22.10.2012 Aufrufe

ARCHIVAR 209 - Archive in Nordrhein-Westfalen

ARCHIVAR 209 - Archive in Nordrhein-Westfalen

ARCHIVAR 209 - Archive in Nordrhein-Westfalen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

154<br />

<strong>ARCHIVAR</strong> 62. Jahrgang Heft 02 Mai 2009<br />

ARCHIVTHEORIE<br />

UND PRAXIS<br />

In zweifacher H<strong>in</strong>sicht – die <strong>in</strong> Pacht genommene Würde des<br />

Sammelns und Speicherns an sich vorausgesetzt – ist dieser These<br />

zunächst etwas Beruhigendes, ja Versöhnliches zuzusprechen.<br />

Zum e<strong>in</strong>en dar<strong>in</strong>, dass vor dem ultimativen Speichergedächtnis<br />

nicht alle<strong>in</strong> die von Siegern (nicht nur im militärischen S<strong>in</strong>ne)<br />

geschriebene Geschichte Gültigkeit beanspruchen kann. Zum<br />

anderen mag es dem Archivar tröstlich ersche<strong>in</strong>en, dass angesichts<br />

e<strong>in</strong>er Aushebungsstatistik, welche die e<strong>in</strong>malige Benutzung<br />

e<strong>in</strong>er Akte <strong>in</strong>nerhalb von 35 Jahren konstatiert, soviel Wert auf<br />

die (freilich unhörbare) Vielstimmigkeit des Zusammengetragenen<br />

und Bewahrten gelegt wird. So könnte es ersche<strong>in</strong>en, wenn<br />

nicht e<strong>in</strong>er zu uns – dem Archivar, dem Archivbenutzer, dem<br />

Historiker – sprechenden „Stimme“ der Dokumente kaum noch<br />

Beachtung zukäme.<br />

Nicht e<strong>in</strong>e Geschichte der Medien, sondern die technische<br />

Materialität der Medien der Geschichte steht im Vordergrund.<br />

Diskursivität ist Ernst per se verdächtig; <strong>in</strong> den großen historischen<br />

Narrationen (Nation, Fortschritt etc.) sei stets Ge schich te(tes)<br />

<strong>in</strong> Macht übersetzt – und vice versa: Macht auf Historie umgepolt<br />

–, stets fragmentarische <strong>in</strong> erfüllte Existenz umgedeutet<br />

worden. Zu sehr habe heutiges geschichtswissenschaftliches<br />

Selbstverständnis Droysens auf Akten über Staats- und Verwaltungstätigkeiten<br />

bezogenes „Aus Geschäften wird Geschichte,<br />

aber sie s<strong>in</strong>d nicht Geschichte“ als Imag<strong>in</strong>ations- und Narrationsparadigma<br />

<strong>in</strong>ternalisiert. Die Herrscher über das Gedächtnis, so<br />

heißt es tendenziös, bedienten die Adressaten nach Belieben.<br />

Ernsts Wunschbild ist aber e<strong>in</strong> Gedächtnis, welches se<strong>in</strong> eigener<br />

Adressat ist; er möchte, dass beide <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s fallen, um perspektivisch<br />

motivierter Verfügbarkeit über Gespeichertes zu entgehen.<br />

Ernsts These lässt sich durchaus kulturkritisch im S<strong>in</strong>ne Adornos<br />

verstehen: der Waren- und Ausstellungscharakter des Gesammelten<br />

und Gespeicherten erst gibt den Anlass zur Verführung,<br />

Verdrehung, Unterschlagung, kurz zum (konstruktiv-konstruierten)<br />

Missbrauch. Auf Daten übertragen sche<strong>in</strong>t diese Auffassung,<br />

um bei Adorno zu bleiben, e<strong>in</strong>e Art anti-kapitalistischen Zug<br />

aufzuweisen: Zwar handelt es sich um e<strong>in</strong> Sammeln um des<br />

Anhäufens willen, jedoch soll offenbar das Gesammelte nicht<br />

wieder <strong>in</strong> Umlauf gebracht werden. Die Fürsprache für das<br />

Monument anstatt des Dokuments, für das Datum anstatt der<br />

Information, für Übertragung anstatt von Kommunikation, für<br />

Deskription anstatt von Hermeneutik, für Gedächtnis anstatt<br />

Er<strong>in</strong>nerung bedeutet zugleich e<strong>in</strong>e Absage gegenüber der diskursiven<br />

Distribution, der fortlaufenden Abfassung und Verbreitung<br />

von Texten über und dem Dialog mit <strong>in</strong> <strong>Archive</strong>n Gespeichertem.<br />

Dieses vermehrt sich bereits durch das vielfältige Leben (von der<br />

Verwaltungsakte bis zum Nachlass), dessen pluralistisches Auf -<br />

kommen <strong>in</strong> allen Eigenheiten und Unarten völlig gleich bedeutend<br />

aufzunehmen ist. Das Gespeicherte, so lässt sich im S<strong>in</strong>ne<br />

der medientheoretischen Herangehensweise sagen, spricht mit<br />

sich selbst, ohne sich zu zerstückeln und narrativ zu rekonfigurieren.<br />

Ernst sche<strong>in</strong>t versessen auf das Historische als e<strong>in</strong>es (unzugänglichen)<br />

Eigenwerts, e<strong>in</strong>e Geschichte, die gar nicht vorliegt, sondern<br />

sich erst im Medium des Archivs autopoetisch erzeugt. Dieses<br />

Synonym-Denken (Archiv = Geschichte, aber e<strong>in</strong>e solche, die sich<br />

nicht schreiben, nicht erzählen lässt) ersche<strong>in</strong>t nach zwei Seiten<br />

h<strong>in</strong> paranoid: zum e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> dem Wunsch, den Autor als Schöpfer<br />

und Gestalter loszuwerden (siehe Foucaults „Tod des Autors“),<br />

zum anderen <strong>in</strong> der Sorge um die so oft wiederlegte Unantastbarkeit<br />

von Geschichte als gesichertes Datum. Geschichte möchte<br />

Ernst nur noch als systemtheoretisch geschlossenes Universum<br />

denken. Als Signum dafür gilt ihm Goethes Durchnummerieren<br />

und anschließendes Versiegeln des „Faust“-Manuskripts.<br />

Insbesondere für die tägliche Praxis des Archivarsberufs hat das<br />

etwas Ungewöhnliches, ja Revoltierendes. Denn an welcher Stelle<br />

f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> Ernsts Auffassungsweise etwa noch e<strong>in</strong>e – zweifelsohne<br />

immer sich an narrativ vermittelten Geschichtsdeutungen orientierende<br />

– Bewertung statt? Wie sollen die Probleme der Aufbewahrung<br />

und Magaz<strong>in</strong>ierung gelöst werden? Ernst denkt hier an<br />

die vielfältigen Möglichkeiten der elektronischen Datensicherung.<br />

Aber auch <strong>in</strong> H<strong>in</strong>sicht auf die Biographie jedes E<strong>in</strong>zelnen wirkt<br />

die Dialogferne se<strong>in</strong>er Auffassung abweisend: Schauplätze der<br />

Geschichte werden als – oftmals verlorener oder vernichteter –<br />

Lebensraum nicht länger berücksichtigt noch gewürdigt. In e<strong>in</strong>er<br />

gleichsam hermetisch geschützten Geschichte gibt es ke<strong>in</strong>e<br />

Vergessenheit und ke<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung.<br />

H<strong>in</strong>sichtlich der Arbeit und des Selbstverständnisses der <strong>Archive</strong><br />

gelangt Ernst zu provokativen Schlussfolgerungen. Das Kassationsverfahren,<br />

die bewertende Auswahl von archivwürdigem<br />

Material (Ernst spricht diesbezüglich von e<strong>in</strong>er Archiv und Ver -<br />

waltung übergestülpten Taxonomie) ist ihm äußerst verdächtig.<br />

Denn ebenso wie die Forschung als Akt narrativer Übersetzung<br />

sei sie Umpolung von Macht auf Geschichte. Archivographie, so<br />

se<strong>in</strong> Begriff, bedeutet ihm e<strong>in</strong>e Verknappung der Historie.<br />

In diesem Zusammenhang bezieht Ernst sich auf He<strong>in</strong>rich<br />

August Erhards Aufsatz „Ideen zur wissenschaftlichen Begründung<br />

und Gestaltung des Archivwesen“ (1834), der von ihm<br />

widersprüchlich gedeutet wird. Wenn Erhard davon spricht,<br />

<strong>Archive</strong> hätten „bibliotheksnah“ zu se<strong>in</strong>, so verweist er damit auf<br />

ihre Bedeutung sowohl für die Forschung als auch für die noch<br />

nicht abgeschlossene Registratur. Dies wird von Ernst auch<br />

anerkannt. Wenig später wird jedoch behauptet, Erhards Vorhaben<br />

habe dar<strong>in</strong> bestanden, <strong>Archive</strong> aus der Verwaltung herauszulösen,<br />

um sie ganz zu historischen Instituten zu machen. Dies<br />

nutzt Ernst dann für e<strong>in</strong> Plädoyer für die Registratur als Aufzeichnungssystem,<br />

worunter die Theorie elektronischer Medien<br />

den Zwischen- im Unterschied zum Arbeitsspeicher verstehe, e<strong>in</strong><br />

Aufschreibsystem das grundlegend von der „narratio rerum<br />

gestrum“ differiere.<br />

Das Pert<strong>in</strong>enzpr<strong>in</strong>zip ist ihm unlieb und Napoleon gilt ihm als<br />

die große archiv- und mediengeschichtliche Katastrophe, <strong>in</strong>dem<br />

das französische Pr<strong>in</strong>zip der „fonds“ eben jenes Pr<strong>in</strong>zip e<strong>in</strong>führte,<br />

welches zu sehr der historischen Forschung <strong>in</strong> die Hände<br />

gearbeitet habe.<br />

Damit wird auch deutlich, woh<strong>in</strong> die Systemtheorie – ob nun<br />

unfreiwillig oder nichts weniger als das – tendiert: zu e<strong>in</strong>er quasi<br />

metaphysischen Setzung ungebrochener Vollständigkeit und<br />

gesicherter Ewigkeit. Dem entspricht die unbändige Furcht vor<br />

dem Vergessenwerden, dem Verlust, vor Verfall und Tod – und das<br />

mechanistische Vorgehen gegen diesen. Vergessen und Tod s<strong>in</strong>d<br />

nicht mehr zu fürchten, sie werden (verme<strong>in</strong>tlich) abgeschafft,<br />

denn alles ist ja da, vollständig, friedfertig und selbstgenügsam<br />

gespeichert. Das sche<strong>in</strong>t nicht sowohl technizistisch als auch<br />

harmonistisch gedacht. Verdrängt wird mit dieser Theorie des<br />

kulturellen Gedächtnisses die traumatische Erfahrung, <strong>in</strong> der die<br />

kulturellen Aneignungen der Welt stets ihren Ursprung haben.<br />

Und ist Verwaltung, wie es e<strong>in</strong>mal bei Ernst heißt, wirklich<br />

resistent gegenüber kulturemphatischem Deutungswillen? E<strong>in</strong><br />

mathematisch-abstrakt verstandenes Aufzeichnungssystem, das<br />

Ernst <strong>in</strong> der Registratur gegenüber dem Archiv zu sehen angibt,

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!