Ein Wort zuvor
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hilflos und hätte zu gern meine liebe Mutter getröstet. Aber meine Oma lacht<br />
mich stets aus, wenn ich wieder geweint hatte.<br />
Sie hat dann oft mit mir geschimpft, aber bestimmt meinte sie es ganz anders:<br />
„Mädchen, ja kleine Mädchen, die dürfen schon einmal weinen. Aber größere<br />
Jungen dürfen es nicht! Adolf Hitler braucht doch gerade Jungen, die hart sind<br />
wie Kruppstahl, schnell wie die Windhunde und zäh wie Leder. Aber du mein<br />
Schatz, was aber machst du? Du liegst in deinem Bettchen und heulst herum.<br />
Sag einmal, Du spielst doch gerne mit Egon Indianer. Weißt eigentlich, dass<br />
Indianer keine Tränen vergießen, auch wenn sie Kummer und Schmerzen<br />
haben. Otmar, Indianer, die weinen nie! Die kennen einfach keine Schmerzen<br />
und keine Tränen.“<br />
„Oma, woher weißt du das mit den Indianern?"<br />
„Ich war zwar noch nicht in Amerika und auch noch nicht bei den Indianern.<br />
Aber. das habe ich in einem Indianerbuch gelesen."<br />
„Oma, hast du das Buch noch?"<br />
„Willst du das Buch etwa lesen? Du kannst doch noch gar nicht lesen."<br />
„Aber vielleicht sind Bilder in dem Buch und die könnte ich mir morgen<br />
ansehen."<br />
„Aber ich weiß gar nicht mehr, wo dieses Buch hingekommen ist. Ich frage<br />
einfach deinen Opa. Der kennt sich mit Büchern besser aus als ich."<br />
„Oma, wie können die Indianer einfach den Schmerz besiegen?"<br />
„Junge, wenn ich das ganz genau wüsste, dann könnte ich das auch. Ich würde<br />
es dir sogar verraten"<br />
„Aha Oma! SoSo ganz genau weißt du es doch nicht. Oder, vielleicht hast du<br />
die Geschichte mit den Indianern einfach nur erfunden, damit ich nicht weine?"<br />
„Ich habe überhaupt noch nichts erfunden, aber für dich wird es jetzt Zeit zum<br />
Schlafen."<br />
„Gute Nacht, mein kleiner neugieriger Schatz".<br />
Großmutter schließt leise die Tür und geht:<br />
„Ach ja, da habe ich mir schon wieder etwas eingebrockt. Morgen will er sich<br />
bestimmt das Buch angucken und dann ist es nicht da. Dann macht er wieder<br />
Krach. Man darf dem nichts erzählen. “<br />
Für mich blieb das Weinen meiner Mutter nicht ohne Folgen. Es hatte in mir<br />
schlimme Ängste ausgelöst. Ich konnte schlecht einschlafen, und wurde nachts<br />
wieder munter. Im Traume schrie ich und nässte auch ein, was schon längst<br />
vergessen war. Kinder sind wahrscheinlich immer die ersten Opfer eines<br />
Krieges. Sie können damit noch nicht rational umgehen. Wer kann es aber<br />
überhaupt? Kinder können ihre Ängste nur emotional verarbeiten und das hat<br />
eben Folgen.<br />
<strong>Ein</strong>mal sagte Großvater so beiläufig am Mittagstisch:<br />
„Der Krieg wird an Ufhoven vorübergehen.“<br />
Ich weiß nicht mehr, woraus er sich dabei bezog, aber der Satz ist nicht richtig<br />
und er beunruhigte mich. Der Krieg war doch so weit weg, wie kann der jetzt<br />
hierher kommen? Aber der Krieg ist eigentlich überall im ganzen Lande, in<br />
jedem Hause und auch in jeder Familie, in der die Väter und auch schon<br />
manchmal die Söhne fehlen und an der Front kämpften. Der Krieg war damals<br />
noch ganz weit weg, irgendwo im fernen Russland. Aber es sollte doch noch<br />
etwas passieren, was damals für utopisch, unvorstellbar und gänzlich<br />
unwahrscheinlich galt. Der Krieg auch noch zu uns kommen wird. So ganz<br />
allmählich wurde auch die Liste der vermissten und gefallenen Soldaten aus<br />
unserem Dorfe immer länger und jedes Mal eilte eine solche Nachricht vom<br />
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