Pythagoras & Co. - Griechische Mathematik vor Euklid - Mathematik.de
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Es gibt beim obigen Rei<strong>de</strong>meister-Zitat noch einen Aspekt, <strong>de</strong>r einer kurzen Kommentierung<br />
würdig ist: Rei<strong>de</strong>meister sieht die Ablösung <strong>de</strong>s Quadrats <strong>de</strong>r Geometrie von <strong>de</strong>n<br />
sinnlich wahrnehmbaren Quadraten unserer Erfahrungswelt in Zusammenhang mit <strong>de</strong>r<br />
Herausbildung eines auf logischer Herleitung beruhen<strong>de</strong>n Beweiskonzeptes. Er schreibt:<br />
So ist es hier also das Denken, das hier über das Sein und das Nichtsein eines geometrischen<br />
Tatbestan<strong>de</strong>s entschei<strong>de</strong>t. Damit vollzieht sich etwas Außeror<strong>de</strong>ntliches. Das anschauliche Quadrat,<br />
von <strong>de</strong>m die Geometrie han<strong>de</strong>lte, entschwin<strong>de</strong>t beim näheren Zugriff <strong>de</strong>r Untersuchung. Und <strong>de</strong>r<br />
Geometer ist nicht mehr imstan<strong>de</strong>, das Quadrat selbst aufzuweisen, auf das sich seine Gedanken<br />
gerichtet haben.<br />
Hier ist zumin<strong>de</strong>st als Ergänzung anzumerken, dass wichtige Abstraktionsschritte zur<br />
Herausbildung eines mathematischen Konzeptes von geometrischen Figuren durchaus<br />
auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Anschauung möglich sind und aller Wahrscheinlichkeit nach auch dort<br />
zuerst vollzogen wur<strong>de</strong>n. Die mathematische Anschauung verbin<strong>de</strong>t die Erfahrungen <strong>de</strong>r<br />
sinnlichen Wahrnehmungen erstaunlich leichtgängig mit mathematischen I<strong>de</strong>alisierungen.<br />
In <strong>de</strong>r mathematischen I<strong>de</strong>alisierung hat eine Linie keine Breite und ein Punkt keine<br />
Aus<strong>de</strong>hnung. Die Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit mit <strong>de</strong>r diese (und noch viele<br />
an<strong>de</strong>re) I<strong>de</strong>alisierungen von beinahe je<strong>de</strong>rmann in die mathematische Anschauung<br />
eingebun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n können, ist bis heute eine wichtige Grundlage <strong>de</strong>s schulischen<br />
Geometrie Unterrichts.<br />
Unabhängig vom Übergang zum rein logischen Beweisen kann sich die <strong>Mathematik</strong> also<br />
von einer zu engen Anbindung an die sinnlichen Erfahrungen ablösen und so abstrakte<br />
(nur gedachte) Figuren (auch und gera<strong>de</strong>) einem stark anschaulichen Zugang zur<br />
Geometrie zu Grun<strong>de</strong> legen.<br />
Man sieht z.B. bei <strong>de</strong>r Abb. 13 (s. Seite 25), dass man beliebig viele Pentagramme<br />
ineinan<strong>de</strong>r-schachteln kann, eben weil man die Breite <strong>de</strong>r Linien ganz beiläufig ignoriert.<br />
Man entwickelt im Kopf eine Vorstellung, zu <strong>de</strong>r die sinnlich wahrnehmbare Skizze nur<br />
inspiriert. Eine Linie mit Breite symbolisiert jeweils eine Linie ohne Breite. Nur <strong>de</strong>swegen<br />
kann <strong>de</strong>r im <strong>vor</strong>herigen Abschnitt <strong>vor</strong>gestellte Argumentationsgang überhaupt zum<br />
Ergebnis führen, dass Seite und Diagonale im regelmäßigen Fünfeck kein gemeinsames<br />
Maß haben. Dabei wird übrigens unter Heranziehung <strong>de</strong>r mathematischen Anschauung<br />
die nicht so ohne weiteres anschaulich darstellbare Eigenschaft <strong>de</strong>r Inkommensurabilität<br />
von Seite und Diagonale begrün<strong>de</strong>t. Wie man dabei sieht: Eine gut kultivierte<br />
mathematische Anschauung ist ein unglaublich leistungsfähiges Hilfsmittel. Es ist bis<br />
heute das wichtigste Instrument zur Ent<strong>de</strong>ckung mathematischer Sachverhalte. Bei <strong>de</strong>r<br />
Veröffentlichung eines Resultats wird dann aber (aus gutem Grun<strong>de</strong>) meist ein Beweis<br />
beigefügt, <strong>de</strong>r ohne Rückgriff auf die Anschauung auskommt.<br />
Was die historische Funktion <strong>de</strong>r Anschauung in <strong>de</strong>r griechischen <strong>Mathematik</strong> angeht,<br />
möchte ich zum Schluss dieses Abschnitts auf einen Aspekt hinweisen, <strong>de</strong>r gerne<br />
übersehen wird. Sowohl die anschauliche Begründung wie die logische Herleitung von<br />
Resultaten sind fehleranfällige Vorgänge. Angesichts <strong>de</strong>r menschlichen Neigung zum<br />
Irrtum ist es sehr <strong>vor</strong>teilhaft, wenn man zwei von einan<strong>de</strong>r unabhängige Talente hat, die<br />
sich wechselseitig ergänzen und auch zur wechselseitigen Überprüfung dienen können.<br />
Die Talente zur Begründung durch die Einsichten <strong>de</strong>r Anschauung und zur logischen<br />
Herleitung wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> in Kooperation kultiviert. Dass diese sich<br />
wechselseitig stützen<strong>de</strong> Kultivierung durchaus nicht überflüssig war, sieht man, wenn man<br />
einen Blick auf die griechische Philosophie wirft: Die Philosophen Parmeni<strong>de</strong>s und Zenon<br />
aus Elea gelangten bei ihren Versuchen zum streng logischen Argumentieren zur<br />
trugschlüssig erzielten Behauptung, dass es keinerlei Verän<strong>de</strong>rung geben könne. Sie<br />
kannten bzw. akzeptierten keine Kontrolle ihrer Schlüsse durch die Anschauung. 50<br />
50 Es gehört zu <strong>de</strong>n Kuriosa unserer Geschichtsschreibung, dass es bei <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>n Wurzeln <strong>de</strong>r griechischen<br />
Kultur <strong>de</strong>s logischen Beweisens immer noch Standard ist, auf die trügerische Philosophie eines Parmeni<strong>de</strong>s zu verweisen,<br />
wohingegen die brillanten Leistungen <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> höchstens am Ran<strong>de</strong> erwähnt wer<strong>de</strong>n.<br />
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