REISE SPEZIAL | CHINAS WUNDER 16 Als erster Gang wird ein Blumentopf serviert. „Dead Garden“ steht auf der Karte. Der Name passt und ist nicht wirklich appetitanregend. „Einfach essen“, sagt Chef Alvin Leung. Misstrauisch zupft man einen Pilz aus dem Beet. Es ist ein japanischer Enoki, der im Ofen mit einem Hauch Öl trocken, knusprig und stocksteif gebacken wurde. An seinem Strunk haftet ein leuchtend grüner Batzen, der frisch, zitronig und überhaupt nicht tot schmeckt. Der grüne Schaum, der sich unter einer Schicht graubrauner Morchelbrösel verbirgt, Alvin Leung besteht aus pürierten Frühlingszwiebeln und Limone und hat im Siphon seine luftige Konsistenz erhalten. Und er passt hervorragend zu den leicht gesalzenen Pilzen und zum perlenden Franciacorta, der dazu gereicht wird. Dem Guide Michelin ist Alvin Leungs außergewöhnliche kulinarische Leistung zwei Sterne wert, sein Restaurant Bo Innovation, das er vor gut acht Jahren als privates Speakeasy eröffnete, und das seitdem zweimal umgezogen ist, gilt heute als eine der spannendsten Gourmetadressen der Stadt, und er selber als „demon chef“, der seine Gäste mit „x-treme“-Küche in Atem hält. Aktualisierte Hausmannskost Nur ein paar Schritte weiter steht ein knapp hundertjähriges Häuschen. Das Reich von Xu Yuan, die sich westlichen Gästen gerne als Margaret vorstellt. Ihr Restaurant Yin Yang gilt bei Hongkonger „Foodies“ längst als Institution. Im Erdgeschoss stehen zwei italienische Tontöpfe, der eine kopfüber auf dem anderen, auf Xu Yuan einem Gasofen. Dort hinein wird das „Huhn aus dem Tontopf“ gehängt und 45 Minuten lang über gehacktem wildem Ingwer gebacken. „So wurde früher auf dem Land gekocht“, sagt die Köchin, „ich mache es nur ein kleines bisschen feiner.“ Zum Beispiel bei der „Suppe ohne Wasser“, in der Taubenteile und Pilze vier bis fünf Stunden lang vor sich hin garen, damit ihr gefilterter Jus den Gästen in einer Glasteekanne serviert werden kann. „Ich möchte, dass sich meine Gäste wie zu Hause fühlen“, erklärt Xu Yuan, „hier gibt es chinesische Hausmannskost. Auf meine ganz persönliche Art zubereitet.“ Ähnlich hält es Jacky Yu im Xi Yan, wo die Gäste zwischen moderner Kunst und Einmachgläsern Platz finden. „Meine Gerichte sind aktualisierte Varianten von dem, was meine Großmutter und meine Mutter mir beigebracht haben“, sagt der Chefkoch, der fünf Kochbücher veröffentlicht hat und eine TV-Sendung mit über neun Millionen Zuschauern moderiert. Bei ihm mischen sich Sichuan-, Shanghai- und Hongkong-Einflüsse. Fast immer steht das „Hot & Spicy Chicken“ auf der Karte: Das gekochte Hühnerfleisch wird mit Chilli, Sesamöl, Sichuanpfeffer, Ingwer, Knoblauch, Petersilie und Sojasauce serviert, dazu gibt es Nudeln aus Mungo-Sprossen und eingelegte Enteneier. Unbedingt probieren! PASSAGEN | AUSGABE 4.2011 GOURMET KÜCHENREVOLUTIONEN ALLES SÜSS-SAUER? VON WEGEN! In Hongkong stellen ein paar Küchenchefs chinesische Klassiker gründlich auf den Kopf Patricia Engelhorn BO INNOVATION, 18 Ship Street, Wan Chai, Tel. +852 28 50 83 71 YIN YANG, 18 Ship Street, Wan Chai, Tel. +852 28 66 08 68 XI YAN, 3F, 83 Wanchai Road, Wan Chai, Tel. +852 25 75 69 66 Jacky Yu zu bitten: Wer zusammen am Gipfel des Huangshan ein Schloss befestigt und den Schlüssel wegwirft, bleibt für immer vereint. ZEITREISE AUF GULANGYU Auch Gulangyu, die Insel vor der Stadt Xiamen, scheint auf den ersten Blick bekannt. „Irgendwie europäisch,“ grübelt der Besucher beim Anblick der verspielten Kolonialvillen und großzügigen Gartenanlagen – und liegt absolut richtig! Dass die feudalen Anwesen mit Drogengeldern erbaut wurden, sieht man ihnen heute nicht mehr an: Im Opiumkrieg unterlag das chinesische Kaiserreich 1842 den Invasoren und musste fortan nicht nur den britischen Opiumimport dulden, sondern auch eine Reihe von Häfen öffnen. Vom Festland abgeschottet, erwies sich Gulangyu als idealer Siedlungsort für die westlichen Opiumhändler. Mangels Platz – Gulangyu misst zwei Quadratkilometer – waren die Bauherren gezwungen, eng aufeinanderzurücken. Heute erweist sich das architektonische Gedränge zum Vorteil der Bewohner: Autos haben hier keinen Platz, motorisierte Verkehrsmittel wurden kurzerhand verboten. Während im Hintergrund die Wolkenkratzer von Xiamen in den Himmel ragen und riesige Containerschiffe vorbeigleiten, bleibt Gulangyu fest in der Vergangenheit verhaftet. Wer hier lebt, darf abends mit der beruhigenden Erkenntnis ins Bett gehen, nicht nur an einem der schönsten, sondern auch der stillsten Orte des Landes zu wohnen. Manchmal liegen die Kontraste in <strong>China</strong> ganz nah zusammen. ❖ Françoise Hauser war zuletzt im August in <strong>China</strong>. Was sie in Shanghai immer neu erstaunt: „Auf dem Bund schauen Europäer nur auf die Kolonialbauten am Westufer, die Chinesen auf die Skyline des Pudong-Ufers.“ Chao-Hsiu Chen wurde in Taiwan geboren und arbeitet als Künstlerin, Komponistin und Schriftstellerin in Rom. Für PASSAGEN entwarf sie exklusiv acht Kalligrafien.
MÄRCHENHAFT Fantastischer hätte sie sich niemand ausdenken können: Die nebelverhangenen Gipfel und steilen Schluchten des Huangshan Gebirges sind die Höhepunkte des an spektakulären Aussichten kaum zu überbietenden Wandergebiets [Gelbe Berge] CHINAS WUNDER | REISE SPEZIAL AUSGABE 4.2011 | PASSAGEN 17