Mitteilungen Sommer 2012 - Friedenspreis des Deutschen ...
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<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels <strong>Sommer</strong> <strong>2012</strong><br />
Meldungen<br />
Meldungen<br />
Die gefährliche Geschichtsvergessenheit Europas<br />
Boualem Sansal zu Gast in Brüssel: Der algerische Schriftsteller diskutierte mit EU-<br />
Parlamentspräsident Martin Schulz über den arabischen Frühling. Eindrücke.<br />
In der Europäischen Hauptstadt ein Gespräch über "Europa<br />
und den arabischen Frühling" zu führen – wer könnte<br />
das wohl besser als der algerische Schriftsteller Boualem<br />
Sansal, 2011 mit dem <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> deutschen Buchhandels<br />
ausgezeichnet. Schließlich hatte er bei der <strong>Friedenspreis</strong>verleihung<br />
im vergangenen Oktober eine Verbindung<br />
hergestellt zwischen dem Arabischen Frühling<br />
und der Wende in Europa nach dem Fall der Mauer: "Alle<br />
Mauern werden fallen", kündigte er damals in der Paulskirche<br />
an.<br />
Sein Dialogpartner im Brüsseler "Bozar", dem Palais der<br />
schönen Künste, war am Dienstag Martin Schulz, der<br />
deutsche Präsident <strong>des</strong> Europäischen Parlaments, ehemaliger<br />
Buchhändler und dem <strong>Friedenspreis</strong> damit persönlich<br />
verbunden. Mit Veranstaltungen wie diesen will der<br />
Börsenverein der Auszeichnung international Wirkung<br />
verschaffen. Das machte Hauptgeschäftsführer Alexander<br />
Skipis bei der Begrüßung deutlich. Kooperationspartner<br />
waren, neben dem "Bozar", der Deutschlandfunk und das<br />
Goethe-Institut. Die Diskussion stand unter der kundigen<br />
Leitung von Stephan Detjen (Deutschlandfunk).<br />
Für Martin Schulz gibt es in Europa Länder, die in einer<br />
ähnlichen Lage sind wie heute Sansals Heimat Algerien.<br />
Europa laufe Gefahr, in der eigenen Geschichte gefangen<br />
zu sein. Gefährlich sei auch die zu beobachtende "Geschichtsvergessenheit"<br />
gegenüber dem "Faszinosum der<br />
europäischen Integration". Der Frieden sei nicht mehr ein<br />
"Wert an sich". Die größte historische Leistung <strong>des</strong> vergangenen<br />
Jahrhunderts, die Überwindung von Rassismus,<br />
Intoleranz, Mordlust und Destruktivität. werde täglich<br />
herabgewürdigt. "Unter dem Druck ökonomischer und<br />
politischer Fehlentwicklungen treten wir Europa mit<br />
Füßen".<br />
Sansal selbst ist seit der Verleihung <strong>des</strong> <strong>Friedenspreis</strong>es<br />
im Herbst 2011 viel auf Reisen. Er lerne, was es heißt,<br />
<strong>Friedenspreis</strong>träger zu sein, sagt er selbst. Eine Reise<br />
nach Israel hat ihm Kritik, Ärger und auch Drohungen<br />
eingebracht. Aber: "Wie will man beispielsweise den<br />
Siedlungsbau in den besetzten Gebieten stoppen, wenn<br />
man nicht mit Israelis spricht?", fragt er sich.<br />
Sein erstes Manuskript landete vor Jahren auf dem<br />
Schreibtisch von Jean-Marie La Claventine (Verlag Gallimard).<br />
Er hat den Autor "entdeckt". Die Lektüre <strong>des</strong><br />
Manuskripts beschrieb er auf dem Brüsseler Podium als<br />
"Moment <strong>des</strong> Enthusiasmus".<br />
Von Sansal erscheint demnächst ein weiteres Werk auf<br />
Deutsch. "4001 Jahre der Nostalgie - Auch eine Philoso-<br />
Von Jan Kurlemann<br />
18<br />
phie der Geschichte <strong>des</strong> Maghreb" (Berlin University<br />
Press). Nachdem er in Brüssel Auszüge daraus gelesen<br />
hatte, betonte Sansal, dass in Algerien und anderen Ländern<br />
Nordafrikas der Zugang zur eigenen Geschichte<br />
versperrt sei, weil die Archive in anderen Ländern lagern<br />
würden.<br />
Eine eigene Identität gebe es in Algerien noch nicht. Und<br />
es seien wohl Jahrzehnte notwendig, bis sich eine algerischen<br />
Identität aus arabischen, berberischen und westlichen<br />
Werten und Einflüssen herausbilden könne, meint<br />
Sansal. Die Gegenposition heiße <strong>des</strong>halb für viele: "Wir<br />
sind alle Araber, alle Moslems". Begonnen habe sie mit<br />
der Forderung nach einem "reinen" Islam, danach, ein<br />
"guter Moslem zu sein". Das Ergebnis sei Kontrolle in der<br />
Öffentlichkeit und bis in die Familien hinein, unter Anwendung<br />
von Gewalt.<br />
Der "To<strong>des</strong>magie" <strong>des</strong> Islamismus stehe die Gesellschaft<br />
ohnmächtig gegenüber, so Sansal, der "Instrumente der<br />
Wachsamkeit" vermisst. Der Arabische Frühling habe<br />
begonnen mit Jugendlichen in Tunesien, die für Beschäftigung<br />
und gegen Korruption demonstrierten. Jetzt gebe<br />
es Demonstrationen mit anderer Zielrichtung, etwa gegen<br />
die Rechte der Frauen und für Zensur.<br />
Als Präsident der Parlamentarischen Institution der Mittelmeer-Union<br />
war Martin Schulz den Entwicklungen sehr<br />
nah. Er war selbst auf dem Tahir-Platz in Kairo und spürte<br />
die Dynamik der Macht von Zigtausend Menschen. Beim<br />
"Arabischen Frühling" handelt es sich für ihn um einen<br />
Aufbruch zu einem Ziel, das noch nicht bestimmt ist.<br />
"Wir Europäer brauchen diejenigen als Partner, die als<br />
Moslems Demokratie wollen", so der Parlamentspräsident.<br />
Tragisch findet er, dass sich europäische Außenminister<br />
die Klinke in die Hand gaben und vor Ort die Revolution<br />
begrüßten, während gleichzeitig finanzielle Hilfen<br />
gekürzt würden.<br />
Schulz erinnerte an Deutschland und den Wendepunkt<br />
1945. Waren die <strong>Deutschen</strong> Demokraten nach dem "Dritten<br />
Reich" und der kurzlebigen Weimarer Republik? Konrad<br />
Adenauer habe mit Hilfe der USA (Marshall-Plan) und<br />
der Europäer Demokratie und wirtschaftlichen Aufschwung<br />
verbunden. Dasselbe brauche nun Nordafrika.<br />
Herzlichen Dank an Jan Kurlemann für die Erlaubnis,<br />
seinen Text hier veröffentlichen zu dürfen.