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Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte - Institut für Zeitgeschichte

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Die geschichtliche Situation des Kommunismus in Indien 185<br />

modernen parlamentarischen Rechtsstaates, d. h. der indischen Union, zu arbeiten<br />

gezwungen war und daß sie sich selber ihrer taktischen Linie entsprechend ausgesprochen<br />

zum Parlamentarismus und zum Vielparteiensystem als politischer Methode<br />

bekannte. Neben diesem verfassungsgeschichtlichen Interesse zeigt das Experiment<br />

von Kerala, wie die Gegebenheiten der indischen Gesellschaft sich auf das kommunistische<br />

Staatsexperiment auswirkten.<br />

Kerala nimmt unter den indischen Staaten eine besondere Stellung ein. Es hat<br />

den relativ höchsten Anteil an Christen (etwa 22% der Bevölkerung, Gesamtindien<br />

2,3%). Das Christentum in Südwestindien, in viele Denominationen gespalten,<br />

ist in seiner Substanz kein Produkt der europäischen Mission, sondern sehr viel<br />

älter. Es ist seinem Selbstbewußtsein nach eine indische Religion, im Ursprung<br />

Ergebnis nicht der westlichen Kolonisation, sondern Glied der alten Ostkirche.<br />

Der Anteil der Lese- und Schreibekundigen ist in Kerala besonders hoch (50%<br />

der Bevölkerung, Gesamtindien 1956 16,6%). Dies erklärt sich einmal aus dem<br />

Umfang des christlichen Schulwesens; zum anderen besteht hier aber eine hinduistische<br />

Erziehungsgesellschaft (Nair Service Society), die besonders von der Kaste<br />

der Nair getragen wird und gegenüber dem starken christlichen Einfluß sich in<br />

den letzten Jahrzehnten im Zusammenhang mit der hinduistischen Erneuerungsbewegung<br />

darum bemüht hat, gute hinduistische Erziehungsstätten zu schaffen<br />

(leitender Kopf: Padmanabhan). Überhaupt ist festzustellen, daß dem sehr lebendigen<br />

Christentum in Kerala auch ein sehr lebendiger Hinduismus gegenübersteht.<br />

Das gilt sowohl <strong>für</strong> die Bedeutung, die das Kultische im öffentlichen und im privaten<br />

Leben noch besitzt, wie auch in soziologischer Hinsicht. Ein Zeichen <strong>für</strong> den<br />

starken Traditionalismus der Bevölkerung ist das in der Praxis immer noch in<br />

Geltung befindliche Mutterrecht. Das Kastenwesen ist in seinen Unterschieden in<br />

Kerala wahrscheinlich stärker profiliert als in irgendeiner anderen indischen Provinz.<br />

Man unterscheidet 77 Haupt- und 423 Unterkasten. Hauptschichten sind die<br />

Namboodiris (den Brahmanen entsprechend; ihr gehört Namboodiripad an), die<br />

Nairs als mittlere, in sich vielfach gestufte Schicht und als unterste die kastenlosen<br />

Hindus. Unter diesen sind besonders die Ezhavas zu nennen. Unter dem Einfluß<br />

des großen Erneuerers der Hindu-Religion, Vivekananda, organisierten sich die<br />

verschiedenen Kasten schon zu Beginn des Jahrhunderts (Shri Narayana Dharma<br />

Paripalana Yogam, 1903, <strong>für</strong> die Ezhavas; Organisation der Namboodiris: Yogakshama<br />

Sabha, 1908; ferner die Nair Service Society). Die Kastenorganisationen<br />

verfolgten gesellschaftlich-religiöse Reformziele innerhalb ihrer Gruppe. Im Verhältnis<br />

zueinander setzten sie sich ein <strong>für</strong> die Bewahrung oder den Erwerb bestimmter<br />

religiös-sozialer Rechte. Daß überhaupt die Kasten seit Beginn unseres Jahrhunderts<br />

die Notwendigkeit empfanden, Zweckorganisationen zu bilden, ist ein<br />

Zeichen da<strong>für</strong>, daß die alte Gesellschaftsordnung fragwürdig zu werden begann.<br />

Zugleich kam durch diese Organisationen in die Schichten der Kastengesellschaft<br />

eine kämpferische Rivalität, die seit der Einführung politischer Vertretungskörperschaften<br />

ihren Reflex im Parteiwesen fand. Neben Christen und Hindus steht<br />

eine mohammedanische Bevölkerungsgruppe. Sie ist bildungsmäßig am wenigsten<br />

<strong>Vierteljahrshefte</strong> 6/2

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