihren Augen ein weit größeres<br />
Verbrechen als Mord. Anarchismus, so wie<br />
ihn der Staatsanwalt Grinell schildert, ist<br />
einfach ein Gemisch oon Raub, Brandstiftung<br />
<strong>und</strong> Mord. Jawohl, Euer Ehren,<br />
* Die zwei größten bürgerlich-kapitalistischen<br />
Parteien in Amerika.<br />
das ist die offizielle Behauptung des Herrn<br />
Grinell, <strong>und</strong> gegen diese Definition des<br />
Anarchismus möchte ich gerne einmal den<br />
Lexikographen Herrn Webster zitieren. Was<br />
ist also Anarchismus? Was ist die Natur<br />
dieses schrecklichen Dinges, für das wilden<br />
Tod erleiden sollen, weil wir daran<br />
glauben? In den Schlußst<strong>und</strong>en dieses Prozesses,<br />
ja seit fünf Tagen schon, suchen<br />
die Vertreter einer bevorzugten, herrschenden<br />
Klasse, der verkörperten Despoten, die<br />
Lehre, an die ich glaube, zu fälschen, zu<br />
entstellen, anzuschwärzen. Darum, Euer<br />
Ehren, lassen sie mich einen Augenblick<br />
darüber sprechen. Was ist Anarchismus ?<br />
Was bedeutet er? Was besagen seine Lehren,<br />
für welche ich zum Tod verurteilt bin?<br />
Zunächst <strong>und</strong> zuoberst ist es unsere<br />
Ansicht, ist es die Ansicht eines Anarchisten<br />
überhaupt, daß Herrschaft Despotie, eine<br />
Unterdrückungsmaßregel ist, daß das Gesetz<br />
ihr Mittel ist. Anarchismus bedeutet<br />
AntiStaatlichkeit, Diktatorenfeinde, Herrschaftsfeinde<br />
<strong>und</strong> Leithammelfeinde. A n a r -<br />
c h i s m u s ist e i n e V e r n e i n u n g a l l e r<br />
G e w a l t <strong>und</strong> eine Ausmerzung aller Autorität<br />
in sozialen Angelegenheiten, das Leugnen<br />
des Herrschaftsrechtes eines Menschen<br />
über den andern . . .<br />
Sozialismus ist ein Ausdruck, der das<br />
ganze System menschlichen Fortschrittes<br />
<strong>und</strong> Vorschreitens deckt. Webster definiert<br />
auch den Sozialismus. Ich denke, ich habe<br />
ein Recht, von diesen Sachen zu reden,<br />
weil ich hier auch als Sozialist prozessiert<br />
werde. Ich wurde verurteilt als Sozialist<br />
<strong>und</strong> auch der Sozialismus ist es, von dem<br />
mein Fre<strong>und</strong> Grinell <strong>und</strong> seine Leute so<br />
viel zu erzählen haben. Deswegen halte ich<br />
es für Recht, vor dem ganzen Lande davon<br />
zu reden <strong>und</strong> wenigstens was mich angeht,<br />
mich darüber hören zu lassen. Wenn sie<br />
mich zum Tode führen, soll das Volk<br />
wenigstens wissen, warum. Sozialismus also<br />
wird von Webster definiert als eine gesellschaftliche<br />
Theorie, welche eine harmonischere,<br />
ordnungsmäßigere <strong>und</strong> gerechtere<br />
Gestaltung der menschlichen Verhältnisse<br />
anstrebt, als zuvor. Daher ist alles, was die<br />
Zivilisation in der Tat fördert, sozialistisch.<br />
Es gibt zwei verschiedene Phasen des<br />
Sozialismus heutzutage in der Arbeiterbewegung<br />
der ganzen Welt. Die eine ist<br />
bekannt als Anarchismus, d. h. ohne politische<br />
Regierung oder Autorität; die andere<br />
ist bekannt als Staatssozialismus — die<br />
Sozialdemokratie — oder Paternalismus im<br />
Sinne allseitiger Regierungskontrolle. Der<br />
Staatssozialist sieht das Los der Lohnsklaven<br />
durch die Mittel des Gesetzes, durch legislative<br />
Maßregeln zu verbessern <strong>und</strong> zu erleichtern.<br />
Die Anarchisten suchen dieselben<br />
Zwecke durch Beseitigung aller Autorität,<br />
indem sie es dann dem Volke überlassen,<br />
sich zu vereinigen oder nicht, indem sie<br />
niemand zwingen oder mit Gewalt »führen«,<br />
d. h. leithammeln wollen.<br />
In diesem Bestreben, Euer Ehren, werden<br />
wir von einem hochberühmten Manne<br />
unterstützt, von keinem Geringeren in der<br />
Tat, als Buckle, dem Verfasser der »Geschichte<br />
der Zivilisation«. An einer Stelle
konstatiert er, daß sich dem Fortschritt<br />
menschlicher Zivilisation zwei feindliche<br />
Elemente entgegenstellen. Eines davon ist<br />
die Kirche: die Kirche, welche befiehlt,<br />
w a s ein Mensch g l a u b e n soll. Und das<br />
andere ist der Staat, welcher befiehlt, w a s<br />
man t u n soll. Buckle sagt ferner, daß die<br />
einzigen guten Gesetze, die in den letzten<br />
300—400 Jahren Gesetze wurden, diejenigen<br />
waren, welche andere Gesetze beseitigen.<br />
Genau dieselbe Ansicht haben die Anarchisten.<br />
<strong>Unser</strong>e Ansicht ist die, daß alle<br />
Gesetze aufgehoben werden sollen, da<br />
dieses die einzige, nützliche Legislatur ist,<br />
die Platz hat . . . Doch wohlgemerkt: wir<br />
sind n u r den von Menschen gemachten<br />
Gesetzen, nicht aber den Naturgesetzen<br />
feind . . .<br />
„Was er geschaffen, ist ein Edelstein,<br />
Drin blitzen Strahlen für die Ewigkeit;<br />
Doch hätt' er uns ein Leitstern sollen sein<br />
In dieser hellen, irrgewordnen Zeit,<br />
In dieser Zeit so wetterschwül <strong>und</strong> bang . . .<br />
Er hätte — aber gönnt ihm seine Ruh! . . .<br />
Die Augen fielen . . . zu;<br />
Doch hat er, funkelnd in Begeisterung,<br />
Vom Himmelslichte trunken, sie geschlossen . . .<br />
Und eine Braut nahm ihn der andern ab;<br />
Vor der verhaucht er friedlich sanft sein Leben,<br />
Die F r e i h e i t trug den Jünger in das Grab . . .<br />
(Aus Georg Herwegh's „Zum Andenken<br />
an Georg Büchner.")<br />
Ein Stern ist erloschen, ein Kampfesschwert<br />
entzwei gebrochen — »Quidam«<br />
ist nicht mehr. Er war es, den sie zu Grabe<br />
trugen am 25. Oktober <strong>und</strong> die lange<br />
Schar derer, die seiner Bahre folgte, wußte,<br />
daß nun eine klaffende Lücke gähnte in all<br />
jenen Gemeinschaften idealen Strebens <strong>und</strong><br />
Ringens gegen die Tyrannei, die dem bornierten<br />
<strong>und</strong> engherzigen Egoismus <strong>und</strong><br />
Strebertum unserer Zeit noch nicht verfallen<br />
sind, Darin ist uns Anton Markreiter<br />
ein Unvergeßlicher: er ging durch einen<br />
Sumpf, ohne in ihm zu versinken, <strong>und</strong><br />
Wenigen ist es gegeben, in einem relativ<br />
so hohem Alter, wie er es erreichte, sich<br />
bis zuletzt jene goldige Zuversicht, den<br />
Charaktermut des unbeugsamen, rechtlichen<br />
Kämpfers für Wahrheit <strong>und</strong> Freiheit zu bewahren,<br />
wie es ihm gelang. Diese, trotz<br />
Krankheit <strong>und</strong> materieller Elendsmisere <strong>und</strong><br />
grauer, trüber Sorge ums Alltagsauskommen<br />
immerdar kernige, sonnige Natur war ein<br />
Symbol ewiger Geistesjugend <strong>und</strong> eherner<br />
Geisteskonsequenz.<br />
Anton Markreiter entstammte einer<br />
Bourgeoisfamilie, Er sollte die militärische<br />
Karriere einschlagen, besuchte die Kadettenschule<br />
<strong>und</strong> war also auf dem <strong>Weg</strong>e, um<br />
»Karriere« zu machen. Aber der dumpfe<br />
<strong>und</strong> die Vernunft eines jeden natürlich denkenden<br />
Menschen gefährdende Drill des<br />
Militarismus konnte seinen Geist nicht<br />
lähmen. Leben <strong>und</strong> Schicksal <strong>und</strong> gewollte<br />
Absicht entrissen ihn dem Organismus der<br />
mordenden Gewalt, <strong>und</strong> es begann für ihn<br />
nun die Zeit des Volksmenschen, dessen<br />
Schweiß <strong>und</strong> Arbeit dazu dienen, den<br />
Staatsmenschen, also den Militarismus, der<br />
durchaus unproduktiv ist, zu erhalten, ihm<br />
sein Parasitendasein zu ermöglichen. Und<br />
Markreiter lernte die furchtbarste Strenge<br />
des Daseinskampfes in der kapitalistischen<br />
Gesellschaft kennen; diese Erfahrung ist<br />
ihm sein ganzes Leben lang treu geblieben,<br />
obwohl er es wohl anders hätte haben<br />
können . . . Er versuchte sich als alles,<br />
war Taglöhner, Erdarbeiter, kurz, hatte die<br />
ganze Grausamkeit einer aus den Geleisen<br />
vorgeschriebener Pflichtpfade geschleuderten<br />
Existenz auszukosten, die sich nicht beugen<br />
<strong>und</strong> ducken wollte, stets ihrem inneren Ich<br />
treu blieb. Bis er zuletzt auf den Beruf des<br />
materiell sehr vogelfreien, weil unabhän-<br />
gigen Schriftstellers stieß, den er allerdings,<br />
um überhaupt leben zu können, mit jenem<br />
des Photographien verbinden mußte.<br />
Markreiter war einer der ältesten Pioniere<br />
der österreichischen Arbeiterbewegung;<br />
er war ein Sozialist im besten Sinne des<br />
Wortes. Seinem weitschauenden Geiste genügten<br />
die schablonenhaften Phrasen des<br />
Parteigetriebes nicht, er gestaltete <strong>und</strong> errang<br />
sich s e i n e sozialistische Weltanschauung.<br />
Der Sozialismus muß, um Weltanschauung<br />
in einem wirklich n e u kulturellen<br />
Sinne zu sein, stets im A t h e i s m u s wurzeln.<br />
Es gibt keinen Sozialisten, der nicht Atheist<br />
ist, denn die Aufnahme Feuerbachseher<br />
Oedanken muß, ebenso wie für Marx, die<br />
Gr<strong>und</strong>lage der Geistesphilosophie eines<br />
jeden sein, der den Herrscher <strong>und</strong> dadurch<br />
Ausbeuter auf ökonomischem Gebiete verwirft.<br />
Diese klare Erkenntnis über das<br />
Wesensziel des Sozialismus besaß Anton<br />
Markreiter, dessen geistige Entwicklung<br />
aber damit nicht abschloß. Der Menschengeist,<br />
der das uralte Mysterium des Überirdischen<br />
mit dem Forscherblicke des<br />
suchenden, wissenschaftlich spürenden<br />
Geistes durchdringt <strong>und</strong>, dank seiner endlich<br />
gewonnenen Gewissensüberzeugung,<br />
es laut bekennt: »Es gibt keinen übersinnlichen<br />
Gott!« — der kann nicht Halt<br />
machen vor all den Göttern <strong>und</strong> Götzenbildern<br />
des irdischen Lebens dieser heutigen<br />
Welt. Markreiter war Sozialist, w e i l er<br />
Atheist war; aber dies genügte ihm nicht,<br />
denn er begriff sehr wohl, daß im Allgemeinbegriff<br />
des Sozialismus eigentlich nur<br />
ein vages Gemeinschaftsprinzip in ökonomischen<br />
Lebensdingen gelegen ist. Dies<br />
genügte ihm nicht, wie es keiner Vernunft,<br />
die nicht daran gewöhnt ist, mit seichten<br />
Oberflächlichkeiten sich über ernste Probleme<br />
hinwegzusetzen, jemals genügen kann;<br />
er wußte so gut wie irgend ein Beobachter<br />
des menschlichen Lebens es wissen muß:<br />
a u c h s a t t e S k l a v e n s i n d n i c h t frei!<br />
Und da die Befreiung vom übersinnlichen<br />
Gott die Befreiung der menschlichen Vernunft<br />
vom Joche der theokratischen Kirche<br />
ist, so mußte der Befreiung dieser Vernunft,<br />
logischerweise die Befreiung von allen beengenden<br />
Fesseln <strong>und</strong> Herrschaftsinstitutionen<br />
unter den Menschen selbst, die<br />
doch insgesamt vernunftbegabte Wesen<br />
sind, folgen. Markreiters Geist löste sich<br />
los von jeder Vorstellung über einen Gott;<br />
er löste sich auch los von jeder Vorstellung<br />
über einen Gott auf Erden, über die Berechtigung<br />
der Herrschaft des Menschen<br />
über den Menschen — <strong>und</strong> so w a r d er<br />
A n a r c h i s t , ein Freiheitskämpfer, der da<br />
weiß: die Freiheit ist die Hauptsache im<br />
sozialen Kampfe, denn n u r sie bietet Brot<br />
<strong>und</strong> individuelle Unabhängigkeit, Selbständigkeit<br />
<strong>und</strong> Entfaltungsmöglichkeit: sich<br />
selbst — die Freiheit!<br />
Wer sein Leben als Atheist <strong>und</strong> atheistischer<br />
Kämpfer kennen lernen will, den<br />
verweisen wir auf die Publikationen des<br />
österreichischen Freidenkerb<strong>und</strong>es, dem er<br />
redaktionell Jahzehnte lang vorstand; wir<br />
verweisen ihn auf die soeben erschienene<br />
neueste Nummer des «Freien Gedanken»,*<br />
in der die Leser einen gediegenen Nachruf,<br />
ihm gewidmet, finden. Auch wir kennen<br />
ihn als Kämpfer; Jahrzehnte lang war er<br />
in der sozialdemokratischen Bewegung tätig,<br />
doch als er fand, daß politische Streberei<br />
<strong>und</strong> warmsatte Altersfürsorge für sich<br />
selbst dorten in den führenden Kreisen<br />
eingerissen, das sozialistische Prinzip vollständig<br />
zurückgedrängt hatten, da gehörte<br />
er n i c h t zu jenen, die nun mit dem<br />
Strome schwammen, gegen besseres Wissen<br />
mit den Wölfen heulen, nur um sich zu<br />
versorgen, sondern Markreiter kehrte dieser<br />
Bewegung den Rücken <strong>und</strong> deklarierte<br />
sich offen als Anarchist. Wer einen kleinen<br />
Ausschnitt aus seiner letzten sozialpolitischen<br />
* XIV., Märzstraße 33. Preis 12 Heller pro<br />
Exemplar.<br />
Gedanken weit kennen lernen will, der lese<br />
die «Sozialdemokratischen Oedanken über<br />
die Anarchie» nochmals nach, die in Nr. 11<br />
unseres Blattes von einem «Ketzer» veröffentlicht<br />
wurden; es ist Markreiter, der<br />
sie verfaßte. Im übrigen haben sich eine<br />
Anzahl seiner Fre<strong>und</strong>e schon zusammengetan,<br />
die es als ihre Ehrenpflicht betrachtet,<br />
die zahlreichen Gedankenblitze <strong>und</strong> Perlen<br />
seiner publizistischen Tätigkeit auf atheistisch-sozialem<br />
Gebiete zu sammeln <strong>und</strong><br />
in Kürze in einem Bändchen, das wenigstens<br />
einen kleinen Teil dessen, was groß<br />
an Markreiter war, herausgeben wird; darin<br />
soll das enthalten sein, was unsterblich <strong>und</strong><br />
fortwirkend in ihm war, sein ewiger Rebellentrotz<br />
<strong>und</strong> seine kühnen, alles Menschenschändende<br />
verleugnenden Gedanken,<br />
sein Geist!<br />
Vor einem ist er verschont geblieben,<br />
davor nämlich, daß Männer an seinem<br />
offenen Grabe gesprochen, die ihn im<br />
Herzen nicht liebten, ihn fürchten gelernt<br />
haben, weil sie die Schärfe seines Wahrheitswortes<br />
fühlen mußten. Es wäre auch<br />
wirklich ein Mißklang sondergleichen gewesen,<br />
wenn Männer ihm die letzten Ehren<br />
bezeugt hätten, die in ihrem Leben einen<br />
so krassen Kontrast von dem bilden, was<br />
Markreiter gewesen <strong>und</strong> wie sein Leben<br />
war. <strong>Unser</strong> Anton hat es nie verstanden,<br />
sich durch demagogische Künste die Gunst<br />
der gedankenlosen Masse buhlerisch zu<br />
erschleichen <strong>und</strong> damit s e i n e soziale Frage<br />
zu lösen. Bis zuletzt hatte er nur das, was<br />
seiner Hände oder seines Geistes Fleiß ihm,<br />
schwer genug, eintrugen. Viele seiner besten<br />
Fre<strong>und</strong>e können es bezeugen, daß er, trotz<br />
seines Geistes, seiner Persönlichkeitsanlagen,<br />
stets Proletarier blieb, der zuletzt sogar, um<br />
sich vor dem Ärgsten zu schützen, zu dem<br />
bekannten Mittel aller- Geistesproletarier<br />
greifen <strong>und</strong> seine Bibliothek veräußern<br />
mußte. Es wäre ein allzu schneidender<br />
Hohn auf diesen edlen Lebenswandel gewesen,<br />
wenn diejenigen das Wort mündlich<br />
oder schriftlich ergriffen hätten, die weder<br />
an Wissen noch an Charakter ein Markreiter<br />
sind. Dafür gebührt ihnen gewissermaßen<br />
Anerkennung, daß sie im Innersten<br />
ihres Bewußtseins dies auch sehr wohl<br />
begriffen <strong>und</strong> nur durch achtungsvolles<br />
Schweigen die stolze Rebellenleiche ehrten,<br />
die da hinausgefahren worden zur ewigen<br />
Ruhe; allerdings, in diesem Schweigen liegt<br />
auch unsägliche Scham über ihr eigenes<br />
Selbst.<br />
Anton Markreiter ist tot. Uns, die wir<br />
ihn gekannt, geliebt, manch traute St<strong>und</strong>e<br />
mit ihm verbracht, seinen Kampfgenossen<br />
wird er stets unvergeßlich bleiben. Möge<br />
sein Geist oft unter ihnen weilen, sie aufrichten<br />
<strong>und</strong> beleben <strong>und</strong> zur Ausdauer anspornen.<br />
Das ist die Ehre, die w i r ihm<br />
<strong>und</strong> seinem Andenken weihen!<br />
Briefkasten.<br />
Platzer. Dank für Brief; alles richtig, werden<br />
nach Möglichkeit Ihren berechtigten Wunsch berücksichtigen.<br />
- T o k o d i . Wenn Ihr Reisespesen<br />
vergütet, kann der Gen. R. kommen. — Riedel.<br />
Sie haben recht, unser Irrtum! — Nemek. Holen<br />
Sie sich andere Broschüren, denn für die erste<br />
wurde zu viel gerechnet. — Karl T. Wenn die<br />
„Arbeiter-Zeitung" die Redakteure der „Neuen<br />
Freien Presse", das Blatt der liberalen Börsenjobber,<br />
„gut geölte Phrasenschmierer, oder politische Ignoranten"<br />
nennt, hat sie recht; ebenso recht wie<br />
wir, wenn wir die Redakteure der „Arbeiter-<br />
Zeitung" — gutgeölte demokratische Phrasenschmierer,<br />
aber s o z i a l i s t i s c h e Ignoranten<br />
nennen. — V. Marburg. Ging nicht Sie an, ein<br />
h i e s i g e r „Freidenker" war gemeint Gruß! —<br />
An die Kameraden. Quittung bestimmt in nächster<br />
Nummer.
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Österreich.<br />
Wien. „<strong>Unser</strong>e" Abgeordneten in den Delegationen<br />
haben wieder einen großartigen Erfolg zu<br />
verzeichnen. Für 1909 wurden dem Militärmoloch<br />
396,330.005 Kronen bewilligt. Dies ist „nur" um r<strong>und</strong><br />
20 Millionen m e h r als im Jahre 1907. Die 88 Sozialdemokraten<br />
— 1<br />
/ 5 des Parlaments — sind wirklich<br />
mächtig. Freilich, s i e können die vermehrten<br />
Steuern leichter ertragen als ihre Wähler!<br />
* Gewisse Leute behaupten kühn, das Parlament<br />
habe das sogenannte neue Handlungsgehilfengesetz<br />
„durchgeführt". Leider können wir ihnen<br />
diesen Trost nicht lassen; hätten die Handlungsgehilfen<br />
ihre durch die direkte außerparlamentarische<br />
Aktion durchgesetzten Forderungen sofort in den<br />
G e s c h ä f t e n verwirklicht, sie besäßen heute die<br />
Früchte ihre emsigen Kampfes. Wie die Sache aber<br />
jetzt steht, ist ihr ganzer Kampf sehr in Frage gestellt,<br />
denn das „neue Gesetz" ist dem Herrenhause<br />
unterbreitet worden, das es sofort in einer Kommission<br />
begrub, wo dessen Wirksamkeit bis heute<br />
<strong>und</strong> wer weiß für wie lange noch schläft. — — —<br />
Das ist der „Erfolg" parlamentarischer Aktion im<br />
Volksparlament.<br />
* Konfisziert wurde „natürlich" unsere letzte<br />
Nummer.<br />
* Pünktlich acht Tage nach unserem zweiwöchentlichen<br />
„W. f. A." brachte die „Arbeiterzeitung"<br />
wohl noch k e i n e n B e r i c h t über den<br />
französischen Gewerkschaftskongreß, hütete sich<br />
auch sehr wohl, die von ihm angenommenen Resolutionen<br />
wiederzugeben, schwang sich aber doch dazu<br />
auf, einige „Glossen" über ihn zu bringen. R<strong>und</strong><br />
4 Wochen n a c h dem Kongreß brachte sie es also<br />
endlich wenigstens zu den „Glossen". Wir wollen<br />
es bei dieser Gelegenheit ganz ununtersucht lassen,<br />
inwiefern sie sich dazu durch u n s e r e n Artikel<br />
veranlaßt wurde. Uns genügt es, die Art der Glossierung<br />
zu vermerken, denn dieselbe ist überaus<br />
bezeichnend für die Herren Sozialdemokraten Uberhaupt.<br />
— Sie <strong>und</strong> ihr Berichterstatter — wohl Herr<br />
Steiner, der in der „Voix du Peuple" es in Abrede<br />
stellte, ein Gegner der revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />
zu sein <strong>und</strong> sich nur In der „Wiener<br />
Arbeiterzeitung" als solcher geriert? — sind entsetzt<br />
über das französische Abstimmungssystem,<br />
laut dem jede Gewerkschaft e i n e Stimme hat <strong>und</strong><br />
verlangen laut nach dem Pr o p ort i o n a 1 Wahlsystem,<br />
was in Frankreich, wo Kongresse k e i n e<br />
bindenden Beschlüsse fassen können, sondern<br />
nur einen Gesinnungsausdruck der Kollektivität<br />
darstellen, ein barer Unsinn wäre. Dies geschieht<br />
in der Nummer der „Arbeiter-Zeitung" vom 8. November,<br />
auf Seite 8. Wie aber dieselbe „Arbeiter-<br />
Zeitung" w i r k l i c h über das auf der 8. Seite so<br />
sehr gepriesene Proporzsystem denkt, das zeigt sie<br />
in derselben Nummer auf Seite 2. Dort heißt es:<br />
„Durch das P r o p o r t i o n a l w a h l s y s t e m sollen<br />
die über ihr Klasseninteresse noch unklaren Arbeiter,<br />
die von den Unternehmern gegängelten g e l b e n ,<br />
c h r i s t l i c h s o z i a l e n <strong>und</strong> n a t i o n a l e n Arb<br />
e i t e r o r g a n i s a t i o n e n zu Vertretungen in den<br />
Verwaltungen der Bezirksstellen gelangen, das heißt<br />
dort die Macht der Unternehmer stärken, die der<br />
Arbeiter schwächen, das heißt sie völlig vernichten."<br />
Was soll das nun heißen? Können denn die<br />
Herren wirklich nicht achtsamer sein? Weiß in der<br />
Redaktion der „Arbeiter-Zeitung" denn die eine<br />
Hand nicht mehr, was die andere Hand tut? Sie<br />
scheint nämlich ganz vergessen zu haben, daß die<br />
französischen, revolutionären Gewerkschaftler sich<br />
gegen die Einführung des Proporzsystems mit genau<br />
denselben Argumenten wehren, wie (<strong>und</strong> mit<br />
Recht) die Sozialdemokraten in Wien.<br />
Über die übrigen Salbadereien der guten<br />
Zipfelmützen des „parlamentarischen Klassenkampfes"<br />
wider Anarchismus <strong>und</strong> Syndikalismus,<br />
da haben wir keine Worte zu verlieren. Sie erinnern<br />
zu sehr an Lessings Fuchs, dem, als die<br />
Trauben zu hoch hingen, sie zu süß waren . . .<br />
* Für die meisten ganz unbemerkt, spielt sich<br />
gegenwärtig, dank einer total falschen <strong>und</strong> verfehlten<br />
Gewerkschaftstaktik, bei uns in Wien eine<br />
entsetzliche Tragödie auf sozialer Bühne ab. Drei<br />
Monate lang befinden sich Arbeiter, die Wagner,<br />
teilweise in einer Aussperrnng, teilweise in einen<br />
dann nachher erklärten Streik. Alles, was diesen<br />
Arbeitern geboten wird, das sind einige dumme<br />
Schmockworte der Sozialdemokraten über ihre<br />
Standhaftigkeit u. dgl. m. Freilich — Charakter<br />
haben diese Männer, das geben wir gerne zu; aber<br />
wohin soll eine s o l c h e blödsinnige Gewerkschaftstaktik,<br />
die sich auf ein „Streiken" einläßt, das<br />
Monate lang dauert, führen? Ist es denn nicht klar,<br />
daß die Wagner nun Jahre lang zu arbeiten haben,<br />
ehe sie auch nur wieder die Finanzverluste der<br />
Gewerkschaft einbringen, die diese durch solche<br />
Hungerstreiks der Arbeiter hatte, geschweige denn<br />
daß die Arbeiter, im Falle eines Sieges, den wir<br />
ihnen gerne wünschen, je in den Genuß des erkämpften<br />
Mehr an Arbeitslohn treten können! Und<br />
das gesamte Wiener Proletariat hat für diese<br />
streikenden Brüder — nichts übrig, es fällt keinem<br />
Gewerkschaftsführer ein, die verwandten Gewerbe<br />
zu einem Solidaritätsstreik veranlassen, als Gesamtarbeiterschaft<br />
Wiens für die schon so entsetzlich<br />
lange leidenden Kameraden eintreten zu wollen.<br />
Und das nennt sich Gewerkschaftstaktik! Ist<br />
dies ihr ganzes Alpha <strong>und</strong> Omega parlamentarischer<br />
<strong>und</strong> wirtschaftlicher Macht? Es ist der Fluch der<br />
Vernachlässigung einer Erziehung aller übrigen Arbeiterkategorien<br />
zur Kampfessolidarität, die wie ein<br />
Alp auf den Wagnern lastet. Wird es in Österreich<br />
nicht eher anders werden, als bis alle übrigen Arbeiterbranchen<br />
ihn, diesen Fluch, ebenfalls ausgekostet<br />
haben ?<br />
Böhmen.<br />
Die wüsten chauvinistischen Hetzereien, die<br />
während der letzten vier Wochen hier in unserem<br />
Kohlenrevier ihren Schauplatz hatten, haben die<br />
Gemüter der Bergarbeiter begreiflicherweise sehr<br />
aufgeregt. Sic griffen zu dem allereinfachsten Mittel,<br />
das sich bisher immer bewährt hatte <strong>und</strong> auch diesmal<br />
seinen Zweck nicht verfehlte. Es wurde beschlossen,<br />
in d e n A u s s t a n d zu t r e t e n <strong>und</strong><br />
s o d u r c h S c h ä d i g u n g d e s G e l d s a c k e s<br />
den c h a u v i n i s t i s c h e n H e t z e r e i e n ein<br />
E n d e zu i n a c h e n . Die Behörden wurden infolge<br />
dessen aus ihrer Untätigkeit aufgerüttelt <strong>und</strong> wurde<br />
so einigermaßen wieder Ruhe hergestellt. -•<br />
Auf dem Faulschachte in Bruch wurde am<br />
4. d. M. dem allgemeinen Beschlüsse gemäß, die<br />
augenblickliche Lage besprochen <strong>und</strong> die Belegschaft<br />
aufgefordert, durch Niederlegen der Arbeit<br />
auch, wie die Brüxer <strong>und</strong> Duxer Gruben, ihren<br />
Protest zu erheben. Diese Aufforderung erging an<br />
die Mannschaft seitens der Brucher Kameraden <strong>und</strong><br />
wurde jedem die freie Wahl gelassen, nach seinem<br />
Belieben zu handeln. Die Mannschaft ging nach<br />
Hause. Denselben Tag wurde in Brüx eine Meeting<br />
abgehalten, welche von vielen Tausenden Bergleuten<br />
besucht war <strong>und</strong> wurde dort seitens der Behörden<br />
die Zusicherung erteilt, für die Sicherheit der tschechischen<br />
Bevölkerung schleunigst Sorge tragen zu<br />
wollen. Es wurde infolge dessen die Wiederaufnahme<br />
der Arbeit beschlossen.<br />
Nun zu unserem Paulschachte. Auf demselben<br />
sind die Sozialdemokraten stark vertreten <strong>und</strong> haben<br />
es die Armen sehr schmerzlich empf<strong>und</strong>en, daß sie<br />
durch die Aktion der Anarchisten um einen Arbeitstag<br />
gekommen sind. Und was haben diese Volkserzieher<br />
aus ihrem natürlichsten Solidaritätsgefühl<br />
getan? Den nächsten Tag, nach Beendigung der<br />
Schicht haben sie zwei aus ihrer Mitte gewählte<br />
Delegierte als Deputation zur Betriebsleitung entsendet<br />
<strong>und</strong> ihrer gerechten Entrüstung darüber, daß<br />
sie sich wieder an einer Aktion beteiligen mußten,<br />
welche von ihrem Generalstabe nicht anbefohlen<br />
wurde, v e r l a n g t e n s i e e n e r g i s c h die E n t -<br />
l a s s u n g d e r m u t m a ß l i c h e n U r h e b e r d e r -<br />
s e l b e n ! ! Es wurden denn auch unsere Genossen<br />
Draxl, Wolf <strong>und</strong> Scheffel e n t l a s s e n . Bemerken<br />
muß ich noch, daß viele von den Herren der Aufforderung<br />
zum Ausstande n i c h t Folge leisteten<br />
<strong>und</strong> eingefahren sind; sie wurden aber seitens der<br />
Werkleitung aus der Grube hinausgejagt. Die Betriebsleitung<br />
stellte den gemaßregelten Kameraden<br />
anheim, die Delegiertenfunktion zu quittieren <strong>und</strong><br />
den Herren Sozialdemokraten die Schicht zu bezahlen<br />
oder zu gehen. Sie wählten das Letztere.<br />
Den Tag darauf wurden die drei Genossen in die<br />
Kanzlei gerufen <strong>und</strong> ihnen dort mitgeteilt, daß die<br />
Kündigung zurückgenommen sei <strong>und</strong> sie weiter<br />
arbeiten können. Solches geschah auf Intervention<br />
unserer übrigen Kameraden. —<br />
Die Grimassen der Angehörigen der „revolutionären"<br />
Partei kann sich jeder leicht vorstellen.<br />
Sie bekamen nicht nur die Schicht nicht bezahlt,<br />
sondern die verhaßten Anarchisten behielten auch<br />
ihre Funktion als Delegierte! Das ist sozialdemokratische<br />
Solidarität! Ach freilich, es ist ja viel bequemer<br />
aach ihrer Art jeden Streik ein paar Monate<br />
zuvor der Werksleitung anzukündigen, damit sich<br />
dieselbe auf denselben vorbereiten kann; dann<br />
wartet man im unerschütterlichen Vertrauen zu<br />
Hause ab, bis Streikführer <strong>und</strong> sonstige Kommandanten<br />
die Früchte ihrer Mühe nach Hause bringen.<br />
Sie kollidieren auf diese Art <strong>und</strong> Weise nicht mit<br />
den Gesetzen, auch nicht mit den Kapitalisten, <strong>und</strong><br />
was die Hauptsache ist — sie verletzen nicht die<br />
Subordination in der Partei. Und sie haben recht;<br />
aber nur für Sklavenseelen <strong>und</strong> nicht für Männer!<br />
A. Seh.<br />
Deutschland.<br />
Unter dem Titel „ W a s w i l l d e r s o z i a l i s -<br />
t i s c h e B u n d " ? sendet uns Genosse G u s t a v<br />
L a n d a u e r die erste Flugschrift dieser neuen<br />
anarchistischen Vereinigung mit dem Ersuchen zu,<br />
ihr Raum in unserem Blatte zu gewähren. Wir<br />
kommen dieser Aufforderung umso freudiger nach,<br />
als wir den in der Flugschrift .ausgesprochenen<br />
Prinzipien, die zum ersten Mal den Oppenheimerschen<br />
Standpunkt in harmonische Verbindung mit anarchistischer<br />
Idee <strong>und</strong> Praxis bringen, fast vollständig<br />
zustimmen können. Auf jeden Fall hoffen wir, daß<br />
diese neue Strömung innerhalb unserer deutschen<br />
Bruderbewegung eine ausgezeichnete E r g ä n z u n g<br />
der bisherigen Taktik des Kampfes bilden wird,<br />
eine Ergänzung, die für jeden Weitersehenden<br />
durchaus notwendig ist. Die nachfolgenden „Zwölf<br />
Artikel des sozialistischen B<strong>und</strong>es" bringen wir<br />
nur deshalb nicht, weil die Nr. 16 des „W. f. A."<br />
ohnedies einen Artikel aus der Feder des Genossen<br />
Mertins brachte, der dieselben Gr<strong>und</strong>sätze<br />
verkündete. Im übrigen regen wir die Genossen<br />
an, sich die Flugschrift anzuschaffen <strong>und</strong> sie tüchtig<br />
zu verbreiten. Sie lautet:<br />
„Der Sozialistische B<strong>und</strong> will alle die Menschen<br />
zusammenfassen, die mit dem Sozialismus<br />
ernst machen wollen.<br />
Man hat euch gesagt, die sozialistische Gesellschaft<br />
könne erst in einem bestimmten, fernliegenden<br />
Zeitpunkt an die Stelle der Ausbeutung,<br />
der Proletarisierung, des Kapitalismus treten. Man<br />
hat euch auf die Entwickelung verwiesen.<br />
Wir sagen: der Sozialismus kommt gar nicht,<br />
wenn ihr ihn nicht schaffet.<br />
Es leben welche unter euch, die sagen: erst<br />
muß die Revolution kommen, dann kann der Sozialismus<br />
beginnen.<br />
Aber wie? Von oben her eingeführt? Staatssozialismus?<br />
Wo sind die Organisationen, die Anfänge,<br />
die Keime zu sozialistischer Arbeit <strong>und</strong> gerechtem<br />
Austausch unter sozialistischen Arbeitsgemeinden?<br />
Nirgends sind auch nur Spuren, auch<br />
nur Gedanken daran, auch nur Erwägungen der<br />
Notwendigkeit zu sehen.<br />
Sollen wir in jenem Zeitpunkt auf die Advokaten,<br />
die Politikanten, die Vormünder des Volkes<br />
angewiesen sein?<br />
Die Völker haben von jeher üble Erfahrungen<br />
mit ihnen gemacht.<br />
Wir sagen: umgekehrt wird ein Schuh daraus.<br />
Wir warten nicht auf die Revolution, damit dann<br />
Sozialismus beginne; sondern wir fangen an, den<br />
Soziaiismus zur Wirklichkeit zu machen, damit dadurch<br />
der große Umschwung komme!<br />
Alle Organisationen, die sich das arbeitende<br />
Volk bisher geschaffen hat, sind Organisationen<br />
zum Kampf ums Leben innerhalb der kapitalistischen<br />
Gesellschaft. Sie sind notwendig, damit die einzelnen<br />
individúen <strong>und</strong> Branchen weiter existieren<br />
können <strong>und</strong> kleine Vorteile erringen; aber aus dem<br />
Kreis des Kapitalismus führen sie nicht heraus; in<br />
den Sozialismus führen sie nicht hinein.<br />
Der Marxismus, der eine so große <strong>und</strong> verhängnisvolle<br />
Rolle in der Arbeiterbewegung spielt,<br />
hat vorausgesagt: die Proletarisierung wird immer<br />
mehr um sich greifen, die wirtschaftlichen Krisen<br />
werden immer stärker werden, der Konkurrenzkampf<br />
der Unternehmer wird immer strenger, die<br />
Zahl der Unternehmungen immer kleiner: der Zusammenbruch<br />
des Kapitalismus müsse so kommen.<br />
So lautet die Prophezeihung der Neunmalklugen.<br />
Wie ist es gekommen? Wie kommt es immer<br />
mehr?<br />
Was tut der Staat?<br />
Er schleift dem Elend, wenn es gar zu groß<br />
wird, die Ecken ab; er sorgt durch Versicherungs-,<br />
Schutz- <strong>und</strong> Gewerbegesetze aller Art, daß der<br />
Kapitalismus nicht an seinen schlimmsten Konsequenzen<br />
zu Gr<strong>und</strong>e gehe; daß es mit unserem<br />
System der Ungerechtigkeit <strong>und</strong> der sinnlichen Produktion<br />
<strong>und</strong> Verteilung der Güter weitergehen kann.<br />
Es geht weiter mit dem Kapitalismus, das ist<br />
der Erfolg dieser gesetzgeberischen Arbeit. Es geht<br />
weiter mit dem Kapitalismus — das ist der Erfolg<br />
auch der gesetzgeberischen Arbeit der Arbeiterklasse<br />
<strong>und</strong> ihrer Vertreter.<br />
Was tun die Unternehmer?<br />
Sie sorgen durch Truste, Syndikate, gegenseitige<br />
Versicherungen <strong>und</strong> Verträge aller Art dafür,<br />
daß die Prophezeihung der marxistischen Stubengelehrten<br />
zu Schanden wird ; sie machen sich keine<br />
unnötige Konkurrenz, sie helfen einander, sie machen<br />
sich nicht durchweg einander tot, sie halten sich<br />
vielfach einander am Leben <strong>und</strong> sie schränken die<br />
Krisen ein, wie sie die Produktion einschränken.<br />
Das alles vielfach auf Kosten der Arbeiter; ganz<br />
gewiß aber auf Kosten des Sozialismus. Es geht<br />
weiter mit dem Kapitalismus.<br />
Was tun die Arbeiter in ihren wirtschaftlichen<br />
Organisationen <strong>und</strong> Kämpfen? In ihren Gewerkschaften?<br />
In ihren Gewerkschaften sind sie innerhalb<br />
des Kapitalismus organisiert; je nach den Branchen<br />
<strong>und</strong> Proletariergruppen, die der Kapitalismus<br />
braucht. Durch ihre Versicherungen <strong>und</strong> Kassen,<br />
durch die Verbesserung ihrer Verhältnisse, ihrer<br />
Lebenslage sorgt bald da, bald dort eine Branche,<br />
daß die schlimmsten Schrecken gemildert werden,<br />
daß es weitergeht — womit? Mit dem Kapitalismus!<br />
Schluß folgt.<br />
Gruppen <strong>und</strong> Versammlungen.<br />
Allgemeine Gewerkschafts-Föderation. V.,<br />
Einsiedlergasse 60. Jeden Sonntag 6 Uhr abends.<br />
Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />
Gasthaus, XIV., Märzstraße 3 3 .<br />
Föderation der Bauarbeiter. X., Eugengasse<br />
9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />
jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />
Unabhängige Schuhmacher-Gewerkschaft.<br />
XIV.,Hütteldorferstraße 3 3 . Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />
Männergesangverein „Morgenröte". XIV.,<br />
Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />
jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />
Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „Pokrok". XIV.,<br />
Hütteldorferstr. 33. Jeden Samstag abendsDiskussion.<br />
Freie Einkaufsgenossenschaft. Jeden D o n -<br />
nerstag abends bei Schlor.<br />
Freidenker-Vereinig. „ F r e i e r Gedanke",<br />
Öffentl. Vortrag jeden Freitag um 8 Uhr bei Schlor.
Der Antimilitarismus<br />
als<br />
T a k t i k d e s A n a r c h i s m u s .<br />
Von Pierre R a m u s .<br />
Referat, gehalten auf dem internationalen Amsterdamer Kongreß<br />
der »Internationalen antimilitaristischen Assoziation«<br />
am 30. <strong>und</strong> 31. August 1907.<br />
(Fortsetzung.)<br />
Rußland hat uns dies am deutlichsten gezeigt; in allen übrigen Staaten<br />
schon der Umstand allein, daß nicht das Parlament, sondern überall das<br />
„obere Haus" herrscht <strong>und</strong> das Militär befehligt. In Deutschland im B<strong>und</strong>esrat,<br />
in Österreich im Herrenhaus, hier verschmilzt sich logisch die ökonomische<br />
mit der politischen Macht, also der militärischen Macht.<br />
Der sozialdemokratische Antimilitarismus ist entstanden unter der<br />
anspornenden Betätigung des Anarchismus.; in allen seinen Wesensäußerungen,<br />
Beschlüssen <strong>und</strong> Bestrebungen knüpft er an die Vorstellungen<br />
bürgerlicher Bestrebungen an <strong>und</strong> versucht es, dieselben auch<br />
s e i n e n Zwecken nützlich zu machen; er leistet in dieser Entwicklung bourj;eoiser<br />
<strong>Ziel</strong>e, die notwendigerweise sich nur um die Erringung der Staatsgewalt<br />
oder Ausnützung derselben zu gewissen Zwecken drehen, die höchsten<br />
seiner Geistesleistungen.* Denn, indem er den Staat erobern will, .erkennt<br />
der sozialdemokratische Antimilitarismus vornehmlich eines nicht: daß es<br />
sich bei ihm n i c h t um eine Befreiung der Menschheit von einer der furchtbarsten<br />
Geißeln handelt, sondern bloß um eine Übernahme der Staatsgewalt<br />
- <strong>und</strong> sie i s t Militarismus — durch die Sozialdemokratie. Auch die Sozialdemokratie<br />
versucht es, den Individualwillen der wirkenden Persönlichkeiten<br />
zu beeinflussen, doch während der anarchistische Antimilitarismus in den<br />
Kampf des Einzelindividuums selbst die Bedingungen der Befreiung legt,<br />
versucht es die Sozialdemokratie nur, das einzelne Individuum soweit zur<br />
Aktion aufzurufen, als dieses Individuum sich n i c h t wider die Staatsgewalt<br />
auflehnt,** sondern es nur soweit bringt, einzelne Repräsentanten seiner<br />
Klasse in die gesetzgebenden Körperschaften hinein zu delegieren, woselbst<br />
diese dann mit den bestehenden Staatsgewalten unterhandeln sollen, dabei<br />
jedoch nur ihren Vorteil herauszuschlagen vermögen. Während der Anarchismus<br />
in seinem Kampfe gegen den Militarismus diesen als das Ureigene <strong>und</strong><br />
Eigentümliche des gesamten Gesellschaftssystems erkennt, ihn nur besonders<br />
bekämpft, weil er in dieser Bekämpfung einen Hauptfaktor zur Umwälzung<br />
des G e s a m t Systems erblickt, faßt die Sozialdemokratie den Militarismus<br />
als eine Erscheinung der bürgerlichen Weit auf, die ganz für sich <strong>und</strong> besonders,<br />
durch seine Umwandlung in einen M i l i z m i l i t a r i s m u s seine<br />
speziellen Übel abstreift <strong>und</strong> dann zur Verteidigung des „Vaterlandes" hinreicht.<br />
Somit faßt sie den Militarismus als eine Notwendigkeit zur Verteidigung<br />
des Vaterlandes auf, hört damit auf, sozialistisch zu sein, denn der<br />
Begriff des „Vaterlandes" fällt unbedingt zusammen mit dem staatlichen<br />
Ausdruck Nation, was allen Prinzipien des Sozialismus zuwiderläuft. Der<br />
Sozialismus ist internationalistisch, der Sozialismus hat kein Vaterland <strong>und</strong><br />
bedarf keines Militarismus.<br />
Was hat der sozialdemokratische Antimilitarismus geleistet in den<br />
letzten paar Jahren seines internationalen Bestandes? Wir wissen, daß eine<br />
jede individuelle oder kollektive Aktion des Antimilitarismus der letzten<br />
Jahre n u r der anarchistischen Propaganda, ihrem geistigen Einfluß entsprang.<br />
Was haben mittlerweile die Sozialdemokraten geleistet?<br />
Die antimilitaristische Tätigkeit der Sozialdemokratie aller Länder beschränkt<br />
sich auf die Bekämpfung <strong>und</strong> Ablehnung des Militärbudgets; oder<br />
eigentlich nicht einmal, denn Herr Bebel hat schon des öfteren erklärt, daß<br />
nur die Art der Anwendung des Budgets nicht zweckmäßig sei, er aber sehr<br />
gerne für „bessere Waffen", für „Erhöhung der Löhne der Mannschaften <strong>und</strong><br />
Unteroffiziere" — dies der deutsche sozialdemokratische Antrag für 1908,<br />
der unter andern auch die Unterstützung des Grafen Oriola gef<strong>und</strong>en —,<br />
für „warmes Abendbrot für die Soldaten", für „dunkle Knöpfe" eintreten<br />
würde. Dies ist eine direkte Konservierung des Militarismus, wie jeder Sachk<strong>und</strong>ige<br />
zugeben muß. Die Mißachtung für eine Institution erhöht man nicht,<br />
indem man sie mit Firniß überdeckt <strong>und</strong> erträglicher macht. - Doch sehen<br />
wir einmal zu, wie weit es der Sozialdemokratie überhaupt gelungen, in<br />
ihren Budgetbekämpfungen den Militarismus zu behindern, zu beschränken.<br />
Es gibt in Europa über 400 sozialdemokratische Abgeordnete, es gibt<br />
Millionen Menschen, die durch ihre Stimmabgabe bek<strong>und</strong>et haben, daß sie<br />
hinter diesen ihren Vertretern stehen. Nach einer Aufstellung, die der englische<br />
Friedensjournalist <strong>und</strong> Zarenschwärmer William Stead in seinem während<br />
der Haager Kriegskonferenz herausgegebenen „Courier de Ia Conference"<br />
darbietet, sind die Ausgaben für den Militarismus <strong>und</strong> Marinismus nur während<br />
der letzten 10 Jahre in nur den sechs Großmächten Europas — Italien,<br />
Österreich-Ungarn, England, Frankreich, Rußland, Deutschland - um r<strong>und</strong><br />
2000 Millionen Francs gestiegen! Gehen wir nun speziell zu Deutschland<br />
über <strong>und</strong> lassen wir Liebknecht selbst reden <strong>und</strong> sich -- selbst widerlegen.<br />
Er sagt (p. 43): „Von 1899 bis 1906/7 ist aber allein in Deutschland das<br />
* Kriegsminister von Einem: „. . . Der Abgeordnete Bebel hat auf dem Jenaer Parteitag<br />
von der Fähigkeit der Deutschen zur Organisation gesprochen <strong>und</strong> dabei auch das<br />
deutsehe Kriegsheer ein M e i s t e r w e r k der Organisation genannt. . . Trotzdem wollen<br />
Sie dieses Heer abschaffen! (Abgeordneter Bebel ruft: Umwandeini) Reichstagsbericht<br />
des Berliner „Vorwärts" vom 26. April 1907.<br />
** Um wie viel gemeiner in dieser Hinsicht die Sozialdemokratie als selbst eine<br />
bürgerliche Partei ist, wollen wir nur an einem Beispiel beleuchten. Während wir ohneweiters<br />
zugestehen, daß man ganz gut geteilter Meinung Uber die Zweckmäßigkeit der persönlichen<br />
Dienstverweigerung in Ländern mit despotischer oder halbdespotischer Verfassung<br />
sein mag, bedingt es doch das Prinzip der Selbstachtung, daß man einem solch selbstaufopfernden<br />
Entschluß einer Individualität gegenüber nicht in gemeine, nur selbst erniedrigende<br />
<strong>und</strong> schmachvolle Beleidigungen <strong>und</strong> Verleumdungen ausbricht. Sehen wir zu, wie die<br />
Sozialdemokratie diese Selbstverständlichkeit befolgt.<br />
Über den österreichischen Infanteristen Nemrawa berichtete ein bürgerliches Blatt,<br />
die Wiener »Zeit«, am 23. Oktober 1907, wie folgt:<br />
.Der T o l s t o i - J ü n g e r Nemrawa. Der Infanterist Nemrawa, der seit vielen Jahren<br />
die Militärgerichtsbehörden beschäftigte, da er sich trotz wiederholter empfindlicher Abstrafungen<br />
beharrlich weigerte, ein G e w e h r zu b e r ü h r e n <strong>und</strong> zuletzt im hiesigen Garuisonsspital<br />
behufs Untersuchung seines Geisteszustandes sich befand, wurde gegen Revers<br />
s e i n e n A n g e h ö r i g e n ü b e r l e b e n . "<br />
Am g l e i c h e n Tage berichtete die sozialdemokratische Wiener „Arbeiter-Zeitung"<br />
über denselben Fall, wie folgt:<br />
.Der Nazarener Infanterist N e m r a v a wurde kürzlich in das hiesige Garnisonsspital<br />
zur Prüfung seines Geisteszustandes gebracht. D a m i t hat das K r i e g s m i n i s t e r i u m<br />
den e i n z i g r i c h t i g e n W e g e i n g e s c h l a g e n , d i e s e l ä s t i g e A f f a i r e aus der<br />
W e l t zu s c h a f f e n . Vorgestern wurde der Mann aus dem Garnisonsspital entlassen<br />
<strong>und</strong> gegen Revers seinen Angehörigen übergeben. H o f f e n t l i e h ist er als zu jeder militärischen<br />
Dienstleistung vollkommen untauglich klassifiziert <strong>und</strong> demnach aus dem Heeresverband<br />
gestrichen worden. Mag auch Nemrawas Geist ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> der Schritt, welchen die<br />
Militärbehörden in dieser Sache getan haben, ein Kompromiß sein, das man schloß, um den<br />
M a n n n i c h t zum M ä r t y r e r e i n e r h i r n r i s s i g e n A n s c h a u u n g z u machen,<br />
man muß diesen Schritt klug nennen. Allerdings wäre es besser gewesen, wenn er gleich<br />
gemacht worden wäre, statt daß man Nemrawa zweimal im Kerker für seine Überzeugung<br />
leiden ließ, mag seine nazarenische Überzeugung noch so lächerlich sein."<br />
Das Urteil darüber, welches Blatt einem politischen Gegner gegenüber anständiger<br />
war, Uberlassen wir getrost dem Urteil des Lesers. Hoffentlieh vergaß das k. k. Kriegsministerium<br />
es nicht, sich bei der „Arbeiter-Zeitung* für das ihm erteilte mehrfache Lob gebührend<br />
<strong>und</strong> verständnisvoll zu bedanken!<br />
militärische Budget von r<strong>und</strong> 920 Millionen auf r<strong>und</strong> 1300 Millionen, also<br />
über 40 Prozent gewachsen".<br />
Wir fragen: W e l c h e B e d e u t u n g , w e l c h e n E i n f l u ß hat<br />
d i e S o z i a l d e m o k r a t i e D e u t s c h l a n d s i m P a r l a m e n t , w o<br />
m a c h t s i c h i h r A n t i m i l i t a r i s m u s f ü h l b a r ? Wo äußert sich der<br />
parlamentarische Antimilitarismus der Sozialdemokratie auf dum weiten<br />
Erdenr<strong>und</strong>?<br />
Die Sozialdemokratie bildet in ihrer parlamentarischen Betätigung ein<br />
direkt konservierendes Element des Militarismus, das muß jeder eingestehen,<br />
der die Reden der Bebel — <strong>und</strong> Noske sagte nichts anderes als dieser! —<br />
- <strong>und</strong> seiner internationalen Kollegen liest <strong>und</strong> begreift. Sie kämpfen gegen<br />
die „Mißbräuche" des Militarismus, während er selbst ein einzig großer<br />
Schaden ist; überdies kämpfen auch bürgerliche Parteien gegen jene, denn<br />
es ist im Interesse der herrschenden Klassen gelegen, daß der Militarismus<br />
so wenig Anstoß als möglich erregen soll. Was die Sozialdemokratie aus<strong>und</strong><br />
kennzeichnet, ist ihr Mangel an Erkenntnis <strong>und</strong> tiefer ursächlicher Auffassung<br />
des Problems, ist ihr Unverständnis für jede anders geartete individuelle<br />
Initiative, als die parlamentarische — nur dieses Spiel lassen sie als<br />
individuelle Initiative gelten, da es doch keine ist! , ist die Demagogie ihrer<br />
Führer <strong>und</strong> der vollständig bourgeoise Geist der Kleinmütigkeit <strong>und</strong> behäbigen<br />
Gesetzlichkeit, der die Partei <strong>und</strong> ihre Spitzen beseelt.<br />
Noch eines, bevor wir zum Schlüsse eilen.<br />
Es herrscht eine falsche Auffassung über die Stellung mancher sozialdemokratischer<br />
Antimilitaristen zum Problem des Antimilitarismus. Besonders<br />
trifft dies zu auf Karl Liebknecht, dessen Hochverratsprozeß, den ihm der<br />
Terrorismus des deutschen Staates aufbrannte, ganz falsche Meinungen über<br />
den Verfasser des Buches über den „Militarismus <strong>und</strong> Antimilitarismus" aufkommen<br />
ließen. Zudem hat Herr Bebel durch seine heimtückische Methode<br />
hilfreicher Beispringung dem Kriegsminister gegenüber, indem er erklärte,<br />
daß auch er g e g e n „solche Bücher" wie das Liebknechtsche war <strong>und</strong> sie<br />
auf dem Parteitag bekämpfte,* die ganz irrtümliche Meinung aufkommen<br />
lassen, als ob etwa Liebknecht ein Antimilitarist im französischen syndikalistischen,<br />
oder im Hervéschen Sinne sei. Das ist unwahr, dies zu behaupten<br />
•ist unehrlich. Zwischen Liebknecht <strong>und</strong> Bebel besteht höchstens d e r eine<br />
Unterschied, daß Liebknecht einen jüngeren, frischer denkenden Geist besitzt,<br />
als der alte, recht greisenhaft gewordene Bebel.** In der Theorie unterscheidet<br />
sich der eine vom anderen ebenso wenig wie in der Taktik; vollkommen<br />
oder fast vollständig ist er mit letzterer einverstanden. Der ganze Streit,<br />
worum es sich handelt Liebknecht ist a u c h g e g e n Kasernenagitation!<br />
dreht sich um folgendes: Er lernte vom Beispiel anderer Länder <strong>und</strong><br />
versuchte es, in Deutschland eine rege antimilitaristische Propaganda unter<br />
d e r J u g e n d in Fluß zu bringen. Das ist ohne Zweifel verdienstvoll, wenn<br />
wir auch der rein sozialdemokratisch verballhornisierten Erziehungsmethode<br />
widerstreben müssen. Aber eine solche Erziehung findet immerhin darin unsere<br />
Zustimmung, weil wir wissen, daß es gilt, Kämpfer zu schaffen; weil wir<br />
mit Liebknecht darin übereinstimmen, wenn er (p. 122) sagt: „. . . Es ist<br />
ein ganz gewaltiger Unterschied, einen sozialdemokratischen Stimmzettel abzugeben<br />
oder wirklicher Sozialdemokrat oder gar bereit zu sein, alle die<br />
persönlichen Gefahren auf sich zu nehmen, die der Antimilitarismus in der<br />
Armee mit sich bringt." S o l c h e Sozialdemokraten hören allerdings bald<br />
auf, Sozialdemokraten zu sein; ganz so, wie wir alle aufhörten, Sozialdemokraten<br />
zu sein, sobald ein tieferes Verständnis für den Sozialismus <strong>und</strong><br />
dessen <strong>Ziel</strong>e sich bei uns einstellte.<br />
Die Sozialdemokratie vertritt auf antimilitaristischem Gebiete nur rein<br />
bürgerliche Forderungen. Sie neigt in allen ihren antimilitaristischen Betätigungen<br />
mehr der Bourgeoisie zu, als dem Anarchismus.*** Aus diesem Gr<strong>und</strong>e ist<br />
ihr gesamtes antimilitaristisches Streben vollständig fruchtlos geblieben. Ganz<br />
bürgerlich ist sie in ihrem Rechten <strong>und</strong> Fordern von dem Staat, dessen historische<br />
Wesensbedingungen sie vollständig verkennt. Sie fordert von ihm<br />
Reformen solcher Art, die, wenn ausgeführt, nur eine größere Elastizität <strong>und</strong><br />
Vervollkommnung des bestehenden Systems bilden, für das Proletariat aber<br />
n i e eine vollständige Befreiung bedeuten könnten. Als einen einzigen Beweis<br />
für viele können wir hier die Gesetzentwürfe der österreichischen Sozialdemokratie<br />
in Sachen des Militarismus zitieren. (Vgl. Wiener „Arbeiter-<br />
Zeitung", vom 24. Juli 1907). Dort wird auf Umwandlung des Heeres in eine<br />
Miliz gedrungen, weil ein solches „Volksheer" es „mindestens ebenso gut<br />
vermag, eine auf demokratischer Gr<strong>und</strong>lage organisierte <strong>und</strong> durch obligatorische<br />
Vorbildung der männlichen Jugend für den Waffendienst ergänzte Volkswehr<br />
die n o t w e n d i g e S i c h e r u n g d e s S t a a t e s n a c h a u ß e n<br />
z u gewährleisten; u n d e i n e s o l c h e W e h r v e r f a s s u n g i s t es,<br />
w e l c h e d i e S o z i a l d e m o k r a t i e a n s t r e b t " . Also nicht Abschaffung<br />
des Militarismus gilt es, sondern Eindrillung der Jugend, behufs notwendiger<br />
„Sicherung des Staates nach außen". Und um zu dem Tragischen auch das<br />
Heitere zu gesellen, lassen wir nur einige Zitate aus dem von der Sozialdemokratie<br />
Österreichs propagierten Gesetzentwurf folgen. Da heißt es u. a.:<br />
D i e A b ä n d e r u n g d e s W e h r g e s e t z e s .<br />
Artikel I.<br />
Der erste Absatz des § 8 des Gesetzes vom 11. April<br />
1889 wird hiemit in seiner gegenwärtigen Fassung außer Kraft<br />
gesetzt <strong>und</strong> hat von nun an zu lauten wie folgt:<br />
Die Dienstpflicht dauert:<br />
1. Im Heere:<br />
a) z w e i J a h r e in der Linie <strong>und</strong> acht Jahre in der<br />
Reserve;<br />
b) zehn Jahre in der Ersatzreserve für die unmittelbar in<br />
diese Eingereihten.<br />
2. In der Kriegsmarine:<br />
z w e i J a h r e in der Linie, sieben Jahre in der Reserve<br />
<strong>und</strong> drei Jahre in der Seewehr.<br />
3. In der Landwehr, beziehungsweise in ihrer Ersatzreserve:<br />
a) z w e i J a h r e für jene, welche nach vollstreckter<br />
Dienstpflicht im Heere in die Landwehr übersetzt werden;<br />
b) zwölf Jahre für die unmittelbar in die Landwehr<br />
Eingereihten.<br />
* Reichstagsbericht des Berliner „Vorwärts" vom 25. April 1907.<br />
** Hat doch Liebknecht es selbst im Laufe seines Prozesses konstatiert, daß es<br />
eigentlich zwischen ihm <strong>und</strong> Vollmar nur e i n e n T e m p e r a m e n t s u n t e r s c h i e d gibt.<br />
**• Wir begnügen uns mit dieser Feststellung <strong>und</strong> übergehen, im Interesse der möglichsten<br />
Kürze dieser Abhandlung, eine weitschweifige Widerlegung all jener Angriffe, die Dr.<br />
Liebknecht auf den „anarchistischen Antimilitarismus" in seinem Buche macht. Möge überdies<br />
ein Anhänger seiner eigenen Richtung, der Sozialdemokrat Robert Michels einen Urteilsspruch<br />
fällen. Michels sagt („Le Mouvement S o c i a l i s t e " , 9. Jahrg., Nr. 189 <strong>und</strong> 190) in<br />
einer Besprechung des Buches: „Die Seiten, auf welchen Liebknecht, schwitzend aus allen<br />
Poren, sich bemüht, einen Unterschiedscharakter zwischen „Sozialismus" <strong>und</strong> „Anarchismus"<br />
zu konstruieren, sind insgesamt diejenigen, welche am w e n i g s t e n beweiserbringend sind<br />
in der Literatur über diesen Gegenstand. Sie bieten uns den bedauernswerten Anblick von<br />
h<strong>und</strong>erten, besonders konventionellen Phrasen <strong>und</strong> alle überdies wenig konklusiv. . . . Der<br />
V e r f a s s e r d i e s e r Z e i l e n , der sich schmeichelt, . . .die anarchistische Literatur genügend<br />
gut zu kennen, k e n n t n i c h t ein e i n z i g e s B e i s p . i e l , das die Behauptungen<br />
Liebknechts g e g e n d i e A n a r c h i s t e n s t ü t z e n k ö n n t e . Ähnliche Erfindungen können<br />
ja wohl diejenigen interessieren, die die Tatsachen n i c h t kennen, aber sie leisten auch<br />
nichts anderes, als die theoretische Konfusion zu vergrößern, die ohnedies schon herrscht in<br />
dem traditioneilen Sozialismus."<br />
Fortsetzung folgt.
Wien, 6. Dezember 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. — Nr. 23.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />
I./I7. — Gelder sind zu senden an<br />
Marie Schindelar, Wien, XII., Herthergasse<br />
12, I./17.<br />
Die Invaliditäts- u n d Altersv<br />
e r s i c h e r u n g .<br />
„Das Blendende des Gesetzentwurfes<br />
ist die Ausdehnung der<br />
Versicherung sowohl hinsichtlich des<br />
Kreises der Versicherten als auch in<br />
Beziehung auf die Leistungen <strong>und</strong> die<br />
Art der Versicherung."<br />
(Wiener „Arbeiter-Zeitung",<br />
4. November 1908.)<br />
Im sozialdemokratischen Blätterwald<br />
rauscht es gewaltig. Jubelhymnen, heute<br />
schon ein w e n i g gedämpft, erschallen; die<br />
Regierung der Besitzenden hat eine Vorlage<br />
eingebracht, die den Besitzlosen nach verbrauchter<br />
Arbeitskraft die Lebensmöglichkeit<br />
bieten soll.<br />
Seit mehr als einem Jahrzehnt ist die<br />
Agitation der Sozialdemokraten fast ausschließlich<br />
auf die Erreichung einer derartigen<br />
Vorlage gerichtet, in unzähligen<br />
Versammlungen <strong>und</strong> Wahlreden bildete<br />
diese Frage den ausschließlichen Inhalt; nun<br />
ist ihr <strong>Ziel</strong> erreicht, ein Hauptteil des sogenannten<br />
Minimalprogrammes ihrer Forderung<br />
an die heutige Gesellschaft ist erfüllt.<br />
Der Jubel der Führer w ä r e ein ungeteilter,<br />
wenn die Regierung nicht einen W e r m u t s -<br />
tropfen in den F r e u d e n b e c h e r gegossen<br />
hätte, der als unverdient für die braven<br />
Leutchen um so bitterer empf<strong>und</strong>en wird,<br />
als er die Frage der Verwaltung berührt.<br />
Betrachtet man nur vorerst die Sache frei<br />
von jeder Voreingenommenheit, beachten<br />
wir die Personen, die sich als G e b e r aufspielen<br />
<strong>und</strong> untersuchen wir. aus welchen<br />
Quellen sie schöpfen, so faßt uns E m p ö r u n g<br />
über die Überschwenglichkeit, mit d e r d i e Vorlage<br />
an s i c h den Arbeitern angepriesen wird,<br />
nicht nur von den bürgerlichen Parteien,<br />
sondern auch von der Partei, die sich revolutionär<br />
nennt <strong>und</strong> dadurch ihre Wurzeln<br />
in den Kreisen der Arbeiter findet. Der<br />
Staat, der n u n m e h r in der P o s e des G e b e r s<br />
agiert, kann zufrieden sein mit der Schar<br />
seiner R e k o m m a n d e u r e .<br />
Wir scheiden die Vorlage in zwei Teile:<br />
in den Teil des schon Bestehenden <strong>und</strong><br />
nunmehr zu Reformierenden <strong>und</strong> den Teil<br />
des neu zu Schaffenden. Der erstere umfaßt<br />
die Kranken- <strong>und</strong> Unfallversicherung. Hier<br />
wird eine, allerdings nicht länger zu vermeiden<br />
g e w e s e n e A u s d e h n u n g des Kreises<br />
der Versicherten angebahnt, es werden alle<br />
Arbeiter <strong>und</strong> Dienstboten einbezogen. Damit<br />
erfolgt Ü b e r w ä l z u n g der Krankenkosten auf<br />
die große Zahl der Neueinbezogenen, deren<br />
«Dienstherrn». w e n n auch in beschränktem<br />
Ausmaße, d i e s e K o s t e n b i s h e r z u<br />
tragen hatten. Die Airsdehnung des Krankengeldbezuges<br />
von 20 W o c h e n auf 52<br />
Wochen kostet die Regierung selbstverständlich<br />
k e i n e n r o t e n H e l l e r , d a die<br />
Versicherten s e l b s t die Mehrbelastung in<br />
Form von erhöhten Beiträgen zu bestreiten<br />
haben. Nicht nur das. Bei dieser Gelegenheit<br />
versucht die Regierung ein Geschäftchen<br />
zu machen, indem sie in Hinkunft für die<br />
ganze Zeit der Spitalpflege die Verpflegsgebühren<br />
einbeziehen will, statt wie bisher<br />
für 4 W o c h e n . Durch diese «Reform» soll<br />
also dem ledigen Arbeiter das Krankengeld<br />
schon nach 4 W o c h e n , dem Arbeiter mit<br />
Achtung !<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. b. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . . "<br />
Familie das halbe Krankengeld w e g g e -<br />
n o m m e n w e r d e n . Der Effekt dieser Reform<br />
der Unfallversicherung bringt außerdem das<br />
vage Versprechen, daß in Hinkunft für<br />
Hilflose (ständig pflegebedürftige Krüppel)<br />
höhere Renten g e w ä h r t w e r d e n können,<br />
was übrigens jetzt schon bei den berufsgenossenschaftlichen<br />
Anstalten geschieht;<br />
verspricht auch die Befreiung der Arbeiter<br />
von der zehnprozentigen Beitragsleistung,<br />
die auch heute viele U n t e r n e h m e r nicht<br />
einheben. W e n i g neues, wohl aber eine<br />
Belastung der Krankenkassen <strong>und</strong> damit<br />
natürlich der Mitglieder, da Unfälle, die bis<br />
dreizehn W o c h e n Heilungsdauer (bisher<br />
vier W o c h e n ) erfordern, in Hinkunft von<br />
den Krankenkassen zu tragen sind.<br />
D i e s i s t e i n z w e i t e r G r i f f i n d i e<br />
T a s c h e n d e r A r b e i t e r .<br />
Nun aber z u m anderen Teil, zur so<br />
lange ersehnten Alters-, Invaliditätsversic<br />
h e r u n g <strong>und</strong> Witwen-, W a i s e n v e r s o r g u n g .<br />
Der Staat gibt Invalidenrenten, w e n n<br />
der Versicherte n i c h t m e h r als ein Drittel<br />
seines bisherigen Verdienstes zu verdienen<br />
im Stande. Die voraussichtliche H ö h e wird<br />
4 bis 6 K wöchentlich sein nach mindestens<br />
vierjähriger Karenzzeit, sofern 200 W o c h e n<br />
Beiträge geleistet w u r d e n . Bei einer Z a h l u n g<br />
durch 20 <strong>und</strong> m e h r Jahre tritt das A u s m a ß<br />
für die Altersrente in Kraft. Die Altersrenten<br />
betragen bei einer Beitragszeit von 20 bis<br />
40 Jahren K 2 7 7 bis K 9 6 1 wöchentlich.<br />
Die W o c h e n r e n t e von K 1 0 7 3 ist eine<br />
Fiktion, nachdem es A r b e i t e r , die ihr<br />
Leben lang u n u n t e r b r o c h e n K 36 pro W o c h e<br />
verdienen, einfach nicht gibt. Voraussetzung<br />
für die Altersrente ist übrigens ein Alter<br />
von 6 5 Jahren. B e i A r b e i t s l o s i g k e i t<br />
e r l i s c h t d i e V e r s i c h e r u n g , soferne<br />
die dafür festzustellenden Arbeitslosenbeiträge<br />
nicht geleistet werden. Die Beiträge<br />
für diese Versicherung sind, von 12 Heller<br />
hinansteigend bis zu 36 Heller pro W o c h e<br />
festgesetzt, die v o m Arbeiter angeblich zur<br />
Hälfte, in Wirklichkeit aber zur G ä n z e geleistet<br />
werden.<br />
Der Hohn, der darin liegt, daß den<br />
Arbeitern, deren Durchschnittsalter kaum<br />
40 Jahre beträgt, mit 65 Jahren eine Altersversorgung<br />
in Aussicht gestellt wird, die für<br />
die g r o ß e Zahl der Arbeiter nicht viel mehr<br />
ist als das, was die heutige A r m e n v e r s o r g u n g<br />
bietet, ist geradezu schneidend. W a s ist mit<br />
den ungezählten Tausenden, die arbeitslos<br />
sind <strong>und</strong> fast jedes Jahr damit zu rechnen<br />
haben, kürzere oder längere Zeit arbeitslos<br />
zu sein? W e r d e n diese, um ihre Beiträge<br />
leisten z u können, s t e h l e n d ü r f e n ? Wahrlich<br />
eine nette Versicherung, die von den<br />
Arbeitslosen noch die letzten Heller herauspreßt<br />
<strong>und</strong> dort, wo dieses nicht möglich ist,<br />
die e r w o r b e n e n Rechte sistiert!<br />
An Hinterbliebene werden Kapitalsa<br />
b f e r t i g u n g e n i m einmaligen A u s m a ß e<br />
von K 120 bis K 440 geleistet, je nach der<br />
Kinderzahl. W e r darin nicht eine glänzende<br />
V e r s o r g u n g der W i t w e n <strong>und</strong> Waisen sieht,<br />
ist wert, von dieser Staatsfürsorge strafweise<br />
ausgeschlossen zu werden. Von der Versicherung<br />
der Selbständigen zu sprechen,<br />
ist nicht der M ü h e wert, es sei denn, daß<br />
wir hervorheben, daß die Kosten dafür den<br />
Öffentliche Vereinsversammlung am Sonntag den 6. Dezember 1908, halb 10 Uhr vormittags,<br />
im XVI. Bezirk, Gr<strong>und</strong>steingasse 25. Zahlreicher Besuch erwartet. Tagesordnung:<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2 -<br />
40;<br />
halbjährig K 1-20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3-50, halbjährig Fr. 175, vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
Arbeitern aufgewälzt werden, somit deren<br />
Lasten noch vergrößern.<br />
N u n m e h r zu den Kosten dieser Versicherung.<br />
Die U n t e r n e h m e r rechnen mit<br />
einer Belastung von 60 bis 70 Millionen<br />
pro Jahr, die sie natürlich in irgend einer<br />
Form auf die Arbeiter überwälzen. Die<br />
direkte Belastung der Arbeiter wird mindestens<br />
eine gleich g r o ß e sein, u n g e r e c h n e t<br />
der S u m m e n , die, durch die auf Kosten<br />
der Arbeiter zu erfolgende S a n i e r u n g der<br />
Krankenanstalten erforderlich sind. Der<br />
Staatszuschuß wird im 10. Jahre r<strong>und</strong> 40<br />
Millionen <strong>und</strong> im 40. Jahre 100 Millionen<br />
betragen. Nun ist aber die Frage d i e : w e r<br />
z a h l t d i e s e K o s t e n ? Die direkte Beitragsleistung<br />
der Arbeiter <strong>und</strong> die Überwälzungspraxis<br />
der U n t e r n e h m e r haben wir<br />
bereits erwähnt. Der Staat aber, so versichert<br />
uns die Regierung — <strong>und</strong> nicht nur diese<br />
allein — bringt ein außerordentliches Opfer.<br />
A u s w e s s e n T a s c h e n ? Wird e r das<br />
Futter für den Militarismus beschneiden<br />
<strong>und</strong> dort 100 Millionen w e g n e h m e n ? N e i n .<br />
W e r d e n die A b g e o r d n e t e n eine Steuer ausfindig<br />
machen, die jene trifft, die der<br />
«väterlichen Fürsorge» des Staates entbehren<br />
k ö n n e n ? N e i n . Der Staat wird e i n f a c h<br />
w i e d e r e i n e n G r i f f i n d e n S a c k<br />
d e r e r t u n , die er angeblich mit der Vorlage<br />
schützen will <strong>und</strong> wird somit die<br />
Voraussetzungen zu frühzeitigem Siechtum<br />
vermehren. Er wird damit n e u e r d i n g s dafür<br />
sorgen, daß die Zahl der Altersrentner vermindert<br />
wird, indem er die Invaliden, die<br />
Hinterbliebenen mehrt. I s t e s n i c h t e i n<br />
b e t r ü g e r i s c h e r S c h w i n d e l g e d a n k e ,<br />
v o n d e r h e u t i g e n G e s e l l s c h a f t , d i e<br />
d u r c h d i e M o n o p o l i s i e r u n g d e r<br />
P r o d u k t i o n s m i t t e l a l l e d i e s e f u r c h t -<br />
b a r e n Ü b e l s t ä n d e h e r v o r r u f t u n d<br />
t ä g l i c h m e h r t , A b h i l f e z u v e r l a n g e n ?<br />
Der heutige Gesellschaftszustand, längst<br />
reif zum Z u s a m m e n b r u c h , wird mit Gewaltmittel<br />
aufrecht erhalten. Die Kosten müssen wir<br />
Arbeiter tragen, <strong>und</strong> weil wir unter der Last<br />
z u s a m m e n b r e c h e n , wird uns «Hilfe» geboten,<br />
indem man uns n e u e L a s t e n auferlegt.<br />
Worin liegen denn eigentlich die Wurzeln<br />
dessozialen E l e n d e s ? N u r d a r i n , d a ß d i e Gesellschaft<br />
eine Unzahl parasitärer Existenzen nicht<br />
nur zu erhalten hat, sondern ihnen - a: f<br />
Kosten der Arbeitenden — ein Wohlleben<br />
sondergleichen schafft. Der Haupteffekt<br />
obiger s ogenannter «Sozialreform» wird d e r<br />
sein, daß' eine weitere Anzahl parasitärer<br />
Existenzen genährt w i r d ; Tatsache ist, daß<br />
g e g e n w ä r t i g w i r die Einzigen sind, die<br />
eine durchaus oppositionelle Haltung g e g e n -<br />
über der Vorlage einnehmen. Der Hauptstreit<br />
zwischen Sozialdemokratie <strong>und</strong> Christlichsozialen<br />
ist nur der, w e r d i e P f r ü n d n e r<br />
bestellen, die Arbeiter schuhriegeln können<br />
soll. W e r unbeeinflußt von k o m m e n d e n<br />
Verwaltungsaussichten an die Vorlage herantritt,<br />
wird zu d e m Schlüsse k o m m e n , daß<br />
der g e b o t e n e Bettel in keinem Verhältnis<br />
steht zu den auferlegten Lasten. Das «Blendende»<br />
für alle Parteien ist die Verwaltung,<br />
die allerdings, s t a a t s s o z i a l i s t i s c h g e n u g ,<br />
ein Heer von Bürokraten schafft, so daß<br />
auf r<strong>und</strong> 90 Millionen E i n k o m m e n über<br />
12 Millionen Verwaltungsgelder k o m m e n ;<br />
Die Alters- <strong>und</strong> Invalidenversicherung.
es handelt sich bei all den Parteien nicht<br />
um die neue, riesige Steuerbelastung, die<br />
die Sozialversicherung wirklich ist, um deren<br />
Vereitelung <strong>und</strong> Abwehr, sondern nur um<br />
die P f r ü n d e n f ü r i h r e v e r s o r g u n g s -<br />
b e d ü r f t i g e n S c h r e i e r .<br />
Dafür läßt man alle E r w ä g u n g e n beiseite<br />
<strong>und</strong> gleitet über die nicht w e g z u -<br />
reformierenden Schäden sachte hinweg,<br />
hoffend, daß auch die Arbeiter davon geblendet<br />
sind. Und nicht zuletzt: die parlamentarische<br />
Klappermühle braucht einen<br />
«Erfolg». Das Feuerwerk der Millionen,<br />
das da vor einer gaffenden M e n g e abgebrannt<br />
wird, soll das s c h w i n d e n d e Vertrauen<br />
an dem alleinseligmachenden parlamentarischen<br />
Gaukelspiel wieder festigen, <strong>und</strong><br />
w e n n es recht schön ist, so wird der Griff<br />
in den Sack am E n d e gar nicht beachtet.<br />
G e h t h i n , i h r V o l k s t r i b u n e n u n d<br />
V o l k s b e g l ü c k e r , s a g t d e r M e n g e<br />
f o l g e n d e s :<br />
«Arbeiter, ihr sollt jetzt jährlich 120<br />
Millionen Kronen durch 4 Jahre zahlen,<br />
das sind 4 8 0 Millionen. Von diesem Oelde<br />
n e h m e n wir 48 Millionen für Verwaltungskosten.<br />
Eure Hinterbliebenen- b e k o m m e n<br />
davon (günstigst gerechnet) innerhalb 4 Jahren<br />
32 Millionen. Die weiteren 8 Jahre<br />
versprechen wir euch dazu Invalidenrenten,<br />
sagen wir bis zu 10 Kronen wöchentlich,<br />
w e n n ihr jede W o c h e im Jahr, ob arbeitend<br />
oder nicht, eure Beiträge leistet. Nach 12<br />
Jahren erfolgt eine N e u b e r e c h n u n g , bei der<br />
im Voraus n u r e i n e s fest steht, das ist<br />
die S t e i g e r u n g d e r V e r w a l t u n g s -<br />
k o s t e n . O b eure Zahlungen erhöht, oder<br />
ob eure v e r s p r o c h e n e n Renten gekürzt<br />
w e r d e n — das wissen wir nicht.»<br />
89 Männer, die sich Sozialisten nennen,<br />
sind gewillt, für eine solche Vorlage einzutreten,<br />
w e n n ihnen nur gewisse Verwaltungszugeständnisse<br />
gemacht werden. Sie<br />
sind damit gewillt, das W o h l <strong>und</strong> W e h e<br />
der Massen mit dem Staat zu verknüpfen,<br />
mit der bürgerlichen Gesellschaft, die nichts<br />
als Qual, H u n g e r <strong>und</strong> U n t e r d r ü c k u n g für<br />
die Arbeiter übrig hat.<br />
Keinem einzigen von all den parlamentarischen<br />
Volksvertretern fällt es ein,<br />
die Vorlage a l s s o l c h e strikte zurückzuweisen,<br />
weil sie den Arbeiter n i c h t versichert,<br />
sondern ihn, den Arbeiter z w i n g t ,<br />
für eine angebliche Versicherung zu bezahlen,<br />
w ä h r e n d eine staatliche Versicherung<br />
d e n n doch nicht durch <strong>und</strong> von dem Arbeiter<br />
bezahlt, sondern aus dem Staatsb<br />
u d g e t bestritten w e r d e n sollte! Allen diesen<br />
Vertretern ist es eine Selbstverständlichkeit,<br />
daß der A r b e i t e r a u c h bezahlen <strong>und</strong><br />
der S t a a t diejenige Versicherung regeln,<br />
das Geld dafür einstreifen soll, für die der<br />
Arbeiter s e l b s t — d e n n der U n t e r n e h m e r<br />
wälzt seinen Teil wieder auf den Arbeiter<br />
a b ! — zu zahlen hat. Und d a n n : i s t d e r<br />
G l a u b e a n d i e s i e g r e i c h e K r a f t d e s<br />
S o z i a l i s m u s b e i e u c h s o s c h w a c h ,<br />
d a ß i h r G e s e t z e f ü r f a s t e i n h a l b e s<br />
J a h r h u n d e r t m a c h t , die dem Arbeiter<br />
kaum ein Stück trockenen Brotes sichern?<br />
Wir denken, die Kraft der Arbeiter ist<br />
hinreichend, in dieser Zeit sich das zu erkämpfen,<br />
was man ihnen heute gewaltsam<br />
vorenthält: d e n v o l l e n A r b e i t s e r t r a g ,<br />
d e n S o z i a l i s m u s . Mit dieser Überzeug<br />
u n g treten wir an die Vorlage heran <strong>und</strong><br />
sagen nur ein W o r t : B l e n d w e r k !<br />
W e r ist A n a r c h i s t ?<br />
Fre<strong>und</strong> A, S. schreibt mir unter a n d e r m :<br />
„. . . Sie werden ja gewiß aus meinen Worten<br />
halbwegs sehen, daß ich kein Anarchist bin; aber<br />
trotzdem bin ich ein entschiedener Gegner der<br />
gegenwärtig verwalteten sozialdemokratischen Organisation.<br />
Ich bin kein Gegner der Organisation<br />
überhaupt, sondern ein Gegner des Terrorismus,<br />
der Demagogie <strong>und</strong> Korruption, die alle in diesen<br />
Organisationen von den „Obergenossen" betrieben<br />
werden.<br />
Sie haben gar keinen Begriff, was ich alles in<br />
unserer Gewerkschaftsorganisation zu ertragen h a b e ;<br />
ich, der ich doch gewiß kein Anarchist bin, das Sie viel-<br />
leicht am besten wissen dürften, bin dort als ein solcher<br />
ausgeschrien <strong>und</strong> werde allgemein, da ich auch des<br />
öfteren anarchistische Versammlungen besucht habe,<br />
als „Anarchistenführer" bezeichnet, was ich den<br />
Leuten in punkto Naivität anrechne. Aber nichts<br />
destoweniger hat es mich sehr unangenehm berührt,<br />
daß ich, der ich doch gewiß ein guter Sozialdemokrat,<br />
wenn auch ein etwas radikaler bin, beinahe<br />
aus der Organisation ausgeschlossen worden wäre,<br />
mit der lächerlichen Motivierung „wegen anarchistischer<br />
Umtriebe", mich nur noch ineine gegebene<br />
Demission davor bewahrte.<br />
Allerdings war es mir gewissermaßen eine<br />
Genugtuung, wenn ich imstande war, in derselben<br />
Ausschußsitzung, in der ich mein Mandat niedergelegt<br />
habe, den Obmann, den Führer der Unterdrückung<br />
der freien Meinungsäußerung zu stürzen.<br />
Es ist mir in der bald nachher stattgef<strong>und</strong>enen Generalversammlung<br />
seitens des Plenums abermals<br />
das Vertrauen geschenkt worden, <strong>und</strong> ich wurde<br />
zum 1. Schriftführer gewählt. Damals war ich der<br />
Meinung, daß es, da doch der Hauptdemagog, der<br />
Obmann, gestürzt sei, nunmehr ganz anders vor<br />
sich gehen werde. Aber in der Delegiertenkonferenz<br />
der Wiener Ortsgruppen sollte ich es ganz anders<br />
erfahren; es ist dort, obwohl auf der Tagesordnung<br />
sehr wichtige Punkte verzeichnet waren, wie<br />
Organisation, Agitation, Kolportage etc. nichts als<br />
die persönliche Eitelkeit einzelner <strong>und</strong> das deutlich<br />
zu tage tretende Parteistrebertum befriedigt worden.<br />
Sic sehen also, daß man inner solchen Umständen<br />
berechtigterweise die Freude zur Arbeit<br />
verlieren muß . . ."<br />
Soweit der Brief, wie er für unsere<br />
G e n o s s e n aus manchen G r ü n d e n interessant<br />
sein dürfte. Vieles ließe sich darauf erwidern;<br />
ich will aber nur aus obigem Brief<br />
die B e a n t w o r t u n g meiner Titelfrage als<br />
Wichtigstes zu behandeln versuchen. Ich<br />
schrieb meinem Fre<strong>und</strong> also ungefähr so:<br />
»Was Sie mir von Ihren persönlichen<br />
Erfahrungen in einer Gewerkschaft sozialdemokratischer<br />
Richtung schreiben, ergänzt<br />
glücklich das Bild, das ich mir bisher von<br />
dieser gemacht habe. Es ist auch in Deutschland<br />
dieselbe Sache. Und d a r i n sind Partei<br />
<strong>und</strong> Gewerkschaften eins. Versucht irgend<br />
jemand eine eigene M e i n u n g innerhalb der<br />
Organisation zu propagieren, wird er m<strong>und</strong>tot<br />
gemacht, resp. ausgeschlossen. Sobald<br />
aber außerhalb dieser, deren Tun zu kritisieren<br />
versucht wird, hören wir immer<br />
wieder: »Kommt zu u n s ; unser <strong>Ziel</strong> ist dasselbe;<br />
wollen z u s a m m e n arbeiten; als Mitglieder<br />
habt ihr das Recht zur Kritik; weit<br />
besserer Erfolg wartet da eurer. Meint ihr's<br />
ehrlich, ist in unsern Reihen euer Platz.<br />
— Ihr tuts nicht? Gut, so seid ihr Zersplitterer,<br />
Feinde der A r b e i t e r b e w e g u n g<br />
etc. etc.« Wie weit man »recht« hat, zeigt<br />
Ihr Brief für Österreich, <strong>und</strong> um einen Fall<br />
aus Deutschland in letzter Zeit, der auch<br />
dort bekannt sein dürfte, mitanzuführen:<br />
D e r Ausschluß unseres tätigen G e n o s s e n<br />
D r e w e s aus der Buchdruckerorganisation.<br />
Nun, soweit g e h e n wir beide ja zus<br />
a m m e n : F ü r f r e i e M e i n u n g s ä u ß e r u n g<br />
i s t i n d e r P a r t e i , w i e i n d e r G e w e r k -<br />
s c h a f t k e i n P l a t z . Weiter gehen wir<br />
konform: D e n S o z i a l i s m u s h a l t e n w i r<br />
b e i d e f ü r e r s t r e b e n s w e r t ! Drittens<br />
g e h e n wir konform: D e r S o z i a l i s m u s<br />
w i r d n i e v e r w i r k l i c h t w e r d e n a u f<br />
d e n W e g e n , w i e i h n d i e S o z i a l d e m o -<br />
k r a t i e z u e r r e i c h e n s u c h t . Dazu<br />
kommt das Führertum <strong>und</strong> die daraus resultierende<br />
Autorität <strong>und</strong> Disziplin - alias<br />
Gesetzmäßigkeit — die u n s beide abstößt.<br />
W a s folgt daraus für Sie? Welche logische<br />
K o n s e q u e n z m ü s s e n Sie als denkender<br />
Mensch daraus ziehen? N i c h t , um sich<br />
die Lust an der Arbeit für Ihre Ideale vereckeln<br />
z u lassen, s o n d e r n s i c h a b s e i t s<br />
v o n d e r P a r t e i u n d i h r e n O r g a n e n<br />
z u s t e l l e n u n d d e n S o z i a l i s m u s<br />
n a c h e i g e n e m E r k e n n e n z u v e r -<br />
f e c h t e n u n d z u v e r b r e i t e n . Aus eigener<br />
Kraft, auf G r u n d bewußten Verständnisses.<br />
Das halten Sie auch für selbstverständlich?<br />
Nun wohl, ich akzeptiere das gern<br />
<strong>und</strong> habe nun nicht mehr nötig, für mein<br />
anarchistisches Ideal bei Ihnen P r o p a g a n d a<br />
z u machen. S i e s i n d d a d u r c h A n a r -<br />
c h i st, genau so gut, wie ich einer.<br />
Ü b e r die einzelnen Theorien u n d Probleme,<br />
die sie natürlich nicht alle mit einem<br />
Male in sich a u f g e n o m m e n <strong>und</strong> auf anar-<br />
chistische Weise verdaut haben, läßt sich<br />
wohl weiter diskutieren; aber klar müssen<br />
Sie sich schon jetzt darüber sein oder werden<br />
es bald w e r d e n — da Sie es heute<br />
noch abstreiten — : S i e s i n d A n a r c h i s t !<br />
Denken Sie nach, was dieses bedeutet.<br />
W a s heißt »Anarchist sein«, anderes,<br />
wie überzeugt sein, daß zur Höherkultivierung<br />
der Menschheit der heutige knechtseelige<br />
Staat kapitalistischer Interessen abgelöst<br />
werden m u ß durch eine freie harmonische<br />
Gesellschaft sozialistischer G r u p p e n ?<br />
W a s heißt Anarchist sein anders, wie diesem<br />
Ideale, dieser Ü b e r z e u g u n g entsprechend<br />
schon h e u t e handeln! Deshalb sind wir<br />
kommunistische Anarchisten auch Sozialisten;<br />
deshalb beugen wir uns auch heute nicht<br />
mehr solchen Führern <strong>und</strong> Parteien, welche<br />
glauben, dadurch, daß sie allein die berechtigte<br />
Form des Sozialismus erkannt<br />
zu haben vermeinen, alle anderen Meinungen<br />
unterdrücken zu dürfen. Die wesenlose<br />
Gottheit »Majorität«, die ihnen ihre Gesetze<br />
heiligen muß, wie es bis nun den Selbstherrschern<br />
das G o t t e s g n a d e n t u m getan hat,<br />
m u ß von allen wahren Sozialisten ebenso<br />
ü b e r w u n d e n werden, wie das Gottesgnadentum<br />
von den Demokraten. Eher ist an die<br />
Freiheit nicht zu denken. Unterwerfung,<br />
Unfreiheit bedingt j e d e s Gesetz. Untertänigkeit<br />
j e d e r Staat. Daher ist auch<br />
überall der Zwangsstaat etabliert, wo immer<br />
man sich auf das Gesetz stützt. Das aber<br />
tun die Sozialdemokraten, denen die Eierschalen<br />
ihrer Entwicklung aus staatlicher<br />
B e v o r m u n d u n g immer noch anhaften <strong>und</strong><br />
die sich nicht vorstellen können, daß eine<br />
Gesellschaft anders aufgebaut sein könnte,<br />
wie durch U n t e r o r d n u n g .<br />
Hier nun wirft der Anarchist sein Freiheitsideal<br />
in die Wagschale. Nur die »Freiheit»<br />
innerhalb der sozialistischen Gesellschaft<br />
kann die »Gleichheit« <strong>und</strong> »Brüderlichkeit«<br />
mit sich bringen. O h n e jene bleiben auch<br />
diese ein unerfüllbares Idol. Und diese<br />
Dreieinigkeit vertreten eigentlich a l l e S o z i a -<br />
l i s t e n , allerdings nicht alle Demokraten.<br />
Ist die Erfüllung aber von jenen zu erwarten,<br />
die heute nicht danach handeln?<br />
Nein, w e m es ernst ist mit seinen Idealen,<br />
der befleißigt sich, solche in die Tat umzusetzen;<br />
<strong>und</strong> nicht, sie zu verleugnen <strong>und</strong><br />
zu verleumden, wie es die Parlamentarier<br />
tagtäglich tun müssen <strong>und</strong> mit ihnen ihr<br />
verführter Anhang.<br />
Es beginnt die Erkenntnis des Anarchisten<br />
Wurzel zu fassen; e b e n s o wie jeder,<br />
der diese Wahrheiten sich zu eigen gemacht<br />
hat, mit vollem Recht als Anarchist<br />
a n g e s p r o c h e n werden kann. Doch immer<br />
wiederhole ich's: D a s H a n d e l n i n d e r<br />
L e b e n s f ü h r u n g m u ß mit der Theorie<br />
in Einklang gebracht werden. Indem sich<br />
der Anarchist im b e w u ß t e n geistigen G e g e n -<br />
satz stellt zu j e d e m Gesetz, zu j e d e r<br />
B e v o r m u n d u n g trägt er schon heute durch<br />
a n g e w a n d t e Brüderlichkeit seinen Teil Sozialismus<br />
in die G e g e n w a r t hinein. Auf<br />
diesem W e g e wird schließlich erreicht<br />
w e r d e n , was nur so erreicht werden kann<br />
u n d erreicht w e r d e n soll: die freie sozialistische<br />
Gesellschaft, das ist aber . . . d i e<br />
A n a r c h i e . Leo Lerche.<br />
Aufruf d e s K o m i t e e s d e r j u n g -<br />
slavischen Arbeiter zu Paris.<br />
V o r b e m e r k u n g . Nachfolgende Proklamation<br />
entnehmen wir unserem französischen Bruderblatt,<br />
dem H e r v e s c h e n „ S o z i a l e n K r i e g " . Dieses veröffentlicht<br />
dieselbe mit dem Hinweis auf die schändlichen<br />
Schürereien <strong>und</strong> Hetzereien von gewissen<br />
serbischen politischen Kreisen, deren Einfluß selbst<br />
tief in das serbische sozialdemokratische Parteileben<br />
dringt. Wir haben hier in Österreich eine ähnliche<br />
Haltung der Sozialdemokratie zu beobachten, die<br />
da glaubt, sich durch geistreich sein sollende, aber<br />
ziemlich patriotisch gefärbte Äußerungen über den<br />
Ernst der Situation. hinwegsetzen zu können. Die<br />
Proklamation unserer serbischen Kameraden ist der<br />
Gefühls- <strong>und</strong> Geisteszustand des serbischen Proletariats,<br />
dem auch wir vollständig im sozialistischen<br />
Brudersinn des Internationalismus gegenüberstehen<br />
müssen.
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Österreich.<br />
Wien. Konfisziert wurde an 6 oder 7 Stellen<br />
unsere letzte, dem Andenken des 11. Novembers<br />
gewidmete Nummer. — Am 9. Dezember findet in<br />
Wien die Schwurgerichtsverhandlung gegen unseren<br />
Genossen <strong>und</strong> Mitarbeiter Michael Loczynsky statt,<br />
wegen eines in Nr. 10 unseres Blattes veröffentlichten,<br />
durchaus objektiv gehaltenen Artikels über<br />
das Attentat auf Potocki.<br />
• Am 21. November fand in der Behausung<br />
des Genossen Ramus eine Hausdurchsuchung statt.<br />
Die Polizei fahndete nach dem „Offiziellen Protokoll<br />
des antimilitaristischen Kongresses". Daß die<br />
Herren eine kleine Europareise unternehmen müßten,<br />
um der Auflage habhaft zu werden, davon ahnte<br />
natürlich keiner etwas.<br />
* Am 24. November fand im Bezirksgericht III.<br />
die letzte Verhandlung über den Ehrenbeleidigungsprozeß<br />
statt, den der Gen. Haidt gegen den Sozialdemokraten<br />
Berndt angestrengt hatte. Durch allerlei<br />
Verdrehungen <strong>und</strong> Machinationen — die schon<br />
dadurch ersichtlich wurden, daß der Richter schließlich<br />
a l l e Beweisanträge der Berndtseite zurückwies<br />
- wurde Berndt freigesprochen. Gegen das Urteil<br />
wurde die Berufung eingelegt, <strong>und</strong> w i e d i e S a c h e<br />
t a t s ä c h l i c h s t e h t , das geht zur Genüge aus<br />
dem Umstand hervor, daß Rechtsanwalt Wahringer<br />
sich dem Rechtsanwalt Schäfer, Haidts Vertreter<br />
gegenüber bereits dahingehend geäußert hat, er sei<br />
zu einem Ausgleich bereit. Haidt hat in einer Zuschrift<br />
an seinen Advokaten einen solchen a b g e -<br />
l e h n t ; <strong>und</strong> schon in einigen Tagen werden die<br />
Genossen aus einem von Haidt herauszugebenden<br />
Flugblatt ersehen können, welche Ehrenmänner es<br />
sind, gegen die Haidt zu kämpfen hat. Hoffentlich<br />
werden die Herren dann nicht verfehlen, i h n zu<br />
klagen. In Kürze gesagt: Haidt ist das Opfer von<br />
Intriganten gewesen, vor dem Richterstuhl des Sozialismus<br />
haben sich seine Ankläger zu verkriechen:<br />
dies ist der Eindruck, den der Prozeß <strong>und</strong> dessen<br />
ausgebreitetes Beweismaterial auf uns gemacht haben.<br />
Deutschland.<br />
Schluß.<br />
Denn, was die Einzelnen in ihrer Rolle als<br />
Produzenten gewinnen, das verliert die Gesamtheit<br />
des Volkes, <strong>und</strong> vor allem des arbeitenden Volkes<br />
als Konsumenten. Wer zahlt alles, was der Unternehmer<br />
seinen Arbeitern zahlt? Der, der die Waren<br />
braucht: der Arbeiter als Konsument.<br />
Das alles ist nötig, solange wir im Kapitalismus<br />
tief darin sind. Aber es führt uns nicht heraus;<br />
es hält uns nur immer fester <strong>und</strong> fester darin.<br />
Was führt uns zum Sozialismus?<br />
Der Generalstreik!<br />
Aber ein Generalstreik ganz anderer Art, als<br />
er gewöhnlich im M<strong>und</strong> der Agitatoren <strong>und</strong> im<br />
Herzen der schnell hingerissenen Masse wohnt —<br />
die abends Beifall klatscht <strong>und</strong> morgens wieder<br />
zur Fabrik trottet.<br />
Der Generalstreik, der gewöhnlich gepredigt<br />
wird, heißt: mit verschränkten Armen abwarten,<br />
wer stärker ist <strong>und</strong> es Innger aushalten kann: die<br />
Arbeiter oder die Kapitalisten.<br />
Wir aber sagen offen: mehr <strong>und</strong> mehr kommt<br />
es durch die Organisationen der Unternehmer dahin,<br />
daß die Kapitalisten es aushalten können, die<br />
Arbeiter aber nicht. In den kleinen Streiks geht es<br />
so, in den großen geht es erst recht so, <strong>und</strong> im<br />
passiven Generalstreik würde es nicht anders gehen.<br />
Überlege sich's Jeder, mit offenen Augen! Es tut<br />
weh, die Augen weit aufzumachen <strong>und</strong> die Wahrheit<br />
zu sehen, wenn man sich an die Dämmerung<br />
<strong>und</strong> an die schlechte Beleuchtung gewöhnt hat,<br />
aber es tut verdammt not!<br />
Wir künden euch, ihr Arbeiter, den aktiven<br />
Generalstreik!<br />
Nicht von der Aktion ist hier die Rede, die<br />
wohl viele als notwendige Konsequenz des Generalstreiks<br />
gleich hinter oder neben ihm sehen. Wir<br />
fangen nicht mit dem Ende an, sondern mit dem<br />
Anfang. Es ist ja noch garnichts für den Sozialismus<br />
geschehen, es ist noch garnicht das geringste<br />
von ihm getan worden; wofür wollt ihr denn<br />
kämpfen <strong>und</strong> euch umbringen lassen? Für die<br />
Herrschaft irgendwelcher Führer, die dann wohl<br />
wissen werden, was sie wollen? was sie tun? wie<br />
sie eure Arbeit <strong>und</strong> die Verteilung der Güter, die<br />
ihr braucht, anordnen?<br />
Wäre es nicht besser, das alles wüßtet <strong>und</strong><br />
tätet ihr selber?<br />
Die Aktion der arbeitenden Menschen heißt<br />
Arbeit!<br />
Im aktiven Generalstreik sind die Arbeiter so<br />
weit, daß sie die Kapitalisten aushungern, weil sie<br />
nicht mehr für den Kapitalisten arbeiten, sondern<br />
für die eigenen Bedürfnisse.<br />
Ihr Kapitalisten, ihr habt Geld? ihr habt Papiere?<br />
ihr habt Maschinen, die leer stehen?<br />
Eßt sie auf, tauscht sie untereinander, verkauft<br />
sie euch gegenseitig, — macht, was ihr wollt! Oder<br />
arbeitet! arbeitet wie wir. Denn Arbeit könnt<br />
ihr von uns nicht mehr bekommen. Die brauchen<br />
wir für uns selbst. Wir haben sie nicht mehr im<br />
Rahmen eurer unsinnigen Wirtschaft, wir verwenden<br />
sie für die Organisation <strong>und</strong> Gemeinden des<br />
Sozialismus.<br />
So wird es einmal heißen. Dies <strong>und</strong> "nichts<br />
anderes kann der Anfang des Sozialismus sein.<br />
„O weh! das ist ein weiter <strong>Weg</strong>. Jetzt sollen<br />
wir erst anfangen? Und wir drehten, wir seien<br />
schon nahe am <strong>Ziel</strong>!"<br />
Wie könnt ihr nahe am <strong>Ziel</strong> sein, da ihr noch<br />
keinen einzigen Schritt getan habt?<br />
Begebt euch nur auf den <strong>Weg</strong>: <strong>und</strong> gleich<br />
sehet ihr das <strong>Ziel</strong> leibhaft vor euch.<br />
Der allererste Schritt ist: daß ihr die Wahrheit<br />
hört. Sie schmeckt bitter, wie manche Wurzel,<br />
aber wenn sie wächst, wird sie süße Früchte tragen.<br />
Dies ist unser erstes Wort an euch, aber ihr<br />
sollt mehr hören. Ganz genau soll euch gesagt<br />
werden, wie man aus dem Kapitalismus austritt,<br />
wie man ihm den Dienst verweigert, wie man den<br />
Sozialismus beginnt, wie man ihn fortführt, bis der<br />
Kapitalismus aus innerer Einsicht oder aber aus<br />
äußerer Notwendigkeit — zur Kapitulation gezwungen<br />
ist.<br />
Einstweilen habt ihr genug zu verdauen! Und<br />
wir haben kein Geld mehr, dieses erste Flugblatt<br />
noch länger zu machen.<br />
Wer mehr schon jetzt sich ausdenken will,<br />
lese die zwölf Artikel des Sozialistischen B<strong>und</strong>es.<br />
Wer mehr hören <strong>und</strong> mit Kameraden besprechen<br />
will, komme in eine Sitzung der Gruppen<br />
des Sozialistischen B<strong>und</strong>es.<br />
Wer sicher gehen will, daß er das nächste<br />
Flugblatt erhält, gebe seine Adresse an.<br />
Wer mithelfen will, beziehe Flugblätter von<br />
uns <strong>und</strong> verbreite sie.<br />
Wer ein Blatt regelmäßig lesen will, das an<br />
alle Fragen vom sozialistischen Standpunkt herantritt,<br />
der abonniere auf den „Sozialist".<br />
Wer im Zusammenhang lesen will, was uns<br />
Sozialismus heißt, wie uns die Menschengeschichte<br />
<strong>und</strong> unsere Zustände <strong>und</strong> der <strong>Weg</strong> zum Sozialismus<br />
aussieht, der lese die Broschüre, die unten angezeigt<br />
ist. Sie wird bald erscheinen.<br />
Und wer ganz <strong>und</strong> gar den <strong>Weg</strong> zum Sozialismus<br />
gehen will, der schließe sich dem Sozialistischen<br />
B<strong>und</strong>e an!" Gustav Landauer.<br />
— Im November erscheint im Verlag des<br />
Sozialistischen B<strong>und</strong>es: „Aufruf zum Sozialismus".<br />
Ein Vortrag von Gustav Landauer. Die Broschüre<br />
wird zirka 120 Seiten umfassen. Preis zirka<br />
40 Pfennig. Bestellungen an die unten folgende<br />
Adresse. — Über das Erscheinen der Zeitschrift<br />
„Der Sozialist" wird im nächsten Flugblatt Näheres<br />
bekannt gegeben. — Von diesem Flugblatt stehen<br />
kleinere Mengen unentgeltlich zur Verfügung. Bei<br />
größeren Bezügen kosten 1000 Stück 1 Mark. Näheres<br />
durch B. Burchardt, Berlin S. O. Naunvnstraße<br />
70, H. 2. Aufg.<br />
Frankreich.<br />
Der Mitte Oktober in Toulouse abgehaltene<br />
Kongreß der französischen sozialdemokratischen Partei<br />
hat für uns deshalb noch ein besonderes Interesse,<br />
weil sich in der erst seit wenigen Jahren geeinigten<br />
Partei immer mehr eine tiefgehende S p a l t u n g<br />
bemerkbar macht. Die früheren, mehr auf persönlichen<br />
Differenzen beruhenden Fraktionen fangen an,<br />
in einander zu verschmelzen <strong>und</strong> ihre Bedeutung<br />
zu verlieren; innerhalb der geeinigten Partei machen<br />
sich zwei viel wichtigere Richtungen bemerkbar: die<br />
parlamentarisch-reformistische <strong>und</strong> die revolutionäre<br />
Richtung.<br />
Für die Reformisten ist der Sozialismus vor<br />
allem ein „Ideal". Sie hoffen, daß sich derselbe einmal<br />
in einigen Jahrh<strong>und</strong>erten vielleicht verwirklichen<br />
wird. Das Wichtige für die Reformisten ist die Eroberung<br />
der politischen Macht. Sie machen das<br />
Volk auf die Fehler der heutigen Regierung aufmerksam,<br />
versuchen es von der Nützlichkeit verschiedener<br />
Reformen zu überzeugen <strong>und</strong> versichern<br />
ihm, daß sie geneigt sind, diese Reformen zu verwirklichen,<br />
wenn s i e an die Regierung kommen;<br />
aber sie hüten sich, dasselbe durch die Erziehung<br />
zur sozialen Revolution zu erschrecken <strong>und</strong> seine<br />
Vorurteile, welche noch fest eingewurzelt scheinen,<br />
wie z. B. das Gefühl des Patriotismus, der Gesetzesachtung<br />
etc., zu verletzen. Nicht nur, daß die Reformisten<br />
nicht für die kommende Empörung gegen die<br />
gegenwärtige Gesellschaftsordnung sind; nein, sie<br />
gebrauchen all ihre Autorität, welche sie als Abgeordnete<br />
oder volkstümliche Redner erobert haben,<br />
um die revolutionären Gefühle im Volke zu unterdrücken.<br />
Die revolutionäre Richtung der französischen<br />
Sozialdemokratie hingegen will aus der Partei vor<br />
allem eine Partei des unversöhnlichen Widerstandes<br />
g e g e n j e d e Regierung machen <strong>und</strong> die Massen<br />
zur Revolution vorbereiten. Sie will im Herzen des<br />
Volkes den Haß gegen die gegenwärtigen Einrichtungen,<br />
gegen die Bourgeoisie, die aus denselben<br />
ihre Existenz zieht, anfachen. Sic kümmert sich<br />
n i c h t um die Eroberung der „politischen Macht",<br />
denn sie weiß, wie in j e d e m Volksvertreter, sobald<br />
als gewählt, die Sorge um das allgemeine Wohl<br />
vor seinem persönlichen Interesse zurücktritt. Sie<br />
zieht es vor, dem Proletariat die Verbesserungen seiner<br />
Lage selber durch die direkte Aktion <strong>und</strong> sozialwirtschaftlichen<br />
Gewerkschaftskampf besorgen zu<br />
lassen; denn der Kampf, den es für dieselben<br />
k ä m p f t , wird den revolutionären Geist in ihm stärken,<br />
während es im Gegenteil zur Nachsicht <strong>und</strong><br />
sogar zur Dankbarkeit geneigt wird, wenn ihm dieselben<br />
Verbesserungen scheinbar von der Regierung<br />
geschenkt werden.<br />
Diese beiden Richtungen sind scharf geschieden,<br />
ja entgegengesetzt; leider hat auf dem Toulouser<br />
Kongresse nicht jede ihren Standpunkt festgestellt;<br />
es wurde einstimmig ein vermittelnder Antrag Jaures<br />
angenommen, in welchem dieser geschickt die<br />
Worte „Generalstreik" „Aufstand" <strong>und</strong> „direkte<br />
Aktion" unterzubringen wußte, der aber in Wahrheit<br />
ein geschmackloser, phrasenhafter, reformistischer<br />
Salat ist.<br />
Es steht zu hoffen, daß der Toulouser Kongreß<br />
den ersten Anstoß dazu geben wird, daß die revolutionären<br />
Genossen der sozialdemokratischen Partei<br />
endgültig den Rücken kehren <strong>und</strong> sich mit den<br />
kommunistischen Anarchisten <strong>und</strong> revolutionären<br />
Gewerkschaftskämpfern zum gemeinsamen Kampfe<br />
vereinigen werden. Darauf lassen wenigstens die<br />
folgenden charakteristischen Stellen aus dem Hervcschen<br />
„Guerre Soziale", dem Blatt samtlicher wirklich<br />
revolutionären Gruppierungen des Sozialismus<br />
schließen:<br />
„Es ist die Pflicht eines jeden revolutionär<br />
Empfindenden, jede Solidarität mit diesen Leuten<br />
abzubrechen. Sie sind unsere ärgsten Feinde, denn<br />
sie stehen mitten in unseren Reihen <strong>und</strong> hängen<br />
wie ein Gewicht an uns. Jene, die für die Revolution<br />
kämpfen <strong>und</strong> alles opfern wollen, können keine<br />
Zeile vom schmählichen Manifest der „geeinten"<br />
sozialistischen Partei annehmen. <strong>Unser</strong>e Genossen,<br />
die sich in diese Partei der politischen Strauchdiebe<br />
verirrt haben, müssen zum revolutionären Gedanken<br />
zurückkehren. Sie vergeuden dort ihre Kraft für den<br />
Profit von ein paar Leuten, die aus guten Abgeordnetendiäten<br />
ein herrliches Leben schlagen oder<br />
schlagen wollen. Es ist nicht genug, antiparlamentarisch<br />
gesinnt zu sein; man soll überhaupt an<br />
keiner Wahl teilnehmen. Jene, die das Zeug zum<br />
Propagandisten in sich haben, müssen den sozialen<br />
Klassenkampf in den Gewerkschaften predigen; dort<br />
ist ihr Platz. Versuchen wir nicht, neben diesen die<br />
sozialdemokratische Partei als Ansporn zu erhalten ;<br />
es wird innerhalb der Gewerkschaften selbst dann<br />
immer Leute geben, welche die Masse vorwärts<br />
treiben. Wir sagen nicht, wie es die Reformisten<br />
von uns behaupten, daß wir gegen alle Reformen<br />
sind. Die Angst der Bourgeoisie, hervorgerufen durch<br />
unsere revolutionäre Propaganda, läßt dieselben<br />
aber von selbst in unseren <strong>Weg</strong> fallen."<br />
Noch wichtiger sind die folgenden Zeilen, denn<br />
dieselben können als Ausspruch der ganzen Richtung<br />
gelten: „Jeder Revolutionär weiß, daß die allgemeine<br />
Arbeiterkonföderation die soziale Befreiung nicht<br />
durchführen kann, solange sie nur eine kleine Minderheit<br />
des Proletariats umfaßt. Aber gerade weil<br />
wir das fühlen <strong>und</strong> wissen, daß, wenn die Arbeiterkonföderation<br />
einmal nur annähernd die Mehrzahl<br />
der Arbeiter umfaßt, sie in der größten Gefahr<br />
schwebt, reformistisch zu werden, darum sind wir<br />
überzeugt, daß neben derselben eine rein revolutionäre<br />
Bewegung des Sozialismus notwendig ist,<br />
welche alle Kämpfer des Landes umfaßt. Da die<br />
sozialdemokratische Partei, d u r c h d e n P a r l a -<br />
m e n t a r i s m u s v e r g i f t e t , diese Partei nicht sein<br />
will oder nicht sein kann, so werden wir diese<br />
Bewegung schaffen, a u ß e r h a l b u n d s o g a r<br />
g e g e n d i e S o z i a l d e m o k r a t i e ! "<br />
Rumänien.<br />
Aus den bekannten europäischen Wirrnissen<br />
politischer Natur, die wir unter dem Namen der<br />
Balkanfrage zusammenfassen möchten, leuchtet uns<br />
e i n e Fackelträgerin entgegen, die in ihrer Lehre<br />
<strong>und</strong> Propaganda in der Tat die Lösung all der<br />
Probleme dieses Hexenkesselgetriebes zu bieten<br />
vermag: es ist dies die n e u g e g r ü n d e t e kommunistisch-anarchistische<br />
Zeitschrift „Vremurinoi"<br />
(„Neue Zeiten"), deren erste, in Bukarest (15Strada<br />
Elefterescu) erschienene Nummer uns vorliegt. Der<br />
aktuelle <strong>und</strong> dabei geistig hochstehende Inhalt machen<br />
das Blatt zu einer Kampfschrift erster Güte<br />
<strong>und</strong> freuen wir uns, angeben zu können, daß dasselbe,<br />
uns gemachten Mitteilungen zufolge, gleich<br />
auf den ersten Schlag eine Leserzirkulation von<br />
2000 Exemplaren erreicht hat.<br />
Glück auf, ihr wackeren Waffengefährten!<br />
Rußland.<br />
* Ein d e n k w ü r d i g e r P r o z e ß . Erst jetzt, nachdem<br />
Wochen auf Wochen verflossen sind, erfahren<br />
wir von dem am 17. September in W a r s c h a u<br />
sich abspielenden Prozeß gegen 24 unserer bestbekannten<br />
Genossen der russischen Bewegung. Für<br />
uns deutsche Anarchisten hat dieser Prozeß noch<br />
ein besonderes Interesse, denn in der Persönlichkeit<br />
des einen der Angeklagten erkennen wir einen unermüdlichen<br />
deutschen Kameraden, der durch tätige<br />
<strong>und</strong> oftmals tollkühne Kampfesgemeinschaft mit den<br />
russischen Kameraden das Solidaritätsgefühl, das<br />
internationale Band der Liebe, das sich um die<br />
idealen sozialistischen <strong>Ziel</strong>e der russischen Revolution<br />
schlingt, bekräftigt hat. Wir meinen den Berliner<br />
Kameraden Johannes Holzmann, besser bekannt unter<br />
dem Schriftstellerpseudonym S e n n a Hoy, der unter<br />
dem Namen August Waterloos in der russischen Revolution<br />
mitkämpfte <strong>und</strong> nun dem Unvermeidlichen<br />
verfiel: e r w u r d e i n z w e i g e g e n i h n g e -<br />
f ü h r t e n P r o z e s s e n z u i n s g e s a m t 1 5 J a h r e n<br />
K a t o r g a (Zwangsarbeit) v e r u r t e i l t !<br />
Bevor wir auf die Erläuterungen von diversen<br />
Einzelheiten eingehen, bieten wir die kurzgefaßten<br />
Berichte eines Warschauer Blattes, des „Przeglad P o .
anny", das sich natürlich hauptsächlich auf den Anklageakt<br />
stützt, über den Prozeß wieder. Die Berichte<br />
sind den drei Nummern vom 18, 19. <strong>und</strong> 20. September<br />
1908 entnommen.<br />
1. „Der Prozeß der Anarchisten-Kommunisten,<br />
Gestern begann vor dem Warschauer Kriegsgericht<br />
der große Prozeß der Anarchisten-Kommunisten.<br />
Vor dem Gericht erschienen 24 Personen:<br />
Jan Miakota, August Waterloos (bereits zu Zwangsarbeit<br />
verurteilt), Jeremias Rabinowicz, Benjamin<br />
Boksenbojm, Jankel Rybowski, Kolman Ostrowski,<br />
David Weitmann, Abram Frenkel, Chil Kramarz,<br />
Raphael Baranczuk (bereits zu Zwangsarbeit verurteilt),<br />
Lejb Weiner, Mordko Borkowski, Abel<br />
Kamieniecki, Wulf Ankermann, Mordko Monheid,<br />
Lejb Zuckerblatt, Hersch Turek, Schlama Mielnlk,<br />
Zyslo Kotowicz <strong>und</strong> die Frauen Ryfka Jaroszewska,<br />
Rosa Holtzniann, Beila Polak, Cipa Eisenberg, Eika<br />
Bruch."<br />
2. „Vorgestern, wie wir bereits erwähnt haben,<br />
fand sich auf der Tagesordnung des Warschauer Kriegsgerichtes<br />
der Prozeß von 14 Personen, welche der<br />
Zugehörigkeit zu den Anarchisten-Kommunisten<br />
angeklagt sind. Die Verhandlung dauerte den ganzen<br />
gestrigen Tag. Wir geben hier einige Einzelheiten,<br />
Ein Anarchist mit dem Pseudonym Seidel<br />
organisierte im Jahre 1903 in Bialystok eine Gesellschaft<br />
unter dem Namen „Anarchisten-Kommunisten".<br />
Die Gesellschaft stellte sich als <strong>Ziel</strong> den Umsturz<br />
der gegenwärtigen staatlichen <strong>und</strong> sozialen Ordnung<br />
in Rußland <strong>und</strong> deren Umwandlung in eine freie<br />
Kommune, gegründet auf den Prinzipien der Gleichheit,<br />
Brüderlichkeit <strong>und</strong> Freiheit. Die Gesellschaft<br />
hat ihre Existenz bekannt gemacht durch eine ganze<br />
Reihe von Expropriationen <strong>und</strong> Anschlägen auf<br />
hochgestellte Personen.<br />
Nachher bildeten sich in vielen Ortschaften<br />
Rußlands anarchistische Gruppen, deren Vorsteher<br />
nach dem Konstitutions-Manifeste eine Konferenz<br />
in Bialystok organisierten mit dem Zweck, ein allgemeines<br />
Freiheitsprogramm auszuarbeiten.<br />
Nach diesem Kongreß hat sich ein Teil der<br />
Anarchisten unter dem Namen „Schwarze Fahne"<br />
in Warschau niedergelassen. Von ihnen wurden Anfang<br />
Jänner 1906 elf verhaftet <strong>und</strong> für die von ihnen<br />
begangenen Verbrechen zum Tode verurteilt.<br />
Die nach diesem Pogrom gebliebenen Führer<br />
Karl, Jankel Litwak, Saschka Pariser, Saschka<br />
Schitomirer <strong>und</strong> andere organisierten wieder in<br />
Warschau eine Gruppe mit der Hilfe des aus Brüssel<br />
eingetroffenen Anarchisten Waterloos.<br />
Im Anfang des vorigen Jahres bek<strong>und</strong>eten die<br />
Anarchisten-Kommunisten ihre Tätigkeit durch einen<br />
Anfall auf den Kaufmann Steidynes, von dem sie<br />
1 000 Rubel verlangten.<br />
Der nach diesem Gelde gesendete Anarchist<br />
Aron Ratzker wurde tötlich verw<strong>und</strong>et.<br />
Nach diesem Ereignis reiste Waterloos nach<br />
Kowno, um für die Warschauer <strong>und</strong> Lodzer Gruppen<br />
Geld zu bekommen. Dieser Ausflug brachte<br />
der Organisation 500 Rubel. Den 15. Juni des vorigen<br />
Jahres überfielen vier Anarchisten das Haus<br />
des Kaufmanns Hedrych. Da Hedrych ihnen kein<br />
Geld geben wollte, haben ihn die Anarchisten getötet.<br />
Von den Teilnehmern dieses Überfalls wurden<br />
Baranczuk <strong>und</strong> Schansel Schafer vom Kriegsgericht<br />
verurteilt, der erste zu 10 Jahren Zwangsarbeit, der<br />
zweite zum Tode.<br />
Den 30. Juni des vorigen Jahres wurde bei<br />
Ozorkow (Kreis Leczyca) Waterloos verhaftet; er<br />
stand unter dem Verdacht, am Überfall auf das<br />
Haus von Rzechte teilgenommen zu haben. Er<br />
wurde dafür zu 12 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.<br />
Hierauf wurde eine ganze Reihe von Verhaftungen<br />
unternommen, deren Ergebnis der gegenwärtige<br />
Prozeß ist. Gestern wurde das Verhör geendet, das<br />
Urteil wird heute erwartet."<br />
3. „Gestern endlich, nach dreitägiger Verhandlung<br />
wurde das schwere Urteil gefällt im Prozeß<br />
der 24 Personen, welche angeklagt waren der Zugehörigkeit<br />
zur „ F ö d e r a t i o n d e r G r u p p e n<br />
d e r A n a r c h i s t e n - K o m m u n i s t e n P o l e n s<br />
u n d Li t t a u e n s " . August Waterloos (Johannes<br />
Holzmann) wurde zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.<br />
Jan Miakota, Raphael Baranczuk <strong>und</strong> Ryfka<br />
Jaroszewska zu 10 Jahren. Hersch Turek zu 8 Jahren.<br />
Kolman Ostrowski, Abram Frenkel <strong>und</strong> Eika<br />
Bruch zu 6 Jahren. Jeremias Rabinowicz, Benjamin<br />
Boksenbojm, David Weitmann, Chil Kramarz, Lejb<br />
Weiner, Mordko Borkowski, Mordko Monheid,<br />
Lejb Zuckerblatt. Schlama Mielnik, Zyslo Kotowicz,<br />
Rosa Holtzmann, Bdila Polak zu 4 Jahren Zwangs-<br />
, i : beit.<br />
Die übrigen drei Angeklagten wurden freigesprochen.<br />
Das Urteil wurde spät in der Nacht gefällt."<br />
Die obige Schilderung der Tätigkeit <strong>und</strong> <strong>Ziel</strong>e<br />
der Anarchisten ist ein Auszug aus den Anklageakten.<br />
Das ist leicht zu erkennen an dem vielen<br />
Blödsinn, der darin enthalten. Die Borniertheit dieser<br />
Kriegsrichter <strong>und</strong> Staatsanwälte ist unglaublich.<br />
Es sei noch bemerkt, daß die elf Anarchisten,<br />
von denen oben die Rede ist, nicht zum Tode verurteilt<br />
wurden, wie dort gesagt wird, sondern auf<br />
Befehl des Warschauer General-Gouverneurs, o h n e<br />
G e r i c h t s b e f e h l , in der Zitadelle erschossen<br />
wurden. Man konnte ihnen sehr wenig nachweisen<br />
<strong>und</strong> sogar das Kriegsgericht hätte sie freisprechen<br />
müssen, höchstens zu relativ kleinen Strafen verurteilen<br />
können. Dieses „administrative Verfahren"<br />
Skalons hat eine ungeheure Entrüstung hervorgerufen.<br />
Die Warschauer Rechtsanwälte haben nach<br />
Petersburg einen Protest geschickt, der aber natürlich<br />
ohne Erfolg blieb.<br />
Es ist dieser obigen Berichterstattung vor allen<br />
Dingen notwendig, etwas hinzuzufügen, was das<br />
angeführte russisch-polnische Blatt absichtlich verschweigt.<br />
Auf jener Zusammenkunft der anarchistischen<br />
Gruppen Rußlands, von der oben die Rede<br />
ist, befand sich auch ein Polizeispion namens<br />
A b r a i n G a w e n d a , auch unter dem Namen „Abrasche"<br />
bekannt. Es ist ganz gleichgültig, ob dieser<br />
Schuft schon damals ein Spitzel gewesen oder es<br />
erst nachher wurde; genug: ihm sind die Engros-<br />
Verhaftungen zu verdanken, die gleich nach der<br />
Konferenz erfolgten <strong>und</strong> denen unter anderen<br />
wackeren Kameraden auch Hoy zum Opfer fiel,<br />
gegen d e n vor Gericht dieser Gawenda auch aussagte<br />
<strong>und</strong> auf dessen Aussage hin seine <strong>und</strong> der<br />
übrigen so entsetzlich schwere Strafen erfolgten.<br />
Der Warschauer Prozeß war der e r s t e Anarchistenprozeß,<br />
der wenigstens unter Wahrung der<br />
Gerichtsformalitäten in Rußland stattgef<strong>und</strong>en hat.<br />
Sämtliche der Angeklagten haben einen bew<strong>und</strong>ernswürdigen<br />
Mut, eine hohe Charakterentschlossenheit<br />
an den Tag gelegt. Es stehen ihnen Jahre, Ewigkeiten<br />
des entsetzlichsten Jammers <strong>und</strong> Elends<br />
bevor; hoffen wir, daß sie sie er- <strong>und</strong> übertragen<br />
werden, daß sie sich von ihrem Geschick im Gefühl<br />
der hohen Sache, für die sie fielen, nicht zermalmen<br />
lassen. Sie alle sind unsere Brüder <strong>und</strong> Schwestern<br />
<strong>und</strong> um so empfindlicher wird dies, wenn man den<br />
einen oder anderen persönlich gekannt hat. Wir<br />
haben Holzmann gekannt <strong>und</strong> geliebt; es ist noch<br />
nicht die Zeit gekommen, wo man über sein ganzes<br />
Leben reden kann <strong>und</strong> bei der Spannkraft s e i n e s<br />
Geistes <strong>und</strong> seines Löwenmutes ist zu erwarten,<br />
daß er den Haß seiner Peiniger überleben <strong>und</strong> wohl<br />
auch noch einmal das Sonnenlicht der sogenannten<br />
Freiheit sehen wird. Eines aber kann <strong>und</strong> muß<br />
schon jetzt gesagt werden: mögen Jahrzehnte darüber<br />
hinwegrollen, ehe wir ihn wiedersehen werden,<br />
es ist gewiß: er wjrd sich stets treu bleiben; als<br />
einer, der in drei bis vier Jahren seiner anarchistischen<br />
Betätigung die Lebensfülle seines ganzen<br />
Seins der Idee hingab <strong>und</strong>, in rascher theoretischer<br />
Entwicklung, durch seine glänzenden Geistesgaben<br />
in den Stand gesetzt wurde, in all den paar Jahren<br />
seiner Aktivität im Kleinen wie im Großen so viel<br />
Niederes zu überdauern <strong>und</strong> zu überwinden, daß<br />
wir in fester Zuversicht erwarten dürfen, er werde<br />
auch unter diesem letzten Schlag nicht zusammenbrechen.<br />
<strong>Unser</strong>e brüderlichen Gefühle weilen in<br />
treuer Gesinnungssolidarität unwandelbar bei ihm<br />
<strong>und</strong> all den übrigen Großpersönlichkeiten, die für<br />
die Sache der russischen Revolution kämpften <strong>und</strong><br />
fielen!<br />
Vereinigte Staaten.<br />
<strong>Unser</strong>e — sozialdemokratische — Tagespresse<br />
hat es, ganz wie im Falle des französischen, revolutionären<br />
Gewerkschaftskongresses, wohl nicht für<br />
nötig, richtiger für zweckdienlich gef<strong>und</strong>en, auch<br />
nur mit einem einzigen Worte über die stattgehabten<br />
Verhandlungen des 4. Kongresses der „Industriearbeiterverbände<br />
der Welt", der einzigen, wirklich<br />
Sozialrevolutionären Gewerkschaftsbewegung Amerikas<br />
zu berichten, welcher Kongreß in Chicago<br />
stattfand.<br />
Wir können es mit freudiger Genugtuung konstatieren<br />
: N u n e r s t i s t d i e e c h t r e v o l u t i -<br />
o n ä r e G e w e r k s c h a f t s b e w e g u n g A m e r i k a s<br />
b e g r ü n d e t w o r d e n . Die Industrieverbände hatten<br />
bislang das gewöhnliche Unglück: sie rissen sich<br />
richtigerweise von allen Bourgeoisparteien <strong>und</strong> der<br />
verknöcherten alten Gewerkschaftsbewegung los,<br />
gründeten auf sozialistischer Gr<strong>und</strong>lage eine neue<br />
fielen a b e r nun in die Hände d e r verschiedenen<br />
sozialdemokratischen Politiker, die Wahlkapital aus<br />
der neuen Organisation zu schlagen versuchten. Oft<br />
in den letzten Jahren haben wir besorgten Blickes<br />
ihre schweren inneren Kämpfe ob dieses verhängnisvollen<br />
Umstandes verfolgt. Nun erst können wir<br />
freudig mitteilen: die 4. Konvention, die den marxistischen<br />
Sophisten Daniel de Leon endgültig abgeschüttelt<br />
hat, hat sich gleichzeitig als s o z i a l -<br />
revolutionäre Gewerkschaftsbewegung konstituiert<br />
<strong>und</strong> durch ihre neue Prinzipienerklärung als solche<br />
proklamiert.<br />
Reich <strong>und</strong> großartig an revolutionären Gedanken<br />
war dieser Kongreß, <strong>und</strong> wer die Rede des amerikanischen<br />
Kameraden V i n c e n t St. J o h n gelesen,<br />
darf wohl behaupten, ein Prachtstück revolutionärer<br />
Denkweise in sich aufgenommen zu haben. <strong>Unser</strong><br />
Raum gestattet es leider nicht, des näheren auf<br />
dieselbe einzugehen; doch es genügt, wenn wir in<br />
Nachfolgendem die neue Prinzipienerklärung im Auszug<br />
folgen lassen. Sie bildet das passendste Relief<br />
zu diesem Kongreß, auf dem r<strong>und</strong> 50000 Arbeiter<br />
Amerikas vertreten waren:<br />
„Die arbeitende <strong>und</strong> die arbeitgebende Klasse<br />
haben nichts miteinander gemein. Es kann keinen<br />
Frieden zwischen ihnen geben, so lange Hunger <strong>und</strong><br />
Not unter den Millionen des arbeitenden Volkes<br />
gef<strong>und</strong>en werden können <strong>und</strong> die Wenigen, die<br />
die Unternehmerklasse bilden, alle guten Lebensgüter<br />
eignen.<br />
Zwischen diesen beiden Klassen muß ein<br />
Kampf andauern, bis die Arbeiter sich als Klasse<br />
organisieren <strong>und</strong> Besitz ergreifen vom Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
Boden, der Produktionsmaschinerie <strong>und</strong> das Lohnsystem<br />
abschaffen . . .<br />
An die Stelle des konservativen Mottos: „Einen<br />
anständigen Lohn!" müssen d i e folgenden revolutionären<br />
Worte auf unser Banner gesetzt werden:<br />
„ A b s c h a f f u n g d e r L o h n s k l a v e r e i ! "<br />
Kein Wort mehr über die „Notwendigkeiten"<br />
der Politiker, der Arbeiterführer in dem Klassen-<br />
kampf des Proletariats! Schrecklich wie soll<br />
denn das arbeitende Volk sich jemals befreien<br />
können, wenn es nicht vorher die Führer in gut<br />
dotierte Positionen einsetzt?<br />
Über diese ihre frühere Anschauung sind die<br />
Industriearbeiterverbände nun endgültig hinweg geschritten<br />
<strong>und</strong> haben sie mit Recht als schwindelhaften<br />
Wahn überw<strong>und</strong>en. Ein großartiger Fortschritt;<br />
unsere Hoffnung hat uns also nicht betrogen :<br />
a u s s i c h h e r a u s h a t d i e s e A r b e i t e r -<br />
g r u p p i e r u n g n a c h v i e l e n i n n e r e n K ä m -<br />
p f e n d i e n ö t i g e K l a r h e i t u n d e c h t e s<br />
Z i e l b e w u ß t s e i n g e w o n n e n .<br />
Über den Ozean hinweg entbieten wir den<br />
kämpfenden Brüdern, deren <strong>Ziel</strong> vollständig das<br />
unsere ist, unsere Kampfessolidarität; wir heißen<br />
sie willkommen in der Internationale des revolutionären,<br />
sozialistischen Gewerkschaftskampfes, die<br />
nichts gemein hat mit jenen zentralistischen „Gewerkschaften",<br />
die da sind zwecks Aussöhnung<br />
zwischen Kapital <strong>und</strong> Arbeit.<br />
Schweiz.<br />
Ein gewisser W a l t e r G r s y w i n s k i machte<br />
als preußischer Polizeispion die anarchistische <strong>und</strong><br />
sozialistische Bewegung in Zürich <strong>und</strong> Deutschland<br />
unsicher. Er wurde von unseren Genossen Frick<br />
<strong>und</strong> Zorn bald entlarvt <strong>und</strong> suchte das Weite.<br />
Achtung vor diesem Schufterle, das sich gewöhnlich<br />
als besonders „radikaler" Revolutionär geriert!<br />
W e g e n Raummangel müssen die zahlreichen<br />
Versammlungsberichte, wie auch über<br />
unsere stattgehabte erhebende 11. Novemberfeier,<br />
sonstige lokale Gewerkschaftsangelegenheiten<br />
leider ausfallen.<br />
Quittung<br />
vom 21. September bis 21. November.<br />
Kaspr. K 18-79, Linke 6 - - , Marg. 1 0 - , Winitz<br />
5 - , Rajh. 4 - - , 5 - - , Nozar 3-40, 5 - , Mos. 380,<br />
4-90, 8 - - , Gschi. 807, Kohout 225, Uhls 2"40, Janat.<br />
3 80, 3 60, Hotm. 1 20, 1 32, - 78, Pan. 660, 3 20,<br />
Prok. 240, Zaj. 1 0 - , 2 - , 6 - , Pach. 680, 5 . - ,<br />
Rap. 3-20, Tret. 9 - - , Wed. 5 - - , 3 — , 3-50, 9 30,<br />
Ka$p. 2' , Schvab. 330, 2-80, 3-30, Kulle 13-—,<br />
2 0 ' - , Hör. 2-—, 4 - - , Bartols. 463, 4-73, Müller 324,<br />
Scham 814, Wana 6 - - , Petrisch 120, Wolf 6 - - ,<br />
Mitsch 120, Haiia — 50, Krase — 30, Schubert 1 0 - ,<br />
Taas 2'40, Schiel 4-27, Cerven. 1*20, Gonbos 280,<br />
Weber 6-—, Paul 4 - , Mertins 2-—, Krause -40,<br />
Dvorsch. 1-40, Schindel —'60. Schweber 14—,<br />
Müller C. 324, Borg. 240, Breuer 1755, L. Nadlei<br />
8 - - , Nemek 180, Hofer 240, Reine 120, Tokovi<br />
2 80, Smokovi P20, Tlögel 120, Nier. 14-20, Sudovsky<br />
2-40, Caris 4 - , Lederer 120, Szüs 5- ,<br />
Bader 6 — , Hamb. 3 - , Streithansl 240, DMe£ek<br />
4 - - , Duchac —-70, Ignotus 5 ' - , Bruner 2-20, Winarsky<br />
1 - , Platzer 1-70, Rihter 1-20, Tet. P40,<br />
Buchmann 370, Reisman P20, B. R. 1-70, Zelln. 120,<br />
Waldm. 1-20, Waldm. - - 5 0 , Reich 120.<br />
P r e ß f o n d . Winitz K 5 -<br />
—, Zivosk. 1-—, Sinitz.<br />
1—, Likir -20, Eje. 1—, Serbe 1 - , Sammlung V.<br />
54-—, Sammlung V. 3 — , Krajifek 1 —, Preßfond<br />
Nr. 1 14-80, Sch. 33-=-, XIV. 20- • , Liste 37 860,<br />
Friedeb. 2856, Kohoutek 26-60, P. 4 - , 1-90, 7-70,<br />
1 5 - - , Nemek N. 8 5 - - , 6-—, Streithansl 2-—, 2 — ,<br />
Chor 2 P - , 1 6 - , 11-—, 5-—, Loibl - 10, Kauka<br />
4-20, Sammlung XIV. 19-70, Duch Nr. 109 350,<br />
L. N. 301 150, Literatur 1 1 — , 8---, Rap. 1 0 " - , Magister<br />
1 0 - - , Rat. 2-—, Stein —-30, Engler - 2 0 ,<br />
Sinedio - 4 0 , M. S. P. - -20, F. B P , Michael<br />
-20^Fleischfarb -50.<br />
Gruppen <strong>und</strong> Versammlungen.<br />
Allgemeine Gewerkschafts-Föderation. V.,<br />
Einsiedlergasse 60. Jeden Sonntag 6 Uhr abends.<br />
Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />
Gasthaus, XIV., Märzstraße 33.<br />
Föderation der Bauarbeiter. X., Eugengasse<br />
9. Mitgiiederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />
jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />
Unabhängige Schuhmacher-Gewerkschaft.<br />
XiV.,Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />
M ä n n e r g e s a n g v e r e i n „Morgenröte". XIV.,<br />
Märzstraße 33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />
jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />
Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „Pokrok". XIV.,<br />
Hütteldorferstr. 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />
Freie Einkaufsgenossenschaft. Jeden Donnerstag<br />
abends bei Senior.<br />
F r e i d e n k e r - V e r e i n i g . „ F r e i e r G e d a n k e " .<br />
Öffentl. Vortrag jeden Freitag um 8 Uhr bei Schlor.<br />
W i e n , III. Die Kameraden dieses Bezirkes<br />
treffen sich jeden 2. Dienstag um 7.30 abends in<br />
Fuchs Restaurant, Rennweg 71.<br />
Graz. A r b e i t e r - B i l d u n g s - u n d U n -<br />
t e r s t ü t z u n g s - V e r e i n , versammelt sich jeden<br />
1. <strong>und</strong> 3. Samstag abends im Gasthaus „zur lustigen<br />
Röthelstoanerin" (v. Tiroler), Bahnhofgürtel<br />
Nr. 69.<br />
Marburg. A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />
versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong> 4. Mittwoch abends<br />
im Gasthaus „Zur goldenen Birn", Franz Josefstraße<br />
2.<br />
Klagenfurt. G r u p p e d e r u n a b h ä n g i -<br />
g e n S o z i a l i s t e n , versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong><br />
4. Samstag abends im Gasthaus „Zum Buchenwalde".<br />
Weijer. S o z i a l i s t i s c h e r B u n d , versammelt<br />
sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends in<br />
Bachbauers Gasthaus.
„Aber was geschieht mit den h<strong>und</strong>ert<br />
Millionen menschlichen Wesen, welche in<br />
allen Ländern wohnen <strong>und</strong> im Elend einfach<br />
verkommen? Sind das denn keine Menschen?<br />
Welchen Wert haben ihre Bürgerrechte für<br />
sie? Die Demokratie ist im Anfang des<br />
zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts also so schwach,<br />
daß sie ihren Willen nicht k<strong>und</strong>geben kann.<br />
Sind wir alle einfach Puppen, die man gegen<br />
alle ihre eigenen Interessen in abscheulichen<br />
Verrenkungen am Draht herumzerren kann?<br />
Ich habe ein großes <strong>und</strong> wachsendes<br />
Vertrauen in die natürliche Güte der großen<br />
Volksmassen. Ich glaube, daß die Arbeiterklassen<br />
auf der ganzen Welt mehr <strong>und</strong> mehr<br />
erkennen, daß sie gemeinsame <strong>und</strong> nicht<br />
entgegengesetzte Interessen haben. Ich glaube,<br />
daß das, was man die internationale Solidarität<br />
der Arbeiter nennt, berufen ist, einen<br />
ungeheuer wohltuenden Einfluß auf alle<br />
Völker der Erde auszuüben".<br />
Verfehltes Hoffen.<br />
W. Churchill.<br />
Nicht Orden, Tand <strong>und</strong> Flitter,<br />
Nicht Gold <strong>und</strong> schimmernd G'schmeid<br />
Hat mir mein rauhes Schicksal<br />
Auf meinen Pfad gestreut.<br />
Nein, arm <strong>und</strong> ruhlos schaffen<br />
Nur um das kärgliche Brot.<br />
Und eines bleibt mir eigen,<br />
Die ewig greuliche Not.<br />
Wie schwellten einst die Träume<br />
Von Glück <strong>und</strong> froher Lust,<br />
Von sonnenhellem Ruhme<br />
Die jugendliche Brust.<br />
Daß sie sich nicht erfüllen,<br />
Wird mir nun mählich klar<br />
Und andre <strong>Ziel</strong>e winken<br />
Dem armen Proletar.<br />
Die Arbeit ist geknechtet,<br />
Sie hungert <strong>und</strong> sie weint<br />
Und aller Orten lauert<br />
Ein übermächt'gei Feind.<br />
Um dieses Joch zu brechen<br />
Stell ich mich zum Gefecht<br />
Und kämpfe mit den Brüdern<br />
Für unser Menschenrecht.<br />
Anton Uhlschmidt-Schönbach.<br />
Krapotkins «Die g e g e n s e i t i g e<br />
Hilfe».*<br />
W e n n unsere G e g n e r gar keine Arg<br />
u m e n t e mehr gegen uns aufbringen können;<br />
w e n n wir ihnen bewiesen haben, daß der<br />
Anarchismus nicht aus Bombenattentaten,<br />
Morden <strong>und</strong> blutiger Verwirrung besteht;<br />
w e n n sie endlich einsehen müssen, daß die<br />
anarchistisch-kommunistische Gesellschaft,<br />
in welcher die Menschen in freier Vereinb<br />
a r u n g <strong>und</strong> brüderlichem Zusammenarbeiten<br />
leben — wo kein Mensch den anderen<br />
unterdrücken <strong>und</strong> ausbeuten kann — der<br />
einzige Zustand ist, welcher für a l l e<br />
Menschen Wohlstand, Freiheit <strong>und</strong> Glück<br />
schaffen kann; wenn nicht einmal s i e daran<br />
glauben oder es anderen einreden können,<br />
daß all dies gräßliche Elend u n d Leiden,<br />
in welchem neun Zehntel der Menschen<br />
hinsiechen, der Wille eines unendlich weisen,<br />
unendlich gerechten <strong>und</strong> guten Gottes ist;<br />
wenn, sage ich, sie mit nichts mehr die<br />
Notwendigkeit <strong>und</strong> Gerechtigkeit ihrer<br />
Herrschaft beweisen können — dann rufen<br />
sie die «Wissenschaft» zu Hilfe.<br />
«Alles, was ihr anstrebt, ist ja schließlich<br />
recht schön <strong>und</strong> gut», sagen sie, «aber<br />
leider ist es nur ein schöner T r a u m <strong>und</strong><br />
kann nie verwirklicht werden. Der Kampf<br />
u m s Dasein ist das unerbittliche <strong>und</strong> unveränderliche<br />
G r u n d g e s e t z der Natur; wir<br />
sehen, daß in jeder G a t t u n g von Tieren<br />
<strong>und</strong> Pflanzen mehr Individuen entstehen,<br />
als wie viele leben können, deshalb müssen<br />
* Das oben besprochene Buch ist in einer<br />
prächtigen Volksausgabe vom V e r l a g T h e o d o r<br />
T h o m a s , Leipzig, Talstraße 13 zum Preise von<br />
nur K 2-40 zu beziehen. Wir sind gern bereit, Bestellungen<br />
darauf zu übernehmen; in keiner Arbeiterbibliothek<br />
sollte es fehlen. — Bei dieser Gelegenheit<br />
verweisen wir auch auf eine weitere, sehr preiswürdige<br />
Volksausgabe: auf die „ M e m o i r e n e i n e s<br />
R e v o l u t i o n ä r s " , in denen unser großer Vorkämpfer<br />
Peter Krapotkin sein ereignisreiches, opfervolles<br />
Leben in überaus anziehender Klarheit schildert.<br />
Auch den Bezug dieses Werkes vermitteln wir;<br />
der Verlag R o b e r t L u t z in S t u t t g a r t verkauft<br />
dasselbe für K 4 80; das gleiche Werk kostete<br />
früher r<strong>und</strong> drei Mal so viel.
diese immerfort untereinander um ihre<br />
Existenz kämpfen; jene, die besser für diesen<br />
Kampf ausgerüstet sind, bleiben am Leben,<br />
die übrigen müssen zu G r u n d e g e h e n : der<br />
Stärkere frißt den Schwächeren <strong>und</strong> dieser<br />
wiederum den noch Schwächern, <strong>und</strong> so<br />
geht das durch die ganze Tierwelt. Auch<br />
der Mensch macht davon keine A u s n a h m e .<br />
I m Haushalt der Natur i s t n i c h t f ü r<br />
j e d e n der Tisch gedeckt, <strong>und</strong> darum ist<br />
es eine Naturnotwendigkeit, daß ein Teil<br />
der Menschen hungern <strong>und</strong> im Elend verk<br />
o m m e n muß, u n d daß die Menschen fortwährend<br />
erbittert gegen einander kämpfen<br />
müssen, daß die Sieger in diesem Kampf<br />
die Besiegten zu ihren Sklaven machen. Es<br />
war immer so <strong>und</strong> wird immer so bleiben.»<br />
Also die Reichen, die V o r n e h m e n , die<br />
Mitglieder der herrschenden Klasse; jene,<br />
die nicht fähig sind, irgend eine nützliche<br />
Arbeit zu verrichten; die nichts von dem,<br />
was sie nötig haben, selbst schaffen können,<br />
sondern in allem auf die Hilfe anderer angewiesen<br />
sind; die die Anforderungen <strong>und</strong><br />
Kämpfe des täglichen Lebens nicht einmal<br />
kennen, <strong>und</strong> die in Folge dessen körperlich<br />
<strong>und</strong> geistig verkümmert sind — d i e s e<br />
sind nach dieser angeblich «wissenschaftlichen»<br />
Theorie die S t ä r k e r e n . Und die<br />
Proletarier, die Arbeiter <strong>und</strong> Bauern, die<br />
durch ihre Arbeit a l l e i n alles zum Leben<br />
N o t w e n d i g e hervorbringen, deren Körperkraft,<br />
Handfertigkeit <strong>und</strong> Intelligenz u n s<br />
Proletarier selbst <strong>und</strong> die herrschenden<br />
«Stärkeren» (eigentlich fast nur diese!) mit<br />
Nahrung, Kleidung, O b d a c h versieht <strong>und</strong><br />
am Leben erhält — d i e s e sind die «Schwächeren»,<br />
die Besiegten im Kampf ums<br />
Dasein, <strong>und</strong> deshalb ist es ein unabänderliches<br />
Naturgesetz, daß sie von den Siegern<br />
den schmarotzenden, verweichlichten<br />
Nichtstuern — beherrscht <strong>und</strong> unterdrückt<br />
w e r d e n ! Nach dieser herrlichen Theorie ist<br />
es eine Naturnotwendigkeit, daß Millionen<br />
von Arbeiterfamilien hungern <strong>und</strong> in Lumpen<br />
g e h e n <strong>und</strong> elende Höhlen b e w o h n e n ,<br />
während sich in ihrer nächsten Nähe mit<br />
Lebensmitteln <strong>und</strong> Kleidern gefüllte Magazine<br />
<strong>und</strong> leer stehende, g e s u n d e W o h n u n g e n<br />
befinden; es ist notwendig, daß die Menschen<br />
in den Stein- <strong>und</strong> Ziegelhaufen der<br />
Großstädte zusammengepfercht leben, dieweil<br />
sich einige h<strong>und</strong>ert Schritte weiter<br />
riesige, offene, unbenutzte Landstriche ausd<br />
e h n e n ; es ist unvermeidlich, daß ein Teil<br />
der Arbeiter sich 10 <strong>und</strong> 12 oder 14 St<strong>und</strong>en<br />
täglich m ü h e n muß, während der<br />
andere Teil nicht arbeiten darf, wo doch<br />
g e n ü g e n d fruchtbares Land, W e r k z e u g e<br />
<strong>und</strong> Maschinen vorhanden sind, um allen<br />
g e s u n d e Arbeit <strong>und</strong> reichlichen Ertrag zu<br />
g e b e n ; es ist natürlich, daß Menschen, die<br />
kein anderes Interesse haben, als in friedlicher<br />
Arbeit <strong>und</strong> gutem Einvernehmen<br />
zusammen zu leben <strong>und</strong> von selbst einander<br />
nie ein Leid antun würden, einander von<br />
Zeit zu Zeit, auf den Befehl von «Vorgesetzten»<br />
mit raffiniert ausgearbeiteten Mordinstrumenten<br />
massenhaft niedermetzeln.<br />
G e g e n diese Behauptungen einer von<br />
der Bourgeoisie ausgehaltenen oder von<br />
vorurteilsvollen Gelehrten wie Virchow,<br />
Häckel usw. verkündeten Scheinwissenschaft<br />
können wir nur mit der auf vorurteilsfreier<br />
Beobachtung der Tatsachen <strong>und</strong> des Lebens<br />
beruhenden w a h r e n W i s s e n s c h a f t<br />
kämpfen. W e n n der Kampf zwischen Mensch<br />
<strong>und</strong> Mensch, die A u s b e u t u n g <strong>und</strong> Unterd<br />
r ü c k u n g eines Menschen durch den andern<br />
wirklich ein unabänderliches Naturgesetz<br />
wäre, dann wären unsere Bestrebungen<br />
nach brüderlichem Zusammenleben, nach<br />
Wohlstand <strong>und</strong> Freiheit für alle wirklich<br />
nur ein schöner Traum. W e n n wir aber<br />
das Leben betrachten, w i e e s w i r k l i c h<br />
i s t , dann sehen wir, daß in der ganzen<br />
Natur das Z u s a m m e n h a l t e n , die g e -<br />
g e n s e i t i g e H i l f e , die S o l i d a r i t ä t jene<br />
Kraft ist, welche das Bestehen <strong>und</strong> das<br />
Wohl aller lebenden W e s e n am meisten<br />
fördert. Krapotkin, der in seinem Leben<br />
von Kämpfen ergraute Vorkämpfer unserer<br />
anarchistisch - kommunistischen Bewegung,<br />
hat in seinem Buche «Gegenseitige Hilfe»,<br />
mit unermüdlichem Fleiß alle Beobachtungen<br />
<strong>und</strong> Erfahrungen gesammelt <strong>und</strong> geordnet,<br />
welche das allgemeine Vorhandensein dieser<br />
Solidarität im gesellschaftlichen Z u s a m m e n -<br />
leben der Tiere <strong>und</strong> Menschen beweisen;<br />
d a m i t h a t e r d i e n a t u r w i s s e n s c h a f t -<br />
l i c h e n G r u n d l a g e n d e s a n a r c h i s -<br />
t i s c h e n K o m m u n i s m u s n i e d e r g e l e g t<br />
u n d d e s s e n M ö g l i c h k e i t u n d N o t -<br />
w e n d i g k e i t f e s t g e s t e l l t .<br />
Den ersten Anstoß zu dieser Erkenntnis<br />
erhielt Krapotkin auf seinen Reisen durch<br />
das östliche Asien. In diesen riesigen, fast<br />
menschenleeren Landstrichen fesselten zwei<br />
Tatsachen des Tierlebens seine Aufmerksamkeit.<br />
Erstens der harte Kampf, mit welchem<br />
alle Tiere sich g e g e n das unerbittliche<br />
Klima schützen müssen <strong>und</strong> die Verwüstungen,<br />
welche Schneestürme, Kälte usw.<br />
in ihren Reihen anrichten; <strong>und</strong> zweitens,<br />
daß trotzdem nirgends der unerbittliche<br />
Kampf z w i s c h e n T i e r e n d e r s e l b e n<br />
G a t t u n g vorhanden ist, welchen die<br />
Naturforscher der alten Schule als a l l -<br />
g e m e i n e s Gesetz aufstellten. I m Gegenteil<br />
: Überall, wo die Verhältnisse es erlauben.
versammeln sich die Tiere zu gegenseitigem<br />
Schutz <strong>und</strong> Hilfe: die Wasservögel bilden<br />
an günstigen Stellen riesige Ansiedlungen,<br />
um ihre Brut in Sicherheit aufzuziehen <strong>und</strong><br />
um vereint in w ä r m e r e G e g e n d e n zu wand<br />
e r n ; die Hirsche scharen sich — vor einem<br />
Schneesturm fliehend — an einem ausgedehnten<br />
Landstrich am Ufer des Amur<br />
zusammen, um den Fluß an seiner schmälsten<br />
Stelle zu d u r c h s c h w i m m e n ; <strong>und</strong> in all<br />
diesen A n s a m m l u n g e n von Tieren sind die<br />
Beispiele von gegenseitiger Hilfe, von Zusammenwirken<br />
<strong>und</strong> Solidarität so auffällig,<br />
daß man nicht umhin kann, in diesen das<br />
stärkste Mittel zur Erhaltung, Fortpflanzung<br />
<strong>und</strong> Weiterentwicklung des Lebens zu sehen.<br />
Indem er die Frage weiter untersuchte,<br />
fand Krapotkin, daß bei allen Tierarten,<br />
welche in Vereinigungen leben, an Stelle<br />
des Kampfes zwischen den einzelnen Individuen<br />
das Z u s a m m e n w i r k e n <strong>und</strong> die gegenseitige<br />
Hilfe z u m vereinten Kampf gegen<br />
äußere Gefahren tritt; <strong>und</strong> daß dieses Zusammenhalten<br />
diesen Tierarten ein längeres<br />
<strong>und</strong> sorgenfreieres Leben, eine größere<br />
Sicherheit im Aufziehen ihrer N a c h k o m m e n<br />
gibt, was ihnen möglich macht, Erfahrungen<br />
zu sammeln, dieselben der nächsten Generation<br />
zu übermitteln <strong>und</strong> so die Intelligenz<br />
der Rasse immerfort zu steigern. Nicht die<br />
körperlich Stärksten, nicht einmal die Schlauesten<br />
sind die Sieger im «Kampf u m s<br />
Dasein», sondern jene, die sich in innigster<br />
Solidarität mit ihren G e n o s s e n <strong>und</strong> Gefährten<br />
verbinden k ö n n e n ; diese haben die größte<br />
Chance, den Gefahren zu entgehen, ihren<br />
Feinden zu trotzen <strong>und</strong> ihre G a t t u n g fortzupflanzen.<br />
Darum lebt der größte Teil der Tiere<br />
in Gesellschaftsverbänden b e i s a m m e n ; <strong>und</strong><br />
je ausgedehnter, je fester die Solidarität in<br />
diesen Verbänden ist, desto intelligenter,<br />
desto lebensfähiger ist die betreffende Trergattung.<br />
Diese Solidarität hat den Menschen<br />
zum stärksten aller Tiere gemacht, <strong>und</strong><br />
seine geistige Entwicklung ermöglicht;<br />
diese Solidarität ist es, welche sich, t r o t z<br />
d e n B e s t r e b u n g e n E i n z e l n e r , ü b e r<br />
d i e a n d e r e n z u herrschen, a n s t a t t<br />
m i t i h n e n zusammenzuwirken, immer<br />
wieder Bahn bricht u n d so das Bestehen,<br />
die Entwicklung der Menschheit sichert.<br />
Jene, die ihr eigenes Wohl durch Schädig<br />
u n g , Unterdrückung u n d A u s b e u t u n g anderer<br />
Menschen erreichen wollen <strong>und</strong> von<br />
denen ein Teil - die Herrschenden, die<br />
Reichen — auf Kosten der Übrigen ein<br />
schmarotzendes Wohlleben erreicht hat, sie<br />
sind der Krankheitsstoff in der Menschheit;<br />
die Rettung liegt darin, daß wir, die erkannt<br />
haben, daß ein brüderliches, herrschaftsloses<br />
Z u s a m m e n l e b e n der Menschen die G r u n d -<br />
b e d i n g u n g alles Wohlstandes <strong>und</strong> Glückes<br />
ist, die großen Massen der Menschheit von<br />
dieser Wahrheit überzeugen <strong>und</strong> u n s nicht<br />
länger der Autorität <strong>und</strong> der Macht jener<br />
unterwerfen.<br />
Krapotkins Buch bietet uns eine der<br />
stärksten Waffen dar, um unsere Überz<br />
e u g u n g <strong>und</strong> unsere Fähigkeit, a n d e r e zu<br />
überzeugen, zu festigen. Jeder Arbeiter<br />
müßte das Buch lesen! Leider sind heute<br />
sogar zwei Kronen oft mehr, als ein Proletarier<br />
für ein Buch ausgeben kann. Aber<br />
hier gilt es, das Prinzip der gegenseitigen<br />
Hilfe sofort im praktischen Leben zu betätigen<br />
! W e n n sich vier bis fünf Leute<br />
z u s a m m e n t u n , um das Buch zu kaufen <strong>und</strong><br />
es g e m e i n s a m oder einer nach d e m anderen<br />
zu lesen, so beträgt das Opfer dafür für<br />
jeden nur 48 bis 60 Heller; die kann jeder<br />
erschwingen, der den Willen hat, sich zu<br />
einem tüchtigen Kämpfer für seine eigene<br />
Befreiung auszubilden. Und indem wir so<br />
handeln, verwirklichen wir jn unserem Leben<br />
schon jetzt die Gr<strong>und</strong>lage, die Verheißung<br />
einer neuen, glücklichen Gesellschaft: N i c h t<br />
j e d e r f ü r s i c h a l l e i n , s o n d e r n a l l e<br />
z u s a m m e n — z u m W o h l e e i n e s<br />
j e d e n !<br />
Du sollst nicht ehebrechen!*<br />
Von P a s t o r E r n s t B a a r s , Vegesack.<br />
Text: Matth. 5, 2 7 - 3 2 .<br />
Freilich, die Ansicht, welche Jesus <strong>und</strong><br />
unter Berufung auf ihn die christliche<br />
Kirche bis auf den heutigen T a g vertritt,<br />
k ö n n e n wir, die wir ganz anders ü b e r die<br />
Dinge des Diesseits urteilen, nicht mehr<br />
als berechtigt anerkennen. Es soll freilich<br />
nicht geleugnet werden, daß die strenge<br />
Bekämpfung der Sinnlichkeit als Unsittlichkeit,<br />
angesichts der entsetzlichen Zustände,<br />
die zur Zeit der Entstehung d e s Christentums<br />
herrschten, erklärlich <strong>und</strong> berechtigt<br />
war. So lange man in d e m W e i b e den<br />
Teufel, in der Sinnlichkeit die Quelle aller<br />
S ü n d e sah, war es natürlich, die Ehe nur<br />
als Notbehelf <strong>und</strong> die Sinnlichkeit als<br />
solche für unheilig <strong>und</strong> verderblich anzusehen.<br />
»Es ist dir besser, daß eines deiner<br />
* Obiges ist ein Teil einer in der Kirche zu<br />
Vegesack gehaltenen, außerordentlich bemerkenswerten<br />
Predigt, die ein von Kirchendogmatik freier<br />
Geist vortrug. Wir entnehmen die Reproduktion<br />
der tapfer redigierten Zeitschrift „Die neue Generation",<br />
Publikationsorgan des B<strong>und</strong>es für Mutterschutz<br />
in Berlin, Jahrg. 4, Heft 10.
Glieder verloren gehe, als daß dein ganzer<br />
Leib in die Hölle komme«. Dies Wort<br />
zeigt uns, wie völlig anders wir denken<br />
als Jesus <strong>und</strong> die Christen der Vergangenheit.<br />
M a g auch ihre strenge, asketische<br />
Lebensauffassung anfangs eine Versittlichung<br />
der Menschheit erzeugt haben, die Folg<br />
e r u n g aus ihr, das Klosterleben <strong>und</strong> die<br />
e r z w u n g e n e Ehelosigkeit der Priester, hat<br />
bald g e n u g das g e n a u e Gegenteil gezeitigt.<br />
Die Verletzung der Keuschheitsgebote war<br />
eine alltägliche Erscheinung; aber der<br />
schlimmste Schade war, daß die Sinnlichkeit<br />
als solche gebrandmarkt wurde. Die<br />
Natur läßt sich ungestraft keine Vergewaltigung<br />
gefallen, alles Naturwidrige wird<br />
z u m Fluch. Wir wissen, wie es heute noch,<br />
auch bei den ernsten Menschen, fast unmöglich<br />
ist, über das Geschlechtsleben<br />
offen zu reden. Ja! das W o r t allein erregt<br />
Anstoß. Das aber ist unnatürlich <strong>und</strong> widergöttlich.<br />
Darum stellen wir die F o r d e r u n g<br />
auf: Ihr sollt auch hier das Natürliche mit<br />
reinen A u g e n betrachten <strong>und</strong> auch die<br />
S i n n l i c h k e i t a l s e i n e G o t t e s g a b e<br />
ansehen lernen. Sagt Jesus: »Wer ein Weib<br />
ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon<br />
die Ehe gebrochen in seinem Herzen«, so<br />
sagen wir: » D i e s i n n l i c h e L i e b e i s t<br />
a n u n d f ü r s i c h n i c h t s S c h ä n d -<br />
l i c h e s . Du sollst sie kennen <strong>und</strong> werten<br />
lernen als das gewaltigste Naturgebot, das<br />
erfüllt w e r d e n m u ß um der Erhaltung des<br />
Menschengeschlechts willen. Du sollst in<br />
der Liebe der Geschlechter zueinander nichts<br />
Unreines sehen, sondern den mächtigsten<br />
Naturtrieb, der nicht umsonst Dichter, Maler,<br />
Bildner <strong>und</strong> Meister der T ö n e zu ihren<br />
herrlichsten W e r k e n begeistert hat. D u<br />
s o l l s t d i r n i c h t v o n d e r K i r c h e<br />
v o r r e d e n l a s s e n , d a ß d a s W e i b<br />
d i e V e r s u c h u n g u n d L i e b e n u r<br />
d a n n e r l a u b t s e i , w e n n s i e s i c h<br />
d e n G e s e t z e n u n d d e r S i t t e b e u g t .<br />
I m G e g e n t e i l , G e s e t z u n d S i t t e<br />
h a b e n i h r z u g e h o r c h e n . D u sollst<br />
aber deine Sinnlichkeit, wie alle deine<br />
Triebe, unter deinen Willen b e u g e n <strong>und</strong><br />
sie dadurch veredeln. Du sollst deine<br />
Kinder rechtzeitig aufklären <strong>und</strong> ihnen das<br />
Verständnis für den heiligsten Trieb des<br />
Leibes <strong>und</strong> der Seele erschließen. Und<br />
sollst dich rein erhalten, ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> kraftvoll<br />
um deiner n e u g e b o r e n e n Kinder willen.<br />
Du sollst in der Liebe nicht einen tierischen<br />
G e n u ß , sondern ein hohes, heiliges Himmelsgeschenk<br />
sehen, du sollst sie <strong>und</strong> dich<br />
nicht erniedrigen, indem du Geschlechtsg<br />
e n u ß suchst o h n e Liebe. Sei es in der<br />
Ehe o d e r außerhalb der Ehe«. D e n n wir<br />
wollen nicht die Sinnlichkeit verachten <strong>und</strong><br />
dadurch in den Schmutz zerren, wie es<br />
heute trotz Christentum <strong>und</strong> in der Christenheit<br />
geschieht, sondern wir wollen sie<br />
veredeln <strong>und</strong> vertiefen um der k o m m e n d e n<br />
Menschheit willen.<br />
Wir wandeln auf der Höhe. Entsetzlich<br />
ist die Not da unten, <strong>und</strong> unsäglich schwer<br />
ist es, zu höheren A n s c h a u u n g e n <strong>und</strong> edlerer<br />
Sitte, zu w a h r e r Sittlichkeit zu gelangen.<br />
Es wird noch lange dauern, bis die<br />
Stimmen derer, die h ö h e r e <strong>Ziel</strong>e erkannt<br />
haben <strong>und</strong> weisen, auch nur gehört werden.<br />
Aber wir glauben doch, daß auch hier<br />
die Menschheit aufwärts strebt <strong>und</strong> dem<br />
<strong>Ziel</strong>e näher kommt.<br />
»Du sollst nicht ehebrechen« — sondern<br />
eine Ehe wollen, d i e o h n e G e -<br />
s e t z u n d Z w a n g s i c h a u f b a u t a u f<br />
w a h r e r L i e b e , <strong>und</strong> Mann <strong>und</strong> Weib<br />
adelt <strong>und</strong> stärkt für den Aufstieg zu reinerer,<br />
edlerer Menschlichkeit! Amen.<br />
Vom Büchertisch.<br />
Olga Saweljeff. V o n L i e b e u n d R a s s e n -<br />
v e r b e s s e r u n g ; e i n e T e n d e n z n o v e l l e a u s<br />
d e m R u s s i s c h e n . Verlag A. Plessner, Berlin N.<br />
N. 23 Brückenalle 21. Preis 20 Pf. Der Inhalt dieser<br />
launigen Schrift ist an Tendenz ein ganz anregend<br />
verfaßter Protest gegen jede dogmatisch aufgefaßte<br />
sexuelle Zuchtwahl, weist überdies dar, daß, wie<br />
mächtig der Verstand auf diesem Gebiete auch<br />
klügeln mag, er stets überboten wird von der<br />
stärkeren Stimme des Gefühls. Ein empfehlenswertes<br />
Schriftchen.<br />
Leon Holly. K e t t e n k l i r r e n ; G e d i c h t e<br />
u n d E r z ä h l u g e n a u s d e m G e f ä n g n i s . Verlag<br />
der „Tribüne", Berlin. Das Buch eines durch<br />
reichsdeutsche Justizbarbarei ins „Totenhaus" geworfenen<br />
Menschen. Aus diesen Seiten tönt wirklich<br />
echtes Kettenklirren entgegen, <strong>und</strong> es sind für jeden<br />
Eingeweihten gekannte Klänge <strong>und</strong> Worte, die er<br />
vernimmt. Manches in dem Buche ist künstlerisch<br />
gediegen, wenig mutet höchstens der oberflächlich<br />
scherzhafte Ton an, den es ganz zuletzt anschlägt<br />
<strong>und</strong> der kaum zu der zu Herzen gehenden Sprache<br />
eines Verkünders paßt, der in dem ersten Teil des<br />
Buches zu uns spricht. Durch die Fre<strong>und</strong>lichkeit<br />
des Verlegers sind wir in den Stand gesetzt, das<br />
Buch, das im Buchhandel Mk. 2 kostet, an unsere<br />
Leser für Mk. 1 abzugeben, <strong>und</strong> wir fordern sie auf,<br />
sich dieses Angebotes eifrig zu bedienen.<br />
T . Luitjes. A n a r c h i s m u s u n d G e n e r a l -<br />
s t r e i k . Verlag G. Rijnders, Amsterdam, Van der<br />
Hoopstraat 105. Holland. Einzelpreis 15 Pf. Bei<br />
Mehrbezug von mindestens 25 Stück K 2-70 ö. VV.<br />
Eine populäre Agitationsschrift.<br />
I n e n g l i s c h e r S p r a c h e :<br />
Emma Goldman. D e r P a t r i o t i s m u s a l s<br />
G e f a h r f ü r d i e F r e i h e i t . New-York; 210 East<br />
13. Str. 10 Cent.<br />
William C . Owen. A n a r c h i e u n d S o -<br />
z i a l i s m u s . 5 Cents. Im gleichen Verlag.
G e g e n d e n K r i e g !<br />
An die serbischen, österreichischen,<br />
ungarischen, tschechischen, bulgarischen<br />
<strong>und</strong> kroatischen K a m e r a d e n !<br />
An die Arbeiter aller Nationalitäten!<br />
Kameraden!<br />
Die Arbeiter haben überall dieselben<br />
Interessen. <strong>Unser</strong>e Pflicht als Arbeiter ist<br />
es, der Kapitalistenklasse zu beweisen, daß<br />
die Vorurteile der G r e n z e n zwischen den<br />
Völkern u n d den feindseligen Rassen verschwinden,<br />
um einem g r o ß e n <strong>und</strong> offenherzigen<br />
Gefühl des Internationalismus Platz<br />
zu machen.<br />
Wir müssen u n s vereinigen, um die<br />
lügnerischen Gerüchte der tendenziösen<br />
Nachrichten zu bekämpfen, welche von den<br />
Agenten der interessierten Staaten ausgestreut<br />
<strong>und</strong> von der ganzen Presse wiedergegeben<br />
werden.<br />
Darum haben die in Paris lebenden<br />
jungslavischen Kameraden es für n o t w e n d i g<br />
gef<strong>und</strong>en, die V e r l e u m d u n g e n zurückzuweisen,<br />
welche im Z u s a m m e n h a n g mit der<br />
bosnischen Frage behaupten, daß die serbischen<br />
A r b e i t e r den österreichischen<br />
A r b e i t e r n g e g e n ü b e r eine nationalistische<br />
<strong>und</strong> feindselige Stellung einnehmen.<br />
D a s i s t n i c h t w a h r !<br />
Die serbischen Arbeiter wissen, daß<br />
die Herrschaft der Regierungen, ob österreichisch<br />
o d e r serbisch, sie immer unter<br />
das Joch d e s Kapitalismus z w i n g e n wird.<br />
Die serbischen Arbeiter hegen gegen die<br />
österreichischen Arbeiter nur die innigsten<br />
Solidaritätsgefühle.<br />
Wir serbischen Arbeiter haben kein<br />
Interesse an irgend einem äußeren Krieg;<br />
unsere Zukunft liegt auf der Bahn der<br />
wirtschaftlichen Befreiung des Proletariats,<br />
die vollständige Freiheit aller Arbeiter ist<br />
<strong>und</strong> durch die s o z i a l e R e v o l u t i o n errungen<br />
w i r d ! Wir entbieten den österreichischen<br />
Sozialisten, Anarchisten <strong>und</strong> Arbeitern<br />
unsere herzlichsten B r u d e r g r ü ß e !<br />
Die „Balkanfrage" <strong>und</strong> das Proletariat.<br />
Die Gefahr eines Krieges schwebt<br />
gegenwärtig immerfort über uns. Von heut<br />
auf morgen können wir darauf gefaßt sein,<br />
daß tausende von g e s u n d e n Arbeiter- <strong>und</strong><br />
Bauernburschen nach Bosnien, Serbien oder<br />
Mazedonien geschickt werden, um dort<br />
andere Menschen zu töten <strong>und</strong> von denen<br />
getötet zu w e r d e n . W a s haben die ihnen<br />
getan? Nichts. W a r u m müssen sie auf diese<br />
schießen <strong>und</strong> ihr eigenes Leben aufs Spiel<br />
setzen? Keiner von ihnen weiß es. Der Dienst<br />
des Vaterlandes ruft sie, <strong>und</strong> sie glauben<br />
ihre Soldatenpflicht erfüllen zu müssen . . .<br />
Wir aber müssen der Sache doch ein<br />
wenig mehr auf den G r u n d gehen.<br />
In der Türkei herrschten bis vor kurzem<br />
der Sultan Abdul Hamid <strong>und</strong> seine<br />
Höflinge mit u n u m s c h r ä n k t e r Gewalt. Dazu<br />
brauchten sie viel Geld, <strong>und</strong> es fanden sich<br />
natürlich viele ausländische Geschäftsleute,<br />
denen es sehr a n g e n e h m war, ihnen dieses<br />
Geld auf h o h e Zinsen zu leihen. Die Zinsen<br />
wurden freilich aus den grausam erpreßten<br />
Steuern des arbeitenden Volkes aufgebracht.<br />
Um den pünktlichen E i n g a n g dieser Steuern<br />
<strong>und</strong> Bezahlung der Schulden zu überwachen,<br />
bildeten die Gläubiger ein Aufsichtskomitee<br />
über den Sultan <strong>und</strong> seine<br />
Verwaltung; <strong>und</strong> da es zum größten Teil<br />
englische <strong>und</strong> französische Geschäftsleute<br />
waren, so waren die Gesandten des englischen<br />
<strong>und</strong> französischen Staates die wichtigsten<br />
Mitglieder dieses Komitees.<br />
Diese Herren b e n a h m e n sich aber<br />
immer mehr als die wahren Beherrscher<br />
des Landes, u n d das w u r d e d e m Sultan<br />
schließlich u n b e q u e m . Er b e g a n n fre<strong>und</strong>schaftliche<br />
Beziehungen mit d e m Gesandten<br />
Deutschlands anzuknüpfen, der natürlich<br />
Beschützer <strong>und</strong> Vertreter der d e u t s c h e n<br />
Unternehmer u n d Geschäftsleute ist. Von<br />
dem Augenblick an bekamen die deutschen<br />
Fabrikanten die Bestellungen auf Kanonen,<br />
Lokomotiven usw. <strong>und</strong> die Eisenbahnkon-<br />
zessionen, welche bisher von englischen<br />
<strong>und</strong> teilweise französischen Geschäftshäusern<br />
ausgeführt w u r d e n . D a g e g e n empörte sich<br />
das patriotische Gefühl der englischen <strong>und</strong><br />
französischen Kapitalisten; daß der Sultan<br />
100.000 Armenier niedermetzeln ließ, konnte<br />
man ihm schließlich verzeihen; aber a n d e re<br />
Profit einsacken zu lassen das w a r zu<br />
viel! Sie verspürten plötzlich g r o ß e Sympatie<br />
mit der jungtürkischen Partei, welche,<br />
als Partei des Gr<strong>und</strong>besitzes <strong>und</strong> der radikalen<br />
Bourgeoisie, bestrebt war, in der<br />
Türkei eine liberale Verfassung, nach d e m<br />
Muster der übrigen »zivilisierten Staaten«<br />
E u r o p a s einzuführen. Die Jungtürken entfalteten<br />
plötzlich — von englischem <strong>und</strong><br />
französischem Gelde unterstützt — eine<br />
rührige P r o p a g a n d a vermittels g e h e i m e r<br />
Flugschriften <strong>und</strong> Zeitungen, Zur selben<br />
Zeit erhielten die türkischen T r u p p e n <strong>und</strong><br />
Offiziere ihre Besoldung immer regelmäßiger<br />
— das war das W e r k der englischen<br />
<strong>und</strong> französischen Offiziere, denen<br />
der Sultan die Ausbildung seiner Armee<br />
übertragen hatte. Das Militär hörte nun<br />
gern auf die V e r s p r e c h u n g e n der Jungtürken,<br />
die »bessere Zustände« schaffen<br />
sollten, <strong>und</strong> als dieselben die Revolution<br />
ausriefen, <strong>und</strong> die Beamten des Sultans<br />
verjagten, schloß die A r m e e sich dieser<br />
»Revolution« an. Der Sultan mußte eine<br />
Verfassung g e w ä h r e n <strong>und</strong> ein Parlament<br />
zusammenrufen, die Jungtürken kamen an<br />
die Regierung, <strong>und</strong> seitdem ist die Türkei<br />
ein ebenso »freies« Land, wie die übrigen<br />
europäischen Staaten. Die Gesandten von<br />
England <strong>und</strong> Frankreich waren glücklich<br />
darüber, denn sie sind ja Fre<strong>und</strong>e der Freiheit<br />
<strong>und</strong> des Fortschrittes — i h r e s G e -<br />
s c h ä f t e s , u n d sie haben es gern, w e n n<br />
die türkischen Bestellungen in ihren vaterländischen<br />
Fabriken g e m a c h t werden, statt<br />
in den deutschen <strong>und</strong> österreichischen.<br />
Umso unzufriedener ist aber der Gesandte<br />
von Deutschland; auch er ist zwar<br />
ein Fre<strong>und</strong> der konstitutionellen »Freiheit«,<br />
aber er befürchtet, daß unter der Regierung<br />
der Jungtürken die U n t e r n e h m e r Deutschlands<br />
<strong>und</strong> des ihm befre<strong>und</strong>eten Österreichs<br />
in der Türkei nicht m e h r so gute Geschäfte<br />
machen können, wie zu Zeiten ihres Schützlinges<br />
Abdul Hamid. W a s tun, um den<br />
Jungtürken eine Ohrfeige zu versetzen <strong>und</strong><br />
sie beim Volke mißliebig zu m a c h e n ?<br />
Österreich m u ß dem reichsdeutschen<br />
Staat <strong>und</strong> Kapital diesen Dienst erweisen;<br />
es annektiert Bosnien <strong>und</strong> H e r z e g o w i n a —<br />
welche, dem Namen nach türkisch, ihm<br />
tatsächlich schon seit 30 Jahren gehören —;<br />
<strong>und</strong> mit der Einwilligung Deutschlands <strong>und</strong><br />
Österreichs proklamiert der Fürst von Bulgarien<br />
die Unabhängigkeit dieses Landes<br />
von der Türkei — welche ebenfalls in Wirklichkeit<br />
schon seit 30 Jahren besteht, gleichzeitig<br />
auch sein Zarat. All dies genügt, daß<br />
die alttürkische. Partei wieder mächtig wird<br />
<strong>und</strong> nun den Jungtürken vorwerfen kann,<br />
daß diese durch die Revolution die Verletzung<br />
der Nationalehre <strong>und</strong> der Einheit<br />
des Vaterlandes herbeigeführt haben. Dadurch<br />
w e r d e n sie ihren Einfluß auf das<br />
sehr patriotisch gesinnte Volk verlieren;<br />
man wird sie von der Regierung wegjagen<br />
<strong>und</strong> die Macht des Sultans wieder herstellen,<br />
<strong>und</strong> dann w e r d e n die Bestellungen<br />
wieder den deutschen <strong>und</strong> österreichischen<br />
Geschäftsleuten zufließen!<br />
Das ist der Kern der ganzen gegenwärtigen<br />
»Balkanfrage«. Der Krieg ist ein<br />
Mittel dazu, u m z u entscheiden, w e l c h e<br />
G r u p p e v o n K a p i t a l i s t e n diesen oder<br />
jenen Markt ausschließlich beherrschen soll.<br />
Dazu gesellen sich auch nationale<br />
Streitigkeiten, die wir ebenfalls von nnserem<br />
Standpunkt Revue passieren lassen wollen.<br />
Vor vierh<strong>und</strong>ert Jahren sind die Türken<br />
von Asien h e r ü b e r g e k o m m e n <strong>und</strong> haben<br />
die Balkanländer erobert. Sie unterwarfen<br />
sich die reichen Großgr<strong>und</strong>besitzer <strong>und</strong><br />
Regierenden, welche das arbeitende Volk<br />
jener Länder ausbeuteten. D o c h sie assimi-<br />
lierten sich nicht mit den Eroberten, sondern<br />
sie unterhielten nur G o u v e r n e u r e <strong>und</strong><br />
T r u p p e n in den unterworfenen Provinzen<br />
— auf Kosten der Bauern <strong>und</strong> Arbeiter,<br />
natürlich. Aber auch die Griechen, Bulgaren,<br />
Serben etc., behielten ihre nationale<br />
Eigenart; die Reichen unter ihnen blieben<br />
reich, <strong>und</strong> die A r m e n blieben arm; nur<br />
daß die großen, gutbezahlten Beamtenstellen<br />
aus den H ä n d e n der reichen Griechen,<br />
Serben etc., in die H ä n d e der reichen<br />
Türken übergingen. Da kam am E n d e<br />
des XVIII. J a h r h u n d e r t s die g r o ß e französische<br />
Revolution, welche verkündete, daß<br />
jedes Volk das Recht habe, sich selbst zu<br />
regieren. Alle die Prinzen, G r o ß g r u n d -<br />
besitzer <strong>und</strong> reichen Geschäftsleute der<br />
unterworfenen Völkerschaften kamen dadurch<br />
auf den G e d a n k e n , daß, wenn sie<br />
die Türken verjagten, sie dadurch wieder<br />
das ausschließliche Recht zur A u s b e u t u n g<br />
der Bauern <strong>und</strong> Arbeiter ihres Landes, sowie<br />
zu den einträglichen Stellungen erhalten<br />
können. Mit der nicht eben uneigennützigen<br />
Hilfe der herrschenden Klassen einiger<br />
europäischen Staaten fingen sie an. den<br />
armen Teufeln ihrer Länder die S e g n u n g e n<br />
der »Freiheit« u n d nationalen U n a b h ä n g i g -<br />
keit anzupreisen; sie bewaffneten sie, <strong>und</strong><br />
die Türken w u r d e n aus beinahe allen ihren<br />
europäischen Besitzungen v e r d r ä n g t ; Griechenland,<br />
Serbien, Rumänien <strong>und</strong> nun zuletzt<br />
Bulgarien, w u r d e n zu «unabhängigen»<br />
Staaten. A b e r die Türkei hatte noch eine<br />
Provinz in E u r o p a behalten; es ist dies<br />
Mazedonien, welches zwischen Serbien,<br />
Bulgarien <strong>und</strong> Griechenland liegt, von den<br />
Nationen dieser drei Länder bevölkert ist<br />
<strong>und</strong> den großen Vorteil hat, einen guten<br />
Hafen am Mittelländischen Meer Salonichi<br />
— zu besitzen. D a h e r der erbitterte<br />
W e t t b e w e r b zwischen serbischen, bulgarischen<br />
<strong>und</strong> griechischen G r o ß g r u n d b e s i t z e r n<br />
<strong>und</strong> G r o ß h ä n d l e r n , den dieselben geschickt<br />
zum nationalen H a ß zwischen den betreffenden<br />
Völkern anfachen: w e l c h e r S t a a t<br />
s o l l n a c h V e r t r e i b u n g d e r T ü r k e n<br />
M a z e d o n i e n u n d S a l o n i c h i b e s i t z e n ?<br />
Die österreichische Regierung, als Beschützerin<br />
der Geschäftsinteressen der<br />
österreichischen u n d deutschen Fabrikanten<br />
<strong>und</strong> U n t e r n e h m e r sagt: »Keiner von euch<br />
soll es haben, denn ich b r a u c h e es selber.«<br />
Indem sie das von Serben b e w o h n t e Bosnien<br />
annektierte, n a h m sie nicht nur d e m<br />
serbischen Staate einen Teil seiner erhofften<br />
Untertanen weg, sondern machte auch einen<br />
großen Schritt weiter auf dem W e g e nach<br />
Salonichi. Daher die neuliche Entrüstung<br />
<strong>und</strong> die kriegerischen Erklärungen der serbischen<br />
Regierung.<br />
Natürlich wird das griechische, serbische<br />
<strong>und</strong> bulgarische a r b e i t e n d e V o l k (nicht<br />
die herrschenden Klassen) in seinen »unabhängigen«<br />
u n d erweiterten »Vaterländern«<br />
e b e n s o elend u n d versklavt sein, als unter<br />
jeder a n d e r e n Herrschaft. Es scheint aber,<br />
daß die Völker diese Wahrheit immer auf<br />
eigene Kosten lernen müssen, u n d daß das<br />
Bestreben nach nationaler Unabhängigkeit<br />
eine Stufe ist, die überschritten w e r d e n<br />
muß, um das Geistesniveau endgiltiger Befreiung<br />
vom Staat u n d Kapitalismus, die<br />
soziale Revolution zu erreichen. Die Mehrzahl<br />
der europäischen Völker hat auch die<br />
nationalen Kämpfe glücklicherweise schon<br />
hinter sich, nur Österreich-Ungarn als rückschrittliche<br />
Staaten haben sie noch reichlich.<br />
Aber w e n n sich die Leute in ihrer<br />
Unvernunft d e m n ä c h s t auf d e m Balkan die<br />
Köpfe einhauen wollen — w a s g e h t d a s<br />
u n s a n ? W e s h a l b sollen wir z u m Profit<br />
einiger Kapitalisten unsere Haut zu Markte<br />
tragen? Denn eins haben die obigen Ausführungen<br />
gezeigt: es handelt sich in der<br />
Balkanfrage um kein Ideal irgendwelcher<br />
Autonomie, sondern einzig <strong>und</strong> allein um<br />
das Profitinteresse des Geldsacks. M ö g e n<br />
sich die Kapitalisten darob gegenseitig die<br />
Schädel einrennen — uns ließe die ganze<br />
Sache kühl bis ans Herz hinan.
Der Antimilitarismus<br />
a l s<br />
T a k t i k d e s A n a r c h i s m u s .<br />
Von Pierre R a m u s .<br />
Referat, gehalten auf d e m internationalen Amsterdamer Kongreß<br />
der »Internationalen antimilitaristischen Assoziation«<br />
am 30. <strong>und</strong> 31. August 1007.<br />
(Fortsetzung.)<br />
Ganz abgesehen davon, daß diese Demagogen es doch sehr wohl<br />
wissen, daß sie nicht einmal mit dieser Farce <strong>und</strong> Travestierung jeder antimilitaristischen<br />
Gesetzesbeeinflussung durchdringen — ganz abgesehen davon,<br />
fragen wir: I s t d i e s A n t i m i l i t a r i s m u s ? Verlohnt es sich für den<br />
Proletarier, dafür zu kämpfen, sich ins Schlepptau solch rein bürgerlicher<br />
Forderungen nehmen zu lassen? Wir müssen dies auf das entschiedenste<br />
verneinen. Es ist dies dieselbe Politik, die die Staaten- <strong>und</strong> Friedensideologen<br />
im Haag betrieben haben, eine Politik, die nichts zu tun hat mit der<br />
Befreiung des Proletariats vom Moloch des Militarismus.<br />
Resümieren wir kurz: Der Antimilitarismus der Sozialdemokratie ist<br />
die Heuchelei ehrgeiziger Politiker. Seine Verwirklichung würde n i c h t Abschaffung<br />
des Militarismus bedeuten, sondern nur V e r ä n d e r u n g seiner<br />
Formen <strong>und</strong> seiner Funktionen; heute beherrscht <strong>und</strong> geleitet von einer „kapitalistischen<br />
Oligarchie", würde der Militarismus, im Triumphesfalle der Sozialdemokratie<br />
in Milizform verwandelt, beherrscht <strong>und</strong> dirigiert werden<br />
von den demokratisch-proletarischen Herrschern des sozialdemokratischen<br />
Zukunftsstaates, die an Unduldsamkeit, Herrschsucht <strong>und</strong> Willkür in nichts<br />
den gegenwärtig Herrschenden nachgeben <strong>und</strong> in deren demagogischen<br />
Händen der Militarismus ganz ebenso eine Macht zur Niederhaltung jeder<br />
ihrer Herrschaft gefährlichen Volksbewegung wäre, wie es auch gegenwärtig<br />
der Fall ist.<br />
IV.<br />
Der Antimilitarismus als Taktik des flnardiismus.<br />
Vorstehend haben wir die Gesamtidee <strong>und</strong> Bewegung des Antimilitarismus<br />
kennen gelernt. Wir haben die Entstehung des Militarismus, wie auch<br />
der ihm widerstrebenden Tendenzen historisch verfolgt, haben die verschiedenen<br />
taktischen Mittel aller Friedensbewegungen geprüft <strong>und</strong> gelangen nun<br />
zum Ergebnis unserer Untersuchung.<br />
Auf dem Höhepunkt dieser Untersuchung handelt es sich darum, zu<br />
zeigen, in wie ferne die Anarchisten den einzig logischen Antimilitarismus<br />
vertreten.<br />
Als Anarchisten fassen wir den Militarismus nicht auf als eine gesonderte<br />
Erscheinung des kapitalistisch-staatlichen Lebens, sondern als eine<br />
Hauptäußerung der Macht dieses ganzen Lebenssystemes der staatlichen <strong>und</strong><br />
wirtschaftlichen Gewalt überhaupt.* Wohl richten wir unsere Angriffe, wenn<br />
wir von antimilitaristischer Aktion reden, vornehmlich auf den Militarismus,<br />
aber nur, weil er in eklatantester Weise das Gewaltsprinzip als den Leitfaden<br />
aller Wesensbetätigungen dieser Gesellschaft aufwirft. Sonst ist unser<br />
Antimilitarismus ein u n i v e r s a l e r , ganz wie, um Proudhon zu paraphrasieren,<br />
unser Atheismus ein universaler ist. Als anarchistische Antimilitaristen<br />
bekämpfen wir nicht nur das stehende Heer, sondern auch die G e s a m t -<br />
organisation aller Gewaltsfunktionen. Wir bekämpfen einheitlich jede bewaffnete<br />
Gewalt im bestehenden Gesellschaftslebens, also auch die Gendarmerie,<br />
das stehende Heer von Gefängnis- <strong>und</strong> Zuchthauswächtern; wir bekämpfen<br />
das Heer der Justiz: Richter, Staatsanwälte, weil alle ihre Funktionen sich<br />
auf Gewalt — wir erinnern „nur" an den Scharfrichter! — begründen. Kurz,<br />
wir bekämpfen die G e s a m t o r g a n i s a t i o n d e s S t a a t e s , der j a<br />
nichts anderes ist, als das Haupt eines in Waffen starrenden Militarismus. —<br />
In diesem direkten, unmittelbaren Aufklärungskampfe <strong>und</strong> dessen rein geistiger<br />
Führung wider den Militarismus als Staat sind wir Anarchisten. So ist der<br />
Militarismus <strong>und</strong> seine Aktionen nicht nur im Sinne der Abwehr <strong>und</strong> des<br />
Angriffes zu erwägen, wie dies die Sozialdemokratie tut; vielmehr ist der<br />
Militarismus: — die heutige Gesellschaft <strong>und</strong> alle Prinzipien, auf denen sie fußt.<br />
Wir sind Antipatrioten, weil wir dje der Macht, der kriegerischen Willkür<br />
<strong>und</strong> Vergewaltigung entsprungenen, von den Nationalstaaten gezogenen<br />
Grenzen nicht anerkennen. Die jenseits der sog. Grenzen weilen <strong>und</strong> arbeitend<br />
sich ausbeuten lassen müssen, unterdrückt sind, sie alle sind unsere Brüder<br />
<strong>und</strong> Kampfesgefährten. Zwei Welten gibt es, <strong>und</strong> die sind unverrückbar <strong>und</strong><br />
unüberbrückbar von einander getrennt: die Welt der versklavten Arbeit <strong>und</strong><br />
jene der schmachvoll handelnden Tyrannei <strong>und</strong> Ausbeutung. <strong>Unser</strong> Vaterland<br />
ist nicht zu bezeichnen durch den Boden unserer Geburt, nicht durch den<br />
Namen eines Landes, nicht durch die Sprache einer Rasse oder Nation;<br />
unser Vaterland, um Dantes Worte zu erweitern, ist die Welt der Not, des<br />
Elends, des Leides. Sie zu erlösen von all dem Schändenden das auf ihr<br />
lastet, das ist der einzige Krieg, den wir anerkennen. Die Kampfesbegeisterung<br />
für ihn, das ist unser Patriotismus.<br />
* *<br />
*<br />
Wenn wir uns den praktischen Kampfesmitteln zuwenden, welche wir,<br />
die anarchistischen Antimilitaristen besitzen, fallen uns zwei Gruppierungen von<br />
Aktionstendenzen in die Augen. Es sind dies die Kampfesmittel, die einerseits<br />
die französische revolutionäre Gewerkschaftsbewegung anerkennt, die<br />
anderseits von der „Internationalen antimilitaristischen Assoziation" aufgestellt<br />
wurden. Es sind u. a. folgende:<br />
I . D i e T a k t i k d e r f r a n z ö s i s c h e n r e v o l u t i o n ä r e n G e -<br />
w e r k s c h a f t e n . Sie besteht:<br />
a) aus dem Soldatengroschen <strong>und</strong> allgemeiner Solidarität gegenüber<br />
Soldaten <strong>und</strong> Kameraden;<br />
b) aus öffentlicher Propaganda in aufrüttelndem Sinne.<br />
II. Die Resolutionsbeschlüsse der antimilitaristischen „Internationale";<br />
dieselben zerfallen in:<br />
* In s e i n e r B e s p r e c h u n g d e s L i e b k n e c h t s c l i e n B u c h e s ä u ß e r t sich Robert Michel (»Le<br />
M o u v e m e n t S o c i a l i s t e " , P a r i s , S e p t e m b e r 1907) gegen d e s Verfassers A n n a h m e , es g ä b e<br />
zweierlei Antimilitarismen, den a n a r c h i s t i s c h e n <strong>und</strong> den s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n . Michels b e -<br />
kämpft d i e s e n S t a n d p u n k t u n d s a g t : „Der Antimilitarismus ist wesentlich eine K a t e g o r i e d e s<br />
Arbeiters, p r o l e t a r i s c h , revolutionär, <strong>und</strong> hat w e d e r mit der m a r x i s t i s c h e n Doktrin n o c h mit<br />
den T h e o r i e n von B a k u n i n o d e r J e a n G r a v e irgend e t w a s zu t u n . Der A n t i m i l i t a r i s m u s ist<br />
einheitlich u n d unteilbar, g a n z wie . . . die revolutionäre A r b e i t e r b e w e g u n g . . ."<br />
D i e s e g a n z e Auffassung ist falsch.<br />
Der Antimilitarismus ist n i c h t s als e i n e s der vielen Mittel, e i n e der t a k t i s c h e n<br />
M e t h o d e n des sozialen Kampfes wider den Staat <strong>und</strong> Kapitalismus, oftmals a u c h ihren A u s -<br />
w ü c h s e n . Inwiefern sich sein Kampf m i t d e m W e s e n s e i n e r K a m p f e s o b j e k t e befaßt,<br />
in wie ferne er sie t h e o r e t i s c h v e r n e i n t <strong>und</strong> d u r c h H e r a n z i e h u n g d i v e r s e r sozialpolitischer<br />
T h e o r i e n z u e r s e t z e n g e n e i g t ist, i n e b e n d i e s e m M a ß e k a n n d e r A n t i m i l i t a r i s -<br />
m u s b ü r g e r l i c h , s o z i a l d e m o k r a t i s c h o d e r a n a r c h i s t i s c h s e i n . Der Antimilitarismus<br />
selbst ist T a k t i k , <strong>und</strong> j e d e T a k t i k d i e n t irgend einer T h e o r i e o d e r t h e o r e t i s c h e n<br />
G r u p p i e r u n g .<br />
a) Anerkennung der obigen Taktik der französischen Gewerkschaftsbewegung;<br />
b) die Resolution Girault (Frankreich), die die Gewerkschaften zur<br />
Gründung von Jugendorganisationen zum Zwecke antimilitaristischer Propaganda<br />
auffordert;<br />
c) der Generalstreik als Mittel der Bekämpfung des Krieges (Resolution<br />
des Genossen Nieuwenhuis);<br />
d) eine holländische Resolution, die die Propaganda unter den Müttern<br />
der heranwachsenden Jugend <strong>und</strong> unter dieser selbst fordert.*<br />
e) Persönliche Initiative <strong>und</strong> persönliches Gewissen.<br />
Wir sind uns klar darüber, daß es noch lange <strong>Weg</strong>e vor sich hat,<br />
bevor die Arbeiter aller Länder die Ideen des Antimilitarismus <strong>und</strong> Antipatriotismus,<br />
also des anarchistischen Antimilitarismus klar <strong>und</strong> konsequent<br />
durchgeführt akzeptieren werden. Noch herrscht eine große Unwissenheit in<br />
den Köpfen des Proletariats <strong>und</strong> die Feinde des Proletariats, wie auch seine<br />
f a l s c h e n Fre<strong>und</strong>e — vornehmlich die politischen Ehrgeizlinge der Sozialdemokratie<br />
sind keineswegs erpicht darauf, dem Proletariat tatsächlich<br />
reinen Wein einzuschänken. Aber dies darf uns weder als Einzelne noch als<br />
Gruppen irgendwie hindern, unserer Gewissenspflicht zu genügen <strong>und</strong> überall<br />
antimilitaristische Gr<strong>und</strong>sätze des Friedens <strong>und</strong> der Freiheit zu propagieren.<br />
» *<br />
*<br />
Im Frühjahr 1907 haben wir in London im Bezirk Woolwich eine<br />
eigenartige Situation gesehen. Die dortigen Arsenalarbeiter wurden langsam<br />
<strong>und</strong> allmählich vom englischen Staate entlassen, weil derselbe zu wenig<br />
Arbeit für sie hatte. Da beriefen die Arbeiter große Versammlungen ein <strong>und</strong><br />
wandten sich gegen die englische Regierung, laut protestierend wider die<br />
Entlassungen, mehr Arbeit verlangend. Diese Situation bringt uns Angesicht<br />
zu Angesicht mit einem hochwichtigen Problem:<br />
W i e haben sich die anarchistischen Antimilitaristen gegenüber jenen<br />
Arbeitern zu verhalten, welche Munition <strong>und</strong> sonstige Gebrauchsgegenstände<br />
des Mordes für einen Krieg produzieren?<br />
Die Beantwortung dieser Frage ist schwierig. Doch wir wollen nicht<br />
vergessen, daß der Krieg im modernen, gesellschaftlichen Leben auch deshalb<br />
so unendlich fest seine Wurzeln geschlagen hat, weil weite Kreise der<br />
Bevölkerung ein materielles, ein Bereicherungsinteresse an seiner Führung<br />
haben. Der Chauvinismus ist eben eine sehr einträgliche <strong>und</strong> rentable S a c f i e . . .<br />
Im vorliegenden Fall haben wir uns prinzipiell <strong>und</strong> außerparlamentarisch<br />
gegen die Steigerung der Produktion von Mord W e r k z e u g e n auszusprechen.<br />
Eine solche Steigerung der Produktion ist indirekt eine Provokation<br />
zum Kriege. Wir müssen den Arbeitern klar machen, eine wie gräßliche<br />
Schmach es für sie ist, sich in einem Produktionszweige zu betätigen, der<br />
augenscheinlich nur zwecks Hervorbringung derjenigen Werkzeuge besteht,<br />
die ihren Brüdern den Garaus bereiten sollen. Wir müssen vor einer solphen<br />
Prostitution der menschlichen Arbeitskraft, ihrer Verwendung für solche<br />
Zwecke Abscheu <strong>und</strong> Ekel erregen.<br />
* *<br />
*<br />
Es liegt in der Natur der Sache, die wir hier behandeln, daß wir nicht<br />
gewisse, fast unbegrenzte Maximen für die Aktion eines jeden antimilitaristisch<br />
sich betätigenden Anarchisten aufstellen können. Sowohl die Freiheit<br />
der individuellen Persönlichkeit, wie auch die Betätigungsart des Antimilitarismus<br />
schließen dies völlig aus. Mehr als jede andere Taktik des Massenkampfes<br />
hängt der Antimilitarismus in seiner Manifestation von der Einzelpersönlichkeit<br />
ab. Und deshalb bezwecken wir hier n i c h t , irgend welche<br />
Methoden vorzuschreiben; unser Zweck an dieser Stelle ist es, den Lesern<br />
a l l e r Geistesrichtungen des Antimilitarismus die Auffassungen <strong>und</strong> Überzeugungsmomente<br />
des anarchistischen Antimilitarismus vorzuführen, da wir<br />
der Meinung, daß der Antimilitarismus im Anarchismus eben die Krönung<br />
seines Geistesbaues, seines Idealzieles gewinnt.<br />
Diejenigen, die die Resolution des internationalen sozialdemokratischen<br />
Kongresses von Stuttgart über den Militarismus aufmerksam <strong>und</strong> als Kenner<br />
durchlesen, wissen, daß diese Resolution vollständig nichtssagend, hin- <strong>und</strong><br />
herschwankend ist. Die Worte Vollmars auf dem Essener Parteitage, daß es<br />
nicht wahr sei zu behaupten, diese Resolution gebe der deutschen Sozialdemokratie<br />
„einen ordentlichen Stoß nach vorwärts", sind vollkommen<br />
richtig. Und es wäre in der Tat mehr als naiv, anzunehmen, daß diese oder<br />
jene Redewendung der Resolution, s c h e i n b a r den „ordentlichen Stoß<br />
nach vorwärts" gibt, Vollmar Lügen strafe. Sie tut dies schon deshalb nicht,<br />
weil die Sozialdemokratie international in allen antimilitaristischen Fragen<br />
e i n e g a n z a n d e r e G e s i n n u n g hegt als die Anarchisten.<br />
Darauf kommt es an, darauf muß Nachdruck gelegt werden I<br />
Es liegt ein Stück tragischester Wahrheit darin, wenn Bebel, Vollmar<br />
usw., sich mit dem Hinweis wider den französischen Antimilitarismus<br />
kehren, daß er, in Deutschland propagiert, den „Ruin der deutschen Sozialdemokratie"<br />
brächte. Tragisch deshalb, weil damit in nackten, nüchternen<br />
Worten ausgesprochen ist, daß der deutsche „revolutionäre" Sozialismus,<br />
nach über 40jähriger Sozialdemokratie, noch in den Kinderschuhen steckt.<br />
Anders wäre kein Gesetz der Welt im Stande, ihn zu brechen, wenn er<br />
wirklich d r e i Millionen Anhänger besäße! Ist dies auch eine Selbsterkenntnis<br />
bedauernswerter Schwäche, so soll nicht übersehen werden, daß man<br />
der Sozialdemokratie zugestehen müßte, sie habe recht, wenn sie nicht Unmögliches<br />
unternehme <strong>und</strong> nur im Rahmen p r i n z i p i e l l e r G e s i n n u n g s -<br />
p r o p a g a n d a den Antimilitarismus konsequent propagiere. Man müßte<br />
ihr w e n n l e t z t e r e s z u t r ä f e — dies zugestehen, d a auch die<br />
reichsdeutschen Anarchisten, ganz wie wir in Österreich, in öffentlicher <strong>und</strong> jeder<br />
Aktivität n i c h t in der Weise vorgehen können, wie es die französischen<br />
Genossen tun.<br />
Hier aber liegt gerade der Kern der Frage, liegt die ganze Selbstverdammung<br />
der Sozialdemokratie <strong>und</strong> der taktische Unterschied zwischen<br />
ihrem <strong>und</strong> dem anarchistischen Antimilitarismus.<br />
Trotzdem man von einer Dreimillionenpartei zu a l l e r e r s t berechtigt<br />
wäre, T a t e n zu fordern, tun wir dies nicht, verdammen wir die Sozialdemokratie<br />
n i c h t wegen dieses Ausbleibens von Aktionen. Dieselben mögen<br />
<strong>und</strong> könnten später erfolgen. Aber die Sozialdemokratie verübt e i n e n H o c h -<br />
v e r r a t an den wahren Interessen des Proletariars vornehmlich deshalb,<br />
weil sie ihrer Aufgabe, e i n e p r i n z i p i e l l e r s c h ö p f e n d e G e -<br />
s i n n u n g s p r o p a g a n d a d e s A n t i m i l i t a r i s m u s z u b e t r e i b e n ,<br />
nicht nur n i c h t nachkommt, sondern jeden Versuch dazu zu verleumden,<br />
zu belächeln, zu erdrosseln sich anmaßt. Die Lehren ihrer neueren Werke<br />
über Staat, Militarismus, Soldateska, Krieg, Soldatenpflicht usw., sind rein<br />
bürgerlich-liberale <strong>und</strong> haben nichts mit dem Gr<strong>und</strong>prinzip des Sozialismus<br />
gemein; <strong>und</strong> wie ihre Lehren, so ihre Taten.<br />
H i e r k o m m e n w i r z u m f u n d a m e n t a l s t e n G e g e n s a t z<br />
z w i s c h e n s o z i a l d e m o k r a t i s c h e m u n d a n a r c h i s t i s c h e m<br />
A n t i m i l i t a r i s m u s . Leicht möglich, daß die Sozialdemokratie einmal in<br />
die Lage kommen könnte, einzelne Aktionsmittel des anarchistischen Antimilitarismus<br />
zu gebrauchen, wie sie auch den Generalstreik der Rüstkammer<br />
des Anarchismus entlehnte, als sie es tun mußte. Dadurch würde sie aber<br />
noch immer nicht identisch sein mit dem anarchistischen Antimilitarismus.<br />
* Um j e d e r W e i t s c h w e i f i g k e i t <strong>und</strong> W i e d e r h o l u n g v o r z u b e u g e n , verweisen wir den<br />
Leser z w e c k s weiterer Information auf d a s «Offizielle Protokoll des antimilitaristischen Kong<br />
r e s s e s " im „ W o h l s t a n d für Alle", J a h r g . 1.<br />
Schluß folgt.<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur W. Horatschek (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien, XIV.
Wien, 20. Dezember 1908. Einzelexemplar 10 h. Jahrg. 1. Nr. 24.<br />
Der „W. f. A." erscheint jeden 1. <strong>und</strong><br />
3. Sonntag im Monat. Redaktion <strong>und</strong><br />
Expedition Wien, XII. Herthergasse 12,<br />
I./17. — Gelder sind zu senden an<br />
Marie Schindelar, Wien, XII., Herthergasse<br />
12, I./17.<br />
Losung.<br />
Nicht Gott, noch Herr,<br />
Noch Kindergeplärr!<br />
Nur Feuer, nur Glut<br />
Und unsterblicher Mut,<br />
Der stürmisch <strong>und</strong> dreist<br />
Sein Herz, seinen Geist<br />
Bis ans Ende verficht,<br />
Nur lebendiges Licht!<br />
Nur lebendige Kraft,<br />
Die ihr Helliges schafft,<br />
Die kein Teufel, kein Tod,<br />
Keine Hölle bedroht,<br />
Kein Himmel erkauft<br />
Und kein Wässerchen tauft,<br />
Die freiheitsbeschwingt<br />
Zur Sonne sich ringt<br />
Und der Schwächlichkeit Nacht<br />
Als das Böse verlacht!<br />
Theo Heermann-Moskau.<br />
Weihnachten.<br />
„Ehre sei Gott in der Höhe <strong>und</strong><br />
Friede auf Erden den Menschen, die<br />
eines guten Willens sind!"<br />
Von tausend Kanzeln ertönt es <strong>und</strong><br />
lieblicher Glockenton verkündet es auf Erden,<br />
das weihevolle Lied der Freude über<br />
des Erlösers Geburt. Es ist Weihnachten,<br />
die Weihenacht — Friedensengel durchrauschen<br />
die Lüfte, Glücksgefühl durchströmt<br />
alle Menschen, «die guten Willens<br />
sind».<br />
O schöner, seliger Kinderglaube glücklicher<br />
Tage, warum ließest du dich durch<br />
das garstige Leben Lügen strafen? Das<br />
ist es ja, das herrliche, das segnende Glück,<br />
der gedeihende Wohlstand für Alle, der<br />
nur Frieden kennt <strong>und</strong> Alle durch ihr Glück<br />
guten Willens sein läßt — was wir wollen,<br />
was von allen Religionen seit 2 0 0 0 Jahren<br />
verheißen <strong>und</strong> gepredigt wird, was aber<br />
gerade die Prediger immer <strong>und</strong> immer<br />
wieder zerstören.<br />
Ein Herodes lebt, der uns allen nach<br />
dem Leben trachtet. Seine Schriftgelehrten<br />
vergiften unser Leben <strong>und</strong> lehren das Unrecht<br />
als Recht, seine Hohenpriester sind<br />
die Mammonsknechte, die das Schöne, das<br />
Heil Aller mit ruchlosen Händen antasten<br />
<strong>und</strong> grausam-gierig auf den Altar der Ausbeutung<br />
schleppen. So lange Herodes, die<br />
heutige Gesellschaft der Tyrannei <strong>und</strong> der<br />
Massennot lebt, so lange ihre Priester sich<br />
sättigen dürfen an dem, was sie den Armen<br />
<strong>und</strong> Bedrückten genommen <strong>und</strong> i h r e n<br />
Einzelpalast des Glückes auf dem tausendfältigen<br />
Jammer der breiten Volksschichten<br />
errichten — gibt es <strong>und</strong> wird es keine<br />
Weihnachten geben, ist es Lüge zu behaupten,<br />
daß es je Weihnachten gab, denn<br />
noch hat Herodes die Menschen nie verlassen<br />
<strong>und</strong> von ihrer Peinigung nie Abstand<br />
genommen.<br />
Ihr Toren! Seht ihr denn nicht, wie<br />
ihr Gotteslästerung begeht, wenn ihr heute,<br />
in den Tagen, wo ganz Europa in Waffenrüstung<br />
starrt <strong>und</strong> qualmige Flammen im<br />
Balkan aufsteigen, die gierig nach dem<br />
Pulverfaß des Massenmordes, des Krieges<br />
lecken, wenn ihr in solchen Zeitepochen<br />
Weihnacht feiert? Wo weilt der Friede? Vielleicht<br />
auf der Mündung einer Kanone, oder<br />
im Luftschiff, eurer neuesten Erfindung,<br />
dessen ausgehöhlter Bauch voll ist von<br />
Handgranaten <strong>und</strong> Wurfbomben, um von<br />
«der Höhe» aus, dort wo Gott Ehre sei,<br />
„In Erwägung, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse selbst erobert werden muss ; dass<br />
der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte <strong>und</strong><br />
Monopole ist, sondern für gleiche Rechte <strong>und</strong> Pflichten <strong>und</strong> für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;<br />
dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneignern der Arbeitsmittel,<br />
d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zu Gr<strong>und</strong>e liegt —<br />
dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung <strong>und</strong> der politischen Abhängigkeit;<br />
dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der grosse Endzweck ist, dem<br />
jede politische Bewegung unterzuordnen ist . . ."<br />
besser töten zu können. Wo weilt das<br />
Glück, das Wohlgedeihen Aller, das der<br />
Friede, wäre er nur da, im Gefolge hätte?<br />
Schlagen wir eine Zeitung auf: sie<br />
wimmelt von Berichten über Arbeitslosigkeit,<br />
Selbstmorde wegen unverschuldeter Not,<br />
Trauer <strong>und</strong> Wehmut über ausgestandenes<br />
Unrecht, erschütternden Klagen über hohe<br />
Preise <strong>und</strong> niedrige Löhne. Und ihr glaubt<br />
wirklich, daß wir erlöst <strong>und</strong> daß die hellleuchtenden<br />
Kerzenstümpchen auf ewig<br />
grünem Tannenbaum in dieser einen Nacht<br />
diese harten, traurigen Tatsachen des Tages<br />
überstrahlen können? Nein, täuschet euch<br />
nicht — es gibt keine weihevolle Nacht . .<br />
Blickt auf die lange Schar derer, die<br />
müde <strong>und</strong> beladen durchs Leben schreiten.<br />
Durch euch, ihr Zerstörer der wahren Weihnacht,<br />
der noch weit weihevollere Tage<br />
folgen könnten. Fühlt ihr eure Verantwortung,<br />
wenn h<strong>und</strong>erte von Männern <strong>und</strong><br />
Frauen just in der Weihnacht frostzitternd<br />
in kalten Räumen hocken <strong>und</strong> mit dem<br />
Rest entschwindender Körperwärme ihre<br />
Kleinen dürftig stillen? Ihr, nur ihr, Herodesmenschen,<br />
seid die Schuldigen! Seht die<br />
Millionen derer, die sorgen- <strong>und</strong> kummervoll<br />
durch das Leben schleichen, Nichtshaber,<br />
denen nie der Friede des Besitzes<br />
gegönnt <strong>und</strong> die Ruhe des Genusses geboten.<br />
Erkennt eure Schuld in dieser Nacht<br />
eurer Weihe!<br />
Glockengeklingel <strong>und</strong> Menschenstöhnen<br />
— welch weihevolle Musik in dieser Nacht<br />
des Erdenfriedens . . .<br />
Weihnacht! Ja, es wird einmal Weihnacht<br />
weiden. Und a l l e Menschen werden<br />
sich gegenseitig beschenken im gemeinsamen<br />
Eigentumsgefühl, daß alle Güter der<br />
Erde allen gehören <strong>und</strong> sie auf Geschenke<br />
nicht mehr angewiesen sind. Diese Welt<br />
mit all ihrem Reichtum ist erzeugt worden<br />
von der Urkraft menschlicher Arbeit, ihr<br />
muß sie wieder gehören. Und alles, was<br />
dem im <strong>Weg</strong>e steht, muß fallen laut den<br />
Jesu Worten: « S c h a f f e t d i e s e s h i n -<br />
w e g v o n h i e r u n d m a c h e t d a s<br />
H a u s m e i n e s V a t e r s n i c h t z u<br />
e i n e m H a n d e l s h a u s e .<br />
Die Trümmer des Jahrmarkts unseres<br />
Lebens, aller geheiligten Einrichtungen unseres<br />
gesellschaftlichen Heute werden, müssen<br />
untergehen, auf daß dereinst ein<br />
Morgen komme, der in gebenedeiter Erlöserliebe<br />
einer Weihenacht entstieg, jener<br />
Weihenacht, die uns gebar das Ende jeder<br />
Bevorzugung des einen Menschen vor den<br />
anderen <strong>und</strong> die heilige Erlösung des<br />
Friedens, der Gleichheit <strong>und</strong> wahren Brüderlichkeit<br />
verwirklicht.<br />
Freigesprochen.<br />
Wie ein Keulenschlag traf es die Hyäne<br />
in Menschengestalt . . . Mitten ins Herz<br />
hinein. Das hatte sie nicht erwartet, daß es<br />
in Wien noch schlichte Bürger gab, die<br />
auch Gegnern gegenüber den Sinn für<br />
Wahrheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit nicht eingebüßt<br />
haben <strong>und</strong> sich durch die Hirngespinste<br />
juristischer Schablonenverdrehung <strong>und</strong> -Entstellung<br />
in ihrem ges<strong>und</strong>en Menschenverstand<br />
nicht hintergehen lassen . . . Und<br />
Abonnementspreis mit freier Postzusendung<br />
beträgt ganzjährig K 2-40;<br />
halbjährig K 1-20. Für die Länder<br />
des Weltpostvereins ganzjährig Fr.<br />
3*50, halbjährig Fr. 1 7 5 , vierteljährig<br />
90 Cent.<br />
wir sagen es laut, auf daß es alle hören<br />
mögen: Wir sind stolz darauf, daß es noch<br />
Ehrenmänner gibt, die das Prinzip aufrechter<br />
Gewissens- <strong>und</strong> Druckfreiheit achten<br />
<strong>und</strong> wenigstens in diesem einen Fall gewahrt<br />
haben. —<br />
Am 9. Dezember, dreih<strong>und</strong>ert Jahre<br />
nachdem ein Mann, John Milton, geboren<br />
wurde, der als einer der ersten Zeitgenossen<br />
der großen englischen Revolution seine<br />
ganze Persönlichkeitserkenntnis in den<br />
Dienst des Kampfes um Menschenrecht<br />
<strong>und</strong> Meinungsfreiheit stellte, gerade dreih<strong>und</strong>ert<br />
Jahre darnach stand unser Kamerad<br />
Michael Lozynskyj, ein in ruthenischen<br />
literarischen Kreisen sehr geschätzter junger<br />
Schriftsteller, vor den Schranken eines<br />
Wiener Schwurgerichtes, um d a s zu<br />
wahren, was die Bewohner unserer Stadt<br />
sich angeblich schon seit sechzig Jahren<br />
errungen: D a s R e c h t , f r e i z u d e n k e n<br />
u n d a u s z u s p r e c h e n w a s ist. Sehr<br />
bemerkenswert, daß man nur Anarchisten<br />
vor die Marterpfähle juristischer Gerechtigkeit<br />
schleppen kann, um für das zu büßen,<br />
was sie wahrheitsgemäß auszusagen wagten;<br />
denn die übrigen Parteimenschen sind<br />
gegenwärtig <strong>und</strong> seit geraumer Zeit schon<br />
so beschäftigt mit der Lösung ihrer ureigenen<br />
Angelegenheit, des großen Problems,<br />
wie zu teilen <strong>und</strong> zu herrschen, daß<br />
sie keinen Augenblick dafür übrig haben,<br />
das Recht der Meinungsfreiheit zu benützen.<br />
Wo ist unsere demokratische Presse,<br />
die den H<strong>und</strong>erttausenden Arbeitslosen<br />
Österreichs sagte, daß sie Narren sind, wenn<br />
sie gutwillig verhungern? Wo ist die radikale<br />
Presse, die da sagte, daß man im<br />
Schatten russischer Feldgerichte, wie sie in<br />
Prag errichtet wurden, mit der Regierung<br />
nicht arbeiten würde? Wo sind die liberalen<br />
Aufklärer, die das Volk aufriefen zur Wehr<br />
gegenüber der staatlichen Todesstrafe, die<br />
in den letzten zwei Wochen allein an etwa<br />
vier Menschen verübt ward? Sind Tolstois<br />
eherne Worte: »Ich kann nicht schweigen!«<br />
so rasch verhallt? Und die Friedensfre<strong>und</strong>e<br />
bürgerlicher Observanz, wo sind sie; <strong>und</strong><br />
die seit Stuttgart angeblich antimilitaristischen<br />
Sozialdemokraten, wo sind sie nun,<br />
wo es hieße, sich zu uns zu gesellen, um<br />
einzustoßen in die gemeinsame Parole:<br />
S c h a c h d e m K r i e g e ! ? Um uns ist es<br />
so kläglich still, ganz wie in einem Grabe.<br />
Denn, wozu auch sich aufregen? Droht<br />
nicht der Staatsanwalt mit dem berüchtigten<br />
Kautschukparagraphen 3 0 5 ? Angesichts seiner<br />
Macht vergißt das Recht der freien<br />
Meinung sich recht leicht, <strong>und</strong> daß ein<br />
schlauer Parteidemagoge ob selbst der edelsten<br />
Güter der Menschheit willens wäre, auch<br />
nur die Annehmlichkeit seiner Zehnerjause<br />
<strong>und</strong> seines Diätenbezuges einzubüßen, das<br />
wäre in Österreich unerhört. Kampf wollt<br />
ihr? Kampf gegen Staatsarroganz <strong>und</strong> Kapitalistentücke?<br />
Der Kampf, der bei - uns<br />
geführt wird, besteht in wüstem Parteihader<br />
im Plenum des Parlaments <strong>und</strong> brüderlicher<br />
Eintracht mit dem Gegner an festlicher<br />
Tafel. Ist es doch nur neun Monate her,<br />
daß die »radikalen« Sozialdemokraten Dr.<br />
Diamant <strong>und</strong> Seitz, e i n e n Tag nach der<br />
glorreichen 13. Märzfeier, sich auf dem<br />
Festesgelage des Freiherrn v. Bienerth gut-
lieh taten, desselben, den sie heute scheinbar<br />
bekämpfen. Zu ihrer seltsamen Ehre<br />
sei es gesagt: sie sind nicht die einzigen<br />
in der Partei, die es sich im Feindeslager,<br />
in das proletarische Augen nie hineindringen,<br />
wohl sein lassen. Herr Pernerstorfer<br />
hat es glücklich bis zum reichsrätlichen<br />
Vizepräsidenten gebracht, der nun für die<br />
ordnungsmäßige Erledigung sämtlicher Regierungsvorlagen<br />
mitsorgen darf. Ist dies<br />
nicht Kampf? . . .<br />
Und aus dieser prächtigen, behaglichen<br />
Ruhe <strong>und</strong> Stille wurde das Geflügel plötzlich<br />
aufgescheucht. Wieder, nach langer<br />
Zeit wieder, ereignete sich etwas in Österreich<br />
Unerhörtes: ein Anarchistenprozeß.<br />
Und die Wiener »Zeit« beeilte sich, hinzuzusetzen:<br />
»Kein Bombenprozeß.» Nein,<br />
wahrlich nicht, obgleich er weit kräftiger<br />
wirkte, als ein Bombenprozeß es vermocht<br />
hätte. Der Mann, der vor dem Gericht<br />
stand, warf Bomben anderer Art: die Bombe<br />
seiner Gesinnung, die Bombe seines Edelmutes.<br />
Eine Explosion dieser Art von<br />
Bomben war es, die im Gerichtssaal stattfand,<br />
weit außerhalb desselben durch die<br />
Presse ihr nachhaltiges Echo fand <strong>und</strong> die<br />
der 9. Dezember uns brachte. Was sich<br />
wohl die Mäkler der öffentlichen Meinung<br />
die Schmockjournalisten gedacht<br />
haben mögen, als sie auf die Gestalt<br />
Lozynskyjs blickten <strong>und</strong> es deutlich <strong>und</strong><br />
vernehmbar von seinen Lippen kam: »Ja,<br />
i c h b i n A n a r c h i s t ! « Er verschmähte es,<br />
seine Gesinnung zu verheimlichen, seine<br />
Überzeugung aufzugeben; solches überläßt<br />
ein Anarchist seinen Gegnern. Und der<br />
• hohe Gerichtshof«, wie mußte er, der Vertreter<br />
menschlich-künstlicher Gerechtigkeitsfabrikation,<br />
deren Kern die grausamste<br />
Rache ist. einer Betätigung, die von den<br />
Blitzstrahlen echter Wissenschaft längst<br />
getroffen <strong>und</strong> widerlegt ward was er<br />
wohl gedacht haben mag, als er einen<br />
jungen Mann vor sich sah. der kaltblütig<br />
erklären konnte, daß er unschuldig, der<br />
aber ganz gleichgiltig dem Verdikt entgegensah,<br />
das ihm zum mindesten Wochen<br />
zermürbenden Gefängnisses hätte einbringen<br />
können. Hier ein Mensch, der die ganze<br />
Fülle seines Geistesreichtums an dem Trone<br />
edelster Menschheitsliebe niederlegt, dort<br />
Männer, die »ihres Amtes* walten <strong>und</strong><br />
Recht s p r e c h e n , was noch lange nicht<br />
Recht tun bedeutet.<br />
Eine Welt- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung,<br />
die dem sozialen Untergang geweiht ist<br />
eben durch die Ertötung des reineren, edleren<br />
Empfindungszentrums in den Menschen<br />
<strong>und</strong> deren Einrichtungen, ist der Erkenntnis<br />
<strong>und</strong> Anschauung ihrer eigenen Verrottung<br />
nicht mehr fähig; anderen, helleren Augen<br />
ist es beschieden, diese rissigen, brüchigen<br />
Wände <strong>und</strong> Dachstühle, die dem Einsturz<br />
nahe, zu erkennen, dem hellsehenden, revolutionär<br />
empfindenden Proletariat ist dies<br />
gegeben. Und fürwahr: wer nicht Anarchist,<br />
aber ein human <strong>und</strong> charaktervoll fühlender<br />
M e n s c h ist, der weile im Gerichtssaal,<br />
beobachte das Tun, Treiben, die Gesichtszüge<br />
jener, die dazu berufen sind, der<br />
blinden Göttin das Schwert zu entlehnen;<br />
wir garantieren: aus diesem Menschen<br />
w i r d ein Anarchist werden.<br />
Aufgabe dieses Artikels soll es nicht<br />
sein, den Prozeß Lozynskyj irgendwie erschöpfend<br />
zu behandeln. Einen stenographischen<br />
Bericht über diesen historischen<br />
Prozeß bringt die nächste Nummer unseres<br />
Blattes. Aber die Streiflichter, die diese<br />
Zeilen auf die handelnden Menschen, beteiligt<br />
an dem Prozeß, auf die Institutionen,<br />
aus denen er hervorgeht, werfen müssen,<br />
sie wären nicht genau, wenn wir an einigem<br />
vorbeigehen wollten. Im Laufe des Prozesses<br />
— aufgebaut auf den Kautschukparagraphen<br />
der »Aufreizung zu Feindseligkeiten<br />
gegen Nationalitäten« <strong>und</strong> der<br />
»Öffentlichen Herabwürdigung der Einrichtungen<br />
der Ehe, Familie, des Eigentums<br />
oder Gutheißung von ungesetzlichen oder<br />
unsittlichen Handlungen« — ereigneten<br />
sich einige Szenen, die festgenagelt werden<br />
müssen. So z. B., wenn der Staatsanwalt,<br />
Herr Pollack, die Erklärung abgab, daß er<br />
unser Blatt stets subjektiv verfolgen würde,<br />
wenn er nur der eigentlichen Verfasser<br />
habhaft werden könnte; daß er dies getan<br />
habe, wo er es konnte. Herr Pollack scheint<br />
aus dem Material seiner Paragraphen gemacht<br />
zu sein, denn seine Äußerungen sind<br />
— sehr dehnbar. Tatsache ist es, daß von<br />
den 23 erschienenen Nummern unseres<br />
Blattes etwa 20 konfisziert wurden, daß aber<br />
nur eine einzige Anklage wegen Verletzung<br />
der pflichtgemäßen Obsorge gegen unseren<br />
Redakteur erhoben wurde, <strong>und</strong> d i e s e stützt<br />
sich auf den nun freigesprochenen Artikel<br />
Lozynskyjs; sonstige Delikte, wegen denen<br />
Bestrafung erfolgte, waren rein technischer<br />
Natur. Es ist somit klar, daß, da Herr<br />
Pollack im Schwurgerichtssaale diese Tatsachen<br />
n i c h t wahrheitsgemäß konstatierte,<br />
er s e h r w o h l w e i ß , daß seine unaufhörlichen<br />
Konfiskationen unseres Blattes im<br />
Lichte seines eigenen Rechtes r e i n w i l l -<br />
k ü r l i c h e r Natur sind, indem er eben nicht<br />
in der Lage ist, die inkriminierten Artikel<br />
strafgesetzlich zu verfolgen. Er weiß zu gut,<br />
daß es kein gerecht erwägendes Gericht<br />
der Welt gibt, das ihm in seiner Konfiskationspraxis<br />
uns gegenüber recht geben<br />
würde. Schließlich sehen es Geschworne<br />
n i c h t als das Recht eines Staatsanwaltes<br />
an, G e s i n n u n g e n zu verfolgen. Es ist<br />
fernerhin eine absolut unwahre Behauptung,<br />
zu konstatieren, daß er die wirklichen Verfasser<br />
inkriminierter Artikel nicht kenne;<br />
wahr ist vielmehr, daß die Artikel der Genossen<br />
Landau, Ramus, Haidt, Lerche, Zindelar<br />
u. a. konfisziert wurden, der Staatsanwalt<br />
aber keine Anklage gegen sie erheben<br />
k o n n t e . Wohl wissen wir, daß der<br />
Staatsanwalt laut Gesetz dies nicht zu tun<br />
braucht; aber eben dies nennen wir Willkür,<br />
<strong>und</strong> darin ist die gesamte öffentliche<br />
Meinung mit uns einig, die, soweit auch<br />
nur oppositionell angehaucht, doch einstimmig<br />
nach einer Revision unseres Preßgesetzes<br />
ruft, das, eine echt Goethesche<br />
Spottgeburt, einerseits die Preßfreiheit garantiert,<br />
anderseits jedoch einem einzigen<br />
Menschen eine unerhörte Autokratie verleiht.<br />
Noch etwas anderes muß hervorgehoben<br />
werden. Ist es Aufgabe eines<br />
Staatsanwaltes, in einer Ansprache an<br />
die Geschworenen auf das Niveau eines<br />
Effekthaschers <strong>und</strong> Komödianten herabzusinken?<br />
Ist es etwas anderes, wenn<br />
man es versucht, den Geschworenen gänzlich<br />
unbegründbares Grauen vor dem<br />
Anarchismus einzuflößen, nur um einen<br />
Mitmenschen mehr ins Gefängnis einliefern<br />
zu können? Mit welchem Recht behauptete<br />
der Staatsanwalt, daß unser Blatt v o n d e r<br />
e r s t e n N u m m e r an, der terroristischen<br />
Propaganda der Tat das Wort rede? Wir<br />
erklären dies als eine g r o b e U n w a h r -<br />
h e i t <strong>und</strong> sind bereit, aus jeder Nummer<br />
des »W. f. A.« zu beweisen, daß in derselben<br />
n i e m a l s der Terrorismus in irgend<br />
welcher Form propagiert, stets nur rein intellektuelle<br />
Strebensziele von Herrn Pollack<br />
konfisziert <strong>und</strong> somit niedergeknüppelt<br />
wurden. Weiß Herr Pollack nicht, was direkte<br />
oder soziale Aktion oder Generalstreik<br />
ist, dann möge er dafür Sorge tragen,<br />
es zu lernen. Was unser Blatt vertritt, das<br />
hat erst unlängst ein Gegner unserer Anschauung,<br />
Herr E r n s t V i k t o r Z e n k e r ,<br />
in zwei ausführlichen Artikeln in der<br />
»Reichenberger Zeitung« dargelegt, wo er<br />
in einer längeren Besprechung über »Das<br />
Wiedererwachen der anarchistischen Bewegung<br />
in Österreich«* auch die Taktik unseres<br />
Blattes berührt, über die er sagt, daß<br />
»zwischen ihr <strong>und</strong> der alten Propaganda<br />
der Tat ein Unterschied so groß liegt, wie<br />
der zwischen dem regelrechten Krieg <strong>und</strong><br />
einem ordinären Meuchelmord.« Dies ist<br />
* „Reichenberger Zeitung", Nr. 195 <strong>und</strong> 198,<br />
Jahrgang 1908.<br />
die Wahrheit; unser Kampf wird geführt<br />
mit den Mitteln des Geistes <strong>und</strong> der geistigen<br />
Überlegenheit, weil wir zu gut<br />
wissen, daß, wenn es uns gelingt, das<br />
Geistesleben' der Menschen in unserem<br />
Sinne zu adeln <strong>und</strong> es so auf die schon<br />
heute bestehenden wirtschaftlichen Möglichkeiten<br />
des Sozialismus zu richten, wie<br />
es zum Wohle Aller geschehen muß, die<br />
sozialpolitische Umwälzung zur kommunistischen<br />
Anarchie sich auf dem <strong>Weg</strong>e<br />
eines so unaufhaltsamen Menschenwillens<br />
vollziehen wird, daß uns nichts mehr zu<br />
wünschen übrig bleibt.<br />
Und wie vereinbart es Herr Pollack<br />
mit der Würde seiner Position, wie konnte,<br />
wie durfte er es wagen, die Lachnerven<br />
des Gerichtes so zu taxieren, wie es bei<br />
s e i n e r Darstellung des Anarchismus geschah?<br />
Für Zwerchfellerschütterungen ist<br />
der Gerichtshof der schlechtest gewählte<br />
Ort, so sollte man meinen. Aber so dachte<br />
dieser Staatsanwalt nicht. Anarchismus, das<br />
war ihm nichts als blutrünstiges Zerstören,<br />
Morden, Sengen <strong>und</strong> Brennen. Vor unserem<br />
Geistesauge erhob sich ein schambedecktes<br />
Antlitz: jenes des G e r i c h t s a s s e s s o r s<br />
Dr. P a u l E i t z b a c h e r , der ersehen<br />
konnte, daß sein Fachkollege wohl in allen<br />
Blättern der Welt nach konfiszierbaren <strong>und</strong><br />
unkonfiszierbaren Stellen pürscht, jedoch<br />
den <strong>Weg</strong> zum Studium seines Buches über<br />
den »Anarchismus« noch nicht fand. Kein<br />
W<strong>und</strong>er, daß Eitzbacher sich der Unwissenheit<br />
seines Fachkollegen schämte. Uns liegt<br />
es ja ferne, an den nicht mehr jugendfrischen<br />
Geist Dr. Pollacks ungeheuerliche<br />
Anforderungen in punkto Wissen <strong>und</strong> Logik<br />
zu stellen; mit Zeit <strong>und</strong> etwas Liebe wird<br />
er die Unterscheidung zwischen Aufforderung<br />
zum Mord o d e r E r s t r e b u n g e i n e r<br />
G e s e l l s c h a f t , d i e f r e i ist v o n Unterd<br />
r ü c k u n g u n d j e d e r H e r r s c h a f t ,<br />
auch von Staatsanwälten, wohl schon noch<br />
treffen lernen. Aber wenn er den »W. f. A.<<br />
so gründlich liest <strong>und</strong> es diesem, wie es<br />
scheint, bisher nicht gelungen ist, auch nur<br />
einen Funken anarchistisches Licht unter<br />
das schwarze Käppchen dringen zu lassen,<br />
das »im Berufe« Herrn Pollacks Denkerstirne<br />
ziert, darauf könnte er doch schon<br />
gestoßen sein, daß wir ein Buch ankündigten,<br />
das sich betitelt »Die Anarchie« von<br />
Professor H e k t o r Z o c c o l i . Obwohl auch<br />
von einem Gegner unserer Bestrebungen<br />
geschrieben, könnte ein Herr Pollack noch<br />
sehr viel aus diesem Buche lernen. Vielleicht<br />
gestatten ihm seine Aktenbündel <strong>und</strong><br />
- das Studium des »W. f. A.« noch die<br />
Zeit, es durchzulesen? —<br />
Der Prozeß Lozynskyj gehört zu jenen<br />
Ereignissen, die, von Feindeshand gezeugt,<br />
als Kraft, die Böses will, <strong>und</strong> dennoch<br />
stets das Gute schafft, unserer Bewegung<br />
einen mächtigen Anstoß nach vorwärts<br />
versetzten. Die hohe sittliche Kraft, die aus<br />
den Ausführungen des Kameraden Lozynskyj<br />
sprach, der einfach <strong>und</strong> natürlich<br />
seinen Standpunkt entwickelte, hat diesmal<br />
direkt oder indirekt die öffentliche Meinung<br />
erreicht; die gesamte Presse war gezwungen,<br />
kürzere oder längere, meistens anständige<br />
Berichte über die Prozeßverhandlung zu<br />
erstatten. Aber es ist ganz einerlei, ob es<br />
so kam oder anders, so lange nur dieser<br />
eine Tatbestand sich unverrückbar verhält:<br />
d a ß n ä m l i e h d e r S t a a t s e i n e H a s s e s -<br />
p f e i l e a u f M e n s c h e n s c h l e u d e r n<br />
m u ß , d i e a n C h a r a k t e r g r ö ß e , E d e l -<br />
m u t u n d Ü b e r z e u g u n g s t r e u e s o<br />
v o r n e h m d a s t e h e n , daß sie, selbst<br />
wenn verurteilt von der menschlichen<br />
Macht einer wahnbetörten, schändenden<br />
Gegenwart, doch desto gewisser <strong>und</strong> siegreicher<br />
die Geschichtsportale der Zukunft<br />
aufreißen. Lozynskyj hat dies getan, unsere<br />
Bewegung hier schuldet ihm solidarische<br />
Anerkennung dafür; sein Prozeß, der erste<br />
anarchistische Prozeß seit über 10 Jahren, in<br />
dem es sich um die Ideale der anarchistischen<br />
Weltanschauung handelte, bildet
einen Markstein im Emanzipationsstreben<br />
der Völker Österreichs, ist, da ein Ruthene<br />
mit deutschen Karneraden zusammenwirkte,<br />
die grandiose Beweisstärke für den Anarchismus,<br />
vor dessen Banner der Bruderliebe<br />
jeder nationale Haß, jede nationale oder<br />
Rassenzerklüftung zurückweichen, um Raum<br />
zu geben für den Glücks- <strong>und</strong> Freiheitsgedanken<br />
Aller, für die herrschaftslose<br />
Gesellschaft des Kommunismus, dessen<br />
F<strong>und</strong>ament die Solidarität des Internationalismus<br />
ist.<br />
Der Nationalitätenstreit in<br />
Österreich.<br />
Eine Hauptursache der politischen <strong>und</strong><br />
wirtschaftlichen Rückständigkeit des öffentlichen<br />
Lebens in Österreich ist der seit<br />
Jahrzehnten immer von neuem geschürte<br />
Nationalitäten- <strong>und</strong> Rassenkampf, der gerade<br />
in der Ära des allgemeinen gleichen direkten<br />
Wahlrechtes Dimensionen angenommen hat,<br />
welche deutlich die Unfähigkeit <strong>und</strong> den<br />
Mangel an ernstem Willen s ä m t l i c h e r<br />
parlamentarischer Parteien, das Nationalitätenproblem<br />
zu lösen, drastisch beweisen.<br />
Die vielfach verbreitete Ansicht, diese Kämpfe<br />
auf die zahlreichen Nationen zurück<br />
zuführen, welche das österreichische Territorium<br />
bewohnen, ist ganz falsch; gibt es<br />
ja andere gemischtsprachige Gemeinwesen,<br />
deren Bewohner friedlich zusammenleben,<br />
verschont von jenem lächerlichen Nationalitätenhader,<br />
der in Österreich nur dem internationalen<br />
Klerikalismus <strong>und</strong> dem internationalen<br />
Kapitalismus zum Nutzen gereicht.<br />
So mannigfaltig auch die Ursachen dieser<br />
Kämpfe sein mögen, ihren Hauptgr<strong>und</strong><br />
bildet die auf dem H e r r s c h a f t s p r i n z i p e<br />
basierende dualistische Verfassung. «Teile<br />
<strong>und</strong> herrsche!» war die Losung jener Politiker,<br />
die im Jahre 1867 nach dem Bankerotte<br />
des Zentralismus den dualistischen<br />
Doppelzentralismus schufen, dessen Zweck<br />
die Sicherung der nationalen, politischen<br />
<strong>und</strong> wirtschaftlichen Hegemonie der deutschen<br />
<strong>und</strong> magyarischen Bourgeoisie über<br />
alle übrigen Völker <strong>und</strong> Klassen war. Ali<br />
die chaotischen Wirren dies- <strong>und</strong> jenseits<br />
der Leitha in Vergangenheit, Gegenwart<br />
<strong>und</strong> auch für geraume Zukunft bilden die<br />
naturgemäße Konsequenz jener reaktionären<br />
Nationalitätenpolitik, die mit der Ausgrabung<br />
des ungarischen Staatsrechtes begann <strong>und</strong><br />
zur Galvanisierung der ebenso berechtigten<br />
oder vielmehr unberechtigten böhmischen<br />
<strong>und</strong> kroatischen Staatsrechten der Forderung<br />
nach einer Sonderstellung Galiziens <strong>und</strong><br />
der Proklamation des angeblich historisch<br />
begründeten Rechtes der Deutschen in<br />
Österreich auf die Vorherrschaft in diesem<br />
Staate die Fortsetzung fand. In einer Zeitperiode,<br />
in welcher die Einzelindividuen<br />
<strong>und</strong> Nationen auf geistigem <strong>und</strong> ökonomischem<br />
Gebiete nach A u t o n o m i e <strong>und</strong><br />
freier Assoziation, nach einem neuen sozialen<br />
Rechte ringen, kann es aber keine<br />
andere Lösung des Nationalitätenproblemes<br />
des Donaureiches geben als d i e f r e i e<br />
F ö d e r a t i o n s e i n e r s ä m t l i c h e n Nat<br />
i o n e n . Allerdings Parteien, die direkt<br />
oder indirekt vom Nationalitätenkampfe<br />
leben, der ihnen das geeignete Mittel erscheint,<br />
Ministerportefeuilles <strong>und</strong> Mandate<br />
zu ergattern, respektive zu behalten, die<br />
keine Umgestaltung des gesamten Kultur<strong>und</strong><br />
Wirtschaftslebens im Sinne der Autonomie<br />
der Individuen wollen, vielmehr die<br />
Verewigung der politischen <strong>und</strong> ökonomischen<br />
Rechtung derselben, wenn auch<br />
unter anderen Formen, erstreben, huldigen<br />
naturgemäß auch dem Wahne, in dem<br />
gegenwärtigen sogenannten sozialen Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
mittels der nationalen Herrschaftspolitik<br />
oder Ingr<strong>und</strong>legung verschiedener<br />
historischer Rechte, wahnwitziger parlamentarischer<br />
Obstruktionen oder sinnloser<br />
Straßenexzesse das österreichische Nationalitätenproblem<br />
lösen zu können. Aber<br />
der auf die Spitze getriebene chauvinistische<br />
Schwindel muß sich in letzter Linie naturgemäß<br />
gegen seine Urheber wenden <strong>und</strong><br />
dem ohnedies unfruchtbaren Parlamentarismus<br />
den Todesstoß geben, sowie der Wiederkehr<br />
des § 14 <strong>und</strong> eines Beamtenministeriums<br />
- schon heute da! — die <strong>Weg</strong>e<br />
ebnen. Wer z. B. die Protokolle des letzten<br />
böhmischen Landtages <strong>und</strong> des österreichischen<br />
Reichsrates liest, der muß mehr<br />
als durch theoretische Erörterungen von der<br />
Wahrheit unserer früher ausgesprochenen<br />
Behauptungen überzeugt werden. <strong>Unser</strong>e<br />
böhmischen Landboten <strong>und</strong> übrigen Parlamentarier<br />
könnten sich übrigens ihr Geld<br />
viel besser <strong>und</strong> ehrlicher als Komödianten<br />
auf irgend einem Theater verdienen, während<br />
ihre gesetzgeberische Tätigkeit einer<br />
Tragikomödie weit eher gleicht, da das<br />
Ergebnis ihrer gesamten nationalen Politik<br />
nur zu oft — Tote, Verw<strong>und</strong>ete <strong>und</strong> zertrümmerte<br />
Fensterscheiben, last but not<br />
least: — das S t a n d r e c h t sind.<br />
Von der Erkenntnis ausgehend, daß<br />
die Lösung des Nationalitätenproblems die<br />
Vorbedingung der sozialen Umgestaltung<br />
bildet <strong>und</strong> daß d i e F ö d e r a t i o n der<br />
ö s t e r r e i c h i s c h e n N a t i o n e n d i e e r -<br />
ste E t a p p e zur freien F ö d e r a t i o n in<br />
E u r o p a b i l d e t , der einzige Damm gegen<br />
die Weltgelüste der Pickelhaube <strong>und</strong> Knute<br />
ist, haben gerade wir Anarchisten, die Vorkämpfer<br />
für wirkliche Freiheit, ein Interesse<br />
daran, daß das Nationalitätengezänke in Österreich-Ungarn<br />
ein Ende finde <strong>und</strong> nicht in einen<br />
deutsch-slavisch-romanisch-magyarisch-unitischen<br />
Rassenkampf ausarte, der leicht der<br />
Beginn eines Weltbrands werden könnte.<br />
So wünschenswert aber die Entwirrung<br />
des österreichischen Chaos im Sinne dieser<br />
Föderation der Völker wäre, so ist nicht<br />
die geringste Hoffnung vorhanden, daß die<br />
Parlamentarier dies- <strong>und</strong> jenseits der Leitha<br />
diesen W e g betreten werden. So uneinig<br />
untereinander <strong>und</strong> so unklar in ihren <strong>Ziel</strong>en<br />
auch die verschiedenen Parteien sein mögen,<br />
sie alle haben das gemeinsame Interesse,<br />
daß der Nationalitätenkampf nicht ende,<br />
denn der nationale Friede wäre der Anfang<br />
von ihrem eigenen Ende. Sie alle, die Feudalen,<br />
Klerikalen, Liberalen, Nationalen,<br />
Antisemiten <strong>und</strong> Sozialdemokraten sämtlicher<br />
Volksstämme fühlen sich in ihrem Besitzstande<br />
<strong>und</strong> in ihrer Mandatspolitik, in einem<br />
allgemeinen parlamentarischen Wirrwarr so<br />
wohl <strong>und</strong> haben daher, alle samt <strong>und</strong> sonders<br />
nicht das geringste Interesse daran,<br />
den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen.<br />
Die logische Folge davon ist: das Nationalitätenproblem<br />
des Donaureiches wird<br />
daher n i c h t parlamentarisch, nicht mit den<br />
bestehenden Parteien, sondern ohne <strong>und</strong><br />
gegen dieselben gelöst werden.<br />
Anarchistische Gewerkschaften<br />
<strong>und</strong> ihre Politik.<br />
Die von der Sozialdemokratie erzogene<br />
Arbeiterschaft träumt sich leicht <strong>und</strong> gern<br />
in den Gedanken hinein, daß eines Tages<br />
ihnen die ö k o n o m i s c h e Macht zur<br />
Beherrschung <strong>und</strong> Leitung der Produktion<br />
ohne ihr Zutun in den Schoß fällt, <strong>und</strong><br />
die soziale Revolution, wie eine überirdische<br />
Gottheit, alle W<strong>und</strong>en mit einmal heilen,<br />
alle Tränen mit einmal stillen werde. So<br />
denkende Arbeiter vergessen ganz, daß sie<br />
sich durch eigene Kraft zu selbst denkenden,<br />
selbst handelnden Menschen zu erziehen<br />
haben, daß sie sich zu dem Berufe der<br />
Verwaltung <strong>und</strong> Leitung der Produktion<br />
heranbilden müssen, denn die Sonne, die<br />
heute noch bei ihrem Untergange auf gefesselte<br />
Sklaven herabblickte, wird morgen<br />
bei ihrem Aufgange nicht auf freie Menschen<br />
niederschauen.<br />
Wenn wir auch zugeben, daß äußere<br />
unvorhergesehene Ereignisse, wie Weltkriege<br />
<strong>und</strong> politische Revolutionen uns in<br />
der Entwicklung vorwärts zu treiben vermögen,<br />
so dürfen wir ihnen dennoch keine<br />
allzu große Rolle beimessen. Der Zeitpunkt<br />
in der Arbeiterbewegung, wo man,- wie<br />
viele sozialdemokratische Führer, von einem<br />
allgemeinen gegenseitigen Abschlachten<br />
der Völker, den Ausbruch der sozialistischen<br />
Aera erwartete, ist vorbei. Wir dürfen unsere<br />
Zukunftspläne nicht auf unkontrollierbare<br />
Faktoren aufbauen, sondern müssen<br />
uns daran gewöhnen, d i e r e v o l u t i -<br />
o n ä r e F o r t e n t w i c k l u n g der Arbeiter,<br />
ihre zielbewußte Tätigkeit <strong>und</strong> Befähigung<br />
zur wirtschaftlichen Führung der Produktion,<br />
mit andern Worten: d i e K r ä f t i g u n g<br />
i h r e s s o z i a l e n M a c h t b e w u ß s e i n s ,<br />
als bestimmende, zuverlässige Größen zu<br />
nehmen, die man bei sozialpolitischen Berechnungen<br />
gebrauchen kann.<br />
Schon oben ist gesagt worden, daß<br />
wir nicht leugnen, daß große äußere Ereignisse<br />
eine wichtige Rolle in den Kämpfen<br />
der Arbeiterklasse spielen können.<br />
Aber die Geschichte hat uns gelehrt —<br />
wir denken dabei an die russische Revolution<br />
— daß sie nur dann von Nutzen<br />
für die Arbeiterklasse sind <strong>und</strong> sein können,<br />
wenn diese i n n e r e Reife erlangt hat. Als<br />
eines der wichtigsten — ja vielleicht das<br />
allerwichtigste —• Erziehungsmittel zu dieser<br />
inneren Reife b e t r a c h t e n w i r d i e<br />
G e w e r k s c h a f t e n . In den Gewerkschaften<br />
soll nicht nur über Lohnerhöhung<br />
<strong>und</strong> Arbeitszeitverkürzung gesprochen werden,<br />
sondern hier sollen dem Arbeiter die<br />
wirtschaftlichen Verhältnisse seines Produktionszweiges,<br />
die technischen Veränderungen,<br />
die Absatzverhältnisse der Branche<br />
etc. etc. gelehrt werden. Kurz, hier soll der<br />
Arbeiter eine größere Einsicht in die wirtschaftlichen<br />
Bedingungen <strong>und</strong> in die inneren<br />
Zusammenhänge der Produktion bekommen.<br />
Die Gewerkschaftsorgane — die vom<br />
Geiste des Sozialismus beseelt sind —<br />
haben die Aufgabe, die ökonomischen<br />
Kenntnisse der Arbeiter zu fördern. Wenn<br />
wir bedenken, daß dereinst die Arbeiter<br />
der Produktion selbst vorzustehen haben,<br />
so können <strong>und</strong> dürfen wir eine Erweiterung<br />
der wirtschaftlichen Kenntnisse der Arbeiter<br />
durchaus nicht gering anschlagen. Die erförderlichen<br />
Eigenschaften, die' zur Übernahme<br />
der Produktion notwendig sind,<br />
fallen uns nicht in den Schoß, wir müssen<br />
sie uns durch eigene Tätigkeit selbst erwerben.<br />
Wenn wir den Glauben an eine<br />
«erleuchtete» Zentralbehörde, die die Produktion<br />
von oben herunter leitet, abgelegt<br />
haben, so bleibt uns nur übrig, uns zur<br />
Führung <strong>und</strong> Verwaltung der Produktion<br />
selbst herauszubilden, <strong>und</strong> dazu bilden gerade<br />
die Gewerkschaften den richtigen Boden.<br />
In einer zukünftigen Gesellschaftsordnung<br />
werden frei gebildete, auf föderativer<br />
Gr<strong>und</strong>lage wirkende <strong>und</strong> sich vereinigende<br />
Gewerkschaften oder Berufsgenossenschaften<br />
die Aufgabe haben, die<br />
Leitung <strong>und</strong> Verwaltung der Produktion<br />
durchzuführen. Darum erblicken wir in den<br />
Gewerkschaften die wichtigsten ökonomischen<br />
Bestandteile einer zukünftigen<br />
Gesellschaft. Sie sind diejenigen Faktoren,<br />
aus denen sich die Gesellschaft der Zukunft<br />
zusammensetzen wird. Es ist viel <strong>und</strong> heftig<br />
darüber gestritten worden, wie wir in einer<br />
zukünftigen Gesellschaftsordnung die Produktion<br />
leiten werden. Als einzige Organisationsgebilde<br />
dieser Leitung können unserer<br />
Meinung nach nur die Gewerkschaften in<br />
Betracht kommen. So wie die Unternehmer<br />
heute durch ihre Kartelle, Trusts etc. mit<br />
einander in Verbindung stehen <strong>und</strong> durch<br />
gegenseitige Verträge die Produktion in<br />
ihrem Sinne leiten, so werden in der anarchistischen<br />
Zukunft die Gewerkschaften<br />
durch freie Verträge <strong>und</strong> Übereinkünfte die<br />
Produktion regeln. Diese Verbände der<br />
Arbeiter werden natürlich bedeutend vielgestaltiger<br />
<strong>und</strong> vielverzweigter sein, als die<br />
heutigen Gewerkschaften; indem bei den<br />
Arbeitern das gesellschaftliche Interesse<br />
mit dem persönlichen wirtschaftlichen Interesse<br />
dann gleichbedeutend ist, so werden<br />
sie sich jeweilig den Bedürfnissen der Ge-
sellschaft anpassen. Es würde uns zu weit<br />
führen, wollten wir hier ein detailliertes<br />
Bild von dem Umfang <strong>und</strong> der Gestalt<br />
dieser freien Wirtschaftsverbände <strong>und</strong> Kommunen<br />
entwerfen. Wir wollen uns hier<br />
damit begnügen, die Tendenz <strong>und</strong> die<br />
Richtung angegeben zu haben, in der sich<br />
die Betätigung der genossenschaftlichen<br />
Produktion der Zukunft vollziehen wird,<br />
die heutige Erziehung zu derselben hinwirken<br />
müßte.<br />
Aber noch eine andere Aufgabe vergessen<br />
die heutigen sozialdemokratischen<br />
Gewerkschaften zu pflegen. Die Pflege<br />
dieser Aufgabe ist von eminenter Wichtigkeit.<br />
W e r w i r d i n e i n e r z u k ü n f t i g e n<br />
G e s e l l s c h a f t d i e A r b e i t s l e i s t u n g<br />
d e r E i n z e l n e n z u b e w e r t e n u n d<br />
a b z u s c h ä t z e n h a b e n ? Nur die Gewerkschaft,<br />
nur die Produktionsgruppe selbst<br />
kann die Leistung der Einzelnen gerecht<br />
beurteilen.* Nur diese kennt aus dem Augenschein,<br />
aus den tatsächlichen Feststellungen<br />
die Leistung der einzelnen Mitglieder. In<br />
einem sozialdemokratischen Zukunftsstaat<br />
soll alles von einem demokratisch erwählten<br />
Zentralkomitee geleitet werden. Aber alles,<br />
was diese Zentralleitung über die Bewertung<br />
der Arbeit wissen kann, hat sie doch erst<br />
von den Berufsgenossenschaften erfahren;<br />
w e s h a l b also sollten die Arbeiter, da sie<br />
doch ihre Arbeiten selbst am besten bewerten<br />
können, erst den Umweg durch die<br />
Zentralleitung machen? Also wir sehen, daß<br />
daß auch in dieser Frage die Gewerkschaften<br />
eine wichtige Aufgabe zu lösen haben.<br />
Doch neben dieser, schon eminent<br />
wichtigen Aufgabe, sehen wir im Geiste<br />
eine andere empor steigen. Wie wir wissen,<br />
ist die Produktion auf den verschiedensten<br />
Gebieten nicht gleichmäßig. So wie heute,<br />
wird auch später nach einzelnen Artikeln<br />
eine stärkere Nachfrage sein. Nun kann es<br />
vorkommen, so wird man sagen, daß eine<br />
solche Produktionsgruppe, die gerade diesen<br />
oder jenen besonders begehrten Artikel<br />
anfertigt, unter den günstigsten Verhältnissen<br />
arbeitet, allen andern Arbeitern den<br />
Zutritt zur Gruppe versperrt. Ist dies aber<br />
möglich? Nein, denn in einem solchen Falle<br />
würden dann die verschiedensten Produktionsgruppen<br />
mit dieser Gruppe keine Verträge<br />
abschließen; <strong>und</strong> da nun die erste,<br />
monopolisierende Gruppe ohne Hilfe der<br />
andern Gruppen ihre Arbeit nicht verwerten<br />
könnte, so würde sie selbstredend sehr bald<br />
ihre Reihen wieder den übrigen Arbeitern<br />
öffnen. So können also die Gewerkschaften<br />
mit Hilfe ihrer wirtschaftlichen Machtmittel<br />
jeden eventuell entstehenden zünftlerischen<br />
Geist leicht unterdrücken. Wir sehen somit,<br />
daß nur die Gewerkschaften im Stande sind,<br />
für Aufrechterhaltung der sozialistischen<br />
Produktionsregelung zu sorgen; wir können<br />
also diesen großen schwerfälligen bürokratischen<br />
Zentralapparat der Sozialdemokratie,<br />
der vielleicht im Namen der Gesellschaft<br />
in einer sozialistischen Zukunft funktionieren<br />
soll, völlig entbehren.<br />
Die gewerkschaftlichen Verbände haben<br />
also nicht nur heute, sondern auch in der<br />
sozialistischen Gesellschaft große Aufgaben<br />
zu erfüllen. Sie haben durch freie Verträge<br />
die wirtschaftliche Produktion zu leiten <strong>und</strong><br />
das ökonomische Gleichgewicht aufrecht<br />
zu erhalten. Alle Gewerkschaften, die solche<br />
Aufgaben erfüllen können — <strong>und</strong> daran<br />
fehlt es den heutigen Zentralgewerkschaften<br />
durchaus —, werden die wirtschaftlichen<br />
Gr<strong>und</strong>lagen der neuen sozialistischen Welt<br />
abzugeben haben, in der Heranentwicklung<br />
auf diesem Gebiete, in ihren mannigfachen<br />
Formen erblicken wir Anarchisten die einzige<br />
wahre politische Aufgabe der Gewerkschaften.<br />
Otto Weidt.<br />
* Der Verfasser schreibt augenscheinlich als<br />
k o l l e k t i v i s t i s c h e r Anarchist, dessen wirtschaftlicher<br />
Gr<strong>und</strong>satz der ist: Einem jeden nach<br />
seinen L e i s t u n g e n . Zur Klarstellung sei gesagt,<br />
daß unser Blatt auf k o m m u n i s t i s c h - a n a r c h i s -<br />
tischen Prinzipien steht: Einem jeden nach seinen<br />
B e d ü r f n i s s e n . Anm. d. Red.<br />
Gustav Hervés Rede gegen<br />
Jean Jaurès.*<br />
»Wenn ich an dieser Diskussion teilnehme<br />
— sagte Hervé — so ist es, weil<br />
die Partei in Toulouse einen <strong>Weg</strong> eingeschlagen<br />
hat, welcher unvermeidlich zur<br />
Spaltung führt, <strong>und</strong> dadurch, vielleicht unbewußt,<br />
den Vertrag verletzt hat, welchen<br />
wir vor drei Jahren bei der Vereinigung<br />
der verschiedenen Fraktionen unterzeichnet<br />
haben. Meine Überzeugung hat sich seitdem<br />
nicht geändert. I c h w a r d a m a l s<br />
w i e jetzt A n t i p a r l a m e n t a r i e r <strong>und</strong> befürwortete<br />
eine Annäherung an die kommunistischen<br />
Anarchisten, welche ich als unsere<br />
Verbündete <strong>und</strong> Kampfesgenossen betrachte.<br />
Die sozialdemokratische Partei hat sich<br />
auf dem Toulouser Kongreß öffentlich als<br />
eine parlamentarische Partei hingestellt. Und<br />
das zu einer Zeit, wo die parlamentarischen<br />
Parteien überall bankrott machen — nicht<br />
nur einzelne ihrer Mitglieder, denn es gibt<br />
ja überall unehrliche Leute, auch außerhalb<br />
des Parlaments —, aber die ganze radikale<br />
Partei <strong>und</strong> ein Teil der Sozialdemokratie,<br />
zu welcher Millerand, Briand, Viviani noch<br />
gestern gehörten. » W a g t es j e m a n d zu<br />
b e h a u p t e n « sagte soeben Jaurès —<br />
d a ß w i r s o z i a l d e m o k r a t i s c h e A b -<br />
g e o r d n e t e S c h m a r o t z e r sind g l e i c h<br />
den b ü r g e r l i c h e n A b g e o r d n e t e n , daß<br />
u n s e r e A r b e i t im P a r l a m e n t unnütz<br />
ist?« Ja, wir w a g e n das zu b e h a u p t e n !<br />
Man hat uns in Toulouse vorgeworfen, daß<br />
wir die Reformen verachten. Die Sozialdemokraten,<br />
sagt ihr, haben alle Reformen,<br />
wie z. B. die Einkommensteuer, die Altersversorgung<br />
der Arbeiter, die Nationalisation<br />
der Bahnen <strong>und</strong> Bergwerke, vors Parlament<br />
gebracht, <strong>und</strong> jetzt verleugnet ein Teil von<br />
ihnen dieselben. Nur v e r g e ß t i h r , d a ß<br />
a l l e d i e s e s c h ö n e n R e f o r m e n v o n<br />
d e r r a d i k a l e n B o u r g e o i s i e erf<strong>und</strong>en<br />
w o r d e n sind, lang ehe es e i n e soziald<br />
e m o k r a t i s c h e Partei g a b . Übrigens<br />
besteht die Einkommensteuer in England<br />
<strong>und</strong> Preußen; die Altersversorgung in<br />
Deutschland <strong>und</strong> England <strong>und</strong> bald auch<br />
in Österreich; die Bahnen sind verstaatlicht<br />
in Deutschland, Belgien, sogar in Rußland.<br />
Und jetzt, wo die Radikalen in Frankreich<br />
gezwungen sind, ihre diesbezüglichen Versprechungen<br />
einzulösen, tretet ihr vor, um<br />
den Verdienst dafür einzuheimsen. D a s<br />
ist freilich b e q u e m e r , als d u r c h s<br />
g a n z e L a n d den S o z i a l i s m u s <strong>und</strong> die<br />
s o z i a l e R e v o l u t i o n zu p r e d i g e n ; als<br />
den geistig zurückgebliebenen Arbeiter- <strong>und</strong><br />
Bauernmassen darzulegen, daß die einzige<br />
Lösung, um ihr Elend abzuschaffen, die<br />
ist, die Arbeitsmittel zu ihrem gemeinsamen<br />
Eigentum zu machen.<br />
Und wenn ihr bloß unnütz wäret!<br />
Am 18. November hat unser G e n o s s e Hervé<br />
nach neunmonatlicher Haft das Gefängnis verlassen<br />
; einige T a g e darauf hat er in einer großen<br />
Versammlung die Idee des revolutionären Sozialismus<br />
aus Anlaß des Beschlusses des Toulouser<br />
sozialdemokratischen Kongresses — über den wir<br />
in letzter Nummer des „W. f. A." unsere Meinung<br />
äußerten — dargelegt. Seine Ausführungen sind für<br />
uns deshalb von besonderem Interesse, weil sie<br />
uns wiederum zeigen, daß ein Teil der französischen<br />
Sozialisten wirklich S o z i a l i s t e n — also wenn<br />
auch nicht dem Namen, so doch der Überzeugung<br />
nach A n a r c h i s t e n — sind, <strong>und</strong> daß ihr Bruch<br />
mit der parlamentarischen Sozialdemokratie <strong>und</strong> die<br />
Vereinigung sämtlicher revolutionären Kräfte Frankreichs<br />
nahe bevorsteht. Wir bringen das Referat<br />
Hervés, das dieser gegen Jaurès <strong>und</strong> in einer v o n<br />
d i e s e m einberufenen Versammlung hielt, auszüglich<br />
wieder. Nachdrücklich heben wir hiermit hervor,<br />
daß in der von Jaurès den Versammelten nachher<br />
unterbreiteten Resolution die Worte von der parlamentarischen<br />
Aktion zu Gunsten angeblicher Eroberung<br />
der Staatsgewalt v o l l s t ä n d i g a u s -<br />
g e l a s s e n wurden. Wir bringen die Rede auch<br />
deshalb, weil wir nicht fehl zu gehen glauben, wenn<br />
wir von ihr den Anfang der offenen Spaltung<br />
zwischen parlamentarischen Strebern <strong>und</strong> revolutionären<br />
Sozialisten innerhalb der französischen<br />
Sozialdemokratie datieren. In mehr als einem Satze<br />
glossiert Hervé, freilich unbewußt, auch haarscharf<br />
die Ereignisse innerhalb der ö s t e r r e i c h i s c h e n<br />
Sozialdemokratie während der letzten 14 T a g e .<br />
Anm. d. Red.<br />
Aber ihr seid eine Gefahr für den Sozialismus,<br />
d e n n aus S o r g e um e u e r e<br />
W a h l e r f o l g e — welche das einzig Wichtige<br />
für euch sind — bekämpft ihr jede<br />
Regung des revolutionären Geistes! Ihr<br />
predigt fortwährend gegen jede soziale<br />
Massenaktion des Proletariats oder verdächtigt<br />
dieselbe als das Werk der Polizei.<br />
Aber die direkte Aktion ist keineswegs so<br />
nutzlos, wie ihr behauptet. Sie ist es, welche,<br />
zielbewußt angewendet, die Kapitalisten <strong>und</strong><br />
Regierungen am meisten zum Nachgeben<br />
bewegt. Fragt nur die großen Unternehmer<br />
<strong>und</strong> Aktiengesellschaften, die ihre Arbeiter<br />
aussperren, ob es ihnen gleich ist, wenn<br />
die letzteren, ehe sie die Werkstatt verlassen<br />
<strong>und</strong> auf die Straße geworfen werden,<br />
in ihrer Arbeit passive Resistenz üben?<br />
Fragt die Maurer <strong>und</strong> Erdarbeiter von Paris,<br />
ob sie nicht durch ihre soziale Organisationskraft<br />
die Streikbrecher besiegt haben?<br />
Es ist eine Schande, wenn ihr nach den<br />
blutigen Ereignissen von Villeneuve von<br />
»unnützen Plänkeleien« redet! Die Kameraden,<br />
die dort gefallen sind, sind nicht<br />
umsonst gestorben; die man verw<strong>und</strong>et<br />
<strong>und</strong> eingekerkert hat, leiden nicht umsonst.<br />
Die herrliche Tat der Solidarität <strong>und</strong> Empörung,<br />
welche sie vollbracht, haben das<br />
französische Proletariat aus seinem Schlummer<br />
erweckt. Sie war einer jener schmerzhaften,<br />
aber notwendigen Vorkämpfe, die<br />
das Proletariat zu immer kräftigeren Vorstößen<br />
veranlassen, die Herrschenden zum<br />
Denken zwingen wird <strong>und</strong> allein es sind, die<br />
sogar jene Reformen, denen ihr so viel<br />
Wert beilegt, beschleunigen.<br />
Wohin eure '»Vernünftigkeit« führt,<br />
haben wir erst kürzlich bei Anlaß des drohenden<br />
Marokkanischen Konfliktes mit<br />
Deutschland gesehen. I h r s o z i a l d e m o -<br />
k r a t i s c h e n W ä h l e r steht mit o f f e n e m<br />
M u n d e v o r dem A b g e o r d n e t e n h a u s e<br />
<strong>und</strong> w a r t e t auf e i n e s c h ö n e Rede von<br />
J a u r è s . Wenn er gut gesprochen, glaubt<br />
ihr, daß ihr etwas getan habt. Ihr denkt ja<br />
gar nicht daran, euch dementsprechend<br />
wirtschaftlich zu organisieren, daß ihr einen<br />
Krieg zur Unmöglichkeit macht, das ist<br />
euere geringste Sorge! Dahin führt euch<br />
euer parlamentarischer Schwindel kram. Wenn<br />
der Krieg morgen ausbricht, werdet ihr<br />
ebenso ohnmächtig sein, ihn zu verhüten,<br />
wie in 1870.<br />
Darum stellen wir diesem parlamentarischen<br />
Sozialismus, welcher nichts anderes<br />
kann als Vertreter wählen, unseren revolutionären,<br />
antiparlamentarischen Sozialismus<br />
entgegen. Wir kümmern uns nicht um die<br />
Erfolge der Wahlen. Wir wollen die parlamentarischen<br />
Reformen den bürgerlichen<br />
Radikalen überlassen <strong>und</strong> unsere Kräfte<br />
einer offenen, unermüdlichen Propaganda<br />
unseres sozialistischen Ideals widmen; denn<br />
wir brauchen den Sozialismus, nicht aber<br />
Scheinreformen. Wir wollen, daß unsere<br />
Propagandisten in die entlegendsten Dörfer<br />
dringen <strong>und</strong> die Masse der Bauern <strong>und</strong><br />
kleinen Besitzer beeinflussen, welche die<br />
allgemeine Arbeiterföderation nicht beeinflussen<br />
kann, da sie nur Lohnarbeiter in<br />
ihre Organisation aufnimmt; wir wollen<br />
diesen erklären, was das kämpfende Proletariat<br />
anstrebt, damit sie, die Bauern, in<br />
ihrem eigenen Interesse diesen Bestrebungen<br />
nichts in den <strong>Weg</strong> legen. Vor allem wollen<br />
wir sie durch die antimilitaristische Propaganda,<br />
welcher sie so leicht zugänglich<br />
sind, dahingehend aufklären, daß sie sich<br />
nicht dazu hergeben, die soziale Befreiung<br />
der städtischen Arbeiter zu unterdrücken.<br />
Und endlich müssen wir unsere Agitation so<br />
betreiben, daß die Massen es begreifen sollen:<br />
E s gibt kein g r ö ß e r e s V e r b r e c h e n ,<br />
als das V e r b r e c h e n des Krieges!«<br />
GENOSSEN! Kolportiert in<br />
allen Lokalen,<br />
in denen Ihr verkehrt, den „W. f. A."<br />
Werbet unermüdlich Abnehmer<br />
für unser Blatt!
Der Mißbrauch<br />
des Generalstreiks durch die<br />
Sozialdemokratie.<br />
I.<br />
Die sozialistische Lehre ist der Oedanke<br />
des Gemeinschaftsbesitzes aller Werkzeuge,<br />
aller Naturquellen <strong>und</strong> Reichtümer durch<br />
das Volk, ist die Anfhebung des Privateigentums<br />
<strong>und</strong> des ihm unentbehrlichen<br />
Lohnsystems. Soweit wir die Bestrebungen<br />
der unterdrückten Klassen in der Gesellschaft<br />
geschichtlich zu verfolgen vermögen, sehen<br />
wir, daß dieses Ideal sich stets als eine Art Protest<br />
wider die politischen Formen des Zusammenlebens<br />
<strong>und</strong> ihre rein äußerlichen<br />
Veränderungen aufpflanzt. Immer, wenn die<br />
Formen des politisch-staatlichen Zusammenlebens<br />
ihr äußeres Aussehen änderten, alle<br />
die hungernde Not <strong>und</strong> die soziale Besitzlosigkeit<br />
der ausgebeuteten Massen notdürftig<br />
zu verdecken gesucht ward, da war<br />
es stets die Idee des Gemeinschaftsbesitzes<br />
des Gr<strong>und</strong>es <strong>und</strong> Bodens, der Maschinen<br />
<strong>und</strong> sonstigen Erzeugungsmittel, die als<br />
lebendiger Leidensprotest die folgende Erklärung<br />
abgab: Alle eure politischen Reformen<br />
<strong>und</strong> Änderungen des Staatssystems<br />
sind für das Proletariat insoferne wertlos,<br />
als sie den Kern der Frage, das soziale<br />
Ausbeutungsverhältnis zwischen Reichen<br />
<strong>und</strong> Armen, nicht berühren; die »politischen<br />
Rechte« sind erst <strong>und</strong> dann auch wirklich<br />
n u r im Sozialismus enthalten; umgekehrt<br />
aber, der Sozialismus n i c h t in den »politischen<br />
Rechten«, die nur Scheingarantien<br />
<strong>und</strong> in ihrer tieferen Bedeutung gar nichts<br />
anderes sind, als eine direkte Bestechung<br />
der Volksführer, denen die Machthaber<br />
durch das allgemeine Wahlrecht, Parlamentarismus<br />
u. dgl. m. die Möglichkeit bieten,<br />
an der allgemeinen Ausbeutung <strong>und</strong> Beherrschung<br />
des Volkes auch m i t teilzunehmen.<br />
In seiner praktischen Klassenkampfpolitik<br />
ist der Sozialismus somit diejenige<br />
Lehre, die den Ausgebeuteten <strong>und</strong> Unterdrückten<br />
die wirtschaftliche, s o z i a l e<br />
Frage als das wichtigste <strong>Ziel</strong> des Kampfes<br />
zwischen den Ausbeutern <strong>und</strong> Ausgebeuteten<br />
darweist, ist derjenige <strong>Weg</strong>weiser, der<br />
sie davon abhalten soll, aufs neue die verhängnisvollen<br />
Irrtümer der Vergangenheit<br />
zu wiederholen, ihre Kraft <strong>und</strong> revolutionäre<br />
Stoßintensität auf nationale, religiöse, kurz<br />
politische Zwecke zu verzetteln. Die letzteren<br />
berühren, wie gesagt, die Kernfrage: Aufhebung<br />
der Lohnsklaverei n i c h t ; in dieser<br />
Aufhebung selbst ist aber bereits der größte<br />
Teil aller nationalen, religiösen <strong>und</strong> politischen<br />
Probleme naturgemäß gelegen, denn<br />
der anarchistische Sozialismus - nur dieser!<br />
— bedeutet Autonomie, freie föderalistische<br />
Gruppenvereinigung, ist Solidarität<br />
<strong>und</strong> Freiheit.<br />
So fassen die Anarchisten den Sozialismus<br />
auf. Für sie handelt es sich vor allem<br />
darum, das Heraufziehen der sozialen Revolution<br />
durch die geistige Erziehung des<br />
Proletariats <strong>und</strong> dessen Schulung im praktischen,<br />
sozialen Kampfe zu beschleunigen.<br />
Aus diesem Gr<strong>und</strong>e wenden sie ihre<br />
Hauptaufmerksamkeit den wirtschaftlichen<br />
Kampfesmitteln des Proletariats zu, einfach<br />
deshalb, weil das Proletariat in seiner<br />
Massengruppierung bislang keine anderen<br />
wirklichen Kampfesmittel besitzt. Denn von<br />
der Arbeit des Proletariats hängt die ganze<br />
bürgerliche Gesellschaft ab, <strong>und</strong> wenn diese<br />
Arbeit sich ihr einmal verweigert, ist sie<br />
ohnmächtig, muß mit dem Proletariate<br />
rechten. In einer solchen Kampfesschulung<br />
für immer weitere <strong>Ziel</strong>e bis zur vollständigen<br />
Befreiung erblicken die Anarchisten<br />
die Gewähr für diese selbst.<br />
Von diesem Standpunkte ausgehend,<br />
propagierten die Anarchisten stets den wirtschaftlichen<br />
Generalstreik, d. h. denjenigen<br />
Streik der organisierten Arbeiter, der sich<br />
gewisse wirtschaftliche <strong>Ziel</strong>e als unmittelbar<br />
zu erreichende Forderung stellt, haben<br />
schon seit den Zeiten der alten »Internationale«<br />
bewiesen, daß durch den Generalstreik<br />
politische wie soziale Reformen zu<br />
erreichen sind <strong>und</strong> der endliche Generalstreik,<br />
als Vollreife Frucht vorheriger Erprobung,<br />
Erweiterung <strong>und</strong> Immensität den<br />
Beginn der sozialen Revolution die<br />
Neugestaltung aller Lebensverhältnisse auf<br />
kommunistisch-anarchistischer Gr<strong>und</strong>lage -anbahnen<br />
würde.<br />
Neben den direkt dagegen Interessierten,<br />
der Bourgeoisie <strong>und</strong> den Staatsrepräsentanten,<br />
gab es für die Anarchisten, ihre Propaganda<br />
des Generalstreiks, keine größere Feindin<br />
<strong>und</strong> willfährigere Handmaid der bürgerlichen<br />
Gesellschaft, als die Sozialdemokratie. Wem<br />
ist es nicht in Erinnerung, wie sie den<br />
Generalstreik verleumdete, verlachte <strong>und</strong><br />
verhöhnte? Wer weiß nicht, daß sie, die<br />
»Wissenschaftliche«, seit Engels <strong>und</strong> mit<br />
ihm den Generalstreik als Generalunsinn<br />
ausposaunte -- bis sie die Kampfesbetätigung<br />
des romanischen Proletariats, vornehmlich<br />
unter dem Einfluß anarchistischer<br />
Gedanken stehend, auch des slavischen<br />
Proletariats dazu z w a n g , den Generalstreik<br />
als eine nicht nur ernst zu nehmende, sondern<br />
praktisch als ihre wichtigste Waffe,<br />
oder wie sie es nannte, als »letztes Mittel«<br />
anzuerkennen. Denn, so komisch es auch<br />
wirkt, der »Generalunsinn« ward urplötzlich<br />
»das letzte Mittel«, das imstande ist,<br />
dem bankerotten Parlamentarismus, der<br />
überall nur durch Gnade der Krone oder<br />
der republikanisch Herrschenden vegetiert,<br />
seine ihm einmal entzogene Basis zurückzuerobern.<br />
So wurde der Generalstreik auch<br />
ein Mittel der Sozialdemokratie, <strong>und</strong> wie<br />
sie es mit fast allen Gedanken des Sozialismus<br />
gemacht hat, die nun erst unter dem<br />
Einfluß unserer, der anarchistischen, auf<br />
den Gr<strong>und</strong> des ganzen Problems gehenden<br />
Aufklärung wieder gereinigt werden, so<br />
korrumpierte, verfälschte <strong>und</strong> mißbrauchte<br />
sie auch den Generalstreik für die ehrgeizigen,<br />
egoistisch-eigennützigen Zwecke<br />
ihrer F ü h r e r , die eben allzugern, gleich<br />
den bürgerlichen Abgeordneten, eine Rolle<br />
im »hohen Hause« spielen, die, dies sei<br />
nie übersehen, so gut bezahlt ist, daß nicht<br />
etwa die Kleinbourgeoisie, sondern nur die<br />
Großbourgeoisie diese Bezahlung als Maßstab<br />
ihrer Einkommensverhältnisse besitzt.<br />
Der Kampf zwischen Anarchisten <strong>und</strong><br />
Sozialdemokraten um den G e n e r a l s t r e i k<br />
ist in eine ganz neue Phase eingetreten.<br />
Dem Generalstreik die gebührende Anerkennung<br />
auch von Seite der Sozialdemokraten zu<br />
verschaffen — das ist dem Anarchismus an<br />
Hand der harten Tatsachen des Lebens <strong>und</strong> der<br />
soz.-dem. Ohnmacht gelungen. Heute handelt<br />
es sich um etwas anderes. Um nicht mehr<br />
<strong>und</strong> nicht weniger als darum, ihn wieder<br />
aus ihren Händen zu befreien, einfach deshalb,<br />
weil er darin eine taube Nuß, eine<br />
ganz wert- <strong>und</strong> zwecklose Kraftverschwendung<br />
proletarischer Energie geworden <strong>und</strong><br />
wird. Während wir Anarchisten den Generalstreik<br />
als Kampfesmittel zur Erringung<br />
höherer Löhne, niederer Mietspreise, kurz<br />
zwecks Verbesserung der sozialen Lebensverhältnisse<br />
in allen Richtungen betrachten,<br />
auch als Abwehrmittel gegen politische Anschläge<br />
der Reaktion, als Angriffsmittel, um<br />
deren Machtbereich zu schmälern, wie auch<br />
um Kriegen effektvoll vorzubeugen, verwerfen<br />
die Sozialdemokraten den Generalstreik<br />
in diesem Sinne vollständig <strong>und</strong><br />
wünschen ihn nur zu verwenden für die<br />
Aufrechterhaltung <strong>und</strong> als Schutzwaffe des<br />
Parlamentarismus. Desselben Parlamentarismus,<br />
der noch in keinem Lande trotz einer<br />
fast ein halbes Jahrh<strong>und</strong>ert währenden proletarischen<br />
Betätigung auch nur im Geringsten<br />
die Lage des arbeitenden Volkes<br />
verbessert hat, der, im Gegenteil, dasjenige<br />
Feigenblatt des Absolutismus war, durch<br />
das das bestehende Herrschaftssystem die<br />
Ausbeutung u n g e s t ö r t e r <strong>und</strong> u n s i c h t -<br />
b a r e r betreiben konnte. Unterstützt wird<br />
es in diesem Tun von den gewählten Parlamentariern<br />
a l l e r Parteien, denen dabei<br />
die Aufgabe zufällt, durch weinselige Reden<br />
<strong>und</strong> hochtönende Phrasen dem Volke Sand<br />
in die Augen zu streuen <strong>und</strong> es vom<br />
Kampfe wider die wahren Schuldigen abzulenken,<br />
in einen wüsten Parteikampf<br />
wider die vorgeschobenen Helfershelfer<br />
der verschiedenen Ausbeutungs- <strong>und</strong> Herrschaftsinteressen<br />
hinein zu zerren, der natürlich<br />
sozial in keiner Weise zur Emanzipation<br />
führen kann, nur immer tiefer in das<br />
Dickicht des Parteihasses, des Scheinkampfes<br />
<strong>und</strong> der vermehrten Versklavung<br />
geleitet.<br />
W i r A n a r c h i s t e n v e r k ü n d e n :<br />
D e r G e n e r a l s t r e i k m u ß e i n K a m -<br />
p f e s m i t t e l d e s V o l k e s s e i n , u m<br />
w i r t s c h a f t l i c h e V e r b e s s e r u n g e n z u<br />
e r r i n g e n , a u f d a ß e s e n d l i c h den<br />
W e g b e t r e t e , d e r z u r v o l l s t ä n d i g e n<br />
A b s c h ü t t e l u n g der L o h n f e s s e l n führt.<br />
Darauf entgegnen die Sozialdemokraten:<br />
»Ihr seid Hetzer, Schürer! Ihr wollt das<br />
Volk in die Kanonen hinein treiben! Ihr<br />
ruft es auf zu Aktionen, denen es nicht<br />
gewachsen ist!«<br />
Niemals sind größere Lügen geäußert<br />
worden, als diese Worte sie enthalten, die<br />
auch sinnfällig die innere Verwandtschaft<br />
zwischen Sozialdemokratie <strong>und</strong> Bürgertum<br />
offenbaren. Und um ihnen einmal ganz gehörig<br />
die Spitze abzubrechen, ist es nötig,<br />
gründlich ins Gericht zu gehen mit ihren<br />
Verübern. Denn es ist nicht wahr, daß w i r<br />
das Volk »verhetzen«; wir klären es auf,<br />
weisen ihm den <strong>Weg</strong>, den es zu wandeln<br />
hat, um sich befreien zu können <strong>und</strong> verweisen<br />
es auf seine eigene Kraft, die jeder<br />
der Freiheit würdige <strong>und</strong> für sie reife<br />
Mensch zu betätigen wissen muß. Aber<br />
gerade umgekehrt wird ein Schuh daraus:<br />
Die Sozialdemokratie hat das Volk schon<br />
mehrfach in ein G e n e r a l s t r e i k a b e n t e u e r<br />
zu G u n s t e n der W a h l r e c h t s e r r i n g u n g<br />
hineingehetzt, hat es für vollständig falsche<br />
Zwecke in Bewegung gesetzt, vor allem<br />
dieses Volk dazu verführt, s e i n Leben in<br />
Gefahr zu bringen <strong>und</strong> zu opfern für die<br />
Interessen anderer, nämlich der auf Gr<strong>und</strong>lage<br />
des allgemeinen Wahlrechtes G ew<br />
ä h l t e n . Es ist dies ein eigenes Kapitel<br />
in der Geschichte des Generalstreiks, ist<br />
bis jetzt noch gar nicht gewürdigt worden,<br />
<strong>und</strong> verdient ganz insbesondere von uns<br />
Österreichern aufgerollt zu werden, die wir<br />
jetzt wieder vor der durch das ungarische<br />
Schwindelwahlrecht geschaffenen Propaganda<br />
für den Generalstreik zu Gunsten<br />
des allgemeinen, gleichen Wahlrechtes in<br />
Ungarn stehen, wie auch vor der durch<br />
die Beschränkung, Verkümmerung <strong>und</strong> Verkrüppelung<br />
des Landtagswahlrechtes in den<br />
diversen Kronländern geschaffenen Generalstreiksituation.<br />
Sozialdemokratie <strong>und</strong> Christlichsoziale<br />
sind es, die nun gemeinsam vorgehen<br />
<strong>und</strong> das Volk zur Demonstration,<br />
wie Aktion aufrufen. Nur wir sagen: Die<br />
Wahlrechtsfrage ist eine b ü r g e r l i c h e<br />
Frage, hat mit dem Sozialismus nichts zu<br />
schaffen; mögen die Bourgeoisie <strong>und</strong> diejenigen<br />
kleinbürgerlichen Elemente, die sich<br />
auch verkürzt wissen, sich dafür einsetzen,<br />
mögen sie mit Steuerverweigerung etc. antworten.<br />
Das Proletariat kann sie in diesem<br />
Kampfe sympatisch unterstützen; niemals<br />
aber soll es seine soziale Kampfeskraft <strong>und</strong><br />
seine Energie in den Dienst bürgerlicher<br />
Interessen stellen. Will man einen Generalstreik<br />
- dann ein Generalstreik für proletarische<br />
Interessen, gegen Staat, Kapital<br />
<strong>und</strong> Bourgeoisie!<br />
II.<br />
Betrachten wir des näheren die unverantwortliche<br />
Hineinhetzerei in einen Generalstreik,<br />
die die Sozialdemokratie zu<br />
Gunsten wert- <strong>und</strong> zweckloser »politischer<br />
Rechte« mit dem Volke getrieben hat.<br />
Belgien.<br />
Zwischen den 80er <strong>und</strong> 90er Jahren<br />
gab es in B e l g i e n ausgedehnte Berg-
arbeiterstreiks, die oftmals eine Viertelmillion<br />
Arbeiter erfaßten. Durch diese<br />
Streiks errangen sich die Grubensklaven<br />
ihre Koalitionsrechte, nämlich durch die<br />
Praxis des wirtschaftlichen Kampfes. Zur<br />
gleichen Zeit arbeitete die sozialdemokratische<br />
Partei Belgiens auf Abschaffung des<br />
Zensuswahlrechtes hin. Natürlich ganz vergebens,<br />
da sie keine soziale Macht bildete.<br />
Da fiel ihr Augenmerk auf die wirtschaftliche<br />
Aktion des Proletariats, der Gedanke<br />
bemächtigte sich ihrer, d i e s e für s i c h<br />
a u s z u b e u t e n . Allmählich drängte man die<br />
wirtschaftlichen Forderungen der Arbeiter<br />
z u r ü c k , verlegte sich auf die Propaganda<br />
für den Generalstreik zu Gunsten des allgemeinen<br />
Wahlrechtes. Und in der Tat —<br />
schon durch einige kleinere Proben desselben,<br />
die das belgische Proletariat abgab, willigte<br />
im Februar 1893 die Regierung schließlich<br />
ein, an eine Revision des Wahlrechtes herantreten<br />
zu wollen — froh, auf diese Weise<br />
die wirtschaftliche »Begehrlichkeit« des Proletariats<br />
eingedämmt zu haben. Aber die<br />
Regierung hielt ihr Versprechen nicht, <strong>und</strong><br />
da d e k r e t i e r t e die Sozialdemokratie den<br />
Generalstreik, an dem sich etwa 250.000 Arbeiter<br />
beteiligten <strong>und</strong> der 8 Tage dauerte.<br />
Es fanden Versammlungen, Umzüge statt,<br />
die zu Zusammenstößen mit der militärischen<br />
Macht führten, sehr zahlreiche Opfer forderten<br />
— für das Wahlrecht, das in Form<br />
des Pluralitätsmodus schließlich gewährt<br />
wurde, der Sozialdemokratie 28 Sitze eintrug.<br />
Im Jahre 1902 wiederholte die Partei<br />
das interessante Spiel — es kam zu den<br />
blutigsten Niedermetzelungen von Arbeitern.<br />
Diesmal handelte es sich um Durchführung<br />
der Parole: »Ein Mensch, eine Stimme!«<br />
Die Aktion endete mit vollständigstem Mißerfolg,<br />
unter Aufwendung der größten Opfer.<br />
Bis heute haben die belgischen Arbeiter<br />
n i c h t s durch das Parlament erreicht, ihre<br />
Opfer sind vollständig vergebens gewesen.<br />
Bis heute ist es den Herren Sozialdemokraten<br />
noch nicht eingefallen, das Experiment<br />
nun einmal nicht für Parlamentssitze,<br />
sondern z. B. für den Achtst<strong>und</strong>entag durchzuführen.<br />
Für die Streber opfert sich das<br />
Volk so lange, bis ihm keine Kraft mehr<br />
verbleibt für eine wirkliche f ü r A l l e<br />
heilsame Aktion.<br />
Schweden.<br />
Durch den Anstoß von Belgien sah<br />
sich auch die schwedische Sozialdemokratie<br />
bewogen, auf die Generalstreikaktion zu<br />
pochen. Hier aber begegnete sie einem unverhofften<br />
Widerstande. Wie der Sozialdemokrat<br />
Branting selbst eingesteht, wollten<br />
die Gewerkschaften instinktiv nicht »in<br />
diese rein p o l i t i s c h e Angelegenheit gezogen<br />
werden«. Aber es half ihnen nichts,<br />
sie wurden dazu gezwungen, <strong>und</strong> so proklamierte<br />
die Sozialdemokratie am 15. Mai<br />
1902, während der Reichstagsdebatte, ihren<br />
»politischen Demonstrationsstreik« über das<br />
ganze Land. R<strong>und</strong> 120.000 Teilnehmer fand<br />
diese Aktion. Überall wirkte der Generalstreik,<br />
das ganze soziale Leben stockte,<br />
nach zwei Tagen kehrten die Arbeiter<br />
wieder zur Arbeit zurück. Sie hatten vage<br />
Regierungsversprechungen erzwungen, die<br />
bis heute noch nicht verwirklicht sind.<br />
Die einzigen, die damals, auch nach<br />
der Nachgiebigkeit der Gewerkschaften, die<br />
wenigstens gleichzeitige Aufstellung soz<br />
i a l e r Forderungen verlangt hatten, waren<br />
die sogenannten Jungsozialisten, die anarchistischen<br />
Sozialisten, die sich um den<br />
Genossen H i n k e B e r g e g r e n schaarten.<br />
Sie wurden von Sozialdemokraten in perfidester<br />
Weise bekämpft <strong>und</strong> verleumdet. Und<br />
so streikten 120.000 Arbeiter — um nichts<br />
zu erreichen, bloß zur höheren Glorie der<br />
Herren Mandatsjäger.<br />
Österreich.<br />
Es erübrigt sich für uns, die österreichische<br />
Wahlrechtskampagne der Sozialdemokratie<br />
einer eingehenden Würdigung<br />
zu unterziehen. Sie ist noch in aller Erin-<br />
nerung. Seit der Parteitag im Jahre 1893<br />
eine Resolution über »Das allgemeine Wahlrecht<br />
<strong>und</strong> der Generalstreik« angenommen<br />
hatte, lebten in Österreich die Ideen Oberwinders<br />
wieder mächtig auf. Das Proletariat<br />
wurde vor den Karren der Bourgeoisinteressen<br />
des allgemeinen Wahlrechtes gespannt.<br />
Und der gute Gaul wurde nicht<br />
müde, zu ziehen. Er zog <strong>und</strong> zog, ließ sich<br />
für das Wahlrecht oftmals den Kopf entzweischlagen,<br />
Massendemonstrationen mit<br />
brutaler Waffengewalt auseinandersprengen,<br />
drängte jede wirklich sozialistische Agitation<br />
<strong>und</strong> Erziehung zurück, all dies zu Gunsten<br />
dieser einen liberalen Forderung. Der Parteischacher<br />
<strong>und</strong> die »Beziehungen« traten in<br />
den Vordergr<strong>und</strong>. Und mehr als einmal<br />
schien es zum Generalstreik kommen zu<br />
sollen. Hatte doch schon die »Arbeiter-<br />
Zeitung« den Aufruf für den vorerst dreitägigen<br />
Generalstreik <strong>und</strong> »vorläufig nur<br />
für Wien« (ein solcher wäre sicherlich mißglückt!)<br />
veröffentlicht. Aber eben die »Beziehungen«,<br />
die beugten all dem vor. Monate<br />
vor der aktuellen kaiserlichen Proklamation<br />
des allgemeinen Wahlrechtes — das<br />
für die zerrissenen politischen Verhältnisse<br />
der Monarchie eine Art Kitt sein sollte <strong>und</strong><br />
d e s h a l b gewährt wurde—, war es schon<br />
bekannt, daß das Wahlrecht gegeben werden<br />
würde. Allerdings nur den Führern der diversen<br />
volkstümlichen Parteien, die »Beziehungen«<br />
hatten <strong>und</strong> haben. Und so<br />
konnten die friedlichen Demonstrationen<br />
»für das allgemeine Wahlrecht« unter »behördlicher<br />
Konzession« vor sich gehen,<br />
waren direkt im Interesse der Befestigung<br />
des bestehenden Systems; eine zukünftige<br />
Kulturgeschichte des Sozialismus wird sie<br />
einst darstellen als ein Massenaufzug verführter<br />
Proletarier, die, ihnen selbst unbekannt,<br />
durch ihre nun ans <strong>Ziel</strong> ihrer Streberwünsche<br />
gelangten Führer zu einer monarchischen<br />
Huldigung mißbraucht wurden.<br />
Der Generalstreik schwebte förmlich<br />
in der Luft; die politische Konstellation<br />
Österreichs, die das Wahlrecht im bürgerlich-dynastischen<br />
Interesse förderte, hat ihn<br />
abgewendet. Seit dieser Zeit haben wir<br />
wirtschaftliche Niederschläge des Proletariats<br />
von entsetzlicher Traurigkeit gehabt,<br />
wie jene der Textilarbeiter Brünns etc.,<br />
eine riesige Lebensmittelverteuerung jagt<br />
das Land, die wirtschaftlichen Verhältnisse<br />
des österreichischen Arbeiters sinken —<br />
aber noch kein einziges Mal ist die Sozialdemokratie<br />
wieder auf den Generalstreik<br />
verfallen.<br />
Das Erfolgresultat des »allgemeinen<br />
Wahlrechtes« ist bis jetzt das folgende:<br />
N e u e S t e u e r n , v e r m e h r t e r M i l i t a -<br />
rismus, V e r s c h ä r f u n g d er A u s b e u t u n g<br />
— <strong>und</strong> brüderliche Eintracht -zwischen<br />
deutschen Chauvinisten, polnischen Schlachzizen,<br />
klerikalen Tschechen, christlichsozialen<br />
<strong>und</strong> zionistischen Demagogen mit der<br />
Sozialdemokratie, welch s ä m t l i c h e Parteien<br />
für die dringliche Lesung des Budgetprovisoriums,<br />
der w i c h t i g s t e n R e g i e -<br />
run g s vorläge stimmten, nur um ihre Diäten<br />
zu retten. So geschehen am 15. Dez. 1908.<br />
Deutschland.<br />
Auf dem Parteitag zu Jena wurde beschlossen,<br />
den Generalstreik »gegebenenfalls«<br />
in Betracht zu ziehen als Eroberungs<strong>und</strong><br />
Verteidigungsmittel zu Gunsten der<br />
»politischen Rechte« (die man in Deutschland<br />
gar nicht hat!).<br />
Das war 1906. Schon einige Monate<br />
darauf konnte unser Berliner sozialrevolutionäres<br />
Bruderblatt. »Die Einigkeit« b e -<br />
w e i s e n , daß Bebel, als echter Politiker,<br />
ein Mensch v o r <strong>und</strong> ein anderer h i n t e r<br />
den Kulissen sein kann, ein solcher ist. Auf<br />
dem Parteitag zu Jena war er begeistert<br />
für den Generalstreik, im engen Zirkel<br />
einer vertrauten Gewerkschaftsbeamtensitzung<br />
drückten sich die Auguren einmütig<br />
die Hände, vollkommen eins im Entschluß,<br />
den Generalstreik nie auch nur zu versuchen.<br />
Uns ist dies entschieden lieber. Auf<br />
jeden Fall aber charakterisiert solches Vorgehen<br />
die deutsche Sozialdemokratie, deren<br />
armselige, bedauernswürdige Spiegelfechterei<br />
nach oben hin — mit der sie aber<br />
niemanden mehr täuscht!<br />
III.<br />
Wir glauben, die obige Zusammenstellung<br />
genügt, ohne daß wir es noch<br />
nötig hätten, auf gewisse direkte Verratserscheinungen<br />
in der Betätigung der russischen<br />
Sozialdemokratie während der ersten<br />
Epoche der dortigen Revolution hinzuweisen.<br />
Für uns ist diese Darstellung doppelt aktuell,<br />
eben weil, wie gesagt, dieselbe Sozialdemokratie,<br />
die den Generalstreik für<br />
wirtschaftliche Zwecke nicht genug perhorreszieren<br />
kann, ihn für Ungarn, öffentlich<br />
<strong>und</strong> versteckt herbeizuführen bestrebt ist,<br />
weil es sich dorten um die Erringung eines<br />
«allgemeinen Wahlrechtes» handelt, das,<br />
wenn sogar gewährt, durch eine schwindelhafte<br />
Wahlgeometrie illusorisch gemacht<br />
würde. In Ungarn wird das Koalitionsrecht<br />
mit Füßen getreten, die Landarbeiter werden<br />
bis aufs Blut ausgesaugt, Preß- Rede- oder<br />
Versammlungsfreiheit existieren auf dem<br />
Papier, aber nicht in der Wirklichkeit; gegen<br />
alle d i e s e Z u s t ä n d e , deren Verbesserung<br />
wirklich zu den Lebensnotwendigkeiten der<br />
arbeitenden Klasse gehört, will die Sozialdemokratie<br />
keinen Generalstreik. Hingegen ist<br />
sie für einen Generalstreik, dessen <strong>Ziel</strong> die<br />
Ermöglichung der Erwählung recht vieler<br />
Abgeordneten wäre. Sie würden wohl das<br />
Koalitionsrecht usw. erkämpfen? Eine traurige<br />
Antwort bietet uns gerade jetzt Österreich,<br />
wo 89 Sozialdemokraten im Parlament<br />
die gleiche «Macht» haben, wie früher ein<br />
Bäckerdutzend — nämlich k e i n e !<br />
Nicht wir Anarchisten sind es, die in<br />
unverantwortlicher Weise das Volk aufhetzen.<br />
Wir erziehen das Volk zu einer<br />
neuen Geistesanschauung <strong>und</strong> Lebensauffassung.<br />
Um diese zu betätigen, dazu bieten<br />
wir ihm diejenigen Waffen, die in ihm<br />
s e l b s t wurzeln <strong>und</strong> die, falls solidarisch<br />
angewandt, ihm selbst, dem Volke, <strong>und</strong><br />
zwar s o f o r t helfen. Wir lehren das Volk<br />
auf die K u n d e d e r S e l b s t h i l f e zu<br />
horchen <strong>und</strong> zu vertrauen. Denn nur im<br />
Kampfe für seine unmittelbaren <strong>Ziel</strong>e, die<br />
ihm eine Stählung bieten für das Ringen<br />
um weitere große Zwecke, kann es sich<br />
helfen. Kein Gott, kein Staat, kein Parlament<br />
wird ihm helfen, wenn es sich nicht<br />
selbst hilft. Die praktische Betätigung dieser<br />
Selbsthilfe ist der Generalstreik — nicht<br />
zu Gunsten von einigen Dutzend gewählt<br />
sein möchtenden Leuten, sondern d u r c h<br />
das Proletariat, für das Proletariat <strong>und</strong><br />
ausschließlich für den sofort zu genießenden<br />
Vorteil des Proletariats, wenn siegreich.<br />
Ein solcher Kampf ist allerdings mühsam,<br />
die sich ihm weihen, werden nie die Annehmlichkeiten<br />
des Abgeordnetenlebens<br />
genießen, sie müssen Schulter an Schulter<br />
mit den Massen kämpfen, leiden — <strong>und</strong><br />
oft auch fallen. Aber es ist ein unumgänglicher,<br />
notwendiger, Kampf, der durchgefochten<br />
werden muß, auf daß der Sozialismus,<br />
der heute nur ein Traumgespinst, im Stande<br />
sein soll, die Bühne der Weltgeschichte zu<br />
betreten. Pierre Ramus.<br />
Empfehlenswerte Bücher <strong>und</strong> Broschüren:<br />
Der letzte Krieg, von Teranus, eleg. geb. . K 5 —<br />
Wohlstand für Alle, von Peter Krapotkin „ 1.80<br />
Wiliam Godwin, der Theoretiker des kommunistischen<br />
Anarchismus, v. Pierre Raraus „ 2.—<br />
Das anarchistische Manifest, v. P. Ramus „ —'04<br />
Kritische Beiträge zur Charakteristik von<br />
Karl Marx, von Pierre Ramus . . . . „ — 1 2<br />
Wie klärt man Kinder auf? „ —-12<br />
Das Dogma von der Vaterlandsliebe , —"12<br />
Liebesfreiheit <strong>und</strong> Elleprostitution, v. Fernau „ —-12<br />
Gretchen <strong>und</strong> Helene, Zeitgemäße Betrachtung<br />
des Anarchismus u. d. Sozialdemokratie „ —"20<br />
Die Sintflut, von T h e o d o r Brunnecker . . „ —*12<br />
Die Auferstehung, v. T h e o d e r Brunnecker „ —•¿2<br />
Eine Reise nach dem fenseits, von T h e o d o r<br />
Brunnecker „ —-12<br />
Die Pariser Kommune, von P. Krapotkin . „ —-12<br />
Kultur <strong>und</strong> Fortschritt, von F. Thaumazo . „ — "03<br />
Kritik <strong>und</strong> Würdigung des Syndikatismus,<br />
von P. Ramus „ — -05
Aus der Internationale des revolutionären Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus.<br />
Auf Agitation.<br />
(Fortsetzung <strong>und</strong> Schluß aus Nr. 21.)<br />
Ich trat Herrn Simon Starck entgegen, wies<br />
ihm die kolossalen Widersprüche in seiner Rede<br />
nach; zeigte dem Mann, wie der freiheitliche S o -<br />
zialismus in der alten Internationale entstanden;<br />
daß die proudhonistische Bewegung das Prinzip<br />
der Produktivassoziationen schon längst mit dem<br />
• Anarchismus verknüpft hat; wies besonders nachdrücklich<br />
auf d e n Umstand hin, wie u n a u f r i c h t i g<br />
es sei, sich so wegwerfend über den Parlamentarismus<br />
zu äußern, wie er es getan, sich aber<br />
dennoch daran zu beteiligen; <strong>und</strong> hielt ihn besonders<br />
bei seiner stereotypen Phrase fest: „ E s g i b t<br />
k e i n e v o l l s t ä n d i g e L ö s u n g d e r s o z i a l e n<br />
F r a g e " . Denn durch diesen Satz hat Herr S. Starck<br />
eigentlich zugestanden, daß er k e i n Sozialist mehr<br />
ist. Die Sozialisten sind nämlich davon überzeugt,<br />
daß dies, was man heute soziale Frage nennt, also<br />
die Totalsumme ökonomischer Ausbeutung <strong>und</strong><br />
sozialer Versklavung durch die Aufhebung sämtlicher<br />
Herrschafts- <strong>und</strong> Ausbeutungsinstitutionen behoben<br />
sein würde; wer dieser Ansicht nicht ist, mag sonst<br />
ein ganz guter Kerl sein, streicht sich aber als S o -<br />
zialist.<br />
Wie antwortete Herr Starck auf meine zahlreichen<br />
Einwendungen? Ich muß gerechter Weise<br />
konstatieren, daß es nur seinem Einspruch zu verdanken<br />
war, daß ich teilweise aussprechen konnte;<br />
seine persönlichen Anhänger wollten es durchaus<br />
nicht zulassen. Rohe Worte, Raufgelüste zeigten<br />
sich hier wie bei unseren Wiener Sozialdemokraten,<br />
obwohl ich mich durchaus im Rahmen theoretischtaktischer<br />
Diskussion hielt. Und dann, als ich g e -<br />
endigt hatte, wie antwortete Herr S t a r c k ? Kurz<br />
gesagt: Mit einer sprudelnden Fülle von persönlichen<br />
Verdächtigungen, Verdrehungen des anarchistischen<br />
Standpunktes <strong>und</strong> oftmals offenk<strong>und</strong>igen<br />
Verleumdungen à la Plechanoff! Alles dies unter<br />
dem vergnügten Johlen seiner persönlichen Anhänger.<br />
Und wie dieser Mensch polemisiert, das entnehme<br />
man dem einen B e i s p i e l : Auf meinen Hinweis, daß<br />
im Sozialismus <strong>und</strong> Anarchismus die Lösung der<br />
sozialen Frage gelegen sei, antwortete Starck wörtlich:<br />
„Nein, es gibt keine Lösung der sozialen Frage,<br />
denn es gibt keinen Stillstand in der Natur. Wie<br />
kann man von Lösung der sozialen Frage sprechen<br />
— u n d w i e w e n n u n s e r P l a n e t u n t e r g e h t<br />
o d e r e i n e n e u e E r f i n d u n g a l l e s ü b e r d e n<br />
H a u f e n w i r f t ? " Eine ideale Polemik, nicht wahr,<br />
diese Henimjongliererei mit unverstandenen Begriffen<br />
<strong>und</strong> Worten? Herr St. warf mir Büchergelahrsamkeit<br />
vor; er, als ehemaliger Kohlengräber, habe keine<br />
Zeit dazu. Dabei zog er, um den Anarchismus<br />
geistig zu vernichten, ein dickleibiges Buch hervor:<br />
Bernsteins „Zur Geschichte <strong>und</strong> Theorie des Sozialismus".<br />
Durch den darin enthaltenen alten<br />
Schmockartikel Bernsteins über den Anarchismus,<br />
der bei keinem ernsten Kritiker des Anarchismus<br />
auch nur die geringste Rolle mehr spielt, mit diesem<br />
Ladenhüter an Gedanken <strong>und</strong> Ideen versuchte er,<br />
den Anarchismus als „Traum, Hirngespinst" hinzustellen,<br />
zu widerlegen.<br />
Es half ihm nichts; trotz des niederschmetternden<br />
Anblicks, den der Fanatismus — auch bei<br />
diesen Leuten! — auf einen macht, gelang es Herrn<br />
Starck nicht, wieder a l l e zu betören. Eine ganze<br />
Anzahl w o l l t e mehr wissen, <strong>und</strong> diese Gelegenheit<br />
ist ihnen nun geboten. —<br />
Die weitere Entwicklung dieser Bewegung,<br />
die auf ges<strong>und</strong>em Boden Großartiges leisten könnte,<br />
ist mir schon heute klar. Die wertvollsten Elemente<br />
entwickeln sich sehr rasch zum Anarchismus, indem<br />
sie den Gedanken des freiheitlichen Sozialismus —<br />
wie würde Bernstein lachen, wenn er wüßte, daß<br />
er hier einen ,,freiheitlichen"(l) Sozialismus als Ableger<br />
fand, er, der konsequente Bourgeois-Demokrat!<br />
- logisch ausdenken. Und der Wahrheit die E h r e :<br />
es sind zum größten Teil brave Elemente, die wir<br />
hierdurch gewinnen, in jeder Hinsicht beachtenswerte<br />
Männer der T a t <strong>und</strong> des Gedankens. Die<br />
anderen werden nach einer Reihe von Jahren wieder<br />
ins sozialdemokratische Lager zurück ihren <strong>Weg</strong><br />
finden, viele auch in das bürgerliche, <strong>und</strong> nur ein<br />
kleiner Teil wird, als persönliche Anhänger, um<br />
Starck gruppiert bleiben. Über Starcks Zukunft<br />
selbst will ich mich nicht äußern, sie ist mir nur<br />
sehr problematisch. —<br />
Es gebricht mir leider an Raum, über die<br />
vorzüglichen Versammlungen in der Schiffverladergewerksch?ft<br />
von Schönpriesen, über die B e s p r e -<br />
chung in Ober-Georgental <strong>und</strong> Grottau, die ich hatte,<br />
über die Versammlungen in Mariaschein <strong>und</strong> Reichenberg<br />
ausführlicher zu berichten. Überall gewann ich<br />
das Gefühl, daß es sich nur um ernste, eifrige Arbeit<br />
handelt <strong>und</strong> unsere Bewegung darauf einer<br />
großartigen <strong>und</strong> sehr erhebenden Zukunft unaufhaltsamen<br />
Fortschrittes entgegengeht. W a s die einzelnen<br />
Kameraden anbetrifft, so sind sie fast durchwegs<br />
Männer von Selbstbewußtsein <strong>und</strong> Begeisterung.<br />
Ich bin ihnen allen sehr verpflichtet für all die<br />
Fre<strong>und</strong>schaft, Bruderliebe <strong>und</strong> Gastgenossenschaft,<br />
die mir erwiesen wurde, <strong>und</strong> ich fühle mich veranlaßt,<br />
ihnen an dieser Stelle öffentlich zu danken.<br />
Meinem Versprechen getreu, erhalten nun die<br />
Genossen von überall, die sich an dieser, meiner<br />
Agitationstour beteiligt haben, meine Abrechnung.<br />
Einnahmen f ü r L i t e r a t u r u n d R e i s e s p e s e n<br />
Graz K 4 7 - , Marburg 31 59, Klagenfurt 4 9 4 5 ,<br />
W e y e r 12-—, Bruch <strong>und</strong> Dux 11 40, Zieditz 8 — ,<br />
Zwodan 12'—, Schönpriesen 32 15, Ober-Georgental<br />
5'—, Mariaschein 9 - , Reicheiibcrg 1 5 ' - ,<br />
Grottau 5 - Total K 2 4 7 8 5<br />
A u s g a b e n f ü r R e i s e s p e s e n (Bahn) . „ 87-30<br />
K 160 55<br />
An „Wohlstand für Alle" übergeben . . „ 157'—<br />
Rest K 3 5 5<br />
Pierre Ramus.<br />
Österreich.<br />
Wien. Der Prozeß gegen unseren ruthenischen<br />
Kameraden Lozynskyj, der am 9. Dezember stattfand,<br />
endete mit dem Freispruch des Angeklagten.<br />
Einen ausführlichen Prozeßbericht finden die Leser<br />
in der 1. Nummer des 2. Jahrganges.<br />
* <strong>Unser</strong>e letzte Nummer ward natürlich abermals<br />
konfisziert.<br />
* D a s Parlament ist die politische Geschäftsführung<br />
der Besitzenden. Und dessen Präsidium?<br />
Die Vertreter der Regierungsvorlagen, die darüber<br />
zu wachen haben, daß die Bedürfnisse des Klassenstaates<br />
ordnungsgemäß befriedigt werden. Und ein<br />
Mitglied dieses Präsidiums ist der Sozialdemokrat<br />
(in Wahrheit nie Sozialist, immer nur Demokrat<br />
gewesen!) E. Pernerstorfer. Wann beginnt die Eroberung<br />
der politischen M a c h t ? — Eine Stimme<br />
aus dem Hintergr<strong>und</strong>e: „Die Geschäfte gehen gut!"<br />
* V e r r a t o d e r D u m m h e i t ? Zu dem nachstehenden<br />
Schreiben eines sozialdemokratischen<br />
Tischlers, Mitglied des H o l z a r b e i t e r - V e r -<br />
b a n d e s , können wir nicht anders, als die obige<br />
Aufschrift beizufügen. Mögen die Leser selbst<br />
urteilen:<br />
„Verehrliche Redaktion! Ich weiß nicht, ob<br />
Sie diese Zeilen aufnehmen werden, denn ich bin<br />
n i c h t Anarchist <strong>und</strong> noch Sozialdemokrat. Nie<br />
habe ich mich aber in einer ähnlichen Zwickmühle<br />
bef<strong>und</strong>en, wie jetzt, wo ich mir sagen muß, daß<br />
ich, wenn ich ein Wort der Kritik gegen unsere<br />
Verbandsleitung zu sagen wünsche, dies anonym<br />
tun m u ß , um nicht ausgeschlossen zu werden, <strong>und</strong><br />
sogar in Ihrem Fachblatte, da mein Fachorgan diese<br />
Kritik einfach nicht aufnehmen würde.<br />
Sie haben schon in einer früheren Nummer<br />
unseren Verband <strong>und</strong> Rechnungsabschluß kritisiert,<br />
<strong>und</strong> bei dieser Gelegenheit lernte ich erst Ihr Blatt<br />
kennen. Nun ist aber der neueste, der des III. Quartals<br />
vom 1. Juli bis 30. September noch viel ärger,<br />
denn der „Holzarbeiter" teilt in seiner Nummer vom<br />
20. November ganz glatt mit, daß unser Verband<br />
praktisch bankerott ist mit einem Defizit von r<strong>und</strong><br />
6 1 0 0 0 Kronen. Jetzt, wo wir quasi vor einer Aussperrung<br />
stehen! Und da redet man noch immer<br />
von den gefüllten Kassen, die notwendig sind, um<br />
Streiks zu gewinnen. Sind diese da — dann ist<br />
gewöhnlich kein Geld da, <strong>und</strong> man muß bremsen.<br />
Wenn unsere Mitglieder statt eines Rechnungsberichtes<br />
einen R e c h e n s c h a f t s b e r i c h t von ihren<br />
Beamten verlangten, würden sie diesen Abschluß<br />
nicht so ohne weiteres passieren lassen. Unter den<br />
Ausgaben befindet sich z. B. ein Posten für „Fachblätter<br />
<strong>und</strong> Abonnements", der für die verstrichenen<br />
3 Monate die Summe von 2 6 2 6 9 2 6 K beträgt. W a s<br />
soll das heißen? Für Wahlfonds w i e d e r K 5 0 0 — .<br />
Und dabei lasse ich andere Auslagen für das Blatt<br />
ganz unberührt, obwohl sie wegen ihrer Bourgeoishöhe<br />
direkt in die Augen springend sind.<br />
Aber über etwas anderes wollte ich eigentlich<br />
schreiben. Es sollte doch üblich sein, daß bei eventuellen<br />
Kollektivvertragsabschlüssen die Arbeiter<br />
einfach höhere Forderungen aufstellen <strong>und</strong> es den<br />
Meistern überlassen, ihre chikanierenden Paragraphen<br />
<strong>und</strong> Punkte aufzustellen <strong>und</strong> zu erzwingen, die<br />
wirklich eine verblüffende Ähnlichkeit mit Zuchthausparagraphen<br />
haben. Jetzt, beim Ablauf unseres<br />
alten Vertrages ist es anders geworden. Kommt da<br />
die erste Dezembernummer des „Holzarbeiter" mit<br />
einer Vorlage eines den Meistern bereits eingereichten,<br />
neuen Kollektivvertrages heraus, die sich<br />
tatsächlich gewaschen hat. Es ist einfach ein S k a n -<br />
dal, wenn man bedenkt, daß unsere Verbandsleitung,<br />
sowie auch Vertrauensleute der Arbeiter, so eine<br />
Schmutzarbeit, wie dieser neue Kollektivvertrag vom<br />
Standpunkt eines jeden Sozialisten aus ist, verübt<br />
haben.<br />
Ich will den Raum Ihres Blattes nicht zu sehr<br />
in Anspruch nehmen <strong>und</strong> deshalb nur einiges aus<br />
dem Machwerk hervorheben. Die Arbeiterführer<br />
(unter der Leitung des sozialdemokratischen Reichsratsabgeordneten<br />
Widholz) haben hier einen Kollektivvertrag<br />
f ü r d i e M e i s t e r ausgearbeitet, der<br />
letzteren innigstes Vergnügen über die Dummheit<br />
<strong>und</strong> Gefügigkeit der Arbeiter bereiten mag. So soll<br />
z. B. der zwei Jahre giltige Vertrag schon 3 M o -<br />
n a t e vor Ablauf des Termins gekündigt werden<br />
müssen! (Damit sie Zeit zur Streikbrecherbesorgung<br />
haben <strong>und</strong> gründliche Vorbereitung für die allzweijährige<br />
Aussperrung treffen können?) Anstatt einmal<br />
ein Ende zu machen mit der Entwürdigung der Arbeiter<br />
durch das Arbeitsbuch, stützt sich der Verband<br />
bei der Aufnahme des Arbeiters auf dasselbe!<br />
Sie, die Herren Gewerkschaftsführer dekretieren den<br />
Meistern, daß die Arbeiter zufrieden sein müssen<br />
mit r<strong>und</strong> 9 stündiger Arbeitszeit; kein Versuch, um<br />
den Achtst<strong>und</strong>entag zu erringen! Und diese Herren<br />
sagen uns Akkordarbeitern (sie warten nicht darauf,<br />
daß die Meister es sagen, bekämpfen es gar nicht!):<br />
„Das Fernbleiben von der Arbeit o h n e t r i f t i g e n<br />
G r u n d oder vorher beim Geschäftsinhaber eingeholter<br />
Erlaubnis . . . kann nicht erlaubt werden."<br />
Am köstlichsten sind aber die aufgestellten Arbeitsbedingungen,<br />
die v o n d e n F ü h r e r n vorgeschlagen<br />
werden: so soll ein Ansuchen um Erhöhung eines<br />
akkordierten Lohnes erst „ n a c h v o l l s t ä n d i g e r<br />
Fertigstellung der Arbeit gestellt werden"! Ist diese<br />
Arbeit schlecht ausgeführt, da der Arbeiter mit dem<br />
Lohn nicht auskommt, so kann die Fabriksleitung<br />
nur e i n e s o l c h e A k o n t o z a h l u n g g e w ä h r e n ,<br />
welche der jeweiligen Arbeitsleistung entspricht;<br />
kann aber die Arbeit nicht zur richtigen Zeit fertig<br />
werden, dann, so rät <strong>und</strong> erlaubt der Kollektivvertrag<br />
der Arbeiterführer dem Unternehmer „Hilfsarbeiter<br />
a u f K o s t e n d e s A r b e i t e r s " b e i z u -<br />
s t e l l e n . Kein Wort davon, daß der Unternehmer<br />
dem Arbeiter von seinem Akkordlohn n i c h t s in<br />
Abzug bringen darf; im Gegenteil, der Arbeiter muß<br />
eine Hilfskraft bezahlen, die dem kapitalistischen<br />
Ermessen entspricht. Will man noch m e h r ? Soll ich<br />
vielleicht den Passus zitieren, in den die Führer<br />
hineingesetzt haben, daß jeder Arbeiter verpflichtet<br />
ist, „bei seinem Ausgang etwa wegzutragende P a -<br />
kete zur Inhaltsbesichtigung vorzuweisen ?" Ach, es<br />
ist zu gemein, solche Handlangerdienste für das<br />
Unternehmertum sind zu ekelhaft; <strong>und</strong> dabei b e -<br />
schmutzen sie die Ehre anständiger Arbeiter. —<br />
E i n e n s o l c h e n S k l a v e n v e r t r a g — von<br />
dem noch lange nicht alles gesagt ist — h a b e n<br />
A r b e i t e r v e r t r e t e r f ü r A r b e i t e r a u s g e -<br />
a r b e i t e t ! Könnten die gemeinsten Unternehmer<br />
härtere, schmachvollere, ausbeuterischere Zwangsparagraphen<br />
aufstellen? Unmöglich! Widholz s a g t e :<br />
„Wir haben die redliche Absicht, auf friedlichem<br />
W e g e einen neuen Vertrag abzuschließen." S o ?<br />
Das also ist die Leistung unserer zentralistischen<br />
Gewerkschaft! Mehr Sklaverei, mehr Erniedrigung.<br />
Tischler, Kollegen, ich rufe euch allen zu:<br />
I n d i e s e r W e i s e k a n n e s n i c h t w e i t e r<br />
g e h e n ! U n s e r e F ü h r e r f ü h r e n u n s i m m e r<br />
t i e f e r i n s A u s b e u t e r J o c h h i n e i n . R a f f e n<br />
w i r u n s a u f , s t e l l e n w i r u n s e r e e i g e n e n<br />
F o r d e r u n g e n a u f , k ä m p f e n w i r f ü r d i e -<br />
s e l b e n ü b e r d e n K o p f d e r F ü h r e r h i n w e g ,<br />
w e n n e s n ö t i g s e i n s o l l t e ! " F . H .<br />
Weyer. Wir erhalten folgende Zuschrift:<br />
„, . . Am 14. November fand hier eine Holzarbeiter-Versammlung<br />
statt, in der der Sozialdemokrat<br />
Pech gegen Dich <strong>und</strong> die Anarchisten zu Felde<br />
zog. Er s a g t e : es gäbe in Wien nur 70 Anarchisten,<br />
doch diese seien lauter Diebe <strong>und</strong> Streikbrecher.<br />
An deren Spitze stehen 4 B e a m t e <strong>und</strong> einer davon<br />
heißt Ramus, eigentlich Großmann, von dem Pech<br />
behauptet, er habe ihn in Wien vollkommen m<strong>und</strong>tot<br />
gemacht. Außerdem geht dieser Ramus wie ein<br />
Gigerl jeden T a g anders gekleidet; er besuche die<br />
feinsten Hotels Und Kaffeehäuser. Wo nehme dieser<br />
Kerl das Geld h e r ? Und geheimnisvoll betonte<br />
Pech, daß die Zeit nicht mehr fern ist, wo er b e -<br />
weisen werde können, daß die anarchistische B e -<br />
wegung von Regierungs-oder Parteigeldern bestochen<br />
sei . . . Helfen tat diese S a c h e dem Manne nicht,<br />
denn als am Nachmittag Bezirksvertrauensmänner-<br />
Sitzung sein sollte, da brachte man es glücklich<br />
bis zum Besuche von 3 Mann . . . Dies geschieht<br />
schon zum 2. Mal <strong>und</strong> darum der riesige Zorn. Von<br />
der Wiener Zentrale ist bereits die Ordre ausgegeben<br />
worden, mit Ausschließungen vorzugehen."<br />
Diese feige, erbärmliche Despotenart des Vorgehens<br />
wird die Gewerkschaft in W e y e r allerdings nicht<br />
stärken, im Gegenteil, sie veranlaßt nur zum Nachdenken.<br />
A n m e r k u n g d e r R e d a k t i o n . Wir haben<br />
das obige Schreiben dem Genossen Ramus vorgelegt<br />
<strong>und</strong> dieser erklärt:<br />
„Wenn die obigen Angaben Ihres Vertrauensmannes<br />
in Weyer wahr sind <strong>und</strong> der Sozialdemokrat<br />
P e c h sich wie angegeben ausgesprochen hat, so<br />
hat e r w i e e i n S c h u r k e gehandelt <strong>und</strong> verdient,<br />
als solcher gebrandmarkt zu werden. Erstens hat<br />
es Herr Pech bis zum heutigen T a g e vorgezogen,<br />
m i r n i e u n d i n k e i n e r V e r s a m m l u n g a l s<br />
G e g e n r e d n e r e n t g e g e n z u t r e t e n , ich persönlich<br />
also gar nicht weiß, wer er ist. Leute, die<br />
mich <strong>und</strong> Pech kennen, erklären, daß er es nie<br />
wagte, polemisch gegen mich aufzutreten. W a s die<br />
sonstigen, angeblich von Herrn Pech vorgebrachten<br />
Lügen anbetrifft, so richten sie sich s e l b s t : unsere<br />
Bewegung ist blutarm; <strong>und</strong> von Regierungsgeldern<br />
leben vorläufig nur Diätenrentiers. Sollte Herr Pech<br />
die obigen verleumderischen <strong>und</strong> schuftigen B e -<br />
hauptungen wirklich gemacht haben, was natürlich<br />
erst von ihm selbst konstatiert werden müßte, dann<br />
sagte ich nur so viel zu ihm: H e r a u s m i t d e n<br />
B e w e i s e n , S c h u f t e r l e ! Herr Pech würde großes<br />
Pech haben, um sie zu beschaffen!" P. Ramus.<br />
Rußland.<br />
Die <strong>Ziel</strong>scheibe der allgemeinen Entrüstung<br />
aller Parteien, die ganz rechten natürlich ausgenommen<br />
— ist jetzt der Unterrichtsminister Schwarz,<br />
auch ein echtrussischer Deutscher. W e r nicht zum<br />
„russischen Banner" schwört, wendet sich mit Unwillen,<br />
Zorn <strong>und</strong> Verachtung von diesem Manne<br />
ab, der s. Zt. noch das Gesuch um Autonomie der<br />
Universitäten unterschrieb, aber unlängst noch als<br />
Verweser des Moskauer Lehrkreises unmöglich war<br />
<strong>und</strong> jetzt den Unterrichtsminister der indolenten
macht <strong>und</strong> das zu ersticken droht, was die letzten<br />
Jahre keimen ließen.<br />
Während alle Welt Leo Tolstois 80. Geburtstag<br />
festlich beging, wurden nach allen Seiten des<br />
Reiches Kabinettverfügungen erlassen, die Feier<br />
dieses Ketzers, Aufrührers <strong>und</strong> Empörers namentlich<br />
im Schulressort nach Kräften zu hintertreiben, höchstens<br />
die Würdigung seines rein literarischen Wirkens<br />
zuzulassen. Zwar hieß es nachträglich, weder<br />
Stolypin noch Synod habe um die Erlässe gewußt,<br />
aber das ist kaum glaubwürdig <strong>und</strong> sollte wohl<br />
nur den Eindruck abschwächen, während die Handlung<br />
widerspruchsvoll genug ihres <strong>Weg</strong>es ging.<br />
Denn obgleich einerseits die Ernennungen Tolstois<br />
zum Ehrenmitglied seitens der St. Petersburger<br />
<strong>und</strong> Kasaner Universitäten bestätigt wurden, wurde<br />
andererseits eine Zuwendung von 1000 Rubeln, die<br />
die Wilnaer Duma zu Gunsten einer auf seinen<br />
Namen gestifteten Schule machte, annulliert, wurden<br />
seine Evangelienzusammenstellung, seine Lehre<br />
Christi, für Kinder bearbeitet <strong>und</strong> der zweite Band<br />
seiner Biographie von Pawel Jwanowitsch Birjakoff<br />
wegen der Zitate aus seinem Werk „Worin besteht<br />
mein Glaube?" konfisziert. Eben jener Erlässe<br />
wegen haben aber viele Private <strong>und</strong> Korporationen<br />
bis auf heute dem greisen Rufer im Streit ostentativ<br />
ihre Glückwünsche geschickt. Waren ihm doch viele<br />
zurückgewonnen durch seine heiße Improvisation:<br />
„Ich kann nicht schweigen", die er nachträglich im<br />
engen Kreise selbst als zu improvisiert bezeichnete.<br />
Selbst aus dem Ausland kam lauter Widerhall schriftlich<br />
<strong>und</strong> mündlich <strong>und</strong> der Alte von der „Lichten<br />
Flur" war ganz gerührt <strong>und</strong> tief freudig bewegt von<br />
der Hochflut auf ihn eindringender Empfindungen,<br />
der ihm gezollten Liebe, Achtung, Hingebung <strong>und</strong><br />
Begeisterung. Viele fanden sich bei diesen Gratulationen,<br />
<strong>und</strong> Schwarz mußte den Eindruck gewinnen,<br />
daß er mit diesen, seinen Erlässen, ebenso<br />
zur Einigung der Linken beigetragen, wie durch<br />
Ausschließung der Frauen von den Universitäten,<br />
seinem neuen Entwurf der Universitätsverfassung,<br />
seinen kleinlichen <strong>und</strong> herabsetzenden Schulvorschriften<br />
<strong>und</strong> seine verletzende Forderung an die<br />
Universitätsprofessoren, sich mit ihrer Unterschrift<br />
zu verpflichten, in keiner gegen den Staat gerichteten<br />
Partei tätig zu sein.<br />
Die Mißstimmung gegen ihn wächst, namentlich<br />
infolge der Klagen der aus ihrer Entwicklungsbahn<br />
geschleuderten Frauen <strong>und</strong> der unmöglichen Schulvorschriften,<br />
<strong>und</strong> seine Tage scheinen gezählt zu sein.<br />
Dafür wirken seine Schildknappen, Johann<br />
von Kronstadt, der Bildungs- <strong>und</strong> Ketzerfeind, <strong>und</strong><br />
Illioder, der Blutmönch <strong>und</strong> Judenfresser, unfaßbar<br />
weiter <strong>und</strong> schleudern ihre Stinktöpfe gegen die ganze<br />
Welt, pathetisch-heroisch <strong>und</strong> mit Priestergrazie.<br />
Die Hinrichtungen gehen dagegen ruhig fort<br />
<strong>und</strong> wo der Belagerungszustand aufgehoben, wird<br />
der außerordentliche Zustand eingeführt <strong>und</strong> die<br />
Verfassung bleibt hinter den Kulissen. Aber auch<br />
D e r A n t i m i l i t a r i s m u s<br />
als<br />
T a k t i k d e s A n a r c h i s m u s .<br />
V o n P i e r r e R a m u s .<br />
Referat, g e h a l t e n auf d e m i n t e r n a t i o n a l e n A m s t e r d a m e r K o n g r e ß<br />
d e r » I n t e r n a t i o n a l e n a n t i m i l i t a r i s t i s c h e n A s s o z i a t i o n «<br />
a m 3 0 . u n d 3 1 . A u g u s t 1907.<br />
(Schluß.)<br />
<strong>Unser</strong> Antimilitarismus ist deshalb so außerordentlich einzig gegenüber<br />
jedem anderen, weil es sich Ihm v o r a l l e m a n d e r e n — selbst v o r allen<br />
Aktionen! — darum handelt, e i n e p r i n z i p i e l l r i c h t i g e , k l a r e ,<br />
l o g i s c h e u n d u n z w e i d e u t i g e G e s i n n u n g s p r o p a g a n d a i m<br />
S i n n e s o z i a l e r G e w a l t l o s i g k e i t z u entfalten. Der anarchistische<br />
Antimilitarismus steht in prinzipieller Hinsicht grandios einheitlich da, in allen<br />
den obgenannten Fragen über Staat, Militarismus usw., gibt es für ihn keine<br />
theoretische Zerklüftung, ist seine Propaganda identisch mit seinem Enziel:<br />
S t a a t s - , a l s o H e r r s c h a f t s l o s i g k e i t , s o m i t S e l b s t e n t l e i -<br />
b u n g j e d e r G e w a l t s o r g a n i s a t i o n .<br />
U m d i e P r o p a g a n d a d i e s e r G e s i n n u n g h a n d e l t e s s i c h<br />
d e n A n a r c h i s t e n . Denn diese anarchistisch-antimilitaristische Gesinnung<br />
schafft sich ihre eigenen Betätigungswege, taktischen Mittel, die jene, die<br />
wir weiter oben besprochen, sehr oft übertreffen <strong>und</strong> so mannigfaltig sind,<br />
daß es unmöglich, sie zu gruppieren. Sie liegen begründet in dem humanen<br />
Freiheitsgeist des Anarchismus, der d i e s e Antimilitaristen beseelt; <strong>und</strong> wie<br />
die Offenbarung eines Geheimnisses sind diese Aktionen des Friedensgeistes<br />
überall, dürfen ähnlich der Freiligrathschen Revolutionsfigur, es mit erhabener<br />
Miene von sich behaupten, trotz tausendfältiger Verfolgung, versuchter<br />
Unterdrückung <strong>und</strong> Einkerkerung: „Ich war, ich bin <strong>und</strong> werde<br />
sein! . . ." Sie sind unfaßbar; sie werden erst verschwinden mit dem Verschwinden<br />
jeder Art des staatlichen Militarismus.<br />
* . *<br />
Es verbleibt uns noch, unsere Stellungnahme gegenüber den c h r i s t -<br />
l i c h e n Antimilitaristen <strong>und</strong> Anarchisten darzulegen, bevor wir zum Schlüsse<br />
eilen. Wir beziehen uns hiermit vornehmlich auf das wie ein Programm sich<br />
ausnehmende, kondensierende Buch von H e r m a n n W e t z e l über „ D i e<br />
V e r w e i g e r u n g d e s H e e r d i e n s t e s u n d d i e V e r u r t e i l u n g<br />
d e s K r i e g e s u n d d e r W e h r p f l i c h t i n d e r G e s c h i c h t e d e r<br />
M e n s c h h e i t . " (Im Selbstverlage, Spandauerstraße 28, Potsdam, 1905).<br />
<strong>Unser</strong>e Stellung zu den christlichen Antimilitaristen <strong>und</strong> Tolstoianern<br />
unterscheidet sich in dieser Frage von diesen bloß in taktisch prinzipiellen<br />
Auffassungen, nicht aber praktisch <strong>und</strong> überhaupt in der alltäglichen Praxis.<br />
Den Hauptscheidungsgr<strong>und</strong> bildet: Die christlichen Antimilitaristen anerkennen<br />
die Obrigkeit, soweit sie ihnen „nichts Sündhaftes" befiehlt. Ihr<br />
Standpunkt zu ihr ist, wenn auch prinzipiell gegensätzlich, so in der Praxis<br />
nur passiv ablehnend, aber dennoch freudig gehorchend, soweit sie nicht in<br />
die Gegenschläge bleiben nicht aus. Freilich, in den<br />
Zentren sind die äußersten Parteien ziemlich lahmgelegt<br />
— die Aushebungen <strong>und</strong> Aderlasse waren<br />
zu stark — aber an den Peripherien wirken die<br />
Kräfte fort. Noch unlängst gelang ein Massenangriff<br />
der Kommune bei Wilna (Besdan), dem ein bedeutender<br />
Geldtransport im Postzug zum Opfer<br />
fiel. Die Regierung verkleinert natürlich wie immer<br />
die Summe <strong>und</strong> nennt die Angreifer einfache Räuber,<br />
aber vielen leuchtet das nicht so recht ein. Im Frühjahr<br />
wird wohl auch die Tätigkeit in den Zentren<br />
wieder einsetzen.<br />
Polownew, der geistige Urheber der Abgeordnetenmorde<br />
(Herzenstein <strong>und</strong> Gollos — zwei „Kadetten")<br />
ist zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilt.<br />
Von Mißernte wird wenig gesprochen — doch<br />
ist sie an vielen Stellen stark ausgeprägt <strong>und</strong> die<br />
allgemeine wirtschaftliche Lage hat kaum eine<br />
Besserung erfahren. Die Cholera mäht noch immer,<br />
wenn auch geschwächt, besonders in St. Petersburg,<br />
wo das einzige Trinkwasser, der Fluß Newa, durch<br />
rücksichtslose Nachlässigkeit verseucht wird. Darunter<br />
leiden natürlich hauptsächlich die armen<br />
Klassen, die ihr Wasser auch nicht durch Wein <strong>und</strong><br />
Kognak unschädlich machen können.<br />
In Innerasien finden große Manöver statt. Dabei<br />
wurde General Mischtschenko — der Held vor<br />
Port Arthur <strong>und</strong> neben General von Rennenkampf<br />
ein Würgengel im revolutionären Sibirien, jetzt<br />
Gouverneur <strong>und</strong> Armeeleiter — wie sein Adjutant<br />
durch merkwürdig gezielte Kugeln in die Beine<br />
verw<strong>und</strong>et.<br />
Die Bauern haben sich keineswegs beruhigt,<br />
wie die Regierung dank der neuen parlamentarischen<br />
Bauerngruppe glauben machen will, <strong>und</strong> die Mobilisierung<br />
des Bodens weckt Not, Ratlosigkeit <strong>und</strong><br />
Zorn; im Heer scheinen die Fünkchen höher zu<br />
glimmen. Und das hat die Türkei mit ihrer durch<br />
das Heer durchgesetzten Konstitution, haben die<br />
persischen Vorgänge auf dem Gewissen. Man<br />
schämt sich.<br />
Theo H—nn, Moskau.<br />
B r i e f k a s t e n .<br />
T y r o l l e r . Wir bedauern, Ihre Zusendungen<br />
nicht veröffentlichen zu können, da sie zu persönlicher<br />
Natur sind, <strong>und</strong> wir nur einen Prinzipienkampf<br />
führen wollen. — J o s . T o . Der Genosse R. beansprucht<br />
für eine auswärtige Agitationsversammlung<br />
den Ersatz der aktuellen Fahrspesen <strong>und</strong> Freiquartier<br />
während der notwendigen Aufenthaltsdauer; sämtliche<br />
sonstigen Gelder <strong>und</strong> Einnahmen fließen dem<br />
Blatte zu. Die Tintenbleizeichen haben keine weitere<br />
Bedeutung. Gruß! — Ludw. Pan—y. Wird<br />
auszüglich publiziert. Gruß! — Riedel. Dank für<br />
Bericht; kommt! — H a m b . Leider nicht druckreif.<br />
Gruß! — Robin. Die bewußten Abzeichen haben<br />
wir nicht. Gruß <strong>und</strong> hoffentlich bald persönliche<br />
Bekanntschaft! — G e r s t h . Die betreffenden Lieder<br />
sind noch nicht intoniert worden. Verbreiten Sie<br />
nach Kräften Carpenters „Stadt der Sonne", das<br />
wir Ihnen mit Noten zusenden. — Breu., F r a n k -<br />
furt. Persönliche Adresse einsenden!<br />
G r u p p e n u n d V e r s a m m l u n g e n .<br />
A l l g e m e i n e G e w e r k s c h a f t s - F ö d e r a t i o n . V.,<br />
Einsiedlergasse 60. Jeden Sonntag 6 Uhr abends.<br />
Jeden Dienstag Vereinsversammlung in Schlors<br />
Gasthaus, XIV., Märzstraße 33.<br />
F ö d e r a t i o n d e r B a u a r b e i t e r . X., Eugengasse<br />
9. Mitgliederaufnahme <strong>und</strong> Zusammenkunft<br />
jeden Sonntag 9 Uhr vormittags.<br />
U n a b h ä n g i g e S c h u h m a c h e r - G e w e r k s c h a f t .<br />
XIV., Hütteldorferstraße 33. Jeden Montag 8 Uhr abds.<br />
M ä n n e r g e s a n g v e r e i n „ M o r g e n r ö t e " . XIV.,<br />
Märzstraße'33. Gesangsproben <strong>und</strong> Mitgliederaufnahme<br />
jeden Mittwoch 8 Uhr abends.<br />
Lese- <strong>und</strong> Diskutierklub „ P o k r o k " . XIV.,<br />
Hütteldorferstr. 33. Jeden Samstag abends Diskussion.<br />
F r e i e E i n k a u f s g e n o s s e n s c h a f t . Jeden Donnerstag<br />
abends bei Schlor.<br />
F r e i d e n k e r - V e r e i n i g . „ F r e i e r G e d a n k e " .<br />
Öffentl. Vortrag jeden Freitag um 8 Uhr bei Schlor.<br />
W i e n , III. Die Kameraden dieses Bezirkes<br />
treffen sich jeden Dienstag um 7.30 abends in<br />
Fuchs Restaurant, Rennweg 71.<br />
G r a z . A r b e i t e r - B i l d u n g s - u n d U n -<br />
t e r s t ü t z u n g s - V e r e i n , versammelt sich jeden<br />
1. <strong>und</strong> 3. Samstag abends im Gasthaus „zur lustigen<br />
Röthelstoanerin" (v. Tiroler), Bahnhofgürtel<br />
Nr. 69.<br />
M a r b u r g . A r b e i t e r - B i l d u n g s - V e r e i n ,<br />
versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong> 4. Mittwoch abends<br />
im Gasthaus „Zur goldenen Bim", Franz Josefstraße<br />
2.<br />
Klagenfurt. G r u p p e d e r u n a b h ä n g i -<br />
g e n S o z i a l i s t e n , versammelt sich jeden 2. <strong>und</strong><br />
4. Samstag abends im Gasthaus „Zum Buchenwalde".<br />
W e i j e r . S o z i a l i s t i s c h e r B u n d , versammelt<br />
sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends in<br />
Bachbauers Gasthaus.<br />
M a l t h e u e r n ( b e i B r ü x ) . A r b e i t e r v e r -<br />
e i n „ G l e i c h h e i t " , versammelt sich jeden Sonntag<br />
beim Gastwirt Joh. Florian.<br />
M a r i a s c h e i n . F r e i e V e r e i n i g u n g , versammelt<br />
sich jeden Sonntag im Gasthaus „zur<br />
Fortuna".<br />
O b e r - R o s e n t a l ( b e i R e i c h e n b e r g ) .<br />
G r u p p e „ P r o l e t a r i a t " . Sekretär B . W e b e r ,<br />
Nr. 194.<br />
Bruch. G r u p p e B e r g a r b e i t e r k a m p f ,<br />
versammelt sich jeden 1. <strong>und</strong> 3. Sonntag abends<br />
im Gasthaus „zum blauen Stern".<br />
Neu - P y h a n k e n . B e r g a r b e i t e r v e r e i n ,<br />
versammelt sich jeden 4. Sonntag um 9 Uhr vormittags<br />
im Gasthause „Eintracht".<br />
direkten Konflikt mit ihrem religiösen Bewußtsein gelangen, indem sie aus<br />
dem Martyrium die Läuterung von Mensch <strong>und</strong> Gemeinschaft hervorgehen<br />
sehen. Dagegen sind wir gr<strong>und</strong>sätzliche Gegner a l l e r Wesensäußerungen<br />
des Staates, erblicken keine einzige seiner Handlungen ohne Protest. <strong>Unser</strong><br />
Bestreben richtet sich darauf, eine sich stetig vergrößernde Menschenmenge<br />
von der zu Unrecht bestehenden Wesensart des Staates als solchen zu überzeugen,<br />
darauf hinzuwirken, daß eine sich beständig vermehrende Anzahl<br />
von Menschen seine Nutzlosigkeit <strong>und</strong> Verwerflichkeit durchschaut <strong>und</strong> ihm<br />
ihr Gefühls- <strong>und</strong> Geistesleben in allen Dingen des sozialen Lebens<br />
aufkündigt.<br />
Dies der prinzipiell-taktische Unterschied in der Theorie, wenn man<br />
will, auch gelegentlich in der Praxis zwischen uns, die wir einfach Anarchisten<br />
sind auf Gr<strong>und</strong> unserer naturwissenschaftlichen <strong>und</strong> soziologischen<br />
Erkenntnis <strong>und</strong> den christlichen Antimilitaristen <strong>und</strong> christlichen Anarchisten.<br />
Stückweise Entfernung der Staatsgewalt aus dem gesellschaftlichen<br />
Leben, stückweises Abtragen all ihrer Gewaltsfunktionen <strong>und</strong> Entziehung<br />
des Menschenmaterials ihnen gegenüber durch rationelle Aufklärung, Widerstand<br />
gegenüber allen ihren Gewaltsbetätigungen — das ist die Aufgabe des<br />
anarchistischen Antimilitaristen.<br />
Dem Anarchisten ist der Antimilitarismus somit eine politische<br />
Taktik, bedeutet e r die e d e l m ü t i g e S e l b s t e r z i e h u n g zum herrschaftslosen<br />
Individuum im sozialen Sinne, zur herrschaftslosen Gemeinschaft.<br />
Mit dem Verschwinden des Bollwerkes des staatlichen Prinzips —<br />
des Militarismus — verschwindet dieses Prinzip selbst auch aus dem<br />
Völkerleben, aus der menschlichen Gesellschaft. Die Gewalt als fest f<strong>und</strong>ierte<br />
Einrichtung ist verbannt aus dem Bereiche des .menschlichen Tun <strong>und</strong><br />
Wirkens, an ihre Stelle ist die menschliche Vernunft getreten, die in der<br />
friedlichen Schlichtung <strong>und</strong> frei sich verändernden Gruppierung, der wirtschaftlichen<br />
Ermöglichung dieser Veränderung, der Ausschaltung aller staatlich-nationalen<br />
Grenzbegriffe, die Lösung aller Streitfragen im föderativen,<br />
staatslosen, also autonomen Zusammenschluß der menschlichen Gruppierungen<br />
erblickt. Der Antimilitarismus ist somit e i n e taktische Methode des Anarchismus,<br />
weil er uns unmittelbar <strong>und</strong> direkt einführt in jene Periode des<br />
Kampfes um die freie Gesellschaft der Zukunft, deren brausender Triumphesgesang<br />
uns in den Worten des Russen Tschertkoff* entgegentönt:<br />
Hinweg die Grenzen, die uns trennen!<br />
Bei Brüdern sind wir stets zu Haus.<br />
Stoßt um die Trone der Tyrannen!<br />
Die Zeit der Knechtschaft sei uns aus!<br />
Reißt ein die düstern Kerkermauern!<br />
Des Hasses Fackel nun erlischt<br />
Im Liebes-Lenzhauch, der erfrischt<br />
Die Herzen <strong>und</strong> soll ewig dauern!<br />
Zerbrecht die Waffen all!<br />
Löst auf den Kriegerstand!<br />
Reicht euch die Hand! Die ganze Welt<br />
Sei unser Vaterland!<br />
* Zitiert nach der Übertragung von Joh. (iuttzeit, Leutnant a. D. Erschienen im<br />
Verlag des .Groden Michtl" (St. Petersgaise 89, II. Stock, Graz, Österreich).<br />
Herausgeber <strong>und</strong> verantwortlicher Redakteur W. Horatschek (Wien). — Druck von Karl Isda in Wien, XIV.