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Pythagoras & Co. - Griechische Mathematik vor Euklid - Mathematik.de

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<strong>Pythagoras</strong> & <strong>Co</strong>. - <strong>Griechische</strong> <strong>Mathematik</strong> <strong>vor</strong><br />

<strong>Euklid</strong> ©<br />

Die Erfindung <strong>de</strong>s Beweisens<br />

Norbert Froese<br />

Stand: 05.03.2010<br />

© Dieser Text unterliegt <strong>de</strong>r Lizenz Creative <strong>Co</strong>mmons Attribution-Share Alike 3.0.<br />

Der Text ist unter http://www.antike-griechische.<strong>de</strong>/<strong>Pythagoras</strong>.odt im odt Format verfügbar, die<br />

verwen<strong>de</strong>ten Abbildungen können über die folgen<strong>de</strong> Adresse herunter gela<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n:<br />

http://www.antike-griechische.<strong>de</strong>/<strong>Pythagoras</strong>_Abbildungen.zip.<br />

Zu <strong>de</strong>n <strong>Co</strong>pyright Regelungen für die verwen<strong>de</strong>ten Abbildungen siehe Anhang „Abbildungen“.<br />

Dieser Text gehört zum Projekt <strong>Griechische</strong> Antike auf http://www.antike-griechische.<strong>de</strong>.


Inhaltsverzeichnis<br />

Einleitung.............................................................................................................................................3<br />

Vorgriechische <strong>Mathematik</strong>.................................................................................................................6<br />

Frühe ägyptische <strong>Mathematik</strong>..........................................................................................................7<br />

Frühe babylonische <strong>Mathematik</strong>......................................................................................................9<br />

Prüfung und Begründung in ägyptischer und babylonischer <strong>Mathematik</strong>....................................11<br />

Die drei Hauptperio<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r griechischen <strong>Mathematik</strong>.......................................................................12<br />

Thales von Milet: Der Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Faltungungsbeweises?...............................................................13<br />

<strong>Pythagoras</strong> und sein Satz....................................................................................................................16<br />

Die Pythagoreer: Ein religiöser Bund mit Beweiskultur....................................................................18<br />

Figürliches und an<strong>de</strong>re Beson<strong>de</strong>rheiten beim Umgang mit Zahlen...............................................20<br />

Das Gera<strong>de</strong> und das Ungera<strong>de</strong> – Eine frühe Theorie.....................................................................22<br />

Hippasos von Metapont: Die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s Inkommensurablen...............................................23<br />

Anschauliche Begründung und logische Herleitung..........................................................................27<br />

Oinopi<strong>de</strong>s von Chios: Nur mit Zirkel und Lineal...............................................................................29<br />

Die drei klassischen Probleme <strong>de</strong>r antiken Geometrie.......................................................................30<br />

Hippokrates von Chios: Seine „Elemente“ und seine „Möndchen“...................................................31<br />

Archytas von Tarent – Eine Ära geht zu En<strong>de</strong>...................................................................................33<br />

Eudoxos von Knidos: Exhaustion und Proportionenlehre..................................................................35<br />

Eudoxos und das Buch XII <strong>de</strong>r Elemente......................................................................................35<br />

Das Volumen <strong>de</strong>s Kegels..........................................................................................................35<br />

Die Exhaustionsmetho<strong>de</strong>...........................................................................................................36<br />

Die Proportionenlehre <strong>de</strong>s Eudoxos..............................................................................................37<br />

Theaitetos von Athen: Quadratische Irrationalitäten und reguläre Polye<strong>de</strong>r.....................................39<br />

<strong>Euklid</strong> und die Lösung <strong>de</strong>r drei klassischen Probleme ......................................................................40<br />

Hippias von Ellis: Die Dreiteilung <strong>de</strong>s Winkels mittels Quadratrix..............................................41<br />

Menaichmos: Die Verdopplung <strong>de</strong>s Würfels.................................................................................42<br />

Deinostratos: Die Quadratur <strong>de</strong>s Kreises mittels Quadratrix.........................................................43<br />

Die Stellung <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> als Bildungs- und Kulturgut................................................................44<br />

Die <strong>Mathematik</strong> und die empirischen Wissenschaften......................................................................46<br />

Der Einfluss <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> auf die griechische Philosophie..........................................................47<br />

Nachtrag: <strong>Griechische</strong> Zahlzeichen und Zahlsysteme.......................................................................49<br />

Anhang...............................................................................................................................................50<br />

Abbildungen..............................................................................................................................50<br />

Empfehlungen...........................................................................................................................50<br />

Bücher..................................................................................................................................50<br />

Links.....................................................................................................................................50


Einleitung<br />

In<strong>de</strong>ed, seeing that so much of Greek is mathematics, it is<br />

arguable that, if one would un<strong>de</strong>rstand the Greek genius fully, it<br />

would be a good plan to begin with geometry.<br />

Sir Thomas Heath<br />

Das 6. Jahrhun<strong>de</strong>rt (v.Chr.) war in vielen Kulturen eine Zeit <strong>de</strong>s geistigen Umbruchs. Es<br />

war die Zeit <strong>de</strong>s Konfuzius in China, Buddhas in Indien, Zarathustras in Persien und<br />

Hesekiels im Alten Testament. Auch im antiken Griechenland markiert das 6. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />

(v.Chr.) eine Zeit <strong>de</strong>s Aufbruchs. Wegen <strong>de</strong>r auffälligen Häufungen <strong>de</strong>r großen kulturellen<br />

Umbrüche in <strong>de</strong>r Zeit von 800 – 200 v.Chr. und <strong>de</strong>r Nachhaltigkeit <strong>de</strong>r von diesen<br />

Umbrüchen ausgehen<strong>de</strong>n kulturellen Prägungen hat <strong>de</strong>r Philosoph Karl Jaspers hierfür<br />

<strong>de</strong>n Begriff Achsenzeit geprägt.<br />

Obwohl nur ein kleiner Anteil <strong>de</strong>r Bevölkerung <strong>de</strong>s westlichen Kulturkreises griechischer<br />

Nationalität o<strong>de</strong>r Abstammung ist, hat <strong>de</strong>r für die westliche Kultur entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Umbruch<br />

in <strong>de</strong>r griechischen Antike stattgefun<strong>de</strong>n. Die Aufgeklärtheit und Einzigkeit <strong>de</strong>r westlichen<br />

Kultur hat hier ihren Ursprung.<br />

Den griechischen Auf- und Umbruch versieht man gern mit <strong>de</strong>r Überschrift Vom Mythos<br />

zum Logos. Was unterschei<strong>de</strong>t nun aber die griechische Antike von <strong>de</strong>n kulturellen Um-<br />

und Aufbrüchen in an<strong>de</strong>ren Kulturen? Wieso hat sich ausgerechnet die griechische Antike<br />

diese Überschrift Vom Mythos zum Logos verdient? Natürlich lassen sich vielerlei<br />

Unterschie<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>n kulturellen Umbrüchen in an<strong>de</strong>ren Kulturkreisen aufführen, <strong>de</strong>r<br />

jedoch signifikanteste ist: Die griechische Antike hat die beweisen<strong>de</strong> <strong>Mathematik</strong> her<strong>vor</strong><br />

gebracht. Vielleicht (sehr vielleicht) gab es hie und da auch in an<strong>de</strong>ren Kulturkreisen erste<br />

Ansätze zur Entwicklung einer beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong>, aber einzig <strong>de</strong>r griechischen<br />

Kultur ist es gelungen, aus solchen Zündfunken ein hell lo<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>s Feuer zu entfachen.<br />

Etwas zu <strong>Euklid</strong>s Elementen auch nur entfernt Vergleichbares hat keine an<strong>de</strong>re Kultur<br />

her<strong>vor</strong>gebracht, es sei <strong>de</strong>nn in Anlehnung an das griechische Original.<br />

Wenn Thomas Heath feststellt, „Mathematics in short is a Greek science, whatever new<br />

<strong>de</strong>velopments mo<strong>de</strong>rn analysis has brought or may bring“, dann kann man ihm einfach<br />

nicht sinnvoll wi<strong>de</strong>rsprechen. Diese neue, griechische Art <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> ist zugleich<br />

strenger wie abstrakter als ihr ägyptischer und ihr mesopotamischer Vorläufer. Diese<br />

beweisen<strong>de</strong> <strong>Mathematik</strong> ist zu<strong>de</strong>m eine ungeheuer wirksame Schule <strong>de</strong>s Verstan<strong>de</strong>s. Das<br />

Beweisen for<strong>de</strong>rt und för<strong>de</strong>rt eine beson<strong>de</strong>re Erziehung und Kultivierung <strong>de</strong>s Denkens.<br />

Dabei wird man für die Anstrengung <strong>de</strong>r verlangten Genauigkeit <strong>de</strong>s Denkens mit einer<br />

neuartigen Form <strong>de</strong>r Sicherheit belohnt. Nun gibt es eine Form <strong>de</strong>r logischen Evi<strong>de</strong>nz, die<br />

sowohl eindrückliches Erlebnis, wie die Grundlage neuer Gewissheiten ist.<br />

Noch heute, ca. 2.500 Jahre nach <strong>de</strong>r Erfindung <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong>, ist das<br />

Beweisen neuer Resultate ein faszinieren<strong>de</strong>s intellektuelles Abenteuer und (im Erfolgsfall)<br />

stets mit einem Gefühl tiefer Befriedigung verbun<strong>de</strong>n. Wie mag sich dies erst am Anfang<br />

<strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> angefühlt haben? Damals wur<strong>de</strong>n ja nicht<br />

nur einzelne Resultate bewiesen, son<strong>de</strong>r noch viel imponieren<strong>de</strong>r, die Tore zu einem<br />

neuartigen Typ von Gewissheit aufgestoßen.<br />

Mögen viele <strong>de</strong>r Resultate <strong>de</strong>r ersten Generation griechischer <strong>Mathematik</strong>er bereits <strong>vor</strong>her<br />

zum tradierten Kulturgut <strong>de</strong>r Ägypter o<strong>de</strong>r Babylonier gehört haben, die Griechen haben<br />

das Wissen dieser älteren Hochkulturen jedoch nicht einfach nachgeplappert, son<strong>de</strong>rn sie<br />

haben es bewiesen. Etwas, was we<strong>de</strong>r Ägypter noch Babylonier kannten o<strong>de</strong>r konnten.<br />

Natürlich war die Entwicklung <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> eine Sache von Wenigen.<br />

Aber diese Wenigen verrichteten ihr Werk im Zentrum (und nicht an <strong>de</strong>r Peripherie) <strong>de</strong>s<br />

griechischen Kulturlebens. Die griechische <strong>Mathematik</strong> wur<strong>de</strong> nicht von randständigen,<br />

<strong>de</strong>m gewöhnlichen Griechen vollständig unbekannten Geistesgrößen betrieben. Nein, im<br />

Gegenteil: Namen wie Thales und <strong>Pythagoras</strong> (<strong>de</strong>nen man bereits in <strong>de</strong>r Antike die als<br />

-3-


Großtaten gepriesenen ersten Beweise von mathematischen Sätzen nachsagte) hatten<br />

schon damals einen Klang wie Donnerhall.<br />

Die meist aristokratischen Gentleman-Gelehrten wie die Sophisten haben nicht nur<br />

philosophische, ethische und philologische Studien betrieben, sich nicht nur in Rhetorik<br />

und Grammatik geübt, son<strong>de</strong>rn etliche von ihnen haben sich auch höchst ambitioniert mit<br />

beweisen<strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> beschäftigt.<br />

Für die Gentleman-Gelehrten gehörte dies zu ihren frei gewählten Gelehrtentätigkeiten.<br />

Sie erwarteten dafür nichts, außer etwas Anerkennung und im Glücksfall Ruhm. Aber dies<br />

war für viele <strong>de</strong>r wohlhaben<strong>de</strong>n aristokratischen Oberschicht Anreiz genug. Durch eine<br />

glückliche Geburt von <strong>de</strong>n Sorgen <strong>de</strong>r ökonomischen Existenzsicherung freigestellt,<br />

entschie<strong>de</strong>n sich viele Zöglinge <strong>de</strong>r wohlhaben<strong>de</strong>n Oberschicht für die Rolle eines<br />

Gentleman-Gelehrten.<br />

Für die Sophisten war das Ganze hingegen eine Sache <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>rwerbs. Es zeigte sich,<br />

dass bald eine Nachfrage nach bezahlter Unterweisung in beweisen<strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> entstand.<br />

Mathematisch Talentierte konnten so schon früh ihre Neigung zum Beruf machen.<br />

Die Aufnahme von Einführungen in Geometrie und Arithmetik in die Sekundar-Ausbildung<br />

von 14 bis 18 Jährigen tat ein Übriges, um die neue Form <strong>de</strong>s Verstan<strong>de</strong>sgebrauchs<br />

zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>r Oberschicht zu verbreiten.<br />

Die bei <strong>de</strong>n Abhandlungen zur griechischen Antike noch immer häufig etwas stiefmütterliche<br />

Behandlung <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> ist also keineswegs gerechtfertigt. Im Gegenteil,<br />

das für die griechische Antike so typische nachdrückliche Insistieren auf <strong>de</strong>m Unterschied<br />

zwischen Wissen und bloßem Meinen wird erst dann richtig verständlich, wenn man die<br />

damals neuen Erfahrungen aus <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> be<strong>de</strong>nkt.<br />

Die Protagonisten <strong>de</strong>s griechischen Aufklärungsprozesses verfügen über die (zu recht)<br />

immer wie<strong>de</strong>r bewun<strong>de</strong>rte innere Freiheit, sich von allerlei Ballast und Unsinn aus ihrer<br />

kulturellen Tradition zu befreien. Dies erscheint in einem ganz an<strong>de</strong>ren Licht, wenn man<br />

be<strong>de</strong>nkt, dass das Vertrauen in die Verlässlichkeit <strong>de</strong>s eigenen Urteils durch die Erfahrung<br />

<strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> einen riesigen Auftrieb erhalten hat. Wenn man mit <strong>de</strong>m<br />

eigenen Verstan<strong>de</strong> Dinge beweisen kann, an <strong>de</strong>nen selbst ein Gott nicht mehr rütteln<br />

kann, was sollen einen da Jahrhun<strong>de</strong>rte kultureller Tradition beeindrucken können?<br />

Dass sich kleine soziale Inseln mit nur wenigen Mitglie<strong>de</strong>rn so <strong>de</strong>utlich von vielen Inhalten<br />

<strong>de</strong>r ererbten Denkwelt <strong>de</strong>r Väter verabschie<strong>de</strong>n können und sich auch nicht davon<br />

beeindrucken lassen, dass es (zunächst) kaum gelingt, Anhänger zu gewinnen, wirkt<br />

ungleich viel verständlicher, wenn man sich diese „Son<strong>de</strong>rlinge“ als <strong>Mathematik</strong>er <strong>vor</strong>stellt.<br />

Eine durch die Faszinationen <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> geprägte Persönlichkeit wird<br />

nicht davon beunruhigt, dass fast alle an<strong>de</strong>ren fast alles ganz an<strong>de</strong>rs sehen. Das ist halt<br />

nun einfach mal so. Das kann man we<strong>de</strong>r än<strong>de</strong>rn, noch ist man dafür verantwortlich. Aber<br />

das ist natürlich auch nicht <strong>de</strong>r allergeringste Anlass, die eigene Weltsicht zu än<strong>de</strong>rn. Das,<br />

was vielen im Normalbetrieb <strong>de</strong>s Alltags als Neigung zum Son<strong>de</strong>rbaren erscheint, ist<br />

genau die Mentalität, die radikalen geistigen Umbrüchen äußert för<strong>de</strong>rlich ist. Es gehört zu<br />

<strong>de</strong>n Stärken <strong>de</strong>r griechischen Kultur, dass sie dieses „Son<strong>de</strong>rbare“ nicht ächtet, son<strong>de</strong>rn<br />

als Triebkraft <strong>de</strong>r kulturellen Innovation zu nutzen weiß.<br />

In puncto Talent zur inneren Abson<strong>de</strong>rung konkurriert ein mathematisches Naturell einzig<br />

mit religiösem Sektierertum. Die Pythagoreer verbin<strong>de</strong>n das eine mit <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren. Als<br />

mathematisch-religiöse Sekte sind sie die i<strong>de</strong>ale Kin<strong>de</strong>rstube für einige damals sehr<br />

ungewöhnliche I<strong>de</strong>en. Die dort gepflegten Lehren sind gut da<strong>vor</strong> geschützt, von einem<br />

gänzlich an<strong>de</strong>rs gestimmten Mainstream erdrückt zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Details <strong>de</strong>r Anfänge <strong>de</strong>r antiken Aufklärung liegen lei<strong>de</strong>r hinter einem undurchdringlichen<br />

Nebel. Und so mangelt es bei all solchen Überlegungen immer an direkten<br />

historischen Belegen. Hinsichtlich Plausibilität können sich aber die hier skizzierten<br />

-4-


Überlegungen durchaus mit an<strong>de</strong>rs gearteten spekulativen Aus<strong>de</strong>utungen <strong>de</strong>r<br />

griechischen Antike messen.<br />

Ab Platon und Aristoteles verbessert sich die Quellenlage dramatisch. Und gera<strong>de</strong> diese<br />

bei<strong>de</strong>n, die für uns heute als erste unter <strong>de</strong>n antiken Berühmtheiten mit einiger<br />

Deutlichkeit zu greifen sind, sind in ihren philosophischen Überlegungen ganz<br />

offensichtlich tief durch die beweisen<strong>de</strong> <strong>Mathematik</strong> geprägt.<br />

Ihren I<strong>de</strong>altyp <strong>de</strong>s Wissens entlehnen bei<strong>de</strong> <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong>. Sowohl die<br />

I<strong>de</strong>enlehre Platons wie die Wissenschaftslehre <strong>de</strong>s Aristoteles orientieren sich (auf die<br />

ihnen je eigene Weise) an <strong>de</strong>n Erfolgsrezepten <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong>. We<strong>de</strong>r die<br />

Verehrung Platons für die sich aller Sinnlichkeit entledigen<strong>de</strong>n Geometrie, noch die<br />

aristotelische Verehrung <strong>de</strong>s Beweisens, hätten ohne die neue Art <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> über<br />

eine Grundlage verfügt. Auch dass bei<strong>de</strong> (Platon wie Aristoteles) einem scheinbar kleinen<br />

mathematischen Spezialresultat wie <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung inkommensurabler Strecken in ihren<br />

Schriften eine <strong>de</strong>rartige Aufmerksamkeit schenken und dieses (für die pythagoreische<br />

Weltsicht sicherlich ziemlich unangenehme) Resultat beinahe als Wen<strong>de</strong>punkt <strong>de</strong>s<br />

griechischen Denkens erscheinen lassen, macht <strong>de</strong>utlich, mit welcher Aufmerksamkeit<br />

bei<strong>de</strong> das mathematische Geschehen verfolgt haben.<br />

Mehr noch: Platons Aka<strong>de</strong>mie war ebenso ein Forum für mathematische wie<br />

philosophische Fragen. Und die aus heutiger Sicht Hauptleistung <strong>de</strong>s aristotelischen<br />

Denkens, die Entwicklung <strong>de</strong>r syllogistischen Logik, ist nicht zuletzt ein Beleg dafür,<br />

welche Be<strong>de</strong>utung Aristoteles <strong>de</strong>r (durch die beweisen<strong>de</strong> <strong>Mathematik</strong> <strong>vor</strong>angetriebenen)<br />

Kultivierung <strong>de</strong>s logischen Denkens beimaß.<br />

Dabei sollen aber etliche an<strong>de</strong>re, die griechische Antike begünstigen<strong>de</strong> Faktoren, keineswegs<br />

geleugnet wer<strong>de</strong>n. Die kulturelle Offenheit, die vielzähligen Kontakte zu an<strong>de</strong>ren<br />

Hochkulturen, die Abwesenheit einer zentralen politischen Macht, die apollinische Religion,<br />

das Fehlen eines starken Berufspriestertums, die Existenz wohlhaben<strong>de</strong>r, ökonomisch<br />

(und politisch) freigestellter Aristokraten, etc., etc., das alles sind durchaus<br />

gewichtige Fakten, wenn man die Dynamik <strong>de</strong>r griechischen Antike verstehen will.<br />

Die hier beson<strong>de</strong>rs nachdrückliche Betonung <strong>de</strong>s Einflusses <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong><br />

auf die Gesamtdynamik <strong>de</strong>r griechischen Antike ist auch eine Reaktion auf die an<strong>de</strong>ren<br />

Ortes anzutreffen<strong>de</strong> Ignoranz dieses Einflusses. Das Thema wird aber in <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n<br />

Text lange Zeit keine Rolle mehr spielen. Erst im Abschnitt Der Einfluss <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong><br />

auf die griechische Philosophie wird darauf ausdrücklich zurückgekommen.<br />

Bei <strong>de</strong>r Auswahl <strong>de</strong>s Stoffs hat aber <strong>de</strong>r Umstand, dass die Anfänge <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n<br />

<strong>Mathematik</strong> ein Thema von allgemein kulturgeschichtlicher Be<strong>de</strong>utung (und nicht nur von<br />

innermathematischen Interesse) sind, einen gewissen Einfluss gehabt. Im Zweifelsfall<br />

wur<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>r Stoffauswahl Aspekten mit großer Außenwirkung <strong>de</strong>r Vorrang <strong>vor</strong> Themen<br />

mit rein innermathematischer Relevanz eingeräumt. So wird <strong>de</strong>r entsprechend<br />

<strong>vor</strong>gebil<strong>de</strong>te Leser einen Abschnitt zu Gnomon, geometrischer Algebra und quadratischen<br />

Gleichungen vermissen. Natürlich sind dies für die Entwicklung <strong>de</strong>r griechischen<br />

<strong>Mathematik</strong> alles überaus erhebliche Stichworte. Aber sie haben eben längst nicht die<br />

außermathematische Be<strong>de</strong>utung wie z.B. die Ent<strong>de</strong>ckung inkommensurabler Strecken, die<br />

hier relativ ausgiebig diskutiert wird.<br />

Ansonsten lei<strong>de</strong>t dieser Versuch zum Thema frühe griechische <strong>Mathematik</strong> (wie je<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>rartige Versuch) daran, dass es einen dramatischen Mangel an verlässlichen Quellen<br />

gibt, und dass ein unangenehm hoher Prozentsatz <strong>de</strong>r Geschichtsschreibung lei<strong>de</strong>r nur<br />

aus (mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r) intelligenten Spekulationen besteht. Das ist in vielen Fällen aber<br />

eben das Einzige was man anbieten kann.<br />

Der Text benutzt viele Zitate und Literaturreferenzen. Trotz<strong>de</strong>m wäre es falsch, wenn ich<br />

behaupten wür<strong>de</strong>, dass die hier präsentierte Sicht in je<strong>de</strong>m Punkt allgemein akzeptiert sei.<br />

-5-


Vorgriechische <strong>Mathematik</strong><br />

Obwohl die Entwicklung <strong>de</strong>s Konzepts <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> durch die antiken<br />

Griechen eine einmalige Leistung war, so geschah dies <strong>de</strong>nnoch nicht aus <strong>de</strong>m Nichts<br />

heraus, son<strong>de</strong>rn unter Nutzung <strong>de</strong>r insbeson<strong>de</strong>re im ägyptischen wie babylonischen<br />

Kulturraum erbrachten Vorleistungen.<br />

Die Griechen selbst behaupten einstimmig, dass sie <strong>de</strong>n Stoff zu ihrer<br />

Geometrie und Astronomie in Ägypten und Babylon gefun<strong>de</strong>n haben. THALES<br />

und PYTHAGORAS, DEMOKRITOS und EUDOXOS, alle sollen sie nach Ägypten und<br />

Babylonien gereist sein. Selbst wenn man diese Reiseerzählungen nicht als<br />

historische Wahrheit nimmt, son<strong>de</strong>rn nur als anekdotische Ausdrücke für die<br />

Tatsache, dass man orientalische Elemente in ihrer Lehre erkannte, so<br />

beweisen sie noch genug. Nur manche mo<strong>de</strong>rne Philologen wollen durchaus<br />

nicht gelten lassen, dass die Griechen irgend etwas Wesentliches aus <strong>de</strong>m<br />

Osten übernommen haben sollen. Als ob die Hellenen so beschränkt gewesen<br />

wären, das Wertvolle in frem<strong>de</strong>n Kulturen nicht zu sehen und zu verwerten!<br />

Es ist gewiss kein Zufall, dass es gera<strong>de</strong> die Ionier sind, die zuerst die Fackel<br />

<strong>de</strong>r griechischen Kultur <strong>vor</strong>angetragen haben. Sie wohnten ja am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

grossen orientalischen Reiche, waren sogar lange Zeit Untertanen <strong>de</strong>r<br />

lydischen und persischen Könige; sie lebten in ständiger Berührung mit <strong>de</strong>r<br />

Kultur <strong>de</strong>s Orients.<br />

Wie eng Ionien und Kleinasien politisch und wirtschaftlich verbun<strong>de</strong>n waren,<br />

wird je<strong>de</strong>m klar sein, <strong>de</strong>r das erste Buch <strong>de</strong>r Historien <strong>de</strong>s Herodotos einmal<br />

flüchtig durchgesehen hat. Auch die Beziehungen zwischen Hellas und<br />

Ägypten liegen auf <strong>de</strong>r Hand. Zahlreiche Griechen wohnten im Nil<strong>de</strong>lta. Die<br />

griechische Stadt Naukratis, die unter PSAMMETICHOS (663 bis 609 v. Chr.)<br />

gegrün<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, erhielt unter AMASIS (569 bis 525 v. Chr.) sogar ein<br />

Han<strong>de</strong>lsmonopol für ganz Ägypten. 1<br />

Be<strong>vor</strong> wir uns hier <strong>de</strong>r griechischen <strong>Mathematik</strong> zuwen<strong>de</strong>n, soll ein kurzer Blick auf die<br />

ägyptische und babylonische <strong>Mathematik</strong> geworfen wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Substanz <strong>de</strong>r ägyptischen wie babylonischen <strong>Mathematik</strong> wur<strong>de</strong> nicht in Form einer<br />

Sammlung von mathematischen Sätzen notiert, son<strong>de</strong>rn als eine Sammlung von<br />

mathematischen Prozeduren gelehrt und tradiert. Diese Prozeduren wur<strong>de</strong>n dabei<br />

typischer Weise in Form von Musterlösungen für ausgesuchte Beispiele präsentiert.<br />

Die ägyptische wie die babylonische <strong>Mathematik</strong> haben insofern eine gewisse Ähnlichkeit<br />

mit <strong>de</strong>r Art und Weise, mit <strong>de</strong>r wir bis heute <strong>Mathematik</strong> in <strong>de</strong>r Primar- und Unterstufe<br />

unterrichten: Statt mathematischer Sätze und allgemeiner Formeln steht auch dort das<br />

mustergültige Beispiel und das daran orientierte Einüben von mathematischen Techniken<br />

(Prozeduren) im Mittelpunkt <strong>de</strong>s Lernens. Es gibt sogar noch eine weitere Entsprechung:<br />

Die Probe als Mittel <strong>de</strong>r Prüfung <strong>de</strong>s gefun<strong>de</strong>nen Resultats. Sowohl die ägyptische wie die<br />

babylonische <strong>Mathematik</strong> kennen diese Technik <strong>de</strong>s Prüfens eines Ergebnisses.<br />

Wenn im Folgen<strong>de</strong>n ab und zu davon gesprochen wird, dass die ägyptische o<strong>de</strong>r<br />

babylonische <strong>Mathematik</strong> schon diese o<strong>de</strong>r jene Formel, bzw. schon diesen o<strong>de</strong>r jenen<br />

Satz kannte, so ist dies nicht ganz wörtlich zu nehmen. Man lehrte dort i.a. keine Sätze<br />

und Formeln, son<strong>de</strong>rn (fast ausschließlich) Musterlösungen. Aber man kann aus <strong>de</strong>n<br />

angebotenen Musterlösungen <strong>de</strong>r ägyptischen und babylonischen <strong>Mathematik</strong> die zugehörigen<br />

Formeln und Sätze meist einfach herauslesen. Und solche recht anstrengungslos<br />

herauslesbaren Formeln und Sätze stellen nun mal die prägnanteste Möglichkeit zur<br />

Beschreibung <strong>de</strong>s Niveaus <strong>de</strong>r ägyptischen und babylonischen <strong>Mathematik</strong> dar.<br />

1 B.L. van <strong>de</strong>r Waer<strong>de</strong>n: Erwachen<strong>de</strong> Wissenschaft. Bd. 1: Ägyptische, babylonische und griechische <strong>Mathematik</strong>.<br />

Basel, Stuttgart: Birkhäuser Verlag 1956. S. 133f<br />

-6-


Frühe ägyptische <strong>Mathematik</strong><br />

Obwohl die griechische <strong>Mathematik</strong> <strong>de</strong>r babylonischen <strong>Mathematik</strong> wahrscheinlich mehr<br />

zu verdanken hat als <strong>de</strong>r ägyptischen, sahen die antiken Griechen dies genau an<strong>de</strong>rs<br />

herum. Dies mag auch damit zusammen hängen, dass man damals Ägypten, das Land<br />

mit <strong>de</strong>n Pyrami<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n jährlichen Nil-Überschwemmungen, für das Ursprungs-Land<br />

<strong>de</strong>r Geometrie hielt:<br />

Je<strong>de</strong>r aber, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Fluß von seinem Land etwas abgerissen, mußte es <strong>de</strong>m<br />

König gleich mel<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r dann seine Beamten hinschickte, um nachzusehen<br />

und auszumessen, wieviel kleiner das Grundstück gewor<strong>de</strong>n, und die Höhe <strong>de</strong>r<br />

davon künftig zu entrichten<strong>de</strong>n Abgabe zu bestimmen. Infolge<strong>de</strong>ssen, glaube<br />

ich, hat man dort die Feldmeßkunst erfun<strong>de</strong>n, und von da ist sie dann nach<br />

Griechenland gelangt. (Herodot: Historien, Buch II, 109) 2<br />

Wenn man heute die mathematischen Fertigkeiten <strong>de</strong>r alten Ägypter rekonstruiert, dann<br />

erfolgt dies auf <strong>de</strong>r Grundlage weniger Dokumente, <strong>de</strong>ren Inhalt aus <strong>de</strong>m Mittleren Reich<br />

(so ganz ungefähr: 2000 – 1800 v.Chr.) stammt. Die wichtigsten Quellen sind dabei <strong>de</strong>r<br />

Papyrus Rhind und <strong>de</strong>r Papyrus Moskau.<br />

Die Träger <strong>de</strong>s mathematischen Wissens <strong>de</strong>r altägyptischen Kultur waren spezielle<br />

Beamte: die Schreiber. Die Fertigkeiten eines erfahrenen Schreibers gingen weit über das<br />

bloße Lesen und Schreiben hinaus. Die Schreiber mussten Dinge wie <strong>de</strong>n Materialbedarf<br />

für geplante Bauten o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n erfor<strong>de</strong>rlichen Proviant für ein Heer berechnen können.<br />

Die altägyptische Zahlschrift kennt Symbole für 1, 10, 100, 1.000, 10.000, 100.000 und<br />

1.000.000 . Das Symbol für 1.000.000 (Symbol „Gott“) war aber nicht in allen Phasen <strong>de</strong>r<br />

altägyptischen Kultur gebräuchlich. Durch eine Reihung <strong>de</strong>r Zahlsymbole konnten die<br />

natürlichen Zahlen (>0) dargestellt wer<strong>de</strong>n. Das Grundkonzept dieser Zahlschrift entspricht<br />

im Grundsatz <strong>de</strong>m, was man als Mitteleuropäer von römischen Zahlen her kennt.<br />

Mit Hilfe <strong>de</strong>r altägyptischen Zahlschrift können auch Stammbrüche (Brüche <strong>de</strong>r Form 1/n)<br />

dargestellt wer<strong>de</strong>n. Um <strong>de</strong>n Stammbruch 1/k darzustellen, muss man die Darstellung <strong>de</strong>r<br />

Zahl k um die Hieroglyphe „Mund“ ergänzen. Der über die Zahl k gesetzte „Mund“ verwan<strong>de</strong>lt<br />

<strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Zahl von k in 1/k. Jenseits <strong>de</strong>r Stammbrüche hatten die alten<br />

Ägypter nur noch für zwei Bruchwerte Zahlsymbole. Es waren Symbole für 2/3 und ¾.<br />

Auch wenn sich die Rechenwege <strong>de</strong>r alten Ägypter in mancherlei Hinsicht von <strong>de</strong>n<br />

Techniken unterschei<strong>de</strong>n, die wir heute an Primarschulen lehren, so beherrschten die<br />

alten Ägypter doch alle vier Grundrechenarten einwandfrei.<br />

War das Ergebnis einer Rechnung allerdings eine Bruchzahl, so konnte man gezwungen<br />

sein, das Ergebnis als Summe darstellbarer Bruchzahlen zu notieren. Statt 2/5 schrieb<br />

man z.B. 1/3 + 1/15. In <strong>de</strong>r altägyptischen Zahlschrift gab es ja für einen Wert wie 2/5<br />

keine direkte Darstellungsmöglichkeit. Man musste <strong>de</strong>n Umweg über eine Summe zweier<br />

Stammbrüche wählen. Eine triviale Darstellung mittels Stammbrüchen à la 2/5 = 1/5 + 1/5<br />

haben die alten Ägypter dabei konsequent vermie<strong>de</strong>n. Der Papyrus Rhind, welcher unter<br />

an<strong>de</strong>rem auch die wesentlichen Hilfsmittel zur Bruchrechnung <strong>de</strong>r alten Ägypter an die<br />

Hand gibt, beginnt übrigens etwas großspurig:<br />

Der Papyrus fängt sehr vielversprechend an: „Kunstgerechtes Eindringen in<br />

alle Dinge, Erkenntnis alles Seien<strong>de</strong>n, aller Geheimnisse …“ verspricht er zu<br />

lehren. Aber sehr bald stellt sich heraus, dass nicht <strong>de</strong>r Urgrund <strong>de</strong>r Dinge<br />

hier entschleiert wer<strong>de</strong>n soll, son<strong>de</strong>rn dass es nur die Geheimnisse <strong>de</strong>r Zahlen<br />

und <strong>de</strong>r Bruchrechnung sind, in die <strong>de</strong>r A<strong>de</strong>pt hier eingeweiht wer<strong>de</strong>n soll, mit<br />

Anwendungen auf vielerlei praktische Probleme, mit <strong>de</strong>nen es die Beamten <strong>de</strong>s<br />

2 Das Geschichtswerk <strong>de</strong>s Herodot von Halikarnassos. Übersetzt von Theodor Braun. Frankfurt: Insel Taschenbuch<br />

2001. S. 184<br />

-7-


grossen Reiches zu tun hatten: Verteilung von Lohnsummen an mehrere<br />

Arbeiter, Berechnung <strong>de</strong>s Getrei<strong>de</strong>bedarfs für die Zubereitung einer<br />

bestimmten Menge Brot o<strong>de</strong>r Bier, Berechnung von Flächen und<br />

Rauminhalten, Umrechnung von Getrei<strong>de</strong>maßen usw. Dazwischen fin<strong>de</strong>n sich<br />

allerdings auch rein theoretische Aufgaben zur Einübung <strong>de</strong>r schwierigen<br />

Technik <strong>de</strong>r Bruchrechnung. 3<br />

Die Standard-Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Lehrens scheint im Vorrechnen von Beispielen bestan<strong>de</strong>n zu<br />

haben. Häufig wer<strong>de</strong>n die erhaltenen Resultate durch eine Probe überprüft. Beschreiben<br />

wir die bei <strong>de</strong>n Ägyptern bearbeiteten mathematischen Probleme mit mo<strong>de</strong>rnem<br />

Vokabular, so ergibt sich hinsichtlich ihrer Kern-Kompetenzen etwa folgen<strong>de</strong>s Bild:<br />

• Lösung einfacher linearer Gleichungssysteme;<br />

• Lösung einfachster quadratischer Gleichungen (z.B.: ¾ x 2 = 12);<br />

• Flächenberechnungen für Dreieck, Quadrat, Rechteck, Trapez;<br />

• Sehr gute Näherung <strong>de</strong>r Kreisfläche mittels F = (8/9 * d) 2 (entspricht einem<br />

angenommen Wert für π von ungefähr 3,16);<br />

• Berechnung <strong>de</strong>r Volumina von Würfel, Qua<strong>de</strong>r und Zylin<strong>de</strong>r (Zylin<strong>de</strong>r in sehr guter<br />

Näherung);<br />

• Berechnung <strong>de</strong>s Volumens <strong>de</strong>s Stumpfes einer quadratischen Pyrami<strong>de</strong>.<br />

Abbildung 1: Quadratischer<br />

Pyrami<strong>de</strong>nstumpf;<br />

V = h/3 (a 2 + b 2 + ab)<br />

Dass die Ägypter die richtige Formel für das Volumen eines<br />

quadratischen Pyrami<strong>de</strong>nstumpfes kannten, gilt allgemein<br />

als beson<strong>de</strong>res Highlight ihrer <strong>Mathematik</strong>. Ob sie auch die<br />

Formel für das Volumen <strong>de</strong>r quadratischen Pyrami<strong>de</strong><br />

kannten, ist unklar. Wenn man mit heutigen Augen auf die<br />

Formel für <strong>de</strong>n Pyrami<strong>de</strong>nstumpf blickt, dann scheint sich die<br />

Formel V = h<br />

für die quadratische Pyrami<strong>de</strong> regelrecht<br />

3 a2<br />

aufzudrängen, aber das muss nicht heißen, dass schon die<br />

alten Ägypter diese Formel kannten.<br />

Außer<strong>de</strong>m: Obwohl die Ägypter wahrlich große Pyrami<strong>de</strong>nbauer<br />

waren, verwen<strong>de</strong>ten sie neben <strong>de</strong>r korrekten Formel<br />

für das Volumen <strong>de</strong>s Pyrami<strong>de</strong>nstumpfes hin und wie<strong>de</strong>r<br />

auch Formeln, mit <strong>de</strong>nen man das Volumen eines<br />

Pyrami<strong>de</strong>nstumpfes nur grob nähern konnte. 4<br />

Zur nächsten Frage: Wussten die Ägypter, dass im rechtwinkligen Dreieck die Formel<br />

a 2 + b 2 = c 2 gilt? Wussten sie, dass wenn a 2 + b 2 = c 2 erfüllt ist, das Dreieck rechtwinklig ist?<br />

Diese Fragen lassen sich nicht verbindlich beantworten. Wir fin<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Papyri keine<br />

entsprechen<strong>de</strong>n Stellen. Die häufig geäußerte Vermutung, dass die Ägypter Dreiecke mit<br />

<strong>de</strong>n Seitenlängen 3, 4, 5 benutzt haben, um rechte Winkel zu konstruieren, ist aber<br />

<strong>de</strong>nnoch sehr plausibel. So richtig sicher ist es aber nicht.<br />

Fassen wir zusammen: Die altägyptische Kultur war hoch entwickelt. Die<br />

<strong>Mathematik</strong> hat in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Schreiber eine Höhe erreicht, die <strong>de</strong>n<br />

praktischen Problemen gerecht wer<strong>de</strong>n konnte und in Einzelfällen zu weiteren<br />

Fragestellungen führte. Im Allgemeinen han<strong>de</strong>lt es sich um Rechenanweisungen;<br />

die „Probe“ wird mit <strong>de</strong>m Ergebnis gemacht. Aber es gibt keine<br />

Begründung dafür, dass eine Vorschrift im Allgemeinen immer zum richtigen<br />

Ergebnis führt. 5<br />

3 B.L. van <strong>de</strong>r Waer<strong>de</strong>n: Erwachen<strong>de</strong> Wissenschaft. Bd. 1. Basel, Stuttgart: Birkhäuser Verlag 1956. S. 25f<br />

4 Siehe z.B.: C.J. Scriba, P. Schreiber: 5000 Jahre Geometrie. Hei<strong>de</strong>lberg New York: Springer Verlag 2003. S. 15<br />

5 Hans Wußing: 6000 Jahre <strong>Mathematik</strong>. Bd 1. Berlin Hei<strong>de</strong>lberg: Springer Verlag 2008. S. 121<br />

-8-


Frühe babylonische <strong>Mathematik</strong><br />

Das, was man heute gemeinhin babylonische <strong>Mathematik</strong> nennt, müsste eigentlich<br />

mesopotamische <strong>Mathematik</strong> heißen. Zu ihr haben mehrere mesopotamische Kulturen<br />

(und nicht nur die babylonische) wichtige Beiträge geliefert. Man rekonstruiert die<br />

babylonische (mesopotamische) <strong>Mathematik</strong> auf <strong>de</strong>r Grundlage einer Vielzahl von<br />

mathematischen Texten auf Tontafeln. Der Großteil <strong>de</strong>r Tontafeln stammt dabei aus <strong>de</strong>r<br />

Zeit <strong>de</strong>r Hammurapi Dynastie:<br />

The great majority of mathematical texts are "Old-Babylonian"; that is to say,<br />

they are contemporary with the Hammurapi dynasty, thus roughly belonging to<br />

the period from 1800 to 1600 B.C. 6<br />

The mathematical texts can be classified into two major groups:"table texts"<br />

and "problem texts". A typical representative of the fist class is the<br />

multiplication table (…). The second class comprises a great variety of texts<br />

which are all more or less directly concerned with the formulation or solution<br />

of algebraic or geometrical problems. 7<br />

Die babylonische Zahlschrift verfügt über zwei als Zahlzeichen genutzte Keilschrift-<br />

symbole, und zwar für die 1 und die 10. Mit diesen bei<strong>de</strong>n Zahlzeichen wer<strong>de</strong>n die Zahlen<br />

1 bis 59 dargestellt. Diese Zahlen wer<strong>de</strong>n dann analog zu unseren Ziffern 0 - 9 in einem<br />

Stellenwertsystem interpretiert. Die Basis <strong>de</strong>s Stellenwertsystems ist dabei nicht 10 (wie<br />

bei unserem mo<strong>de</strong>rnen Dezimalsystem), son<strong>de</strong>rn 60. Man spricht vom babylonischen<br />

Sexagesimalsystem, einer Erfindung, die in ihren Kernpunkten auf die Sumerer zurückgeht.<br />

Dass eine Stun<strong>de</strong> 60 Minuten und die Minute 60 Sekun<strong>de</strong>n hat ist ebenso eine historische<br />

Spätwirkung <strong>de</strong>s babylonischen Sexagesimalsystems, wie die Unterteilung von Grad in<br />

Minuten und Sekun<strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>r Winkelmessung (bzw. <strong>de</strong>n Angaben zur geografischen<br />

Länge und Breite eines Ortes).<br />

In mathematik-historischen Arbeiten ist es üblich Zahlen im Sexagesimalsystem mittels<br />

indisch-arabischer Ziffern darzustellen. Die Stellen <strong>de</strong>s Sexagesimalsystems wer<strong>de</strong>n dabei<br />

dann z.B. durch Kommata getrennt und die Bruchstellen („Nachkommastellen“) durch ein<br />

Semikolon eingeleitet:<br />

7,0,53;4,12 be<strong>de</strong>utet dann z.B. 7 * 60 2 + 0 * 60 1 + 53 * 60 0 + 4 * 60 -1 + 12 * 60 -2<br />

Sexagesimal-Brüche (wie sie im Beispiel auftreten) waren im alten Babylon durchaus<br />

gebräuchlich. Eine vollwertige Null hingegen kannte man dort (anfänglich) nicht. Dies<br />

machte die Interpretation <strong>de</strong>s Zahlenwerts natürlich fehleranfällig. Als Vorstufe zur Null<br />

wur<strong>de</strong> eine unbesetzte Stelle zunächst durch einen <strong>de</strong>utlichen Abstand zwischen <strong>de</strong>n<br />

besetzten Stellen kenntlich gemacht. Dann wird (so etwa zu Beginn <strong>de</strong>r Perserzeit) <strong>de</strong>r<br />

Gebrauch eines inneren Lückenzeichens gebräuchlich. Es wird zwischen zwei besetzten<br />

Stellen eingefügt, wenn dazwischen eine Stelle unbesetzt ist (sprich einen Wert von 0 hat).<br />

Als letztes Zeichen einer Zahl wird das Lückenzeichen jedoch nicht verwen<strong>de</strong>t. Damit<br />

bleiben alle natürlichen Zahlen die auf eine 0 en<strong>de</strong>n, weiterhin ein <strong>de</strong>likates Problem.<br />

Dieses Problem wird erst (viel später) durch die Einführung einer vollwertigen Null gelöst. 8<br />

Trotz <strong>de</strong>r Schwäche <strong>de</strong>r fehlen<strong>de</strong>n Null ist das babylonische Sexagesimalsystem das<br />

beste Zahlensystem <strong>de</strong>r Antike. Das Problem <strong>de</strong>r etwas unsicheren Interpretation <strong>de</strong>s<br />

Zahlenwerts kann meist entwe<strong>de</strong>r durch Verfolgung <strong>de</strong>r einschlägigen Rechnungen o<strong>de</strong>r<br />

durch Berücksichtigung <strong>de</strong>s sonstigen Kontextes gelöst wer<strong>de</strong>n. Auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>s<br />

Sexagesimalsystems entwickeln die Babylonier beeindrucken<strong>de</strong> Fertigkeiten:<br />

6 O. Neugebauer: The Exact Sciences in Antiquity. New York: Dover Publications, Inc. 1969. S. 29<br />

7 O. Neugebauer: The Exact Sciences in Antiquity. New York: Dover Publications, Inc. 1969. S. 30<br />

8 vgl. z.B.: Robert Kaplan: Die Geschichte <strong>de</strong>r Null. München: Piper Verlag 2003<br />

-9-


Außer <strong>de</strong>n vier Grundrechenarten kannten die Mesopotamier auch das<br />

Potenzieren und das Ziehen von Quadrat- und Kubikwurzeln. Es gibt Täfelchen<br />

mit <strong>de</strong>n Quadrat- und Kubikzahlen aller Zahlen von 1 bis 60 – und damit<br />

umgekehrt auch <strong>de</strong>r Quadrat- und Kubikwurzeln dieser Quadrat- und Kubikzahlen.<br />

9<br />

Aber man war nicht auf so einfache Radikan<strong>de</strong>n wie Quadrat- o<strong>de</strong>r Kubikzahlen<br />

angewiesen. Den Wert <strong>de</strong>r Quadratwurzel von 2 bestimmte man z.B. auf einen Wert,<br />

<strong>de</strong>ssen (auf 7 Nachkommastellen genaue) <strong>de</strong>zimale Wie<strong>de</strong>rgabe 1,4142128 lautet. Ein<br />

mo<strong>de</strong>rner Taschenrechner liefert 1,414213562. Der Fehler <strong>de</strong>r Babylonier beträgt weniger<br />

als 0,001 Promille. Die guten Rechenfertigkeiten waren <strong>de</strong>n Babyloniern bei <strong>de</strong>r Lösung<br />

linearer Gleichungen wie Gleichungen 2. und 3. Gra<strong>de</strong>s sehr nützlich. Hier war die<br />

babylonische <strong>de</strong>r ägyptischen <strong>Mathematik</strong> <strong>de</strong>utlich überlegen. Ergänzt wur<strong>de</strong>n die<br />

Lösungsmetho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Babylonier (wie bei <strong>de</strong>n Ägyptern) durch das Konzept <strong>de</strong>r Probe.<br />

In <strong>de</strong>r babylonischen Geometrie kennt man <strong>de</strong>n Satz <strong>de</strong>s <strong>Pythagoras</strong> sowie <strong>de</strong>n Satz <strong>de</strong>s<br />

Thales. In an<strong>de</strong>ren Punkten bleibt die babylonische Geometrie aber hinter <strong>de</strong>r ägyptischen<br />

zurück. Man kennt zwar auch bei <strong>de</strong>n Babyloniern die Formeln zur Flächenberechnung<br />

von Dreieck, Rechteck und Trapez, aber die Kreisfläche wird recht grob genähert<br />

(Näherung entspricht π = 3). Und auch das Volumen <strong>de</strong>s quadratischen<br />

Pyrami<strong>de</strong>nstumpfes wird in <strong>de</strong>n babylonischen Rechnungen stets nur grob genähert. 10<br />

Wie bei <strong>de</strong>n Ägyptern liefern auch die babylonischen Lehrtexte Musterlösungen. Ein „So<br />

ist die Prozedur“ taucht häufiger als Schlussphrase bei babylonischen Musterlösungen<br />

auf. Die babylonischen Musterlösungen verfehlen in <strong>de</strong>r Tat die Beschreibung allgemeiner<br />

Lösungswege im mo<strong>de</strong>rnen Sinne nur äußerst knapp. O. Neugebauer besteht darauf,<br />

dass man <strong>de</strong>n Babyloniern ein Denken in allgemeinen Prozeduren zubilligen muss:<br />

From actually computed examples it becomes obvious that it was the general<br />

procedure, not the numerical result, which was consi<strong>de</strong>red important. If<br />

acci<strong>de</strong>ntally a factor has the value 1 the multiplication by 1 will be explicitly<br />

performed, obviously because this step is necessary in the general case.<br />

Similarly we find regularly a general explanation of the procedure. Where we<br />

would write x + y the text would say "5 and 3, the sum of length and width".<br />

In<strong>de</strong>ed it is often possible to transform these examples directly into our<br />

symbolism simply by replacing the i<strong>de</strong>ograms which were used for "length",<br />

"width", "add", "multiply" by our letters and symbols. The accompanying<br />

numbers are hardly more than a convenient gui<strong>de</strong> to illustrate the un<strong>de</strong>rlying<br />

general process. Thus it is substantially incorrect if one <strong>de</strong>nies the use of a<br />

"general formula" to Babylonian algebra. 11<br />

Die im 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt von Neugebauer sehr energisch vertretene Position zur Neubewertung<br />

<strong>de</strong>r babylonischen <strong>Mathematik</strong> hat sich mittlerweile durchgesetzt. Heute wird <strong>de</strong>n<br />

Babyloniern ganz selbstverständlich ein Denken in allgemeinen Prozeduren zugebilligt:<br />

Die Form, in <strong>de</strong>r die mathematischen Kenntnisse dargeboten wer<strong>de</strong>n, ist die<br />

<strong>de</strong>r Rechen<strong>vor</strong>schrift, natürlich mit bestimmten Zahlen; jedoch sind sie meist<br />

so allgemein gehalten, daß beliebige Zahlen eingesetzt wer<strong>de</strong>n können. Man<br />

sieht das daran, daß gelegentlich eine Multiplikation mit 1 o<strong>de</strong>r auch die<br />

Operation 1=1 ausdrücklich angegeben ist. Begründungen, Herleitungen<br />

o<strong>de</strong>r Beweise fin<strong>de</strong>n sich in <strong>de</strong>n Texten nicht. Dabei ist aber zu berücksichtigen,<br />

daß wir nicht wissen, was <strong>de</strong>r Lehrer beim mündlichen Unterricht<br />

gesagt hat. 12<br />

9 Andre Pichot: Die Geburt <strong>de</strong>r Wissenschaft. Parkland Verlag 2000. S. 65<br />

10 Es gibt allerdings eine beschädigte Tontafel, die das Volumen <strong>de</strong>s Pyrami<strong>de</strong>nstumpfes behan<strong>de</strong>lt und die man im<br />

Sinne <strong>de</strong>r korrekten Lösung ergänzen könnte, aber das ist natürlich <strong>de</strong>utlich weniger als die Ägypter <strong>vor</strong>zuweisen<br />

haben und zu wenig um von <strong>de</strong>r Kenntnis <strong>de</strong>r korrekten Formel sprechen zu können.<br />

11 O. Neugebauer: The Exact Sciences in Antiquity. New York: Dover Publications, Inc. 1969. S. 43f<br />

12 Helmuth Gericke: <strong>Mathematik</strong> in Antike, Orient und Abendland. Wiesba<strong>de</strong>n: Matrix Verlag 2005. S. 43<br />

-10-


Prüfung und Begründung in ägyptischer und babylonischer <strong>Mathematik</strong><br />

Auf <strong>de</strong>n <strong>vor</strong>herigen Seiten wur<strong>de</strong> ein grober Überblick zum Stand <strong>de</strong>r frühen ägyptischen<br />

und babylonischen <strong>Mathematik</strong> gegeben. Die antiken Griechen konnten diese Techniken<br />

und dieses Wissen beim Aufbruch <strong>de</strong>r griechischen <strong>Mathematik</strong> nutzen.<br />

Obwohl wir bei <strong>de</strong>r Rekonstruktion <strong>de</strong>r frühen ägyptischen und babylonischen <strong>Mathematik</strong><br />

mit allerlei Unsicherheiten leben müssen, kann man doch sagen, dass es keine Anzeichen<br />

dafür gibt, dass Ägypter und/o<strong>de</strong>r Babylonier <strong>Mathematik</strong> in ähnlicher Weise als<br />

beweisen<strong>de</strong> Wissenschaft verstan<strong>de</strong>n haben, wie wir dies von <strong>de</strong>r späteren griechischen<br />

<strong>Mathematik</strong> kennen.<br />

Ägypter und Babylonier hatten jedoch keineswegs alle Elemente von Prüfung und<br />

Begründung strikt aus ihrer frühen <strong>Mathematik</strong> verbannt. Dass in bei<strong>de</strong>n Kulturen die<br />

Probe ein gängiges Instrument zur Prüfung <strong>de</strong>r Ergebnisse war, wur<strong>de</strong> bereits erwähnt.<br />

Man kann eine aufgehen<strong>de</strong> Probe dabei ja durchaus auch als Beweis <strong>de</strong>uten: Es wird<br />

bewiesen, dass die in <strong>de</strong>r Probe eingesetzten Werte zur Lösungsmenge gehören. Wenn<br />

gefun<strong>de</strong>ne Werte konsequent per Probe überprüft wer<strong>de</strong>n, so sichert dies die Korrektheit<br />

<strong>de</strong>r Ergebnisse genauso, wie ein Beweis, <strong>de</strong>r die verwen<strong>de</strong>te Prozedur als zuverlässig<br />

ausweist. 13 Aus dieser Sicht ist eine Kultur <strong>de</strong>r Probe durchaus ein kleiner Schritt in<br />

Richtung beweisen<strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong>. Aufgehen<strong>de</strong> Proben sind „Richtigkeitsbeweise“.<br />

Eines <strong>de</strong>r besten Beispiele für die kleinen Schritte in Richtung beweisen<strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong><br />

liefert <strong>de</strong>r ägyptische Papyrus Rhind. Der Papyrus enthält eine Tabelle, in <strong>de</strong>r für<br />

ungera<strong>de</strong> n von 5 bis 101 zu je<strong>de</strong>m Wert 2/n jeweils eine Zerlegung in eine Summe von<br />

Stammbrüchen angegeben wird.<br />

In <strong>de</strong>r 2/n-Tabelle <strong>de</strong>s Papyrus Rhind folgt je<strong>de</strong>r Zerlegung von 2/n in<br />

Stammbrüche ein „Richtigkeitsbeweis“. 14<br />

Diese 2/n-Tabelle war für die altägyptische Art <strong>de</strong>r Bruchrechnung von zentraler<br />

Be<strong>de</strong>utung und da wollte man offensichtlich ganz auf Nummer sicher gehen.<br />

Abbildung 2: Altbabylonische<br />

Zeichnung<br />

Einer <strong>de</strong>r wenigen Hinweise, dass es noch weitergehen<strong>de</strong> Ansätze<br />

zu einer beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> gegeben haben könnte, liefert<br />

eine altbabylonische Zeichnung (siehe Abb. 2). Platon verwen<strong>de</strong>t<br />

im Dialog Menon eine ähnliche Skizze. Dort dient sie dazu einen<br />

Sklaven einsehen zu lassen, dass man ein doppelt so großes<br />

Quadrat erhält, wenn man über <strong>de</strong>r Diagonale eines gegebenen<br />

Quadrats ein neues Quadrat errichtet. 15 Man kann dieses Resultat<br />

auch so ausdrücken, dass beim gleichschenkligen, rechtwinkligen<br />

Dreieck das Quadrat über <strong>de</strong>r Hypotenuse gleich <strong>de</strong>r Summe <strong>de</strong>r<br />

Quadrate über <strong>de</strong>n Katheten ist. So erscheint es als ein Spezialfall<br />

<strong>de</strong>s Satzes von <strong>Pythagoras</strong>. Haben die Babylonier aus <strong>de</strong>r Skizze<br />

<strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Satz abgelesen? Gab es bereits hier Anfänge<br />

eines anschaulichen Beweisens? Wir wissen es nicht. 16 Wir können es allerdings auch<br />

nicht ausschließen. Zur vollen Ausbildung einer Kultur <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> kam<br />

es (nach bisherigem Erkenntnisstand) auf je<strong>de</strong>n Fall erst bei <strong>de</strong>n Griechen.<br />

13 Wir nutzen diese Möglichkeit <strong>de</strong>r Rechtfertigung durch eine Probe ja auch heute noch (und dies durchaus nicht nur<br />

in <strong>de</strong>r Primarschule). Bei <strong>de</strong>r Lösung von Integrationsproblemen ist es z.B. häufig am geschicktesten, sich durch<br />

etwas schmud<strong>de</strong>lige (aus theoretischer Sicht anzweifelbare) Rechnungen zu Vermutungen hinsichtlich <strong>de</strong>r Stammfunktion<br />

„inspirieren“ zu lassen und dann durch die Probe <strong>de</strong>r Differentiation die Vermutungen zu beweisen. Wenn<br />

kein Programm zur maschinellen Lösung <strong>de</strong>r Integrationsaufgabe zur Verfügung steht, ist dies häufig <strong>de</strong>r schnellste<br />

Weg, um zu einer Lösung zu kommen. Die Probe <strong>de</strong>r Differentiation trägt dabei die ganze Last <strong>de</strong>r Rechtfertigung.<br />

14 Hans Wußing: 6000 Jahre <strong>Mathematik</strong>. Bd 1. Berlin Hei<strong>de</strong>lberg: Springer Verlag 2008. S. 139<br />

15 Vgl.: www.antike-griechische.<strong>de</strong>/Platon.pdf Abschnitt Der Dialog Menon, S. 44ff (Skizze auf S. 48).<br />

16 Vgl.: Helmuth Gericke: <strong>Mathematik</strong> in Antike, Orient und Abendland. Wiesba<strong>de</strong>n: Matrix Verlag 2005. S. 33<br />

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Die drei Hauptperio<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r griechischen <strong>Mathematik</strong><br />

Man unterschei<strong>de</strong>t bei <strong>de</strong>r griechischen <strong>Mathematik</strong> <strong>de</strong>r Antike gern drei Hauptperio<strong>de</strong>n:<br />

• Die ionische Perio<strong>de</strong>: Thales, <strong>Pythagoras</strong> und die Pythagoreer schaffen die<br />

Grundlagen <strong>de</strong>r griechischen <strong>Mathematik</strong>. Es die Zeit, in <strong>de</strong>r sich eine Kultur <strong>de</strong>s<br />

Beweisens herausbil<strong>de</strong>t. Anfänglich sind diese „Beweise“ noch eher anschauliche<br />

Begründungen für Sätze, <strong>de</strong>nn Beweise im Sinne <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen aka<strong>de</strong>mischen<br />

<strong>Mathematik</strong>. Die Anfor<strong>de</strong>rungen an die Strenge eines Beweises steigen aber bald<br />

<strong>de</strong>utlich an. Man beginnt dann auch schon, sich um einen systematischen Aufbau<br />

<strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> zu kümmern. Archytas von Tarent beschließt diese Perio<strong>de</strong>.<br />

• Die athenische Perio<strong>de</strong>: Eudoxos und Theaitetos sind zwei prominente Vertreter<br />

dieser Perio<strong>de</strong>. Ihre sehr anspruchsvollen Arbeiten dominieren die <strong>Mathematik</strong> <strong>de</strong>r<br />

durch Platon mitgeprägten athenischen Perio<strong>de</strong>.<br />

• Die hellenistische Perio<strong>de</strong> (ab ca. 300 v.Chr.): <strong>Euklid</strong> begrün<strong>de</strong>t die alexandrinische<br />

Schule <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong>. Sein systematisch geordnetes Werk Die Elemente fasst<br />

wichtige Ergebnisse aus <strong>de</strong>r ionischen und athenischen Perio<strong>de</strong> zusammen. Es<br />

steigt schnell zum Standardlehrtext <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> auf. 17 Die hellenistischen<br />

<strong>Mathematik</strong>er Archime<strong>de</strong>s, Appolonios, Hipparchos und viele an<strong>de</strong>re Größen <strong>de</strong>r<br />

griechischen Antike bereichern die <strong>Mathematik</strong> dann später um neue und teils<br />

bahnbrechen<strong>de</strong> Resultate. 18<br />

In diesem Papier geht es ausschließlich um die ionische und die athenische Perio<strong>de</strong>. Von<br />

<strong>de</strong>n mathematischen Texten aus dieser Zeit wur<strong>de</strong>n nur wenige Fragmente bis in die<br />

Mo<strong>de</strong>rne überliefert. Man rekonstruiert diese Perio<strong>de</strong> von 600 – 300 v.Chr. mit Hilfe von<br />

Texten, die häufig aus <strong>de</strong>r griechischen Spätantike stammen.<br />

Insbeson<strong>de</strong>re die Geschichtsschreibung zur ionischen Perio<strong>de</strong> hat dabei mit erheblichen<br />

Problemen zu kämpfen. Die schwierige Quellenlage soll an einem prominenten Beispiel,<br />

<strong>de</strong>n für die Geschichtschreibung <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> überaus wichtigen <strong>Euklid</strong> Kommentaren<br />

von Proklos (412 – 485), kurz beleuchtet wer<strong>de</strong>n. Der neuplatonische Philosoph Proklos<br />

äußert sich dort auch zur Geschichte <strong>de</strong>r griechischen <strong>Mathematik</strong>. Allerdings darf man<br />

dabei nie vergessen, dass er ca. 1.000 Jahre nach <strong>de</strong>n Anfängen <strong>de</strong>r griechischen <strong>Mathematik</strong><br />

lebte, also keinesfalls ein Zeitgenosse von Thales o<strong>de</strong>r <strong>Pythagoras</strong> war. Proklos<br />

stützt seine Ausführungen auf die Schriften von Eu<strong>de</strong>mos. Dieser Aristoteles Schüler lebte<br />

im 4. Jahrhun<strong>de</strong>rt v.Chr. und hat (wohl auf Anregung von Aristoteles) wissenschaftshistorische<br />

Texte verfasst. Wahrscheinlich war er <strong>de</strong>r erste <strong>Mathematik</strong>-Historiker. Seine<br />

Arbeiten sind (bis auf wenige Fragmente) verloren gegangen. Proklos lagen sie aber noch<br />

<strong>vor</strong>. Wir können also hoffen, dass Proklos uns <strong>de</strong>n Wissensstand von Eu<strong>de</strong>mos referiert.<br />

Aber selbst Eu<strong>de</strong>mos lebte ja schon bereits <strong>de</strong>utlich nach Thales und <strong>Pythagoras</strong> und es<br />

ist schwer zu beurteilen, wie zuverlässig seine Schil<strong>de</strong>rungen zur Geschichte <strong>de</strong>r<br />

<strong>Mathematik</strong> waren. Die wenigen an<strong>de</strong>ren (und teilweise konkurrieren<strong>de</strong>n) Quellen, die uns<br />

jenseits <strong>de</strong>r Proklos Kommentare zur ionischen Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> zur Verfügung<br />

stehen, können lei<strong>de</strong>r nur selten einen Anspruch auf höhere Glaubwürdigkeit erheben.<br />

Beson<strong>de</strong>rs zur ionischen Perio<strong>de</strong> haben wir also nur sehr wenig Quellenmaterial und dies<br />

ist außer<strong>de</strong>m noch von einer nur schwer einschätzbaren Qualität. Beim Versuch, eine<br />

einigermaßen gehaltvolle Rekonstruktion <strong>de</strong>r Anfänge <strong>de</strong>r griechischen <strong>Mathematik</strong><br />

anzubieten, kommt man also nicht umhin, erhebliche Risiken einzugehen. Der Leser sollte<br />

dies bei <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Ausführungen nie vergessen und er sollte nicht zu verwun<strong>de</strong>rt sein,<br />

wenn er an<strong>de</strong>renorts eine leicht an<strong>de</strong>re Version <strong>de</strong>r Geschichte angeboten bekommt. 19<br />

17 Vgl.: <strong>Euklid</strong> und die Elemente unter www.antike-griechische.<strong>de</strong>/<strong>Euklid</strong>.pdf<br />

18 Auf die hellenistische Perio<strong>de</strong> folgt die Spätantike. In <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> beschäftigt man sich dort <strong>vor</strong>wiegend mit <strong>de</strong>r<br />

erläutern<strong>de</strong>n Kommentierung <strong>de</strong>r bereits <strong>vor</strong>liegen<strong>de</strong>n Lehrtexte. Neue Resultate wer<strong>de</strong>n kaum noch erzielt.<br />

19 Ergänzen<strong>de</strong> Warnung: Bei <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgabe <strong>de</strong>s Inhalts antiker <strong>Mathematik</strong> benutze ich gänzlich schamlos mo<strong>de</strong>rne<br />

Notation. Ich hoffe, dass trotz<strong>de</strong>m niemand glaubt, dass damals das Σ bereits als Summenzeichen diente.<br />

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Thales von Milet: Der Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Faltungungsbeweises?<br />

Die Geschichte <strong>de</strong>r griechischen<br />

<strong>Mathematik</strong> lässt man für gewöhnlich<br />

mit Thales von Milet (ca. 625 – 547<br />

v.Chr.) beginnen. Thales entstammte<br />

einer wohlhaben<strong>de</strong>n Familie. Laut<br />

Herodot war er phönizischer Abstammung<br />

(Herodot: Historien, Buch I,<br />

170). Nach mo<strong>de</strong>rnen Klassifikationen<br />

war Thales zugleich <strong>Mathematik</strong>er,<br />

Naturphilosoph, Astronom, Ingenieur,<br />

Politiker und Kaufmann. Neben<br />

seinem Beitrag zur <strong>Mathematik</strong> ist<br />

auch seine Begründung <strong>de</strong>r ionischen<br />

Naturphilosophie i<strong>de</strong>engeschichtlich<br />

be<strong>de</strong>utend. Praktisch je<strong>de</strong> Geschichte<br />

<strong>de</strong>r westlichen Philosophie beginnt mit<br />

Thales. Er gilt gemeinhin als <strong>de</strong>r erste<br />

<strong>vor</strong>sokratische Philosoph. Daneben<br />

Abbildung 3: Die ionische Siedlung Milet an <strong>de</strong>r<br />

kleinasiatischen Küste<br />

war er auch noch ein recht einflussreicher Politiker. Wegen seiner vielzähligen Talente und<br />

Verdienste wur<strong>de</strong> er schon in schon in <strong>de</strong>r Antike von <strong>de</strong>n Griechen zu <strong>de</strong>n Sieben<br />

Weisen gezählt.<br />

Unter Wissenschaftshistorikern ist unstrittig, dass Thales bei <strong>de</strong>r Einführung ägyptischen<br />

und babylonischen Wissens in die griechische Kultur eine wichtige Rolle zukommt. Welche<br />

und wieviele <strong>de</strong>r ihm nachgesagten Reisen er tatsächlich absolviert hat, ist dabei fast<br />

unerheblich. Er hat sich insbeson<strong>de</strong>re mit <strong>de</strong>m mathematischen und astronomischen<br />

Wissen dieser bei<strong>de</strong>n Kulturen auseinan<strong>de</strong>r gesetzt. Er soll dabei auch ein Verfahren<br />

ersonnen haben, mit <strong>de</strong>m man von <strong>de</strong>r Küste aus bestimmen konnte, wie weit ein Schiff<br />

auf See entfernt ist. Außer<strong>de</strong>m wird Thales nachgesagt, dass er in <strong>de</strong>r Lage war, die Höhe<br />

<strong>de</strong>r Pyrami<strong>de</strong>n an Hand ihres Schattens zu bestimmen. Ob und wie Thales diese bei<strong>de</strong>n<br />

Leistungen erbracht hat, wird in <strong>de</strong>r Literatur recht unterschiedlich diskutiert. 20<br />

Die beeindruckendste Geschichte zu Thales erzählt Herodot. Nach ihm hat Thales eine<br />

Sonnenfinsternis zutreffend <strong>vor</strong>hergesagt (Herodot: Historien. Buch I, 74). Die Geschichte<br />

ist nicht ganz so unglaubwürdig, wie sie auf <strong>de</strong>n ersten Blick klingt. Die babylonische<br />

Astronomie kannte bereits damals eine interessante Regel zu Sonnenfinsternissen. In<br />

mo<strong>de</strong>rner Sprechweise lässt sie sich so charakterisieren: Die Babylonier konnten<br />

<strong>vor</strong>hersagen, wann sich die Positionen von Sonne - Mond - Er<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r so dicht an das<br />

I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Lage auf einer gemeinsamen Gera<strong>de</strong> annähern wer<strong>de</strong>n, dass das Auftreten<br />

einer Sonnenfinsternis wahrscheinlich (möglich) wird. 21 Ob es allerdings zu diesem Termin<br />

an einem bestimmten Ort zur Verfinsterung am hellichten Tag kommen wird, konnten die<br />

Babylonier damals noch nicht <strong>vor</strong>hersagen. Vielleicht kannte Thales diese Regel, sagte<br />

mutig eine Sonnenfinsternis <strong>vor</strong>aus und hatte dabei einfach noch ein wenig Glück (<strong>de</strong>nn<br />

eine passen<strong>de</strong> Sonnenfinsternis gab es damals).<br />

Was hat Thales zur Entwicklung einer beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> beigetragen? Wirklich<br />

sicher ist nichts. Aber Thales gilt als <strong>de</strong>r Mann, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Übergang von einer <strong>Mathematik</strong><br />

<strong>de</strong>r Prozeduren zu einer <strong>Mathematik</strong> <strong>de</strong>r Sätze einleitete: (Statt Prozeduren zu tradieren<br />

wird das mathematische Wissen nun in Sätzen ausgedrückt und auch so gelehrt.) Es ist<br />

20 Vgl. z.B. Andre Pichot: Die Geburt <strong>de</strong>r Wissenschaft. Parkland Verlag 2000. S. 282ff und Helmuth Gericke:<br />

<strong>Mathematik</strong> in Antike, Orient und Abendland. Wiesba<strong>de</strong>n: Matrix Verlag 2005. S. 71ff<br />

21 Vgl. z.B. O. Neugebauer: The Exact Sciences in Antiquity. New York: Dover Publications, Inc. 1969. S. 109 und<br />

Thomas Heath: Aristarchus of Samos. Elibron Classics 2007. S. 12ff<br />

-13-


zu<strong>de</strong>m gut möglich, dass Thales einfache Faltungsbeweise eingeführt hat. Nach einer<br />

etwas riskanten Lesart antiker Quellen kommen hierfür folgen<strong>de</strong> Sätze in Frage:<br />

• (a) Der Durchmesser halbiert <strong>de</strong>n Kreis;<br />

• (b) Die Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck stimmen überein;<br />

• (c) Die von zwei Gera<strong>de</strong>n erzeugten Scheitelwinkel stimmen überein.<br />

• (d) Die Diagonalen im Rechteck besitzen die gleiche Länge und halbieren einan<strong>de</strong>r.<br />

In allen vier Fällen kann man die geometrische Behauptung dadurch „beweisen“, dass<br />

man eine Figur entlang von Symmetrie-Achsen faltet und so jeweils die Übereinstimmung<br />

von zwei Teilen zeigt. Dies erscheint als ein <strong>de</strong>rart einfacher erster Schritt zu einer<br />

Beweiskultur, dass es schwierig ist, sich noch einfachere Vorstufen <strong>vor</strong>zustellen.<br />

Darüber hinaus wird <strong>vor</strong> <strong>de</strong>m Hintergrund (ebenfalls riskanter Interpretationen) an<strong>de</strong>rer<br />

antiker Textstellen diskutiert, ob Thales „bewiesen“ hat, dass<br />

• (e) ein Dreieck bestimmt ist, wenn Basis und die bei<strong>de</strong>n Basiswinkel gegeben sind;<br />

Auch dieser Satz kann durch eine einfache an die Anschauung appellieren<strong>de</strong><br />

Demonstrationen gestützt und damit in einem schwachen Sinne „bewiesen“ wer<strong>de</strong>n.<br />

Mit <strong>de</strong>r Unterstellung, dass Thales die Sätze (a) – (e) in einem (nicht allzu strengem<br />

Sinne) bewiesen hat, mutet man <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>engeschichte bestimmt keine gänzlich<br />

unrealistisch erscheinen<strong>de</strong>n, plötzlichen Sprünge zu.<br />

Bei etwas Nach<strong>de</strong>nken kommt allerdings schnell die Frage auf, ob es wirklich glaubwürdig<br />

ist, dass das Beweisen bei <strong>de</strong>rart einleuchten<strong>de</strong>n Sätzen seinen Anfang genommen haben<br />

soll. Wenn es noch keine eingeführte Kultur <strong>de</strong>r Begründung mathematischer Sätze gab,<br />

ist es dann plausibel anzunehmen, dass als erstes Sätze bewiesen wur<strong>de</strong>n, bei <strong>de</strong>nen<br />

man sich <strong>de</strong>rart anstrengen muss, um sich <strong>vor</strong>zustellen, wie einem antiken Denker hier<br />

Zweifel gekommen sein sollen? Wozu soll aber ein Beweis gut sein, wenn nicht dazu, um<br />

auftauchen<strong>de</strong> Zweifel an <strong>de</strong>r Geltung einer Behauptung auszuräumen? Was soll also das<br />

Motiv zur Einführung <strong>de</strong>s Beweises gewesen sein, wenn nur Sätze im Spiel waren, die für<br />

einen antiken Gelehrten nur äußerst schwierig anzweifelbar waren?<br />

Das ganze Bild än<strong>de</strong>rt sich, wenn man <strong>de</strong>n nach<br />

Thales benannten Satz hinzunimmt:<br />

Das einem Halbkreis einbeschriebene Dreieck<br />

ist stets rechtwinklig (Satz von Thales).<br />

Dieser Satz konnte leicht aus <strong>de</strong>r prozeduralen<br />

babylonischen <strong>Mathematik</strong> gewonnen wer<strong>de</strong>n und er<br />

war sicherlich anspruchsvoll genug, um die Frage<br />

aufkommen zu lassen, ob er <strong>de</strong>nn wirklich immer gilt.<br />

Hat Thales diesen nach ihm benannten Satz nicht nur<br />

in die griechische Kultur eingeführt, son<strong>de</strong>rn auch (in<br />

einem wie schwachen Sinne auch immer) bewiesen,<br />

begrün<strong>de</strong>t, plausibel gemacht? Wir haben keine<br />

Quellen, die ein ein<strong>de</strong>utiges und unmissverständliches<br />

Abbildung 4: Zu je<strong>de</strong>m einem<br />

Halbkreis einbeschriebenen Dreieck<br />

BCD lässt sich ein Rechteck ABCD<br />

konstruieren, das <strong>de</strong>n Durchmesser<br />

BD als Diagonale besitzt. Ein<br />

solches Dreieck BCD ist <strong>de</strong>swegen<br />

stets rechtwinklig.<br />

„Ja“ zu dieser Frage rechtfertigen wür<strong>de</strong>n, aber es gibt<br />

einige Überlegungen, die dies als durchaus möglich<br />

und keineswegs ganz unplausibel erscheinen lassen.<br />

Die Abb. 4 zeigt eine einfache Skizze zur anschaulichen<br />

Begründung <strong>de</strong>s Satzes von Thales. Auch die<br />

an<strong>de</strong>ren im Zusammenhang mit Thales genannten<br />

Sätze lassen sich beinahe alle mit dieser Skizze in<br />

Verbindung bringen. Die oben aufgeführten Sätze (a) –<br />

(d) erscheinen nun als nützliche Hilfssätze zur „Herleitung“ <strong>de</strong>s Satzes von Thales<br />

und/o<strong>de</strong>r als ein Nebenprodukt aus dieser Skizze.<br />

-14-


Wir haben keinerlei direkten Anhaltspunkt dafür, dass Thales <strong>de</strong>n nach ihm benannten<br />

Satz mit Hilfe einer <strong>de</strong>rartigen Skizze „bewiesen“ hat. Vielleicht hat er ihn ja überhaupt<br />

nicht bewiesen, son<strong>de</strong>rn nur (als Übernahme aus <strong>de</strong>r babylonischen <strong>Mathematik</strong>) in <strong>de</strong>n<br />

griechischen Kulturraum eingeführt. Vielleicht hat Thales sogar im Ganzen überhaupt<br />

nichts bewiesen. Aber es sortiert sich doch einiges auffallend natürlich, wenn man<br />

unterstellt, dass Thales eine Skizze ähnlich <strong>de</strong>r Abbildung 4 zur Begründung <strong>de</strong>s Satzes<br />

von Thales herangezogen hat. Diverse Mitteilungen antiker Autoren ließen sich so als ein<br />

etwas un<strong>de</strong>utliches Echo <strong>de</strong>s Durcharbeitens <strong>de</strong>r Beweis-Skizze durch Thales <strong>de</strong>uten:<br />

An dieser Figur lassen sich fast alle mit <strong>de</strong>m Namen von THALES in Verbindung<br />

gebrachten Aussagen <strong>de</strong>monstrieren. 22<br />

Solche Skizzen gelten heute (in <strong>de</strong>r aka<strong>de</strong>mischen <strong>Mathematik</strong>) nicht mehr als Beweis.<br />

Aber damals hätte so etwas doch als ein durchaus produktiver, erster Ansatz zur<br />

Entwicklung einer Beweiskultur fungieren können. Aber alles reine Spekulation! Allerdings<br />

eine Spekulation, die so viel suggestive Elemente enthält, dass sie in mathematikhistorischen<br />

Betrachtungen immer wie<strong>de</strong>r auftaucht. Und dies, obwohl wir keinerlei direkte<br />

Anhaltspunkte für die Verwendung einer <strong>de</strong>rartigen (o<strong>de</strong>r ähnlichen) Skizze haben.<br />

Auch wenn sich <strong>de</strong>r Beitrag, <strong>de</strong>n Thales zur Entwicklung <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong><br />

geleistet hat, nicht mehr genau bestimmen lässt, so kann man doch bereits bei Thales die<br />

Frage stellen, was die Griechen überhaupt dazu veranlasst hat, die prozedurale <strong>Mathematik</strong><br />

<strong>de</strong>r Ägypter und Babylonier zu einer beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> fortzuentwickeln.<br />

Vorweg: Alles Folgen<strong>de</strong> ist extrem spekulativ. Es ist kaum anzunehmen, dass die Ägypter<br />

und/o<strong>de</strong>r Babylonier ihre Art <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> als <strong>de</strong>fizitär empfun<strong>de</strong>n haben. Sie wer<strong>de</strong>n<br />

wohl kaum <strong>vor</strong> ihren Prozeduren gesessen und darüber sinniert haben, wie man das<br />

Ganze jetzt auch noch beweisen könne. Die Griechen beseitigten mit <strong>de</strong>r Einführung <strong>de</strong>s<br />

Beweises also einen Mangel, <strong>de</strong>n wohl <strong>vor</strong>her niemand so richtig empfun<strong>de</strong>n hatte.<br />

Warum sollte man eigentlich auch erwarten, dass man zur Prozedur, die das erfor<strong>de</strong>rliche<br />

Baumaterial zur Errichtung eines Pyrami<strong>de</strong>nstumpfes bestimmt, irgen<strong>de</strong>ine Art von Beweis<br />

erhalten kann, wohingegen man die Prozedur zum Kochen eines Hühnereis besser<br />

einfach gänzlich beweisfrei hinnimmt und schlichtweg nur anwen<strong>de</strong>t.<br />

Es lässt sich vermuten, dass die Einführung <strong>de</strong>s Beweises eng damit zusammen hängt,<br />

dass das ägyptische und babylonische Wissen nicht langsam in <strong>de</strong>n griechischen<br />

Kulturraum eingesickert ist, son<strong>de</strong>rn von wenigen, höchst aufgeschlossenen Gelehrten<br />

binnen kurzer Zeit gezielt und bewusst in <strong>de</strong>n griechischen Kulturraum eingeführt wur<strong>de</strong>.<br />

Wer als Erwachsener mit Wissen und Traditionen eines frem<strong>de</strong>n Kulturkreises konfrontiert<br />

wird, <strong>de</strong>r wird sich hierbei prüfen<strong>de</strong>r und kritischer verhalten, als jemand, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m<br />

entsprechen<strong>de</strong>n Kulturkreis aufgewachsen ist. Dies umso mehr, wenn die verschie<strong>de</strong>nen<br />

neuen Metho<strong>de</strong>n und Sichtweisen auch schon mal im Wi<strong>de</strong>rstreit zu einan<strong>de</strong>r stehen.<br />

Dass man nicht je<strong>de</strong>r Behauptung ungeprüft glauben schenken darf und dass man in<br />

Zweifelsfällen besser nach Beweisen fragt, kannte man auch in <strong>de</strong>r Antike schon von<br />

Gerichtsverfahren. Dass die Griechen bei <strong>de</strong>r Prüfung <strong>de</strong>r Wissensschätze frem<strong>de</strong>r<br />

Kulturen dann eine Art <strong>de</strong>s Beweisens gefun<strong>de</strong>n haben, die um so vieles strenger ist, als<br />

<strong>de</strong>r Beweis <strong>vor</strong> Gericht, muss als gleichermaßen segensreicher wie unerklärlicher<br />

Glücksfall <strong>de</strong>r Geschichte gelten. Dass <strong>de</strong>r mathematische Beweis mit seinem Aha-Effekt<br />

eine neue Art <strong>de</strong>r Einsicht liefert und eine neue Art <strong>de</strong>s Lernens wie Lehrens ermöglicht,<br />

hat auf die griechische Gelehrtenwelt dabei so großen Eindruck gemacht, dass man<br />

diesen neu gefun<strong>de</strong>nen Zugang zu Wissen immer weiter kultiviert hat. So wur<strong>de</strong> dann die<br />

beweisen<strong>de</strong> <strong>Mathematik</strong> bis zu jener Reife entwickelt, die wir von <strong>Euklid</strong> kennen.<br />

22 C.J. Scriba, P. Schreiber: 5000 Jahre Geometrie. Hei<strong>de</strong>lberg, New York: Springer Verlag 2003. S. 33.<br />

Zur <strong>de</strong>taillierten mathematik-historischen Diskussion <strong>de</strong>s Satzes von Thales siehe auch: Thomas Heath: A History<br />

of Greek Mathematics. Volume I. New York: Dover Publications 1981. S. 135ff<br />

-15-


<strong>Pythagoras</strong> und sein Satz<br />

<strong>Pythagoras</strong>, etwa 570 in<br />

Samos geboren, verließ<br />

seine Vaterstadt, angeblich,<br />

weil er die unter <strong>de</strong>r<br />

Tyrannis von Polykrates<br />

herrschen<strong>de</strong>n politischen<br />

Verhältnisse mißbilligte (..).<br />

(…) Manche Anzeichen<br />

sprechen dafür, daß<br />

<strong>Pythagoras</strong> die Interessen<br />

<strong>de</strong>s landbesitzen<strong>de</strong>n A<strong>de</strong>ls<br />

(<strong>de</strong>m er nicht angehörte)<br />

vertrat, insbeson<strong>de</strong>re<br />

nach<strong>de</strong>m er sich in Kroton<br />

nie<strong>de</strong>rgelassen und dort<br />

Einfluß gewonnen hatte. (..)<br />

Ein gegen die Pythagoreer<br />

Abbildung 5: <strong>Pythagoras</strong> wur<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>r ionischen Insel Samos<br />

geboren, übersie<strong>de</strong>lte nach Kroton (Unteritalien) und grün<strong>de</strong>te<br />

dort <strong>de</strong>n Bund <strong>de</strong>r Pythagoreer. Er starb in Metapont.<br />

gerichteter Aufstand zwang aller Wahrscheinlichkeit nach <strong>Pythagoras</strong> gegen En<strong>de</strong><br />

seines Lebens zur Flucht aus Kroton. Er wandte sich nach <strong>de</strong>m nahen Metapont, wo er<br />

um 500 starb. 23<br />

Um das Leben von <strong>Pythagoras</strong> (ca. 570 – 500 v.Chr.) rankt sich eine Vielzahl von<br />

Legen<strong>de</strong>n. Deswegen ist es häufig recht schwer zur historischen Wahrheit <strong>vor</strong>zudringen.<br />

Das Erkennen von legen<strong>de</strong>nhaften Ausschmückungen gestaltet sich nicht immer so<br />

einfach, wie bei <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>r historischen Wahrheit zu seinem Vater:<br />

Manche halten ihn [<strong>Pythagoras</strong>; NF] für <strong>de</strong>n Sohn eines vermögen<strong>de</strong>n Bürgers<br />

namens Mnesarchos, an<strong>de</strong>re für <strong>de</strong>n Sohn <strong>de</strong>s Gottes Apollo; ich überlasse<br />

<strong>de</strong>m Leser die Wahl. 24<br />

Es wird gern die Geschichte erzählt, dass <strong>de</strong>r junge <strong>Pythagoras</strong> noch <strong>de</strong>n alten Thales<br />

getroffen hat. Eine solche Stab-Übergabe zwischen zwei Geistes-Heroen <strong>de</strong>r griechischen<br />

Antike hätte natürlich ihren Charme, allein es fehlen hierzu belastbare Quellen. Das heißt<br />

nun allerdings auch nicht, dass sich die bei<strong>de</strong>n bestimmt nicht begegnet sind. Milet und<br />

Samos sind eng benachbart und Thales war berühmt. Dass ein wacher, vielseitig<br />

interessierter und intelligenter Mann wie <strong>de</strong>r junge <strong>Pythagoras</strong> die Nähe <strong>de</strong>s hoch<br />

angesehenen Thales suchte, ist nicht gera<strong>de</strong> unplausibel, aber wir wissen es nicht.<br />

Auf je<strong>de</strong>n Fall wer<strong>de</strong>n <strong>Pythagoras</strong> (wie Thales) umfangreiche Reisen in <strong>de</strong>n ägyptischen<br />

und auch mesopotamischen Kulturraum nachgesagt. Wie Thales hat <strong>Pythagoras</strong> nicht nur<br />

erhebliche Verdienste um die griechische <strong>Mathematik</strong>, son<strong>de</strong>rn er hat auch wichtige<br />

Beiträge zur griechischen Philosophie geleistet. 25 Ja, das Wort „Philosophie“ (Freund <strong>de</strong>r<br />

Weisheit) geht nach einigen Quellen auf <strong>Pythagoras</strong> zurück. Wie bei Thales, so haben wir<br />

auch bei <strong>Pythagoras</strong> keine überlieferten Schriften.<br />

Während Thales als Begrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r ionischen Naturphilosophie gilt, hat <strong>Pythagoras</strong> die<br />

Pythagoreer gegrün<strong>de</strong>t, einen religiösen Bund mit <strong>de</strong>m Motto Alles ist Zahl. Ein wichtiger<br />

Hintergrund für dieses Motto ist die pythagoreische Harmonielehre. Die harmonischen<br />

Intervalle wer<strong>de</strong>n hier erstmals als Ausdruck ganzzahliger Zahlverhältnisse interpretiert:<br />

Oktave = 1 : 2 (bzw. 2 : 1) ; Quinte = 2 : 3 (bzw. 3 : 2); Quarte 3 : 4 (bzw. 4 : 3).<br />

Wie die <strong>de</strong>n harmonischen Intervallen unterliegen<strong>de</strong>n Frequenzverhältnisse in <strong>de</strong>r Antike<br />

ent<strong>de</strong>ckt wur<strong>de</strong>n, wird bis heute kontrovers diskutiert.<br />

23 Wolfgang Röd: Geschichte <strong>de</strong>r Philosophie. Bd. I. München: Beck`sche Verlagsbuchhandlung 1976. S. 50f<br />

24 Bertrand Russell: Philosophie <strong>de</strong>s Abendlan<strong>de</strong>s. Wien: Europa Verlag 1992, 6. Auflage. S. 51<br />

25 Nach einigen Quellen hat übrigens <strong>de</strong>r ionische Naturphilosoph Anaximan<strong>de</strong>r, ein Schüler von Thales, <strong>Pythagoras</strong><br />

in die Philosophie eingeführt.<br />

-16-


Die hier spannendste Frage ist natürlich, hat <strong>Pythagoras</strong> <strong>de</strong>n nach ihm benannten Satz<br />

bewiesen? Es gibt antike Quellen, die sich ziemlich problemlos so lesen lassen und dabei<br />

sogar noch die Opfer beschreiben, die <strong>Pythagoras</strong> zur Feier <strong>de</strong>s Satzes dargebracht hat.<br />

Aber sind diese Quellen glaubwürdig? Hier wer<strong>de</strong>n gern ausgiebige Zweifel angemel<strong>de</strong>t:<br />

Tatsächlich sind unsere Kenntnisse von<br />

<strong>Pythagoras</strong> so wenig gesichert, daß es<br />

buchstäblich unmöglich ist, seine I<strong>de</strong>en<br />

von <strong>de</strong>nen seiner Anhänger abzugrenzen.<br />

Wie bereits erwähnt, hat er nichts<br />

Schriftliches hinterlassen, weshalb wir<br />

uns auf die Werke <strong>de</strong>r Pythagoreer und<br />

späterer Autoren verlassen müssen. Bei<br />

<strong>de</strong>n Pythagoreern war es jedoch üblich,<br />

alle Ent<strong>de</strong>ckungen <strong>de</strong>m Meister<br />

zuzuschreiben, so daß ihre Auskünfte nur<br />

begrenzt hilfreich sind. 26<br />

O<strong>de</strong>r direkt zu a 2 + b 2 = c 2 :<br />

Though this is the proposition universally<br />

associated by tradition with the name<br />

<strong>Pythagoras</strong>, no really trustworthy<br />

evi<strong>de</strong>nce exists that it was actually<br />

discovered by him. 27<br />

Wir können also keineswegs sicher sein, dass<br />

<strong>Pythagoras</strong> „seinen“ Satz bewiesen hat. Dennoch<br />

erscheint es mir vernünftig, sehr ernsthaft die<br />

Möglichkeit zu erwägen, dass <strong>Pythagoras</strong> das<br />

berühmte a2 + b2 = c2 bewiesen hat.<br />

Wenn <strong>Pythagoras</strong> „sein“ a2 + b2 = c2 bewiesen hat,<br />

dann sicherlich nicht mit <strong>de</strong>m Beweis, <strong>de</strong>n uns<br />

<strong>Euklid</strong> zu diesem Theorem <strong>vor</strong>führt (Buch I, Satz 47<br />

<strong>de</strong>r Elemente). <strong>Euklid</strong>s Beweis zeigt bereits alle<br />

Merkmale einer ausgereiften Beweiskultur und gilt<br />

als recht anspruchsvoll. <strong>Pythagoras</strong> sollte man<br />

besser einen etwas einfacheren und anschaulicheren<br />

Beweis unterstellen.<br />

Es gibt zum Glück auch einfache Beweise <strong>de</strong>s<br />

Satzes von <strong>Pythagoras</strong>:<br />

Gegeben sei ein rechtwinkliges Dreieck mit <strong>de</strong>n<br />

Katheten a und b wie <strong>de</strong>r Hypotenuse c. Betrachtet<br />

man jetzt ein Quadrat mit <strong>de</strong>r Basis (a + b) so gilt:<br />

(a + b) 2 = a2 + b2 + 2ab (siehe Abb. 6) .<br />

An<strong>de</strong>rerseits kann man aus Abb. 7 ablesen:<br />

(a + b) 2 = c2 + 2ab .<br />

Also: a2 + b2 + 2ab = c2 + 2ab, daraus folgt<br />

unmittelbar: a2 + b2 = c2 Abbildung 6: (a + b)<br />

.<br />

Vielleicht hat mit einem solchen Beweis auf <strong>de</strong>m Niveau <strong>de</strong>r heutigen Mittelstufen-<br />

<strong>Mathematik</strong> die Geschichte <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> in Griechenland begonnen. Aber<br />

sicher ist das natürlich nicht, son<strong>de</strong>rn nur eine <strong>de</strong>r gängigen Spekulationen.<br />

2 = a2 + b2 + 2ab<br />

Abbildung 7: (a + b) 2 = c2 + 2ab<br />

26 Paul Strathern:<strong>Pythagoras</strong> & sein Satz. Frankfurt/M:Fischer Taschenbuch Verlag 1999. S. 36<br />

27 Thomas Heath: A History of Greek Mathematics. Volume I. New York: Dover Publications 1981. S. 144<br />

-17-


Die Pythagoreer: Ein religiöser Bund mit Beweiskultur<br />

Die von <strong>Pythagoras</strong> in Kroton gegrün<strong>de</strong>te religiöse Bewegung <strong>de</strong>r<br />

Pythagoreer errang in mehreren Orten Unteritaliens großen<br />

politischen Einfluss. Man lebte in or<strong>de</strong>nsähnlichen Gemeinschaften<br />

und achtete auf vegetarische Ernährung. Das Zeichen<br />

<strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s war das Pentagramm, das philosophische Motto<br />

lautete Alles ist Zahl.<br />

Die pythagoreischen Bün<strong>de</strong> (Hetärien), von <strong>de</strong>nen sich nicht<br />

sagen lässt, ob sie auch unter einan<strong>de</strong>r eine organisatorische<br />

Einheit bil<strong>de</strong>ten, waren hierachisch geglie<strong>de</strong>rte<br />

Gemeinschaften, möglicherweise auf kommunistischer Basis<br />

[Es gibt Hinweise darauf, dass beim Eintritt in <strong>de</strong>n Bund<br />

Eigentum zu Gemeinschaftseigentum wur<strong>de</strong>; NF](…). Ihr<br />

Zusammenhalt beruhte auf gemeinsamen praktischen<br />

Zielsetzungen wie <strong>de</strong>r Aufgabe <strong>de</strong>r Bewahrung bzw.<br />

Vermehrung <strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r Sekte tradierten, auf <strong>Pythagoras</strong><br />

zurückgeführten religiös-philosophischen Wissens. Bemerkenswert ist, daß die<br />

pythagoreischen Hetärien auch Frauen offen stan<strong>de</strong>n. 28<br />

Die religiösen Vorschriften <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s hören sich in mo<strong>de</strong>rnen Ohren recht seltsam an.<br />

1. Sich <strong>de</strong>r Bohnen enthalten.<br />

2. Nicht aufheben, was zu Bo<strong>de</strong>n gefallen.<br />

3. Keinen weißen Hahn anrühren.<br />

4. Brot nicht zu brechen.<br />

5. Über kein Querholz zu treten.<br />

6. Das Feuer nicht mit Eisen zu schüren.<br />

7. Nicht von einem ganzen Laib zu essen.<br />

8. Keinen Kranz zu zerreißen.<br />

9. Nicht auf einem Viertelmaße zu sitzen.<br />

10. Nicht das Herz zu essen.<br />

11. Nicht auf Landstraßen zu gehen.<br />

12. Keine Schwalben unter seinem Dache zu dul<strong>de</strong>n.<br />

13. Die Spur <strong>de</strong>s Topfes nicht in <strong>de</strong>r Asche zu lassen, wenn er<br />

herausgenommen wird, son<strong>de</strong>rn die Asche durcheinan<strong>de</strong>rzurühren.<br />

14. Sieh nicht neben einem Lichte in einen Spiegel.<br />

15. Wenn du dich aus <strong>de</strong>m Bettzeug erhebst, rolle dieses zusammen und glätte<br />

<strong>de</strong>n Eindruck <strong>de</strong>ines Körpers aus. 29<br />

So erstaunlich es klingt, eine religiöse Sekte mit einer <strong>de</strong>rart abson<strong>de</strong>rlichen Liste von Ge-<br />

und Verboten spielte eine wichtige Rolle in <strong>de</strong>r griechischen <strong>Mathematik</strong>. Die Pythagoreer<br />

glaubten an Seelenwan<strong>de</strong>rung und wissenschaftliche Bemühungen galten ihnen dabei als<br />

ein Mittel, um <strong>de</strong>m leidvollen Kreislauf <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgeburten zu entkommen: Mathematische<br />

Forschung zwecks Rettung <strong>de</strong>s Seelenheils!<br />

Die Seele durchläuft dieser Lehre zufolge eine Reihe von Verkörperungen, bis<br />

es ihr gelingt, sich von allen Einflüssen <strong>de</strong>r Körperlichkeit zu lösen, d.h. <strong>de</strong>n<br />

Kreislauf <strong>de</strong>r Geburten (…) zu durchbrechen und in die Region <strong>de</strong>s Göttlichen<br />

zurückzukehren. Über das Schicksal <strong>de</strong>r Seele entschei<strong>de</strong>t die Art <strong>de</strong>r<br />

Lebensführung. Die Seele <strong>de</strong>s moralisch Höherstehen<strong>de</strong>n wird in einer<br />

höheren Daseinsform wie<strong>de</strong>r geboren; die Seele <strong>de</strong>s moralisch Min<strong>de</strong>rwertigen<br />

steigt zu nie<strong>de</strong>ren Daseinsformen ab. Die Reinigung <strong>de</strong>r Seele, die die<br />

Erlösung aus <strong>de</strong>m Kreis <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgeburt sichern soll, erfolgt durch eine<br />

asketische Lebensweise und durch wissenschaftliche Bemühungen. 30<br />

28 Wolfgang Röd: Geschichte <strong>de</strong>r Philosophie. Bd. I. München: Beck`sche Verlagsbuchhandlung 1976. S. 51f<br />

29 Zitiert nach: Bertrand Russell: Philosophie <strong>de</strong>s Abendlan<strong>de</strong>s. Wien: Europa Verlag 1992, 6. Auflage. S. 53<br />

30 Wolfgang Röd: Geschichte <strong>de</strong>r Philosophie. Bd. I. München: Beck`sche Verlagsbuchhandlung 1976. S. 54<br />

-18-<br />

Abbildung 8:<br />

Erkennungssymbol <strong>de</strong>r<br />

Pythagoreer: Das<br />

Pentagramm


Die politisch einflussreichen Gemeinschaften <strong>de</strong>r Pythagoreer koalierten gern mit <strong>de</strong>r<br />

lokalen Aristokratie, was sie <strong>de</strong>n Anhängern <strong>de</strong>r Demokratie verhasst machte. Mitte <strong>de</strong>s 5.<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rts (v.Chr.) kommt es in Unteritalien zu anti-pythagoreischen Unruhen. Mit<br />

Ausnahme <strong>de</strong>r Stadt Tarent wer<strong>de</strong>n dabei überall die pythagoreischen Gemeinschaften<br />

aufgelöst und die Pythagoreer vertrieben. In Tarent hingegen kann noch im 4. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />

(v.Chr.) <strong>de</strong>r Pythagoreer Archytas zum angesehenen Politiker aufsteigen.<br />

Die aus Unteritalien vertriebenen Pythagoreer übersie<strong>de</strong>ln meist ins griechische Kernland<br />

und sorgen dort für eine Verbreitung pythagoreischen Gedankenguts. Ein weiterer Faktor<br />

zur Verbreitung pythagoreischen Denkens: Der in Unteritalien leben<strong>de</strong> Pythagoreer<br />

Archytas von Tarent schließt mit <strong>de</strong>m Athener Philosophen Platon Gastfreundschaft. Die<br />

pythagoreischen Einflüsse, die in Platons Philosophie erkennbar sind, dürften eng mit<br />

dieser Gastfreundschaft zusammenhängen.<br />

Der Pythagoreismus als be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Bru<strong>de</strong>rschaft und geistige Bewegung erlosch etwa<br />

zur Zeit <strong>de</strong>s Aristoteles. 31 Im 1. Jahrhun<strong>de</strong>rt (v.Chr.) versucht man jedoch diese Tradition<br />

wie<strong>de</strong>rzubeleben. Es entsteht <strong>de</strong>r Neupythagoreismus, <strong>de</strong>r allerdings hier kein Thema ist.<br />

Wir wissen über das Innenleben <strong>de</strong>s Bunds <strong>de</strong>r Pythagoreer nicht viel 32 , doch es ist (fast)<br />

unstrittig, dass sich einige <strong>de</strong>r Pythagoreer intensiv mit <strong>Mathematik</strong> beschäftigten und<br />

diese auch beweisend betrieben. Der Bund <strong>de</strong>r Pythagoreer war vermutlich eine wichtige<br />

Kin<strong>de</strong>rstube für die beweisen<strong>de</strong> <strong>Mathematik</strong>, ein Schutzraum, in <strong>de</strong>m sich eine später<br />

allgemein akzeptierte Beweiskultur zunächst einmal langsam entwickeln konnte.<br />

Falls we<strong>de</strong>r Thales noch <strong>Pythagoras</strong> <strong>de</strong>n Beweis in die griechische <strong>Mathematik</strong> einführten<br />

(etwas was ja durchaus möglich erscheint), dann liegt die Vermutung nahe, dass es ein<br />

(uns namentlich nicht bekannter) Pythagoreer war, <strong>de</strong>m wir <strong>de</strong>n ersten Schritt hin zu<br />

beweisen<strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> zu verdanken haben.<br />

Die pythagoreische Beschäftigung mit <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> wur<strong>de</strong> stark durch ihre<br />

Harmonielehre und das Motto Alles ist Zahl geprägt. Neben <strong>de</strong>r Geometrie spielten auch<br />

die Untersuchungen beson<strong>de</strong>rer Zahlenverhältnisse (Proportionen) eine wichtige Rolle.<br />

Solche Begriffe wie harmonische Proportion o<strong>de</strong>r geometrische Proportion entstammen<br />

<strong>de</strong>r pythagoreischen Tradition <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong>.<br />

Die Beschäftigung mit Zahlen hat bei <strong>de</strong>n Pythagoreern aber auch schnell mal einen<br />

Einschlag ins Zahlenmystische. So galt ihnen die 10 als eine ganz beson<strong>de</strong>re Zahl. Auch<br />

vollkommenen Zahlen wie Freundschaftszahlen 33 maßen sie eine außermathematische<br />

Be<strong>de</strong>utung bei. Trotz dieser Anfälligkeiten für magisches Denken, es waren die<br />

Pythagoreer, die <strong>de</strong>n Großteil <strong>de</strong>r griechischen Zahlentheorie geschaffen haben. <strong>Euklid</strong><br />

vermittelt uns in <strong>de</strong>n Büchern VII bis IX seiner Elemente einen Eindruck vom Stand dieser<br />

(<strong>vor</strong>wiegend von Pythagoreern geschaffenen) griechischen Zahlentheorie.<br />

Harte Kontraste waren typisch für die Pythagoreer: Einerseits naive Zahlenmystik –<br />

an<strong>de</strong>rerseits eine entwickelte Zahlentheorie. So haben sie zwar einerseits die beweisen<strong>de</strong><br />

<strong>Mathematik</strong> gepflegt (und damit das zwingen<strong>de</strong> Argument als höchste Autorität gewürdigt),<br />

aber an<strong>de</strong>rerseits konnte man in einer Diskussion seine Thesen auch mit einem schlichten<br />

„ER selbst hat es gesagt“ untermauern. (Mit ER war dabei natürlich <strong>Pythagoras</strong> gemeint.)<br />

31 Einzelne (mathematisch inaktive) Pythagoreer scheint es aber auch in hellenistischer Zeit noch gegeben zu haben.<br />

32 Wie wenig Zuverlässiges wir über die Pythagoreer wissen, zeigt sich z.B. an <strong>de</strong>n noch immer geführten Debatten<br />

zu <strong>de</strong>n Begriffen „Akusmatiker“ und „<strong>Mathematik</strong>er“. Wir kennen diese Bezeichnungen aus antiken Textstellen<br />

zum pythagoreischen Bund. Es ist aber bis heute strittig, ob mit diesen Begriffen unterschiedliche Hierachiestufen<br />

<strong>de</strong>r pythagoreischen Or<strong>de</strong>nsstruktur, verschie<strong>de</strong>ne geistige Strömungen innerhalb <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r konkurrieren<strong>de</strong><br />

Bewegungen nach <strong>de</strong>m Auseinan<strong>de</strong>rfallen <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s bezeichnet wur<strong>de</strong>n. Sicher scheint dabei nur, dass man die<br />

Freun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Beweisens jeweils eher bei <strong>de</strong>n „<strong>Mathematik</strong>ern“ zu suchen hat.<br />

Unser geringer Kenntnisstand zu <strong>de</strong>n Pythagoreern scheint dabei von diesen durchaus gewollt gewesen zu sein.<br />

Man verstand sich als ein Bund, <strong>de</strong>r großen Wert darauf legte, seine Geheimnisse zu bewahren.<br />

33 Eine Zahl heißt vollkommene Zahl, wenn sie gleich <strong>de</strong>r Summe ihrer Teiler ist. Zwei Zahlen heißen Freundschaftszahlen,<br />

wenn die Summe <strong>de</strong>r Teiler <strong>de</strong>r einen Zahl jeweils die an<strong>de</strong>re ergibt. (Die 1 gilt hierbei stets als Teiler.)<br />

-19-


Figürliches und an<strong>de</strong>re Beson<strong>de</strong>rheiten beim Umgang mit Zahlen<br />

Das Verhältnis, das die Pythagoreer im 6. und 5. Jahrhun<strong>de</strong>rt (v.Chr.) zu Zahlen hatten,<br />

unterschei<strong>de</strong>t sich in vielerlei Hinsicht von unserem heutigen. Sie fan<strong>de</strong>n damals auch<br />

noch Gerechtigkeit, Seele und Vernunft in <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Zahlen. Aristoteles schreibt:<br />

Während dieser Zeit und schon <strong>vor</strong>her befaßten sich die sogenannten<br />

Pythagoreer mit <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> und brachten sie zuerst weiter, und darin<br />

eingelebt hielten sie <strong>de</strong>ren Prinzipien für die Prinzipien alles Seien<strong>de</strong>n. Da<br />

nämlich die Zahlen in <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> <strong>de</strong>r Natur nach das Erste sind, und sie<br />

in <strong>de</strong>n Zahlen viele Ähnlichkeiten (Gleichnisse) zu sehen glaubten mit <strong>de</strong>m,<br />

was ist und entsteht, mehr als in Feuer, Er<strong>de</strong> und Wasser, wonach ihnen (z.B.)<br />

die eine Bestimmtheit <strong>de</strong>r Zahlen Gerechtigkeit sei, eine an<strong>de</strong>re Seele o<strong>de</strong>r<br />

Vernunft, wie<strong>de</strong>r eine an<strong>de</strong>re Reife und so in gleicher Weise so gut wie je<strong>de</strong>s<br />

einzelne, und sie ferner die Bestimmungen und Verhältnisse <strong>de</strong>r Harmonien in<br />

Zahlen fan<strong>de</strong>n; – da ihnen also das übrige seiner ganzen Natur nach <strong>de</strong>n<br />

Zahlen zu gleichen schien, die Zahlen aber sich als das Erste in <strong>de</strong>r gesamten<br />

Natur zeigten, so nahmen sie an, die Elemente <strong>de</strong>r Zahlen seien Elemente alles<br />

Seien<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r ganze Himmel sei Harmonie und Zahl.<br />

(Aristoteles: Metaphysik. Buch I, Kap. 5, 985b) 34<br />

Wir wer<strong>de</strong>n uns hier nur mit <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utlich banaleren Aspekten <strong>de</strong>r Zahlen beschäftigen.<br />

Auch dazu haben die Pythagoreer vieles beigetragen.<br />

Wenn hier von Zahlen die Re<strong>de</strong> ist, so geht es um natürliche Zahlen. Die Eins gehört<br />

dabei aber nicht dazu. Das Zählen begannen die Pythagoreer einerseits ganz<br />

selbstverständlich mit <strong>de</strong>r Eins, an<strong>de</strong>rseits war die Eins für sie keine richtige Zahl. Eins<br />

und Einheit waren bei ihnen zwei eng verwobene und kaum getrennte Begriffe. Die Wahl<br />

<strong>de</strong>r Einheit bestimmt, wonach o<strong>de</strong>r was gezählt wird. Das Zählen ist aber etwas an<strong>de</strong>res<br />

als die Wahl <strong>de</strong>r Einheit. Da die Wahl <strong>de</strong>r Einheit aber auch so ausgedrückt wer<strong>de</strong>n kann,<br />

dass man bestimmt was als Eins gilt, so schien <strong>de</strong>n Pythagoreern die Eins keine Zahl wie<br />

an<strong>de</strong>re zu sein.<br />

Mehr noch: Für die Pythagoreer ist die Eins zugleich gera<strong>de</strong> wie ungera<strong>de</strong> und eine<br />

Fundamentalgröße <strong>de</strong>r Zahlen wie <strong>de</strong>s Himmels:<br />

Als Elemente <strong>de</strong>r Zahl aber betrachteten sie das Gera<strong>de</strong> und das Ungera<strong>de</strong>,<br />

von <strong>de</strong>nen das eine begrenzt sei, das an<strong>de</strong>re unbegrenzt, das Eine aber<br />

bestehe aus diesem bei<strong>de</strong>n (<strong>de</strong>nn es sei sowohl gera<strong>de</strong> als ungera<strong>de</strong>) die Zahl<br />

aber aus <strong>de</strong>m Einen, und aus Zahlen, wie gesagt, bestehe <strong>de</strong>r ganze Himmel.<br />

(Aristoteles: Metaphysik. Buch I, Kap. 5, 986a) 35<br />

Diesen ganzen philosophisch aufgeplusterten Ballast zu <strong>de</strong>n Zahlen im allgemeinem und<br />

<strong>de</strong>m Einem im beson<strong>de</strong>ren, kann man (zum Glück!) praktisch vollständig ignorieren, wenn<br />

man sich <strong>de</strong>n mathematischen Teilen <strong>de</strong>r pythagoreischen Zahlentheorie nähert. Selbst<br />

dass die Eins nicht als eine natürliche Zahl wie an<strong>de</strong>re gilt, spielt dort kaum eine Rolle.<br />

Für die mathematische Praxis ergibt sich aus all <strong>de</strong>m eigentlich nur ein einziger wichtiger<br />

Punkt: Die Pythagoreer mei<strong>de</strong>n die Bruchrechnung. Sie haben eine heilige Scheu da<strong>vor</strong>,<br />

die Eins zu zerteilen. Der Philosoph Platon schließt sich <strong>de</strong>r entschie<strong>de</strong>nen Ablehnung <strong>de</strong>r<br />

Bruchrechnung durch die Pythagoreer <strong>vor</strong>behaltlos an. Er lässt die Figur SOKRATES, die er<br />

im hier einschlägigen Dialog Der Staat als Sprachrohr benutzt, folgen<strong>de</strong>s ausführen:<br />

Denn du weißt ja, wie es die geschulten <strong>Mathematik</strong>er machen: wenn einer<br />

versucht die reine Eins in Gedanken zu zerteilen, so lachen sie ihn aus und<br />

weisen ihn ab, und wenn du sie zerstückelst, so antworten sie mit<br />

Vervielfältigung <strong>de</strong>rselben, immer darauf bedacht zu verhüten, daß die Eins<br />

34 Aristoteles: Philosophische Schriften. Bd 5. Übersetzt von Hermann Bonitz. Hamburg: Meiner Verlag 1995. S. 14f<br />

35 Aristoteles: Philosophische Schriften. Bd 5. Übersetzt von Hermann Bonitz. Hamburg: Meiner Verlag 1995. S. 15f<br />

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sich jemals auch als etwas zeigen könnte, das nicht Eines, son<strong>de</strong>rn eine<br />

Vielheit von Teilen wäre. (Platon: Der Staat. Buch VII, 525) 36<br />

Ob nun in Folge <strong>de</strong>s auch von Platon unterstützten Diktums <strong>de</strong>r Pythagoreer o<strong>de</strong>r aus<br />

an<strong>de</strong>ren Grün<strong>de</strong>n: Das mathematische Standardwerk <strong>de</strong>r Antike, die Elemente <strong>Euklid</strong>s,<br />

enthält keine Einführung in die antiken Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Bruchrechnung.<br />

Unabhängig davon, wem man gewillt ist die Einführung <strong>de</strong>s Beweisens in die griechische<br />

<strong>Mathematik</strong> zuzuschreiben, es ist wohl davon auszugehen, dass die ersten Beweise<br />

geometrische Sachverhalte betrafen. Die einfachste Form <strong>de</strong>s Beweisens nutzt eben die<br />

natürliche Anschauung: Mathematische Sachverhalte wer<strong>de</strong>n dadurch „bewiesen“, dass<br />

man sie (nach ein wenig Anleitung) aus einer Skizze ablesen kann. Das geht bei<br />

geometrischen Sachverhalten natürlich am leichtesten. Aber die Pythagoreer haben eine<br />

Möglichkeit gefun<strong>de</strong>n, diese Beweismethodik auch auf die Zahlentheorie zu übertragen:<br />

Die Pythagoreer veranschaulichten sich die Zahlen an Gruppen von Punkten,<br />

die man mit Sternbil<strong>de</strong>rn vergleichen könnte. An solchen „Punktrastern“ kann<br />

man bemerkenswerte zahlentheoretische Gesetze ablesen. 37<br />

Eine beson<strong>de</strong>re Verehrung galt <strong>de</strong>r Tetraktys, einem in Form eines<br />

gleichseitigen Dreiecks aufgebauten Punktraster mit 10 Punkten (s. Abb. 9).<br />

Die einzelnen „Zeilen“ <strong>de</strong>s Dreiecks können als die Zahlen 1, 2, 3 und 4<br />

Abb. 9:<br />

Tetraktys<br />

gelesen wer<strong>de</strong>n. Damit sind auch die Zahlenverhältnisse <strong>de</strong>r Oktave, Quinte<br />

und Quarte am Tetraktys „ablesbar“. Die Tetraktys war <strong>de</strong>n Pythagoreern (wie<br />

die Zahl 10) heilig und wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Ei<strong>de</strong>sformel <strong>de</strong>r Pythagoreer erwähnt.<br />

Die Verallgemeinerung <strong>de</strong>r Struktur <strong>de</strong>r Tetraktys führt zu Dreieckszahlen. Die<br />

Zahlen bis zu einem beliebigen n wer<strong>de</strong>n dabei in Form eines gleichseitigen Dreiecks<br />

ausgelegt. Für je<strong>de</strong> Zahl wird eine Zeile benutzt. Die Gesamtzahl <strong>de</strong>r Punkte (o<strong>de</strong>r<br />

Zählsteine), die benötigt wird, um ein solches Dreieck mit n Zeilen auszulegen, ist (in <strong>de</strong>r<br />

Sprechweise <strong>de</strong>r Pythagoreer) eine Dreieckszahl. Die Dreieckszahl zu einem Dreieck mit<br />

n-Zeilen ist gleich <strong>de</strong>r Summe <strong>de</strong>r Zahlen von 1 bis n. Die Pythagoreer konnten diese mit<br />

einer einfachen Formel bestimmen. Sie hatten an ihren dreieckigen Punktrastern abge-<br />

n<br />

lesen, dass sich die Summe <strong>de</strong>r Zahlen von 1 bis n gemäß ∑ k=<br />

k =1<br />

n∗n1<br />

berechnen<br />

2<br />

lässt . Das ist ein Beispiel für die bei Pythagoreern typische Parallelität von Zahlenmystik<br />

(Tetraktys) und guter (teilweise brillanter) <strong>Mathematik</strong>.<br />

Hier noch ein zweites Beispiel für die Leistungsfähigkeit <strong>de</strong>s figürlichen<br />

Zugangs zur Zahlentheorie. Für die Pythagoreer hatte <strong>de</strong>r Begriff<br />

Quadratzahl eine ganz anschauliche Be<strong>de</strong>utung: Ein in Form eines<br />

Quadrates aufgebautes Punktraster (s. Abb. 10).<br />

Abbildung 10:<br />

Quadratzahlen<br />

An <strong>de</strong>r Skizze kann man ablesen, dass (n+1) 2 = n 2 + 2n +1 gilt. Und man<br />

sieht auch leicht ein, dass man durch eine bei 1 beginnen<strong>de</strong><br />

Aufsummierung <strong>de</strong>r ungera<strong>de</strong>n Zahlen <strong>de</strong>r Reihe nach alle Quadratzahlen<br />

erzeugen kann. Solche Sachverhalte haben die Pythagoreer tief fasziniert:<br />

Das Ungera<strong>de</strong> (und nicht das Gera<strong>de</strong>) erzeugt das Quadratische!<br />

Es gilt insbeson<strong>de</strong>re: 1 + 3 + 5 + ·· + (2n - 1) = n 2 o<strong>de</strong>r als mo<strong>de</strong>rne Summenformel<br />

n<br />

geschrieben ∑ 2k−1=n<br />

k =1<br />

2<br />

. Eine weitere Formel <strong>de</strong>r figürlich inspirierten Zahlentheorie.<br />

Auch <strong>Euklid</strong> greift übrigens noch gelegentlich zum Mittel <strong>de</strong>r geometrischen Veranschaulichung<br />

von Zahlen. Allerdings sind es bei ihm Strecken statt Punktraster, die zur<br />

Darstellung von Zahlen benutzt wer<strong>de</strong>n.<br />

36 Platon: Sämtliche Dialoge. Bd V. Übersetzt von Otto Apelt. Hamburg: Meiner Verlag 1988. S. 286<br />

37 Herbert Meschkowski: Denkweisen großer <strong>Mathematik</strong>er. Braunschweig: Vieweg 1990. S. 4<br />

-21-


Das Gera<strong>de</strong> und das Ungera<strong>de</strong> – Eine frühe Theorie<br />

Für die Pythagoreer war die Unterscheidung zwischen gera<strong>de</strong> und ungera<strong>de</strong> nicht nur<br />

mathematisch hilfreich, son<strong>de</strong>rn – wie so vieles an<strong>de</strong>re in ihrem Konzept <strong>de</strong>r Zahlen<br />

auch – philosophisch aufgela<strong>de</strong>n. Das Gera<strong>de</strong> galt ihnen als unbeschränkt, das Ungera<strong>de</strong><br />

als beschränkt (vgl. das Aristoteles Zitat aus <strong>de</strong>r Metaphysik [Stelle 986a] auf Seite 20 ). 38<br />

Aber solch abson<strong>de</strong>rliche Überzeugungen hin<strong>de</strong>rten die Pythagoreer nicht daran, eine<br />

mathematisch gehaltvolle Theorie <strong>de</strong>s Gera<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>s Ungera<strong>de</strong>n zu entwickeln.<br />

Nach <strong>de</strong>m, was wir über ihren ansonsten stark figürlichen Zugang<br />

zur Zahlentheorie wissen, ist es naheliegend anzunehmen, dass<br />

die Pythagoreer auch ihre Theorie <strong>de</strong>s Gera<strong>de</strong>n und Ungera<strong>de</strong>n<br />

anschaulich unterlegten.<br />

Ein zweireihiges Auslegen von Zahlen mit Zahlsteinen (s. Abb. 11)<br />

stellt ein einfaches anschauliches Hilfsmittel dar, das zumin<strong>de</strong>st bei<br />

<strong>de</strong>n einfacheren Sätzen <strong>de</strong>r Theorie hilfreich sein kann. Ob die<br />

Pythagoreer diese o<strong>de</strong>r eine an<strong>de</strong>re Technik zur Veranschau-<br />

Abbildung 11: Gera<strong>de</strong> lichung gera<strong>de</strong>r und ungera<strong>de</strong>r Zahlen benutzten, wissen wir aber<br />

und ungera<strong>de</strong> Zahlen nicht. Die Resultate <strong>de</strong>r pythagoreischen Bemühungen um das<br />

in zweireihiger Legung Gera<strong>de</strong> und Ungera<strong>de</strong> präsentiert uns <strong>Euklid</strong> im Buch IX seiner<br />

(einige Beispiele)<br />

Elemente als die Sätze 21-34 und 36.<br />

Sie lauten in abgekürzter Formulierung:<br />

21. Eine Summe gera<strong>de</strong>r Zahlen ist gera<strong>de</strong>.<br />

22. Eine Summe einer gera<strong>de</strong>n Anzahl ungera<strong>de</strong>r Zahlen ist gera<strong>de</strong>.<br />

23. Eine Summe einer ungera<strong>de</strong>n Anzahl ungera<strong>de</strong>r Zahlen ist ungera<strong>de</strong>.<br />

24 Gera<strong>de</strong> minus gera<strong>de</strong> ergibt gera<strong>de</strong>.<br />

25. Gera<strong>de</strong> minus ungera<strong>de</strong> ergibt ungera<strong>de</strong>.<br />

26. Ungera<strong>de</strong> minus ungera<strong>de</strong> ergibt gera<strong>de</strong>.<br />

27. Ungera<strong>de</strong> minus gera<strong>de</strong> ergibt ungera<strong>de</strong>.<br />

28. Ungera<strong>de</strong> mal gera<strong>de</strong> ergibt gera<strong>de</strong>.<br />

29. Ungera<strong>de</strong> mal ungera<strong>de</strong> ergibt ungera<strong>de</strong>.<br />

30. Eine ungera<strong>de</strong> Zahl, die eine gera<strong>de</strong> Zahl teilt, teilt auch die Hälfte dieser Zahl.<br />

31. Wenn eine ungera<strong>de</strong> Zahl mit einer Zahl teilerfremd ist, so auch mit <strong>de</strong>m<br />

Doppelten dieser Zahl.<br />

32. Eine Zahl, die durch (wie<strong>de</strong>rholte) Verdoppelung von 2 entsteht, ist<br />

ausschliesslich gera<strong>de</strong> mal gera<strong>de</strong>.<br />

33. Eine Zahl, <strong>de</strong>ren Hälfte ungera<strong>de</strong> ist, ist ausschliesslich gera<strong>de</strong> mal ungera<strong>de</strong>.<br />

34. Je<strong>de</strong> gera<strong>de</strong> Zahl, die nicht zu <strong>de</strong>n unter 32 und 33 genannten gehört, ist sowohl<br />

gera<strong>de</strong> mal gera<strong>de</strong> als auch gera<strong>de</strong> mal ungera<strong>de</strong>.<br />

Die Theorie gipfelt in Satz 36, <strong>de</strong>r besagt, dass die Zahlen von <strong>de</strong>r Form<br />

2 n (1 + 2 + 2 2 + ··· + 2 n ) vollkommen sind, wenn p= 1+ 2 + ··· + 2 n prim ist. 39<br />

(Zur Erinnerung: Eine Zahl ist vollkommen, wenn sie gleich <strong>de</strong>r Summe ihrer Teiler ist.)<br />

Obwohl <strong>de</strong>r mathematische Teil <strong>de</strong>r pythagoreischen Lehre <strong>de</strong>s Gera<strong>de</strong>n und Ungera<strong>de</strong>n<br />

auch einige reichlich triviale Elemente enthält, so spielt sie doch beim aufregendsten<br />

Ergebnis <strong>de</strong>r ionischen <strong>Mathematik</strong> eine wichtige Rolle.<br />

38 Meschkowski <strong>de</strong>utet diese philosophische „Aufladung“ als Konsequenz einer <strong>vor</strong>schnellen Verallgemeinerung<br />

bestimmter mathematischer Sachverhalte (vgl. :Denkweisen großer <strong>Mathematik</strong>er, S. 6f). Ich <strong>de</strong>nke, die Wurzeln<br />

für diese etwas überraschen<strong>de</strong>n Zuordnungen (gera<strong>de</strong> -unbeschränkt / ungera<strong>de</strong> - beschränkt) liegen eher im<br />

Bereich <strong>de</strong>r pythagoreischen Kosmogonie (<strong>de</strong>n Vorstellungen vom Ursprung <strong>de</strong>r Welt), als im Bereich fehlerhafter<br />

mathematischer Theoriebildung.<br />

39 B.L. van <strong>de</strong>r Waer<strong>de</strong>n: Erwachen<strong>de</strong> Wissenschaft. Bd. 1. Basel, Stuttgart: Birkhäuser Verlag 1956. S. 180f<br />

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Hippasos von Metapont: Die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s Inkommensurablen<br />

Das aufregendste Ergebnis <strong>de</strong>r ionischen <strong>Mathematik</strong> ist sicherlich die Ent<strong>de</strong>ckung<br />

inkommensurabler Größen. Durch die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r inkommensurablen Größen wur<strong>de</strong>n<br />

die Beziehungen zwischen Arithmetik und Geometrie auf eine neue Grundlage gestellt:<br />

Es gibt geometrische Größenverhältnisse, die sich nicht als das<br />

Verhältnis zweier natürlicher Zahlen wie<strong>de</strong>rgeben lassen. Dies gilt<br />

insbeson<strong>de</strong>re für das Verhältnis von Basis und Diagonale im<br />

Quadrat. Die Seiten sind (im Sinne <strong>de</strong>r Antike) nicht vergleichbar<br />

(und damit auch nicht messbar), eben inkommensurabel.<br />

Aus <strong>de</strong>m Umstand, dass es keine zwei natürlichen Zahlen n und m gibt, so<br />

Abbildung 12:<br />

Inkommensurable<br />

Basis<br />

und Diagonale<br />

im Quadrat<br />

dass im Quadrat Länge <strong>de</strong>r Basis : Länge <strong>de</strong>r Diagonale = n : m gilt, folgt<br />

unmittelbar, dass es auch keine Strecke a geben kann, als <strong>de</strong>ren<br />

Vielfaches sich sowohl Basis wie Diagonale ausdrücken lassen. In <strong>de</strong>r<br />

Sprechweise <strong>de</strong>r Antike: Basis und Diagonale <strong>de</strong>s Quadrats haben kein<br />

gemeinsames Maß.<br />

Ein einfacher Beweis dafür, dass Basis und Diagonale <strong>de</strong>s Quadrats<br />

inkommensurabel sind, wur<strong>de</strong> in einem Anhang zu Buch X von <strong>Euklid</strong>s<br />

Elementen überliefert. Der Beweis nutzt dabei die pythagoreische Lehre <strong>de</strong>s Gera<strong>de</strong>n und<br />

Ungera<strong>de</strong>n, namentlich <strong>de</strong>n Satz 29 (Ungera<strong>de</strong> mal ungera<strong>de</strong> ergibt ungera<strong>de</strong>).<br />

Die einzige Anwendung <strong>de</strong>r Lehre von Gera<strong>de</strong> und Ungera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Elementen<br />

<strong>de</strong>s Euklei<strong>de</strong>s ist <strong>de</strong>r Beweis, dass die Seite und die Diagonale eines Quadrates<br />

kein gemeinsames Mass haben. Der Beweis (am Schluss <strong>de</strong>s 10. Buches) läuft<br />

so:<br />

Wenn die Diagonale AC und die Seite AB eines Quadrates ABCD ein<br />

gemeinsames Mass haben, so sei m:n ihr Verhältnis in teilerfrem<strong>de</strong>n Zahlen m<br />

und n. Aus AC:AB = m:n folgt AC 2 :AB 2 =m 2 :n 2 , aber es ist AC 2 =2AB 2 , also<br />

m² = 2n 2 , also m² gera<strong>de</strong>. Demzufolge ist auch m gera<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn wenn m<br />

ungera<strong>de</strong> wäre, so wäre nach Satz 29 auch m² ungera<strong>de</strong>. Die Zahl m ist also<br />

gera<strong>de</strong>; die Hälfte von m sei h. Wir hatten m und n als teilerfremd<br />

angenommen, aber m ist gera<strong>de</strong>, also ist n ungera<strong>de</strong>. Aus m = 2h folgt<br />

m² = 4h 2 , also n 2 = 2h 2 . Da also n 2 gera<strong>de</strong> ist, so ist nach <strong>de</strong>r gleichen<br />

Überlegung wie <strong>vor</strong>hin auch n gera<strong>de</strong>. Die gleiche Zahl n wäre also zugleich<br />

gera<strong>de</strong> und ungera<strong>de</strong>. Das ist unmöglich. 40<br />

Der Sachverhalt, dass es inkommensurable Größen gibt, hat in <strong>de</strong>r Antike Aufsehen<br />

erregt. Aristoteles kommt in seinen Schriften mehrfach darauf zu sprechen, und für Platon<br />

ist es gera<strong>de</strong>zu Bürgerpflicht, sich mit <strong>de</strong>m Problem <strong>de</strong>s Inkommensurablen auseinan<strong>de</strong>rzusetzen.<br />

Zur Frage, was man unbedingt ins Bildungsprogramm für Hellenen aufnehmen<br />

müsse, erklärt er (bzw. lässt seine Figur DER ATHENER erklären):<br />

Die eigentlichen Grün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r gegenseitigen Meßbarkeit und Nichtmeßbarkeit.<br />

Denn darüber muß man unbedingt zu völliger Klarheit gelangen, wenn man<br />

nicht ein erbärmlicher Wicht bleiben will. (Die Gesetze. Buch VII, 820) 41<br />

Da diese Reaktionen von Platon und Aristoteles schon <strong>de</strong>utlich <strong>vor</strong> <strong>de</strong>r Veröffentlichung<br />

von <strong>Euklid</strong>s Elementen erfolgten, kann <strong>de</strong>r Nachweis <strong>de</strong>r Existenz <strong>de</strong>s Inkommensurablen<br />

nicht zu <strong>de</strong>n wenigen neuen Resultaten gehören, die <strong>Euklid</strong> selbst zu seinen Elementen<br />

beisteuerte.<br />

40 B.L. van <strong>de</strong>r Waer<strong>de</strong>n: Erwachen<strong>de</strong> Wissenschaft. Bd. 1. Basel, Stuttgart: Birkhäuser Verlag 1956. S. 181f.<br />

Hinweis: Bei <strong>de</strong>r Referierung <strong>de</strong>s Beweises orientiert sich v. Waer<strong>de</strong>n an einem in einem geson<strong>de</strong>rten Anhang zu<br />

Buch X überlieferten Beweis. Der Beweis, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m letzten Satz von Buch X im Haupttext <strong>de</strong>r Elemente folgt, wählt<br />

einen etwas an<strong>de</strong>ren Argumentationsgang. Vgl. dazu auch Kurt von Fritz: Grundprobleme <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r<br />

antiken Wissenschaft. Berlin: Walter <strong>de</strong> Gruyter 1971. S. 562, Fußnote 60.<br />

41 Platon: Sämtliche Dialoge. Bd VII. Übersetzt von Otto Apelt. Hamburg: Meiner Verlag 1988. S. 311<br />

-23-


Die Bemühungen, <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>r Einsicht in die Existenz inkommensurabler Strecken<br />

genau zu lokalisieren, haben zu <strong>de</strong>m Pythagoreer Hippasos von Metapont als Hauptverdächtigem<br />

geführt. 42 Biografische Details zu diesem Philosophen und <strong>Mathematik</strong>er<br />

sind kaum bekannt. Er lebte um 450 v.Chr. in Metapont (o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Nähe). Selbst <strong>de</strong>r<br />

sonst so geschwätzige Diogenes Laertios hat in diesem Fall nur wenig zu bieten:<br />

Auch Hippasos aus Metapont war Pythagoreer. Er lehrte, <strong>de</strong>r Kosmos<br />

verän<strong>de</strong>re sich in bestimmter Zeit und das Universum sei unbegrenzt und in<br />

beständiger Bewegung. 43<br />

Etwas ergiebiger ist Jamblichos (Iamblichos):<br />

Jamblichos aus Chalkis (etwa 283 – 330) berichtet im ersten Buch seines<br />

Werkes „Über die pythagoreische Philosophie“, daß <strong>de</strong>r <strong>Pythagoras</strong>-Schüler<br />

Hippasos als erster „die aus 12 Fünfecken zusammengesetzte Kugel<br />

[Do<strong>de</strong>kae<strong>de</strong>r; NF] beschrieben und <strong>de</strong>shalb als ein Gottloser im Meer<br />

umgekommen“ sei. Ferner habe er „als erster das Wesen <strong>de</strong>r Meßbarkeit und<br />

Unmeßbarkeit an Unwürdige verraten“. Deshalb sei er nicht nur aus <strong>de</strong>m<br />

pythagoreischem Bun<strong>de</strong> ausgestoßen wor<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn sei auch sein Grab<br />

bereitet wor<strong>de</strong>n wie einem, <strong>de</strong>r gänzlich aus <strong>de</strong>m Kreise seiner früheren<br />

Gefährten verschwin<strong>de</strong>n soll.<br />

Der Zorn <strong>de</strong>r am Buchstaben <strong>de</strong>r pythagoreischen Lehre Hängen<strong>de</strong>n war<br />

verständlich: Hippasos hatte mit <strong>de</strong>m Nachweis inkommensurabler Strecken<br />

die pythagoreische Grundlehre in Frage gestellt und er hatte sich offenbar<br />

nicht gescheut diese Erkenntnis „Unwürdigen“ (d.h. nicht <strong>de</strong>m Or<strong>de</strong>n<br />

angehören<strong>de</strong>n Leuten) weiterzugeben. 44<br />

Auch wenn man nicht alle Details <strong>de</strong>r Mitteilungen von Jamblichos (Iamblichos) für einen<br />

unanfechtbaren Tatsachenbericht halten muss, dass nicht alle Pythagoreer über das<br />

Verhalten von Hippasos hoch erfreut waren, ist durchaus glaubwürdig.<br />

Wie soll man am Motto Alles ist Zahl festhalten können, wenn sich selbst die Längen-<br />

Verhältnisse zwischen einfachen geometrischen Größen nicht durch Zahlen beschreiben<br />

lassen? Wie soll man jetzt noch daran glauben können, dass sich einem selbst die<br />

Geheimnisse <strong>de</strong>s Himmels offenbaren, wenn man nur – wie bei <strong>de</strong>r Harmonielehre –<br />

jeweils die unterliegen<strong>de</strong>n Zahlen und ihre Beziehungen erforscht? Die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s<br />

Inkommensurablen ist ein erheblicher Dämpfer für das pythagoreische Motto Alles ist Zahl.<br />

Und Hippasos hat das auch noch, zu allem Überfluss, an die „Unwürdigen“ verraten, und<br />

dies, obwohl doch klar war, dass die Pythagoreer viele Fein<strong>de</strong> hatten.<br />

Wie kam es überhaupt dazu, dass Hippasos als Pythagoreer auf dieses für<br />

pythagoreische Denkungsart so wenig erfreuliche Ergebnis stieß? Der oben referierte<br />

Beweis ist ein indirekter Beweis. Ein solcher Beweis gelingt nur, wenn man genau weiß,<br />

was man beweisen will. Wahrscheinlich ging also <strong>de</strong>r Arbeit an diesem indirekten Beweis<br />

eine Einsicht in die Existenz inkommensurabler Größen <strong>vor</strong>aus, die einem an<strong>de</strong>ren (Ent<strong>de</strong>ckungs-)<br />

Zusammenhang entsprang. Eine Reihe von Grün<strong>de</strong>n spricht dafür, dass es<br />

ausgerechnet ein <strong>de</strong>tailliertes Studium <strong>de</strong>s Pentagramms (<strong>de</strong>s Symbols <strong>de</strong>r Pythagoreer)<br />

war, das Hippasos einsehen ließ, daß es inkommensurable Größen gibt. Erst danach, so<br />

die Spekulation, wur<strong>de</strong> dann entwe<strong>de</strong>r von ihm selbst o<strong>de</strong>r einem an<strong>de</strong>ren <strong>Mathematik</strong>er,<br />

<strong>de</strong>r überlieferte (oben referierte) Wi<strong>de</strong>rspruchsbeweis entwickelt.<br />

Obwohl wir keine direkten Belege dafür haben, dass die Einsicht in die Existenz<br />

inkommensurabler Strecken zuerst am Pentagramm gewonnen wur<strong>de</strong>, wird diese Variante<br />

hier kurz beleuchtet wer<strong>de</strong>n. Diese Annahme ist nämlich höchst plausibel. (Und ich will<br />

42 Die Grün<strong>de</strong>, die zu dieser Zuschreibung führen, sind in <strong>de</strong>r sehr informativen Arbeit Die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r<br />

Inkommensurabilität von Kurt v. Fritz zusammengefasst. Nachzulesen in: Kurt von Fritz: Grundprobleme <strong>de</strong>r<br />

Geschichte <strong>de</strong>r antiken Wissenschaft. Berlin: Walter <strong>de</strong> Gruyter 1971. S. 545ff<br />

43 Diogenes Laertios: Leben und Lehre <strong>de</strong>r Philosophen. Stuttgart. Reclam 1998. S. 403<br />

44 Herbert Meschkowski: Denkweisen großer <strong>Mathematik</strong>er. Braunschweig: Vieweg 1990. S. 7f<br />

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hier ja kein Risiko eingehen, jeman<strong>de</strong>m wichtige Informationen <strong>vor</strong>zuenthalten. Es droht<br />

immerhin die Herabstufung zum erbärmlichen Wicht; siehe Platon Zitat auf Seite 23.)<br />

Es gibt einige Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>s Pentagramms,<br />

die gera<strong>de</strong>zu zu einer Ent<strong>de</strong>ckung<br />

inkommensurabler Strecken einla<strong>de</strong>n. Wenn<br />

man ein Pentagramm in ein regelmäßiges<br />

Fünfeck (A - E) einträgt, dann bil<strong>de</strong>t es ein<br />

zweites regelmäßiges Fünfeck (A‘ - E‘), in<br />

das man wie<strong>de</strong>rum ein Pentagramm eintragen<br />

kann. Dieses Pentagramm bil<strong>de</strong>t<br />

wie<strong>de</strong>rum ein neues regelmäßiges Fünfeck,<br />

in das man wie<strong>de</strong>rum ein Pentagramm eintragen<br />

kann, und immer so fort (s. Abb. 13).<br />

Außer<strong>de</strong>m gibt es einige interessante Beziehungen<br />

zwischen <strong>de</strong>n Strecken <strong>de</strong>s<br />

äußeren Fünfecks samt Pentagramm und<br />

Abbildung 13: Pentagramm und regelmäßiges<br />

Fünfeck<br />

<strong>de</strong>n Strecken <strong>de</strong>s inneren Fünfecks und<br />

Pentagramms.<br />

Es gilt: AB = BC‘, C‘E = D‘B, D‘B = C‘E‘.<br />

Wenn man nun <strong>vor</strong> diesem Hintergrund versucht das gemeinsame Maß <strong>de</strong>r Strecken AB<br />

und BE (Seite und Diagonale eines regelmäßigen Fünfecks) zu bestimmen, so lan<strong>de</strong>t man<br />

sehr schnell bei <strong>de</strong>r Einsicht, dass es ein solches gemeinsames Maß nicht geben kann,<br />

die Strecken also inkommensurabel sind. Wie aber hat man in <strong>de</strong>r Antike das gemeinsame<br />

Maß zweier Strecken bestimmt?<br />

Wie<strong>de</strong>r war die Metho<strong>de</strong> eine alte, die viele Jahrhun<strong>de</strong>rte <strong>vor</strong> <strong>de</strong>m Beginn<br />

griechischer Philosophie und Wissenschaft <strong>de</strong>n Handwerkern als Faustregel<br />

bekannt war, nämlich die Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r „Wechselwegnahme“, durch die man<br />

das größte gemeinsame Maß fin<strong>de</strong>t. 45<br />

Der Schematismus <strong>de</strong>r Wechselwegnahme entspricht <strong>de</strong>m euklidischen Algorithmus zur<br />

Bestimmung <strong>de</strong>s größten gemeinsamen Teilers. 46 Man nimmt das Kleinere vom Größeren<br />

so häufig wie möglich weg. Geht es auf (bleibt kein Rest), dann ist das Kleinere das<br />

gemeinsame Maß. An<strong>de</strong>renfalls übernimmt jetzt das Kleinere die Rolle <strong>de</strong>s Größeren und<br />

<strong>de</strong>r Rest die Rolle <strong>de</strong>s Kleineren. Der eben gewonnen Rest wird nun als das Kleinere so<br />

häufig wie möglich vom jetzt Größeren (<strong>de</strong>m Kleineren <strong>de</strong>r <strong>vor</strong>herigen Run<strong>de</strong>)<br />

weggenommen. Bleibt kein Rest ist man fertig (und die aktuell benutzte<br />

„Wegnahmestrecke“ ist das gesuchte Maß). Ansonsten wie<strong>de</strong>rholt sich alles. Und immer<br />

so fort, bis man das gemeinsame Maß bestimmt hat (wenn es <strong>de</strong>nn eines gibt).<br />

Praktiziert man die Wechselwegnahme mit <strong>de</strong>n Strecken BE und AB, so ergibt sich (unter<br />

Ausnutzung <strong>de</strong>r oben aufgeführten 3 Sachverhalte) folgen<strong>de</strong>s Bild:<br />

1. Run<strong>de</strong> BE – BC‘ = C‘E ; 2. Run<strong>de</strong> BC‘ - D‘B = C‘D‘<br />

Aufgabenstellung <strong>de</strong>r 3. Run<strong>de</strong>: C‘E‘ - C‘D‘! Man ist wie<strong>de</strong>r beim Ausgangsproblem angekommen:<br />

Bestimme das gemeinsame Maß von Seite und Diagonale eines regelmäßigen<br />

Fünfecks. Man ist nur ein Fünfeck weiter nach innen gewan<strong>de</strong>rt. Beim Versuch, das<br />

gemeinsame Maß zu bestimmen, lan<strong>de</strong>t man stets aufs Neue bei <strong>de</strong>m Problem Seite und<br />

Diagonale vergleichen zu müssen. Die Fünfecke wer<strong>de</strong>n kleiner, aber stets bleibt ein Rest.<br />

Dass sich hier kein gemeinsames Maß bestimmen läßt, ist Ausdruck <strong>de</strong>s Umstan<strong>de</strong>s,<br />

dass sich einerseits die Seiten <strong>de</strong>s Pentagramms wechselseitig im Verhältnis <strong>de</strong>s<br />

45 Kurt von Fritz: Grundprobleme <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r antiken Wissenschaft. Berlin: Walter <strong>de</strong> Gruyter 1971. S. 565f<br />

vgl. auch C.J. Scriba, P. Schreiber: 5000 Jahre Geometrie. Hei<strong>de</strong>lberg New York: Springer Verlag 2003. S. 35ff<br />

und Helmuth Gericke: <strong>Mathematik</strong> in Antike, Orient und Abendland. Wiesba<strong>de</strong>n: Matrix Verlag 2005. S. 100ff<br />

46 Siehe z.B. www.antike-griechische.<strong>de</strong>/<strong>Euklid</strong>.pdf S. 21<br />

-25-


gol<strong>de</strong>nen Schnitts teilen und an<strong>de</strong>rerseits die Seite <strong>de</strong>s regelmäßigen Fünfecks mit <strong>de</strong>m<br />

größeren Teil <strong>de</strong>r Diagonale übereinstimmt (AB = BC‘). Da <strong>de</strong>r gol<strong>de</strong>ne Schnitt ein<br />

Verhältnis ist, das sich nicht mittels natürlicher Zahlen ausdrücken lässt, kann es auch<br />

kein gemeinsames Maß für Seite und Diagonale <strong>de</strong>s regelmäßigen Fünfecks geben. Und<br />

wenn man bewiesen hat, dass es kein gemeinsames Maß für diese bei<strong>de</strong>n Größen geben<br />

kann, dann hat man damit auch bewiesen, dass sie inkommensurabel sind.<br />

Warum ist nun aber die Vorstellung, dass die Existenz inkommensurabler Größen beim<br />

Studium <strong>de</strong>s Pentagramms ent<strong>de</strong>ckt wur<strong>de</strong>, so einla<strong>de</strong>nd? Dass sich die Pythagoreer<br />

intensiv mit <strong>de</strong>m Symbol ihres Bun<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>m Pentagramm, beschäftigt haben, scheint ganz<br />

selbstverständlich. Dass sie dabei übersehen haben sollten, dass das Pentagramm ein<br />

reguläres Fünfeck bil<strong>de</strong>t, in dass man wie<strong>de</strong>r ein Pentagramm zeichnen kann, ist kaum<br />

anzunehmen. Und dass sie auch das nette Detail bemerkt haben, dass sich dieses<br />

Eintragen immer neuer, immer kleinerer Pentagramme beliebig oft wie<strong>de</strong>rholen lässt, kann<br />

wohl als beinahe sicher gelten. Wahrscheinlich war dieses Wissen bei <strong>de</strong>n Pythagoreern<br />

sogar ein Teil <strong>de</strong>s Allgemeinwissens <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r und Schwestern <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s und<br />

keinesfalls auf einen kleinen Kreis kompetenter <strong>Mathematik</strong>er begrenzt.<br />

Die drei benutzten Sachverhalte: AB = BC‘, C‘E = D‘B, D‘B = C‘E‘ sind nicht beson<strong>de</strong>rs<br />

schwierig zu beweisen und es ist überaus wahrscheinlich, dass das hierfür erfor<strong>de</strong>rliche<br />

geometrische Wissen damals schon verfügbar war. 47 Hippasos hat sich zu<strong>de</strong>m als<br />

Pythagoreer beson<strong>de</strong>rs mit <strong>de</strong>m Do<strong>de</strong>kae<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>m regulären Polye<strong>de</strong>r aus Fünfecken,<br />

beschäftigt. Er dürfte also mit <strong>de</strong>n geometrischen Wissen seiner Zeit zum Thema Fünfeck<br />

und Pentagramm gut vertraut gewesen sein.<br />

Konnten die Pythagoreer aber damals auch schon beweisen, dass, wenn das Verfahren<br />

<strong>de</strong>r Wechselwegnahme kein gemeinsames Maß liefert, es dann auch tatsächlich kein<br />

gemeinsames Maß gibt? Das ist in dieser Form eher unwahrscheinlich. Aber an<strong>de</strong>rerseits<br />

war ihnen das Verfahren <strong>de</strong>r Wechselwegnahme wohl als vertrauenswürdig bekannt. Und<br />

wenn das Verfahren <strong>de</strong>r Wechselwegnahme offensichtlich zu keinem En<strong>de</strong> kam, dann<br />

begrün<strong>de</strong>te dies zumin<strong>de</strong>st <strong>de</strong>n sehr <strong>de</strong>utlichen Verdacht, dass es kein gemeinsames<br />

Maß gab und die Strecken damit inkommensurabel waren.<br />

Eine <strong>de</strong>rartige Vermutung ist <strong>de</strong>r <strong>de</strong>nkbar beste Anlass, um nach einem Beweis für die<br />

Vermutung zu suchen. Vielleicht wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r (weiter oben referierte) Wi<strong>de</strong>rspruchsbeweis ja<br />

gefun<strong>de</strong>n, weil dringend ein Beweis für eine höchst sensationelle Vermutung gesucht<br />

wur<strong>de</strong>. Vielleicht galt die Existenz inkommensurabler Strecken bis zum Auffin<strong>de</strong>n dieses<br />

Wi<strong>de</strong>rspruchsbeweis ja nur als Vermutung. Eine Vermutung, die beim Studium <strong>de</strong>s Pentagramms<br />

entstan<strong>de</strong>n war.<br />

An<strong>de</strong>rerseits sollte man sich bei seinen Einschätzungen aber auch nicht allzu naiv an <strong>de</strong>n<br />

gehobenen Beweisansprüchen <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen <strong>Mathematik</strong> orientieren. Vielleicht genoss<br />

das Verfahren <strong>de</strong>r Wechselwegnahme damals schlichtweg ein solches Ansehen, dass, <strong>vor</strong><br />

<strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r sicherlich noch niedrigeren Ansprüche an Beweise, gar kein Bedarf<br />

an zusätzlichen, das Verfahren absichern<strong>de</strong>n Argumenten aufkam.<br />

Es ist also genauso möglich, dass Hippasos so etwas wie <strong>de</strong>n hier skizzierten Argumentationsgang<br />

zur Inkommensurabilität von Seite und Diagonale im regelmäßigen Fünfeck<br />

auch ohne weitere Klärungen zur Wechselwegnahme als Beweis akzeptieren konnte.<br />

Denn die Frage ist nicht, ob Hippasos einen Beweis liefern konnte, <strong>de</strong>r in allen<br />

seinen Schritten <strong>Euklid</strong> o<strong>de</strong>r Hilbert befriedigt hätte, son<strong>de</strong>rn ob er imstan<strong>de</strong><br />

war, einen Beweis zu fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Stufe, die das mathematische Denken<br />

zu seiner Zeit erreicht hatte, als völlig überzeugend angesehen wur<strong>de</strong>, (…). 48<br />

Das letzte Urteil zu all diesen Fragen überlasse ich <strong>de</strong>m Leser.<br />

47 Die Pythagoreer hatten die <strong>Mathematik</strong> ja nicht nur im Bereich Zahlentheorie <strong>vor</strong>an gebracht, son<strong>de</strong>rn auch im<br />

Bereich Geometrie beständig weiter entwickelt.<br />

48 Kurt von Fritz: Grundprobleme <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r antiken Wissenschaft. Berlin: Walter <strong>de</strong> Gruyter 1971. S. 569<br />

-26-


Anschauliche Begründung und logische Herleitung<br />

Auf Anschauung beruhen<strong>de</strong> Einsicht und logische Schlussfolgerung sind die bei<strong>de</strong>n<br />

Hauptkomponenten <strong>de</strong>r antiken Beweiskultur. Wenn die hier angebotenen Thesen zu <strong>de</strong>n<br />

Anfängen <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> im Kern richtig sind, dann hat die griechische<br />

<strong>Mathematik</strong> ihre Beweise anfänglich stark auf Anschauung gegrün<strong>de</strong>t. Sehr frühe Beweise<br />

konnten zwar (unter an<strong>de</strong>rem) logische Schlussfolgerungen enthalten, waren aber an<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Stellen auf das anschauliche Ablesen von mathematischen Sachverhalten<br />

angewiesen.<br />

In <strong>Euklid</strong>s Elementen (<strong>de</strong>m ältesten überlieferten griechischen Lehrtext zur <strong>Mathematik</strong>)<br />

wird bereits die axiomatische Metho<strong>de</strong> praktiziert. Die rein logische Herleitung neuer Sätze<br />

aus Axiomen (Postulaten) und <strong>de</strong>n bereits bewiesenen Sätzen ist dort das typische<br />

Vorgehen bei geometrischen Beweisen. Die Anschauung als Mittel <strong>de</strong>s Beweisens wird<br />

gemie<strong>de</strong>n. Die angebotenen Skizzen sollen nur noch didaktisches Hilfsmittel sein, um <strong>de</strong>n<br />

beweis-führen<strong>de</strong>n Gedanken besser verfolgen zu können. Selbst wenn <strong>Euklid</strong> sein Leitbild<br />

einer streng axiomatischen aufgebauten Geometrie an einigen Stellen auch schon Mal<br />

etwas verfehlt, das Bild eines gelungenen Beweises hat bei <strong>Euklid</strong> nicht mehr viel mit<br />

einem Appell an die Einsichten <strong>de</strong>r Anschauung zu tun.<br />

Die Entwicklung eines Beweiskonzeptes, das auf rein logischer Herleitung beruht, wird von<br />

Rei<strong>de</strong>meister als eine <strong>de</strong>r vielen Leistungen <strong>de</strong>r Pythagoreer verbucht:<br />

Die Pythagoräer ent<strong>de</strong>ckten die Möglichkeit, mathematische Tatbestän<strong>de</strong> auf<br />

Hypothesen zurückzuführen, aus <strong>de</strong>nen diese Tatbestän<strong>de</strong> durch Denken<br />

gefolgert wer<strong>de</strong>n können. Damit ent<strong>de</strong>ckten sie aber zugleich einen Weg, <strong>de</strong>r<br />

aus <strong>de</strong>m Anschaulichen heraus zu geometrischen Tatsachen führt, die nur <strong>de</strong>m<br />

Denken zugänglich sind.<br />

Die Lehre vom Gera<strong>de</strong>n und Ungera<strong>de</strong>n gipfelt nämlich in <strong>de</strong>m Nachweis, daß<br />

die Diagonale d eines Quadrates und die Quadratseite s <strong>de</strong>sselben nicht mit<br />

<strong>de</strong>rselben Einheitsstrecke e gemessen wer<strong>de</strong>n können. Das läßt sich nicht<br />

veranschaulichen (wie sich etwa <strong>de</strong>r Satz <strong>de</strong>s <strong>Pythagoras</strong> veranschaulichen<br />

läßt), son<strong>de</strong>rn nur <strong>de</strong>nken und erschließen, und zwar nur mit Hilfe eines<br />

indirekten Beweises, <strong>de</strong>r außer<strong>de</strong>m wesentlich auf Eigenschaften von Zahlen<br />

beruht. Die Annahme eines Maßes hat nämlich zur Folge, daß es Zahlen geben<br />

müßte, die gleichzeitig gera<strong>de</strong> und ungera<strong>de</strong> sind.<br />

So ist es hier also das Denken, das hier über das Sein und das Nichtsein eines<br />

geometrischen Tatbestan<strong>de</strong>s entschei<strong>de</strong>t.<br />

Damit vollzieht sich etwas Außeror<strong>de</strong>ntliches. Das anschauliche Quadrat, von<br />

<strong>de</strong>m die Geometrie han<strong>de</strong>lte, entschwin<strong>de</strong>t beim näheren Zugriff <strong>de</strong>r<br />

Untersuchung. Und <strong>de</strong>r Geometer ist nicht mehr imstan<strong>de</strong>, das Quadrat selbst<br />

aufzuweisen, auf das sich seine Gedanken gerichtet haben. 49<br />

Rei<strong>de</strong>meister geht hier offensichtlich davon aus, dass <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchsbeweis zur<br />

Inkommensurabilität von Basis und Diagonale im Quadrat pythagoreischen Ursprungs ist.<br />

Wenn die im <strong>vor</strong>herigen Abschnitt <strong>vor</strong>gestellte Hypothese (dass die Existenz<br />

inkommensurabler Strecken zunächst am Pentagramm eingesehen wur<strong>de</strong>) richtig ist,<br />

dann kann <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchsbeweis zur Unvergleichbarkeit von Basis und Diagonale im<br />

Quadrat auch aus an<strong>de</strong>ren Quellen stammen. Richtig an Rei<strong>de</strong>meisters Analyse ist auf<br />

je<strong>de</strong>n Fall, dass dieser Wi<strong>de</strong>rspruchsbeweis allein auf logischer Schlussfolgerung beruht<br />

und keine nur anschaulich nachvollziehbaren Teile enthält. Es wäre natürlich schön zu<br />

wissen, wann genau <strong>de</strong>r Prozess <strong>de</strong>r Entkoppelung <strong>de</strong>s Beweisens von <strong>de</strong>r Anschauung<br />

begonnen hat. Aber obwohl Rei<strong>de</strong>meisters Vermutung, dass dies spätestens bei <strong>de</strong>r<br />

Ent<strong>de</strong>ckung inkommensurabler Strecken geschah, wahrlich nicht unplausibel ist, ist diese<br />

zeitliche Einordnung doch aber auch nicht wirklich sicher.<br />

49 Kurt Rei<strong>de</strong>meister: Das exakte Denken <strong>de</strong>r Griechen. Hamburg: Claassen & Goverts 1949. S. 52<br />

-27-


Es gibt beim obigen Rei<strong>de</strong>meister-Zitat noch einen Aspekt, <strong>de</strong>r einer kurzen Kommentierung<br />

würdig ist: Rei<strong>de</strong>meister sieht die Ablösung <strong>de</strong>s Quadrats <strong>de</strong>r Geometrie von <strong>de</strong>n<br />

sinnlich wahrnehmbaren Quadraten unserer Erfahrungswelt in Zusammenhang mit <strong>de</strong>r<br />

Herausbildung eines auf logischer Herleitung beruhen<strong>de</strong>n Beweiskonzeptes. Er schreibt:<br />

So ist es hier also das Denken, das hier über das Sein und das Nichtsein eines geometrischen<br />

Tatbestan<strong>de</strong>s entschei<strong>de</strong>t. Damit vollzieht sich etwas Außeror<strong>de</strong>ntliches. Das anschauliche Quadrat,<br />

von <strong>de</strong>m die Geometrie han<strong>de</strong>lte, entschwin<strong>de</strong>t beim näheren Zugriff <strong>de</strong>r Untersuchung. Und <strong>de</strong>r<br />

Geometer ist nicht mehr imstan<strong>de</strong>, das Quadrat selbst aufzuweisen, auf das sich seine Gedanken<br />

gerichtet haben.<br />

Hier ist zumin<strong>de</strong>st als Ergänzung anzumerken, dass wichtige Abstraktionsschritte zur<br />

Herausbildung eines mathematischen Konzeptes von geometrischen Figuren durchaus<br />

auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Anschauung möglich sind und aller Wahrscheinlichkeit nach auch dort<br />

zuerst vollzogen wur<strong>de</strong>n. Die mathematische Anschauung verbin<strong>de</strong>t die Erfahrungen <strong>de</strong>r<br />

sinnlichen Wahrnehmungen erstaunlich leichtgängig mit mathematischen I<strong>de</strong>alisierungen.<br />

In <strong>de</strong>r mathematischen I<strong>de</strong>alisierung hat eine Linie keine Breite und ein Punkt keine<br />

Aus<strong>de</strong>hnung. Die Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit mit <strong>de</strong>r diese (und noch viele<br />

an<strong>de</strong>re) I<strong>de</strong>alisierungen von beinahe je<strong>de</strong>rmann in die mathematische Anschauung<br />

eingebun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n können, ist bis heute eine wichtige Grundlage <strong>de</strong>s schulischen<br />

Geometrie Unterrichts.<br />

Unabhängig vom Übergang zum rein logischen Beweisen kann sich die <strong>Mathematik</strong> also<br />

von einer zu engen Anbindung an die sinnlichen Erfahrungen ablösen und so abstrakte<br />

(nur gedachte) Figuren (auch und gera<strong>de</strong>) einem stark anschaulichen Zugang zur<br />

Geometrie zu Grun<strong>de</strong> legen.<br />

Man sieht z.B. bei <strong>de</strong>r Abb. 13 (s. Seite 25), dass man beliebig viele Pentagramme<br />

ineinan<strong>de</strong>r-schachteln kann, eben weil man die Breite <strong>de</strong>r Linien ganz beiläufig ignoriert.<br />

Man entwickelt im Kopf eine Vorstellung, zu <strong>de</strong>r die sinnlich wahrnehmbare Skizze nur<br />

inspiriert. Eine Linie mit Breite symbolisiert jeweils eine Linie ohne Breite. Nur <strong>de</strong>swegen<br />

kann <strong>de</strong>r im <strong>vor</strong>herigen Abschnitt <strong>vor</strong>gestellte Argumentationsgang überhaupt zum<br />

Ergebnis führen, dass Seite und Diagonale im regelmäßigen Fünfeck kein gemeinsames<br />

Maß haben. Dabei wird übrigens unter Heranziehung <strong>de</strong>r mathematischen Anschauung<br />

die nicht so ohne weiteres anschaulich darstellbare Eigenschaft <strong>de</strong>r Inkommensurabilität<br />

von Seite und Diagonale begrün<strong>de</strong>t. Wie man dabei sieht: Eine gut kultivierte<br />

mathematische Anschauung ist ein unglaublich leistungsfähiges Hilfsmittel. Es ist bis<br />

heute das wichtigste Instrument zur Ent<strong>de</strong>ckung mathematischer Sachverhalte. Bei <strong>de</strong>r<br />

Veröffentlichung eines Resultats wird dann aber (aus gutem Grun<strong>de</strong>) meist ein Beweis<br />

beigefügt, <strong>de</strong>r ohne Rückgriff auf die Anschauung auskommt.<br />

Was die historische Funktion <strong>de</strong>r Anschauung in <strong>de</strong>r griechischen <strong>Mathematik</strong> angeht,<br />

möchte ich zum Schluss dieses Abschnitts auf einen Aspekt hinweisen, <strong>de</strong>r gerne<br />

übersehen wird. Sowohl die anschauliche Begründung wie die logische Herleitung von<br />

Resultaten sind fehleranfällige Vorgänge. Angesichts <strong>de</strong>r menschlichen Neigung zum<br />

Irrtum ist es sehr <strong>vor</strong>teilhaft, wenn man zwei von einan<strong>de</strong>r unabhängige Talente hat, die<br />

sich wechselseitig ergänzen und auch zur wechselseitigen Überprüfung dienen können.<br />

Die Talente zur Begründung durch die Einsichten <strong>de</strong>r Anschauung und zur logischen<br />

Herleitung wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> in Kooperation kultiviert. Dass diese sich<br />

wechselseitig stützen<strong>de</strong> Kultivierung durchaus nicht überflüssig war, sieht man, wenn man<br />

einen Blick auf die griechische Philosophie wirft: Die Philosophen Parmeni<strong>de</strong>s und Zenon<br />

aus Elea gelangten bei ihren Versuchen zum streng logischen Argumentieren zur<br />

trugschlüssig erzielten Behauptung, dass es keinerlei Verän<strong>de</strong>rung geben könne. Sie<br />

kannten bzw. akzeptierten keine Kontrolle ihrer Schlüsse durch die Anschauung. 50<br />

50 Es gehört zu <strong>de</strong>n Kuriosa unserer Geschichtsschreibung, dass es bei <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>n Wurzeln <strong>de</strong>r griechischen<br />

Kultur <strong>de</strong>s logischen Beweisens immer noch Standard ist, auf die trügerische Philosophie eines Parmeni<strong>de</strong>s zu verweisen,<br />

wohingegen die brillanten Leistungen <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> höchstens am Ran<strong>de</strong> erwähnt wer<strong>de</strong>n.<br />

-28-


Oinopi<strong>de</strong>s von Chios: Nur mit Zirkel und Lineal<br />

Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 5. Jahrhun<strong>de</strong>rts lag die Schaffensperio<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Pythagoreers Oinopi<strong>de</strong>s (um<br />

420 v.Chr.). Wenn es strikt <strong>de</strong>r Reihe nach ginge, dann wäre er in diesem Papier erst<br />

etwas später dran. Aber sein <strong>vor</strong>wiegend methodischer Beitrag, <strong>de</strong>r zur allgemeinen Neu-<br />

und Umortierung <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> im 5. Jahrhun<strong>de</strong>rt gehört, spricht für ein Vorziehen.<br />

Oinopi<strong>de</strong>s von Chios ist eigentlich mehr als Astronom <strong>de</strong>nn als <strong>Mathematik</strong>er bekannt. Es<br />

gibt jedoch eine beson<strong>de</strong>re Auffälligkeit an seiner <strong>Mathematik</strong>, die es erfor<strong>de</strong>rlich macht,<br />

hier auf ihn zu sprechen zu kommen: Er untersucht zwar wenig aufregen<strong>de</strong>, einfache<br />

Fragen <strong>de</strong>r Geometrie, er versucht diese aber nur mit Zirkel und Lineal zu bewältigen.<br />

Konstruktionen, bei <strong>de</strong>nen an<strong>de</strong>re Hilfsmittel eingesetzt wer<strong>de</strong>n, tauchen bei ihm nicht auf.<br />

Wir kennen diese Beschränkung <strong>de</strong>r Geometrie auf allein durch Zirkel und Lineal<br />

erzeugbare Konstruktionen von <strong>Euklid</strong>. Und wir wissen aus verschie<strong>de</strong>nen Quellen, dass<br />

Platon bereits <strong>vor</strong>her diese Art <strong>de</strong>r Selbst-Beschränkung in <strong>de</strong>r Geometrie eingefor<strong>de</strong>rt<br />

hat. Sind die Arbeiten von Oinopi<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Ursprung zu dieser I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Selbstbeschränkung<br />

bei geometrischen Konstruktionen? Obwohl wir keine direkten Belege dafür haben, lässt<br />

sich gut vermuten, dass er eine solche Selbstbeschränkung ausdrücklich als Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Geometrie empfahl.<br />

Dass Oinopi<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r Beschränkung auf Zirkel und Lineal ein neues methodisches I<strong>de</strong>al<br />

erblickte und sich nicht rein zufällig auf solche Konstruktionen beschränkte, ist auch<br />

<strong>de</strong>swegen plausibel, weil es (zumal für einen Pythagoreer wie ihn) damals durchaus<br />

reichlich Grund gab, um über methodische Fragen nachzu<strong>de</strong>nken:<br />

Die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Inkommensurabilität muß in pythagoreischen Kreisen<br />

einen ungeheuren Eindruck gemacht haben, weil sie mit einem Schlag <strong>de</strong>n<br />

Glauben zerstörte, auf <strong>de</strong>m bis dahin die ganze Philosophie <strong>de</strong>r Pythagoreer<br />

beruht hatte, nämlich daß alle Dinge in ganzen Zahlen ausgedrückt wer<strong>de</strong>n<br />

könnten. Dieser Eindruck spiegelt sich <strong>de</strong>utlich in jenen Legen<strong>de</strong>n, welche<br />

berichten Hippasos sei von <strong>de</strong>n Göttern bestraft wor<strong>de</strong>n, weil er diese<br />

schreckliche Ent<strong>de</strong>ckung veröffentlicht habe. 51<br />

Die Geometrie konnte sich nach <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s Inkommensurablen nicht mehr im<br />

sicheren Hafen <strong>de</strong>r natürlichen Zahlen wähnen. Hinzu kommen noch die neuen Beweis-<br />

Konzepte: Die Verabschiedung <strong>de</strong>r Anschauung als Mittel <strong>de</strong>s Beweisens und das<br />

Aufkommen indirekter Beweise. 52<br />

All dies geschah <strong>vor</strong> <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r eleatischen Philosophie, die mit <strong>de</strong>n Resultaten<br />

ihrer Trugschlüsse (es gibt keine Verän<strong>de</strong>rung, kein Wer<strong>de</strong>n und kein Vergehen)<br />

hausieren ging. Die Position von Parmeni<strong>de</strong>s und Zenon fand zwar nur wenige Anhänger,<br />

aber bei einigen ihrer Argumente war die Quelle <strong>de</strong>r Fehlschlüssigkeit doch so subtil, dass<br />

<strong>de</strong>ren Entlarvung in <strong>de</strong>r Antike schwer fiel. Man glaubte nicht an die Schlussfolgerungen;<br />

wo aber <strong>de</strong>r Fehler lag, das konnte man nicht immer genau sagen. So gesehen erscheint<br />

es doch als ganz natürlich, wenn man nach <strong>de</strong>m Verlust <strong>de</strong>r Anbindung an die Welt <strong>de</strong>r<br />

natürlichen Zahlen und <strong>de</strong>m Auftauchen neuer Beweismetho<strong>de</strong>n nach Sicherungen<br />

suchte, um zu verhin<strong>de</strong>rn, dass in die Geometrie irgendwann eleatische Verhältnisse<br />

einziehen und dann die kuriosten Dinge als bewiesen gelten.<br />

Diese These, dass Oinopi<strong>de</strong>s mit seinem methodischen I<strong>de</strong>al von Zirkel und Lineal die<br />

Geometrie <strong>vor</strong> eleatischen Verhältnissen schützen wollte, ist dabei zwar einerseits<br />

durchaus plausibel, wird jedoch durch keine direkten Belege gestützt, ist also spekulativ.<br />

Sicher ist hingegen, dass <strong>Euklid</strong> dieses I<strong>de</strong>al später in seinen Elementen aufgreift. An<strong>de</strong>re<br />

geometrische Konstruktionsmetho<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>swegen aber nicht völlig ungebräuchlich.<br />

51 Kurt von Fritz: Grundprobleme <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r antiken Wissenschaft. Berlin: Walter <strong>de</strong> Gruyter 1971. S. 570<br />

52 Auch wenn wir diese Vorgänge nicht genau datieren können, so haben sie sich doch höchst wahrscheinlich in <strong>de</strong>r<br />

zweiten Hälfte <strong>de</strong>s 5. Jahrhun<strong>de</strong>rts (v.Chr.) abgespielt.<br />

-29-


Die drei klassischen Probleme <strong>de</strong>r antiken Geometrie<br />

Im 5. Jahrhun<strong>de</strong>rts (v.Chr.) wer<strong>de</strong>n drei geometrische Probleme zunehmend populär:<br />

1. Die Dreiteilung eines beliebigen Winkels;<br />

2. Die Verdoppelung eines Würfels (<strong>de</strong>lisches Problem);<br />

3. Die Quadratur <strong>de</strong>s Kreises.<br />

Zu 1.) Man kannte in <strong>de</strong>r Antike ein einfaches Verfahren zur Dreiteilung <strong>de</strong>s rechten<br />

Winkels. Dies konnte auf Winkel mit 180° und 270° übertragen wer<strong>de</strong>n. Was aber fehlte<br />

war ein Verfahren zur Teilung eines beliebigen Winkels. Da man in <strong>de</strong>r Antike bereits früh<br />

die Winkeladdition beherrschte und man Winkel mit 90°, 180° und 270° dreiteilen konnte,<br />

fehlte genau genommen nur noch ein Verfahren mit <strong>de</strong>m man in <strong>de</strong>r Lage war, beliebige<br />

Winkel zwischen 0° und 90° zu dritteln. Dies galt es zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Zu 2.) Man kannte in <strong>de</strong>r Antike ein einfaches Verfahren zur Verdoppelung <strong>de</strong>s Quadrates:<br />

Wenn die Fläche eines gegebenen Quadrats mit <strong>de</strong>r Basis a verdoppelt wer<strong>de</strong>n soll, so<br />

muss man hierfür nur ein neues Quadrat über <strong>de</strong>r Diagonale <strong>de</strong>s Quadrats mit Basis a<br />

errichten. Wenn man von <strong>de</strong>r ebenen Figur Quadrat zu seinem räumlichen Bru<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m<br />

Würfel übergeht, dann führt die analoge I<strong>de</strong>e, das Volumen <strong>de</strong>s Würfels zu verdoppeln,<br />

in<strong>de</strong>m man seine Raumdiagonale als Basis nimmt, nicht zum Erfolg. Was muss man also<br />

tun, um einen Würfel zu verdoppeln? Das Problem wur<strong>de</strong> gern in die Geschichte<br />

eingeklei<strong>de</strong>t, dass <strong>de</strong>r Gott Apollon verlangt habe, dass sein würfelförmiger Altar im<br />

Tempel auf Delos verdoppelt wer<strong>de</strong>n solle. Daher die Bezeichnung <strong>de</strong>lisches Problem.<br />

Zu 3.) In <strong>de</strong>r Antike galt die Fläche einer Figur erst als richtig verstan<strong>de</strong>n, wenn man auch<br />

wusste, wie man sie quadriert (sprich: wie man ein zur Figur flächengleiches Quadrat<br />

konstruiert). <strong>Euklid</strong>s Elemente enthalten z.B. einen Satz (II, 14), <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Überführung<br />

beliebiger Polygone (geradlinig-begrenzter Figuren) in Quadrate widmet. Was gesucht<br />

wur<strong>de</strong> war das dazu passen<strong>de</strong> Gegenstück für Kreise. Wie erzeugt man zu einem <strong>vor</strong>gegebenen<br />

Kreis ein flächengleiches Quadrat? Ein bereits in <strong>de</strong>r Antike erzieltes Resultat<br />

zeigte, dass es ausreicht ein Quadrat zu konstruieren, das zum <strong>vor</strong>gegebenen Kreis<br />

umfangsgleich ist. Von hier aus führt dann ein kurzer Weg zum flächengleichen Quadrat.<br />

Die drei Probleme wur<strong>de</strong>n also nicht willkürlich gewählt, son<strong>de</strong>rn haben sich alle drei<br />

jeweils ganz natürlich bei <strong>de</strong>r Arbeit am Ausbau <strong>de</strong>r Geometrie ergeben. Diese drei<br />

Probleme waren nicht nur <strong>de</strong>m kleinen Kreis <strong>de</strong>r produktiv tätigen <strong>Mathematik</strong>er geläufig,<br />

son<strong>de</strong>rn waren auch weit darüber hinaus bekannt. Das Wissen um die Existenz <strong>de</strong>s<br />

Problems <strong>de</strong>r Quadratur <strong>de</strong>s Kreises gehörte sogar schon zur (gehobenen?) Allgemeinbildung.<br />

Sonst hätte ein Kommödien-Dichter wie Aristophanes keine ironischen Anspielungen<br />

auf die Quadratur <strong>de</strong>s Kreises in seinem Stück Die Vögel verwen<strong>de</strong>n können. 53<br />

Die Antike hat im Lauf <strong>de</strong>r Zeit alle drei Probleme gelöst. Aber sie fand zu keinem <strong>de</strong>r drei<br />

Probleme eine Lösung, <strong>de</strong>ren geometrische Konstruktionen mit <strong>de</strong>r Beschränkung auf<br />

Zirkel und Lineal zurecht kam. Je<strong>de</strong>s Mal wur<strong>de</strong>n Konstruktionen benötigt, die sich nicht<br />

allein mit Zirkel und Lineal erzeugen ließen. <strong>Euklid</strong>, <strong>de</strong>r sich in seinen Elementen<br />

konsequent am I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r nur mit Zirkel und Lineal ausführbaren Konstruktionen orientiert,<br />

nimmt <strong>de</strong>swegen entsprechen<strong>de</strong> Resultate nicht in seinen Standardlehrtext auf.<br />

Dass man keine Möglichkeit fand, wenigstens eins <strong>de</strong>r drei Probleme nur mit Zirkel und<br />

Lineal zu lösen, war jedoch nicht Ausdruck <strong>de</strong>r Unfähigkeit antiker <strong>Mathematik</strong>er. Wie man<br />

in <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne <strong>de</strong>r Reihe nach bewies, sind alle drei Probleme mit Zirkel und Lineal<br />

alleine nicht bewältigbar.<br />

Eins <strong>de</strong>r drei Probleme, die Quadratur <strong>de</strong>s Kreises, war da übrigens schon als Metapher<br />

für schwierigste bis unlösbare Probleme in <strong>de</strong>n allgemeinen Sprachschatz eingegangen.<br />

53 vgl.: Thomas Heath: A History of Greek Mathematics. Volume I. New York: Dover Publications 1981. S. 220f und<br />

B.L. van <strong>de</strong>r Waer<strong>de</strong>n: Erwachen<strong>de</strong> Wissenschaft. Bd. 1. Basel, Stuttgart: Birkhäuser Verlag 1956. S. 214f<br />

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Hippokrates von Chios: Seine „Elemente“ und seine<br />

„Möndchen“<br />

Hippokrates belegt, dass man auch als Nicht-Pythagoreer<br />

Wichtiges zur <strong>Mathematik</strong> beitragen kann. Und er ist ein<br />

Beispiel für die intellektuelle Produktivität <strong>de</strong>r Sophisten,<br />

jenen Lehrern Griechenlands, die (dank <strong>de</strong>r üblen<br />

Nachre<strong>de</strong>n von Platon) im <strong>de</strong>utschsprachigen Raum noch<br />

immer ein erhebliches Imageproblem haben.<br />

Hippokrates von Chios (um 440 v.Chr.) – nicht zu<br />

verwechseln mit Hippokrates von Kos (ca. 460 – 370<br />

v.Chr.), einem Arzt auf <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r sogenannte Hippokratische<br />

Eid <strong>de</strong>r Ärzte zurückgeht – ist in vielerlei Hinsicht eine bemerkenswerte<br />

Gestalt <strong>de</strong>r griechischen Wissenschaftsgeschichte. Er soll – durch Piraten o<strong>de</strong>r<br />

betrügerische Zöllner – sein Vermögen eingebüßt und dann im Besitz <strong>de</strong>s in Athen<br />

erworbenen Wissens, als Weisheitslehrer, als Sophist, seinen Lebensunterhalt<br />

bestritten haben. Diese Erzählung, ob wahr o<strong>de</strong>r erfun<strong>de</strong>n, spiegelt je<strong>de</strong>nfalls die<br />

neue Stellung <strong>de</strong>r Wissenschaft wie<strong>de</strong>r: Das gesellschaftliche Interesse an Wissenschaft<br />

und Re<strong>de</strong>kunst war immerhin so gestiegen, dass die Vermittlung von Wissen<br />

entlohnt wur<strong>de</strong>. 54<br />

Hippokrates war <strong>de</strong>r berühmteste Geometer <strong>de</strong>s 5. Jh. Er kannte <strong>de</strong>n Zusammenhang<br />

zwischen Peripheriewinkel und Bogen. Er konnte das regelmäßige Sechseck,<br />

<strong>de</strong>n Umkreis zu einem Dreieck u. a. m. konstruieren. Er verwen<strong>de</strong>te <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r<br />

Ähnlichkeit, er wußte, daß sich die Flächen ähnlicher Figuren wie die Quadrate<br />

über <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Seiten verhalten. Er kannte Verallgemeinerungen <strong>de</strong>s<br />

pythagoreischen Lehrsatzes für das stumpf- und das schiefwinklige Dreieck. Er<br />

konnte je<strong>de</strong>s Polygon in ein flächengleiches Quadrat verwan<strong>de</strong>ln.<br />

Darüber hinaus stammt wohl von Hippokrates eine erste zusammenfassen<strong>de</strong><br />

Darstellung <strong>de</strong>r Geometrie unter <strong>de</strong>m Titel „Elemente“, und zwar nach <strong>de</strong>m seit<strong>de</strong>m<br />

klassisch gewor<strong>de</strong>nen Darstellungsschema: Voraussetzung, Satz, Beweis. Er führte<br />

dort auch die Bezeichnungsweise bei geometrischen Figuren – für Punkte, Strecken,<br />

Flächen – mittels Buchstaben ein. Doch sind diese „Elemente“ durch die späteren<br />

ausführlicheren „Elemente“ <strong>de</strong>s <strong>Euklid</strong> verdrängt wor<strong>de</strong>n. Immerhin dürfte aber <strong>de</strong>r<br />

Inhalt <strong>de</strong>r Bücher I, II, III und IV <strong>de</strong>r <strong>Euklid</strong>ischen „Elemente“ auf diese Vorlage <strong>de</strong>s<br />

Hippokrates zurückgehen. 55<br />

Die „Elemente“ <strong>de</strong>s Hippokrates blieben keineswegs <strong>de</strong>r einzige <strong>vor</strong>euklidische Versuch,<br />

die Ergebnisse <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> zu sammeln und zu ordnen. <strong>Euklid</strong>s Elemente haben diese<br />

Vorläufer jedoch schlichtweg überflüssig gemacht. Man sah einfach keinen Anlass mehr,<br />

die Elemente <strong>de</strong>s Hippokrates von Chios (o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Leon o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Theudios von<br />

Magnesia) weiterhin zu kopieren. Und so gingen diese Handschriften im Lauf <strong>de</strong>r Zeit<br />

ganz beiläufig verloren.<br />

Deswegen kann die überaus spannen<strong>de</strong> Frage, wieviel seiner Wissenschaftslehre<br />

Aristoteles von solchen <strong>vor</strong>euklidischen „Elementen“ übernommen hat, nicht verbindlich<br />

beantwortet wer<strong>de</strong>n. Angesichts <strong>de</strong>r Rolle, die diesen <strong>vor</strong>euklidischen Elementen in <strong>de</strong>r<br />

<strong>Mathematik</strong>-Geschichte zugesprochen wird, ist es jedoch unwahrscheinlich, dass diese<br />

keinen Einfluss auf das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n Wissenschaft in <strong>de</strong>r Wissenschaftslehre<br />

<strong>de</strong>s Aristoteles gehabt haben. 56<br />

Abbildung 14: Die Insel Chios<br />

<strong>vor</strong> <strong>de</strong>r kleinasiatischen Küste<br />

Nach <strong>de</strong>m <strong>Mathematik</strong>erverzeichnis von Proklos (…) hat „Hippokrates als<br />

erster ‚Elemente‘ zusammengestellt“ (…). „Reichhaltigere und nach<br />

54 Hans Wußing: 6000 Jahre <strong>Mathematik</strong>. Bd 1. Berlin Hei<strong>de</strong>lberg: Springer Verlag 2008. S. 172<br />

55 Hans Wußing: Vorlesungen zur Geschichte <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong>.Frankfurt: Harri Deutsch Verlag 2008. S. 46<br />

56 Siehe hierzu auch: Aristoteles: Logik und Methodik in <strong>de</strong>r Antike unter: www.antike-griechische.<strong>de</strong>/Aristoteles.pdf<br />

vgl. insbeson<strong>de</strong>re die Abschnitte Die Klassifikation <strong>de</strong>r Wissenschaften und Wissen und Erklären.<br />

-31-


Brauchbarkeit <strong>de</strong>r Beweise bessere ‚Elemente‘ schrieb Leon“, <strong>de</strong>r etwas<br />

jünger als Eudoxos war. Schließlich hat Theudios „die ‚Elemente‘ in ein gut<br />

geordnetes System gebracht“ (…). Aus diesem Werk von Theudios könnte<br />

Aristoteles die Geometrie gelernt haben.<br />

Was zur Zeit <strong>de</strong>s Hippokrates naheliegend und fast notwendig war, war eine<br />

Kodifizierung o<strong>de</strong>r lehrbuchmäßige Darstellung <strong>de</strong>r elementaren<br />

Konstruktionen: Halbieren von Strecke und Winkel, Errichten von<br />

Senkrechten, Fällen von Loten usw. Diese Konstruktionen mußten<br />

gerechtferigt wer<strong>de</strong>n, man mußte z.B. zeigen, daß <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r Vorschrift<br />

konstruierte Punkt wirklich <strong>de</strong>r Mittelpunkt <strong>de</strong>r Strecke war. 57<br />

Hippokrates hat aber nicht nur Beiträge zur Systematik<br />

<strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> geleistet, son<strong>de</strong>rn war auch abseits <strong>de</strong>s<br />

Verfassens seiner „Elemente“ recht produktiv.: Er war<br />

<strong>de</strong>r erste, <strong>de</strong>r zeigen konnte, wie man durch Kreislinien<br />

begrenzte Figuren quadrieren kann. Hippokrates hat<br />

verschie<strong>de</strong>ne Typen Möndchen quadriert. Eine seiner<br />

Möndchen Konstruktionen nutzt <strong>de</strong>n Umstand aus,<br />

dass beim rechtwinkligen Dreieck die Summe <strong>de</strong>r<br />

Halbkreise über <strong>de</strong>n Katheten gleich <strong>de</strong>m Halbkreis<br />

über <strong>de</strong>r Hypotenuse ist (s. Abb. 15). Klappt man nun<br />

<strong>de</strong>n Halbkreis <strong>de</strong>r Hypotenuse nach oben, so liegt das<br />

Dreieck innerhalb <strong>de</strong>s Halbkreises (s. Abb. 16). Es<br />

wer<strong>de</strong>n nun <strong>de</strong>r Halbkreis über <strong>de</strong>r Hypotenuse und die<br />

Summe <strong>de</strong>r Halbkreise über <strong>de</strong>n Katheten jeweils um<br />

die i<strong>de</strong>ntische, grau markierte Fläche vermin<strong>de</strong>rt. Es<br />

resultieren zwei Möndchen, die flächengleich zu einem<br />

rechtwinkligen Dreieck sind. Dieses Dreieck war<br />

einfach quadrierbar, <strong>de</strong>r Weg zur Quadratur <strong>de</strong>r Möndchen<br />

damit frei.<br />

Abbildung 16: Die Summe <strong>de</strong>r<br />

Möndchen (gelb und blau) ist gleich<br />

<strong>de</strong>m rechtwinkligen Dreieck<br />

Hippokrates fand fünf verschie<strong>de</strong>ne Typen<br />

quadrierbarer Möndchen (…). Die Ent<strong>de</strong>ckung<br />

war so populär, daß eine entsprechen<strong>de</strong> Schrift<br />

von Hippokrates teilweise überliefert wor<strong>de</strong>n ist.<br />

Dieses Fragment ist das älteste authentische<br />

Stück griechischer <strong>Mathematik</strong>. 58<br />

Hippokrates hoffte wohl, die Quadratur <strong>de</strong>r Möndchen<br />

sei ein erster Schritt in Richtung Quadratur <strong>de</strong>s<br />

Kreises. Diese Hoffnung hat sich so aber nicht erfüllt.<br />

Die Quadratur <strong>de</strong>s Kreises erfolgte auf gänzlich<br />

an<strong>de</strong>ren Wegen.<br />

Wesentlich fruchtbarer war sein Beitrag zum <strong>de</strong>lischen<br />

Problem: Zwar konnte er das <strong>de</strong>lische Problem nicht lösen, aber Hippokrates zeigte, dass,<br />

wenn es gelingt zu einer Strecke mit <strong>de</strong>r Länge a zwei mittlere Proportionale x und y zu<br />

fin<strong>de</strong>n, so dass a : x = x : y = y : 2a, dass dann x 3 = 2a 3 gilt. Ein Würfel mit einer solchen<br />

Basis-Länge x hat also das doppelte Volumen eines Würfels mit <strong>de</strong>r Basis-Länge a. Ein<br />

wertvoller Hinweis, <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>re Geometer erfolgreich aufzugreifen wussten.<br />

So knüpfen sowohl die hier weiter hinten dargestellte Lösung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>lischen Problems<br />

durch Menaichmos, wie die (hier nicht näher diskutierte) Lösung <strong>de</strong>s Archytas unmittelbar<br />

an dieses Resultat von Hippokrates an.<br />

57 Helmuth Gericke: <strong>Mathematik</strong> in Antike, Orient und Abendland. Wiesba<strong>de</strong>n: Matrix Verlag 2005. S. 99<br />

58 Hans Wußing: Vorlesungen zur Geschichte <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong>.Frankfurt: Harri Deutsch Verlag 2008. S. 47<br />

-32-<br />

Abbildung 15: Im rechtwinkligen<br />

Dreieck ist die Summe <strong>de</strong>r<br />

Halbkreise über <strong>de</strong>n Katheten gleich<br />

<strong>de</strong>m Halbkreis über <strong>de</strong>r Hypotenuse


Archytas von Tarent – Eine Ära geht zu En<strong>de</strong><br />

Archytas (ca. 428 – 365<br />

v.Chr.) ist <strong>de</strong>r letzte<br />

be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> <strong>Mathematik</strong>er<br />

<strong>de</strong>r ionischen Perio<strong>de</strong> und<br />

zugleich <strong>de</strong>r letzte<br />

be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Pythagoreer<br />

(zumin<strong>de</strong>st wenn man von<br />

Neu-Pythagoreern aus einer<br />

<strong>de</strong>utlich späteren Zeit<br />

absieht). Die Vielseitigkeit<br />

seiner Talente und Leistungen<br />

kann einen mo<strong>de</strong>rnen<br />

Mitteleuropäer nur <strong>vor</strong><br />

Neid erbleichen lassen:<br />

Abbildung 17: Tarent, die süditalienische Heimat von Archytas<br />

Die Vielseitigkeit dieses ausseror<strong>de</strong>ntlichen süditalienischen Doriers ist sogar für<br />

seine Zeit unerreicht. Er hat durch eine raffiniert ausgeklügelte stereometrische<br />

Konstruktion das berühmte Delische Problem, die Würfelverdoppelung, gelöst. Er<br />

hat nicht nur im Rahmen seiner Musiktheorie Sätze über Zahlenproportionen und<br />

Ungleichheiten über die drei Mittel (arithmetisches, geometrisches, harmonisches<br />

Mittel; NF) hergeleitet, son<strong>de</strong>rn das ganze Buch VIII <strong>de</strong>r Elemente mit seiner<br />

arithmetischen Theorie <strong>de</strong>r stetigen Proportion, <strong>de</strong>r ähnlichen Zahlen usw. ist<br />

grösstenteils sein Werk. Auch zur Theorie <strong>de</strong>r irrationalen Größen (<strong>de</strong>r inkommensurablen<br />

Größen; NF) hat er einen wichtigen Beitrag geliefert. PTOLEMAIOS nennt ihn<br />

mit Recht <strong>de</strong>n be<strong>de</strong>utendsten pythagoreischen Musiktheoretiker, hat er doch nicht<br />

nur durch systematische Anwendung <strong>de</strong>s arithmetischen und <strong>de</strong>s harmonischen<br />

Mittels die Zahlenverhältnisse <strong>de</strong>r neuen Tonleitern, die zu seiner Zeit Mo<strong>de</strong><br />

wur<strong>de</strong>n, ausgerechnet, son<strong>de</strong>rn er hat auch die zahlentheoretische Grundlage <strong>de</strong>r<br />

Musiktheorie gelegt, die wir in <strong>de</strong>r Sectio canonis <strong>de</strong>s EUKLEIDES fin<strong>de</strong>n. Auch über<br />

<strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>n Wissenschaften und über die physikalische Natur<br />

<strong>de</strong>r Töne hat er nachgedacht. Er war nach DIOGENES LAERTIUS, Buch VIII, 79-83, <strong>de</strong>r<br />

erste, <strong>de</strong>r eine systematische Behandlung <strong>de</strong>r Mechanik auf mathematischer<br />

Grundlage gab. Nach VITRUVIUS schrieb er über Maschinen, und er hat auch selbst<br />

Maschinen entworfen: eine fliegen<strong>de</strong> Taube aus Holz und eine Rassel für Kin<strong>de</strong>r. Er<br />

war sehr befreun<strong>de</strong>t mit PLATON, <strong>de</strong>r hauptsächlich durch ihn in die exakten<br />

Wissenschaften und die Philosophie <strong>de</strong>r Pythagoreer eingeweiht wur<strong>de</strong>. In seiner<br />

Vaterstadt Tarent war er als Staatsmann hoch angesehen: Sieben Jahre wur<strong>de</strong> er<br />

immer wie<strong>de</strong>r zum Strategen (militärischen Befehlshaber; NF) gewählt, obwohl das<br />

Gesetz nur eine einjährige Amtszeit erlaubte, und er hat keine Schlacht verloren.<br />

Unter <strong>de</strong>m Deckmantel <strong>de</strong>r Demokratie verstand er es, nach<strong>de</strong>m seine Freun<strong>de</strong>, die<br />

aristokratischen Pythagoreer, aus Italien vertrieben wor<strong>de</strong>n waren, eine<br />

halbautokratische Regierung aufrechtzuerhalten. Mit einem Brief an DIONYSIOS, <strong>de</strong>n<br />

Tyrannen von Syrakus, <strong>de</strong>r PLATON gefangenhielt, rettete er, wie man sagt, <strong>de</strong>ssen<br />

Leben. 59<br />

Angesichts dieser Vielzahl an Talenten und <strong>de</strong>s Umfangs seiner Leistungen ist es natürlich<br />

verwegen, wenn sich dann in <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne ein einzelner Wissenschaftler aufmacht,<br />

um das Werk <strong>de</strong>s Archytas neu zu erobern. Und so ist es auch nicht verwun<strong>de</strong>rlich, wenn<br />

in <strong>de</strong>r ersten Ausgabe von Diels Fragmente <strong>de</strong>r Vorsokratiker <strong>de</strong>r Versuch, <strong>de</strong>m Leser die<br />

Lösung <strong>de</strong>s Archytas zum <strong>de</strong>lischen Problem zu erschließen, etwas misslingt. 60 Aber auch<br />

ein solches Multitalent wie Archytas hat seine Schwächen. Bei <strong>de</strong>r Diskussion <strong>de</strong>r<br />

59 B.L. van <strong>de</strong>r Waer<strong>de</strong>n: Erwachen<strong>de</strong> Wissenschaft. Bd. 1. Basel, Stuttgart: Birkhäuser Verlag 1956. S. 247f<br />

60 Vgl. hierzu auch: Erwin Schrödinger: Die Natur und die Griechen. Hamburg. Rowohlt 1956. S. 59f [Ja, das ist jener<br />

Schrödinger mit <strong>de</strong>r Schrödinger-Gleichung und <strong>de</strong>m Nobelpreis in Physik; schönes Büchlein zur Vorsokratik.]<br />

-33-


technischen Qualität <strong>de</strong>r von Archytas stammen<strong>de</strong>n Beweise in Buch VIII <strong>de</strong>r Elemente<br />

vergibt v. Waer<strong>de</strong>n überaus schlechte Noten:<br />

Wir sehen also, dass ARCHYTAS in Buch VIII, wie in seinen an<strong>de</strong>ren erhaltenen<br />

Fragmenten, fortwährend mit <strong>de</strong>r Logik ringt, wie er sich die größte Mühe<br />

gibt, ihre strengen For<strong>de</strong>rungen zu erfüllen, jedoch ohne Erfolg. (...)<br />

Als ARISTOTELES die Regeln <strong>de</strong>r Logik zusammenstellte, kodifizierte er damit die<br />

Regelmäßigkeiten, die er in <strong>de</strong>n Schlüssen <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong>er und Philosophen<br />

antraf. Seine Beispiele entnimmt er grösstenteils <strong>de</strong>n mathematischen<br />

Lehrbüchern seiner Zeit. Es dürfte klar sein, dass sich die mathematischen<br />

Lehrbücher in ihrer Logik nach <strong>de</strong>m Beispiel <strong>de</strong>r Abhandlungen <strong>de</strong>r grossen<br />

<strong>Mathematik</strong>er richten, nicht umgekehrt. Daraus folgt, dass das Denken <strong>de</strong>r<br />

griechischen <strong>Mathematik</strong>er schon lange <strong>vor</strong> ARISTOTELES sehr strengen<br />

Anfor<strong>de</strong>rungen an Exaktheit genügt haben muss. Wir haben also in <strong>de</strong>r<br />

mangelhaften Logik <strong>de</strong>s ARCHYTAS ein ausgesprochen persönliches Merkmal<br />

dieses sonst so ausgezeichneten <strong>Mathematik</strong>ers zu erblicken. 61<br />

Zurück zum <strong>de</strong>lischen Problem: Auf die Schil<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r verwickelten geometrischen<br />

Konstruktion, mit <strong>de</strong>r Archytas die Verdoppelung <strong>de</strong>s Würfels gelingt, wird hier verzichtet.<br />

Es wird später die Lösung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>lischen Problems von Menaichmos <strong>vor</strong>gestellt (eine weitere<br />

Lösung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>lischen Problems stammt von Eudoxos, einem Schüler <strong>de</strong>s Archytas).<br />

Unabhängig von <strong>de</strong>n Details <strong>de</strong>r Ausführung ist an <strong>de</strong>r Archytas Lösung interessant, dass<br />

sich <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong> Pythagoreer <strong>de</strong>r damaligen Zeit bei seinen Konstruktionen nicht durch<br />

das I<strong>de</strong>al von Zirkel und Lineal beschränken lässt. Um zum Erfolg zu gelangen, greift<br />

Archytas auf geometrische Konstruktionen zurück, die nicht allein durch Zirkel und Lineal<br />

erzeugbar sind. Und Archytas steht mit dieser Haltung nicht allein dar. Eine allgemein<br />

akzeptierte, dogmatische Beschränkung auf Zirkel und Lineal als Konstruktionsmittel <strong>de</strong>r<br />

Geometrie, hat es offensichtlich damals nicht gegeben.<br />

Es sind meist sogenannte mechanische Konstruktionen mit <strong>de</strong>nen man die bei Zirkel und<br />

Lineal <strong>vor</strong>han<strong>de</strong>nen Grenzen überschreitet. Man versetzt geometrische Objekte in<br />

Bewegung, läßt sie (eventuell <strong>vor</strong> <strong>de</strong>m Hintergrund an<strong>de</strong>rer geometrischer Objekte)<br />

lineare Bewegungen ausführen o<strong>de</strong>r sich um einen Punkt bzw. eine Achse drehen. Man<br />

betrachtet dabei zurückgelegte Bahnen, Schnittpunkte, Schnittlinien o<strong>de</strong>r Schnittflächen.<br />

Solche mechanische Konstruktionen sind in <strong>de</strong>r Antike das gängige Gegenstück zu <strong>de</strong>n<br />

heute üblichen Definitionen geometrischer Objekte durch Gleichungen o<strong>de</strong>r Funktionen.<br />

Mo<strong>de</strong>rn wissen wir, dass je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r beim Problem <strong>de</strong>r Würfelverdopplung (o<strong>de</strong>r einem<br />

an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>r drei klassischen Probleme) Erfolg haben will, gegen das I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r allein mit<br />

Zirkel und Lineal ausführbaren Konstruktionen verstoßen muss. In <strong>de</strong>r Antike konnte man<br />

dies so <strong>de</strong>utlich nicht wissen. Und so sieht sich Platon, <strong>de</strong>r sich als philosophischer Mentor<br />

<strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> versteht, (laut Plutarch) dazu aufgerufen, hier Kritik zu üben:<br />

Platon selbst ta<strong>de</strong>lte die Leute um EUDOXOS und ARCHYTAS und MENAICHMOS, weil<br />

sie es unternommen hatten, die Würfelverdopplung auf mechanische<br />

Einrichtungen zurückzuführen, wie wenn es nicht möglich wäre, für <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />

es ernsthaft versucht, rein theoretisch zwei mittlere Proportionale zu fin<strong>de</strong>n<br />

(zur Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r mittleren Proportionale beim <strong>de</strong>lischen Problem, siehe <strong>de</strong>n<br />

Abschnitt zu Hippokrates; NF). Dadurch wird nämlich das Gute an <strong>de</strong>r<br />

Geometrie zugrun<strong>de</strong> gerichtet und zerstört, in<strong>de</strong>m diese sich wie<strong>de</strong>r zum<br />

Sinnlichen zurückwen<strong>de</strong>t, statt sich nach oben zu erheben und die ewigen,<br />

unkörperlichen Bil<strong>de</strong>r zu erfassen, bei <strong>de</strong>nen verweilend Gott ewig Gott ist. 62<br />

Viel Pathos, aber nur mit Zirkel und Lineal, ohne mechanische Konstruktionen (o<strong>de</strong>r<br />

ähnliche Tricks), lassen sich die gesuchten mittleren Proportionalen nicht bestimmen.<br />

61 B.L. van <strong>de</strong>r Waer<strong>de</strong>n: Erwachen<strong>de</strong> Wissenschaft. Bd. 1. Basel, Stuttgart: Birkhäuser Verlag 1956. S. 255f<br />

62 Plutarch: Quaestiones convivales. 8,2,1; 718. Zitiert nach B.L. van <strong>de</strong>r Waer<strong>de</strong>n: Erwachen<strong>de</strong> Wissenschaft. Bd. 1.<br />

Basel, Stuttgart: Birkhäuser Verlag 1956. S. 267f<br />

-34-


Eudoxos von Knidos: Exhaustion und Proportionenlehre<br />

Der Archytas-Schüler Eudoxos (ca. 408 – 347<br />

v.Chr.) war <strong>de</strong>r be<strong>de</strong>utendste <strong>vor</strong>euklidische<br />

<strong>Mathematik</strong>er. Mit <strong>de</strong>r Bezeichnung <strong>Mathematik</strong>er<br />

allein wird man <strong>de</strong>n Leistungen <strong>de</strong>s Eudoxos<br />

allerdings nicht ganz gerecht. Er eiferte in puncto<br />

Vielseitigkeit offensichtlich seinem Lehrer Archytas<br />

nach. Eudoxos besaß eine Ausbildung als Arzt, hat<br />

Beiträge zur Geografie verfasst, hat entschei<strong>de</strong>nd an<br />

<strong>de</strong>r Gesetzgebung seiner Heimatstadt Knidos<br />

mitgewirkt und schuf in <strong>de</strong>r Astronomie das für die<br />

aristotelische Kosmologie grundlegen<strong>de</strong> Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r<br />

Bewegung <strong>de</strong>r Himmelskörper (rotieren<strong>de</strong> homozentrische<br />

Kugeln 63 ). Er leitete in <strong>de</strong>r am Marmarameer<br />

gelegenen Stadt Kyzikos eine wissen-<br />

schaftliche Schule, wobei er sich als Philosoph, Astronom und <strong>Mathematik</strong>er profilierte.<br />

Später hat er einige Zeit an Platons Aka<strong>de</strong>mie in Athen verbracht und dort Platon<br />

(während <strong>de</strong>ssen 2. Sizilien-Reisen) als Leiter <strong>de</strong>r Aka<strong>de</strong>mie vertreten. 64 Eudoxos starb<br />

etwa 347 v.Chr. in seiner Geburtsstadt Knidos.<br />

Obwohl er ein Schüler von Archytas war, ist Eudoxos kein Pythagoreer. Die 1 ist für ihn<br />

eine gewöhnliche natürliche Zahl und besitzt keinerlei Son<strong>de</strong>rstatus. Darüber hinaus ist<br />

Eudoxos, im Gegensatz zur pythagoreischen Tradition, kein Freund <strong>de</strong>r Zahlenmystik.<br />

Auch ansonsten hielt er nichts von magischem Denken, Okkultem o<strong>de</strong>r Mystischem.<br />

He was a man of science if there ever was one. No occult or superstitious lore<br />

appealed to him; 65<br />

Eudoxos und das Buch XII <strong>de</strong>r Elemente<br />

Nach antiken Quellen ist davon auszugehen, dass ein wesentlicher Teil <strong>de</strong>r im Buch XII<br />

<strong>de</strong>r Elemente <strong>vor</strong>gestellten Sätze ursprünglich von Eudoxos<br />

bewiesen wur<strong>de</strong>. Das Thema von Buch XII <strong>de</strong>r Elemente lautet<br />

Stereometrie, han<strong>de</strong>lt also von räumlichen Objekten. Es<br />

beschäftigt sich mit Pyrami<strong>de</strong>n, Prismen, Zylin<strong>de</strong>rn, Kegeln und<br />

Kugeln.<br />

Abb. 19: Der Kegel hat<br />

ein Drittel <strong>de</strong>s Volumens<br />

<strong>de</strong>s umschreiben<strong>de</strong>n<br />

Zylin<strong>de</strong>rs<br />

Das Volumen <strong>de</strong>s Kegels<br />

Zu <strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Antike beson<strong>de</strong>rs gewürdigten Leistungen <strong>de</strong>s<br />

Eudoxos gehört <strong>de</strong>r Beweis zur Volumensbestimmung <strong>de</strong>s<br />

Kegels: Der Kegel hat ein Drittel <strong>de</strong>s Volumens <strong>de</strong>s<br />

umschreiben<strong>de</strong>n Zylin<strong>de</strong>rs (vgl. Abb. 19).<br />

Wie wir von Archime<strong>de</strong>s (287 -212 v.Chr.) wissen, wur<strong>de</strong> die<br />

Tatsache, dass ein Kegel ein Drittel <strong>de</strong>s Volumens <strong>de</strong>s<br />

umschreiben<strong>de</strong>n Zylin<strong>de</strong>rs hat, bereits von <strong>de</strong>m für seinen<br />

antiken Atomismus bekannten Demokrit von Ab<strong>de</strong>ra (ca. 460 -<br />

370 v.Chr.) vermutet, aber eben erst von Eudoxos bewiesen.<br />

Die antiken Griechen machten nicht nur bereits einen <strong>de</strong>utlichen<br />

Unterschied zwischen einer bloßen Vermutung und einem<br />

63 Siehe hierzu auch: Eudoxos & <strong>Co</strong>. – Die Anfänge <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Astronomie unter www.antikegriechische.<strong>de</strong>/Eudoxos.pdf<br />

64 Dass Eudoxos Platon als Aka<strong>de</strong>mie-Leiter während einer von <strong>de</strong>ssen Sizilien-Reisen vertreten hat, wird allerdings<br />

von einigen Autoren angezweifelt (vgl. z.B. Lasserre: Die Fragmente <strong>de</strong>s Eudoxos von Knidos).<br />

65 Thomas Heath: A History of Greek Mathematics. Volume I. New York: Dover Publications 1981. S. 323<br />

-35-<br />

Abbildung 18: Die Wirkungsstätten <strong>de</strong>s<br />

Eudoxos von Knidos


ewiesenen Satz, son<strong>de</strong>rn sie wussten dabei auch die Be<strong>de</strong>utung wegweisen<strong>de</strong>r<br />

Vermutungen zu würdigen. Siehe hierzu das folgen<strong>de</strong> Archime<strong>de</strong>s Zitat:<br />

Das ist ein Grund, weshalb wir im Falle <strong>de</strong>r Sätze, <strong>de</strong>ren Beweis Eudoxus zuerst<br />

gefun<strong>de</strong>n hat, nämlich daß <strong>de</strong>r Kegel <strong>de</strong>r dritte Teil <strong>de</strong>s Zylin<strong>de</strong>rs und die Pyrami<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>s Prismas ist, die dieselbe Grundfläche und Höhe haben, Demokrit keinen<br />

geringeren Anteil <strong>de</strong>s Verdienstes zuerkennen müssen, <strong>de</strong>r zuerst über die<br />

genannte Figur <strong>de</strong>n Ausspruch getan hat, obwohl er ihn nicht bewiesen hat. (Brief<br />

von Archime<strong>de</strong>s an Eratosthenes) 66<br />

Die Exhaustionsmetho<strong>de</strong><br />

Zu <strong>de</strong>n Verdiensten von Eudoxos zählt auch, dass er die für <strong>Mathematik</strong> so überaus<br />

wichtige Exhaustionsmetho<strong>de</strong> entschei<strong>de</strong>nd <strong>vor</strong>an gebracht hat. 67<br />

In ihrer aller einfachsten Form besteht Exhaustion (Ausschöpfung) darin, dass man die<br />

Fläche bzw. das Volumen einer gegebenen Figur in endlich viele (berechenbare)<br />

Teilfiguren zerlegt und dann die Fläche bzw. das Volumen <strong>de</strong>r Ausgangsfigur durch<br />

Addition <strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong>n Werte <strong>de</strong>r Teilfiguren ermittelt.<br />

Abbildung 20: Die Bildung<br />

immer weiter verfeinerter<br />

Ober- und Untersummen am<br />

Beispiel <strong>de</strong>s Kreises<br />

Kann man eine Figur nicht vollständig in berechenbare<br />

Teilfiguren zerlegen, dann kann man aber (meist) wenigstens<br />

Ober- und Untersummen als brauchbare Näherungen an <strong>de</strong>n<br />

gesuchten Werten bestimmen. So konnte man in <strong>de</strong>r Antike<br />

schon früh einen Kreis von innen wie außen durch<br />

regelmäßige Polygone nähern. Dabei kann man zu immer<br />

höheren Polygonen übergehen und so sowohl mit Ober- wie<br />

Untersummen (<strong>de</strong>n Flächen <strong>de</strong>r äußeren wie inneren<br />

Polygone) die Kreisfläche immer besser nähern (s. Abb. 20).<br />

Eine solche Technik <strong>de</strong>r Abschätzung durch Ober- unter Untersummen wird ebenfalls<br />

Exhaustionsmetho<strong>de</strong> genannt. Archime<strong>de</strong>s hat so z.B. sehr brauchbare Abschätzungen<br />

für π gewonnen.<br />

Abbildung 21: Typische<br />

Schemaskizze zur Ober- und<br />

Untersumme bei <strong>de</strong>r Integration<br />

von Funktionen<br />

entwickelt. Dies Verdienst kommt Newton und Leibniz zu.]<br />

[Ausgehend von <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Ober- und Untersummen,<br />

kann man übrigens sehr schnell die Anfänge <strong>de</strong>r<br />

Integralrechnung entwickeln. Man verfeinert die Ober- und<br />

Untersummen dabei nicht nur immer weiter, son<strong>de</strong>rn<br />

bestimmt die Grenzwerte <strong>de</strong>r Ober- und Untersummen.<br />

Existieren Grenzwerte für Ober- und Untersummen und<br />

stimmen sie überein, so ist dieser gemeinsame Grenzwert<br />

<strong>de</strong>r gesuchte Wert: Die Fläche unter <strong>de</strong>m<br />

Funktionsgraphen. Jedoch: Bei allen Verdiensten <strong>de</strong>r<br />

Antike, die Integralrechnung hat man dort aber noch nicht<br />

Eudoxos kennt keinen Grenzwertbegriff und trotz<strong>de</strong>m ist es ihm gelungen, mit <strong>de</strong>r<br />

Exhaustionsmetho<strong>de</strong> exakte Lösungen und nicht nur Abschätzungen o<strong>de</strong>r Näherungen zu<br />

bestimmen. Insbeson<strong>de</strong>re hat er die Exhaustionsmetho<strong>de</strong> beim Beweis zur<br />

Volumensformel für Kegel genutzt.<br />

Im Anschluss an Demokrit vermutete er, dass <strong>de</strong>r Kegel das Volumen von einem Drittel<br />

<strong>de</strong>s umschreiben<strong>de</strong>n Zylin<strong>de</strong>rs hat. Im bei <strong>Euklid</strong> überlieferten Beweis (Elemente,<br />

66 Brief von Archime<strong>de</strong>s an Eratosthenes, zitiert nach: Károly Simonyi: Kulturgeschichte <strong>de</strong>r Physik. Frankfurt am<br />

Main: Harri Deutsch Verlag, 3. Auflage, 2001. S. 96<br />

67 Erste Ansätze zum mathematisch produktiven Einsatz <strong>de</strong>r Exhaustionsmetho<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n gern <strong>de</strong>m Sophisten<br />

Antiphon (einem Zeitgenossen von Sokrates) zugeschrieben. Zu dieser Zuschreibung vgl.: Thomas Heath: A<br />

History of Greek Mathematics. Volume I. New York: Dover Publications 1981. S. 221ff<br />

-36-


Buch XII, Satz 10) wird diese Aussage zunächst umformuliert in: Der einschlägige Zylin<strong>de</strong>r<br />

ist dreimal so groß wie <strong>de</strong>r betrachtete Kegel. Dann wird (durch indirekten Beweis)<br />

gezeigt,<br />

a) dass das Volumen <strong>de</strong>s Zylin<strong>de</strong>rs nicht größer sein kann als 3 Kegel, da ansonsten<br />

bei <strong>de</strong>r Betrachtung einschlägiger Ober- und Untersummen ein Wi<strong>de</strong>rspruch<br />

entstün<strong>de</strong>,<br />

b) dass das Volumen <strong>de</strong>s Zylin<strong>de</strong>rs nicht kleiner sein kann als 3 Kegel, da ansonsten<br />

bei <strong>de</strong>r Betrachtung einschlägiger Ober- und Untersummen ebenfalls ein<br />

Wi<strong>de</strong>rspruch entstün<strong>de</strong>.<br />

Also muss ein Zylin<strong>de</strong>r das Volumen von genau drei Kegeln besitzen. Also besitzt ein<br />

Kegel ein Drittel <strong>de</strong>s Volumens <strong>de</strong>s umschreiben<strong>de</strong>n Zylin<strong>de</strong>rs.<br />

Diese Beweistechnik hat in <strong>de</strong>r Antike großen Eindruck gemacht. Man kann mittels<br />

indirekter Beweise Betrachtungen zu Ober- und Untersummen dazu benutzen, um exakte<br />

Resultate zu erzielen. Archime<strong>de</strong>s entwickelt diese eudoxische Technik <strong>de</strong>r Exhaustionsmetho<strong>de</strong><br />

später bis zur Perfektion. Archime<strong>de</strong>s konnte damals so Resultate erzielen, für<br />

die wir heute (für gewöhnlich) die Integralrechnung bemühen.<br />

Mit <strong>de</strong>m Umstand, dass diese Beweistechnik <strong>de</strong>s Eudoxos „Exhaustionsmetho<strong>de</strong>“ genannt<br />

wird, sind aber nicht alle glücklich:<br />

Nach <strong>de</strong>r Aussage von Archime<strong>de</strong>s war (…) Eudoxos <strong>de</strong>r erste, <strong>de</strong>r exakte<br />

Beweise für die zuerst von Demokrit von Ab<strong>de</strong>ra (460-371) durch atomistischheuristische<br />

Überlegungen gefun<strong>de</strong>nen Sätze gab, wonach das Volumen einer<br />

Pyrami<strong>de</strong> bzw. eines Kreiskegels ein Drittel <strong>de</strong>s Volumens einer bzw. eines<br />

Kreiskegels ein Drittel <strong>de</strong>s Volumens <strong>de</strong>s über <strong>de</strong>r gleichen Grundfläche mit<br />

gleicher Höhe errichteten Prismas bzw. Zylin<strong>de</strong>rs ist. Diese Sätze gingen in<br />

Buch XII <strong>de</strong>r Elemente <strong>Euklid</strong>s ein. Die Metho<strong>de</strong> ihres indirekten Beweises<br />

(man zeigt, daß die bei<strong>de</strong>n Annahmen, das Volumen sei kleiner o<strong>de</strong>r größer als<br />

<strong>de</strong>r behauptete Wert, auf Wi<strong>de</strong>rsprüche führen) wur<strong>de</strong> später wenig glücklich<br />

als Exhaustionsmetho<strong>de</strong> (Exhaustion svw. Ausschöpfung) bezeichnet, obwohl<br />

diese Bezeichnung viel eher auf die heuristische Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Demokrit<br />

zutrifft, <strong>de</strong>r die zu berechnen<strong>de</strong>n Körper von innen durch einen Körper aus<br />

vielen dünnen Scheiben annähert (ausschöpft). 68<br />

Ich fin<strong>de</strong> die Bezeichnung Exhaustionsmetho<strong>de</strong> hier nicht ganz so unglücklich, aber das ist<br />

Geschmackssache.<br />

Die Proportionenlehre <strong>de</strong>s Eudoxos<br />

Die Proportionenlehre von Eudoxos kennen wir <strong>vor</strong> allen Dingen aus Buch V von <strong>Euklid</strong>s<br />

Elementen. 69 Vor das Problem gestellt, dass die antike Arithmetik nicht ausdrucksstark<br />

genug war, um alle in <strong>de</strong>r Geometrie konstruierbaren Größenverhältnisse beschreiben zu<br />

können, ersann Eudoxos die in <strong>de</strong>n Elementen referierte Proportionenlehre. Sie soll<br />

Größenverhältnisse (Proportionen) auch dort noch erfassen können, wo die (antike)<br />

Arithmetik versagt. Die Proportionenlehre war die ganze Antike hindurch ein wichtiges<br />

Hilfsmittel.<br />

The anonymous author of a scholium (scholium = Randnotiz in einer antiken<br />

Handschrift; NF) to Euclid‘s Book V, who is perhaps Proclus, tells us that<br />

`some say‘ that this Book, containing the general theory of proportion which is<br />

equally appicable to geometry, arithmetic and all mathematical science, `is the<br />

discovery of Eudoxos, the teacher of Plato‘. 70<br />

68 Peter Schreiber: <strong>Euklid</strong>. BSB Teubner: Leipzig 1987. S. 18<br />

69 Eine sehr knappe Zusammenfassung dieser Proportionenlehre fin<strong>de</strong>t man in <strong>Euklid</strong> und die Elemente unter<br />

www.antike-griechische.<strong>de</strong>/<strong>Euklid</strong>.pdf im Abschnitt zu Buch V <strong>de</strong>r Elemente. Eine etwas ausführlichere<br />

Diskussion <strong>de</strong>r Proportionenlehre fin<strong>de</strong>t man in: http://www.mi.uni-erlangen.<strong>de</strong>/~geyer/geschich/euklid.ps.<br />

70 Thomas Heath: A History of Greek Mathematics. Volume I. New York: Dover Publications 1981. S. 325<br />

-37-


Eudoxos hat also die Proportionentheorie entwickelt, um auch dann noch<br />

Größenverhältnisse (Proportionen) betrachten zu können, wenn diese sich nicht durch<br />

Quotienten natürlicher Zahlen (positive Bruchzahlen) beschreiben lassen. (Die Details<br />

dieser sehr abstrakten Theorie wer<strong>de</strong>n hier übergangen.)<br />

Heute verwen<strong>de</strong>n wir in solchen Fällen irrationale Zahlen (Beispiele dafür sind √2 o<strong>de</strong>r die<br />

Zahl , das Verhältnis von Kreisumfang zu Kreisdurchmesser). Irrationale Zahlen sind<br />

reelle Zahlen, die sich nicht als <strong>de</strong>r Quotient aus einer natürlichen und einer ganzen Zahl<br />

darstellen lassen (die also keine Bruchzahlen sind). Irrationale Zahlen haben eine niemals<br />

en<strong>de</strong>n<strong>de</strong>, niemals periodisch wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Dezimalbruchentwicklung und waren in <strong>de</strong>r Antike<br />

unbekannt.<br />

Die Proportionenlehre <strong>de</strong>s Eudoxos ist nicht so leistungsstark wie ein voll ausgereiftes<br />

Konzept <strong>de</strong>r reellen Zahlen (unter Einschluss <strong>de</strong>r irrationalen Zahlen). Sie reichte aber<br />

aus, um eine geometrische Ähnlichkeitslehre zu entwickeln. <strong>Euklid</strong> stellt in Buch VI <strong>de</strong>r<br />

Elemente eine auf <strong>de</strong>r Proportionenlehre <strong>de</strong>s Eudoxos fußen<strong>de</strong> Ähnlichkeitslehre <strong>vor</strong>.<br />

Ähnlich heißen dabei zwei Figuren dann, wenn sie in ihren Winkeln übereinstimmen und<br />

die jeweils gleiche Winkel umfassen<strong>de</strong>n Seiten dasselbe Größenverhältnis aufweisen<br />

(wenn diese Seiten in Proportion stehen, so die antike Formulierung).<br />

Eine grundlegen<strong>de</strong> Sanierung <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Antike wahrgenommenen begrenzten<br />

Ausdrucksstärke <strong>de</strong>r Arithmetik fin<strong>de</strong>t erst im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt statt (siehe De<strong>de</strong>kindsche<br />

Schnitte). Nun wer<strong>de</strong>n endlich auch irrationale Zahlen auf ein sicheres Fundament gestellt.<br />

Auch wenn Eudoxos die Leistung De<strong>de</strong>kinds nicht ganz erreichte, so verwen<strong>de</strong>t er bei<br />

seiner Proportionenlehre doch erstaunlich mo<strong>de</strong>rn wirken<strong>de</strong> Definitionen:<br />

Man sagt, daß Größen in <strong>de</strong>mselben Verhältnis stehen, die erste zur zweiten<br />

wie die dritte zur vierten, wenn bei beliebiger Vervielfältigung die<br />

Gleichvielfachen <strong>de</strong>r ersten und dritten <strong>de</strong>n Gleichvielfachen <strong>de</strong>r zweiten und<br />

vierten gegenüber, paarweise entsprechend genommen, entwe<strong>de</strong>r zugleich<br />

größer o<strong>de</strong>r zugleich gleich o<strong>de</strong>r zugleich kleiner sind;<br />

Und die dasselbe Verhältnis haben<strong>de</strong>n Größen sollen in Proportion stehend<br />

heißen; (<strong>Euklid</strong>: Elemente. Buch V, Definitionen) 71<br />

In Kommentierung dieser Stelle schreibt H. Wußing:<br />

Diese Definition <strong>de</strong>r Proportion benötigt ersichtlich keinerlei Voraussetzungen<br />

über die Kommensurabilität <strong>de</strong>r Größen. Zugleich ist sie geeignet, alle<br />

bekannten Sätze über Proportionen beweisen zu können, eine Leistung, die es<br />

gestattet, die Verbindung zwischen <strong>de</strong>r geometrischen Algebra, <strong>de</strong>r<br />

Proportionenlehre, <strong>de</strong>r Ähnlichkeitslehre einerseits und einer das<br />

Inkommensurable, Irrationale umfassen<strong>de</strong>n Größenlehre an<strong>de</strong>rerseits in<br />

mathematisch korrekter Weise herzustellen. Doch war es noch ein weiter Weg<br />

bis zum Begriff <strong>de</strong>r Irrationalzahl. 72<br />

Zum Abschluss dieses Abschnitts noch eine Bemerkung: In Zusammenhang mit Eudoxos<br />

taucht immer wie<strong>de</strong>r die Frage auf, ob man das sogenannte archimedische Axiom nicht<br />

eigentlich in Axiom <strong>de</strong>s Eudoxos umbenennen müsste. Nun, Eudoxos hat das sogenannte<br />

archimedische Axiom unzweifelhaft schon benutzt, aber wahrscheinlich war auch er nicht<br />

<strong>de</strong>r erste. 73 Wollen wir <strong>de</strong>nn wirklich die mathematischen Bezeichnungen solcher<br />

altehrwürdigen Konzepte stets an <strong>de</strong>n aktuellen Stand <strong>de</strong>r mathematik-historischen<br />

Forschung anpassen?<br />

Man sollte an<strong>de</strong>re Mittel und Wege fin<strong>de</strong>n können, um <strong>de</strong>m Genie <strong>de</strong>s Eudoxos jene<br />

Würdigung zu Teil wer<strong>de</strong>n zu lassen, die es unzweifelhaft verdient.<br />

71 <strong>Euklid</strong>: Die Elemente. Hrsg. u. übersetzt von Clemens Thaer. Frankfurt a.M.: Harri Deutsch, 3. Aufl. 1997, S. 91<br />

72 Hans Wußing: 6000 Jahre <strong>Mathematik</strong>. Bd 1. Berlin Hei<strong>de</strong>lberg: Springer Verlag 2008. S. 185<br />

73 Vgl. Helmuth Gericke: <strong>Mathematik</strong> in Antike, Orient und Abendland. Wiesba<strong>de</strong>n: Matrix Verlag 2005. S. 115f<br />

-38-


Theaitetos von Athen: Quadratische Irrationalitäten und<br />

reguläre Polye<strong>de</strong>r<br />

Der zweite be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> <strong>Mathematik</strong>er <strong>de</strong>r athenischen Perio<strong>de</strong>, Theaitetos (ca. 415 – 369<br />

v.Chr.), ist, wie Eudoxos auch, an <strong>de</strong>r Aka<strong>de</strong>mie tätig. Der dort als Platon Liebling hofierte<br />

Theaitetos ist für <strong>de</strong>n Großteil <strong>de</strong>s Inhalts von Buch X <strong>de</strong>r Elemente verantwortlich.<br />

Theaitetos vertieft hier das Thema Inkommensurabilität. Da, mo<strong>de</strong>rn gesehen, Inkommensurabilitäten<br />

immer dann entstehen, wenn Größenverhältnisse nur mittels irrationaler<br />

Zahlen beschreibbar sind, spricht man hier auch gern von <strong>de</strong>r durch Theaitetos <strong>vor</strong>genommenen<br />

Klassifikation <strong>de</strong>r Irrationalitäten. Und da bei dieser Klassifikation das Quadrat eine<br />

ganz beson<strong>de</strong>re Rolle spielt, ist auch quadratische Irrationalitäten eine gängige Charakterisierung<br />

von Buch X. Buch X umfasst ca. ¼ <strong>de</strong>s Gesamtvolumens <strong>de</strong>r Elemente. Daneben<br />

ist Theaitetos auch noch für große Teile von Buch XIII <strong>de</strong>r Elemente verantwortlich.<br />

Dieses beschäftigt sich hauptsächlich mit regulären Polye<strong>de</strong>rn (platonischen Körpern).<br />

Neben Eudoxos ist <strong>vor</strong> allem <strong>de</strong>r ebenfalls hoch begabte Theaitetos (…) zu<br />

erwähnen, <strong>de</strong>m Platon einen eigenen Dialog widmete. Zu seinen Schöpfungen<br />

gehört eine systematische Konstruktion <strong>de</strong>r quadratischen Irrationalitäten<br />

(Elemente X) und darauf gestützt, <strong>de</strong>r Existenzbeweis <strong>de</strong>r fünf regelmäßigen<br />

(o<strong>de</strong>r platonischen) Körper (Elemente XIII, wo auch nachgewiesen wird, daß es<br />

nicht mehr als fünf dieser Körper geben kann). 74<br />

Es ist schwierig eine bessere, knappe und dabei noch verständliche Charakterisierung <strong>de</strong>s<br />

Inhalts von Buch X <strong>de</strong>r Elemente als quadratische Irrationalitäten zu fin<strong>de</strong>n. Das Vorgehen<br />

von Theaitetos wird im Lexikon be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong>er wie folgt charakterisiert:<br />

Er wählte eine feste Ausgangsstrecke und unterteilt alle Strecken in solche,<br />

die mit ihr kommensurarabel und solche, die mit ihr inkommensurabel sind.<br />

Letztere zerfallen in die, die Seite eines Quadrates sind, <strong>de</strong>ssen Inhalt (...)<br />

ganzzahlig Vielfaches <strong>de</strong>s Quadrats <strong>de</strong>r Ausgangsstrecke ist (diese heißen in<br />

<strong>de</strong>r 2. Potenz kommensurabel), und jene die dieser Bedingung nicht genügen.<br />

Die Einteilung wur<strong>de</strong> auf Kubikwurzeln nichtkubischer natürlicher Zahlen<br />

übertragen. Theaitetos bewies die Irrationalität <strong>de</strong>r Quadratwurzel aus<br />

nichtquadratischen Zahlen und klassifizierte einige auch <strong>de</strong>m Quadrat nach<br />

inkommensurable Größen nach verschie<strong>de</strong>nen mittleren Proportionalen was<br />

u.a. auf Ausdrücke <strong>de</strong>r Gestalt a⋅b , a⋅b−b⋅a , ab führte. 75<br />

Vielleicht hilft ergänzend die Kurzcharakteristik von Heath. Er beschreibt das von<br />

Theaitetos stammen<strong>de</strong> Buch X <strong>de</strong>r Elemente wie folgt:<br />

Book X is perhaps the most remarkable, as it is the most perfekt in form, of all<br />

the Books of the Elements. It <strong>de</strong>als with irrationals, that is to say, irrational<br />

straight lines in relation to any particular straight line assumed as rational,<br />

and it investigates every possible variety of straiht lines which can be<br />

represented by a±b , where a, b are two commensurable lines. 76<br />

Beim anschaulich wesentlich besser zugänglichen Thema platonische Körper ist<br />

Theaitetos <strong>vor</strong> allem für die Sätze zu Oktae<strong>de</strong>r und Ikosae<strong>de</strong>r verantwortlich. Höchst wahrscheinlich<br />

hat erst Theaitetos diese bei<strong>de</strong>n Körper ent<strong>de</strong>ckt. Die an<strong>de</strong>ren drei regulären<br />

Polye<strong>de</strong>r (Tetrae<strong>de</strong>r, Würfel, Do<strong>de</strong>kae<strong>de</strong>r) waren schon früh <strong>de</strong>n Pythagoreern bekannt.<br />

Vielleicht hat sich Theaitetos durch seine Arbeiten zu regulären Polye<strong>de</strong>rn das auffällig<br />

beson<strong>de</strong>re Wohlwollen Platons erworben. Platon war von regulären Polye<strong>de</strong>rn fasziniert<br />

und hat sie zum Thema seiner Naturphilosophie gemacht. 77 Der Satz, dass es nur die fünf<br />

bekannten regulären Polye<strong>de</strong>r gibt, stammt übrigens ebenfalls von Theaitetos. Mit diesem<br />

Resultat en<strong>de</strong>t auch Buch XIII (und damit <strong>de</strong>r ganze Lehrtext Elemente).<br />

74 C.J. Scriba, P. Schreiber: 5000 Jahre Geometrie. Hei<strong>de</strong>lberg New York: Springer Verlag 2003. S. 39<br />

75 Aus <strong>de</strong>m Eintrag Theaitetos im Lexikon be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong>er. Bibliographisches Institut, Leipzig 1990<br />

76 Thomas Heath: A History of Greek Mathematics. Volume I. New York: Dover Publications 1981. S. 402<br />

77 Weil Platon regulären Polye<strong>de</strong>rn in seiner Philosophie eine beson<strong>de</strong>re Rolle zuwies, tragen sie heute seinen Namen.<br />

-39-


<strong>Euklid</strong> und die Lösung <strong>de</strong>r drei klassischen Probleme<br />

<strong>Euklid</strong> von Alexandria systematisierte <strong>de</strong>n Großteil <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r ionischen und athenischen<br />

Perio<strong>de</strong> gefun<strong>de</strong>nen Resultate und schuf so seine Elemente. 78 Natürlich war das Spektrum<br />

dieser Resultate viel umfangreicher als die etwa 2 bis 3 Dutzend Sätze, die hier als<br />

Beispiele für die Herausbildung <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> erwähnt wur<strong>de</strong>n. <strong>Euklid</strong>s<br />

Elemente präsentieren immerhin mehr als 450 Sätze.<br />

Am beeindruckendsten an <strong>Euklid</strong>s Elementen ist aber nicht ihr Umfang, son<strong>de</strong>rn die<br />

Systematik. Auch wenn es richtig ist, dass <strong>Euklid</strong> immer mal wie<strong>de</strong>r größere Teile an<strong>de</strong>rer<br />

Manuskripte beinahe unverän<strong>de</strong>rt in seine Elemente übernommen hat, so gibt es doch<br />

zumin<strong>de</strong>st beim Thema Planimetrie (die Geometrie <strong>de</strong>r Ebene und ebener Figuren) eine<br />

beeindrucken<strong>de</strong> Systematik.<br />

<strong>Euklid</strong> legt in seinen Elementen <strong>de</strong>n Grundstein für das Konzept <strong>de</strong>r axiomatischen<br />

Metho<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong>. Und er entschei<strong>de</strong>t sich dabei dafür, in <strong>de</strong>n geometrischen<br />

Beweisen nur Konstruktionen mit Zirkel und Lineal zuzulassen.<br />

In <strong>de</strong>r systematischen Grundlegung seiner Geometrie verwen<strong>de</strong>t <strong>Euklid</strong> fünf Postulate. Die<br />

Postulate 1 – 3 übersetzen dabei <strong>de</strong>n Gedanken <strong>de</strong>r mit Zirkel und Lineal durchführbaren<br />

Konstruktionen in Formulierungen einer antiken Axiomatik: 79<br />

Gefor<strong>de</strong>rt soll sein:<br />

1. Daß man von je<strong>de</strong>m Punkt nach je<strong>de</strong>m Punkt die Strecke ziehen kann,<br />

2. Daß man eine begrenzte gera<strong>de</strong> Linie zusammenhängend gera<strong>de</strong> verlängern<br />

kann,<br />

3. Daß man mit je<strong>de</strong>m Mittelpunkt und Abstand <strong>de</strong>n Kreis zeichnen kann, 80<br />

Da die Klasse <strong>de</strong>r durchführbaren Konstruktionen nicht durch die Einführung weiterer<br />

Postulate vergrößert wird, 81 dürfen in <strong>de</strong>n geometrischen Beweisen von <strong>Euklid</strong>s<br />

Elementen nur mit Zirkel und Lineal durchführbare Konstruktionen verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n.<br />

Die zulässigen Hilfsmittel Zirkel und Lineal sind dabei natürlich i<strong>de</strong>ale Gerätschaften. Von<br />

<strong>de</strong>n üblichen Beschränkungen entsprechen<strong>de</strong>r Gerätschaften aus <strong>de</strong>m Schreibwarenla<strong>de</strong>n<br />

sind sie befreit. Der Zirkel, <strong>de</strong>r bei <strong>Euklid</strong> gemeint ist, kennt keinen kleinstmöglichen<br />

und größtmöglichen Radius. Ebenso sind die gera<strong>de</strong>n Linien, die man mit <strong>de</strong>m Lineal<br />

ziehen kann, in ihrer Länge nicht beschränkt.<br />

Die Sprechweise „ist mit Zirkel und Lineal konstruierbar“ kann bei Bezug auf <strong>Euklid</strong>s<br />

Elemente als Metapher für „es wer<strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>r Konstruktion nur Objekte gemäß <strong>de</strong>n<br />

Postulaten 1 – 3 als konstruierbar (bzw. existent) <strong>vor</strong>ausgesetzt“ verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />

Weil <strong>Euklid</strong> die Wahl seiner Postulate am I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r allein mit Zirkel und Lineal durchführbaren<br />

Konstruktionen orientiert, konnte er die Resultate zu <strong>de</strong>n drei klassischen<br />

geometrischen Problemen <strong>de</strong>r Antike nicht in seine Elemente aufnehmen. Die dort gefun<strong>de</strong>nen<br />

Lösungen kommen nämlich in ihren Konstruktionen nicht mit Zirkel und Lineal aus.<br />

War <strong>Euklid</strong> Fan eines Zirkel-und-Lineal Purismus wie Platon? Das kann durchaus sein.<br />

Vielleicht wollte er aber auch einfach ausschließlich jene Resultate in seine Elemente aufnehmen,<br />

bei <strong>de</strong>nen es keine Kontroversen zur eingesetzten Beweistechnik gab. Bei einem<br />

Standard-Lehrtext, wie <strong>Euklid</strong> ihn wohl von Anfang an verfassen wollte, ist so etwas ja<br />

überaus sinnvoll. Zumin<strong>de</strong>st hat es <strong>de</strong>n Elementen nicht gescha<strong>de</strong>t.<br />

78 <strong>Euklid</strong> selbst hat zu seinen Elementen nur wenige neue Sätze beigesteuert. Er dürfte aber mehr als einmal dazu<br />

gezwungen gewesen sein, zu <strong>de</strong>n Sätzen neue, zu seiner Systematik passen<strong>de</strong> Beweise zu entwickeln.<br />

79 Die von <strong>Euklid</strong> gepflegte Unterscheidung zwischen Axiomen und Postulaten spielt heutzutage keine Rolle mehr.<br />

80 <strong>Euklid</strong>: Die Elemente. Hrsg. u. Übersetzer: Clemens Thaer. Frankfurt a.M.: Harri Deutsch, 3. Aufl. 1997. S. 2<br />

81 Das Postulat 4 verlangt, dass alle rechten Winkel einan<strong>de</strong>r gleich sind, das 5. und letzte Postulat ist das berühmte<br />

Parallelenaxiom. Die unter <strong>de</strong>r Rubrik „Axiome“ aufgeführten Voraussetzungen sind <strong>vor</strong>wiegend allgemeine<br />

logische Grundannahmen und haben mit Ausnahme von Axiom 7 und 9 (Was einan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ckt ist einan<strong>de</strong>r gleich. /<br />

Zwei Strecken umfassen keinen Flächenraum.) keinen speziellen geometrischen Bezug.<br />

-40-


Hippias von Ellis: Die Dreiteilung <strong>de</strong>s Winkels mittels Quadratrix<br />

Hippias von Ellis (um 400 v. Chr.) gehörte, wie Hippokrates von Chios, zur Gruppe <strong>de</strong>r<br />

mathematisch produktiven Sophisten.<br />

Hippias, einer <strong>de</strong>r jüngeren Sophisten (wesentlich jünger als Protagoras, daher<br />

wohl kaum <strong>vor</strong> 460 geboren), ist als Gesandter seiner Heimatstadt in an<strong>de</strong>ren<br />

griechischen Staaten, so insbeson<strong>de</strong>re in Sparta, tätig gewesen, hat bei<br />

solchen und an<strong>de</strong>ren Gelegenheiten auch vielbewun<strong>de</strong>rte Vorträge gehalten,<br />

durch die er nicht nur in Olympia, son<strong>de</strong>rn sogar in entlegenen Städtchen<br />

Siziliens erstaunliche Honorare verdient hat. Hippias ist <strong>de</strong>r typische<br />

Enzyklopädist unter <strong>de</strong>n Sophisten – <strong>de</strong>r auch die mathematischen<br />

Wissenschaften seinem Lehrprogramm einglie<strong>de</strong>rt. Scheint er doch bereits <strong>de</strong>n<br />

unersetzlichen pädagogischen Wert <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> erkannt zu haben (...) 82<br />

Abbildung 22: Die<br />

Quadratrix (grün)<br />

Wenn heute jemand <strong>de</strong>r Name Hippias von Ellis noch geläufig ist, dann<br />

meist wegen <strong>de</strong>r nach ihm benannten Platon Dialoge. Hier hat <strong>de</strong>r<br />

Sophisten-Feind Platon seiner Phantasie freien Lauf gelassen und<br />

gestaltet seine Figur HIPPIAS als einen Wi<strong>de</strong>rling, <strong>de</strong>ren Argumente von<br />

SOKRATES mit Leichtigkeit wi<strong>de</strong>rlegt wer<strong>de</strong>n. 83 In <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong>-<br />

Geschichte hingegen wird <strong>de</strong>m historischen Hippias wegen seines<br />

Geniestreichs Quadratrix ein ehren<strong>de</strong>s An<strong>de</strong>nken bewahrt (siehe Abb.<br />

22). Die Kurve löst nicht nur das Problem <strong>de</strong>r Dreiteilung aller Winkel<br />

von 0° bis 90°, son<strong>de</strong>rn die Kurve kann auch zur Quadratur <strong>de</strong>s Kreises<br />

benutzt wer<strong>de</strong>n (daher auch die Bezeichnung).<br />

Die Kurve ist bewegungsgeometrisch <strong>de</strong>finiert. Zwei bewegte Strecken<br />

erzeugen die Punkte <strong>de</strong>r Kurve als Schnittpunkte (s. Zitat u. Abb. 23):<br />

Für die Teilung <strong>de</strong>s Winkels in n gleiche Teile erdachte sich Hippias<br />

von Ellis eine Kurve die später <strong>de</strong>n Namen `Quadratrix‘ erhielt,<br />

weil sie auch das Problem <strong>de</strong>r Kreisquadratur beantwortet. (...)<br />

Dennoch ist sie leicht beschreibbar, da sie durch zwei einfache<br />

Bewegungen erzeugt wird. Man <strong>de</strong>nke sich ein Quadrat, <strong>de</strong>ssen<br />

obere Seite sich parallel zur Ausgangslage mit konstanter<br />

Geschwindigkeit zur unteren hinbewegt. In <strong>de</strong>r gleichen Zeit drehe<br />

sich die linke Quadratseite um <strong>de</strong>n unteren linken Eckpunkt mit<br />

konstanter Winkelgeschwindigkeit im Uhrzeigersinn <strong>de</strong>rart, daß die<br />

bei<strong>de</strong>n Bewegungen zugleich beginnen und zugleich en<strong>de</strong>n. 84<br />

Abbildung 24: Die<br />

Zuordnung zwischen<br />

Winkeln und Strecken<br />

mittels Quadratrix<br />

Will man einen Winkel α (mit 0°< α


Menaichmos: Die Verdopplung <strong>de</strong>s Würfels<br />

Der Eudoxos Schüler Menaichmos (um 350 v.Chr.) benutzt bei seiner Lösung <strong>de</strong>s<br />

<strong>de</strong>lischen Problems das schon von Hippokrates gefun<strong>de</strong>ne Resultat. Zur Erinnerung:<br />

Hippokrates zeigte, dass wenn es zu einer Strecke mit <strong>de</strong>r Länge a gelingt zwei mittlere<br />

Proportionale x und y zu fin<strong>de</strong>n, so dass a : x = x : y = y : 2a, dass dann x 3 = 2a 3 gilt. Ein<br />

Würfel mit einer solchen Basis-Länge x hat also das doppelte Volumen eines Würfels mit <strong>de</strong>r<br />

Basis-Länge a.<br />

Mo<strong>de</strong>rn sehen wir auf Anhieb, dass x = 2 ⅓ • a und y = 2 ⅔ • a sein muss. Wir formulieren die<br />

Lösung dabei ganz selbstverständlich mit irrationalen Zahlen. So etwas kannte man in <strong>de</strong>r<br />

Antike nicht. Man suchte in <strong>de</strong>r Antike nach einer geometrischen Lösung.<br />

Dementsprechend fand Menaichmos das gesuchte x als Schnittpunkt zweier Kurven. Zu<br />

<strong>de</strong>n Grundzügen seiner Konstruktionen erhalten wir einige Hinweise beim antiken<br />

Kommentator Eutokios. Wenn wir zusätzlich ausnutzen, dass die Griechen gute<br />

<strong>Mathematik</strong>er waren, das sachliche Problem analysieren und dabei berücksichtigen, was<br />

an mathematischer Theorie damals zur Verfügung stand, dann ergibt sich daraus eine<br />

ziemlich überzeugen<strong>de</strong> Deutung <strong>de</strong>s Vorgehens. Sie soll hier kurz <strong>vor</strong>gestellt wer<strong>de</strong>n.<br />

Um das ganze etwas übersichtlicher zu machen, betrachten wir nur <strong>de</strong>n Spezialfall, dass<br />

<strong>de</strong>r Einheitswürfel (ein Würfel mit <strong>de</strong>r Kantenlänge und <strong>de</strong>m Volumen 1) verdoppelt<br />

wer<strong>de</strong>n soll. Der Ansatz <strong>de</strong>s Hippokrates vereinfacht sich dann zu 1 : x = x : y = y : 2 . Es<br />

lassen sich daraus drei Gleichungen ableiten: x 2 =y, y 2 =2x, xy=2<br />

Solche Funktionsgleichungen kannte man in <strong>de</strong>r Antike in dieser Form natürlich nicht. Wir<br />

können diesen Gleichungen aber jeweils eine geometrische Deutung geben, die <strong>de</strong>n<br />

antiken Griechen durchaus zugänglich war:<br />

Gleichung geometrische Deutung Funktions<strong>vor</strong>schrift<br />

x 2 =y Bestimme zu allen Quadraten, ein flächengleiches<br />

Rechteck <strong>de</strong>ren eine Seite 1 misst<br />

y 2 =2x Bestimme zu allen Rechtecken <strong>de</strong>ren eine Seite 2<br />

misst, ein flächengleiches Quadrat<br />

y=f 1(x)= x 2<br />

y=f 2(x)= √(2x)<br />

xy=2 Bestimme alle Rechtecke mit <strong>de</strong>m Flächeninhalt 2 y=f 3(x)= 2/x<br />

Zu je<strong>de</strong>r dieser geometrischen Deutungen verfügten die Griechen über das passen<strong>de</strong><br />

geometrische Konstruktionsverfahren, so dass sie zu je<strong>de</strong>m (geometrisch) gegebenem x<br />

<strong>de</strong>n zugehörigen Funktionswert y geometrisch bestimmen konnten. Es war also naheliegend<br />

die drei Graphen (zu <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rn durch die Funktions<strong>vor</strong>schriften f 1(x), f 2(x) und<br />

f 3(x) i<strong>de</strong>ntifizierten Objekten) als geometrisch wohl <strong>de</strong>finiert zu betrachten.<br />

Unsere mo<strong>de</strong>rne Gleichungstheorie sagt uns, dass<br />

je<strong>de</strong> dieser drei Gleichungen von <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n<br />

an<strong>de</strong>ren abhängig ist. Sind also zwei <strong>de</strong>r drei<br />

Gleichungen erfüllt, so ist auch die dritte erfüllt. Es<br />

reicht folglich die Lösungsgraphen zweier Gleichungen<br />

zum Schnitt zu bringen und man hat x und y<br />

bestimmt. (Der x Wert liefert dann die gesuchte<br />

Basis für einen Würfel mit <strong>de</strong>m Volumen 2.) Die<br />

einzige offene Frage scheint jetzt nur noch zu sein,<br />

welche zwei <strong>de</strong>r drei Graphen Menaichmos zum<br />

Schnitt brachte. In <strong>de</strong>r Abb 25 wer<strong>de</strong>n f1 und f3 Abb. 25:x= 2<br />

verwen<strong>de</strong>t. Menaichmos hat zwei <strong>de</strong>r drei hier<br />

möglichen Lösungsansätze gefun<strong>de</strong>n und beschrieben (namentlich: f1 , f3 wie f2 , f3 ).<br />

⅓ am Schnittpunkt von f1 , f3 -42-


Deinostratos: Die Quadratur <strong>de</strong>s Kreises mittels Quadratrix<br />

Deinostratos (um 350 v.Chr.), ein Bru<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Menaichmos, kommt höchst wahrscheinlich<br />

das Verdienst zu, als erster erkannt zu haben, dass man die Quadratrix-Kurve <strong>de</strong>s Hippias<br />

auch zur Quadratur <strong>de</strong>s Kreises benutzen kann.<br />

Wir wer<strong>de</strong>n hier nur das Problem <strong>de</strong>r Quadratur <strong>de</strong>s Einheitskreises<br />

(Radius = 1) diskutieren. Hierzu konstruieren wir die Qudratrix-<br />

Kurve im Einheitsquadrat (Basis = 1). Der durch die Quadratrix<br />

<strong>de</strong>finierbare Punkt S (s. Abb. 26) hat im Einheitsquadrat einen<br />

Abstand von 1/(π/2) von A. Es gilt also AS = 1/(π/2). Das ist die<br />

Schlüssel-Eigenschaft zur Quadratur <strong>de</strong>s Kreises.<br />

Der Nachweis dieser Eigenschaft muss allerdings mit <strong>de</strong>m Problem<br />

kämpfen, dass <strong>de</strong>r Punkt S nicht Teil <strong>de</strong>r Quadratrix-Kurve ist. Auf<br />

<strong>de</strong>r Strecke AB ergibt sich bei <strong>de</strong>r bewegungsgeometrischen<br />

Definition <strong>de</strong>r Kurve kein Schnittpunkt! Die bei<strong>de</strong>n in Bewegung versetzten<br />

Seiten fallen hier zusammen. Trotz<strong>de</strong>m lässt sich <strong>de</strong>r Punkt<br />

S durch die Quadratrix <strong>de</strong>finieren, und zwar im Sinne einer stetigen<br />

Ergänzung <strong>de</strong>r Quadratrix. Angesichts dieser Situation, macht es m.E. wenig Sinn nach<br />

korrekten, antiken Lösungen zum Beweis dieses Sachverhalts Ausschau zu halten. Hier<br />

wur<strong>de</strong> zwangsläufig gemogelt. Wir halten einfach fest: In <strong>de</strong>r Antike galt vielen als er-<br />

wiesen dass AS = 1<br />

π /2<br />

Abbildung 27: Konstruktion<br />

<strong>de</strong>r Strecke π/2<br />

, etwas was man mo<strong>de</strong>rn wie folgt beweisen kann (vgl. Abb.26):85<br />

Mittels <strong>de</strong>s 2. Strahlensatzes kann man nun zeigen, dass die<br />

Strecke AF genau π/2 misst (vgl. Abb. 27). Man errichtet die<br />

Lotrechten über <strong>de</strong>n Punkten S und B, schlägt um A <strong>de</strong>n<br />

Einheitskreis und bestimmt <strong>de</strong>ssen Schnittpunkt E mit <strong>de</strong>r<br />

Lotrechten über S. Die Strecke AE verlängert man nun bis sie<br />

die Lotrechte über B schnei<strong>de</strong>t (Punkt F).<br />

Es gilt nun: AF:AE = AB : AS (2. Strahlensatz),<br />

da AB = AE = 1 folgt AF = 1 : AS = π/2<br />

Damit ist AF die Seite <strong>de</strong>s Quadrats, das wie <strong>de</strong>r Einheitskreis<br />

<strong>de</strong>n Umfang 2π hat. Jetzt ist es nur noch ein kleiner Schritt zur<br />

Konstruktion eines flächengleichen Quadrats. Errichtet man<br />

über einer Seite mit <strong>de</strong>r Länge 2π ein Dreieck mit <strong>de</strong>r Höhe 1,<br />

so hat dies (wie man mo<strong>de</strong>rn einfach nachrechnen kann 86 ) die<br />

Fläche <strong>de</strong>s Einheitskreises! Ein solches Dreieck war leicht zu<br />

quadrieren. Das Problem ist (wenn auch nicht allein mit Zirkel und Lineal) gelöst.<br />

85 vgl.: Helmuth Gericke: <strong>Mathematik</strong> in Antike, Orient und Abendland. Wiesba<strong>de</strong>n: Matrix Verlag 2005. S. 92<br />

86 In <strong>de</strong>r athenischen Perio<strong>de</strong> war <strong>de</strong>r Nachweis <strong>de</strong>r Flächengleichheit etwas <strong>de</strong>likater. Der damals anscheinend mit<br />

herangezogene Satz: Wenn Seite = Kreisumfang und zugehörige Höhe = Radius, dann Dreiecksfläche =<br />

Kreisfläche, wur<strong>de</strong> erst <strong>de</strong>utlich später (nämlich von Archime<strong>de</strong>s) bewiesen. „Offenbar kannte Deinostratos <strong>de</strong>n<br />

Satz, <strong>de</strong>n Archime<strong>de</strong>s später streng bewiesen hat (…) o<strong>de</strong>r einen damit gleichwertigen Satz.“ B.L. van <strong>de</strong>r<br />

Waer<strong>de</strong>n: Erwachen<strong>de</strong> Wissenschaft. Bd. 1. Basel, Stuttgart: Birkhäuser Verlag 1956. S. 317<br />

-43-<br />

Abb. 26: Quadratrix<br />

im Einheitsquadrat


Die Stellung <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> als Bildungs- und Kulturgut<br />

Die Entwicklung <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> und insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n<br />

Geometrie hat die griechische Kultur bereits im 5. Jahrhun<strong>de</strong>rt v.Chr. <strong>de</strong>utlich geprägt. Im<br />

4. Jahrhun<strong>de</strong>rt v.Chr. steigt die Geometrie zur gepriesenen Schule <strong>de</strong>s Verstan<strong>de</strong>s auf.<br />

Die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n, Problemen und Resultaten <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n<br />

Geometrie wird ein zunehmend selbstverständlicher Teil <strong>de</strong>r gehobenen Bildung.<br />

Eine Einführung in die <strong>Mathematik</strong> (insbeson<strong>de</strong>re in die Geometrie) gehörte im Athen <strong>de</strong>s<br />

4. Jh. v.Chr. zur Sekundar-Ausbildung <strong>de</strong>r 14 bis 18 Jährigen „Gymnasiasten“. Wer an<br />

weitergehen<strong>de</strong>m Unterricht interessiert war, <strong>de</strong>r musste sich an einem Sophisten wen<strong>de</strong>n<br />

o<strong>de</strong>r einen <strong>de</strong>r Orte <strong>de</strong>s Wissens wie Philosophenschulen o<strong>de</strong>r (ab 300 v.Chr.) das<br />

Museion aufsuchen. Das setzte Zeit zur Muße und einen gewissen Wohlstand <strong>vor</strong>aus.<br />

Dass die beweisen<strong>de</strong> <strong>Mathematik</strong> nun als zentrales Kulturgut gilt, drückt sich auch im<br />

hohen Ansehen aus, das be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> <strong>Mathematik</strong>er genießen. Die wichtigen<br />

<strong>Mathematik</strong>er gehörten dabei entwe<strong>de</strong>r zur vielfältig geglie<strong>de</strong>rten Gruppe <strong>de</strong>r Gentleman-<br />

Gelehrten o<strong>de</strong>r zur ebenso heterogenen Gruppe <strong>de</strong>r Sophisten. Die griechische<br />

<strong>Mathematik</strong> wur<strong>de</strong> nicht von einer kleinen abgegrenzten Gruppe ansonsten kulturell<br />

inaktiver Berufsmathematiker geschaffen, son<strong>de</strong>rn von einer breit gebil<strong>de</strong>ten kulturellen<br />

Elite, die neben <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> auch viele an<strong>de</strong>re Bereiche <strong>de</strong>s Geisteslebens prägte. Ja,<br />

häufig waren die be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong>er zugleich auch politisch einflussreiche<br />

Gestalten. Ein Faktum, <strong>de</strong>ssen heutige Befremdlichkeit <strong>de</strong>utlich macht, wie gänzlich<br />

an<strong>de</strong>rs damals <strong>Mathematik</strong> in <strong>de</strong>r Kultur verankert war.<br />

Die Entstehung <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> hat zu einer erheblichen Neuorientierung im<br />

Bereich Bildung geführt. Wer ein kluger Kopf wer<strong>de</strong>n wollte, <strong>de</strong>r musste seinen Verstand<br />

zunächst einmal an geometrischen Beweisen schulen. Wer als gebil<strong>de</strong>t gelten wollte,<br />

sorgte besser dafür, dass er mit <strong>de</strong>n neuen Resultaten in <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> Schritt hielt und<br />

<strong>de</strong>n Stand <strong>de</strong>r Dinge kannte. Wer mit seinen Geisteskräften beeindrucken wollte, für <strong>de</strong>n<br />

bot die <strong>Mathematik</strong> ein Betätigungsfeld, auf <strong>de</strong>m man sich Anerkennung, Lorbeeren, ja<br />

selbst unsterblichen Ruhm erwerben konnte. Dem bereits im 4. Jahrhun<strong>de</strong>rt zur Legen<strong>de</strong><br />

verklärten Thales wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r unsterbliche Ruhm nicht zuletzt wegen <strong>de</strong>r ihm nachgesagten<br />

mathematischen Leistungen zuteil. Wenn Demokrit, eine Schlüsselgestalt <strong>de</strong>s antiken<br />

Atomismus, seine Geisteskräfte betonen wollte, dann verwies er darauf, dass ihm in <strong>de</strong>r<br />

Geometrie so schnell keiner etwas <strong>vor</strong>mache.<br />

Der ionische Naturphilosoph Anaxagoras, <strong>de</strong>m man in Athen <strong>de</strong>n Prozess machte, weil er<br />

die Göttlichkeit <strong>de</strong>r Sonne in Abre<strong>de</strong> stellte, nutzte seinen Aufenthalt im Gefängnis sinnvoll:<br />

Er dachte über die Quadratur <strong>de</strong>s Kreises nach. Jenes Problem, das Aristophanes in<br />

seiner Komödie Die Vögel in einem seiner Scherze einfließen ließ. 87 Einzelne Beweise<br />

wur<strong>de</strong>n ebenso wie Fragen nach <strong>de</strong>r Zulässigkeit bestimmter Beweistechniken von<br />

prominenten Größen <strong>de</strong>r Antike kontrovers diskutiert.<br />

Man konnte mit seinem sophistischen Rhetorik-Lehrer nicht nur die Ilias <strong>de</strong>s Homer,<br />

son<strong>de</strong>rn auch die Probleme <strong>de</strong>r Kreis-Quadratur diskutieren. An Platons Aka<strong>de</strong>mie galt<br />

eine soli<strong>de</strong> Kenntnis <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> als gleichermaßen unerlässlich wie selbstverständlich.<br />

Wer die Existenz inkommensurabler Strecken nicht verstan<strong>de</strong>n hatte, <strong>de</strong>n<br />

nannte Platon einen erbärmlichen Wicht. Ein auf die Themen <strong>de</strong>s Feuilletons verkürzter<br />

Bildungsbegriff war damals offensichtlich nicht die <strong>vor</strong>herrschen<strong>de</strong> Mo<strong>de</strong>.<br />

Es ist zu ergänzen, dass es auch jene gab, die sich bei <strong>de</strong>r Betonung <strong>de</strong>s pädagogischen<br />

Werts <strong>de</strong>r Geometrie eher abseits hielten, o<strong>de</strong>r dieser sogar ablehnend gegenüber stan<strong>de</strong>n.<br />

Sokrates z.B. gehörte zu jenen, die keine hohe Meinung von <strong>de</strong>r Geometrie hatten:<br />

87 Man sollte aber <strong>de</strong>swegen nicht unterstellen, dass das Athener Publikum <strong>de</strong>r Aristophanes Komödien in seiner<br />

Majorität über eine gehobene geometrische Bildung verfügte. Man musste nur wissen, dass es das Problem <strong>de</strong>r<br />

Kreis-Quadratur gab, und dass es als schwierig galt, um <strong>de</strong>n Scherz zu verstehen.<br />

-44-


Er (Sokrates; NF) setzte auch auseinan<strong>de</strong>r, bis zu welchem Grad ein wahrhaft<br />

gebil<strong>de</strong>ter Mann je<strong>de</strong> Sache kennen müsse. Die Geometrie z.B. müsse man nur<br />

so weit lernen, bis man imstan<strong>de</strong> sei, nötigenfalls ein Stück Land bei <strong>de</strong>r<br />

Übernahme o<strong>de</strong>r Übergabe richtig zu vermessen, bis man richtig verteilen und<br />

von einer Landvermessung Rechenschaft ablegen könne. Dies sei aber so<br />

leicht zu lernen, daß man nach aufmerksamer Teilnahme am Meßgeschäft die<br />

Größe eines Grundstückes bestimmen und die Art <strong>de</strong>s Messens sich aneignen<br />

könne. Er sprach sich gegen das Erlernen <strong>de</strong>r schwer verständlichen Figuren<br />

aus. Er könne nicht einsehen, was das für einen Sinn habe. In<strong>de</strong>ssen war er<br />

selber dieser Wissenschaft nicht unkundig. Er äußerte sich aber dahin, daß die<br />

Beschäftigung mit ihr ausreiche, um das Leben eines Menschen ganz in<br />

Beschlag zu nehmen und von vielen an<strong>de</strong>ren nützlichen Kenntnissen<br />

abzuhalten. (Xenophon: Memorabilien. IV, 7, 2-3) 88<br />

Man muss die hier von Xenophon <strong>de</strong>m Sokrates zugeschriebene Position nicht unbedingt<br />

so lesen, dass Sokrates geometrische Kenntnisse wegen ihres (vermeintlich) geringen<br />

praktischen Nutzens für überflüssig hielt. Praktische Fragen stan<strong>de</strong>n nicht so sehr im<br />

Mittelpunkt <strong>de</strong>s Denkens von Sokrates. Entsprechend vermuten etliche Sokrates<br />

Interpreten auch gänzlich an<strong>de</strong>re Grün<strong>de</strong> hinter <strong>de</strong>r (als historisches Faktum gelten<strong>de</strong>n)<br />

Geringschätzung <strong>de</strong>r Geometrie. Zieht man einige weitere Literaturstellen hinzu, dann<br />

lässt sich zur Geringschätzung <strong>de</strong>r Geometrie auch folgen<strong>de</strong> Deutung vertreten:<br />

Sokrates gibt an, daß die von ihm kritisierten Wissensformen <strong>de</strong>r Prüfung kata<br />

ton theon nicht genügen wür<strong>de</strong>n, einer Prüfung, die er <strong>de</strong>m Auftrag <strong>de</strong>s Gottes<br />

gemäß durchführt und die darauf zielt, die Bedingungen frei zu legen, die ein<br />

Wissen zu einem wirklichen Wissen machen. 89<br />

Wie <strong>de</strong>m auch sei, dauerhaften Einfluss hat das negative Urteil <strong>de</strong>s Sokrates nicht gehabt.<br />

Dabei spielt natürlich auch <strong>de</strong>r Sokrates Schüler Platon eine wichtige Rolle. Die von Platon<br />

geschaffene literarische Figur SOKRATES re<strong>de</strong>t nämlich ganz an<strong>de</strong>rs über die Geometrie als<br />

<strong>de</strong>r historische Sokrates:<br />

SOKRATES: Ihre Ausdrücke (die <strong>de</strong>r Geometrie; NF) sind höchst lächerlich und<br />

gezwungen; <strong>de</strong>nn als ob sie etwas ins Werk setzen und eine reale Wirkung<br />

erzielen wollten, wählen sie alle ihre Ausdrücke als da sind viereckigmachen<br />

(quadrieren) beispannen (oblongieren) hinzutun (addieren) und was sie sonst<br />

noch alles für Worte im Mun<strong>de</strong> führen; tatsächlich aber ist <strong>de</strong>r eigentliche<br />

Zweck dieser ganzen Wissenschaft nichts an<strong>de</strong>res als reine Erkenntnis.<br />

GLAUKON: Ganz entschie<strong>de</strong>n.<br />

SOKRATES: Dazu müssen wir uns doch über folgen<strong>de</strong>s verständigen?<br />

GLAUKON: Worüber?<br />

SOKRATES: Daß diese Erkenntnis auf das ewig Seien<strong>de</strong> geht, nicht aber auf<br />

dasjenige, was bald entsteht und wie<strong>de</strong>r vergeht.<br />

GLAUKON: Damit hat es keine Not, <strong>de</strong>nn die geometrische Erkenntnis bezieht<br />

sich immer auf das Seien<strong>de</strong>.<br />

SOKRATES: So läge <strong>de</strong>nn, mein Trefflicher, in ihr eine Kraft die die Seele nach<br />

<strong>de</strong>r Wahrheit hinzieht und philosophische Denkart erzeugt insofern, als wir<br />

dann nach oben richten, was wir jetzt verkehrterweise nach unten richten.<br />

(Platon: Der Staat. Siebentes Buch, St. 527) 90<br />

Getreu <strong>de</strong>m Motto Wer schreibt, <strong>de</strong>r bleibt, hat die platonische Figur namens SOKRATES,<br />

<strong>de</strong>n historischen Sokrates längst überwuchert. Der historische Sokrates hat es nämlich<br />

verabsäumt, sich selbst schriftlich zu äußern. Und so kann Platon seine Figur SOKRATES<br />

problemlos zum Sprachrohr seiner eigenen Geometrie-Begeisterung machen. 91<br />

88 Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Übersetzt v. Rudolf Preiswerk. Stuttgart: Reclam 2002. S. 143<br />

89 Monique Canto-Sperber: Sokrates. In: Das Wissen <strong>de</strong>r Griechen. Wilhelm Fink Verlag: München 2000. S. 692<br />

90 Platon: Der Staat; in: Platon, Sämtliche Dialoge; Bd V. Übers. von Otto Apelt. Leipzig: Meiner Verlag 1998. S. 288<br />

91 Siehe hierzu auch: Platon: <strong>Mathematik</strong>, I<strong>de</strong>enlehre und totalitäre Staatsutopien unter www.antikegriechische.<strong>de</strong>/Platon.pdf,<br />

insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>n Abschnitt Platon und die <strong>Mathematik</strong>.<br />

-45-


Die <strong>Mathematik</strong> und die empirischen Wissenschaften<br />

Das Aufblühen <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> erfolgt parallel zur Herausbildung verschie<strong>de</strong>ner empirischer<br />

Wissenschaften. Schon das alte pythagoreische Lehrprogramm <strong>de</strong>r vier Mathemata<br />

enthält neben Arithmetik und Geometrie auch die Disziplinen Harmonielehre und<br />

Astronomie. Dieses Bildungsprogramm ist in <strong>de</strong>r Antike höchst einflussreich. Nahezu je<strong>de</strong>r<br />

<strong>Mathematik</strong>er, <strong>de</strong>n wir aus <strong>de</strong>r Antike kennen, hat auch an Problemen aus <strong>de</strong>m Bereich<br />

Harmonielehre und Astronomie gearbeitet. Auch Platon propagiert diesen pythagoreischen<br />

Lehrplan. Noch das mittelalterliche Lehrprogramm <strong>de</strong>r Sieben Freien Künste beinhaltet<br />

diesen nun Quadrivium genannten pythagoreischen Vier-Fächer-Kanon. 92<br />

Die <strong>Mathematik</strong> war also in <strong>de</strong>r Antike schon von Anfang an aufs Engste mit an<strong>de</strong>ren<br />

Disziplinen verbun<strong>de</strong>n. Bei <strong>de</strong>r antiken Harmonielehre han<strong>de</strong>lt es sich um ein<br />

mathematisch-ästhetisches Projekt, das auch einige empirische Aspekte hat. Die meist<br />

sehr stark mathematisch geprägten Arbeiten zur Harmonielehre beschäftigen sich gern mit<br />

<strong>de</strong>n Fragestellungen und mathematischen Problemen, die sich aus <strong>de</strong>n Prinzipien <strong>de</strong>r<br />

pythagoreischen Harmonielehre ergeben.<br />

Die griechische Astronomie hatte im 4. Jh. noch einen langen Weg <strong>vor</strong> sich, be<strong>vor</strong> sie die<br />

Reife <strong>de</strong>s Almagest erreichte. 93 Aber man hatte bereits begonnen, sich mit <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r<br />

genauen Länge <strong>de</strong>s astronomischen Jahres und <strong>de</strong>r astronomischen Jahreszeiten zu<br />

beschäftigen. Mit <strong>de</strong>n homozentrischen Sphären <strong>de</strong>s Eudoxos hatte man zu<strong>de</strong>m schon die<br />

Tradition ambitionierter geometrischen Mo<strong>de</strong>lle in <strong>de</strong>r Astronomie gestiftet. 94 Von nun an<br />

entwickelt sich die Astronomie immer mehr zu einer mathematisierten Naturwissenschaft<br />

im mo<strong>de</strong>rnen Sinn. In <strong>de</strong>r Antike ist die Astronomie dabei auf ähnliche Weise die<br />

Schwester-Wissenschaft <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> wie heute die Physik.<br />

Die großen Fortschritte in <strong>de</strong>r Geometrie begünstigen die Geografie. Die Vermessung wie<br />

Kartographierung <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> ist eine Aufgabe, die immer besser gelingt. Bereits im 3. Jh.<br />

v.Chr. erzielt Eratosthenes eine ziemlich genaue Bestimmung <strong>de</strong>s Erdumfangs.<br />

Der durch die Geometrie geprägte Blick auf die Welt lässt eine stark durch die Geometrie<br />

geprägte antike Optik entstehen. Obwohl sich <strong>de</strong>r griechischen Antike die physikalischen<br />

Grundlagen <strong>de</strong>s Sehens nicht erschließen, entstehen doch einige interessante Resultate.<br />

Dem mathematischen Jahrtausend-Genie Archime<strong>de</strong>s gelingt mit <strong>de</strong>m Hebelgesetz und<br />

<strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>s hydrostatischen Auftriebs die Formulierung zweier gänzlich mo<strong>de</strong>rner und<br />

bis heute gelehrter Naturgesetze. Bei <strong>de</strong>n physikalischen Arbeiten <strong>de</strong>s Archime<strong>de</strong>s sieht<br />

man allerdings auch, dass die in <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> entstan<strong>de</strong>nen I<strong>de</strong>ale einer beweisen<strong>de</strong>n<br />

Wissenschaft weit über die <strong>Mathematik</strong> hinaus als Maßstab für gute Wissenschaft galten.<br />

Die Antike kannte die heute gängige Unterscheidung zwischen Formal- o<strong>de</strong>r Strukturwissenschaft<br />

einerseits und empirischer Wissenschaft an<strong>de</strong>rerseits in dieser Form nicht.<br />

Damals sah es so aus, als könne die Geometrie mit sauber formulierten Beweisen zuverlässige<br />

Erkenntnisse über die Welt erzielen. Die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r nicht-euklidischen Geometrien<br />

im 19. Jh. hat jedoch klar gestellt, dass sich die empirische Untersuchung <strong>de</strong>r Welt<br />

nicht durch die Ausarbeitung einer axiomatischen Theorie ersetzen lässt. Die empirischen<br />

Wissenschaften benötigen dann aber ihr eigenes Mo<strong>de</strong>ll von Prüfung und Rechtfertigung.<br />

92 Das Niveau <strong>de</strong>s mittelalterlichen Quadriviums sollte man allerdings nicht überschätzen. Es bleibt weit hinter <strong>de</strong>n<br />

Standards <strong>de</strong>r griechischen Antike zurück. Vor allem die Zeit zwischen 700 und 1.000 ist im katholischen Europa<br />

eine Zeit mathematischer Ahnungslosigkeit. Die geometrischen Kenntnisse en<strong>de</strong>ten damals kurz hinter <strong>de</strong>n<br />

Definitionen solch einfacher Objekte wie Dreieck, Quadrat, Kreis, Pyrami<strong>de</strong> und Kegel. Nahezu alle Kenntnisse<br />

aus <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> <strong>de</strong>r Griechen waren verloren gegangen. Das antike Wissen musste im späten<br />

Mittelalter aus islamischen und byzantinischen Quellen neu erworben wer<strong>de</strong>n. Dieser Prozess begann im 11. Jh.<br />

93 Dem Almagest liegt zwar ein geozentrisches Weltbild zu Grun<strong>de</strong>, aber die astronomischen Phänomene wer<strong>de</strong>n in<br />

einer solchen Qualität mo<strong>de</strong>lliert, dass er für ca. 1.500 Jahre das dominieren<strong>de</strong> astronomische Lehrbuch blieb.<br />

94 Siehe hierzu auch Eudoxos & <strong>Co</strong>. - Die Anfänge <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Astronomie unter www.antikegriechische.<strong>de</strong>/Eudoxos.pdf<br />

-46-


Der Einfluss <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> auf die griechische Philosophie<br />

Der größte und be<strong>de</strong>utendste Einfluss, <strong>de</strong>n die <strong>Mathematik</strong> ausübte, bezieht sich selbstverständlich<br />

auf eine Erziehung zum logisch sauberen Argumentieren. Durch die Ablösung<br />

von <strong>de</strong>r Anschauung als entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Quelle <strong>de</strong>s mathematischen Beweisens hat die<br />

beweisen<strong>de</strong> <strong>Mathematik</strong> die Techniken <strong>de</strong>r logisch korrekten Herleitung kultiviert. Der in<br />

<strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> bereits früh streng verwen<strong>de</strong>te indirekte Beweis hat <strong>de</strong>m philosophischen<br />

Einsatz <strong>de</strong>r Argumentationsfigur Reductio ad absurdum viel Auftrieb gegeben. Ja, man<br />

kann sagen, dass die verwickelte und vielverzweigte Tradition <strong>de</strong>r philosophischen<br />

Dialektik eigentlich nur zwei Wurzeln hat: Diese Argumentationsfigur und die Vorliebe fürs<br />

philosophisch Dunkle (etwas, was wir z.B. von Heraklit, <strong>de</strong>m Dunklen ebenfalls aus <strong>de</strong>r<br />

Antike kennen).<br />

Obwohl die beweisen<strong>de</strong> <strong>Mathematik</strong> sicherlich <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Beitrag zur<br />

Kultivierung <strong>de</strong>s logischen Schließens geleistet hat, muss man zur Kenntnis nehmen, dass<br />

in <strong>de</strong>r Philosophie-Geschichte mit <strong>de</strong>n Eleaten, namentlich Parmeni<strong>de</strong>s, gerne ganz<br />

an<strong>de</strong>rs orientierte Kandidaten als Urheber <strong>de</strong>s logisch-begrifflichen Denkens präsentiert<br />

wer<strong>de</strong>n. Bei näherer Betrachtung erweist sich aber Parmeni<strong>de</strong>s (samt seiner Philosophen-<br />

Schule in Elea) eher als <strong>de</strong>r Vater <strong>de</strong>s philosophischen Trugschlusses, <strong>de</strong>nn als Urquell<br />

<strong>de</strong>s streng logischen Denkens. Aus Grün<strong>de</strong>n, die mir unzugänglich sind, hält man<br />

allerdings in <strong>de</strong>r Philosophie-Geschichte gerne an Parmeni<strong>de</strong>s als Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r logisch<br />

argumentieren<strong>de</strong>n Philosophie fest. Das Resultat seiner „logischen Analyse“, dass es<br />

keine Verän<strong>de</strong>rung gibt und das Seien<strong>de</strong> eine ewig unverän<strong>de</strong>rliche Kugel sei, hat damals<br />

jedoch (was wenig erstaunlich ist) nur wenige überzeugt und war insgesamt ein etwas<br />

schlechter Start für die philosophische Logik.<br />

Der Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r formalen Logik, Aristoteles, beschäftigt sich <strong>de</strong>nn auch mehr mit <strong>de</strong>n<br />

Quellen <strong>de</strong>r eleatischen Fehlschlüsse, 95 als mit <strong>de</strong>n Beiträgen <strong>de</strong>r Eleaten zur Entwicklung<br />

<strong>de</strong>r Logik. Wir können also in <strong>de</strong>r formalen Logik (beruhigen<strong>de</strong>r Weise) eher das Ergebnis<br />

einer Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n Schlussweisen <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> <strong>de</strong>nn mit<br />

<strong>de</strong>r eleatischen Philosophie sehen.<br />

Dass Aristoteles eine Grammatik <strong>de</strong>s korrekten Schließens, die syllogistische Logik, als<br />

erste Form einer formalen Logik entwickelt hat, ist sowohl immens verdienstvoll wie<br />

prägend für <strong>de</strong>n ganzen weiteren Verlauf <strong>de</strong>r griechischen Antike. 96 Im Gegensatz zu <strong>de</strong>n<br />

Fehlschlüssen <strong>de</strong>s Parmeni<strong>de</strong>s wird die syllogistische Logik nämlich allgemein akzeptiert.<br />

Mehr noch, die megarische Schule und die Stoiker entwickeln, ergänzend zur Term-Logik<br />

<strong>de</strong>r Syllogismen, ein Grundgerüst <strong>de</strong>r Aussagenlogik.<br />

Es gibt noch einen weiteren Punkt, an <strong>de</strong>m ein Denker wie Aristoteles ganz offensichtlich<br />

von <strong>de</strong>n Erfahrungen einer beweisen<strong>de</strong>n <strong>Mathematik</strong> geprägt wur<strong>de</strong>: Seine Wissenschaftslehre.<br />

Er empfiehlt allen Wissenschaften, sich am beweisen<strong>de</strong>n Vorgehen <strong>de</strong>r<br />

<strong>Mathematik</strong> zu orientieren.<br />

Wir glauben aber etwas zu wissen, schlechthin, nicht nach <strong>de</strong>r sophistischen,<br />

akzi<strong>de</strong>ntellen Weise, wenn wir sowohl die Ursache, durch die es ist, als solche<br />

zu erkennen glauben, wie auch die Einsicht uns zuschreiben, daß es sich<br />

unmöglich an<strong>de</strong>rs verhalten kann.<br />

Aristoteles: Lehre vom Beweis (Zweite Analytik), Buch I, Kap. 2, 71b 97<br />

95 Siehe hierzu z.B. Aristoteles: Physik. Buch VI, Kap. 9 (Kritik <strong>de</strong>r Paradoxa <strong>de</strong>s Eleaten Zenon)<br />

96 Siehe hierzu auch: Aristoteles – Logik und Methodik in <strong>de</strong>r Antike unter:<br />

http://www.antike-griechische.<strong>de</strong>/Aristoteles.pdf<br />

97 Aristoteles: Philosophische Schriften, Bd. 1, Organon IV. Übersetzt von Eugen Rolfes. Hamburg: Meiner Verlag<br />

1995. S. 3. Hinweis: Der Begriff Ursache wird hier in einem sehr viel weiteren Sinne gebraucht, als dies heute<br />

üblich ist.<br />

-47-


Wie im weiteren Verlauf <strong>de</strong>s Textes <strong>de</strong>utlich wird, geht es hier um die Propagierung eines<br />

Mo<strong>de</strong>lls <strong>de</strong>r beweisen<strong>de</strong>n Wissenschaft als Quelle jeglicher Art <strong>de</strong>s Wissens. Salopp<br />

formuliert: Aristoteles empfiehlt „Von <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> lernen, heißt Wissenschaft lernen“.<br />

Bei aller Liebe zur <strong>Mathematik</strong>, von allen Wissenschaften zu verlangen, dass sie sich in<br />

beweisen<strong>de</strong> Wissenschaften verwan<strong>de</strong>ln, ist etwas zu viel verlangt. Aristoteles geht aber<br />

noch weiter, er verlangt, dass alle Resultate aus wenigen ersten Grundsätzen und<br />

Prinzipien hergeleitet wer<strong>de</strong>n. Er verlangt also zusätzlich, dass die Wissenschaften einen<br />

axiomatischen Aufbau haben sollten, etwas, was wir von <strong>de</strong>r Geometrie in <strong>Euklid</strong>s<br />

Elementen kennen. Da <strong>Euklid</strong> aber nach Aristoteles geschrieben hat, stellt sich die<br />

spannen<strong>de</strong> Frage, hatten die <strong>vor</strong>euklidischen Elemente bereits einen axiomatischen<br />

Aufbau und Aristoteles hat dies von dort in seine Wissenschaftslehre übernommen o<strong>de</strong>r<br />

hat erst Aristoteles in dieser klaren Form das Konzept <strong>de</strong>r axiomatischen Wissenschaft<br />

erdacht und <strong>Euklid</strong> hat es dann von ihm übernommen? Wir wissen es nicht. Wir wissen<br />

nur, dass in <strong>Euklid</strong>s Elemente die uns von Aristoteles her bekannte Unterscheidung<br />

zwischen Axiomen und Postulaten auftaucht.<br />

Die aristotelische Wissenschaftslehre macht im Übrigen auch <strong>de</strong>utlich, entlang welcher<br />

Linie sich Aristoteles die Aufgabenteilung zwischen Wissenschaft und Philosophie <strong>vor</strong>stellt.<br />

Ihre obersten Grundsätze und Prinzipien erhalten die Wissenschaften jeweils von<br />

<strong>de</strong>r Philosophie <strong>vor</strong>gegeben. Innerhalb dieses Rahmens dürfen dann die Wissenschaften<br />

selbstständig schalten und walten. Bei aller Sympathie, die Aristoteles für die Wissenschaft<br />

hegt, ihre ersten Grundsätze, Prinzipien und allgemeinsten Voraussetzungen sollten<br />

sich die Wissenschaften doch besser von <strong>de</strong>n Philosophen <strong>vor</strong>geben lassen.<br />

Das ist eine I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r auch Platon zugeneigt ist. In <strong>de</strong>n letzten Abschnitten von Buch VI<br />

<strong>de</strong>s Dialogs Der Staat (Politeia), lässt Platon seine Figur SOKRATES ganz ähnliche<br />

Gedanken äußern. Zur Bestimmung erster Sätze (Prämissen), oberster Prinzipien und<br />

Grundsätze bedarf es <strong>de</strong>r Philosophie. Erst wenn <strong>de</strong>r Philosoph solche Voraussetzungen<br />

als zuverlässig benannt hat, kann <strong>de</strong>r <strong>de</strong>duktiv arbeiten<strong>de</strong> Wissenschaftler produktiv<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Platon, <strong>de</strong>r schon in <strong>de</strong>r Antike <strong>de</strong>n Beinamen <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong>er erhielt, ist <strong>vor</strong> allem von<br />

<strong>de</strong>r Geometrie fasziniert. Mehr noch als die logische Strenge beeindruckt ihn die Ablösung<br />

<strong>de</strong>r Gegenstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Geometrie von <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r sinnlichen Erfahrungen. Die<br />

Gegenstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Geometrie haben Eigenschaften, für die es in <strong>de</strong>r Sinnenwelt kein<br />

Vorbild gibt. So haben ihre Linie z.B. keine Breite, ihre Punkte keine Aus<strong>de</strong>hnung. Zu<strong>de</strong>m<br />

sind die Gegenstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Geometrie immun gegen alle Verän<strong>de</strong>rungen. In ihrer Welt gibt<br />

es kein Wer<strong>de</strong>n und kein Vergehen. Platon radikalisiert dieses Konzept <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>alisierung<br />

und entwickelt so seine I<strong>de</strong>enlehre, eine zutiefst durch die <strong>Mathematik</strong> inspirierte<br />

Philosophie.<br />

Für Platon ist es selbstverständlich, dass auch Dinge außerhalb unserer Erfahrungswelt<br />

existieren (siehe z.B. die Punkte, Linien, Dreiecke <strong>de</strong>r Geometrie). Mehr noch, diese sind<br />

<strong>de</strong>r eigentliche Gegenstand von Erkenntnis. Tiefe, wirkliche Erkenntnis ist bei <strong>de</strong>n Gegenstän<strong>de</strong>n<br />

unserer Erfahrungswelt gar nicht möglich. Hier haftet allen Urteilen immer <strong>de</strong>r Beigeschmack<br />

<strong>de</strong>s bloßen Meinens an. Das wahrhaft Seien<strong>de</strong> ist die Welt <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en. Etwas,<br />

was nochmals weiter von <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r sinnlichen Erfahrungen entfernt ist als die Welt <strong>de</strong>r<br />

i<strong>de</strong>alen Objekte <strong>de</strong>r Geometrie. Der Aufstieg zur höchsten I<strong>de</strong>e, <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten, ist<br />

wenigen <strong>vor</strong>behalten. Und diese Wenigen sind zum Herrschen über die Vielen bestimmt.<br />

So hat Platon ausgehend von einer philosophischen Aus<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Geometrie, eine<br />

autoritäre bis totalitäre Staatsphilosophie entwickelt. Man sieht, nicht je<strong>de</strong>r Aspekt einer<br />

mathematisch inspirierten Philosophie ist automatisch beeindruckend und brillant. 98<br />

98 Siehe hierzu auch: Platon – <strong>Mathematik</strong>, I<strong>de</strong>enlehre und totalitäre Staatsutopien unter:<br />

www.antike-griechische.<strong>de</strong>/Platon.pdf<br />

-48-


Nachtrag: <strong>Griechische</strong> Zahlzeichen und Zahlsysteme<br />

Die Griechen verwen<strong>de</strong>ten verschie<strong>de</strong>ne Zahlsysteme. Nur drei davon sollen hier kurz<br />

charakterisiert wer<strong>de</strong>n:<br />

1. Das akrophone, attische o<strong>de</strong>r herodianische Zahlsystem: Die Einer wur<strong>de</strong>n durch<br />

Striche markiert, die Werte 10, 100, 1.000, 10.000 jeweils durch <strong>de</strong>n<br />

Anfangsbuchstaben <strong>de</strong>s entsprechen<strong>de</strong>n griechischen Zahlwortes dargestellt<br />

(Δ=10, Η=100, Χ=1.000, Μ=10.000). Der Zahl 5 (ΠENTE) wur<strong>de</strong> entwe<strong>de</strong>r durch Γ<br />

(ein alte, damals schon nicht mehr gebräuchliche Form <strong>de</strong>s großen Pi) o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />

Buchstaben Π (Pi) dargestellt. Durch Kombination <strong>de</strong>s dann als Faktor zu lesen<strong>de</strong>n<br />

Γ (o<strong>de</strong>r Π ) mit <strong>de</strong>n Zahlzeichen Δ, Η, Χ und M konnten die Werte 50, 500, 5.000<br />

und 50.000 dargestellt wer<strong>de</strong>n.<br />

Das attische (Zahlsystem; NF) diente <strong>vor</strong>wiegend im kaufmännischen Leben zur<br />

Fixierung von Geld- und Warenangaben sowie zur Bezeichnung <strong>de</strong>r Spalten auf<br />

<strong>de</strong>m Abakus. Zum schriftlichen Rechnen war das attische Zahlsystem <strong>de</strong>nkbar<br />

ungeeignet. 99<br />

2. Das milesische Zahlsystem:<br />

Zur Bezeichnung <strong>de</strong>r Zahlen im milesischen System verlieh man <strong>de</strong>n Buchstaben<br />

<strong>de</strong>s Alphabets einen Zahlenwert, und zwar zunächst für die 27 Zahlen<br />

1,2,...,9<br />

10,20,...,90<br />

100, 200,...,900<br />

Da aber die 24 Buchstaben <strong>de</strong>s griechischen Alphabets nicht ausreichten, wur<strong>de</strong>n<br />

noch drei semitische Buchstaben (Vau, Koppa, Sampi für 6, 90 und 900)<br />

herangezogen. (...)<br />

Überdies wur<strong>de</strong>n neben <strong>de</strong>n kleinen auch große Buchstaben in <strong>de</strong>rselben Weise<br />

verwen<strong>de</strong>t.<br />

Für die Tausen<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r die Buchstaben <strong>de</strong>r Einer verwen<strong>de</strong>t; sie<br />

erhielten zur Unterscheidung einen Strich links unten. Zur Bezeichnung <strong>de</strong>r<br />

Zehntausen<strong>de</strong>r waren zwei verschie<strong>de</strong>ne Schreibweisen in Gebrauch. Entwe<strong>de</strong>r<br />

man benutzte das M, <strong>de</strong>n Anfangsbuchstaben von MYPIOI und schrieb die Anzahl<br />

<strong>de</strong>r Zentausen<strong>de</strong>r über das M (…).<br />

O<strong>de</strong>r aber – so verfuhr man in späterer Zeit – man machte eine Zahlenangabe als<br />

Angabe in Myria<strong>de</strong>n dadurch <strong>de</strong>utlich, dass man zwei Punkte über die Buchstaben<br />

setzte. (…)<br />

Die Bezeichnungsweise noch höherer Zehnerpotenzen – dazu war Archime<strong>de</strong>s in<br />

<strong>de</strong>r „Sandrechnung“ genötigt – war nicht einheitlich. Je<strong>de</strong>r Autor benutzte seine<br />

eigene Notierung. 100<br />

Um eine Verwendung <strong>de</strong>r Buchstaben als Zahlzeichen <strong>de</strong>utlich zu machen, konnte<br />

entwe<strong>de</strong>r die ganze Zahl überstrichen wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r am Schluss <strong>de</strong>r Zahl oben ein<br />

Strich angebracht wer<strong>de</strong>n.<br />

3. Die griechische Adaption <strong>de</strong>s Sexagesimalsystems: Bei komplizierteren Rechnungen<br />

wie sie z.B. in <strong>de</strong>r Astronomie häufiger auftraten, griff man in <strong>de</strong>r hellenistischen<br />

Perio<strong>de</strong> gern auf das babylonische Sexagesimalsystems zurück. Im Almagest wird<br />

so z.B. einerseits ein Stellenwertsystem mit <strong>de</strong>r Basis 60 verwen<strong>de</strong>t, an<strong>de</strong>rseits<br />

wer<strong>de</strong>n die (mit einem Stellenwert versehenen) Zahlen von 1 bis 59 mittels <strong>de</strong>s<br />

milesischen Zahlsystems dargestellt.<br />

Bruchzahlen konnten mit Hilfe <strong>de</strong>s Sexagesimalsystems dargestellt (genähert) wer<strong>de</strong>n. Es<br />

gab aber auch Anlehnungen an das ägyptische System <strong>de</strong>r Stammbrüche, sowie Ansätze<br />

zu <strong>de</strong>ssen Erweiterung in Richtung heutiger Bruchzahlen. Bei Eratosthenes (ca. 276 – 194<br />

v.Chr.) taucht z.B. <strong>de</strong>r Wert 11/83 auf. Damals wur<strong>de</strong>n solche Brüche in <strong>de</strong>r Form Nenner<br />

über Zähler notiert. Die Schreibweise Zähler über Nenner taucht erst später auf.<br />

99 Hans Wußing: 6000 Jahre <strong>Mathematik</strong>. Bd 1. Berlin Hei<strong>de</strong>lberg: Springer Verlag 2008. S. 151<br />

100 Hans Wußing: 6000 Jahre <strong>Mathematik</strong>. Bd 1. Berlin Hei<strong>de</strong>lberg: Springer Verlag 2008. S. 153<br />

-49-


Anhang<br />

Abbildungen<br />

Das Titelbild zeigt eine <strong>Pythagoras</strong> Büste aus <strong>de</strong>m Vatikan Museum (Rom). Das Bild wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>m<br />

Wikimedia <strong>Co</strong>mmons Archiv entnommen und ist gemeinfrei.<br />

Abb. 20 auf Seite 36 wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Wikimedia <strong>Co</strong>mmons Archiv entnommen. Sie stammt von<br />

Leszek Krupinski und unterliegt <strong>de</strong>r Lizenz Creative <strong>Co</strong>mmons Attribution-Share Alike 3.0.<br />

Der Abbildung wur<strong>de</strong> ein Hyperlink unterlegt, <strong>de</strong>r zur zugehörigen Referenz-Seite in<br />

Wikimedia führt.<br />

Alle an<strong>de</strong>ren Abbildungen wur<strong>de</strong>n selbst erstellt und sind gemeinfrei.<br />

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enthalten im Doppelband <strong>Mathematik</strong> in Antike, Orient und Abendland<br />

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Links<br />

http://www.spasslernen.<strong>de</strong>/geschichte/ges1.htm<br />

Eine schöne Darstellung <strong>de</strong>s altägyptischen Zahlsystems von Wolfgang Appell.<br />

http://www.spasslernen.<strong>de</strong>/geschichte/ges4.htm<br />

Eine schöne Darstellung <strong>de</strong>s babylonischen Zahlsystems von Wolfgang Appell.<br />

http://www.mi.uni-erlangen.<strong>de</strong>/~geyer/zahl/exk2.ps<br />

Die Notation <strong>de</strong>r Zahlen von Wulf-Dieter Geyer (Uni Erlangen); PostScript-Dokument 118 Seiten.<br />

http://www.algebra.tuwien.ac.at/kronfellner/Geschichte_<strong>de</strong>r_<strong>Mathematik</strong>/GdM_Antike.pdf<br />

Geschichte <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> für <strong>de</strong>n Schulunterricht von Manfred Kronfellner (TU Wien)<br />

Von <strong>de</strong>n alten Ägyptern und Babyloniern bis zur Spätantike. Eine gut lesbarer, reichlich bebil<strong>de</strong>ter und<br />

höchst lehrreicher Text (68 S., PDF-Dokument).<br />

http://www.uni-graz.at/~gronau/Gm.pdf<br />

Vorlesungsskript von D. Gronau zur Geschichte <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> (Uni Graz)<br />

Überblick von <strong>de</strong>n ägyptischen und babylonischen Anfängen bis hin zu Newton und Leibniz (104 S.,<br />

PDF-Dokument).<br />

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