AKADEMIE -REPORT - Akademie für Politische Bildung Tutzing
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Report: Günter Grass schreibt in seinem<br />
Roman „Das weite Feld“, die<br />
DDR sei eine „kommode Diktatur“<br />
gewesen. Trifft diese Behauptung zu?<br />
Rathenow: Ein sehr ungenauer Satz.<br />
Einer, der auch keine Neugier macht<br />
auf eine Beschäftigung mit der Endzeitstimmung<br />
in den achtziger Jahren,<br />
die ein Land prägten, das vom Westen<br />
immer abhängiger wurde. Ich darf<br />
mein 1986 entstandenes und 1987 in<br />
der DDR verbotenes Buch über Ost-<br />
Berlin zitieren:<br />
„Ein Hauch von Welt ist eine Brise aller<br />
Probleme. Es gibt fast alles hier,<br />
was es im Westen gibt, nur versteckter<br />
oder ganz verborgen. Doch diese Geschichten<br />
werden in einem Ton empörter<br />
Zufriedenheit erzählt, der sich beweist,<br />
nicht ganz ausgeschlossen von<br />
der Welt zu sein. Wir haben auch unsere<br />
Mörder, Rauschgiftsüchtigen,<br />
kleinen und großen Kriminellen. Wir<br />
leben also nicht ganz hinter dem Mond.<br />
Das Trinkwasser verseucht? Ein Marzahner<br />
Neubau versackt im sumpfigen<br />
Boden? In der Klinik darf der Schrank<br />
mit den Westmedikamenten erst bei<br />
unmittelbarer Todesgefahr geöffnet<br />
werden? Aha, das Leben ist nicht so<br />
langweilig hier, wie es das manchmal<br />
zu sein scheint. Gefahren regen die<br />
Phantasie an. Süchtig nach Negativem,<br />
löst eine Horror-Anekdote die nächste<br />
ab. Mit heimlichem Vergnügen werden<br />
Katastrophen geschlürft. Und wer das<br />
Leben mehr hebt als imaginäre Sicherheiten,<br />
nimmt das als erfrischende Dusche.“<br />
Man sollte diesen positiven<br />
Trotz nicht „kommod“ nennen.<br />
30<br />
„Keine relevante Gruppe kämpft um<br />
die Rückkehr der DDR“<br />
Schriftsteller Lutz Rathenow im Gespräch<br />
über die deutsche Befindlichkeit<br />
„Ost-Trotz ist also auch ein<br />
Erpressungsvorteil im Kampf<br />
um die Westgeldtöpfe.“<br />
Woher kommen die Verständigungsprobleme<br />
zwischen Ost und West?<br />
Weil die Vereinigung 20 bis 30 Jahre<br />
zu spät kam. Weil der Osten zu genaue<br />
Vorstellungen vom Westen hatte und<br />
der Westen erst einmal darüber nachdenken<br />
musste, warum er sich <strong>für</strong> den<br />
Osten interessieren sollte. Im übrigen<br />
habe ich keine Verständigungsprobleme<br />
mit dem Osten oder Westen, son-<br />
Schriftsteller Lutz Rathenow:<br />
„Deutschland braucht eine doppelte<br />
Lektion.“ Foto: hmw<br />
dern nur mit einzelnen Menschen. Im<br />
Osten gibt es zu viele Komplexe und<br />
im Westen schon mitunter eine Aura<br />
saturierter Überheblichkeit.<br />
Beide Nichtmehr-Teile<br />
Deutschlands sollten in den<br />
Osten jenseits von Deutschland<br />
blicken, um ihre eigenen<br />
Befindlichkeiten zu relativieren.<br />
Was kann man tun, um das Geschichtsbild<br />
der Diktatur zu verdeutlichen?<br />
Sie nicht nur abstrahiert in ihren politischen<br />
Grundstrukturen vorführen.<br />
Deutschland braucht eine doppelte<br />
Lektion: Die oft von nostalgischen Ver-<br />
lustgefühlen heimgesuchten Ossis<br />
brauchen Filme, Bücher, Ausstellungen<br />
die helfen die politische Hintergrundstrukturierung<br />
des Alltags zu kapieren.<br />
Die Westdeutschen müssen<br />
mehr vom Alltag kennen lernen, der<br />
oft erst auf den zweiten oder dritten<br />
Blick politisch war.<br />
Ich lebte in Mitteleuropa, in Deutschland,<br />
Thüringen, einem deutschsprachigen<br />
Land – und die DDR bediente<br />
sich all dieser Schichten, um den Menschen<br />
so zu erziehen, dass er vor allem<br />
DDR-Bürger sein wollte.<br />
Vom Westen unverstanden und sich<br />
selbst gegenüber unehrlich: Die Laune<br />
ist schlecht, dort, wo mal die DDR<br />
war. Warum sind die Ostdeutschen so<br />
schlecht drauf?<br />
Diese DDR-Entzugserscheinungen erreichen<br />
wirklich mitunter lächerliche<br />
Ausmaße. Gerade erlebte ich eine alte<br />
Frau schimpfend in einem Copy-Shop,<br />
das dieser Kapitalismus nur noch ganz<br />
Arme und ganz Reiche übrig lässt. Sie<br />
war aber weder arm noch reich. Und<br />
Kopieren gab es zu DDR-Zeiten auch<br />
nur <strong>für</strong> ganz wenige, streng kontrolliert.<br />
Warum empfinden die Ostdeutschen<br />
die Wende nicht als Befreiung?<br />
Weil sie sich zu sehr mit den Westdeutschen<br />
und faktisch nur mit denen vergleichen<br />
und gar nicht als Osteuropäer<br />
sehen wollen, was sie nach 1945<br />
auch waren. Oder werden mussten.<br />
Das Leben erscheint ihnen heute anstrengender.<br />
Aber keine relevante<br />
Gruppe kämpft um die Rückkehr der<br />
DDR. Ost-Trotz ist also auch ein Erpressungsvorteil<br />
im Kampf um die<br />
Westgeldtöpfe. �<br />
Die Fragen stellte Hans-Martin<br />
Weichbrodt<br />
Die jüngsten Bücher von Lutz<br />
Rathenow:<br />
• Ost-Berlin. Leben vor dem<br />
Mauerfall (zusammen mit Harald<br />
Hauswald), Jaron Verlag 2005<br />
• Gewendet. Vor und nach dem<br />
Mauerfall (zusammen mit Harald<br />
Hauswald), Jaron Verlag 2006<br />
<strong>Akademie</strong>-Report 2/2007