Über die Geschichte der Anatomie
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Über die Geschichte der Anatomie
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Bei <strong>der</strong> Beschäftigung mit Leonardo da Vinci und dessen anatomischem Werk ergibt sich<br />
abschliessend fast zwangsläufig <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong> Bewertung seiner Erkenntnisse, seiner<br />
Wirkung und Bedeutung für <strong>die</strong> <strong>Anatomie</strong>geschichte; es drängt sich <strong>der</strong> Gedanke auf, ob<br />
nicht statt Andreas Vesal vielmehr Leonardo da Vinci <strong>der</strong> eigentliche Neuerer <strong>die</strong>ses Faches<br />
gewesen ist.<br />
Lei<strong>der</strong> hat er all seine wegweisenden Erkenntnisse und Einsichten nicht veröffentlicht,<br />
obwohl vom Projekt eines <strong>Anatomie</strong>buches <strong>die</strong> Rede war. Ob es daran gelegen hat, dass er<br />
mit den damaligen technischen Mitteln zur Reproduktion seiner Zeichnungen nicht zufrieden<br />
war (er wollte dafür eigens eine Druckmaschine konstruieren), ob ihn seine mangelnde<br />
Schulbildung daran hin<strong>der</strong>te, dass er in <strong>der</strong> sprachlichen Formulierung nicht über das Stadium<br />
seiner Notizen hinauskam, o<strong>der</strong> ob ihn seine unermüdliche Schaffenskraft und Unrast, <strong>die</strong> ihn<br />
immer wie<strong>der</strong> zu neuen Anfängen führte, halt auch so vieles unvollendet liess.<br />
Leonardos Skizzenbücher mit den dazugehörigen anatomisch-physiologischen Erläuterungen<br />
waren seinen Zeitgenossen wohl nicht unbekannt geblieben, sie wurden aber nur einem<br />
kleinen Kreis überhaupt zugänglich.<br />
Nach Leonardos Tod, 1519, ging sein Nachlass in Form von Einzelblättern und Skizzen<br />
durch etliche Hände in verschiedene Län<strong>der</strong>, bis ein Grossteil davon in Besitz des britischen<br />
Königshauses gelangte. Erst am Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts wurden sie als Faksimile in <strong>der</strong><br />
breiten Öffentlichkeit bekannt.<br />
In den Jahren danach gab es einige namhafte Anatomen, viele davon in Norditalien, <strong>die</strong><br />
zaghaft eine Erneuerung <strong>der</strong> <strong>Anatomie</strong> anstrebten, neue anatomische Strukturen beschrieben,<br />
es jedoch kaum wagten, <strong>die</strong> seit mehr als einem Jahrtausend anerkannte Lehre Galens zu<br />
kritisieren.<br />
An<strong>der</strong>s als <strong>die</strong> heutige, hinter verschlossenen Türen stattfindende medizinische Obduktion,<br />
war <strong>die</strong> <strong>Anatomie</strong> im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t ein öffentliches Spektakel: Um den Sektionstisch<br />
drängten sich Studenten ebenso wie Kaufleute, wohlhabende Handwerker und Damen <strong>der</strong><br />
Gesellschaft; <strong>der</strong> Besuch des anatomischen Theaters kostete Eintritt, und <strong>die</strong> Nähe zur<br />
Manege und zur Bühne wurde gesucht. Das Aufschneiden und Zerlegen des menschlichen<br />
Körpers, das sich über mehrere Tage erstreckte, geriet zu einem Schaustück mit<br />
sensationellem Charakter: Zwischen Ekel, Lust und wilden Phantasien bewegten sich <strong>die</strong><br />
Emotionen <strong>der</strong> Zuschauer. Diese Lust am Grausamen und am Grauen, am Extremen und am<br />
Exzessiven kam zusammen mit dem legitimen Interesse und <strong>der</strong> Hoffnung, durch den Blick in<br />
den Leichnam letztlich zu erfahren, was den Menschen ausmacht, was das Geheimnis des<br />
Menschseins ist, und auch, wie das eigene Innere denn beschaffen ist.<br />
Folgende Abbildungen stammen aus <strong>die</strong>ser Zeit, d.h. ca. aus <strong>der</strong> Mitte des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts,<br />
also Jahrzehnte nach da Vincis Zeichnungen. ABB. 42, 43 und 49.<br />
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