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Verehrte Leser!<br />

Ich biete Ihnen hier eine Leseprobe aus meinem Buch<br />

„Nur meine Gedanken waren frei“.<br />

Das Buch erscheint im Monat Juni/Juli 2007 im Novum<br />

Verlag in Neckenmarkt in Österreich.


<strong>Ein</strong> <strong>Wort</strong> <strong>zuvor</strong><br />

Wir wissen, das unsere Kindheit eine äußert wichtige Phase unsere Lebens ist,<br />

weil hier die Grundlagen der Persönlichkeit gelegt werden. In zahlreichen und<br />

nicht enden wollenden Untersuchungen und Experimenten haben die<br />

Generationen von Psychologen die Kindheit erforscht.<br />

Wir selbst schöpfen immer wieder Kraft aus dieser wichtigen Zeit unserer<br />

Entwicklung. Wir erinnern uns an unsere Klassenkameraden, an Lehrer, an<br />

Ereignisse, an unsere vielen kleinen Erfolge und Triumphe, aber auch an<br />

unsere ersten Niederlagen und Verluste. Noch immer leben wir mit unseren<br />

Großeltern und unseren Eltern und Geschwister, obwohl sie vielleicht nicht<br />

mehr am Leben sind. Aber sie sind noch immer in unserem Gedächtnis<br />

gespeichert und für uns lebendig. Sie haben uns geliebt, die ersten Schritte<br />

gehen helfen und so unendlich vieles für uns getan, was uns noch heute prägt.<br />

<strong>Ein</strong> solches Ereignis war Gesang meines Großvaters. Er sang keineswegs<br />

besonders schön, aber er sang meist nur sein Lieblingslied „Die Gedanken sind<br />

frei…“<br />

<strong>Ein</strong>mal fragte er mich: „Gefällt dir eigentlich mein Lied?“<br />

Aber meine Urteilskraft war noch zu gering und außerdem hätte ich meinem<br />

lieben Großvater ohnehin nicht widersprochen und deshalb sagte ich: „Ja!“<br />

Möchtest du es auch lernen?“ „Ja!“<br />

Ich lernte alle Strophen von ihm und wir haben das Lied sehr oft miteinander<br />

gesungen.<br />

Meine Großmutter wandte aber ein: „Sag aber deinem Großvater, er soll nicht<br />

so laut singen, sondern immer schön leise. Es ist viel schöner, wenn man leise<br />

singen kann.<br />

„Oma, ich kann aber auch laut singen.“<br />

Aber welchen Sinn dieses kurzen Gespräches hatte, das konnte ich damals zu<br />

Beginn des 2. Weltkrieges. noch nicht begreifen. Aber ich glaubte, mein<br />

Großvater hatte dieses Lied schon lange vorher gesungen.<br />

„Mit deinem lauten Gesang bringst du uns noch alle hinter Schloss und Riegel<br />

oder gar noch ins KZ. Deine Singerei ist doch bis draußen auf die Straße zu<br />

hören.“<br />

Ich hatte das Lied inzwischen auch gelernt und oft mit meinem Großvater<br />

gesungen. Aber bestimmt sang ich mein Lied mehr st.<br />

„Opa, darf man das Lied nicht singen?“<br />

„Doch, man darf es singen. Es ist doch nur ein einfaches und schönes<br />

deutsches Volkslied und außerdem ist mein Lieblingslied.<br />

Mein Großvater sang es aus Protest. Er war ein Sozialdemokrat und wehrte<br />

sich damit auf seine Weise gegen die Hitlerdiktatur.<br />

Damals war meine Welt noch nicht gespalten in meine Lebensrealität und in<br />

meine eigene Gedankenwelt. Aber mit der Entstehung der DDR und deren<br />

Zwang, genauso denken und handeln zu müssen, entstand meine innere Welt.<br />

Je stärker der äußere Zwang, um so mehr lebt der unfreie Mensch in sich selbst<br />

und träumt von seiner Freiheit.<br />

Die vermeintliche Diktatur des Proletariats der DDR nahm uns die Freiheit,<br />

schränkt uns ein, versperrte uns den Weg in die Welt und mauerte uns auch<br />

noch ein. Sie machte uns zu Opfern und Tätern.<br />

Diese Mauern konnten wir 1989 noch niederreißen und damit wieder die<br />

Freiheit erlangen, aber wir wollen nun frei sein in Gedanken und in unserem<br />

Handeln, aber nicht von der Arbeit.<br />

2


Als ich zur Welt kam<br />

war das tausendjährige Reich des Adolf Hitler gerade zwei Jahre alt und die<br />

schlimmsten Jahre sollten uns noch bevor stehen und sie brachten vielen<br />

Menschen Unglück, Vertreibung und auch den Tod. Später erzählte mir meine<br />

Mutters, dass es ein<br />

gewitterschwüler Julitag des Jahres 1935 gewesen war, als im Schlossgarten 5,<br />

dem jungen Ehepaar Schütze ein Stammhalter geboren wurde. Nach dem<br />

Kriege wurde aus dem Schlossgarten ein schlichter Mühlgarten. Denn die<br />

Kommunisten, die nun das <strong>Wort</strong> führten, hatten eben etwas gegen die<br />

Schlösser und auch gegen unsere alte Burgruine in Ufhoven, die einst zum<br />

Besitze des Kreuzritters Hermann von Salza gehörte.<br />

Der junge Vater soll sehr stolz darauf gewesen sein, dass es gerade ein Junge<br />

war. Er wusste, dass Adolf Hitler Jungen brauchte, um sie später zu Soldaten<br />

auszubilden und danach an den Fronten in Ost und West verheizen zu können.<br />

Aber wozu Hitler Soldaten brauchte, dass wusste mein Vater noch nicht.<br />

Vielleicht wollte er es auch nicht gar nicht so genau wissen. Zwei Jahre danach<br />

kam noch ein Mädchen zur Welt, sie wurde Annelore genannt.<br />

Der junge Vater hatte keinen Beruf erlernen können. Er arbeitete seit dem<br />

Abschluss der achten Klasse in der "Spinne", der hier ansässigen<br />

Kammgarnspinnerei, als Spinnereiarbeiter. Sein Vater, mein Großvater<br />

OpaGustav Schütze, hatte das so gewollt. Denn das Geld in einer Familie mit<br />

vier Kindern war immer knapp und für die Berufsausbildung seiner vier Kinder<br />

hätte der Vater damals noch viel bezahlen müssen. Aber dies war für den Vater<br />

nicht finanzierbar, er war ja selbst nur ein ungelernter Anstreicher. Aber auf<br />

diese Weise brachten seine beiden Jungen Otto und Hans sogar noch etwas<br />

Wirtschaftsgeld mit nach Hause in die Haushaltskasse der Familie.<br />

Mein Vater war damals schon geraume Zeit Mitglied im Ufhover<br />

Schützenverein, dieser war aber inzwischen in der SA gleichgeschaltet. Er trug<br />

nun stolz, wie viele andere junge Männer auch, eine neue braune Uniform und<br />

war damit sehr einverstanden. Er soll darin sogar gut ausgesehen haben, so<br />

erzählte es später meine Mutter. Häufig ging er mit seiner neuen Uniform<br />

stramm zum Dienst und auch zu Aufmärschen. Bei einem solchen<br />

Großaufmarsch der SA auf dem Erfurter Domplatzin Erfurt sah er Adolf Hitler<br />

auf dem Domstufen stehen. Davon hat er später oft sehr freudig erzählt. Vater<br />

nahm bestimmt auch an SA-Sonderaktionen teil, beim Zerschlagen von<br />

Fensterscheiben in jüdischen Geschäften und beim Verbrennen von Büchern<br />

im berüchtigten November 1938. Denn so sagte er später einmal sich selbst<br />

entschuldigend:<br />

„Befehl ist eben Befehl! Da kann man nichts machen!“<br />

Aber es ging ja nun endlich dank Adolf Hitler endlich wieder aufwärts nach der<br />

langen Weltwirtschaftskrise, der Inflation und der entbehrungsreichen<br />

Arbeitslosigkeit. Es war auch wieder mehr Geld in der Familienkasse und man<br />

konnte sich nun endlich wieder lang ersehnte Wünsche erfüllen. <strong>Ein</strong>em jungen<br />

Ehepaar fehlt es bekanntlich noch an Vielem.<br />

<strong>Ein</strong>er der allerersten <strong>Ein</strong>drücke meines ganz jungen Daseins war, dass meine<br />

Mutter mitten in der Nacht entsetzlich weinte. Es war das Jahr 1939 und mein<br />

Vater war zur Wehrmacht eingezogen worden.<br />

Dieses Weinen meiner geliebten Mutter ist mir für immer in meinem<br />

Gedächtnis geblieben und hatte in mir damals diffuse Ängste ausgelöst. Der<br />

Krieg gegen Polen hatte gerade begonnen und war auch nach drei Wochen<br />

schon wieder vorbei. Zuerst kam Vater als Soldat nach Norwegen und schickte<br />

3


von dort regelmäßig große Päckchen nach Hause. Wir Kinder freuten uns über<br />

Malbücher mit Geschichten von Königen, Königinnen, Prinzen und<br />

Prinzessinnen und über Ölsardinen. <strong>Ein</strong>mal schickte mir Vater auch ein Paar<br />

Skier nach Hause, mit denen ich im Winter auf dem verschneiten Sülzenberg,<br />

dem Ufhover Hausberg, fahren konnte. Ich habe es eigentlich sehr schnell<br />

gelernt und traute mir auch bald zu, die steilere Abfahrt auf der Dorfseite des<br />

Sülzenberges hinunter zu fahren. Aber das war nicht ungefährlich, denn dort<br />

standen überall alte Obstbäume.<br />

Als Vater einmal zum Urlaub nach Hause kam, brachte er auch einen schönen<br />

Bildband von Norwegen mit. Es waren Bilder von grandiosen Landschaften der<br />

Norwegischen Fjorde zu sehen. Ich hatte solche Bilder noch nie gesehen. Vater<br />

schwärmte von diesen Landschaften und auch von den Menschen in Norwegen.<br />

Er war ja bisher auch noch nie aus dem engeren Kreis um Langensalza<br />

hinausgekommen und kannte die Welt auch nur von Bildern. Aber er sagte oft:<br />

„Wenn der Krieg zu Ende ist, dann fahren wir alle zusammen einmal nach<br />

Norwegen und machen dort einmal Urlaub. Diese herrlichen Landschaften<br />

müsst ihr auch einmal ansehen."<br />

Mein Vater hat aber Norwegen nie wieder gesehen. Ich bin viel zusammen mit<br />

meiner Frau, aber erst nach der Wende, dorthin gefahren. Es sind tatsächlich<br />

großartige und sehr beeindruckende Landschaften, die uns so oft genug wieder<br />

nach Norwegen zogen.<br />

<strong>Ein</strong>es Nachts weinte unsere Mutter wieder sehr schlimm. Eltern können zwar<br />

ihre Kinder trösten, aber wie sollte ich meine weinende Mutter trösten. Ich<br />

kroch zu ihr ins Bett und wir beide heulten gemeinsam, aber ich wusste nicht,<br />

warum sie weinte. Ich streichelte sie und sie schloss mich in ihre Arme.<br />

Danach erzählte sie mir:<br />

„Von deinem Papi ist wieder ein Brief angekommen. Er schrieb darin, dass<br />

seine Division wird von Norwegen an die Narva-Front verlegt wird.“<br />

Damals begriff ich noch nicht den Ernst dieser Mitteilung und auch nicht die<br />

Gefahren, die damit verbunden waren. Ich sah dies jedoch Mutters Gesicht an<br />

und ahnte, dass das nicht gut für unseren Vater ist. Unsere Mutter machte sich<br />

meist große Sorgen, sie liebte unseren Vater sehr und sie hatte große Angst<br />

ihren Mann im Krieg zu verlieren. <strong>Ein</strong>ige Monate später kam wieder ein Brief<br />

von Vater aus einem Lazarett in Suwalki oder auch Sudauen genannt. Das ist<br />

ein polnisches Dorf, vielleicht auch eine Stadt, an der russischen Grenze. Oder<br />

ist es heute umgekehrt? Unser Vater war an der Front verwundet worden und<br />

hatte einem Durchschuss im rechten Oberschenkel und er bat darum, dass<br />

Mutter und ich zu ihm kommen sollten, um ihn zu besuchen. Mein Großvater<br />

Adolf Freitag, der Vater meiner Mutter, war im ersten Weltkrieg Sanitäter und<br />

hatte genügend einschlägige Erfahrungen bei Kriegsverwundungen:<br />

„Was, nur ein einfacher Oberschenkeldurchschuss ohne Verletzung des<br />

Knochens? Da brauchst du keine Angst zu haben. Das ist nicht so schlimm,<br />

davon bleibt überhaupt nichts zurück. Er kommt bestimmt bald wieder auf die<br />

Beine. Schlimmer wäre es, wenn der Knochen verletzt worden wäre."<br />

Großvater hatte Recht, wie meistens. Er war ein sehr kluger und auch ein sehr<br />

lebenserfahrener Mann:<br />

„Mein Mädchen, aber den Jungen, den lässt du hier. Stell dir nur einmal vor,<br />

unterwegs passiert dir etwas bei den vielen Bombenangriffen in Berlin. Was<br />

soll der Junge dann ganz allein machen? Der kennt sich doch nicht aus, der ist<br />

dann völlig hilflos. Aber wenn dem Jungen etwas passieren sollte, könntest du<br />

4


das ertragen? Hier bei uns in Ufhoven ist er wesentlich besser aufgehoben und<br />

in jedem Falle sicher."<br />

Mitten in der Nacht, als wir Kinder schiefen, fuhr eines Tages unsere geliebte<br />

Mutter fort, um unseren Vater im Lazarett zu besuchen.<br />

„Opa, was ist den eigentlich ein Lazarett?“<br />

„Das ist ein Krankenhaus für verwundete Soldaten. So ein Lazarett gibt es auch<br />

in Langensalza. Es hat ein rotes Kreuz auf dem Dach. Hast du das schon einmal<br />

gesehen?“<br />

„Warum ist da ein rotes Kreuz oben drauf?“<br />

„Damit jeder sieht, dass es ein Lazarett ist.“<br />

„Warum ist denn mein nicht in dem Lazarett?“<br />

„Du, es gibt ganz viele solcher Lazarette.“<br />

Morgens, als wie aufwachten,<br />

war unsere Mutter schon nicht mehr bei uns. Außerdem wurde sie von<br />

schlimmen Befürchtungen begleitet, aber davon hatten wir Kinder noch<br />

keinerlei Ahnungen. Unser Großvater hatte aber Ahnungen und er verfolgte<br />

deshalb sehr genau die Berichte in der Zeitung. Er saß am Tische beim<br />

Abendessen und blätterte wie immer in seiner Zeitung, die er schon am Morgen<br />

gelesen hatte, aber immer noch einmal zur Hand nahm:<br />

„Du! Ich weiß gar nicht, ob die Frontsoldaten überhaupt wissen, wie es in ihrer<br />

Heimat zugeht und wie unsere Städte zerbombt werden? Denen wird bestimmt<br />

nicht die Wahrheit gesagt.“<br />

Zweideutig fügte er noch hinzu:<br />

„Wir erfahren ja auch nur die volle Wahrheit auch nur aus der NS-Zeitung oder<br />

aus der Göbbelsschnauze da oben. Das kleine Radio hing an der Wand und<br />

verkündigte die Reden von Adolf Hitler oder von Göbbels. Dazu grinste er<br />

hintergründig und sah mich an und grinste dazu:<br />

„Das könnte ja auch nur ihre Kampfkraft unserer heldenhaften Soldaten<br />

schwächen."<br />

Aber ich hatte den Sinn seiner dieser Rede nicht verstanden. Großvater sagte<br />

oft so unverständliche Sachen zu mir oder zu Omi.<br />

Auf der Hinreise nach Berlin stand der Zug mit unserer Mutter, lange zeit auf<br />

der Strecke herum. In Berlin gab es wieder einen Bombenangriff. Als sie<br />

endlich in Berlin mit dem Zug ankamen, musste Mutter mit vielen anderen<br />

Leuten mitten in der Nacht von einem Bahnhof im dunklen Berlin zu einem<br />

anderen Bahnhof laufen. Der Weg wurde nur erhellt durch brennende Häuser.<br />

Die Gleise waren inzwischen durch Bomben zerstört worden und ragten<br />

kerzengerade in die Höhe. Der nächste Zug nach Königsberg hat wieder<br />

irgendwo auf der Strecke gestanden, weil die Züge zur Front und die Züge mit<br />

verwundeten Soldaten, die zurück fuhren, stets Vorfahrt hatten. Es muss zwar<br />

eine sehr abenteuerliche Reise gewesen sein, denn unsere Mutter hatte<br />

anschließend sehr viel zu erzählen Wir Kinder waren aber heilfroh, als unsere<br />

liebe Mutter wieder wohlbehalten zu Hause war. Aber Mutter war auch froh<br />

und glücklich, endlich wieder zu Hause angekommen zu sein und sie war auch<br />

zufrieden, mich auf diese lange und strapaziöse Reise nicht mitgenommen zu<br />

haben.<br />

Immer wenn wieder ein Brief von unserem Vater kam, weinte meine Mutter<br />

nachts und ich habe stets mit ihr geweint. Ich fühlte mich dann so unendlich<br />

5


hilflos und hätte zu gern meine liebe Mutter getröstet. Aber meine Oma lacht<br />

mich stets aus, wenn ich wieder geweint hatte.<br />

Sie hat dann oft mit mir geschimpft, aber bestimmt meinte sie es ganz anders:<br />

„Mädchen, ja kleine Mädchen, die dürfen schon einmal weinen. Aber größere<br />

Jungen dürfen es nicht! Adolf Hitler braucht doch gerade Jungen, die hart sind<br />

wie Kruppstahl, schnell wie die Windhunde und zäh wie Leder. Aber du mein<br />

Schatz, was aber machst du? Du liegst in deinem Bettchen und heulst herum.<br />

Sag einmal, Du spielst doch gerne mit Egon Indianer. Weißt eigentlich, dass<br />

Indianer keine Tränen vergießen, auch wenn sie Kummer und Schmerzen<br />

haben. Otmar, Indianer, die weinen nie! Die kennen einfach keine Schmerzen<br />

und keine Tränen.“<br />

„Oma, woher weißt du das mit den Indianern?"<br />

„Ich war zwar noch nicht in Amerika und auch noch nicht bei den Indianern.<br />

Aber. das habe ich in einem Indianerbuch gelesen."<br />

„Oma, hast du das Buch noch?"<br />

„Willst du das Buch etwa lesen? Du kannst doch noch gar nicht lesen."<br />

„Aber vielleicht sind Bilder in dem Buch und die könnte ich mir morgen<br />

ansehen."<br />

„Aber ich weiß gar nicht mehr, wo dieses Buch hingekommen ist. Ich frage<br />

einfach deinen Opa. Der kennt sich mit Büchern besser aus als ich."<br />

„Oma, wie können die Indianer einfach den Schmerz besiegen?"<br />

„Junge, wenn ich das ganz genau wüsste, dann könnte ich das auch. Ich würde<br />

es dir sogar verraten"<br />

„Aha Oma! SoSo ganz genau weißt du es doch nicht. Oder, vielleicht hast du<br />

die Geschichte mit den Indianern einfach nur erfunden, damit ich nicht weine?"<br />

„Ich habe überhaupt noch nichts erfunden, aber für dich wird es jetzt Zeit zum<br />

Schlafen."<br />

„Gute Nacht, mein kleiner neugieriger Schatz".<br />

Großmutter schließt leise die Tür und geht:<br />

„Ach ja, da habe ich mir schon wieder etwas eingebrockt. Morgen will er sich<br />

bestimmt das Buch angucken und dann ist es nicht da. Dann macht er wieder<br />

Krach. Man darf dem nichts erzählen. “<br />

Für mich blieb das Weinen meiner Mutter nicht ohne Folgen. Es hatte in mir<br />

schlimme Ängste ausgelöst. Ich konnte schlecht einschlafen, und wurde nachts<br />

wieder munter. Im Traume schrie ich und nässte auch ein, was schon längst<br />

vergessen war. Kinder sind wahrscheinlich immer die ersten Opfer eines<br />

Krieges. Sie können damit noch nicht rational umgehen. Wer kann es aber<br />

überhaupt? Kinder können ihre Ängste nur emotional verarbeiten und das hat<br />

eben Folgen.<br />

<strong>Ein</strong>mal sagte Großvater so beiläufig am Mittagstisch:<br />

„Der Krieg wird an Ufhoven vorübergehen.“<br />

Ich weiß nicht mehr, woraus er sich dabei bezog, aber der Satz ist nicht richtig<br />

und er beunruhigte mich. Der Krieg war doch so weit weg, wie kann der jetzt<br />

hierher kommen? Aber der Krieg ist eigentlich überall im ganzen Lande, in<br />

jedem Hause und auch in jeder Familie, in der die Väter und auch schon<br />

manchmal die Söhne fehlen und an der Front kämpften. Der Krieg war damals<br />

noch ganz weit weg, irgendwo im fernen Russland. Aber es sollte doch noch<br />

etwas passieren, was damals für utopisch, unvorstellbar und gänzlich<br />

unwahrscheinlich galt. Der Krieg auch noch zu uns kommen wird. So ganz<br />

allmählich wurde auch die Liste der vermissten und gefallenen Soldaten aus<br />

unserem Dorfe immer länger und jedes Mal eilte eine solche Nachricht vom<br />

6


Tode eines jungen Menschen durch das Dorf und schreckte wieder die<br />

Menschen auf, denn alle kannten ihn.<br />

Wenn wieder einmal Bombenalarm durch die Sirenen im Dorfe ausgelöst<br />

wurde, mussten wir in den Keller und hatten große Angst, denn es könnte ja<br />

auch einmal eine Bombe unser Haus zerstören. Was machen wir dann? Nachts,<br />

wenn die Sirenen heulten und wir Kinder doch fest schliefen, blieb Mutter<br />

meist bei uns, stets in der Hoffnung, es wird schon irgendwie gut gehen. Aber<br />

der Tot war nahe und fast jeder hatte sich schon einmal mit dem Gedanken<br />

beschäftigt, durch Bomben sterben zu können. Wenn schönes Wetter war, sah<br />

man oben am Himmel die amerikanischen und englischen Bombengeschwader<br />

wie Silberfische glänzend dahin fliegen und wir hörten das Brummen der<br />

Motoren und es hörte sich sehr bedrohlich an. Wir wussten, dass sie voll<br />

geladen waren mit Bomben, einer tödlichen Last für viele Menschen.<br />

Großvater sagte dazu einmal:<br />

„Ach, ihr braucht keine Angst zu haben, so ein kleines Dorf wie Ufhoven<br />

greifen die nicht mit Bomben an, die wollen möglichst schnell sehr viele<br />

Menschen töten. Die Bomben kosten doch auch Geld und da muss sich der A<br />

bwurf auch lohnen.“<br />

Aber das tröstete mich nicht und meine Ängste trug ich noch stets und auch<br />

noch später sehr lange mit mir herum. In der Praxis des Zahnarztes Gutbier und<br />

auch an anderen Stellen, hing damals ein Plakat, darauf sah man ein<br />

menschliches Skelett in einem Flugzeug sitzend und es bewarf die Menschen<br />

unten auf der Straße mit Bomben. Manchmal bebte sogar die Erde in Ufhoven,<br />

wenn in Gotha-Ost oder auch in Kassel Werkanlagen bombardiert wurden und<br />

anschließend brannten nachts diese Städte lichterloh. Der Schein der<br />

brennenden Städte stand hoch am Himmel wie ein Fanal.<br />

Der Tiefflieger!<br />

<strong>Ein</strong>es Tages spielte die Hitler-Jugend unseres Dorfes nach einem Geländespiel<br />

noch Fußball auf dem Sportplatz des Sülzenberges. Lothar, mein Freund und<br />

ich, wir waren mit der Hitler-Jugend mitgegangen, denn wir wollten noch beim<br />

Fußballspielen zusehen. Mein Cousin Egon spielte gut Fußball und das wollten<br />

wir und ansehen, weil er damit mächtig geprahlte. Angeblich konnte er es viel<br />

besser als wir. Am liebsten hätten wir ja mitgespielt, aber die Großen ließen<br />

mich nicht mehr spielen. Ich hatte nämlich unlängst ein Selbsttor geschossen.<br />

Ich wusste damals noch nicht, dass in der Halbzeit die Seiten gewechselt<br />

werden.<br />

Wir beide standen zwischen der großen und der kleinen Linde. Dort stand<br />

damals eine<br />

gemauerte Hütte, in der die Sportgeräte aufbewahrt wurden. Da die Wand der<br />

Hütte von der Sonne schön aufgewärmt war, lehnten wir uns an die warme<br />

Wand, um uns den Rücken zu wärmen. Plötzlich brüllte einer der größeren<br />

Jungen über den ganzen Sportplatz hinweg:<br />

„Tiefflieger!!!"<br />

Ich sah noch, wie das relativ kleine Flugzeug heran geflogen kam. Es kam aus<br />

der westlichen Richtung. Dann sah ich noch viele tausende kleine<br />

Staubwölkchen auf dem Sportplatz aufsteigen und dann rannte ich wohl<br />

instinktiv davon. Erst durch ein Fichtenwäldchen, dann über einen Gartenzaun,<br />

über Blumenbeete hinweg, durch einen Rosenbusch, vorbei an den dreizehn<br />

Kastanien, immer den Hang hinab zum Erbsbrunnen. Am liebsten wäre ich dort<br />

7


in die gemauerte <strong>Ein</strong>fassung des Erbsbrunnen gekrochen, nur um ganz sicher<br />

zu sein. Ich hatte große Angst und rannte um mein Leben. An meinen Beinen,<br />

meinen Armen und im Gesicht war ich völlig zerkratzt, ich blutete überall und<br />

meine neue kurze Hose hatte mehrere Dreiangel. „Wo ist Lothar?“ Schoss es<br />

mir durch den Kopf. Wir saßen doch soeben noch unmittelbar nebeneinander.<br />

Wir hatten uns aber zu Hause nicht abgemeldet und meine Mutter wusste nicht,<br />

wo ich war. Aber andere Leute im Dorfe hatten gesehen, dass wir mit Egon bei<br />

der Hitlerjugend waren. Im Dorf unten hatte man auch das Fugzeug gesehen<br />

und auch die Schießerei oben auf dem Sülzenberg war nicht unbemerkt<br />

geblieben. Die Mütter suchten jetzt angsterfüllt ihre Kinder. Ich hörte, dass<br />

meine Mutter nach mir rief und rannte gleich zu ihr. Sie drückte mich ganz fest<br />

an sich und dann gab sie mir noch eine Ohrfeige. Darüber war ich völlig<br />

durcheinander. Danach schrie sie mich auch noch an:<br />

“Dort gehst<br />

du nie wieder hin!"<br />

Meine Wange schmerzte noch am nächsten Tag. Meine Mutter hatte mich zum<br />

allerersten Mal gehauen und so etwas schmerzt umso mehr. Ich war<br />

durcheinander und konnte meine Gedanken nicht mehr ordnen. Die<br />

schlimmsten Gedanken jagten durch meinen Kopf: Meine Mutter liebt mich<br />

nicht mehr. Heimwärts hatte sie mich aber wieder umarmt und immer wieder<br />

gestreichelt.<br />

„Aber warum hast sie mich gehauen?“ Ich wollte schon fragen. Aber ich traute<br />

mir nicht, meine Mutter danach zu fragen, was sie damit eigentlich meinte.<br />

Denn auf den Sülzenberg waren wir doch schon so oft. Aber es war ein großes<br />

Glück, dass keinem der Kinder beim Tieffliegerangriff etwas passiert ist. Aber<br />

es wurde damals oft erzählt, dass Bauern bei Feldarbeiten von Tieffliegern und<br />

erschossen worden sind. Ganze Kuhherden wurden auf der Weide einfach<br />

vernichtet. <strong>Ein</strong> Tiefflieger stürzte sogar in der Ufhover Flur ab, aber wir durften<br />

nicht näher heran kommen, weil die Polizei und Soldaten alles abriegelten.<br />

Selbst als der Krieg schon längst vorbei war, habe ich noch sehr lange vom<br />

Krieg geträumt und ich bin oft nachts schweißgebadet aufgewacht. Ich war im<br />

Traum immer auf der Flucht und wollte mich irgendwo verstecken und konnte<br />

anschließend nicht wieder einschlafen. Ich hatte allerdings keine eigenen<br />

Erlebnisse und Bilder vom Krieg, aber die kindliche Phantasie schafft sie sich<br />

eben selbst, wenn über den Krieg erzählt wird. Meine Großmutter fragte<br />

ziemlich aggressiv:<br />

„Na, du weist doch sonst alles. Was sagst du denn nun dazu?“<br />

„Dass hatte ich nie erwartet!“<br />

Antwortete Großvater nachdenklich.<br />

„Nun kommt der Kriegt auf so eine Weise doch noch zu uns. Die schissen uns<br />

unsere Kinder noch auf dem Schulweg tot. Jetzt kannst du dich nicht einmal<br />

mehr vors Haus stellen. Hatte nicht Göring versprochen, dass kein fremdes<br />

Flugzeug deutschen Boden überfliegen kann.“<br />

„Jetzt kann der sich doch noch Meier nennen.“<br />

Mit meinem Freund Lothar<br />

habe ich bestimmt schon als Dreijähriger gespielt. Es kann auch noch früher<br />

gewesen sein. Meistens spielten wir in unserer Straße oder auf unserem Hof,<br />

der war groß genug und schön gepflastert mit Travertinplatten, die mein<br />

Großvater selbst verlegt hatte. Aber auch im Gras am Schönstedter Weg<br />

konnten wir sehr schön spielen. Oft kam noch Hans Metz dazu. Manchmal<br />

8


spielten wir auch am Hohlweg an der nach Zimmern führenden Straße. Der<br />

Hang war ziemlich steil und oft spielten wir dort Bergsteiger, aber meistens<br />

spielten wir Krieg. Ich hatte eine kleine Kanone mit der Erbsen oder kleine<br />

Steine verschießen konnte. Unsere Spielplätze verlagerten sich aber ganz<br />

allmählich immer weiter von unserem Hause weg. Meine Mutter hatte jedoch<br />

stets etwas dagegen, wenn wir weiter weg gingen. Sie wollte uns meistens um<br />

sich haben und uns beobachten und beschützen können. Während eines Krieges<br />

entwickeln auch Mütter ständig Ängste um ihre Kinder. Aber dann eroberten<br />

wir für uns auch die bisher ganz streng verbotene Pferdeschwemme:<br />

„Dass Ihr ja mir nicht an der Pferdeschwemme spielt, denn dann könntet ihr ins<br />

Wasser fallen und ertrinken."<br />

Aber uns trieb die Neugier an, denn die anderen Kinder spielten auch alle an<br />

der Pferdeschwemme. <strong>Ein</strong>mal konnten wir beobachten, wie ein Pferd in der<br />

Pferdeschwemme gebadet wurde. Aber wir waren überrascht, denn das Wasser<br />

reichte dem Pferd gerade bis an der Bauch. Anschließend habe ich neben das<br />

Pferd gestellt, da wurde uns klar, dass die Pferdeschwemme gar nicht so tief<br />

sein kann. Dass musste ich unbedingt sofort ausprobieren und Lothar hielt mich<br />

an der Leine fest, damit mir nicht passieren konnte. Die Leine war unsere<br />

Wäscheleine vom Hof und ich wusste, erst morgen will Mutter wieder<br />

waschen. Wenn mir aber doch etwas passieren sollte, konnte mich Lothar<br />

halten und wieder herausziehen. Das andere Ende der Leine hatte ich mir um<br />

die Brust gebunden. Lothar behütete auch meine Hose und mein Hemd. Ich<br />

ging ganz nackt und ganz sehr vorsichtig in die Pferdeschwemme hinein und<br />

dann immer weiter bis zum Überlauf. Dort stand mir gerade das Wasser erst bis<br />

zum Kinn und nun wussten wir, dass wir in der Pferdeschwemme nicht<br />

ertrinken können, man muss sich nur wieder aufrecht hinstellen. Auf diese neue<br />

Erkenntnis war ich natürlich sehr stolz. Eigentlich wollt eich es gleich meiner<br />

Mutter erzählen, aber ich wartete noch ab. Ich wusste nicht, wie sie darauf<br />

reagieren würde. Vielleicht lässt sie uns erst recht nicht an die<br />

Pferdeschwemme? Aber ein paar Tage später, ich war noch immer stolz auf<br />

meine Entdeckung, habe ich es meiner Mutter doch erzählt, denn Lothars<br />

Mutter hatte es auch schon im Dorfe erfahren und wenn es meine liebe Mutter<br />

von anderen Leuten erfährt, dann regt sie sich nur umso mehr auf. Deshalb<br />

erzählte ich es ihr am Frühstückstisch und sie wollte es mir erst nicht glauben<br />

und fing an zu schimpfen, weil wir dort nicht hingegen sollten:<br />

„Erzählst du mit etwa Märchen?“<br />

„Nein Mami! Ich kann es dir noch einmal zeigen.“<br />

Wir gingen vor zur Pferdeschwemme und meine Großmutter kam auch noch<br />

mit. Dann habe ich es allen noch einmal vorgemacht und bin noch einmal ganz<br />

nackt durch die Pferdeschwemme gegangen.uNun endlich war Mutter auch<br />

davon überzeugt, dass wir in der Pferdeschwemme nicht ertrinken können. Seit<br />

diesem Tag durfte ich mit Lothar immer an der Pferdeschwemme spielen.<br />

Mutter war nun beruhigt und wusste nun, dort in der Pferdeschwemme besteht<br />

keine Gefahr für uns. Aber nach dem Triumph kommt meist die Ernüchterung.<br />

An Nachmittag dieses Tages kamen wir beide beim Scherenschleifer vorbei,<br />

weil sich Lothar zu Hause etwas holen wollte. Dort standen vier größere<br />

Jungen, die schon in die Schule gingen und freudestrahlend empfingen. Sie<br />

hatten auf das Treppegeländer, genau vor das<br />

Werkstattfensterfenster des Scherenschleifers, eine leere Weinflasche<br />

hingestellt. Als wir näher kamen reizten sie uns:<br />

„Na, ihr beiden kleinen Hosenscheißer! Wo wollt ihr denn hin? Ihr könnt doch<br />

bestimmt nicht richtig werfen und vom treffen wollen wir erst gar nicht reden.<br />

Ihr beide könnt diesem Stein bestimmt noch keine drei Meter weit<br />

9


werfen. Aber angeben, ja das wollt ihr schon wie die Großen, nur weil der<br />

Kleine hier splitternackt durch die Pferdeschwemme gelaufen ist. Das kann<br />

doch jeder, sogar mit Badehose. Aber du hast wohl keine?“<br />

Das konnten und wollten wir aber nicht auf uns sitzen lassen, denn wir hatten<br />

schon oft das Werfen geübt und nach Hunden oder Tauben geworfen und<br />

getroffen hatten wir auch schon oft. Mein Opa hatte uns sogar Katapulte<br />

gebastelt, mit denen konnten wir noch viel besser schießen, denn wir hatten es<br />

fleißig geübt. In diesem Moment hatte Lothar bereits den Stein in der Hand und<br />

warf den Stein, aber er flog an der Flasche vorbei. Die Flasche stand noch<br />

unversehrt dort, wo sie hingestellt wurde. Sie stand noch ruhig auf dem<br />

Geländer, nur die Fensterscheibe des Scherenschleifers war in tausend Stücke<br />

zersprungen. Dieser Mann war nämlich sehr unbeliebt und sollte bestraft<br />

werden. In diesem Augenblick, als die Scheibe zum letzten Male klirrte, waren<br />

die größeren Jungen bereits alle schnell verschwunden. Der Scherenschleifer<br />

hatte jedoch alles von innen genau beobachtet. Ich rannte sofort zur weg und<br />

versteckte mich in einem Gebüsch, aber es passierte überhaupt nichts. Lothar<br />

ist aber dummer Weise nach Haus gelaufen und hatte unter seinem Bett<br />

Zuflucht gesucht. Der Scherenschleifer hatte seine Flucht noch beobachten<br />

können und so war es ziemlich leicht Lothar zu finden und seine Mutter konnte<br />

ihn an einem Bein unter seinem Bette hervorzuziehen. Er hatte zwar Angst und<br />

ein ganz schlechtes Gewissen, aber es ist ihm nichts passiert. Sein Großvater<br />

sprang gerne ein und hat gern die Scheibe bezahlt und war sogar ganz stolz<br />

darauf, dass auch sein Enkelsohn einmal ein richtiger Junge wird. Mein<br />

Großvater hatte mir aber eingeschärft:<br />

„Wenn ihr beide schon einmal ausreißen müsst, dann rennt nie nach Haus, lauft<br />

sonst wohin und versteckt euch. Dann, so nach einer Stunde kommt ihr aus<br />

einer ganz anderen Himmelsrichtung langsam und vergnügt wieder zurück und<br />

dann tut ihr so, als wäre nichts gewesen. Ihr wisst dann jedenfalls überhaupt<br />

nichts. Ist das klar?"<br />

Später mussten wir seinen Rat noch oft beherzigen. Dazu hatten wir zwischen<br />

dem Wehrbrückchen und der Pferdeschwemme mehrere Sprungstangen<br />

stationiert, die mir mein Cousin Egon überlassen hatte, er brauchte sie nicht<br />

mehr. Damit konnte man schnell über den Mühlgraben springen und dabei<br />

sogar einen Moment fliegen.<br />

Es war Kirschenzeit und wir kannten schon die Bäume mit den besten<br />

Kirschen am Kirschweinberg, später kannten wie alle Obstbäume im Dorf und<br />

besuchten sie noch rechtzeitig vor dem eigentlichen Erntebeginn, um uns<br />

unseren Anteil zu sichern. Manchmal zogen die Eigentümer die schlechteren<br />

Karten. Die Ostbäume in der Ufhover Flur aber wurden damals alle von der<br />

Gemeinderwaltung verpachtet und sie wurden meistens von Kindern gut<br />

bewacht. Manchmal fingen wir mit den Bewachern einen Streit an und oft gab<br />

es auch Hiebe, um die Bewacher abzuschütteln. Dann hatten wir wieder freie<br />

Bahn. Wir hatten uns schon die Bäuche mit süßen Kirschen voll geschlagen, da<br />

kam ein Bauer herangestürmt. Er hatte uns bereits oben auf den Bäumen<br />

entdeckt, denn der Kirschbaum, auf dem wir saßen, bewegten sich auffällig<br />

stärker als alle anderen. Aber er schrie zu unsrem Glück schon von weitem<br />

herum. So konnten wir uns noch rechtzeitig davon machen und sprangen mit<br />

unseren Sprungstangen ans andere Ufer des Mühlgrabens. Der Bauer war aber<br />

in Rage und er verfolgte uns, um unseren Mundraub zu sühnen. Wir waren<br />

jedoch viel schneller. Leider fiel mir meine Sprungstange aus der Hand und<br />

zurück an das andere Ufer, dem Bauern direkt vor die Füße und nun wollte er<br />

hinter uns her, aber er fiel klatschend, fluchend und schimpfend in das Wasser<br />

des Mühlgrabens und damit endete seine Verfolgung. Bei der Benutzung der<br />

Sprungstange gibt es nämlich einen Trick, man muss möglichst ganz oben<br />

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zupacken, sonst kommt man nie hinüber. Wir machten uns lachend davon und<br />

hofften, dass er uns nicht erkannt hatte. Unsere Sprungstangen fanden wir<br />

später in der Pferdeschwemme und dann brachten wir sie wieder dorthin<br />

gebracht, wo wir sie eventuell wieder brauchen konnten. Dieses Mal war ja<br />

alles noch gut gegangen, aber haben wir beim nächsten Mal auch so viel<br />

Glück? Vielleicht schreit nicht jeder Bauer rechtzeitig, um uns zu warnen.<br />

Die <strong>Ein</strong>quartierung der Indianerfamilie<br />

Unser Dorf war während des Krieges voller fremder Menschen und es wurden<br />

jeden Tag mehr. Fast alle Häuser hatten <strong>Ein</strong>quartierungen und man musste<br />

enger zusammenrücken, um die vielen Fremden aufnehmen zu können.<br />

Hinterm Dorf wurden aus Holzbrettern hastig Behelfsheime gebaut, um noch<br />

mehr Menschen unterzubringen. Im Sägewerk arbeiteten Russen, die man an<br />

der Front gefangen genommen hatte. Auf dem Rücken ihrer Mäntel hatten sie<br />

ein SU-Zeichen und sie wurden von der SS scharf bewacht. Die russischen<br />

Soldaten waren in der Spinne untergebracht. Die "Spinne" war jetzt ein<br />

Außenlager des KZ Buchenwald. Beim Bäcker Howe arbeitete ein Franzose,<br />

der jedoch im Dorf sehr beliebt war, weil er als Bäcker etwas konnte und als<br />

der Bäckermeister Howe krank war, übernahm er zu aller Zufriedenheit dessen<br />

Arbeit.<br />

Großeltern bekam auch eine <strong>Ein</strong>quartierung aus Franfurt am Main, die wohnten<br />

ab jetzt in Opas guter Stube. Es war eine seiner vielen Schwestern, insgesamt<br />

waren es wohl sechzehn Geschwister. Aber die Geschwister lebten nicht mehr<br />

alle. <strong>Ein</strong>ige waren bereits gestorben. Andere kamen noch zur Welt, als die<br />

älteren Kinder das Haus bereits verließen. Alle Kinder in einem sehr kleinen<br />

Häuschen am Stadtweg in Ufhoven aufgewachsen. Die kleinen und sehr<br />

niedrigen Schlafzimmer waren kniehoch mit Stroh gefüllt und so fand jeder<br />

irgendwo noch ein Plätzchen zum Schlafen.<br />

Die Schwester aus Frankfurt hatte einen Mann geheiratet und der hieß Lortz.<br />

Man hatte sich schon viele Jahre nicht gesehen und nichts voneinander hören<br />

lassen, deshalb gab es anfangs auch sehr viel zu erzählen, um die<br />

Informationsverluste auszugleichen. Dabei war noch eine Tochter, die etwa<br />

sechzehn Jahre alt war. Sie hatte ganz lange blonde Haare, die mir eigentlich<br />

sehr gefielen. Sie stieg bei schönem Wetter mit der Leiter auf unser<br />

Garagendach und dort spielte sie auf ihrem Akkordeon und sang dazu<br />

stundenlang irgendwelche Schlager. Aber in unserer Garage stand schon lange<br />

kein Auto mehr. Am Beginn des Krieges wurde es requiriert. Ich war etwa drei<br />

Jahre alt, als Großvater einmal auf dem vorderen Hof sein Auto putzte. Er hatte<br />

mir auch noch dabei geholfen, in seinen gebrauchten Opel hoch zu klettern,<br />

weil ich ohne seine Hilfe nicht hinein gekommen wäre. Erst spielte ich am<br />

Lenkrad, aber dann gelang es mir einen Hebel zu lösen. Da aber der vordere<br />

Hof etwas abschüssig war, rollte das Auto davon und prallte gegen das Tor und<br />

hob es aus den Angeln und fiel um. Als aber später bei Kriegsbeginn sein Auto<br />

für Kriegszwecke requiriert wurde, sagte Großvater:<br />

„Es wäre besser gewesen, wenn es der Kleine das Auto im vorigen Jahre gleich<br />

kaputt gemacht hätte. Nun haben die es und lassen es zerschießen.“<br />

Meine Großmutter konnte sich immer so herrlich und schnell aufregen. Aber<br />

besonders darüber, dass die schöne Blonde sich auf das Garagendach setzte,<br />

um Akkordeon zu spielen und zu singen:<br />

„So etwas hat in Ufhoven noch niemand gemacht. Kann man sich beim<br />

Akkordeonspielen nicht auf einen Stuhl oder auf eine Bank setzen? Das sind<br />

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doch unanständige Methoden. Machen das in Frankfurt alle so und setzen sich<br />

auf die Dächer, wenn sie Akkordeon spielen wollen? Die will doch nur von<br />

Männern gesehen werden und anbandeln. Da kann sie sich doch gleich vor die<br />

Kaserne oder vor den Flughafen in Langensalza setzen und Akkordeon spielen.<br />

Da hat sie bestimmt schneller Glück."<br />

Auch deshalb wurde die Situation in unserem Hause so ganz allmählich<br />

gespannter und auch etwas schwieriger, denn jeder wollte seine bisherigen<br />

Gewohnheiten beibehalten, aber dabei kam man miteinander in Konflikte. Ich<br />

hatte einmal auf einer Karte von "Großdeutschland" nachgesehen, wo Frankfurt<br />

am Main liegt. Es schien mir eine sehr große Stadt zu sein. <strong>Ein</strong>mal habe ich die<br />

schöne Blonde gefragt, es interessierte mich wirklich:<br />

„He du! Wie viele <strong>Ein</strong>wohner hat eigentlich Frankfurt."<br />

Aber die sah mich nur verächtlich über die Schulter herab an und verzog ihren<br />

rot gefärbten Mund, aber sie sagte nichts. Ich schwor ihr deshalb, das wirst du<br />

Indianerweib bestimmt noch bereuen müssen. Die schöne Blonde hatte eines<br />

Tages gerade ihre feine Wäsche auf die Leinen auf unserem Hof gehängt. Ich<br />

überlegte einige Zeit, wie ich sie am besten schädigen kann, aber dann holte ich<br />

mir mein Blasrohr aus Großvaters Werkstatt. Dort hatte ich es nämlich vor<br />

meiner Mutter sicher versteckt. Meine Mutter durfte es nämlich nie in Hand<br />

bekommen. Sie wollte es mir es schon lange wegnehmen und zerbrechen, weil<br />

ich mit Kirschkernen nach meiner kleineren Schwester geschossen hatte. Ich<br />

pflückte mir vorn an der Pferdeschwemme eine Handvoll reifer<br />

Holunderbeeren und steckte sie in meinen Mund, danach stieg ich auf den<br />

Boden unseres Hauses hoch und beschoss ihre Wäsche von oben aus dem<br />

Bodenfenster heraus. Ihre Feinwäsche bekam davon sehr viele lilablaue<br />

Flecken ab. Beobachten konnte mich niemand, denn ich war ganz allein im<br />

Hause. Wir saßen gerade beim Abendessen, da schrie die schöne Blonde unten<br />

im Hof in ihrem hessischen Dialekt gequält auf:<br />

„Meine ganze Wäsche ist jetzt schmutzig. Jetzt muss ich alles noch einmal<br />

waschen. So ein blöder Dreck hier auf diesem blöden Nest."<br />

Aber was für ein Glück, sie beschuldigte nicht mich, sondern die Stare, aber<br />

niemals hätten die Stare ihre gesamte Wäsche derartig verschmutzen können.<br />

Großvater eilte schnell auf den Hof und besah sich die Sache ganz ruhig und er<br />

hatte wohl auch gleich einen Verdacht, er wusste von meinem Blasrohr und<br />

dass ich der Blonden einen Streich spielen wollte. Er ließ die schöne Blonde<br />

aber ruhig weiter über die Stare schimpfen. Der Holzkasten mit dem Nest für<br />

die Stare hing schon seit Jahrzehnten oben am Stall. Opa knurrte nur in sich<br />

hinein und sagte dann etwas hintergründig:<br />

„Komisch! Ja, dass ist schon sehr komisch! Die Stare fressen zwar Kirschen,<br />

aber jetzt im Kriege fressen die sogar Holunderbeeren. Die haben eben auch<br />

Hunger und können es sich nicht mehr aussuchen. Denen geht es im Krieg<br />

genauso wie uns."<br />

<strong>Ein</strong>e rosafarbene Bluse meiner kleinen Schwester hatte leider auch etwas<br />

abbekommen und deshalb nahm mich meine Mutter ins Verhör. Obwohl sie<br />

mit mir schimpfte, bemerkte ich so ein seltsames Lächeln um ihre Mundwinkel<br />

und deshalb gab ich es auch gleich zu. Dann sagte meine Mutter sagte nur:<br />

„Aber Annelore ihre Bluse hättest du nicht beschießen müssen, warum hast du<br />

das eigentlich gemacht?"<br />

„Ich konnte doch nicht wissen, dass du die Bluse von Annelore dazwischen<br />

gehängt hast. Ich habe die Blonde nur gefragt, wie viele <strong>Ein</strong>wohner die Stadt<br />

Frankfurt hat, da hat sie mich nur hochnäsig von oben herab abgesehen, aber<br />

sie hat nicht geantwortet. Deshalb hatte sie eine Strafe verdient. Aber Mami,<br />

ich glaube die ist ganz dumm, und blöd, sonst hätte sie mich nämlich<br />

beschuldigt."<br />

12


Meine Mutter machte jedoch kein Donnerwetter wie meist und das fiel mir auf.<br />

Ich war dadurch zwar etwas verunsichert und fragte Mutter lieber gleich<br />

vorsorglich:<br />

„Soll ich es vielleicht noch einmal machen?"<br />

Meine Mutter antwortete aber nicht. Aha! Es gab wieder Stunk im Hause mit<br />

dem Indianer Lortz und eine Wiederholung war deshalb erlaubt. Ich wollte<br />

allerdings nicht, dass die mich entdecken. Der Lotz war mir zwar sehr<br />

unsymphatisch, aber ich wusste nicht wie der reagiert, wenn er mich in seiner<br />

Wut erwischt. Also ich legte mich einige Tage später mit meinem Katapult auf<br />

die Lauer, um die schöne Blonde noch einmal zu bestrafen. Dazu postierte ich<br />

mich zwischen die großen Baumstämmen, die auf dem Platz vor Sägemühle<br />

herum lagen und Lothar sollte mir ein Zeichen geben, wenn sie kommt. Da<br />

kam aber schon die schöne Blonde an, sie war in der Stadt und wollte wohl<br />

etwas einkaufen, aber damals gab es eben nichts. Die Blonde schlug immer die<br />

Augen ganz schamhaft nieder und sah aus wie eine Nonne, aber wenn ein<br />

Mann vorbeiging riss sie Ihre Augen mit den langen Wimpern auf und sah den<br />

Mann irgendwie flehend an. Das kam mir damals immer seltsam vor und<br />

konnte ich noch nicht verstehen. Denn sonst sah sie keinem ins Gesicht und<br />

"Guten Tag", konnte sie auch nie sagen. Vielleicht sagt man eben in Frankfurt<br />

am Main so etwas nicht, weil man sich nicht kennt. Hier in Ufhoven kennt aber<br />

jeder jeden. Deshalb hatte mir meine Mutter eingeschärft, dass ich die Leute im<br />

Dorf grüße.<br />

Ich hielt die schöne Blonde für dumm maßlos eingebildet, weil sie eben aus<br />

Frankfurt kommt und ich nur aus Ufhoven komme. Ihre Mutter stammte aber<br />

auch von diesem Nest hier. Vielleicht hat sie das aber schon vergessen. Den<br />

komischen hessischen Dialekt, äffte ich meist nach und meine Mutter konnte<br />

das noch besser und dann lachten alle darüber. Hätte sie aber nahe der<br />

Sägemühle ihre Augen aufgemacht, dann hätte sie mich vielleicht noch<br />

gesehen, bevor ich mich versteckte. So aber konnte ich ihr unbemerkt einige<br />

blank gelutschte Kirschkerne mitten in ihr buntbemaltes Gesicht schießen.<br />

„Pfui"!<br />

Sagte sie nur und ging einfach weiter und nach Hause. Wollte sie nicht wissen,<br />

was ihr da ins Gesicht flog?<br />

Meinem Großvater habe ich alles erzählt und er fand das sehr interessant. Aber<br />

er sagte etwas abschätzig zu ihrem bunt bemalten Gesicht:<br />

„Das ist doch alles nur Kriegsbemalung im Kampf um den Mann. Davon<br />

verstehst du eben noch nichts.“<br />

Mein Schuss mit dem Blasrohr in ihr bunt bemaltes Gesicht hatte offensichtlich<br />

noch nicht gesessen. Deshalb musste ich mir noch etwas anderes einfallen<br />

lassen. Zufällig beobachtete ich, dass sich Im Dachkasten unseres Hauses<br />

mehrere Spatzenfamilien eingenistet hatten. Ich holte mir ein paar Spatzeneier<br />

aus einem Nest. Die sollten sie aber richtig treffen, wenn sie wieder mit ihrer<br />

Kriegsbemalung in die Stadt geht. Mein Großvater half mir dabei eine kleine<br />

Vorrichtung zu bauen. Es war eigentlich nur ein kleines Brett mit einer kleinen<br />

Vertiefung in die man die Spatzeneier hineinlegen konnte. Mit einem längeren<br />

Nagel bastelten wir es so, dass das Brettchen gekippt werden konnte und fielen<br />

die Spatzeneier heraus. Wir banden noch eine lange Spindelschur daran, die ich<br />

vom meinem Zimmerfenster aus ziehen konnte. So konnten ihr die<br />

Sperlingseier auf ihre schönen blonden Haare fallen. Als Lortz nicht zu Hause<br />

war, brachten wie unsere Konstruktion oberhalb der Haustür an. Zu unserem<br />

Entsetzen hatte sich darauf die Spatzenmutter darauf niedergelassen und<br />

brütete die Eier weiter aus. Dann kam der Moment, prächtig herausgeputzt<br />

verließ die schöne Blonde Opas gute Stube, in der sie vorübergehend wohnten.<br />

Wahrscheinlich wollte sie wieder in die Stadt zu gehen. Als sie gerade die<br />

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Klinke der Haustür in der Hand hatte, zog ich an der Spindelschnur. Die<br />

Spatzenmutter flog erschrocken auf und die angebrüteten Spatzeneier fielen<br />

ihre alle auf ihre schönen blonden Haare und die Spatzenmutter flatterte erregt<br />

davon. Sofort schrie sie im Frankfurter Dialekt lauthals los:<br />

„Diese die blöden Spatzen hier in dem blöden Nest. Nun sind meine Haare<br />

ganz schmutzig.“<br />

Weil sie zu laut geschrienen hatte, kamen schnell ein paar Leute herbeigelaufen<br />

und sie amüsierten sich köstlich über ihr Missgeschick. Dadurch hatte meine<br />

Mutter die Sache mitbekommen und energisch sagte sie dazu:<br />

„Jetzt reicht es aber! Die hat jetzt genug abbekommen. Wenn dich der Lortz<br />

erwischt, schlägt er dich windelweich."<br />

„Ha, ha! Aber nur, wenn er mich erwischt. Außerdem soll die Blonde<br />

demnächst auch noch geduscht werden. Wir wissen nur noch nicht genau, wie<br />

wir es machen."<br />

„Du wehe! Lasst das! Ich warne dich."<br />

Meine Großmutter kochte wie immer auf ihren alten schwarzen gusseisernen<br />

Herd in ihrer Wohnküche, aber nur auf diesem Herd konnten wir Kinder uns<br />

Kartoffelditscher braten und sogar Bonbons aus Marmeladeklecksen<br />

anfertigen. Diese Marmeladebonbons waren hart wie Stein und man konnte<br />

sich daran die Zähne ausbeißen. Auf dem gepflegten und immer hoch<br />

glänzenden Küpersbusch-Küchenherd meiner Mutter durften wir so etwas nie<br />

machen.<br />

Diesmal war aber Frau Lortz viel schneller als unsere Großmutter. Sie war<br />

jedoch so egoistisch und legte keine Kohlen nach. Sie wusste aber, dass<br />

Großmutter auch noch kochen wollte. Aber als Großmutter anfangen wollte zu<br />

kochen, war der Herd schon wieder kalt und sie musste erneut das Feuer<br />

anzünden. So etwas ist zwischen Hausfrauen, die sich einen Herd teilen<br />

müssen, offensichtlich höchst unverzeihlich. Deshalb forderte Großmutter<br />

stehenden Fußes die Frau Lortz sofort zu einem Gespräch heraus:<br />

„Du hast das Feuer im Herd ausgehen lassen. Warum?"<br />

„Ich brauchte es nicht mehr. In Frankfurt habe ich nur elektrisch gekocht und<br />

jetzt mache ich mir an der Kohle keine schmutzigen Finger."<br />

Das aber brachte Großvater, der alle mitgehört hatte, aber in heftige Erregung<br />

über seine Schwester.<br />

„Dann wärst du dumme, arrogante Nuss doch in Frankfurt geblieben! Du<br />

kannst auch sofort wieder abreisen nach Frankfurt. Dort kannst du auch<br />

weiterhin elektrisch kochen. Aber hier müssen wir miteinander auskommen<br />

und das geht nur, wenn eine auf die andere Rücksicht nimmt."<br />

Lotz schrie aus Großvaters Wohnzimmer zurück:<br />

„Meine Frau ist aber keine dumme Nuss! Außerdem haben wir die gleichen<br />

Rechte wie ihr. Sonst beschwere ich mich auf der Gemeinde.“<br />

Großvater wusste es offenbar viel besser:<br />

„Die, die war doch schon immer eine dumme Nuss. Das weiß ich viel besser<br />

als du. Die kenne ich nämlich schon viel länger. Aber das mit dem gleichen<br />

Recht, dass hast du sehr gut gesagt und das musst du deiner dummen Nuss<br />

auch noch einmal erklären. Aber Rechte sind auch immer Pflichten! Merk dir<br />

das! Der Bürgermeister kann dir das auch noch einmal erklären. Geh nur hin!“<br />

Lortz besaß zwei große, fast riesige Schrankkoffer Diese standen in Großvaters<br />

Werkstatt herum, weil sie nicht mehr in die Wohnstube hinein passten. In dem<br />

einen Schrankkoffer waren nur Indianerklamotten und der Lotz hatte mir<br />

meine Neugierde auch angesehen. Aber diese Koffer standen meist im Wege,<br />

wenn Großvater etwas reparieren wollte. Wie oft Großvater gegen diese<br />

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iesigen Koffer getreten hat, weiß ich nicht mehr, aber er hasste die Koffer und<br />

auch den Lortz. <strong>Ein</strong>er der Koffer von Lortz hatte nur ein Vorhangschloss und<br />

das konnte ich sehr leicht öffnen. Großvater hatte mir einmal gezeigt, wie man<br />

so ein Vorhängeschloss mit einem Nagel öffnet. In dem anderen riesigen<br />

Schrankkoffer waren nur Schallplatten und ein Grammophon. Ich habe gleich<br />

Großvater geholt, um ihm das zu zeigen.<br />

„Mensch! Wozu braucht ein Lotz so viele Schallplatten, der hat doch auch nur<br />

zwei Ohren."<br />

„Opa, vielleicht liebt er Musik."<br />

Wandte ich ein.<br />

„Aber doch nicht Lortz. Mein Junge, da täuschst du dich aber sehr. Den kennst<br />

du noch nicht richtig.“<br />

Wenn mein Freund Lothar zum Spielen bei mir war, haben wir immer die<br />

Schallplatten Karussell fahren lassen und wenn wir unsere Taschenmesser in<br />

die Rillen setzten, konnten wir sogar noch Musik hören. Die Schallplatten sind<br />

durch unsere etwas rabiate Behandlung aber bestimmt nicht besser geworden.<br />

Ich kam eines Tages aus der Schule zurück, da stand Lortz im Hof und hielt<br />

etwas hinter sich versteckt. Es war eine Indianerkluft für Kinder und die passte<br />

mir sogar, nur die Gürtelweite nicht. Lortz meinte dazu:<br />

„Indianerkinder sind doch viel besser ernährt als die heutigen deutschen<br />

Kinder."<br />

„Wieso?"<br />

„Sonst hättest du doch eine ganz andere Taille."<br />

„Das ist doch totaler Quatsch! Dann ich müsste auch so einen Bauch haben wie<br />

der Bäcker Howe. Aber was essen denn eigentlich Indianerkinder?"<br />

„Büffelfleisch, das ist nahrhaft und sehr gesund und es macht die Indianer<br />

stark."<br />

„Ich esse aber nicht gerne Fleisch. Woher weißt du das eigentlich? Warst du<br />

schon einmal bei den Indianern in Amerika"<br />

„Nein noch nicht. Aber ich habe schon viele Bücher über Indianer gelesen.<br />

Leider sind alle meine Bücher in Frankfurt verbrannt."<br />

„Bücher kann man sich doch wieder kaufen oder?"<br />

Lortz versuchte aber abzulenken:<br />

„Wenn dir die Sachen gefallen, kannst du sie ganz einfach behalten."<br />

In den Klamotten bin ich sogleich zu meiner Mutter gestürmt. Aber sie<br />

herrschte mich sofort an:<br />

„Zieh sofort das Zeug wieder aus!"<br />

„Lortz hat es mir aber geschenkt."<br />

„Wir nehmen keine Geschenke von Lortz an. Ich habe gesagt, du sollst das<br />

ausziehen!"<br />

„Warum nur?"<br />

Nur widerwillig zog ich die Indianerklamotten wieder aus. Mit diesen<br />

Klamotten hätte ich im ganzen Dorf einen sehr starken <strong>Ein</strong>druck machen<br />

können. So etwas Schönes hatte doch keiner, aber jeder wollte es auch sofort<br />

haben. Als ich die Klamotten ausgezogen hatte, nahm sie Mutter und warf die<br />

schönen Indianersachen einfach zum Fenster hinaus auf den Hof. Ich habe<br />

deshalb geheult, weil ich sie nun nicht mehr im Dorfe verführen konnte.<br />

Erwachsene sind für Kinder sehr schwer zu verstehen, wenn sie Konflikte<br />

miteinander austragen. Aber Lortz leistete sich noch eine große Überraschung<br />

mit bösen Folgen:<br />

Es war ein wunderschöner Frühlingstag, ein Tag, wo es jeden wieder hinaus<br />

zieht in die erwachende Natur. Großmutters Kücken waren endlich geschlüpft<br />

und die Glucke führte jetzt ihre Kinderschar über den Hof, der von der Sonne<br />

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erwärmt wurde. Großmutter hatte extra hart gekochte Eier ganz klein<br />

geschnitten und das Futter für die Kücken zusätzlich mit klein gehackten<br />

jungen Brennnesseln angereichert. Nun stand unsere Großmutter mitten auf<br />

dem Hofe im wärmenden Sonnenschein. Die Küchen liefen um ihre<br />

Hausschuhe herum und von einem kleinen Brettchen streute sie den kleinen<br />

Kücken liebevoll Futter zu, damit jedes Kücken etwas bekam, verstreute sie<br />

das Futter an verschiedenen Stellen. Urplötzlich bemerkte Großmutter hinter<br />

sich einen dunklen Schatten, sie drehte sich erschrocken um und vor ihr stand<br />

ein leibhaftiger Indianer. Erschreckt, stieß Großmutter noch einen Schrei aus<br />

und fiel in Ohnmacht. Großvater sprang schnell hinzu und half. Auf dem Hofe<br />

stand noch immer der Lortz in seiner Indianeruniform herum, er zitterte am<br />

ganzen Körper und so klein hatte noch niemand dieses Großmaul gesehen.<br />

Großvater half zuerst unserer lieben Oma, aber er war sehr empört und schrie<br />

den Lotz an, den er ohnehin nicht leiden konnte:<br />

„Zieh sofort diese Indianerklamotten aus! Lass dich in diesem Hause nie<br />

wieder als Indianer sehen! Nie wieder!"<br />

Beim hinfallen hatte Großmutter leider gleich drei Kücken mit ins Jenseits<br />

befördert. Das war damals mitten im Kriege ein sehr schmerzlicher Verlust,<br />

denn es fehlten gleich drei Suppenhühner im Topf.<br />

„So, wegen deinem Indianerquatsch, hast du uns auch noch drei Hühner zu<br />

ersetzen, das verlange ich von dir als Schadenersatz. Sonst zeige ich dich an!"<br />

Seit diesem Tag wurde bei uns nicht mehr über Indianer gesprochen. Als ich<br />

ein paar Tage später aus der Schule nach Hause kam, liefen drei fremde<br />

Rodeländer Hühner auf unserem Hof herum. Eigentlich hielt Großvater nur<br />

Italiener, weil die so schöne weiße Eier legen.<br />

„Mensch Opa, du hast wohl neue Hühner gekauft?"<br />

„Nee, nee! Gekauft habe ich keine. Die hat der Lorz organisiert. Weißt du es<br />

etwa nicht mehr, dass deine Oma gleich drei Kücken erschlagen hat, als sie im<br />

Hofe in Ohnmacht fiel, weil Lortz Indianer spielte.“<br />

„Ja, das stimmt! Als der Lortz Oma als Indianer erschreckte.“<br />

„Diese Rodeländer da, dass ist nur der Ersatz für die drei toten Kücken.“<br />

„Hat Lortz die Hühner gekauft? Ich denke, der hat überhaupt kein Geld.“<br />

„Gekauft? Da muss ich aber laut lachen!!<br />

„Opa! Etwa geklaut?“<br />

„Na, was denn sonst! Gekauft hat er sie nicht, das steht fest. Heute stand<br />

nämlich in unserer Zeitung, dass gestern in der Hühnerfarm auf dem<br />

Sülzenberg vier Hühner geklaut wurden."<br />

„Opa, da fehlt aber noch eins."<br />

„Das vierte Huhn schwimmt bei Lotz gerade in der Nudelsuppe herum."<br />

Großmutter hatte etwas vergessen<br />

Ich wollte wieder zum Spielen vor an die Pferdeschwemme, Lothar wartete<br />

schon auf mich. Aber meine liebe Oma stellte sich quer:<br />

„Deine Mutter hat mir gesagt, du sollst hier warten, bis sie wieder vom Arzt<br />

zurückgekommen ist.“<br />

„Wieso denn?“<br />

„Weil es mir deine Mutter mir so gesagt hat.“<br />

„Ich habe doch gar nichts gemacht.“<br />

„Ach nee? Sieh an, die reinste Unschuld! Hast du nicht schon wieder etwas<br />

ausgefressen? Deine Mutter will das noch mit dir klären."<br />

„Haha! Dazu ist doch heute Abend auch noch Zeit."<br />

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„Ich habe aber gesagt, du sollst hier warten!"<br />

Über soviel Sturheit meiner lieben Oma habe ich mich richtig geärgert. Aber<br />

dann bin ich doch einfach losgerannt und ich war viel schneller als meine<br />

Großmutter. Ich konnte mir schon denken, warum sie so stur war. Vielleicht<br />

hing das noch mit Annelore ihrer Bluse zusammen. Aber die Sache war doch<br />

schon längst erledigt. Darüber hatte Mutter schon mit mir gesprochen. Weil ich<br />

mich geärgert hatte, wollte ich meiner lieben Oma einen kleinen Denkzettel<br />

verpassen. Mir war aber bereits aufgefallen, dass unsere liebe Großmutter sehr<br />

energisch auf schlechte Gerüche reagierte. Falls ihr ein unangenehmer Geruch<br />

in die Nase stieg, ging sie sofort los, um die Ursache zu finden. Dabei ließ sie<br />

alles liegen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Wenn Großvater wieder<br />

einmal seine Pfeife geraucht hatte, riss Oma schnell alle Fenster auf. Außerdem<br />

hatte sich herausgestellt, dass sie die Sache erfunden nur erfunden hatte, um<br />

mich zu ärgern.<br />

Bei uns zu Hause wurde alles mit Spindelschnur zusammengebunden und<br />

repariert. Diese Spindelschnur fiel in der "Spinne" in großen Mengen als Abfall<br />

an, wenn sie gerissen war konnte man sie nicht wieder verwenden. Zu Hause<br />

stand eine Kiste, die war voller verölter Spindelschnur. Ich schnitt ein etwa<br />

zehn Zentimeter langes Stück ab und befestigte es mit einer Zwecke unter<br />

Omas Küchentisch. Ich fand auch noch Streichhölzer, damit brannte ich die<br />

Schnur an, aber sie darf nur glimmen, dann stinkt sie am besten. Deshalb blies<br />

ich die Flamme sofort wieder aus. Als Großmutter kurz darauf in die Küche<br />

zurückkam, hatte sie den Gestank gleich in der Nase. Sie rief sofort nach<br />

meiner Mutter und beide suchten alles ab. Aber sie fanden nichts. Mutter hatte<br />

aber gleich einen Verdacht:<br />

„Ich weiß, wer den Gestank gemacht hat. Dafür gibt es doch nur einen Täter im<br />

ganzen Hause. Du, dieser Geruch erinnert mich irgendwie an eine brennende<br />

Spindelschur."<br />

Aber die Ursache war nicht zu finden, denn die Spindelschnur war schon<br />

abgebrannt. Nur der Gestank hing noch im Raum. Als ich vom Spielen nach<br />

Hause kam, schickte mich Mutter eine Treppe tiefer zu Oma hinunter. Ich<br />

ahnte schon, dass Oma etwas entdeckt hatte, aber ich ging trotzdem<br />

hocherfreut und quietsch vergnügt zu Oma und tat so, als wäre ich völlig<br />

ahnungslos.<br />

„Hallo, meine liebe Oma! Mami hat gesagt, du hättest etwas Schönes für<br />

mich."<br />

Das hatte meine Mutter aber ganz anders formuliert. Oma saß am Küchentisch<br />

und las in der Zeitung, aber sie legte die Zeitung auf dem Küchentisch und<br />

beobachte mich unentwegt. Außerdem sah sie über ihren Brillenrand hinweg<br />

und verfolgte mich mit ihren Augen, wohin ich in der Küche auch ging.<br />

Damals konnte ich leider noch nicht so gut schwindeln und musste über<br />

Großmutters komischen Gesichtsausdrucks lachen.<br />

„Aha! Jetzt hast du dich selbst verraten! Du bist es also gewesen. Du hast den<br />

Gestank gemacht."<br />

„Ja! Das stimmt.“<br />

„Wie hast du das gemacht?<br />

„Das verrate ich nicht."<br />

„Opa! Sag du doch auch einmal etwas dazu. Es ist doch dein heiß geliebtes<br />

Enkelsöhnchen."<br />

„Ich bin sehr erstaunt. Unser Enkelsöhnchen hat seine Großmutter gut<br />

beobachtet und beherrscht schon ein paar sehr nützliche Tricks. So etwas<br />

braucht man eben im Leben. Man muss auch manchmal gekonnt zurückzahlen<br />

können."<br />

„Danke mein lieber Opa! Ich hatte etwas ganz anders erwartet."<br />

17


Aber unsere Großmutter war stets eine ganz liebe Oma und stets hilfsbereit,<br />

wenn wir sie einmal brauchten. Die besten Bissen bekamen stets ihre<br />

Enkelkinder. Sie war auch immer zu Späßen aufgelegt, aber Großmutter wollte<br />

beim Spielen vom "Mensch-ärgere-dich-nicht", um keinen Preis verlieren und<br />

jedes Mal haben wir es doch so gedreht, dass sie wieder einmal dran war, dass<br />

machte uns viel Spaß.<br />

Großvaters Freund kommt<br />

Es gab jedoch auch Tage, da rannte Großmutter wie ein hungriger Tiger durchs<br />

Haus und keiner durfte sie ansprechen. Das passierte immer dann, wenn<br />

Großvaters alter Freund und Kriegskamerad aus Langensalza zu Besuch kam.<br />

Die beiden waren zusammen im 1. Weltkrieg in Frankreich. Für diese Besuche<br />

hatte Großvater immer eine Flasche Schnaps reserviert. Ich wusste wo die<br />

Flasche stand, er hatte mir das Versteck einmal gezeigt, aber ich habe den<br />

Standort nie an Oma verraten, so oft sie auch danach gesucht hat. Oma wusste<br />

nämlich, dass ich das Versteck der Flasche kannte. Aber ich ahnte, dass mich<br />

Großvater damit testen wollte und deshalb bin ganz dicht geblieben, denn<br />

Großvater hatte mir einmal angedroht:<br />

„Wenn du das Versteck deiner Oma einmal zeigst, dann können wir nie mehr<br />

gute Freunde sein."<br />

Das wollte ich aber nicht. Großvaters alter Kriegskamerad blieb immer sehr<br />

lange. Sie sprachen meist französisch miteinander und lachten dabei auch sehr<br />

viel. Französisch konnte Großmutter aber nicht verstehen und deshalb war sie<br />

äußerst misstrauisch. Sie konnte es nicht vertragen, wenn etwas hinter ihrem<br />

Rücken geschah. Großvater war im 1. Weltkrieg Sanitäter und die Freundschaft<br />

entstand, weil Großvater seinem späteren Freund das Leben durch einen<br />

Druckverband gerettet hatte. Denn sein späterer Freund war am Oberschenkel<br />

sehr schwer verletzt und wäre ohne seine Hilfe verblutet. Wenn die beiden<br />

alten Freunde die Flasche fast ausgetrunken hatten, sangen sie auch noch<br />

französische Lieder und tanzten zusammen französische Musettwalzer, das<br />

konnte man im ganzen Hause hören. Dies brachte Großmutter aber jedes Mal<br />

in höchste Erregungen. Sie konnte sich wahrscheinlich doch einen Reim<br />

darauf machen, dass die beiden Freunde während des Krieges nicht nur mit der<br />

Waffe gekämpft hatten. Großmutter wurde erst wieder ansprechbar, wenn<br />

Großvaters Freund das Haus endlich verlassen hatte.<br />

Aber unsere Großmutter war sonst immer eine sehr lustige und fröhliche Frau.<br />

Besonders lustig ging es bei Großmutter zu, wenn die Faschingszeit anbrach.<br />

Dann sang Oma Faschingslieder und tanzte den ganzen Tag mit einer bunten<br />

Narrenkappe auf dem Kopf im Hause herum und wir mussten alle mit ihr<br />

tanzen. Wer ihr auch in die Quere kam, der musste mit machen und dass war<br />

immer sehr lustig. Großmutter war nämlich nahe dem Rheinland geboren, sie<br />

war in Solingen zur Welt gekommen und irgendwie steckte da eine andere<br />

Fröhlichkeit drin als bei uns Thüringern. Leider hat niemand von uns dieses<br />

Fastnachts-Gen geerbt. <strong>Ein</strong>mal habe ich unsere liebe Großmutter aber sehr<br />

erschreckt, weil mir Oma nicht geholfen hatte, als mit meinen Sachen in die<br />

Pferdeschwemme gefallen war. Dafür wollte ich sie einmal erschrecken.<br />

„Oma! Oma! Opas Freund kommt!"<br />

Großmutter rannte sofort zur Tür, aber dort war niemand. Daraufhin hat mir<br />

meine Großmutter eine Ohrfeige verpasst, aber darüber wurde mehr gelacht, als<br />

das ich meiner geliebten Großmutter böse sein konnte.<br />

18


Der Hund vom Bäcker<br />

<strong>Ein</strong> ä<br />

lterer Mann betrieb damals in unserer Nebenstraße eine Altwarenhandlung. Er<br />

sammelte Knochen, Felle, Alteisen und Papier. Aber der Haufen mit dem<br />

Alteisen lag zwar hinter seinem Grundstück, aber in unserer Straße. Oft sind<br />

wir auf dem Stapel herumgeklettert und haben ihn nach geheimnisvollen<br />

Sachen durchsucht und hätten zu gern etwas Wichtiges gefunden. Wenn der<br />

Haufen breit und auseinander gezogen war, wurden wir Kinder vom dem alten<br />

Mann oft beschimpft. Wir waren es aber nicht allein. Denn es kamen auch<br />

Leute aus dem ganzen Dorfe, die etwas Bestimmtes suchten und manches<br />

mitnahmen. Manchmal kam sogar der Schmied vorbei und nahm noch etwas<br />

Brauchbares mit. Dieser Haufen war eine viel besuchte Stelle im Dorf, denn zu<br />

kaufen gab es kein Eisen. Man hielt sich an das Motto: Aus alt mach neu.<br />

Ich kam gerade aus der Schule nach Hause und sah, dass oben auf dem neu<br />

geordneten Stapel geradezu im Kontrast zum alten Eisenrost etwas Weißes<br />

glänzte. Natürlich habe ich es mir sofort und gründlich angesehen. Es sah<br />

genauso aus, wie unsere schöne weiß emaillierte Bratpfanne. Ich sagte es auch<br />

gleich zu meiner Mutter.<br />

„Du Mami, drüben aus dem Schrotthaufen liegt eine weiß emaillierte<br />

Bratpfanne, die sieht genau so aus wie unsere."<br />

Aber meine Mutter antworte darauf nicht und tat dafür sehr beschäftigt. Mir<br />

war jedoch nicht entgangen, dass es im ganze Hause nach Bratenduft roch und<br />

unsere weiß emaillierte Bratpfanne war auch nicht im Schrank. Mutter sagte<br />

nur:<br />

„Sei doch nicht immer so furchtbar neugierig. Kümmere dich doch um deine<br />

Sachen und ich kümmere mich um meine Dinge."<br />

Mir war dabei sofort klar: „Hier stimmt etwas nicht.“<br />

In guten Zeiten hatte ich bei meiner Oma immer einen Stein im Brett. Ich<br />

brauchte sie nur zu loben, weil es wieder so gut riecht oder gut schmeckt, dann<br />

freute sie sich über meine Feinschmeckerzunge und über mein Lob. Als ich<br />

nun aber fragte:<br />

„Oh, liebe Oma! Was hast du denn heute wieder für feine Sachen gebraten? Es<br />

duftet so herrlich im ganzen Haus nach Sonntagsbraten."<br />

Aber meine liebe Großmutter spürte sofort, worum es mir ging. Meistens<br />

bekam ich vom guten Stück auch einen Bissen ab. Aber jetzt lachte sie<br />

urplötzlich schallend los und konnte sich nicht mehr beruhigen. Meine Mutter<br />

kam auch noch hinzu und alle drei, Oma, Opa und meine Mutter lachten aus<br />

vollem Halse. Nur ich stand da wie dumm und wusste nicht, warum die alle<br />

lachen. Zuerst dachte ich: „Die machen sich über mich lustig.“ Aber dann<br />

erzählte Großmutter noch immer unter Lachen:<br />

„Du kennst doch den Hund vom Bäcker Hellmund? Lortz hat den Hund vom<br />

Bäcker Helmond gefangen und geschlachtet."<br />

„Was? Den großen fetten Schäferhund?"<br />

„Genau den! Das Fell hat er ihm abgezogen und irgendwo vergraben. Nun<br />

sollte ich den Hund braten, weil ich eine Bratpfanne habe und die nicht. Dein<br />

Opa hat es aber strikt verboten und extra noch dazu geschimpft:<br />

„Die Frankfurter, dass sind vielleicht komische Menschen, die fressen sogar<br />

fremde Hunde. So etwas Schlechtes war noch nie in unserer Pfanne. Wir<br />

Thüringen essen Schweinebraten, Rindsrouladen, Gulasch und<br />

Kaninchenbraten, aber wir fressen nie Hunde. Wir Thüringer sind keine<br />

Hundefresser, auch nicht im Kriege. So weit sind wir noch nicht herunter<br />

gekommen."<br />

19


Das mit den Hunden betonte Opa extra noch. Danach übernahm unsere Mutter<br />

aus Gefälligkeit die Sache, aber sie hatte es jedoch sehr eilig, denn ich sollte<br />

davon überhaupt nichts mitbekommen. Lortz hatte ihr auch ein großes Stück<br />

davon versprochen. Aber Mutter wollte es nicht, weil sie noch nie<br />

Hundefleisch gegessen hat. Als sich die Familie Lortz schließlich daran<br />

machte, den Hund vom Bäcker Hellmond zu verzehren, schmiss meine Mutter<br />

vom Ekel gepackt, unsere schöne Bratpfanne einfach auf den Schrotthaufen<br />

gegenüber. Dabei hatte sie allerdings meine Neugier nicht einkalkuliert. Sie<br />

wollte die Pfanne nur loswerden.<br />

„Du Mami! Das ist aber sehr schade um unsere schöne Bratpfanne."<br />

„Warum denn nur? Die Bratpfanne schmeckt doch jetzt nicht mehr, die ist doch<br />

versaut.“<br />

„Wenn sich aber nun Lotz unsere schöne weiße Bratpfanne holt, dann kann der<br />

noch mehr Hunde in Ufhoven fangen und sie sogar selber braten und danach<br />

fressen."<br />

Erstaunt sah mich Mutter an:<br />

„Mensch, mein Junge! Du bist ja gut! Auf diese Idee wäre ich jetzt gar nicht<br />

gekommen."<br />

Mutter ging sofort wieder hinaus und holte unsere schöne weiße Bratpfanne<br />

zurück.<br />

„Weißt du was? Die schrubbe ich jetzt solange, bis der Hundegeschmack<br />

unseren Braten nicht mehr versauen kann."<br />

Seit dieser Zeit bezeichnete Großvater den Lortz nur noch als „Hundefresser<br />

Fortz“.<br />

Aber Oma protestiere aber sofort:<br />

„Du, solltest damit ganz schön vorsichtig sein, denn deine Mütze ist doch auch<br />

aus Hundeleder.“<br />

„Opa, stimmt das vielleicht?“<br />

„Ja, die ist wirklich aus Hundeleder.“<br />

„Oh, mein Opa! Du hast aber eine schöne Mütze. So eine schöne Mütze<br />

möchte ich mir auch einmal kaufen.“<br />

„Dass hast du nun davon! Sieh nur einmal an, wie raffiniert dieses Bürschchen<br />

schon geworden ist. Soeben hat er noch den Hundebraten verurteilt und schon<br />

lobt er deine Hundemütze.“<br />

Mit meinem Hinweis, dass sich Lotz die Bratpfanne holen könnte und dann<br />

noch mehr Hunde fangen kann, hatte ich ab sofort bei meiner Mutter eine<br />

bestimmt Kompetenz erworben. Schließlich hatte ich damit unsere schöne weiß<br />

emailliierte Bratpfanne gerettet. Neuerdings fragte mich Mutter oft, wie ich<br />

dieses und jenes machen würde. Aber unsere Spielräume waren damals sehr<br />

begrenzt, einmal durch die Lebensmittelkarte, die Kleiderkarte und außerdem<br />

war unser Geld auch immer knapp bemessen. Aber es tut meist sehr gut, wenn<br />

das eigene <strong>Wort</strong> etwas wert ist.<br />

Seit m die Familie Lotz den Hundebraten gegessen hatte, war sie bei meinem<br />

Großvater ab sofort und restlos durch und keinen einzigen Pfennig mehr wert<br />

und dies machte er jedem im Dorfe eindeutig klar:<br />

„Weißt du! Den größten Ärger hat man immer mit der eigenen Verwandtschaft.<br />

Wenn diese Verwandtschaft aber eine Schwester ist und auch noch aus<br />

Frankfurt am Main kommt, dann steigert sich der Ärger noch zusätzlich."<br />

20


Die Gedanken sind frei<br />

Im ganzen Hause war zu hören, das Großvater wie fast jeden Tag sang. Aber<br />

ganz besonders, wenn er die Zeitung gelesen hatte und genug Wut im Bauche<br />

hatte, dann sang er das alte deutsche Volkslied „Die Gedanken sind frei“. Das<br />

war sein Lieblingslied und es schallte durch das ganze Haus. Großvater sang<br />

natürlich nie schön, dafür aber laut genug. Er liebte dieses Lied, weil er sich<br />

damit selbst beweisen konnte, dass er in seinen Gedanken noch unabhängig<br />

und frei war. Damit widersetze er sich den Lügen der Faschisten. Aber<br />

sogleich hörte man auch Großmutters Stimme. Sie versuchte ihn zu<br />

beschwichtigen, damit er nicht zu laut singt.<br />

„Du, dein Gesang ist sogar auch draußen auf der Straße zu hören und wenn du<br />

damit nicht aufhörst, bringst du uns alle noch sonst wo hin.“<br />

Sein Lied hörte ich jeden Morgen bevor ich zur Schule ging. <strong>Ein</strong>mal fragte<br />

mich Großvater:<br />

„Gefällt dir eigentlich mein Lied?“<br />

Weil ich aber meinem lieben Großvater nicht widersprechen wollte sagte ich:<br />

„Ja!“<br />

„Möchtest du es auch lernen?“<br />

„Ja!“<br />

„Dann können wir es nämlich gemeinsam singen.“<br />

Aber Großmutter hing sich sogleich hinein:<br />

„Bist du schon verrückt geworden? Willst du etwa auch den Jungen noch ins<br />

KZ bringen?“<br />

Damals konnte niemand von uns ahnen, dass wir alsbald dieses Lied für<br />

weitere vierzig Jahre singen mussten, weil wir in später immer noch in<br />

Unfreiheit lebten mussten.<br />

<strong>Ein</strong>mal saß ich gerade bei meinem Großvater, ich wollte mit ihm einige<br />

Begriffe klären, die mir beim Lesen und im heutigen Unterricht aufgefallen<br />

waren und die ich mir nicht hinreichend erklären konnte. Aber da kam ganz<br />

überraschend sein Freund und Kriegskamerad dazwischen. Großvater sollte<br />

ihm möglichst schnell seine Schuhe reparieren, er brauchte sie ganz dringend,<br />

weil er zu einer Beerdigung musste:<br />

„Aha, Adolf! Dass ist wohl dein Enkelsohn?"<br />

„Ja, dass ist mein bestes Stück. <strong>Ein</strong> sehr helles Köpfchen und er hat es<br />

knüppeldick hinter den Ohren, aber sonst ist noch sehr brav. Er hat bisher<br />

schon viele gute Ideen gehabt, aber er hat noch nicht so viele Fensterscheiben<br />

zerschossen wie ich einst."<br />

„Opa, dass kann ich aber auch, wenn du es willst."<br />

Ich ging und suchte mir im Hof einen Stein und warf die Fensterscheibe in<br />

Großmutters Speisekammer ein. Großvaters Freund lachte schadenfroh über<br />

das ganze Gesicht, aber Opa sah sich entsetzt den Schaden an,<br />

„Mensch Junge! Bist du denn total verrückt geworden? Das musste doch nicht<br />

gleich heute sein."<br />

„Opa! Sag es ganz ehrlich, wann hätte es dir besser gepasst?“<br />

„Adolf, du hattest Recht! Er hat es knüppeldick hintern den Ohren. Da kannst<br />

noch einiges erwarten."<br />

Leider konnte Opa in der ganzen Stadt kein Glas kaufen, um den Schaden<br />

reparieren zu können. So wurde eine Platte als Leichtmetall eingesetzt und die<br />

blieb noch lange nach dem Krieg erhalten. Mit einem Messer konnte man in die<br />

Aluminiumplatte etwas hineinritzen. Ich kratzte hinein:<br />

„Zur Erinnerung an deinen Enkelsohn Otmar. 3. April 1943."<br />

21


Unsere Mutter<br />

war eine ganz liebe Frau und wir waren ihr ganzer Stolz. Mutter tröste uns und<br />

mit Mutter konnten wir auch schön kuscheln und wunderbar spielen. Sie war<br />

auch bereit zu verlieren, natürlich zu unserem Vorteil. Mutter konnte auch gut<br />

kochen, es schmeckte jedenfalls immer gut bei ihr. Aber manchmal gab es auch<br />

Schwierigkeiten, weil es eben während des Krieges nicht viel zu essen gab und<br />

die Situation wurde zunehmend schlechter. Unser Garten half uns dabei über<br />

die allergrößten Probleme hinweg. Gelegentlich gingen wir alle, auch unsere<br />

Großeltern mit, um auf den abgeernteten Weizenfeldern Ähren stoppeln. Zu<br />

Hause wurden dann die Ähren gleich ausgeschlagen, dann durfte ich die<br />

Weizenkörner zweimal in einer alten Kaffeemühle malen und eine halbe<br />

Stunde später stand der süße Brei zum Essen auf dem Tische. Damals gab es so<br />

oft Brei, dass ich ihn viel Jahre lang nicht mehr sehen und auch nicht mehr<br />

essen konnte.<br />

Aber an den Festtagen schlachtete Großvater meist ein Kaninchen und ich<br />

durfte ihm dabei helfen. Dann gab für die ganze Familie Kaninchenbraten mit<br />

Thüringer Klößen und Gurkensalat und zum Nachtisch Pudding oder einen<br />

Ostsalat, den aßen wir besonders gern. Das war immer ein richtiger Höhepunkt<br />

für die ganze Familie. Dann saßen wir alle bei Oma um den weiß gedeckten<br />

Küchentisch und neben dem Essen wurde auch immer viel erzählt und es gab<br />

auch viel zum lachen, besonders wenn Großvater anfing von früher zu<br />

erzählten.<br />

Die Liebe unserer Mutter haben wir sehr gern erwidert, aber dann unterbrach<br />

Mutter unser trautes Beisammensein:<br />

„Aber jetzt müssen wir auch einmal an unseren Papi denken. Der hat es jetzt<br />

bestimmt viel schwerer als wir."<br />

Am schönsten war es immer, wenn wir im Herbst oder Winter in der<br />

Dämmerstunde eng umschlungen gemeinsam am Fenster saßen und gemeinsam<br />

sangen. Oft kam noch Großmutter hinzu. Großmutter kannte viele ganz alte<br />

Volkslieder und auch so schöne wehleidige Küchenlieder, die waren fast<br />

endlos und gefielen mir damals sehr. Aber wahrscheinlich nur, wenn sie<br />

Großmutter sang.<br />

Ich komme in die Schule<br />

Nach den Osterferien 1941 kam ich in die Volksschule in Ufhoven. Meine<br />

Großmutter sagte deshalb zu mir:<br />

„So mein lieber Schatz! Jetzt beginnt für dich auch endlich der Ernst des<br />

Lebens.“<br />

Aber der Sinn dieses Satzes blieb mir doch noch lange verborgen. Lothar, mein<br />

Freund, kam auch mit in die gleiche Klasse, aber wir durften leider nicht<br />

zusammen sitzen. Unsere Lehrerein, Fräulein Kneus, legte allein fest, wo wir<br />

zu sitzen hatten. Der Klassenraum hatte große Fenster, aber die waren viel zu<br />

hoch angebracht und wenn ich in meiner Bank saß, konnte ich nur den Himmel<br />

sehen und ein kleines Stückchen von einem Baum. Ich fand das überhaupt<br />

nicht gut, denn wenn ich zu Hause am Tisch sitze, kann ich doch auch<br />

hinaussehen. Unsere Lehrerein, Fräulein Kneus, sollte sehr streng sein, so<br />

wurde uns schon von den Größeren vorsorglich warnend erzählt. Aber was ist<br />

eigentlich sehr streng? Nur, wir Schulanfänger wussten noch nicht genau, was<br />

22


streng eigentlich bedeutet. Wir mussten eben erst unsere eigenen Erfahrungen<br />

sammeln. Hinterher ist man im Leben, auch als Schüler, immer klüger als<br />

vorher.<br />

Das allererste, was wir bei Fräulein Kneus lernen mussten, war der "Heil-<br />

Hitler-Gruß".<br />

Dazu mussten wir jeden Tag zum Unterrichtsbeginn das große Hitler-Bild<br />

grüßen, das vorn an der Stirnwand unseres Klassenraums hing und zusätzlich<br />

musste einer von uns einen Spruch oder ein kleines Gedicht aufsagen. Solche<br />

Sprüche standen auch bei Opa in der Zeitung. Wer von uns beim Grüßen der<br />

Hitler-Bildes nicht schnell genug war und wer den Arm nicht lange genug hoch<br />

halten konnte und es in dieser Stellung nicht lange genug aushielt, den schlug<br />

die Kneus einfach mit dem Stock auf die Finger. Dabei war es ganz egal, ob es<br />

ein Junge war oder ein Mädchen war. Aber der Schlag mit dem Rohrstock auf<br />

die Finger schmerzte sehr. Die Kneus roch immer sehr nach Schweiß. Sie war<br />

ganz anders als meine liebe Mutter, die duftete immer so schön, und war immer<br />

lieb, das gefiel mir. Manchmal fluchte die Kneus so vor sich hin:<br />

„Ihr werdet alle noch gute deutsche Soldaten, dass verspreche ich euch!"<br />

Wie wir bei der Kneus lesen, schreiben und rechnen lernten, weiß ich nicht<br />

mehr genau, aber die Kneus wird es wohl einfach in uns hinein gedroschen<br />

haben. Eigentlich konnte ich schon lesen, ich hatte es mit Hilfe meiner Mutter<br />

ihren altem Realienbuch gelernt. Dabei handelte es sich aber um eine gotische<br />

Schrift. Aber plötzlich konnte ich es nicht mehr lesen und war sehr verwirrt.<br />

Denn in der Schule lernten wir eine ganz neue Schrift, nämlich Sütterlin. Nach<br />

einem halben Jahr, mussten wir dann noch eine neue Schrift lernen, die heute<br />

noch gebräuchlichen römischen Schriftzeichen.<br />

Wir alle hassten diese Kneus, dieses verfluchte Biest. Wir waren ihr damals<br />

leider noch so völlig hilflos ausgeliefert, wenn sie grundlos auf uns herum<br />

drosch.<br />

Mein Großvater hatte mir deshalb eingeschärft:<br />

„Mach ruhig alles mit und falle nur nicht negativ auf. Wenn es dich doch<br />

einmal trifft, dann heule nicht. Diese Kneus ist keine Träne wert."<br />

„Opa, was ist negativ?"<br />

„Negativ ist schlecht und positiv ist gut. Merke dir das."<br />

„Aber warum darf die Kneus uns eigentlich hauen?"<br />

„Ja, mein Junge! Das ist eben schon immer so! Es gibt ein Schulgesetz und da<br />

steht drin, dass die Lehrer die Schüler züchtigen dürfen, wenn sie<br />

unaufmerksam und undiszipliniert sind."<br />

„Ich habe aber wirklich nichts Böses getan und trotzdem schlägt die mich<br />

einfach. Ist das vielleicht gerecht? Das macht uns doch nur Angst und ohne<br />

Angst lerne ich viel lieber."<br />

„Du hast schon Recht! Wer Kinder schlägt, begeht eigentlich Unrecht und das<br />

müsste abgeschafft werden. Kinder muss man mit Liebe erziehen. Aber als ich<br />

zur Schule ging, wurden wir auch von den Lehrern verprügelt. Aber richtig war<br />

das auch nicht! Wir wurden damals zu Untertanen den Kaisers erzogen und ihr<br />

werdet heute zu Gefolgsleuten Adolf Hitlers gedrillt. Eigentlich gibt es da<br />

keinen großen Unterschied."<br />

Das war zwar gut gesagt, aber wenn dich der Schlag trifft und noch auf den<br />

Finger, da tat es besonders schlimm weh. Dann musste ich jedes Mal sehr mit<br />

mir und meinen Tränen kämpfen. Ich sagte dann immer heimlich zu mir:<br />

„Diese Kneus, die ist doch keine Träne wert.“ Aber geschmerzt hat es<br />

trotzdem.<br />

„Opa, weißt du eigentlich, dass mich meine Mami auch schon einmal gehauen<br />

hat. Das war, als uns der Tiefflieger auf dem Sülzenberg beschossen hat."<br />

23


„Ach ja! Ich weiß es. Aber, ich weiß auch, dass deine Mami euch beide sehr<br />

lieb hat und sie hat mir die Geschichte auch erzählt und es sehr bereut. Weißt<br />

du, was am besten ist? Du vergisst es ganz einfach und gibst deiner Mami ein<br />

Küsschen, dann kriegst du sogar noch eins zurück."<br />

Wir waren damals immer voller Angst, denn wir wurden wirklich zu blinden<br />

Gefolgsleuten von Adolf Hitler erzogen und sollten immer bereit sein, seine<br />

Befehle zu befolgen und große Angst davor haben, es nicht zu tun. Weil das<br />

sehr hart bestraft wird.<br />

Meine Mutter kontrollierte auch stets streng meine Hausaufgaben. Sie achtete<br />

besonders genau darauf, dass ich sauber und schön geschrieben hatte.<br />

Manchmal hörte ich draußen schon Lothar pfeifen, aber ich musste alles noch<br />

einmal und noch schöner schreiben. Mutter ermahnte mich immer:<br />

„Mein Schatz! Pass bitte in der Schule gut auf. Ihr lernt heute in der Schule<br />

Dinge, von denen ich noch nie etwas gehört habe und dann kann ich dir auch<br />

nicht mehr helfen. Aber du könntest es mir erklären, was ihr gelernt habt."<br />

Das habe ich auch immer getan. Aber das mehr oder weniger erzwungene<br />

Schönschreiben hat mir nie gefallen. Aber später hat es mir dazu verholfen,<br />

Schriften gut zeichnen und malen zu können. Aber ich bin dann doch dahinter<br />

gekommen. Meine Mutter war nur dann streng, wenn sie sich selbst nicht ganz<br />

sicher fühlte und auch nicht genau wusste, wie man es besser machen kann. Ich<br />

entdeckte nämlich, dass sie meine Fehler trotz meiner Schönschrift übersehen<br />

hatte.<br />

Das Bild von Adolf Hitler<br />

hing damals in jedem Klassenzimmer und auch bei uns in der Wohnküche.<br />

Dort hing das gleiche Hitler-Bild, nur etwas kleiner. Auch unten bei Großvater<br />

hing in der Küche diese Hitlerbild. Ich begriff damals noch nicht, warum mein<br />

Großvater das Hitlerbild in seiner Küche immer als unseren Schutzheiligen<br />

bezeichnete:<br />

„Mein Junge, diese Bild ist unser Schutzheiliger, aber das verstehst du nur noch<br />

nicht richtig.“<br />

Dazu nickte Oma meist sehr nachdrücklich.<br />

„Opa! Wieso ist das Hitler-Bild dein Schutzheiliger? Das kann dich doch gar<br />

nicht beschützen? Das ist doch nur ein Bild."<br />

„Doch! Doch mein Junge! Es beschützt uns sogar sehr gut."<br />

Aber ich konnte das nicht verstehen und fragte meine Mutter:<br />

„Warum beschützt das Hitler-Bild und die Fahne meinen Opa?"<br />

„Das verstehe ich auch nicht ganz, aber ich werde deinen Opa noch einmal<br />

danach fragen."<br />

Aber ich wartete lange auf eine Antwort. Später kam ich selbst dahinter. Denn<br />

Großvater war seit seiner Jugend Mitglied in der SPD und es bestand die reale<br />

Gefahr, dass Großvater deshalb eingesperrt wird oder sogar ins das KZ kommt.<br />

Aber diese ganze schlimme Wahrheit, wurde mir erst nach 1945 deutlich, als<br />

Großvater ganz eilig zu einem kurzen Treffen mit seinen Parteigenossen ging.<br />

Wir hatten Sommerferien. Es regnete schon den zweiten Tag in Strömen und<br />

ich konnte nicht hinaus zum spielen. Aus dem vielen Regen entwickelte sich<br />

sogar ein richtiges Hochwasser und das Wasser strömte als braune und<br />

dreckige Soße durch unsere Straße hin zur Salza.<br />

24


Ich zeichnete oder malte sehr gern und weil ich kein Motiv hatte, malte ich<br />

einmal das Hitlerbild in unserer Küche ab. Mutter lobte mich, denn ich hatte<br />

Adolf Hitler angeblich sehr gut getroffen. Damit ging ich sofort freudig<br />

hinunter zu Großvater, um ihn das Bild zu zeigen. Er nahm das Bild in die<br />

Hand und betrachtete es ausgiebig von allen Seiten auch dahinter. Dann meinte<br />

er zögerlich:<br />

„Mein lieber Otmar! Der da auf dem Bilde, der sieht ja fast so aus wie Adolf<br />

Hitler. Eigentlich hast du den ganz gut getroffen. Aber mein lieber Junge, es<br />

gibt doch so viele wunderschöne Motive, Blumen zum Beispiel oder<br />

Landschaften, noch besser sind Gesichter von Menschen. Aber doch nicht der.<br />

Das ist doch überhaupt kein schöner Mann. Das kannst du doch sogar selbst<br />

erkennen. Ich sage dir etwas ganz Wichtiges, schöne Männer lächeln immer.<br />

Sieh einmal! Dort hängt ein Bild, darauf ist ein Athlet abgebildet, er war einst<br />

mit mir befreundet. Sieh dir das Bild einmal ganz genau an! Er hat sehr starke<br />

Muskeln vom Sport und er ist ein sehr schöner Mann und warum? Sieh an: Er<br />

lächelt nämlich."<br />

Ich ahnte, dass mein Großvater etwas gegen Hitler hat. Aber er nahm sogleich<br />

den Regenschirm und ging hinaus in den Garten und brachte mir eine große<br />

rote Rose mit, die triefte vom Regenwasser.<br />

„Die malst du mir einmal ab, denn Rosen sind die schönsten und edelsten<br />

Blumen, die es gibt. In Ufhoven werden solche Blumen sogar gezüchtet. Wenn<br />

sie trocken ist, duftet sie auch besonders gut."<br />

Ich gab mir die größte Mühe mit dieser Rose, aber ich bekam mit meinen<br />

damaligen Farbstiften, die Farben nicht so hin wie ich es wollte. Dieses Bild ist<br />

mir nicht gut gelungen. Als ich aber später einen Aquarellkasten geschenkt<br />

bekam, damit gelang mir das Bild mit einer anderen Rose viel besser.<br />

<strong>Ein</strong>mal habe ich auch meinen Großvater gezeichnet, besser porträtiert. Danach<br />

sagten alle erstaunt: Du hast Großvater besonders gut getroffen. Leider ist<br />

dieses Bild, für mich eigentlich ein sehr wichtige Bild, abhanden gekommen<br />

oder es wurde mit einfach gestohlen. Sonst hätte ich dieses Bild hier eingefügt.<br />

Auf meinen Großvater war ich nämlich besonders stolz.<br />

Meine Mutter besaß aus ihrer Schulzeit noch ein altes Realienbuch. Ich kannte<br />

es bereits vor der Schule in- und auswendig. Mit Hilfe dieses Buches hatte ich<br />

auch lesen gelernt. Besonders reizte mich die darin ausführlich beschriebene<br />

Dampfmaschine. Ich hätte sie zu gern gehabt oder auch nachgebaut. Dazu<br />

durchsuchte ich alle Schrotthaufen im Dorfe, um einen brauchbaren Kessel zu<br />

findender den Druck aushalten kann. Mein Klassenkamerad, Karl-Heinz Thor,<br />

der besaß eine richtige kleine Dampfmaschine aus der Vorkriegszeit und die<br />

funktionierte ausgezeichnet. Es machte richtig Spaß, zu sehen, wie die<br />

Mechanik perfekt arbeitete. Das Prinzip war gut durchschaubar und bekannt,<br />

denn ein Liter Wasser ergibt tausend Liter Wasserdampf. <strong>Ein</strong>e tolle<br />

Antriebsenergie, aber wie sollte ich die vielen komplizierten Materialprobleme<br />

lösen. Ich spannte meinen Opa und auch andere Leute im mein Vorhaben ein,<br />

aber das Material bekam ich wir nie zusammen. Enttäuscht sagte Großvater zu<br />

mir:<br />

"Warte doch bis der Krieg zu Ende ist, dann gibt es wieder alles. Dann kaufe<br />

ich dir bestimmt eine Dampfmaschine."<br />

Ich weiß nicht mehr, wie oft mein Großvater sich diesen Satz später immer<br />

wieder anhören musste, denn nach dem verlorenen zweiten Weltkrieg gab es<br />

fast gar nichts mehr zu kaufen. Es sei denn, man hatte etwas, was andere<br />

brauchten, und man konnte tauschen. Wir jedoch, hatten leider nichts zum<br />

tauschen und bekamen auch nichts. So einfach war damals die Wahrheit. Wenn<br />

25


Großvater aus der Stadt zurückkam und wieder einmal fluchte uns schimpfte,<br />

weil er wieder einmal nicht bekommen hatte, was er unbedingt und ganz<br />

dringend brauchte. In diesem Augenblick wurde Großvater wieder einmal an<br />

seine völlig fehlerhafte Verheißung erinnert.<br />

Wie ich zu meinem Gewissen kam<br />

Eigentlich hatte ich mir schon lange einen großen Bruder gewünscht, mit so<br />

einem größeren Bruder kann man spielen, etwas unternehmen und vor allen<br />

Dingen über alles Mögliche sprechen und diskutieren. Mit meiner kleineren<br />

Schwester war das nicht möglich.<br />

Als ich einmal mit meiner Mutter darüber sprach, dass ich zu gern noch einen<br />

großen möchte, lachte sie nur und antwortete kurz angebunden:<br />

"Schlag dir das aus dem Kopfe. Das wird nun nichts mehr.“<br />

Dazu lachte sie auch noch so komisch. Ich konnte aber den Sinn ihrer Rede<br />

damals noch nicht verstehen und dachte zuerst, meine Mutter wollte mich<br />

veralbern. Denn ich hatte meinem großen Bruder doch schon heimlich einen<br />

Namen gegeben und ich brauchte ihn wirklich sehr. Mein Vorname fängt mit<br />

"Ot" an, also musste sein Name, weil er ja etwas älter ist, mit "Os" beginnen.<br />

Ich hatte ihn ganz einfach Oskar genannt, aber niemals habe ich mit meiner<br />

Mutter, mit Großvater oder mit Lothar über meinen großen Bruder Oskar<br />

gesprochen. Ich dachte mir, wenn ich denen das erzähle, dann lachen die mich<br />

nur aus. Vielleicht hatte Lothar auch noch gesagt:<br />

„Zeig mir doch einmal deinen großen Bruder, Du hast doch gar keinen.“<br />

Oder:<br />

„Ha, ha, ha! Du willst dich doch nur von deinem Bruder beschützen lassen.<br />

Kannst du vielleicht nicht selber zuschlagen oder der hast du keine Kraft.“<br />

Ich dachte mir aber, wenn ich meinen Oskar einem anderen verrate, dann<br />

lachen die nur über mich und dann verrate ich ein Geheimnis. Aber ich stellte<br />

schnell fest, dass mein Oskar sehr klug war und er wusste eigentlich schon<br />

mehr wissen als ich. Vielleicht hatte ich schon viel zu oft meine Mutter befragt.<br />

Denn meine Mutter war meistens zu sehr beschäftigt oder sie hatte gerade<br />

keine Zeit:<br />

"Mein Junge, du bist viel zu neugierig. Das ist doch nun einmal so und daran<br />

kannst du nichts ändern. Ich kann das auch nicht erklären und dein Opa auch<br />

nicht. Begreife es doch endlich! Deine vielen Fragen gehen mir allmählich auf<br />

die Nerven. Dein Vater müsste schon Professor sein, dann könnte er vielleicht<br />

alle deine Fragen beantworten."<br />

Aber mit dieser Antwort wollte ich mich nicht zufrieden geben. Ganz heimlich,<br />

meistens vor dem <strong>Ein</strong>schlafen habe ich meist mit meinem Oskar gesprochen.<br />

Oskar war sehr klug und konnte mich stets gut beraten. Mein Oskar half mir<br />

auch immer, denn er wusste auch meistens Bescheid, wenn ich in einer<br />

schwierigen Situation war und meine Mutter wieder einmal austricksen musste.<br />

Er kannte viele Tricks. Ich habe aber auch manchmal versucht, meinen Oskar<br />

zu überlisten. Wenn wir Streiche planten und dazu unterwegs waren, dann habe<br />

ich es Oskar erst hinterher gebeichtet. Aber mein Oskar war immer bestens<br />

informiert und machte mir manchmal sogar heftige Vorwürfe:<br />

„So etwas macht man nicht. Nein, das war nicht gut! Du hättest besser<br />

aufpassen sollen. Darauf kannst du dir nichts einbilden.“<br />

Aber er blieb mir trotzdem treu. Was hätte ich nur ohne meinen Oskar machen<br />

sollen. Damals wusste ich oder ich ahnte auch noch nicht, wie wichtig mein<br />

Oskar, meine innere Stimme oder mein Gewissen, für mich noch werden sollte.<br />

26


Mein Großvater<br />

wurde in dieser Zeit immer wichtiger für mich. Mein Vater war im Kriege und<br />

ihn konnte ich nicht fragen und Mutter wollte ich nun auch nicht mehr auf die<br />

Nerven gehen. Es blieb mir nur mein Großvater, der besaß nämlich ein altes<br />

Lexikon und dort stand fast alle drin, was ich wissen wollte. Für mich war das<br />

ein riesiger und unschätzbarer Gewinn. Das Lexikon stand lange Zeit völlig<br />

ungenutzt im der Anrichte im Wohnzimmer und ich hatte es zufällig wieder<br />

entdeckt. Wenn ich Fragen oder Probleme hatte, ging ich nun zu meinem<br />

Großvater, er wusste aber auch sehr viel. Wenn er aber auch nicht weiterkam,<br />

dann sahen wir beide einfach im Lexikon nach. Das Lexikon stammte aus dem<br />

Jahre 1931. Aber mein Großvater machte es mir nicht leicht. Es legte sich auch<br />

Fragen zurecht oder er dachte sich auch selbst Fragen aus, die ich ihm<br />

beantworten musste. Oft nahm ich seine Fragen auch mit in die Schule und<br />

fragte meine Lehrer danach, wenn wir im Lexikon doch keine Antwort fanden.<br />

Dabei kamen immer interessante Dinge heraus und oft ergaben sich daraus<br />

viele weitere Fragen. So suchten wir ständig nach irgendwelchen Lösungen für<br />

Begriffe und Probleme und beschäftigten uns damit gegenseitig. Vielleicht<br />

wurde gerade hierdurch meine Neugierde auf alles noch weiter angestachelt. Es<br />

war wie ein richtiges Spiel, jeder suchte Fragen, um den anderen anzustacheln<br />

und um Informationen zu suchen. Großvater wurde dadurch mein eigentlicher<br />

geistiger Vater und ich hatte stets ein gutes Gefühle, weil es Opa dabei selbst<br />

richtig Spaß machte. Ich wusste ja, er erzählte und diskutierte auch sehr gern<br />

mit anderen Leuten und er hatte stets eine eigene Meinung und er wusste auch,<br />

wie man am besten sachlich argumentieren kann. <strong>Ein</strong>mal hatten wir aber auch<br />

richtigen Krach miteinander. Großvater reparierte und putzte an einem<br />

Sonntagnachmittag sein altes Damenfahrrad. Natürlich half ich im dabei und<br />

füllte Öl in die Nippel. Freunde müssen sich doch gegenseitig helfen. Die<br />

Hühner hatte Großvater, wie in den meisten Fällen, auf den Hof gelassen,<br />

obwohl sie ihn schon oft genug bei der Arbeit störten.<br />

„Opa, warum lässt du denn immer die Hühner frei laufen? Die scheißen doch<br />

nur den ganzen Hof voll. “<br />

„Mein Junge, das kannst du noch nicht verstehen. Die Hühner sind den ganzen<br />

Tag in ihren engen Bereich und da können sie nicht so richtig herumlaufen.<br />

Aber so können sie sich auch einmal die Füße ordentlich vertreten. Du<br />

brauchst das ja auch. Danach legen sie noch mehr Eier und besonders große.<br />

Verstehst du das jetzt?"<br />

„Das kann ich nicht ganz verstehen. Woher weißt du denn das? Haben dir das<br />

die Hühner vielleicht erzählt?“<br />

Großvater machte das mit den Hühnern aber meistens so, obwohl sie ihn oft<br />

genug bei der Arbeit störten und er anschließend den Hof von der<br />

Hühnerscheiße wieder befreien musste. Ich pumpte dazu Wasser aus unserem<br />

Brunnen auf den Hof und Großvater kehrte die Hühnerscheiße in den Garten<br />

und anschließend auf den Komposthaufen. Über die Hühnerscheiße schimpfte<br />

auch immer unsere<br />

Großmutter, weil sie sich die Hausschuhe mit Hühnerdreck beschmutzte:<br />

„Und dann wird der Scheißdreck auch noch ins Haus getragen.“<br />

Meine Mutter rief in diesem Augenblick nach mir, damit ich meine Milch noch<br />

austrinken sollte. Aber plötzlich hörten wir Großvater unten auf dem Hof<br />

schimpfen und fluchen, denn er hatte das Fahrrad wieder zusammengebaut,<br />

aber er konnte keine Luft auf den Vorderreifen pumpen, weil ihm ein Ventil<br />

fehlte. Er beschimpfte natürlich mich:<br />

„<br />

27


Dieser Junge hat doch seine Augen und Hände überall dazwischen. Wo hat er<br />

nur das Ventil nur versteckt?"<br />

Aber ich hatte das Ventil wirklich nicht in den Händen. Ich hatte es mir nicht<br />

einmal gesehen. Aber mein Großvater glaubte mir diesmal nicht. Meine Mutter<br />

durchsuchte deshalb auch noch alle meine Hosentaschen, da war zwar oft sehr<br />

viel darin, aber sie fand unter den vielen Dingen kein Fahrrad-Ventil.<br />

Großvater konnte sich darüber nicht wider beruhigen, denn er musste nun den<br />

langen Weg bis zum Fliegerhorst in Langensalza, wo er damals arbeitete, zu<br />

Fuß<br />

zurücklegen.<br />

Am nächsten Morgen kam Oma auf den Hof, um die Hühner zu füttern, da fiel<br />

ihr auf, dass der Hahn mit hängendem Kopf in der Ecke hockte. Um wenigsten<br />

das damals so wertvolle Fleisch zu retten, musste der Hahn auf den Hackklotz<br />

sofort sein Leben lassen. Beim Ausnehmen des Hahnes machte Großmutter<br />

dann eine sehr wichtige Entdeckung. Sie fand im Magen des Hahnes das<br />

gesuchte Ventil vom Fahrrad. Als ich aus der Schule zurückkam rief Oma<br />

gleich nach mir:<br />

„Otmar! Komm einmal ganz schnell her! Hier sieh dir das einmal an. Das ist<br />

das gesuchte Ventil. So sieht es aus. Es war im Magen des Hahnes. Dein Opa<br />

wird sich darüber freuen, nun kann er morgen wieder mit dem seinem Fahrrad<br />

zur Arbeit fahren."<br />

„Aber mich hat mein Opa beschuldigt: Ich hätte angeblich das Ventil versteckt.<br />

Das war ganz gemein von Opa. Ich hätte so etwas überhaupt nicht gemacht."<br />

Ich war empört und enttäuscht, weil mein geliebter Großvater sich dazu<br />

hinreißen ließ, mich zu beschuldigen. <strong>Ein</strong>e ganze Woche bin ich nicht zu ihm<br />

gegangen, sonst war ich zweimal oder dreimal am Tage bei ihm. Er wird es<br />

aber bestimmt selbst gemerkt haben und es hat ihm auch bestimmt nicht<br />

gefallen. Wir hatten zusammen soviel Spaß beim Durchsuchen des Lexikon<br />

und nun das. Meine Mutter hatte gerade das Mittagessen auf den Tisch gestellt,<br />

da kam Großvater hoch zu uns hoch. Er polterte die Treppe empor und kam zu<br />

uns herein. Dabei strich er mir übers Haar.<br />

„Mein lieber Otmar! Ich hatte dich zu Unrecht in Verdacht. Ich entschuldige<br />

mich bei dir und zur Versöhnung habe ich dir auch etwas mitgebracht. Es läuft<br />

unten auf dem Hofe herum und heißt Boppi. Jeder von uns darf sich einmal<br />

irren, diesmal war ich es. Ab sofort bleiben die Hühner in ihrem Bereich, die<br />

lasse ich nicht mehr auf den Hof. Komm einmal ganz schnell mit."<br />

Was unten auf dem Hof herumlief war ein Hund, ein Voxterrier. Damit ging<br />

unser sehnlichster Wunsch in Erfüllung. Opa hatte ihn gekauft. Nur Großmutter<br />

hatte einen <strong>Ein</strong>wand:<br />

„Noch so ein Kostgänger und das mitten im Kriege.“<br />

Der Hund hörte auf den Namen Boppi und war leider nur kurze Zeit unser<br />

treuer Freund. <strong>Ein</strong>mal sind wir mit Boppi in den Feldern spazieren gegangen<br />

und Opa hatte ihn von der Leine gelassen. In einem Rübenfeld hat Boppi einen<br />

Hasen erwischt und tot gebissen, das kam uns allen sehr gelegen. Nun ging<br />

Opa öfter gegen Abend mit Boppi in den Feldern spazieren, aber der erste Hase<br />

blieb leider auch der letzte. Wir haben bitterlich geweint, denn unser heiß<br />

geliebter Hund wurde später von den Amerikanern mit einem Jeep überfahren.<br />

Aber Großvater brachte nach kurzer Zeit einen Nachfolger mit, denn wir hatten<br />

uns nun alle an den Hund gewöhnt und er war zu einem unentbehrlichen<br />

Familienmitglied geworden.<br />

28


Unsere Ängste<br />

Neben den Lehrern und dem Schuldirektor Sauber hatten wir Kinder anfänglich<br />

auch Angst vor Max Erbstößer, bis wir feststellten, dass Max viel zu langsam<br />

war, um uns zu erwischen. Wenn Max wieder einmal in die Schule kam,<br />

mussten alle Jungen auf dem Schulhof in einer Reihe antreten und dann suchte<br />

er sich seine Sünder heraus, um sie vom Direktor Sauber bestrafen zu lassen.<br />

Max war der Gemeindediener und in dieser Funktion ging er oft durch die<br />

Straßen unsers Dorfes, um mit einer Handglocke auf sich aufmerksam zu<br />

machen und danach verkündete er im Dorf wichtige Neuigkeiten. Er trug eine<br />

alte blauschwarze Militärjacke und eine Schildmütze auf dem Kopf und damit<br />

war er eine Amtsperson. Meine Mutter behauptete stets dagegen, dass Max ein<br />

freundlicher Gemütsmensch sei, aber damit konnte sie unsere Angst vor Max<br />

nicht kleiner machen. <strong>Ein</strong>mal im Spätsommer hatte ein Bauer einen großen<br />

Strohdiemen vorn am <strong>Ein</strong>gang der Pfütze, einem Flurstück, aufgestapelt. Als<br />

sie gerade damit fertig waren, nahmen wir den großen Strohhaufen sofort in<br />

Besitz. Wir bestiegen den Haufen und bauten unsere Höhlen hinein. Später, als<br />

wir schon lange wieder an der Pferdeschwemme spielten, fuhr die Feuerwehr<br />

mit Trari-Trara, vorbei, denn der Strohdiemen brannte lichterloh und war schon<br />

nicht mehr zu retten. Am nächsten Tage kam Max mit einer Frau in die Schule<br />

und er sprach sogar laut von Sabotage mitten im Kriege und nun hat das Vieh<br />

weniger zu fressen und muss hungern. Der Frau gehörte der Strohdiemen und<br />

sie hatte gestern einen Jungen gesehen und wollte ihn jetzt wieder erkennen.<br />

Nun suchte sie den Übeltäter und sah jeden Jungen lange ins Gesicht. Mein<br />

Freund Lothar stand neben mir und griff verängstigt nach meiner Hand. Er war<br />

ja auch gestern mit dabei. Mir selbst, war aber auch nicht besonders gut. Ich<br />

war voller Angst und glaubte schon, ich hätte den Strohhaufen selbst<br />

angezündet, aber ich hatte doch überhaupt keine Streichhölzer. Max sah mich<br />

auch streng an und fragte:<br />

„Du bist doch der Kleine von Änne?“<br />

Ich konnte aber nicht antworten, weil ich auch zitterte, und nickte nur. Die Frau<br />

ging aber auch an uns beiden vorbei.,Wwlcheeine Erlösung, als Max bnd die<br />

Frau vor Hans Metz stehen blieben und die Frau zeigte mit ihrem singer direkt<br />

auf Hans.<br />

„Der da, der war es. Der hat den Strohdiemen angezündet. Ich habe ihn wieder<br />

erkannt.“<br />

Hans zitterte gleich am ganzen Körper und er konnte vor Angst auch nicht<br />

mehr sprechen, er stotterte nur noch und er hatte auch ganz weiche Knie und<br />

sackte zusammen. Dann brachten sie Hans zum Direktor Sauber. Lothar fragte<br />

mich ganz aufgeregt:<br />

„Du, was macht der mit Hans?"<br />

„<br />

Ich weiß es auch nicht. Vielleicht verhaut er Hans. Du, der Max hat mich<br />

erkannt.“<br />

Es war auch streng verboten, im alten Steinbruch mit der verrosteten Lore zu<br />

fahren. Dort lagen noch Gleise vom früheren Lehmabbau. Man brauchte schon<br />

ein paar starke Jungen, um die schwere Lore wieder auf die Schienen zu setzen<br />

und an den Start hoch zu schieben. Aber dann rollte die Lore fast mit<br />

Schussfahrt durch das Gefälle hinab. Aber es war kreuz gefährlich, denn man<br />

musste bereits von der Lore seitlich abgesprungen sein und die Rolle perfekt<br />

beherrschen, bevor die Gleise endeten. Dann nämlich sprang die Lore vom<br />

Gleis und überschlug sich mehrfach, es sollte nämlich keiner darunter kommen.<br />

Hinter dem Hause meines anderen Großvaters, am Denkmalsplatz, lagen unter<br />

einer Abdeckung noch viele Gleise und auch Loren vom Bau der<br />

29


Harthchaussee, obwohl wir oft damit spielten, musste man immer mit einem<br />

überraschenden Besuch von Max rechnen und ganz flink sein. Weil es aber so<br />

schön war, machten wir es eben öfter.<br />

Max kam schon wieder in die Schule. Jemand aus dem Dorfe hatte uns<br />

beobachtet und Max suchte einen größeren dunkelhaarigen Jungen. Den gab es<br />

aber nicht, denn mein Cousin Egon war gerade krank und lag zu Hause im Bett.<br />

Es hat ihn aber keiner verraten, aber alle wussten ganz genau, wer gesucht<br />

wird. Nach dem spielen mit der Lore, spielten wir vorgestern noch in der<br />

wilden Salza. Die hatte sich an manchen Stellen bis vier Meter tief in den<br />

Boden hineingesägt. An einer gefährlichen Stelle wollte Egon beweisen, dass<br />

er viel besser springen kann als alle anderen. Er sprang mit kurzem Anlauf los,<br />

über die Salza hinweg, aber er rutschte am gegenüberliegenden feuchten Hang<br />

ab und fiel rückwärts ins Wasser. Da es ein kühler Tag war und er nicht gleich<br />

nach Hause gegangen ist, hatte er sich erkältet.<br />

Wenn wir wieder einmal auf einem Obstbaum saßen und uns die Birnen,<br />

Kirschen oder die Zwetschgen schmecken ließen, aber plötzlich einer von uns<br />

„Max“ rief, flüchteten wir sofort in alle Himmelsrichtungen. Max tauchte<br />

manchmal aber auch ganz unvermittelt dort auf, wo wir gerade spielten oder<br />

unseren Unsinn trieben. Aber er konnte nie einen von uns fangen, weil wir viel<br />

schneller geworden waren und deshalb trieben wir auch manchmal mit Max.<br />

Schimmes erster großer Auftritt<br />

In der zweiten Klasse bekamen wir eine neue Lehrerin Fräulein Rasch und<br />

diese Lehrerin war ganz anders als die Kneus. war eine Seele von Mensch und<br />

uns Kindern besonders zugetan, denn sie war immer freundlich und nett, eben<br />

ganz anders als die verhasste Kneus. Sie erklärte alles immer noch einmal, bis<br />

wir es endlich verstanden hatten. Manchmal stellten wir uns extra und<br />

besonders dumm an, aber das störte sie nicht und sie erklärte es noch einmal<br />

und immer noch einmal. Die Mädchen aus unserer Klasse hingen ganz<br />

besonders an ihr. Sie holten Fräulein Rasch sogar von zu Haus ab und brachten<br />

sie hin zur Schule und nach dem Unterricht auch wieder zurück nach Hause.<br />

Als uns Fräulein Rasch nach dem einem Schuljahr wieder verließ und sie sich<br />

von uns verabschiedete, weinten wir alle bitterlich. Wir hätten sie zu gern<br />

behalten, denn wir liebten sie.<br />

<strong>Ein</strong>er von uns wird ihr aber besonders gut im Gedächtnis geblieben sein,<br />

nämlich unser Schimme. Er hatte ganz hellblonde Haare und den Schalk trug er<br />

im Gesicht.<br />

Die große Pause war gerade zu Ende gegangen und Fräulein Rasch hatte<br />

soeben die Unterrichtsstunde begonnen, da meldete sich Schimme:<br />

„Fräulein Rasch! Ich muss unbedingt austreten gehen.“<br />

„Nanu? Dafür war aber die große Pause lang genug. Setz dich!"<br />

Aber unser Schimme wurde etwas drängender:<br />

„Fräulein Rasch! Ich muss ganz dringend! Sonst mache ich hier noch in die<br />

Hose.“<br />

Jetzt wurde Fräulein Rasch etwas nervöser, denn die ganze Klasse kicherte<br />

bereits. Wir kannten nämlich unseren Schimme besser als sie und Schimme<br />

würde bestimmt auch nicht aufgeben. Dafür war er bekannt und deshalb stieg<br />

die Spannung.<br />

30


„Komm bitte nach vorn! Stell dich dort an den Ofen und störe uns nicht<br />

weiter!"<br />

Nun stand Schimme nahe dem großen heißen Ofen, der die Klasse mit Wärme<br />

versorgte. Jetzt nutzte Schimme, den Fräulein Rasch sehr unterschätzt hatte,<br />

seine ganz besondere Position vor der Klasse aus und zeigte uns allen, wie<br />

dringend es ihm mit dem Wasserlassen war. Mit seinen beiden Händen hielt er<br />

krampfhaft fest, was ihm sogleich zu entrinnen drohte und dazu verzog er<br />

krampfhaft das Gesicht vor Qualen. Zusätzlich deutete er mit den seitlichen<br />

Bewegungen seines Zeigefingers an, begleitet von seinen Blicken, dass er<br />

gleich diejenigen, die in seiner Nähe sitzen, mit seinem Urin bespritzen wird.<br />

Die ganze Klasse wartete nun höchst gespannt auf das unausbleibliche Ereignis<br />

und schon rückten ein paar Jungen etwas beiseite, um ja nichts ab zu<br />

bekommen. <strong>Ein</strong>e Frage stand nun im Raum: Würde sich Schimme das wirklich<br />

trauen? Das hatte sich noch keiner erlaubt.<br />

Da sich Fräulein Rasch, aber erneut im Unterricht gestört fühlte, sollte<br />

Schimme nun sein Gesicht dem heißen Ofen zu wenden. Dieser Ofen, das war<br />

schon ein gewaltiges schwarzes Ding, ein riesiger Kanonenofen und in diesem<br />

Augenblick, als sich Schimme dem Ofen zuwendete, da zischte es auch schon<br />

und eine Dampfwolke stieg auf. Schimme pinkelte seelenruhig und mitten im<br />

Unterricht an den heißen Kanonenofen. Die Mädchen rissen alle Fenster auf,<br />

alle Jungen krümmten sich vor Lachten und jubelten anerkennend. Fräulein<br />

Rasch war sehr empört über dieses höchst unanständige Verhalten im<br />

Unterricht und brachte Schimme, als er endlich fertig war, zum Direktor<br />

Sauber. Diese Stunde war gelaufen, bevor sie richtig begonnen hatte und noch<br />

lange wurde über diese Unterrichtsstunde gesprochen. Schimme hatte sich<br />

damit bei uns einen sehr hohen Rang erkämpft, denn dass hatte sich bisher<br />

noch keiner erlaubt und wer würde es ihm schon gleich tun.<br />

„Du Schimme! Was hat denn der Sauber mit dir gemacht?"<br />

„Ach! Eigentlich gar nichts! Der hat eben nur geschimpft und dann er noch<br />

gesagt, dass ich künftig rechtzeitig zur Toilette gehen soll, wenn es soweit ist."<br />

„Sonst nichts? Keine Haue? "<br />

„Nee! Warum denn nur? Ich musste doch nur zur pinkeln und die Rasch hat<br />

mich nicht gelassen."<br />

„Hat er dich wirklich nicht verhauen?"<br />

„Wieso denn nur? Ich habe doch nichts Böses getan. Fräulein Rasch hat mich<br />

nur nicht zum Klo gelassen."<br />

Großvaters Haus<br />

in dem wir wohnten, hatten Großvater zusammen mit seinem Freund Schröte in<br />

den zwanziger Jahren als Doppelhaus bauen lassen. Wir wohnten in der ersten<br />

Etage und die Großeltern im Erdgeschoß. Zum Hause gehörten noch zwei<br />

Höfe, ein Nebengebäude und ein Schuppen für das Auto. In der Waschküche<br />

war noch eine Kruden eingebaut, auf der früher das Viehfutter gekocht wurde.<br />

Im Sommer kochten Oma und Mutter das Mittagessen in der Kruden im<br />

Waschhaus und dann saßen wir alle gemeinsam auf dem Hof im kühlen<br />

Schatten. <strong>Ein</strong>en Tisch hatte Großvater aufgebaut und so konnten wie<br />

gemeinsam unser Mittagessen einnehmen und essen. Ich fand dass jedes Mal<br />

sehr schön, wenn wir alle wieder zusammen waren, denn dann war es immer<br />

lustig, weil Großvater wieder anfing Geschichten von früher zu erzählten.<br />

31


<strong>Ein</strong> Hühnerstall sowie ein Ziegenstall und ein Schweinekoben befanden sich<br />

auch im Nebengebäude. Darüber war ein Boden, auf dem Stroh aufbewahrt<br />

werden konnte, aber meist lag dort nichts höchstens Gerümpel. Hinter dem<br />

Nebengebäude befand sich der Hausgarten. In Ufhoven bezeichnete man so ein<br />

Haus, als ein Haus eines Rucksackbauern. Er besitzt zwar kein eigenes Feld,<br />

aber er trägt abends dennoch im Rucksack das Futter für seine Tiere nach<br />

Hause. Aber unser Großvater hatte sich vorsorglich einen Straßengraben<br />

gepachtet und auch noch eine Grasfläche auf dem Sülzenberg, um genügend<br />

Grünfutter für die Kaninchen zu haben und im Garten wuchsen schon die<br />

Futterrüben für den Winter. Auf dem Hofe gab es noch eine mit dicken Bohlen<br />

abgedeckte Grube und daneben stand noch das gewisse Häuschen mit dem<br />

Herzchen in der Tür.<br />

Mein Großvater,<br />

Adolf Freitag, war ein echter Ufhover, der Stammbaum seiner Familie reichte<br />

weit zurück. Sein Vater hat auch schon für die Leute die Schuhe repariert und<br />

mein Großvater hat bereits als Kind dabei zugesehen. Er half auch mit und<br />

durfte auch schon einmal selbst kleine Reparaturen ausführen. Auf diese Weise<br />

konnte er sich schon in jungen Jahres alle Arbeitsgänge gründlich angeeignet.<br />

Als sein Vater später starb, erbte er das Schuhmacherwerkzeug und auch das<br />

noch vorhandene Leder. Großvater arbeitete aber auch als Bierkutscher und<br />

auch im Travertinwerk. Von dorther kamen auch die Bruchplatten, die auf<br />

unserem Hof lagen. Gegen die Bierkutscherei hatte aber seine Frau etwas<br />

einzuwenden, der er kam jeden Abend betrunken nach Hause. Während des<br />

Krieges arbeitete Großvater auf dem Fliegerhorst in Langensalza als Schuster<br />

und reparierte dort die Schuhe und die Stiefel des Flugpersonals sowie die<br />

Schuhe deren Frauen und Kinder. Unsere Großmutter arbeitete in der Küche<br />

des Fliegerhorstes und brachte abends oft noch die Reste der gekochten<br />

Speisen und Suppen im Kochgeschirr mit nach Hause. Darauf warteten wir<br />

schon gespannt, denn diese Gerichte schmeckten immer bestens. An dem<br />

fliegenden Personal wurde auch in den schlechten Kriegszeiten nicht gespart,<br />

es war ein besonders wichtiges<br />

Personal.<br />

Großvater legte immer sehr viel wert darauf, dass er nur Schuster ist und nicht<br />

Schuhmacher, denn er hatte den Beruf nicht erlernen können. Dazu hatte sei<br />

Vater mit den vielen Kindern kein Geld. Es reichte gerade so, um sich über<br />

Wasser zu halten. Aber Großvater konnte trotzdem richtige neue Schuhe<br />

anfertigten, aber meistens fehlte ihm dazu das notwendige Obermaterial. Wenn<br />

er aber den Auftrag dazu bekam, fertigte er auch neue Schuhe für seine Kunden<br />

an. Aber Großvater konnte wirklich etwas als Schuster und er beherrschte sein<br />

Handwerk perfekt. Manchmal kamen auch Leute von der Schumacherinnung<br />

zum Fliegerhorst, die sich ganz gründlich die von Opa reparierten Schuhe<br />

ansahen und damit stets sehr zufrieden waren. <strong>Ein</strong>mal musste er sogar<br />

vorführen wie eine <strong>zuvor</strong> eingeweichte Ledersohle mit Holznägeln<br />

aufgeschlagen wird. Aber es gab da nichts zu tadeln und deshalb war Opa<br />

immer Stolz auf seine Arbeit und seine Kunden waren sehr zufrieden mit ihm.<br />

Als Schuster hatte Opa einen guten Ruf, wegen seiner perfekten Arbeit und<br />

diese Arbeit riss nach dem Kriege nie ab, sie wurde sogar noch mehr und<br />

manchmal konnte er sich Arbeit kaum noch retten. Zumal die Leute ihre Schule<br />

32


schnell wieder haben wollten. Manche hatten nur eineinziges Paar. Oftmals<br />

kamen auch Leute, die ihre gerade reparierten Schuhe bei einem anderen<br />

Schuster abgeholt hatten und nun Opa baten, alles noch einmal zu machen. Opa<br />

vertrat dabei immer die Meinung:<br />

„Wenn ich einen Schuh repariert habe, dann muss er fast so aussehen wie ein<br />

neuer Schuh und er muss wieder für einige Jahre halten. Jede Reparatur<br />

beweist das Können des Schusters. Es gibt gelernte Schumacher, die können<br />

keine Schuhe reparieren. Aber wenn ich einen meiner Kunden wieder treffe,<br />

dessen Schuhe ich repariert habe, dann frage ich ihn auch danach und sehe mir<br />

meine Reparatur noch einmal an."<br />

Aber manchmal fluchte er doch, aber immer dann, wenn er für Kunden völlig<br />

herunter gelatschte Schuhe reparieren sollte, bei denen bereits die Brandsohle<br />

durchgelaufen war und der Dreck noch daran hing. Dann sagte er meist zu<br />

seinem Kunden mit so einem gewissen Grinsen:<br />

„Du, weißt du was? Wenn ich deine Schuhe reparieren soll, kostet dir das<br />

mehr als fünfzig Mark.“<br />

„Warum ist das so teuer?“<br />

„Ich sage es dir lieber gleich, damit du es dir noch einmal überlegen kannst.<br />

Besser ist es, du putzt deine Schuhe erst gründlich und anschließend schmeißt<br />

du sie ganz einfach weg. Deine Schuhe sind nämlich nichts mehr wert. Dein<br />

Dreck, der würde meine Arbeit um 100 % verteuern."<br />

Aber weil es aber keine neuen Schuhe gab, wollte der Kunde lieber eine große<br />

Reparatur und brachte seine Schuhe geputzt am gleichen Tag zurück.<br />

Großvater bekam auch Schuhe zur Reparatur, die ihm von der Innung zugeteilt<br />

wurden. Meist waren es „ Treter“, denn die Innung testete jährlich immer<br />

wieder sein Können und auch seine Preiskalkulation. Sonst hatten sie ihm die<br />

Konzession entzogen. Aber die hatten nichts zu meckern. Opa zeigte gern sein<br />

Können, denn die Anerkennung seitens der Innung war ihm sehr wichtig, denn<br />

von der Innung bekam er auch sein Material zugeteilt, wenn die gerade etwas<br />

hatten. Oft wurde er auch von der Innung aufgefordert seine Preise zu erhöhen.<br />

Aber manchmal reparierte Großvater auch Schuhe für umsonst und nahm nur<br />

ein Trinkgeld an:<br />

„Weißt du! Kinder brauchen viele Schuhe und was es heute zu kaufen gibt,<br />

dass taugt meistens nichts.“<br />

Wenn Großvater von der Arbeit auf dem Fliegerhorst kam, bin ich ihm gern<br />

entgegengegangen. Wir hatten dazu einen Treffpunkt am Schwarzen Weg,<br />

unter der Bahnbrücke festgelegt. Ab dieser Stelle durfte ich dann sein altes<br />

schwarzes Damenfahrrad benutzen, so habe ich das Radfahren gelernt. <strong>Ein</strong>mal<br />

durfte ich das Fahrrad noch länger benutzen und da ich mich schon ziemlich<br />

sicher fühlte, konnte die Fahrt auch nicht schnell genug gehen. So schob ich<br />

das Fahrrad die Zimmersche Hohl hinauf und hatte bergab eine schöne schnelle<br />

Fahrt, vorbei an der Pferdeschwemme und jetzt wollte ich weiter rollen in das<br />

Eselsgässchen hinein. Aber beim <strong>Ein</strong>biegen ins Eselsgässchen kam mir eine<br />

ältere Frau entgegen. Ich wollte sie jedoch nicht umfahren und ich bremste<br />

heftig und prallte gegen eine Hauswand. Ich wurde dabei über den<br />

Gesundheitslenker gegen die Wand geschleudert. Als ich wieder zu mir kam,<br />

lag ich bei der Gemeindeschwester Erika auf der Liege. Ich hatte zwei<br />

Platzwunden und sah schön verbeult aus. Die Frau, die ich nicht umfahren<br />

wollte, hat mich zur Gemeindeschwester Erika bringen lassen. Die Sorge um<br />

mich, verdrängte erst einmal die Sorge um Großvaters Fahrrad. Die Felge des<br />

Vorderrads war nämlich eine acht und zusätzlich gebrochen. Es war aber gut,<br />

dass sich Opa ein zweites Vorderrad besorgt hatte. Da ich nun Radfahren<br />

33


konnte, holte ich meinen Großvater nicht mehr von der Arbeit ab und fasste<br />

sein altes Damenfahrrad auch nie wieder an.<br />

Meinen Großvater kannten in Ufhoven alle Leute und sogar viele Fremde, er<br />

kannte auch alle Spitznamen der Ufhover und auch deren Entstehung. ihre<br />

Lebensgeschichten und auch ihre Eigenheiten. Wer nach dem Kriege zu ihm<br />

nach Hause kam, um die Schuhe reparieren zu lassen, der blieb auch eine ganze<br />

Weile sitzen. Großvater hatte sich zu Hause eine kleine Werkstatt eingerichtet.<br />

In seiner kleinen Werkstatt wurde über alles Mögliche und vor allen Dingen<br />

über Politik diskutiert und manchmal ging es sehr hitzig zu, besonders wenn<br />

mehrere Kunden zugleich bei Großvater waren. Seine kleine Werkstatt glich<br />

eher einem Diskutierclub. So war Großvater immer bestens informiert, über<br />

alles was so in einem Dorfe passiert und wer mit wem schon einmal etwas hatte<br />

und wem welcher Garten oder welches Feld, welches Grundstück oder Haus<br />

gehört oder gehörte. Wer inzwischen das Grundstück an wen und wann<br />

verkaufte hatte. Großvater wusste einfach alles und ganz genau und es lohnte<br />

sich wirklich nicht, mit ihm darüber zu streiten. Auch die Fremden und<br />

Zugezogenen kannte er alle und auch deren Lebensgeschichten und war mit<br />

vielen eng befreundet.<br />

Aber Großvater war auch selbst bekannt wie ein bunter Hund. Alle im Dorf<br />

kannten ihn und begrüßten ihn wie einen alten Freund. Wenn er durchs Dorf<br />

ging, riefen ihm oft die Leute zu<br />

„Hallo Adolf! Wie geht es dir? Ich habe wieder Arbeit für dich, wann kann ich<br />

zu dir kommen?“<br />

Wenn ihm aber fragte, was er zu diesem oder und jenem politischen Problem<br />

meint. Dann dauerte es oft sehr lange, bis er endlich wieder zu Hause war und<br />

oft war es dann erst spät am Abend nach Hause. Ich war einmal sehr<br />

überrascht, als ich in Langensalza, in einer Buchhandlung, gefragt wurde, wie<br />

ich heiße. Ich habe daraufhin und meinen Namen genannt.<br />

„Aha! Schütze heißt du? Lass mich bitte überlegen: Dann müsstest du also der<br />

Enkelsohn vom Ufhover Kirmeslutsch sein. Sag deinem Großvater Adolf einen<br />

schönen Gruß von mir. Er war schon lange nicht hier."<br />

Ich wusste aber nicht, was mit dem Kirmselutsch gemeint war und empfand es<br />

zuerst befremdlich oder es ist ein Schimpfwort. Deshalb fragte ich ganz<br />

vorsichtig meine Mutter danach. Ich dachte mir, dass es vielleicht etwas<br />

Schlechtes ist. Aber Mutter erzählte mir, dass Großvater einige Jahre in<br />

Ufhoven der Burschenvater bei der Kirmes war und er hatte auch die Aufgabe<br />

den Kirmestanz zu regeln. Aber den Begriff Kirmeslutsch, für diese Funktion<br />

des Burschenvaters habe ich außer in Ufhoven nie wieder gehört. Im Ufhover<br />

Dialekt heiß das allerdings: „Kärmseluutsch." Es ist auch kein Schimpfwort.<br />

Wenn Großvater aber von früher erzählte, bekamen wir immer sehr große und<br />

sehr lange Ohren. Er erzählte uns vom 1. Weltkrieg, von Frankreich, vom<br />

letzten deutschen Kaiser, vom Kapp-Putsch, von Krupp und den Bauarbeiten<br />

der Ufhover Dorfstraße. Er erzählte auch von seinen Eltern und seinen<br />

Geschwistern und von der Politik seiner Partei und über den nicht enden<br />

wollenden Streit mit den langen Lahr, dem einzigen Kommunisten im Dorfe.<br />

Er blieb nie eine Antwort schuldig und hatte er doch einmal Probleme, dann<br />

sagte er:<br />

„Lass mich bitte etwas überlegen, es fällt mir bestimmt wieder ein. Gleich sage<br />

ich euch, wie es war.“<br />

34


Mich interessierten meist die Geschichten über die Menschen in unserem Dorfe<br />

und die machten mich sehr neugierig. Großvater kannte sie alle und ganz<br />

genau. Ich glaube, dass daher auch mein ganz ursprüngliches Interesse an<br />

Menschen stammt, deren Eigenarten und deren Entwicklung sowie ihr<br />

Verhalten im Streit oder im Konflikt sowie ihre Feindschaften im Dorfe. Das<br />

musste man genau wissen, um ja nicht in ein Fettnäpfchen zu treten, denn im<br />

Dorfe gab es geheimnisvolle Linien und Grenzen. Diese konnte man nicht<br />

sehen, aber sie waren trotzdem vorhanden. Wenn Herr Meier in die Schänke<br />

kam, dann bezahlten Schmidts und gingen. Andere wechselten die<br />

Straßenseiten, wenn ihnen jemand entgegen kam oder wenn sie doch<br />

aneinander gerieten, dann prügelten sie sich, um ihre Abneigung zu erneuern.<br />

Als Fremder stapft man völlig blind durch das Dorf. Aber die hier zu Hause<br />

waren, die sahen diese Linien und Grenzen.<br />

Vielleicht stammt daher auch mein ursprüngliches Interesse an<br />

psychologischen Fragen und Problemen, obwohl mir damals das <strong>Wort</strong><br />

Psychologie noch völlig fremd war. Warum verhalten sich die Menschen aber<br />

so oder ganz anderes? Warum sind die Menschen charakterlich so verschieden?<br />

Warum ist keiner so wie der andere? Warum liegen Menschen schon seit<br />

Jahrzehnten im Streit? Warum kann keine Seite nachgeben?<br />

Wenn Großvater dabei auf sein eigenes Haus zu sprechen kam, schimpfte Oma<br />

gleich los:<br />

„Eigentlich ist unser Haus doch nur ein Schnapshaus nur der Alkoholgeruch<br />

hat sich verflüchtet. Die Bauleute waren doch mehr besoffen als nüchtern und<br />

wenn der Baumeister nicht energisch dazwischen gefahren wäre, könnte unser<br />

Haus heute noch eine Baustelle sein. Es ist schon ein echtes Wunder, dass es<br />

überhaupt ein bewohnbares Haus geworden ist. Eigentlich sind der ganze<br />

Schnaps und das viele Bier teurer gekommen als das ganze Haus und warum?<br />

Weil der Bauherr, da sitzt er und lacht, auch immer mit gesoffen hat. Der hatte<br />

sogar von allen den größten Durst. Der Pfusch ist auch an allen Ecken und<br />

Kanten zu sehen."<br />

Aber solche Reden über sein Haus hörte Opa nicht so gerne, obwohl er noch<br />

immer lächelte:<br />

„Na, na! So schlimm war es auch wieder nicht, denn soviel Geld habe ich ja gar<br />

nicht verdient, um, herum saufen zu können. Unser Haus steht sicher und fest,<br />

es ist gut bewohnbar und sogar zwei Kinder sind darin zur Welt gekommen und<br />

insofern ist es schon ein sehr gutes Haus. Aber es hat keinerlei Komfort, keine<br />

Bäder, keine Wasserleitungen für warmes und kaltes Wasser und auch keinerlei<br />

Toiletten mit Wasserspülung. Das wäre in Ufhoven zwar einmalig gewesen<br />

und die Leute hätten wieder ein neues Thema gehabt, aber wir hätten es nie<br />

bezahlen können und wir leben noch immer auf dem Dorfe. Das allerbeste am<br />

Hause ist jedoch, es ist jetzt schuldenfrei und was noch schönrer ist: In<br />

unserem Hause wird jeden Tag gesungen und gelacht. Unser Haus ist eigentlich<br />

ein fröhliches Haus und so ein Haus wünschen sich doch viele vergeblich.<br />

Später einmal, kann Otmar das Haus umbauen. Er kann es erweitern und<br />

modernisieren, er kann dann Wasserspülungen und Dampfheizungen einbauen.<br />

So wie er es will. Er kann sogar einen Balkon daran bauen, damit sich seine<br />

Frau darauf sonnen kann. Er kann sein ganzes Geld ins Haus stecken, wie er es<br />

will.“<br />

Unser Lehrer Bongo<br />

35


In der dritten Klasse bekamen wir Herrn Becker zum Lehrer, aber alle redeten<br />

nur von Bongo, seinem Spitznamen, Bongo war schon im ganzen Dorf<br />

bekannt. Aber wehe dem, der seinen Spitznamen in seiner Gegenwart zufällig<br />

nannte und Bongo hatte es mitgehört. Denjenigen Schüler verfolgte Bongo und<br />

wenn er diesen Schüler im Unterricht wieder erkannte, dann war er eben dran<br />

und Bongo rächte sich an ihm mit harten Schlägen seines Rohrstocks. Der<br />

Rohrstock war nämlich sein wichtigstes Lehrmittel und selbst in den Pausen<br />

hatte er ihn mit dabei. Dies änderte aber nichts daran, dass sein Spitzname nicht<br />

mehr erwähnt wurde. Das ganze Gegenteil war der Fall. Wenn Bongo<br />

gelegentlich einmal gute Laune hatte durften zwei oder auch vier Jungen an<br />

seinen starken Armen hängend und mitten im Unterricht Karussell fahren. Falls<br />

er aber gerade in diesem Moment einen in der Klasse sah, der Faxen machte,<br />

flogen die Karussellfahrer in die Ecken des Klassenraumes und Bongo sprang<br />

sofort über die Bänke und schlug mit seinem wichtigsten Lehrmittel heftig<br />

strafend zu. Bongo war ein großer starker Mann und seine Schläge waren hart<br />

und gefürchtet. Früher, in der ersten und zweiten Klasse bei der Kneus, waren<br />

wir immer so hilflos. Aber inzwischen hatten wir als Schüler hinreichende<br />

Erfahrungen gesammelt und konnten Bongos Schlägen gut und schnell<br />

entkommen. Es wurde deshalb bei uns zunehmend zum Sport, Bongo zu stören<br />

und seinen Schlägen geschickt auszuweichen. Wir hatten nämlich damals noch<br />

festgeschraubte lange Holzbänke, auf denen wir saßen. Wenn es nötig war,<br />

krochen wir blitzschnell unter die Bank und hielten den Ranzen schützend vor<br />

uns. Aber man konnte auch notfalls bis unter den Sitz des Vordermanns<br />

kriechen und dort war man auf jeden Fall ganz sicher vor Bongo und seinen<br />

wichtigsten Lehrmittel.<br />

Der Musikunterricht bei Bongo verlief immer nach dem gleichen Schema.<br />

Zuerst wurden zwei Jungen nach vorn gebeten. Diese Schüler mussten unter<br />

Aufsicht von Bongo das Etui vom Claviacord hoch ziehen und sehr sorgfältig<br />

wieder zusammenfalten. Danach setzte sich Bongo etwas umständlich auf den<br />

drehbaren Klavierschemel und rückte ihn an das halbe Klavier heran. Nun<br />

wendete er sich erst wieder der Klasse zu und danach zum Klavier und nun erst<br />

griff nach seinem pädagogischen Schlagwerkzeug und lehnte es griffbereit an<br />

das halbe Klavier. Jetzt neigte er seinen Oberkörper ruckartig dem Klavier zu<br />

und knallte er seine zehn Finger und seine Unterarme auf die Tasten, als sollte<br />

der letzte Tag dieses Instruments gekommen sein. In der Klasse kam sofort<br />

Heiterkeit auf und Bongo hatte es wohl geahnt. Er riss seinen Taschenspiegel<br />

heraus und sah, dass einige aus der Klasse herumhampelten. Er griff<br />

augenblicklich zu seinen Stock, sprang auf unsere Bank und drosch wie eine<br />

wilde Sau auf meinem schönen Lederranzen herum, den ich schützend vor<br />

mich hielt. Auf dem Heimweg zählten wir dann immer stolz die Treffer. Denn<br />

die Stockschläge verletzten das feine Oberleder sichtbar. Aber für Bongo<br />

waren wir alle ja nur ganz kleine Würstchen und so behandelte er uns auch.<br />

Schimme galt in der dritten Klasse bereits als frechster Schüler der Klasse,<br />

dabei war er gar nicht frech und dreist oder heraus fordernd. Er hatte von<br />

seinen Eltern lediglich die schöne Fähigkeit geerbt, auch für uns alle, die<br />

Grenzen unserer Möglichkeiten geschickt zu testen. Er lehrte uns, wie weit wir<br />

gehen durften und das war sehr wichtig.<br />

Schimme wird strafversetzt<br />

Der tägliche Unterricht begann gerade und Bongo kam in die Klasse gestürmt.<br />

36


„Seht euch das einmal richtig an! So sieht nämlich eine gut gepflegte Schultafel<br />

aus. Wer von euch hat sich damit ein Sonderlob verdient? Wer hatte<br />

Tafeldienst? Was keiner? Aha!? Da sieht man es doch wieder. So etwas Gutes<br />

kann ja doch keiner von euch warmen Würstchen. So etwas kann nur der Herr<br />

Hausmeister unserer Schule und der wollte mir wieder einmal eine Freude<br />

bereiten. Von euch bekomme ich so etwas nie. Ich werde es ihm schon<br />

gelegentlich zu danken wissen."<br />

Darüber vergingen kaum zehn Minuten. Als Bongo etwas an die Tafel<br />

schreiben wollte, gelang ihm das aber nicht. Kein Buchstaben und auch keine<br />

Zahl ließen sich an die Tafel schreiben. Jetzt wurde Bingo stutzig und nervös.<br />

„Mensch! Dieser verdammte blöde Hausmeister! Der hat doch die Tafel nicht<br />

nur gewaschen, der hat sie auch noch geölt. Der muss doch schon total<br />

bescheuert sein! Der gehört doch schon in die Verrücktenanstalt! Oder betreibt<br />

der hier Sabotagearbeit?“<br />

Auch die Rückseite der Tafel war nicht benutzbar. Soeben hatte er die Tafel<br />

und den Hausmeister noch gelobt oder hatte ihm der etwa einen bösen Streich<br />

gespielt?<br />

Sofort schickte Bongo einen Schüler los, um den Hausmeister zu holen und er<br />

stellte ihn sofort zur Rede:<br />

„Haben Sie alter Idiot, vielleicht meine Tafel geölt? Haben Sie vielleicht zu<br />

viele Fettigkeiten? Dann lasse ich Ihnen einfach ihre Lebensmittelkarte<br />

sperren.“<br />

„Nein! Ich bin doch noch kein Vollidiot! Das verbitte ich mir! Vielleicht sind<br />

Sie so einer? Ich werde mich über Sie beim Direktor beschweren. Diese Tafel<br />

habe ich gestern nur gewaschen, wie immer."<br />

Doch dann flüstere der Hausmeister Bongo etwas ins Ohr, was wir leider nicht<br />

richtig verstehen konnten. Aber wir haben es doch herausgefunden, denn die<br />

Frau des Hausmeisters erzählte uns alles, was wir wissen wollten und noch viel<br />

mehr. Der hatte nämlich gestern am Nachmittag eine zufällige Beobachtung<br />

gemacht. Er gerade im Garten und sah einen hellblonden Schüler über den<br />

Schulhof rennen. Er hatte ihn sogar erkannt. Daraufhin entschuldigte sich<br />

Bongo und er ergriff wieder sein Erziehungsinstrument und sofort tobte Bongo<br />

in unserer Klasse herum. Wir mussten erst lachen, denn darauf hatten wir ja<br />

lange schon gewartet. Schimme hatte nämlich die Tafeln gestern Nachmittag<br />

mit Rüböl eingerieben. Sie glänzte auch wunderbar. Hätten wir nicht allzu sehr<br />

darüber gelacht, hätten wir Bongos Verdacht nicht noch verstärkt. Aber nun<br />

hatten wir und selbst verraten und Bongo hatte vom Hausmeister sogar noch<br />

einen Fingerzeig bekommen. Bongo sprang wieder auf die Bänke, er tobte wild<br />

herum und schrie immer so etwas von Sabotage und das auf diese Weise der<br />

Krieg noch verloren geht. Auf Sabotage stand damals die Todesstrafe. Plötzlich<br />

riss er Schimme aus der Bank hoch und Schimme gestand schlotternd vor der<br />

Übermacht des Lehrers. Schimme musste sofort mit Bongo zum Direktor<br />

Sauber gehen und dann kam Schimme nicht wieder. Bongo aber verkündete in<br />

der Klasse:<br />

„Wegen Sabotage wurde Schimme an die gelbe Schule in Langensalza<br />

strafversetzt. Das geschieht jetzt mit jedem von euch, der hier glaubt sabotieren<br />

zu können.“<br />

Diese Sache ging natürlich sofort im Dorfe herum und alle fanden diese<br />

Entscheidung als sehr ungerecht. Bongo machte sich damit nicht beliebter. Nur<br />

meine Mutter nahm mich wieder ins Gebet:<br />

„Mein lieber Junge, ich hoffe, dass es dir nicht auch noch einmal so geht. Du<br />

bist nämlich manchmal auch ganz schön frech.“<br />

37


Aber Bongo hatte noch andere Opfer aus unserer Klasse auf das Korn<br />

genommen. <strong>Ein</strong>er davon war Dieter Hühn. Dieter war ein ganz schmaler Junge<br />

und er ging immer etwas leicht nach vorn gebeugt, denn er war etwas zu<br />

schnell gewachsen und wollte sich wieder etwas kleiner machen. Erst nannte<br />

Bongo Dieter immer nur "Säckel" und ein paar Tage später sprach er sogar<br />

einer "krumm gefickte Nudel". Bongo war immer sehr freigiebig mit der<br />

Vergabe von Spitznamen, aber wehe, wenn er seinen eigenen Spitznamen<br />

hörte. Dennoch schallte es in den Pausen meist aus allen Eckendes Schulhofes<br />

Bongo, Bongo, Bonge und Bongo musste es mit anhören, aber zu gerne hätte er<br />

sich gerächt.<br />

Damals gab es oft Fliegeralarm. Die Sirene war oben auf dem Schuldach<br />

angebracht. Nach dem Alarmzeichen mussten wir sofort in den Schulkeller.<br />

Hier hatte jede Klasse ihre zugeteilte Ecke. Unsere Klasse war aber immer die<br />

letzte im Keller. Schuld daran war nur Bongo, denn Bongo ging als erster zur<br />

Klassentür und öffnete diese. Dann hielt er seinen Rohrstock quer in die Tür,<br />

etwa 30 cm hoch. Darunter mussten wir Jungen hindurch kriechen. Wenn nun<br />

Bongo aber nun schon einmal seinen Stock in der Hand hielt, beglich er auch<br />

gleich noch einige offene Rechnungen. Dies wäre für uns nicht so schlimm<br />

gewesen, denn wir hatten Papiereinlagen für diesen Fall unter das Unterhemd<br />

und in die Hose geschoben, weil das so schön klatschte, wenn Bongo darauf<br />

schlug. Aber diese Masche von Bongo war in der Schule längst bekannt und<br />

deshalb lungerten vor unserer Klassentür immer ein paar Schüler aus den<br />

größeren Klassen herum. Diese amüsierten sich köstlich darüber, wie Bongo<br />

seine warmen Würstchen versohlte. Sie trösten uns aber anschließend in der<br />

Pause, denn mit ihnen hatte er es ebenso gemacht.<br />

Der Sportunterricht bei Bongo verlief meist folgender maßen ab: Erst mussten<br />

wir unser Sportzeug im Klassenraum anziehen. <strong>Ein</strong>e schwarze Turnhose und<br />

ein weißes Unterhemd waren Pflicht. Danach mussten wir der Größe nach vor<br />

der Schule antreten und auf ein Zeichen von Bongos Zeigefinger ging es dann<br />

los Im Dauerlauf liefen wir hoch zum Sportplatz auf dem Sülzenberg. Wer<br />

dabei nicht schnell genug oben ankam oder wem gar schon vorher die Puste<br />

ausging, der war Bongos Spott schonungslos ausgeliefert und es hagelte jedes<br />

Mal wieder neue Spitznamen. Darauf warteten wir aber schon, denn dabei gab<br />

es immer etwas zum lachen und das wiederum gefiel Bongo. Zum Sport trug<br />

Bongo meist eine äußerst knappe Sporthose, aus der hing jedes Mal ein Stück<br />

seines Geschlechtsteils heraus. Wir waren stets gespannt darauf, dass einmal<br />

sein ganzes Geschlechtsteil herausrutscht. Aber die viel zu enge Hose hielt den<br />

Rest fest eingeklemmt. Meistens stand das Werfen mit dem Schleuderball auf<br />

dem Plan, denn das war nach Bongo, eine sehr gute Vorübung für das Werfen<br />

mit Handgranaten. Bongo warf den schweren Schleuderball fast über den<br />

ganzen Platz und erwartete von uns, dass wir es ihm nachmachten. Aber der<br />

Schleuderball war und ist noch immer ein sehr tückisches Sportgerät. Wer nicht<br />

genügend Kraft besaß und die Wurftechnik nicht beherrschte, der konnte sich<br />

schnell einen Arm auskugeln. Ich war an der Reihe, aber der Ball nahm nicht<br />

die von mir gewünscht Bahn und traf Möllo ins Kreuz. Er brach sofort<br />

zusammen und es wurde schon das Allerschlimmste befürchtet. Aber Möllo hat<br />

es bis heute überlebt. Mir tat dabei immer der Kleinste und Schwächste aus<br />

unserer Klasse, Rolf Degen, leid. Wenn er den Schleuderball werfen sollte,<br />

schlug er sich den Ball stets in die eigenen Kniekehlen und fiel sofort um.<br />

Bongos Spott konnte dabei keiner überbieten. Danach jagte ihn Bongo<br />

regelmäßig zehn Runden um den ganzen Sportplatz, aber dass konnte Rolf nie<br />

schaffen und schließlich schlug er sich in die Büsche zum ausruhen.<br />

38


Bongo konnte jedoch auch sehr jovial sein. Manchmal setzte er sich in der<br />

Pause zu uns auf die Bank auf dem Schulhof und er erzählte dann oft seine<br />

schlimmsten Witze und Zoten, aber meistens über Frauen. Wir kannten die<br />

Witze schon, weil sie uns bereits von der größeren Klasse vorsorglich erzählt<br />

wurden.<br />

Aber dennoch wollten wir Bongo einen Gefallen tun, um ihm einen Erfolg zu<br />

gönnen und deshalb lachten wir uns über seine Witze fast kaputt. Wir bogen<br />

und krümmten uns vor Lachen und lachten bis in den Unterricht hinein, denn<br />

das Lachen über seine Witze störte Bongo im Unterricht nie. Ich habe zwar<br />

auch über diese Witze mitgelacht, aber ich fand sie sehr ungerecht, denn meine<br />

liebe Mutter ist ja auch eine Frau. Darüber musste ich mit Großvater noch<br />

einmal darüber sprechen.<br />

„Otmar! Weißt du, es gibt viele solcher Witze. Ich kenne auch einige, aber ich<br />

würde nie so einen Witz weiter erzählen. Über Frauen und Mütter sollte man<br />

keine Witze reißen. Die Frauen können so lieb sein und bringen die Kinder zur<br />

Welt, wer darüber Witze macht, der hat einen miesen Charakter. Der sollte<br />

auch nie eine Frau bekommen."<br />

Das machte mich aber nachdenklich.<br />

„Opa! Wie bekommt man eigentlich eine Frau?"<br />

„Du, ich habe momentan wenig Zeit, aber über dieses Thema diskutieren wir<br />

einmal etwas später. Heute habe ich noch viel zu tun."<br />

Bongo schlug immer mit einen Rohrstock zu, aber dieser Rohrstock hat uns<br />

auch stets gereizt, um ihn zu zerstören. Manchmal haben wir ihn einfach<br />

entführt oder hinter dem Schrank fest eingeklemmt oder wir haben ihn mit dem<br />

Taschenmesser angeschnitten, um in zum Bersten zu bringen. Viele<br />

Generationen von Schülern verbrauchten Unmengen von Hirnschmalz, um das<br />

damals wohl erlaubte, aber bei uns Schülern bestens verhasstes<br />

Erziehungsgerät unschädlich zu machen. Am allerbesten aber erwies sich noch<br />

immer Zwiebelsaft. Mit ihm wurde der Stock wiederholt gut eingerieben und<br />

nach dem der Rohrstock ausgehöhlt war, wurde Zwiebelsaft auch in den Stock<br />

hinein geträufelt. Diesen Zwiebelsaft stellten wir zu Hause selbst unter vielen<br />

Tränen her und hatten davon hatte fast jeder Schüler meist ein kleines<br />

Arzneifläschchen voll im Ranzen. Es war für uns jedes Mal ein Festtag und<br />

dazu ein Heidenspaß, wenn der Stock beim gezielten pädagogischen <strong>Ein</strong>satz in<br />

viele Stücke zerbarst. Das erlösende Schadengelächter wollte nicht enden,<br />

wenn der Stock nach langwieriger Behandlung endlich doch zerbrach. Aber<br />

unsere Schule musste ein ganzes Lager voller Rohrstücke angekauft haben,<br />

denn Bongo ging sofort zum Direktor Sauber und zeigte uns anschließend<br />

immer mit seiner größten Schadenfreude und sichtlichem Vergnügen, das neue<br />

Exemplar für pädagogische Dienstleistungen am Schüler. Er sollte uns<br />

züchtigen, aber es wurde noch am gleichen Tage wieder sorgsam präpariert und<br />

die um ein Jahr älteren Schüler hatten damit die besten Erfahrungen gesammelt<br />

und sie an uns weitergegeben. Manchmal zerbrachen wir einfach den Stock,<br />

bevor Bongo mit dem Unterricht beginnen konnte. Dazu wurde der Stock auf<br />

zwei Bänke gelegt und der schwerste von uns musste sich darauf setzen und<br />

bekam noch zusätzliche Hilfe. Dann war er endlich unbrauchbar! Wenn gar<br />

nichts half, nahmen wir den Stock einfach mit nach Hause, das ging aber nur<br />

im Winter, weil wir ihn dann in einem unserer langen Hosenbeine verbergen<br />

konnten. Wenn wir aber zwei Rohrstöcke erwischt hatten, schlugen wir damit<br />

auf dem Heimweg, wie mit dem Degen, richtige Gefechte aus. Dabei wurde<br />

leider mancher Finger blutig geschlagen.<br />

39


Meistens brachte Bongo auch seinen Hund mit in die Schule. Er lag dann still<br />

im Klassenraum und rührte sich nicht und schlief. Selbst wenn Bongo über die<br />

Bänke tobte und laut in der Klasse herum schrie, blieb sein Hund ganz ruhig<br />

liegen, er war es eben so gewohnt. Wie viele Schulkinder diesen Hund bereits<br />

gestreichelt, betatschet, getreten und verhauen hatten, weiß ich nicht. Aber ein<br />

richtiger Hund war er nun auch nicht mehr, eher eine alte Töle. Er war schon<br />

alt und hatte eine ganz graue Schnauze und oft wurde er von uns heimlich<br />

gekniffen und getreten, statt seinem Herrchen. Wenn einer von uns zur Tafel<br />

musste, um etwas anzuschreiben, verkroch sich Bongos Töle, die sich meist ist<br />

in den letzten Winkel oder unter Bongos Stuhl<br />

verkroch. <strong>Ein</strong>mal machte uns Bongo auch darauf aufmerksam, das sein Hund<br />

immer Hunger leiden muss.<br />

„Was kann man machen, wenn jemand Hunger leidet?“<br />

„Schütze“<br />

„Ich habe auch Hunger. Damit ist ihr Hund nicht allen, Herr Becker.“<br />

„Mensch, wir hungern doch alle, damit der Krieg gewonnen wird. Heute wird<br />

niemand mehr satt. Aber hier geht es nicht um deinen Hunger, sondern um den<br />

Hunger meines Hundes. Verstehst du das wenigstens?“<br />

„Nein!“<br />

„Ganz schön verstockt! Setz dich!“<br />

„Aber in dieser Klasse gibt es ja auch noch Bauernsöhne und die könnten für<br />

meinen Hund ruhig etwas mitbringen.“<br />

„Für mich auch!“<br />

„Ich auch!“<br />

Bongo schüttelte mit dem Kopf und vielleicht begriff er, dass er das falsche<br />

Thema angeschnitten hatte.<br />

Aber dennoch brachten wir seit diesem Appell Futter für Bongos Hund mit.<br />

Manchmal lag ein vergessenes Frühstücksbrot schon lange unter der Bank, aber<br />

für Bongos Töle war es noch lange gut genug. Deshalb meldeten wir uns, auch<br />

um den Unterricht zu stören:<br />

„Herr Becker! Ich habe für ihren Hund etwas mitgebracht.“<br />

Nun durfte jeder nach vorn gehen und das Hundefutter in das seitliche Fenster<br />

legen. Aber nur diejenigen gingen nach vorm um Futter zu Spenden, die<br />

gestern und vorgestern nichts von Bongo ab bekommen hatten. Wer aber Futter<br />

abgegeben hatte, der wurde er von Bongo sehr ausdrücklich belobigt:<br />

„Gut so! Mein braver Junge. Mach weiter so. So ist es gut!"<br />

„Schön, mein liebes Mädchen. Das hast an ihn gedacht. Du hast ein gutes<br />

Herz!"<br />

„Das hast du gut getan, mein bestes Stück."<br />

„Na, na, na? Oh? Da bin ich aber gespannt, ob er das frist. Weil es von dir<br />

kommt. Aber es ist schon gut so, mein braver Junge. Morgen hat er aber schon<br />

wieder Hunger. Denke daran!“<br />

Mit diesem Lob gingen wir die Brust heraus gestreckt zu unsere Bank zurück<br />

und wiederholten laut und deutlich hörbar für alle das soeben von Bongo<br />

empfangene Lob und machten darüber unsere Witze. Als der dicke Richt auch<br />

einmal einen Obolus nach vorn gebracht hatte und zu seiner Bank zurückkam,<br />

sagte er sehr neiderfüllt:<br />

"Der frist doch das bestimmt alles selbst."<br />

Wir hätten uns vor Lachen zerreißen können und Bongo wollte unbedingt<br />

wissen, warum wir so schallend lachen mussten. Aber er hat es nicht<br />

herausgekriegt, weil in diesem Moment der Unterricht zu Ende war. Aber<br />

Bongos Hund war schon alt und hatte nichts zu lachen. Denn wir ihn alleine<br />

erwischten, wurde er gezwickt und getreten, aber eigentlich galt dies seinem<br />

Herrchen. <strong>Ein</strong>es Tages berichtete uns Bongo mit feuchten Augen, dass sein<br />

40


Hund in der vergangen Nacht an einem schweren Nierenleiden verstorben ist.<br />

Wir wussten aber warum er verstarb. Die größeren Schüler aus der achten<br />

Klasse hatten Bongos Töle schlimm verprügelt und ihm dabei bestimmt eine<br />

Niere verletzt. Das war aber eigentliche eine Abrechnung mit Bongo. Nur<br />

Bong hat es immer noch nicht verstanden und suchte lange und vergeblich die<br />

Täter.<br />

Schimme kommt zurück<br />

Hurra! Unser Schimmel war wieder da und er strahlte über das ganze Gesicht,<br />

er war froh uns alle wieder sehen zu können. Aber welch eine Freude erst auf<br />

unserer Seite, denn wir brauchten ihn und Schimmel kam gerade noch<br />

rechtzeitig. Aber er und auch wir ahnten in diesem Moment noch nicht, das er<br />

unser aller Vollstrecker an Bongo werden sollte.<br />

Wir hatten gegen Abend an der Pferdeschwemme gestanden und beobachtet,<br />

dass Bongo abends mit seinem Fahrrad von den Dörfern nach Hause kam.<br />

Wahrscheinlich schnurrte er, wie viele andere damals auch, bei den Bauern<br />

Würste, Speck und Butter. Wir sprachen ihn in der Pause daraufhin an. Aber<br />

Bongo bestritt alles und das Gespräch setzte Bongo auch noch im Unterricht<br />

fort:<br />

„Nein, nein! So etwas mach ich nicht! Ich weiß ganz genau, was sich für einen<br />

nationalsozialistischen Lehrer mitten im Kriege gehört. Ich fahre nur über die<br />

Wiesen und Weiden und sammele mir Heilkräuter. Die wasche ich und lege sie<br />

mir auf mein Butterbrot und dann verzehre ich es. Lacht nicht! Das ist viel<br />

gesünder als fette Wurst."<br />

Nogi meldete sich zu <strong>Wort</strong>:<br />

„Herr Becker! Ich glaube das war ihr allerbester Witz."<br />

Dafür erhielt Noge auch den gebührenden Beifall von uns. Aber nun fühlte sich<br />

Bongo urplötzlich herausgefordert und er wollte es uns allen jetzt und sofort<br />

beweisen. Er stellte eine kleine Delegation zusammen, die sollten für ihn<br />

Huflattichblätter im alten Steinbruch holen. Der Steinbruch lag noch oberhalb<br />

der großen Golke im Zimmerbach, aber sie hatten sich sehr beeilt und waren<br />

rechtzeitig zur nächsten Unterrichtsstunde wieder da. Bongo nahm dankend die<br />

frischen Huflattichblätter in Empfang und beurteilte sie mit kritischem Blick.<br />

Erst kniff mit dem Fingernagel die Stiele weg und danach verließ kurz den<br />

Klassenraum, um die Blätter zu waschen:<br />

„Denn es könnte ja Staub und Schmutz darauf sein und den sollte man aber<br />

nicht mit essen. Darin könnten Bakterien sein und die können uns krank<br />

machen.“<br />

Nun holte Bongo vor der Klasse und mitten im Unterricht sein in NS-<br />

Zeitungspapier eingewickeltes Butterbrot aus seiner Lehrertasche hervor, er<br />

wickelte es sorgfältig auf und legte es auch wieder sorgsam zusammen, um es<br />

erneut verwenden zu können. Nun endlich klappte er seine Butterbemme auf<br />

und zeigte sie der Klasse. Tatsächlich, es war nur Butter darauf. <strong>Ein</strong>er rief<br />

mitleidig dazwischen:<br />

„Armer Hund!"<br />

Das Butterbrot war wirklich nicht mit Wurst belegt. Danach legte sich Bongo<br />

die Huflattichblätter auf die eine Seite, klappte seine Butterbemme wieder<br />

zusammen und biss mit gespieltem Vergnügen hinein. In der Klasse regte sich,<br />

trotz des allgemeinen großen Hungers für den Krieg. totales Unverständnis für<br />

derartige Delikatessen, einer rief sogar:<br />

41


„Pfui!"<br />

Es muss wohl ein Bauernsohn gewesen sein, der schon sehr früh nur an Wurst<br />

gewöhnt war und auf dessen Entzug er mit heftigen Attacken reagierte. Oft<br />

tauschten wir unsere mit Marmelade oder Kunsthonig bestrichenen Schulbrote<br />

mit den Wurstbemmen der Bauernsöhne. Der Vorteil lag auf beiden Seiten.<br />

Wir konnten einmal in ein Wurstbrot beißen und die Bauernjungen hatten<br />

endlich auch einmal eine Abwechslung.<br />

In diesem Moment flüsterte mir Lothar erregt zu:<br />

„Du Otmar! Hast du es schon gehört? Schimme hat auf die Huflattichblätter<br />

geschifft."<br />

Dort wo diese Tatsache bereits bekannt war, gluckste und kicherte es überall in<br />

die Klasse.<br />

Inzwischen hatten es alle erfahren und alle waren begeistert und Bongo fraß<br />

ruhig mitten im Unterricht und mit sichtbarem Vergnügen die Huflattichblätter,<br />

auf die Schimme geschifft hatte. Wir konnten uns kaum noch beherrschen. Es<br />

war einfach zum schreien! Auf dem Schulhof erfuhr es nun auch der Rest der<br />

ganzen Schule. Darüber lachten jetzt alle Schüler unserer Schule, vielleicht<br />

auch die anderen Herrn nationalsozialistischen Lehrer, denn die waren<br />

untereinander auch ganz schön schadenfroh und giftig. Auch das ganze Dorf<br />

hat es heute noch erfahren und es lachte sich darüber halbtot, denn Bongo war<br />

bekannt. Bongo kannten alle im Dorf und Schimme bekam von überall Beifall.<br />

Was wir aber im Siegesjubel noch nicht wussten: <strong>Ein</strong>er aus dem Dorfe hat es<br />

Bongo zugesteckt. Die Verräter sind eben überall. Denjenigen hätten wir aber<br />

nicht zwischen die Finger bekommen dürfen. Wir haben uns redlich bemüht,<br />

heraus zu bekommen, wer der Verräter war, aber er blieb uns bis heute<br />

verborgen. Auch mein Großvater betrieb Ermittlungsarbeiten und befragte<br />

viele Leute im Dorfe, wir haben es nicht ermitteln können.<br />

Gestern hatten wir uns halbtot gelacht über Bongo, aber heute mussten wir<br />

wieder zu Bongo in den Unterricht.<br />

Bongo sah im Gesicht sehr alt und aschfahl aus. Er war nervös und unruhig. Er<br />

wusste ja genau, dass er seine Schüler öfter als notwendig mit seinem<br />

pädagogischen Werkzeug traktiert hatte. Sein Gewissen setzte ihm nun zu und<br />

er hatte auch längst begriffen, dass sich seine Schüler nun an ihm bitter gerächt<br />

hatten und dies auf eine derart niederträchtige und geradezu primitive Art und<br />

Weise. Erst sein Hund nun das! Er spürte auch das Hohngelächter seiner lieben<br />

Kollegen und er ahnte auch, dass alle und jeder nun über ihn gelacht hatten.<br />

Innerlich kochte Bongo vor Wut, er könnte jetzt alle und sogar sich selbst<br />

zerreißen. So etwas war ihm in den vielen Jahren als Lehrer noch nicht passiert.<br />

Aber und er wusste inzwischen auch, an wen er sich zu rächen hatte.<br />

Gut! Es hätte ja für ihn noch die Möglichkeit gegeben, die Sache ganz einfach<br />

abzutun oder selbst darüber zu lachen. Er hätte es auch als einem saudummen<br />

Schülerstreich abtun können, aber irgendwie war er blockiert. Es war nicht sein<br />

Tag. Vielleicht hätte er auch allen noch erzählen können, dass sie es als<br />

ehemalige Schüler noch viel schlimmer mit ihren Lehrern getrieben hatten.<br />

Aber er konnte das jetzt nicht mehr, denn ihm war in übelster Weise Schmach<br />

angetan worden und dies noch von seiner eigenen Klasse und nun wollte er<br />

sich rächen, er musste seiner Wut freien Lauf lassen. Seine Ehre war nun im<br />

ganzen Dorf verletzt worden. Dieses blöde Dorf lachte nun auch über ihn.<br />

Blamiert war er nun schon bis auf die Knochen vor allen und er spürte, dass<br />

sich die Leute nach ihm umdrehten, wenn er durch das Dorf ging, und sie<br />

zeigte alle mit Fingern nach ihm.<br />

„Der war es! Der hat die Blätter gefressen, auf die Schimmel geschifft hat.“<br />

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Wenn er es aber nun doch durchgehen lässt, dann tanzen die ihm diese<br />

verdammten Schüler alle auf seiner Nase herum und die hätten es mit ihm<br />

getrieben wie sie es wollten. Er fühlte sich noch immer von seinen Schülern<br />

angepinkelt und er griff gelegentlich an seine Hose, aber die war noch trocken.<br />

Er musste jetzt etwas tun, denn das war kein dummer Schülerstreich mehr.<br />

Wenn er nur daran dachte, war ihm schon zum kotzen übel, seit er es erfahren<br />

hatte. Er sah auch das hinterhältige Grinsen in den ernsten Gesichtern seiner<br />

Schüler, die nur darauf warteten, ihn immer wieder auszulachen.<br />

Bongo wippte ständig auf den Zehnspitzen, er schlug auch Figuren mit seinem<br />

Stock in die Luft. Alle spürten, es lag etwas in der Luft, aber was würde Bongo<br />

jetzt tun? Aber was sollte er tun? Was ist jetzt richtig? Alles was er jetzt macht,<br />

kann völlig falsch sein. Er war in einer aussichtslosen Lage, wie noch nie in<br />

seinem langen Lehrerleben. Gut, er konnte noch diesen Schimme durchprügeln<br />

bis er nicht mehr sitzen konnte. Aber dann hätten sich alle Schüler mit diesem<br />

verdammten Schimme solidarisiert. Am liebsten hätte er ihn einfach wie einen<br />

Hund erschlagen. Er ging in der Klasse auf und ab, unterrichten konnte er diese<br />

Gauner und Haderlumpen nun auch nicht mehr. Am besten, ich erschlage sie<br />

alle, diese hinterhältig grinsenden Gesichter und noch dazu dieser Schimme.<br />

Ich hätte ihn für Jahre an die gelbe Schule straf versetzen sollen, aber von<br />

denen da, die da sitzen, hätte es bestimmt auch jeder getan. Kaum war dieses<br />

Miststück von Schimmel wieder da und er hatte ihn selbst noch zu der Gruppe<br />

eingeteilt. Mein Gott, was bin ich für ein Idiot! Aber wer kann schon<br />

voraussehen, was passieren wird. Dieser Schimme hat sich im Auftrage der<br />

ganzen Klasse an mir gerächt. Kein einziger von deinen, hat sich über<br />

Schimme beschwert. Bongo rannte in der Klasse umher, aber plötzlich brüllte<br />

er wie ein Löwe. Wir hatten eben noch heimlich gegrinst und gelacht, aber jetzt<br />

hatten wir Angst, dass Bongo unseren Schimmel mitten im Unterricht<br />

erschlägt. Alle Schüler standen auf in ihren Bänken, um Schimmel zu schützen.<br />

Bongo sah den stillen Protest seiner Schüler und wich zurück. Er riss seinen<br />

Mund auf und wollte noch etwas sagen, aber er sagte nichts mehr und hielt<br />

einen Moment inne. In diesem Augenblick läutete die Pausenglocke zur großen<br />

Pause. Die Tür ging auf und Schimmes Mutter trat herein. Schimme war<br />

gerettet und Bongo stand da wie ein ertappter Sünder, er sah nun sehr alt aus.<br />

Wir hatten den Schläger endgültig geschafft und unser Schimme war unser<br />

aller Vollstrecker geworden.<br />

Lesen Sie Bitte im Buch weiter.<br />

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