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Drucksache 15/3700 – 62 – Deutscher Bun<strong>de</strong>stag – 15. Wahlperio<strong>de</strong><br />

wer<strong>de</strong>n dadurch aber nicht verringert. Sie wer<strong>de</strong>n noch<br />

erhöht. Die Ärzte o<strong>de</strong>r Ärztinnen müssen nicht nur <strong>de</strong>n<br />

künftigen Verlauf <strong>de</strong>r Krankheit, hier ihre Irreversibilität<br />

und ihre Tödlichkeit, beurteilen. Sie müssen weiter die<br />

Wirkungen <strong>de</strong>r in Betracht kommen<strong>de</strong>n Formen medizinischer<br />

Behandlung prognostizieren und diese in eine<br />

Beziehung zum Krankheitsverlauf setzen. Auch solche<br />

Prognosen sind regelmäßig subjektiv beeinflusst und fallen<br />

unterschiedlich aus. Sie sind zu<strong>de</strong>m in <strong>de</strong>n einschlägigen<br />

Krankheitssituationen oft vielschichtig, prozesshaft<br />

und nach <strong>de</strong>m „trial-and-error“-Prinzip angelegt: Man<br />

muss zunächst ausprobieren, ob und wie eine bestimmte<br />

Behandlung anschlägt, bevor man weitere Urteile treffen<br />

kann.<br />

Wür<strong>de</strong> eine Einschränkung <strong>de</strong>r Verbindlichkeit von Patientenverfügungen<br />

realisiert, wie sie die Mehrheit <strong>de</strong>r<br />

Enquete-Kommission vorschlägt, erwartete man von <strong>de</strong>n<br />

Ärzten und Ärztinnen somit ein Urteil, das kaum mit hinreichen<strong>de</strong>r<br />

Gewissheit gefällt wer<strong>de</strong>n kann. Damit besteht<br />

einerseits die Gefahr, dass behandlungsablehnen<strong>de</strong> Patientenverfügungen<br />

praktisch nicht beachtet wür<strong>de</strong>n.<br />

Denn <strong>de</strong>n behan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Ärzten o<strong>de</strong>r Ärztinnen drohen<br />

Sanktionen, falls ein Urteil, das die Irreversibilität und<br />

<strong>de</strong>n tödlichen Verlauf eines Grundlei<strong>de</strong>ns trotz medizinischer<br />

Behandlung bejaht, im Nachhinein als fehlerhaft<br />

eingestuft wer<strong>de</strong>n sollte. Unter Umstän<strong>de</strong>n können sie<br />

strafrechtlich wegen Tötung in einer Garantenstellung<br />

(§§ 212, 13 StGB) belangt wer<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>rerseits sind<br />

Missbrauchsgefahren nicht ausgeschlossen (dazu sogleich<br />

unten im Text dieses Punktes).<br />

Für betroffene Patientinnen und Patienten hätte eine Realisierung<br />

<strong>de</strong>r vorgeschlagenen Einschränkung <strong>de</strong>r Verbindlichkeit<br />

behandlungsuntersagen<strong>de</strong>r Patientenverfügungen<br />

unzumutbar beeinträchtigen<strong>de</strong> Folgen. Sie führte<br />

in einer Vielzahl von Fällen dazu, dass einwilligungsunfähige<br />

Personen zwangsweise medizinischen Maßnahmen<br />

unterworfen wer<strong>de</strong>n, die sie nach ihrem vorab erklärten<br />

Willen und angesichts <strong>de</strong>r Berücksichtigung ihres<br />

aktuellen Willens auch in <strong>de</strong>r Behandlungssituation ablehnen.<br />

Das gilt umso mehr, als oft erst ausprobiert wer<strong>de</strong>n<br />

muss, ob eine Behandlung Erfolg hat o<strong>de</strong>r nicht.<br />

Häufig ginge es dabei um intensivmedizinische Maßnahmen,<br />

die eben nicht nur lebenserhaltend wirken, son<strong>de</strong>rn<br />

auch mit hohen Belastungen verbun<strong>de</strong>n sein können.<br />

Nach <strong>de</strong>n Kriterien <strong>de</strong>s Mehrheitsvorschlages wären<br />

nämlich keineswegs nur Maßnahmen hinzunehmen, die<br />

„vitale Lebensfunktionen“ aufrechterhalten, etwa eine<br />

Nahrungs- o<strong>de</strong>r Flüssigkeitszufuhr im Wege <strong>de</strong>r künstlichen<br />

Ernährung. Unabhängig davon können Betroffene<br />

auch eine künstliche Nahrungs- o<strong>de</strong>r Flüssigkeitszufuhr,<br />

erst recht, wenn nach ihrem eigenen Erleben <strong>de</strong>r Tod<br />

naht, als Qual erleben.<br />

Was Menschen für sich ablehnen und als unerträgliche<br />

Belastung o<strong>de</strong>r sogar als unwürdig empfin<strong>de</strong>n, ist höchst<br />

subjektiv und zutiefst von religiösen o<strong>de</strong>r weltanschaulichen<br />

Lebens- und Sterbensvorstellungen geprägt. Dieses<br />

Selbstverständnis <strong>de</strong>r Betroffenen ist, da es um ihren Körper,<br />

um ihr Leben und um ihr Sterben geht, zu achten. Der<br />

Staat, <strong>de</strong>r Patientenverfügungen gesetzlich regelt, darf es<br />

nicht übergehen. Allerdings darf und muss ihm ein Anliegen<br />

sein, dass die Ansichten und Entscheidungen <strong>de</strong>r Betroffenen<br />

nicht auf Vor- o<strong>de</strong>r Fehlurteilen beruhen, son<strong>de</strong>rn<br />

sich auf <strong>de</strong>r Basis einer hinreichen<strong>de</strong>n Aufklärung,<br />

Beratung und Information bil<strong>de</strong>n. Über individuelle Arzt-<br />

Patienten-Gespräche hinaus kann diese im Wege <strong>de</strong>r<br />

Öffentlichkeitsarbeit etwa <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sministeriums für<br />

Gesundheit o<strong>de</strong>r bestimmter Verbän<strong>de</strong> erfolgen. Bei<br />

komplexen und zugleich Ängste auslösen<strong>de</strong>n Krankheitszustän<strong>de</strong>n<br />

wie etwa <strong>de</strong>m Wachkoma o<strong>de</strong>r bei beson<strong>de</strong>rs<br />

tabuisierten Krankheitssituationen ist eine solche Aufklärungsarbeit<br />

angebracht.<br />

Wünsche in Bezug auf das eigene Sterben sind zwar nicht<br />

nur Ergebnis eines isolierten individuellen Entscheidungsprozesses,<br />

son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>s Einflusses <strong>de</strong>r Bil<strong>de</strong>r,<br />

die in <strong>de</strong>r Gesellschaft o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Medien erzeugt wer<strong>de</strong>n.<br />

Ein eindimensionaler Trend ist aber nicht ersichtlich.<br />

Es gibt zahlreiche Berichte über die Erfolge <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />

Medizin, über die Möglichkeiten <strong>de</strong>r Behandlung von<br />

Krankheiten, <strong>de</strong>r Rehabilitation o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schmerzbekämpfung<br />

und über die Hospizbewegung. Reportagen<br />

über Patientenverfügungen berichten über Menschen, die<br />

Verfügungen verfasst haben o<strong>de</strong>r verfassen wollen, über<br />

Konflikte zwischen Ärzten, Betreuern, Bevollmächtigten<br />

o<strong>de</strong>r Angehörigen o<strong>de</strong>r über die Rechtsunsicherheit auf<br />

Seiten <strong>de</strong>r Ärzte; sie haben selten <strong>de</strong>n Charakter einer<br />

Auffor<strong>de</strong>rung, <strong>de</strong>n Ablauf <strong>de</strong>s eigenen To<strong>de</strong>s zu planen.<br />

Anlass für Patientenverfügungen sind oft konkrete Erfahrungen<br />

mit Sterbesituationen im persönlichen Nahbereich.<br />

Bei <strong>de</strong>r Beurteilung <strong>de</strong>r Folgen für betroffene Patientinnen<br />

und Patienten kommt hinzu, dass eine Einschränkung<br />

<strong>de</strong>r Verbindlichkeit nach Maßgabe <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Mehrheit<br />

genannten Kriterien Missbrauchsgefahren nicht ausschließt.<br />

Die Vagheit <strong>de</strong>r Kriterien „Irreversibilität <strong>de</strong>s<br />

Grundlei<strong>de</strong>ns“ und „tödlicher Verlauf trotz medizinischer<br />

Behandlung“ und <strong>de</strong>r Maßstab <strong>de</strong>r „ärztlichen Erkenntnis“<br />

könnten in bestimmten Fällen nämlich auch umgekehrt<br />

dazu führen, dass die ärztliche Entscheidung mit<br />

Blick auf Ressourcenknappheit und ökonomische Kalkulationen<br />

gegen lebenserhalten<strong>de</strong> Maßnahmen ausfällt, sofern<br />

eine behandlungsuntersagen<strong>de</strong> Patientenverfügung<br />

vorliegt. Dann fällt ins Gewicht, dass die an<strong>de</strong>rweitigen<br />

Schutzmechanismen in <strong>de</strong>n Mehrheitsempfehlungen nur<br />

schwach ausgeprägt sind: Eine zwar schriftlich festgehaltene,<br />

im Übrigen aber ohne angemessene Aufklärung und<br />

Information unbedacht verfasste Patientenverfügung soll<br />

danach in vollem Umfang verbindlich sein.<br />

Schon <strong>de</strong>swegen trägt die Vermutung, dass ohne die vorgeschlagene<br />

Einschränkung <strong>de</strong>r Reichweite von Patientenverfügungen<br />

ein Klima <strong>de</strong>s Drucks für ältere o<strong>de</strong>r<br />

schwer kranke Menschen entstehen könnte, die Mehrheitsempfehlungen<br />

nicht. Voreiligen o<strong>de</strong>r aufgrund äußeren<br />

Drucks abgefassten Verfügungen ist durch Wirksamkeitsvoraussetzungen,<br />

insbeson<strong>de</strong>re durch das<br />

Erfor<strong>de</strong>rnis einer hinreichen<strong>de</strong>n ärztlichen Aufklärung,<br />

entgegenzuwirken.<br />

Die Einschränkung ist auch nicht <strong>de</strong>shalb gerechtfertigt,<br />

weil es sich um eine Vorausverfügung für eine nur schwer

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