Alles, was Recht ist - Archiv - Personalwirtschaft
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<strong>Personalwirtschaft</strong><br />
Magazin für Human Resources<br />
www.personalwirtschaft.de G 21212 ISSN 07964000<br />
extra<br />
10 2011<br />
Compliance | Urlaubsrecht | AGG | Sozialplangestaltung | Arbeitnehmerüberlassung<br />
Arbeitsrecht<br />
<strong>Alles</strong>, <strong>was</strong> <strong>Recht</strong> <strong>ist</strong>
<strong>Alles</strong>, <strong>was</strong> <strong>Recht</strong> <strong>ist</strong><br />
Impressum<br />
Herausgeber: Jürgen Scholl<br />
Redaktion: Erwin Stickling, Chefredakteur; Sven Frost, Redakteur;<br />
Chr<strong>ist</strong>iane Siemann, freie Mitarbeiterin<br />
Redaktionsanschrift: Wolters Kluwer Deutschland GmbH,<br />
Luxemburger Straße 449, 50939 Köln,<br />
Telefon: 0221/94373-7653, Fax: 0221/94373-7757,<br />
E-Mail: personalwirtschaft@wolterskluwer.de,<br />
www.personalwirtschaft.de<br />
Fachbeiträge aus bereits erschienenen Ausgaben sind<br />
verfügbar unter: www.personalwirtschaft.de<br />
Geschäftsführer: Dr. Ulrich Hermann<br />
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz<br />
(AGG), über Jahre<br />
angesammelte Urlaubsansprüche,<br />
Wh<strong>ist</strong>leblowing und<br />
die Herausforderungen der<br />
Neuen Medien – für die<br />
Unternehmen und damit<br />
auch für die Arbeitsrechtler an ihrer Seite <strong>ist</strong> es<br />
in den vergangenen zwölf Monaten nicht langweilig<br />
geworden. Oder weniger nett: Die <strong>Recht</strong>sprechung<br />
zu genannten Themen hat es gleichsam<br />
für Personaler und Arbeitsrechtler nicht<br />
eben einfacher gemacht.<br />
Stichwort AGG: Die jüngste Entscheidung des<br />
Landesarbeitsgerichtes Berlin-Brandenburg gegen<br />
Sony hat einmal mehr gezeigt, dass transparente<br />
Auswahlverfahren und Equal Pay das Gebot<br />
der Stunde sind. Benachteiligungen wegen Mutterschaft<br />
wie in dem dort entschiedenen Fall sind<br />
leider immer noch Alltag in vielen deutschen<br />
Unternehmen und werden von den Gerichten<br />
scharf geahndet (Seite 26). Die Unternehmen<br />
und ihre HR-Abteilungen sollten sich dessen<br />
bewusst sein und entsprechend handeln. Immerhin:<br />
Die befürchtete Klagewelle <strong>ist</strong> auch im fünften<br />
Jahr des AGG ausgeblieben.<br />
Stichwort Urlaubsansprüche: Die Tragweite des<br />
sogenannten Schultz-Hoff-Urteils des Europäischen<br />
Gerichtshofes lässt sich in Gänze derzeit<br />
noch gar nicht abschätzen. Die Entscheidung der<br />
Luxemburger Richter, dass Mitarbeiter ihren<br />
wegen Krankheit nicht genommenen Urlaub über<br />
Jahre ansammeln können, könnte nämlich letzt-<br />
Anzeigen:<br />
Karin Kamphausen (Anzeigenleitung),<br />
Telefon: 0221/94373-7629,<br />
E-Mail: kkamphausen@wolterskluwer.de<br />
Jörg Walter (Anzeigenverkauf), wanema media,<br />
Telefon: 0931/304699-66, E-Mail: pw@wanema.de<br />
Karin Odening (Anzeigendisposition),<br />
Telefon: 0221/94373-7836,<br />
E-Mail: kodening@wolterskluwer.de<br />
David Klug (Anzeigenmarketing),<br />
Telefon: 0221/94373-7729<br />
E-Mail: dklug@wolterskluwer.de<br />
lich dazu führen, dass solche Mitarbeiter eher entlassen<br />
als über Jahre gehalten werden. Dringende<br />
Empfehlung: Schnellstens die Urlaubsklauseln<br />
anpassen (Seite 25)!<br />
Stichwort Compliance: Die Zahl der in den Medien<br />
berichteten rechtlichen und ethischen Verfehlungen<br />
von Unternehmensleitern und Mitarbeitern<br />
reißt nicht ab. Ganz abgesehen von den<br />
oft immensen monetären Schäden <strong>ist</strong> es vor allem<br />
das Ansehen des jeweiligen Unternehmens, das<br />
möglicherweise über Jahre leidet. Eine Lösung:<br />
die Anstellung eines Compliance-Beauftragten<br />
(Seite 14).<br />
Immerhin: Angesichts der teils weitreichenden<br />
Entscheidungen hatten die Teilnehmer des diesjährigen<br />
– erneut hochkarätig besetzten – Round<br />
Table Arbeitsrecht der „<strong>Personalwirtschaft</strong>“ genügend<br />
Gesprächsstoff für eine angeregte Diskussion<br />
(Seite 8), neben weiteren lesens- und bedenkenswerten<br />
Beiträgen zu finden im vorliegenden<br />
Heft.<br />
Eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre<br />
wünscht<br />
Ihr<br />
Sven Frost<br />
Herstellung: Frauke Helene Hille<br />
Gestaltung: Art + Work, Köln, Lars Auhage, Martin Schwarz<br />
ISSN 07964000<br />
Druckerei und Lieferanschrift für Beilagen:<br />
Druckerei Wilhelm & Adam OHG<br />
Werner-von-Siemens-Straße 29,<br />
63150 Heusenstamm<br />
Copyright: Luchterhand, eine Marke von<br />
Wolters Kluwer Deutschland GmbH.<br />
© 2011 Wolters Kluwer Deutschland GmbH, Köln.<br />
EDITORIAL<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de 3
ARBEITSRECHT Inhalt<br />
4<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> Special Arbeitsrecht<br />
8 Round Table<br />
Unberechenbare<br />
Gesetzgebung<br />
Personalkosten steuern, Arbeitszeiten flexibilisieren<br />
und Personalstrukturen anpassen<br />
– auch im zweiten Jahr nach dem Konjunktureinbruch<br />
begleiten Arbeitsrechtler Unternehmen<br />
bei Restrukturierungsmaßnahmen.<br />
Doch inzwischen stehen auch andere Herausforderungen<br />
auf der Agenda. Professorin<br />
Dr. Stephanie Michel diskutierte mit<br />
Arbeitsrechtsexperten unter anderem über<br />
das AGG, Wh<strong>ist</strong>leblowing und Social Media.<br />
14 Compliance<br />
Mehr Ethik für das eigene<br />
Unternehmen<br />
8<br />
Das Thema Compliance gewinnt in Unternehmen<br />
mehr und mehr Bedeutung. Wir<br />
zeigen, wie entsprechende Richtlinien effektiv<br />
eingeführt werden und warum die<br />
Anstellung eines Compliance-Beauftragten<br />
ein wesentliches Element effektiver Compliance<br />
<strong>ist</strong>.<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
18 Arbeitnehmerüberlassung<br />
Fremdpersonaleinsatz<br />
im Konzern<br />
Eine mögliche Form der Beschäftigung von<br />
Arbeitnehmern für den vertraglichen<br />
Arbeitgeber und daneben für einen weiteren<br />
Betrieb stellt die Arbeitnehmerüberlassung<br />
dar. Was dabei zu beachten <strong>ist</strong>, zeigt dieser<br />
Beitrag.<br />
22 Urlaubsrecht<br />
Urlaubskonto nach langer<br />
Krankheit prall gefüllt<br />
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit<br />
seiner jüngsten <strong>Recht</strong>sprechung für das<br />
deutsche Urlaubsrecht viele neue <strong>Recht</strong>sfragen<br />
aufgeworfen. Das hat für die Unternehmen<br />
erhebliche praktische Auswirkungen.<br />
26 Allgemeines<br />
Gleichbehandlungsgesetz<br />
Diskriminierung von Frauen<br />
kann teuer werden<br />
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz<br />
(AGG) zeigt Wirkung. Die jüngste Entscheidung<br />
des LAG Berlin-Brandenburg gegen<br />
Sony lässt Personaler nachdenklich werden.<br />
Transparente Auswahlverfahren und Equal<br />
Pay sind das Gebot der Stunde. Doch längst<br />
nicht alle Chefs wollen da folgen. Das kann<br />
in Zukunft teuer werden.<br />
30 Sozialplangestaltung<br />
Vorsicht <strong>ist</strong> besser als<br />
Nachsicht<br />
Welche Fallstricke gibt es für Unternehmen<br />
bei der Gestaltung des Sozialplanes? Dieser<br />
Beitrag gibt Antworten und zeigt Lösungen<br />
auf.<br />
34 Interview<br />
„Von amerikanischen<br />
Verhältnissen sind wir<br />
weit entfernt“<br />
Seit fünf Jahren <strong>ist</strong> das Allgemeine<br />
Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Kraft.<br />
Dr. Sören Lagner, Fachanwalt für<br />
Arbeitsrecht bei CMS Hasche Sigle,<br />
zieht im Interview eine Bilanz.<br />
Rubriken<br />
3 Editorial <strong>Alles</strong>, <strong>was</strong> <strong>Recht</strong> <strong>ist</strong><br />
3 Impressum<br />
6 News
ARBEITSRECHT News<br />
Chefarzt in katholischer Klinik<br />
Kündigung wegen erneuter Heirat ungültig<br />
Die Wiederverheiratung eines katholischen<br />
Chefarztes an einem katholischen<br />
Krankenhaus rechtfertigt nicht in jedem<br />
Fall seine ordentliche Kündigung, hat das<br />
Bundesarbeitsgericht jetzt entschieden.<br />
Zwar haben Religionsgemeinschaften und<br />
die ihnen zugeordneten Einrichtungen das<br />
verfassungsmäßige <strong>Recht</strong>, von ihren<br />
Beschäftigten ein loyales Verhalten im Sinne<br />
ihres jeweiligen Selbstverständnisses<br />
verlangen zu können. Als Loyalitätsverstoß<br />
kommt auch der Abschluss einer nach<br />
katholischem Verständnis ungültigen Ehe<br />
in Betracht. Eine Kündigung <strong>ist</strong> aber nur<br />
dann gerechtfertigt, wenn der Loyalitätsverstoß<br />
auch bei Abwägung der Interessen<br />
beider Vertragsteile im Einzelfall ein hinreichend<br />
schweres Gewicht hat.<br />
Der Kläger trat im Jahr 2000 als Chefarzt<br />
6<br />
Zu den <strong>Recht</strong>snormen eines Tarifvertrages,<br />
die nach einem Betriebsübergang<br />
kraft gesetzlicher Regelung<br />
Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen<br />
dem Arbeitnehmer und dem<br />
Betriebserwerber werden, gehören<br />
auch die in einer zuvor vereinbarten<br />
Tarifregelung bereits abschließend<br />
festgelegten dynamischen Entwicklungen,<br />
die allein vom Zeitablauf<br />
abhängig sind, so das Bundesarbeitsgericht<br />
(BAG). Lediglich schuldrechtliche<br />
Abreden der Tarifvertragsparteien<br />
werden nicht Inhalt des Arbeitsverhältnisses.<br />
Die Klägerin, Mitglied der Gewerkschaft<br />
Verdi, war seit 1991 bei einem<br />
tarifgebundenen Arbeitgeber beschäftigt.<br />
Der BAT-O in der Fassung der<br />
Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände<br />
galt für ihr Arbeitsverhältnis<br />
kraft Tarifgebundenheit. Der<br />
in die Dienste der Beklagten, die mehrere<br />
Krankenhäuser betreibt. Nach der Scheidung<br />
von seiner ersten Ehefrau heiratete<br />
der Kläger im Jahr 2008 seine jetzige Frau<br />
standesamtlich. Nachdem die Beklagte<br />
hiervon Kenntnis erlangt hatte, kündigte<br />
sie das Arbeitsverhältnis mit Schreiben<br />
vom 30. März 2009 ordentlich zum 30.<br />
September 2009. Die Beklagte beschäftigt<br />
auch nicht katholische, wiederverheiratete<br />
Chefärzte. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht<br />
haben der Klage stattgegeben.<br />
Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts<br />
hat die Revision zurückgewiesen.<br />
Zwar habe sich der Kläger einen Loyalitätsverstoß<br />
zuschulden kommen lassen,<br />
dem mit Rücksicht auf das kirchliche<br />
Selbstbestimmungsrecht beträchtliches<br />
Gewicht zukommt. Insgesamt überwog<br />
Tarifvertragliche Entgeltanpassung Ost/West<br />
Schuldrechtliche Abrede oder Inhaltsnorm<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
zu Beginn der Jahres 2003 geschlossene<br />
Vergütungstarifvertrag (VTV) Nr. 7 zum<br />
BAT-O sah unter anderem vor, dass „die<br />
Anpassung des Bemessungssatzes“ für<br />
die Vergütung der wie die Klägerin eingruppierten<br />
Angestellten auf das Tarifniveau<br />
„West“ (100 Prozent) „bis zum 31.<br />
Dezember 2007 … abgeschlossen wird“.<br />
Am 1. April 2005 ging ihr Arbeitsverhältnis<br />
infolge eines Betriebsüberganges auf<br />
die nicht tarifgebundene Beklagte über.<br />
Zum 1. Januar 2008 wurde für die betreffenden<br />
Entgeltgruppen der Bemessungssatz<br />
auf 100 Prozent angehoben. Die Klägerin<br />
verlangt nunmehr unter anderem<br />
ein Entgelt und die Vergütung von Mehrarbeitsstunden<br />
nach einem Bemessungssatz<br />
von 100 Prozent auf Basis der Entgelttabellen<br />
zum TVöD.<br />
Die Revision der Klägerin gegen die insoweit<br />
klageabweisenden Entscheidungen<br />
der Vorinstanzen blieb vor dem Vierten<br />
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jedoch das Interesse des Klägers an der<br />
Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses.<br />
Dabei fällt in die Waagschale, dass die<br />
Beklagte selbst sowohl in ihrer Grundordnung<br />
als auch in ihrer Praxis auf ein<br />
durchgehend und ausnahmslos der katholischen<br />
Glaubens- und Sittenlehre verpflichtetes<br />
Lebenszeugnis ihrer leitenden Mitarbeiter<br />
verzichtet. Das zeigt sich sowohl an<br />
der Beschäftigung nichtkatholischer,<br />
wiederverheirateter Ärzte als auch an der<br />
Hinnahme des nach dem Arbeitsvertrag an<br />
sich untersagten Lebens in nichtehelicher<br />
Gemeinschaft von 2006 bis 2008.<br />
(Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 8. September<br />
2011 - 2 AZR 543/10 -<br />
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf,<br />
Urteil vom 1. Juli 2010 - 5 Sa 996/09 -)<br />
Senat des Bundesarbeitsgerichts ohne<br />
Erfolg. Zwar gehört zu den anlässlich<br />
des Betriebsübergangs auf die Beklagte<br />
nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in<br />
das Arbeitsverhältnis übergegangenen<br />
<strong>Recht</strong>en und Pflichten auch eine<br />
von den Tarifvertragsparteien bereits<br />
zuvor abschließend geregelte Entgeltsteigerung.<br />
Bei der im VTV Nr. 7 vorgesehenen<br />
Anpassung auf 100 Prozent<br />
des Tarifniveaus „West“ handelt<br />
es sich jedoch nicht um eine normativ<br />
wirkende Inhaltsnorm, sondern lediglich<br />
um eine schuldrechtliche Abrede<br />
der Tarifvertragsparteien, die nur zwischen<br />
diesen wirkt.<br />
(Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 24.<br />
August 2011 - 4 AZR 566/09 - Vorinstanz:<br />
Landesarbeitsgericht Berlin-<br />
Brandenburg, Urteil vom 25. Juni 2009<br />
- 25 Sa 582/09 -)
Eine Kanzlei muss nicht nachträglich die<br />
gele<strong>ist</strong>eten Überstunden eines angestellten<br />
Anwaltes vergüten, wenn diese laut<br />
Arbeitsvertrag bereits mit dem Bruttogehalt<br />
abgegolten sind. Dies hat das Bundesarbeitsgericht<br />
in Erfurt (BAG) entschieden<br />
und damit ein Urteil des Landesarbeitsgerichts<br />
Berlin-Brandenburg<br />
aufgehoben (5 AZR 406/10).<br />
Dieses hatte zuvor eine überörtliche Partnerschaft<br />
von <strong>Recht</strong>sanwälten zur Zahlung<br />
von über 30 000 Euro verurteilt und<br />
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Angestellte <strong>Recht</strong>sanwälte<br />
Überstunden müssen nicht vergütet werden<br />
Sieht ein Tarifvertrag Zuschläge für Feiertagsarbeit<br />
vor, so wird dieser Zuschlag<br />
regelmäßig nur für die Arbeit an gesetzlichen<br />
Feiertagen ausgelöst, hat das Bundesarbeitsgericht<br />
entschieden.<br />
Der Fall: Der Kläger wär als Monteur im<br />
Schichtdienst für die Beklagte in Sachsen-<br />
Anhalt tätig. Auf das Arbeitsverhältnis<br />
findet der Tarifvertrag Versorgungsbetriebe<br />
(TV-V) Anwendung. Nach § 10 Abs. 1<br />
Buchst. d TV-V erhält der Arbeitnehmer<br />
für Feiertagsarbeit einen Zuschlag je<br />
Stunde von 135 Prozent Der tarifliche<br />
Sonntagszuschlag beträgt 25 Prozent.<br />
Der Kläger hat die Feststellung begehrt,<br />
dass für die Arbeit am Oster- und Pfingst-<br />
damit der Klage eines angestellten<br />
Anwalts auf die Vergütung von 900 Überstunden<br />
<strong>Recht</strong> gegeben.<br />
Das BAG hat der Revision der beklagten<br />
Partnerschaft von <strong>Recht</strong>sanwälten, die<br />
wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen<br />
worden war, stattgegeben. Die<br />
Urteilsbegründung liegt noch nicht vor.<br />
Die Kanzlei-Seite wurde vertreten von<br />
Sabine Feindura, Tobias Grambow und<br />
Chr<strong>ist</strong>ian Voigtländer, Arbeitsrechtler der<br />
Berliner Kanzlei Buse Heberer Fromm.<br />
Zuschläge<br />
Zahlung nur für Arbeit an gesetzlichen Feiertagen<br />
sonntag ein Zeitzuschlag von 135 Prozent<br />
zu zahlen <strong>ist</strong>. Der Zehnte Senat hat wie<br />
die Vorinstanzen die Klage abgewiesen.<br />
Ein tariflicher Anspruch besteht nicht,<br />
weil in Sachsen-Anhalt Ostersonntag und<br />
Pfingstsonntag nach dem Landesrecht<br />
gesetzlich nicht als Feiertage bestimmt<br />
sind. Anhaltspunkte für ein weitergehendes<br />
tarifliches Verständnis des „Feiertags“<br />
nach dem TV-V bestehen nicht.<br />
(Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 17.<br />
August 2011 - 10 AZR 347/10 -<br />
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Sachsen-<br />
Anhalt vom 18. Februar 2010 - 3 Sa<br />
186/09 -)<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de 7
ARBEITSRECHT Round Table<br />
Unberechenbare<br />
Gesetzgebung<br />
Personalkosten steuern, Arbeitszeiten flexibilisieren<br />
und Personalstrukturen anpassen – auch im zweiten<br />
Jahr nach dem Konjunktureinbruch begleiten Arbeitsrechtler<br />
Unternehmen bei Restrukturierungsmaßnahmen.<br />
Doch inzwischen stehen auch neue Herausforderungen<br />
auf der Agenda. Professorin Dr. Stephanie Michel<br />
diskutierte mit Arbeitsrechtsexperten unter anderem<br />
über das AGG, Wh<strong>ist</strong>leblowing und Social Media.<br />
A<br />
uch wenn die Krise noch nicht als komplett<br />
überwunden gelten darf und neue<br />
finanzpolitische Notlagen die Wirtschaft<br />
belasten, so lenken viele Unternehmen ihre<br />
Aufmerksamkeit nicht mehr nur auf die Rahmenbedingungen,<br />
sondern wieder mehr auf<br />
die Le<strong>ist</strong>ung des Einzelnen. Das Thema Low<br />
Performer rücke in den Vordergrund ebenso<br />
wie die Herausforderung, die Betriebsräte<br />
auch im kommenden Jahr für dringend<br />
notwendige Anpassungsprozesse zu gewinnen,<br />
sagt Karl Geissler von Tschöpe/ Schipp/<br />
Clemenz. Außerdem hat die Krise Spuren<br />
hinterlassen. Als Folge <strong>ist</strong> eine ganze Branche<br />
– die Finanzindustrie – in den Fokus einer<br />
speziellen arbeitsrechtlichen Regulierung<br />
geraten.<br />
Aufsichtsrechtliche Vorgaben der BaFin zu<br />
Vergütungssystemen und Boni haben ihren<br />
Ursprung nicht im Arbeitsrecht. Sie schaffen<br />
aber gerade dort bei der notwendigen<br />
Umsetzung eine Vielzahl praktischer Probleme,<br />
insbesondere bei der Umgestaltung bislang<br />
bestehender Regelungen oder der Ausgestaltung<br />
von flexibleren Rückforderungsmechanismen<br />
für bereits verdiente Boni,<br />
erläutert Dr. Alexander Lentz, Taylor Wessing.<br />
8<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
Zudem leiden die Experten unter der Reaktionszeit<br />
des Gesetzgebers. Auch wenn Klagen<br />
über seine Langsamkeit nicht neu sind,<br />
drücken doch akut gerade den Mittelstand<br />
arbeitsrechtliche Fragen, die der gesetzgeberischen<br />
Klärung bedürfen. „Die AGB-Kontrolle<br />
der Gerichte führt dazu, dass immer<br />
mehr Klauseln in Arbeitsverträgen für unwirksam<br />
erklärt werden. Dies betrifft auch Regelungen,<br />
mit denen langjährig gearbeitet wurde,<br />
wie etwa die Flexibilisierung von Vergütungsbestandteilen.<br />
Dabei gilt generell im<br />
Arbeitsrecht: „Der Gesetzgeber kümmert<br />
sich nicht um die Probleme, die uns drücken“,<br />
so Professor Dr. Stefan Lunk von der Sozietät<br />
Latham Watkins. „Wir erleben einen Verlust<br />
an Eckpfeilern, die wir brauchen, um<br />
Mandaten vernünftig beraten zu können.<br />
Das Arbeitsrecht <strong>ist</strong> in weiten Bereichen<br />
unvorhersehbar geworden.“<br />
Doch die Ursachen liegen nicht nur in nationalen<br />
Gegebenheiten. Die Unsicherheit resultiert<br />
auch aus uropäischen Vorgaben oder<br />
der <strong>Recht</strong>sprechung des Europäischen<br />
Gerichtshofes. Insoweit stellt sich in Teilbereichen<br />
die Frage: Was kann der deutsche<br />
Gesetzgeber eigentlich noch rechtsverbindlich<br />
regeln? Für die Praxis wichtige Berei-<br />
che wie Arbeitszeitrecht, der Betriebsübergang<br />
oder der Diskriminierungsschutz werden<br />
faktisch über den Erlass von Richtlinien<br />
oder die <strong>Recht</strong>sprechung des EuGH aus<br />
Brüssel beherrscht.<br />
Als Folge eines Arbeitsrechts, das unberechenbar<br />
geworden <strong>ist</strong>, verlieren ausländische<br />
Mandanten die Lust am Standort Deutschland,<br />
berichtet Michael Magotsch, DLA Piper:<br />
„Es häufen sich BAG-Entscheidungen, die<br />
bislang gültige Aussagen auf den Kopf stellen.<br />
Global agierenden Mandanten können<br />
Moderation: Prof. Dr. Stephanie Michel,<br />
Professorin für Wirtschaftsrecht, Fachhochschule<br />
der Wirtschaft, Hannover, Leiterin des Brüsseler<br />
Büros des Deutschen Notarvereins
wir nur nachdrücklich davon abraten, den<br />
Instanzenweg vor deutschen Arbeitsgerichten<br />
anzutreten, es sei denn, es handelt sich<br />
für das Unternehmen um die Klärung ganz<br />
wesentlicher Kernfragen und den Einzelfall<br />
überschreitende Konflikte.“ Es sei im Regelfall<br />
keinem damit gedient, nach leidvoll<br />
arbeits- und kostenintensiven Jahren beim<br />
BAG ein Urteil zu erstreiten; dies sei me<strong>ist</strong><br />
keine gute wirtschaftliche Lösung. DLA Piper<br />
bemühe sich daher, Mandaten aus deutschen<br />
Arbeitsgerichten herauszuhalten.<br />
Als Standortnachteil mag Dr. Thomas Bezani,<br />
Görg Partnerschaft von <strong>Recht</strong>sanwälten,<br />
die arbeitsrechtlichen Hürden nicht gelten<br />
lassen. Auch wenn Fachanwälte und Arbeitgeber<br />
ein hohes Maß der <strong>Recht</strong>sunsicherheit<br />
erleben und zu <strong>Recht</strong> beklagen, sei im Vergleich<br />
zu anderen Ländern das deutsche<br />
Arbeitsrecht besser als sein Ruf. Zu einem<br />
ähnlichen Urteil kommt Volker Werxhausen,<br />
CBH <strong>Recht</strong>sanwälte Cornelius Bartenbach<br />
Haesemann. Das Arbeitsrecht in<br />
Deutschland sei im europäischen Vergleich<br />
kein wirklicher Standortnachteil. „Allerdings<br />
dauern arbeitsgerichtliche Verfahren zur<br />
Klärung von Streitfällen häufig sehr lang<br />
und sind im Ausgang zum Teil wenig prognosesicher,<br />
sodass vernünftig agierende<br />
Parteien Streitigkeiten überwiegend selbst<br />
lösen, anstatt auf die Gerichte zu warten.“<br />
Anwaltliche Berater seien entsprechend stärker<br />
gefordert, ihren Mandanten Handlungswege<br />
aufzuzeigen.<br />
Neue Aufgaben und alte Hürden<br />
Als neue Herausforderung für Arbeitsrechtler<br />
identifizieren die Experten das Thema<br />
Arbeitgeberattraktivität. Unternehmen wollen<br />
beraten werden in der Frage, welche Mittel<br />
des Arbeitsrechts ihn dabei unterstützen,<br />
Mitarbeiter zu binden. Genutzt werden<br />
Instrumente wie flexible Arbeitszeitmodelle<br />
sowie modulare Vergütungs- und Anreizsysteme<br />
sowohl monetärer als auch nicht<br />
monetärer Art, erläutert Dr. Alexander Insam,<br />
KPMG. Bei flexiblen Arbeitszeitmodellen<br />
beobachtet er, dass sie sich nicht mehr vorrangig<br />
an den Bedürfnissen des Arbeitgebers<br />
ausrichten, sondern an denen der Arbeitnehmer,<br />
um „Employer of Choice“ zu werden.<br />
Neben klassischen Sabbaticals würden größere<br />
Unterbrechungen für Erziehungs- oder<br />
Fortbildungszeiten in den Vordergrund<br />
rücken.<br />
Aktuell drückt die Arbeitsrechtsspezial<strong>ist</strong>en<br />
allerdings auch eine fehlende Abstimmung<br />
des deutschen Arbeitsrechts auf die Organisation<br />
in einer Matrixstruktur. Denn kein<br />
global agierendes Unternehmen kommt ohne<br />
Matrixstrukturen aus, die <strong>Recht</strong>sform- und<br />
länderübergreifend sind. Noch fehlt eine<br />
adäquate Reaktion in deutschen Gesetzen.<br />
Beispielweise beim Arbeitnehmerdatenschutz:<br />
„Das Bundesdatenschutzgesetz<br />
lässt die Unternehmen vollkommen allein,<br />
wenn es darum geht, einerseits in multinationalen<br />
Matrixstrukturen zu arbeiten, andererseits<br />
aber auch den Arbeitnehmerdatenschutz<br />
zu gewährle<strong>ist</strong>en“, so Dr. Thilo Mahnhold,<br />
Justem <strong>Recht</strong>sanwälte. Hier heiße es,<br />
die Realitäten anzuerkennen und endlich<br />
auf nationaler und europäischer Ebene ein<br />
Konzernprivileg für die Datenverarbeitung<br />
im Konzern festzuschreiben. „Es muss ein<br />
Rahmen geschaffen werden, um etwa durch<br />
Datenschutzvereinbarungen im Konzern<br />
sowohl dem unternehmerischen Interesse an<br />
einer länderübergreifenden Zusammenarbeit<br />
und Aufgabenteilung mit anderen Konzerngesellschaften<br />
als auch dem Arbeitnehmerdatenschutz<br />
zu optimaler Geltung zu verhelfen.“<br />
Dem stehe die aktuelle Gesetzeslage entgegen.<br />
Für Kritik an den rechtsprechenden Instan-<br />
„ Der Mittelstand benötigt in besonderem Maße verlässliche<br />
arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen,<br />
weil er im Gegensatz zu Großunternehmen<br />
häufig nicht über die personellen und finanziellen<br />
Ressourcen verfügt, um mit Gesetzgeber und<br />
Gerichten „auf Ballhöhe“ zu bleiben.<br />
„<br />
Prof. Dr. Stefan, Lunk, Latham Watkins<br />
Das Bundesdatenschutzgesetz lässt die<br />
Unternehmen vollkommen allein, wenn es darum<br />
geht, einerseits in multinationalen Matrixstrukturen<br />
zu arbeiten, andererseits aber auch den<br />
Arbeitnehmerdatenschutz zu gewährle<strong>ist</strong>en.<br />
Dr. Thilo Mahnhold, Justem <strong>Recht</strong>sanwälte<br />
zen sorgt folgende Entwicklung. Professor<br />
Dr. Stefan Nägele, Nägele Kanzlei für Arbeitsrecht:<br />
„Die <strong>Recht</strong>sprechung in der Zeitarbeit<br />
sehe ich mit großer Sorge. In der Krise<br />
wurden die Personaldienstle<strong>ist</strong>er dringend<br />
benötigt, die flexiblen Belegschaften sicherten<br />
vielen Betrieben das Überleben. Jetzt<br />
versucht der Gesetzgeber mit Equal Pay und<br />
Equal Treatment der Zeitarbeit das Wasser<br />
abzugraben und verschärft die rechtlichen<br />
Rahmenbedingungen. Zeitarbeit wird stigmatisiert.“<br />
AGG: Karrierestau wegen<br />
Schwangerschaft?<br />
Diskriminierung ja oder nein? Das BAG<br />
musste sich mit der sogenannten Glaubhaftmachung<br />
einer geschlechterspezifischen<br />
Benachteiligung bei einer Stellenbesetzung<br />
befassen: Eine schwangere Arbeitnehmerin<br />
bewarb sich um eine Stelle und der Arbeitgeber,<br />
dem die Schwangerschaft bekannt<br />
<strong>ist</strong>, besetzte diese Stelle mit einem Mann. Man<br />
entschied, dass in diesem Fall die Arbeitnehmerin<br />
eine geschlechtsspezifische Benachteiligung<br />
glaubhaft gemacht hat, da sie außer<br />
der Schwangerschaft weitere Tatsachen vortragen<br />
hat, die eine Benachteiligung wegen<br />
ihres Geschlechts vermuten lassen. In dem<br />
vorliegenden Fall gab der Satz des Vorgesetzten<br />
„Viel Freude mit Ihrem Kind“ den Ausschlag.<br />
„Das Urteil macht einmal mehr deutlich, wie<br />
wichtig auch wiederholte AGG-Schulungen<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de 9
ARBEITSRECHT Round Table<br />
beim Mandanten sind“, betont Michael<br />
Magotsch, DLA Piper. Nach Lektüre der Entscheidung<br />
müsse man als Arbeitgeberanwalt<br />
seinen Mandanten dringend raten, vor<br />
allem seine Führungskräfte regelmäßig darin<br />
zu unterrichten, welche Kommentare möglich<br />
und welche besser zu unterlassen seien.<br />
Auch wenn einige Diskutanten der Auffassung<br />
sind, hier läge ein Einzelfallurteil vor,<br />
bewertet Stefan Nägele, Kanzlei für Arbeitsrecht,<br />
das Urteil anders: „Die Entscheidung<br />
hat praktische Auswirkungen und sollte<br />
nicht auf der Ebene der Einzelfallentscheidung<br />
gelesen werden. Zum einen: die reine<br />
Stat<strong>ist</strong>ikrechnung wird nicht mehr ausreichen,<br />
um Indizien zu belegen, auch nicht im<br />
Rahmen des AGG.“ Zweitens sei zu beachten,<br />
dass das Bündeln von Motiven den<br />
Arbeitgeber nicht aus dem Dilemma rette,<br />
solange ein möglicherweise benachteiligendes<br />
Motiv die Entscheidung beeinflusst habe.<br />
Deshalb sei der Arbeitgeber gut beraten, die<br />
Motive nachvollziehbar zu dokumentieren,<br />
die seine Auswahlentscheidung rechtfertigen.<br />
Sehr kontrovers diskutierten die Teilnehmer<br />
das inzwischen fünf Jahre alte Allgemeine<br />
Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Von<br />
„überflüssig“ bis „notwendig“ reichen die Kommentare.<br />
Thilo Mahnhold, Justem <strong>Recht</strong>sanwälte:<br />
„Die prognostizierte Verfahrenswut<br />
nach der Einführung des AGG <strong>ist</strong> ausgeblieben.<br />
Insgesamt haben die Gerichte maßvolle<br />
Urteile gesprochen.“ Mit Sorge sehe er<br />
allerdings die Vorlage zum EuGH zum Auskunftsanspruch<br />
im Bewerbungsverfahren:<br />
Werde der Auskunftsanspruch Realität, dann<br />
würden die Personalabteilungen vollkommen<br />
überlastet. Zudem werde damit die<br />
Beweislastregelung im AGG ausgehebelt.<br />
Denn noch <strong>ist</strong> es zunächst an dem Bewerber,<br />
Indizien vorzutragen, die eine Benachteiligung<br />
vermuten lassen. „Dieses Korrektiv<br />
wäre hinfällig, wenn ein Bewerber ohne<br />
Weiteres Auskunft verlangen könnte. Europarechtlich<br />
besteht im Übrigen keine Veranlassung,<br />
auf diesen Schutz vor einem Missbrauch<br />
der im AGG eingeräumten <strong>Recht</strong>e zu<br />
verzichten.“<br />
Diversity <strong>ist</strong> politisch und gesellschaftlich ver-<br />
10<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
nünftig, betont Tobias Neufeld, Allen & Overy<br />
LLP. Sicherlich sei die Kritik an der <strong>Recht</strong>sprechung<br />
berechtigt, ebenso dass Einzelfallentscheidungen<br />
keine größere <strong>Recht</strong>ssicherheit<br />
schaffen. Dagegen müsse allerdings<br />
reg<strong>ist</strong>riert werden, dass in Ländern, die seit<br />
vielen Jahren nach dem AGG agieren, die<br />
Belegschaften multikultureller seien und<br />
auch mehr Frauen vertreten seien. „In diesem<br />
Kontext <strong>ist</strong> das AGG als gesetzgeberisches<br />
Mittel zur Vermeidung von Diskriminierung<br />
im Bereich Beschäftigung und Beruf<br />
zu sehen. Die Entscheidung weitet Arbeitnehmerrechte<br />
bei der Durchsetzung von<br />
AGG-<strong>Recht</strong>en weder grenzenlos aus, noch öffnet<br />
sie Missbrauch Tür und Tor.“<br />
Zeitarbeit und Arbeitsrecht<br />
Eine Entscheidung des BAG vom März 2011<br />
hat Auswirkungen auf die Arbeitsverträge,<br />
die Zeitarbeitsunternehmen auf ihre externen<br />
Mitarbeiter anwenden.<br />
Im entschiedenen Fall übte ein Leiharbeitnehmer<br />
die Tätigkeit eines Entwicklungsingenieurs<br />
aus. Im einschlägigen Manteltarifvertrag<br />
des Zeitarbeitsunternehmens waren<br />
Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb<br />
von drei Monaten nach ihrer Fälligkeit<br />
geltend zu machen.<br />
Nach Beendigung seines Arbeitsverhältnisses<br />
machte der Leiharbeitnehmer gegenüber<br />
dem Entleiherbetrieb geltend, dass dieser<br />
den vergleichbaren eigenen Arbeitnehmern<br />
eine höhere Vergütung gewährt habe<br />
„ Die Entwicklung der <strong>Recht</strong>sprechung in der<br />
Zeitarbeit sehe ich mit großer Sorge. Jetzt versucht<br />
der Gesetzgeber mit Equal Pay und Equal Treatment<br />
der Zeitarbeit das Wasser abzugraben und<br />
verschärft die rechtlichen Rahmenbedingungen.<br />
Prof. Dr. Stefan Nägele, Nägele Kanzlei für Arbeitsrecht<br />
„<br />
Der Aspekt Arbeitszeit und Social Media rückt<br />
auch ins Blickfeld der Betriebsräte, so auch<br />
jüngst mit der ersten Einigungsstelle zum Thema<br />
„Blackberry“. Hier spielen kreative HR-Ansätze<br />
eine ebenso wichtige Rolle wie arbeitsrechtliche.<br />
Dr. Alexander Lentz, Taylor Wessing<br />
als ihm. Er forderte deshalb eine Vergütungsnachzahlung<br />
für mehrere Jahre. Sein Arbeitsvertrag<br />
enthält – anders als der für die Arbeitnehmer<br />
des Entleihers – keine Ausschlussfr<strong>ist</strong><br />
für die Geltendmachung von Ansprüchen.<br />
Das BAG kam zu der Aussage, dass der Mitarbeiter<br />
vom Verleiher die Gewährung der<br />
im Kundenbetrieb geltenden wesentlichen<br />
Arbeitsbedingungen einschließlich des<br />
Arbeitsentgelts verlangen kann, soweit ein<br />
Tarifvertrag nichts anderes vorsieht. Leiharbeitnehmer<br />
sind an die beim Entleiher<br />
geltenden Ausschlussfr<strong>ist</strong>en nicht gebunden.<br />
Ausschlussfr<strong>ist</strong>en selbst vereinbaren<br />
„Zu diesem Ergebnis konnte der 5. Senat<br />
des Bundesarbeitsgerichts nur unter Anwendung<br />
hoher rabul<strong>ist</strong>ischer Kunst gelangen,<br />
weil zwischen Vertrags- und Arbeitsbedingungen<br />
unterschieden wird“, bemerkt Stefan<br />
Nägele. Für die Praxis hat dieses Urteil<br />
insofern Bedeutung, als Leiharbeitnehmer<br />
die Ansprüche aus Equal Pay rückwirkend<br />
bis zur Grenze der Verjährungseinrede geltend<br />
machen können. Seine Empfehlung:<br />
Für die Zukunft werden sich die Verleiher<br />
vor solchen Verfahren nur dadurch schützen<br />
können, indem sie die Arbeitsverträge<br />
mit ihren Leiharbeitnehmern eigenständige<br />
Ausschlussfr<strong>ist</strong>en aufnehmen, die sich auf<br />
sämtliche Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis<br />
beziehen, auch soweit sie auf einem<br />
Einsatz im Entleiherbetrieb beruhen.
Im Rahmen von entsprechenden Tarifverträgen<br />
für die Leiharbeitsbranche <strong>ist</strong> eine Unterschreitung<br />
des Equal Pay-Prinzips de lege<br />
möglich, aber nicht ohne Risiko, wie letztlich<br />
die Entscheidung des BAG zur fehlenden<br />
Tariffähigkeit der chr<strong>ist</strong>lichen Gewerkschaften<br />
dokumentiert. Volker Werxhausen,<br />
CBH <strong>Recht</strong>sanwälte: „Die Folge war und <strong>ist</strong>,<br />
dass die betreffenden Leiharbeitnehmer die<br />
Gehaltsdifferenzen von ihrem Arbeitgeber,<br />
dem Zeitarbeitsunternehmen, verlangen<br />
können. Dies gilt natürlich auch in allen<br />
anderen Fällen, in denen ein Verleiher einen<br />
Arbeitnehmer unter Verletzung des Equal<br />
Pay-Prinzips an ein anderes Unternehmen<br />
überlasst.“<br />
Für den Personaldienstle<strong>ist</strong>er bedeute dies<br />
ein erhebliches finanzielles Risiko, da er<br />
grundsätzlich damit rechnen müsse, vom<br />
Arbeitnehmer auf eine Gehaltsdifferenz in<br />
Anspruch genommen zu werden. „Wer das<br />
Equal Pay-Prinzip als Verleiher unterschreitet,<br />
muss damit rechnen, vom Arbeitnehmer<br />
auf die Vergütungsdifferenz in Anspruch<br />
genommen zu werden und kann dem Arbeitnehmer<br />
nicht etwaige im Entleiherunternehmen<br />
geltende Ausschlussfr<strong>ist</strong>en entgegenhalten“,<br />
betont Werxhausen. Auch er rät:<br />
Der Personaldienstle<strong>ist</strong>er sollte für den Fall<br />
einer solchen Inanspruchnahme eine Erstattungsregelung<br />
im Vertrag mit dem Entleiher<br />
in Erwägung ziehen und/oder im Arbeitsvertrag<br />
mit dem Leiharbeitnehmer selbst<br />
eine Ausschlussfr<strong>ist</strong> vereinbaren, um das<br />
„ Personaler müssen mit viel Fingerspitzengefühl<br />
die Instituts-Vergütungs-Verordnung (IVV)<br />
umzusetzen, sodass die Mitarbeiter dies verstehen<br />
und akzeptieren.<br />
Dr. Alexander Insam, KPMG <strong>Recht</strong>sanwaltsgesellschaft mbH, Leiter<br />
Practice Group Personaleffizienz, Personalstrategie & Kommunikation<br />
„<br />
Arbeitsgerichtliche Verfahren dauern häufig<br />
sehr lang und sind im Ausgang zum Teil wenig<br />
prognosesicher. Anwaltliche Berater sind<br />
stärker gefordert, ihren Mandanten alternative<br />
Handlungswege aufzuzeigen.<br />
Volker Werxhausen, CBH <strong>Recht</strong>sanwälte Cornelius Bartenbach<br />
Haesemann<br />
Risiko einer nachträglichen finanziellen<br />
Inanspruchnahme zeitlich zu begrenzen.<br />
Zeitarbeit <strong>ist</strong> immer wieder Gegenstand eines<br />
überraschenden Wechselspiels zwischen<br />
Bundesarbeitsgericht und Gesetzgeber, kritisiert<br />
Alexander Lentz, Taylor Wessing. So<br />
habe das Bundesarbeitsgericht jüngst trotz<br />
anderslautenden Wortlauts im Gesetzestext<br />
sachgrundlose Erstbefr<strong>ist</strong>ungen für zulässig<br />
erachtet, auch wenn der Mitarbeiter bereits<br />
zuvor bei demselben Arbeitgeber beschäftigt<br />
war, solange dies zumindest drei Jahre<br />
zurücklag. Lentz kritisiert: „Es hat damit die<br />
Rolle eines Ersatzgesetzgebers übernommen,<br />
über deren rechtliche Zulässigkeit man<br />
sicher streiten kann. Hierfür besteht angesichts<br />
eines politisch seit jeher gelähmten<br />
Arbeitsgesetzgebers aber offensichtlich ein<br />
praktisches Bedürfnis.“<br />
Karl Geißler, Tschöpe/Schipp/Clemenz, beobachtet<br />
mit Sorge, dass Druck auf die Zeitarbeit<br />
von Betriebsräten, unterstützt durch<br />
Gewerkschaften und Teile der Politik, auch<br />
mit dem falschen Argument erzeugt wird,<br />
Zeitarbeit sorge für die Verdrängung von<br />
Stammbelegschaften. Richtig sei allerdings,<br />
dass Zeitarbeit Unternehmen die Flexibilität<br />
gäbe, die notwendig sei, um die Arbeitsplätze<br />
der Stammbelegschaft in Deutschland<br />
zu sichern.<br />
Wichtig für Arbeitgeber <strong>ist</strong> neben dem Equal<br />
Pay-Gebot die gesetzliche Neuregelung, die<br />
vorsieht, dass Leiharbeitnehmern zu den<br />
gleichen Bedingungen Zugang zu Gemein-<br />
schaftseinrichtungen und -diensten zu<br />
gewähren <strong>ist</strong>. Dr. Thomas Bezani, Görg Partnerschaft<br />
von <strong>Recht</strong>sanwälten: „Ein Verstoß<br />
gegen dieses Gebot stellt eine Ordnungswidrigkeit<br />
dar. Die Praxis wird sich daher<br />
darauf einzurichten haben, dass Leiharbeitnehmern<br />
der gleiche Zugang zu Kinderbetreuungseinrichtungen,<br />
Kantinen, Sportmöglichkeiten,<br />
Kultur- und Freizeitangeboten<br />
sowie sogar zu Betriebsausflügen zu<br />
gewähren <strong>ist</strong>.“<br />
Gesammelte Urlaubsansprüche<br />
Ein weiteres Urteil beschäftigt Arbeitgeber:<br />
Gibt es keine abweichenden einzel- oder<br />
tarifvertraglicher Regelungen, verfällt der<br />
am Ende des Urlaubsjahrs nicht genommene<br />
Urlaub, sofern kein Übertragungsgrund<br />
vorliegt. Ein solcher Grund liegt vor, wenn<br />
ein Arbeitnehmer aus von ihm nicht zu vertretenden<br />
Gründen, etwa aufgrund von<br />
Arbeitsunfähigkeit, daran gehindert <strong>ist</strong>, den<br />
Urlaub zu nehmen. Der Senat hat die Frage,<br />
ob und gegebenenfalls in welchem Umfang<br />
Arbeitnehmer Urlaubsansprüche über mehrere<br />
Jahre ansammeln können, offengelassen.<br />
Stefan Lunk, Latham Watkins: „Man <strong>ist</strong> in<br />
der Beratungspraxis seit dem Urteil des<br />
Europäischen Gerichtshofs geneigt, Dauerkranke<br />
nicht mehr im Unternehmen zu belassen,<br />
sondern frühzeitig Beendigungs-Lösungen<br />
zu suchen.“ Denn sammeln Dauerkranke<br />
nach Maßgabe der EuGH-<strong>Recht</strong>sprechung<br />
faktisch unbegrenzt weiter Urlaubsansprüche<br />
an, müssen Unternehmen hierfür Rückstellungen<br />
bilden.<br />
Ähnlich beurteilt auch Thomas Bezani, Görg<br />
Partnerschaft von <strong>Recht</strong>sanwälten, die Sachlage.<br />
Natürlich verschärfe es die Problematik,<br />
wenn man Mitarbeiter beschäftige, die<br />
eine Erwerbsunfähigkeitsrente beziehen<br />
und dabei weitere Urlaubansprüche erwerben<br />
würden: „Es stellt sich dann zwangsläufig<br />
die Frage, ob eine rechtzeitige Trennung<br />
angebracht <strong>ist</strong>. Um die wirtschaftlich völlig<br />
unsinnige und überdies durch kein entsprechendes<br />
Erholungsbedürfnis gerechtfertigte<br />
Entstehung weiterer Urlaubsansprüche<br />
zu vermeiden, werden Arbeitgeber zu der<br />
für sie auch menschlich häufig sehr schwie-<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de 11
ARBEITSRECHT Round Table<br />
rigen Entscheidung gedrängt, das Arbeitsverhältnis<br />
zu beenden.“<br />
Im Juli 2011 hat der Europäische Gerichtshof<br />
für Menschenrechte entschieden, dass<br />
die fr<strong>ist</strong>lose Kündigung einer Arbeitnehmerin<br />
wegen der Veröffentlichung von Missständen<br />
bei ihrem Arbeitgeber gegen die Menschenrechtskonvention<br />
verstößt. Wer seinen<br />
Arbeitgeber wegen gravierender Missstände<br />
im Betrieb anzeigt, dem dürfe deshalb nicht<br />
unbedingt fr<strong>ist</strong>los gekündigt werden. Welche<br />
Folgen hat das Urteil?<br />
Interne Regeln für<br />
Wh<strong>ist</strong>leblowing aufstellen<br />
„Interessant wird sein, wie sich die Entscheidung<br />
des Europäischen Gerichtshofs für<br />
Menschenrechte auswirkt, weil Wh<strong>ist</strong>leblowing<br />
nach wie vor in Deutschland wie auch<br />
anderen europäischen Ländern einen schlechten<br />
Beigeschmack hat“, so Thilo Mahnhold,<br />
Justem <strong>Recht</strong>sanwälte. Wichtig sei festzuhalten,<br />
dass die Entscheidung die bisherigen<br />
Grundsätze des Bundesarbeitsgerichts<br />
zum Wh<strong>ist</strong>leblowing nicht in Frage stelle.<br />
Danach verdient Denunziantentum, insbesondere<br />
Verdächtigungen wider besseres<br />
Wissen oder leichtfertiges Verdächtigen, keinen<br />
Schutz. Der unternehmensinternen<br />
Klärung von Konflikten <strong>ist</strong> nach wie vor Vorrang<br />
einzuräumen. Dennoch sei zu erwarten,<br />
dass die Instanzgerichte wesentlich vorsichtiger<br />
agieren würden, wenn es gelte, das<br />
berechtigte „Verdächtigen“ vom böswilligen<br />
„Verdächtigen“ abzugrenzen. Mahnhold:<br />
„Wh<strong>ist</strong>leblowing muss als Element moderner<br />
Compliance-Konzepte anerkannt werden<br />
und das nicht nur in multinationalen<br />
Unternehmensgruppen. Deshalb sind Unternehmen<br />
gut beraten, interne Regelungen<br />
zum Wh<strong>ist</strong>leblowing aufzustellen.“<br />
Das Urteil habe keine Auswirkungen auf die<br />
Praxis, denn es stärke weder künftigen Wh<strong>ist</strong>leblowern<br />
den Rücken, noch bedeute es für<br />
Arbeitnehmer oder Arbeitgeber mehr <strong>Recht</strong>ssicherheit<br />
im Umgang mit Wh<strong>ist</strong>leblowing,<br />
prognostiziert Tobias Neufeld, Allen & Overy<br />
LLP. Dazu sei der Sachverhalt zu sehr einzelfallgeprägt.<br />
„Allerdings <strong>ist</strong> die Botschaft<br />
des Gerichts an die beklagte Bundesrepublik<br />
Deutschland deutlich und richtig: Es bedarf<br />
12<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
eindeutiger gesetzlicher Regeln zum Wh<strong>ist</strong>leblowing,<br />
damit Arbeitgeber und Behörden<br />
auf Arbeitnehmerhinweise im öffentlichen<br />
Interesse adäquat reagieren und diese in<br />
einen geordneten Prozess überführen können,<br />
bei dem zugleich den betroffenen Mitarbeitern<br />
der erforderliche Schutz gewährt<br />
wird.“ Die Zurückhaltung des Gesetzgebers<br />
sei unverständlich und vor dem Hintergrund<br />
der praktischen Notwendigkeit von Wh<strong>ist</strong>leblowing-Regeln<br />
– insbesondere im Rahmen<br />
von Compliance-Systemen – aufzugeben.<br />
Minenfeld Neue Medien<br />
„<br />
Xing, Twitter, Facebook, Wiki, Blogs und weitere<br />
Social-Media Plattformen gehören auch<br />
in der Berufswelt zum Alltag. Recruitment,<br />
Kundenakquise, Kontaktpflege, produktsowie<br />
unternehmensbezogene Meinungsbildung<br />
laufen über soziale Netzwerke. <strong>Recht</strong>lich<br />
<strong>ist</strong> Social Media noch schwer einzuordnen,<br />
spezielle gesetzliche Regeln fehlen.<br />
Schwierig <strong>ist</strong> die rechtliche Beurteilung insbesondere,<br />
weil sich in bisher unbekanntem<br />
Maße berufliche und private Elemente<br />
mischen. Wie weit geht die Meinungsfreiheit<br />
des Arbeitnehmers? Welche <strong>Recht</strong>e hat<br />
der Arbeitgeber?<br />
Tobias Neufeld, Allen & Overy LLP: „Überraschenderweise<br />
hat erst ein geringer Teil<br />
der Unternehmen eine Social Media-Governance,<br />
deren wichtigster Teil Social Media-<br />
Guidelines sind.“ Auch wenn noch ein recht-<br />
Diversitiy <strong>ist</strong> politisch und gesellschaftlich vernünftig.<br />
In diesem Kontext <strong>ist</strong> auch das AGG als gesetzgeberisches<br />
Mittel zur Vermeidung von Diskriminierung<br />
im Bereich Beschäftigung und Beruf zu sehen.<br />
Tobias Neufeld, Allen & Overy LLP<br />
„<br />
Global agierenden Mandanten raten wir nachdrücklich<br />
ab, den Instanzenweg vor deutschen Arbeitsgerichten<br />
anzutreten. Es sei denn, es handelt sich<br />
für das Unternehmen um die Klärung ganz wesentlicher<br />
Kernfragen und den Einzelfall überschreitende<br />
Konflikte.<br />
Michael Magotsch LL.M., DLA Piper<br />
liches Durchsetzbarkeitsrisiko bestehe, gäbe<br />
es für Unternehmen keine Alternative zur<br />
Einführung einer Guideline.<br />
Doch wie weit kommt der Arbeitgeber mit<br />
Social Guidelines? Für HR-Lösungen plädiert<br />
Alexander Lentz, Taylor Wessing: „Kommen<br />
Arbeitgeber in die Situation, dass sie<br />
mit Äußerungen eines Mitarbeiters in sozialen<br />
Netzwerken nicht leben können, bieten<br />
auch noch so ausgefeilte ‚Social Network<br />
Policies‘ rechtlich ohnehin nur bedingt einen<br />
Hebel.“ Sie seien eher als HR-Lösungen zu<br />
sehen und sollten auch so gelebt werden. Wenn<br />
Unternehmen auf dem <strong>Recht</strong>sweg gegen<br />
Mitarbeiter vorgehen würden, riskierten sie,<br />
dass die öffentliche Resonanz möglicherweise<br />
noch schlechter würde und der eigentliche<br />
Schaden oft erst entstehe.<br />
Volker Werxhausen, CBH <strong>Recht</strong>sanwälte,<br />
empfiehlt: nicht auf gesetzgeberische Regelungen<br />
zu warten. Unternehmen würden<br />
zwischen zum Teil archaischen Regelungen<br />
und gesellschaftlichem Konsens, der auch<br />
in den Betrieben gelebt wird, schneller und<br />
kreativer passende Lösungen für den Umgang<br />
mit neuen Medien finden. Hier bestehe ein<br />
immenser Bedarf an rechtlicher Beratung.<br />
Kreative HR-Ansätze und permanente<br />
Erreichbarkeit<br />
Beim Umgang mit Mobile Media drängen sich<br />
nicht nur Datenschutzfragen auf, sondern auch<br />
Fragen zur Arbeitszeit. Laut Europäischem<br />
Gerichtshof, entschieden unter anderem am
Beispiel des ärztlichen Bereitschaftsdiensts,<br />
gibt es nur Freizeit oder Arbeitszeit und<br />
nichts dazwischen. „Arbeitnehmer nutzen<br />
Smartphones, Blackberrys und Laptops beruflich<br />
außerhalb der Arbeitszeit und dies wird<br />
auch vom Arbeitgeber erwartet. Hier muss<br />
eine Regelung gefunden werden, über einen<br />
Tarifvertrag wird man das Problem nicht<br />
lösen können“, mahnt Stefan Lunk, Latham<br />
Watkins.<br />
Der Arbeitszeit-Aspekt rückt auch mehr und<br />
mehr ins Blickfeld der Betriebsräte – so <strong>ist</strong><br />
die erste Einigungsstelle zum Thema „Blackberry“<br />
zu vermelden, berichtet Alexander<br />
Lentz, Taylor Wessing: „Neben spannenden<br />
rechtlichen Fragen zur Arbeitszeit spielen<br />
kreative HR-Ansätze eine mindestens ebenso<br />
wichtige Rolle. Der jüngste Vorstoß bei der<br />
Telekom, zu bestimmten Zeiten das Blackberry<br />
auszustellen, lässt erwarten, dass hier<br />
vielfach auch praktische Lösungen gesucht<br />
werden, um Ruhepausen sicherzustellen.“<br />
Wie erreicht ein Arbeitgeber unterHR-<br />
Gesichtspunkten einen konstruktiven Umgang<br />
mit den neuen Medien? Reicht ein<br />
grober rechtlicher Rahmen, der Orientierung<br />
schafft, nicht aus? Mit dieser Frage leitet<br />
Alexander Insam, KPMG, eine provokante<br />
These ein: Datenschutz könnte ein überholtes<br />
Konzept sein, weil die sekündlich<br />
wachsende Datenmenge sich der praktischen<br />
Kontrollierbarkeit entzieht. Zudem<br />
entäußern Mitarbeiter viele private Daten freiwillig.<br />
„Das <strong>Recht</strong> stößt an seine Grenzen.<br />
„ Es verschärft die Problematik, wenn Mitarbeiter, die<br />
eine Erwerbsunfähigkeitsrente beziehen, weitere<br />
Urlaubansprüche erwerben. Es stellt sich zwangsläufig<br />
die Frage, ob eine rechtzeitige Trennung<br />
angebracht <strong>ist</strong>.<br />
Dr. Thomas Bezani, GÖRG Partnerschaft von <strong>Recht</strong>sanwälten<br />
„<br />
Das Thema Low Performer wird uns in den nächsten<br />
Jahren sicherlich ebenso beschäftigen wie die<br />
Herausforderung, die Betriebsräte auch im kommenden<br />
Jahr für dringend notwendige Anpassungsprozesse<br />
zu gewinnen.<br />
Karl Geißler, Tschöpe/Schipp/Clemenz<br />
Deshalb sollte die jur<strong>ist</strong>ische Frage heutzutage<br />
lauten: Brauchen wir nicht eher ein<br />
minimalinvasives Datenschutzrecht als ein<br />
maximalregulatives?“<br />
Neue Vergütungs- und Bonussysteme<br />
von Banken und Versicherungen<br />
Die Instituts-Vergütungs-Verordnung (IVV)<br />
und die Versicherungs-Vergütungs-Verordnung<br />
(VVV) markieren einen Wendepunkt<br />
im Arbeitsrecht, da hier zum ersten Mal mit<br />
dem Aufsichtsrecht ein anderes <strong>Recht</strong>sgebiet<br />
so massiv in die Vertragsfreiheit eingreift,<br />
dass systematische Regelungswidersprüche<br />
entstehen. Viele aufsichtsrechtliche Neuerungen<br />
erfordern die Änderung von Vorstandsverträgen,<br />
Arbeitsverträgen und Betriebsvereinbarungen.<br />
Beispielsweise wurden ohne<br />
Vertrauensschutz sogenannte Halteprämien<br />
vom einen auf den anderen Tag rechtswidrig.<br />
Banken waren aufgrund des öffentlichen<br />
Interesses und der Finanzkrise unmittelbar<br />
von der Umsetzung betroffen. Alexander<br />
Insam, KPMG: „Hier galt es für Personaler,<br />
die Verordnungen mit viel<br />
Fingerspitzengefühl so umzusetzen, dass<br />
die Mitarbeiter dies verstehen und akzeptieren<br />
konnten und die Institute gleichzeitig<br />
die Anforderungen der IVV und der BaFin<br />
erfüllen konnten.“<br />
Für Arbeitsrechtler sei es hierbei wichtig, Mandanten<br />
mit dem Schnittstellen-know -how zum<br />
Aufsichtsrecht und zur Wirtschaftsprüfung<br />
beraten zu können, da der Wirtschaftsprü-<br />
fer am Ende die ordnungsgemäße Umsetzung<br />
der Verordnungen beurteilen müsse, <strong>was</strong><br />
wiederum von der BaFin kontrolliert werde.<br />
„Nach einer ersten Welle von Prüfungsschwerpunkten<br />
bis hin zu Sonderprüfungen<br />
bei den Banken sehen wir nun, dass<br />
sich das Interesse der BaFin 2012 auch den<br />
Versicherungen zuwendet“, berichtet Alexander<br />
Insam. Zudem drohe bereits die Umsetzung<br />
weiterer Regelungen, wie beispielsweise<br />
der AIFM-Richtlinie (Alternative Investment<br />
Fund Managers Richtlinie), welche die<br />
regulatorischen Anforderungen an die Finanzbranche<br />
zusätzlich verkomplizieren werden.<br />
Arbeitsrecht international<br />
Wie gehen global aufgestellte Unternehmen<br />
und Arbeitsrechtler mit den verschiedenen<br />
Gesetzgebungen einzelner Länder um? Bei<br />
der Betreuung von Unternehmen bei grenzüberschreitenden<br />
Transaktionen innerhalb<br />
oder außerhalb Europas sollte eine fundierte<br />
Vorarbeit rechtzeitig beginnen, rät Michael<br />
Magotsch, DLA Piper. Und zwar sowohl<br />
in Bezug auf die verschiedenen Jurisdiktionen<br />
als auch unter Berücksichtigung der<br />
gesellschafts-, steuer- und arbeitsrechtlichen<br />
Aspekte. Unterschiedliche Kulturen, Herangehensweisen<br />
und <strong>Recht</strong>sfolgen müssten<br />
bedacht werden. Notwendig sei auch eine frühe<br />
Aufklärung darüber, dass das deutsche<br />
Arbeitsrecht und deutsche Arbeitsgerichte<br />
nur schwer – wenn überhaupt – mit in der<br />
heutigen Praxis vorherrschenden Matrixstrukturen<br />
umgehen können. Ein „Local<br />
Manager“ oder „Vice President“ sei noch<br />
lange kein Organ im Sinne deutscher <strong>Recht</strong>sprechung.<br />
Im Ergebnis erfordere die Beratung<br />
globaler Unternehmen in der Praxis weit<br />
mehr als die rein rechtliche Aufarbeitung einzelner<br />
Themen in den jeweiligen Jurisdiktionen.<br />
Unabhängig von Konjunkturzyklen erweitert<br />
sich permanent das Aufgabenspektrum<br />
der Arbeitsrechtler. Social Media, Compliance,<br />
Datenschutz – der Dschungel ungelöster<br />
und unsicherer jur<strong>ist</strong>ischer Fragen wuchert<br />
weiter, vor allen Dingen vor dem Hintergrund<br />
fehlender nationaler Gesetzgebertätigkeit<br />
und reger <strong>Recht</strong>sprechung aus Brüssel.<br />
Chr<strong>ist</strong>iane Siemann, freie Journal<strong>ist</strong>in, Bad Tölz<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de 13
ARBEITSRECHT Compliance<br />
Mehr Ethik für das eigene Unternehmen<br />
Das Thema Compliance gewinnt in Unternehmen mehr und mehr Bedeutung. Wie entsprechende<br />
Richtlinien effektiv eingeführt werden und warum die Anstellung eines Compliance-Beauftragten ein<br />
wesentliches Element effektiver Compliance <strong>ist</strong>, zeigt dieser Beitrag.<br />
D<br />
ie Zahl der in den Medien berichteten<br />
rechtlichen und ethischen Verfehlungen<br />
von Unternehmensleitern und<br />
Mitarbeitern reißt nicht ab. Auch die Personalabteilungen<br />
– originär in einem sehr<br />
regelungs- und pflichtenintensiven Bereich<br />
tätig – geraten verstärkt ins Blickfeld. So<br />
berichtete das Handelsblatt erst kürzlich<br />
über die Bestechlichkeit von Personalleitern<br />
im Zusammenhang mit dem<br />
Abschluss von Verträgen zur betrieblichen<br />
Altersversorgung im Unternehmen.<br />
Personalleiter hätten bei der Einführung<br />
von betrieblicher Altersversorgung in<br />
ihren Unternehmen den Abschluss<br />
bestimmter Verträge befördert und dafür<br />
vom Anbieter der Altersversorgung Vermittlungszahlungen<br />
erhalten oder waren<br />
gar in Nebentätigkeit bei solchen Anbietern<br />
tätig.<br />
Das LAG Rheinland-Pfalz hatte jüngst<br />
über die Kündigung eines Personalleiters<br />
zu entscheiden, der von einem mit dem<br />
Unternehmen geschäftlich verbundenen<br />
14<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
Personalvermittler ein Geschenk in Form<br />
einer VIP-Eintrittskarte für ein Fußballspiel<br />
entgegengenommen hatte. Dem Personalleiter<br />
oblagen bei einem Leiharbeitnehmerbedarf<br />
die Verhandlungen mit diesem<br />
Personalvermittler und er hatte somit<br />
Einfluss darauf, ob dieses Unternehmen<br />
bei der Vergabe von Leiharbeitsaufträgen<br />
zum Zuge kam und in welchem<br />
Umfang. Darin sah das LAG einen Verstoß<br />
gegen das Schmiergeldverbot und hat die<br />
Kündigung des Personalleiters als wirksam<br />
bestätigt.<br />
Pflichtwidrigkeiten betreffen ferner die<br />
Einhaltung arbeitnehmerrelevanter Vorschriften<br />
(HR Compliance) selbst. Paradebeispiel<br />
<strong>ist</strong> das Online-Bewerbermanagement,<br />
zu dem viele Unternehmen übergegangen<br />
sind. Trotz Einsatz moderner<br />
IT-Lösungen werden die einschlägigen<br />
Vorschriften des Bundesdatenschutzgesetzes<br />
oft nicht gewahrt, wie zahlreiche Beispiele<br />
aus den Medien zeigen, in denen<br />
Bewerber ungewollt Zugriff auf die ver-<br />
traulichen Bewerberdaten anderer Kandidaten<br />
erhielten.<br />
Der Datensicherheit gilt oft<br />
erst der zweite Blick<br />
Zugunsten des effizienten Bewerbermanagements<br />
gilt der Datensicherheit oft erst<br />
der zweite Blick. Eine technisch realisierte<br />
Sicherheit kann zudem durch Fehlverhalten<br />
der Mitarbeiter in der Personalabteilung<br />
unterlaufen werden. Die ausgewählten<br />
Beispiele unterstreichen eindrucksvoll,<br />
wie dringend notwendig ein<br />
funktionsfähiges Compliance-System im<br />
Unternehmen <strong>ist</strong>, um schädigendes Fehlverhalten<br />
von vornherein zu unterbinden<br />
und Pflichtverletzungen sachgemäß sanktionieren<br />
zu können. Dabei <strong>ist</strong> das Erfordernis<br />
eines Compliance-Systems längst<br />
von der Unternehmensgröße oder dem<br />
Bestehen eines Konzerns abgekoppelt.<br />
Auch Mittelständler sind von externen<br />
Compliance-Vorgaben wie dem Namensl<strong>ist</strong>enabgleich<br />
(Mitarbeiterdatenscreening)
ARBEITSRECHT Compliance<br />
nach den europäischen Antiterrorismusverordnungen<br />
betroffen. Oftmals bedingen<br />
mittelständische Strukturen ein professionelles<br />
Compliance-System sogar. Der<br />
nachfolgende Beitrag gibt einen praktischen<br />
Überblick zur Einführung vom Compliance-Richtlinien<br />
und der Anstellung<br />
eines Compliance-Beauftragten als wesentliche<br />
Elemente effektiver Compliance.<br />
Bewusstsein für kritische<br />
Sachverhalte schaffen<br />
Compliance-Systeme werden arbeitsrechtlich<br />
in der Regel durch Compliance-Richtlinien<br />
implementiert. Diese Richtlinien<br />
schaffen das Bewusstsein der Mitarbeiter<br />
für kritische Sachverhalte, indem sie eine<br />
Grenzziehung zwischen sozial adäquatem<br />
und verbotenem oder unerwünschtem Verhalten<br />
ermöglichen. In Deutschland gibt<br />
es grundsätzlich keine verbindlichen Vorgaben,<br />
welchen Inhalt Compliance-Richtlinien<br />
haben müssen (Ausnahmen gelten<br />
etwa in der Finanzdienstle<strong>ist</strong>ungsbranche).<br />
In Compliance-Richtlinien kann eine<br />
Vielzahl unterschiedlicher Regelungen enthalten<br />
sein, wobei in der Praxis die Inhalte<br />
von allgemein gehaltenen Aussagen<br />
über das Unternehmen und sein Geschäftsgebaren<br />
bis hin zur detaillierten Einführung<br />
von Wh<strong>ist</strong>leblower-Systemen reichen.<br />
Allgemeine Aussagen zur Unternehmensphilosophie<br />
oder das Unternehmen ohne<br />
Verhaltensanweisungen oder Regelungen<br />
gegenüber dem Arbeitnehmer müssen<br />
nicht arbeitsrechtlich implementiert werden.<br />
Teilweise werden in Compliance-Richtlinien<br />
auch lediglich gesetzliche Pflichten<br />
wiederholt oder in anderen Worten abgebildet<br />
(zum Beispiel Verbot der Diskriminierung<br />
nach dem AGG). Manche Compliance-Richtlinien<br />
konkretisieren rahmenmäßig<br />
bestehende Pflichten des Arbeitnehmers<br />
aus dem Gesetz, aus dem<br />
Arbeitsvertrag oder aus Nebenpflichten<br />
zum Arbeitsverhältnis.<br />
Mithilfe der Compliance-Richtlinien werden<br />
dem Arbeitnehmer dann genaue Vorgaben<br />
zur Einhaltung dieser Pflichten<br />
erteilt, zum Beispiel hinsichtlich der Wertgrenzen<br />
für die Annahme von Geschenken<br />
16<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
oder den Umgang mit Betriebsmitteln. Im<br />
Gegensatz zu solchen konkretisierenden<br />
Compliance-Richtlinien werden bei pflichtenbegründendenCompliance-Richtlinien<br />
bisher nicht gesetzlich oder vertraglich<br />
festgelegte Pflichten für den Arbeitnehmer<br />
geregelt, zum Beispiel bei der Einführung<br />
von Wh<strong>ist</strong>leblower-Hotlines oder<br />
hinsichtlich des außerdienstlichen Verhaltens<br />
der Mitarbeiter. Je nach Typus der<br />
Compliance-Richtlinie ergeben sich Unterschiede<br />
in der Implementierung.<br />
Compliance-Richtlinien können mittels<br />
Direktionsrecht implementiert werden,<br />
soweit sie den arbeitsvertraglich gesteckten<br />
Rahmen lediglich ausfüllen. Die Implementierung<br />
mittels Direktionsrecht hat<br />
den Vorteil, dass der Arbeitgeber die auf<br />
diese Weise eingeführten Richtlinien jederzeit<br />
einseitig ändern kann. Die Änderung<br />
geschieht zweckmäßigerweise auf dieselbe<br />
Weise wie die Einführung der Richtlinien,<br />
nämlich durch Aushändigung der<br />
geänderten, aktuellen Compliance-Richtlinien<br />
gegen Empfangsbekenntnis beziehungsweise<br />
auf entsprechend sicherem<br />
elektronischem Wege. Die Wiederholung<br />
gesetzlicher Pflichten sowie die Konkretisierung<br />
ex<strong>ist</strong>ierender Pflichten kann im<br />
Wege des Direktionsrechts gestaltet werden.<br />
Eine einseitige Begründung neuer<br />
Pflichten oder die Änderung im Arbeitsvertrag<br />
vereinbarter Pflichten <strong>ist</strong> hingegen<br />
ausgeschlossen. Dies gilt insbesondere für<br />
Compliance-Richtlinien, die ausschließlich<br />
auf das Verhalten im privaten Bereich<br />
abzielen. Der Arbeitgeber kann beispielsweise<br />
seinen Arbeitnehmern nicht per<br />
Direktionsrecht pauschal vorschreiben,<br />
dass diese untereinander keine Liebesbeziehungen<br />
eingehen dürfen. Derartige Weisungen<br />
sind unwirksam.<br />
Arbeitgeber kann Regelungen im<br />
Arbeitsvertrag verankern<br />
Eine Implementierung von Compliance-<br />
Richtlinien durch den Arbeitsvertrag <strong>ist</strong><br />
ebenso möglich. Der Arbeitgeber kann diejenigen<br />
Regelungen, die wegen der Begründung<br />
neuer Pflichten nicht im Wege des<br />
Direktionsrechts einseitig implementiert<br />
werden können, zum Gegenstand einer<br />
arbeitsvertraglichen Vereinbarung machen.<br />
Auch <strong>ist</strong> es denkbar, die gesamte Compliance-Richtlinie<br />
vertraglich zu implementieren.<br />
Inhaltlich können alle genannten<br />
Typen von Compliance-Richtlinien in den<br />
Arbeitsvertrag einbezogen werden. Grenzen<br />
werden jedoch insbesondere durch<br />
das <strong>Recht</strong> der Allgemeinen Geschäftsbedingungen<br />
(AGB) in §§ 305 ff. BGB gesetzt.<br />
Die Richtlinien müssen daher nach dem<br />
für AGB geltenden Transparenzgebot klar<br />
und verständlich formuliert sein.<br />
Die vertragliche Vereinbarung der Compliance-Richtlinien<br />
führt bei Mitarbeitern<br />
gegebenenfalls zu Problemen, mit denen<br />
bereits ein Arbeitsvertrag geschlossen <strong>ist</strong>.<br />
Eine Vertragsänderung kann nur mit<br />
Zustimmung des Mitarbeiters erreicht werden.<br />
Faktisch <strong>ist</strong> es daher sehr schwierig<br />
für den Arbeitgeber, eine Vertragsänderung<br />
durchzusetzen, wenn sich der Arbeitnehmer<br />
weigert.<br />
Mitbestimmungsfreie und mitbestimmungpflichtige<br />
Richtlinien<br />
Besteht im Unternehmen ein Betriebsrat,<br />
so stellt sich die Frage, ob die Einführung<br />
der Compliance-Richtlinien nach dem<br />
Betriebsfassungsgesetz mitbestimmungspflichtig<br />
<strong>ist</strong>. Nicht mitbestimmungspflichtig<br />
<strong>ist</strong> die Wiederholung von gesetzlichen<br />
Pflichten. Bei konkretisierenden und pflichtenbegründendenCompliance-Richtlinien<br />
<strong>ist</strong> der Betriebsrat ebenfalls nicht zu beteiligen,<br />
soweit lediglich Arbeitspflichten<br />
betroffen sind. Sind hingegen Fragen der<br />
Ordnung des Betriebs und des Verhaltens<br />
der Arbeitnehmer sowie die Einführung und<br />
Anwendung von technischen Einrichtungen<br />
betroffen, hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht,<br />
zum Beispiel bei einem<br />
Verbot der Annahme von Geschenken, bei<br />
Regelungen zur privaten Internetnutzung<br />
und der Einführung eines standardisierten<br />
Wh<strong>ist</strong>leblower-Verfahrens.<br />
Soweit das private Verhalten des Arbeitnehmers<br />
in der Richtlinie geregelt werden<br />
soll, scheidet ein Mitbestimmungsrecht<br />
per se aus, wenn das geregelte private<br />
Verhalten keinen betrieblichen Bezug
„<br />
Gelebte Compliance senkt die Risiken erheblich.<br />
aufwe<strong>ist</strong>. Eine Compliance-Richtlinie kann<br />
sowohl aus mitbestimmungsfreien als auch<br />
mitbestimmungspflichtigen Teilen bestehen.<br />
Hinsichtlich der mitbestimmungspflichtigen<br />
Compliance-Elemente muss<br />
der Betriebsrat beteiligt werden, da ansonsten<br />
die entsprechende Regelung unwirksam<br />
<strong>ist</strong>. Enthält das Compliance-Regelwerk<br />
auch mitbestimmungsfreie Teile, so<br />
kann die Betriebsvereinbarung über diesen<br />
Teil (freiwillig) geschlossen werden.<br />
Ein Vorteil der Betriebsvereinbarung <strong>ist</strong>,<br />
dass sie zwingend und unmittelbar für<br />
alle Arbeitnehmer im Betrieb gilt. Auch eine<br />
Änderung der Betriebsvereinbarung, die<br />
jederzeit im Einvernehmen mit dem<br />
Betriebsrat möglich <strong>ist</strong>, erfasst alle Arbeitnehmer.<br />
Damit <strong>ist</strong> sichergestellt, dass die<br />
Richtlinien gleichermaßen für alle Arbeitnehmer<br />
Anwendung finden. Darüber hinaus<br />
<strong>ist</strong> die Akzeptanz der Compliance-<br />
Richtlinien bei den Arbeitnehmern erfahrungsgemäß<br />
höher, wenn die Umsetzung<br />
mittels Betriebsvereinbarung erfolgt. Im<br />
Falle der Kündigung der Betriebsvereinbarung<br />
<strong>ist</strong> zwischen mitbestimmungspflichtigen<br />
und mitbestimmungsfreien<br />
Richtlinien zu unterscheiden, soweit die<br />
Betriebsparteien keine vom Gesetz abweichende<br />
Regelung vereinbaren. So wirken<br />
mitbestimmungspflichtige Richtlinien nach,<br />
bis sie durch eine andere Regelung, zum<br />
Beispiel durch einen Zusatz zum Arbeitsvertrag,<br />
ersetzt werden. Mitbestimmungsfreie<br />
Richtlinien hingegen gelten nach dem<br />
Kündigungstermin nicht mehr weiter.<br />
Die bloße Einführung einer Compliance-<br />
Richtlinie genügt zur Implementierung<br />
einer effektiven Compliance jedoch nicht.<br />
Als eine wesentliche Compliance-Maßnahme<br />
zur Risikominimierung gilt die Schaffung<br />
einer eigenen Compliance-Abteilung<br />
(unabhängig von <strong>Recht</strong>s- und Personalabteilung)<br />
unter der Leitung eines Compliance-Officers,<br />
oftmals ein Mitarbeiter des<br />
Unternehmens, der ausschließlich für die<br />
Sicherstellung von Compliance zuständig<br />
<strong>ist</strong>. Der Compliance-Officer <strong>ist</strong> für Compliance-Aufgaben<br />
aufgrund seines Fachwissens<br />
qualifiziert, kennt die typischen Abläufe<br />
im Unternehmen und dessen Geschäftsmodell<br />
aus eigener Anschauung beziehungsweise<br />
wurde entsprechend eingewiesen<br />
und <strong>ist</strong> mit ausreichenden Befugnissen<br />
und kurzen Berichtswegen ausgestattet.<br />
Compliance-Officer kann strafrechtliche<br />
Verantwortung treffen<br />
Mangels gesetzlicher Regelung zu den konkreten<br />
Aufgaben eines Compliance-Officers<br />
bleibt es den Arbeitsvertragsparteien<br />
überlassen, seinen Pflichtenkreis zu<br />
bestimmen, um hierdurch nicht nur Compliance<br />
sicherzustellen, sondern auch die<br />
Geschäftsführung von ihrer Haftung zu<br />
entlasten. Dass es einer konkreten Regelung<br />
bedarf, zeigt eine Entscheidung des<br />
BGH vom 17. Juli 2009, wonach den Compliance-Officer<br />
sogar selbst eine strafrechtliche<br />
Verantwortung treffen kann, wenn<br />
es ihm nicht gelingt, pflichtwidriges Verhalten<br />
im Unternehmen zu verhindern.<br />
In den Arbeitsvertrag des Compliance-<br />
Officers sollte dessen Pflicht zur unaufgeforderten,<br />
regelmäßigen Berichterstattung<br />
gegenüber der Geschäftsführung sowie<br />
zur unverzüglichen Berichterstattung bei<br />
Handlungsbedarf und besonderen Verdachtsmomenten<br />
aufgenommen werden.<br />
Darüber hinaus sollte der Arbeitsvertrag<br />
die Pflicht des Compliance-Officers vorsehen,<br />
sämtliche seiner Maßnahmen vollständig<br />
und aussagekräftig zu dokumentieren.<br />
Auf diese Weise kann die Geschäftsführung<br />
bei Bedarf anhand entsprechender<br />
Unterlagen, die ordnungsgemäße<br />
Aufgabenausführung durch den Compliance-Officer<br />
und dessen Überwachung<br />
nachweisen.<br />
Es <strong>ist</strong> für das Unternehmen elementar,<br />
den konkreten Pflichtenkreis des Compliance-Officers<br />
durch die arbeitsvertragliche<br />
Vereinbarung eindeutig zu bestimmen.<br />
Hierbei kann keine allgemein gültige Aus-<br />
sage zu den Pflichten des Compliance-Officers<br />
getroffen werden, da diese maßgeblich<br />
von Größe und Geschäft sowie Wirkungskreis<br />
des Unternehmens geprägt<br />
sind. In der Praxis werden hinsichtlich<br />
der Compliance-Aufgaben häufig die folgenden<br />
drei Bereiche herausgebildet:<br />
Prävention, Aufdeckung von Pflichtverstößen<br />
und Umgang mit Pflichtverstößen.<br />
Die Aufgaben des Compliance-Officers können<br />
sich auf eine oder mehrere dieser<br />
Bereiche beziehen, abhängig davon, ob<br />
dessen Tätigkeit in Vollzeit oder in Teilzeit<br />
oder im Rahmen einer gemischten Stelle<br />
in der Form erfolgt, dass neben den Compliance-Aufgaben<br />
noch andere Aufgaben<br />
erfüllt werden müssen (zum Beispiel die<br />
Leitung der <strong>Recht</strong>sabteilung). Vor der<br />
Gestaltung des Arbeitsvertrages eines Compliance-Officers<br />
muss daher zunächst eine<br />
Analyse durchgeführt werden, welche Compliance-Aufgaben<br />
in welchem Umfang konkret<br />
anfallen und auf wie viele Köpfe diese<br />
Tätigkeit verteilt werden muss, um effektive<br />
Compliance sicherstellen zu können.<br />
Am wichtigsten <strong>ist</strong> allerdings, dass die Compliance-Struktur<br />
des Unternehmens mit<br />
Leben gefüllt wird und von der Geschäftsleitung<br />
kommuniziert und vorgelebt wird.<br />
Die zu Beginn dieses Beitrags genannten<br />
Medienberichte verdeutlichen zwar, dass<br />
selbst die Strafbarkeit eines Verhaltens<br />
(zum Beispiel Bestechlichkeit im geschäftlichen<br />
Verkehr) einzelne Mitarbeiter nicht<br />
vom Pflichtenverstoß abhält. Allerdings<br />
senkt eine gelebte Compliance solche Risken<br />
erheblich und minimiert dadurch Schäden<br />
des Unternehmens sowohl in materieller<br />
Hinsicht, als auch hinsichtlich der<br />
Reputation. Der Return-On-Investment<br />
(ROI) einer Unternehmens-Compliance <strong>ist</strong><br />
damit in der Regel signifikant.<br />
Autor<br />
Tobias Neufeld,<br />
<strong>Recht</strong>sanwalt, Fachanwalt<br />
für Arbeitsrecht, Partner der<br />
Sozietät Allen & Overy LLP,<br />
Düsseldorf,<br />
tobias.neufeld@allenovery.com<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de 17
ARBEITSRECHT Arbeitnehmerüberlassung<br />
Fremdpersonaleinsatz im Konzern<br />
Eine mögliche Form der Beschäftigung von Arbeitnehmern für den vertraglichen Arbeitgeber und daneben für einen<br />
weiteren Betrieb stellt die Arbeitnehmerüberlassung dar. Was dabei zu beachten <strong>ist</strong>, zeigt der folgende Beitrag.<br />
D<br />
as Bedürfnis nach einer solchen<br />
Beschäftigung kann in vielen Fällen<br />
bestehen: Beispielsweise kann ein punktuell<br />
höherer Beschäftigungsbedarf durch<br />
die kurzfr<strong>ist</strong>ige Beschäftigung von Arbeitnehmern<br />
aus anderen Betrieben ausgeglichen<br />
werden. Ebenso <strong>ist</strong> es denkbar, dass<br />
besondere „Ausbildungsstützpunkte“ in<br />
einzelnen Betrieben konzentriert werden,<br />
in denen sowohl die Ausbildung, als<br />
auch die Weiterbildung und damit verbunden<br />
auch die Einarbeitung erfolgt. Der<br />
nachfolgende Beitrag möchte sich mit dieser<br />
besonderen Beschäftigungsformen<br />
befassen und Voraussetzungen und Folgen<br />
hiervon darstellen.<br />
Kennzeichen der<br />
Arbeitnehmerüberlassung<br />
Die Kennzeichen der Arbeitnehmerüberlassung<br />
wurden maßgeblich durch die<br />
<strong>Recht</strong>sprechung geprägt: Notwendig <strong>ist</strong><br />
grundsätzlich, dass (vertragliche) Arbeitgeber<br />
einem Dritten die Tätigkeit des<br />
18<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
Arbeitnehmers vorübergehend zur Verfügung<br />
stellen. Der Einsatz des Arbeitnehmers<br />
im entleihenden Betrieb erfolgt<br />
damit nach den Vorgaben dieses Unternehmers.<br />
Zentrales Kriterium <strong>ist</strong> die Ausübung<br />
des Weisungsrechts durch den Entleiher<br />
und gerade nicht mehr durch den<br />
eigentlichen Arbeitgeber.<br />
Aus der Zweierbeziehung wird damit eine<br />
Dreierbeziehung. Der Entleiher übt damit<br />
faktisch partiell die Stellung als Arbeitgeber<br />
aus. Eine vertragliche Beziehung zwischen<br />
dem Entleiher und dem Arbeitnehmer<br />
besteht hingegen weiterhin nicht.<br />
Die zeitweilige Able<strong>ist</strong>ung der vertraglichen<br />
Arbeitspflicht bei Dritten wird damit<br />
– im Regelfall von Beginn an – vereinbart.<br />
Damit wird die Funktion des Arbeitgebers<br />
– nicht aber die Stellung des Arbeitgebers<br />
in dogmatischer Hinsicht – aufgespalten.<br />
Diese Vorgaben lassen es allerdings<br />
offen, wie weit das Direktionsrecht<br />
an den Entleiher übertragen werden muss,<br />
um das Vorliegen einer Arbeitnehmer-<br />
überlassung zu bejahen. Es muss hierbei<br />
genügen, wenn das Weisungsrecht partiell<br />
übertragen wurde.<br />
Üblicherweise wird der Entleiher sowohl<br />
Vorgaben hinsichtlich Ort und Zeit der zu<br />
erfüllende Tätigkeiten vorgeben, es muss<br />
aber auch genügen, wenn der Entleiher<br />
dieses <strong>Recht</strong> nur für bestimmte Tätigkeiten<br />
und in bestimmten Fällen inne hat.<br />
Es kann keinen Unterschied machen, ob<br />
der Entleiher komplett oder nur partiell<br />
eine Stellung als Arbeitgeber einnimmt<br />
– in beiden Fällen hat ein Dritter Kompetenzen,<br />
die sich nicht aus einer vertraglichen<br />
Beziehung zum Arbeitnehmer ergeben.<br />
Letztes Kennzeichen <strong>ist</strong> zudem, dass die<br />
Tätigkeit des Arbeitnehmers auf einer<br />
Vereinbarung zwischen Arbeitgeber (Verleiher)<br />
und Entleiher beruht. Die Übertragung<br />
der Weisungsbefugnis muss auf<br />
einem willentlichen Entschluss der Beteiligten<br />
beruhen. Eine eigenmächtige<br />
Anmaßung dieser Befugnis kann nicht
ARBEITSRECHT Arbeitnehmerüberlassung<br />
genügen – schon begrifflich würde damit<br />
eine Überlassung ausscheiden.<br />
Nicht verwechselt werden darf diese Konstellation<br />
mit dem Abschluss eines Dienstoder<br />
Werkvertrags zwischen Ver- und<br />
Entleiher. Zwar wird auch hier der Arbeitnehmer<br />
für einen Dritten tätig, die Weisungsbefugnis<br />
verbleibt aber bei seinem<br />
vertraglichen Arbeitgeber. Diese Fälle<br />
stellen damit keine Arbeitnehmerüberlassung<br />
dar.<br />
Voraussetzungen der<br />
Arbeitnehmerüberlassung<br />
a) Arbeitsvertragliche Gestaltung –<br />
Abbedingung des § 613 BGB:<br />
Die Überlassung von Arbeitnehmern stellt<br />
gerade eine Abweichung zu der allgemeinen<br />
arbeitsrechtlichen Verpflichtung dar<br />
– im Regelfall gibt das Leitbild des § 611<br />
BGB dem Arbeitnehmer vor, Dienste jeder<br />
Art zu erfüllen. Die Konkretisierung der<br />
Art folgt dann aus dem konkret vereinbarten<br />
Inhalt des Arbeitsvertrags (vergleiche<br />
auch § 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 NachwG).<br />
Ausgeübt werden kann das Direktionsrecht<br />
nach diesen Grundsätzen gerade<br />
nur vom vertraglichen Arbeitgeber.<br />
Ergänzend enthält § 613 BGB Vorgaben<br />
hinsichtlich der persönlichen Able<strong>ist</strong>ung<br />
der Arbeit.<br />
Keine Vorgaben macht das Gesetz hingegen<br />
bezüglich einer Tätigkeit für Dritte.<br />
Damit muss auch hinsichtlich dieser Frage<br />
erneut auf den konkret vereinbarten<br />
Inhalt des Arbeitsverhältnisses abgestellt<br />
werden. Darin muss vereinbart werden,<br />
dass für den Zeitraum der Arbeitnehmerüberlassung<br />
die Tätigkeit beim Entleiher<br />
zu erfolgen hat. Dies ermöglicht<br />
aber keine Aussage hinsichtlich der Fragestellung,<br />
ob der Entleiher auch einen<br />
Anspruch auf die Tätigkeit hat. Nach § 613<br />
S. 2 soll dieser Anspruch im Regelfall<br />
nicht übertragbar sein. Abweichendes gilt<br />
aber dann, wenn der Arbeitnehmer der<br />
Abtretung zugestimmt hat oder sich aus<br />
dem Arbeitsverhältnis, insbesondere dem<br />
Arbeitsvertrag, ausdrücklich oder konkludent<br />
ergibt, dass er einem Dritten zur<br />
20<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
Beschäftigung nach dessen Vorstellungen<br />
und unter dessen Weisungsbefugnis<br />
überlassen werden kann.<br />
b) Erfordernisse des AÜG:<br />
Eine Arbeitnehmerüberlassung nach oben<br />
gezeigter Definition <strong>ist</strong> grundsätzlich<br />
nicht schrankenlos möglich, sondern<br />
unterliegt den Voraussetzungen, die durch<br />
das AÜG begründet werden – für die konzerninterne<br />
Arbeitnehmerüberlassung<br />
gilt freilich eine Privilegierung.<br />
aa) Genehmigungspflichtigkeit<br />
(1) (Noch) Aktuelles <strong>Recht</strong>:<br />
Grundsätzlich bedarf die Arbeitnehmerüberlassung<br />
einer Genehmigung – vgl. §<br />
1 AÜG. Dies gilt gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 2<br />
AÜG aber nicht für Konzernunternehmen<br />
im Sinne des § 18 AktG. Weitere Voraussetzung<br />
dafür <strong>ist</strong>, dass die Überlassung<br />
gerade nur vorübergehend erfolgt. Eine<br />
Anwendung des AÜG auf diesen Fall würde<br />
nur eine bürokratische Förmlichkeit<br />
darstellen, die überflüssig wäre, da der<br />
soziale Schutz der Arbeitnehmer nicht<br />
gefährdet <strong>ist</strong> und der konzernweite Einsatz<br />
von Kräften erschwert würde.<br />
Anlass und Zweck der Überlassung sind<br />
überdies unerheblich. Dem natürlichen<br />
Wortsinn nach meint „vorübergehend“<br />
alles, <strong>was</strong> endlich <strong>ist</strong>. Dies kann auch ein<br />
sehr langer Zeitraum sein. Nach der sehr<br />
weiten Auslegung des BAG <strong>ist</strong> damit darunter<br />
jede als nicht endgültig geplante<br />
Überlassung zu verstehen. Dem folgt das<br />
Schrifttum und wertet jede Überlassung<br />
als vorübergehend, die nicht dauerhaft<br />
erfolgt. Eine nicht vorübergehende Überlassung<br />
liegt damit nur bei Bestehen einer<br />
Personalführungsgesellschaft vor. Deren<br />
Merkmal liegt darin, dass Konzerne diese<br />
Gesellschaften gerade mit dem Zweck<br />
bilden, Arbeitnehmer dauerhaft an andere<br />
Konzernunternehmen zu verleihen.<br />
Gerade und nur in diesem Fall bedarf der<br />
Arbeitnehmer eines erhöhten Schutzes,<br />
denn hier besteht die Gefahr einer Absenkung<br />
von sozialen und wirtschaftlichen<br />
Standards.<br />
(2) AÜG ab 01.12.2011:<br />
Der Verzicht auf Erteilung einer Genehmigung<br />
bei konzerninterner Arbeitnehmerüberlassung<br />
wird auch im Gesetz zur<br />
Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes,<br />
welches zum 1. Dezember 2011<br />
Gültigkeit erlangt, beibehalten. Durch die<br />
Neufassung des Gesetzes sollen der missbräuchliche<br />
Einsatz der Arbeitnehmerüberlassung<br />
unterbunden und die Leiharbeitsrechtlinie<br />
umgesetzt werden. Neu<br />
<strong>ist</strong>, dass im Entwurf das Erfordernis der<br />
vorübergehenden Überlassung dadurch<br />
ersetzt wird, dass nunmehr der Arbeitnehmer<br />
„nicht zum Zweck der Überlassung<br />
eingestellt und beschäftigt [werden]“ darf.<br />
Klar bleibt damit, dass weiterhin Personalführungsgesellschaften<br />
von der Anwendung<br />
des Konzernprivilegs ausgeschlossen<br />
bleiben. Weder mit Einstellung, noch<br />
mit der Beschäftigung darf eine Überlassung<br />
bezweckt werden. Durch diese doppelte<br />
Formulierung soll ausdrücklich<br />
sichergestellt werden, dass gerade nicht<br />
nur die Vereinbarungen im Arbeitsvertrag<br />
maßgeblich sind, sondern gerade auch<br />
die tatsächlichen Inhalte der Beschäftigung.<br />
Einer Umgehung der Regelung wird damit<br />
vorgebeugt.<br />
bb) Gewerbsmäßigkeit<br />
Anwendbar wäre das AÜG, auch bei einer<br />
Personalführungsgesellschaft, aber nur<br />
dann, wenn die Überlassung gewerbsmäßig<br />
erfolgt <strong>ist</strong> (§ 1 Abs. 1 S. 1 AÜG).<br />
Maßgeblich <strong>ist</strong> hierfür der gewerberechtliche<br />
Begriff der Gewerbsmäßigkeit. Zentrales<br />
Kriterium <strong>ist</strong> damit die Gewinnerzielungsabsicht<br />
in Form der Erlangung<br />
eines wirtschaftlichen Vorteils. Nach der<br />
gesetzlichen Neuregelung <strong>ist</strong> dieses Kriterium<br />
jetzt nicht mehr erforderlich. Es<br />
reicht hierfür nunmehr die Überlassung<br />
im Rahmen der wirtschaftlichen Tätigkeit.<br />
Die Gesetzesänderung war nötig<br />
geworden, sieht doch die Richtlinie in<br />
Art. 1 Abs. 2 eine Differenzierung zwischen<br />
gewerblicher und nichtgewerblicher<br />
Arbeitnehmerüberlassung nicht vor.<br />
Aus diesem Grund wurde der Bezug auf
die Gewerbsmäßigkeit durch eine<br />
Beschränkung auf eine Überlassung „im<br />
Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit“<br />
ersetzt.<br />
Folgen der Arbeitnehmerüberlassung<br />
Privilegiert <strong>ist</strong> die konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung<br />
allerdings nicht nur<br />
hinsichtlich der Voraussetzungen, sondern<br />
teilweise auch bezüglich der <strong>Recht</strong>sfolgen.<br />
a) Equal Pay-Gebot:<br />
Prinzipiell gilt nach deutschem <strong>Recht</strong><br />
gemäß § 9 Nr. 2 AÜG der Grundsatz des<br />
Equal Pay –dies gilt allerdings nach § 1<br />
Abs. 3 AÜG hingegen gerade nicht für die<br />
konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung.<br />
Das auch mit gutem Grund: Wenn die<br />
oben aufgestellten Vorgaben berücksichtigt<br />
werden, darf der Arbeitnehmer nur<br />
vorübergehend beziehungsweise nicht<br />
zum Zweck der Überlassung beschäftigt<br />
werden. Durch die daraus resultierende<br />
Herausnahme der Personalführungsgesellschaften<br />
wird sichergestellt, dass der<br />
Arbeitnehmer als „ordentlicher“ Arbeitnehmer<br />
eingestellt und beschäftigt wird.<br />
Eine „Vorprägung“ als zu überlassender<br />
Arbeitnehmer <strong>ist</strong> unzulässig.<br />
b) Kündigungsrechtliche Folgen:<br />
Bedeutsam sind hingegen die kündigungsrechtlichen<br />
Folgen, welche sich gerade<br />
nicht aus dem AÜG ergeben. Diese treten<br />
damit auch bei der konzerninternen Arbeitnehmerüberlassung<br />
ein. Gerade bei der<br />
betriebsbedingten Kündigung zeigen sich<br />
hier einige Besonderheiten. Die Vorgaben<br />
für eine solche Kündigung ergeben<br />
sich aus § 1 Abs. 1 1 iVm § 1 Abs. 2 S. 1<br />
Var. 2; Abs. 3 KSchG. Bestehen müssen<br />
dabei „dringende betriebliche Erfordernisse,<br />
die einer Weiterbeschäftigung des<br />
Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen“.<br />
Prinzipiell wird dieses Erfordernis<br />
der Weiterbeschäftigung durch die<br />
<strong>Recht</strong>ssprechung unternehmensbezogen<br />
ausgelegt. Eine solche Anwendung <strong>ist</strong><br />
auch zwingend, hat der Arbeitgeber doch<br />
keine praktische Möglichkeit, den Arbeitnehmer<br />
auf andere Stellen außerhalb des<br />
Unternehmens zu verschieben. Hier gilt<br />
erneut das oben zum Arbeitsvertrag gesagte.<br />
Eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit<br />
muss tatsächlich bestehen, um als Alternative<br />
zur Kündigung zu gelten. Ein abweichendes<br />
Ergebnis ergibt sich aber daraus,<br />
wenn – wie im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung<br />
gegeben – eine Möglichkeit<br />
zur Beschäftigung auch außerhalb<br />
des Unternehmens im gesamten Konzern<br />
besteht. Für den Kündigungsschutz <strong>ist</strong><br />
dann eine konzerndimensionale Sichtweise<br />
geboten. Mit dem <strong>Recht</strong> des Arbeitgebers,<br />
den Arbeitnehmer auch in anderen<br />
Konzernbetrieben tätig werden zu<br />
lassen, korrespondiert damit auch die<br />
Pflicht des Arbeitgebers, ihn dahin vorrangig<br />
vor einer betriebsbedingten Kündigung<br />
zu versetzen.<br />
Jedenfalls das erste Kriterium <strong>ist</strong> unproblematisch<br />
erfüllt – bei konzerninterner<br />
Arbeitnehmerüberlassung <strong>ist</strong> die Möglichkeit<br />
der Versetzung innerhalb des<br />
Konzerns gerade immanent. Problematischer<br />
stellt sich das zweite Kriterium dar.<br />
Allerdings <strong>ist</strong> auch hier im Grundsatz<br />
zunächst eine Einflussnahmemöglichkeit<br />
des Arbeitgebers zu bejahen – die Versetzung,<br />
das heißt die Beschäftigung im<br />
anderen Konzernbetrieb, <strong>ist</strong> gerade auch<br />
von der Entscheidung des Arbeitgebers<br />
als Verleiher abhängig. Die Entscheidungen<br />
des BAG zur konzerndimensionalen<br />
Betrachtung können damit auch unproblematisch<br />
auf die Arbeitnehmerüberlassung<br />
übertragen werden.<br />
Allerdings stellt sich die Frage, ob tatsächlich<br />
auch bei nur kurzer Überlassung<br />
oder bei Überlassung nur zur Einarbeitung<br />
die Anwendung ebenso geboten <strong>ist</strong>.<br />
Abhängig <strong>ist</strong> dies von der Ausgestaltung<br />
des Arbeitsvertrages – wenn dieser die<br />
generelle Zulässigkeit der Tätigkeit bei<br />
einem anderen Konzernunternehmen<br />
erlaubt und diese auch zeitlich nicht befr<strong>ist</strong>et,<br />
dann muss hier auch der Kündigungsschutz<br />
konzernbezogen betrachtet<br />
werden.<br />
c) Betriebsverfassungsrechtliche Folgen:<br />
Betriebsverfassungsrechtlich besteht<br />
während des Überlassungszeitraums bei<br />
der konzerninternen Arbeitnehmerüberlassung<br />
faktisch eine doppelte Betriebszugehörigkeit:<br />
Für den verleihenden<br />
Betrieb <strong>ist</strong> dies unproblematisch gegeben,<br />
hier besteht gerade eine arbeitsvertragliche<br />
Verknüpfung. Aber auch im entleihenden<br />
Betrieb hat der Arbeitnehmer<br />
eine Stellung inne, die der der ordentlichen<br />
Arbeitnehmer entspricht. Eine doppelte<br />
Berücksichtigung <strong>ist</strong> aber nach § 14<br />
Abs. 1 AÜG ausgeschlossen.<br />
Auch wenn diese Norm für die konzerninterne<br />
Arbeitnehmerüberlassung nicht<br />
anwendbar <strong>ist</strong>, <strong>ist</strong> auch nach Ansicht des<br />
BAG eine entsprechende Anwendung<br />
geboten. Die Arbeitnehmer bleiben – ausschließlich<br />
– Arbeitnehmer ihres vertraglichen<br />
Arbeitgebers. Dessen ungeachtet<br />
ergibt sich aus § 7 S. 2 BetrVG aber eine<br />
Wahlberechtigung auch im Betrieb des Entleihers,<br />
bei Überlassungen mit einer Dauer<br />
über drei Monate. Ob dazu auch das<br />
Wahlrecht im Betrieb des Arbeitgebers<br />
bestehen bleibt, <strong>ist</strong> umstritten. Dies <strong>ist</strong>,<br />
aufgrund der Unanwendbarkeit des § 14<br />
Abs. 1 AÜG, zu verneinen. Der Arbeitnehmer<br />
gehört betriebsverfassungsrechtlich<br />
nicht mehr dem überlassenden Betrieb<br />
an - dies aber nur, wenn durch die Dauer<br />
der Entleihung der Bezug zum ursprünglichen<br />
Betrieb verloren geht. Dazu muss<br />
die Entleihung in Anlehnung an § 3 abs.<br />
1 Nr. 6 a.F. AÜG mindestens zwölf Monate<br />
betragen. Dem entgegen steht aber die<br />
<strong>Recht</strong>sprechung des BAG, welche die<br />
Zuordnung zum ursprünglichen Betrieb<br />
aufrechterhalten will.<br />
Autor<br />
Professor Dr. Gregor Thüsing,<br />
Institut für Arbeitsrecht<br />
und <strong>Recht</strong> der sozialen<br />
Sicherheit, Bonn,<br />
sekretariat.thuesing@<br />
jura.uni-bonn.de<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de 21
ARBEITSRECHT Urlaubsrecht<br />
Urlaubskonto nach langer Krankheit prall gefüllt<br />
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit seiner jüngsten <strong>Recht</strong>sprechung für das deutsche Urlaubsrecht<br />
viele neue <strong>Recht</strong>sfragen aufgeworfen. Das hat für die Unternehmen erhebliche praktische Auswirkungen.<br />
W<br />
as war passiert? Der EuGH hatte<br />
Anfang 2009 in seinem sogenanten<br />
„Schultz-Hoff“-Urteil entschieden,<br />
dass die deutsche Urlaubsrechtspraxis<br />
im Falle längerer Arbeitsunfähigkeit<br />
nicht mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie<br />
vereinbar <strong>ist</strong>. Die Richtlinie sieht vor,<br />
dass der gesetzliche Anspruch auf den<br />
bezahlten Jahresurlaub von mindestens<br />
vier Wochen, das heißt 20 Urlaubstage<br />
bei einer Fünf-Tage-Woche, nicht zeitlich<br />
verfallen dürfe, nur weil der Urlaub<br />
wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit<br />
nicht genommen werden konnte.<br />
22<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
Für die betriebliche Praxis gilt damit,<br />
dass dauerhaft erkrankte Arbeitnehmer<br />
jährlich zumindest einen Urlaubsanspruch<br />
in der gesetzlich vorgeschriebenen<br />
Mindesthöhe erwerben und dieser<br />
immer weiter zu übertragen <strong>ist</strong>. Kehrt der<br />
Arbeitnehmer nach langanhaltender<br />
Arbeitsunfähigkeit in das Arbeitsverhältnis<br />
zurück oder endet dieses, zum Beispiel<br />
durch Renteneintritt, hat er einen<br />
möglicherweise über Jahre angesammelten<br />
Anspruch auf Urlaub beziehungsweise<br />
Urlaubsabgeltung.<br />
Trotz dieser <strong>Recht</strong>sprechung aus Luxembourg<br />
können Ansprüche aber nicht zeit-<br />
lich völlig unbegrenzt geltend gemacht<br />
werden, wie das Bundesarbeitsgericht<br />
(BAG) kürzlich in zwei Urteilen entschied.<br />
Danach unterliegen Urlaubsabgeltungsansprüche<br />
einzel- und tarifvertraglichen<br />
Ausschlussfr<strong>ist</strong>en. Dies bedeutet eine<br />
Kehrtwende, denn bislang hatte das BAG<br />
die Anwendbarkeit von Ausschlussfr<strong>ist</strong>en<br />
auf Urlaubsabgeltungsansprüche mit<br />
dem Hinweis darauf abgelehnt, dass jene<br />
einen unabdingbaren gesetzlichen Abgeltungsanspruch<br />
nicht erfassen könnten.<br />
Diese <strong>Recht</strong>sprechung hat das BAG infolge<br />
der „Schultz-Hoff“-Entscheidung des<br />
Europäischen Gerichtshofs nun mit zwei
ARBEITSRECHT Urlaubsrecht<br />
„<br />
In welchem Umfang Mitarbeiter Urlaubsansprüche<br />
ansammeln können, hat das BAG nicht beantwortet.<br />
Entscheidungen aufgegeben. Eine Krankenschwester,<br />
die eineinhalb Jahre krankgeschrieben<br />
war, schied Ende März 2008<br />
aus dem Arbeitsverhältnis aus und erhielt<br />
seitdem eine Erwerbsminderungsrente.<br />
Erst im Februar 2009 verlangte sie eine<br />
Abgeltung des ihr aus den Jahren 2007<br />
und 2008 noch zustehenden Urlaubs.<br />
Hiermit wird ein bis zum Ende eines<br />
Arbeitsverhältnisses nicht genommener<br />
Resturlaub in Geld ausbezahlt. Nach der<br />
bisherigen <strong>Recht</strong>sprechung des BAG verfielen<br />
der Urlaubsanspruch und damit<br />
auch der Anspruch auf eine Abgeltung<br />
desselben am Ende eines Kalenderjahres,<br />
spätestens jedoch zum 31. März des<br />
Folgejahres, wenn der Arbeitnehmer den<br />
Urlaub aufgrund von Krankheit nicht<br />
nehmen konnte.<br />
Antrag ging viel zu spät ein<br />
Der Antrag der Krankenschwester ging<br />
bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber im<br />
Februar 2009 und damit viel zu spät ein,<br />
so das BAG in seiner Entscheidung (Urteil<br />
vom 9. August 2011, Az. 9 AZR 352/10).<br />
Als reine Geldforderung unterliege der<br />
Anspruch auf Abgeltung des gesetzlichen<br />
Mindesturlaubs wie andere Ansprüche<br />
aus dem Arbeitsverhältnis auch<br />
den einzel- und tarifvertraglichen Ausschlussfr<strong>ist</strong>en.<br />
Da das Arbeitsverhältnis<br />
der Krankenschwester dem Tarifvertrag<br />
des öffentlichen Dienstes unterlag, lag<br />
sie weit über der sechsmonatigen Ausschlussfr<strong>ist</strong>.<br />
Im zweiten Fall hatte ein wieder genesener<br />
Busfahrer nach dreieinhalb Jahren<br />
Krankheit im zweiten Halbjahr 2008 seinen<br />
30-tägigen Jahresurlaub genommen.<br />
Erst 2009 machte er weitere 90 Urlaubstage<br />
für die Jahre 2005 bis 2007 geltend.<br />
Er begründete dies damit, dass er den<br />
Urlaub während seiner langen Krankheit<br />
nicht habe nehmen können. Auch<br />
24<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
für ihn hatte das BAG keine erfreuliche<br />
Entscheidung parat. Der neunte Senat entschied,<br />
dass der von dem Busfahrer beantragte<br />
Urlaub für die lange Zeit der Krankheit<br />
spätestens mit Ablauf des 31. Dezember<br />
2008 untergegangen <strong>ist</strong>.<br />
Werde ein zunächst arbeitsunfähiger<br />
Arbeitnehmer so rechtzeitig gesund, dass<br />
er den während seiner Krankheit aufgelaufenen<br />
Urlaub noch nehmen könnte,<br />
erlischt der aus früheren Zeiträumen<br />
stammende Urlaubsanspruch nach dem<br />
Urteil aus Erfurt genauso wie der<br />
Anspruch, der zu Beginn des Urlaubsjahres<br />
neu entstanden <strong>ist</strong> (Urteil vom<br />
09.08.2011, Az. 9 AZR 425/10).<br />
Wer also nach langer Krankheit wieder<br />
seine Arbeit aufnimmt, muss schnell im<br />
selben Jahr den ungenutzten Urlaub<br />
beantragen, damit er nicht verfällt. Endet<br />
der Job, so endet auch der Anspruch auf<br />
den Geldausgleich. Auch der Zusatzurlaub<br />
für Schwerbehinderte muss ebenso<br />
wie der Mindesturlaub nach dem Ende<br />
des Arbeitsverhältnisses abgegolten werden,<br />
wenn der Urlaub wegen Arbeitsunfähigkeit<br />
nicht gewährt werden konnte.<br />
Frage nach dem Umfang der<br />
Ansprüche nicht beantwortet<br />
In welchem Umfang Mitarbeiter Urlaubsansprüche<br />
über mehrere Jahre ansammeln<br />
können, hat das Bundesarbeitsgericht<br />
allerdings nicht beantwortet. Auch<br />
hierüber wird das BAG in Zukunft sicher<br />
noch entscheiden müssen. Bedeutend <strong>ist</strong><br />
in diesem Zusammenhang, dass sich<br />
Arbeitgeber in dieser Konstellation regelmäßig<br />
nicht mit Erfolg auf den Vertrauensschutz<br />
berufen können. Bei Langzeitkranken<br />
kann Urlaubsabgeltung<br />
grundsätzlich für Urlaubsansprüche bis<br />
zurück ins Jahr 1996 verlangt werden.<br />
Eine enorme Belastung für Arbeitgeber,<br />
die im Ernstfall heute mit Urlaubsan-<br />
sprüchen aus 15 Jahren konfrontiert wären.<br />
Für eine Begrenzung spricht jedoch, dass<br />
der vom EuGH in der Vorab-Entscheidung<br />
„Schultz-Hoff“ nicht erwähnte Artikel<br />
9 des Abkommens für Internationale<br />
Arbeitsorganisation (IAO) eine Verfallfr<strong>ist</strong><br />
enthält. Diese beträgt spätestens<br />
18 Monate nach Ablauf des Jahres, in<br />
dem der Urlaubsanspruch entstanden<br />
<strong>ist</strong>. Das Landesarbeitsgericht (LAG)<br />
Hamm hat diese Frage dem EuGH im<br />
Rahmen eines Vorab-Entscheidungsersuchens<br />
vorgelegt. Der Ausgang dieser Entscheidung<br />
bleibt abzuwarten.<br />
Auch Abgeltungsansprüche im Zusammenhang<br />
mit dem gesetzlichen Schwerbehindertenurlaub<br />
unterliegen den Ausschlussfr<strong>ist</strong>en,<br />
wenn dieser Urlaub bis<br />
zum Ende des Arbeitsverhältnisses wegen<br />
Arbeitsunfähigkeit nicht angetreten werden<br />
konnte. Soweit (tarif-)vertragliche<br />
Ausschlussfr<strong>ist</strong>en nicht eingreifen, werden<br />
diese Ansprüche von der im Bürgerlichen<br />
Gesetzbuch (BGB) geregelten dreijährigen<br />
Verjährungsfr<strong>ist</strong> erfasst. Arbeitnehmer,<br />
die gut beraten sind, werden<br />
ihre Vorgesetzten auf eine Übertragung<br />
des Urlaubsanspruchs in das Folgejahr<br />
hinweisen, wenn sie ihren Urlaub wegen<br />
Krankheit nicht nehmen konnten, ihnen<br />
der Resturlaub jedoch in der Entgeltabrechnung<br />
gestrichen wurde.<br />
Zu erwarten <strong>ist</strong> auch, dass Betriebsräte<br />
mehr als bisher bei der mitbestimmungspflichtigen<br />
Urlaubsplanung darauf achten,<br />
dass die Urlaubsansprüche langzeiterkrankter<br />
Arbeitnehmer einbezogen<br />
werden. Nach langer Arbeitsunfähigkeit<br />
angemeldete Ansprüche werden von<br />
Arbeitgeberseite me<strong>ist</strong> missmutig gesehen.<br />
Mancher Mitarbeiter dagegen kann<br />
sich, wenn er sich nach seiner Rückkehr<br />
an den Arbeitsplatz beeilt, über eine<br />
finanzielle Abgeltung längst verloren<br />
geglaubter Urlaubstage freuen.
Das LAG Hamm hat im Jahr 2010 entschieden,<br />
dass aus der geänderten <strong>Recht</strong>sprechung<br />
des Bundesarbeitsgerichts zum<br />
Urlaubsabgeltungsanspruch des langandauernd<br />
arbeitsunfähigen Arbeitnehmers<br />
die Vererblichkeit des Abgeltungsanspruchs<br />
bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses<br />
durch Tod des Arbeitnehmers<br />
folgt (Urteil vom 22.04.2010, 16 Sa<br />
1502/09). Es <strong>ist</strong> zu erwarten, dass das<br />
Urteil in der Revision durch das BAG<br />
bestätigt werden wird (Az. 9 AZR 416/10).<br />
Hintergrund dafür dürfte sein, dass der<br />
Urlaubsabgeltungsanspruch als schlichte<br />
finanzielle Abfindung zu verstehen<br />
und daher vererbbar <strong>ist</strong>. Allerdings werden<br />
auch auf den finanziellen Anspruch<br />
der Erben etwaig vereinbarte Ausschlussfr<strong>ist</strong>en<br />
im Anstellungsvertrag mit dem<br />
Tod des Arbeitnehmers als dem Zeitpunkt<br />
der Beendigung des Arbeitsverhältnisses<br />
und damit des Entstehens des<br />
Urlaubsabgeltungsanspruchs zu laufen<br />
beginnen.<br />
Urlaubsabgeltungsansprüche<br />
sind vererbbar<br />
Seit der „Schultz-Hoff“-Entscheidung des<br />
EuGH und der in der Folge geänderten<br />
<strong>Recht</strong>sprechung des Bundesarbeitsgerichts<br />
müssen Unternehmen stärker als<br />
bisher die wirtschaftlichen Risiken der<br />
Ansprüche von langzeiterkrankten Mitarbeitern<br />
beachten und entscheiden, wie<br />
sie künftig mit „Dauerkranken“ umgehen<br />
sollen. Arbeitgeber können Mitarbeiter<br />
wegen Dauerkrankheit kündigen,<br />
wenn diese zum Zeitpunkt der Kündigung<br />
längere Zeit krankheitsbedingt keine<br />
Arbeitsle<strong>ist</strong>ung erbringen konnten. Weitere<br />
Voraussetzung <strong>ist</strong>, dass das Ende<br />
der Erkrankung nicht absehbar, jedenfalls<br />
aber für einen längeren Zeitraum<br />
ungewiss <strong>ist</strong>, ob die Arbeitsfähigkeit wiedererlangt<br />
werden kann.<br />
„<br />
Arbeitgeber sollten ihre Urlaubsklauseln anpassen,<br />
wenn sie verhindern wollen, mit über viele Jahre angehäuften<br />
Urlaubsansprüchen konfrontiert zu werden.<br />
Bevor der Arbeitgeber einem dauererkrankten<br />
Mitarbeiter kündigen kann, <strong>ist</strong><br />
er verpflichtet verschiedene Maßnahmen<br />
zu prüfen, um die Arbeitsfähigkeit seines<br />
Arbeitnehmers wiederherzustellen<br />
und einer erneuten Erkrankung vorzubeugen,<br />
damit der Arbeitsplatz erhalten<br />
werden kann. Zu den (Wieder-)Eingliederungsmaßnahmen<br />
zählen zum Beispiel<br />
die stufenweise Wiedereingliederung und<br />
eine technische Umgestaltung des Arbeitsplatzes.<br />
Darüber hinaus können Veränderungen<br />
der Arbeitsorganisation, der<br />
Arbeitsumgebung, der Arbeitszeit sowie<br />
Qualifizierungsmaßnahmen und Arbeitsversuche<br />
oder medizinische Rehabilitation<br />
bis zur Grenze der Zumutbarkeit für<br />
den Arbeitgeber erforderlich sein.<br />
Angesichts der finanziellen Risiken der<br />
Urlaubsabgeltung werden sich Arbeitgeber<br />
künftig nachvollziehbarerweise<br />
häufiger für eine möglichst frühzeitige<br />
Kündigung dauerkranker Mitarbeiter<br />
entscheiden. Bisher war es in vielen<br />
Unternehmen üblich, dauerhaft erkrankte<br />
Arbeitnehmer einfach in der „Personalkartei“<br />
zu belassen, bis das Arbeitsverhältnis<br />
durch Pensionierung oder Tod<br />
von alleine endete. Aufgrund der jährlich<br />
steigenden wirtschaftlichen Risiken<br />
aus dem Mindesturlaub werden Unternehmen<br />
leider wieder mehr krankheitsbedingte<br />
Kündigungen aussprechen. Nur<br />
so können sie zukünftigen finanziellen<br />
Risiken durch Urlaubsabgeltung und notwendiger<br />
Bildung entsprechender Rückstellungen<br />
begegnen.<br />
Auf der anderen Seite wird damit den wiedergenesenden<br />
Mitarbeitern häufiger<br />
die Chance genommen werden, ihr<br />
Arbeitsverhältnis fortzusetzen. Aufgrund<br />
der Risiken, die mit einer krankheitsbedingten<br />
Kündigung verbunden sind, werden<br />
viele Unternehmen ferner dazu übergehen,<br />
Arbeitsverhältnisse mit dauer-<br />
haft erkrankten Arbeitnehmern einvernehmlich<br />
durch Aufhebungsvertrag zu<br />
beenden. Dabei müssen sie darauf achten,<br />
dass Urlaubsabgeltungsansprüche<br />
nicht einzelvertraglich ausgeschlossen<br />
werden können. Es stellt sich die Frage,<br />
wie wahrscheinlich es <strong>ist</strong>, dass Mitarbeiter<br />
nach jahrelanger Arbeitsunfähigkeit<br />
die Urlaubsabgeltungsansprüche<br />
auch geltend machen werden.<br />
Urlaubsklauseln sollten<br />
angepasst werden<br />
Nach der geänderten Auslegung des<br />
Urlaubsrechts sollten Arbeitgeber ihre<br />
arbeitsvertraglichen Urlaubsklauseln<br />
anpassen, wenn sie künftig verhindern<br />
wollen, mit über viele Jahre angehäuften<br />
Urlaubsansprüchen ihrer Mitarbeiter<br />
konfrontiert zu werden. Es empfiehlt<br />
sich im Arbeitsvertrag eindeutig zwischen<br />
gesetzlichem Mindesturlaub und<br />
vertraglichem Mehrurlaub zu differenzieren,<br />
damit bei dauerkranken Mitarbeitern<br />
immerhin der über den Mindesturlaubsanspruch<br />
hinausgehende übergesetzliche<br />
Mehrurlaub verfällt. Außerdem<br />
<strong>ist</strong> es sinnvoll, eine besondere<br />
Ausschlussfr<strong>ist</strong> für die Geltendmachung<br />
des nach neuer <strong>Recht</strong>sprechung übertragenen<br />
Urlaubs zu vereinbaren. Hinsichtlich<br />
der Urlaubsabgeltungsansprüche<br />
gelten hingegen die allgemeinen Ausschlussfr<strong>ist</strong>en.<br />
Enthält der Arbeitsvertrag<br />
keine solche Fr<strong>ist</strong> und findet auch<br />
eine tarifvertragliche Ausschlussfr<strong>ist</strong><br />
keine Anwendung, gilt die gesetzliche<br />
Verjährungsfr<strong>ist</strong> von drei Jahren.<br />
Autor<br />
Hendrik Bourguignon,<br />
Fachanwalt für Arbeitsrecht<br />
und Partner der Kanzlei<br />
Schmalz <strong>Recht</strong>sanwälte,<br />
Frankfurt, h.bourguignon@<br />
schmalzlegal.com<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de 25
ARBEITSRECHT Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz<br />
Diskriminierung von Frauen<br />
kann teuer werden<br />
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zeigt Wirkung. Die jüngste Entscheidung<br />
des LAG Berlin-Brandenburg gegen Sony lässt Personaler nachdenklich werden.<br />
Transparente Auswahlverfahren und Equal Pay sind das Gebot der Stunde. Doch längst<br />
nicht alle Chefs wollen da folgen. Das kann in Zukunft teuer werden.<br />
M<br />
arina Müller (Name von der<br />
Redaktion geändert) war glücklich<br />
– endlich war sie schwanger. Die<br />
35-jährige Controllerin zögerte nicht,<br />
ihren Vorgesetzten prompt zu unterrichten.<br />
In dem mittelständischen<br />
Unternehmen <strong>ist</strong> viel zu tun und die<br />
werdende Mutter wollte nach dem Mutterschutz<br />
rasch wieder an ihren Arbeitsplatz<br />
zurückkehren. Gratulation und<br />
ermutigende Worte, so erinnert sie sich.<br />
Das kriegen wir schon hin, hieß es.<br />
26<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
Doch dabei blieb es nicht. Wenige Tage<br />
später drehte sich der Wind, ihre Vorgesetzten<br />
hatten Zweifel, ob sie mit Kind<br />
auch in Zukunft ihren Job bewältigen<br />
würde. Der Streit eskalierte, Müller<br />
fühlte sich massiv unter Druck gesetzt,<br />
ja bedroht. Immer wieder, so schildert<br />
sie, sei sie zu dem Geschäftsführer des<br />
Unternehmens zitiert worden, musste<br />
sich Vorwürfe anhören. Sie sollte sich<br />
nach ihrer Rückkehr mit einer befr<strong>ist</strong>eten<br />
Teilzeitstelle zufrieden geben.<br />
Die Unternehmensleitung beurteilte<br />
die Gespräche anders. Die werdende<br />
Mutter sei selbst skeptisch gewesen,<br />
ob sie ihre Aufgaben bewältigen würde,<br />
wenn erstmal das Kind da sei, nicht<br />
zuletzt, weil umfangreiche Reisetätigkeiten<br />
zu ihrem Job gehören würden.<br />
Die Teilzeitstelle sei im Grunde von ihr<br />
selbst gewünscht worden. Eine Einigung<br />
kam nicht zustande, nun <strong>ist</strong> der<br />
Fall vor Gericht anhängig. Dort machen<br />
Klägerinnen nicht selten die Erfahrung,
ARBEITSRECHT Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz<br />
„ Benachteiligungen wegen Mutterschaft sind<br />
leider der Alltag in deutschen Unternehmen.<br />
dass ein rauer Ton herrscht. Doch auch<br />
bei einer besonnen geführten jur<strong>ist</strong>ischen<br />
Auseinandersetzung stehen die<br />
Klägerinnen vor dem Problem, dass<br />
viele Gespräche mit Vorgesetzten unter<br />
vier Augen geführt werden, diskriminierende<br />
Äußerungen lassen sich kaum<br />
beweisen. Im Fall Marina Müller half<br />
der Klägerin ein grober Schnitzer der<br />
Gegenseite. Der Mittelständler hatte<br />
Müllers unbefr<strong>ist</strong>eten Vertrag in einen<br />
befr<strong>ist</strong>eten verwandelt und zurückdatiert.<br />
In diesem Punkt trat die Gegenseite<br />
lieber gleich den Rückzug an, an<br />
der Umwandlung des unbefr<strong>ist</strong>eten<br />
Arbeitsvertrages in einen befr<strong>ist</strong>eten<br />
wolle man nun nicht mehr festhalten.<br />
Vor Gericht ließ sich nicht plausibel<br />
machen, warum Marina Müller freiwillig<br />
in eine solche Verschlechterung hätte<br />
einwilligen sollen. Hieß es zunächst,<br />
die Controllerin habe das so gewollt,<br />
gelte nun doch wieder der unbefr<strong>ist</strong>ete<br />
Vertrag.<br />
Benachteiligung wegen<br />
Mutterschaft<br />
Während die Klägerin nun auf Entschädigung<br />
und Schmerzensgeld klagt,<br />
we<strong>ist</strong> die Beklagte wie oft in solchen<br />
Fällen diese Ansprüche zurück. Und<br />
Marina Müller will jetzt beweisen, dass<br />
die ihr im Gedächtnis haften gebliebenen<br />
Auftritte des Geschäftsführers sich<br />
wirklich so abgespielt haben, dass sie<br />
tatsächlich bedroht und eingeschüchtert<br />
wurde. Der Fall hat es in sich, und<br />
er <strong>ist</strong> in vielerlei Hinsicht typisch.<br />
Schwangerschaft als Betriebsunfall,<br />
möchte man sagen, so sehen es immer<br />
noch viele Unternehmer. Ganz offensichtlich<br />
war der Mittelständler auf<br />
eine solche Situation nicht vorbereitet,<br />
versucht die Mitarbeiterin mit juris-<br />
28<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
tisch mehr als fragwürdigen Methoden<br />
loszuwerden. So <strong>was</strong> kann ins Auge<br />
gehen, auch wenn die Klägerin nicht<br />
jeden Satz, der angeblich gesagt wurde,<br />
beweisen kann. Aber wenn Indizien<br />
für eine Diskriminierung sprechen,<br />
stehen die Chancen für die<br />
Klägerinnen nicht schlecht. Wer etwa<br />
trotz guter Zeugnisse nach der Rückkehr<br />
aus der Elternzeit auf eine schlechter<br />
bezahlte und minder anspruchsvolle<br />
Stelle versetzt wird, garniert mit<br />
entsprechenden Erläuterungen, kann<br />
sich zur Klage entschließen. Und wenn<br />
aus einem unbefr<strong>ist</strong>eten Vertrag plötzlich<br />
ein befr<strong>ist</strong>etes Arbeitsverhältnis<br />
wird, kaum das die Mitarbeiterin<br />
schwanger <strong>ist</strong>, dann drohen Schadensersatzansprüche<br />
und Reputationsschaden.<br />
Wer glaubt, hier handele es sich um<br />
wenige schwarze Schafe, der irrt. Das<br />
weiß Chr<strong>ist</strong>ine Lüders, Leiterin der<br />
Antidiskriminierungsstelle beim Bund.<br />
„Bei uns“, sagt sie, „landen zahlreiche<br />
Fälle von Frauendiskriminierung auf<br />
dem Tisch.“ Benachteiligungen wegen<br />
Mutterschaft seien leider der Alltag in<br />
deutschen Unternehmen. Doch längst<br />
nicht jede, die Anlaß zu klagen hätte,<br />
klagt, und das mache sich auch beim<br />
Einkommen der Frauen bemerkbar.<br />
Kinderbedingte Unterbrechung bei<br />
der Vergütung erkennbar<br />
Die Unternehmensberatung Baumgarten<br />
& Partner we<strong>ist</strong> in einer Studie darauf<br />
hin, dass „die kinderbedingte Unterbrechung<br />
des Arbeitsverhältnisses in<br />
jeder Vergütungsstruktur erkennbar“<br />
wird. Nach ihrer Auffassung sei deutlich<br />
zu erkennen, dass die Vergütung<br />
von Frauen bis zum Alter von 30 Jahren<br />
kontinuierlich ansteigt, „ab diesem<br />
Alter aber abrupt abflacht.“ Die Gründe:<br />
„einfachere Stellen nach der Babypause“<br />
und „Gehaltsnachteile auf vorher<br />
besetzten identischen Stellen“. Das<br />
aber sei Diskriminierung, so Baumgarten<br />
& Partner. Und auch hier setzt das<br />
AGG an, zwingt Firmen in Zukunft<br />
genau zu prüfen, ob da womöglich ein<br />
Einfallstor für Schadenersatzansprüche<br />
besteht.<br />
Viele Unternehmen unterschätzen das<br />
AGG an dieser Stelle. Arbeitsrechtler<br />
gehen davon aus, dass Frauen in<br />
Zukunft häufiger erfolgreich klagen<br />
werden. Dann könnten auf Unternehmen<br />
beachtliche finanzielle Forderungen<br />
zukommen. Wurde einer Frau die<br />
Beförderung versagt, etwa weil sie<br />
schwanger war, hat sie Anspruch auf<br />
Schadensersatz. In der Folge blühen<br />
dem Arbeitgeber satte Nachzahlungen,<br />
unter Umständen bis zur Rente.<br />
Keine Beförderung wegen<br />
Schwangerschaft<br />
In der Praxis hat sich gezeigt, dass der<br />
Anwendungsbereich des AGG weit über<br />
den Bereich „Verhinderung der Diskriminierung<br />
bei der Einstellung“, hinausgeht.<br />
Dazu hat auch das häufig<br />
zitierte Sony-Urteil beigetragen. Das<br />
Verfahren erregte große Aufmerksamkeit<br />
und zeigt, dass die obersten Richter<br />
in Sachen AGG keinen Spaß mehr<br />
verstehen.<br />
Der Fall liegt ähnlich wie der Fall Marina<br />
Müller. Lange Jahre hatte die Marketingmanagerin<br />
Beate Hagen (Name<br />
von der Redaktion geändert) für den<br />
Musikkonzern Sony gearbeitet, Guter<br />
Verdienst, sympathischer Chef und<br />
man machte ihr Hoffnungen, dass sie<br />
die Karriereleiter weiter hochklettern<br />
würde. Schließlich hatte sie ihren Chef
„<br />
Es wird teuer für Unternehmen, die in Sachen<br />
AGG nicht auf der Höhe der Zeit sind.<br />
in dem internationalen Konzern schon<br />
etliche Male vertreten, Lob kassiert<br />
und Stolz empfunden. Als ihr Vorgesetzter<br />
befördert wurde, schien alles<br />
klar. Doch dann wurde sie schwanger,<br />
fünf Jahre <strong>ist</strong> das mittlerweile her.<br />
Nicht die werdende Mutter bekam den<br />
Job, sondern ein männlicher Kollege.<br />
Sie sollte sich hingegen doch auf das<br />
Kind freuen, Familie sei doch auch<br />
et<strong>was</strong> schönes. Das wollte sich Hagen<br />
nicht gefallen lassen, sie klagte und es<br />
sollte fünf Jahre dauern, bis sie <strong>Recht</strong><br />
bekam. Ein langer Weg, sechsmal<br />
haben sich die Gerichte mit dem Fall<br />
beschäftigt, dabei zweimal das BAG.<br />
Jetzt <strong>ist</strong> entschieden, dass Beförderungsentscheidungen<br />
transparent und<br />
nachvollziehbar sein müssen, ansonsten<br />
<strong>ist</strong> bei Diskriminierungen die Vergütungsdifferenz<br />
zu erstatten.<br />
Strenge Anforderungen des AGG<br />
Finanziell hat sich die Sache im Hinblick<br />
auf die Verletzung des Persönlichkeitsrechts<br />
nicht gelohnt, gerade<br />
mal 17 000 Euro Entschädigung musste<br />
Sony zahlen, nach der Verabschiedung<br />
des AGG würde die Summe wohl<br />
höher ausfallen. Aber Hagen ging es<br />
nicht ums Geld, sondern um ihr <strong>Recht</strong>.<br />
Am Schluss hat ihr die berühmte<br />
Beweislastumkehr geholfen. Sony musste<br />
beweisen, dass bei der versagten<br />
Beförderung keine Diskriminierung<br />
vorlag – weil eben Hinweise auf eine<br />
solche Benachteiligung vorlagen. Das<br />
aber konnte der Konzern nicht, das<br />
intransparente Auswahlverfahren und<br />
jener fatale Satz wurden dem Konzern<br />
zum Verhängnis.<br />
Es wird teuer für Unternehmen, die in<br />
Sachen AGG nicht auf der Höhe der<br />
Zeit sind. Stichwort Equal Pay: Auch<br />
da hat das AGG strenge Anforderungen.<br />
Einfach eine Stelle anders benennen<br />
oder beschreiben und dann nach<br />
der Rückkehr aus der Elternzeit weniger<br />
bezahlen, das könnte in Zukunft<br />
von den Gerichten als Diskriminierung<br />
gewertet werden.<br />
Der Berliner <strong>Recht</strong>sanwalt Hans Georg<br />
Kluge erhebt nun Verfassungsbeschwerde,<br />
nachdem er mit seiner Klage<br />
in allen drei Instanzen gescheitert<br />
war. Er vertritt die Auffassung, dass<br />
seine Mandantin schon deshalb diskriminiert<br />
wird, weil sie tatsächlich die<br />
gleiche Arbeit le<strong>ist</strong>et wie ihr besser<br />
bezahlter Kollege und bereits die unterschiedliche<br />
Bezeichnung der Stellen<br />
eine Diskriminierung darstellt. Die Klage<br />
geht sehr weit und verspricht Brisanz.<br />
So fragt Kluge, ob unterschiedliche<br />
Einstellungsvoraussetzungen –<br />
etwa eine unterschiedliche Ausbildung<br />
– allein die unterschiedliche Bezahlung<br />
rechtfertigen, zumal dann, wenn<br />
die Ausbildung gar nicht Einstellungsbedingung<br />
war. Da mag es manchem<br />
Personaler grausen, waren doch solche<br />
formalen Abgrenzungen bisher<br />
eine sichere Bank. Er wirft den deutschen<br />
Gerichten vor, bei der Equal Pay-<br />
Problematik hinter EU-<strong>Recht</strong> zurückzufallen.<br />
Auf die Entscheidung des<br />
Bundesverfassungsgerichtes dürfen<br />
alle gespannt sein, ob Personalchef,<br />
Arbeitsrechtler oder Beschäftigter.<br />
Autor<br />
Bernhard Steinkühler,<br />
<strong>Recht</strong>sanwalt, Steinkühler -<br />
Fachanwälte für Arbeitsrecht,<br />
Berlin, kontakt@<br />
steinkuehler-arbeitsrecht.de<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de 29
ARBEITSRECHT Sozialplangestaltung<br />
Vorsicht <strong>ist</strong> besser als Nachsicht<br />
Welche Fallstricke gibt es bei der Gestaltung des Sozialplanes?<br />
Der folgende Beitrag gibt Antworten und zeigt Lösungen auf.<br />
S<br />
ieht sich ein Arbeitgeber zu einer<br />
betriebsändernden Maßnahme wie<br />
etwa der Stilllegung eines Betriebs oder<br />
einzelner Betriebsteile gezwungen, <strong>ist</strong> er<br />
betriebsverfassungsrechtlich verpflichtet,<br />
mit dem Betriebsrat einen Sozialplan<br />
zu vereinbaren. In diesem Sozialplan müssen<br />
Regelungen über den Ausgleich oder<br />
die Milderung der wirtschaftlichen Nachteile<br />
enthalten sein, die für die Belegschaft<br />
infolge der geplanten Betriebsänderung<br />
entstehen. Hierdurch sollen die<br />
Folgen für die betroffenen Arbeitnehmer<br />
sozial verträglich gestaltet werden.<br />
Grundsätzlich sind die Betriebsparteien<br />
frei in der Entscheidung, welche Nachteile<br />
sie in welchem Umfang abmildern wollen.<br />
Ihnen steht insoweit bei der Ausgestaltung<br />
eines Sozialplans ein weiter Handlungsspielraum<br />
zu. Gängige Praxis in vielen<br />
Sozialplänen <strong>ist</strong> es bislang, die Höhe<br />
der gewährten Abfindungen nach Altersgruppen<br />
zu staffeln und für ältere Arbeitnehmer,<br />
die rentennahen Jahrgängen<br />
angehören, die Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen zu<br />
reduzieren oder ganz auszuschließen.<br />
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Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
Inwiefern im Lichte der neusten EuGH-<br />
<strong>Recht</strong>sprechung zukünftig derartige am<br />
Alter orientierte Differenzierungen – insbesondere<br />
eine Reduzierung oder gar der<br />
Ausschluss von Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen für<br />
rentennahe Arbeitnehmer – zulässig sind,<br />
soll im Folgenden erörtert werden.<br />
Ein Blick auf die deutsche<br />
Sozialplanpraxis<br />
Eine Vielzahl der in Deutschland geschlossenen<br />
Sozialpläne berücksichtigt bei der<br />
Festlegung einer angemessenen Abfindung<br />
das Alter der betroffenen Arbeitnehmer.<br />
Dies geschieht etwa durch die Einbeziehung<br />
des Lebensalters als Berechnungsfaktor<br />
innerhalb der Abfindungsformel<br />
(Abbildung 1). Ebenso finden sich<br />
Regelungen, die für rentenberechtigte<br />
oder rentennahe Arbeitnehmer Reduzierungen<br />
oder gar den Ausschluss der Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen<br />
vorsehen (Abbildung 2).<br />
Obwohl diese Praxis eine am Merkmal<br />
Lebensalter anknüpfende Ungleichbehandlung<br />
darstellt, sah man bislang derartige<br />
Regelungen als durch § 10 Satz 3<br />
Nr. 6 AGG gerechtfertigt an. § 10 Satz 3<br />
Nr. 6 AGG sieht nämlich ausdrücklich die<br />
Möglichkeit einer Altersdifferenzierung<br />
bei der Verteilung von Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen<br />
vor.<br />
Zum einen können die Betriebsparteien<br />
nach dieser Vorschrift eine nach dem Alter<br />
gestaffelte Abfindungsregelung schaffen,<br />
in der die wesentlich vom Alter abhängenden<br />
Chancen auf dem Arbeitsmarkt durch<br />
eine verhältnismäßig starke Betonung des<br />
Lebensalters berücksichtigt werden. Zum<br />
anderen können Beschäftigte von Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen<br />
ausgeschlossen werden,<br />
die aufgrund ihrer Rentenberechtigung<br />
wirtschaftlich abgesichert sind. Unter<br />
Berufung auf diese Ausnahmeregelungen<br />
bestätigte die <strong>Recht</strong>sprechung bislang<br />
stets Sozialplangestaltung, die nach Alter<br />
gestaffelte Le<strong>ist</strong>ungen vorsahen oder Le<strong>ist</strong>ungseinschränkungen<br />
für ältere Arbeitnehmer<br />
enthielten (vgl. BAG, 12.4.2011 –<br />
1 AZR 764/09, BAG 23.10.2010 – 1 AZR<br />
832/08; BAG 26.5.2009 – 1 AZR 198/08).<br />
Über den reinen Wortlaut von § 10 Satz<br />
3 Nr. 6 AGG hinausgehend hielt das Bun-
ARBEITSRECHT Sozialplangestaltung<br />
desarbeitsgericht eine Kürzung von Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen<br />
sogar dann für zulässig,<br />
wenn die betroffenen Arbeitnehmer zwar<br />
nicht unmittelbar nach dem Bezug von<br />
Arbeitslosengeld I rentenberechtigt waren,<br />
jedoch eine Abfindung erhielten, die so<br />
bemessen war, dass sie die wirtschaftlichen<br />
Nachteile ausglich, die der Arbeitnehmer<br />
nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldanspruchs<br />
bis zum frühestmöglichen<br />
Renteneintritt erlitt (BAG 23.3.2010<br />
– 1 AZR 832/08).<br />
Überdies bestätigte das Bundesarbeitsgericht<br />
mehrfach die Unionsrechtskonformität<br />
des § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG. Sowohl<br />
in Bezug auf die Benachteiligung jüngerer<br />
Arbeitnehmer durch gestaffelte Abfindungsregelungen<br />
als auch bezüglich des<br />
Ausschlusses rentennaher Arbeitnehmer<br />
von Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen, sah das Bundesarbeitsgericht<br />
eine Vereinbarkeit von § 10<br />
Satz 3 Nr. 6 AGG mit der europäischen<br />
Antidiskriminierungsrichtlinie (1 RL<br />
2000/78/EG) als gegeben an (BAG<br />
26.5.2009 – 1 AZR 198/08). Der deutsche<br />
Gesetzgeber verfolge mit der Regelung<br />
des § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG ein im Allgemeininteresse<br />
stehendes, legitimes sozialpolitisches<br />
Ziel. Ältere Arbeitnehmer<br />
hätten auf dem Arbeitsmarkt typischerweise<br />
größere Schwierigkeiten als jüngere,<br />
<strong>was</strong> eine entsprechend höhere Abfindung<br />
zum Zwecke einer stärkeren wirtschaftlichen<br />
Absicherung rechtfertige.<br />
Andererseits seien die zu erwartenden wirtschaftlichen<br />
Nachteile bei „rentennahen“<br />
Arbeitnehmern wegen der wirtschaftlichen<br />
Absicherung durch die bevorstehende<br />
Altersrente geringer, <strong>was</strong> wiederum die<br />
Kürzung von Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen bei<br />
dieser Altersgruppe rechtfertige.<br />
Das Votum des EuGH in der<br />
„Andersen-Entscheidung“<br />
Die Entscheidung des EuGH von 12. Oktober<br />
2010 in der <strong>Recht</strong>ssache Andersen<br />
gibt nunmehr Anlass, die deutsche Sozialplanpraxis<br />
erneut zu überdenken (EuGH<br />
vom 12. Oktober 2010 – C-499/08). Konkret<br />
geht es um die Unionsrechtskonformität<br />
der in § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG vorge-<br />
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Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
Beispiele für Altersregelungen bei der<br />
Berechnung der Sozialplanabfindung<br />
1. Beispiel (nach BAG 22.09.2009 - 1 AZR 316/08):<br />
Abfindung = Lebensalter x Betriebszugehörigkeit x Bruttomonatsentgelt : 40<br />
2. Beispiel:<br />
Abfindung = Betriebszugehörigkeit x Bruttomonatsverdienst x Faktor X<br />
Faktor X beträgt:<br />
• bis zum 29. Lebensjahr des Mitarbeiters 0,3<br />
• ab dem 30. bis zum 39. Lebensjahr des Mitarbeiters 0,5<br />
• ab dem 40. Lebensjahr des Mitarbeiters 0,7<br />
sehenen Möglichkeit des (pauschalen)<br />
Ausschlusses rentenberechtigter Arbeitnehmer<br />
von Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen.<br />
Zum Hintergrund: In der „Andersen-Entscheidung“<br />
lag dem EuGH § 2 a des dänischen<br />
Gesetzes über die <strong>Recht</strong>sverhältnisse<br />
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern<br />
zur Prüfung vor. Dieser enthielt<br />
Regelungen über vom Arbeitgeber zu le<strong>ist</strong>ende<br />
Abfindungszahlungen im Kündigungsfalle.<br />
Absatz 3 des § 2 a sah für Angestellte,<br />
die bei ihrer Entlassung eine Altersrente<br />
vom Arbeitgeber erhielten und dem<br />
entsprechenden Rentensystem vor Vollendung<br />
des 50. Lebensjahres beigetreten<br />
waren, das Entfallen der Entlassungsabfindung<br />
vor. Über den eigentlichen Wortlaut<br />
hinaus legten die dänischen Gerichte<br />
die Regelungen dahingehend aus, dass<br />
die Entlassungsabfindung bereits dann<br />
entfällt, wenn lediglich ein Anspruch auf<br />
eine (gegebenenfalls gekürzte) Rente<br />
besteht, das heißt eine Entlassungsabfindung<br />
auch dann nicht gezahlt wird, wenn<br />
sich der betroffene Arbeitnehmer trotz<br />
Rentenanspruchs entschließt, diese nicht<br />
in Anspruch zu nehmen, sondern dem<br />
Arbeitsmarkt weiter zur Verfügung zu stehen.<br />
Diese Praxis hielt der EuGH für unvereinbar<br />
mit der Richtlinie 2000/78/EG und<br />
folgte in seiner Entscheidung dem Antrag<br />
der (deutschen) Generalanwältin Kokott.<br />
Die Regelung stelle eine unmittelbare<br />
Ungleichbehandlung wegen des Alters<br />
dar. Diese sei zwar grundsätzlich gerechtfertigt,<br />
soweit sie (nur solche) Arbeitnehmer<br />
vom Bezug der Entlassungsabfindung<br />
ausschließe, die zum Zeitpunkt ihrer<br />
Entlassung auch tatsächlich eine Altersrente<br />
bezögen. Sofern die Vorschrift jedoch<br />
auch Angestellte erfasse, die lediglich<br />
zum Bezug einer solchen Rente berechtigt<br />
seien, jedoch zunächst auf dem Arbeitsmarkt<br />
verbleiben wollten – so auch im Falle<br />
des Herrn Andersen -, sei sie zur Verwirklichung<br />
der verfolgten Ziele nicht<br />
erforderlich. Eine solche Maßnahme<br />
erschwere zum einen der besagten Gruppe<br />
von Arbeitnehmern die Ausübung ihres<br />
<strong>Recht</strong>s zu arbeiten, da sie – im Gegensatz<br />
zu anderen Arbeitnehmern mit gleich<br />
langer Betriebszugehörigkeit – keine<br />
Abfindung erhielten. Zum anderen würden<br />
die betroffenen Arbeitnehmer dazu<br />
gedrängt, eine niedrigere Altersrente<br />
anzunehmen als die, die sie beanspruchen<br />
könnten, wenn sie bis ins höhere Alter<br />
berufstätig blieben, <strong>was</strong> für sie einen auf<br />
lange Sicht erheblichen Vermögensverlust<br />
nach sich zöge. Insgesamt sei die Regelung<br />
damit nicht mit Art. 2 und 6 Abs. 1<br />
der Richtlinie 2000/78/EG vereinbar.<br />
Die Konsequenzen für die<br />
deutsche Sozialplanpraxis<br />
Abbildung 1<br />
Im Anschluss an die dargestellte Entscheidung<br />
stellt sich nunmehr die Frage nach<br />
den Auswirkungen auf das deutsche <strong>Recht</strong>,<br />
insbesondere auf die in Deutschland bislang<br />
übliche Gestaltung von Sozialplänen.<br />
Bei dieser Frage <strong>ist</strong> vorab noch einmal<br />
herauszustellen, dass der EuGH nicht<br />
grundsätzlich einen mit dem Alter begründeten<br />
Ausschluss der Entlassungsabfindung<br />
verwarf. Nur wenn die bloße<br />
Anspruchsberechtigung bereits zu einem
Entfallen der Abfindung führe, benachteilige<br />
dies den betroffenen Arbeitnehmer<br />
aus den genannten Gründen unangemessen.<br />
Genau an diesem Punkt knüpft aber auch<br />
die parallele Problematik im deutschen<br />
Antidiskriminierungsrecht an. § 10 Satz<br />
3 Nr. 6 AGG setzt – vergleichbar der dänischen<br />
Regelung – ebenfalls nicht voraus,<br />
dass der betroffene Arbeitnehmer tatsächlich<br />
im Anschluss an seine Entlassung die<br />
Rente beansprucht. Vielmehr genügt nach<br />
seinem Wortlaut („rentenberechtigt“) ebenfalls<br />
das bloße Bestehen des Rentenanspruchs,<br />
um eine Kürzung oder gar den<br />
Ausschluss von Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen zu<br />
rechtfertigen. Liegt hierin nunmehr nach<br />
„Andersen“ eine ungerechtfertigte Altersdiskriminierung<br />
rentennaher arbeitswilliger<br />
Arbeitnehmer gegenüber jüngeren,<br />
die das Renteneintrittsalter noch nicht<br />
erreicht haben und somit die Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen<br />
beanspruchen können?<br />
Bei näherer Betrachtung ergeben sich<br />
ernsthafte Zweifel an der Übertragbarkeit<br />
der Grundsätze auf deutsche Sozialpläne.<br />
Zunächst sei darauf hingewiesen, dass es<br />
im Falle von „Andersen“ nicht um den<br />
(altersbedingten) Ausschluss von Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen<br />
ging, sondern um Abfindungszahlungen<br />
für die Entlassung eines<br />
Angestellten aus dem öffentlichen Dienst.<br />
Auch wenn es in beiden Fällen um die<br />
wirtschaftliche Absicherung der betroffenen<br />
Arbeitnehmer während der Suche<br />
nach einem neuen Arbeitsplatz geht, besteht<br />
bei einem Sozialplan die Besonderheit,<br />
dass nur ein begrenztes Volumen zur Verteilung<br />
zur Verfügung steht. Anders als im<br />
dänischen Fall sind die zu verteilenden<br />
Le<strong>ist</strong>ungen bei deutschen Sozialplänen in<br />
ihrer Gesamthöhe begrenzt.<br />
Es geht folglich darum, diese insgesamt<br />
begrenzten Mittel gerecht unter den betroffenen<br />
Arbeitnehmern aufzuteilen. Wäre<br />
man zukünftig bei der Gestaltung von<br />
Sozialplänen daran gehindert, die Le<strong>ist</strong>ungen<br />
für rentenberechtigte Arbeitnehmer<br />
zu kürzen oder auszuschließen, würde<br />
diese „Begünstigung“ älterer rentennaher<br />
Arbeitnehmer zwangsläufig zu<br />
Beispiele für altersbedingte Kürzungen von<br />
Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen<br />
Beispiel 1 (nach BAG 23.3.2010 – 1 AZR 832/08):<br />
Abfindung für ältere Mitarbeiter<br />
Die Abfindung vermindert sich für Mitarbeiter nach Vollendung des 60. Lebensjahres für<br />
jeden weiteren Monat um 1/60stel. Stichtag <strong>ist</strong> der letzte Tag des rechtlichen Bestandes<br />
des Arbeitsverhältnisses.<br />
Beispiel 2 (BAG 11. 11. 2008 - 1 AZR 475/07):<br />
Arbeitnehmer, die nach einem in unmittelbarem Anschluss an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses<br />
folgenden Bezug von Arbeitslosengeld nach Maßgabe der §§ 117 ff. SGB III –<br />
sogenanntes Arbeitslosengeld I - Anspruch auf Altersrente haben, erhalten 50% der Abfindung.<br />
einer Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer<br />
führen. Dies <strong>ist</strong> der entscheidende<br />
Unterschied zu „Andersen“. Die Begünstigung<br />
älterer Arbeitnehmer in der Konstellation<br />
„Andersen“ hatte keinerlei Auswirkungen<br />
auf jüngere Arbeitnehmer. Die<br />
zwangsweise Benachteiligung jüngerer<br />
Arbeitnehmer im Rahmen deutscher Sozialpläne<br />
durch „verbesserte“ Le<strong>ist</strong>ungen<br />
an ältere Arbeitnehmer, die durch soziale<br />
Schutzsysteme bereits ausreichend<br />
abgesichert sind, kann nicht als ein von<br />
der Richtlinie verfolgter gerechter Interessenausgleich<br />
im Rahmen der Beschäftigungs-<br />
und Arbeitsmarktpolitik betrachtet<br />
werden.<br />
Vor diesem Hintergrund erscheint eine<br />
Reduzierung oder gar ein Ausschluss rentenberechtigter<br />
Arbeitnehmer von Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen<br />
im Sinne des § 10 Satz.<br />
3 Nr. 6 AGG als mit Art. 6 der Richtlinie<br />
2000/78/EG vereinbar. Die Grundsätze der<br />
Andersen-Entscheidung können folglich<br />
nicht ohne Weiteres auf die deutsche Sozialplanpraxis<br />
übertragen werden.<br />
Hinweis für die Praxis<br />
Obwohl eine Anwendung der vom EuGH<br />
in der <strong>Recht</strong>ssache Andersen entwickelten<br />
Grundsätze auf deutsche Sozialpläne<br />
nicht sachgerecht erscheint, kann es freilich<br />
für die Zukunft nicht ausgeschlossen<br />
werden, dass dies die Arbeitsgerichte oder<br />
der EuGH anders beurteilen. Aus Gründen<br />
der Vorsicht kann Unternehmen deshalb<br />
nur angeraten werden, auf Klauseln<br />
zu verzichten, die Arbeitnehmer bereits<br />
Abbildung 2<br />
bei Bestehen des Anspruchs auf Rentenbezug<br />
von Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen ausnehmen.<br />
Dies bedeutet freilich von der gesetzlich<br />
vorgesehen Möglichkeit des § 10 Satz<br />
3 Nr. 6 Alternative 2 AGG keinen Gebrauch<br />
zu machen.<br />
Ferner erscheint es riskant, eine Kürzung<br />
von Sozialplanle<strong>ist</strong>ungen bei solchen<br />
Arbeitnehmern vorzunehmen, die nicht<br />
unmittelbar nach dem Bezug von Arbeitslosengeld<br />
I rentenberechtigt sind. Dies<br />
gilt selbst dann, wenn ihnen eine Abfindung<br />
gezahlt wird, die so bemessen <strong>ist</strong>,<br />
dass sie alle wirtschaftlichen Nachteile ausgleicht,<br />
die diese Arbeitnehmer nach dem<br />
Auslaufen des Arbeitslosengeldanspruchs<br />
bis zum frühestmöglichen Renteneintritt<br />
erleiden. Käme die <strong>Recht</strong>sprechung nämlich<br />
aufgrund der oben beschriebenen<br />
Grundsätze zur nachträglichen Unwirksamkeit<br />
der Ausschlussklausel in einem<br />
Sozialplan, so könnten die betroffenen<br />
Arbeitnehmer nachträglich die gesamte<br />
Abfindungssumme einfordern, <strong>was</strong> zu<br />
einer empfindlichen Erhöhung des Sozialplanvolumens<br />
führen kann. Diese Gefahr<br />
sollte bis zum Zeitpunkt der Klärung der<br />
Frage durch die deutschen Arbeitsgerichte<br />
oder besser den EuGH tunlichst vermieden<br />
werden.<br />
Autor<br />
Dr. Thomas Bezani,<br />
<strong>Recht</strong>sanwalt und Partner<br />
bei Görg Partnerschaft<br />
von <strong>Recht</strong>sanwälten, Köln,<br />
tbezani@goerg.de<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de 33
ARBEITSRECHT Interview<br />
„Von amerikanischen Verhältnissen<br />
sind wir weit entfernt“<br />
Am 18. August 2006 trat das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Kraft.<br />
Anlässlich des Jubiläums erklärt die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände<br />
(BDA), das AGG belaste die deutsche Wirtschaft mit sinnloser Bürokratie<br />
und hohen Kosten. Die jährlichen Ausgaben nur für Bewerbungsverfahren und Einstellungsprozesse<br />
würden über 150 Millionen Euro betragen. Dr. Sören Langner, Fachanwalt<br />
für Arbeitsrecht bei CMS Hasche Sigle äußert sich im Interview zu fünf Jahren AGG.<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong>: Das AGG sei überflüssig<br />
und kein Grund zum Feiern heißt<br />
eine aktuelle Aussage der BDA. Wie <strong>ist</strong> Ihre<br />
Einschätzung?<br />
Langner: Die Grundidee des AGG <strong>ist</strong> von<br />
einem breiten gesellschaftlichen Konsens<br />
getragen. Wir können aber bestätigen, dass<br />
die Umsetzung dieses Gesetzes für die Unternehmen<br />
mit einem erhöhten Bürokratieund<br />
Kostenaufwand verbunden <strong>ist</strong>. Aus Sicht<br />
der BDA und vieler Personalverantwortlichen<br />
sind fünf Jahre AGG aus nachvollziehbaren<br />
Gründen daher kein Grund zum Feiern.<br />
Nach unserer Einschätzung hat sich die<br />
anfängliche Aufregung inzwischen gelegt<br />
und das Gesetz <strong>ist</strong> in der Praxis angekommen.<br />
Künftig gilt es, die Schwachstellen des<br />
Gesetzes zu beseitigen und ausgewogene<br />
Lösungen zu finden. Die geplante Verschärfung<br />
der Antidiskriminierungsrichtlinie dürfte<br />
dies aber erschweren.<br />
Untersuchungen der betrieblichen Einstellungspraxis<br />
haben dazu geführt, dass<br />
anonyme Bewerbungsverfahren getestet<br />
werden. Nun sagt nicht nur die BDA, dass<br />
Vielfalt und die Bekämpfung von Diskriminierung<br />
in den Betrieben in Deutschland<br />
eine Selbstverständlichkeit sei. Können<br />
Sie damit übereinstimmen?<br />
Vielfalt und Bekämpfung von Diskriminierung<br />
sind in großen und international agierenden<br />
Unternehmen eine Selbstverständlichkeit.<br />
Das rührt auch daher, dass insbesondere<br />
in den USA das Antidiskriminierungsrecht<br />
eine große Bedeutung mit zum Teil<br />
34<br />
Sonderheft 10 |2011 www.personalwirtschaft.de<br />
erheblichen <strong>Recht</strong>sfolgen hat. In vielen Unternehmen<br />
besteht aber noch Optimierungsbedarf.<br />
In Deutschland hat das AGG insgesamt<br />
sicher zu einer Sensibilisierung in den Betrieben<br />
geführt. Ob anonyme Bewerbungsverfahren<br />
aber einen effektiveren Schutz für<br />
benachteiligte Gruppen bieten, wird man in<br />
den nächsten Jahren untersuchen müssen.<br />
Wie professionell sind die AGG-Beschwerdestellen<br />
in den Betrieben?<br />
Hier besteht noch Nachholbedarf. Unsere<br />
Erfahrungen zeigen, dass die AGG-Beschwerdestellen<br />
in der Regel personell nicht optimal<br />
besetzt sind. Die verantwortlichen Personen<br />
müssen hohen Anforderungen an<br />
Glaubwürdigkeit, Erfahrung, Sensibilität,<br />
Unabhängigkeit und Konfliktlösungskompetenz<br />
gerecht werden. Wir erleben immer<br />
wieder, dass teilweise unerfahrene Mitarbeiter<br />
mit der Beschwerdestelle beauftragt sind.<br />
Wie beurteilen Sie die AGG-<strong>Recht</strong>sprechung?<br />
Das AGG hat entgegen vieler Aussagen nicht<br />
zu einer Klagewelle geführt. Die <strong>Recht</strong>sprechung<br />
der vergangenen Jahre hat Maß gehalten<br />
und <strong>ist</strong> um vernünftige Ergebnisse<br />
bemüht. Von amerikanischen Verhältnissen<br />
mit hohen Entschädigungsansprüchen sind<br />
wir weit entfernt. Trotzdem sind die Auswirkungen<br />
des AGG gerade im Arbeitsrecht<br />
tiefgreifend und werden durch den Europäischen<br />
Gerichtshof (EuGH) künftig auch nachhaltig<br />
beeinflusst werden.<br />
Immer wieder sorgt der EuGH für Unsicherheit,<br />
insbesondere beim Kriterium<br />
Dr. Sören Langner<br />
Alter. So wird der EuGH demnächst zur<br />
Altersgruppenbildung bei der Sozialauswahl<br />
entscheiden. Was <strong>ist</strong> aus Brüssel zu<br />
erwarten?<br />
Der EuGH <strong>ist</strong> immer für Überraschungen gut.<br />
Die letzten Entscheidungen zum Thema Altersgrenzen<br />
deuten aber darauf hin, dass die<br />
Altersgruppenbildung bei der Sozialauswahl<br />
zulässig sein dürfte, um eine ausgewogene<br />
Altersstruktur zu erhalten. Das jüngste Vorlageverfahren<br />
des Arbeitsgerichts Siegburg<br />
hat sich aber durch Vergleich erledigt. Eine<br />
neue Vorlage zu diesem Thema <strong>ist</strong> wahrscheinlich<br />
und eine endgültige Klärung wünschenswert.<br />
Der EuGH gibt der Praxis immer<br />
öfter Steine statt Brot, wie wir jüngst zum<br />
Betriebsübergangsrecht wieder feststellen<br />
mussten. Die europäischen Einflüsse werden<br />
auch zukünftig deutlich zunehmen.<br />
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes<br />
fordert ein Klagerecht für Antidiskriminierungsverbände<br />
und die Antidiskriminierungsstelle.<br />
In den me<strong>ist</strong>en EU-Mitgliedstaaten<br />
haben sie bereits ein Klagerecht,<br />
da nur wenige Menschen sich trauen<br />
würden, gegen den eigenen Arbeitgeber<br />
vor Gericht zu ziehen.<br />
Ein Verbandsklagerecht <strong>ist</strong> nicht erforderlich.<br />
Im Arbeitsrecht besteht wegen des<br />
bereits ex<strong>ist</strong>ierenden Klagerechts von<br />
Betriebsrat und Gewerkschaften dafür<br />
ohnehin kein Bedürfnis. Die Sanktionsmechanismen<br />
des AGG sind ausreichend. Dies<br />
hat die jüngere <strong>Recht</strong>sprechung gezeigt.<br />
Das Interview führte Chr<strong>ist</strong>iane Siemann.