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4. Das Experiment<br />

Kleists literarische Texte werden in der Forschung sehr oft und stets zu Recht<br />

als Versuchsanordnungen, als Experimente bezeichnet. Kleist selbst hingegen<br />

spricht nur sehr selten vom Versuch, das „Experiment“ kommt in den zu Lebzeiten<br />

publizierten Texten sogar nur zweimal wörtlich zur Sprache. Der erste<br />

Beleg findet sich im Extrablatt zum 14. Berliner Abendblatt vom 16. Oktober<br />

1810; dort berichtet Kleist Über die gestrige Luftschiffahrt des Herrn Claudius<br />

und erwähnt das „interessante[ ] Experiment“ (76) des Herrn Garnerin. Der<br />

zweite Beleg folgt nur knappe zwei Wochen später, im 25. der Berliner Abendblätter,<br />

das mit der sich über sechs Blätter ziehenden Publikation des Allerneuesten<br />

Erziehungsplans beginnt und an dessen Anfang ein Modell aus<br />

der „Experimental-Physik“ (128) stellt. In diesem 25. Blatt beginnt nun nicht<br />

nur der Allerneueste Erziehungsplan, sondern auch Kleists Erwiderung auf die<br />

aerostatischen Einwände der Spenerschen Zeitung. Dieses Zusammentreffen<br />

ist gewiss kein publizistischer Zufall; sein dramaturgischer Effekt ist unverkennbar:<br />

Der Allerneueste Erziehungsplan lässt sich auch als ein Kommentar<br />

zur Aeronautik lesen. Gestützt wird dieser Effekt durch eine Reihe von Berührungen<br />

zwischen den beiden Textserien. Erstens eine Berührung publizistischer<br />

Art, sind die Textserien doch über das 25. und 26. Blatt miteinander verzahnt.<br />

Zweitens eine Berührung motivischer Art, findet sich doch in beiden<br />

Serien, und zudem beides Mal im 25. Blatt, die eigentümliche Formulierung<br />

„unseres Wissens“ (129 u. 130). Drittens eine Berührung thematischer Art, insofern<br />

beide Textserien naturwissenschaftliche Erkenntnisse, ein jeweils<br />

„höchst merkwürdiges Gesetz“ (129), auf ihren außerwissenschaftlichen Nutzen<br />

„in der moralischen Welt“ (129) hin analysieren. Viertens eine Berührung<br />

inhaltlicher Art, denn beide Textserien handeln von Steuerungsproblemen<br />

(einmal hinsichtlich der zu lenkenden Luftschiffe, das andere Mal hinsichtlich<br />

der zu erziehenden Zöglinge); beide Serien zielen auf eine naturgemäße Steuerung,<br />

beide nutzen zu dieser willkürlichen Steuerung die Unterwerfung unter<br />

machtvolle Umstände (heterogene Winde hier, widerläufige Moralitäten dort).<br />

Und fünftens schließlich eine Berührung formaler Art. Denn der Allerneueste<br />

Erziehungsplan entnimmt der Elektrophysik nicht nur das berühmte, für<br />

Kleists Texte so oft nachweisbare „gemeine Gesetz vom Widerspruch“<br />

(133), 75 sondern auch die experimentelle Form, in der dieses elektrophysikalische<br />

Wissen vom Gesetz der Influenz gegeben ist. So lässt sich der Allerneueste<br />

Erziehungsplan als Urszene für Kleists Experimentalliteratur lesen. 76 Das<br />

75 Vgl. hierzu vor allem Walter Hinderer, Immanuel Kants Begriff der negativen Grössen, Adam<br />

Müllers Lehre vom Gegensatz und Heinrich von Kleists Ästhetik der Negation. In: Christine<br />

Lubkoll, Günter Oesterle (Hg.), Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists<br />

Werk zwischen Klassizismus und Romantik, Würzburg 2001, S. 35-62.<br />

76 Vgl. hierzu ausführlich mein Aufsatz: Roland Borgards, „Allerneuester Erziehungsplan“. Ein<br />

Beitrag Heinrich von Kleists zur Experimentalkultur um 1800 (Literatur, Physik). In: Marcus<br />

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