Mitteilungen Sommer 2012 - Friedenspreis des Deutschen ...
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1998 stellt Liao Yiwu unter dem Titel<br />
„Der Untergang <strong>des</strong> Heiligen Tempels“<br />
eine Anthologie von im Untergrund<br />
geschriebenen Gedichten zahlreicher<br />
chinesischer Dissidenten der 1970er<br />
Jahre zusammen. Die Behörden ordnen<br />
eine Untersuchung an und bezeichnen<br />
das Buch als „vorsätzlichen<br />
Versuch, die Regierung zu stürzen“.<br />
Liao Yiwu wird erneut inhaftiert, sein<br />
Verleger bekommt ein einjähriges<br />
Publikationsverbot. Die Begegnungen<br />
mit Mitgefangenen und mit den Menschen,<br />
die er als Straßenmusiker und<br />
Gelegenheitsarbeiter kennengelernt<br />
hat, versammelt Liao Yiwu 1998 in<br />
Form von 60 Interviews. In bereinigter<br />
Form erscheinen diese 2001 bei einem<br />
chinesischen Verlag unter dem Titel<br />
„Interviews mit Menschen vom unteren<br />
Rand der Gesellschaft“. 2009 wird<br />
dieses „Panoptikum an Lebensläufen,<br />
die eigentliche Kulturgeschichte Chinas<br />
von Mao bis zum heutigen Tag“<br />
(Herta Müller), in Deutschland ungekürzt<br />
veröffentlicht („Fräulein Hallo<br />
und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft<br />
von unten“). Seine Gespräche<br />
mit einem Mörder, Totenliedersänger,<br />
Dieb, Klomann, Menschenhändler,<br />
Wahrsager, Homosexuellen, Bettler,<br />
Lehrer, Dissidenten, früheren Landadligen,<br />
Zuhälter, Feng-Shui-Meister und<br />
vielen anderen Menschen aus den<br />
unteren Gesellschaftsschichten zeichnen<br />
die Wirklichkeit der Gegenwart<br />
Chinas nach. Das Buch wird somit zu<br />
einem Porträt <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> jenseits der<br />
offiziellen Darstellungen.<br />
Die „bereinigte“ chinesische Version<br />
<strong>des</strong> Buches wird von den Kritikern<br />
hoch gelobt und verkauft sich gut, bis<br />
die chinesischen Behörden den Verkauf<br />
untersagen, den Verlag bestrafen<br />
und für die Entlassung von Mitarbeitern<br />
einer chinesischen Zeitung sorgen,<br />
die ein Interview mit Liao Yiwu<br />
geführt haben. Fortan darf sein Name<br />
in den Medien nicht mehr genannt<br />
werden. 2002 gelingt es, das Buch<br />
nach Taiwan zu schmuggeln, wo es<br />
ein Jahr später ungekürzt veröffentlicht<br />
wird. Auszüge daraus erscheinen<br />
auch auf Englisch und Französisch.<br />
Liao Yiwu erhält 2003 mit dem Hellman-Hammet-Grant<br />
eine Förderung<br />
der Organisation Human Rights<br />
Watch. 2007 wird er mit dem Freedom<br />
<strong>Mitteilungen</strong> zum <strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels Frühling <strong>2012</strong><br />
Thema: Thema: <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>Friedenspreis</strong> <strong>2012</strong><br />
<strong>2012</strong><br />
To Write Award <strong>des</strong> Unabhängigen<br />
Chinesischen PEN-Zentrums ausgezeichnet.<br />
Die Verleihung wird aber<br />
verhindert. 2008 erscheinen 27 der<br />
Gespräche in den USA mit dem Titel<br />
„The Corpse Walker – Real Life Stories:<br />
China From the Bottom Up“. Für<br />
die polnische Ausgabe <strong>des</strong> Buches<br />
erhält er <strong>2012</strong> den Ryszard-<br />
Kapuscinski-Preis.<br />
Das offizielle <strong>Friedenspreis</strong>foto,<br />
aufgenommen in China von einem<br />
Freund, dem Liao Yiwu nach der<br />
Rückkehr von einer langen Reise<br />
seine Kamera gegeben hat.<br />
In „Chronik <strong>des</strong> Großen Erdbebens“,<br />
das 2009 in Hongkong erscheint,<br />
veröffentlicht Liao Yiwu die Interviews,<br />
die er 2008 mit den Menschen<br />
geführt hat, die das große Erdbeben in<br />
der Region Sichuan mit mehr als<br />
80.000 Toten überlebt haben, und die<br />
ihm über die Korruption berichten und<br />
Gerechtigkeit fordern. Nach mehreren<br />
vergeblichen Versuchen kommt Liao<br />
Yiwu in den Besitz eines Reisepasses.<br />
Trotzdem wird ihm im Oktober 2009<br />
die Reise zur Frankfurter Buchmesse,<br />
auf der China Ehrengast ist, verweigert.<br />
Auch eine Teilnahme an dem<br />
Kölner Literaturfest lit.cologne im<br />
Frühjahr 2010 wird nicht zugelassen,<br />
am Flughafen wird Liao Yiwu festgenommen<br />
und stundenlang verhört. Ein<br />
öffentlicher Appell an Bun<strong>des</strong>kanzlerin<br />
Merkel führt schließlich dazu, dass<br />
er im September erstmals aus China<br />
ausreisen und am Internationalen<br />
4<br />
Literaturfestival in Berlin teilnehmen<br />
kann. Nachdem ihm jedoch im Mai<br />
2011 abermals eine Ausreise aus<br />
China verweigert wird, setzt sich Liao<br />
Yiwu im Juli 2011 über Vietnam nach<br />
Deutschland ab.<br />
Um das Leben von Liao Yiwu nicht in<br />
Gefahr zu bringen, hält sein deutscher<br />
Verlag die Veröffentlichung seines<br />
Buches „Für ein Lied und hundert<br />
Lieder“, wofür dem Autor durch chinesischen<br />
Behörden eine erneute<br />
Gefängnisstrafe angedroht wird, bis zu<br />
seiner Flucht zurück. Es ist die Übersetzung<br />
der dritten Version seiner<br />
Erinnerungen an die vierjährige Gefängniszeit<br />
von 1990 bis 1994. Immer<br />
wieder hat er sie von vorn beginnen<br />
müssen, weil die von ihm verfassten<br />
Manuskripte 1995 und 1997 bei<br />
Hausdurchsuchungen beschlagnahmt<br />
wurden. Dem Leidensweg durch die<br />
chinesischen Gefängnisse und Arbeitslager<br />
stellt Liao Yiwu die Wucht seines<br />
Gedichtes „Massaker“, dem Grund<br />
seiner Inhaftierung, voran. Das Buch,<br />
das im November 2011 mit dem<br />
Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet<br />
wurde, wird dadurch zu einem<br />
„politischen Zeugnis erster Güte“<br />
(Neue Zürcher Zeitung), mit dem Liao<br />
Yiwu den Menschen, die das politische<br />
System zum Schweigen bringen will,<br />
eine Stimme gibt. Im gleichen Jahr<br />
erscheint in Deutschland eine Sammlung<br />
zum Teil noch nicht veröffentlichter<br />
Gedichte unter dem Titel „Massaker:<br />
Frühe Gedichte“.<br />
<strong>2012</strong> erhält Liao Yiwu ein einjähriges<br />
Stipendium <strong>des</strong> Berliner Künstlerprogramms<br />
<strong>des</strong> DAAD. Von Berlin aus<br />
setzt er sich mit einem öffentlichen<br />
Appell für seinen Freund, den chinesischen<br />
Untergrunddichter und –schriftsteller<br />
Li Bifeng ein, der seit Monaten<br />
inhaftiert ist und dem wegen sogenannter<br />
„wirtschaftlicher Straftaten“<br />
eine Verurteilung droht. Am 14. Oktober<br />
<strong>2012</strong> wird Liao Yiwu mit dem<br />
<strong>Friedenspreis</strong> <strong>des</strong> <strong>Deutschen</strong> Buchhandels<br />
geehrt. Ende <strong>des</strong> Jahres wird<br />
in Deutschland sein neues Buch „Die<br />
Kugel und das Opium – Leben und<br />
Tod am Platz <strong>des</strong> Himmlischen Friedens“<br />
erscheinen.